Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit [1 ed.] 9783428470815, 9783428070817


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German Pages 556 Year 1991

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Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit [1 ed.]
 9783428470815, 9783428070817

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THOMAS DICKERT

Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 595

Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit

Von Thomas Dickert

Duncker & Humblot * Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Dickert, Thomas: Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit / von Thomas Dickert. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 595) Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07081-X NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1 9 9 1 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07081-X

Anette und Matthias gewidmet

Vorwort Die vorliegende Arbeit habe ich im Jahre 1990 der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg als Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades vorgelegt. Sie entstand während meiner Tätigkeit als Akademischer Rat auf Zeit beim Lehrstuhl von Herrn Prof. Dr. Hermann Soell. Einschlägige Neuerscheinungen und rechtspolitische Entwicklungen wurden bis zum 30. Juni 1990 berücksichtigt. Der zwischenzeitliche Erlaß des Gentechnikgesetzes machte die nachträgliche Umarbeitung zweier Abschnitte im 1. Teil erforderlich. An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen, all jenen zu danken, die mir die Fertigstellung dieser Arbeit ermöglichten. Mein Dank gebührt zuallererst meinem verehrten Doktorvater und Lehrer, Herrn Prof. Dr. Hermann Soell. Während der sechs Jahre, die ich ihn zunächst als Referendar und dann als Assistent auf seinem wissenschaftlichen Weg begleiten durfte, konnte ich unter seiner Anleitung für mein weiteres berufliches Leben wertvolle Erfahrungen sammeln, die über die klassischen Gebiete des öffentlichen Rechts weit hinausgreifen. Am Fortgang meiner Arbeit zeigte er stets reges Interesse, in oft stundenlangen, nicht selten kontrovers geführten Gesprächen gab er mir wichtige Anregungen und Hinweise. Gerade daß die Betätigung grundrechtlicher Freiheit heute auch die Wahrnehmung von Verantwortung implizieren muß, führte er mir immer wieder deutlich vor Augen. Damit gab er für die zentralen Teile meiner Arbeit die entscheidenden Impulse. Danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Soell und seiner Gattin darüber hinaus für die stets offene Tür, das gastliche Haus und die wohlwollende Anteilnahme auch an Entwicklungen im privaten Bereich. Zu Dank verpflichtet weiß ich mich daneben Herrn Prof. Dr. Friedhelm Hufen für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens sowie Herrn Dekan Prof. Dr. Udo Steiner für die kurzfristige Anberaumung des Termins zur mündlichen Prüfung. Besonderer Dank gebührt schließlich meinem langjährigen Freund und Kollegen, Herrn Dr. Franz Dornberger, für die fast unzähligen nützlichen Gespräche, Hinweise und Unterredungen sowie für den gesunden Wettbe-

Vili

Vorwort

werb, der zur rascheren Fertigstellung des vorliegenden Buches sicherlich mit beitrug. Nicht zuletzt möchte ich meiner geliebten Anette danken, die mich trotz eigener Verpflichtungen während der Zeit der Promotion im häuslichen und familiären Bereich weitgehend entlastete und mir so den nötigen Freiraum für ein konzentriertes wissenschaftliches Arbeiten schuf.

Regensburg, im August 1989

Thomas Dickert

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

17

Erster Teil Entwickhingslinien naturwissenschaftlicher Forschung A. Ambivalenz I. Chancen naturwissenschaftlicher Forschung

21 22

1. Verstehen der Welt, Bildung der Menschen

22

2. Anwendungsnutzen, gesellschaftliches Problemlösungspotential

23

3. Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftswachstum und Wohlstand

26

II. Nachteile und Risiken

27

1. Typologie der Forschungsrisiken

27

2. Die Laborrisiken

29

a) Beschreibung

29

b) Bewertung

31

c) Rechtspolitische Entwicklung

32

3. Mißbrauchsgefahren

36

a) Kommerzialisierung

37

b) Militärische Nutzung

38

c) Machtmißbrauch

40

4. Folgelasten

43

a) Beispiel 1: Großtechnologie

43

b) Beispiel 2: Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechniken

45

c) Resümee

46

Inhaltsverzeichnis

2

Β. Forschung als Akt der Manipulation

48

I. Experimente am lebenden Objekt

49

1. Tierversuche 2. Das Humanexperiment

49 .

3. Embiyonen-verbrauchende Forschung II. Die Welt als Forschungslabor

52 54 58

1. Atomversuche

58

2. Freisetzung genetisch veränderter Lebewesen

59

a) Beschreibung

59

b) Rechtspolitische Entwicklung

61

C. Finalisierung I. Allgemeine Bestandsaufnahme

64 65

1. Dominanz praktischer über theoretische Fragestellungen

65

2. Denkbare Ursachen

67

a) Abschluß der Theorienbildung

67

b) Andere Erklärungsansätze

68

II. Forschungslenkung durch Forschungsförderung 1. Förderungsträger

69 69

a) Wirtschaft

69

b) Bundesländer

70

c) Bund

70

2. Förderungsarten

71

a) Direkte Forschungsförderung

71

b) Instrumente indirekter Förderung

72

3. Förderungsziele

73

a) Zielaufstellung

74

b) Der aktuelle Zielkatalog

74

4. Lenkungseffekte

76

a) Faktische Lenkungseffekte

76

b) Institutionelle Lenkungseffekte

77

c) Rechtliche Lenkungseffekte

79

Inhaltsverzeichnis III. Institutionalisierte Fremdbestimmung

81

1. Staatliche Ressortforschung

81

a) Staatsinterne Ressortforschung

82

b) Staatsexterne Ressortforschung

82

2. Industrieforschung

83

a) Unternehmensinterne Forschung und Entwicklung

84

b) Unternehmensexterne Forschung und Entwicklung

84

c) Kooperative Forschung und Entwicklung

85

d) Bewertung

85

IV. Die Rolle der Hochschulen

87

1. Refugium unabhängiger Forschung

87

2. Staatliche Ingerenzen

87

a) Haushaltspolitik

88

b) Vergabe von Drittmitteln

89

3. Private Drittmittelfinanzierung

91

4. Kooperation mit der Wirtschaft

92

V. Finalisierungsfolgen

95

1. Einschränkung des wissenschaftlichen Horizonts

95

2. Einseitige Forschungskonzentration

96

3. Verlust der Unschuld

97

D. Entpersonalisierung und Spezialisierung I. Die Entpersonalisierung naturwissenschaftlicher Forschung

99 99

1. Universitätswissenschaft

100

2. Außeruniversitäre Forschung

101

II. Spezialisierung E. Monopolisierung der Forschungsergebnisse

103 105

I. Beschreibung des Phänomens

105

II. Ursachen und Folgen des Monopolisierungstrends

106

1. Ursachen

106

a) Wahrung der Reputation

106

b) Betriebswirtschaftliche Verwertungsinteressen

107

Inhaltsverzeichnis

4

c) Machtpolitische Gründe

107

2. Wirkungen

108

III. Rechtliche Rahmenbedingungen

108

1. Vertragliche Publikationsbeschränkungen

109

2. Urheberrecht

110

3. Arbeitnehmererfindungsrecht

111

4. Patent-, Gebrauchsmuster- und Sortenschutzrecht

113

a) Die Informationsfunktion des Erfinderschutzrechts

113

b) Lücken und Schwächen der Informationsfunktion

114

Zweiter Teil Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit A. Das Definitionsdilemma bei Art. 5 Abs. 3 GG I. Wissenschaft, Forschung und Lehre als Verfassungsbegriffe

118 118

1. Die Wortbedeutung des Art. 5 Abs. 3 GG

118

2. Systematische Auslegung

119

3. Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG

119

4. Sinn und Zweck der Wissenschaftsfreiheit

120

II. Wissenschaft, Forschung und Lehre als Begriffe des allgemeinen und des besonderen Sprachgebrauchs

121

1. Vielfalt der Disziplinen und Beteiligten

121

2. Unterschiedliche Bedeutungsebenen

122

III. Die Wissenschaftstheorien

123

1. Der Operationalismus

124

2. Logischer Empirismus

125

3. Der kritische Rationalismus

125

4. Die kritische Theorie

126

5. Marxistische Wissenschaftstheorie

127

6. Holismus

127

7. Resümee

128

Inhaltsverzeichnis Β. Die Eckpfeiler der Schutzbereichsbestimmung I. Methodik der Grundrechtsinterpretation

129 129

1. Der Streit der Auslegungstheorien

129

2. Pragmatische Methode der Grundrechtsinterpretation

131

a) Grundsatz

131

b) Erweiterungen

131

c) Bedeutungswandel

133

3. Anwendung auf Art. 5 Abs. 3 GG

134

a) Wortauslegung

135

b) Historische Auslegung

135

c) Systematik

136

d) Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts

137

II. Die Gewährleistungsebenen des Wissenschaftsfreiheitsrechts

137

1. Vielfalt der grundrechtlichen Gewährleistungsebenen

137

a) Abwehrrechte

137

b) Objektive Prinzipien

138

c) Einrichtungsgarantien

141

2. Die Gewährleistungsebenen in der bisherigen Auslegung der Wissenschaftsfreiheit 3. Die Bedeutungsschichten des Art. 5 Abs. 3 GG heute

143 147

a) Keine institutionelle Garantie

147

b) Vorrang des Individuellen

152

4. Folgerungen für den Wissenschaftsbegriff III. Das Normprogramm des Art. 5 Abs. 3 GG

154 156

1. Verschränkung von Tatbestand und Rechtsfolge

156

2. Schlußfolgerungen

158

a) Identifikationsverbot

158

b) Respektierung der Eigengesetzlichkeit

158

IV. Die Normstruktur des Art. 5 GG 1. Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit

159 159

2. Das Verhältnis zwischen "Wissenschaft", "Forschung" und "Lehre"

162

Inhaltsverzeichnis

6

a) Verhältnis der Normelemente

162

b) Emanationen von Wissenschaft

166

c) Ergebnis

167

C. Ansätze zur Bewältigung des Definitionsdilemmas I. Grundrechtsauslegung durch die, die es angeht 1. Subjektivierende Interpretation

168 168 168

a) Darstellung (KNIES)

168

b) Rechtsprechungsbeispiele

169

c) Kritik

170

2. Anerkennung durch Anerkannte

172

a) Darstellung

172

b) Rechtsprechungsbeispiele

173

c) Kritik

175

3. Zusammenfassung II. Definitionsmacht des Gesetzgebers

176 177

1. Einfachgesetzliche Umschreibungen von Wissenschaft, Forschung und Lehre 2. Normierungsbedürftige Verfassungsbegriffe

177 178

a) Staatsangehörigkeit

178

b) Ehe

178

c) Eigentum

179

3. Die Ausgestaltungsthese HÄBERLEs

180

4. Kritik an der Lehre HÄBERLEs

181

Notwendigkeit der Abschichtung zwischen: a) Grundrechtseinschränkung

181

b) Grundrechtsinterpretation

182

c) Grundrechtsumhegung

185

5. Zusammenfassung III. Material-inhaltliche Wissenschaftsumschreibungen 1. Theoretischer Wissenschaftspluralismus

186 187 187

a) Pluralismus als Wissenschaftskriterium (SCHOLZ)

187

b) Kritik

188

Inhaltsverzeichnis c) Resümee 2. Vorurteilsfreiheit, Voraussetzungslosigkeit, Wertfreiheit

189 190

a) Wertfreiheit als Wissenschaftskriterium (RÖTTGEN)

190

b) Kritik

192

3. Allgemeine Einwände gegen inhaltlich-materiale Wissenschaftsumschreibungen

197

4. Zusammenfassung

199

IV. Formale Wissenschaftsbegriffe

200

1. Technisch-instrumentale Schutzbereichsumschreibungen

200

2. Der Wissenschaftsbegriff des Bundesverfassungsgerichts

202

Kritikpunkte: a) Das Wahrheitskriterium

203

b) Das begriffliche Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Lehre

207

c) Die Nichtangabe der Ableitungsgründe

208

D. Eigener Ansatz: Die Begriffe Wissenschaft, Forschung und Lehre I. Der Abgrenzungsbedarf

212 212

1. Ausgrenzung der Nicht-Wissenschaft

212

2. Die Un-Wissenschaftlichkeit

214

a) Grenzüberschreitung von außen nach innen

214

b) Grenzüberschreitung von innen nach außen

214

II. Auslegungsdirektiven (Zugleich eine Zusammenfassung)

215

1. Direktiven aus Teil 2. Β

215

a) Erweiterte Interpretationsmethode

216

b) Tätigkeitsgrundrecht

216

c) Beachtung der Eigengesetzlichkeit

216

d) Lesart des Art. 5 Abs. 3 GG 2. Direktiven aus Teil 2. C

216 . ..217

a) Staatliches Definitionsgebot

217

b) Gemischt formal-inhaltliche Umschreibung

218

III. Die Tatbestandsmerkmale des Wissenschaftsfreiheitsrechts 1. Forschung und Lehre als Ausgangspunkt a) Schutz von Tätigkeiten

218 218 218

8

Inhaltsverzeichnis b) Beschäftigung mit Erkenntnissen

218

c) Maßgeblichkeit der Intention

219

2. Wissenschaftlichkeit als qualifizierendes Merkmal

220

a) Mindestmaß an wissenschaftlicher Qualifikation

221

b) Sachkriterien der Wissenschaftlichkeit

223

3. Ergebnis

225

IV. Überprüfung und Kritik

226

1. Probe aufs Exempel

226

a) Erster Einwand

227

b) Zweiter Einwand

229

2. Kritik und Ausblick

230

Dritter Teil Ansätze zu einer tatbestandlichen Begrenzung des verfassungsrechtlichen Schutzes wissenschaftlicher Forschung A. Plädoyer fur eine präzise Schutzbereichsumgrenzung I. Das herkömmliche Subsumtionsmodell

231 231

1. Darstellung des herkömmlichen Subsumtionsmodells

231

2. Kritik am herkömmlichen Subsumtionsmodell

233

a) Argumentative Unredlichkeit

233

b) Ausufernde Ableitung von Schranken

234

c) Nivellierung des Schrankensystems

236

d) Problematik der Rechtsgüterabwägung

237

II. Enge Tatbestandtheorien

238

1. Die Immanenzlehren

239

a) Innentheorie

239

b) Immanente Mißbrauchsgrenze (GALLWAS)

239

c) Kritik

240

d) Ergebnis

241

2. Schutzbereichsbegrenzung durch allgemeine Gesetze

242

Inhaltsverzeichnis a) Darstellung (RÜFNER)

242

b) Kritik

242

3. Die Normbereichsanalyse F. MÜLLERs

244

a) Darstellung

244

b) Kritik

245

III. Vorzüge eines Abschichtungsmodells 1. Ableitung des Abschichtungsmodells....

247 247

a) Zweistufige Prüfung

247

b) Tatbestandsanalyse

247

c) Methodik der Verfassungsinterpretation

247

d) Verfeinerung der Abwägung

248

2. Vorzüge des Abschichtungsmodells

248

a) Entlastung der Rechtsgüterabwägung

248

b) Disziplinierung grundrechtlicher Argumentation

248

c) Aufbau grundrechtlicher Schutzpyramiden

249

d) Begrenzung des Art. 5 Abs. 3 GG

250

B. Ansätze zur sachlichen Begrenzung des Schutzbereichs I. Gegenständliche Begrenzungsansätze 1. Darstellung

251 251 251

a) LERCHE

251

b) RÖTTGEN

252

c) PIEROTH / SCHLINK.

252

d) WAHL

252

e) Bereichsdogmatik

253

2. Kritik

254

a) Nachteile einstufiger Grundrechtsprüfung

254

b) Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit

255

c) Zerschneidung eines einheitlichen Lebensvorgangs

255

d) Unlösbare Abgrenzungsprobleme

256

3. Resümee

257

a) Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Forschung

258

b) Gegenständliche Ausgrenzungen

258

10

Inhaltsverzeichnis c) Abgestufte Schutzintensität

258

II. Ausgrenzung der Zweckforschung.

259

1. Darstellung a) DIE GRÜNEN b) RÖTTGEN

259 259 260

2. Angreifbarkeit der Prämissen

260

3. Exkurs: Schutzzweck des Art. 5 Abs. 3 GG

261

a) Die Palette denkbarer Sinngebungen

262

b) Verfassungsrechtliche Bewertung

264

c) Der Doppelschutzzweck der Wissenschaftsfreiheit

265

4. Doppelschutzzweck und Zweckforschung

266

5. Mangelnde Unterscheidbarkeit

268

6. Resümee

269

III. Forschung und Veröffentlichung 1. Abschichtungen

270 271

a) Einheit von Forschung und Lehre

271

b) Schutz der Veröffentlichungsfreiheit

273

c) Lehre als Annex von Forschung

276

d) Hier Junktim zwischen Forschung und Lehre

277

2. Methodische Ableitung

277

a) Wortlaut

277

b) Systematik

280

c) Grundrechtsgeschichte

281

d) Teleologische Auslegung

286

e) Ergebnis der Ableitung

287

3. Verhältnis zwischen Forschung und Lehre im einzelnen

288

a) Begriff der Lehre

288

b) Beidseitiges Junktim

289

c) Kein Recht auf Schweigen

291

d) Form, Umfang und Zeitpunkt der Veröffentlichung

293

e) Prognose der Veröffentlichungsbereitschaft und -fähigkeit

294

4. Veröffentlichungsobliegenheit und einfaches Recht

295

Inhaltsverzeichnis a) Ausgestaltung des Urheberrechts

295

b) Arbeitnehmererfindungsrecht

296

c) Erfinderschutzrecht

297

d) Beamtenrecht

298

C. Konkretisierung des Schutzbereichs in subjektiver Hinsicht I. Ausschluß nicht-universitärer Forschung 1. Leitbild des Art. 5 Abs. 3 GG

299 299 299

a) Traditionelles Leitbild

299

b) Grundrecht der Deutschen Universität

300

c) Heutiges Vorstellungsbild

301

d) Hinweise des Grundgesetzes

301

2. Gründe gegen den Ausschluß nicht-universitärer Forschung

302

a) Wortlaut

302

b) Interpretationsgeschichte

302

c) Systematik

303

d) Sinn und Zweck

304

3. Resümee II. Forschungsfreiheit in polygonalen Verhältnissen 1. Wissenschaftsfreiheit der Forschungseinrichtung

306 306 308

a) Juristische Personen und Personenmehrheiten als Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit

308

b) Der Maßstab des Art. 19 Abs. 3 GG

313

c) Personales Substrat in Forschungseinrichtungen

316

d) Kompensationsmodell

317

e) Subsumtion im einzelnen

319

2. Art. 5 Abs. 3 GG im Verhältnis zwischen Wissenschaftler und Forschungseinrichtung

321

a) Grundrechtliche Abwehiverhältnisse

321

b) Unmittelbare Drittwirkung des Art. 5 Abs. 3 GG

326

c) Mittelbare Drittwirkung des Art. 5 Abs. 3 GG

330

3. Art. 5 Abs. 3 GG im Verhältnis zwischen Staat und Einzelforscher a) Staatliche Schutzpflicht aus Art. 5 Abs. 3 GG

333 333

Inhaltsverzeichnis

12

b) Schutzpflicht-relevante Konstellationen im Wissenschaftsbetrieb

334

c) Inhalt der Schutzpflicht aus Art. 5 Abs. 3 GG

336

d) Einzelne Schutzpflichtfälle im Wissenschaftsbetrieb

337

e) Schutzanspruch aus Art. 5 Abs. 3 GG

342

III. Der angebliche Verzicht auf Art. 5 Abs. 3 GG

344

1. Einführung

344

2. Problematik der Verzichtsfigur bei Art. 5 Abs. 3 GG

345

a) Verzichtbarkeit des Art. 5 Abs. 3 GG

345

b) Freiwilligkeit der Einwilligung

346

c) Bindungswirkung der Einwilligung

347

d) Grenzen des Verzichts

349

3. Voizugswürdige Lösungsmodelle a) Beim Eintritt des Wissenschaftlers in ein Beamtenverhältnis

350 350

b) Beim Eintritt in ein Angestelltenverhältnis mit einer privaten Forschungseinrichtung

352

c) Beim Eintritt in ein Anstellungsverhältnis mit einer staatlichen Forschungseinrichtung

356

D. Forschungsfreiheit und Forscherverantwortung

360

I. Der Begriff der Verantwortung

361

1. Verantwortungssubjekt

361

2. Verantwortungsgegenstand

361

3. Verantwortungsinstanz

362

II. Forscherverantwortung als moralisches Prinzip 1. Theoretische Grundlegungen

363 363

a) Rechtsphilosophischer Ansatz

363

b) Verantwortungsethik (H. JONAS)

364

c) Christliche Grundlegung

365

d) Naturethik

366

2. Ausprägungen von Forschelverantwortung

367

a) Individuelle Verantwortungs-Ebene

367

b) Institutionelle Verantwortungs-Ebene

368

3. Einwände und ihre Widerlegung.

373

Inhaltsverzeichnis a) Mangelnde Voraussehbarkeit

373

b) Trennung der Verantwortungsbereiche

373

c) Überforderungsthese

374

d) Sachzwänge

375

III. Forscherverantwortung als gesetzliche Pflicht (§ 6 HUG)

376

1. Gesetzlicher Appell an die Forschermoral

377

2. Materialer Wissenschaftsbegriff.

378

3. Die Lösung HAILBRONNERs

379

4. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts

381

5. § 6 HUG als Konkretisierung einer Verfassungspflicht

383

IV. Verantwortung als verfassungsrechtliche Kategorie

384

1. Institutionelle Deutung des Art. 5 Abs. 3 GG

384

2. Verantwortungs-Grundpflicht

385

a) Grundpflichten im Grundgesetz

386

b) Stillschweigend mitgeschriebene Grundpflichten

387

c) Grundpflicht zu verantwortlichem Freiheitsgebrauch

387

d) Keine Grundpflichten ohne Gesetz

390

3. Gemeinwohlbindung grundrechtlicher Freiheit

391

a) Soziologische Grundlegung (SUHR)

392

b) Philosophische Grundlegung

393

c) Verfassungsrechtliche Grundlegung (SALADIN)

393

d) Wertsystematische Grundrechtstheorie

395

e) Gott im Grundgesetz?

396

f) Inkongruenz von grundrechtlicher und christlicher Freiheit

397

4. Eigener Ansatz: Verantwortung als Tatbestandsmerkmal des Art. 5 Abs. 3 GG

400

a) Auslegung des Art. 5 Abs. 3 GG

401

b) Reichweite der tatbestandlichen Verantwortungsgrenze

407

c) Ergebnis

410

Inhaltsverzeichnis

14

Vierter

Teü

Schranken des Wissenschaftsfreiheitsrechts A. Konkurrenzlösung

411

I. Wissenschaft als Beruf

411

II. Die Konkurrenz schrankendivergierender Grundrechte

412

1. Ausscheidung von Schein-Konkurrenzen

412

a) Exakte Sachverhaltszuordnung

412

b) Gesetzeskonkurrenz

413

2. Grundrechtliche Idealkonkurrenz - ein Scheinproblem?

415

a) Darstellung (SCHWABE)

415

b) Kritik

415

3. Lösung der Idealkonkurrenz

417

a) Schrankenvorrang des Art. 12 Abs. 1 GG

417

b) Schrankenvorrang des Art. 5 Abs. 3 GG

418

c) Differenzierende Lösung

419

4. Einzelne Konkurrenzfälle im Wissenschaftsbetrieb (Falltypen)

420

a) Wissenschaftliche Experimente

420

b) Durchführungsmodalitäten

420

c) Ergebnisveröffentlichung

420

d) Ergebnisverwertung

420

e) Qualifikationsanforderungen

420

B. Kollisionsmodell I. Begründung des Kollisionsmodells

423 423

1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

423

2. Abwägungsregel

424

3. Schwächen des Kollisionsmodells

425

4. Ausscheidung von Schein-Kollisionen

426

II. Die kollidierenden Verfassungsgüter 1. Probandenschutz a) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit b) Staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG

427 427 427 427

Inhaltsverzeichnis c) Wirkung einer Einwilligung 2. Persönlichkeitsschutz a) Schutz personenbezogener Forschungsdaten

428 431 431

b) Recht auf gen-informationelle Selbstbestimmung

433

c) Recht auf genetische Unverfälschtheit

434

d) Recht auf Kenntnis der genetischen Abstammung

435

3. Embryonenschutz

438

a) Beginn menschlichen Lebens

438

b) Lebensschutz des Embryos

439

c) Menschenwürdeschutz des Embryos

440

4. Tierschutz

443

a) Art. 74 Ziff. 20 GG

443

b) Menschenwürde (MÄDRICH)

447

5. Umweltschutz, Nachweltschutz

451

a) Personaler Umweltschutz

451

b) Nachweltschutz

452

c) Medialer Umweltschutz

454

d) Staatsziel Umweltschutz

457

6. Schutz von Bestand und Funktionsfähigkeit der Forschungseinrichtung

458

a) Staatliche Forschungseinrichtungen

458

b) Private Forschungseinrichtungen

462

7. Friedenssicherung

463

a) Entwicklung von Angriffswaffen

463

b) Andere militärisch relevante Forschung

463

III. Abwägungsdirektiven 1. Allgemeine Abwägungsmaßstäbe

464 464

a) Einheit der Verfassung

464

b) Praktische Konkordanz

464

c) Einzelfallösung

465

d) Übermaßverbot

466

e) Wesensgehaltssperre

468

f) In dubio pro übertäte

470

16

Inhaltsverzeichnis 2. Rang der Forschungsfreiheit im Gefüge der Verfassungswerte

471

a) Harte Rangordnung der Verfassungswerte

471

b) Weiche Rangordnung der Verfassungswerte

474

c) Rangverhältnisse des Art. 5 Abs. 3 GG (Falltypen)

478

d) Rangverhältnis und grundrechtliche prima-facie-Freiheit

484

3. Spezielle Abwägungsdirektiven

490

a) Zweckbezug der Forschungsarbeit

491

b) Ablaufphasen des Forschungsprozesses

492

c) Stellung und Funktion des Wissenschaftlers

493

d) Verantwortlichkeit des Verhaltens

493

Zusammenfassung in Thesen

495

Literaturverzeichnis

515

Einleitung

MEPHISTO: Was gibt es denn? WAGNER: Es wird ein Mensch gemacht. MEPHISTO: Ein Mensch? Und welch verliebtes Paar habt Ihr ins Rauchloch eingeschlossen? WAGNER: Behüte Gott! wie sonst das Zeugen Mode war, Erklären wir für eitel Possen. Der zarte Punkt, aus dem das Leben sprang, Die holde Kraft, die aus dem Innern drang Und nahm und gab, bestimmt sich selbst zu zeichnen, Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen, Die ist von ihrer Würde nun entsetzt; Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt, So muß der Mensch mit seinen großen Gaben Doch künftig reinem, höhern Ursprung haben. Es leuchtet! seht! - Nun läßt sich wirklich hoffen, Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen Durch Mischung - denn auf Mischung kommt es an Den Menschenstoff gemächlich komponieren, In einem Kolben verlutieren Und ihn gehörig kohobieren, So ist das Werk im stillen abgetan. Es wird! die Masse regt sich klarer! Die Überzeugung wahrer, wahrer: Was man an der Natur Geheimnisvolles pries, Das wagen wir verständig zu probieren, und was sie sonst organisieren ließ, Das lassen wir kristallisieren. MEPHISTO: Wer lange lebt, hat viel erfahren, Nichts Neues kann für ihn auf dieser Welt geschehn. Ich habe schon in meinen Wandeijahren Kristallisiertes Menschenvolk gesehn. WAGNER: Es steigt, es blitzt, es häuft sich an, Im Augenblick ist es getan. Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll; doch wollen wir des Zufalls künftig lachen, Und so ein Hirn, das trefflich denken soll, Wird künftig auch ein Denker machen.

18

Einleitung Das Glas erklingt von lieblicher Gewalt, Es trübt, es klärt sich; also muß es werden! Ich seh in zierlicher Gestalt Ein artig Männlein sich gebärden. Was wollen wir, was will die Welt nun mehr? Denn das Geheimnis liegt am Tage: Gebt diesem Laute nur Gehör, Es wird zur Stimme, wird zur Sprache. (Faust II)

Die Arbeit am Lehrstuhl führte mich im Frühsommer 1987 zur Beschäftigung mit den (verfassungs-)rechtlichen Fragen der modernen Gentechnologie und Reproduktionsmedizin. Dabei fiel auf, daß die ganz überwiegende Zahl der Autoren die damit einhergehenden Konflikte und Probleme durch Güterabwägung auf der grundrechtlichen Schrankenebene lösen will; Art. 1 Abs. 1 GG erfährt als potentieller Legitimationsgrund für gesetzliche Beschränkungen der Forschungsfreiheit eine nicht geahnte Hochkonjunktur. Hingegen werden kaum jemals Inhalt und Grenzen des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 3 GG problematisiert. Es scheint selbstverständlich, daß jegliche Art gentechnischer Experimente, auch solche am humanen Erbgut oder mittels menschlicher Embryonen, oder die Freisetzung gentechnisch manipulierter Mikroorganismen in die Umwelt, dem Schutze des Art. 5 Abs. 3 GG zunächst ohne weiteres unterfällt, und daß gesetzliche Verbote und Beschränkungen unvertretbarer Forschungspraktiken der Legitimation auf der grundrechtlichen Schrankenebene bedürfen. Bei der Analyse des verfassungsrechtlichen Schrifttums zu Art. 5 Abs. 3 GG wurde deutlich, daß das wissenschaftliche Interesse bis weit in die siebziger Jahre hinein nahezu ausschließlich hochschulspezifischen Themenstellungen galt. Außerhalb der Universitäten schien es wissenschaftliche Forschung oder Lehre gar nicht zu geben. Auch heute noch ist die Aufarbeitung von Thematiken im Zusammenhang mit außeruniversitärer Forschung umgekehrt proportional zu deren tatsächlicher Bedeutung. Dies gilt nicht nur für die Fragen der Gentechnologie - diese haben die Vernachlässigung schwieriger Problemfelder lediglich deutlicher ins Bewußtsein treten lassen. Diese eigentümliche Diskrepanz zwischen der überragenden Bedeutung der Naturwissenschaften in der modernen Welt und damit auch der Freiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG für diesen Bereich auf der einen Seite und andererseits dem Defizit an verfassungsdogmatischer Durchdringung der damit einhergehenden Probleme war der eigentliche Anlaß für die nachfolgende Untersuchung.

Einleitung

Sie geriet dabei im Lauf der Bearbeitung breiter und auch grundsätzlicher als zunächst geplant. Die Ambivalenz bio- und gentechnologischer Forschung erwies sich lediglich als eine unter vielen interessanten Entwicklungslinien moderner Naturwissenschaften, die im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG Fragen aufwerfen. Fünf solcher Entwicklungslinien sind in Teil 1 der Arbeit dargestellt. Dort wird beschrieben, wie sich naturwissenschaftliche Forschung dem kritischen Beobachter heute darstellt. Die Beschreibimg basiert auf einschlägigen empirischen Erhebungen von Wissenschaftssoziologen, -Psychologen und Betriebswirten; zur Abrundung waren Gespräche mit befreundeten Kollegen aus naturwissenschaftlichen Fakultäten hilfreich. Die Entwicklungslinien der modernen Naturwissenschaften wurden kontrastiert einmal zum Wissenschaftsbild des Deutschen Idealismus und v. HUMBOLDTS, das auch für heutige Wissenschaftsauffassungen als stilbildend gelten kann. Zum anderen wurden, wo dies möglich und angebracht schien, die Abweichungen gegenüber der Erscheinungsform wissenschaftlicher Forschung zur Zeit der Entstehung des Wissenschaftsfreiheitsrechts herausgestellt. Gerade hier erhebt sich die Frage, ob dem geistesgeschichtlichen Fundament der Grundrechtsverbürgung nicht eine Vorstellung von Wissenschaft zugrunde liegt, die mit der Wirklichkeit der Naturwissenschaften von Heute zum großen Teil nicht mehr Schritt halten kann. Der beschreibende Teil der Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität; zur Verdeutlichung der Probleme wurde eine eher pointierte Darstellung gewählt. Berücksichtigung fand jeweils auch die aktuelle rechtspolitische Entwicklung, da gerade sie im Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 3 GG ungelöste Auslegungs- und Subsumtionsprobleme aufwirft. Teil 2 befaßt sich mit der Frage, auf welche Weise die Begriffe "Wissenschaft, Forschung und Lehre" einer subsumtionsfähigen Auslegung zugeführt werden können. Dabei wird eine Reihe von Interpretationsansätzen auf ihre verfassungsrechtliche Haltbarkeit hin analysiert. Die Argumentationsmuster sind nur zum Teil wissenschaftsspezifisch, im übrigen weist ihre Relevanz über den Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 GG hinaus. Am Ende des 2. Teils steht der Versuch, mittels einer pragmatischen Methode der Grundrechtsinterpretation einen subsumtions- und abgrenzungstauglichen verfassungsrechtlichen Wissenschaftsbegriff zu entwerfen. Teil 3 schlägt die Brücke zu den Entwicklungslinien moderner Naturwissenschaften in Teil 1. Wesentlicher Inhalt ist die Prüfung der Frage, ob und inwieweit zur Lösung der aufgeworfenen Probleme und Konflikte der Tatbestand der Wissenschaftsfreiheit Strukturierungen, Konkretisierungen und Begrenzungen erfahren kann. Dadurch könnte die Güterabwägung auf der Schrankenebene entlastet werden. Begrenzungsansätze sind zunächst möglich in sachlicher Hinsicht; hier existieren bereits Überlegungen, die einer

20

Einleitung

verfassungsrechtlichen Bewertung zu unterziehen waren. Bei der Konkretisierung des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG in subjektiver Hinsicht mußte dagegen weitgehend Neuland betreten werden. Das vieldiskutierte Thema "Forschungsfreiheit und Forscherverantwortung" wurde am Ende von Teil 3 eingefügt, wenngleich es sich dabei nicht durchweg um ein Schutzbereichs-Problem handelt. Der Abschnitt enthält den Versuch, das an die Wissenschaftlergemeinde adressierte Verantwortungspostulat inhaltlich zu erfassen und zu strukturieren. Schließlich sollten in Teil 4 alle Probleme und Konflikte, die trotz präziser Umschreibung des Schutzbereichs der Wissenschaftsfreiheit noch offen geblieben sind, als Schrankenfälle zur Klärung gebracht werden. Methodisch bot sich eine Konkurrenz- und eine Kollisionslösung an. Zur Rationalisierung des grundrechtlichen Entscheidungsverfahrens wurde eine Strukturierung des grundrechtlichen Abwägungsprozesses versucht. Nicht behandelt werden konnten alle mit dem Thema "Forschungsförderung" zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Probleme, obgleich "Lenkung durch Förderung" als Erscheinungsform der Finalisierung naturwissenschaftlicher Forschung in Teil 1 thematisiert ist. Nicht behandelt, weil nicht zum Thema gehörend, wurde die Tendenz zur Behinderung wissenschaftlicher Forschung bei der Auffindung der für sie relevanten Daten: Hiervon sind in erster Linie die empirischen Sozial-, Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften betroffen und es stellt sich die Frage, inwieweit Art. 5 Abs. 3 GG diesen einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Datenzugang vermitteln kann1.

1

Dazu etwa BVerfG, NJW 1986, S. 1243; BVerwG, NJW 1986, S. 1277; OVG Koblenz, NJW 1984, S. 1243

Erster Teil

Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung A. Ambivalenz

Moderne naturwissenschaftliche Forschung ist in zunehmendem Maß ambivalent: Täglich erleben wir Hilfe und Entlastung durch wissenschaftliche und technische Errungenschaften, auf die wir gar nicht mehr verzichten könnten: Arbeitserleichterung durch "intelligente" Maschinen, Fortschritte in Medizin und Hygiene, Möglichkeiten der Information, Kommunikation und Mobilität seien nur als Beispiele erwähnt. Auch für die künftige Entwicklung der Gesellschaft birgt die Naturwissenschaft enorme Chancen, die Lösung vielfältiger Probleme wird an sie herangetragen: Wer, wenn nicht die Wissenschaft, sollte sie bewältigen? Andererseits war naturwissenschaftliche Forschung tendenziell nie mit so großen Nachteilen und Risiken behaftet wie heute: Sicherheitsrisiken, Mißbrauchsgefahren, ökologische, soziale und rechtliche Folgelasten sind oft nahezu zwangsläufig die Schattenseiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. C. F. v. WEIZSÄCKER umschreibt die Situation zutreffend so: "Der wissenschaftlich-technische Fortschritt radikalisiert durch seine Konsequenzen die Probleme der Gesellschaft, in der wir leben. Er schafft Wohlstand und kann soziale Ungleichheiten stützen, er sichert den Menschen vor den Naturgewalten und bedroht den Menschen durch Zerstörung der Natur, er schafft Vorbedingungen der Freiheit und stabilisiert Herrschaften." 1 So ambivalent wie die naturwissenschaftliche Forschung selbst sind auch die Einstellungen ihr gegenüber: Das Spektrum reicht von blindem Wissen1 Carl Friedrich von WEIZSÄCKER, zitiert nach BENDA in: GG und technologischer Wandel, S. 51 - Ähnlich CORETH in: Der freie Raum, S. 40; KÜNG, Steuerung, S. 36ff.; BUCH in: Wissenschaft, Technik, Humanität, S. 203f.

22

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

schaftsglauben2 bis zu Wissenschaftsfeindschaft 3 und völliger Ablehnung technischen Fortschritts. Die einen sehen im Fortschreiten der Naturwissenschaften die einzige Garantie für das Überleben der sich rasch vermehrenden Weltbevölkerung, andere fordern den Umstieg auf "sanfte" Technologien, Forschungsmoratorien oder den Ausstieg aus riskanten Entwicklungsvorhaben. Wissenschaft befindet sich zunehmend unter Legitimationsdruck.

/. Chancen naturwissenschaftlicher

Forschung

1. Verstehen der Welt, Bildung der Menschen Wert und Nutzen jeglicher wissenschaftlicher Forschung liegen seit je im Zuwachs an Erkenntnissen und Wissen der Menschheit über ihre Lebenswelt. Das vollständige Kennen-wollen der Wirklichkeit (curiositas) ist die ursprüngliche Triebkraft aller wissenschaftlichen Aktivitäten4. Durch die lehrmäßige Vermittlung der Erkenntnisse wurde und wird einem interessierten Publikum die Bildung zuteil, die gerade das Wesen einer Kulturnation prägt. Während bis ins 18. Jahrhundert Bildung durch Lehre und Erkenntnisgewinn durch Forschung die Privilegien einer kleineren, vornehmlich kirchlichreligiös beeinflußten5 Schicht waren, stellten die Schriften der Deutschen Idealisten (SCHELLING, FICHTE, SCHLEIERMACHER u. a.) und W. v. HUMBOLDTs 6 die Bedeutung einer möglichst umfassenden Bildung aller Interessierten als Fundament für gesellschaftlichen, sozialen und politischen Fortschritt heraus7. In der Universität als absichtsloser Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden sollten dem einzelnen durch die Beschäftigung mit zweckfreier Wissenschaft in "Einsamkeit und Freiheit" über die Er2

ΚΑΜΡΓΓΖ in: Andere Wissenschaft, S. 149

3

Zu den vielfältigen Ursachen wachsender Wissenschaftsfeindschaft LÜBBE, Wirtschaft und Wissenschaft 4/1976, S. 2ff.; ders., Zeit-Verhältnisse, S. 122ff.; MEYER-ABICH in: Hochschule und Öffentlichkeit, S. 211ff. Zu diesem "Beruf" der Wissenschaft eingehend M. WEBER in: Gesammelte Aufsätze, S. 593ff. und 607f.: Kenntnis der Technik, Methoden des Denkens, Hilfe zur Klarheit. 5 Erst die "Säkularisation" der politischen Herrschaft vollzog die Befreiung wiss. Denkens aus den bis dahin dominierenden religiösen Bindungen, ersetzte sie jedoch häufig durch staatlich-obrigkeitliche Bevormundung; vgl. nur die "Karlsbader Beschlüsse" vom 20.9.1890. 6 Die wichtigsten Schriften enthält der Sammelband: Die Idee der Deutschen Universität, hrsg. v. Ernst Anrieh, Darmstadt 1964. 7

Umfassend SCHELSKY, S. 63ff., 78ff., insb. 85ff.; v. HUMBOLDT in: Deutsche Universität, S. 379f.; ders. in: Werke Bd. 1, S. 234ff.

Α. Ambivalenz

23

kenntnis hinaus sittliche Handlungsnormen vermittelt werden8. Auf dieser Grundlage formulierte v. HUMBOLDT sein Postulat der Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre für die zu gründende Berliner Universität9, die für die weitere deutsche Wissenschaftsgeschichte stilbildend wurde10. Bildung war nicht nur damals, sondern ist auch heute ein bedeutender Wert, nicht zuletzt deshalb, weil das freiheitlich demokratische Prinzip des Grundgesetzes auf dem Menschenbild des mündigen und gebildeten Bürgers beruht. Nach aktuellen Umfragen nimmt Bildung tatsächlich in der persönlichen Wertehierarchie der Bundesbürger nach Familie-Freunde-Freizeit mit 79% immerhin den vierten Rangplatz vor Beruf, Kultur und Politik

2. Anwendungsnutzen, gesellschaftliches Problemlösungspotential Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis wurde von der idealistischen Konzeption einer "reinen" Wissenschaft tendenziell ausgegrenzt12. Praktischen Anwendungsnutzen oder die Erschließung neuer Märkte rechnete im allgemeinen man nicht der Wissenschaft als Wert zu13. Es mag daher überraschen, daß die Einschätzung der Wissenschaften nach ihren praktischen Möglichkeiten keineswegs eine Erfindung der modernen Industriegesellschaft ist. Vielmehr war das Prinzip der Nützlichkeit schon zu Beginn der Neuzeit als Wissenschaftsstimulans bekannt: F. BACON, der Begründer des englischen Empirismus, sah im Zusammentragen theoretischen Wissens ein Mittel, praktische Herrschaft über die Natur zu gewinnen14; von einer Ausweitung der Erkenntnis versprach er sich die Möglichkeit, die Bedürfnisse aller Menschen kollisionsfrei zu befriedigen und dadurch der Gesellschaft politische Stabilität zu sichern15. Dieses modern anmutende Wissenschaftsverständnis blieb nur deshalb über Jahrhunderte Utopie, weil die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis

8

SCHELSKY, aaO.; SCHULZ^PRIESSNITZ, S. 43ff. - Siehe auch BVerfGE 35,79/109.

9

v. HUMBOLDT in: Werke Bd. 1, S. 555ff.; ders. in: Deutsche Universität, S. 377ff.

10

OPPERMANN in: Hdb. StaatsR. Bd. VI, S. 810

11

BAT-Freizeit-Forschungsinstitut, zitiert nach A. KOEPPLER, "Eine praktikable Lösung" in: SZv. 15.12.1988. 12

v. HUMBOLDT in: Werke Bd. 1, S. 560f.; SCHELSKY, S. 69ff. und 91

13

Anders bereits FICHTE, Über die Bestimmung des Gelehrten in: Werke Bd. VI, S. 326f.

14

HIRSCHBERGER, S. 104; MEYERS Enzyklopäd. Lexikon Bd. 3, "Bacon Francis" Francis BACON, Neues Organon I, Nr. 81 und 129

15

24

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

wegen der vergleichsweise geringen technischen Möglichkeiten meist erhebliche Zeiträume in Anspruch nahm. Erst seit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts verkürzte sich der Weg von der Erkenntnis zur Anwendung stetig, während sich gleichzeitig der wissenschaftliche Erkenntniszuwachs beschleunigte16. Bei der Frage nach Chancen und Nutzen naturwissenschaftlicher Forschung trat nun der Gedanke an praktische Anwendungsmöglichkeiten für Technik, Industrie, Medizin und Politik (Relevanz) in den Vordergrund. Der BUNDESBERICHT FORSCHUNG 198817 umschreibt die Chancen der Naturwissenschaften so: "...wenn wir der Verantwortung, die mit neuem Wissen stets verbunden ist, gerecht werden wollen, muß aus dem Problemwissen auch Handlungs- und Gestaltungswissen werden. Auf dessen Umsetzung, auf das Erproben und Ergreifen neuer Chancen in Forschung und Technik richten sich große Hoffnungen..." Als wesentliche Forschungsschwerpunkte werden AIDS, die Bekämpfung von Krebs, Rheuma und anderen Volkskrankheiten sowie die Sicherheits- und Umweltforschung hervorgehoben. Die Wissenschaft hat sich - nicht zuletzt dank massiver staatlicher Förderung und erheblicher Reputations- und Gewinnaussichten - auf die Herausforderung eingelassen und sucht mit erheblichem Aufwand und ersten Erfolgen nach Antworten auf die gestellten Probleme: So konnte man in letzter Zeit neue und grundlegende Einsichten in die vielfältigen Entstehungsursachen von Krebs gewinnen als Voraussetzung für die Entwicklung verbesserter Diagnose- und Therapiemöglichkeiten18. Die Forschung zur Bekämpfung und Verhütung von AIDS wurde in ähnlich kurzer Zeit aufgebaut, wie die Problematik dieser neuartigen Seuche ins Bewußtsein der Öffentlichkeit drang19; heute kennt man bereits Struktur und Wirkungsweise des verantwortlichen HIV-Virus, sichere Antikörpertests wurden gefunden und an der Entwicklung von Impfstoffen und wirksamen Therapeutika wird intensiv gearbeitet20. Seit die massive Bedrohung unserer natürlichen Le16

AUER in: Wissenschaft, Technik, Humanität, S. 13; SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 33

17

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 29

18

Zum Stand der Krebsforschung in der BRep: Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit, hrsg. v. BMFT, Bonn 1988, S. 31; C. ULLMANN, "Krebstherapie - eine Bilanz" (Gesundheitsforum der SZ) in: SZ v. 3./4.12.1988; M . F I N K / M. BERGER, "Neue Möglichkeiten der Krebsbehandlung" in: forschung 4/1988, S. 25f. 19 Zur Geschichte der AIDS-Forschung: KOCH, AIDS, S. 92ff. insb. S. 97 (Übersicht); ders. u. a., Spektrum der Wissenschaft (Sonderdruck) 2/1987, S. 2; Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit, hrsg. v. BMFT, Bonn 1988, S. 32. 20 Zum Stand der AIDS-Forschung: DITZEL, Deutsche Apotheker Zeitung 1987, S. 2335ff.; KOCH, AIDS, S. 56ff. und 143ff.; AIDS - Eine Herausforderung an die Wissenschaft (3. Bericht), hrsg. v. BMFT, Bonn 1988, S. 17ff.; PFEFFER, HIV-Tests, S. 22ff.

Α. Ambivalenz

25

bensgrundlagen durch den rapiden wissenschaftlich-technischen Fortschritt und damit die Bedeutung des Umweltschutzes für die Sicherung der Zukunft der Menschheit virulent wurde, setzen die Verantwortlichen große Erwartungen in die ökologische Forschung 11] durch interdisziplinäre Erforschung der ökologischen Zusammenhänge sollen Schädigungen und Schädigungsmöglichkeiten erkannt und damit die Grundlagen für wirksame Schutz-, Vorsorge- und Sanierungsmaßnahmen geschaffen werden22. Wie in keinem anderen Bereich ist hier vor allem die Politik auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen angewiesen23. Wahre Wunderwerke zur Lösimg dieser und anderer Probleme erwartet man sich von der bio- und gentechnologischen Forschung in all ihren Facetten24: Zucht von Mikroben, die Ölteppiche, verseuchtes Erdreich (Altlasten) oder Industrieabwässer entsorgen können25; Herstellung von Treibstoffen aus Pflanzen mit Hilfe speziell manipulierter Bakterien (nachwachsende Rohstoffe 26); Einsatz der Gentechnik in der Pflanzenzucht zur Herstellung von Pflanzen, die in irgendeiner Form interessantere Eigenschaften als ihre natürlich vorkommenden Verwandten besitzen, die etwa unter extremen Klimabedingungen und ohne Düngemittel gedeihen und damit zur Verbesserung der Ernährungssituation in den Drittweltländern beitragen könnten27; gentechnische Züchtung von Hochleistungsnutztieren mit ähnlicher Zielsetzung28; kostengünstige Fermentation lebensnotwendiger Arzneimittel (Insulin, Interferon, Blutgerinnungsfaktoren, Wachstumshormone, Antibiotika) durch gentechnisch manipulierte Bakterien29; Heilung von menschli21 Zur staatlichen Förderung der Umweltforschung SOELL in: Jb. d. Umwelt- und Technikrechts 1989, S. 7ff. 22

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 137f.; BMFT-Journal 1988/3, S. 3 und 5/1988, S. 3 23

SOELL in: Jb. d. Umwelt- und Technikrechte 1989, S. 6

24

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 23; BDI-Hintergrundpapier, S. 2ff. und lOff.; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 40ff.; GAREIS in: Gentechnologie, Bd. 3, S. 331ff.; WINNACKER, ebd., S. 339ff.; GASSEN / MARTIN / SACHSE, S. 75ff., 79ff. und 95ff.; Int. Konferenz in Rambouillet in: Gentechnologie und Verantwortung, S. 81f.; BMFTJournal 2/1989, S. 8 - Zu den Gegenstandsbereichen von Biotechnologie, "genetic engineering" und Reproduktionsmedizin (in-vitro-Fertilisation und Embryotransfer) KAUFMANN, JZ1987, S. 837ff.; ZIMMERLI in: Gentechnologie Bd. 3, S. 67ff. 25

KLINGMÜLLER in: Genforschung im Widerstreit, S. 31f.; BMFT-Journal 2/1989, S. 16; Programmreport Biotechnologie, hrsg. v. BMFT, Bonn 1989, S. 67ff. 26

Programmreport Biotechnologie, hrsg. v. BMFT, Bonn 1989, S. 81ff.

27

BMFT-Journal 5/1987, S.12 und 5/1988, S. 3; KLINGMÜLLER in: Genforschung im Widerstreit, S. 34ff.; P. LÖSCH, "Forschen für die Zeit der Dürre" in: SZ v. 9.3.1989 28 29

G. STEWART, "Gezinkte Schafe überlisten die Natur" in: SZv. 24.9.1987

BMFT-Journal 5/1987, S. 2 und 2/1989, S. 7; KLINGMÜLLER in: Genforschung im Widerstreit, S. 32ff.; U. WOLFF, "Arzneien für die Zukunft" in: SZv. 21.3.1988.

26

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

chen Erbkrankheiten durch Gentransfer in somatische Zellen30; Früherkennung unheilbarer schwerer Gendefekte zur Vermeidung oder zum frühzeitigen Abbruch der Schwangerschaft31; bessere Erfassung latenter, genetisch bedingter Krankheitsrisiken durch Genomanalyse, auf die sich der Betroffene dann in seiner Lebensführung einstellen kann32; Verbesserung der Verbrechensaufklärung durch "genetischen Fingerabdruck"33; Erforschung der genetischen Wirkungszusammenhänge von Krebs34, AIDS 35 , Allergien und anderen Krankheiten als Grundlage für bessere Diagnostik und Therapie; und schließlich Überwindung der Kinderlosigkeit bei Infertilität eines oder beider Partner durch die menschliche Reproduktionsmedizin36. Vieles hiervon ist schon möglich, manches wird vielleicht in absehbarer Zukunft gelingen. Schon heute ist absehbar, daß die durch die Gentechnologie methodisch erweiterte Biotechnik wesentliche Lebensbereiche wie Gesundheit, Ernährung und Umweltschutz tiefgreifend beeinflussen wird. Die Gentechnik erscheint als die eigentliche "Schlüsseltechnologie" der Zukunft.

3. Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftswachstum und Wohlstand In einer Welt des immer komplexer und vielfältiger werdenden Güterund Leistungsaustausches gelten im Wettlauf der Industrienationen um Res30

Ζ. B. durch Transplantation genetisch veränderten Knochenmarks, vgl. R KNERR, "Spezialfall für die Genchirurgie: Hoffnung auf Hilfe bei sog. Thalässämien" in: SZ v. 28.1.1988; T. v. RANDOW, "Die nachgebesserte Schöpfung" in: Die Zeit v. 25.3.1988 - Gentransfer in Keimbahnzellen wird aus ethischen Gründen allg. abgelehnt, vgl. GAREIS in: Gentechnologie Bd. 3, S. 338; KAUFMANN, JZ1987, S. 845ff.; Empfehlungen der Europ. Medical Research Councils in: Forschritte der Medizin 4/1989, S. 56. 31 Α. BOPP, "Transabdominale Chorionzottenbiopsie" in: SZ v. 25.9.1987; M. BEHRENDS, "Was der Wandel der Medizin bewirkt" in: FAZ v. 18.8.1988 - Es handelt sich um die sog. eugenische oder kindliche Indikation nach § 218a Abs. 2 Ziff. 1 StGB, vgl. DREHER / TRÖNDLE, StGB-Komm., § 218a, Rz. 14. 32 Für psychische Erkrankungen: S. SEGESSER, "Die Erblast von Seelenleiden" in: SZ v. 3.9.1988; I. HAYN, "Ursachen von Schizophrenie" in: SZv. 9.1.1989 33 "Deutsches Gericht läßt genetischen Fingerabdruck zu" in: Frankfurter Rundschau v. 15.12.1988; "BKA will "genetischen Fingerabdruck" nehmen" in: SZv. 12.10.1989; "Genetischer Fingerabdruck" in: FAZ v. 11.10.1989 - Der Einsatz gentechnischer DNS-Analysen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist allerdings durch die StPO nur ungenügend geregelt, vgl. wib 1/89-X/65 v. 25.1.1989, S. 49; recht. Informationen des BMJ 3/1989, S. 37. 34 Programmreport Biotechnologie, hrsg. v. BMFT, Bonn 1989, S. 59ff.; H. RADEMACHER, "Gentechnische Experimente an Krebskranken" in: FAZ v. 29.5.1989 35 DITZEL, Deutsche Apothekerzeitung 1987, S. 2334; wib 2/1988-X/27 v. 27.1.1988, S. 31. 36

Zu den Schwierigkeiten der in-vitro-Fertilisation: Benda-Bericht in: Gentechnologie Bd. 6, S. 5ff.; G. ERB, "Unfruchtbarkeit - ein ungelöstes Problem" in: SZv. 5./6.1.1989

Α. Ambivalenz

27

sourcen und Märkte wissenschaftliche Forschung und technologische Entwicklung als Garanten für die Behauptung der führenden Positionen. Forschungspotentiale und das hieraus fließende know how sollen die auf Rohstoffknappheit und hohen Lohnkosten beruhenden Wettbewerbsnachteile der Bundesrepublik Deutschland und Europas37 kompensieren, "...im Wettbewerb mit anderen Regionen der Welt, die erst am Beginn der Industrialisierung und der Entfaltung ihrer kreativen und produktiven Kräfte stehen, wird unser Land und wird Europa dann eine Chance haben, wenn es weiterhin zu neuen Antworten und neuen Synthesen fähig ist. Dies bedeutet zum einen, daß Europa und daß die Bundesrepublik Deutschland dort nicht abseits stehen dürfen, wo Forschung und Technik weltweit Optionen eröffnen."38 Dies sei bei den modernen Schlüsseltechnologien der Fall, die in allen Wirtschaftszweigen zu neuen Produkten und Verfahren führten: in der Informationstechnik und Mikroelektronik, in der Biotechnologie, sowie in den neuen Materialtechnologien (ζ. B. Supraleitung)39. "Aber auch dort, wo in sehr langfristiger Perspektive neue Dimensionen eröffnet werden, sieht die Bundesregierung eine Herausforderung." Zu denken ist an Kernfusionsforschung, Meeres- und Polarforschung und Weltraumforschung 40.

IL Nachteile und Risiken 1. Typologie der Forschungsrisiken Zur Größe der naturwissenschaftlichen Zukunftsaufgaben gesellen sich heute zumeist Nachteile und Risiken, die sich aus der Reichweite und Inten37 Im Zeichen des gemeinsamen Europäischen Marktes überwiegt heute die europaweite Sicht: BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 15 und 27; dazu auch der Bericht v. R. GEROLD, "Die Zusammenarbeit in Forschung und Technologie im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft" in: WissR 20 (1987), S. 64ff.; eine Übersicht über die derzeitigen EGForschungsprogramme auf den unterschiedlichsten Gebieten findet sich in wib 1/89-X/67 v. 25.1.1989, S. 51 und der Pressemitteilung, hrsg. v. d. Kommission der EG v. 29.6.1988; ferner gemeinsames Forschungsprogramm für die Zeit von 1990 bis 1994, Rats.-Dok. Nr. 8375/89; Forschungsprogramm für die Biotechnologie, Rats-Dok. Nr. 4147/89 - Rechtsgrundlagen für die Forschungsförderung der EG sind im wesentlichen Art. 55 EGKS-Vertrag, Art. 2, 4 bis 11 Euratom-Vertrag und Art. 41, 235 EWG-Vertrag. 38 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 33, ferner S. 26, 43 und 55 - Siehe auch RIESENHUBER, Audimax 2/1988, S. 4f; ders., BMFT-Journal 3/1988, S. 3; OPPERMANN in: Hdb. StaatsR. Bd. VI, Rz. 20 und 43 39

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 23

40

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 33

28

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

sität wissenschaftlicher Wirkungsmacht ergeben. Typologisch ist eine Einordnung der Forschungsnachteile und -risiken in drei Kategorien möglich und angebracht41: - Von der forschenden Tätigkeit selbst gehen unbeabsichtigt Gefahren für Leben, Gesundheit und Umwelt aus (= Laborrisiken). - Forschungsresultate werden gezielt zu gemeinschädlichen oder ethisch verwerflichen Zwecken eingesetzt (= Mißbrauchsgefahren). - Infolge der praktischen Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse treten nachteilige oder unerwünschte Neben- oder Folgewirkungen ein (= Folgelasten 42). Naturwissenschaftliche Arbeitsgebiete, die keiner dieser Gefahrkategorien zugeordnet werden können (=risikoneutrale Forschung), dürften heute eher die Ausnahme sein: Nur Bereiche ausschließlich beobachtender und praxisferner Grundlagenforschung kommen hier in Frage, wie zum Beispiel eine rein historische Evolutionsforschung, deren Erkenntnisinteresse sich auf den Nachvollzug der Entstehung von Leben und Arten beschränkt43, oder eine ausschließlich beobachtende Biologie zum besseren Verständnis der Naturzusammenhänge44. Ferner dürfen Teilbereiche der Astrophysik45, Astronomie und theoretischen Mathematik hier eingeordnet werden. Im übrigen sind neuartige naturwissenschaftliche Arbeitsgebiete mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht einfach nur harmlos. Vielmehr lehrt die Erfahrung, daß jeder Erkenntnisfortschritt mit Nachteilen erkauft werden muß. Dabei wächst das Problemerzeugungspotential mancher Wissenschaftszweige sogar schneller als ihr Problemlösungspotential46. Nachteile und Risiken werden oft zu spät erkannt oder falsch eingeschätzt, weil Instrumentarien zur Risiko- und Technikfolgenabschätzung, sowie wirksame Kontrollmechanismen fehlen oder zu spät erarbeitet wurden. Es drängt sich die Frage auf, 41

Zur Typologie der Folgen technologischen Handelns allgemein siehe BOHRET, VerwArch 1989, S. 16ff. und 24ff. 42 Hierzu EBERLEIN, S. 119f.; BOHRET, aaO., S. 16ff. und 24ff. 43 Vgl. S.W.v. SEGESSER, "Das Ticken der molekularen Uhr" in: SZ v. 12.11.1987; W. FRESE, "Lebewesen der dritten Art. Anhand der Archaebakterien erhoffen sich Forscher, ein Bild vom Urorganismus entwerfen zu können" in: SZ v. 14.12.1987; S. W. v. SEGESSER, "Wie der Mensch die Erde eroberte" in: SZ v. 4.2.1988; B. FRITSCH, "Die Anfänge des Hörens liegen im Wasser" in: forschung 4/1988, S. 20ff. 44 Vgl. B. LUBER, "Wie ein Embryo sich strukturiert" in: SZ v. 10.8.1987; S. HEYSE, "Knattern in trüben Gewässern" in: SZv. 19.12.1988 45

Vgl. Denkschrift Astronomie, hrsg. v. DFG, Weinheim u.a. 1987, S. 8ff.; M. GLAUBRECHT, "Wie kommt das Wasser ins Meer?" in: SZv. 22.12.1988 46 LÜBBE, Wirtschaft und Wissenschaft 4/1976, S. 8; BOHRET, VerwArch 1989, S. 15

Α. Ambivalenz

29

ob die von Wissenschaft und Technik aufgeworfenen Probleme tatsächlich immer wieder durch den erneuten Einsatz von Wissenschaft und Technik lösbar sein werden47.

2. Die Laborrisiken a) Beschreibung: Unter Laborrisiken sind die von der Forschungsarbeit, insbesondere vom wissenschaftlichen Experiment ausgehenden Gefahren für Leben und Gesundheit der Wissenschaftler, des nicht-wissenschaftlichen Personals, für unbeteiligte Dritte (Nachbarschaft, Bevölkerung) und für die Umweltmedien zu verstehen. Laborrisiken gibt es in allen Bereichen der Naturwissenschaften, in denen mit toxischen oder radioaktiven Substanzen hantiert wird, solche hergestellt werden oder als Abfallprodukte anfallen; dies trifft vor allem auf die chemische, pharmakologische, kernphysikalische und mikrobiologische Forschung zu. Indessen gelten die Gefahren als beherrschbar und die rechtlichen Anforderung als ausreichend. Zu spektakulären Unfällen oder Freisetzungen giftiger Substanzen ist es bislang offensichtlich nicht gekommen. Ein neues Kapitel in der Risikodiskussion wurde aufgeschlagen, seit sich das Interesse der Mikrobiologen in zunehmendem Maß auf die Erforschung und Manipulation kleinster Lebewesen (Bakterien, Pilze und Viren) richtet48, die prinzipiell Überlebens49, vermehrungs- und mutationsfähig sind und die in Interaktion mit anderen Organismen unvorhergesehene Reaktionen entfalten können50. Solche Lebewesen, erst einmal dem abgeschlossenen Labor entwichen, wären nicht mehr rückholbar und könnten das Gleichgewicht der natürlichen Umwelt irreversibel stören51. Sicherheitsbedenken wurden von den Kritikern in dreifacher Hinsicht erhoben: - Bevorzugte Medien für gentechnische Manipulationen sind wegen ihrer Robustheit und ihres schnellen Wachstums die im menschlichen Dick47

MEYER-ABICH in: Hochschule und Öffentlichkeit, S. 212f.

48

Zur Geschichte der Genforschung: THEIMER, S. 86ff.; KLINGHOLZ / MÖLLER, "Gentechnik - Die Welt nach Maß" (Teil 1) in: ΖΕΓΓ-Magazin 1988/11 v. 11.3.1988, S. 32ff.; FLÄMIG, PuZ 1985/B3, S. 6ff. - Zu ihren wissenschaftlichen Grundlagen: GASSEN/ MARTIN / SACHSE, S. 13ff.; KLINGMÜLLER in: Genforschung im Widerstreit, S. 25ff. 49

Viren allerdings nur im Zusammenspiel mit spezifischen Wirtszellen, vgl. SAUER in: Genforschung im Widerstreit, S. 86. 50 Umfassend ARBER in: Genetic Manipulation, S. Iff. 51 KOLLEK in: Gentechnologie Bd. 10, S. 61; KLOEPFER, Umweltrecht, S. 805 Rz. 190; F. HILDEBRAND, "Welche Dienste erweist die Gentechnik der Umwelt?" in: Bay. Staatszeitung ν. 4.9.1987

30

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

darm heimischen Koli-Bakterien (Escherichia coli = E. c.). Hier scheint die Befürchtung naheliegend, daß sich eine gentechnisch veränderte Linie der E. c. im Darm des Forschers ansiedeln, dieser sie dann nach draußen und auf die Menscheit übertragen könnte52. Welche biologisch-medizinischen Folgen etwa die Einnistung und Vermehrung eines ständig Insulin oder Wachstumshormon produzierenden Bakteriums im menschlichen Darm haben könnte, läßt sich nicht sicher voraussagen. Hinzu käme die Gefahr weiterer Mutationen und Genübertragungen53. - Bei einschlägigen Forschungsarbeiten werden häufig gezielt bakterielle Plasmide mit Genen für Antibiotika-Resistenzen aus anderen Plasmiden verknüpft. Diese lassen sich leicht nachweisen und dienen dem Forscher als genetische Marker für manipulierte Bakterien. Es wird nun befürchtet, daß die neuen Plasmide auf pathogene Bakterien "überspringen" und diese mit schwer bekämpfbaren Resistenzen ausstatten könnten. Die Entstehung unbeherrschbarer Erkrankungen könnte die Folge sein54. - Häufiger Forschungsgegenstand der Gentechnologen sind Onkogene und Retroviren. Erstere - normalerweise verantwortlich für die Regulation der Zellteilung- gelten als die entscheidenden Auslöser für bestimmte Krebserkrankungen. Zum besseren Verständnis ihrer Struktur und Wirkungsweise wird onkogene DNA isoliert und in Zellkulturen eingebracht; es besteht der Verdacht, daß solche "nackte" Onkogen-DNA für den Menschen pathogen sein könnte55. Retroviren besitzen die Fähigkeit, ihre Erbinformationen in das Genom einer gesunden Wirtszelle einzubauen, die nach Aktivierung dann ihrerseits zum Virusproduzenten wird; diese natürliche Eigenschaft machen sich Genforscher zunutze, indem sie solche Viren als Überträgervehikel (Vektoren) für artfremde Gene in das Genom von Zellen höherer Organismen benutzen56. Daß Retroviren, die für menschliche Zellen infektiös sind oder dies durch Mutation wurden, für Forscher und Umgebung pathogen sein können, liegt auf der Hand57.

52

SIBATANI in: Gentechnologie Bd. 10, S. 40ff.; SCHILF / KLINGMÜLLER, Sicherheitsforschung, S. lf. 53

Einzeller können mit Hilfe ihrer ringförmigen Plasmide untereinander Gene austauschen, vgl. GASSEN / MARTIN / SACHSE, S. 34f. 54 KLINGMÜLLER in: Genfoischung im Widerstreit, S. 36f. 55

Injektionen onkogener DNA führten im Tierversuch zu Tumoren, vgl. BARTELS in: Gentechnologie Bd. 10, S. 76f.; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 199 56 Anschaulich SAUER in: Genforschung im Widerstreit, S. 86ff.; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 199f. 57

KOLLEK in: Gentechnologie Bd. 10, S. 57ff.; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. S. 200

Α. Ambivalenz

31

Dennoch wird die Gefahr, daß durch Gentechnologie pathogene Mikroorganismen freigesetzt werden könnten, von der Mehrheit der Fachleute als sehr gering eingeschätzt58: Gearbeitet werde hauptsächlich mit abgeschwächten Mikrobenarten, welche außerhalb der Laborbedingungen neben den natürlichen Stämmen nicht überleben könnten59. Jede künstliche Veränderung des Genoms bewirke zudem in der Regel einen Selektionsnachteil. Durch DNS-Rekombinationen erhöhe sich die Pathogenität nicht über den Grad des ursprünglichen Pathogens hinaus. Schließlich sei die Laborsicherheit60 so gut entwickelt, daß sich tatsächlich noch nie ein gefährlicher Zwischenfall ereignet habe61. Infolge dieser Einschätzung wurden die ursprünglich strengen Sicheheitsstandards62 nach und nach gelockert. b) Bewertung: Verfassungs- und sicherheitsrechtlich bleibt eine Gefahr auch bei sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit relevant, wenn die denkbaren Schäden groß und die gefährdeten Rechtsgüter bedeutsam sind63. Dies ist hier - ähnlich der friedlichen Nutzung der Kernenergie - der Fall. Neuere Erkenntnisse stellen zudem die herrschende Sicherheitsphilosophie der Gentechniker in Frage. Jüngste Experimente zeigten, daß gentechnisch veränderte Mikroorganismen unerwartet hochpathogen und vital werden können64. Unter bestimmten Bedingungen konnten sie die Fähigkeit erwerben, sich in Tierkörpern oder in der Umwelt anzusiedeln. Demnach muß auch die Infektion von Menschen für prinzipiell möglich gehalten werden. 58 BDI-Hintergrundpapier, S. 15; WEISSAUER, MMW 1979, S. 1462; SAUER in: Genforschung im Widerstreit, S. 96 - Zu den Argumenten vgl. SIBATANI in: Gentechnologie Bd. 10, S. 40; J. ALBRECHT, " AIDS-Mäuse und Schlimmeres" in: Die ZEIT v. 1.4.1988, S. 41f.; A. ZELL / T. EWE, "Vom Wissen zum Profit" in: Bild der Wissenschaft 4/1984, S. 111 59 Sog. biologisches Containment, vgl. Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 195; differenzierend KLINGMÜLLER in: Genforschung im Widerstreit, S. 37f. 60 Sog. physikalisches Containment, Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 196 61

Bericht der Zentralen Kommission für die biologische Sicherheit (ZKBS) über ihre erste Amtsperiode in: Gentechnologie Bd. 1, S. 172; BMFT-Journal 1987/5, S. 2 62 In der sog. ASILOMAR-Konferenz (1975) hatten sich die Forscher selbst strenge Sicherheitsrichtlinien gesetzt; dazu Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 195; R. KLINGHOLZ, "Gentechnik - Die große Hoffnung" in: ΖΕΓΓ-Magazin 1988/12 v. 18.3.1988, S. 68 - Sie fanden Eingang in die US-Guidelines des National Institute of Health (NIH) v. 1976 und in die Sicherheitsrichtlinien des BMFT, dazu NICKLISCH, DB 1986, S. 2476f. 63 BVerfGE 49, 89/138f.; BVerwGE 45, 51/61; BREUER, DVB1. 1978, S. 833f.; NICKLISCH, DB 1986, S. 2476 und 2478; dere., BB 1989, S. 3; MURSWIEK, WuV 1986, S. 187ff.; ders., Die Verantwortung des Staates, S. 83ff. 64 SIBATANI in: Gentechnologie Bd. 10, S. 41f.; KOLLEK, ebd., S. 59ff.; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 196f.; C. WEYMAYR, "Ein Irrtum der Gentechniker - Manipulation kann Mikroorganismen vitaler machen" in: SZ v. 21.11.1988; M. THURAU, "Risikoforschung mit freier Erbsubstanz" in: SZ v. 1.12.1988; M. THURAU, "Genexperiment macht Bakterium hochinfektiös" in: SZv. 12.12.1988; "Starke Bakterien mit fremden Genen" in: FAZ v. 9.11.1988.

32

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Rätselhafte Krankheitsfälle in mikrobiologischen Labors mit teils tödlichem Ausgang scheinen diese Gefahr zu bestätigen65 - jedenfalls solange sie nicht widerlegt ist66. Hinzu kommt -wie stets- die Nichtausschließbarkeit menschlicher Fehlleistungen67. Das tatsächliche Gefahrpotential gentechnischer Forschungsarbeiten läßt sich zur Zeit kaum realistisch abschätzen, zumal die biologische Sicherheitsforschung noch in den Kinderschuhen steckt. In den USA wurde zwar von Anfang an begleitende Risikoanalyse und -bewertung praktiziert 68, die aber heute als lückenhaft und teilweise überholt gelten muß69. In der Bundesrepublik stehen vergleichbare Projekte erst am Anfang 70, doch setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, daß nur ein experimentelles Programm der Risikoabschätzung bei der Arbeit mit rekombinanter DNS hinreichend sichere Klärung der Gefahrpotentiale bringen kann71. c) Rechtspolitische Entwicklung: aa) Gegen die denkbaren Risiken moderner bio- und gentechnologischer Forschung schützt das herkömmliche System des Sicherheits- und Arbeitsschutzrechts Forscher und Mitwelt nur unzureichend72: Gentechnische und andere Forschungsanlagen sind keine genehmigungsbedürftigen Anlagen i. S. d. BImSchGso daß nur eine reaktive Kontrolle nach den §§ 22ff. BImSchG in Betracht kommt. Wird allerdings in Labors 65 ESER in: Fs. f. Lackner, S. 935; "AIDS-Infektion im Forschungslabor?" in: FAZ v. 23.9.1987; "Krebs im Pasteur-Institut - Zufall oder Notwendigkeit?" in: FAZ v. 25.6.1986; "Sechster Krebsfall am Pasteur-Institut in Paris" in: SZ v. 16.7.1987; C. GREFE, "Ein GenGAU in Paris?" in: Die ZEIT v. 1.4.1988; "Pasteur-Forscher sterben an Krebs" in: SZ v. 15./16.4.1989 66

Zum Stand der Untersuchungen Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 200

67

BINDER in: Gentechnologie Bd. 3, S. 295; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 201f. (Empf. 5) 68

Vorwiegend durch das NIH, vgl. BARTELS in: Gentechnologie Bd. 10, S. 72

69

Neuartige Forschungsbereiche blieben unberücksichtigt, aaO., S. 73,77,80.

70

Siehe etwa: SCHILF / KLINGMÜLLER, Sicherheitsforschung; Förderkonzept des BMFT zur Biologischen Sicherheitsforschung als Teil des Programms "Angewandte Biologie und Biotechnologie" in: BMFT-Journal 1987/5, S. 2; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 30f. und 159; Programmreport Biotechnologie, hrsg. v. BMFT, Bonn 1989, S. 73f. 71 RIESENHUBER, BMFT-Journal 5/1988, S. 3 - In diese Richtung gehen auch Empfehlungen der Enquete-Kommission Gentechnologie auf S. 201f., sowie der Int. Konferenz in Rambouillet in: Gentechnologie und Verantwortung, S. 83. 72 So auch WINTER, DVB1. 1986, S. 589ff.; NICKLISCH, DB 1986, S. 2477; KLOEPFER, Umweltrecht, S. 810 Rz. 201; HART, KJ1989, S. lOOf. 73

Die 4. BImSchVO i. d. F. v. 1.9.1988 erklärt gentechnische Fabrikationsanlagen zu genehmigungsbedürftigen Anlagen i. S. d. § 4 BImSchG, nimmt Forschungsanlagcn aber ausdrücklich aus.

Α. Ambivalenz

33

mit vermehrungsfähigen Erregern von auf den Menschen übertragbaren Krankheiten hantiert, ist dafür zum Schutz der menschlichen Gesundheit grundsätzlich eine Erlaubnis nach dem BSeuchenG einzuholen. Hiervon befreit sind aber Ärzte, Krankenhäuser und öffentliche Forschungseinrichtungen; ihre Arbeiten können untersagt werden, wenn geeignete Räume nicht vorhanden sind oder die erforderliche Zuverlässigkeit oder Sachkunde des Laborpersonals fehlt 74. Werden zu Forschungszwecken radioaktive Strahlen eingesetzt, enthält die StrahlenschutzVO 15 materielle und formelle Schutzvorschriften 76. Fallen i. R. d. Forschungstätigkeit Reststoffe an, für die eine Wiederverwertung nicht in Betracht kommt, gelten diese als Abfall i. S. d. AbfallG 71. Sind diese Abfälle in besonderem Maße gesundheitsgefährdend oder enthalten sie Erreger übertragbarer Krankheiten, können an ihre Beseitigung zusätzliche Anforderungen gestellt werden78. Von dieser Regelung sind aber die in der gentechnischen Forschung anfallenden Abfälle aus regelungstechnischen Gründen derzeit nur zum Teil erfaßt 79. Abgesehen hiervon können die Landesabfallgesetze80 oder die Abfallsatzungen der beseitigungspflichtigen Körperschaften Vorbehandlungen des Abfalls 81 verlangen. Nach § 7a Abs. 1 Satz 4 WHG /. V. m. der WasserherkunftsVO führt die "Herstellung und Verwendung von Mikroorganismen und Viren mit in-vitro neukombinierten Nukleinsäuren" bei Abwassereinleitungen zur Erlaubnispflicht. Die Mindesanforderungen nach den anerkannten Regeln der Technik werden durch Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung festgelegt (§ 7a Abs. 1 Satz 2 WHG). Der Arbeitssicherheit und dem Gesundheitsschutz des Laborpersonals dient das weite Feld des Arbeitsschutzrechts. Durch verbesserte Schutzmaß74

§§ 19ff. BSeuchenG - Entsprechendes gilt für Tierseuchenerreger nach der TierseuchenerregerVO v. 25.11.1985 (BGBl. I, S. 2123). 75 VO über den Schutz vor Schäden durch ionisierende Strahlen v. 13.10.1976 (BGBl. I, S. 2905) 76 Gebundene Genehmigung, Benennung eines Strahlenschutzbeauftragten, differenzierte Dosisgrenzwerte für das Personal. 77

§ 1 Abs. 1 S. 1 AbfG

78

Gefährliche Abfälle gem. § 2 Abs. 2 AbfG

79

§ 2 Abs. 2 AbfG schließt an sich auch Abfalle aus Forschungslabors gewerblicher Unternehmen o. öffentlicher Einrichtungen ein, vgl. HÖSEL / v. LERSNER, AbfG-Komm., § 2 Rz. 29. Nötig ist jedoch die Aufnahme in die VO zur Bestimmung von Abfällen v. 24.5.1977 (BGBl. I, S. 773); die darin enthaltenen Herkunftsbezeichnungen lassen aber mikrobiologische Forschungseinrichtungen außen vor, so daß § 2 Abs. 2 AbfG auf deren Abfalle derzeit unanwendbar ist; erfaßt sind nur "Abfalle aus Verfahren zur Herstellung pharmazeutischer Erzeugnisse" und "Krankenhausabfälle" aus Krankenhäusern und Kliniken. 80 HÖSEL / v. LERSNER, AbfG-Komm., § 3 Rz. 5 81

Ζ. B. Desinfektion

34

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

nahmen82 bzw. durch den Ersatz gefährlicher Stoffe oder deren Verbot, falls weder Schutz noch Ersatz in Frage kommen, soll Gesundheitsgefahren der Arbeitnehmer begegnet werden83. Für gentechnische Forschungsstätten kommt hauptsächlich § 19 GefahrstoffVO in Frage, wonach das Arbeitsverfahren möglichst so zu gestalten ist, daß gefährliche Gase, Dämpfe oder Schwebstoffe nicht frei werden und daß die Arbeitnehmer mit gefährlichen oder flüssigen Stoffen und Zubereitungen nicht in Hautkontakt geraten. War bislang fraglich, ob es sich bei den von Gentechnikern benutzten Mikroorganismen um "Gefahrstoffe" i. S. d. § 15 GefahrstoffVO i. V. m. § 3 Ziff. 3 ChemG handelte84, ist nunmehr eindeutig geregelt, daß die Arbeitsschutzvorschriften der GefahrstoffVO auch das bei der Bio- und Gentechnik anfallende gefährliche biologische Material umfassen85. Darüber hinaus ist auf die Unfallverhütungsvorschrift "Biotechnologie" der Berufsgenossensch der chemischen Industrie hinzuweisen86, der rechtliche Verbindlichkeit aber nur im Verhältnis Versicherungsträger -versicherter Unternehmer zukommt.

Schließlich können Gefahren für Rechtsgüter im Einzelfall Anordnungen nach Maßgabe der polizei- und sicherheitsrechtlichen Generalklauseln erfo derlich machen. Doch ist nur in eklatanten Ausnahmefällen zu erwarten, daß lokale Ordnungsbehörden gegen Gefährdungen aus dem Bereich gentechnischer Forschung vorgehen werden. Z/v//-87 und strafrechtliche Haftungsnormen bieten i. d. R. nur einen reaktiven Schutz. Ihre theoretisch gegebene Präventionsfunktion wird durch das Problem des im Einzelfall

82

Verpackungs- und Kennzeichnungspflichten, Konzentrationsüberwachung am Arbeitsplatz, Information und Schulung, regelmäßige ärztliche Untersuchungen usw., vgl. wib 1/89-III/121 v. 25.1.1989, S. 19. 83 Vgl. G zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (ChemikalienG) v. 16.9.1980 (BGBl. I, S. 1718) i. d. F. des Gesetzes v. 14.3.1990 (BGBl. I, S. 493); G über technische Arbeitsmittel v. 24.6.1968 (BGBl. I, S. 717); §§ 708ff. RVO; G über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit v. 12.12.1973 (BGBl. I, S. 1885); VO über gefährliche Stoffe (GefahrstoffVO) v. 26.8.1986 (BGBl. I, S. 1470f.) - Ergänzt und konkretisiert werden diese Vorschriften durch Verhaltensregeln der Berufsgenossenschaften, Beschlüsse und technische Regeln sowie Bekanntmachungen des BMinA, etwa die Technischen Regeln für gefährliche Arbeitsstoffe" des Ausschusses f. gef. Arbeitssoffe oder die "MAK-Werte" ( = Maximale Arbeitsplatzkonzentration gesundheitsschädlicher Stoffe) der DFG, dazu GAUL / KÜHNE, S. 135. 84

Verneinend WINTER, DVB1.1986, S. 589f.

85

§ 15 Abs. 1 Ziff. 1 GefahrstoffVO n. F. (BGBl. 19871, S. 2721)

86

Vgl. HART, KJ 1989, S. 103

87 Neben §§ 823ff. BGB ist an die Gefährdungstatbestände in §§ 84ff. AMG zu denken, soweit Schäden durch gentechnische Arzneimittel verursacht wurden.

Α. Ambivalenz

35

schwierigen Kausalitätsnachweises zwischen gefährlichem Tun und Schadenseintritt relativiert88. bb) Es zeigte sich, daß das herkömmliche gesetzliche Instrumentarium auf die Risiken gentechnischer Forschungsaktivitäten teils unanwendbar, teils nicht zugeschnitten war. Die Sicherheitskontrolle blieb damit im wesentlichen den Richtlinien des BMFT zum Schutz vor Gefahren durch in-vitro kombinierte Nukleinsäuren überlassen89. Diese hatten jedoch nur für solche Forschungseinrichtungen Rechtsverbindlichkeit90, die für ihre gentechnischen Forschungsarbeiten staatliche Förderung in Anspruch nahmen. Im übrigen waren sie Instrumente freiwilliger Selbstkontrolle der Wissenschaft91. Darüber hinaus konnten sie als konkretisierte Verkehrspflichten für die Betreiber gentechnischer Forschungs- (oder Produktions-)anlagen Relevanz gewinnen92.

cc) Der Deutsche Bundestag hat mittlerweile die gesetzlichen Regelungslücken erkannt und unter dem Druck von Öffentlichkeit und Rechtsprechung93 das Gesetz zur Regelung von Fragen der Gentechnik (GentechnikG erlassen, in dem die Sicherheitsprobleme zum Schutz der Beschäftigten, der Bevölkerung und der Umweltmedien umfassend geregelt werden95. Das Gesetz knüpft inhaltlich an die zur Gefahrabwehr allgemein entwickelten Regelungsinstrumentarien an: Anzeige- und Informationspflichten, Verbote mit Erlaubnisvorbehalt (§§ 8, 14 GentechnikG), Genehmigungsverfahren mit und ohne Öffentlichungsbeteiligung (§§ 11, 18 GentechnikG), Anforderungen an technische und organisatorische Vorkehrungen und an die Sachkunde und Zuverlässigkeit des Personals (§§ 13, 16 GentechnikG). Die Sicherheitsanforderungen an Forschungslabors sind nach Maßgabe der unter-

88 NICKLISCH, DB 1986, S. 2476; dere., BB 1989, S. 3; WINTER in: Gentechnologie Bd. 10, S. 194f.; BODEWIG, AcP 1985, S. 506ff.

89

5. Fassung der Richtlinien v. 28-5.1986, abgedruckt in Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 381 ff. 90 Per Auflage im Bewilligungsbescheid, vgl. C. 2. (1) der Richtlinien, aaO., S. 383 91

Dazu Präambel der Richtlinien in: Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 381; KLOEPFER, Umweltrecht, S. 807 Rz. 197 92 Diese "reaktive Auffanglinie" ist wegen des schwierigen Kausalitäts- und Verschuldensnachweises allerdings wenig effektiv, WINTER in: Gentechnologie Bd. 10, S. 194f. Zum Kausalitätsproblem: BODEWIG, AcP 1985, S. 506ff. 93 Vgl. VGH Kassel, JZ 1990, S. 88ff. 94 Gesetz v. 20.6.1990, BGBl. I, S. 1080ff. Siehe ferner die Richtlinienentwürfe der EGKommission (BRats-Drs. 285/88 v. 6.6.1988); dazu eingehend HART, KJ 1989, S. 104ff.; KLOEPFER; aaO., S. 812f. Rz. 206 95

Vgl. § 1 Ziff. 1 GentechnikG. Daneben ist in Ziff. 2 der Förderzweck normiert.

36

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

schiedlichen Gefährdungspotentiale gestuft (§ 7 GentechnikG) und lehnen sich dabei weitgehend an die bestehenden BMFT-Richtlinien an. Das Gesetz wird sich an Art. 5 Abs. 3 GG messen lassen müssen, umso mehr als Industrie und Wissenschaft schon seit längerem die vielen Hemmnisse für gentechnische Forschungen in der Bundesrepublik Deutschland beklagen96.

3. Mißbrauchsgefahren Wo die Naturwissenschaft neue Stoffe, Produkte, Verfahren und Fertigkeiten entdeckt und entwickelt, besteht immer die Gefahr des Mißbrauchs, die naheliegende Möglichkeit also, daß die Resultate wissenschaftlicher Forschung von den Wissenschaftlern oder Dritten zu gemeinschädlichen oder ethisch verwerflichen Zwecken weiterentwickelt bzw. eingesetzt werden. Der wissenschaftlich-technische Erkenntnisfortschritt trägt fast immer die Gefahr des Mißbrauchs in sich. Es drängt sich deshalb die Frage auf, ob die verbreitete These von der neutralen Forschung, die erst in schlechten Händen zu mißbräuchlicher Anwendung führen könne97, so noch aufrecht erhalten werden kann. H. JONAS verneint dies und nimmt die Wissenschaftler für die Folgen ihres Tuns in die Verantwortung98. Rechtlich läßt sich Wissenschaftler-Verantwortung nur schwer fassen; ein Beispiel für den Versuch einer gesetzlichen Regelung findet sich in § 6 HessUnivCj 9 , wo die Wissenschaftler zum Mitbedenken der möglichen Folgen ihres Handelns und zur Information verpflichtet werden. Der Mißbrauch von Forschungserkenntnissen tritt typischerweise in drei Erscheinungsformen auf: - Aus ungehemmtem Gewinnstreben werden sensible Forschungserkenntnisse rücksichtslos vermarktet. 96 TL FLÖHL, "Flucht vor der Gentechnik" in: FAZ v. 26.4.1989; K. MICHELS; "Land der unbegrenzten Gentechnik?" in: SZ v. 14.12.1989; BDI-Hintergrundpapier, S. 25 - Kritik löste insb. aus, daß die erste Pilotanlage zur großtechnischen Herstellung von Insulin mit gentechnisch veränderten Bäk' :rien (Fa. HOECHST, Frankfurt / Main) bislang ihren Betrieb nicht aufnehmen durfte, dazu: "Regierungspräsident verhindert gentechnische Insulin-Produktion" in: SZv. 14./15.11.1987; "BASF-Genforschung ins Ausland verlagern?" in: SZv. 17./18.9.1988 97 H. SPINNER, zitiert nach EBERLEIN, Maximierung, S. 77f.; HERSCH, Universitas 35 (1980), S.1292f. OB

JONAS in: Gentechnologie Bd. 3, S. Iff.; ders., Technik, Medizin und Ethik, S. 76ff., 90ff.; grundlegend ders., Prinzip Verantwortung, S. 26ff., 54ff., 172ff. und 293ff. 99 G über die Universitäten des Landes Hessen (HUG) ν. 6.6.1978 (Hess.GBl. I, S. 348)

Α. Ambivalenz

37

- Wissenschaftliche Erkenntisse finden Eingang in die Entwicklung neuartiger oder verbesserter Angriffswaffensysteme. - Forschungsergebnisse werden für die Stabilisierung und den Ausbau von Macht- und Herrschaftsverhältnissen oder zum Nachteil von Minderheiten eingesetzt. a) Kommerzialisierung: Viele naturwissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich vermarkten. Sie werden in neue Produkte, Geräte, Produktionsverfahren umgesetzt oder in Form von Erfinderschutzrechten gehandelt. Hiergegen bestehen keine Einwände, solange nicht unter Ausnutzung persönlicher Notlagen in ethisch sensiblen Bereichen hemmungsloses Gewinnstreben befriedigt werden soll.

Ein Beispiel hierfür bieten Vermarktungstendenzen im Zusammenhang mit den modernen menschlichen Reproduktionstechniken in Form gewerblim cher Samenbanken und Leihmütter-Vermittlungsagenturen . Letztere verm teln gegen Provision Frauen, die bereit sind, sich einen in vitro gezeugten Embryo in die Gebärmutter einpflanzen zu lassen und ihn gegen Honorar 101 für die Auftraggeber auszutragen. Gewiß bergen die Fortschritte der modernen Fortpflanzungsmedizin für viele kinderlose Paare die Hoffnung, mit Hilfe des Arztes die Infertilität eines oder beider Partner 102 überwinden und zu einem "eigenen" Kind gelangen zu können. Doch muß die hemmungslose Vermarktung intimster Bereiche des menschlichen Daseins auf Ablehnung stoßen103. Der deutsche Gesetzgeber hat deshalb zu Recht die Vermittlung von Leihmüttern unter strafrechtliches Verbot gestellt104. Ahnliche Entwicklungenfinden sich im Bereich der modernen Transplantationsmedizin. Die Fortentwicklung der Möglichkeiten der Organverpflan100 Siehe auch Int. Konferenz in Rambouillet in: Gentechnologie und Verantwortung, S. 87 - Die erste Leihmütter-Vermittlungsagentur der BRepDtl. wurde 1987 in Frankfurt / Main eröffnet, vgl. "Gebärmaschinen für 60 000.- Mark" in: SZ v. 3./4.10.1987. Sie mußte jedoch wegen Verstoßes gegen das AdoptionsvermittlungsG wieder schließen, vgl. "Leihmütter-Agentur muß schließen" in: SZ v. 7.1.1988. 101 Honorarbeispiel aus den USA: Leihmütterhonorar 10 000 $; Spesenersatz 5000 $; Vermittlerprovision 15 000 $, vgl. K. BRILL, "Kein Wunder mehr von Mr. Torch" in: SZ v. 9./10.1.1988.

102

Nach statistischen Erhebungen leben 10 bis 15% der bundesdeutschen Ehepaare mit unerfülltem Kinderwunsch, vgl. die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der GRÜNEN in: wib 10/88-IV/55 v. 26.5.1988, S. 19. 103 Der BMJ spricht von einer üblen Form illegalen Menschenhandels, die aus dem Wunsch nach einem Kind skrupellos Kapital zu schlagen versucht, vgl. recht. Informationen des BMinJ 6/1987, S. 63f. Auch B. SCHWARZ, "Markenartikel Mensch" in: Die Zeit v. 22.9.1989 104

§ 14b G zur Änderung des AdoptionsvermittlungsG v. 5.10.1989, BGBl. I, S. 2014

38

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

zung bringt für viele Menschen Lebensrettung oder große Erleichterung105. Weil aber die Nachfrage nach Organen das Angebot bei weitem übersteigt, wittern clevere Geschäftsleute den Organhandel als lukrativen Markt 106. Auch die Frage, ob abgetriebene, aber lebende Föten als Organspender vermarktet werden könnten, wird diskutiert107. In der grünen Gentechnologie werden aus kommerziellen Unternehmensinteressen Forschungsanstrengungen fehlgeleitet: In der Landwirtschaft ist die Gentechnik Hoffnungsträger für die Lösimg des Welternährungsproblems. Pflanzen könnten langfristig so verändert werden, daß sie extreme Temperaturen und nährstoffarme oder versalzene Böden produktiv nutzen können und gleichzeitig höhere Erträge abwerfen. Als Fernziel lockt die selbstdüngende, streßtolerante, schädlingsresistente Superpflanze 108. Doch konzentrieren sich die Arbeitsprogramme der Chemie- und Genfirmen in Wirklichkeit auf etwas anderes: Nahziel der Forschungsanstrengungen ist die Übertragung von Herbizidresistenzen auf Kulturpflanzen; Pflanzen sollen widerstandsfähig werden gegen Pflanzenschutzmittel, die ihnen bisher schaden109. Daß diese Forschungsstrategie enorme zusätzliche ökologische110, gesundheitliche, agrarökonomische ünd weltwirtschaftliche Folgeprobleme auslösen, aber gerade die in die "grüne Gentechnologie" gesetzten Erwartungen nicht erfüllen wird, liegt auf der Hand111. Letztlich ist sie nur mit den ökonomischen Interessen der Unternehmen erklärlich, die künftig Saatgut im Verbund mit dem zugehörigen Herbizid vertreiben und dadurch ihre Absatzchancen verbessern können112. b) Militärische Nutzung: Ein Forschungs-Mißbrauch kann dort vorliegen, wo wissenschaftliche Erkenntnisse zur Entwicklung neuartiger Waffensysteme eingesetzt oder von vornherein zu diesem Zweck gewonnen werden. 105

Vgl. PICHLMAYR, forschung. Mitteilungen der DFG 3/1989, S. V I f.

106

Vgl. Kleine Anfrage der GRÜNEN, wib 1/89-IV/100 v. 25.1.1989, S. 22; U. DEUPMANN, "Skrupellose Geschäfte mit Organen" in: SZ v. 22.5.1989; B. ENGEL; "Transplantationen: Der Mangel an lebenswichtigen Organen läßt den verbotenen Handel blühen" in: Weltwoche v. 6.7.1989 107

H. SCHUH, "Ersatzteile von Föten" in: Die Zeit v. 11.9.1987; Κ. H. HOCK, "Transplantationen: Menschen zum Ausschlachten?" in: Münchner Merkur v. 23.12.1987; "Föten sollen kein Reserveteillager sein" in: FRv. 8.11.1989 108

KIPER in: Gentechnologie Bd. 10, S. 95f.

109

Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 61 f.; BULLARD in: Gen technologie Bd. 10, S. 30f.; C. GREFE, "Kein Brot für die Welt" in: Die Zeit v. 6.5.1988, S. 42. 110 Siehe nur BULLARD, aaO.; "Töpfer plädiert für weniger Chemie auf den Äckern" in: SZv. 5.2.1988 111

Zu den Folgen: Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 64ff. und 80f.; KIPER in: Gentechnologie Bd. 10, S. 97ff. 112

Kritisch auch Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 80f. und Empfehlungen 6ff

Α. Ambivalenz

39

Dies berührt nahezu alle Gebiete der Naturwissenschaften: Fast zwangsläufig werden physikalische und chemische Entdeckungen ebenso in Waffentechnik umgesetzt wie mikrobiologische und gentechnische Verfahren. So führte die Entdeckung der Kernspaltung noch vor der Errichtung des ersten Kernkraftwerks zum Abwurf von Atombomben. Die Informationstechnik fand breiten Einsatz in den militärischen Zentren zur Überwachung und Steuerung von Raketen- und Frühwarnsystemen113. Weltraumforschungsprogramme dienen nicht zuletzt der Entwicklung von Weltraumwaffensystemen114. Zahlreiche wissenschaftliche Institute tragen weltweit zur zunehmenden Raffinesse chemischer und biologischer Kampfstoffe bei115. Und mehr und mehr beschäftigen sich Armee-Experten in Ost und West mit gentechnologischen Forschungsprojekten116. Als besonders menschenverachtend kann die Kriegsführung unter Einsatz gesundheitsgefährdender chemischer und biologischer117 Waffen gelten. Sie ist daher völkergewohnheitsrechtlich verboten118. Durch ihren Beitritt zu internationalen Übereinkommen119 hat sich die Bundesrepublik darüber hinaus verpflichtet, in ihrem Gebiet biologische Kampfstoffe nicht zu entwikkeln, herzustellen oder zu lagern. Ihr sind zudem alle Handlungen verfassungsrechtlich verboten, die geeignet sind oder in der Absicht vorgenommen werden, einen Angriffskrieg vorzubereiten (Art. 26 Abs. 1 GG 120 ). Dement113

WHEELER in: Eskalation, S. 107ff.

114

GERGELY, Mikroelektronik, S. 160 und 212 - Die Projekte der europ. Weltraumorganisation ESA (Columbus, Ariane 5, Hermes), an denen sich die BRepDtl. mit vorauss. 1,6 Mio D M beteiligen wird, verfolgen nach Angaben der BReg ausschl. zivile Zwecke, vgl. wib 9/87-X/6 v. 1.7.1987, S. 29 und wib 17/87-X/20 v. 19.11.1987, S. 39. 115 REID, S. 307ff., insb. 317; ROSE in: Gentechnologie Bd. 10, S. 8ff. 116 REID, S. 326ff., insb. 328 - In USA stieg die Zahl der militärischen Forschungsprojekte, die gentechnische Methoden verwenden, von 0 im Jahre 1980 auf über 40 im Jahre 1984; es steht zu vermuten, daß auch die Sowjetunion B-Kampfstoff-Forschung betreibt, EnqueteKommission Gentechnologie, S. 265f. 117

Viren, Pilze, Bakterien, die entweder direkt gegen Personen oder gegen die Umwelt eingesetzt werden. 118

119

Η. M., vgl. KIMMINICH, Völkerrecht, S. 443f.

Protokoll Nr. III über die Rüstungskontrolle zur Ergänzung des WEU-Vertrages v. 25.3.1955 (BGBl. II S. 266). Dem Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über ihre Vernichtung v. 10.4.1972 ist die BRep.Dtl. 1983 beigetreten (BGBl. II S. 132). Sie ist ferner Unterzeichnerin der Konvention über das Verbot der Verwendung umweltverändernder Techniken zu militärischen oder sonstigen feindseligen Zwecken v. 1977, vgl. BURHENNE in: Grundzüge, S. 720ff. - Zu den Schwachstellen der Konvention von 1972 vgl. Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 264f. 120 Die Herstellung von Kriegswaffen unterliegt einem repressiven Verbot mit Ausnahmevorbehalt, vgl. Art. 26 Abs. 2 GG i. V. m. §§ 2/6 KriegswaffenkontrollG v. 20.4.1961 (BGBl. I S. 444) i. d. F. v. 31.5.1978 (BGBl. IS. 641). - Vgl. auch den Straftatbestand des § 80 StGB.

40

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

sprechend wäre die staatliche, staatlich veranlaßte oder staatlich geduldete Erforschung biologischer oder chemischer Angriffswaffensysteme verfassungswidrig121. Es ist deshalb davon auszugehen, daß in der Bundesrepublik Deutschland nur wehrmedizinische Projekte Gegenstand militärischer Forschungsanstrengungen auf den Gebieten der Chemie und Mikrobiologie sind122. Doch kann das hehre Forschungsziel der Verteidigung und des Bevölkerungsschutzes die Ambivalenzthese nicht ganz entkräften. Denn gerade in Chemie und Mikrobiologie lassen sich die Grenzen zwischen Schutz- und Offensivwaffenforschung wissenschaftlich kaum klar ziehen. Wer Impfstoffe gewinnen und Schutzmaßnahmen entwickeln will, muß zunächst den gefährlichen Stoff oder Mikroorganismus konstruieren und in ausreichender Menge verfügbar machen123. Neben die üblichen Laborrisiken tritt hier die Gefahr verantwortungsloser, u. U. materiell motivierter Handlungen einzelner Forscher oder Unternehmen, etwa der unerlaubte Verkauf von Waffen oder know-how an auswärtige Mächte124. Der Einsatz chemischer oder biologischer Waffen aber kann irreversible 125 und unkontrollierbare 126 Schäden an Zivilbevölkerung, Flora und Fauna, Wasser, Boden und Luft nach sich ziehen. c) Machtmißbrauch: Indem die Wissenschaft die menschliche Herrschaft über die Natur ausdehnt, vergrößert sie auch die Möglichkeit der Herrschaft und Machtausübung einzelner Menschen oder Gruppen über andere127. Derartige Herrschaftsmöglichkeiten vermittelt in zunehmendem Maß die sog. Genomanalyse. Ist das menschliche Genom einmal weitgehend entzif-

121

So auch KLOEPFER, JZ1986, S. 205

122

Antwort der BReg auf eine Kleine Anfrage, BTags-Drs. 10/3365, S. 4ff.; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 199 - Zu den wehrmedizinischen Projekten, vgl. Haushaltsplan Kap. 1420, Titel 55 102 und 55 112 und BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 198ff. 123

REID, S. 318; J. ALBRECHT, "AIDS-Mäuse und Schlimmeres" in: Die Zeit v. 1.4.1988, S. 43 - Zur Situation in USA, vgl. ROSE in: Gentechnologie Bd. 10, S. 16f. 124

Chemische und biologische Waffen gelten als die "Kernwaffen des armen Mannes", vgl. C. 1SCHÜTZE, "Politischer C-Waffen-Alarm" in: SZv. 9.1.1989. 25 Die Insel Gruinard vor Schottland ist heute fast ebenso so stark mit Milzbranderregern infiziert wie nach deren versuchsweisem Aussprühen 1942, vgl. REID, S. 313. 126 Wind, Wasser und epidemische Ansteckung dienen als natürliche Verbreitungsfaktoren, vgl. ROSE in: Gentechnologie Bd. 10, S. 18. 127

SINSHEIMER in: Grenzen der Forschung, S. 72; R. MENG, "Angst vor dem Mißbrauch genetischer Daten" in: Frankfurter Rundschau v. 20.5.1989

Α. Ambivalenz

41

fert, woran intensiv gearbeitet wird 128, eröffnet sie eine Fülle praktischer Anwendungen: Mit Hilfe von Gensonden können die Erbanlagen analysiert, Erbkrankheiten diagnostiziert und Veranlagungen, die sich erst im Laufe eines Menschenlebens ausprägen können, prognostiziert werden129. Es verwundert nicht, daß die Problematik solcher genetischer Tests gerade im Arbeitsrecht virulent wird 130. Einerseits erscheint ihr Einsatz hier sinnvoll und hilfreich, wenn sie als Instrument zur Verbesserung der arbeitsmedizinischen Vorsorge, etwa zur Aufdeckung genetisch bedingter Anfälligkeiten für bestimmte Arbeitsstoffe angewandt werden131. Andererseits kann die präsymptomatische Diagnose von Krankheitsveranlagungen dazu mißbraucht werden, bei der Einstellung, Versetzung oder Entlassung von Mitarbeitern aus betriebsökonomischen Gründen deren künftige Gesundheitsaussichten als Auswahlkriterium zu nehmen132. Das ursprüngliche Ziel objektiven Arbeitsschutzes würde damit ins Gegenteil eines subjektiven Auswahlkriteriums verkehrt 133 - im Extremfall bis hin zur sozialen Diskriminierung einzelner Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft134. Pränatal angewandt ermöglicht die Genomanalyse die frühzeitige Diagnose genetisch bedingter Krankheiten, die bisher erst kurz vor oder nach der Geburt feststellbar waren. So können sich heute auch jene Eltern zu einer Schwangerschaft entschließen, die andernfalls wegen des Risikos, ein erbkrankes Kind zu bekommen, auf die Erfüllung ihres Kinderwunsches verzichtet hätten. Andererseits kann die erweiterte pränatale Diagnosemöglichkeit so weit führen, daß genetisch bedingte, unerwünschte Eigenschaften ohne Krankheitswert (Geschlecht, Haarfarbe, Intelligenz) oder bloße Krankheitsveranlagungen zur Abtreibung unter dem Deckmantel der sozialen Indikation genutzt werden.

128

Schon heute läßt sich eine Reihe von Erbkrankheiten genetisch analysieren, vgl. die Übersicht bei GASSEN / MARTIN / SACHSE, S. 88; ferner T. v. RANDOW, "Ein Copyright für Gene" in: Die Zeit v. 25.3.1988; schließlich BTags-Drs. 11/4605, S. 2. 129 GASSEN / MARTIN / SACHSE, S. 84 und 89f.; Ethische und rechtliche Probleme, Gentechnologie Bd. 1, S. 12f.; B. RITZERT, "Das Schicksal in den Genen" in: SZ v. 20.4.1989 130

Zu ähnlichen Problemen im Versicherungsvertragsrecht, Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 173f. 131 Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 165 Iii

Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 166 und 169; DEUTSCH, ZRP 1986, S. 3 Siehe auch den Bericht über die kontroverse Diskussion der Sachverständigen-Anhörung vor 3 BTags-Ausschüssen in: wib 4/88-X/31 v. 2.3.1988, S. 37. 133 Primäres Mittel des Arbeitsschutzes ist nicht die Zurückweisung oder Entlassung des Arbeitnehmers, sondern die sichere Gestaltung des Arbeitsplatzes. 134

v. d. DAELE in: GG und technischer Wandel, S. 84ff.; DEUTSCH, ZRP 1986, S. 3

42

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Denkbar ist angesichts der erweiterten pränatalen Diagnosemöglichkeiten gar die Ausbildung sozialen Abtreibungsdrucks aufgrund gewandelter ethischer Wertvorstellungen der Gesellschaft135 oder die allmähliche Entwicklung einer gezielten Abtreibungsstrategie zur Aussonderung erbkranker oder ungünstig veranlagter Embryonen (Bevölkerungseugenik 136). Daß derartige Befürchtungen reale Gefahr und nicht nur Hirngespinste notorischer Wissenschaftskritiker sind, zeigen die Äußerungen einiger namhafter Naturwissenschaftler auf dem CIBA-Symposium 1962. Grundaussage v. a. der Referate von HUXLEY, MULLER, LEDERBERG und HALDANE 137 ist die Sorge, die Zivilisationsgeschädigte und infolge der Fähigkeiten der modernen Medizin unselektierte Menschheit würde sich nach und nach genetisch rückentwickeln und den durch fortschreitende Zivilisation, Technik und Wissenschaft gestellten Herausforderungen immer weniger gewachsen sein. Der Mensch müsse daher an die Fortschritte seiner Umgebung durch entsprechende selektive Eingriffe angepaßt werden. Möglichkeiten zur künstlichen Verbesserung des menschlichen Erbgutes sahen die versammelten Wissenschaftler zum Teil in der positiven eugenischen Zuchtwahl, teils in der gezielten Verbesserung des Keimmaterials, sobald dies technisch möglich wäre. Solch ungebrochener Fortschrittsglaube ist heute seltener138, wird behutsamer geäußert, ist aber keineswegs verschwunden: So gibt es nach wie vor führende Wissenschaftler, die es als problematisch ansehen, daß auch mit "minderwertigen" Gameten menschliches Leben erzeugt werde, und die deshalb eine entwicklungsbegleitende Kontrolle der "Embryonenqualität" für erstrebenswert halten139. Die EG-Kommission hat ihr Forschungsprogramm "Prädiktive Medizin"140 unter anderem mit der Erwägung begründet, daß damit praktikable Methoden für etwaige Reihenuntersu-

135

v. d. DAELE, aaO., S. 86; Int. Konferenz in Rambouillet in: Gentechnologie und Verantwortung, S. 85.; E. BECK-GERNSHEIM, "Wunschkinder" in: Die Zeit v. 22.4.1988, S. 42 136

Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 152 - Auf diese Gefahr weisen die christlichen Kirchen hin: Von der Würde des werdenden Lebens, EKD-Texte 11, hrsg. v. Kirchenamt der Ev. Kirche in Deutschland, Hannover 1985, S. 6ff.; Instruktion, Verlautbarungen des Apost. Stuhls Nr. 74, hrsg. v. Sekr. d. Dt. Bischofskonferenz, Bonn 1987, S. 15. 137 Die Referate sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Das umstrittene Experiment, hrsg. v. Robert Jungk / Hans Mündt, München u. a. 1966, S. 31ff., 277ff., 292 und 367ff. 138

BLANKENAGEL in: Menschengerecht, S. 136 mit Fn. 53, will daher die Aussagen nicht überbewerten. 139 Beispiele bei A. IDEL, "Vorbilder für die Reagenzglas-Aufzucht?" in: SZ v. 3.11.1988 140 Rats-Dok. Nr. 7929/88. Dazu B. HARLIN, Europäisches Genomprojekt "Prädiktive Medizin" in: GID 38 (11/1988), S. 7ff. Mittlerweile wurde das Programm entschärft, vgl. "EGGenomprojekt" in: GID 54/55 (5/1990), S. 2.

Α. Ambivalenz

43

chungen der Bevölkerung zur Feststellung von Erbkrankheiten zur Verfügung gestellt würden141.

4. Folgelasten Hier geht es um unerwünschte nachteilige Folgewirkungen sozialer, ökologischer, wirtschaftlicher, rechtlicher oder moralischer Art bei der praktischen Umsetzung und Anwendimg moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse142. Konnte F. BACON noch glauben, jeder wissenschaftliche Fortschritt werde auch ein gesellschaftlicher Fortschritt sein, "ohne jemand zu beeinträchtigen oder zu betrüben"143, ist diese Hoffnung heute nicht mehr gerechtfertigt. Die Fernwirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sind so vielgestaltig, daß nur exemplarisch gezeigt werden kann, wie sie das Leben der Menschen nicht nur erleichtern, sondern auch mit neuartigen Problemen belasten können. a) Großtechnolope: Die moderne Naturwissenschaft hat der Menschheit die Großtechnologie beschert, die im Gegensatz zur "einfachen" Technik herkömmlicher Art durch ein höchst komplexes Netzwerk an technischen, organisatorischen und informationellen Interdependenzen gekennzeichnet ist144. Die enorme Komplexität solcher Anlagen bedeutet zugleich erhöhte Anfälligkeit für technische und menschliche Fehler, verbunden mit letztlich nicht sicher prognostizierbaren (Rest-)Risiken für Nachbarschaft und Umwelt145. Infolge der immer rascheren Umsetzung technologischen Wissens in großtechnische Anwendungen und wegen der Unmöglichkeit von Risikostudien unter realen Bedingungen entfernen sich die angenommenen Risiken immer weiter von der tatsächlichen Erfahrung 146. Auch nimmt die Distanz zwischen dem Alltagswissen der Bevölkerungsmehrheit und dem wissenschaftlichen Sachverstand der Experten stetig zu. Komplexe Zusammenhänge und Produkte modernster Technik bleiben den Durchschnittsbürgern, aber auch deren politischen Repräsentanten weitgehend unverständlich. 141

Der Dt. BTag hat dies massiv kritisiert, vgl. wib 20/88-X62 v. 17.11.1988, S. 40; wib 2/89-X/69 v. 1.2.1989, S. 36; BMFT-Journal 2/1989, S. 6. 142 .. Zusammenstellung bei BOHRET, VerwArch 1989, S. 20ff.; SALADIN, Verantwortung, S. IlOOff.; LENK in: Ethik der Wissenschaften Bd. 1, S. 87ff. ii Francis BACON, Neues Organon I, Nr. 81 und 129 144 LADEUR, NuR 1987, S. 61 145

Unbekannte und unerkennbare Risiken sind nach der Rspr. des BVerfG als jenseits der Grenzen praktischer Vernunft angesiedelte und in einer technisierten Welt unvermeidbare Restrisiken hinzunehmen, vgl. BVerfGE 49,89/143. 146 LADEUR, NuR 1987, S. 61; WEIZENBAUM in: Andere Wissenschaft, S. 38ff.

44

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Hier stellt sich die Frage, ob die Organisations- und Entscheidungsstrukturen in einer Industriegesellschaft traditioneller Prägung noch in der Lage sind, mit Großtechnik problemadäquat umzugehen147. Schon heute ist ein Hinterherhinken von Recht und Ethik hinter der rasanten wissenschaftlichtechnischen Entwicklung kaum zu leugnen. In der Bevölkerung nimmt die Technik-Akzeptanz ab und die Ungewißheit über die künftigen Strukturen von Welt und Gesellschaft zu148. Die Folgelasten großtechnischer Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse fanden in der friedlichen Nutzung der Kernkraft ihren Kulminationspunkt. Wie deren Wirkungen auf Bevölkerung und Umwelt im einzelnen zu beurteilen sind, ist in der naturwissenschaftlichen und rechtlichen Diskussion nach wie vor ungeklärt149. Einigigkeit besteht nur darin, daß trotz aller gebotenen Sicherheitsvorkehrungen von verbleibenden Risiken auszugehen ist: Die Wirkung kleinster Radioaktivitätsabgaben im Normalbetrieb auf Menschen, Tiere und Pflanzen - ggf. im Verein mit anderen Belastungen (Synergismen) - ist unklar, die Möglichkeit von Störfällen ist nicht vollständig auszuschließen150. Welche Schäden ein Kernschmelzunfall verursachen kann, dokumentiert die Katastrophe von Tschernobyl. Fehlentscheidungen des Bedienungspersonals151 oder gezielte Sabotageakte können das Risiko vervielfachen. Dies wiederum macht den Aufbau eines diffizilen Überwachungs- und Kontrollsystems erforderlich, womit grundrechtliche Freiheitsrechte gefährdet werden können152. Ungelöst ist das Problem der Entsorgung atomarer Abfälle aus dem Kraftwerksbetrieb. Die Festlegung der Sicherheitsstandards überläßt das Recht Expertengremien153, Genehmigungs- und Überwachungsbehörden sind vielfach überfordert 154, die Erstel-

147 HÄFELE in: Projektwissenschaften, S. 30f.; BOHRET, VerwArch 1989, S. 30ff.; RÖLKE in: Instrumente der Kontrolle, S. 31; LAMPRECHT in: Fs. f. Simon, S. 509ff.

148

Zur Akzeptanzkrise und ihren Ursachen ROLKE, aaO., S. 32ff.; LÜBBE, Zeit-Verhältnisse, S. 34ff. 149 BENDER, NJW 1978, S. 1948f.; BOHRET, VerwArch 1989, S. 21 150

DEGENHART, S. 147; BVerfGE 53, 30/55f. und 58 - Zu den Risiken der friedlichen Nutzung der Kernenergie ROSSNAGEL, S. 51f. und SELLNER in: Grundzüge, S. 363 151 LAMPRECHT in: Fs. f. Simon, S. 506; hierzu auch das Interview mit dem Vorsitzenden der Reaktorsicherheitskommission BIRKHOFER zum Störfall von Biblis im Herbst 1987: C. SCHÜTZE, "Den vollautomatischen Reaktor gibt es nicht" in: SZv. 13.12.1988; ferner "303 Störfälle in Atomkraftwerken 1987" in: SZ v. 18.1.1989; "Biblis-Störfall durch menschliches Versagen" in: wib 4/89-V/189 v. 1.3.1989, S. 29 152

Dazu ROSSNAGEL, S. 50ff. und 146ff.

153

DÄUBLER, ZRP 1986, S. 45

154

Hinzu kommt die organisatorische Verflechtung von Staat und Atomenergiewirtschaft, vgl. H. HOFMANN, Privatwirtschaft und Staatskontrolle, S. 28ff.

Α. Ambivalenz

45

lung von Risikostudien hängt entscheidend von staatlicher Initiative ab155. Weite Bevölkerungskreise nehmen aus dem Gefühl der Ohnmacht eine technikfeindliche Haltung ein.

b) Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechniken: Mehr noch als d Großtechnologie wird die moderne Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnik das Zusammenleben der Menschen revolutionieren. Das Interesse von Wirtschaft, öffentlicher Verwaltung und Wissenschaft am integrierten Einsatz leistungsfähiger Mikroelektronik nimmt ständig zu, so daß auch hier von einer Schlüsseltechnologie der Zukunft gesprochen werden muß156. Es zeigt sich aber auch deutlich das ganze Spektrum möglicher Folgelasten wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Die Entwicklung der Mikroelektronik eröffnet ungeahnte Möglichkeiten der Automatisierung: Industrie-Roboter und computergestützte Arbeitsmittel ersetzen in zunehmendem Umfang manuelle und geistige menschliche Tätigkeit157. Ob dies auf lange Sicht zur Verknappung von Arbeit und zu entsprechenden sozialen Problemen führen wird, läßt sich derzeit nicht sicher prognostizieren. Denn der technische Wandel bringt auch neue Berufsbilder und Tätigkeitsfelder hervor 158. Fest steht nur, daß es kurz- und mittelfristig zu einer Umschichtung von Arbeitsplätzen und damit verbunden zur Freisetzung von Arbeitskräften kommt159. Dies erzeugt Ungewißheit für die, deren (fein-)mechanische Fähigkeiten durch Prozesse der Mikroelektronik überholt zu werden drohen. Elektronische Datenverarbeitungs- und Kommunikationssysteme sind aufgrund ihrer Komplexität anfällig für Störungen und Manipulationen durch Unbefugte 160. Angesichts ihres Einsatzes in sicherheitsempfindlichen Bereichen kann dies unabsehbare Konsequenzen haben. Die Auswirkungen der zunehmenden Computerisierung vieler Bereiche der Gesellschaft auf das menschliche Zusammenleben und seine Organisation sind bisher nur wenig bekannt161. Durch die Möglichkeit der Vernetzung entsteht eine für 155

LADEUR, NuR 1987, S. 62

156

STEFFENS in: Neue Technologien, S. 18ff.; BMFT-Journal 2/1989, S. 2 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 31

157

158

Entwicklung und Herstellung von Rechnern, Kommunikationssystemen und Software, Vermarktung, Betreuung und Wartung der neuen Produkte, Beratung, Ausbildung und Training, vgl. STEFFENS in: Neue Technologien, S. 20f.; GERGELY, Mikroelektronik, S. 222ff. 15 > AaO. 160

Die Stichworte "Hacker" und "Computerviren" verdeutlichen dies. Umfassend hierzu: Manipulationssicherheit von Software, hrsg. v. BMFT, Bonn 1989, Kap. 2. 161 Man schätzt, daß der zwischenmenschliche Kontakt infolge der Kommunikationstechnologie im beruflichen Bereich um ca. 30% abnehmen wird, vgl. "Der Zwiespalt neuer Techniken" in: SZv. 12./13.12.1987.

46

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

viele kaum durchschaubare Gesamtmaschinerie162. Man befürchtet Gefahren für die individuellen Freiheits- und Persönlichkeitsrechte und einen demokratisch nicht gewünschten Machtzuwachs des Staates über seine Bürger als Folge des elektronischen Sammeins und Verarbeitens persönlichkeitsbezogener Daten163. Schließlich wird von kaum einer anderen Technik das Selbstverständnis des Menschen, seine Stellung in der Lebens- und Arbeitswelt so in Frage gestellt wie durch die Mikroelektronik. Fernziel der Kiinstliche-IntelligenzForschung ist die Entwicklung universeller Computersysteme, die die prinzipielle Arbeitsweise des menschlichen Gehirns nachahmen, "intelligente" Entscheidungen fällen, sehen, hören, sprechen und selbständig aus Beispielen lernen können164. Was aber macht das Besondere und die Würde des Menschen aus, wenn es möglich sein wird, geistige Prozesse automatisch abzubilden, und wenn sich Maschinen nach denselben Prinzipien wie Menschen verhalten165? Schon heute führt die wachsende "Computergläubigkeit" dazu, daß Entscheidungsprozesse hochkomplexer Art weitgehend auf sog. intelligente Computersysteme (Expertensysteme) übertragen werden166. Das menschliche Bedienungspersonal ist wegen der Kompliziertheit des Problembereichs und des außerordentlichen Zeitdrucks auch bei hohem Ausbildungsstand häufig nicht in der Lage, die Systementscheidung auf Richtigkeit oder auch nur Plausibilität hin zu überprüfen 167. Damit übernimmt das Expertensystem faktisch die Rolle des Menschen als Entscheidungsträger. c) Resümee: Was an den modernen Technologien - hier exemplarisch der Atomtechnologie und der Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnologie - als Chance, was als Risiko zu bewerten ist, entzieht sich mehr und 162

Eindrucksvoll hierzu H. HEROLD, zitiert in: GERGELY, Mikroelektronik, S. 260

163

LEUZE, DVB1. 1984, S. Iff.; DÄUBLER, ZRP 1986, S. 46; W. RAAB, "Der gläserne Mensch nimmt Gestalt an" in: SZ v. 8.3.1989, Beilage S. IX; T. TROTTA, "Menschen unter der Lupe" in: SZv. 21.3.1990 164 BMFT-Journal 5/1988, S. 10; GERGELY, Mikroelektronik, S. 98ff.; P. HORN, "Dem Gehirn auf der Spur" in: SZ v. 15.12.1988; W. KOHDER, "Mit künstlicher Intelligenz zu neuen Lösungen" in: SZv. 8.3.1989, Beilage S. I 165 LUTTERBECK in: GG und technologischer Wandel, S. 90f.; GERGELY, Mikroelektronik, S. 290ff. 166

Anwendungsbeispiele sind: Störfallsteuerung in Kernkraftwerken, Auto-Pilot in Passagierflugzeugen, militärische Frühwarn- und Entscheidungssteuerung, betriebliche oder medizinische Sicherheitssysteme. 167 Ζ. B. hatte der Kapitän der amerikanischen Fregatte, die 1988 im Persischen Golf ein iranisches Verkehrsflugzeug abschoß, gerade 17 Sek. Zeit, die Entscheidung des Computers zu überprüfen; vgl. wib 20/88-X/60 v. 17.11.1988, S. 38; K. KLOTZ, "Zwischen Vernunft und Größenwahn" in: SZv. 24.7.1989; "Der Mensch ist die Schwachstelle im System" in: wib 5/90X/172v. 14.3.1990, S. 41.

Α. Ambivalenz

47

mehr der praktischen Vernunft des Alltagsdenkens. Es bedarf für diese Abschätzung wissenschaftlicher Systematik und Methodik, da letztlich der in der Technik verkörperten Wissenschaft nur mit wissenschaftlich erstellten Prognosen beizukommen ist168. Diese sogenannte Technikfolgenabschätzung und -bewertung steht erst am Anfang 169. Wieweit Wissenschaftler hier zu Kooperation, Information, Diskussion und nötigenfalls Zielkorrektur verpflichtbar sind, mündet wieder in die Frage nach der Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern und Wissenschaft für die (Fern-)Folgen ihres Tuns170.

168

STEFFENS in: Neue Technologien, S. 27; BOHRET, VerwArch 1989, S. 42f.

169

Vgl. den Bericht der Enquete-Kommission Technikfolgenabschätzung, BTags-Drs. 11/4606. Fernen "Konzepte zur Technikfolgenabschätzung" in: wib 12/89-X/140 v. 28.6.1989, S. 147; "Folgen der Technik professionell abschätzen" in: wib 11/90-X/188 v. 7.6.1990, S. 53 70 Siehe bereits oben unter 2.

Β. Forschung als Akt der Manipulation

Die wachsende Doppelwertigkeit moderner Naturwissenschaft wird flankiert von der zunehmenden Ablösung beobachtender durch manipulative Forschungsaktivitäten. Die Verschiebung des in die Wissenschaft projizierten Nutzens vom reinen Erkenntnisgewinn hin zur Lösimg praktischer Aufgabenstellungen machte mehr und mehr den Test der Erkenntnis unter realen Bedingungen, die Probe auf Richtigkeit, Wirksamkeit und Unschädlichkeit erforderlich 1. So bleibt Forschung heute längst nicht mehr bis zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse im abgeschlossenen Werkbereich des Wissenschaftlers, sie greift vielmehr schon lange davor in oft elementarer Weise in die mitweltlichen Verhältnisse ein: Experimente haben nicht mehr Modellcharakter, sondern verändern durch ihren Zugriff den Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses und gestalten diesen um2. Dieses Experimentieren am lebenden Objekt oder in der freien Natur hat die moderne Naturwissenschaft weit entfernt von ihrem tendenziell harmlosen Charakter zur Zeit der Herausbildung des Wissenschaftsgrundrechts im 18. und 19. Jahrhundert3. Seit der Wissenschaftler die Fähigkeit erworben hat, auf die Natur, seine Umwelt und die Entwicklung des Menschen qualitativen Einfluß zu nehmen, kommen für ihn die Maßstäbe der Verantwortungsethik4 zum Tragen; er soll bei seinem Tun irreversible Folgen für Mensch und Umwelt mitbedenken. Die geistesgeschichtliche Fundierung lieferte das reduktionistisch-mechanistische Weltbild, das sich seit der Renaissance in den Wissenschaften durchzusetzen begann, und die Verkürzung der Vernunft zur sog. "instrumentellen Vernunft" (R. DESCARTES, F. BACON), vgl. EIBACH, Experimentierfeld, S. 192; WUERMELING in: Labormaterial, S. 40f. 2

W. HEISENBERG, zitiert nach AUER in: Wissenschaft, Technik, Humanität, S. 15 Ähnlich SCHREIBER in: Grenzen der Forschung, S. 84f.; JONAS in: Aulagespräche, S. 14 Ähnliche Tendenzen bestehen in der Geschichts- und Sozialforschung, wenn persönliche Daten oder Ereignisse der Privatsphäre ausgeforscht und wissenschaftlich bearbeitet werden, dazu ESER in: Fs. f. Lackner, S. 928f. 3 Zu Recht JONAS in: Aulavorträge, S. 15; ders. in: Andere Wissenschaft, S. 107f. - Zur geistesgeschichtlichen Entwicklung der Wissenschaftsfreiheit W.SCHMIDT, Freiheit der Wissenschaft, S. 26ff., 39ff. und 43ff. 4

Zu Gesinnungs- und Verantwortungsethik TRILLHAAS, Ethik, S. 134ff.

Β. Forschung als Akt der Manipulation

49

I. Experimente am lebenden Objekt 1. Tierversuche Die Zahl der in der naturwissenschaftlichen Forschung eingesetzten Versuchstiere dürfte Legion sein5. Tierexperimente sind für Ethik und Verfassungsrecht deshalb problematisch, weil sie an einem Mitgeschöpf6 vorgenommen werden, das als lebendes Wesen in ähnlicher Weise zur Empfindung von Schmerzen und Angst fähig ist wie der Mensch7. Es steht also hier weniger das Sezieren am getöteten Tier im Blickfeld8, als vielmehr körperliche und tierpsychologische Experimente mit und an lebenden Tieren, die mit Qualen verbunden sind oder sein können9. Doch auch solche Tierexperimente sind in vielen Bereichen der Naturwissenschaften erforderlich: um die Reaktionen des Organismus auf Krankheitsbedingungen, auf schädliche oder nützliche Umwelteinflüsse oder auf neue chemische Substanzen zu testen, in der Tumor- und Krebsforschung, zur Erforschung der Wirkungszusammenhänge chronischer Erkrankungen u. v. a. m.10 Gerade bei der Entwicklung neuartiger medizinischer Diagnoseund Heilmethoden und beim Test unbekannter Wirksubstanzen sind Tierversuche dort unabdingbar und zum Teil gesetzlich vorgeschrieben11, wo sie

5

Die Zahl der Versuchstiere in der BRep. wird auf 6 bis 7 Mio / Jahr geschätzt, vgl. "Ersatz für Tierexperimente gesucht" in: SZ v. 17.7.1987 und "Sechs Millionen Versuchstiere für Forschungszwecke" in: SZ v. 9.5.1989 - Umfassende statistische Angaben sollen erstmals 1990 für das Kalenderjahr 1989 vorliegen, Tierschutzbericht 1989 (BTags-Drs. 11/3846), S. 28. 6

So § 1 S. 1 TierSchG n. F.

7

LORZ, NuR 1987, S. 289; HÖFFE in: Ethik der Wissenschaften Bd. 1, S. 134f.; SITTER in: Fg. f. Troller, S. 260; eingehend MÄDRICH, S. 49ff. - Zur geplanten Verbesserung des Tierschutzes im Zivilrecht BTags-Drs. 11/5463 g Wird ein Tier getötet, um ihm ein Organ für experimentelle Zwecke zu entnehmen, gilt dies nicht als Versuchshandlung i. S. d. § 7 Abs. 1 TierSchG, vgl. LORZ, NuR 1987, S. 290. Ethisch ist dies zu beurteilen wie das Töten von Nutztieren zu Zwecken der menschlichen Nahrung und Kleidung, vgl. Thesen der MPG zum Tierschutzrecht (Nr. IV) in: Die Zeit v. 27.4.1984, S. 63. 9 Zur gesetzlichen Definition des Tierversuchs, vgl. § 7 Abs. 1 TierSchG n.F. 10 Thesen der MPG zum Tierschutzrecht, aaO.; PALM, Universitas 1987, S. 831f. 11

Nach § 40 Abs. 1 Ziff. 5 AMG setzt die klinische Prüfung eines Arzneimittels am Menschen eine dem Stand der wiss. Erkenntnis entsprechende pharmakologisch-toxikologische Prüfung voraus, was regelmäßig u. a. ausreichende Vorversuche am Tier erfordert, vgl. SANDER / KÖBNER, Arzneimittelrecht, Bd. 1, Erl. zu § 40 AMG, Anm. 2 u. 10. Dazu neuerdings einschränkend BVerwG, NJW 1988, S. 1534/1435 - Sämtliche nationalen und internationalen Regelungen, in welchen Tierversuche vorgeschrieben sind, sind im Tierschutzbericht 1989 zusammengestellt, S. 44ff.

50

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Menschenversuche ersetzen oder vorbereiten12. Tierversuche sind daher auch zu sehen in ihrer Schutzfunktion für die Sicherheit und Integrität des Menschen13. Andererseits stoßen Tierversuche auf sittliche Bedenken14, wenn sie Tiere mehr als unbedingt nötig quälen, Erkenntnisse oder Nutzen für die Wissenschaft nicht erwarten lassen, fragwürdigen Forschungszielen dienen15, von unqualifiziertem Personal vorgenommen werden oder deshalb unnötig sind, weil sie bereits anderswo durchgeführt wurden16 oder durch Alternativexperimente ersetzbar wären17. Dasselbe gilt, wenn Versuchstiere im Widerspruch zum Washingtoner Artenschutz-Übereinkommen von 197518 beschafft wurden19. Die Fragen des Tierschutzes in der Forschung sind seit langem Gegenstand gesetzlicher Regelungen20. Auch heute sind Tierversuche umfassender

12

Der Vorrang von Tierversuchen vor dem Humanexperiment ist fundamentaler Grundsatz des internationalen medizinischen Standesrechts, vgl. Ziff. 1.1. der Deklaration von Helsinki v. 1964, revidiert in Tokio 1975 (Bundesanzeiger 18, Nr. 152); Ferner: Ziff. 3. d. Nürnberger Codex (NJW 1949, S. 377) und auch schon Ziff. 12. b) der Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wiss. Versuche am Menschen des Reichsministers d. Innern v. 1931 (abgedr. bei DEUTSCH, klinische Forschung, S. 173ff.). 13 BASS / GROSSKLAUS, Bundesgesundhbl. 30 (1987), S. 170 14 Eingehend HÖFFE in: Ethik der Wissenschaften Bd. 1, S. 126f. 15 Entwicklung kosmetischer Produkte, Entwicklung und Test von Angriffswaffen, Züchtung von Überschafen, Überschweinen, "Schiegen" u. dergl., vgl. G. STEWART, "Gezinkte Schafe überlisten die Natur" in: SZ v. 24.9.1987 - Auf besondere Kritik stößt der sog. LD-50Test, wonach zur Ermittlung der tödlichen Dosis-Konzentration einer neuen Substanz diejenige Konzentration zu ermitteln ist, bei der 50% der Versuchstiere sterben, vgl. BRANDHUBER, NJW 1988, S. 1955. 16 Doppelversuche können durch umfassende Dokumentation aller Tierversuche in einer zentralen Tierversuchs-Datenbank vermieden werden, vgl. BASS / GROSSKLAUS, Bundesgesundhbl. 30 (1987), S. 171 und Entschließung des Dt. BTages (BTags-Drs. 10/5259, S. 5, Nr. III.3.). Zu den Einwänden der BReg. hiergegen vgl. Tierschutzbericht 1989, S. 39. 17

Alternativen sind computergestützte Expertensysteme und die Verwendung von Zellkulturen und Mikroorganismen; vgl. "Weniger Tierversuche nötig durch Einsatz von Computern" in: SZ v. 9.10.1987; T. SOYER, "Reagenzglas statt Tierversuch" in: SZ v. 20.12.1988; N. SIGMUND-SCHULZE, "Zellkulturen statt Tierversuche" in: SZ v. 15.6.1989 - Voraussetzung für die Vermeidung von Doppelversuchen ist die möglichst weitgehende Anerkennung ausländischer Tierversuchsergebnisse; zu den diesbezüglichen Bestrebungen auf verschiedenen Ebenen vgl. Tierschutzbericht 1989, S. 35f., die Vorschläge der EG-Kommission (Rats.-Dok. Nr. 6300/88) und die Stellungnahme der BReg. hierzu (wib 21/88-VI/62 v. 30.11.1988, S. 23). 18

BGBl. II, S. 773; zu Inhalt und Mängeln des Abk. SOELL in: Grundzüge, S. 546ff.

19

Siehe dazu "Die Affäre Immuno" in: greenpeace-Nachrichten 1/1987, S. lOf. Vivisektionserlaß des Preußischen Kulturministers v. 2.2.1885 (zitiert bei SMEND, WDStRl. 4 (1928), S. 69f. Fn.2); ReichstierschutzG v. 24.11.1933 (RGBl. I, S. 987). 20

Β. Forschung als Akt der Manipulation

51

normiert als Humanexperimente21. Das aktuelle TierschutzG 22 regelt die Zulässigkeit von Tierexperimenten in seinem 5. Abschnitt: Danach sind Tierversuche zur Erprobung von Waffen ausnahmslos, zur Entwicklung von Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika im Grundsatz verboten23. Versuche an Wirbeltieren sind im übrigen genehmigungspflichtig, soweit sie nicht gesetzlich vorgeschrieben sind24; die Erteilung der Genehmigung ist an enge formelle 25 und materielle Voraussetzungen geknüpft, insbesondere an die Unerläßlichkeit des Versuchs für bestimmte näher bezeichnete wissenschaftliche Zwecke26, seine ethische Vertretbarkeit im Hinblick auf Schäden, Leiden und Schmerzen der Tiere 27 und an die fachliche und sachliche Eignung von Versuchspersonal und -labor28. Die gutachtliche Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit obliegt den mit Wissenschaftlern und Tierschützern besetzten Tierversuchs-Kommissionen29. Tierversuche an anderen als Wirbeltieren, Versuche die ausdrücklich30 gesetzlich vorgeschrieben31 oder behördlich angeordnet sind, sowie diagnostische Maßnahmen nach erprobten Verfahren sind zwar nur anzeigepflichtig32, unterliegen aber kaum weniger strengen materiellen Bindungen33. Bei deren Verletzung kann eine Untersagung ausgesprochen werden34. Diese Vorschriften werden ergänzt durch die Pflicht aller einschlägigen Labors zur Bestellung akademischer 21 Dies hält R. FLÖHL, "Vor dem absoluten Tierschutz" in: FAZ v. 10.4.1984, für bedenklich. - Gegen solchen anthropozentrischen Humanismus wiederum TEUTSCH, Universitas 1987, S. 836ff. 22 G v. 24.7.1972 (BGBl. I, S. 1277) i. d. F. v. 18.8.1986 (BGBl. I, S. 1319); dazu die Übersicht und Bewertung bei BRANDHUBER, NJW 1988, S. 1952ff. 23

§ 7 Abs. 4 und 5 TierSchG

24

§ 8 Abs. 1 und 7 TierSchG

25 26

§ 8 Abs. 2 TierSchG: Anforderungen an den Genehmigungsantrag. § 7 Abs. 2 Ziff. 1 bis 4 TierSchG

27 § 7 Abs. 3 TierSchG - Zur Ethik des Tierschutzes TEUTSCH, Universitas 1987, S. 835ff.; ders., Tierschutz, S. 28ff.; HÖFFE in: Ethik der Wissenschaften Bd. 1, S. 125ff. 28 § 8 Abs. 3 Ziff. 2 bis 5 TierSchG

29

Den Wissenschaftlern steht darin die einfache Mehrheit, den Tierschützern mind. 1/3 der Sitze zu, vgl. § 15 TierSchG. Kritisch zu dieser Zusammensetzung BRANDHUBER, NJW 1988, S. 1956. 30 Zu diesem Erfordernis LORZ, NuR 1987, S. 291 31 Z. B. §§ 22 Abs. 2 Ziff. 2 / 2 5 Abs. 2 Ziff. 2 und 40 Abs. 1 Ziff. 5 AMG, dazu SANDER / KÖBNER, Arzneimittelrecht, Bd. 1, Erl. zu § 40 AMG, Anm. 2 u. 10 - Nach BVerwG, NJW 1988, S. 1534/1535, sind Tierversuche nach dem AMG nicht "ausdrücklich vorgeschrieben" i. S. v. § 8 Abs. 7 Ziff. 1 TierSchG, weil der Begriff des Tierversuchs dort an keiner Stelle enthalten ist. 32

§§ 8 Abs. 7 und 8a TierSchG

33

§9 TierSchG

34

§ 8a Abs. 5 TierSchG

52

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Tierschutzbeauftragter 35 und zur Führung detaillierter Tierversuchsprotokolle36. Diese gesetzlichen Anforderungen werden von weiten Wissenschaftlerkreisen als zu restriktiv kritisiert. Die Freiheit wissenschaftlicher Forschung werde dadurch über Gebühr behindert, der Fortschritt in Medizin und Pharmakologie aus ethisch geprägten Vorverständnissen bedenklich verzögert37. Das Bundesverfassungsgericht war bislang in zwei Fällen mit der Verfassungsmäßigkeit von Einzelvorschriften des TierSchG befaßt 38, ohne allerdings neben Art. 12 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG 39 auch Art. 5 Abs. 3 GG als Prüfungsmaßstab heranziehen zu müssen. Gerade hier liegt aber die besondere verfassungsrechtliche Problematik des 5. Abschnitts des TierSchG: Bewirken seine Vorschriften einen Eingriff in das Grundrecht der Forschungsfreiheit, muß sich der Tierschutz verfassungsrechtlich begründen lassen40. Eine ethische Verankerung41 allein genügt dann nicht. Doch könnte die Garantie der Menschenwürde angesprochen sein42, wenn das Bundesverfassungsgericht die gesetzliche Konzeption eines ethisch ausgerichteten Tierschutzes in der Mitverantwortung des Menschen für das seiner Obhut anheimgegebene Lebewesen verortet43.

2. Das Humanexperiment Klinische Versuche am Menschen durch Operation und Medikation sind in medizinischer und pharmakologischer Forschung an der Tagesordnung. Neue Diagnose-, Therapie-44 und Operationsverfahren und neuartige Arzneiwirkstoffe 45 müssen das Stadium des klinischen Versuchs durchlaufen, in 35

§ 8b TierSchG

36

§ 9a TierSchG

37

Ζ. B. Ordentlicher Medizinischer Fakultätentag in: MittHV 1987, S. 262.

38

BVerfGE 36,47/57ff. und E 48, 376/388ff.

39

Hieran ließ BVerfGE 48, 376/38ff. den § 8 Abs. 2 S. 1 TierSchG a. F. scheitern, wonach Biologen Tierversuche mit operativen Eingriffen nur durchführen durften, wenn sie an "staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen" tätig waren. 40

Dazu etwa MÄDRICH, S. 89ff.

41

Dazu TEUTSCH, Tierschutz, S. 16ff. u. 28ff.; HÖFFE in: Ethik der Wissenschaften Bd. 1, S. 129ff. 42 43

So STARCK in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 GG, Rz. 269. Vgl. BVerfGE 48,376/389

44

Vgl. etwa § 41 StrahlenschutzVO

45

Vgl. §§ 40f. AMG

Β. Forschung als Akt der Manipulation

53

welchem sie auf Wirksamkeit, Anwendungsmöglichkeiten und Risiken zu testen sind, bevor sie als medizinische Standardmaßnahmen anerkannt werden46. Klinische Versuche setzen Probanden Gesundheits-, möglicherweise Lebensrisiken aus. Dies ist ethisch und rechtlich dann weniger problematisch, wenn es sich um Heilversuche handelt, die im ureigenen Interesse des einzelnen Patienten vorgenommen werden, weil sie seine konkreten Heilungschancen verbessern können. Dagegen dient das Humanexperiment (= wiss. Versuch i. e. S.) nicht konkreten therapeutischen, sondern primär allgemeinen wissenschaftlichen Zwecken. Zur Erprobung neuartiger Verfahren werden die Heilungschancen des Patienten oder die Gesundheit des Probanden aufs Spiel gesetzt47: "Neulandoperationen"48, Verabreichung von Placebos oder neuartigen Substanzen49, Doppelblindstudien50 seien als Schlagworte erwähnt. Menschliches Leben wird hier zum Objekt wissenschaftlichen Verfügens um des medizinischen Fortschritts willen. Solche Versachlichung der Versuchsperson bedarf jedenfalls der Legitimation durch deren aufgeklärte Einwilligung 1: Die Freiwilligkeit der Teilnahme am Versuch nach umfassender Aufklärung rechtfertigt haftungsrechtlich den Eingriff in die Integrität des Probanden52 und ist nach internationalen Regeln53 hierfür essentielle Voraussetzung. 46

PRIBILLA, Universitas 1987, S. 819; DEUTSCH, Klinische Forschung, S. 13 u. 153f.

47

ESER in: Gs. f. Schröder, S. 198ff. - Zur Differenzierung zwischen Heilversuch und Humanexperiment HIRSCH in: Forschung am Menschen, S. 13ff; LAUFS, Arztrecht, Rz. 490. Die Unterscheidung geht zurück auf die Richtlinien des Reichsministers d. Innern v. 1931 für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wiss. Versuche am Menschen (zitiert bei DEUTSCH, klinische Forschung, S. 173ff.) 48 KOSLOWSKI in: Forschung am Menschen, S. 37ff.; DEUTSCH, aaO., S. 13 49

KLEINSORGE in: Forschung am Menschen, S. 49ff.

50

DEUTSCH, klinische Forschung, S. 106f.

51

DÜRIG in: Maunz / Dürig/ Herzog Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 GG, Rz. 37; DEUTSCH in: Rechtliche und ethische Probleme, S. 17f.; LAUFS, Arztrecht, Rz. 495 - Neben die Einwilligung muß eine Nutzen-Kosten-Analyse durch den Forscher treten. Beide zusammen bilden die tragenden Säulen der Forschung am Menschen, vgl. §§ 40f. AMG und SCHREIBER in: Grenzen der Forschung, S. 88ff. - Eine gewisse Kontrolle wird durch Begutachtung von Einzelvorhaben durch Ethik-Kommissionen erreicht, BORK in: Instrumente der Kontrolle, S. 102ff. 52 §§ 823 BGB und 223 StGB - Dazu LAUFS; Aßtrecht, Rz. 64ff.; ESER in: Gs. f. Schröder, S. 202; zu weiteren Rechtfertigungsgründen SCHREIBER in: Grenzen der Forschung, S. 90f. 53 Grds. 1 des Nürnberger Codex v. 1947 (NJW 1949, S. 377); Art. 7 S. 2 d. Int. Paktes über bürgerliche und politische Rechte v. 1966, f. d. BRep.Dtl. in Kraft getreten am 23.3.1976 (BGBl. II, S. 1068); Ziff. I. 9.ff. u. III. 2. der Deklaration v. Helsinki v. 1964, revidiert in Tokio 1975 (Bundesanzeiger 28, Nr. 152) mit allerdings nur standesrechtlicher Verbindlichkeit; wei-

54

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

In der Praxis ist indessen davon auszugehen, daß das Vorliegen einer Einwilligung nicht immer Freiwilligkeit garantiert. Bei Verschleierung des Versuchszwecks54, mangelhafter Aufklärung 55 oder institutionellem Zwang56 kann von Freiwilligkeit oft keine Rede sein. Bei Versuchen an Geisteskranken, Kindern oder Embryonen stellt sich die Frage nach der wirksamen Vertretungsfähigkeit der Einwilligung in die Beeinträchtigung höchstpersönlicher Rechtsgüter57. Verfassungsrechtlich fragt sich, ob auf elementare Grundrechtsgüter wie Gesundheit und Leben überhaupt rechtsgültig verzichtet werden kann58, und ob die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG durch die Freiwilligkeit suspendiert wird59. Trotz dieser Unsicherheiten bezüglich Zulässigkeit, Voraussetzungen und Anforderungen an Humanexperimente fehlen bislang hinreichend klare gesetzliche Regelungen60. Eine solche rechtlich verbindliche Reglementierung der Humanforschung müßte sich an Art. 5 Abs. 3 GG messen lassen, der - jedenfalls nach herkömmlichem Verständnis - auch Experimente mit und am Menschen in seinen Schutzbereich einschließt.

3. Embryonen-verbrauchende Forschung Trotz solcher Versachlichung des Menschen durch die medizinische Forschung bleibt dem handelnden Wissenschaftler regelmäßig doch bewußt, daß er einen Menschen mit Subjektsqualität vor sich hat. Anders verhält es sich mit der in vitro erzeugten "überzähligen"61 menschlichen Zygote, die tere Nachweise bei ESER in: Gs. f. Schröder, S. 193 mit Fn. 9 und bei DEUTSCH, klinische Forschung, S. 123ff. 54 Empirische Untersuchungen bei GRAY, Human Subjects, S. 127ff. Ferner DEUTSCH, klinische Forschung, S. 30 und 32, und die Beispiele bei BORK in: Instrumente der Kontrolle, S. 108f. mit Nachweisen. 55 Blindversuch und Doppelblindversuch schließen eine volle Aufklärung schon begrifflich aus, vgl. ESER in: Gs. f. Schröder, S. 211f.; DEUTSCH, klinische Forschung, S. 19. 56

Versuche an Strafgefangenen oder am Klinikpersonal, vgl. DEUTSCH, klinische Forschung, S. 78f.; DÜRIG in: Maunz / Dürig / Herzog Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 GG, Rz. 34 57

Vgl. § 40 Abs. 4 AMG; LAUFS, Arztrecht, Rz. 495 u. 144

58

PIETZCKER, Der Staat 17 (1978), S. 549f.

59

So FLÄMIG in: Civis 1985/1, S. 7

60 Das straf- und zivilrechtliche Haftungsrecht einschl. der Rspr.- Grundsätze zur Arzthaftung und die Existenz standesrechtlicher Richtlinien vermögen die Rechtsunsicherheit nicht zu beseitigen. 61 Im Zuge der zur Erfüllung des auf natürlichem Weg nicht realisierbaren Kinderwunsches vorgenommenen in-vitro-Fertilisation wurden bis dato i. d. R. mehr Eizellen befruchtet als für den anschließenden Embiyo-Transfer, die Implantation in die Gebärmutter,

Β. Forschung als Akt der Manipulation

55

vom Forscher für außer ihrer selbst liegende wissenschaftliche Zwecke benutzt und möglicherweise "verbraucht" wird. Denn diese hat äußerlich keine Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen und es ermangelt ihr jede realistische Überlebenschance. Fraglich ist zudem, ob für Zygoten-Experimente die Einwilligung der "Eltern" bzw. Gametenspender die geeignete Legitimationsbasis darstellt. Haben sie sich im Falle erfolgreichen Embryo-Transfers soeben ihren Kinderwunsch erfüllt, wird ihr persönliches Interesse an der Zygote gering sein62. Rechtlich ist außerdem ihre Verfügungsmacht über die befruchtete Eizelle zweifelhaft; handelt es sich dabei nämlich um ein menschliches Wesen, läßt sich aus genetischer Elternschaft kein Besitz- oder Eigentumsrecht darüber ableiten63. Nur dann böte die Einwilligung eine hinreichende Legitimation für Experimente, wenn der Forscher in der Tat nur ein Stück Gewebe, ein "himbeerartiges Gebilde"64, mithin eine eigentumsund verfügungsfähige Sache in Händen hätte65. Dann wäre auch die extrakorporale Züchtung menschlicher Embryonen ausschließlich zu Forschungszwecken jedweder Art und der Handel mit ihnen bei Vorliegen der Spender-Einwilligung billigenswert. Hiermit ist die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens aufgeworfen, die vom Grundgesetz explizit nicht beantwortet wird. Die Frage ist zunächst auch keine (verfassungs-)rechtliche, richtet sich vielmehr an Mediziner und Humanbiologen 66. Dort scheint Konsens zu bestehen, daß im Zeitpunkt der Chromosomenverschmelzung der elterlichen

benötigt wurden; vgl. zu Technik und Indikationen TROTNOW in: Gentechnologie Bd. 1, S. 51ff. - Die "überzähligen" Embryonen wurden entweder preisgegeben, für spätere Implantationen konserviert oder zu Forschungszwecken eingesetzt; vgl. zur sog. Kryokonservierung ESER in: Menschengerecht, S. 161f. 62

Ähnliches gilt für den abgetriebenen, aber noch lebenden Embryo, von dem sich die Erzeuger durch ihre Abtreibungsentscheidung soeben distanziert haben, DEUTSCH, Klinische Forschung, S. 87. 63

EIBACH, Experimentierfeld, S. 160f. - Α. A. DEUTSCH in: Gentechnologie Bd. 3, S. 239: Er sieht in der Spendereinwilligung die entscheidende Legitimationsbasis für Embryonenexperimente. 64

So der ehem. Präsident des BVerfG ZEIDLER bei den 16. Bitburger Gesprächen (FAZ v. 13.1.1986; SZv. 15.2.1986). 65 So BILSDORFER, MDR 1984, S. 804; ähnlich TURNER, ZRP 1986, S. 174; FLETCHER, zitiert nach DEUTSCH, klinische Forschung, S. 87 - Auch das kanonische Recht vertrat über Jahrhunderte die aristotelisch-augustinische Lehre vom "ungeformten und unbeseelten" Embryo, dessen Abtreibung innerhalb bestimmter Fristen zwar als ethisch verwerflich, nicht aber als Menschentötung galt, dazu eingehend SASS in: Gentechnologie Bd. 3, S. 41ff. und JEROUSCHEK, JA 1989, S. 283f. 66

P. SCHWABE, S. 22

56

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Keimzellen neues menschliches Leben entsteht67. Denn die befruchtete Eizelle lebt, da sie selbständig teilungsfähig ist68 und sie hebt sich in spezifischer Weise von tierischem und pflanzlichem Leben ab69. Streit besteht nur hinsichtlich der Frage, ob es sich in diesem frühen Entwicklungsstadium bereits um körperlich-individuelles70, oder nur um artspezifisches71 oder latentes72 menschliches Leben handelt. Vieles spricht für die erste Möglichkeit: Mit der Verschmelzung der Chromosomensätze ist die Individualität determiniert. Die Zygote trägt nun die gesamte genetische Ausstattung des neuen Individuums, die von derjenigen der Eltern grundsätzlich verschieden ist73, d. h. sie birgt die volle Potentialität eines neuen Menschen74. Von diesem Zeitpunkt an beginnt ein kontinuierlicher Entwicklungsvorgang, der ohne entscheidende qualitative Zäsuren zur Ausdifferenzierung des menschlichen Organismus führen kann75. Weder die Nidation, noch der Eintritt der Gehirntätigkeit bewirken einen qualitativen Entwicklungssprung, denn auch schon vor dem 14. Schwangerschaftstag existieren Stoffwechselvorgänge zwischen Mutter und Zygote76 und die Entwicklung des zentralen Nervensystems ist auch schon vor dem 35. Tag im Keim angelegt und wird in noch

67

BÜCHNER, Der Mensch in der Sicht der modernen Medizin, S. 65ff.; SCHLEIERMACHER in: Chancen, S. 35; BORK in: Instrumente der Kontrolle, S. 114; HEPP in: Gentechnologie Bd. 1, S. 77; SPIELMANN, Dt.ÄrzteBl. 1985, S. 1264; R. DEGKWITZ, "Wenn Grundrechte des Menschen mißachtet werden" in: FAZ v. 1.4.1989; auch v. d. DAELE, KJ 1988, S. 18ff. und 20ff. 68

SCHLEIERMACHER, aaO.

69

EIBACH, Experimentierfeld, S. 144

70

Beschlüsse des 56. Dt. Juristentages, I. Abt. Zivilrecht, VII. 1., NJW 1986, S. 3070; STARCK, Gutachten, S. A.16; PÜTTNER / BRÜHL, JA 1987, S. 294. 71

ESER in: Menschengerecht, S. 153 (These 7.); Graf VITZTHUM, ZRP 1987, S. 35

72

COESTER-WALTJEN, FamRZ 1984, S. 235; Int. Konferenz in Rambouillet in: Gentechnologie und Verantwortung, S. 83 - Insoweit besteht auch Streit, wann denn nun individuelles menschliches Leben beginnt. Für Geburt: FLETCHER, zitiert nach DEUTSCH, klinische Forschung, S. 87; JEROUSCHEK, JA 1989, S. 284f.; für Nidation: H. HOFMANN, JZ 1986, S. 258f.; TURNER, ZRP 1986, S. 173; für Gehirntätigkeit: SASS in: Gentechnologie Bd. 3, S. 40 u. 47; SCHOLZ in: Bitburger Gespräche, S. 80. Überblick über den Meinungsstand bei EIBACH, Experimentierfeld, S. 13ff. 73

SCHLEIERMACHER in: Chancen, S. 35; EIBACH, Experimentierfeld, S. 22.

74

KELLER in: Labormaterial, S. 16; LAUFS, JZ 1986, S. 774; EIBACH, Experimentierfeld, S. 23; PAP, MedR 1986, S. 233 75 76

STARCK, Gutachten, S. A.16; OSTENDORF, JZ 1984, S. 598; BVerfGE 39,1/37.

EIBACH, Experimentierfeld, S. 20f. m. w. N. - Die Nidation ist auch deshalb als Abgrenzungskriterium ungeeignet, weil es im Reagenzglas keine Nidation gibt. Auf die Art der Befruchtung aber kann es für die Lebensfrage nicht entscheidend ankommen; dies erhellt schon daraus, daß Wissenschaftler die Ektogenese, die künstliche Aufzucht des Embiyos, nur noch für eine Frage der Zeit halten, vgl. C. KERNER, "Menschen-Klone-Sensationen" in: Die Zeit v. 22.4.1988, S. 43.

Β. Forschung als Akt der Manipulation

57

kaum erforschter Weise gesteuert77. Die Überlebensfähigkeit schließlich kann nie Maßstab für Leben sein; die Möglichkeit des nahen Todes führt selbst dann nicht zur Verneinung von Leben, wenn sein Eintritt wahrscheinlich ist78. Für die Frage des (verfassungs-)rechtlichen Schutzes dürfte indessen entscheidend sein, daß verbleibende tatsächliche Unsicherheiten jedenfalls nicht zu Lasten auch bloß möglichen individuellen menschlichen Lebens gelöst werden dürfen. Im Zweifel ist der verfassungsrechtliche Lebensbegriff weit zu sehen; er umfaßt mithin schon das befruchtete Ei 79 . Diese Auslegung der Art. 2 Abs. 2 und 1 Abs. 1 GG entspricht dem Grundsatz des Bundesverfassungsgerichts, "wonach in Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkkraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet."80 Aber selbst bei der Annahme bloß artspezifischen oder latenten menschlichen Lebens müßte sich die aus Art. 2 Abs. 2 GG fließende staatliche Schutzpflicht auch schon auf diese Vorbereiche individuellen Lebens erstrecken, um es zu Gefährdungen erst gar nicht kommen zu lassen81. Keinesfalls setzt die Schutzpflicht einen individualisierbaren Grundrechtsträger voraus. Der Verfassungschutz des Embryos zieht allerdings nicht zwingend ein absolutes Forschungsverbot nach sich, denn Lebensschutz genießt keinen absoluten Vorrang vor allen anderen Grundrechten82. Die Wissenschaftler machen geltend, ihre embryonenmanipulierenden und -verbrauchenden Experimente seien durch Art. 5 Abs. 3 GG legitimiert; sie berufen sich auf hochrangige Forschungsziele83, die Gefahr einer Verlangsamimg wissen77

BICKEL, Fortbildung 1987, S. 105; SCHLEIERMACHER in: Chancen, S. 35.

78

BICKEL, aaO.; P. SCHWABE, S. 27; JEROUSCHEK, JA 1989, S. 281.

79

Diese Möglichkeit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Fristenlösung offengelassen, indem es ausführte, daß jedenfalls vom 14. Tag der Empfängnis an Leben "i. S. d. geschichtlichen Existenz eines werdenden Individuums" vorliege, vgl. BVerGE 39, 1/37 - Kritisch JEROUSCHEK, JZ1989, S. 280ff. - A. A. WERNICKE in: BK, Art. 2, Erl. II. 2. b); PODLECH in: AK-GG, Art. 1, Rz. 57f.; HOERSTER, JuS 1984, S. 173f. 80 BVerfGE 6, 55/72; 32, 54/71; 39,1/38; v. MUTIUS, Jura 1987, S. 111 - So auch Begr. A. II. zum Entwurf eines EmbryonenschutzG des BMJ, abgedruck in: Embiyonenschutz und Befruchtungstechnik, hrsg. v. Moni Lanz-Zumstein, München 1986, S. 156. 81

PÜTTNER/BRÜHL JA 1987, S. 294

82

PÜTTNER/ BRÜHL, aaO., S. 294f.; DEGENHART, S. 146; SCHOLZ in: Bitburger Gespräche, S. 80; ESER in: Menschengerecht, S. 164 83

Man erhofft sich eine Verbesserung der menschlichen Reproduktionstechniken, Erkenntnisse für die Erkennung und Behandlung von Krebs-, Immun- und Erkrankheiten; ferner könnten Embryonen als Spender von fötalem Gewebe für Forschungs- und Transplantationszwecke dienen, vgl. Benda-Bericht in: Gentechnologie Bd. 6, S. 28; KREBS in: Laborma-

58

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

schaftlichen Fortschritts und eines Konkurrenznachteils gegenüber dem weniger sensiblen Ausland84. Das geplante EmbryonenschutzG* 5, das die bisherigen standesrechtlichen Richtlinien der Ärzteschaft 86 durch das ausnahmslose strafrechtliche Verbot embryonenverbrauchender Forschung ablösen soll, wird sich an Art. 5 Abs. 3 GG in Kollision mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 bzw. Art. 1 Abs. 1 GG messen lassen müssen, falls derartige Forschungsaktivitäten vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG überhaupt erfaßt sind.

II. Die Welt als Forschungslabor Bleibt bei der Inanspruchnahme lebender Wesen als Objekte der Wissenschaft der denkbare Schaden auf sie selbst begrenzt, geht es nun um Fälle, in denen die natürliche Umwelt als "Forschungslabor" genutzt wird. Weil solche Versuche faktisch irreversible Folgen für Menschen, Tiere, Pflanzen und Umweltmedien weit in die Zukunft hinein nach sich ziehen können, stellt sich hier die Frage nach der Verantwortung der handelnden Wissenschaftler und des Staates in besonders nachhaltiger Weise.

1. Atomversuche Dies galt zunächst für die versuchsweise Zündung von Atombomben. Obgleich zu Experimentalzwecken durchgeführt, handelt es sich dabei doch um echte Ereignisse, die Atmosphäre, Flora und Fauna großer Landstriche

terial, S. 18f. und WUERMELING, ebd., S. 43f. - Allein zur Schaffung des ersten "Retortenbabys" sollen mehrere 100 Versuche mit menschlichen Embryonen nötig gewesen sein, vgl. R. DEGKWITZ, "Wenn Grundrechte des Menschen mißachtet werden" in: FAZ v. 1.4.1989 84

Gegen ein gesetzliches Forschungsverbot haben sich ausgesprochen: die MPG, die DFG und ihr Präsident Markl, sowie diverse hochrangige Mediziner, vgl. H. GRAUPNER, "Leben als Labormaterial" in: SZ v. 26./27.3.1988; H. ALTENMÜLLER, "Forschung am werdenden Menschen?" in: FAZ v. 29.6.1988; "Forschung an lebenden Embryonen" in: SZ v. 10.12.1987; H. LUCZAK, "Keine Forschung an Embryonen" in: SZ v. 27.6.1988; M. URBAN, " Was soll und was darf erforscht werden?" in: SZ v. 21.7.1988; die Bundesäiztekammer hält ein standesrechtliches Verbot für ausreichend, vgl. "Bundesärztekammer gegen Forschung an Embryonen" in: SZ v. 21.1.1988. 85 Vgl. BTags-Drs. 11/1856, S. 7ff.; BTags-Drs. 11/5460 und BTags-Drs. U/5710 86 Richtlinien zur Forschung an frühen menschlichen Embryonen in: Gentechnologie Bd. 13, S. 347ff. - Diese Richtlinien können als unzureichend gelten: Sie lassen Forschungen bis zu einem in-vitro-Entwicklungsstand zu, der dem 14. Schwangerschaftstag entspricht; die begutachtende zentrale Ethikkommission ist ihrerseits nur mit Medizinern besetzt; die Richtlinien entfalten keine rechtl. Verbindlichkeit und binden auch standesrechtlich nur Ärzte.

Β. Forschung als Akt der Manipulation

59

nicht unbeeinflußt lassen87, auch wenn sie unterirdisch und in entlegenen Gebieten getätigt werden.

2. Freisetzung genetisch veränderter Lebewesen a) Beschreibung: Die mit den Atomversuchen in Gang gebrachte neue Dimension wiss. Experimentierens findet ihre aktuelle Fortsetzung in der Freisetzung88 gentechnisch manipulierter Lebewesen in die Umwelt. Die gentechnische Züchtung von Pflanzen mit verbesserten Eigenschaften, von Mikroben, die Schadstoffe in Abwässern oder Industrieablagerungen abbauen können, oder von Schädlinge dezimierenden Viren macht nur Sinn, wenn in einem fortgeschrittenen Forschungsstadium der kontrollierte Schritt aus dem Labor ins Freiland gewagt wird. Denn nur so kann der Einsatz unter praktischen Verhältnissen getestet werden; und gerade eine realistische Nutzen-Risiko-Bewertung macht gezielte Experimente unter den Bedingungen der freien Natur unerläßlich89. Daß die Bedeutung solcher gentechnischer Neuzüchtungen für die Zukunft der Menschheit enorm sein kann, dürfte außer Frage stehen: Allein Menge und Belastung unserer Abfälle und Abwässer machen den gesellschaftlichen Bedarf für den Einsatz schadstoffentsorgender Mikroben deutlich90. Weil sich dahinter gewaltige Marktchancen auftun, drängen mittlerweile nach den USA91 auch in Europa92 einschließlich

87

JONAS, Aulavorträge, S. 15

88

Legaldefinition in § 3 Ziff. 7 GentechnikG und Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 214: Das gezielte Ausbringen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt. 89

BDI-Hintergrundpapier, S. 18; wib 12/87-IV/13 v. 16.9.1987, S. 7. ALTNER in: Gentechnologie Bd. 13, S. 217; F. HILDEBRAND, "Welche Dienste erweist die Gentechnik der Umwelt?" in: Bay. Staatszeitung v. 4.9.1987. 91 Die Geschichte des Freisetzungsproblems begann dort 1983 am Fall des ICE-MINUSBakteriums, BULLARD in: Gentechnologie Bd. 10, S. 25ff.; WINNACKER in: Gentechnologie Bd. 3, S. 343; M. PIETSCHMANN, "Kein grünes Licht für Eis-Minus" in: Die Zeit v. 4.4.1986, S. 80; zur Rechtslage in den USA: MAHRO, NuR 1986, S. 325ff. - Nach jahrelangen behördlichen und gerichtlichen Auseinandersetzungen konnte 1987 der erste legale Freilandversuch durchgeführt werden, nachdem er bereits 1984 illegal getätigt worden war, R. KLINGHOLZ / B. MÖLLER, "Gentechnik - Die Welt nach Maß" in: Zeit-Magazin 11/88 v. 11.3.1988, S. 29f.; "Erneut Freilandversuch mit manipulierten Bakterien" in: SZ v. 31.12.1987; H. LUCZAK, "Genetiker werten ersten Freilandversuch als erfolgreich" in: SZ v. 12.1.1989; "Erster Freilandversuch mit genmanipulierten Bäumen" in: FAZ v. 13.9.1989 90

92 Dazu F. HILDEBRAND, "Welche Dienste erweist die Gentechnik der Umwelt?" in: Bay. Staatszeitung v. 4.9.1987; "Gentechnischer Tollwut-Impfstoff" in: SZ v. 2.1.1989; R. FLÖHL, "Flucht vor der Gentechnik" in: FAZ v. 26.4.1989; "Weltweit 167 gentechnisch veränderte Organismen frei" in: SZv. 3./4.3.1990

60

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

der Bundesrepublik93 etliche private und staatliche Forschungseinrichtungen mit ihren Züchtungen ins Freiland. Solche Versuche gelten als besonders problematisch, weil hierbei lebende Wesen (bzw. vermehrungsfähige Nukleinsäuren), die sich reproduzieren und verbreiten können, ohne physikalisches Containment in die Umwelt entlassen werden. Gerade bei den gentechnisch veränderten Mikroorganismen sind die Verbreitungsmöglichkeiten so vielfältig, daß sich sichere Prognosen kaum aufstellen lassen94; hinzu kommt die Schwierigkeit des Verbreitungsnachweises. Auch das Konzept biologischen Containments95 als zusätzliche Sicherung gilt hier nur bedingt, denn um für die Erfüllung ihrer Aufgabe lange genug in natürlicher Umgebung überleben zu können, müssen die Organismen robuster konstruiert sein. Sie müssen zudem in für den Versuchszweck hinreichend großen Mengen entlassen werden, was die Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens und der Überwindung der Grenzen des Containments erhöht96. Stets ist zu bedenken, daß künstlich veränderte Organismen mutieren oder mit ihren natürlichen Artgenossen Erbinformationen austauschen können97. Sie können ihre natürlichen Artgenossen verdrängen und dadurch die Gleichgewichtsverhältnisse in der Natur stören98. Zwar gibt es auch in der Natur horizontalen Genaustausch und Mutationen99, doch sind die Risiken bei künstlicher Freisetzung wegen der ungewöhnlichen Konzentration des rekombinierten Materials ungleich höher100. In welch massiver Weise die gewollte oder versehentliche Einführung fremder Arten durch den Menschen Ökosysteme schädigen kann, belegen zahlreiche Beispiele101. Geeignete Instrumentarien, um die ökologischen Risiken bei der Einführung neuer Genotypen in die Umwelt sicher beurteilen zu können, gibt es 93 Dazu H. LUCZAK, "Das Geheimnis der lachsroten Petunie" in: SZ v. 17./18.9.1988; "Zunächst kein Versuch mit manipulierten Petunien" in: SZ v. 19.5.1989; W. LOHR, "Petunien in Köln freigesetzt" in: GID 54/55 (5/1990), S. 2 94

Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 220 und Tabelle auf S. 221.

95

Ζ. B. Einbau von "Selbstmordmechanismen"oder Kälteempfindlichkeit in die Organismen, dazu NICKLISCH, BB 1989, S. 4f. 96 SIBATANI in: Gentechnologie Bd. 10, S. 44; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 97 232 Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 222; G. KOLLATA, "How safe are engineered organisms" in: science 229 (1985), S. 34f. 98 ALTNER in: Gentechnologie Bd. 13, S. 218; KLOEPFER, Umweltrecht, S. 805 Rz. 190 99 100 101

ARBER in: Genetic Manipulation, S. Iff. LADEUR, NuR 1987, S. 65

Dazu die Beispiele bei J. DIAMOND, "Rats as agents of extermination" in: Nature 318 (1985), S. 602f.; LADEUR, NuR 1987, S. 63; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 223f.; H. LUCZAK, "Das Geheimnis der lachsroten Petunie" in: SZ v. 17./18.9.1988; M. THURAU, "Sicherheitsforschung im Gehölz" in: SZ v. 13.3.1989.

Β. Forschung als Akt der Manipulation

61

noch kaum102; auch fehlen praktische Erfahrungen 103. Gerade mit dem Entwicklungsbedürfnis solcher Instrumentarien werden die ersten Freisetzungsanträge begründet. Aber auch beim Vorhandensein von Daten aus vorausgegangenen Experimenten wären die Wirkungen einer Freisetzung nie exakt voraussagbar, denn sie hängen entscheidend auch von Art und Beschaffenheit des lokalen Ökosystems ab. b) Rechtspolitische Entwicklung: Im Hinblick auf solcherlei Risiken waren die rechtlichen Maßstäbe, denen die Freisetzung gentechnisch manipulierter Mikroben bis zum Erlaß des Gentechnikgesetzes unterworfen war, höchst unvollkommen. Das herkömmliche Recht der Risikokontrolle zog seine Maschen regelmäßig erst auf der Stufe der Produktvermarktimg, während Freisetzungen im Versuchsstadium kaum rechtlichen Beschränkungen unterworfen waren104: Soweit es sich bei den Mikroorganismen um Wachstumsregler105 oder andere Pflanzenschutzmittel106 i. S. d. PflanzenschutzG handelt, bedürfen Einführung und Vertrieb, nicht aber die Erprobung, einer Zulassung durch die Biologische Bundesanstalt107. Spezifische Vorschriften für Versuchs- oder Testphasen von Pflanzenbehandlungsmitteln enthält das PflanzenschutzG nicht, sie können nur auf dem Verordnungsweg erlassen werden108; wegen des begrenzten Anwendungsbereichs ist dies allerdings wenig praktikabel109. Handelt es sich um Mikroben, die Wachstum, Qualität und Ertrag von Pflanzen fördern, verlangt das DüngemittelG 110 für das Inverkehrbringen eine Typenzulassung, die nur erteilt werden darf, wenn die Substanzen "bei sachgerechter Anwendung die Fruchtbarkeit des Bodens und die Gesundheit von Menschen und Haustieren nicht schädigen und den Naturhaushalt nicht gefährden". Die Freisetzung zu Forschungszwecken ist nicht erfaßt. Nach § 20d Abs. 2 BundesnaturschutzG bedarf die Aussetzung und Ansiedlung gebietsfremder Tiere oder Pflanzen in der freien Natur der Genehmigung, die zu versagen ist, wenn die Gefahr einer Verfälschung der heimischen Tier- und Pflanzenwelt oder eine Gefährdung des Bestands oder der 102 BULLARD, Gentechnologie Bd. 10, S. 27; Entschließung des EG-Parlaments, BTagsDrs. 11/4343 103 Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 215 und 234f. (Empfehlung 2.) 104

WINTER, DVB1.1986, S. 592; LADEUR, NuR 1987, S. 63.

105

§ 2 Abs. 1 Ziff. 9 d) PflSchG

106

§ 2 Abs. 1 Ziff. 9 PflSchG

107

§ 11 PflSchG § 7 Abs. 1 Ziff. 1 oder δ 3 Ziff. 17 PflSchG

108 109

WINTER, DVB1.1986, S. 592; MAHRO, NuR 1986, S. 329.

110

§ 2 DüngemittelG v. 15.11.1977 (BGBl. I, S. 2134)

62

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Verbreitung heimischer Tier- und Pflanzenarten oder von Populationen solcher Arten nicht auszuschließen ist. Dies kann zwar für die Freisetzung genetisch veränderter Tiere und Pflanzen, nicht aber von Mikroben einschlägig sein, die wohl keine "Tiere" i. S. d. BNatSchG sind. Regelmäßig liegt in der Freisetzung auch kein Eingriff i. S. d. § 8 BNatSchG, weil Gestalt oder Nutzung der Freisetzungsflächen nicht verändert werden111.

Das einzige umfassende Regelwerk hinsichtlich der versuchsweisen Freisetzung genetisch veränderter Lebewesen stellten die Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in-vitro neukombinierte Nukleinsäuren zur Verfügu Diese normierten bezüglich der absichtlichen Freisetzung gentechnisch manipulierter Organismen ein repressives Verbot mit Ausnahmevorbehalt113. Die Richtlinien hatten rechtliche Bindungswirkung aber nur für die vom Bund finanzierten oder geförderten Forschungsprojekte114. Im übrigen waren sie auf freiwillige Beachtung angewiesen115. Damit fehlte in der Bundesrepublik Deutschland bislang ein umfassender und rechtlich verbindlicher Genehmigungsvorbehalt für die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen. Der Deutsche Bundestag ist jedoch mittlerweile den verbreiteten Forderungen nach gesetzlicher Regelung116 nachgekommen und hat in dem Gesetz zur Regelung von Fragen der Gentechnik 117 auch für die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt normiert (§§ 14 bis 16 GentechnikG). Eine Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn das vorher durchzuführende

111

WINTER DVB1.1986, S. 593; zur Eingriffsregelung SOELL in: Grundzüge, S. 521ff.

112

5. Fassung v. 28.5.1986, abgedr. in Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 381ff. Richtlinie Nr. 19; die Ausnahmen erteilt das BGA nach Anhörung der ZKBS und im Einvernehmen mit der Biologischen Bundesanstalt. 113

114

Richtlinie Nr. 2 Abs. 1 Vgl. Vorwort zur 5. Fassung der Richtlinien in: Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 381 - Zur ähnlichen Rechtsnatur der NIH-Guidelines und der "Points to Consider for Experiments involving Releases of genetically Engineering Organisms " v. 1985 in den USA, MAHRO NuR 1986, S. 329. 115

116 Ein Gentechnologiegesetz forderten der Bay. Landtag (SZ ν. 8.2.1988), die SPD (SZ v. 14.1.1988), die GRÜNEN (wib 10,ll/87-X/9 v. 9.9.1987, S. 37), die Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 235, der Bund Naturschutz (SZ v. 2.12.1988) und eine Reihe von Naturwissenschaftlern (FR v. 3.3.1988; FAZ v. 3.3.1988; wib 5/88-X/32 v. 9.3.1988, S. 33 und wib 12/88-X/47 v. 22.6.1988, S. 29); außerdem LADEUR, NuR 1987, S. 67; WINTER in: Gentechnologie Bd. 10, S. 195; LOW in: Verführung, S. 42f.; NICKLISCH, DB 1986, S. 2477; ders., BB 1989, S. 9; KLOEPFER, Umweltrecht, S. 810f. Rz. 201; SENDLER, NVwZ 1990, S. 233 mit Fn. 19ff. 117 Gesetz v. 20.6.1990, BGBl. I, S. 1080ff. Siehe außerdem den Entwurf einer EG-Richtlinie über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt, EGAbi. C 198 v. 28.7.1988, S. 19ff.

Β. Forschung als Akt der Manipulation

63

förmliche Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung die Unbedenklichkeit des Vorhabens für Mensch und Umwelt ergeben hat118.

118 Zu den Einzelheiten §§ 16 und 18 Abs. 2 GentechnikG

C. Finalisierung

Eine Grundüberzeugung idealistischer Wissenschaftsaujfassung war es, da Wissen zweckfrei und um seiner selbst willen erworben werden muß. Eine unmittelbar auf praktische Lebensfragen bezogene, "angewandte" und spezialisierte Wissenschaft lehnte man - jedenfalls für den Bereich der Hochschule - ab1. Auch tatsächlich beeinflußte die Wissenschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum die praktischen Angelegenheiten des Tages: Wissenschaftliche Forschung und Anwendung waren weitgehend getrennt. Der typische Wissenschaftler des vorigen Jahrhunderts - repräsentiert durch den HochschulOrdinarius einerseits und das Mitglied in "Gelehrten Gesellschaften"2 andererseits - wollte vor allem die vielfältigen Funktionszusammenhänge der Natur enträtseln; der praktische Nutzen seiner Erkenntnisse interessierte ihn weniger3. Jene Kraft- und Werkzeugmaschinen, die die industrielle Revolution auslösten, waren vorwiegend das Werk von Handwerkern oder Erfindern 4; ähnliches gilt für medizinische Gerätschaften und Therapiemethoden. Machten Wissenschaftler Vorschläge für praktische Verbesserungen, wurden sie oft erst nach Jahren gehört5. Kurzum: Den Gelehrten oblag die Gewinnung theoretischen Wissens, Technikproduktion war Sache von Praktikern. Noch während der Weimarer Republik führten die Universitäten weitgehend ein Eigenleben. Abgesehen von zunehmender Spezialisierung entsprachen die Hochschulwissenschaftler in ihrer Arbeitsweise regelmäßig dem idealistischen Vorstellungsbild. Daneben waren einige Industrielaboratorien und Reichsforschungsanstalten entstanden6, die sich der anwendungsnahen Forschung und Entwicklung widmeten. Ein Zusammenwirken mit den Hochschulen ergab sich von Fall zu Fall und in loser Form. Der Staat trat in

1

SCHELSKY, S. 65f. und 69ff.

2

SCHELSKY, S. 28f.

3

HÜBNER, PuZ 1985/ Beilage 3, S. 40; JONAS in: Andere Wissenschaft, S. 103f.

4

Vgl. HENNING, Die Industrialisierung in Deutschland, S. 114ff.

5

BÖHME / v. d. DAELE / KROHN, ZfS 1973, S. 130

6

Zur Forschung des Staates OPPERMANN, Kulturverwaltungsrecht, S. 109ff. und 412ff.

C. Finalisierung

65

dieser Konstellation nur als Geldgeber der Universitäten und Forschungsanstalten, sowie gelegentlich als Auftraggeber in Erscheinung7. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges wurden die (Natur-)Wissenschaften in steigendem Maß von wissenschaftsexternen Instanzen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Dienst genommen. Erkenntnisproduktion orientierte sich tendenziell immer weniger an der Logik und den Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft selbst. Stattdessen avancierte die Frage nach der Umsetzbarkeit in technische Produkte und Verfahren, nach der Verwertbarkeit zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme oder nach der Nützlichkeit im Rahmen politischer Handlungskalküle zum Entwicklungsleitfaden der Theoriebildung8 - ein Prozeß, der sich mit dem traditionellen Begriffspaar der Grundlagen- und angewandten Forschung kaum mehr adäquat beschreiben läßt9.

/. Allgemeine Bestandsaufnahme 1. Dominanz praktischer über theoretische Fragestellungen Die Scheidung zwischen "reiner" Forschung, die nach nichts als der wissenschaftlichen Wahrheit strebt, und der Anwendung ihrer Ergebnisse ist problematisch geworden, da sie ein Theorie-Praxis-Verhältnis impliziert, das die Entwicklung neuzeitiger Naturwissenschaften nicht mehr realistisch wiedergibt: Es existiert heute kaum ein naturwissenschaftlicher Zweig, dessen Ergebnisse nicht irgendwie praktisch nutzbar wären. Und tatsächlich werden Forschungsprojekte zunehmend mit Blick auf in Aussicht stehende Nützlich7

g HÄFELE in: Projektwissenschaften, S. 18 Dieses Phänomen wird in der Wissenschaftssoziologie mit dem Begriff der Finalisierung umschrieben, BÜHL, S. 190 und S. 312; BÖHME / v. d. DAELE / KROHN, ZfS 1973, S. 129. 9 Herkömmlich wird zwischen Grundlagen-, angewandter Forschung und Entwicklung unterschieden, wobei die Begriffe uneinheitlich gebraucht werden, vgl. FLÄMIG in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 881; MAUNZ in: Maunz / Dürig / Herzog Bd. 3, Art. 74 GG, Rz. 178; ECKERT, S. 13f.; CHORAFAS, S. 19. - Hier wird folgende Unterscheidung zu Grunde gelegt: - Grundlagenforschung ist Forschung, die eine Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Ziel hat, ohne an praktischer Anwendbarkeit orientiert zu sein. - Unter angewandter Forschung versteht man jene Aktivitäten, die zur Lösung wissenschaftsextern gestellter praktischer Probleme unternommen werden. -

Entwicklung ist die technisch-ingenieurmäßige Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in technische Nutzanwendungen.

66

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

keiten in Angriff genommen und legitimiert10. Auch die Grundlagenforschung wird nach Gesichtspunkten der Sozial- und Gesellschaftsrelevanz bewertet11; sie scheint sich von der angewandten Forschimg oft nur darin zu unterscheiden, daß sie die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten erst als längerfristige Ziele ins Auge faßt, weil der Erkenntnisstand von der Anwendungsreife noch weiter entfernt ist. Die forschungspolitischen Modebegriffe der "anwendungs-" oder "programmorientierten Grundlagenforschung" 12 machen dies deutlich. Grundlagenforschung, die sich auf keinen Anwendungsnutzen berufen kann, und die Geisteswissenschaften treten forschungspolitisch - trotz ihrer unbestreitbaren Wichtigkeit13 - in den Hintergrund14. Zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und seiner praktischen Umsetzung liegen immer kürzere Zeiträume. Naturwissenschaften haben einen immer engeren zeitlichen, räumlichen und institutionellen Bezug auf bestimmte wirtschaftliche, militärische, soziale oder ökologische Zwecksetzungen15. In vielen Bereichen (Chemie, mechanische Physik, Atomphysik, Biotechnologie) verschmelzen Grundlagenforschung, angewandte Forschung, Entwicklung und Anwendung zu einer kaum unterscheidbaren Einheit16. Das Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft ist heute nicht mehr geprägt von Zurückhaltung, Distanz oder Nichtbeachtung. Vielmehr werden die direkten und indirekten, bewußten und unbewußten Interaktionen zwischen diesen gesellschaftlichen Systemen immer intensiver und vielfältiger 17: Staat und Wirtschaft tragen Aufgaben und Probleme aus 10

JONAS in: Andere Wissenschaft, S. 105ff.; TUPPY, WissR Beiheft 7 (1979), S. 178f.

11

STENBOCK-FERMOR in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 1176. Vgl. nur OPPERMANN in: Hdb. StaatsR. Bd. VI, Rz. 43; ders., Kulturverwaltung$recht, S. 859f.; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 123f.; "Forscher müssen sich der Konkurrenz stellen" in: SZ v. 24.3.1988; "Grundlagenforschung in Geldnot" in: SZ v. 30.11.1988. 12

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 13f., 20,51; BMFT-Journal 5/1988, S. 2

13

Vgl. MARKL, MittHV 1987, S. 284; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 19f. und 37 - Dies gilt v. a. in den Universitäten, denn hier gewährleistet Grundlagenforschung jenen Freiraum, der die beste Grundlage für das Aufgreifen neuer Ideen und die Rekrutierung des wiss. Nachwuchses bildet. 14

Die für echte Grundlagenforschung und die Geisteswissenschaften eingesetzten finanziellen und personellen Mittel nehmen in Relation zu den sonstigen Forschungsbereichen stetig ab; der Realwert der für Hochschulforschung eingesetzten Mittel stagniert, ECKERT, S. 14f.; SCHUSTER, WissR 18 (1985), S. 252 und die statistischen Angaben im BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 60ff., sowie im FAKTENBERICHT 1986, S. lOff. 15 BÖHME / v. d. DAELE / KROHN, ZfS 1973, S. 129 16

BÜHL, S. 273f.; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 13f.; zu empirischen Daten SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 33 m. w. N. 17

LUHMANN, Jb.f.Soialwissenschaften 19 (1968), S. 158; BÜHL, S. 28, 31f., 44f.

Finalisierung

67

ihren Tätigkeitsbereichen zur Bearbeitung und Lösung an die Wissenschaftler heran. Beispiele sind die Erforschung von AIDS 18 , die Entwicklung des Abgaskatalysators19 oder die Versuche, Bakterien zu Insulinproduzenten zu manipulieren20. In diesen und ähnlichen Fällen waren die Forschungszwecke wissenschaftsextern motiviert. Fragestellungen aus Industrie, Staat und Gesellschaft waren - auch dank entsprechender finanzieller Förderung Ausgangspunkt für theoretische Probleme und Strategien. Naturwissenschaftliche Forschung übernimmt damit die Rolle des unmittelbaren Schrittmachers der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Andererseits sind ihre Erkenntnisse Ausgangspunkt komplexer politischer Entscheidungen.

2. Denkbare Ursachen a) Abschluß der Theorienbildung: Die "Finalisten" führen ihre These der Verzwecklichung und Funktionalisierung von Wissenschaft vor allem auf das wissenschaftsimmanente Phänomen des Abschlusses der Theorienbildung zurück. Die Anzahl offener fundamentaler Probleme in einer Disziplin sei endlich, so daß theoretische Entwicklungen zu einem definitiven Abschluß kommen könnten21. In dieser Phase fertiger Theorien seien Wissenschaftler geneigt, sich der Anwendung der Erkenntnisse ihrer Disziplin zuzuwenden; es kommt zur Finalisierung22. Diese These begegnete heftiger Kritik 23, ist sie doch unvereinbar mit der Grundannahme der herrschenden Wissenschaftsauffassung des kritischen Rationalismus (K. POPPER), wonach wissenschaftliche Theorien immer unter dem Vorbehalt der Widerlegung stehen (Fallibilismus). Und T. KUHN 24 hat gezeigt, daß gerade in Phasen scheinbar stabiler Theorien-

18

AIDS - Eine Herausforderung an die Wissenschaft (3. Bericht), hrsg. v. BMFT, Bonn 1988, S. 9ff. und 113ff. Ähnliches gilt für die Erforschung vieler anderer gefürchteter Krankheiten, BÖHME / v. d. DAELE / KROHN, ZfS 1973, S. 129. 19

Obgleich die theoretischen Grundlagen seit langem bekannt waren, begann erst ab 1970 ein wahrer Forschungsboom, als entspr. politischer Handlungsbedarf und erhebliche Absatzmärkte erkennbar wurden, PISCHINGER, forschung. Mitteilungen der DFG 1/1988, S. 3f. 20 GAREIS in: Gentechnologie Bd. 3, S. 331f.; "Schöpfer neuen Lebens" in: Bild der Wissenschaft 4/1984, S. 84ff. 21

DAELE, Wirtschaft und Wissenschaft 2/1975, S. 30f.

22

BÖHME / v. d. DAELE / KROHN, ZfS 1973, S. 130f.

23

Siehe nur ANDERSSON in: Die politische Herausforderung, S. 68ff. m. w. N. KUHN, Revolutionen, S. 19ff.

24

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

68

bildung "wissenschaftliche Revolutionen" auftreten können, die traditionelle Lehren durch völlig neue ersetzen. b) Andere Erklärungsansätze: Im Zuge des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts wuchsen nicht nur Wohlstand und Lebensstandard, sondern auch die technischen, gesellschaftlichen und ökologischen Folgelasten. Gerade auf die Naturwissenschaften konzentriert sich - mangels erkennbarer Alternativen - wiederum die Hoffnung, daß sie einerseits weiteres Wirtschaftswachstum gewährleisten als auch andererseits die damit einhergehenden unerwünschten Folgen beseitigen oder doch wenigstens mildern werden. Der wissenschaftliche Problemlösungsdruck ist erheblich und wird mit weiterer wissenschaftlich-technischer Entwicklung zwangsläufig zunehmen25. Anwendungsferne Grundlagenforschung erscheint in diesem Zusammenhang als "phantastische Flucht" aus der Realität26. Um zu gewährleisten, daß Wissenschaft ihre "soziale Funktion" wahrnehme, begann der Staat naturwissenschaftliche Forschung zu planen. Den Naturwissenschaften verblieb vielfach keine andere Wahl, als ihre Dienste wissenschaftsexternen Instanzen anzubieten27. Hinzu kommt, daß naturwissenschaftliche Forschung als Folge ihrer hohen Spezialisierung und Kompliziertheit teuer geworden ist. Sinnvolle und erfolgversprechende Forschungsarbeit verlangt immer umfangreichere finanzielle, sächliche und personelle Mittel, die sie aus eigener Kraft nicht bereitstellen kann. Großforschung (Kernfusion, Meeres- und Polarforschung, Weltraumforschung) setzt eine Infrastruktur voraus, die selbst nationale Kapazitäten übersteigt28. Das Angewiesensein der Naturwissenschaften auf externe Sach- und Geldgeber (Wirtschaftsunternehmen, Staat und andere gesellschaftliche Gruppen) macht sie von deren Zielen, Wünschen und Vorgaben mehr oder weniger abhängig29. Der hohe öffentliche Mittelbedarf bei begrenzter Finanzlage läßt sich nur über die Einbindung der Forschungsvorhaben in die Bedürfnisse der sozialen Wirklichkeit legitimieren. Private Wirtschaftsunternehmen werden dort die meisten Forschungsgelder investieren, wo sie die größten Markt- und Gewinnchancen vermuten. Bedürfnis- und Marktbefriedigung wird so zum zentralen Auftrag an die naturwissenschaftliche Forschung30. 25

BÖHME / v. d. DAELE / KROHN, ZfS 1973, S. 130

26

Siehe bei ANDERSSON in: Die politische Herausforderung, S. 66f.

27

SCHELSKY, S. 154 und 159ff.

28

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 17

29

BÜHL, S. 273; KREYSEL, MittHV 1989, S. 189f.

30

SCHELSKY, S. 154 und 160, spricht von der "Vergesellschaftung" der Wissenschaft; ferner DIEMER in: Die politische Herausforderung, S. 192f.

C. Fnalisierung

69

IL Forschungslenkung durch Forschungsförderung Forschungförderung sei hier verstanden als gezielte, hauptsächlich31 finanzielle Unterstützung fremder Forschungsaktivitäten, ohne daß der Förderungsträger den externen Wissenschaftsbereich organisatorisch oder funktional unmittelbar vereinnahmt32. Förderung in diesem Sinn hat ihre Grenze dort, wo die unmittelbare Inanspruchnahme von Forschungskapazitäten für eigene Zwecke des Mittelgebers beginnt (dazu III.). Die Hochschulforschung soll zunächst ausgeklammert bleiben (dazu IV.). Auch in diesem Bereich scheinbar selbstloser Mittelzuwendung sind Finalisierungstendenzen anzutreffen: Wegen des Angewiesenseins der Naturwissenschaften auf Fremdmittel können Geldgeber durch Steuerung der Dotationen Forschungsvorhaben begünstigen oder verkümmern lassen. Forscher und Institute stehen bei der Themenwahl unter der "Diktatur des knappen Geldes"33 und zudem untereinander in Konkurrenz. Über Vergaberichtlinien und Förderbedingungen sichern sich die Mäzene Mitsprache und Kontrolle hinsichtlich des Forschungsprozesses.

1. Förderungsträger Das Gesamtbudget der wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung (FuE) in der Bundesrepublik Deutschland34 wird im wesentlichen vom Bund, den Ländern und der Wirtschaft aufgebracht 35. a) Wirtschaft: Die Forschungsaufwendungen der Wirtschaft finden zu mehr als 95% wieder Eingang in Forschungsaktivitäten des Industriesek-

31

Außerdem: Hilfen und begleitende Maßnahmen bei Planung und Durchführung, soziale Absicherung wiss. Personals und Vermittlung von Informationen und Kontakten in Betracht. 32 Ähnlich auch JAKOB, Der Staat 24 (1985), S. 560, und BODE, S. 17ff., zur Umschreibung des zuständigkeitsrechtlichen Fördeibegriffs i. S. v. Art. 74 Ziff. 13 und 91b GG. Zur bundesstaatlichen Problematik außerdem LERCHE in: Fs. f. Maunz, S. 223ff. 33

KNEMEYER, BayVBl. 1982, S. 517

34

Die FuE~Aufwendungen haben sich während der letzten 30 Jahre mehr als verzwölffacht. Für 1987 werden sie auf 57 Mrd DM beziffert; das sind 3 % des bundesdeutschen Bruttosozialprodukts. Dazu BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 60 und 351 (Tab. VII/2) und BMFT-Journal 5/1988, S. 2. 35 Der Bund erbrachte 1987 24,3% (= 5% des Gesamthaushalts des Bundes), die Länder 13,4% und die Wirtschaft 61% der FuE-Aufwendungen; darüber hinaus wurden von priv. Institutionen ohne Erwerbszweck 0,3%, von ausländischen Trägern 1,1% aufgewendet, aaO.

70

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

tors36. Als Träger allgemeiner Forschungsförderung im hier verstandenen Sinn ist die Wirtschaft daher vernachlässigbar. b) Bundesländer: Der Länderanteil der FuE-Aufwendungen ist zu 70% durch Aus-, Neubau und Unterhaltung der Hochschulenfixiert. Vom Rest dient der überwiegende Teil zur Vollfinanzierung der in den Landeshaushalten etatisierten Ressortforschungseinrichtungen 37. Der verbleibende Posten verteilt sich auf den Länderanteil an der Finanzierung der nach Art. 91b GG von Bund und Ländern gemeinsam geförderten Forschungseinrichtungen38 und auf die Projektförderüng im außeruniversitären Förschungsbereich39. c) Bund: Die staatlichen Aufwendungen für FuE-Förderung sind somit klar auf den Bund konzentriert40. Seine Ausgaben fließen überwiegend dem außeruniversitären Bereich zu. Über 50% davon dienen der gezielten Projektförderung; sie werden nach Förderschwerpunkten und Sonderforschungsbereichen zugeteilt41. Der Rest ist - neben Ausgaben für die bundeseigene Ressortforschung 42- im wesentlichen Grundfinanzierung der von Bund und Ländern gemeinsam geförderten Forschungseinrichtungen (Art. 91b GG) und der Hochschulen43. An der Finanzierung der FuE-Ausgaben sind die einzelnen Bundesressorts sehr unterschiedlich beteiligt. Über 90% der Ausgaben werden von den Bundesministerien für Forschung und Technologie (55,5%), Verteidigung (20,4%), Bildung und Wissenschaft, sowie Wirtschaft aufgebracht 44.

36

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 65; dazu unten III. 2.

37

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 82; dazu unten III. 1.

38 DFG, MPG, FhG, 13 Einrichtungen der Großforschung, 47 Einrichtungen der sog. Blauen Liste, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 84f.

39

Auf den Wirtschaftssektor entfallen 5% des Landesetats für FuE, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 82 und 201ff. 40 Eine Vmanzierung&uständigkeit des Bundes besteht nur i. R. d. von ihm zu erfüllenden öffentlichen Aufgaben, denn die Verteilung der Ausgabenkompetenz zwischen Bund und Ländern folgt der Verteilung der Aufgabenkompetenz, Art. 104a Abs. 1 und 4 GG. Siehe zur faktischen Kompetenzverteilung bei den Art. 91b-Projekten die Rahmenvereinbarung zwischen Bund und Ländern über die gemeinsame Förderung der Forschung nach Art. 91b GG v. 28.11.1975 (Rahmenvereinbarung Forschungsßrderung) in: Bundesanzeiger Nr. 240 v. 30.12.1975, S. 4. 41 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 76, 91 und 362f. (Tab. VII/9) - Zu den Förderschwerpunkten aaO., S. 91ff. und 123ff. 42

Dazu unten III. 1.

43

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 70 (Tab. II/5) und 72 (Tab. II/6).

44

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 68f. (Tab. II/4)

C. Finalisierung

71

2. Förderungsarten a) Direkte Forschungsförderung: Unter direkter Förderung ist die unmittelbare finanzielle Unterstützung von Forschungseinrichtungen durch den Staat zu verstehen. Die Zuwendungen können dabei zur Deckung der gesamten oder eines nicht abgegrenzten Teils der Ausgaben einer Forschungseinrichtimg dienen (= institutionelle Förderung* 5). Dazu gehört insbesondere die Grundfinanzierung der privaten Forschungseinrichtungen ohne eigenen Erwerbszweck, die nach Art. 91b GG von Bund und Ländern gemeinsam gefördert werden46: - Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. (MPG) - Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e. V. (FhG) - 13 Einrichtungen der Großforschung - 47 Forschungseinrichtungen der Blauen Liste. Werden Mittel dagegen zweckgebunden zur Deckung der Kosten für ein bestimmtes abgegrenztes Forschungsprojekt zugewendet, spricht man von Projektförderung 47. Diese ist als verlorener Zuschuß oder als zweckgebundenes Darlehen möglich. Empfänger können Forschungseinrichtungen der Industrie, solche ohne eigenen Erwerbszweck oder die Hochschulen48 sein. Doch ergeben die Verteilungsmuster der projektbezogenen Förderung eine deutliche Dominanz der Empfängergruppe Industrie49. Die Projektfördermittel werden nicht nach dem "Gießkannenprinzip", sondern nach Förderschwerpunkten und Sonderforschungsbereichen ben. Gemessen am Fördervolumen sind vorrangige Schwerpunkte derzeit die Bereiche Energie- und Weltraumforschung 50, sowie solche Projekte, die

45

Ziff. 2. 1. der Vorl.W-BHO zu § 23, abgedruckt in: KÖCKRITZ/ ERMISCH/ LAMM, BHO-Komm., bei § 23. 46

Rahmenvereinbarung Forschungsförderung (Bundesanzeiger Nr. 240 v. 30.12.1975, S. 4) Vgl. Ziff. 2. 2. der Vorl.W-BHO zu §23, abgedruckt in: KÖCKRITZ / ERMISCH / LAMM, BHO-Komm., bei § 23. 47

48

Zur Förderung der Hochschulen durch das BMFT nach Förderschwerpunkten: BMFTJournal 3/1988, S. 3 und unten IV. 2. b) 49 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 78, 90f. und 364f. (Tab. VII/10); SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 240ff.; wib 11/88-X/46 v. 15.6.1988, S. 7. 50

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 68 und 70f. (Tab. II/5)

ve

72

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Förderprofil "marktorientierte Technologien" einzuordnen sind51. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Vorsorgeforschung (Gesundheit, Umwelt, Klima, Arbeitsbedingungen und Technikfolgen52). Projektförderung der Grundlagenforschung 53 schlug beim Bund mit knapp 3,5 Mrd D M (= 27,5%)*, solche der Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften mit 289 Mio DM 5 5 (= 2,3%) zu Buche. b) Instrumente indirekter Förderung: Neben den direkten Zuwendungen des Staates an nichtstaatliche oder universitäre Forschungseinrichtungen spielen die Maßnahmen der indirekten Förderung eine wichtige Rolle. Sie sollen die FuE-Kosten beim Begünstigten senken und dadurch dessen Bereitschaft zu eigenen Forschungsinitiativen erhöhen56. Versucht wird dies durch eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen. Neben Steuervergünstigungen für private FuE-Aufwendungen57, der Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen58, Personalkostenzuschüssen59 und forschungsinfrastrukturellen Maßnahmen60 ist hier vor allem an die Finanzierung bzw. Unterstützung privater Förderorganisationen zu denken. Der Löwenanteil dieser institutionellen indirekten Förderung fließt an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 61 , die den zentralen Platz unter den selbständigen deutschen Wissenschaftsfördereinrichtungen einnimmt. Ihre Aufgabe ist die finanzielle (und beratende) Unterstützung fremder Forschungsaktivitäten62. Vor allem für die Hochschulfor51

Der Anteil am Fördervolumen des Bundes beträgt 30%, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 74f. (Tab. II/7 und II/8). 52

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 70f. (Tab. II/5) Die BReg vertritt dabei einen sehr weiten Begriff der Grundlagenforschung, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 123f. 53

54

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 80 (Tab. 11/11) für 1986; siehe auch "Bonn fördert Grundlagenforschung" in: SZ v. 16./17.1.1988 55

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 192ff. insb. S. 1% (für 1987)

56

SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 349f.; VOSS, Der Arbeitgeber 1986, S. 359f.; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 88f. 57

§§ 4 InvZulG, 82d EStDV; VOSS, Der Arbeitgeber 1986, S. 359f.; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 88f. (Tab. II/14); FAKTENBERICHT 1986, S. 43ff.; SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 351 58

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 46 und 88 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 41f. und 88 (Tab. 11/14) 60 OPPERMANN, Kulturverwaltungsrecht, S. 420ff.; SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 352ff.; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 45f., 105f. und 334ff. 59

61 Die DFG wird auf der Grundlage des Art. 91b GG von Bund und Ländern je zur Hälfte finanziert, in 1986 erhielt sie etwa 1 Mrd D M Fördermittel, BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 123 und 278 62

LETZELTER in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 1185

C. Finalisierung

73

schung aller Fachrichtungen ist die DFG wichtigster Drittmittelgeber 63. Knapp die Hälfte der ihr zur Verfügung stehenden Mittel vergibt sie nach dem "Gießkannenprinzip" (Normalverfahren), während der Rest für Sonderforschungsbereiche und Schwerpunktprogramme zur Verfügung steht64. Letztere bilden ein wichtiges Instrument der Profilierung universitärer Forschungsarbeit. Neben der DFG unterstützt der Staat eine Reihe privater Wissenschaftsstiftungen 65, denen je nach satzungsmäßiger Aufgabenstellung gerade für die Förderung neuartiger, ungewöhnlicher und vom Staat unbeachteter Forschungsaktivitäten Bedeutung zukommt. Hervorzuheben sind die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und die Stiftung Volkswagenwerk66.

3. Förderungsziele Staatliche Forschungsförderung hat direkt oder indirekt dem öffentlichen Wohl zu dienen. Schon zur politischen Legitimierung ihres steigenden Mittelbedarfs bei begrenzten öffentlichen Ressourcen müssen die Fördermaßnahmen gemeinwohlorientiert sein. Da eine Unterstützung nach dem "Gießkannenprinzip" zweifellos wenig effizient wäre, geht der Trend zur zweckorientierten Mittelvergabe nach Maßgabe mittel- oder längerfristiger gesellschaftlicher Nützlichkeitserwägungen67. Erforderlich wird damit die forschungspolitische Bildung von Förderungszielen und -Schwerpunkten68. 63 Presseerklärung der DFG v. 17.9.1987 in: MittHV 1987, S. 248; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 37 und unten IV. 2. b) 64

LETZELTER in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1189f.

65

Ihre Zahl ist so groß, ihre Aufgabenstellungen sind so vielfältig, daß sie sich weder empirisch noch rechtlich einheitlich erfassen lassen, vgl. FLÄMIG in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1201 und 1217; OPPERMANN, Kulturverwaltungsrecht, S. 431ff. 66

Vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 282ff. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 91; SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 72f.; BODE, S. 22f.; HETZLER, S. 35. 67

68

Dabei ist der Staat an eine Reihe verfassungs- und einfachrechtlicher Vorgaben gebunden. Ζ. B. gebietet ihm die grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 14 Abs. 1 GG, i. R. seiner Förderpolitik die für den Gesundheits- und Umweltschutz relevanten Forschungsvorhaben in ausreichendem Umfang zu berücksichtigen, vgl. SOELL in: Jb. d. Umwelt· und Technikrechts 1989, S. 23ff. Weitere Direktiven ergeben sich aus Art. 20 Abs. 1 GG ( Sozialstaatsprinzip), Art. 5 Abs. 3 i. V. m. 20 Abs. 1 GG (Kulturstaatsprinzip), Art. 104a und 109 GG i. V. m. §§ 1,12 Abs. 1 und 14 StabG (gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht) und §§ 23,44 Abs. 1 BHO.

74

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

a) Zielaufstellung: Förderziele und vorrangig zu berücksichtigende Projekte werden dabei in der Praxis nicht vom Gesetzgeber bestimmt. Es gibt bislang kein ForschungsförderG des Bundes auf der Grundlage des Art. 74 Ziff. 13 GG. Auch kein Bundesland hat ein entsprechendes Gesetz erlassen69. Die Parlamente können ihren Einfluß auf die Forschungspolitik im wesentlichen nur über die haushaltsmäßige Zustimmung zu den FuE-Etats der einzelnen Ressorts geltend machen70. Zum bestimmenden Faktor in der staatlichen Forschungsförderpolitik hat sich die Bundesregierung entwickelt. Die Förderungsziele und -programme werden federführend vom BMFT erstellt71. Es läßt sich dabei durch eine Reihe sachverständiger Gremien beraten: Hervorzuheben ist der Beratende Ausschuß ßr Forschung und Technologie. Daneben besteht eine Vielzahl von Fachausschüssen, Projektkomitees und Sachverständigenkreisen72. Die aus Vertretern der Bundes- und der Länderregierungen gebildete BundLänder-Kommission ßr Bildungsplanung sorgt auf der Ebene des Zusammenwirkens von Bund und Ländern in der Forschungsförderung nach Art. 91b GG für Koordination, Information und Willensbildung in Fragen der überregionalen Forschungsförderung 73. Einfluß auf die Hochschul- und Forschungsplanung hat schließlich der Deutsche Wissenschaftsrat, der zur inhaltlichen und strukturellen Entwicklung von Wissenschaft und Forschung generelle Empfehlungen zu erarbeiten, sowie zu konkreten Planungen und bestimmten Wissenschaftseinrichtungen gutachtlich Stellung zu nehmen hat74. b) Der aktuelle Zielkatalog: Die derzeit gültigen Ziele staatlicher Forschungsförderpolitik sind im Bundesbericht Forschung 1988 niedergelegt75: - Erweiterung und Vertiefung der wissenschaftlichen Erkenntnis und dazu erforderliche strukturelle und organisatorische Entwicklung der bundesdeutschen Forschungslandschaft - Schaffung chancenreicher und menschengerechter Lebens- und Arbeitsbedingungen; Streben nach einem auf die Dauer tragfähigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen und einer positiven Umweltgestaltung 69

v. BRÜNNECK, JA 1989, S. 166

70

UNGER in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1301 und 1305 AaO., S. 1301 und 1310

71 72

AaO., S. 1302f.

73

Vgl. Rahmenvereinbarung Forschungsförderung (Bundesanz. Nr. 240 v. 30.12.1975, S. 4); BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 36; UNGER in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1307. 74

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 36 und 277; zu Einzelheiten UNGER, aaO., S. 1308. 75

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 18 und 121

C. Finalisiemng

75

- Verbesserung der technologischen Innovationschancen und damit Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der bundesdeutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich - Stärkung der internationalen Kooperation in Forschung und Technologie, um gemeinsam die Chancen wissenschaftlich-technischer Innovationen zu erschließen, die europäische Integration und die weltweite Kooperation - auch mit den Ländern der Dritten Welt - zu stärken und der gemeinsamen Verantwortung für die Ökologie besser gerecht zu werden - Effizienzsteigerung bei der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung durch die einzelnen Fachressorts, ζ. B. auf den Gebieten Transport und Verkehr, Gesundheit, Ernährung und Landwirtschaft, Raumordnung und Städtebau, aufgabengerechte Ausrüstung der Bundeswehr ... Von diesen allgemeinen Zielen her bestimmt der Staat die Schwerpunkte seiner FuE-Förderung. Das sind derzeit76 - die anwendungsorientierte77 Grundlagenforschung, insbesondere Großund Verbundforschung, - marktorientierte Technologien wie Informationstechnik, Materialforschung, Biotechnologie, physikalische Technologien (ζ. B. Lasertechnik), regenerative Energien, - die Vorsorgeforschung, ζ . B. Umwelt- und Klimaforschung, Technikfolgenabschätzung und Waldschadensforschung, - sowie Forschungsgebiete mit langfristiger und internationaler Perspektive (Kernfusionsforschung, Meeres- und Polarforschung, Weltraumforschung). Auf diese politisch favorisierten Forschungsbereiche werden die zur Verfügung stehenden Projektmittel hauptsächlich quantitativ verteilt78. Damit steht fest, daß es staatlicher Forschungsförderung nicht um die Unterstützung wissenschaftlicher Forschung um ihrer selbst willen geht. Politische Strategie ist es vielmehr, via Forschungsförderung ein im internatio76

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 19ff. und 121ff.; zu aktuellen Daten vgl. "Viel Geld für die Weltraumforschung" in: SZv. 6.7.1990 77

Ein Beispiel für die Förderung "echter" (im Gegensatz zu anwendungsnaher) Grundlagenforschung bietet das "Sonderprogramm des Bundes und der Länder zur Förderung ausgewählter Forscher und Forschergruppen" (sog. Spitzenforschung): Diese können sich ihre Themen völlig frei wählen und die bereitgestellten Mittel autonom bewirtschaften, vgl. SCHUSTER, WissR 18 (1985), S. 250ff. und FAKTENBERICHT 1986, S. 142. 78 Zur etatmäßigen Mittelverteilung im einzelnen BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 122ff.

76

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

nalen Vergleich hohes Forschungsniveau zu erzielen und durch die rechtzeitige Umsetzung von Erkenntnissen in die Praxis die gesamtgesellschaftliche Situation der Bundesrepublik Deutschland in technischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht national und international zu verbessern. Primär ist staatliche Forschungspolitik dabei wirtschaftspolitisch ftnalisiert, denn vorrangig geht es ihr um die Steigerung der Leistungsfähigkeit der Privatwirtschaft und um die Sicherung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit zur Gewährleistung von Wirtschaftswachstum und Wohlstand79. Ein wichtiger sekundärer Zielwert ist die Bewältigung der damit verbundenen Wachstumslasten 90.

4. Lenkungseffekte a) Faktische Lenkungseffekte: Die staatliche Aufstellung von Zielprioritäten und die Mittelvergabe nach Förderschwerpunkten (Projektförderung) kann faktische Lenkungseffekte nach sich ziehen. Die Abhängigkeit (natur-)wissenschaftlicher Forschung von staatlicher Unterstützung impliziert auch Abhängigkeiten in der Sache81. Zwar werden Wissenschaftler zu nichts gezwungen, doch ist es keine Frage, daß sie umso leichter Mittel erhalten, je stärker ihre Forschungsziele auf die vom Staat definierten Bedürfnisse der Gesellschaft abgestimmt sind82. Entsprechend groß wird vielfach die Neigung von Forschern, Forschergruppen, ganzen Forschungseinrichtungen oder deren Abteilungen sein, sich bei der Wahl ihrer Arbeitsgebiete, Themen und Methoden über das Medium der Öffnung und Schließung von Geldquellen steuern und für wissenschaftsfremde Zwecke in Dienst nehmen zu lassen. Wollen sie staatliche Gelder erhalten, sind sie gezwungen, sich dem öffentlichen Zielkatalog 79

UNGER in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1302; BAUMEISTER, WissR 14 (1981), S. 123; SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 72ff.; dies ergibt sich auch bei der Lektüre des BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, siehe etwa S. 15, 20f., 22ff., 26, 33, 43, 55, 86 (= Erzielung von Weltmarktpositionen in neuen Schlüsseltechnologien) und S. 17, 21, 86 (= Erschließung langfristiger Optionen auf bestimmten Produktmärkten). 80

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 15, 22, 34f. (= ökologische Forschung) und S. 14,27,29 (= gesellschaftliche Handlungsnotwendigkeiten). 81

HETZLER, S. 53; zu diesbezüglichen empirischen Untersuchungen bei div. Forschungseinrichtungen aaO., S. 55ff. 82 BÜHL, S. 44f.; ähnlich SCHULZ-PRIESSNITZ, S. 92 - Keinerlei Lenkungseffekte bestehen, wenn Forschungsmittel ausschließlich nach der Qualifikation des Empfangers und ohne Bindung an ein Thema vergeben werden; vgl. Sonderprogramm des Bundes und der Länder zur Förderung der "Spitzenforschung", Faktenbericht 1986, S. 142 und SCHUSTER, WissR 18 (1985), S. 250ff.

C. Finalisierung

77

zu unterwerfen und ihre eigenen Motive ganz oder teilweise hintan zu stellen. Solcherlei Lenkungseffekte wurden sichtbar in neuartigen Forschungsbereichen wie AIDS-* 3 und Krebsforschung**, Bio- und Gentechnologie 85 oder Umwelt- und Klimaforschung 96: Dank massiver staatlicher Förderung, oft verstärkt durch hohe Verdienst- und Reputationsaussichten oder andere Synergismen, konzentrierte sich jeweils innerhalb kurzer Zeiträume eine große Zahl von Wissenschaftlern und Einrichtungen auf diese aktuellen Fragestellungen. Dies mag gesellschaftlich und politisch wünschenswert, ja verfassungsrechtlich geboten sein87, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das wissenschaftliche Interesse hier vorwiegend - wenn auch nicht ausschließlich - durch wissenschaftsexterne Anstöße initiiert oder beschleunigt, mithin gelenkt wurde. b) Institutionelle Lenkungseffekte: Lenkungseffekte aufgrund direkter oder indirekter institutioneller Forschungsförderung scheinen auf den ersten Blick gering zu sein, da die Zuwendungsempfänger durchweg rechtsfähige Selbstverwaltungseinrichtungen des Privatrechts (e. V., Stiftung, GmbH) sind88 und sich die Instrumente der staatlichen Vereins-89, Stiftungs-90 oder GmbH-Aufsicht 91 kaum für die Durchsetzung staatlicher Forschungspolitik eignen. Dennoch sind auch hier die Einflußmöglichkeiten des Staates nicht zu unterschätzen: 83 AIDS - Herausforderung an die Wissenschaft (3. Bericht), hrsg. v. BMFT, Bonn 1988, S. lOff. 84

Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit, hrsg. v. BMFT, Bonn 1988, S. 31 und 48. 85 Siehe nur BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 158ff.; Antwort der BReg auf eine Große Anfrage, BTags-Drs. 10/2199, S. 5ff. und Programm der BReg "Angewandte Biologie und Biotechnologie", BTags-Drs. 10/3724; BLANKENAGEL in: Menschengerecht, S. 144; BMFT-Journal 2/1989, S. 1 86 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 137ff.; SOELL, Jb. d. Umwelt- und Technikrechts 1989, S. 3ff. und 7ff. 87

Vgl. SOELL, aaO., S. 23ff.

88

MPG, FhG und DFG sind eingetragene Vereine, die Einrichtungen der Großforschung i. d. 89 R. Gesellschaften mbH oder Stiftungen. Der Staat überwacht durch das Registergericht im wesentlichen nur die Einhaltung formaler Vorschriften; eine inhaltliche Kontrolle ist in Grenzen möglich (§ 43 BGB), wird aber kaum je praktisch, vgl. BULL, WissR 4 (1971), S. 44. 90 Wissenschaftsstiftungen sind "Öffentliche Stiftungen" (nicht: öff.-rechtl. Stiftungen!) i. S. d. Stiftungsgesetze der Länder (ζ. B. Bay. StiftungsG v. 26.11.1954); sie unterstehen damit i. d. R. landesrechtlicher Stiftungsaufsicht (Rechtsaufsicht), vgl. BULL, WissR 4 (1971), S. 44. 91

§§ 9c, 62 GmbHG

78

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

- Solche Forschungseinrichtungen sind i. d. R. vollkommen oder überwiegend von staatlicher Finanzierung abhängig*2. Infolgedessen kann der Staat eine mehr oder weniger weit gehende faktische Lenkung und Kontrolle über das Druckmittel Globaletat realisieren93. Hierdurch werden die Zielaussagen der Administration auch für diese Einrichtungen wichtige Orientierungsdaten. - Vertreter der Administration besitzen regelmäßig Mitgliedschaft und Stimme in den Selbstverwaltungsorganen der Einrichtungen. Wenngleich die Stimmenmehrheit meist bei den Wissenschaftlern liegt94, sind doch die informellen Einflußmöglichkeiten der Staatsvertreter nicht völlig unerheblich. Von den privatrechtlich organisierten Forschungsinstituten ohne eigenen Erwerbszweck unterstehen die 13 Großforschungseinrichtungen (GFE) am stärksten staatlicher Lenkung und Kontrolle. In ihnen wird eine nach Organisation und Dimension neuartige Form von Forschung praktiziert, die nach 1945 gezielt entwickelt wurde, um neuen Anforderungen in den Naturwissenschaften95 gerecht zu werden96. Die Aufgaben der GFE können schlaglichtartig mit dem Begriff der "big science" gekennzeichnet werden97: Hochenergiephysik, Kernfusion, Molekularbiologie, Raumfahrt, Informationstechnik und dergleichen. Obwohl die GFE als Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Stiftungen oder eingetragene Vereine organisiert98 und demnach vom Staat rechtlich verselbständigt sind, hat dieser ihnen gegenüber doch einen maßgebenden Steuerungseinfluß: Über die Grundfinanzierung99 bestimmt er Art, Umfang und Träger der Projekte, indem er die 92

Eine Ausnahme bilden die Förderstiftungen der privaten Wirtschaft. SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 222; v. BRÜNNECK, JA 1989, S. 167; empirische Daten finden sich bei HETZLER, S. 62ff, insb. S. 67. 93

94 Der Hauptausschuß der DFG setzt sich aus 15 Wissenschaftlern, 12 Verwaltungsangehörigen und 2 Vertretern des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft zusammen. In den Entscheidungsgremien der MPG haben die Wissenschaftler gegenüber den Administratoren eine deutliche Mehrheit. Das Kuratorium der Stiftung Volkswagenwerk besteht aus Vertretern des Bundes und des Landes NS. 95 Extremer Mittelbedarf für hochkomplexe apparative Ausstattungen, hoher Personalbedarf, langfristige Planung, Spezialisierung und Kooperation 96

STENBOCK-FERMOR in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1165f. - Zur geschichtlichen Entwicklung HÄFELE in: Die Projektwissenschaften, S. 19ff. 97 HÄFELE in: Die Projektwissenschaften, S. 18 und 28; STENBOCK-FERMOR in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1166, dort auch die Aufgabenumschreibung des WISSENSCHAFTSRATs 98

Vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 293ff.

99

GFE werden überwiegend vom Staat finanziert; gemäß der Rahmenvereinbarung Forschungsförderung (Bundesanzeiger Nr. 240 v. 30.12.1975, S. 4) tragen Bund und jeweiliges Sitzland die Grundfinanzierung im Verhältnis 90 zu 10. Diese macht 50% der gesamten insti-

C. Finalisierung

79

Höhe der Zuwendungen an die einzelnen Institute immer wieder an seinen forschungspolitischen Zielsetzungen orientiert 100; darüber hinaus ist er in vielen GFE als GmbH-Gesellschafter tätig und / oder über Bundes- und Landesvertreter in den Aufsichtsgremien präsent101. Daß der staatliche Lenkungseinfluß auf die GFE auch real existiert, zeigt die durch die Bundesregierung jüngst veranlaßte Umstrukturierung der GFE-Aktivitäten in Richtung auf neue wissenschaftliche Themenstellungen: Nachdem v. a. die Kerntechnik zu industrieller Reife gelangt war, wurden die Schwerpunkte auf Projekte der Vorsorgeforschung, Grundlagenforschung mit Großgeräten und die Entwicklung neuer marktorientierter Technologien verlagert102. Dabei wurde in Kauf genommen, daß "durchaus auch wissenschaftlich interessante Bereiche im Interesse der Ressourcenkonzentration und Prioritätensetzung aufzugeben" waren. "Eine wesentliche Forderung ist die Orientierung der Großforschung an der Nützlichkeit ihrer Arbeit für Wissenschaft, Wirtschaft und Staat. ..."103 Von wissenschaftlicher Selbstverwaltung kann hier nicht mehr die Rede sein. c) Rechtliche Lenkungseffekte: Handfeste rechtliche Lenkungseffekte ergeben sich bei der direkten staatlichen Projektförderung. Hier hat der zuwendende Staat sein Interesse an der inhaltlichen Steuerung und einer entsprechenden Kontrolle der geförderten Forschungsaktivitäten in seinen Vergabe- und Bewilligungsbedingungen104 festgeschrieben, die Gegenstand des Zuwendungsbescheids oder Fördervertrages werden105. Wissenschaftliche tutionellen FuE-Förderung von Bund und Ländern aus, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 84. 100 STENBOCK-FERMOR in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1166; GRELLERT, WissR 21 (1988), S. 112; HÄFELE in: Die Projektwissenschaften, S. 34. 101

GRELLERT, WissR 21 (1988), S. 112; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988,

S. 293. 102 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 40 und 293; weitere Beispiele bei R. BURKHARDT, "Innovation in Deutschland (II)" in: Wirtschaftswoche 17/1984, S. 77ff. 103 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, aaO.

104

Vgl. die Allg. Nebenbest. für die Zuwendungen zur Projektförderung (ANBest-P), abgedr. bei KÖCKRITZ / ERMISCH / LAMM als Anlage 2 zu Nr. 5. 1. Vorl.W-BHO zu §§ 44, 44a (S. 23ff.) sowie die Bes. Nebenbest. für Zuwendungen des Bundes zu den Ausgaben für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben (BNBest-P-FuE), abgedruckt aaO. als Anlage 3 zu den Erl. 2. 2. und 2. 6 (S. 89ff.) - Für FuE-Projektförderung der Länder bestehen auf der Grundlage der Landeshaushaltsordnungen (vgl. §§ 14, 26 HGrG) vergleichbare Vergaberichtlinien. 105 Die Vorl.W-BHO und die ANBest-P werden automatisch Nebenbestimmungen des Zuwendungsbescheids oder Klauseln des Fördervertrags, vgl. Nr. 5.1. Vorl.W-BHO zu §§ 44, 44a und MEINECKE in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 1316. Die BNBest-P-FuE sollen(!) einheitlich von allen Ressorts angewendet werden, vgl. KÖCKRITZ / ERMISCH / LAMM, § 44 BHO, Anm. 2.2.

80

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Forschung unterliegt hier staatlicher Feinsteuerung in einem Maß, wie es bei institutioneller oder indirekter Förderung nicht möglich wäre106. Nach §§ 23, 44 BHO dürfen öffentliche Zuwendungen nur "zur Erfüllung bestimmter Zwecke" gewährt werden, auf deren Verfolgung der Zuwendungsempfänger im Bewilligungsbescheid107 oder -vertrag ausdrücklich verpflichtet wird. Zweck der FuE-Förderung ist es, daß auf konkret bezeichneten Gebieten mit bestimmten Zielen konzentriert geforscht wird. Die Zuwendung darf nur zu den im Bescheid oder Vertrag genannten Zwecken verwendet werden108. Wird sie zweckwidrig eingesetzt, hat der Zuwendungsempfänger mit dem Widerruf der Bewilligung109 und der Rückforderung der Bezüge110 zu rechnen. Um die zweckgerechte Verwendung der öffentlichen Mittel sicherzustellen, überwacht und kontrolliert die zuständige Behörde die Aktivitäten des Mittelempfängers 111. Dieser hat die Einhaltung des Verwendungszwecks nachzuweisen, darüber hinaus treffen ihn umfangreiche Berichts- und Rechenschaftspflichten 112. Durch die so gestaltete Zweckbindung der öffentlichen Forschungsfördermittel sind die Zweckerfüllungshandlungen des Zuwendungsempfängers in umfassender Weise reglementiert. Besonders die staatlichen Kontrollen und das Rückforderungsverdikt wirken auf den Prozeß der Forschungsarbeit bestimmend ein; auch gegenüber etwaigen wissenschaftsimmanenten Erfordernissen bleiben hierdurch die staatlichen Zielprioritäten dominant113.

106

SCHMITZ u. a., Steuerung, S. 253 und 263f.

107

Dies ist eine belastende Nebenbestimmung (modifizierende oder echte Auflage) des Bewilligungsbescheids (§ 36 VwVfG). 108

Nr. 4. 2. 3. und 4. 3. der Vorl.W-BHO zu § 44 und Nr. 1. 1. ANBest-P-FuE zu § 44

BHO. 109

Nach § 44a BHO (Sonderregelung zu § 49 Abs. 2 VwVfG) und Nr. 8. 2. 3. VorlWBHO zu § 44 (Ermessensrichtlinie). 110 Rechtsgrundlage ist der öff.-rechtl. Erstattungsanspruch, MEINECKE in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1323. 111

§ 44 Abs. 1 S. 3 BHO; Nr. 7 ANBest-P - Daneben sind die Rechnungshöfe berechtigt, beim Zuwendungsempfanger Prüfungen vorzunehmen, §§ 90f. BHO und Nr. 7.3. ANBest-P; diese Prüfung ist der Sache nach eine mittelbare Prüfung der Bewilligungsbehörde, MEINECKE in: Hdb. WissR- Bd. 2, S. 1337. 112 113

Nr. 5 ANBest-P und Nr. 1.1.1. und 1.2.2. BNBest-P-FuE zu § 44 BHO

Wissenschaftsexterne Aufwandskontrollen werden von den betroffenen Forschern daher als störend empfunden, vgl. HETZLER, S. 94ff.

81

C. Finalisierung

III. Institutionalisierte

Fremdbestimmung

1. Staatliche Ressortforschung Politik, staatliche Planung, Gesetzgebung und Verwaltung wurden in steigendem Maß von den Ergebnissen und Prognosen wissenschaftlicher Forschung abhängig. Die gesellschaftlichen, technischen und ökologischen Zusammenhänge sind heute so komplex, daß sie nur noch von Personen mit entsprechendem Sachverstand - und auch von diesen oft nur in Teilbereichen - durchschaut werden können. Der Staat ist gezwungen, sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben dem Gebot der Wissenschaftlichkeit zu unterwerfen. Dies wird gerade in der Umweltpolitik evident: In kaum einem Bereich sind die staatlichen Organe stärker von den Ergebnissen der Wissenschaft abhängig als hier. Naturwissenschaftlich-technische Forschung soll Aufschluß über Ursachen und Ausmaß von Gefährdungen geben und die Grundlagen für reparierende, schützende und vorsorgende Maßnahmen liefern 114. Nur zum Teil erzielt der Staat die wissenschaftliche Fundierung seiner Entscheidungen über die projektbezogene Förderung wissenschaftlicher Forschung an den Hochschulen oder an außeruniversitären Forschungseinrichtungen115. Daneben nimmt er auch unmittelbar wissenschaftliche Ressourcen in Anspruch. Im weitesten Sinn ist hier von der staatlichen Ressortforschung die Rede, die man als Inanspruchnahme und Indienststellung der Wissenschaft für Zwecke der Entscheidungshilfe in Politik, Gesetzgebung und Verwaltung umschreiben kann116. Wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit kommt hier der akzessorische Zweck zu, Ressortaufgaben vorzubereiten, zu begleiten und auszuwerten. Ressortforschung wird auf vielfältige Weise betrieben; strukturell läßt sie sich in einen staatsinternen und einen staatsexternen Bereich untergliedern: 114

SOELL, Jb. d. Umwelt- und Technikrechts 1989, S. 6f.

115

Siehe oben II.

116 Zum Begriff der Ressortforschung: JAKOB, Der Staat 24 (1985), S. 527; BODE, Zuständigkeit, S. 20; OPPERMANN, Kulturverwaltungsrecht, S. 413; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 18 - Ressortforschung des Bundes kann bundesstaatliche Probleme aufwerfen, da sich eine ausdrückliche Zuweisung von Verwaltungs- und Finanzierungskompetenzen an den Bund für Forschungsaufgaben nicht im GG finden läßt. Ressortforschung des Bundes ist jedoch hinreichend legitimiert aus dem notwendigen Sachzusammenhang mit der jeweiligen Staatsaufgabe, deren ordnungsgemäßer Erledigung sie dient, BODE, Zuständigkeit, S. 20; JAKOB, Der Staat 24 (1985), S. 556f.

82

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

a) Staatsinterne Ressortforschung ist die staatsaufgabenbezogene Forschung in staatseigenen Forschungseinrichtungen: - Bundesoberbehörden und selbständigen Bundesforschungsanstalten, - unselbständigen Forschungseinrichtungen des Bundes117, - sowie entsprechenden Einrichtungen der einzelnen Bundesländer118. Daneben gibt es sog. Modellversuche der Länder, bei denen wissenschaftliche Programme in der realen Welt "probegefahren" werden119. Die Ressortforschungseinrichtungen gehören den Geschäftsbereichen der verschiedenen, jeweils sachlich zuständigen Ministerien an. Diese nehmen die Erkenntnisarbeit der dort beschäftigten Wissenschaftler unmittelbar zur Vorbereitung oder Begleitung ihrer Ressortaufgaben in Anspruch. Sowohl die Einrichtungen als auch ihre Mitarbeiter sind in diese wissenschaftsexternen Aufgabenstellungen eingebunden120. b) Staatsexterne Ressortforschung: Ressortforschung kann auch darin bestehen, daß der Staat Aufträge zur wissenschaftlichen Bearbeitung bestimmter Themen oder Fragestellungen an externe Forschungsträger vergibt. Als Auftragnehmer kommen - private Wissenschaftseinrichtungen ohne Erwerbszweck (allen voran die Institute der FhG 121 ) - Hochschulinstitute, einzelne oder Gruppen von Hochschullehrern, - seltener Forschungseinrichtungen der Privatwirtschaft in Betracht.

117

Eine Zusammenstellung findet man im BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 312ff. Danach gibt es auf Bundesebene derzeit 48 Ressortforschungseinrichtungen, verteilt auf die einzelnen Ressorts; davon sind 16 Bundesoberbehörden bzw. selbständige Anstalten (z.B. BGA, UBA, BA für Materialforschung und -prüfung); 30 verfolgen eher naturwissenschaftlich-technische, 18 überwiegend geisteswissenschaftliche Zielsetzungen. 118 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 82 110 Z. B. Modellversuch "Psychiatrieprogramm", vgl. JAKOB, Der Staat 24 (1985), S. 527. 120

Die Einbindung ist aber graduell verschieden, vgl. OPPERMANN, Kulturverwaltungsrecht, S. 414; zur Empirie HETZLER, S. 58ff. 121

Die Aufgaben der 35 Einrichtungen der FhG sind satzungsgemäß Vertrags(Auftrags-)forschung und anwendungsorientierte Grundlagenforschung (26 Institute), Ressortforschung für das BMVg (6 Institute), sowie wissenschaftliche Dienstleistungen (3 Einrichtungen). Auftraggeber sind neben der Wirtschaft v. a. die öffentlichen Hände; vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 289ff.; STENBOCK-FERMOR in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 1164; F. FRISCH, "Forschen im Auftrag" in SZ v. 20.10.1987, Beilage S. XVIII.

C. Finalisierung

83

Mit der Erteilung von Forschungsaufträgen steuert die auftraggebende Stelle Forschungsthemen und Fragestellungen nach ihren politischen Bedürfnissen. Der Spielraum wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit verengt sich, wenn im Auftrag zeitlicher Rahmen, Vorgehensweise und ggf. Methodik mehr oder weniger genau vorgegeben sind. Ist sogar das gewünschte Ergebnis ausdrücklich oder stillschweigend vorausgesetzt, wird der Sinn wissenschaftlicher Fundierung politischen Handelns ad absurdum geführt: Es ist eine altbekannte Erfahrung, daß sich für jeden möglichen politischen Standpunkt die Autorität eines "Experten" finden läßt. Wird also wissenschaftliche Forschungsarbeit nicht eigentlich zur unparteiischen Sachverhaltsaufklärung eingesetzt, dient sie vielmehr nur noch der Legitimation bereits vorab getroffener politischer Entscheidungen, ordnet sich Wissenschaft der Politik unter und verspielt damit zu Recht Glaubwürdigkeit und Reputation122.

2. Industrieforschung Die Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren ihre Forschungsanstrengungen weit überdurchschnittlich intensiviert. Der Anteil der Wirtschaft am FuE-Gesamtbudget hat im Vergleich zu den anderen Sektoren sowohl im Hinblick auf die Aufbringung der Forschungsmittel123 als auch hinsichtlich der Durchführung von Forschungsarbeiten124 überproportional zugenommen, wobei die Wirtschaft die bei ihr durchgeführten Forschungsprojekte zum Großteil selbst finanziert 125. Der Wirtschaftssektor hat den stärksten Anteil an dem in FuE tätigen Personal126. Unternehmen aller Größenklassen tragen in zunehmendem Maß zum Innovationsprozeß bei127, 122 KLOPFER, Freiheit der Wissenschaft 2/1988, S. 5, spricht von "gekaufter Voreingenommenheit", TUPPY, WissR Beiheft 7 (1979), S. 178, von Wissenschaft, die zu "käuflicher Ware degradiert und korrumpiert" wird. 123

Die Wirtschaft trug 1987 61% der Forschungsausgaben (= 34,7 Mrd DM), vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 60ff. (Tab. II/2 und Schaubild II/3). 124 71% vom Gesamtbudget FuE gelangten 1987 im Wirtschaftssektor zum Einsatz, vgl. aaO., S. 62ff. (Tab. II/3 und Schaubild II/4). 125 Selbstfinanzierungsquote in 1987 ca. 83%, vgl. aaO., S. 43f. und 86. 126 Die Gesamtzahl der von der Wirtschaft beschäftigten Forscher lag 1985 bei knapp 100 000 Personen; im Vergleich hierzu arbeiteten an den Hochschulen knapp 40 000 und bei den übrigen Forschungseinrichtungen knapp 30 000 Wissenschaftler, vgl. aaO., S. 66f. (Schaubild II/6). 127 Siehe nur "Bayer erwartet Gewinnexplosion" in: SZv. 17./18.9.1988; O. SCHWARZER, "Eine Geschichte voll Glanz und dunkler Flecken" in: SZv. 29.1.1988; BMFT-Journal 5/1988, S. 2.

84

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

was etwa daraus ersichtlich wird, daß Patentanmeldungen in der Bundesrepublik heute vornehmlich aus der Industrieforschung stammen128. Diese Angaben machen den hohen und tendenziell weiter steigenden Stellenwert der Wirtschaftsunternehmen als Träger naturwissenschaftlicher FuE deutlich129. Infolge vielfältigster Interessenlagen, Unternehmensarten und -großen besitzt Industrieforschung keine einheitliche Organisationsform. FuE-Anstrengungen der Wirtschaft lassen sich in unternehmensinterne, -externe und kooperative Aktivitäten unterscheiden130: a) Untemehmensinterne FuE bedeutet die Durchführung von Forschungsprojekten mit eigenen Mitarbeitern in eigenen Forschungsstätten131. Diese kann im Auftrag einer anderen Wirtschaftseinheit, etwa im Zusammenhang mit Beschaffungs- und Lieferaufträgen, erfolgen; Regelfall ist jedoch die autonome Inangriffnahme von Forschungsprojekten durch das Unternehmen. Forschung im Wirtschaftsunternehmen kann unterschiedlich organisiert sein: In kleinen und mittleren Unternehmen besteht die Tendenz, Forschungskapazitäten den jeweiligen Unternehmensbereichen einzugliedern, in größeren Unternehmen und Konzernen existieren meist zentrale Forschungsabteilungen oder abgestufte Mischformen 132. Unternehmenseigene Forschung ist i. d. R. hierarchisch aufgebaut133; auf der unteren Ebene setzt sich die arbeitsteilige, aber kooperative Vorgehensweise in Gruppenarbeit (Team) immer mehr durch. b) Untemehmensexteme FuE: Unter externer FuE kann die Durchführung von Projekten außerhalb des Unternehmens, vor allem die Auftrags- und Vertragsforschung verstanden werden. Dabei werden an andere Wirtschaftsunternehmen, Forschungseinrichtungen ohne eigenen Erwerbszweck (namentlich die FhG), an Hochschulinstitute oder einzelne Hochschullehrer Forschungs- oder Gutachtensaufträge vergeben134. Hierher gehört ferner die 128 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 43f. und 116ff.; GRELLERT in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1236. 129

Die BReg begrüßt diese Entwicklung, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. S. 16 und 19; zu den Vorteilen und Chancen auch BÜHL, S. 203ff. 130

Zum folgenden ECKERT, S. 30ff.

131

In USA werden auf dieser Basis mehr als 2 000 Laboratorien betrieben, von denen 200 eine beachtliche Größe besitzen; die 10 bedeutendsten, die sehr unterschiedliche Strukturen aufweisen, beschreibt CHORAFAS, S. 45. 132

GRELLERT in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 1238f.; CHORAFAS, S. 25.

133

Vorstand - Ressortleiter / Abteilungsleiter "Forschung" - Projektleiter - Einzelforscher / Team; zu den Organisationsmöglichkeiten CHORAFAS, S. 46ff. 134

Das Volumen der Forschungsaufträge der Wirtschaft betrug in 1986 100 Mio DM, doppelt soviel als 1982, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 44.

C. Finalisierung

85

Zuziehung von Consulting- und Engineering-Firmen, also von Unternehmen, deren Geschäftszweck darin besteht für andere Unternehmen technikoder anwendungsbezogene Lösungen wissenschaftlich zu erarbeiten.

c) Kooperative FuE: Im Vordringen begriffen sind schließlich unterschiedlichste Formen dezentralisierter Gemeinschaftsforschung, die auf den Prinzipien der Arbeits- und Aufwandsteilung beruhen. Die Palette reicht vom Informations- oder Personalaustausch bis zur Gründung von Einrichtungen der Gemeinschaftsforschung, ggf. unter Beteiligung von Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen wie FhG, MPG oder GFE (ÏVerbundforschung 135). Hier werden i. d. R. Grundlagenthemen bearbeitet, die für möglichst viele Beteiligte interessant sind und die dann in den beteiligten Unternehmen zur Produktreife entwickelt werden136. 80 solcher Forschungsvereinigungen haben sich in der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsver nigungen mit dem Ziel zusammengeschlossen, industrielle Gemeinschaftsforschung zu fördern. Dies wird als Mittel zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit v. a. kleiner und mittlerer Unternehmen angesehen und entsprechend vom Staat bezuschußt137. d) Bewertung: Privatwirtschaftlich finanzierte Forschimg - gleich ob innerhalb oder außerhalb des Unternehmens, allein oder mit anderen durchgeführt - erfordert hohe betriebliche Investitionen. Solche werden vom Unternehmen nur durchgeführt, wenn sie einen Beitrag zur Erreichung der Unternehmensziele versprechen. Da dominantes Unternehmensziel die Gewinnerzielung ist138, sind industrielle FuE-Aktivitäten regelmäßig am Prinzip der Gewinnmaximierung ausgerichtet: Es geht um die kommerzielle Umsetzung und Nutzung wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Industriellen Forschungsaufwendungen kommt die hauptsächliche139 Aufgabe zu, das Unternehmen ständig mit technischen Informationen zu versorgen, die entweder in Form verbesserter Produktionsverfahren in den Produktionsprozeß eingeführt oder in Gestalt neuer oder besserer Produkte auf dem Markt abgesetzt werden können140. Industrieforschung ist demnach mit allen Konsequenzen dem "Diktat der Rentabilität"141 unterworfen:

135

ECKERT, S. 30f.

136

GRELLERT in: Hdb. WissR. Bd. 2, S.1239 BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 44

137

138

ECKERT, S. 20f. - Andere Unternehmensziele (Prestige- und Machterwerb, Unternehmensimage, Marktposition) sind entweder Zwischenziele auf dem Weg zur Gewinnmaximierung oder haben nachrangige Bedeutung, aaO. 11Q Zu weiteren Funktionen HETZLER, S. 37f. 140

141

Prozeß- und Produktinnovationen, vgl. ECKERT, S. 22 KÜNG, S. 41

86

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

- Themen- und Fragestellungen werden durch betriebswirtschaftliche Interessen bestimmt. Die Unternehmensleitung achtet darauf, daß solche Forschungsprojekte in Angriff genommen werden, die früher oder später Gewinn erwarten lassen und mit den Unternehmenszielen korrelieren 142. Vorgaben der Leitung hinsichtlich der gewünschten wissenschaftlichtechnischen Ergebnisse sind häufig 143. - Die Unternehmen stehen infolge ihrer Wettbewerbssituation unter Innovationsdruck (Neuerungskonkurrenz), den sie an ihre Forschungsabteilungen und wissenschaftlichen Auftragnehmer weitergeben. Vorgaben hinsichtlich des Kosten- und Zeitaufwands sind die Konsequenz144. - Unternehmensforschung wird von der Unternehmensleitung umfassend geplant und verwaltet, denn eine unbegrenzte und ungezügelte Forschung würde die Leistungskraft des Unternehmens sprengen. Die Forschungsplanung erfährt ihre Ausrichtung an den Zielen des Unternehmens, seiner Stellung innerhalb des Marktes und an den Strategien der Konkurrenzbetriebe145. Wissenschaftsimmanente Gesichtspunkte haben dahinter zurückzutreten146. - Andererseits ist man in besonders forschungsintensiven Industriezweigen (insb. Großchemie) zum Teil dazu übergegangen, neben anwendungsorientierten Abteilungen organisatorische Einheiten zu bilden, in denen an Aufgaben gearbeitet wird, die vom Primat kommerzieller und technischer Interessen nicht unmittelbar bestimmt werden147. Diese Einheiten lassen sich hinsichtlich der Publikationsmodalitäten, der Freiheit der Themenwahl und dergleichen durchaus mit wissenschaftlichen Instituten der MPG oder FhG vergleichen148. Dem liegt die Erkenntnis zu Grunde, daß Laboratorien, deren Leiter und / oder Mitarbeiter den Forschungsgegenstand frei wählen und das Forschungsbudget autonom bewirtschaften können, oftmals raschere und nützlichere Ergebnisse erzielen als solche mit eng begrenztem Auftrag 149; wissenschaftliche Entdeckungen treten eben im allgemeinen nicht auf Befehl ein, resultieren vielmehr aus der in-

142

KÜNG, S. 41 und 45

143

Dazu CHORAFAS, S. 29 und 43f.

144

KÜNG, S. 115; ECKERT, S. 23.

145

CHORAFAS, S. 30 und 31ff.

146 147

Zu den mit der Forschungsplanung verbundenen Zielfkonflikten BUHL, S. 206ff.

Daneben gibt es (in USA) Laboratorien, die es ihren Mitarbeitern gestatten, einen bestimmten Teil der Arbeitszeit für persönliche Aufgaben einzusetzen, vgl. CHORAFAS, S. 32. 148 HETZLER, S. 88 149

CHORAFAS, S. 19

C. Finalisierung

87

tensiven und hochmotivierten Konzentration auf ein bestimmtes Arbeitsgebiet.

IV. Die Rolle der Hochschulen 1. Refugium unabhängiger Forschung Als eines der letzten Refugien von gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen unbeeinflußter Forschung gilt heute die Universität. Sie ist aus der allgemeinen Staatsverwaltung ausgegliedert und als rechtsfähige Körperschaft mit dem Recht auf Selbstverwaltung ausgestattet. Typisches Charakteristikum der Forschungsarbeit an der Universität und des Selbstverständnisses der dort tätigen Wissenschaftler ist die Freiheit, sich die Gegenstände des Erkenntnisinteresses selbst wählen und die Ergebnisse ungehindert publizieren zu können150. Daher verwundert es nicht, daß gerade in den Universitäten Forschung in der gesamten Breite der Fragestellungen und Disziplinen betrieben wird und daß gerade dort die Arbeitsfelder der anwendungsfernen Grundlagenforschung und der Geisteswissenschaften schwerpunktmäßig beheimatet sind151.

2. Staatliche Ingerenzen Die Möglichkeit der Hochschulforscher, sich auch mit entlegenen Gebieten und unkonventionellen Fragestellungen befassen zu können und sich bei Themenwahl und Vorgehensweise von nichts als ihrem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse leiten zu lassen, wird durch eine großzügige, gleichmäßige und zweckfreie Grundfinanzierung durch den Staat sichergestellt152. Gerade bei der Hochschulfinanzierung setzen aber auch die Einflußmöglichkeiten und Steuerungsversuche des Staates an, der die Universitätswissenschaft den Zielen und Schwerpunkten seiner Forschungspolitik153 150

BLANKENAGEL, AöR 105 (1980), S. 53f.

151

AaO.; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 37; Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes (HRG-Entwurf) - Begründung. Allg. Teil (BTags-Drs. 10/2883, S. 14). 152

Dazu WISSENSCHAFTSRAT, Empfehlungen zu Forschung und Mitteleinsatz in den Hochschulen, S. 21ff. 153

Dazu oben C. II. 3. c)

88

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

wenn nicht unterzuordnen, so doch möglichst anzupassen trachtet: Auch die Universitätswissenschaftler sollen durch die Ausrichtung ihrer Aktivitäten an gesellschaftlichen Notwendigkeiten und durch ihre Öffnung gegenüber der Wirtschaft dazu beitragen, Zukunftsaufgaben zu bewältigen sowie Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum der bundesdeutschen Wirtschaft zu sichern154. a) Haushaltspolitik: Als Medium zur Ausrichtung hochschulischer Forschungsaktivitäten an seinen forschungspolitischen Zielsetzungen kann dem Staat seine Haushaltspolitik dienen155. Da die Hochschulen i. d. R. kaum eigene Einkünfte besitzen156, sind sie auf direkte Finanzierung über den Staatshaushalt angewiesen157. Weil ihnen eigene Haushaltshoheit grundsätzlich158 nicht zusteht, werden die Forschungsmittel im Haushaltsplan des jeweiligen Landes als Posten innerhalb des Wissenschaftsetats geführt 159. Die Hochschulhaushalte sind damit der Einwirkung des Staates (Wissenschaftsverwaltung, Regierung, Haushaltsgesetzgeber) unterworfen; die Haushaltsanmeldungen der Hochschulen160 unterliegen seinem vollen Änderungsrecht161. Dies ermöglicht dem Staat generelle Ausstattungs- und Verteilungsentscheidungen, sowie die Setzung von Prioritäten. Auch indem der Staat den einzelnen Hochschulen Haushaltsmittel zur Finanzierung von Stellen in Forschungseinrichtungen und / oder Studiengängen gewährt, beläßt, kürzt oder streicht, kann er Aktivitäten, an denen aus forschungspolitischer Sicht 154

Deutlich BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 37; TUPPY, WissR Beiheft 7 (1979), S. 188, sieht hierin eine weltweite forschungsorganisatorische Tendenz. Auch KREYSEL, MittHV 1989, S. 189ff. 155

SCHUSTER in: Hdb.WissR Bd. 1, S. 328; SCHMITT GLAESER, WissR 7 (1974), S. 122f.; HAILBRONNER in: ders., § 59 HRG, Rz. 29; ROLLMANN, Wirtschaftsunternehmen, S. 46f.; KNEMEYER, BayVBl. 1982, S. 516f.; THIEME, Hochschulrecht, Rz. 413; LÜTHJE in: Denninger, § 59 HRG, Rz. 50 156 Zur Möglichkeit der Erschließung eigener Einnahmequellen SCHUSTER, WissR 20 (1987), S. 207f. 157

Zu den unterschiedlichen Finanzierungsquellen der Hochschulen THIEME, Hochschulrecht, Rz. 413 138

Eine Ausnahme bilden die Berliner Universitäten, denen die benötigten staatlichen Finanzmittel als globaler Zuschuß gewährt und im Haushaltsplan entsprechend ausgewiesen werden, vgl. § 112ff. Berliner HSchG. 159 THIEME, Hochschulrecht, Rz. 371 160 Das Recht der Bedarfsanmeldung zum Landeshaushalt ist Selbstverwaltungsangelegenheit, wenn es nicht durch Landesrecht zur staatlichen Aufgabe erklärt wurde, vgl. LÜTHJE in: Denninger, § 58 HRG, Rz. 41 und § 59 HRG, Rz. 50. Dies ist in Bayern und Rheinland-Pfalz geschehen, vgl. Art. 5 Abs. 3 Ziff. 2 BayHSchG und § 7 Abs. 1 Ziff. 2 HSchG Rh-Pf. 161 HAILBRONNER in: ders., § 59 HRG, Rz. 29; SCHRIMPF in: Denninger, § 63 HRG, Rz. 23; SCHUSTER in: Hdb.WissR. Bd. 1, S. 327 und 330; THIEME, Hochschulrecht, Rz. 413f.

C. Finalisiemng

89

ein besonderes Interesse besteht, fördern, andere, hinsichtlich derer er ein solches verneint, bis hin zur Gefährdung konkreter Projekte beschränken162. Inhaltlich motivierte Eingriffe oder Vorgaben des Staates hinsichtlich der ganz konkreten Verwendung von Stellen und Mitteln zugunsten bestimmter Themen oder Projekte sind dagegen im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG unzulässig163. Weil auch in praxi wichtige Titel global veranschlagt werden und der Hochschul(selbst)verwaltung die Feinsteuerung verbleibt, kann der Staat seine hochschulpolitischen Vorstellungen über das Instrument des Haushaltsplans regelmäßig nur grob verwirklichen. b) Vergabe von Drittmitteln: Drittmittel sind Gelder, die dem Hochschulforscher oder -institut über die haushaltsmäßige Grundfinanzierung hinaus für ein bestimmtes Projekt und / oder für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung stehen164. Da die haushaltsmäßige Grundausstattung der Hochschulen als eher karg zu bezeichnen ist und die regulären Mittel zur Finanzierung aufwendiger Projekte oft nicht ausreichen, sind viele Wissenschaftler darauf angewiesen, ihre finanzielle und personelle Ausstattung durch die Einwerbung solcher Drittmittel zu verbessern165. In vielen naturwissenschaftlichen und technischen Forschungsgebieten, in denen die effiziente Durchführung von Projekten die Anschaffung spezieller Geräte oder die befristete Einstellung zusätzlichen Personals erfordert, treten Drittmittel bei der Projektfinanzierung immer mehr in den Vordergrund 166. Ein ständig wachsender Teil der wissenschaftlichen Mitarbeiter in den naturwissenschaftlichen Fakultäten wird aus Drittmitteln vergütet167.

162

PLANDER, S. 89; ROLLMANN, DöV 1987, S. 676; FLÄMIG in: Hdb. WissR. Bd. 2, S.

907f. 163 ROLLMANN, DöV 1987, S. 676f.; ders., Wirtschaftsunternehmen, S. 47ff.; FLÄMIG in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 907f.; HAILBRONNER in: ders., § 59 HRG, Rz. 29; LÜTHJE in: Denninger, § 59 HRG, Rz. 50; W. WAIBEL (Rechtsprechungsübersicht) in: WissR 5 (1972), S. 259 164 Zum Begriff DENNINGER in: ders., § 25 HRG, Rz. 2; HECKMANN in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 969. 165 Die Möglichkeit, Drittmittel einzuwerben und mit ihnen zu forschen, ist nach h. M. ein verfassungsmäßig verbürgtes Recht der Hochschulforscher aus Art. 5 Abs. 3 GG, HECKMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 970f. m. w. N. 166

Hochschulforschung wird heute im Durchschnitt zu 2/3 aus Grundausstattung und zu 1/3 aus Drittmitteln finanziert, doch dürfte sich das Verhältnis in bes. anlagen- und personalintensiven Bereichen zugunsten der Drittmittel verschieben, BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 37; Bericht der BReg. zur Förderung der Drittmittelforschung, BTags-Drs. 10/225, S. 3f.; HECKMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 967; ROLLMANN, Wirtschaftsunternehmen, S. 66ff. 167

HECKMANN aaO.

90

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Um der wachsenden Bedeutung der Drittmittel Rechnung zu tragen, hat der Bundesgesetzgeber den einschlägigen § 25 HRG mit dem Ziel geändert, den Universitäten und interessierten Hochschulangehörigen die EinWerbung, den flexiblen Einsatz und die Verwaltung staatlicher und privater Drittmittel zu erleichtern. Der Drittmittelfinanzierung wurde rechtlich derselbe Rang eingeräumt, wie er der aus Etatmitteln finanzierten Grundausstattung zukommt168. Zu 70% werden Drittmittel vom Staat vergeben. Dies geschieht entweder mittelbar, indem es der Staat selbstverwalteten Forschungsfördereinrichtungen (insb. der DFG 169 ) überläßt, für förderungswürdig gehaltene Einzelprojekte zu begünstigen, nicht ohne allerdings bei der Bildung von Schwerpunktprogrammen und Sonderforschungsbereichen seinen institutionellen Lenkungseinfluß zur Geltung zu bringen170. Daneben geht der Bund mehr und mehr dazu über, insbesondere durch das BMFT unmittelbar Gelder für Forschungsprojekte an den Hochschulen (Projektmittel) bereitzustellen171. Daß der Staat die unmittelbare Zuweisung von Drittmitteln an den Zielen und Schwerpunkten seiner Forschungspolitik ausrichtet, liegt auf der Hand172. Weil Drittmittel thematisch und zeitlich auf bestimmte Projekte begrenzt sind, besitzt er hiermit ein Instrument, Forschungsaktivitäten an den Hochschulen nach politischen und gesellschaftlichen Kalkülen zu steuern. Dies betrifft nicht nur die Wahl der Forschungsthemen; in einem gewissen Maß gewinnt der Staat Einfluß auch auf Forschungsmethoden und -ergebnisse, sei es, daß Wissenschaftler bei der Stellung ihrer Drittmittelanträge in überprüfbarer Weise darlegen müssen, welche Methoden sie entwickeln oder anwenden wollen bzw. welche Ergebnisse sie anstreben oder erwarten, sei es, daß sie sich hinsichtlich Methoden und Ergebnissen kalku-

1XO

HRG-Entwurf - Begründung. Allg. Teil II.3. und Begründung Bes. Teil zu Nr. 12 - § 25 (BTags-Drs. 10/2883, S. 2,16 und 22f.) 1 ffi Die DFG bringt knapp 40% aller Hochschul-Drittmittel auf. Die Hälfte der Mittel etwa werden nach Schwerpunktprogrammen und Sonderforschungsbereichen vergeben, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 38. 170 Siehe oben C. II. 4. b) und THIEME, Hochschulrecht, Rz. 153. 171

In 1987 waren es 540 Mio DM; die Steigerungsrate zwischen 1982 und 87 betrug 74%, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 38; "Forschung an Hochschulen wird weiter intensiv gefördert" in: BMFT-Journal 2/1989, S. 3. Das BMFT fördert Hochschulforschung vorrangig dort, wo sie mit anderen Forschungsträgern und insb. der Wirtschaft kooperiert (Verbundforschung, industrielle Gemeinschaftsforschung, Genzentren) oder wo es um die Bearbeitung anwendungsorientierter Problemstellungen aus dem Bereich der Klein- und Mittelbetriebe geht, BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 38 und KÜNG, S. 54.

C. Finalisierung

91

lierten Selbstbeschränkungen unterwerfen 173, um bei der Mittelzuteilung konkurrieren zu können174. Obgleich die Drittmittel zur Entlastung des Wissenschaftlers von zeitraubendem Verwaltungsaufwand 175 i. d. R. von der Hochschule wie Etatmittel verwaltet werden, bleibt er doch rechtlich an die vom finanzierenden Staat gesetzten Zwecke und Bewirtschaftungsbedingungen gebunden176.

3. Private Drittmittelfinanzierung Zu etwa 21% trägt die gewerbliche Wirtschaft, zu weiteren 9% tragen Stiftungen und Fördergesellschaften (ζ. B. Hochschulfördervereine) zur Finanzierung der Hochschulforschung bei177. Der Beitrag der Privatwirtschaft am Drittmittelaufkommen ist damit vergleichsweise gering. Trotzdem darf er nicht unterschätzt werden, da sich die Zuwendungen auf ausgewählte Gebiete der naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen konzentrieren, in denen kurz- oder mittelfristig besondere ökonomische Entwicklungspotentiale vermutet werden178. Stellt man dazu die Entgelte aus Forschungsaufträgen179 in Rechnung, wird die Bedeutung industrieller Drittmittel als Lenkungsfaktor der Hochschulforschung offenkundig. Gerade die private Drittmittelfinanzierung birgt die Gefahr, daß Universitätsforschung in Abhängigkeit von Partikularinteressen gerät. Wer nämlich Mittel bei der Privatwirtschaft 180 einwirbt, wird von dieser kaum absichtsloses Mäzenatentum erwarten. Vielmehr weiß er, daß den potentiellen Mittelgeber weniger das Interesse an der wissenschaftlichen Wahrheit, als vielmehr der konkrete Nutzen für die Zwecke seines Unternehmens bewegt. 173

Ζ. B. möglichster Verzicht auf Tierversuche, Forschung mit Anlagen der GFE; gesellschaftlicher Nutzen. 174 PLANDER, S. 94f. 175

DENNINGER in: ders., § 25 HRG, Rz. 14

176

§ 25 Abs. 4 HRG und die entsprechenden Hochschulgesetze der Länder, aufgeführt bei HECKMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 990, Fn. 54. - Beim sog. Drittmittelverfahren besteht die Bindung allerdings nur im Innenverhältnis; zu den möglichen Verfahrenweisen für die Verwaltung von Drittmitteln HECKMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 979ff. 177

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 37

178

Vgl. nur für den erwarteten Biotechnologie-Weltmarkt BDI-Hintergrundpapier, S. lOf. und 14; PLANDER, S. 101. 179 In 1986 erreichten die Aufträge der Wirtschaft an die Hochschulen ein Volumen von 100 Mio DM, doppelt soviel wie 1982, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 44. HECKMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 969 rechnet die Entgelte den "Drittmitteln" zu. 180

Ähnliches gilt für private Verbände, z.B. Gewerkschaften.

92

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Wer also auf derartige Mittel angewiesen ist und sich auf ihre Einwerbung einläßt, wird sich - bewußt oder unbewußt - den Wünschen des Geldgebers verdingen181. Private Drittmittelfinanzierung kann damit die Ausrichtung universitärer Forschungsthemen und -Schwerpunkte an den Interessen der Privatwirtschaft nach sich ziehen. Forschung wird parteilich und die Unabhängigkeit von Wissenschaftlern tendenziell geschmälert182.

4. Kooperation mit der Wirtschaft Im Zusammenhang mit Hochschulforschung ist heute zunehmend von "Technologietransfer", von der erwünschten Zusammenarbeit zwischen Hochschule, Industrie und anderen Wissenschaftsträgern die Rede183. Hochschule und Industrie sollen sich gemeinsam mit den volkswirtschaftlich bedingten Zukunftsanforderungen auseinandersetzen. Die Erkenntnisse der Hochschule müßten rascher als bisher in Verfahren und Produkte der Industrie umgesetzt werden; dazu seien die Fragestellungen der Industrie schon in die Fragestellungen der Forschung aufzunehmen. Hieraus wird die Notwendigkeit zur aktiven Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Industrie abgeleitet. Ein möglichst reibungsloser Wissenstransfer in beide Richtungen sei eine Frage des wirtschaftlichen und kulturellen Überlebens. In der Tat sind die Strukturen der Kooperation zwischen Hochschule und Industrie heute bereits so vielfältig und komplex, daß hier nur ein kursorischer Überblick gegeben werden kann:

181

BAUER, S. 173f.; PLANDER, S. 102; UECHTRITZ, S. 139ff. und 164 - Vgl. auch die forschungspolitische Forderung der BReg, die Hochschulwissenschaftler sollten ihre Berührungsängste gegenüber den Interessen der Wirtschaft bei der Einwerbung von Drittmitteln abbauen, BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 37 und 39, sowie HRG-Entwurf - Begründung Bes. Teil zu Nr. 12 - §25 (BTags-Drs. 10/2883, S. 22f.) 182

Α. A. ROLLMANN, Wirtschaftsunternehmen, S. 72f.: Mehr als durch Versuche inhaltlicher Einflußnahme durch Drittmittelgeber ist die Wissenschaftsfreiheit gefährdet, wenn sie sich aufgrund materieller Knappheit nicht entfalten kann. Ähnlich H.SEIDEL, Präs. d. WRK, (Interview) in: SZ v. 26.5.1988 183 Dokumente zur Hochschulreform 60 (1987), hrsg. v. d. WRK; Bericht der BReg zur Förderung der Drittmittelforschung (BTags-Drs. 10/225, S. 5ff.); WISSENSCHAFTSRAT, Stellungnahme zur Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Wirtschaft, Köln 1986; BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 16, 18f. und 39; wib 14/88-X/51 v. 7.9.1988, S. 42 Die wesentlichen Aussagen sind zusammengefaßt bei BLUM / KAUFMANN, WissR 19 (1985), S. lf. und SCHUSTER, WissR 20 (1987), S. 200. - Siehe auch K. LANDFRIED, "Die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Hochschulen in den USA" in: MittHV 3/1987, S. 131ff.

C. Finalisierung

93

- Gemeinsame Seminare, Tagungen, Kongresse, Symposien, Arbeitskreise zum Zwecke des wissenschaftlichen Informations-, Erfahrungs- und Meinungsaustauschs184 - Austausch von Wissenschaftlern 185; Vergabe von Doktorandenstipendien seitens der Industrie an junge Hochschulforscher im Zusammenwirken mit den Lehrstuhlinhabern186 - Einrichtung von Technologietransferstellen 187, die gezielt Öffentlichkeit und Industrie informieren, auf Anfrage Informationen und Kontakte vermitteln und das an den Hochschulen vorhandene Innovationspotential für die Wirtschaft nutzbar machen - Nebentätigkeit 188 von Hochschullehrern für Unternehmen im Rahmen von Beraterverträgen oder als private Gutachtertätigkeit gegen Honorar; private Übernahme von Forschungs- und Entwicklungsaufträgen, die in privaten Labors der Professoren, in Einrichtungen des Auftraggebers oder unter Inanspruchnahme von Hochschulressourcen durchgeführt werden

- Forschung im Auftrag eines Wirtschaftsunternehmens 189 als Dienstaufgabe (Vertragsforschung Auftragsforschung) zur Lösung konkret b stimmter Projekte - Projektbezogene und zeitlich befristete Zusammenarbeit zwischen einer oder mehreren Hochschulen, Industrie und ggf. weiteren Forschungseinrichtungen auf vertraglicher Grundlage (Verbundforschung) zur effektiven Nutzung knapper Forschungskapazitäten durch Ressourcenbündelung und Beschleunigung des Technologietransfers; arbeitsteilige Vorgehensweise bei der Bearbeitung komplexer Gegenstände190

184

WISSENSCHAFTSRAT, Zusammenarbeit, S. 24ff.

185

BMFT-Journal 3/1988, S. 3; WISSENSCHAFTSRAT, Zusammenarbeit, S. 43ff.

186

HECKHAUSEN, MittHV 1988, S. 72

1B7

Ζ. B. Forschungs- und Technologietransfer Universität Regensburg (FUTUR), Regensburger Universitätszeitung 2/1988, S. 9f. 188

Der Hochschulforscher besitzt grds. eine Wahlmöglichkeit, ob er Auftragsforschung im Haupt- oder Nebenamt durchführen will, vgl. § 52 HRG und HUFEN, WissR 22 (1989), S. 30ff. - Zu den Gefahren der Abdrift von Hochschulforschung in den Bereich der Nebentätigkeit ebd., S. 23ff. 10Q WISSENSCHAFTSRAT, Zusammenarbeit, S. 27ff. - Hier ist der Sache nach auch der Abschluß von Kooperationsverträgen mit gesellschaftlichen Verbänden (ζ . B. Gewerkschaften) einzuordnen, dazu FLÄMIG in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 908f. und UECHTRITZ, S. 126ff. 190

Die Zahl der Veibundprojekte stieg seit 1984 v. a. in den Schlüsseltechnologien beträchtlich und lag 1986 bei 333 Projekten, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 95; Beispiel bei BLUM / KAUFMANN, WissR 18 (1985), S. 18f.

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

94

- Gemeinsame Gründung neuer Forschungseinrichtungen innerhalb (sog. Institut an der Universität 191) oder außerhalb der Hochschule192 (ζ. B. Genzentren 191) mit bestimmten praxisnahen Fragestellungen, welche von einer einzelnen Firma oder Firmenbranche finanziell und organisatorisch nicht bewältigt werden können - Gründung von Technologefabriken, Innovationszentren, Gründerzentren Hochschulstandorten, häufig auf Initiative von Landesregierungen oder Kommunen unter Beteiligung194 oder Mitarbeit von Hochschullehrern. Es handelt sich um organisierte räumliche Zusammenfassungen einer größeren Anzahl junger technologie- und innovationsorientierter Unternehmen in der Umgebung von Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen; sie sollen Anstoß zu vermehrten Unternehmensgründungen geben und damit einen Beitrag zur Lösimg künftiger Arbeitsmarktprobleme und zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit leisten195. Gegen die unterschiedlichen Kooperationsformen bestehen keine Bedenken, solange die Universität und ihre Angehörigen die notwendige Eigenständigkeit bei der Wahl von Forschungsgegenständen und Methoden wahren, die Ergebnisse universitärer Forschung frei zugänglich bleiben und genügend Raum für praxisferne Grundlagenforschung und die Geisteswissenschaften gewährleistet ist. Doch ist in diesem sensiblen Bereich stets die Gefahr zu gewärtigen, daß Universitätsforschung zur Verlängerten geistigen Werkbank" der Industrie196 verkommt, daß Hochschulwissenschaftler die Interessen ihrer Auftraggeber und Partner aus Industrie und Wirtschaft über ihre universitären Funktionen stellen und damit Unabhängigkeit und Unparteilichkeit einbüßen197 oder daß "Technologietransfer" dort zur Einbahnstraße wird, wo die Industrie aus betriebswirtschaftlichen Interessen Er191

Dazu eingehend und kritisch BLUM / KAUFMANN, WissR 18 (1985), S. 19ff.

192

AaO., S. 24f.

193

Genzentren existieren in Köln, Heidelberg und München, gentechnologische Schwerpunktzentren in 6 weiteren Universitätsstädten, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 161; kritisch WINTER in: Gentechnologie Bd. 10, S. 190f. 194 R. BURKHARDT, "Innovation in Deutschland (III)" in: Wirtschaftswoche 18/1984, S. 77; W. GEHRMANN, "Forscher entdecken den Profit" in: Die Zeit v. 27.9.1985, S. 25; A. ZELL / T. EWE, "Vom Wissen zum Profit" in: Bild der Wissenschaft 4/1984, S. 95ff.; FLÄMIG, Manipulationen, S. 95. 195 WISSENSCHAFTSRAT, Zusammenarbeit, S. 41ff.; BLUM / KAUFMANN, WissR 18 (1985), S. 35; H. JÜRGENSEN, "Industrieansiedlung auf dem Universitäts-Campus" in: FAZ v. 3.9.1985; W. HILPERT, "Bessere Startchancen für junge Unternehmer" in: SZ v. 11.5.1989. 196 197

BLUM / KAUFMANN, WissR 18 (1985), S. 2

HUFEN, WissR 22 (1989), S. 24f.: Es ist fraglich, inwieweit die Spaltung der Gehirnzellen der Hochschullehrer in unabhängige Grundlagenforschung betreibende Hauptamtszellen und in gewinn- oder praxisorientierte Nebenamtszellen lupenrein durchführbar ist.

C. Finalisiemng

95

kenntnisse dem wissenschaftlichen Dialog entzieht198. Am Ende steht die hochbedeutsame Frage nach der Grenze möglicher Kooperationen zwischen Hochschule und Wirtschaft, jenseits derer die von der Verfassung gewollte Eigenständigkeit der Hochschulwissenschaft im gesamtgesellschaftlichen Gefüge nicht mehr verwirklicht ist.

V. Finalisierungsfolgen 1. Einschränkung des wissenschaftlichen Horizonts In Disziplinen, deren Resultate in großem Maßstab technisch verwertet werden, oder in denen eine solche Verwertung in Aussicht steht, wird die Gewinnung von Erkenntnissen vielfach nur so weit vorangetrieben, als es zu deren Umsetzung in praktische Anwendungen nötig ist. Geleitet von der Annahme, daß die Entwicklung kausaler Theorien mehr als das zur Anwendung notwendige Wissen liefern und daher überflüssige Forschungskosten verursachen würde, verzichtet v. a. die industriegetragene Forschung auf Kausalerklärungen, Querverbindungen oder theoretische Fundierungen199. So werden in der Pharmakologie Substanzen für bestimmte therapeutische Wirkungen entwickelt und eingesetzt, ohne daß die Mechanismen dieser Wirkungen exakt bekannt wären oder es eine Theorie solcher Wirkungen gäbe. Auch die Gentechnologen begannen mit der Manipulation von DNS in Bakterien, pflanzlichen und tierischen Zellen, bevor die genetischen Codes entschlüsselt und bevor die genauen Wirkungsweisen der Restriktionsenzyme und der als Gen-Vektoren eingesetzten Retroviren bekannt waren. Genetische Tests zur Ermittlung von Erbkrankheiten wurden auf der Grundlage statistischer Wahrscheinlichkeitsrechnungen entwickelt, ohne daß irgendetwas über das verantwortliche Gen selbst oder sein Protein-Produkt bekannt war 200. Solche Loslösung naturwissenschaftlicher Erkenntnisarbeit von kausalen Erklärungen förderte in manchen Disziplinen ihrerseits die Tendenz, Erkenntnisse vorschnell anzuwenden, d. h. mittel- und langfristige Folgewirkungen zwar empirisch zu registrieren, nicht aber theoretisch zu antizipie198

Dazu eingehend unten E. WISSENSCHAFTSRAT, Zusammenarbeit, S. 21f.; B Ö H M E / v.d. D A E L E / KROHN, ZfS 1973, S. 134; CHORAFAS, S. 39. B. HARLIN, Europäisches Genomprojekt "Prädiktive Medizin" in: GID 38 (11/1988), S. 8 199

96

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

ren. Partieller theoretischer Erkenntnisverzicht erhöht so die Krisen- und Fehleranfälligkeit moderner wissenschaftlich-technischer Errungenschaften. Er bedeutet darüber hinaus, daß kommenden Generationen jenes Vorsorgewissen, das sie für ihre gewandelten Bedürfnisse möglicherweise benötigen, vorenthalten wird 201.

2. Einseitige Forschungskonzentration Der Nutzen wissenschaftlicher Forschungsarbeit wird heute hauptsächlich mit Blick auf die Erfüllung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und sozialer Bedürfnisse definiert und bemessen. Die aus gesellschaftlicher Sicht "nützlichen" Wissenschaften können ihren steigenden Mittelbedarf i. d. R. leichter legitimieren als jene, die einen spürbaren Nutzen nicht erwarten lassen. Dies führt zunächst allgemein zu einer Forschungsverengung nach Effizienzgesichtspunkten : Überproportionale Forschungsanstrengungen werden jenen Gebieten zuteil, die nach der herrschenden politisch-gesellschaftlichen Meinung als kurz- oder mittelfristig erfolgversprechend und rational gesichert gelten. Die ex-ante-Beurteilung der Erfolgsaussichten wissenschaftlicher Forschung trägt aber dem Erfordernis der prinzipiellen Offenheit der Wissenschaft für neue Ideen und Konzepte nicht hinreichend Rechnung; es entstehen Forschungslücken202. Die Wirkimg dieses Phänomens hat die einseitige Festlegung staatlicher Energieforschungspolitik auf die Kernenergieoption exemplarisch deutlich werden lassen: Sie führte dazu, daß die Erforschung alternativer, regenerativer Energiequellen jahrelang vernachlässigt wurde203. Ein anderes Beispiel bietet das überproportionale Engagement der Industrie in der "grünen Gentechnologie"204: Hier werden Forschungsanstrengungen - betriebswirtschaftlich motiviert - auf die Entwicklung herbizid- und pestizidresistenter Pflanzen konzentriert. Gleichzeitig wird die Arbeit auf volks- und weltwirtschaftlich weit bedeutsameren Gebieten, wie der Entwicklung schädlingsresistenter oder hitzebeständiger Nutzpflanzen, vernachlässigt205.

201 Zum ganzen BÖHME / v. d. DAELE / KROHN, ZfS 1973, S. 141 - Siehe auch die eher optimistische Beurteilung bei BÜHL, S. 312f. 202

203

TURNER, Freiheit der Forschung, S. 22f.

Vgl. R BURKHARDT, "Innovation in Deutschland (IV)" in: Wirtschaftswoche 19/1984, S. 79f.; H. ZELLER, "Hemmnisse für die Sonnenenergie" in: SZ v. 10.7.1987 204 FLÄMIG, Manipulationen, S. 44ff.; BLANKENAGEL in: Menschengerecht, S. 144 205 C. SCHNEIDER, "Natur am Tropf" in: SZ v. 27.8.1987 - Siehe oben Α. II. 3. a)

C. Finalisierung

97

Die Finalisierung wissenschaftlicher Forschung hat darüber hinaus die tendenzielle Hintanstellung der anwendungsferneren Grundlagenforsch und der Geisteswissenschaften vor allem bei der Vergabe öffentlicher 206 und privater 207 Forschungsmittel zur Konsequenz. Folge ist die Vernachlässigung von schwerer greifbaren Alternativlösungen, von grundsätzlichen Fragestellungen und unkonventionellen Ideen; Vorrats- und Problemlösungswissen für künftige Generationen bleibt möglicherweise unentdeckt. Häufig wird verkannt, daß gerade erkenntnisgeleitete Grundlagenforschung immer wieder zu fundamentalen technischen Durchbrüchen führte und führt 208. Eine ethische, historische und sozialwissenschaftliche Begleitung und Kontrolle wissenschaftlich-technischer Entwicklung findet nicht in ausreichendem Maße statt. Denn gerade den vernachlässigten Geisteswissenschaften käme die wichtige Aufgabe zu, den "Brückenschlag" zwischen dem rasanten technischen Fortschritt und dem Bedürfnis der Menschen nach Sinn, Sicherheit und Hoffnung herzustellen. Zivilisatorischer Fortschritt beruht nämlich nicht allein auf der Entwicklung neuer Produkte und technischer Möglichkeiten; deren geistige und kulturelle Aufarbeitung ist ebenso notwendig209.

3. Verlust der Unschluld Welche Anwendungen als Ergebnisse wissenschaftlicher Anstrengungen gefragt sind, hängt von politischen Zielsetzungen und vom Wertesystem der Gesellschaft in der bestimmten historischen Situation ab. Werden diese Zielsetzungen von den Trägern und Akteuren wissenschaftlicher Forschung rezipiert, kann von einer Wertneutralität der Wissenschaft keine Rede mehr •210 sem . Soweit damit "reine", wertneutrale Forschung der Vergangenheit angehört, wird auch die bekannte These fragwürdig, Wissenschaftler trügen als einzige ethische Verantwortung die Pflicht zur Wahrheit, im übrigen sei 206 Dazu oben II. 2. a) und BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 80 und 196 - Bemerkenswert ist, daß von den 418 Druckseiten des Bundesforschungsberichts 1988 gerade 12 Seiten den Geisteswissenschaften gewidmet sind (S. 192ff., 203,205,218,223,280 und 330). 207

Dazu oben III. 2. ANDERSSON in: Die politische Herausforderung, S. 72f.

209 MARQUARD in: Apologie des Zufälligen, S. 98ff.; ähnlich schon v. HUMBOLDT in: Werke Bd. 1, S. 558. 210

JONAS in: Universitas 1987, S. 986ff.; ders., Aulavorträge, S. 7ff.; ders., Technik, Medizin und Ethik, S. 80ff.

98

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Wissenschaft an sich gut, so daß Mißbrauch und Folgelasten einzig die Anwender zu verantworten hätten211. Akzeptiert der Forscher die von außen an ihn herangetragenen Anwendungsziele und arbeitet er dafür, macht er sich vielmehr "zum Handlanger für die, die seine Lösungen benutzen."212

211

Vgl. etwa F. SCHULZE, "Kein Freibrief für Gen-Manipulationen" in: FAZ v. 11.2.1989; dazu JONAS in: andere Wissenschaft, S. 105. 212

JONAS, Aulavorträge, S. 4

D. Entpersonalisierung und Spezialisierung

/. Die Entpersonalisierung

naturwissenschaftlicher

Forschung

Die historisch traditionelle Form wissenschaftlicher Forschung war die des Einzelwissenschaftlers, des mehr oder minder auf sich gestellten, "einsamen"1 privaten oder an der Hochschule wirkenden Gelehrten2. Kooperation fand als wissenschaftliche Kommunikation im Kreis von Fachkollegen3, als Gedankenaustausch im Lehrer-Schüler-Verhältnis oder in Form vorübergehender gemeinsamer Bearbeitung eines bestimmten Problems bei geringem Organisationsgrad statt4. Dieses Bild des unabhängigen und "einsamen" Wissenschaftlers wird oft auch dem Grundrecht der Forschungsfreiheit zu Grunde gelegt5. Es gehört jedoch heute für den Bereich der Naturwissenschaften praktisch der Vergangenheit an: Forschungsarbeit wird im Normalfall im Rahmen hierfür geschaffener Dienst- oder Arbeitsverhältnisse geleistet6. Staatliche und private Einrichtungen verschiedenster Art beschäftigen ein Heer von Wissenschaftlern in Beamten-, Angestellten- oder "freien" Dienstverhältnissen, welche ausschließlich oder schwerpunktmäßig Forschungsleistungen zum Gegenstand haben. Forscher sind damit in organisierte Formen der Wissenschaftsausübung eingebettet, innerhalb derer sie Funktionen mit mehr oder weniger konkreten Aufgabenstellungen wahrzunehmen haben7. Im Gegenzug erhalten sie eine Vergütung, die sie wirtschaftlich absichert. Ausmaß

1

v. HUMBOLDT in: Idee der Deutschen Universität, S. 377ff.; SCHELSKY, S. 55, 72ff. und 78ff. 2

3

BÜHL, S. 193; HETZLER, S. 140.

Bereits 1657 wurde in Florenz mit der "Academia del Cimento" die erste organisierte Körperschaft für Forscher gegründet; es folgten 1660 in London die "Royal Society" und 1666 in Paris die "Akadémemie des Science". Im 18. Jh. entstanden in Deutschland überall "gelehrte Gesellschaften", Vgl. SCHELSKY, S. 28ff. 4 BÜHL, S. 193f. und 197 5 6 7

Vgl. STEINFORT, S. 142; auch BÜHL, S. 38ff. Hingegen ist der unabhängige Privatgelehrte nur selten anzutreffen.

SCHELSKY, S. 147ff.; WAHL, Freiburger Univ.-Bl. 95 (1987), S. 22f.; THIEME, Hochschulrecht, Rz. 362.

100

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

und Chance wissenschaftlicher Selbstentfaltung des einzelnen hängen von der Organisationsform der Einrichtung, der Art des Zuteilungsverfahrens und der Zusammensetzung der Entscheidungsgremien ab8. Ursache für diesen Strukturwandel ist hauptsächlich die fortschreitende Technisierung, Spezialisierung und Expansion der Naturwissenschaften. Der damit verbundene hohe Aufwand an Sachmitteln, die enormen Forschungskosten, die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Kooperation, der Bedarf an technischen und bürokratischen Hilfskräften und die Unentbehrlichkeit von Kontakten zu anderen Wissenschaftseinrichtungen, zu Wirtschaft und Staat machten den Schritt in die Organisation erforderlich 9.

1. Universitätswissenschaft Dem traditionellen Wissenschaftler-Leitbild entspricht gegenwärtig am ehesten der Forscher (Ordinarius) an der Universität. Er ist zwar in die hochschulische Organisation eingebunden, doch ist in dieser der sachlich-inhaltliche Freiraum des einzelnen institutionell abgesichert und auch heute ganz überwiegend anerkannt10. Beschränkungen durch Managementaufgaben11 und Lehrverpflichtungen12, die Bindung an die Entscheidungsgewalt der zentralen Hochschulorgane13 und die begrenzte Zuweisung frei verfügbarer(!) staatlicher Mittel schränken zwar de facto "Einsamkeit" und Freiheit des Hochschulforschers ebenso ein, wie vertragliche Bindungen im Rahmen von Forschungsaufträgen und Kooperationsvereinbarungen14. Es ist aber letztlich doch immer der 8

HAUCK / LÜTHJE, S. 18

9

SCHELSKY, S. 147 und 149; THIEME, Hochschulrecht, Rz. 362; STENBOCKFERMOR in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 1177; SCHWABE, Grundrechtsdogmatik, S. 255f. und 260; M. WEBER in: Gesammelte Aufsätze, S. 584 - Ähnlich auch BVerfGE 35, 79/115, allerdings mit der unzutreffenden oder jedenfalls mißverständlichen Behauptung, nur der Staat könne heute die erforderlichen Mittel bereitstellen. 10 BÜHL, S. 224 - Ähnliches trifft auf leitende Wissenschaftler an den Instituten der MPG zu; vgl. STENBOCK-FERMOR in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 1162f.; H. MEERMANN, "40 Jahre Max-Planck-Gesellschaft" in: SZv. 26.2.1988. 11

BÜHL, S. 192; TUPPY, VissR Beiheft 7 (1979), S. 178

12

Vgl. § 43 HRG - Ferner HAILBRONNER, Funktionsgrundrecht, S. 79 und 107ff.; THEIS, S. 220ff., insbes. S. 236ff. und 239; BVerwGE 20,235/239 13

Vgl. §§ 63f. HRG: Koordination von Forschungsprogrammen und -Schwerpunkten, Erstellung von Studien- und Prüfungsordnungen, Verabschiedung der Haushaltspläne, Berufungsentscheidungen u. v. a. m. 14 Siehe oben C. IV. 4.

D. Entpersonalisierung und Spezialisierung

101

einzelne Wissenschaftler, der entscheidet, welche Vorhaben er in welcher Weise mit welchen Partnern und in welchem zeitlichen Rahmen ausführen will. Er ist bei der Wahl seiner Themen und Methoden von keiner Genehmigung oder Weisung abhängig. Eine sachlich-inhaltliche Kontrolle durch nichtwissenschaftliche Instanzen findet nicht statt15. Kontrolle erfolgt nur mittelbar über Reputation, Berufungssystem und Dotationswesen. Natürlich stehen diese weitgehenden sachlichen Freiheiten nicht allen Hochschulforschern in gleichem Umfang zu. Unterschiede folgen aus den differenzierten Funktionen, die das Hochschulrecht den einzelnen Mitgliedern der Hochschule zuweist. So sind die wissenschaftlichen Assistenten zum Teil weisungsabhängige Mitarbeiter des Ordinarius16.

2. Außeruniversitäre Forschimg Der (quantitative) Schwerpunkt naturwissenschaftlicher Forschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auf Forschungseinrichtungen außerhalb der Universitäten verlagert17. Dies verdeutlichen die statistischen Angaben im BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988 betreffend die Verteilung der finanziellen und personellen Forschungsressourcen während der letzten sieben Jahre18. Die Themenstellungen außeruniversitärer Forschungseinrichtungen19 sind ebenso mannigfach wie ihre Organisationsformen 20. Doch überwiegen gerade in den industrie- und staatsnahen Einrichtungen anwendungs- und zweckorientierte Aufgaben. Je konkreter die Zwecke der Forschungseinrichtung umschrieben sind, desto enger sind die Bindungen der Mitarbeiter in persönlicher und sachlicher Hinsicht. Und je anwendungsnäher die Ziele der Forschungsaktivitäten sind, umso eindeutiger müssen auch die Vorga15

THIEME, Hochschulrecht, Rz. 365

16

Vgl. § 47 Abs. 1 und 2 HRG; THIEME, Hochschulrecht, Rz. 365; HAILBRONNER, Funktionsgrundrecht, S. 102ff. 17 BÜHL, S. 188f. 18

BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 60ff.; dazu oben C. III. 2. und IV.

19

Sie reichen von "reiner" Grundlagenforschung über "angewandte", Auftrags- und Zweckforschung bis zur (groß-)technischen Entwicklung neuer Produkte oder Verfahren; dazu ebenfalls oben C. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen können sein: - Forschungseinrichtungen der Wirtschaft und der industriellen Gemeinschaftsforschung -

Einrichtungen der Ressortforschung von Bund und Ländern

-

private Forschungseinrichtungen ohne Erwerbszweck.

102

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

ben sein, an denen sich die Forscher bei ihrer Tätigkeit zu orientieren haben. Organisatorisch wird dies durch klar strukturierte Weisungshierarchien innerhalb der Forschungseinrichtung21 und / oder durch die Einbindung des einzelnen in organisierte Teamarbeit 22 sichergestellt. Der individuelle, unabhängige Einzelforscher würde hier in der Tat als Störfaktor wirken. Denn Ressourcenknappheit macht die gezielte Auslastung und den prioritätsgestuften Zugang zu Apparaturen und einen möglichst effizienten, also geplanten Einsatz der verfügbaren Forschungsmittel erforderlich. Die Komplexität der Probleme erzwingt exakte Aufgabenteilung und organisierte Zusammenarbeit zwischen den Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen. Die Einbettung des einzelnen Forschers in Hierarchie und / oder Team bedeutet für diesen eine gravierende Einbuße an individueller Freiheit23, die ihn vom idealistischen Phänotyp des Wissenschaftlers entfernt: Nicht er selbst entscheidet i. d. R. über Gegenstand, Ziel, Methode und zeitlichen Rahmen der Forschungsaktivitäten, sondern seine (ggf. nichtwissenschaftlichen) Vorgesetzten24 oder ein leitendes Gremium. Innerhalb deren Vorgaben hat er im Extremfall nur minimalen Bewegungsspielraum25. Die Erträge seiner wissenschaftlichen Tätigkeit werden permanent oder von Fall zu Fall von wissenschaftlichen oder nichtwissenschaftlichen Vorgesetzten kontrolliert 26. Durch seine Einbettung in die Organisation der Einrichtung ist der Forscher oftmals nach außen isoliert: Nicht selten ist die Kontaktaufnahme mit Fachkollegen und interessierten Teilen der Öffentlichkeit 27 sowie die Veröffentlichung der Erkenntnisse28 an die Initiative oder Erlaubnis der Vorgesetzten gebunden. Summa summarum hat sich die Quelle potentieller Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit in den außeruniversitären Forschungsbereichen vom Staat auf die wiss. Trägerorganisationen verlagert.

21

GRELLERT in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1243; Beispiele bei HETZLER, S. 182 (Fig. 10) und CHORAFAS, S. 46ff. 22

BÜHL, S. 193ff.

23

Allg. zur Einbuße an individueller Freiheit infolge der Zugehörigkeit zu Organisationen BÖCKENFÖRDE in: Freiheit in der sozialen Demokratie, S. 72. 24 Laborleiter, Abteilungsdirektor Forschung, Vorstand u. ä., vgl. GRELLERT in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1243. 25

Das hängt von Funktion und Stellung in der Einrichtung ab, BÜHL, S. 196 und 225f.

26

BÜHL, S. 165 und 226

27

BÜHL, S. 165

28

STEINFORT, S. 141ff.- Eingehend unten E.

D. Entpersonalisierung und Spezialisierung

103

Aus dieser Betrachtung des DuœhschnittsvAssenschaîÛers 29 außerhalb der Hochschule erhellt auch, daß die Freiheit, die für außeruniversitäre Forschung reklamiert wird, meist nicht als Freiheit für den individuellen Wissenschaftler mißverstanden werden darf. Was hier mit der Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit gefordert wird, läßt sich vielmehr nur als Autonomie für die Forschungseinrichtung als solche bzw. deren Träger begreifen. Es wird daher zu klären sein, wie Art. 5 Abs. 3 GG mit dem Bild des abhängig beschäftigten Wissenschaftlers umzugehen vermag.

IL Spezialisierung Mit der Entpersönlichung naturwissenschaftlicher Forschung Hand in Hand geht ihre Spezialisierung30. Beide Phänomene bedingen und beschleunigen sich gegenseitig. Die Naturwissenschaften haben ihre Spezialisierung wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich verfeinert. Durch das Vordringen der Forscher in immer entferntere, differenziertere und schwerer durchschaubare Bereiche des Mikro- und Makrokosmos wurde eine immer engere Abgrenzung der Wissensgebiete erforderlich. Die Menge an wissenschaftlichen Informationen, Publikationen, Hypothesen und Theorien ist so groß geworden und wächst weiter mit einer Geschwindigkeit, daß ein einzelner Wissenschaftler die Vielfalt der Erkenntnisse selbst im eigenen Fachgebiet nur mit Mühe übersehen kann31. Da seine Kapazität begrenzt ist, muß er sich auf die Rezeption jener Informationen beschränken, die sich auf sein engeres Arbeitsgebiet beziehen32. Wird Forschung zudem finalisiert, werden regelmäßig rasche und komplexe Problemlösungen erwartet, die ein einzelner mit seinem abgegrenzten Fachhorizont nicht mehr liefern kann. Dies macht die interdisziplinäre Zusammenarbeit hochspezialisierter Fachleute unentbehrlich.

29

Die Hervorhebung des Regelfalls soll deutlich machen, daß auch andere Ausgestaltungen abhängiger Forschungsarbeit denkbar sind: - FE können es ihren Mitarbeitern gestatten, einen Teil der Arbeitszeit für persönliche Arbeiten einzusetzen, vgl. CHORAFAS, S. 32 - Gerade Großunternehmen richten verstärkt auch Forschungsabteilungen ein, in denen weitgehend unabhängig gearbeitet werden kann, vgl. HETZLER, S.88 und oben C. III. 2. 30

SCHELSKY, S. 146f.; RINKEN, JuS 1968, S. 260; M. WEBER in: Gesammelte Aufsätze, S. 588. 31

BÜHL, S. 180ff.; LUHMANN, Jb. f. Sozialwissenschaft, 19 (1968), S. 153.

32

LUHMANN, aaO.

104

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Das Ideal der Wissenschaft als einer organisch-systematischen Ganzheit des Wissens und der Einheit aller Fachgebiete hat damit heute keine Geltung mehr. Naturwissenschaftliche Forschung stellt sich als Spezialforschung dar. Für den einzelnen Wissenschaftler kann es die Entfremdung von seiner Arbeit bedeuten, wenn er den Forschungsprozeß nicht mehr von der Fragestellung bis zur Gewinnung und Publizierung der Ergebnisse begleiten kann; ihm kommen dann nur noch Exekutivfunktionen bei der Lösung von Teilproblemen zu. Nicht der universal gebildete Gelehrte, sondern der mit hochspezialisiertem Detailwissen ausgestattete "Wissenschaftstechniker", der sich mit anderen im Team ergänzen kann, ist hier gefragt. Mögliche globale Folgewirkungen sind für diesen kaum mehr überschaubar33. Durch die "Atomisierung" der Wissensgebiete wird die Kommunizierbarkeit von Expertenwissen erschwert oder immöglich. Dies beruht nicht nur auf der Menge der zu verarbeitenden Informationen, sondern v. a. auf erheblichen Verständigungsschwierigkeiten zwischen Spezialisten unterschiedlicher Fachgebiete sowie zwischen Fachleuten und Laien. Denn entweder erfordert die Darstellung spezialwissenschaftlicher Sachverhalte die Heranziehung spezifischer, für Außenstehende schwer verständlicher Fachterminologien, oder die Informationen werden derart vereinfacht und abstrahiert, daß von ihrem sachlichen Gehalt nur wenig verbleibt34. Diese sachliche und sprachliche Isolation der Fachzweige ist mitschuld an der Legitimationskrise der Naturwissenschaften: Die Abspaltung der naturwissenschaftlichen Spezialfächer von den Geisteswissenschaften (v. a. Philosophie, Theologie, Geschichte) führte zur Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts und zu seiner Abkoppelung von ethischen Prinzipien35. Nicht selten avancierten unbeschränkter Wissenschaftsglaube und Fortschrittsoptimismus zur Ideologie der Naturwissenschaftler. Da zur gleichen Zeit die wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse für die Masse der Bürger (einschließlich der verantwortlichen Politiker) immer weniger durchschaubar wurden, machten sich bei diesen Wissenschaftsskepsis und Fortschrittsangst breit36.

33

WEIZENBAUM in: Andere Wissenschaft, S. 37ff.

34

BÜHL, S. 184f.; EBERLEIN, Maximierung, S. 11.

35

BUCH in: Wissenschaft, Technik, Humanität, S. 217; CORETH in: Der freie Raum, S. 35f.; MARQUARD in: Apologie des Zufälligen, S. 98ff. 36

SCHEEL, Bulletin der BReg. Nr. 91/1977, S. 837f.

E. Monopolisierung der Forschungsergebnisse

/. Beschreibung des Phänomens Wissenschaft ohne Publikation ist undenkbar. Die ungehinderte Weitergabe und Diskussion von Forschungsergebnissen ist eine der Grundvoraussetzungen wissenschaftlichen Fortschritts. Der freie Austausch wissenschaftlicher Informationen zählt daher zu den fundamentalen Normen des Sozialsystems Wissenschaft1. Medien wissenschaftlicher Veröffentlichung waren und sind die akademische Lehre an den Universitäten, Fachvorträge und Diskussionen auf Tagungen, Symposien oder in akademischen Clubs sowie die Publikation wissenschaftlicher Schriften. Dieses Idealbild des freien wissenschaftlichen Gedankenaustauschs gehört heute allerdings in Teilen der Naturwissenschaften der Vergangenheit an: Der Trend zur Entpersonalisierung der Forschungsarbeit förderte vielfach auch eine Tendenz zur Monopolisierung ihrer Ergebnisse. V. a. in den außeruniversitären Forschungsbereichen kann der einzelne Wissenschaftler seine Erkenntnisse i. d. R. nur dann ungehindert und unkontrolliert zur öffentlichen Diskussion stellen, wenn sie einen unmittelbaren Anwendungsnutzen nicht erkennen lassen2. Je anwendungs-, d. h. industrie- oder politiknäher3 hingegen wissenschaftliche Forschung betrieben wird, desto geringer sind im Regelfall die Möglichkeiten der Wissenschaftler zu freier und ungehinderter Weitergabe ihrer Ergebnisse4. Feststellbar ist insbesondere eine Korrelation dahingehend, daß die Veröffentlichungsfreiheit ten-

1

Sog. Kommunalismus, vgl. MERTON in: Wissenschaftssoziologie, S. 51ff.; BÜHL, S. 114ff.; BLANKENAGEL in: Menschengerecht, S. 145 m. w. N. 2

BÜHL, S. 290f.; HETZLER, S. 82f. Die Aussage bezieht sich auf die staatliche Ressortforschung (vgl. oben C. III. 1.). - Etwas anderes gilt bei staatlicher Förderung priv. Forschungsprojekte (vgl. oben CIL): in seinen Vergaberichtlinien, die regelmäßig Bestandteil des Zuwendungsbescheids oder -Vertrags werden, hat der Bund weitgehende Veröffentlichungspflichten des Zuwendungsempfängers hinsichtlich der Ergebnisse der geförderten Projekte festgeschrieben, wenn auch mit einem "time-lag" von 9 Monaten, vgl. Nr. 2.2. BNBest-P-FuE zu § 44 BHO, abgedruckt bei KÖCKRITZ / ERMISCH / LAMM, Anlage 3 zu Erl. 2.2. und 26 zu § 44 BHO, S. 89ff. 3

4

BÜHL, S. 290f.

106

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

denziell umso stärker beschränkt ist, je mehr die Forschungsarbeiten aus Mitteln der Unternehmenswirtschaft finanziert werden5; vor allem die innovationsträchtige Forschung der Großindustrie tendiert zur Abschottimg gegenüber Fachpresse und Öffentlichkeit, da ihre Erkenntnisse ganz überwiegend trägerinterne Verwertung finden sollen6. Da sich Forschungsfinanzierung und -durchführung - jedenfalls in der Quantität7 - zunehmend vom staatlichen, v. a. hochschulischen, auf den Unternehmenssektor verlagern, muß für die Zukunft damit gerechnet werden, daß sich der Monopolisierungstrend wissenschaftlicher Forschungsergebnisse eher noch verstärken wird. Diese Entwicklung steht zu der oben beschriebenen wissenschaftlichen Informationsflut nur scheinbar im Widerspruch, denn Monopolisierung bedeutet keineswegs immer die endgültige und vollständige Geheimhaltung der Erkenntnisse. Der Begriff soll vielmehr das Phänomen bezeichnen, daß dem Einzelforscher die Entscheidung über Form, Umfang und Zeitpunkt der Veröffentlichimg seiner Arbeitsergebnisse aus der Hand genommen und an den Interessen seines Arbeit- bzw. Auftraggebers ausgerichtet wird. Dessen Belangen kann aber auch schon durch gezielt unvollständige oder zeitlich verzögerte Publikation genüge getan sein.

II. Ursachen und Folgen des Monopolisierungstrends 1. Ursachen Die Gründe für solche Geheimhaltungspolitik sind vielfältig8: a) Wahrung der Reputation: Forschern können Geheimhaltungspflichten im Interesse des wissenschaftlichen Niveaus der Einrichtung auferlegt sein, für die sie arbeiten9. Dies trifft häufig auf die Mitarbeiter von privaten Forschungseinrichtungen ohne Erwerbszweck zu, denen die Veröffentlichung nur dann gestattet wird, wenn die wissenschaftliche Qualität ihrer Arbeit dem Ansehen des Instituts adäquat ist. Da hier häufig im Team gearbeitet 5

HETZLER, S. 82; WISSENSCHAFTSRAT, Zusammenarbeit, S. 22.

6

HETZLER, S. 76ff. und 83f.; BÜHL, S. 313.

7

g Siehe oben C. III. 2. und D. I. 2. sowie BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 60ff. Unberücksichtigt bleiben hier Veröffentlichungsbehinderungen im Bereich der empirischen Sozialforschung; dort muß der Zugang zu Quellenmaterial vielfach mit Zugeständnissen hins. der Publizierung der Ergebnisse erkauft werden, dazu BRÜSTEN u. a., Freiheit, S. 38ff. und 114ff. 9

STEINFORT, S. 139f.

E. Monopolisierung der Forschungsergebnisse

107

wird, können Veröffentlichungsbeschränkungen daneben dem Schutz der übrigen an einem Projekt Beteiligten dienen10.

b) Betriebswirtschaftliche Verwertungsinteressen: In der anwendungso tierten Industrieforschung dürften hingegen die betriebswirtschaftlichen Verwertungsinteressen des Forschungsträgers oder Auftraggebers ausschlaggebend sein.

Zum einen geht es um die Verhinderung neuheitsschädlicher Veröffentli chungen i. S. d. Patent- oder Gebrauchsmusterrechts. Schutzfähig ist nämlich eine Erfindung nur dann, wenn sie neu ist (§ 1 PatG; § 1 GebrMG); und Neuheit setzt voraus, daß die Entdeckung nicht vor der Schutzanmeldung in allgemein zugänglicher Weise veröffentlicht wurde11. Daraus erhellt das massive Interesse industrieller Forschungsträger, zur Erlangung wirtschaftlich verwertbarer Schutzrechte vorschnelle Veröffentlichungen ihrer Mitarbeiter zu verhindern12.

Hinzu treten unmittelbare wirtschaftliche Verwertungs- und Vermarktun teressen: Wenn Industrieunternehmen enorme Summen in Forschung und Entwicklung investieren, tun sie dies nicht vorrangig zur allgemeinen Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts, sondern zum Zwecke der Gewinnmaximierung. Diese aber setzt voraus, daß neue Produkte oder verbesserte Produktionsverfahren unter Ausschluß der Konkurrenz entwickelt werden. Zur Verhinderung von Nachahmungen müssen daher anwendungsnahe Erkenntnisse der allgemeinen wissenschaftlichen Diskussion vorenthalten bleiben13. c) Machtpolitische Gründe: Im Bereich staatlicher Ressortforschung ist Geheimhaltung aus machtpolitischen Gründen anzutreffen. Monopolisierungstendenzen bestehen insbesondere, wenn sich Forschungsprojekte auf militärische Bereiche beziehen. Dies gilt fast zwangsläufig für unmittelbar militärische Forschungsprojekte, auch wenn sie ausschließlich defensiven Charakter besitzen. Hier liegt es in der Natur der Sache, daß Informationen verborgen bleiben müssen, die für potentielle Angreifer von Nutzen sein könnten14. 10 Vgl. zu beidem den Muster-Anstellungsvertrag der MPG i. V. m. den Grds. für die Anwendung der Veröffentlichungsklausel, zit. nach MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1391. 11 Durch die Veröffentlichung wird sie Stand der Technik, was die Neuheit ausschließt, vgl. § 3 PatG und § 3 GebrMG.

12

Einen diesbezüglichen Veröffentlichungsvorbehalt enthält auch der Muster-Anstellungsvertrag der MPG, vgl. MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1391. 13 HETZLER, S. 83; für Genforschungsfirmen FLÄMIG, Manipulationen, S. 45. 14 REID, S. 319; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 266 - Von den Forschungsmitteln des Bundes entfällt jährlich ein erheblicher Teil auf Wehrforschung und

108

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Aber auch dort, wo neuartige Erkenntnisse mittelbar wehrwissenschaftliche Relevanz erlangen können, muß damit gerechnet werden, daß sie im Interesse der nationalen Sicherheit zur "Verschlußsache" erklärt werden15.

2. Wirkungen Folge des Monopolisierungstrends ist zunächst, daß dem Einzelforscher die Urheberschaft seiner geistigen Arbeit streitig gemacht wird, denn er kann nur noch nach Maßgabe übergeordneter Fremdinteressen darüber verfügen. Kehrseite hiervon ist die Konzentration wissenschaftlicher Informationen v. a. bei der Großindustrie und beim Staat. Die Summe aller Erkenntnisse steht der in- und ausländischen Wissenschaft als Grundlage weiterführender Arbeiten nicht mehr frei zu Verfügung; dies bedingt aufwendige Doppelarbeit, die nicht zuletzt wieder die Forschungsbudgets belastet. Der Informationsstand von Politik und Öffentlichkeit hält mit dem tatsächlichen Stand von Wissenschaft und Technik nicht Schritt, was u. U. die Lösung akuter gesellschaftlicher Probleme verzögern kann16.

III. Rechtliche Rahmenbedingungen Bei der Untersuchimg der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Veröffentlichung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zeigt sich, daß hierdurch - gewollt oder ungewollt - die beschriebenen faktischen Monopolisierungstendenzen zusätzlich unterstützt und gefördert werden: Sowohl die Vertragspraxis als auch die einschlägigen Regeln und Grundsätze des Urheber· und Arbeitnehmererfindungsrechts können die VeröffentlichungsfreiWehrtechnik (in 1988 ca. 2,8 Mrd DM, vgl. BUNDESBERICHT FORSCHUNG 1988, S. 200). Im Bundesbericht Forschung fehlen aber genaue Angaben zum "Förderbereich X" der Wehrforschung; nur allgemeine Ziele sind auf den S. 198f. umschrieben. Die Ziele werden jährlich aktualisiert und fortgeschrieben in den Forschungs- und Technologieleitlinien des BMVg, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, vgl. "Jede vierte Mark für Wehlforschung" in: SZ v. 28.10.1988. 15 HETZLER, S. 82; R I D D E R / STEIN, DöV 1962, S. 363 entdecken gar die Neigung vieler Staaten, immer weitere Gebiete der Wissenschaften für geheim zu erklären und zu Machtzwecken faktisch als Staatsmonopol zu betreiben. 16 Dies kann sich hemmend auf das national und international notwendige Zusammenwirken bei der Bekämpfung von Krankheiten, Überwachung und Verringerung der Umweltbelastung, Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen u. ä. auswirken. Auf diesen Gebieten haben deshalb die Teilnehmerstaaten des Wiener KSZE-Folgetreffens jüngst eine intensivere Zusammenarbeit und verstärkten Informationsaustausch vereinbart, vgl. die TextAuszüge in: SZ v. 18.1.1989, S. 10.

E. Monopolisierung der Forschungsergebnisse

109

heit des (abhängigen) Wissenschaftlers beschränken. Verstöße gegen Geheimhaltungspflichten i. R. v. Vertragsverhältnissen ziehen u. U. Schadenersatzansprüche17, die Vertragskündigung und / oder strafrechtliche Verfolgung18 nach sich. Patent-, Gebrauchsmuster- und Sortenschutzrecht wirken im Grunde zwar veröffentlichungsfreundlich; infolge von Regelungslücken und Anwendungsmängeln kommt der intendierte Informationseffekt aber oft nicht zum Tragen.

1. Vertragliche Publikationsbeschränkungen Die weit überwiegende Zahl der in außeruniversitären Forschungseinrichtungen angestellten Wissenschaftler unterliegt im Hinblick auf ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse arbeitsvertraglich fixierten Geheim19 haltungspflichten . Ahnliches gilt für Forschungsleistungen i. R. v. Forschungsaufträgen. Auch staatliche Wissenschaftler an Hochschulen unterwerfen sich immer häufiger in freiwilliger Vereinbarung gegenüber Dritten Veröffentlichungsbeschränkungen 20. Die Palette möglicher Publikationsklauseln reicht vom vollständigen Veröffentlichungsverbot, ggf. verbunden mit der Übertragung der Verwertungsrechte auf den Arbeit- bzw. Auftraggeber, über das Verbot mit Genehmigungsvorbehalt bis hin zum einfachen Hinweisverbot21. Damit werden die dispositiven Regelungen des Urheber- und / oder Arbeitnehmererfindungsrechts jeweils abbedungen oder modifiziert. Außer durch ausdrückliche Vertragsklauseln kann dies auch konkludent geschehen, falls sich der Wissenschaftler gerade zu dem Zweck engagieren läßt, wissenschaftliche Fragestellungen für Verwertungszwecke des Arbeit- oder Auftraggebers zu bearbeiten22. 17 Aus positiver Forderungsverletzung; daneben kommt § 823 Abs. 1 BGB in Betracht, weil es sich bei den Urheber-Nutzungsrechten und dem Inanspruchnahmerecht nach § 6 ArbNErfG um eigentumsgeschützte Positionen handelt, hierzu STEINFORT, S. 117ff.; KLEIN, MittHV 3/1987, S. 136. 18

§ 17 GWB; MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1401.

19

HETZLER, S. 81f.; zu Veröffentlichungsklauseln in den Anstellungsverträgen außerhochschulischer Forschungseinrichtungen ohne Erwerbszweck vgl. MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1390f. 20 SANDBERGER, WissR 21 (1988), S. 252 21

Das Hinweisveibot verpflichtet den Wissenschaftler lediglich, seine Erkenntnisse ohne Hinweis auf die ihn beschäftigende FE zu veröffentlichen; zu den Ausgestaltungsmöglichkeiten2 2MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1391. BICKELHAUPT, MittHV 2/1988, S. 80ff.

110

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

Veröffentlichungsverbote können schließlich im Rahmen wissenschaftlicher Arbeitsverhältnisse vom Arbeitgeber aufgrund seines vertraglichen Direktionsrechts ausgesprochen werden, soweit es der Zweck des Arbeitsverhältnisses oder die Rücksichtnahme auf den Betrieb des Arbeitgebers (Treuepflicht) erfordert.

2. Urheberrecht Wissenschaftliche Veröffentlichungen in schriftlicher oder sonst hinreichend fixierter Form erfüllen i. d. R. die Kriterien eines "Werkes" i. S. d. §§ 1 / 2 Abs. 1 Ziff. 7 UrhG und unterliegen somit urheberrechtlichem Schutz23. Das Urheberrecht entsteht dabei stets in der Person des Werkschöpfers als originär erworbenes, absolutes Recht24. Danach kann der Forscher als Schöpfer seines wissenschaftlichen Werks prinzipiell frei darüber entscheiden, ob, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt er dieses veröffentlichen25 oder sonst verwerten26 möchte.

Dem Grundsatz nach gilt dies auch in Arbeits- und anderen Dienstverhältnissen, "... soweit sich aus dem Wesen des Arbeits- oder Dienstverhältn ses nichts anderes ergibt" (§ 43 1. Hs. UrhG). Regelmäßig bestimmt hier bereits eine ausdrückliche Klausel im Arbeits- oder Dienstvertrag, daß die Nutzungsrechte27 am Urheberrecht auf den Arbeitgeber bzw. Dienstherrn (Vertragsherrn) übergehen, soweit sie mit dem im Rahmen des Vertragsverhältnisses verfolgten Zweck im Zusammenhang stehen28. Aber auch ohne solche Klausel können Wissenschaftler ihre Veröffentlichungs- und Verwertungsrechte verlieren, wenn sie nach dem übereinstimmend angenommenen

23

Dies gilt aber nur für die Veröffentlichung, d. h. für die literarische Niederlegung der Erkenntnis als solche, während deren Inhalt, die dargestellten Ideen, Lehren, Systeme, Theorien etc. nicht urheberrechtsfähig sind; dasselbe gilt für die Methoden und Techniken, die zu den dargestellten Ergebnissen geführt haben. Das Urheberrecht hindert also den Forscher nicht, bei seinen Arbeiten auf frühere Erkenntnisse und Errungenschaften aufzubauen; vgl. SANDBERGER, WissR 21 (1988), S. 226 und 241; MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1392; KLEIN, MittHV 3/1987, S. 136f. - Zu den Subsumtionsproblemen STEINFORT, S. 45ff. 24 § 7 UrhG 25

§ 12 UrhG

26

§ 15 UrhG

27

Das Urheberrecht als solches ist nicht übertragbar, vgl. § 29 S. 2 UrhG, übergehen können nur die Nutzungsrechte, vgl. WESTEN, JR1967, S. 403. 28 SCHAUB, ArbR. Hdb., S. 698

E. Monopolisierung der Forschungsergebnisse

111

Vertragszweck29 ausschließlich oder überwiegend dafür tätig sind, wissenschaftliche Fragen zu bearbeiten und dabei publikationsfähige Ergebnisse zu erzielen30. Die konkrete Reichweite des Übergangs von Nutzungsrechten auf den Vertragsherrn ist durch Interpretation des Rechtsverhältnisses im Hinblick auf seine Zwecksetzung zu ermitteln31. Soweit Nutzungsrechte auf den Vertragsherrn übergehen, wird die Entscheidungsfreiheit des Wissenschaftler-Autors hinsichtlich der Veröffentlichung seines Werks ausgeschlossen oder beschränkt32. Dies schließt zwar eine Publikation unter der Regie des Vertragsherrn nicht aus, monopolisiert aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse in dessen Händen: Er entscheidet nunmehr über Zeitpunkt, Form und Umfang der Veröffentlichung 33.

3. Arbeitnehmererfindungsrecht Während Professoren, Dozenten und Assistenten34 an Universitäten über ihre Erfindungen regelmäßig frei verfügen können35, steht ein solches Privileg den angestellten36 oder beamteten37 Mitarbeitern außeruniversitärer For29

Sog. Zweckübertragungstheorie, vgl. § 31 Abs. 5 UrhG. Sie gilt als allg. Rechtsgrundsatz für das gesamte Urheberrecht, SCHAUB, aaO.; SANDBERGER, WissR 21 (1988), S. 243; VINCK, RdA 1975, S. 162. 30 MALLMANN in: Hdb. WissR Bd. 2, S. 1392ff.; THEIS, S. 219; HUBMANN / HABERSTRUMPF, MittHV 1982, S. 212. 31

Zur Bildung von Fallgruppen WESTEN, JR 1967, S. 403f. - Werden Arbeiten vom Wissenschaftler außer- oder überobligationsmäßig hergestellt (Freizeitwerke), behält er insofern seine Nutzungsrechte; Beschränkungen können sich dennoch aus der arbeitsrechtlichen Treuepflicht ergeben, aaO. 32

Soweit Nutzungsrechte gem. § 431. Hs. UrhG übergehen, handelt es sich i. d. R. um ausschließliche Nutzungsrechte, denn es würde Inhalt und Sinn des Vertragsverh. offensichtlich widersprechen, wenn der Werkschöpfer in Konkurrenz zum Vertragsherrn sein Werk veröffentlichen und verwerten könnte, VINCK, RdA 1975, S. 102 - Ob er im Gegenzug einen Vergiitungsanspruch erlangt oder dieser schon durch die allg. Vergütung der Forschungsleistungen abgegolten ist, hängt von der Ausgestaltung des Vertrags ab, WESTEN, JR 1967, S. 406f.; SANDBERGER, WissR 21 (1988), S. 250f. 33 Problematisch ist, ob er den Urheber als Autor nennen muß; dies ist eine Frage des vom Nutzungsrecht zu scheidenden Urheberpersönlichkeitsrechts, VINCK, RdA 1975, S. 102. 34 Zur Stellung wissenschaftlicher Assistenten (§ 47 HRG) im Arbeitnehmererfindungsrecht, SANDBERGER, WissR 21 (1988), S. 235ff. 35 36

§§42Abs. 1 /6Abs. 1 /4Abs. 1 bis3ArbNErfG

Persönliche und / oder fachliche Weisungsabhängigkeit ist für die Anwendung des ArbNErfG nicht erforderlich, es genügt eine wirtschaftlich abhängige Stellung; das ArbNErfG gilt damit auch für die persönlich und fachlich unabhängigen Mitarbeiter der MPG; zur persönlichen Reichweite MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1405.

112

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

schungseinrichtungen nicht in gleicher Weise zu. Einschränkungen haben insoweit ihre Grundlage in berechtigten Geheimhaltungsinteressen der Arbeitgeber-Einrichtung, insbesondere in der Erhaltung gewerblicher Schutzmöglichkeiten. Beinhaltet eine wissenschaftliche Erkenntnis, die mit dem Arbeits- oder Dienstverhältnis im Zusammenhang steht38, eine patent- oder gebrauchsmusterfähige Erfindung 39, so ist der Arbeitgeber (ArbG) berechtigt, diese unbeschränkt in Anspruch zu nehmen40 und auf eigene Rechnung zu benutzen41, d. h. insbesondere als Patent anzumelden42. Im Gegenzug ist er zur Zahlung einer angemessenen Erfindervergütung an den Wissenschaftler verpflichtet 43. Die Inanspruchnahme löst für den betreffenden Wissenschaftler nach § 24 Abs. 2 ArbNErfG eine Geheimhaltungspflicht, mithin ein Veröffentlichungsverbot im Hinblick auf seine Erfindung und deren wissenschaftliche Grundlagen aus44. Die Veröffentlichungsbefugnis des Werkschöpfers nach § 12 UrhG wird insoweit (unabhängig von § 43 1. Hs. UrhG) sondergesetzlich eingeschränkt. Zweck dieser Regelung ist es, neuheitsschädigende Veröffentlichungen, die den Patent- oder Gebrauchsmusterschutz ausschlössen45, 37 Bei Beamten im statusrechtlichen Sinn können sich Publikationsbeschränkungen darüber hinaus aus dem Beamtenrecht ergeben: Pflicht zur politischen Mäßigung und Unparteilichkeit, § 35 BRRG; Loyalitätspflicht gegenüber dem Dienstherrn, § 37 BRRG; Verschwiegenheitspflicht über dienstliche Vorgänge, § 39 BRRG, sowie nebentätigkeitsrechtliche Bestimmungen, § 42 BRRG bzw. § 52 HRG. Diese Pflichten haben ζ. T. als hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums gem. Art. 33 Abs. 5 GG Verfassungsrang, z.B. BVerfGE 28,191/198f. und eingehend STEINFORT, S. 165ff.

38

Sog. Diensterfindung (§ 4 Abs. 2 ArbNErfG) im Ggs. zur freien Erfindung, bezüglich derer den Wissenschaftler nur eine Mitteilungs- und Anbletungspflicht zur Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen des ArbG trifft (§§ 18 f. ArbNErfG), vgl. VOLMER / GAUL, § 4 ArbNErfG, Rz. 34ff. - 90% aller Erfindungen sind heute Diensterfindungen, GRELLERT in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1243ff. 39 § 4 ArbNErfG - Erfindungen sind solche Forschungsergebnisse, die zu Neuerungen technischer Art führen; das Auffinden bislang unbekannter, in der Natur objektiv gegebener Gesetzmäßigkeiten oder Erscheinungen gehört nicht dazu, vgl. §§ 1 Abs. 2 Ziff. 1 PatG und 1 Abs. 2 Ziff. 1 GebrMG. - Soweit Arbeitsergebnisse wissenschaftlich-technischer Art keine Erfindungen im Rechtssinne (§ 4 ArbNErfG) oder aus anderen Gründen nicht rechtlich schützbar sind (sog. know how), kann der ArbG die Geheimhaltung im Wege sog. know-howVereinbarungen erreichen, MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1401. 40 § 6 Abs. 1 ArbNErfG 41

§7 ArbNErfG

42

§13 ArbNErfG

43

§§9,13 ArbNErfG

44

KIMMINICH, WissR 18 (1985), S. 139

45

Vgl. §§ 1 / 3 PatG; § § 1 / 3 GebrMG; MALLMANN in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1400.

E. Monopolisierung der Forschungsergebnisse

113

zu verhindern und so dem ArbG die Möglichkeit einer Schutzrechtserteilung in vollem Umfange zu erhalten46.

4. Patent-, Gebrauchsmuster- und Sortenschutzrecht

a) Die Informationsfunktion des Erfinderschutzrechts: Das gesetzlic Erfinderschutzwesen (PatG, GebrMG, SortenSchG47) fördert im Grunde Offenbarung und Verbreitung neuen wissenschaftlich-technischen Wissens48: aa) Dies wird zunächst mittelbar dadurch bewirkt, daß nach der Erteilung des Schutzrechts gegen eine Veröffentlichung der damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich keine betriebswirtschaftlichen Einwände mehr bestehen. Die Publizierung der Grundlagenerkenntnisse ist für den Forschungsträger nunmehr belanglos, weil er an der Erfindung, auf die es ihm letztlich ankommt, ein alleiniges und eigentumsrechtlich geschütztes Benutzungs- und Ausschließungsrecht erlangt hat49. Unter diesen Vorzeichen steht einer Rückübertragung des Veröffentlichungsrechts vom Arbeit- oder Auftraggeber auf den abhängigen Forscher nichts mehr im Weg: Jener kann die Arbeitnehmererfindung ohne Schaden zu Gunsten des Forschers freigeben 50 oder diesem bei vertraglich vereinbarter Geheimhaltungspflicht Dispens nunmehr erteilen. bb) Darüber hinaus üben Patent- und Gebrauchsmusterrecht einen unmittelbaren Offenbarungs- und Informationsdruck auf Erfinder bzw. deren Vertragsherrn aus: Ohne Offenlegung des technischen Wissens kommt nämlich eine Schutzrechtserteilung nicht in Betracht51. Verbunden mit einem gestuften Recht auf Akteneinsicht und der automatischen, wenn auch zeitlich verzögerten Veröffentlichung der technischen Daten durch das Patentamt52, gewährleistet dieser Offenbarungszwang, daß neues wissenschaftlich-technisches Wissen aus der Geheimsphäre der Laboratorien und Betriebe gelockt und in allgemein zugängliche Informationen umgewandelt wird. Für die Er-

46 Hieraus erhellt, daß das Veröffentlichungsverbot lediglich schutzfähige Erfindungen, nicht aber Entdeckungen i. S. d. §§ 1 Abs. 2 Ziff. 1 PatG bzw. 1 Abs. 2 Ziff. 1 GebrMG erfaßt. 47

G v. 11.12.1985 (BGBl., S. 2170)

48

BEIER / STRAUS in: 25 Jahre BPatentgericht, S. 135; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 307 49

§S 9 PatG, 11 GebrMG und 10 SortenSchG

50

§§ 8 Abs. 1 Ziff. 1,24 Abs. 2 ArbNErfG

51

§§ 35 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 PatG, 4 Abs. 2,3 GebrMG; ähnlich § 26 Abs. 3 SortenSchG.

52

§§ 31 Abs. 1,2 und 32 PatG, 8 Abs. 5 GebrMG; ähnlich §§ 24,29 SortenSchG.

114

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

teilung des Schutzrechts nehmen die Forschungsträger diesen Informationseffekt regelmäßig in Kauf 53. Der Informationseffekt hat entscheidende Relevanz für den weiteren wissenschaftlich-technischen Fortschritt54. Denn die Unterschutzstellung von Erfindungen führt keineswegs dazu, daß damit verbundene Grundlagenerkenntnisse der wissenschaftlichen Bearbeitung durch andere entzogen würden: Erstens beschränkt sich die Schutzfähigkeit auf die gewerblich verwertbare Erfindung, d. h. auf die zweckgerichtete Lösung eines Problems mit technischen Mitteln als solche, während das Auffinden und die Erkenntnis bisher imbekannter, aber in der Natur objektiv gegebener Gesetzmäßigkeiten, Wirkungszusammenhänge, Eigenschaften oder Erscheinungen (sog. Entdeckung), wissenschaftlicher Theorien und mathematischer Methoden vom Erfinderschutz ausgeschlossen sind, es sei denn sie stellen zugleich eine verwertbare Erfindung dar55. Zweitens bleiben auch insoweit alle Handlungen zu Versuchzwecken erlaubt, die sich auf den Gegenstand der geschützten Erfindung beziehen56.

b) Lücken und Schwächen der Informationsfunktion: Trotzdem kann das System des gesetzlichen Erfinderschutzes seinem intendierten Informationszweck nicht in vollem Umfang gerecht werden, weil die Ausgestaltung, welche es durch Gesetzgeber, Praxis und Rechtsprechimg erfahren hat, in Teilbereichen veröffentlichungsfeindliche Tendenzen impliziert:

aa) Informationsfunktion entfaltet das Erfinderschutzwesen naturgemäß erst nach Schutzrechtserteilung, davor steht es einer Publikation tendenziell im Wege (s. o. III. 3.). Diese Wirkung wird über Gebühr verstärkt durch den absoluten formellen Neuheitsbegriff der §§ 1 Abs. 1 / 3 PatG57: Jede - auch 53

Es gibt jedoch auch Forschungsfelder, in denen Industrieunternehmen auf besonders innovationsträchtigen Gebieten auf Patentschutz verzichten, um ihr know how vor der Konkurrenz geheimhalten zu können, vgl. A. ZELL / T. EWE, "Vom Wissen zum Profit" in: Bild der Wissenschaft 4/1984, S. UOf. 54 BEIER / STRAUS, GRUR 1977, S. 284; PECHMANN, GRUR 1985, S. 718 - Die Zusammenhänge zwischen Patentwesen, Informationsfunktion und wissenschaftlich-technischem Fortschritt wurden empirisch untersucht und bestätigt durch GREFERMANN u. a., Patentwesen, S. 31ff., Zusammenfassung auf S. 115f.: Es kann als gesichert gelten, daß das Patentwesen über seinen Informationseffekt sich fördernd auf den technischen Fortschritt auswirkt. 55 §§ 1 Abs. 2 Ziff. 1 PatG, 1 Abs. 2 Ziff. 1 GebrMG; SANDBERGER, WissR 21 (1988), S. 226 56 §§ 11 Ziff. 2 PatG, 12 GebrMG; ähnlich δ 10 S. 2 SorteiiSchG; ferner Art 31b EPÜ (Europ. Patent-Übereinkommen v. 1973); zur Auslegung des § 11 Ziff. 2 PatG im Lichte von Art. 14 Abs. 1 GG einer- und Art. 5 Abs. 3 GG andererseits, MEUSEL, WissR 19 (1986), S. 236ff. m. w. N. 57

Entsprechendes gilt für §§ 1 Abs. 1 / 3 Abs. 1 GebrMG; ähnlich auch §§ 1 Abs. 1 Ziff. 4 / 6 SortenSchG

E. Monopolisierung der Forschungsergebnisse

115

nur mündliche - Mitteilung eines Wissenschaftlers über den Stand seiner Forschungen ist danach eine neuheitsschädliche Veröffentlichung, die die Schutzfähigkeit beseitigt. Entweder veröffentlicht also der Wissenschaftler den wissenschaftsimmanenten Normen und seiner Gewohnheit entsprechend, um Fachkollegen und Öffentlichkeit über seine neuen Erkenntnisse zu informieren und sich wissenschaftlich e Priorität und Reputation zu sichern: Dann ist es mit dem späteren Patentschutz und der wirtschaftlichen Verwertung der Erfindung vorbei - ein Ergebnis, das naturgemäß für den Bereich der industrie-finanzierten Forschung unakzeptabel ist. Oder aber er hält - freiwillig oder auf entsprechenden Druck seines Vertragsherrn - seine Forschungsergebnisse geheim und macht sie der Fachwelt und Öffentlichkeit erst zugänglich, wenn sie zu patentfähigen Erfindungen ausgereift sind: Dann bleiben sie der Wissenschaft für kritische Begutachtung und Weiterverarbeitung sowie der interessierten Öffentlichkeit für ethische Bewertung und politische Auseinandersetzung so lange verborgen, bis bereits vollendete Tatsachen geschaffen sind. bb) Der Informationseffekt des Erfinderschutzrechts wird durch seine Lückenhaftigkeit und {Inflexibilität gerade hinsichtlich jener Forschungsgebiete begrenzt, die ein besonders hohes Innovationstempo aufzuweisen haben. Dies trifft v. a. auf die moderne Bio- und Gentechnologie zu58: Der für den Bereich der unbelebten Natur und deren Ausnutzung und Beeinflussung durch die Gesetze der Physik oder Chemie konzipierte Patentschutz bietet für Veränderungen und Neugestaltungen der belebten Natur nur fragmentarischen Schutz. Schutzlücken und Einordnungsschwierigkeiten wurden von Gesetzgeber und Rechtsprechung bislang nicht oder unzureichend geschlossen: Von der Erzeugnispatentierung stets ausgeschlossen sind gentechnisch gezüchtete neue Tiersorten 59', dasselbe gilt für neue Pflanzensorten , wenn sie ihrer Art nach im Artenverzeichnis zum SortenSchG aufgeführt sind60. Schutzfähig sind allerdings die vorwiegend mikrobiologischen oder gentechnischen Verfahrensweisen, die zu den neuen Pflanzen oder Tie58 DANNER in: Biotechnologie und gewerblicher Rechtsschutz, S. 79f. - Siehe die Vorschläge der EG-Kommission, wib 1/89-X/66 v. 25.1.1989, S. 50. 39 Dies gilt für deutsche u. für europ. Patente, vgl. § 2 Ziff. 2 S. 1 PatG und Art. 53b EPÜ. 60

Sog. Doppelschutzverbot, vgl. Art. 2 Abs. 1 Int. Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen von 1961 (Nachweis bei SCHADE / PFANNER, GRUR Int. 1962, S. 348), § 2 Ziff. 2 S. 2 PatG und § 41 SortenSchG - Im Artenverzeichnis nicht aufgeführt sind im wesentlichen Zierpflanzen, an denen das Landwirtschaftsministerium wegen ihrer geringen wirtschaftlichen Bedeutung kein Interesse hat oder für die dem BSortenamt die Anbaufläche für die vorgeschriebene Anbauprüfung fehlt, vgl. BEIER / STRAUS in: 25 Jahre BPatentgericht, S. 148.

116

1. Teil: Entwicklungslinien naturwissenschaftlicher Forschung

ren geführt haben (Verfahrenspatent) 61. Nach dem Gesetzeswortlaut ausdrücklich schutzfähig sind auch vorwiegend mikrobiologische (oder gentechnische) Verfahren zur Erzeugung neuer Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Pilze) einschließlich dieser Mikroorganismen selbst62. Doch wird der Sachschutz von der BGH-Rechtsprechung für all jene gentechnologischen Erfindungen ausgeschlossen, die noch nicht allein durch ihre Beschreibung63 wiederholbar offenbart werden können64. Ein Erzeugnispatent auf den Mikroorganismus wird also nur gewährt, wenn der Erfinder einen für jeden Sachverständigen mit hinreichender Erfolgsaussicht nacharbeitbaren Weg aufzeigt, wie der neue Mikroorganismus erzeugt werden kann65. Dieser Wiederholbarkeitsnachweis ist bei lebenden Organismen in den allermeisten Fällen noch nicht möglich66. Nicht schutzfähig sind ferner Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tie Körpers sowie entsprechende Diagnostizierverfahren 67. Beim Menschen ist dies notwendig, weil es ein Monopol für einzelne Ärzte oder Ärztegruppen, menschliche Krankheiten nach der für sie patentierten Methode erkennen oder behandeln zu können, aus ethischen und verfassungsrechtlichen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) Gründen nicht geben darf. Nicht zu rechtfertigen ist aber die Gleichsetzung des menschlichen Körpers mit dem des Tieres; hier müssen im Innovations- und Publizitätsinteresse andere Maßstäbe gelten68. Auch der für neue Pflanzenzüchtungen bereitstehende Sortenschutz ist für gentechnische Züchtungen wenig effektiv. Zwar ist der Schutz patentartig 61 Denn bei ihnen handelt es sich jedenfalls nicht um "vorwiegend biologische Verfahren" i. S. d. § 2 Ziff. 2 PatG. 62

§ 2 Ziff. 2 S. 2 PatG und Art. 53b EPÜ § 35 Abs. 1 Ziff. 3 und Abs. 2 PatG 64 Seit BGH v. 23.3.1969 ("Rote Taube"), GRUR 1969, S. 672/673f., st. Rspr.; siehe außerdem BGH, GRUR 1975, S. 430/431f. ("Bäckerhefe") und BGH, GRUR 1981, S. 263 ("Bakterienkonzentrat"). Das Erfordernis der Wiederholbarkeit setzen im Anschluß hieran auch das BPatentgericht und das Deutsche Patentamt für die Erteilung eines Erzeugnispatents voraus, vgl. GOEBEL in: Biotechnologie und geweiblicher Rechtsschutz, S. 23ff. - Anders die Praxis des Europ. Patentamtes (EPA), wonach für die Erteilung eines Erzeugnispatents die Hinterlegung des Mikroorganismus genügt, vgl. Mitteilungen des Präsidenten des EPA v. 11.12.1981 über die Änderung der Richtlinien für die Prüfung im EPA (Amtsbl. EPA 1982, S. 19). 63

65

Die Hinterlegung des Mikroorganismus genügt für ein Erzeugnispatent nicht, denn "... die Hinterlegung ersetzt trotz der Fähigkeit des lebenden Organismus zur Selbstreplikation die wiederholbare Lehre n^ht", BGH GRUR 1975, S. 433; kritisch hierzu TRÜSTEDT, GRUR 1986, S. 641f. 66 BEIER / STRAUS in: 25 Jahre BPatentgericht, S. 142 - Zu den wissenschaftlich-technischen Fortschritten auf diesem Gebiet aaO., S. 143 und PECHMANN, GRUR 1985, S. 722. 67 § 5 Abs. 2 PatG und Art. 52 Abs. 4 EPÜ - Zu den zahlreichen Ausnahmen im Interesse der chemisch-pharmazeutischen Industrie DEUTSCH, ZRP 1985, S. 75. 68

Ähnlich BEIER / STRAUS in: 25 Jahre BPatentgericht, S. 149f.

E. Monopolisierung der Forschungsergebnisse

117

ausgestaltet, dennoch wird er wegen seiner verminderten Schutzwirkung von einer wachsenden Zahl von Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die sich in der Gentechnologie engagieren, als unzureichend angesehen69. Hauptvorwurf ist hier, daß das geschützte Vermehrungsgut von Dritten ohne Zustimmung des Sortenschutzinhabers als Ausgangsmaterial zur Züchtung neuer Sorten frei verwendet werden kann. Damit läßt sich der Schutz auch bahnbrechender und kostenintensiver Neuzüchtungen durch bloß geringfügige Abwandlung umgehen und aushöhlen70. Auch freie Nachschöpfungen sind nicht ausgeschlossen. Indem schließlich die Gewährung des Sortenschutzes weder von einer die Wiederholbarkeit sichernden Beschreibung noch von einer sie ergänzenden oder ersetzenden Hinterlegung abhängt, beeinträchtigt das bestehende Patentierungsverbot für sortenschutzfähige Pflanzensorten im Ergebnis die Informationsfunktion des Erfinderschutzes in einem immer wichtiger werdenden Technologiebereich71.

69

DEUTSCH, ZRP 1985, S. 76

70

§ 10 S. 2 SortenSchG; PECHMANN, GRUR 1985, S. 719f.; Enquete-Kommission Gentechnologie, S. 306 71

TRÜSTEDT, GRUR 1986, S. 644; BEIER / STRAUS in: 25 Jahre BPatentgericht, S. 644

Zweiter Teil

Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit A. Das Definitionsdilemma bei Art. 5 Abs. 3 GG

L Wissenschaft,

Forschung und Lehre als Verfassungsbegriffe

Dreh- und Angelpunkt aller weiteren Überlegungen ist die Grundrechtsnorm des Art. 5 Abs. 3 GG, mit der die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre gewährleistet ist. Dem klassischen Aufbau einer Grundrechtsprüfung folgend ist zunächst der Schutzbereich (Tatbestand) des Grundrechts einzugrenzen, mithin der Inhalt der Tatbestandsmerkmale Wissenschaft, Forschung und Lehre interpretatorisch zu ermitteln. Bei dem Versuch, aus den Worten Wissenschaft, Forschimg und Lehre normative Elemente oder Ordnungskonzepte für das abzuleiten, was die Verfassung unter den Begriffen versteht, stößt man allerdings auf nicht unerhebliche Auslegungsprobleme1 :

1. Die Wortbedeutung des Art. 5 Abs. 3 GG Der Wortlaut der Norm ist wenig aussagekräftig, weil die verwendeten Begriffe nicht erklärt, sondern offenbar vorausgesetzt werden. Etymologisch besteht "Wissenschaft11 aus zwei selbständigen Wörtern: dem Verb "wissen" als Ausdruck des Besitzes der durch Anschauung gewonnenen Erkenntnis und dem Ableitungssuffix "-schaft" mit der Bedeutung "Tätigkeit", "Zustand", "Verhalten" und "Verhältnis". "Wissenschaft" meint demnach - wörtlich genommen - den Zustand des Gesehen- und Beobachtethabens und zugleich das Verhältnis der beobachteten Dinge zueinander2. 1

Zum Problem der offenen Formulierungen des Grundrechtskataloges HÖFLING, S. 47f. m. w. N. 2

DIEMER in: Wissenschaftsbegriff, S. 3f.; BUMANN, ebd., S. 64.

Α. Das Definitionsdilemma bei Art. 5 Abs. 3 GG

119

Wissenschaft hat es also mit Erkenntnis zu tun. Ansonsten taugt der etymologische Wissenschaftsbegriff kaum für eine subsumtionsfähige Umschreibung des Tatbestands des Art. 5 Abs. 3 GG - wegen seiner Vagheit3 und der Vieldeutigkeit des Wissens-Begriffs, dessen Inhalt seinerseits mehrdeutig und umstritten ist4.

2. Systematische Auslegung Die systematische Anordnimg des Art. 5 Abs. 3 GG im Gefüge des Grundgesetzes läßt zunächst kaum Rückschlüsse auf dessen Inhalt zu. Seine Einordnung in den I. Abschnitt des Grundgesetzes deutet lediglich darauf hin, daß Art. 5 Abs. 3 GG als Grundrecht gegenüber dem Staat Freiheiten wahren soll, daß er also Element des liberalen Ordnungskonzeptes des Grundgesetzes ist5. Ansonsten wirft gerade die Systematik des Art. 5 GG eine Reihe von Fragen auf:6 Sind die Gewährleistungen von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre Unterfälle der allgemeinen Meinungsfreiheit? In welcher Beziehung stehen die genannten Schutzobjekte zueinander? Beschränken die allgemeinen Gesetze des Art. 5 Abs. 2 GG auch die Wissenschaftsfreiheit? 3. Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG 7 Selbst die bisher gewonnenen Ergebnisse werden relativiert, betrachtet man die unmittelbare Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG. Die Protokolle zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates enthalten für die Begriffsklärungen keine entscheidenden Hinweise8: Das Grundrecht der 3

4

Zur semantischen Offenheit des Art. 5 Abs. 3 GG ALEXY, S. 58f.

Zum Pluralismus der Wissensformen DIEMER in: Wissenschaftsbegriff, S. 14f. und GOOD in: Von der Verantwortung des Wissens, S. 129ff. 5 v. KIRCHBACH, S. 9; BAUER, S. 21. 6

Zur strukturellen Offenheit des Art. 5 Abs. 3 GG ALEXY, S. 58f.

7

Quellen zur Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG: DOEMMING / FÜSSLEIN / MATZ, JöR n. F. 1 (1951), S. 89ff.; Pari. Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses - Sten. Bericht, S. 210,547 und 746; Pari, Rat - schriftlicher Bericht zum Entwurf des GG, erstattet v. d. Berichterstattern des Hauptausschusses, den Abg. v. MAGOLDT u. a., S. 9; Pari. Rat, Grundgesetz f. d. BRep. Dtl. - Entwürfe; Pari. Rat, Ausschuß für Grundsatzfragen - Sten. Berichte über die 5., 6., 25. bis 27. und 32. Sitzung. 8 So auch LÜTHJE in: Denninger, vor § 3 HRG, Rz. 19f.; FREUNDLICH, S. 26; SCHUMACHER, S. 5f.; KLEIN, AöR 90 (1965), S. 133; RÖTTGEN in: Grundrechte II, S. 295 mit Fn.12; ZWIRNER, AöR 98 (1973), S. 333f.; HAILBRONNER, Funktionsgrundrecht, S. 51f.

120

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

Wissenschaftsfreiheit wurde vom Herrenchiemsee-Entwurf aus der Weimarer Verfassung (Art. 142 WRV 10 ) zunächst unverändert11 übernommen. Im Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates sprach sich der Berichterstatter BERGSTRÄSSER12 gegen die Beibehaltung des Grundrechts aus, da durch die Meinungsfreiheit schon das gleiche gesichert sei. Er warnte vor einer akademischen Unterwanderung des demokratischen Staates unter dem Vorwand der Wissenschaftsfreiheit. Von anderer Seite erinnerte man demgegenüber an die nationalsozialistische Gleichschaltung von Kunst und Wissenschaft13. Vor diesem Hintergrund wurde schließlich das Wissenschaftsfreiheitsrecht verabschiedet, nachdem ohne weitere Diskussion in den Wortlaut der Freiheitsgarantie die "Forschung" mit aufgenommen worden war14. Die wechselnden Formulierungsvorschläge und Diskussionen konzentrierten sich dann fast ausschließlich auf die Frage, ob und ggf. wie die Treue zur Verfassung als Grenze der Lehrfreiheit normiert werden sollte15. Hinsichtlich der Freiheitsverbürgung selbst war die weitere Entwicklung des Grundrechts bis zur endgültigen Verabschiedung durch das Plenum des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949 weitgehend beständig16.

4. Sinn und Zweck der Wissenschaftsfreiheit Die Angaben über den Sinn und Zweck frei betriebener Wissenschaft, Forschung und Lehre sind ebenso vielgestaltig wie diffus. Sie reichen von der eher selbstverständlichen Aussage, Zweck von Wissenschaft sei Er9 10

Pari. Rat, Akten und Protokolle Bd. 2, Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 581. Art. 142 WRV und Art. 15 Abs. 1 Herrenchiemsee-Entwurf hatten folgenden Wortlaut:

Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil. 11

Hinzu kam als Absatz 2:

Zum Schutz des menschlichen Zusammenlebens kann durch Gesetz die Benutzung wissenschaftlicher Erfindungen und technischer Einrichtungen unter staatliche Aufsicht gestellt, beschränkt oder untersagt werden. 12

Pari. Rat, Ausschuß für Grundsatzfragen - Sten. Bericht der 5. Sitzung, S. 51f.; Sten. Bericht der 6. Sitzung, S. 7f. 13

Pari. Rat, aaO., S. 52

14

Art. 10 des Entwurfs vom 18.10.1948 lautete (vgl. Pari. Rat - Entwürfe, S. 2):

1. Die Kunst, Wissenschaft und Forschung und ihre Lehre sind frei. 2. Die Freiheit der Lehre findet ihre Grenze in der Pflicht zur Treue gegenüber der Verfassung. 15

Zur Entstehungsgeschichte der Treueklausel FREUNDLICH, S. 24f. und 26f.; KIMMINICH, WissR 6 (1973), S. 201f. 16 Vgl. Pari. Rat - Entwürfe, S. 18,43,87,121,197, 241 und 259

Α. Das Definitionsdilemma bei Art. 5 Abs. 3 GG

121

kenntnis17, bis zu komplexen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Postulaten etwa dergestalt, freie Wissenschaft sei die Grundvoraussetzung für Innovation, internationale Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften und damit für Wirtschaftswachstum, Wohlstand der Bevölkerung und politische Stabilität18. Prinzipielle Begriffsklärungen lassen sich solchen Aussagen nicht entnehmen.

II. Wissenschaft,

Forschung und Lehre als Begriffe besonderen Sprachgebrauchs

des allgemeinen

Läßt sich die Definition dessen, was Art. 5 Abs. 3 GG als frei verbürgt, nicht aus der Freiheitsverbürgimg selbst ableiten, liegt es nahe, den Blick zunächst auf die mit den Begriffen Wissenschaft, Forschung und Lehre gekennzeichneten Lebensbereiche und ihren Bedeutungsgehalt im allgemeinen und besonderen Sprachgebrauch zu richten. Denn Art. 5 Abs. 3 GG könnte die Bedeutung der verwendeten Begriffe inhaltlich dem Vorstellungsbild der Allgemeinheit und / oder der zuständigen Fachwissenschaften überlassen, d. h. als mit dem gesunden Menschenverstand zu ermittelnde und zu begrenzende soziale Phänomene vorausgesetzt haben19.

1. Vielfalt der Disziplinen und Beteiligten Betrachtet man den Begriff "Wissenschaft" im Sprachgebrauch heute und in seinen historischen Facetten20, ergibt sich eine Vielfalt von Verwendungsarten mit zum Teil erheblichen Abweichungen. Zu denken ist an so unterschiedliche Disziplinen wie Physik, Mathematik, Philologie, Philosophie, Rechtswissenschaft, Theologie oder Soziologie, die alle den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erheben, dabei aber je nach Fach, Konzeption und Standpunkt eine Fülle verschiedener Wissenschaftsbegriffe kennen21. Die 17

Dazu HABERMAS, Erkenntnis und Interesse, S. llff.

18

Siehe nur OPPERMANN in: Hdb. StaatsR. Bd. 6, Rz. 20 und 43

19 RUPP, WDStRl. 27 (1969), S. 119, spricht von einer "im Kern rechtsexogenen Seinsgegebenheit"; KÜCHENHOFF, DöV 1964, S. 605, vergleicht Art. 5 Abs. 3 GG mit einer "Blankettnorm", welche die Freiheitsgewährleistung als Rechtsfolge an die Lebenssachverhalte "Wissenschaft", "Forschung" und "Lehre" knüpfe. 20 Dazu eingehend WOHLGENANNT, Was ist Wissenschaft?, S. 33ff.; BUMANN in: Wissenschaftsbegriff, S. 65ff.; DIEMER, Was heißt, S. 22ff. 21

So schon v. HUMBOLDT in: Werke Bd. 1, S. 557 - Für die Soziologen ist W. etwa ein System sozialen Handelns, gekennzeichnet durch Autonomie und Organisation, vgl. LÜH-

122

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

anhaltende Diskussion um die Wissenschaftlichkeit von Geschichts-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, 22 von Jurisprudenz und Theologie23 zeigt, daß von einem gefestigten Selbstverständnis der Wissenschaft nicht die Rede sein kann. Ahnlich uneinheitlich ist das Bild derer, die sich als Wissenschaftler sehen oder so bezeichnet werden: Hochschullehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter in einer Großforschungseinrichtung oder an einem Bundesgericht, Laboranten in einem chemischen Versuchslabor, der Leiter der Forschungsabteilung in einem Industriekonzern oder der Historiker in seiner privaten Studierstube, sie alle haben es mit wissenschaftlicher Forschung zu tun.

2. Unterschiedliche Bedeutungsebenen Dem Begriff "Wissenschaft" lassen sich zudem verschiedene Bedeutungsebenen24 zuordnen: - Als Kulturbegriff bezeichnet "Wissenschaft" das Gesamt des Wissenschaftsbetriebs als Kulturbereich, der sich in spezifischer Weise von anderen Bereichen wie Kunst, Religion, Recht oder derg. abgrenzen läßt. Soziologisch formuliert: Wissenschaft kennzeichnet ein bestimmtes gesellschaftliches Subsystem mit zahlreichen Verflechtungen gesellschaftlicher, ökonomischer, rechtlicher und ethischer Art, welches mit bestimmten eigenen Strukturmerkmalen und Selbststeuerungsmechanismen ausgestattet ist25. - Als operativ-anthropologischer Begriff (Handlungsbegriff) beschreibt "Wissenschaft" spezifische Verhaltensweisen und Tätigkeiten von Menschen,

MANN, Jb. f. Sozialwissenschaft 19 (1968), S. 147; BLANKENAGEL, AöR 105 (1980), S. 53ff.; BÜHL, S. S. 19ff. und 65ff. - Volkswirtschaftlich stellt sich wiss. Forschung dar als Summe aller systematischen und geplanten Maßnahmen, die mit Hilfe wiss. Vorgehensweisen den Erwerb neuer Erkenntnisse über Natur- und Kulturphänomene bzw. die erstmalige und neuartige Umsetzung derartiger Erkenntnisse in die Praxis anstreben, vgl. GRELLERT in: Hdb. WissR. Bd. 2, S. 1237. - Betriebswirtschaftlich ist "Wissenschaft" die planmäßige Tätigkeit eines Unternehmens, die auf Gewinnung neuer technischer Kenntnisse gerichtet ist, sowie die dadurch verursachten Kosten, RAMHORST, S. 2. - Zum ontologischen Begriff wiss. Forschung und Lehre E. WOLF, WissR 3 (1970), S. 194ff., insb. S. 209f; ders. in: Der freie Raum, S. 25ff. 22

THEIMER, S. 107ff.

23

STARCK in: v.Mangoldt / Klein / Starck Bd. 1, Art. 5 Abs. 3, Rz. 223

24

DIEMER in: Wissenschaftsbegriff, S. 15; ders. in: was heißt, S. 20f.; EBERLEIN, Maximierung, S. 64ff.; LÜTHJE in: Denninger, vor § 3 HRG, Rz. 24ff. 25

LUHMANN in: Soziologische Aufklärung, S. 232ff.

Α. Das Definitionsdilemma bei Art. 5 Abs. 3 GG

123

die bestimmte Voraussetzungen aufweisen müssen, um als wissenschaftlich gelten zu können (subjektiver Wissenschaftsbegriff) 26. - Der theoretische Begriff versteht unter "Wissenschaft" ein Gesamt oder System von Sätzen über einen thematischen Bereich mit bestimmtem Charakter und bestimmter Ordnungsstruktur und - allgemein - den Inbegriff systematisch geordneten und geprüften menschlichen Wissens, wie es in der wissenschaftlichen Literatur zur Verfügung steht (objektiver Wissenschaftsbegriff) 27. - Hiervon abzuschichten ist ggf. viertens ein verfassungsrechtlicher Wissenschaftsbegrijf falls "Wissenschaft" als Tatbestandsmerkmal des Art. 5 Abs. 3 GG eigenständig und losgelöst von den drei beschriebenen Bedeutungsebenen zu definieren sein sollte.

III. Die Wissenschaftstheorien Wissenschaft - genauer: die Frage nach dem Wissenschaftscharakter von Sätzen und Systemen, von Vorgehensweisen, Methoden und Motiven - war und ist Gegenstand eingehender philosophischer Betrachtung. Die Philosophie sah früh eine wichtige Aufgabe darin, Grundlagen, Voraussetzungen, Methoden und Ziele der Einzelwissenschaften nach gemeinsamen Kriterien zu durchleuchten, sie zu einheitlichen Systemen zusammenzufassen und verbindliche Kriterien für wissenschaftliche Methodik zu entwickeln29. Disziplinärer Rahmen dieser Fragestellungen war meist die Erkenntnistheorie als allgemeine Theorie vom Erkennen und Wissen, etwa bei der philosophischen Fundierung naturwissenschaftlicher Entdeckungen durch DESCARTES, LEIBNITZ, KANT und andere30. Aus dieser philosophischen Aufgabenstellung entstand als moderne Teildisziplin in den philosophischen Fakultäten die Wissenschaftstheorie 26

DIEMER in: Wissenschaftsbegriff, S. 18ff.; WOHLGENANNT, Was ist Wissenschaft?, S. 57ff. 27 28

SCHISCHKOFF, "Wissenschaft" in: Phil. Wörterbuch; DIEMER, Was heißt, S. 31ff. FREUNDLICH, S. 87

29 Am eingehendsten wohl FICHTE, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, 1794; ders., Grundlage der gesammelten Wissenschaftslehre, 1794/95; ders., Wissenschaftslehre, 1805. 30 31

MEYERS Enzyklopädisches Lexikon Bd. 25, "Wissenschaftstheorie"

Dazu LOSEE, Wissenschaftstheorie, 3 Bände, München 1983/83/85; SEIFFERT, Einführung in die Wissenschaftstheorie, München 1969; KUTSCHERA, Wissenschaftstheorie, München 1979; STEGMÜLLER in: Die Naturwissenschaften 1979, S. 377 ff.; MEYERS Enzyklopädisches Lexikon Bd. 25, "Wissenschaftstheorie".

31

. Sie

124

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

bezieht sich auf Begriffe, Strukturen, Methoden, Voraussetzungen und Ziele, die sämtlichen Wissenschaften oder Gruppen von Wissenschaften gemeinsam sind, vor allem auf das Merkmal der Wissenschaftlichkeit selbst. Von der Wissenschaftstheorie sollte jedoch besser nicht gesprochen werden: Die erkenntniskritisch-wissenschaftstheoretischen Positionen des kritischen Rationalismus, eines empirischen Positivismus, der kritischen Theorie sowie Auffassungen idealistischer oder materialistischer Prägung stellen allesamt für das Prädikat der Wissenschaftlichkeit unterschiedliche Kriterien auf, die sich teils überlappen, teils aber auch gegenseitig ausgrenzen. Eine "flächendeckende" Darstellung sämtlicher in Vergangenheit und Gegenwart vertretener Wissenschaftsauffassungen würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Exemplarisch soll daher nur auf einige der aktuelleren Ansätze vereinfachend und ohne Anspruch auf Vollständigkeit hingewiesen werden32.

1. Der Operationalismus Operationalistische Wissenschaftsauffassungen beruhen auf der pragmatischen Erkenntnis, daß wissenschaftliche Theorien von nichtwissenschaftlichen Interpretationen am besten nach ihrer Methodik, d. h. nach ihren Operationen abzugrenzen sind. Im Anschluß an I. NEWTON 33 lassen die Operationalisten (P. W. BRIDGMAN, 1882-1961) als wissenschaftlich nur solche Begriffe gelten, von denen man weiß, mit Hilfe welcher experimenteller Operationen ihnen Meßwerte zugeordnet werden können. Eine Theorie ist demnach wissenschaftlich, wenn einige ihrer Begriffe mit Meßoperationen verbunden sind. Daneben dürfe sie Begriffe enthalten, die durch "Papierund-Bleistift-Operationen" definiert sind. Nicht wissenschaftlich seien Fragen nach dem wahren Wesen der Dinge, dem absoluten Raum, der absoluten Zeit und dergleichen34. Das Problem operationalistischer Wissenschaftsauffassungen liegt darin, daß sie - von der Physik ausgehend - nahezu den gesamten Bereich der Geisteswissenschaften ausblenden.

32

Vgl. zum Folgenden die in der vorgehenden Fn. angeführten Quellen, insb. LOSEE und STEGMÜLLER, aaO. 33 LOSEE, S. 168 34

LOSEE, S. 169ff.

Α. Das Definitionsdilemma bei Art. 5 Abs. 3 GG

125

2. Logischer Empirismus

Die Vertreter des logischen Empirismus (Wiener Kreis, ca. 1920-1950, R. CARNAP, L. WITTGENSTEIN, A.AYER) bemühten sich - von der Philosophie kommend - um eine Abgrenzung wissenschaftlicher von pseudowissenschaftlichen Aussagen. Es ging ihnen hauptsächlich um die Befreiung der Philosophie von der Metaphysik. Zum maßgebenden Wissenschaftskriterium wurde die logische Verifikationsmöglichkeit erhoben: Wissenschaftliche Aussagen sind danach nur solche, die einen empirisch signifikanten Sinn beinhalten. Das sei der Fall, wenn Bedingungen angegeben werden könnten, unter denen die Aussage richtig werde (Verifizierbarkeit). Metaphysische Aussagen ("Gott", "das Seiende", "die Seele" u. ä.) seien nicht wissenschaftlich und kognitiv sinnlos35. Daraus entwickelte R. CARNAP seine Theorie der Wissenschaftssprache, in welcher er die Wirklichkeit auf syntaktische Relationen und logische Satzgliederungen zurückzuführen versuchte: Wissenschaftlich sind nur jene Aussagen, die sich in einer logisch-empiristischen Sprache36 ausdrücken lassen. Gegen die Spielarten des Empirismus wurde eingewandt, daß nicht einmal ein methodischer Aufbau sog. exakter Wissenschaften, etwa der Physik, ohne a priori begründete Sätze auskomme. Außerhalb der Naturwissenschaften erweise sich der Versuch, eine rein empirische Basis wissenschaftlichen Arbeitens zu konzipieren, als völlig undurchführbar.

3. Der Kritische Rationalismus Dem Empirismus traten K. POPPER und H. ALBERT entgegen: Wissenschaften lassen sich von PseudoWissenschaften nicht nach der Verifizierbarkeit ihrer Aussagen, sondern bloß anhand der verwendeten Methoden abgrenzen. Wissenschaftsgeschichte stelle sich als Abfolge von Vermutungen, Widerlegungen, revidierten Vermutungen, weiteren Widerlegungen usw. dar. Daraus folge, daß wissenschaftliche Theorien hauptsächlich durch ihre Revidierbarkeit ausgezeichnet sind. Sie seien immer nur Annäherungswissen, aber niemals endgültig verifizierbar. Möglich bleibe immer nur ihre empirische Widerlegung; ein einziges Gegenbeispiel mit anerkannter Beobachtungsbasis genüge, ein wissenschaftliches Gesetz umzuwerfen. 35

LOSEE, S. 173 Diese besteht aus Beziehungssätzen, wenn-dann-Aussageformen, Reduktionssätzen, bedingten Definitionen u.ä. 36

126

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

Wissenschaftlichkeitskriterium hat danach die Möglichkeit der strengen Nachprüfung und Falsifizierung von Sätzen und Theorien zu sein: Wissenschaftlich arbeitet nur, wer seine Ergebnisse dauerhaft der Möglichkeit der Falsifikation aussetzt. Oberste Richtlinie im System methodologischer Regeln ist, die verschiedenen Regelungen der wissenschaftlichen Verfahren so einzurichten, daß etwaige Falsifikation der in der Wissenschaft verwendeten Sätze nicht verhindert wird37. In Anwendung des Falsifikationskriteriums grenzt POPPER Metaphysik, Psychoanalyse und Marxismus aus dem wissenschaftlichen Bereich aus. Wer sich zum Marxismus bekenne, obgleich bislang keine seiner Prognosen eingetroffen sei, dokumentiere, daß er einer nichtwissenschaftlichen Weltanschauung huldige.

4. Die Kritische Theorie Die Gegenposition gegenüber den methodologisch-empirisch ausgerichteten Wissenschaftsauffassungen nimmt die Frankfurter Schule (M. HORKHEIMER, T. W. ADORNO, J. HABERMAS) ein. Danach sind die grundlegenden Orientierungen der wissenschaftlichen Theorie-Bildung nicht nur an formalen Einsichten, sondern auch an einer nicht auf Technik reduzierbaren praktischen Vernunft zu messen. Wissenschaft könne nicht verpflichtet werden, auf alle Aussagen zu verzichten, die sich einer Kontrolle durch empirische Verifikations- oder Falsifikationsbefunde entziehen. Die Kritische Theorie anerkennt Objektivität wissenschaftlichen Erkennens nur als kritische Reflexion auf das "erkenntnisleitende Interesse"38. Folgerichtig wendet sich die Frankfurter Schule etwa im Methodenstreit der Sozialwissenschaften gegen das von M. WEBER 39 verfochtene Postulat der Wertfreiheit. Wertfreies Erkennen könne es nicht geben; alles Erkennen sei "werthaftes Erkennen", auch Werterkennen könne Gegenstand von Wissenschaft sein. Die strikte Trennung von Wissenschaft und Politik wird ebenfalls abgelehnt: Weder dürfe Wissenschaft die Politik einem a-wissenschaftlichen Meinungsdenken überlassen, noch sei Politik als Wissenschaft undenkbar40.

37

ALBERT, aaO., S. 43ff.

38

HABERMAS, Erkenntnis und Interesse, S. 143ff. und 172ff.

39

Siehe unten Teil 2. C III. 2. a) Kritisch hierzu EBERLEIN, Maximierung, S. 71

40

Α. Das Definitionsdilemma bei Art. 5 Abs. 3 GG

127

5. Marxistische Wissenschaftstheorie Noch weitergehend integriert eine marxistisch-dogmatische Wissenschaftstheorie 41 von vornherein bestimmte soziologische und methodologische Prämissen in ihr Selbstverständnis. Sie behauptet nicht bloß die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Sichtweise von der jeweiligen politischökonomischen Situation (v. a. Klassensituation), sie fordert vielmehr umgekehrt die Einheit von Theorie und Praxis dahingehend, daß wissenschaftliche Erkenntnis auch gesellschaftlich handlungsleitend sein müsse. Insofern sei die Umwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft als Moment der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft anzusehen und einzusetzen42. Wissenschaft wird danach beurteilt, ob sie als Gegenmodell zur entfremdeten Welt der Gegenwart Sozialismus fördert oder hindert.43

6. Holismus

Als Beispiel einer "alternativen"44 Wissenschaftskonzeption kann der Holismus gelten (J. C. SMUTS, P. DUHEM): Danach sind alle Lebensphänomene aus einem ganzheitlichen "'metabiologischen Prinzip" abzuleiten, wes halb es unmöglich sei, isolierte Hypothesen zum Gegenstand kritischer Überprüfungen zu machen. Der Wissenschaftler müsse vielmehr das ganze System wissenschaftlicher Theorien jederzeit im Auge behalten. Denn bei der Verwendung eines jeden wissenschaftlichen Gesetzes für Voraussage und Prüfungszwecke werde eine Fülle von Hilfshypothesen herangezogen, die nicht weniger hypothetisch seien als das Gesetz selbst. Vom Wissenschaftler müsse daher verlangt werden, daß er das wissenschaftliche System seiner Zeit als Ganzes mit der Erfahrung in Einklang bringe.

41

BLOCH in: Aufbau 1951, S. 593ff.

42

Autorenkollektiv des Instituts für Philosophie der Karl-Marx-Universität Leipzig: Die Wissenschaft von der Wissenschaft, Berlin 1968, S. 105, zitiert nach DENNINGER in: AKGG, Art. 5 Abs. 3 GG, Rz. 19 (Fn. 45). 43 44

HUFEN, Freiheit der Kunst, S. 243 m. w. N. EBERLEIN, Maximierung, S. 63

128

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

7. Resümee Erkenntnistheoretisch ist es unmöglich, auch nur eine dieser Wissenschaftsauffassungen endgültig als wahr zu beweisen oder als falsch zu widerlegen45. Deshalb gehen Wissenschaftler - um praktisch arbeiten zu können explizit, stillschweigend oder gänzlich unreflektiert von verschiedensten erkenntnistheoretischen Prämissen bzw. Wissenschaftsauffassungen aus, die nicht in allen Fällen rational nachvollziehbar sein oder gar einer der Wissenschaftstheorien entsprechen müssen.46 Zur Lösung des verfassungsrechtlichen Definitionsdilemmas bieten die dargestellten oder andere Theorien zunächst keine Hilfe an.

45 BAUER, S. 40; SCHUMACHER, S. 34; FREUNDLICH, S. 92 - BÜHL, S. 20, hält bisherige Begründung und Rezeptionsstand der "scheinbar im archimedischen Punkt lokalisierten Überwissenschaft 'Wissenschaftswissenschaft'" für "deprimierend". 46

THEIMER, S. 7; MEYERS Enzyklopäd. Lexikon Bd. 25, "Wissenschaftstheorie"

Β. Die Eckpfeiler der Schutzbereichsbestimmung

I. Methodik der Grundrechtsinterpretation Der Subsumtion von Lebenssachverhalten unter Art. 5 Abs. 3 GG ist notwendig dessen Auslegung vorgeschaltet, wenn Fragen zu beantworten sind, die sich anhand des Normtextes selbst nicht eindeutig entscheiden lassen. Angesichts der sprachlichen Offenheit dieses Grundrechts ist das der Regelfall. Juristische Auslegung hat sich, will sie - in Abgrenzung etwa zur Rechtspolitik - Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen1, spezifischer hermeneutischer Methoden2 zu bedienen, die für ein rationales Entscheidungsfindungsverfahren Gewähr bieten3.

1. Der Streit der Auslegungstheorien

Nach herkömmlicher Interpretationslehre' 4 geht es - wie bei allen Normen darum, den subjektiven Willen der Verfassungsväter bzw. den objektiven Willen der Grundrechtsnorm5 durch die Untersuchung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischem Zusammenhang sowie Sinn und Zweck der Norm zu ermitteln.

1 Dazu eingehend unten Teil 2. D. III. - Für LARENZ, S. 181f., ist die Auslegungstätigkeit Wissenschaft, weil sie den mehrdeutigen Normtext problematisiert und aufgrund rational nachvollziehbarer Überlegungen nach der zutreffenden Deutung sucht. Auch BVerfGE 35, 263/278f. 2 Hermeneutik ist die Lehre vom wiss. Begreifen geisteswissenschaftlicher Gegenstände, vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, S. 290ff. - Zur H. in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre aaO., S. 307ff. und LARENZ, S. 227f. 3 Zum Rationalitätserfordernis HESSE, Grundzüge, Rz. 51 und LARENZ, S. 181f. und 298ff. 4 Dazu allg. LARENZ, S. 307ff; verfassungsrechtlich DREIER in: Verfassungsinterpretation, S. 25ff.; OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2106; ALEXY, S. 501ff. 5

Zum Streit zwischen objektiver und subjektiver Auslegungstheorie LARENZ, S. 302ff.; DREIER in: Verfassungsinterpretation, S. 24f. und SOELL, ZfA 1981, S. 517ff. und insb. S. 529. - Das BVerfG (E 1, 299/312, seitdem st. Rspr., z.B. E 11, 126/130; 33, 265/294; 35, 263/278) folgt der objektiven Auslegungstheorie.

130

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

Diese Vorgehensweise wird für den Bereich der Verfassung zum Teil kritisiert6: Das Anknüpfen an einen vermeintlichen objektiven oder subjektiven Willen verschleiere die wirkliche Sachlage. In Fällen, in denen das Grundgesetz keine eindeutigen Maßstäbe enthalte, haben bislang weder die Verfassung noch die Verfassungsväter wirklich entschieden, vielmehr nur eine Reihe unvollständiger Anhaltspunkte gegeben. Verfassungsinterpretation sei daher "Konkretisierung" in dem Sinne, daß das, was die Verfassung noch nicht eindeutig beinhalte, unter Einbeziehimg der konkret zu ordnenden Wirklichkeit neu zu bestimmen sei7. Auslegungsmomente sind damit auf die Bedeutung bloßer Gesichtspunkte (topoi) rationaler Entscheidungsbegründung reduziert (topische Methode*). Diese Kritik an der klassischen Interpretationsmethode hat ihre Berechtigung, wie die Auslegungsversuche des Art. 5 Abs. 3 GG gezeigt haben. Doch ist auch die topische Methode Einwänden ausgesetzt. Als geschriebene Verfassung ist das Grundgesetz unmittelbar geltendes Gesetz (Art. 1 Abs. 3 GG). Verfassungsinterpretation hat daher in erster Linie den Regeln der Norminterpretation zu folgen9. Die topische Methode verwischt die Grenzziehung zwischen der in die Zuständigkeit des Gesetzgebers fallenden politischen Gestaltung und der kontrollierenden Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts10. Verfassungsgerichtsbarkeit ist nämlich Rechtsprechung, nicht Verfassungsgesetzgebung11 und unterliegt als solche dem Gebot methodischer Klarheit. Durch ihre Einzelfallbezogenheit wird die topische Methode ferner dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht gerecht12.

6

HESSE, Grundzüge, Rz. 57; BLECKMANN, Staatsrecht II, S. 77ff.; PESTALOZZI Der Staat 2 (1964), S. 433ff.; OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2105f. 7 Dabei soll dem Vor-Verständnis des Interpreten über Strukturen und Funktionen des tatsächlichen Normbereichs essentielle Bedeutung zukommen, PESTALO ZZA, Der Staat 2 (1964), S. 432. 8 Eingehend HESSE, Grundzüge, Rz. 55ff.; PESTALOZZA, Der Staat 2 (1964), S. 425ff.; DREIER in: Verfassungsinterpretation, S. 27ff.; EHMKE, WDStRl. 20 (1963), S. 53ff. - Mit der Gegenüberstellung von klassischer und topischer Methode ist das Arsenal methodischer Ansätze keineswegs erschöpft, vgl. BLECKMANN, Staatsrecht II, S. 59ff. Der Methodenstreit in der Weimarer Staatrechtslehre zwischen gesetzespositivistischen und geistesgeschichtlichen Ansätzen dürfte aber unter der Geltung des GG seine praktische Bedeutung eingebüßt haben, GEIS, JuS 1989, S. 96. 9

SOELL, ZfA 1981, S. 520; DREIER in: Verfassungsinterpretation, S. 13ff.

10

SOELL, aaO., S. 512; FORSTHOFF in: Fs. f. C. Schmitt, S. 35ff. und 51ff.; SCHENKE, NJW 1979, S. 1323f.; FRIESENHAHN in: 50. Dt. Juristentag, S. G.10 und G.13f. 11

So aber C. SCHMITT, Hüter der Verfassung, S. 36ff., insb es. 45

12

SOELL, ZfA 1981, S. 522

Β. Die Eckpfeiler der Schutzbereichsbestimmung

131

So zutreffend diese Argumente sind, ist doch nach wie vor ungeklärt, worin die juristische Methode der Grundrechtsinterpretation richtigerweise besteht und ob sie die ihr zugewiesene Aufgabe erfüllen kann. Diese Frage kann nicht einfach unter Hinweis auf Tradition oder allgemeine Übung beiseite geschoben werden. Wie oben zu Art. 5 Abs. 3 GG gezeigt, führt nämlich die klassische Methode in einem eng verstandenen Sinn gerade bei den Grundrechten oft nicht zu praktikablen Ergebnissen13.

2. Pragmatische Methode der Grundrechtsinterpretation Anzuwenden ist daher eine grundrechtliche Auslegungsmethode, die in der Mitte der beiden Extrempositionen angesiedelt ist. Eine solche pragmatisch ausgerichtete Methode, welcher der Sache nach das Bundesverfassungsgericht14 ebenso folgt wie das überwiegende verfassungsrechtliche Schrifttum, hat folgende Grundzüge: a) Grundsatz: Auszugehen ist stets von den klassischen Methoden der Norminterpretation 15: grammatikalische, genetische, systematische sowie teleologische Auslegung. Hier geht es um die Ermittlung des genauen Sinns eines Grundrechts gleichsam aus sich selbst heraus16. b) Erweiterungen: Wenn und soweit diese Methoden in ihrem eng verstandenen Gepräge klare Aussagen über Inhalt und Reichweite des grundrechtlichen Schutzbereichs nicht liefern können, sind unterstützend weitere Auslegungsgesichtspunkte und Argumentationsfiguren heranzuziehen17, um auf diese Weise den Grundrechtstatbestand sinnvoll umgrenzen zu können. Dem liegt die Einsicht zugrunde, daß eine wirksame Rationalitätskontrolle verfassungsjuristischer Entscheidungen durch eine möglichst vollständige 13 Ebenso OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2105f.: Grundrechte liefern oft nur ein Stichwort um den Schutzbereich zu streifen, "leise Anhaltspunkte", eine "allgemeine Richtung". 14

RICHTER / SCHUPPERT, S. 9; FORSTHOFF in: Fs. f. C. Schmitt, S. 58f.; siehe auch die Nachweise bei SOELL, ZfA 1981, S. 518f. und HESSE, Grundzüge, Rz. 58. - Vgl. ζ. B. BVerfGE 67, 213/226f., wo das BVerfG i. R. d. Art. 5 Abs. 3 GG mehrere Kunstbegriffe nebeneinander verwendet und sich so dem topischen Interpretationsansatz nähert. 15 OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2106; STEIN in: AK-GG, Einl. II, Rz. 53 und 93; aber auch HESSE, Grundzüge, Rz. 68. 16

ROELLECKEs (JZ 1969, S. 726ff.) Versuch, Art. 5 Abs. 3 GG ausschließlich nach den "klassischen Methoden" auszulegen, ist gescheitert, dazu unten. Dennoch kommt ihm das Verdienst zu, eine Rückbesinnung auf ordentliche juristische Argumentation eingeleitet zu haben, nachdem die Diskussion zu Art. 5 Abs. 3 GG in rechtspolitische Auseinandersetzungen abgedriftet war. 17

Ähnlich STEIN in: AK-GG, Einl. II, Rz. 93ff.

132

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

Ausschöpfung aller sich bietenden hermeneutischen Mittel am ehesten gewährleistet ist18. aa) Im Rahmen der Wortinterpretation ist die Analyse des Ausschnitts der Verfassungswirklichkeit sinnvoll und angebracht, den die betreffende Norm schützen soll (Normbereich)19. Die Besonderheiten der konkreten Lebensverhältnisse, auf die die Norm bezogen ist, müssen als Auslegungsgesichtspunkt vor allem dann Berücksichtigung finden, wenn zur Umschreibung des grundrechtlichen Schutzbereichs Begriffe der Alltagssprache verwendet werden und die in Bezug genommenen Lebenssachverhalte nur in geringem Umfang rechtlich vorgeformt, im wesentlichen aber wirklichkeitsgeprägt sind20. Da es sich bei Verfassungsbegriffen darüber hinaus um Rechtsbegriffe handelt, muß eine Korrektur dieses "empirischen Befunds" unter verfassungshistorischen, -systematischen und -teleologischen Gesichtspunkten möglich bleiben21. bb) Bleibt die Genese unergiebig, weil die Verfassungsväter Inhalt und Formulierung der fraglichen Grundrechtsnorm nicht problematisierten, sind ergänzend die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Freiheitsrechts und die Auffassungen zu Vorgängernormierungen auszuwerten. cc) Systematisch kann der Blick auf Rechtsprechung und Lehre zu verwandten Grundrechtsverbürgungen weiterführen. Ferner gehört hierher die Analyse der Verfassungslage in anderen Kulturstaaten der westlichen Welt sowie der Ausgestaltung supranationaler Freiheitsgarantien. Diese rechtsvergleichende Interpretation22 findet ihre Legitimation darin, daß das Grundgesetz in der westlichen Verfassungstradition steht und seine Väter

18

DREIER in: Verfassungsinterpretation, S. 37; STEIN in: AK-GG, Einl. II, Rz. 75 und 100; ALEXY, S. 498f., 501 und 520f.: Wegen der Abstraktheit und Ideologieträchtigkeit der Grundrechtsnormen läßt sich ein Rest an Unsicherheit und Wertungsbedarf nicht vermeiden. Diese Rationalitätslücke hinsichtlich der Argumentationsbasis ist durch Sachbezogenheit und Strukturiertheit des grundrechtlichen Argumentationsprozesses zu kompensieren. 19

HESSE, Grundzüge, Rz. 17f. und 69; RICHTER / SCHUPPERT, S. 10; HUFEN, Freiheit der Kunst, S. 63f.; auch SOELL, ZfA 1981, S. 530, als Verfechter der "klassischen Methode" anerkennt im Falle anfänglicher Anschauungs- und Wertungslücken des Verfassungsge bers die Bedeutung von Kategorien, die soziale Vorgänge und Folgen beschreiben, für die verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung. Insofern zeigt sich, daß die konträren Auffassungen letztlich nicht so weit auseinanderliegen, wie es zunächst schien. 20

Ähnlich HÖFLING, S. 80f. und 93f.

21

SOELL, ZfA 1981, S. 512 und 530: Die "inventio" darf nicht mit der "legitimatio" gleichgesetzt werden. So für die Kunstfreiheit HÖFLING, S. 146. 22

Zur Rechtsvergleichung als 5. Methode der Verfassungsinterpretation HABERLE, JZ 1989, S. 916ff. - Aus der Rspr. des BVerfG: E 12, 45/50f.; 28, 243/258f. (Rückgriff auf die Rechtslage in anderen Ländern), sowie E 27,71/82 (Rückgriff auf die EMRK).

Β. Die Eckpfeiler der Schutzbereichsbestimmung

133

sich für das gemeinsame Grundmodell des demokratischen Verfassungsstaates entschieden haben23. dd) Systematisch und teleologisch bedeutsam sind wertende Folgenerwägungen, die das Bundesverfassungsgericht mit großer Selbstverständlichkeit handhabt24. Es geht um die Abschätzung der Wirkungen diverser Auslegungsalternativen auf beteiligte Interessen und auf Sachgesichtspunkte mittels sozialwissenschaftlicher Prognoseverfahren 25 und um die Bewertung der prognostizierten Folgen anhand verfassungsimmanenter Maßstäbe. Dem Grundgesetz läßt sich eine Reihe solcher Bewertungsmaßstäbe entnehmen, über deren Aussagekraft sich im einzelnen allerdings trefflich streiten läßt: der Geist der Verfassung i. S. v. "Fernwirkungen verfassungsrechtlicher Grundentscheidungen"26, die vom Katalog der Grundrechte repräsentierte Wertordnung27, die Staatszielbestimmungen des Art. 20 GG, das Menschenbild der Verfassung 28 mit der menschlichen Würde als Leitmaßstab (Art. 1 Abs. 1 GG), die grundgesetzliche Kompetenzordnung, der Grundsatz des Übermaßverbotes usw. ee) Ein wichtiger Richtpunkt der Verfassungsinterpretation sind schließlich die Präjudizien des Bundesverfassungsgerichts 79. Dies entspricht Selbsteinschätzung des Gerichts als "maßgebender Interpret und Hüter der Verfassung" 30. Jeder Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich eine auf den entschiedenen Fall bezogene Entscheidungsregel entnehmen, die in gleichgelagerten Fällen regelmäßig wieder angewendet wird. Daraus folgt: Einschlägige Präjudizien des Bundesverfassungsgerichts sind vom Interpreten anzuführen. Will er davon abweichen, so trägt er die Argumentationslast31. c) Bedeutungswandel: Grundrechtsinterpretation in diesem Sinn dient nicht der Ermittlung eines status quo oder der Festschreibung von Verfassungsbegriffen auf historisch überlieferte Vorstellungen. Das Grundgesetz muß vielmehr in der Lage sein, auf gewandelte Wert- und Ordnungsvorstel23

BLECKMANN, Staatsrecht II, S. 72

24

Vgl. DREIER in: Verfassungsinterpretation, S. 34f.; STEIN in: AK-GG, Einl. II, Rz. 69ff. und 99. 25

Diese sind dargestellt bei STEIN, aaO., Rz. 59.

26

SOELL, ZfA 1981, S. 530

27

BVerfGE 7,198/205; 50, 290/337 und OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2106 m.w.N. BVerfGE 4, 7/15f.; 27,1/6; 32,98/107f.

28 29

DREIER in: Verfassungsinterpretation, S. 31; ALEXY, S. 504ff.

30

BVerfGE 40, 88/93

31

Zu den Einzelheiten ALEXY, S.504ff.

134

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

hingen sowie einen Wandel der sozialen und technischen Wirklichkeit (Normbereich, Normsituation32) angemessen zu reagieren. Gerade für die Beantwortung neuartiger Fragestellungen muß es rationale Direktiven liefern, die dem Geist der Verfassimg, dem Wertesystem des Grundgesetzes und der Leitidee der Summe aller Grundrechte entsprechen33. Dies gilt umso mehr für die vage und weit geschnittenen Grundrechte, die nicht zufällig in die Zukunft hinein offen konzipiert sind34. Gerade ihre Interpretation bedarf des Blicks auf die soziale Wirklichkeit, deren aktuelle Gegebenheiten und Erfordernisse 35. Denn mit jeder Änderung der tatsächlichen Lebensverhältnisse ändern sich auch die Gefährdungen grundrechtlicher Freiheit und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung36. "Stiller Verfassungswandel" durch Interpretation ist durch Art. 79 Abs. 1 u. 2 GG nicht ausgeschlossen37, doch darf die Grenze zur Verfassungsänderung nicht überschritten werden. Diese ist durch Wortlaut38 und eindeutig ermittelbare Antrittsintentionen der Verfassungsväter 39 markiert, wenn und soweit der ursprüngliche Zweck nicht unerreichbar, gegenstands- oder sinnlos geworden ist40.

3. Anwendung auf Art. 5 Abs. 3 GG Für Art. 5 Abs. 3 GG bedeutet die Anwendung dieser methodischen Prinzipien eine objektive Auslegung der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre nach ihren tatsächlichen und historischen Bezügen, ihren Normzusammenhängen und ihrem aktuellen Sinn. Einige interpretatorische Richtpunkte zeichnen sich bereits an dieser Stelle ab: 32

SCHENKE, JZ 1989, S. 654; LARENZ, S. 338

33

Siehe auch BVerfGE 2,380/401; 3,407/422; BVerwGE 27, 360/363.

34

So für Art. 5 Abs. 3 GG RÖTTGEN in: Grundrechte II, S. 244. - Allgemein HÖFLING, S. 77ff., insb. 81f. und 186ff.; FRIESENHAHN in: 50. Dt. Juristentag, S. G.2f.; GICK, JuS 1988, S. 585; so ausdrücklich auch Pari. Rat - Schriftlicher Bericht (v. MANGOLDT), S. 5f. 35

BRYDE, Verfassungsentwicklung, S. 275f.

36

RUPP, AöR 101 (1976), S. 162f.; SCHENKE, JZ 1989, S. 654; DOEHRING, Staatsrecht, S. 25; WIENHOLTZ, DöV 1985, S. 137f; ders. in: GG und technologischer Wandel, S. 5 und 9; STEIN in: AK-GG, Einl. II, Rz. 87ff.; HAILBRONNER, Funktionsgrundrecht, S. 31. 37 MAUNZ in: Maunz/ Dürig/ Herzog, Bd. 3, Art. 79, Rz. 20; BRYDE, Verfassungsentwicklung, S. 265f. 38 39

BRYDE, Verfassungsentwicklung, S. 267ff. SOELL, ZfA 1981, S. 529

40

LARENZ, S. 338f., der allerdings für Verfassungsnormen einen engeren Maßstab anlegen will (aaO., S. 341).

Β. Die Eckpfeiler der Schutzbereichsbestimmung

135

a) Wortauslegung: Die Begriffe Wissenschaft, Forschung und Lehre sind ursprünglich keine Rechtsbegriffe. Die Aktivitäten, die sie bezeichnen, gehören der Tatsachenwelt an und würden auch ohne den Schutz durch die Rechtsordnung mehr oder weniger frei existieren. Die Betätigungen, um die es geht, sind weder von den Vätern des Grundgesetzes erfunden, noch vom einfachen Gesetzgeber kreiert, waren diesen vielmehr vorgegeben41. Deshalb fällt im Rahmen der Wortinterpretation dem Blick auf die Verfassungswirklichkeit eine wichtige Rolle zu. b) Historische Auslegung: Antrittsintentionen42 der Verfassungsväter hinsichtlich des Inhalts der in Art. 5 Abs. 3 GG verwendeten Begriffe lassen sich aus dessen Entstehungsgeschichte nicht mit hinreichender Deutlichkeit eruieren43. Ergänzend ist deshalb auf historische Entwicklungslinien in einem umfassenderen Sinn zurückzugreifen. Es liegt nahe, daß bei Schaffung des Art. 5 Abs. 3 GG weitgehend die Vorstellungen zugrundegelegt wurden, die gegen Ende der Weimarer Zeit zu Art. 142 WRV herrschend waren44, hatte doch der Herrenchiemsee-Konvent in Art. 15 Abs. 1 seines Entwurfs dessen Wortlaut zunächst unverändert übernommen. Die späteren Änderungen dieser Formulierung sollten wohl kein Abrücken vom bisherigen Inhalt markieren45. Soweit Regelungen der Länderverfassungen 46 vor den Beratungen des Parlamentarischen Rates beschlossen oder parallel hierzu beraten wurden, bilden auch sie das historische Material, auf dessen Grundlage Art. 5 Abs. 3 GG formuliert wurde47. Aufschluß über Inhalt und Bedeutung des Grundrechts können ferner dessen geistesgeschichtliche Grundlagen48 und der 41

HERZOG in: Fs. f. Zeidler, S. 1416f.; SCHMITT GLAESER, WissR 7 (1974), S. 109; MALLMANN / STRAUCH, S. 4; für die Kunst HÖFLING, S. 128f. und HUFEN, Freiheit der Kunst, S. 155. 42

Vgl. SOELL, Z£A 1981, S. 529

43

Siehe oben Teil 2. Α. 1.3.

44

KLEIN, AöR 90 (1965), S. 137; W. WEBER in: Fs. f. Felgentraeger, S. 225ff., insb. S. 229; HAILBRONNER, Funktionsgrundrecht, S. 51; FREUNDLICH, S. 26 und 40; SCHULZPRIESSNITZ, S. 42; LÜTHJE in: Denninger, vor § 3 HRG, Rz. 12; a. A. nur ROELLECKE, JZ1969, S. 728. 45

Vgl. HAILBRONNER, Funktionsgrundrecht, S. 52, unter Hinweis auf den schriftl. Bericht des Pari. Rates, S. 9ff. - Α. A. lediglich ROELLECKE, JZ 1969, S. 728. 46 Zur Wissenschaftsfreiheit in den Landesverfassungen WAIBEL, S. 34ff.; ROELLECKE, JZ 1969, S. 728 mit Fn. 12; THIEME, Hochschulrecht, Rz. 56f.; HÄBERLE, AöR 110 (1985), S. 334ff.; KLEIN, AöR 90 (1965), S. 143. 47 48

LÜTHJE in: Denninger, vor § 3 HRG, Rz. 12; WAIBEL, S. 34.

Dazu eingehend ZWIRNER, AöR 98 (1973), S. 314ff.; RÖTTGEN in: Grundrechte II, S. S. 291ff.; SMEND, WDStRl. 4 (1928), S. 58ff.; BINDER, WissR 6 (1973), S. 19ff.; LÜTHJE in: Denninger, vor § 3 HRG, Rz. 3ff. und FREUNDLICH, S. 6ff., insb. llff. - Fer-

136

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

Blick auf die historischen Bedingungen geben, aus denen heraus die ersten ausdrücklichen Freiheitsverbürgungen entstanden sind. Diese historischen Anknüpfungen dürfen aber keine "Versteinerung" historisch überlieferter Vorstellungen der Forschungs- und Lehrfreiheit bewirken49. Sie können nur Ausgangs-, nie aber Endpunkt interpretatorischer Bemühungen sein. Im Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlich-sozialen Gegebenheiten sind sie zeitgemäß weiterzuentwickeln30. c) Systematik: Unter systematischen Aspekten ist der gelegentliche Blick auf Rechtsprechung und Lehre zur Garantie der Kunstfreiheit angebracht. Es handelt sich nämlich bei Kunst und Wissenschaft unzweifelhaft um verwandte Sachbereiche mit gewissen strukturellen Gemeinsamkeiten51. Doch dürfen diese Gemeinsamkeiten andererseits nicht dazu führen, spezifische, sich aus den Eigengesetzlichkeiten der jeweiligen Normbereiche ergebende Differenzen zu ignorieren, so daß Aussagen zur Kunstfreiheit nicht ohne weiteres mit Aussagen zur Wissenschaftsfreiheit kompatibel sind52. d) Rechtsprechung: Präjudizien des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 Abs. 3 GG gibt es in großer Zahl53. Hervorzuheben sind drei Grundsatzentscheidungen: das sog. KPD-Urteil 54 zur Abgrenzung von Wissenschaft und Politik, das Hochschulurteil55, worin erstmals die Begriffe "Wissenschaft", "Forschung" und "Lehre" umschrieben und die unterschiedlichen Schutzdimensionen des Art. 5 Abs. 3 GG herausgearbeitet sind, und schließlich die Entscheidung zu § 6 HUG 56 , in der das Bundesverfassungsgericht die zur Kunstfreiheit entwickelte Güterabwägungslehre57 für das Wissenschaftsgrundrecht nutzbar macht. Die übrigen Entscheidungen zu Art. 5 Abs. 3 GG hatten meist die verfassungsrechtliche Stellung diverser Hochschulangehöri-

ner BVerfGE 15, 256/264: Art. 5 Abs. 3 GG schütze dasjenige, "was sich im Lauf der geschichtlichen Entwicklung in den einzelnen Ländern als unerläßlich für eine freie Betätigung der Universitäten in Wissenschaft, Forschung und Lehre herausgebildet hatte." 49

HAILBRONNER, Funktionsgrundrecht, S. 31

50

AaO. S. 32; ZWIRNER, AöR 98 (1973), S. 337; DENNINGER in: AK-GG, Art. 5 Abs. 3, Rz. 21 51 BVerfGE 35, 79/112, wo das BVerfG die Mephisto-Entscheidung (E 30,173/188) zitiert. Welche konkreten Folgerungen sich daraus für die Wissenschaftsfreiheit ergeben, bleibt offen. 52

HAILBRONNER, Funktionsgrundrecht, S. 71; RÖTTGEN in: Grundrechte II, S. 303.

53

BVerfGE 3, 58; 5, 85; 15, 256; 21, 362/373f.; 25, 44/63f.; 29, 318; 35, 79; 39, 247; 43, 242; 47,327; 51,369; 54,363; 55,37; 56,192; 57,70; 61,210; 61,260. 54

BVerfGE 5, 85/145f

55

BVerfGE 35, 79/112ff

56

BVerfGE 47, 327/368ff

57

BVerfGE 30,173/191f

Β. Die Eckpfeiler der Schutzbereichsbestimmung

137

ger und andere universitäre Spezialfragen zum Gegenstand58 und sind deshalb für die vorliegende Untersuchung von geringer Relevanz. Auch die wissenschaftliche Literatur zu Art. 5 Abs. 3 GG kreist hauptsächlich um hochschulspezifische Problemfelder: Überwiegendes Thema war in den 60'er und 70'er Jahren die verfassungsrechtliche Bewertung der staatlichen Hochschulreformen und die wissenschaftliche Aufarbeitung der studentischen Mitbestimmungsforderung. Noch heute ist im Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 3 GG ganz überwiegend von Autonomie und innerer Struktur der Hochschule die Rede. Man scheint vergessen zu haben, daß auch außerhalb der Hochschulen geforscht und gelehrt wird59. Hier dürften mittlerweile sogar die Hauptprobleme des Art. 5 Abs. 3 GG angesiedelt sein.

IL Die Gewährleistungsebenen des Wissenschaftsfreiheitsrechts 1. Vielfalt der grundrechtlichen Gewährleistungsebenen a) Abwehrrechte: Grundrechte sind in erster Linie "Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und dienen dazu, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern."60 Eingriffe des Staates in diese Freiheitssphäre sind unzulässig, es sei denn sie werden durch verfassungsrechtliche Schranken legitimiert. Fehlt die Legitimation, hat der Betroffene einen klagbaren Unterlassungsanspruch (liberal-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie) 61. Die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte erhellt vor dem Hintergrund der geistigen und politischen Strömungen des Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert, als die Grundrechte in der Auseinandersetzung des Bürgertums mit Klerikalismus und Absolutismus zum Kampfbegriff für die Sicherung bürgerlicher Lebensbereiche gegen staatliche und kirchliche Bevormundung wurden. In den Grundrechtsproklamationen jener Zeit sollten die Grundrechte den antiabsolutistischen Lehren des Natur- und Vernunftrechts von der Begrenztheit der Staatsgewalt und den unveräußerlichen Freiheits- und Gleichheitsrechten des Individuums gesetzgeberischen Ausdruck verleihen62. 58

Vgl. die Analysen bei FREUNDLICH, S. 120ff., insb. S. 223ff.

59

Vgl. BULL, WissR 4 (1971), S. 35 und oben Teil 1. C. II. 1. BVerfGE 6, 386/387f.; 7,198/204f.; 50, 290/337

60 61

BÖCKENFÖRDE, NJW 1974, S. 1530f.; GRABITZ, Rechtstheorie 8 (1977), S. 4

62

STARCK, JuS 1981, S. 244 im Anschluß an THOMA.

138

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

Die Väter des Grundgesetzes standen 1948/49 unter dem Eindruck der Korrumpierung der Weimarer Republik durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, so daß auch sie mit der rechtlichen Ausgestaltung der Grundrechte63 in erster Linie die Abwehr staatlicher Übergriffe in die individuelle Freiheitssphäre der Bürger bezweckten64. Mit Art. 1 Abs. 1 GG haben sie der Verfassung die Garantie der Menschenwürde als oberstes Konstitutionsprinzip vorangestellt65. Damit ist klargestellt, daß das Grundgesetz eine auf Bewahrung und Verwirklichung der Menschenwürde gerichtete Ordnung errichten wollte und will. Art. 1 Abs. 1 GG verlangt eine Ordnung, in der der einzelne sich gemäß seiner Eigenart in menschenwürdiger Weise entfalten kann. Daraus folgt der Primat des Individuellen, der in den nachfolgenden Grundrechte seine speziellen Ausprägungen gefunden hat66. b) Objektive Prinzipien: Seither hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß zur Sicherung der Bedingungen menschlicher Freiheit mehr not tut, als den Staat in seine Schranken zu verweisen67. In einer immer komplexer werdenden industriellen Massengesellschaft mit ihrem immer dichteren Geflecht sozialer Beziehungen und mit all ihren ökonomischen und ökologischen Folgelasten entscheidet nicht mehr allein oder auch nur vorrangig die Verhinderung staatlicher Eingriffe in individuelle Freiheitssphären über die Möglichkeit autonomer Lebensgestaltung. Diese hängt vielmehr von organisatorischen, verfahrensmäßigen und auch finanziellen Vorbedingungen ab, über deren Bereitstellung der einzelne nicht in ausreichendem Maße verfügen kann68. Erbringt der Staat zur Beseitigung dieses Mangels Leistungen, schränkt er damit womöglich die Entfaltungschancen der Nichtbedachten zusätzlich ein. Wendet sich der einzelne zur Mangelbeseitigung an Träger wirtschaftlicher oder sozialer Macht, begibt er sich in neue Abhängigkeit69. 63

Mit ihren besonderen Sicherungen in den Art. 1 Abs. 3,19 Abs. 2,79 Abs. 3 und 1 Abs. 1 und 2 GG 64 DOEMMING / FÜSSLEIN / MATZ, JöR n. F. 1 (1951), S. 41ff.; Pari. Rat Schriftlicher Bericht (v. MANGOLDT), S. 5; HESSE, EuGrZ 1978, S. 430; HOFMANN, WDStRl 41 (1983), S. 52f.; BÖCKENFÖRDE, NJW 1974, S. 1573 65

DÜRIG, AöR 81 (1956), S. 119 SCHWACKE, S. 35ff.; DÜRIG in: Maunz / Dürig / Herzog Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rz. 6ff. und 80f.; ders., AöR 81 (1956), S. 119 und 123; KRAWIETZ in: Gs. f. Klein, S. 283 66

67 Dabei kann offen bleiben, ob sich die Realisierungsbedingungen menschlicher Freiheit tatsächlich gewandelt haben, oder ob es nur um eine Verschiebung in der Grundrechts/teorie geht. Vgl. RUPP, AöR 101 (1976), S. 164f.; MARTENS, WDStRl. 30 (1972), S. 13ff. und HÄBERLE, ebd., S. 44ff., insb. 66ff. einerseits und SCHWABE, Grundrechtsdogmatik, S. llf., 247ff. und 252ff.; BLECKMANN, Staatsrecht II, S. 159 und 162 und STARCK, JuS 1981, S. 245 andererseits. 68

HESSE, EuGrZ 1978, S. 430; OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2105; KLEIN in: Fs. f. Weber, S. 646; FRIESENHAHN in: 50. Dt. Juristentag, S. G.16f. 69

BÖCKENFÖRDE in: Freiheit in der sozialen Demokratie, S. 70ff., insb. S. 72

Β. Die Eckpfeiler der Schutzbereichsbestimmung

139

Grundrechtsverwirklichung wird so mehr und mehr zu einem Ressourcen-, Organisations- und Verfahrensproblem 70. In unserer begrenzten Welt mit ihren knappen Gütern und ihren vielfältig divergierenden Interessen verengen sich die individuellen Freiheitsräume: Die Freiheit des einen stößt oft an die Grenzen der Freiheit des anderen. So kommt es, daß menschliche Freiheit heute eher durch die Freiheitsentfaltung nicht-staatlicher Mächte, denn durch die Gewalt des Staates bedroht wird: Industrieanlagen gefährden Gesundheit und Eigentum der Nachbarn, Konzentration der Presse beeinträchtigt die Informationsfreiheit der Bürger, Arbeitgeber mißachten das Gleichstellungsgebot für Frauen, Gewalt und Pornographie in den Medien gefährden die Entwicklung der Jugend. Diese Beispiele machen deutlich, daß die Grundrechte nach Abgrenzung, Zuordnung und Sicherung von Freiheitssphären durch den Staat verlangen, sollen sie nicht zu Privilegien der ohnehin Mächtigen verkommen71. Diesen Bedingungen menschlicher Freiheit in der Massengesellschaft hat das Bundesverfassungsgericht Rechnung getragen, indem es den Grundrechten (auch) die Bedeutung objektiver Prinzipien, d. h. von programmatischen Grundsatznormen für die rechtliche, politische und gesellschaftliche Ordnung unseres Gemeinwesens, zuerkannte72. Das Grundgesetz habe in seinem Grundrechtsabschnitt eine für alle Bereiche des Rechts geltende objektive Wertordnung aufgerichtet, in der eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte liege73. Aus dieser Wertordnung fließt eine Anzahl grundrechtlicher Schutzfunktionen74, die das Bundesverfassungsgericht immer dann aktiviert, wenn die individuell-subjektive Seite des Grundrechts einer Verstärkung oder Ergänzung durch flankierende Anforderungen organisatorischer, verfahrensmäßiger oder teilhaberechtlicher Art bedarf:

70

RUPP, AöR 101 (1976), S 164

71

Ähnlich HESSE, EuGrZ 1978, S. 430; GEIGER in: Fs. f. Zeidler, S. 1409f.

72

Historisch betrachtet ist dies keine eigentlich neue Qualität der Grundrechte; diesen kam schon im Vernunftrecht der Aufklärung und in den klassischen Menschenrechtserklärungen des 18. Jh. auch der Charakter von Ordnungsprinzipien für das soziale und politische Leben zu, vgl. SCHWABE, Grundrechtsdogmatik, S. 223f.; BÖCKENFÖRDE in: Freiheit in der sozialen Demokratie, S. 79f.; für die grundrechtliche Schutzpflicht SOELL, NuR 1985, S. 206 und ISENSEE, Grundrecht auf Sicherheit, S. 3ff. und 12ff. 73 BVerfGE 6, 32/40f.; 7,198/205; 33,303/330f.; 39,1/41; 49,89/141f.; 50,290/337 74 JARRAS, AöR 110 (1985), S. 366ff.; OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2100ff.; GEIGER in: Fs f. Zeidler, S. 1409f.; SCHENKE, JZ 1989, S. 655ff. - Zu den Gefahren der Deduktion konkreter Gehalte aus obj. Prinzipien höchster Abstraktionsstufe ALEXY, S. 479f.

140

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

- Als objektive Prinzipien beeinflussen die Grundrechte die Auslegung und Anwendung der gesamten Rechtsordnung, insbesondere der unbestimmten und generalklauselartig umschriebenen Vorschriften des Privatrechts (Ausstrahlungswirkung, mittelbare Drittwirkung) 15. Der Staat, namentlich der Gesetzgeber, wird durch die objektiven Wertentscheidungen der Grundrechte zu deren wirksamen Schutz gegenüber Verletzungen und Gefährdungen durch Dritte verpflichtet (Schutzpflicht 76). Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Der Schutzpflicht korrespondiert, soweit ein individualisierbarer Grundrechtsträger konkret betroffen ist, ein gerichtlich durchsetzbarer Schutzanspruch77. - Von den Grundrechten empfängt der Staat "Richtlinien und Impulse"78 für die Ausgestaltung und Anwendung der Rechtsordnung, soweit diese die Voraussetzungen für die Effektuierung grundrechtlicher Positionen schafft 79. Grundrechte werden damit einerseits zum Maßstab für die organisatorische Gestaltung staatlicher Einrichtungen, die ihrerseits der Grundrechtsverwirklichung dienen (Universitäten80, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten81). Sie gewinnen andererseits Bedeutung für die grundrechtskonforme Ausgestaltung und Anwendung von Verfahrensrecht82 (Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren

83

- Darüber hinaus können Grundrechte u. U. Förderpflichten materieller Art begründen, wenn an der Verwirklichung einer grundrechtlichen Freiheit ein besonderes "staatserhaltendes" Interesse besteht84 und / oder der ein75

BVerfGE 7,198/207; 18, 85/92; 24, 278/281f.; 35, 202/219.

76

BVerfGE 39, l/42ff.; 46, 160/164; 49, 89/142; 53, 30/57; 56, 54/73 78 und 80; 57, 250/284f.; 77,170/214f. - Die staatliche Schutzpflicht beschränkt sich nicht auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, SOELL, NuR 1985, S. 207. 77 ALEXY, S. 411ff.; MURSWIEK, WuV 1986, S. 199f.; ders., Die Verantwortung des Staates, S. 216f.; KLEIN, NJW 1989, S. 1637; jetzt auch ausdrücklich BVerfGE 77,170/214f. 78

BVerfGE 7,198/205

79

HESSE, EuGrZ 1978, S. 434ff.

80

BVerfGE 35, 79/114ff.

81

BVerfGE 12, 205/261ff.; 31, 314/325ff.

82

Jedem materiellen Grundrecht sind Rechte auf Verfahren zugeordnet, BVerfGE 35, 263/276ff. (Verwaltungsprozeß); 41, 332/334 (Strafprozeß); 42, 64/73 (Zivilprozeß); 53, 30/60 (Verwaltungsverfahren). 83

BETHGE, NJW 1982, S. Iff.; kritisch SCHENKE, JZ 1989, S. 657

84

Die Gründung und der Bestand von Familien ist für das Gemeinwesen existenznotwendig, weswegen der Staat durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht nur zum Schutz, sondern auch zur Förderung der Familie verpflichtet ist, SOELL in: Harzburger Protokoll 1984, S. 22ff., insb es. S. 25.

).

Β. Die Eckpfeiler der Schutzbeichsbestimmung

141

zelne zur Freiheitsverwirklichung in ganz besonderem Maß auf staatliche Unterstützung angewiesen ist85.

- Inwieweit den staatlichen Ausgestaltungs- und Förderpflichten auch positive Ansprüche auf Teilhabe an öffentlichen Einrichtungen und staatlichen Leistungen korrespondieren (Teilhaberechte), ist umstritten86. Einigkeit besteht nur darin, daß aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem je einschlägigen Grundrecht und dem Sozialstaatsprinzip ein Anspruch auf gleichmäßige Beteiligung an bestehenden Leistungssystemen fließt (derivatives Teilhaberecht* 1). Inwieweit Grundrechte auch originäre Teilhabean sprüche begründen können, bedarf hier nicht der Klärung88. c) Einrichtungsgarantien: Eine weitere Dimension grundrechtlichen Schutzes ist mit dem Schlagwort "Grundrechte als Einrichtungsgarantien" (institutionelle Garantien) angesprochen. Unter den institutionellen Garantien der Weimarer Verfassung verstand CARL SCHMITT 89 die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen bestimmter durch gesetzliche Normenkomplexe strukturierter Einrichtungen. Die Gesamtheit aufeinander bezogener, Institionen wie "kommunale Selbstverwaltung", "Hochschulselbstverwaltung", "Berufsbeamtentum" oder Institute90 wie "Eigentum", "Erbrecht" oder "Zivilehe" regelnder Rechtssätze sollten in ihrem traditionellen Kernbestand vor Änderungen durch den Gesetzgeber geschützt sein91. Wo solche Normenkomplexe nicht existierten, war demnach auch kein Platz für eine institutionelle Garantie.

85 Vgl. BVerfGE 35, 79/114 (unabhängige wiss. Forschung); BVerwGE 23, 347ff.; 27, 360/364 (private Ersatzschulen). 86

Dazu OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2104f.

87

MARTENS, WDStRl 30 (1972), S. 21ff.; SCHWABE, Grundrechtsdogmatik, S. 248f.

88

In BVerfGE 33,303/330 (Numerus-Klausus) hat das BVerfG die Frage offengelassen; in E 35, 79/114 (Hochschulurteil) scheint es dieser Möglichkeit für den Bereich der Hochschule zuzuneigen; eingehend zu dieser Frage MARTENS und HÄBERLE in: WDStRl. 30 (1972), S. 7ff. und 44ff.; BLECKMANN, Staatsrecht II, S. 177ff.; JARRAS, AöR 110 (1985), S. 385ff.; OSSENBÜHL, NJW 1976, S. 2104ff.; HESSE, Grundzüge, Rz. 289; SOELL, Aspekte, S. lOff., insbes. S. 15. 89 SCHMITT in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140ff.; ders. in: Hdb. d. Dt. Staatsrechts Bd. 2, S. 595f.; ders., Verfassungslehre, S. 170ff.

90

Zutreffend wird heute zwischen institutionellen Garantien, die sich auf öffentlich-recht. Einrichtungen beziehen, und Institutsgarantien, die Institute des Privatrechts zum Gegenstand haben, unterschieden, vgl. SCHWACKE, S. 31. 91 Zwei Elemente müssen zusammenkommen, damit von einer i. G. die Rede sein kann: erstens ein Komplex von Rechtsnormen; zweitens ein tatsächlich funktionierender Ordnungszusammenhang, vgl. ABEL, Einrichtungsgarantien, S. 46ff.

142

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

Grundrechtliche Freiheiten als solche sind regelmäßig nicht gesetzlich geregelt und solcher Regelung auch nicht zugänglich, können damit keine institutionellen Garantien im Sinne C. SCHMITTS enthalten92. Ausnahmen bilden insoweit nur die Art. 6 Abs. 1,14 Abs. 1,16 Abs. 1 und ggf. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 GG 93 . Seit 1949 wurde das Denken in institutionellen Garantien immer unpräziser und die Entfernung vom ursprünglichen Ansatz immer größer94. Gegenüber der Institution als Gesamtheit rechtlicher Regeln trat allmählich die faktische Gestalt von Einrichtungen in den Vordergrund 95. Teilweise führte dieser Bedeutungswandel zu einer institutionellen Sicht der Grundrechte 96: Als vornehmlich objektive Ordnungsprinzipien garantieren diese dann freiheitlich geordnete faktische Lebensverhältnisse, die sich zum Ganzen der Verfassungswirklichkeit zusammenfügen. Sind die Grundrechte danach fast durchweg einer institutionellen Deutung zugänglich und bedürftig 97, hat dies weitreichende Wirkungen für Grundrechtsauslegung, individuellen Grundrechtsschutz und die Rolle des Gesetzgebers: Dieser hat die Wirklichkeit auf das institutionelle Programm des Grundrechts hin abzutasten, die gefundenen Daten aufzunehmen und in diesem Rahmen mit dem Medium des einfachen Rechts dem einzelnen grundrechtliche Freiheit verfügbar zu machen98. Das Problem der institutionellen Grundrechtsdeutung liegt darin, daß sie die Bedeutung der Grundrechte als individuelle Abwehrrechte99 des einzelnen Bürgers gegen staatliche Eingriffe gewollt oder ungewollt relativiert. Indem sie die individuelle Freiheitsbetätigung an gleich- oder übergeordnete 92

C. SCHMITT in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 210

93

Das BVerfG spricht im Zusammenhang der Art. 14 Abs. 1 (E 24, 367/389 Eigentum) und 5 Abs. 1 S. 2 (E 20,162/175f. Presse) von Institutsgarantien, vermeidet den Begriff aber für die übrigen Grundrechte. Außerhalb der Grundrechte sieht das BVerfG in den Art. 28 Abs. 2 (E 56, 298/312) und 33 Abs. 5 GG (E 61, 149/195; 62, 374/382) institutionelle Garantien. 94 SCHMITT GLAESER, AöR 97 (1972), S. 97f.; BETTERMANN, DVBI. 1963, S. 41f.; BLECKMANN, Staatsrecht II, S. 194ff. 95

Insbesondere bei KLEIN in: v. Mangoldt / Klein Bd. 1, Vorbem. Α. VI. 3., S. 84ff.; kritisch hierzu ABEL, Einrichtungsgarantien, S. 29ff. 96 HÄBERLE, Wesensgehalt, S. 70ff.; RUPP, AöR 101 (1976), S. 172ff.; Zur Pressefreiheit SCHEUNER, WDStRl. 21 (1965), S. 59f. und These 13; LERCHE, Aspekte der "inneren" Pressefreiheit, S. 32f.

97 98

Zu den Voraussetzungen im einzelnen, HABERLE, aaO., S. 122 RUPP, AÖR 101 (1976), S. 174f.

99 Zum vorrangig abwehrrechtlichen Charakter der Grundrechte BVerfGE 7,198/204; 50, 240/336; SCHMITT in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 207f.; HOFMANN in: Gs. f. Küchenhoff, S. 239f. und oben II. 1. a)

Β. Die Eckpfeiler der Schutzbereichsbestimmung

143

soziale und gesellschaftliche Funktionen des jeweiligen Grundrechts bindet, macht sie die Funktionen des Ganzen zur Grenze der Freiheit des einzelnen. Die Freiheit wird auf die Entfaltung des freiheitlich geordneten Lebensbereichs hin orientiert und damit häufig zur Pflicht umfunktioniert. Die individuell-abwehrrechtliche Seite des Grundrechts wird damit schleichend ausgehöhlt100. Durch die starke Betonung der Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers wird die Bedeutung der Grundrechte als verbindlicher Maßstab für alles untergesetzliche Recht (Art. 1 Abs. 3 GG!) verwischt.

2. Die Gewährleistungsebenen in der bisherigen Auslegung der Wissenschaftsfreiheit Die Interpretationsgeschichte zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit101 verlief im Hinblick auf dessen Gewährleistungsebenen ebenso wechselhaft, wie der Schutzgehalt der Grundrechte vielschichtig ist. Mit Art. 142 WRV, auf dem Art. 5 Abs. 3 GG weitgehend beruht, wurde die Wissenschaftsfreiheit 1919 Bestandteil der Weimarer Verfassung. Aus deren Materialien geht hervor, daß ihre Schöpfer das Wissenschaftsgrundrecht in einem umfassenden, alle Bereiche des wissenschaftlichen Lebens umgreifenden Sinn verstanden hatten102. Dennoch blieb die Interpretation des Art. 142 WRV, wie schon seiner "Vorgänger"103, zunächst den positivistischen Anschauungen des 19. Jahrhunderts104 verhaftet: Die h. A. verstand die Wissenschaftsfreiheit als subjektives Recht auf wissenschaftliche Betätigung i. R. d. sog. allgemeinen Gewaltverhältnisses, während man jene Forschung und Lehre, die der Hochschullehrer als Funktionsträger der Universität betrieb105, aus dem grundrechtlichen Schutzbereich ausgrenzte. Weil die Grundrechte außerdem nicht den Gesetzgeber verpflichteten 106, war Art. 142 WRV - wie die meisten anderen Grundrechte - als praktisch überflüssi100

Kritisch auch SCHWABE, Grundrechtsdogmatik, S. 133ff.; HÖFLING, S. 56f.; BLECKMANN, Staatsrecht II, S. 202; SOELL, Aspekte, S. 11. 101 Dazu RUPP, WDStRl. 27 (1968), S. 115ff.; ZWIRNER, AöR 98 (1973), S. 314ff.; FREUNDLICH, S. 16ff.; zu Art. 142 WRV W. SCHMIDT, Freiheit der Wissenschaft, S. 23ff. 102 Nachweise bei ZWIRNER, aaO., S. 328 103

§ 152 der Frankfurter Reichsverfassung ("Paulskirchenverfassung") v. 28.3.1849 und Art. 17 der oktroyierten Preußischen Verfassung v. 5.12.1848. 104 105

Hierzu GEIS, JuS 1989, S. 91ff., insbes. S. 92f.

Er befand sich wegen seiner engen Einbindung in eine staatliche Institution und seines Status als Beamter des Staates in einem sog. besonderen Gewaltverhältnis, in dem die Grundrechte durch den Zweck des Gewaltverhältnisses suspendiert waren. 106 Eine dem Art. 1 Abs. 3 GG entsprechende Regelung kannte die WRV nicht.

144

2. Teil: Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit

ge Wiederholung des allg. Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes zur rechtlichen Bedeutungslosigkeit verdammt107.

Dies änderte sich fast schlagartig mit den Referaten SMENDs und ROTHENBÜCHERs auf der Münchner Staatsrechtslehrertagung von 1927™ Von da an setzte sich die Auffassung durch, die Verbürgung der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre sei auch und gerade als "Garantie einer öffentlichen Institution"109, als Grundrecht der Deutschen Universität 110 zu ver stehen; Kerngedanke des Grundrechts sei die Anerkennung der Eigengesetzlichkeit des wissenschaftlichen Lebens auch und gerade in der Hochschule. Von nun an stellte die verfassungsrechtliche Lehre die objektiv-rechtlichen Aspekte der Wissenschaftsfreiheit in den Vordergrund; der Individualcharakter des Grundrechts wurde der Gewährleistung der Institution untergeordnet und nur noch als deren Ausstrahlung akzeptiert111. Art. 142 WRV wurde vornehmlich als Organisationsnorm gesehen und mit einem traditionalen Element versehen: Garantiert sei die Erhaltung der Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft durch "Sicherung derjenigen Organisationsformen, die jenes eigengesetzliche Leben umgrenzen und zur Entfaltung bringen ..."112 Damit war die akademische Selbstverwaltung in ihrer überkommenen Form unter Verfassungsschutz gestellt113. Nach 1949 wurde die institutionelle Seite der Wissenschaftsfreiheit an Art. 5 Abs. 3 GG alsbald wiederentdeckt und im Sinne SMENDs und SCHMITTS ausgedeutet. Vor allem RÖTTGEN 114 ging davon aus, nicht das wissenschaftlich interessierte Individuum und seine Freiheit, sondern die Autonomie des Sachgebiets Wissenschaft sei Gegenstand der Garantie des Grundrechts; folgerichtig zählte er Art. 5 Abs. 3 GG zu den institutionellen Garantien. Daneben wurde meist auch die individualrechtliche Seite des Art. 5 Abs. 3 GG anerkannt, der Norm mithin eine doppelte Natur zugespro107

Vgl. ANSCHÜTZ, Verfassung des Dt. Reiches, Art. 142, bis zur 8. Aufl., zit. nach dems., Verfassung des Dt. Reiches, 14. Aufl., Art. 142, Anm. 1. 108 WDStRl. 4 (1927), S. 6ff. und 44ff., insb. 56ff. im Anschluß an PAULSEN. 109

SMEND, aaO., S. 64,73

110

SMEND, aaO., S. 57,73; HOLSTEIN in: Das akademische Deutschland, S. 132ff.

111 Ζ. Β. SCHMITT in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 149; KITZINGER in: Nipperdey Bd. 2, S. 457f. - Daneben wurde aber auch der individuelle Schutz des nichtuniversitären Privatgelehrten anerkannt, SMEND, WDStRl 4 (1927), S. 57f. und 66; ROTHENBÜCHER, ebd., S. 37.

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