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German Pages 326 Year 2022
Antje Schneider Naturdiplomatie
Kultur und soziale Praxis
Antje Schneider (Dr. habil.), geb. 1979, lehrt Geographie und Geographiedidaktik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsinteressen richten sich auf Fragen zur Vermittlungstheorie und -praxis im Umfeld komplexer sozial-ökologischer Krisen sowie zur Nachhaltigkeitskommunikation in entwicklungspolitischen und interkulturellen Kontexten. Zudem ist sie als systemische Beraterin in eigener Praxis tätig.
Antje Schneider
Naturdiplomatie Sozial-ökologischer Krisenkomplex und entwicklungspolitische Intervention in Haiti
Mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung
Diese Publikation ist zugleich Habilitationsschrift der Autorin (Friedrich-SchillerUniversität Jena 2021).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Umschlagabbildung: Antje Schneider Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6269-6 PDF-ISBN 978-3-8394-6269-0 https://doi.org/10.14361/9783839462690 Buchreihen-ISSN: 2703-0024 Buchreihen-eISSN: 2703-0032 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Vorbemerkung ..................................................................... 7 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Naturbeziehungen und Diplomatie – Worum es geht .......................... 9 Grundzüge der Feldarbeit in Haiti .............................................. 10 Spuren der Destruktivität als Forschungsanlass ................................ 14 Die diplomatische Beziehung als Feldzugang ................................... 18 Zivilisierung als Weg zum Verstehen........................................... 26 Forschungsanliegen und Aufbau der Arbeit .................................... 31
I Naturdiplomatie als Forschung I
Methodologischer Rahmen .................................................... 41
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Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«.................................................. 57 Zwei Einwände und Gründe dagegen .......................................... 59 Natur und Beziehung – Befreite Kategorien .................................... 74 Zum Anspruch auf eine »Natur der Fülle« – Eine Leitthese .................... 83 Gute Quellen des Gelingens .................................................... 91 2.4.1 Einfachheit ............................................................. 91 2.4.2 Verbundenheit ......................................................... 101 Destruktivität im Spiegel des Gelingens ....................................... 121
2.1 2.2 2.3 2.4
2.5 3
Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen ...................................... 129 3.1 Zur Untersuchung zuwider- und gegenläufiger Positionen .................... 132 3.2 »Gib auf, was du kannst, weil du zerstörst!« – Aufrufe zur Kapitulation ....... 139
3.3 »Sei ein Opfer der Armut, dass man dir hilft!« – Aufrufe zur Zerstörung ...................................................... 3.4 »Du trägst schwere Schuld!« – Aufrufe zur Resignation....................... 3.5 »Für dich gibt es hier keinen Platz mehr!« – Aufrufe zum Gehen .............. 3.6 Subjektivierung durch Tabuisierung .......................................... 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
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Zivilisierte Annäherungen an den Konflikt – Über einen guten Grund zu zerstören ....................................... 207 Vorbemerkung zur Interpretation ............................................ 209 Streifzüge gegen die Bäume ................................................. 213 Die Axt an der Wasserleitung ................................................ 218 Protest gegen die Mango..................................................... 222 Indifferenz – Der gute Grund zu zerstören .................................... 227
II Naturdiplomatie als Intervention II
Methodologischer Rahmen .................................................. 239
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz ............................. 245 5.1 »Die Geister verlassen das Land« – Ein Interventionsanlass................... 247 5.2 Prinzipien von Beziehungskultur ............................................. 265 5.2.1 Das Prinzip Sachlichkeit .............................................. 267 5.2.2 Das Prinzip Unterschiedsbildung ...................................... 273 5.2.3 Das Prinzip Enttabuisierung........................................... 282 5.3 Beziehungskultur und ihr Potential zur Veränderung .......................... 286 6
Naturdiplomatie – Schlussbemerkung ...................................... 295
7 Literatur .................................................................... 299 Internetquellen ................................................................... 315 8
Anhang ..................................................................... 319
Vorbemerkung
Die vorliegende Arbeit stellt die Befunde einer interkulturellen Studie im Themenfeld gesellschaftlicher Naturbeziehungen vor. Die Studie wurde im Rahmen von Feldforschungen in Haiti durchgeführt. Das Thema Naturbeziehungen wird im Kontext von theoretisch-konzeptionellen wie auch praxisbezogenen Fragen zur Vermittlung und Beratung im Rahmen entwicklungspolitischer/humanitärer Intervention und Hilfe betrachtet, insofern diese sozialökologische Krisen adressieren. Der fachliche Ort dieser Arbeit ist folglich ein interdisziplinärer. Es geht im Kern um eine dreifache Perspektivierung, d.h. um die Verschneidung einer grundständig kulturanthropologischen Perspektivierung des Gegenstands Naturbeziehungen mit einem integrativ-geographischen Zugang, bei dem hybride und komplexe Problemfelder avisiert werden, die sich weder rein sozial- noch naturwissenschaftlich verrechnen lassen, sowie mit einer vermittlungstheoretischen Fokussierung, wenn danach gefragt wird, wie sich eine Verständigung über Naturgegenstände und -beziehungen in der interkulturellen Begegnung organisieren lässt. Das Forschungsprojekt mit dem Ziel der Habilitation wurde finanziert durch ein Stipendium für Postdoktorandinnen durch die Graduiertenakademie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Durch das Stipendium wurde es mir möglich, das Forschungsvorhaben überhaupt und dazu eigenständig, befreit und fokussiert durchzuführen. Für mich bot sich diesbezüglich eine einmalige Chance, um meine interdisziplinären Forschungsinteressen und -tätigkeiten im Rahmen einer Qualifikation weiterzuverfolgen. Weitere finanzielle Zuwendungen, durch die einer der Feldaufenthalte und die Veröffentlichung der Befunde gesichert werden konnten, bestanden in einer umfassenden Reisebeihilfe sowie einem Druckkostenzuschuss durch die FritzThyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung. Auch diese Unterstützungen waren zentral für die Bewältigung des Vorhabens.
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Die wichtigste Tür für dieses Projekt öffnete sich jedoch durch die Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Jürgen Bolten im Arbeitsbereich Interkulturelle Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Bolten hat das Projekt von Anbeginn und kontinuierlich mit großem Zuspruch begleitet und um viele wertvolle fachliche Anregungen bereichert. Für die Möglichkeit einer institutionellen und fachlichen Anbindung sowie für die sehr guten Gespräche bedanke ich mich herzlich. Ein herzliches Merci gilt ebenso Prof. Dr. Tilman Rhode-Jüchtern, Geograph und Geographiedidaktiker (FSU Jena), der sämtliche meiner bisherigen Forschungsvorhaben begleitet und unterstützt hat und mir auch in dieser Sache mit klugem Rat, fachlicher Expertise und vor allem Ausdauer zur Seite stand. Besonders erfreut bin ich darüber, dass dieses Projekt auch durch Prof. Dr. Friedemann Schmoll (FSU Jena) unterstützt und damit um eine empirisch-kulturwissenschaftliche Expertise im Fokus auf Naturbeziehungen bereichert wurde. Bei Janine Plew und Juliane Amler bedanke ich mich herzlich für die umsichtige und geduldige Bearbeitung des Manuskripts.
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Naturbeziehungen und Diplomatie – Worum es geht
In der vorliegenden Studie geht es in erster Linie um Naturbeziehungen, genauer: um die gesellschaftliche Vermitteltheit von Naturgegenständen und dies in Situationen, die sich durch schwere Formen natur- und sozialräumlicher Zerstörung zum Ausdruck bringen. Die Studie hat ihren empirischen Ort in Haiti. Hierzu werden konkrete Phänomene der Destruktivität aufgegriffen und als Resultate gestörter Vermittlungen zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen interpretiert. Aufgezeigt wird insbesondere, dass ein solches Misslingen von Naturbeziehungen im Rahmen von entwicklungspolitischer/humanitärer Intervention und Hilfe oft folgerichtig ist. Folgerichtig ist dies dann, wenn die Maßnahmen nicht sensibel sind für die vorfindlichen Modi von Naturbeziehungen, d.h. wenn nicht (an-)erkannt ist, dass es Unterschiede gibt und geben muss, womit, wie und wozu Menschen in Beziehung treten, wenn sie Naturbeziehungen unterhalten. Es geht dann in zweiter Linie um das Potential eines Verfahrens der Beobachtung und Intervention, hierzu konkret um eine Form diplomatisch orientierter Vermittlung, die geeignet ist, solche Konflikte aufzuschließen und bearbeitbar zu machen, die im Kern die Sprache ge-/zerstörter Naturbeziehungen sprechen. Die Studie ist einerseits von der These geleitet, dass sich durch die Annäherung an die im Untersuchungsgebiet vorfindlichen Naturbeziehungen, ihrer Modi und Störungen ein bisher wenig beachteter Schlüssel zum Verstehen destruktiver Phänomene verbirgt, die gemeinhin auf ein Gemisch aus sozialer und ökologischer Krise zurückgeführt werden. Und andererseits wird die These verfolgt, dass die gezielte Auseinandersetzung mit und die Arbeit an diesen Beziehungsweisen zur Natur Zugänge und Wege bereithält, um zu Lösungen, zu guten und friedvolleren Lebensumständen (zurück) zu finden. Kurzum, es geht um die Analyse von und die Arbeit an Naturbeziehungen als Mittel, um Konflikt und Zerstörung in einem tieferen, letztlich ontologischen
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Sinn zu (be-)greifen und auf ein Gelingen zu orientieren. Naturbeziehungen und Diplomatie – Naturdiplomatie – im Fall eines Konfliktfeldes in Haiti sind somit der Gegenstand dieser Arbeit.1
1.1
Grundzüge der Feldarbeit in Haiti
Diese Arbeit hat ihren Ort in Haiti. Haiti ist ohne Frage ein Krisengebiet, wenn nicht sogar ein »Kriegsgebiet«, in dem sich eine Dringlichkeit für Veränderungen abzeichnet, die ihresgleichen sucht. Wenn von einem Krisengebiet die Rede ist, dann wird damit auf den andauernden gesamtgesellschaftlichen Ausnahmezustand verwiesen, der in einer Kombination von ökologischer Zerstörung, ökonomischem Kollaps, politischen Instabilitäten und Umwälzungen, katastrophalen Naturereignissen und humanitären Desastern in Erscheinung tritt.2 Wenn in diesem Zusammenhang sogar die Bezeichnung »Krieg« bemüht wird, dann deshalb, um zu betonen, dass sich in diesen Krisen nicht zwangsläufig Formen »direkter Gewalt« als vielmehr »struktureller Gewalt« (Galtung 1969)3 offenbaren, deren beobachtbare alltägliche Auswirkungen, wie z.B. Unsicherheit, Existenzangst, Verzweiflung, Tod, Hunger,
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Das in dieser Arbeit gewählte generische Maskulinum bezieht sich immer zugleich auf weibliche, männliche und diverse Personen. Auf eine Mehrfachbezeichnung wird in der Regel zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet. Zum Überblick über die aktuelle politische und soziale Situation in Haiti vgl. »Human Rights Watch World Report 2021« (https://www.hrw.org/world-report/2021/country-ch apters/haiti), Bericht zur politischen und ökonomischen Situation der »Federation of American Scientists« (Federation of American Scientists 2020), soziale Analyse des Landes der »World Bank« (https://www.worldbank.org/en/country/haiti/overview); zur ausführlichen Darstellung vgl. Fatton (2014). Die Bezeichnung »strukturelle Gewalt« geht auf die von Galtung begründete Friedensforschung zurück und wurde erstmalig 1969 ausgeführt (Galtung 1969). Die Bezeichnung referiert auf soziale Strukturen, welche den Individuen verwehren, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und dies gerade dann, wenn ein Defizit in der Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse von der Sache her vermeidbar wäre. Die Bezeichnung legt ihren Fokus auf die tieferliegenden gesellschaftlichen Strukturen von Gewalt, bei der im Gegensatz zu personaler oder direkter Gewalt ein sichtbarer Akteur fehlt (Galtung 1969, Galtung 2004, Galtung & Fischer 2013). Gemeint ist eine »Struktur, die selbst gewaltsam ist, indem sie zu repressiv, ausbeuterisch oder entfremdend oder aber auch zu eng oder zu lose für die Menschen ist« (Galtung 2004:o.S.).
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Flucht, Kriminalität, Versorgungsinstabilität oder Gesetzlosigkeit jenen einer Gesellschaft im Kriegszustand gleichen.4 An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich vor nunmehr zehn Jahren begonnen habe, mich in Haiti zu engagieren. Der erste Kontakt mit dem Krisengebiet in Haiti entstand im Zuge einer klassischen Hilfsaktion, ausgelöst durch das schwere Erdbeben 2010. Durch persönliche Beziehungen war ich damals selbst betroffen von der Tragik einer humanitären und sozialen Katastrophe infolge dieses Naturereignisses und das eigene individuelle Engagement nur folgerichtig. In dieser Zeit entstanden ist ein Netzwerk aus freiwillig Engagierten in den USA, Frankreich, Deutschland und allen voran in Haiti, ein interdisziplinäres und informelles Netzwerk, das bis heute trägt. Von da an habe ich begonnen, mich immer wieder in die Verhältnisse »einzumischen«; dies als Geographin und Beraterin5 und ausschließlich im Umfeld von Aufgaben, die auf die Bearbeitung sozial-ökologischer Krisen im konkreten Fall ausgerichtet sind.6 Diese Tätigkeiten haben sich später konkretisiert in Projektvorhaben, die sich mit Kollektivierungen (»community capacity building«) als Mittel zur Abwehr und Bearbeitung von solchen Krisen beschäftigten, die sich durch Wasserknappheit, Abholzung, Bodendegradation, Überfischung, Naturrisiken durch Massenbewegungen sowie den zerstörerischen Auswirkungen großer Naturereignisse wie z.B. von Hurrikan »Matthew« im Jahr
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Zur »strukturellen Gewalt« und Haitis Dauerkrise als alltägliche Erfahrungsdimension vgl.Beckett (2019). Es geht um Beratung in einer doppelten Perspektivierung von systemischer Beratung sowie von phänomenologisch und/oder hermeneutisch fundierten Beratungs-/ Dialogformen, wie sie insbesondere in der Geographie/-didaktik entwickelt wurden und werden; zu den Grundlagen systemischen Arbeitens vgl. Barthelmess (2016), von Schlippe & Schweitzer (2016), von Schlippe & Schweitzer (2010); zu den phänomenologisch und/oder hermeneutischen Perspektiven in der geographischen Vermittlung vgl. Dickel (2018), Dickel (2014), Dickel & Schneider (2014), Dickel & Schneider (2013). In dieser Arbeit wird die Bezeichnung sozial-ökologische Krise pragmatisch verwendet, um Situationen zu adressieren, in denen sich ökologische Probleme mit sozialen Problemen verschneiden und die über die Analyse und Beschreibung der mit diesen Problemen verbundenen Mensch-Umwelt-Beziehungen, im Folgenden: Naturbeziehungen, dem Verstehen zugänglich werden. Mit der Bezeichnung ist eine Nähe zu den hybriden Forschungsgegenständen einer Gesellschaft-Umwelt-Forschung im Bereich der Integrativen Geographien und Humanökologie angezeigt (Weichhart 2007, Weichhart 2003, Zierhofer 2007, Zierhofer 1999).
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2016 zum Ausdruck bringen.7 Grundsätzlich ging es bei all diesen Projekten um Probleme, bei denen letztlich sogenannte »material limits« (De Castro 2019:o.S.) die vorfindlichen subsistenzgeprägten Lebens- und Wirtschaftsweisen auf das Empfindlichste herausfordern, wenn nicht sogar zum Scheitern bringen.8 Unterstützt und begleitet habe ich diese Vorhaben über lange Zeit aus der »zweiten Reihe«, indem ich gemeinsam mit den Initiatoren, d.h. meist mit lokalen »community organizers«, Ökologen, Agronomen, Agrarökonomen, Geologen und (lokal-)politisch Engagierten, an den konzeptionellen und praktischen Grundlagen dieser Aufgaben gearbeitet habe. Später bin ich selbst ins Feld, habe die Situationen und Tätigkeiten vor Ort beobachtet und studiert, mich aber ab diesem Zeitpunkt stärker einer Idee von Naturdiplomatie zugewendet. Mit dieser Hinwendung zu einer Naturdiplomatie gemeint ist erstens ein Wechsel der Beobachtungs-/Beratungsrichtung weg von der Idee, über Gemeinschaftsbildung zu Problemen und Lösungen vorzudringen, sondern konsequent hin zu den Problemen selbst, womit in subsistenznahen Lebensweisen unweigerlich die Frage nach den vorfindlichen Naturbeziehungen berührt ist. Notwendig wurde dies, weil die verhandelten Probleme meist zu vielfältig, zu einseitig diskutiert, zu wenig naturorientiert, zu komplex und zu konfliktbeladen erschienen und mir in der eigenen Begrifflichkeit oft nicht zugänglich waren.9 Die Hinwendung 7
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Gemeint ist die Förderung der Bildung von lokalen Gemeinschaften, die sich aktiv für ihre eigenen Belange einsetzen, d.h. Probleme bestimmen, dazu Ressourcen und Lösungen aus der Gemeinschaft heraus aktivieren und als Kollektiv in politischen Entscheidungssituationen handlungs- und sprechfähig werden; zu »community capacity building« im Kontext sozial-ökologischer Fragen vgl. Adebowale & Bhullar (2009), Noya & Clarence (2009); zu entsprechenden Projekten im speziellen Fall von Haiti vgl. Vansteenkiste (2018). Mit der Bezeichnung »material limits« wird ein Moment von Unwiderruflichkeit in sozial-ökologischen Problemen betont. Damit ist eine neue Erfahrungsdimension angesprochen, die sich nicht nur im Kleinen lokaler Krisen vermittelt, sondern überdies in die globalen ökologischen Krisen der Gegenwart eingeschrieben ist. De Castro konstatiert: »All thinkers, since the nineteenth century, […], have the belief that the human species, through technology, is able to overcome any obstacle. […] That doesn’t sound like the truth anymore. The planet, the so-called natural resources are finite; there are material limits inherent to each social mode of material life production« (de Castro 2019:o.S.). In der hier angelegten Perspektive von Vermittlung wird eine starke Sachorientierung verfolgt, bei der das erst zu bestimmende Problem, d.h. Problemfindung und -kon-
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zur Naturdiplomatie bedeutete zweitens eine Feinjustierung der Form von Vermittlung bzw. Beratung. Mit dem Rekurs auf Diplomatie ist einerseits das taktvolle und strategische Kommunizieren bei der Anbahnung von stabilen Beziehungen in hochangespannten, mitunter existentiell bedrohlichen Krisen- bzw. Konfliktsituationen angesprochen. Andererseits, und dies ist die eigentliche Bewegung, bedeutet Diplomatie, in den Begegnungen eine stärker (selbst-)reflexive und hierüber positionierte Haltung zu beziehen, d.h. im Feld Standpunkte zu entwickeln, darin sichtbar zu werden und in Verbindung zu treten. Ausschlaggebend für diesen Rekurs auf ein diplomatisches Moment in der Vermittlung war weniger die Tatsache, es mit schweren Konflikten zu tun zu haben als vielmehr, dass nicht auszuschließen war, als Interventionsfigur selbst eine der Konfliktparteien zu repräsentieren.10 Wenn also von Diplomatie die Rede ist und weniger von Vermittlung und Beratung, wird in allererster Linie auf diesen Aspekt einer auf die mögliche eigene Involviertheit rückbezüglichen und taktvollen Positionierung verwiesen. Gearbeitet wurde fallbezogen und situativ vorzugsweise in den ruralen und agrarwirtschaftlich geprägten Peripherien (z.B. in den Bergregionen um Petit-Gôave und um Côtes-de-Fer im Süden, in den Regionen um Hinche in Zentralhaiti) sowie in küstennahen Gemeinden (z.B. in den Regionen um Grand-Gôave im Süden und um Acul-du-Nord). Die Projektarbeiten dauern bis heute an und organisieren sich grundständig in einer fortlaufenden Kommunikation aus der Ferne und Aufenthalten vor Ort. Für diese Forschungsarbeit relevant sind zwei Feldaufenthalte im Februar/März 2018 und Juli/August 2019. Empirische Grundlage dieser Arbeit bilden acht Fallstudien, die bisher zum Gegenstand einer Naturdiplomatie durchgeführt wurden.11 Zu betonen ist
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struktion im Vordergrund stehen (Rhode-Jüchtern & Schneider 2012:59-84, Schneider 2013a:107-124, Schneider 2013b). Damit wird im Gegensatz zur Vermittlung oder Beratung anerkannt, parteiisch zu sein: »Im Unterschied zu den Vermittlern, die sich immer auf eine überlegene und unparteiische Position stützen können, gehört der Diplomat immer einer der Konfliktparteien an« (Latour 2015:266). In systemisch orientierten Vermittlungs-/Beratungssituationen wird zwar ein Eingebundensein in das zu verhandelnde Problem betont, dass man als Berater ein Mitspieler im Prozess von Problemfindung, -bestimmung und -lösung ist. Man gehört aber nicht dem Konfliktfeld an, für das in der Beratung Lösungen gesucht werden (Barthelmess 2016:25-26, Barthelmess 2016:118-125). Zur Übersicht der Fallstudien siehe Anhang; insgesamt durchgeführt wurden neun Fallstudien, wovon letztere nicht beendet werden konnte.
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an dieser Stelle, dass die gesamte Arbeit in Haiti frei und eigenständig organisiert wurde und wird, d.h. dass weder Mandate durch politische oder Nichtregierungsorganisationen o.ä. und auch sonst keine institutionellen Einbindungen, privatwirtschaftliche Interessen oder finanziellen Vergütungen existieren. Es wird sich zeigen, dass hierin eine besondere funktionale Randbedingung liegt, die von etwaigen förderungsbedingten oder entwicklungspolitischen Legitimationen befreit ist und dadurch anders funktioniert.
1.2
Spuren der Destruktivität als Forschungsanlass
Der Ursprung meines Engagements in Haiti selbst, insbesondere die ersten Versuche über sozial-ökologische Krisen naturdiplomatisch orientiert in den Austausch zu treten, war zunächst eher von einem praktischen als einem wissenschaftlichen Interesse getragen. Für dieses praktische Ansinnen habe ich mich einer Diplomatie als Mittel zur Konfliktvermeidung und -bearbeitung zugewendet. Es waren schließlich die Ansprüche und Herausforderungen des Feldes, insbesondere die Schwierigkeiten beim Feldzugang sowie bei der Identifikation und Diagnose von konkreten Problemlagen, die nunmehr stärker eine wissenschaftliche Aufgabe hervorbrachten. Für dieses wissenschaftliche Ansinnen habe ich begonnen, Diplomatie zugleich auch als Mittel zur Forschung, d.h. als Verfahren der Erkenntnisgewinnung aufzufassen und entsprechend auszugestalten. In dieser wissenschaftlichen Bedeutung avanciert Diplomatie zu einer Untersuchungsmethode, genau genommen: zu einem explorativ-experimentellen Verfahren, das Zugänge in ein schwer zugängliches und schwieriges Feld ermöglicht und dazu einiges an neuen Erkenntnissen bereithält. Diplomatie zur Konfliktvermeidung und -bearbeitung war zunächst die ideelle Maßgabe, aber praktisch in einem schwierigen Feld immer auch ein schwieriges Unterfangen. Es gab also Schwierigkeiten, solche, mit denen zu rechnen war und weiterhin ist, und solche in der Art einer neuen Qualität. Diese neue Qualität bestand im Nichtverstehen von Naturbezügen, die sich mir erst in den beobachteten Krisensituationen vermittelten. Bis dato neu erschien eine Beziehungsweise zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen, die sich durch eine besondere Form von Destruktivität zum Ausdruck bringt. Wiederkehrend und hartnäckig in Erscheinung getreten ist eine Destruktivität, die schwer wiegt und die »barbarisch« anmutet, eine Bezeichnung, die ich der Beschreibung der »barbarischen Kollektive« bei Latour ent-
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lehnt habe (Latour 2015:263). Es geht hierbei um Ereignisse, die Perplexität und Ratlosigkeit hervorriefen, die sich im herkömmlichen und meinem eigenen Deutungsrepertoire bei der Auseinandersetzung mit sozial-ökologischen Krisensituationen nicht unterbringen ließen.12 Wenn von Perplexität im Zuge einer besonderen Form der Destruktivität die Rede ist, dann ist damit eine aktive und gewaltsame Zerstörung erdnaturbezogener Dinge gemeint. Dies ist gleichbedeutend mit aktiven und gewaltsamen Angriffen auf die Grundlagen der eigenen Existenz, wobei es sich in der Folge um Akte der Selbstzerstörung handelt. Es geht um eine Form von Destruktivität, bei der das zerstört wird, was von der Sache her als gut, richtig, dem Gelingen zuträglich und existentiell notwendig erachtet wird.13 Fünf Fälle: Boden, Wasser, Holz als Ware, Fischerei, heilige Bäume: a) Ein Farmer in Masia, einer Berggemeinde im Süden Haitis, bewirtschaftet ein kleines Stück Land, um Erdnüsse anzubauen. Auf seiner Parzelle 12
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Gemeint sind insbesondere Konzepte zur sozialen und ökologischen Vulnerabilität, mit denen sich Phänomene natur-/sozialräumlicher Zerstörung als Resultat einer strukturell verursachten Verwundbarkeit interpretieren lassen. Verwundbar sind Menschen und soziale Kollektive dann, wenn der Zugang zu existentiell notwendigen Ressourcen wie Nahrung, Wasser, Einkommen usw. gefährdet oder nicht gegeben ist und/oder sie besonderen Naturgefahren ausgesetzt sind. Der forschende Blick richtet sich dann in Abhängigkeit der jeweiligen sozialtheoretischen Fundierung darauf, wie im Vollzug sozialer Praktiken und Kommunikation oder durch die Dynamiken vernetzter, komplexer und reziproker Sozial- und Naturbeziehungen Vulnerabilität erzeugt wird und wie dieser begegnet werden kann; zur (begriffs-)theoretischen Grundlegung von Vulnerabilität vgl. Blaikie et al. (2014:11-29), Bohle (2007:805-815), Bürkner (2010), Prowse (2003); zur Hazardforschung unter dem Aspekt von Vulnerabilität vgl. Birkmann (2006), Blaikie et al. (2014:125-318), Felgentreff & Glade (2007); zur Vulnerabilität im ländlichen Haiti vgl. Échevin (2014), Steckley (2015:39-97), Steckley & Weis (2017). Die Formulierung Perplexität wird im Sinne Latours verwendet, der Perplexität mit den Begriffen Überraschung und Ereignis in den Assoziierungen von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren verknüpft, die es in den Analysen und Vermittlungen zu berücksichtigen gilt (Latour 2015:113-115). Politische Ökologie ist folglich, »die immer sich neu einstellende Überraschung, einen neuen – menschlichen oder nichtmenschlichen – Akteur im Handlungsverlauf auftauchen zu sehen, gerade dann, wenn man ihn am wenigstens erwartetet« (Latour 2015:113). Latour stellt weiter fest, dass diese menschlichen und nicht-menschlichen Akteure in den Assoziierungen als »Störenfriede« erscheinen, ihr Handeln am ehesten im Begriff der »Widerspenstigkeit« zum Ausdruck kommt (Latour 2015:115).
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von wenigen Quadratmetern erntet er gerade einmal eine kleine Hand voll Erdnüsse. Für den Anbau von Erdnüssen müssen die Böden tief gegraben werden. Seine Parzelle befindet sich an einem Hang ohne schützende Vegetation. Der Boden erodiert also sichtbar. Die Erdnuss als vermeintliche »cash crop« macht den Farmer nicht satt, sondern hungriger und bedürftiger. Die Erträge sind erbärmlich, der eigene Boden als Existenzgrundlage in absehbarer Zeit zerstört. Der Farmer weiß um das Problem der Erosion und die Devastierung seines Bodens. Er weiß auch um eine Reihe gangbarer Alternativen (z.B. Bohnen anstatt Erdnüsse, Bodensanierung). Er bleibt aber beim Status quo, tut nichts und wird auch nichts tun. Er ist in Masia kein Einzelfall. b) In Grand-Gôave, einer kleinen Gemeinde an der Küste, entfacht sich ein heftiger Streit um den Zugang zu Wasser, bei dem sogar mit Mord gedroht wird. Es gibt im Gebiet eine einzige Wasserleitung, die jedoch nur für wenige, die für das Wasser zahlen können, zugänglich ist. Die vielen anderen beziehen Wasser aus einem Brunnen, der jedoch sehr weit entfernt liegt. Der Streit wird geschlichtet und auch vor einem Gericht vorerst beigelegt. Eine gerechte Wasserverteilung, d.h. eine gute Lösung für alle ist auf den Weg gebracht. Bevor jedoch ein »Wasserfluss« für alle in Gang kommen könnte, wird in der Nacht die gesamte Infrastruktur von jenen mit der Axt gewaltsam zerstört, die bisher keinen Zugang zur Wasserleitung hatten. Das dringend benötigte Wasser fließt nun allen davon. c) In Bohoc, einer ruralen Gemeinde in Zentralhaiti, treffe ich eine Reihe junger Leute, die mit ihren Subsistenzpraktiken, insbesondere mit ihren üppigen und ertragreichen Gärten, beeindrucken. Sie leben gut von dem, was die Gärten produzieren und erzielen zudem Einkünfte vom Verkauf auf dem lokalen Markt. Auch wenn kein existentieller Zwang besteht, ziehen sie los, um weit über den eigenen Bedarf hinaus Bäume für Holzkohle zu fällen. Das Gebiet um ihre Gärten ist nahezu abgeholzt. Die Folgen, insbesondere die Schlammflüsse bei Starkregen, sind mittlerweile deutlich spürbar. Auch hier weiß man, dass dieses exzessive Fällen der Bäume ohne Aufforstung eine Gefahr für die lebensnotwendigen Gärten bedeutet. Sie fällen die Bäume, aber neue pflanzen sie nicht. d) Einer der Fischer in Taino zeigt mir seinen Fang des Tages, eine Languste. Sie trägt Corail am Unterbauch. Das Gebiet ist überfischt und Langusten sind mittlerweile eine Rarität. Die Fischer sind sich der Situation bewusst, holen aber heraus, was möglich ist. Man denkt an ihre Armut und dass sie nicht anders können. Im Fall der Languste äußerte der Mann jedoch, dass
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er sie nicht nehmen müsste, dass ihm aber die »Eier« ganz gut schmecken würden. Auch dies verweist auf einen Akt der Zerstörung dessen, was zum Leben notwendig ist. e) Ein letztes Beispiel ist ein junger Mann, der in den Bergen um Petit-Gôave mit der Axt versucht, einen Mapou-Baum zu fällen. Auch hier scheint es um das Holz zu gehen. Im weit verbreiteten haitianischen Voodoo sind die Mapou neben den Figye, Sèd oder Kalbas heilige Bäume. Diese Bäume beherbergen die »lwa«, die Geister.14 Der Mapou ist unter den heiligen Bäumen der am meisten geehrte, aber auch gefürchtete Baum. Einen Mapou zu fällen, ist im spirituell-religiösen Sinn ein Tabu und gleichbedeutend mit einem selbstzerstörerischen Angriff auf das eigene Leben. Es heißt im Voodoo, mit dem Angriff auf einen heiligen Baum ist man unverzüglich in Gefahr, getötet zu werden.15 Exemplarisch habe ich diese fünf kleinen Fälle aus einer Vielzahl von Begebenheiten ausgewählt. Auch wenn sich an dieser Stelle kaum Rückschlüsse auf die jeweiligen Kontexte ziehen lassen, sich zudem ein großer Deutungsspielraum öffnet und die Beispiele zu einer Reihe von Vorurteilen einladen, sollte deutlich geworden sein, dass es Grund genug gibt, anzunehmen, dass hier destruktive Kräfte am Werk sind. Diese laufen all dem aktiv und gewaltsam entgegen, das die Menschen als gut, richtig, dem Gelingen zuträglich sowie als existentiell notwendig deklarieren und wozu sie ebenso angemessene Praktiken etablieren. Es handelt sich m.E. um eine Zerstörungskraft, der nicht beizukommen ist, solange sie nicht erkannt, verstanden und (konzeptionell) anerkannt ist.16 Nun haben diese Phänomene der Destruktivität die praktische Arbeit im Feld, d.h. das Ringen um Verständigung und Veränderung an seine Grenzen und oft auch zum Erliegen gebracht. Folglich, und hierin steckt der fließende Übergang vom praktischen zum wissenschaftlichen Tun, habe ich begonnen, 14
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Landessprache in Haiti ist eine französischbasierte Kreolsprache, »Kreyòl Ayisyen«, deutsch: haitianisches Kreol. Im Folgenden wird die Bezeichnung Kreol oder kreolisch verwendet. Zur Bedeutung des Mapou-Baumes im spirituell-religiösen System des haitianischen Voodoo vgl. Métraux (1959/2017:175), Rey (2005), Tarter (2015:99-105). Eine Form von Destruktivität, bei der gerade das aktiv und gewaltsam zerstört wird, womit eine geringere Verwundbarkeit erzeugt wäre (z.B. der Zugang zu Wasser, Nahrung), wird aus meiner Sicht in den erwähnten Konzepten zur sozialen und ökologischen Vulnerabilität nicht adressiert.
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mich der Sache als einer Forschungsaufgabe zu widmen. Was die praktische Arbeit im Feld betraf, habe ich zunächst einen Punkt gesetzt und bin den Worten Latours gefolgt: Man müsse »sich Zeit nehmen, um keine zu verlieren« sowie »langsamer werden, damit es schnell geht, und um es einfach zu machen, [könne man, A. S.] zunächst den Anschein von Grundsätzlichkeit nicht verhindern« (Latour 2015:15-16). Sich dem zuzuwenden, was einem im Feld zuwiderläuft, braucht also Zeit, Langsamkeit und den Mut, hinzuschauen und grundsätzlicher zu fragen. Für mich ging es mit den Befunden nun darum, zu verstehen, was sich augenscheinlich nicht verstehen lässt. Ich hatte die leise Ahnung, dass, wenn es gelingt, der beobachteten Form von Destruktivität wissenschaftlich, d.h. grundsätzlich nachzugehen, dann auch jene Tatbestände und Problemlagen vorliegen, auf die sich eine Naturdiplomatie als praktisches Instrument der Konfliktbearbeitung tatsächlich auszurichten hat. Und wenn diese Tatbestände und Problemlagen vorliegen, dass sich dann auch Strategien und Methoden der Vermittlung finden lassen, wie man sich darauf auszurichten hat.
1.3
Die diplomatische Beziehung als Feldzugang
Bei den beobachteten Phänomenen handelt es sich dem Grunde nach um Spuren der (Selbst-)Zerstörung, die auf gestörte Naturbeziehungen und damit auf ein tieferliegendes Konfliktgeschehen verweisen, welches es zu erschließen gilt. Ein solches Spurenlesen verfolgt die Spur in erster Linie objektseitig, d.h. es geht darum, jene Tatbestände zu rekonstruieren, die sich in den Spuren vermitteln. Dazu ist es unerlässlich, die Spuren auch subjektseitig zu verfolgen, d h. innerhalb ihres Entdeckungszusammenhangs zu entschlüsseln. Gemeint ist der jeweilige Beobachtungs-, Deutungs- und Handlungsrahmen, in dem sich die Spur als Spur in die Wahrnehmung bringt. These ist, dass sich gerade in dieser Rückbezüglichkeit »Schlüssel« finden, die für das Verstehen der Spuren bedeutsam sind (Dickel & Schneider 2013:61-62, Hard 1995:64, Krämer 2008:86). Im vorliegenden Fall bilden die Anfänge einer Naturdiplomatie diesen Rahmen. Mit dem Blick auf sozial-ökologische Krisen, auf Naturbeziehungen, ihre Modi und mögliche Störungen wurde es mir generell möglich, auf Beziehungsweisen zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen aufmerksam zu werden, die durch schwerwiegende Konflikte beeinflusst sein müssen. Dass sich diese Spuren jedoch überhaupt vermitteln konnten, hat mit Diplo-
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matie zu tun. Diplomatie ist zuallererst ein Beziehungsgeschehen, d.h. eine taktvolle Art und Weise, in schwierigen und konfliktgeladenen Situationen Beziehungen aufzunehmen und zu gestalten (Jönsson & Hall 2005:67-97, Jönsson & Hall 2003, Rourke 2005:255-257). Die Entdeckung der Spuren ist also eingelassen in ein Miteinander zwischen all denjenigen, deren Naturbeziehungen und Konflikte es zu untersuchen und zu bearbeiten gilt und mir als Beratende. Dabei handelt sich um ein Miteinander, das insoweit trägt und belastbar ist, dass Hinweise und Anspielungen auf ein schwerwiegendes Konfliktgeschehen demonstriert und geäußert werden können. Wieso sonst zeigt mir ein Farmer in Masia bereitwillig seine kleine Parzelle Land und spricht von all dem, was er über den schlechten Zustand des Bodens weiß, was er tun könnte, aber nicht tut und auch nicht tun wird? Wieso werde ich zur Klärung eines Konflikts um den Zugang zu Wasser hinzubestellt, bei dem man vor meinen Augen die gesamte Infrastruktur zerstört? Wieso präsentieren mir die jungen Leute in Bohoc ihre gefüllten Gärten und berichten im gleichen Atemzug ausführlich von ihren Streifzügen, bei denen sie exzessiv Bäume fällen und auch davon, dass sie bewusst keine neuen pflanzen? Wieso zeigt mir der Fischer in Taino eine Languste, wohlwissend, dass das Gebiet überfischt ist und Langusten eine Rarität bedeuten? Wieso werden ich von den Leuten gerufen, um zuzusehen, wie ein junger Mann einen Mapou fällt? Diplomatie nimmt ihren Anfang immer dann, wenn »there are boundaries for identity and those boundaries for identity are crossed« (Constantinou zit. in: Jönsson & Hall 2003:195). Bei Latour heißt es in ähnlicher Manier, dass »the diplomat sets up a space for conflicts« (Latour 2013:o.S.). Ich habe diese Thesen zunächst freier interpretiert und im Feld mit der Annahme gearbeitet, dass durch Diplomatie, genauer eigentlich: durch die aktive diplomatische Beziehung ein Raum geöffnet wird, in dem sich Konflikte, die fest in die Alltäglichkeit eingeschrieben sind, zu denen es keine Distanz gibt und die überdies einen enormen Schweregrad besitzen, überhaupt erst vermitteln und zeigen können. Die diplomatische Beziehung bildet einen Erfahrungsraum, in dem es möglich wird, sich von einem Konfliktgeschehen abzusetzen, in das man sonst schlichtweg nur verstrickt ist. In dieser Absetzbewegung ist es wiederum möglich, sich mit den Konflikten in Beziehung zu setzen, d.h. ihre Destruktivität sicher an den »Verhandlungstisch« zu bringen und all die unsicheren Bereiche des Nichtverstehens, des Fragwürdigen, des Bedrohlichen und Ungewissen zu adressieren, die darauf drängen erschlossen, sichtbar und der Bearbeitung zugänglich zu werden.
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Worin genau gründet eine diplomatische Beziehung? Sie gründet in einem Miteinander, bei dem man beginnt und sich darauf verstehen lernt, sich für die Feindseligkeiten und Zerstörung, die ein Konfliktfeld durchziehen, nicht zur Verfügung zu stellen und sich entsprechend friedfertig zu positionieren. Und genau dies ist aus meiner Sicht der Kern von Diplomatie als »[…] all about handling (managing) human relationship such as to avoid conflict or when conflict arise to find amicable way of setting them« (Rourke 2005:255). Diplomatie verzichtet auf Feindseligkeit und wird somit zu einer Form des Miteinanders, d.h. einer Beziehungskultur, die insbesondere dann zur Geltung gelangt, wenn Beziehungen schwierig, zerbrochen oder zerstörerisch geworden sind. Die Voraussetzung dafür ist paradoxerweise eine wechselseitige Anerkennung. Das bedeutet zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass es die Bereitschaft und die Fähigkeit gibt, zu sehen und zu verstehen, dass es für das jeweilige Denken und Tun – das eigene und das der Anderen – gute Gründe gibt. Der diplomatischen Beziehung zugrunde liegt also ein Menschenbild, das nicht einseitig auf Täter oder Opfer, auf Schuldige und Unschuldige, auf Kläger und Angeklagte usw. fokussiert, sondern vielmehr selbstgewisse, eigenständige, lern- und verhandlungsbereite Subjekte voraussetzt. Es ist diese grundlegende Prämisse, die dazu führt, dass eine diplomatische Probe eine Übung im Erkennen und Anerkennen, letztlich im Frieden werden kann. Die Herausforderung in der Diplomatie besteht dann oft darin, genau dort diese Anerkennung zu vollziehen und eine friedfertige Beziehungsweise einzuüben, wo es diese Anerkennung nicht und somit keinen Frieden mehr gibt. Diplomatie avanciert in diesem Sinne zu einer dem Frieden zugewandten Beziehungskultur inmitten von Konflikt oder sogar Krieg. In einem Untersuchungsgebiet wie Haiti – so die These – ist die Einübung von diplomatischen Beziehungen, d.h. einer friedfertig (an-)erkennenden Beziehungskultur, einer der wenigen vielversprechenden Wege, wenn nicht sogar der einzige, um einen »echten« Zugang ins Feld zu gewährleisten. Dies kann deshalb behauptet werden, weil, wie bereits erwähnt, das gesamtgesellschaftliche Grundrauschen in einer Dauerkrise besteht, die sich überdies in den letzten Jahren dramatisch intensiviert hat.17 Im Großen der gesellschaft-
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Gemeint sind massive Proteste und gewaltsame Ausschreitungen, die seit dem Sommer 2018 andauern. Diese wurden ausgelöst durch einen Öl-/Gasnotstand, der mit einem Korruptionsskandal im Rahmen von PetroCaribe korrelierte. Bei PetroCaribe handelt es sich um eine Ölallianz 18 karibischer Staaten mit Venezuela als Öllieferant. Die
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lichen Kommunikation wie auch im Kleinen der alltäglichen Lebensvollzüge ist ein machtvoller Krisen-, Katastrophen- und Veränderungsdiskurs allgegenwärtig. Es scheint kaum möglich, Medienberichte, wissenschaftliche Abhandlungen sowie Projektberichte aufzufinden oder aber Gespräche zu führen, in denen nicht auf die dramatischen Zustände und den Druck zur Veränderung verwiesen wird. Die unbestreitbaren Tatsachen im Hintergrund dieser Diskurse sind extreme Armut, Korruption, Kriminalität, das politische Scheitern, andauernde gewaltsame Proteste, die defizitäre medizinische Versorgung, die Verknappung von Gütern wie Gas und Öl, kaum Elektrizität, eine marode Bildungsstruktur, die Auswirkungen der großen Katastrophen wie das Erdbeben 2010 und Hurrikan »Matthew« 2016 sowie die einer schleichenden Katastrophe, die sich in den Grenzen der Verfügbarkeit von Ressourcen wie Holz, Wasser, Fisch oder Böden vermittelt. Die Aufzählung ließe sich weiterführen. Kurzum, es gibt keine existentielle Frage, die in Haiti nicht berührt werden könnte. Mit dieser Dauerkrise einher geht eine fest etablierte Krisen- bzw. Coping-Kultur, die in Überlebenspraktiken ihren Ausdruck findet, die sich allen voran durch mächtige Interventions- und Hilfsstrukturen herausgebildet haben, so z.B. die UN18 -Friedensmissionen, die Aktivitäten der »World Bank«19 , die EU20 -Entwicklungszusammenarbeit, die Tätigkeiten internationaler und nationaler Nichtregierungsorganisationen sowie der christlichen Missionen.21 Haiti ist auf den Punkt gebracht: »Krise und Hilfe« oder wie es der Kultursoziologe und Umweltpolitiker Abner vor Ort formulierte: »pwoblèm ak pwojè« (kreolisch), »Problem und Projekt«22 . »Problem und Projekt«
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Proteste fordern die politische Transition, demokratische und soziale Rechte und haben sich nunmehr verselbständigt. Gegenwärtig zu beobachten ist eine beunruhigende Intensivierung der Ausschreitungen durch die drohende humanitäre Katastrophe durch die Folgen der Covid-19-Pandemie wie auch durch die Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse am 23. Juli 2021; zu PetroCaribe vgl. Romera Gomez (2017); zu den aktuellen Unruhen vgl. Dillmann (2019), Maurer (2020a), Maurer (2019), Nugent (2019); zum Präsidentenmord vgl. Meschkat (2021). »United Nations« (Vereinte Nationen), im Folgenden als UN bezeichnet. »The World Bank« (Weltbank). »European Union« (Europäische Union), im Folgenden als EU bezeichnet. Zu den UN-Friedensmissionen vgl. Mobekk (2019); zur EU-Entwicklungszusammenarbeit vgl. Abraham (2015); zur EU-Delegation in Haiti vgl. https://www.eeas.e uropa.eu/delegations/haiti_en?s=142; zu den entwicklungspolitischen Tätigkeiten der »World Bank« vgl. https://www.worldbank.org/en/country/haiti. Die Flut an Maßnahmen steht in engem Zusammenhang mit dem Erdbeben 2010. Das Erdbeben löste einen der größten internationalen Hilfseinsätze aus, mit dem in kriti-
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bilden dabei jedoch eine Symbiose, bei der das Projekt meist das Problem bestimmt und nicht umgekehrt das Problem das Projekt wie in der Diplomatie. Es gibt also nicht nur eine Flut an Interventions- und Hilfsmaßnahmen, sondern darin eingelassen ebenso viele Problemdefinitionen und dazu unzählige Ideen und Rezepte, wie diese Probleme zu behandeln sind und behandelt werden. Mit diesen Problemdefinitionen werden zugleich auch die Konfliktlinien verhandelt. Es werden Täter und Opfer bestimmt, Schuldige und Unschuldige ausgewiesen, wenn auch implizit. Es werden Werte und Regeln benannt, Versionen des Gelingens und Misslingens formuliert und dazu passend richtige von falschen Praktiken unterschieden. All dies geschieht, um die jeweilige Strategie des Eingreifens zu begründen und zu legitimieren. Letztlich werden aber Menschen, meist diejenigen in der Not oder Abhängigkeit, aufgefordert, sich passend zu diesen Problemen, Ideen und Rezepten, d.h. passend zu deren expliziten und impliziten Prämissen zu entwickeln und zu verhalten.23 In dem Moment, in dem man also beginnt, vor Ort ein Anliegen zu verfolgen, das auf irgendeine Art von Veränderung der Umstände setzt, sei es ein Forschungsvorhaben, ein Vermittlungs-, Bildungs- oder Entwicklungsprojekt, ist man mittendrin, d.h. Teil eines alles bestimmenden Krisen-, Katastrophen- und Veränderungsdiskurses, damit Teil eines schier überwältigenden Problem- und Konfliktfeldes und somit Teil der umfassenden Krisen-, Coping- und Interventionskulturen. Ich möchte an dieser Stelle vorerst andeuten, dass in dieser Arbeit die Annahme verfolgt wird, dass sich in den Beziehungsweisen, von denen diese Diskurse und Praktiken getragen sind, eben selten ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis spiegelt und sich deshalb zu einem Nährboden für Feindseligkeiten und Zerstörung entwickeln. Ohne die diplomatische Beziehung als friedfertige Absetzbewegung besteht also von vornherein die Gefahr, sich nahtlos und unbemerkt in das Diskurs-, Erfahrungs- und Erwartungsfeld der vorfindlichen Krisen-,
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schen Perspektiven eine Katastrophe nach der Katastrophe in Anschlag gebracht wird (Katz 2013, Schuller 2016). Der Anthropologe Schuller konstatiert: »Die humanitäre Hilfe hegt kulturelle Annahmen und ist eingebettet in eine Weltsicht, die überwunden werden muss, […]. Dazu zählt insbesondere die Neigung, alles kontrollieren zu wollen. Für mich ist Haiti das Waterloo des NGO-Systems« (Schuller zit. in: Maurer 2020b:100); zum kritischen Diskurs des Systems von Entwicklungspolitik und humanitärer Hilfe in Haiti als ein System des Scheiterns vgl. Dupuy (2010), Edmonds (2012), Harrer (2018), Heintze (2014), Johnston (2016), Katz (2013), Kivland (2012), Schöneberg (2016), Schöneberg (2017), Schuller (2017), Schuller (2016) Schuller (2012).
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Coping- und Interventionskulturen einzufügen und damit in einen Strudel von Fixierungen auf Täter und Opfer, auf Schuldige und Unschuldige, auf Feinde und Freunde, auf Korrupte und Ehrliche usw. zu geraten. Die Gefahr dabei ist, in diesen Strukturen den Durchblick, sich selbst oder das Anliegen zu verlieren und so an der Aufrechterhaltung der kritischen Zustände mitzuwirken. Mit Diplomatie als friedfertiger Abstandswahrung ist man dennoch nicht »draußen«, man ist aber anders »drin«. Natürlich verfolge ich mit meiner forschenden und praktischen Arbeit an greifbaren sozial-ökologischen Krisen, an Naturbeziehungen, deren Modi und Störungen ein Anliegen, das auf Veränderung setzt. Natürlich bin ich als Geographin mit Ausbildung in Europa deutlich positioniert, vertrete westlich geprägte wissenschaftliche Standpunkte, arbeite mit Problemzugängen und Veränderungsideen, die meinen Erfahrungskontexten entnommen sind. Ich tue dies aber immer im Rahmen von diplomatischen Beziehungen, d.h. einer Beziehungskultur, bei der selbstgewisse und eigenständige, besser eigentlich: »zivilisierte« Subjekte in Verbindung treten oder dieses zumindest versuchen. Bei Latour heißt es dazu: »Das Kollektiv muss die Urszene der Kolonisation noch einmal neu durchspielen, doch diesmal ist der zur Begegnung mit Zivilisierten Aufbrechende selbst ein Zivilisierter« (Latour 2015:263). Sich selbst und gemeinsam zu »zivilisieren«, um sich von Beziehungskulturen zu verabschieden, die eine kolonisierende Tendenz in sich tragen und um stattdessen etwas Neues einzuüben, ist leichter gesagt als getan. Latour betont zu Recht, dass es dabei zunächst um die eigene »Zivilisierung« gehen muss, ein Prozess, der, so meine Erfahrungen im Feld, eine enorme Reflexions- und Revisionsarbeit bedeutet und auch keinen Abschluss findet. Sich zu »zivilisieren«, sich in der Begegnung seiner selbst gewiss und eigenständig zu werden als Bedingung der Möglichkeit dafür, ein Gegenüber als »zivilisiert« (an-)zuerkennen und auch umgekehrt selbst als »zivilisiert« (an-)erkannt zu werden, bedeutet – und auch hier verbleibe ich in der Begrifflichkeit von Latour – die »Waffen« abzugeben: »Solange die Waffen nicht an der Garderobe abgegeben werden, ist keine zivile Versammlung möglich« (Latour 2015:110). Die »Waffen« müssen also abgegeben werden, um so einen Weg zum Erkennen, zum Anerkennen und zur Bearbeitung von Konflikten anzubahnen. Um welche »Waffen« geht es zunächst? Um überhaupt einen Weg ins Feld anzubahnen und eine Auseinandersetzung zu eröffnen, hieß es zunächst jene »Waffe« abzugeben, die in einer Version von bedingter Hilfe liegt und oft darin besteht, Hilfsbedürftige
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einseitig als Opfer zu deklarieren und hierbei potentiell zu infantilisieren. In einem Feld, wo Not und Hilfe allgegenwärtig sind, habe ich mich – trotz unzähliger Gesuche – nicht (mehr) für diese Form von Hilfe zur Verfügung gestellt. Es wurden weder Hilfsangebote unterbreitet, die in der schnellen und unhinterfragten Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln, materiellen Gütern, Wissen oder Kontakten bestehen, noch wurde Hilfsgesuchen gefolgt, die derartiges im Subtext erwarten. Abgegeben werden musste ebenso eine »Waffe«, die im Wissen besteht. Nicht zur Verfügung gestellt habe ich mich – trotz wiederkehrender Anfragen – für Projekt- oder Geschäftsbeziehungen, wie z.B. die Mitarbeit in Nichtregierungsorganisationen. Dies geschah deshalb, um als Forschende nicht für und auch umgekehrt nicht von fremden und vorinstallierten Konzeptlogiken und ihrer impliziten Prämissen vereinnahmt zu werden. Nicht zur Verfügung gestellt habe ich mich – ebenfalls trotz unzähliger Anfragen – für eine Form von Expertenberatung, insbesondere in der Sphäre von Politik.24 Dies wurde vermieden, weil auch hierin die Gefahr der Vereinnahmung in beide Richtungen besteht und Wissen, genauer: bereits gewusste Lösungen als Expertise aus anderen Erfahrungskontexten unvermittelt abgerufen wird. Abgegeben wurde zudem eine »Waffe«, die im Können liegt. Nicht mehr zur Verfügung gestellt habe ich zunächst Fertigkeiten in einer klassischen Form von Vermittlung, insbesondere im Feld der Konfliktmoderation.25 Darauf verzichtet wurde wiederum, weil der Vermittler oder Moderator sich eben nicht als Teil des Problems sieht, er also scheinbar keiner der Konfliktparteien angehört, was im Untersuchungsgebiet und im Rahmen von Intervention schlichtweg nicht zutrifft. Insgesamt hieß dies, sich durch eine Flut an Anfragen durchzuarbeiten und darauf zu verzichten, auf all diese Formen von Beziehungen einzugehen. Mit diesem Verzicht, dem Aufgeben dieser »Waffen«, waren dann die Praktiken des Ein-, Über- oder Angreifens mithilfe von mitgebrachtem Geld, Wissen oder Expertise unterbunden. Stattdessen lag nun in jeder dieser Kontaktaufnahmen
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Andere Bezeichnungen für Expertenberatung sind Wissens- oder Fachberatung. Es geht um eine Abwendung davon, dem Klienten bzw. Klientensystem als fachlicher Experte zur Verfügung zu stehen, mit Wissensbeständen, Problemzugängen und den dazugehörigen Problemlösungen zu helfen und dies, ohne die betreffenden (Problem-)Sichtweisen der Betreffenden infrage zu stellen (Barthelmess 2016:30-32). Zunächst zurückgestellt wurde eine Form systemisch orientierter Konfliktarbeit; zur systemischen Arbeit mit Konflikten vgl. Simon (2018).
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zunächst eine erste, wenn auch kleine Freiheit, in Verbindung zu treten, Vertreter zu sein, miteinander zu reden, zu erkunden, zu experimentieren, zu revidieren, Übereinkünfte zu finden usw. Genau darin findet sich ein Anfang für die friedfertige Absetzbewegung durch Diplomatie, die es möglich macht, wissenschaftlich und praktisch in ein Feld einzusteigen, in das man auf den herkömmlichen Wegen – über politische Mandate, konzeptionell gebundene Auftragsforschung, christliche Missionen, Mandate durch Nichtregierungsorganisationen usw. – nicht mehr einfach so einsteigen kann. Dies deshalb nicht, weil die darin eingelassenen Beziehungskulturen in Haiti selbst offenkundig Teil eines größeren Problem- und Konfliktfeldes sind. Abschließend lässt sich sagen, dass keines der gängigen Hilfsangebote unterbreitet und auch kein Hilfsgesuch angenommen wurde. Es wurde kein Geld verteilt oder verdient. Ebenso wenig hatte ich eine Problemdefinition, fertiges Wissen oder gar ein Lösungsrezept in der Tasche. Angeboten wurde in jedem Fall nicht mehr, aber auch nicht weniger als die diplomatische Beziehung, d.h. die Möglichkeit einer Begegnung zwischen »Zivilisierten« und dazu das Gespräch. Ich gehe fest davon aus, dass dieser Anspruch auf »Zivilisierung« der eingangs erwähnte »Schlüssel« dafür ist, dass sich die dargestellten »Spuren der Destruktivität« überhaupt zeigen und vermitteln konnten. Ich lese diese Spuren also als etwas, das von Menschen vorgetragen wird, die tun, was sie tun und dass es dafür plausible Gründe gibt. Und ich lese diese Spuren als Anspielungen auf etwas Schwerwiegendes, das gesehen, verstanden und bearbeitet werden will: Worauf sonst sollten der erodierte Boden des Farmers in Masia, die gewaltvolle Zerstörung der Wasserleitung in GrandGôave, der Bericht der jungen Leute vom exzessiven Fällen der Bäume in Bohoc, die Languste des Fischers in Taino oder die Axt am Mapou in Petit-Gôave anspielen, wenn nicht darauf, gesehen und verstanden zu werden? In all diesen Begebenheiten ging es nicht darum, »schnelle« Hilfe in Form von Geld, materiellen Gütern, Kontakten oder Wissen zu bekommen und sich dazu als hilfsbedürftig zu präsentieren. Es ging auch nicht darum, ein Geschäft zu machen. Ebenso wenig ging es darum, eine mitgebrachte Form von Intervention zu sabotieren. Stattdessen ging es in jedem Fall darum, etwas zu zeigen, das sich womöglich sonst nicht zeigen oder erkennen lässt. Hierin stecken aus meiner Sicht ein »echter« Feldzugang, d.h. eine Öffnung des Feldes für drängende Fragen und die Einladung, sich der Sache zuzuwenden. Ich habe dies mit einem Auftrag an Forschung verbunden.
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1.4
Zivilisierung als Weg zum Verstehen
Ich habe eine längere Einführung gewählt über die Rahmenbedingungen des Projekts und über den Weg ins Feld, d.h. hin zu einem Forschungsanlass, der mit den »Spuren der Destruktivität« angezeigt ist. Dargestellt wurde, wie sich dieser Feldzugang mithilfe von diplomatischen Beziehungen und hierzu mit einem zunächst grundlegenden Anspruch auf eine Begegnung zwischen »Zivilisierten« realisieren konnte. Mit dieser anfänglichen Positionierung bestimmt ist dann auch jene Prämisse, die den Fortgang der Untersuchung grundlegend leiten wird. Die Untersuchung verfolgt zwei wesentliche Ziele. Erstens geht es darum, die »Spuren der Destruktivität« zu erschließen und zu verstehen, d.h. zu einem Set anwendbarer Deutungshypothesen durchzudringen. Und zweitens geht es darum, die gewonnenen Erkenntnisse für eine Naturdiplomatie als praktisches Instrument der Konfliktbearbeitung fruchtbar zu machen. Damit verbunden ist zunächst die Frage, wie ein solches Erschließen und Verstehen der Spuren in den dargestellten Feldstrukturen möglich sind. Die Arbeit geht dazu von der These aus, dass sich das Verstehen selbst in einem Akt der »Zivilisierung« vollzieht, nunmehr aber des wissenschaftlichen Denkens und Tuns, dass sich hierüber eine wissenschaftliche Position zur Sache entwickeln und auch äußern lässt. In der Sprache der Diplomatie geht es um die Entwicklung einer Position, die man vertreten und für die man eintreten kann. »Zivilisierung« ist demnach nicht nur der Weg ins Feld, sondern auch ein Weg zum Verstehen. Worin genau besteht diese »Zivilisierung« des wissenschaftlichen Denkens und Tuns? Mit »Zivilisierung« ist die Einübung einer forschenden Haltung, d.h. von Beobachtungs- und Reflexionsweisen gemeint, die ebenso als friedfertig gelten können, somit von einem Menschenbild geleitet sind, das auf ein selbstgewisses und eigenständiges Subjekt setzt und sich darin erkennt und anerkennt. Es geht also um eine »zivilisierte« Begegnung mit dem Forschungsgegenstand, d.h. im vorliegenden Fall mit einem möglichen Konfliktgeschehen, was in einer (selbst-)destruktiven Zurichtung der erdnaturbezogenen Dinge seinen Ausdruck findet. Ausgehend von dieser Prämisse heißt es, ein forschendes Tun zu kultivieren, das ebenso »die Waffen an der Garderobe abgibt« (Latour 2015:110), d.h. sich durch eine Art selbstreflexive »Entziehungskur« von normativen, wissenschaftlichen Deu-
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tungsansprüchen und ein vorsichtiges Interpretieren auszeichnet.26 Hierzu ein einfaches Beispiel zur Illustration: Abbildung 1: Kuh im Müll in Port-au-Prince
(eigenes Foto, Juli 2019)
Wofür steht die Kuh im Müllberg? Hierbei handelt es sich um eine alltägliche Szene, die vor allem in urbanen Gebieten Haitis, allen voran in Portau-Prince, zu beobachten ist (vgl. Abb. 1). Diese Bilder sind nicht schön, teilweise überwältigend und mitunter entsetzlich. Auf den ersten Blick sichtbar werden Berge von Abfall inmitten der Stadt- und Wohnquartiere, ein Indiz für eine fehlende Infrastruktur zur Müllbeseitigung. Es liegt auf der Hand,
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In diese Haltung eingelassen ist ein Element postkolonialer Kritik, womit wissenschaftliche Interpretationen im Feld entsprechend kulturkritisch gelesen werden. Inspiriert ist diese Haltung durch das Prinzip einer »interpretativen Wachsamkeit« gegenüber dominanten, oft kolonialen, Repräsentationen, wie es in den Arbeiten Saids (u.a. als »contrapuntal reading« und später als »secular criticism«) eingefordert wird (Said 1994:218-242, Said 2000:53-76). Castro Varela konstatiert in ihrer Ausarbeitung und Würdigung des Prinzips einer »interpretativen Wachsamkeit: »Die Saidsche Forderung nach einer ›richtigen Repräsentation‹ ist jedoch nicht als ein Aufruf zu einer simplizistischen Repräsentationspolitik, […], zu lesen. Viel eher ruft Said zu einer interpretativen Wachsamkeit auf, die die Macht der Interpretation ernst nimmt und sich nicht von den dominanten Bildern verführen lässt« (Castro Varela 2015:313).
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welche Zustände mit diesem Abfallaufkommen verbunden sind, so z.B. die gesundheitlichen Risiken, insbesondere durch die Verschmutzung von Stadtgewässern wie Flüsse, die von den Bewohnern zur Trinkwasserentnahme, zur Körperpflege sowie zur Reinigung von Fahrzeugen und Wäsche benutzt werden. Der Müllberg und die Tiere im Müll sind, um es zunächst unkritisch und salopp zu formulieren, ein »Drittweltland-Anblick«, etwas, das man in dieser Gegend auch erwartet. Man sieht im Müll die Armut, die Verwahrlosung und auch die gescheiterten Versuche, auch nur irgendetwas zu regulieren. Es ist zunächst ein Anblick der Not und/oder der Verwahrlosung. In dieser Perspektive von Not und Armut, lassen sich dann auch Menschen einseitig als Opfer, als Hilfsbedürftige, aber auch als Täter im Sinne eines umfassenden menschlichen Versagens identifizieren. Aber nicht nur, vor dem Hintergrund der Annahme, dass diese Raumproduktionen paradoxerweise eben auch von Selbstgewissheit und Eigenständigkeit zeugen können, dass man es mit »Zivilisierten« zu tun hat, laden diese Szenen dazu ein, sich selbst zu »zivilisieren«, d.h. wachsam zu bleiben und die eigenen Deutungen zu prüfen, die nahezu reflexartig in der Anrufung eines leidgeprüften und ohnmächtigen oder in der Umkehr in einem versagenden Subjekt bestehen. Durch diese Revision verschwindet das Müllproblem zwar nicht, jedoch wird nun die Kuh im Müllberg augenfälliger. Die Kuh ist in dieser Lesart sinnbildlich für Subsistenzpraktiken, die sich zur alltäglichen Existenzsicherung selbst in urbanen Gegenden bewährt haben. Die Kuh im Müll markiert außerdem das Ende einer langen und umfassenden Verwertungskette. Die Kuh ernährt sich von den Resten an Lebensmitteln, die im Müll zu finden sind. Es gibt generell kaum einen Abfall, der in Haiti als unbrauchbar ausgewiesen ist, bis auf den verhältnismäßig wenigen Plastikmüll, ein Phänomen, das vornehmlich die Städte betrifft. Durch die bis heute vorfindliche subsistenzgeprägte Lebens- und Wirtschaftsweise, gab es schließlich auch keine Notwendigkeit, um überhaupt ein »mindset« für Abfall zu entwickeln. Hingegen war es immer schon notwendig, ein »mindset« für Verwertungen zu haben, um all die Dinge, die einen umgeben, mit Wert auszustatten und wiederzuverwenden. In dieser Lesart ist die Kuh im Müll also Ausdruck eines selbstgewissen und eigenständigen Tuns, d.h. einer bewährten Subsistenzpraxis in der Stadt, wofür der Müllberg eine wichtige Ressource liefert. Sicher sollte man dieses Tun in einer Interpretation, dass sich darin gelingende Lebensvollzüge zum Ausdruck bringen, nicht überstrapazieren. Die Kuh im Müll verweist ebenso auf die Grenzen dieser Praktiken. Die Grenze
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zeigt sich darin, dass mit der Kuh im Müllberg der Stadt – und eben nicht grasend auf dem Land – es ungleich schwieriger ist, sich selbst, der Kuh und auch dem tatsächlichen Rest des Plastikmülls gerecht zu werden. Beides aber nun zu erkennen und anzuerkennen, wäre die »zivilisierte« gedankliche Bewegung: eine bewährte Subsistenzpraxis auf Basis eines ausgeprägten »mindsets« für Verwertung auf der einen Seite sowie die Grenzen dieser Praktiken markiert durch einen Beobachter mit einem ausgeprägten »mindset« für Abfall auf der anderen Seite. Hierin läge ein Zugang, um dem Müll, der Kuh und allen voran den Menschen gerechter zu werden. Nun könnte man das tatsächliche Abfallproblem adressieren, ein Problem in der Spannung dringend notwendiger Verwertungs- und Subsistenzpraktiken und den Ansprüchen auf Hygiene, auf die Vermeidung von Krankheiten, auf saubere Gewässer usw. Jegliche Problematisierung von Müll, die mit einer normativen Setzung von Abfall als dem scheinbar Wertlosen operiert und somit der Kuh die Nahrung entzieht, wäre ein Eingreifen und ein Einbruch in die Freiheit, (Über-)Lebensstrategien zu praktizieren. Aber auch jeder Müllberg, der den Lebensraum vergiftet, wäre ein ebensolcher Einbruch, nämlich ein Einbruch in die Freiheit, ein halbwegs gesundes Leben zu führen. In dieser Ambivalenz ließe sich nun vermitteln und an Lösungen arbeiten. »Zivilisierung« des wissenschaftlichen Denkens und Tuns heißt also, für die Beobachtungen im Feld Beschreibungsformeln zu finden, in denen sich Anerkennung – im Sinne einer Dialektik von Erkennen und Anerkennen – spiegelt. Damit nähert man sich dem an, was der Anthropologe Descola mit der Aufforderung andeutet, Philosophie und Feldforschung zu verbinden (Descola 2013b:27). Es geht darum, einen ethnographischen Ausgangspunkt, eine praxisbezogene Dringlichkeit, aufzuspüren und entgegen von einseitigen Gedankenexperimenten empirisch zu untersuchen, wie Menschen oder Kollektive diesbezüglich Lebenserfahrungen machen; in einem weiteren Schritt wird diesen Befunden eine generalisierende Resonanz verschafft (ebd.). Dem Grunde nach bedeutet dies, philosophische ebenso wie auch praxisorientierte konzeptionelle Fragen im Medium von Feldforschung zu reflektieren. Im empirischen Fall der Kuh im Müll im urbanen Haiti wird die Denktradition eines (armutsbedingten) Umgangs mit den Dingen insofern erweitert, als womöglich von einem schöpferischen Umgang auszugehen ist. Mit diesem empirischen Befund berührt wird nun eine grundsätzliche Frage zur Verfasstheit gesellschaftlicher Raum- bzw. Naturverhältnisse, deren Klärung wiederum für die Gestaltung politisch-planerischer Konzepte von Bedeutung wäre.
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Nun ist die Kuh im Müll ein verhältnismäßig einfaches Beispiel. Es handelt sich um einen Fall/eine Fallgruppe, zu dem, zumindest mir, eine erkennende und anerkennende Beobachtungs- und Reflexionsweise leichtfällt. Ungleich schwerer erweist sich dies bei der Beobachtung von Destruktivität, wie sie sich in den dargestellten Spuren vermittelt. Was sich mit der Kuh im Müll bereits andeutet, nämlich eine Beziehungsweise zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen, durch die es nicht mehr gelingt, sich selbst und den Dingen halbwegs gerecht zu werden, scheint bei diesen Fällen weitaus schwerwiegender. Erinnert sei an das »barbarische« Moment in den beobachteten Bezugnahmen auf die Dinge. »Barbarisch« meint, dass es hierbei weniger um Aneignungen in der Not geht, auch nicht um schöpferische Anverwandlung, sondern vielmehr um eine Zurichtung der Dinge, die in ihrer Zerstörung und damit der Zerstörung der eigenen Existenzgrundlagen mündet: die Zerstörung der Wasserleitung als Angriff auf die Möglichkeit, selbst über ausreichend Wasser zu verfügen; die Axt am Mapou als Angriff auf das eigene Leben; die Erdnuss als Anbauweise mit dem sicheren Verlust des Bodens als Lebensgrundlage; die Languste mit Corail am Unterbauch, deren Verzehr eine deutliche Missachtung dessen ist, was man als Fischer zum Leben braucht, nämlich ein gefülltes Meer; das Fällen der Bäume, wodurch man den eigenen gefüllten Garten attackiert. Auch oder gerade in diesen Fällen bleibt man, selbst wenn es schwerfällt, dem Verstehen zugewendet, indem man eine erkennende und anerkennende Beobachtungs- und Reflexionsweise einübt und den destruktiven Praktiken unterstellt, dass sie von einer Art Selbstgewissheit und Eigenständigkeit getragen sind, d.h. dass es sich um ein »zivilisiertes« Tun handeln kann. Anerkennung bedeutet, auch hier davon auszugehen, dass etwas aktiv und mit gutem Grund zerstört wird. Die Zerstörung muss also in irgendeiner Weise Sinn ergeben, d.h. es muss Überzeugungen und Erfahrungen geben, für die destruktive Impulse und Handlungen folgerichtig sind. In dieser Perspektive ist anzunehmen, dass es Erkenntnis und Gewissheit darüber gibt, dass man zerstört. Auszugehen ist auch davon, dass es Gewissheit darüber gibt oder dass diese zu erlangen ist, was genau zerstört wird: Dinge zur Sicherung der Grundbedürfnisse wie Wasser, Böden, Fisch und Meerestiere, Ökosysteme, die Möglichkeit auf ein erfülltes Leben, Frieden, eine spirituell-religiöse Heimat usw.? Anzunehmen ist auch, dass es Gewissheit darüber gibt oder dass diese zu erlangen ist, von welchen Überzeugungen und alltäglichen Erfahrungen diese Zerstörungen getragen sind, aus welchen Grundkonflikten sie schöpfen, d.h. wodurch, durch was und wen, diese Praktiken forciert werden.
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Ein (an-)erkennendes forschendes Tun hat folglich all diese Gewissheiten aufzuspüren sowie angemessen zu bezeichnen und zu beschreiben. »Zivilisierung« ist also der Weg zum Verstehen der »Spuren der Destruktivität« hin zu einer wissenschaftlichen Position, die sich praktisch vertreten ließe. Womit ist bei einer solchen Positionierung zu rechnen? Latour konstatiert: »The diplomat isn’t the one who pacifies but he’s the one who doubts values, including the values of the people who sent him there in the first place! In this sense his task is first and foremost the intensification of conflicts« (Latour 2013:o.S.). Diese Aussage macht deutlich, dass sich durch Diplomatie, allen voran durch »Zivilisierung« und die Kraft des Zweifelns, Probleme und Konflikte nicht einfach zum Verschwinden bringen lassen, sondern sich vielmehr intensivieren. Anerkennung, »Zivilisierung«, letztlich Positionierung führen also mitten hinein in ein gefährliches Konfliktgebiet. Hierin liegt dann aus meiner Sicht eine zweite Bedeutung der Annahme, dass »the diplomat sets up a space for conflicts« (ebd.). Konflikte werden in der Sicherheit einer diplomatischen Beziehung nicht nur angespielt. Diese werden explizit adressiert und sie formieren sich in der Art und Weise, wie man sich positioniert. Eine forschende Haltung, die sich der »zivilisierten« Analyse und Beschreibung all der Gewissheiten mit Zerstörungskraft, auch der eigenen, verpflichtet und diese an den Verhandlungstisch bringt, ist unbequem. Dies deshalb, weil zu erwarten ist, dass durch eine solche Position Gewissheiten einbrechen, d.h. vormals verlässliche Problemdefinitionen infrage gestellt sind, sich die Konfliktparteien und -linien verschieben und nun im praktischen Sinn die Verantwortung darin besteht, entlang der neu auftauchenden Probleme und Fragen zu Ordnung, zu Lösungen und zum Frieden (zurück) zu finden.
1.5
Forschungsanliegen und Aufbau der Arbeit
Die Arbeit verfolgt ein Erkenntnisinteresse in zwei Richtungen. Um eine wissenschaftlich fundierte Position zur Sache zu formulieren, geht es erstens darum, durch eine »zivilisierte« forschende Bewegung mit den »Spuren der Destruktivität« in Beziehung zu treten und ein adäquates Spurenlesen zu betreiben. Hierzu werden über eine Annäherung an die Modi von Naturbeziehungen und ihrer Störungen Erkenntnisse zu einem Konfliktgeschehen generiert, das aus meiner Sicht bisher weder erkannt noch anerkannt ist. Die erste forschungsleitende Frage lautet:
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Naturdiplomatie
Worauf richtet sich und worin gründet eine Destruktivität, die sich durch eine bestimmte Form der Zurichtung erdnaturbezogener Dinge zum Ausdruck bringt, die in deren aktiver und gewaltsamer Zerstörung und damit dringend benötigter Existenzgrundlagen besteht? Der Beantwortung der Frage schließen sich drei Schritte der Spurenreflexion an, mit denen entsprechende Untersuchungen verbunden sind: a) Eine erste Untersuchung wird empirisch illustrieren und begründen, dass sich die beobachtete Form der Destruktivität nicht ausschließlich als Angriff gegen materielle Existenzgrundlagen, als selbstzerstörerische Ausbeutung natürlicher Ressourcen usw. interpretieren lässt, sondern beschreibbar wird als etwas, das sich gegen die Möglichkeit von sinn- und identitätsstiftenden Naturbezügen richtet. Die Zerstörung ist in dieser Lesart gegen eine Lebensfülle gerichtet, die dann erfahrbar wäre, wenn es gelingt, der Natur und hierüber sich selbst gerecht werden zu können. Angegriffen und zerstört wird demnach ein Erfahrungsraum des Gelingens, der als »Natur der Fülle« bezeichnet wird und dessen Voraussetzung eine besondere Weise ist, Naturbeziehungen aufzunehmen und zu gestalten. Konstatiert wird dazu erstens, dass die Natur in den subsistenzgeprägten Existenzweisen allgegenwärtig ist und einen der wichtigsten alltäglichen Erfahrungsbereiche abbildet. Es geht also um starke Naturbezüge. Dargestellt wird zweitens, dass diese Naturbeziehungen sich eher für Erfahrungen des Gelingens öffnen, wenn es möglich wird, eine besondere Verbundenheit mit den Dingen zu erzeugen. Hierfür greifen verschiedene Formen der Identifikation, die sich nicht allein auf eine naturalistische Haltung zur Natur zurückführen oder aus einem solchen Zugriff heraus beschreiben lassen. Es wird gezeigt, dass die Art und Weise, Naturverbundenheit herzustellen, im Kern von einer animistischen Haltung zur Natur getragen ist, wie sie im spirituell-religiösen System des haitianischen Voodoo angelegt ist, in die sich aber Bedeutungen aus christlichreligiösen und naturalistischen Bezugnahmen integrieren. Erfahrungen des Gelingens sind dann wahrscheinlicher, wenn sich diese verschiedenen Formen der Identifikation und die darin hergestellten Bedeutungen tatsächlich integrieren, d.h. gemeinsam aktualisieren, artikulieren und leben lassen. Gezeigt wird dazu, dass eine solche ontologische »Melange der Naturen«, durch die eine »Natur der Fülle« erfahrbar werden könnte,
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in der Destruktivität verhindert wird, dass es sich hierbei um etwas handeln muss, das mit Schwierigkeiten und Ambivalenzen verbunden ist. Der »zivilisierte« Aspekt dieser ersten Spurenreflexion besteht einerseits darin, diesseits von Destruktivität auch nach einem möglichen Gelingen zu suchen und in dieser Kontrastierung zunächst tiefsitzende Ambivalenzen zu vermuten. Er besteht andererseits im Rekurs auf ein Verständnis von Natur und Naturbeziehung, das für unterschiedliche ontologische Dispositionen offen ist und diese nicht in Nähe oder Ferne einer naturalistischen oder naturwissenschaftlichen Norm bewertet. Die untersuchungsleitende Frage lautet: Welche Gewissheiten gibt es darüber, was zerstört wird? b) Eine zweite Untersuchung wird empirisch illustrieren und begründen, was solchen Vermittlungen zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen zuwiderläuft, die gelingenden Lebensvollzügen an sich zuträglich ist. Aufgezeigt wird, welche Gewissheiten den Erfahrungen einer »Natur der Fülle« entgegenstehen, diese unterlaufen, sabotieren oder sogar tabuisieren. Untersucht werden Formen von Subjektivierungen, die im Diskurs-, Erfahrungs- und Erwartungsfeld der mächtigen Krisen-, Copingund Interventionskulturen einen Nährboden finden. Es geht hauptsächlich um Zugriffe auf Menschen, erdnaturbezogene Dinge und entsprechende Beziehungsweisen, die sich im Rahmen der ökologisch-technologischen sowie christlich-religiösen Intervention und Hilfe vollziehen, insofern diese die sozial-ökologischen Krisen adressieren. Es geht um Subjektivierungen, in denen sich die verschiedenen Identifikationsformen und die Bedeutungsvielfalt einer »Melange der Naturen« nicht oder kaum aktualisieren lassen. Herausgearbeitet wird, dass mit dem Anspruch auf ein Gelingen in einer »Natur der Fülle« ein Tabu berührt ist, das vorzugsweise in die christlich-religiös grundierte Hilfe bei Naturkatastrophen oder zur Armutsbekämpfung eingebaut ist, das aber auch dort geschürt wird, wo einseitig naturalistisch grundierte Konzeptionen und Praktiken der Intervention nicht auf die ontologische »Melange der Naturen«, d.h. auf die Integration verschiedener Identifikationsformen und Bedeutungen im Umfeld der erdnaturbezogenen Dinge reagieren. Der »zivilisierte« Aspekt dieser zweiten Spurenreflexion besteht darin, mit einer theoretischen Figur von Subjektivierung durch Tabuisierung auf allgegenwärtige Formen von Machtbeziehungen in der Intervention und Hilfe aufmerksam zu machen, die mit Unterwerfungs-, Resignationsoder Kapitulationserwartungen operieren.
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Naturdiplomatie
Die untersuchungsleitende Frage lautet: Welche Gewissheiten gibt es, die dem Gelingen im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« entgegenstehen, diesen unterlaufen, sabotieren oder sogar tabuisieren? c) Eine dritte Untersuchung wird empirisch illustrieren und begründen, wie sich im Rahmen von Interventionsbeziehungen der Anspruch auf das Gelingen in einer »Natur der Fülle« mit gegenläufigen Ansprüchen in einer destruktiven Form verbindet, d.h. wie durch Doppelbindungen Konflikte mit (selbst-)zerstörerischem Ausmaß provoziert werden. Beschrieben wird ein Konfliktgeschehen, welches sich im Spannungsfeld von widersprüchlichen Gewissheiten, von wechselseitig nicht (an-)erkannten, oftmals sabotierten und tabuisierten Ansprüchen auf die Natur in Gang setzt und fortlaufend reproduziert. Argumentiert wird, dass durch das Nein zu einem möglichen Gelingen in einer »Natur der Fülle« etwas zerstört wird, das an sich gut ist, was man dringend braucht und wozu man in der Lage wäre, es haben zu können. Zugleich wird aber auch zerstört, worüber man die Gewissheit ausgebildet hat, dass es nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Zentrale These ist, dass diese besondere Form von Destruktivität in paradox-feindseligen, darin jedoch einvernehmlichen Beziehungen zur Intervention zutage tritt, in diesen Beziehungen folgerichtig und für deren Aufrechterhaltung zweckmäßig ist. Insgesamt wird auf ein Konfliktgeschehen im Untersuchungsgebiet verwiesen, welches in wissenschaftlichen Ansätzen zur Erfassung sozial-ökologischer Krisen, wie z.B. Überfischung, Bodendegradation oder Abholzung in der Perspektive einer strukturell verursachten Vulnerabilität bisher keine Beachtung findet und auch im Rahmen von praktischer Intervention und Hilfe nicht (an-)erkannt ist. Der »zivilisierte« Aspekt dieser dritten Spurenreflexion besteht darin, dass sich der forschende Blick nunmehr einem Konfliktgeschehen zuwendet, dessen Anerkennung auf eine eigene Konfliktbeteiligung, vorzugsweise durch wissenschaftliche Deutungsansprüche bei der Bestimmung und Bearbeitung sozial-ökologischer Probleme zurückweist und zu deren Revision herausfordert. Die untersuchungsleitende Frage lautet: Wie und wozu konstellieren sich im Rahmen von Intervention in einem Feld widersprüchlicher Gewissheiten schwerwiegende Konflikte, die sich in der Zerstörung der erdnaturbezogenen Dinge und damit der eigenen Existenzgrundlagen entladen?
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Ein zweites Erkenntnisinteresse ist folglich darauf gerichtet, wie die gewonnenen Befunde im Rahmen einer praxisorientierten Version von Naturdiplomatie behandelt werden können. Untersucht wird, wie man diese Position im Feld vertreten und gebrauchen kann, genauer: wie sich im Rahmen von Intervention ein Ausweg aus der Destruktivität finden lässt, indem man die darin gebundenen Konflikte bearbeitet. Die zweite forschungsleitende Frage lautet: Wie lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen von Naturdiplomatie als Intervention praktisch wenden, d.h. wie werden Destruktivität und Konflikt einer Bearbeitung zugänglich? Dieser Frage schließt sich ein weiterer grundlegender Reflexionsschritt an, für den auch hier eine entsprechende Untersuchung angeleitet wird: d) Diese vierte Untersuchung wird grundsätzlich fragen, welche Art von Veränderungen durch eine wissenschaftliche Position adressiert werden muss, die eine Form von Destruktivität anerkennt, welche durch die Aufrechterhaltung einer tabuisierten Naturbeziehungsweise des Gelingens im Rahmen paradox-feindseliger Beziehungen zur Intervention in Schach gehalten wird. Gemeint sind Beziehungen, in die schwere Ambivalenzen eingelassen sind, was dazu führt, dass die alltäglichen Vermittlungen zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen kollabieren. Grundständig gefragt wird also, was es braucht und wie es gelingen kann, diese Beziehungen einer Veränderung zugänglich zu machen. Naturdiplomatie richtet sich somit auf die Frage, wie Tabuisierung und Feindseligkeit im Rahmen von Beziehungen zur Intervention zu adressieren und aufzulösen sind. Ausgeführt wird, dass dafür die Anbahnung einer Beziehungskultur der Enttabuisierung und der Markierung von Differenz in den Ansprüchen auf die Natur als Grundvoraussetzung gelten kann und dass diese Beziehungskultur das wohl wichtigste Element einer Veränderungsstrategie bedeutet. Dies deshalb, weil sie aktiv und taktisch klug mit dem Grundmodus paradox-feindseliger Machtbeziehungen bricht und das Feld für Neues öffnet. Dazu erarbeitet werden konkrete Taktiken des Gesprächs, um erstens den tabuisierten Anspruch auf eine »Natur der Fülle« wieder artikulierbar, um zweitens gegenläufige Ansprüche auf die Natur sichtbar und in ihrem destruktiven Potential unschädlich zu machen und um drittens nach neuen
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Naturdiplomatie
Verbindungen und Fragen zu suchen, die einen Weg zu Lösungen und zum Gelingen anbahnen. Die untersuchungsleitende Frage lautet: Wie lassen sich Feindseligkeiten im Rahmen von Interventionsbeziehungen auflösen? Was sind die Taktiken und Prinzipien einer Beziehungskultur der Enttabuisierung und der Markierung von Differenz in den Ansprüchen auf die Natur? Der Aufbau der Arbeit folgt diesen zwei Teilen einer forschenden und anwendungsorientierten Naturdiplomatie. Beide Teile werden jeweils durch eine Einführung methodologisch gerahmt und entlang der vier Untersuchungen ausgeführt. Jeder Untersuchung wird ein entsprechendes Kapitel gewidmet. Der erste Teil zur Naturdiplomatie als Forschung umfasst die Untersuchungen zum Gelingen im Anspruch und in den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« (Kapitel 2), zur Tabuisierung des Gelingens (Kapitel 3) sowie zum Grundkonflikt in der Destruktivität (Kapitel 4). Dem zweiten Teil zur Naturdiplomatie als Intervention ist die abschließende Untersuchung zu den Grundzügen und zur Handhabe einer Beziehungskultur des Tabubruchs durch Differenz zugeordnet (Kapitel 5). Die einzelnen Untersuchungen kennzeichnen jeweils eine Verbindung von empirischer Illustration und theoretischer Argumentation. Hierzu wird ein doppelter Anspruch verfolgt, dem in der Form der Darstellung Rechnung getragen wird. Einerseits werden empirische Forschungsbefunde vorgetragen und dazu andererseits ein besonderer Wert auf die Abbildung der Beobachtungs- und Reflexionsweisen gelegt, wie sie die Feldarbeit begleitet haben. Um beides bestmöglich abzubilden, wird auf eine Darstellungsform zurückgegriffen, bei der eine verdichtete und stringente Beschreibung der Befunde und der dazu gehörigen Reflexionsbewegungen im Vordergrund stehen und im weitesten Sinne transparent werden. Diese Darstellung wird mit einer vertiefenden wissenschaftlichen Betrachtung kompiliert, der je nach Bedarf und Zweckmäßigkeit eine eigene Darstellungsform zugewiesen wird. Ein größerer Teil der Diskussion zur Anwendung erkenntnisleitender Prämissen oder von bereits vorhandenen Forschungsbefunden wird somit durch Anmerkungen kenntlich gemacht. Folglich lässt sich die Arbeit je nach Blickrichtung zweifach lesen, als verdichtete und stringente Beschreibung der Befunde sowie Beobachtungs- und Reflexionsweisen der Feldforschung und/oder als vertiefende wissenschaftliche Auseinandersetzung. Die empirische Grundlage aller Untersuchungen bilden die Erfahrungen im Feld, d.h. die einleitend erwähnten Fallarbeiten, die zum Gegenstand ei-
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ner Naturdiplomatie im Untersuchungsgebiet Haiti durchgeführt wurden. Bei diesen Fallarbeiten handelt es sich um Beratungs- und Vermittlungsprozesse, die für Forschungsfragen geöffnet wurden. Es geht also um Forschungsvollzüge, die aus der praktischen Arbeit heraus und entlang der »Spuren der Destruktivität« generiert wurden und dort auch ihren empirischen Anker finden. Es geht somit weniger um einen empirischen Fundus, der aus umfassenden ethnographischen Studien vor Ort gewonnen wäre, sondern um Befunde aus einem explorativ-experimentellen Verfahren der Beobachtung und Reflexion, das im Rahmen der Möglichkeiten im Feld, genauer: von (interventions-)praktischen Tätigkeiten entwickelt wurde. Formal anzumerken ist, dass für die Beschreibung der empirischen Gegenstände eine anonymisierte Form gewählt wird. Zu den verwendeten Fotografien liegen Einverständnisse vor. Die Verhandlungssprachen im Feld waren in erster Linie haitianisches Kreol, Englisch und ferner auch Französisch. Die gesamte Feldarbeit wurde von zwei Dolmetschern (Kreol bzw. Französisch/Deutsch, Kreol bzw. Französisch/Englisch) begleitet. Ich selbst habe für diese Arbeit Grundkenntnisse im haitianischen Kreol erworben, besitze gute Fähigkeiten im Verstehen und der Verständigung. Ich bin jedoch nicht verhandlungssicher. In den Vermittlungs- und Beratungsgesprächen sowie in Interviews wurde deshalb simultan übersetzt.
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I Naturdiplomatie als Forschung
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Methodologischer Rahmen
Worauf richtet sich und worin gründet eine Destruktivität, die sich durch eine bestimmte Form der Zurichtung erdnaturbezogener Dinge zum Ausdruck bringt, die in deren aktiver und gewaltsamer Zerstörung und damit dringend benötigter Existenzgrundlagen besteht? Diese Frage wird entlang der »Spuren der Destruktivität« in den folgenden drei Untersuchungen beantwortet. Aufgeführt werden der Weg und die Befunde einer Spurenreflexion. Anspruch dieses Spurenlesens besteht in einer »zivilisierten« Beobachtung und Reflexion. »Zivilisierung« bedeutet grundsätzlich, zu erkennen und anzuerkennen, dass es auch für die besondere Form einer (selbst-)destruktiven Zurichtung der Dinge gute Gründe gibt, dass dies Sinn macht und damit zweckmäßig ist. Es gilt nun diesen Sinn, diese Zweckmäßigkeit zu erschließen. Die guten Gründe müssen gefunden werden. Wie lässt sich ein solcher Sinn, eine solche Zweckmäßigkeit erschließen? Wie lassen sich gute Gründe auffinden?1 1
Der gewählte Fokus auf ein Wozu als Ursache der Entstehung eines Problems ist grundiert in einem beobachtungs-/systemtheoretisch orientierten Verständnis von Problemen (von Schlippe & Schweitzer 2016:54-59, von Schlippe & Schweitzer 2010:2935, Schneider 2013a:110-124, Watzlawick et al. 2009:51-59). Damit wird der Annahme gefolgt, dass die (selbst-)destruktiven Praktiken situativ und kontextbezogen augenscheinlich nicht nur dysfunktional, sondern vielmehr auch funktional und bedeutsam für die Erzeugung sozialen Sinns sind. Dies bedeutet, Form und Modus einer solchen Sinnproduktion zu erschließen. Aufgabe ist es somit, in entsprechenden sozialen Kontexten jene Muster der Interaktion und Organisation zu finden und zu beschreiben, die durch Destruktivität funktionieren. Gefragt wird dann, für wen und wofür, für welche Beziehungen Naturbezüge sinnhaft und zweckmäßig sind, in denen existentiell notwendige Dinge aktiv und gewaltsam zerstört werden. Welches Interaktionsmuster ist damit angezeigt und wie fügt sich das Ganze zu einer, wenn auch »unglücklichen« Ordnung?
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Naturdiplomatie
Bevor dazu konkrete Verfahrensschritte der Spurenreflexion bestimmt werden, ist zunächst zu klären, in welchem Kontext die Zweckmäßigkeit dieser besonderen Form von Destruktivität vermutet wird und zu (unter-)suchen ist. Es geht grundlegend um Beziehungen.2 Die Destruktivität verweist zunächst auf die Beziehungen zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen und darauf, dass diese dysfunktional sind. Für Beziehungen, die aufgenommen und gepflegt werden, um die Existenz zu sichern und das Leben zu gestalten, erscheint die Zerstörung der Dinge paradox und dazu unzweckmäßig. Sinn und Zweck einer (selbst-)destruktiven Zurichtung der Dinge sind also an anderer Stelle zu suchen. Die Spuren können dann eher als Hinweis darauf gedeutet werden, wie Menschen untereinander und zu sich selbst in Beziehung treten. Walsh & Lavelle formulieren dazu pointiert: »Nature exists across a continuum of relationships, such that the way we maltreat each other is reflected in the way we maltreat nonhumans« (Walsh & Lavelle 2019:o.S.). Folglich kann sich die Zweckmäßigkeit der Destruktivität nur in zu den Naturbeziehungen reziproken sozialen Beziehungen erschließen. Gemeint sind soziale Beziehungen, in denen die Naturgegenstände/verhältnisse eine besondere Rolle spielen, d.h. die gemeinsame Sache bilden. Grundthese ist, dass es soziale Beziehungen geben muss, in denen Formen aktiver, gewaltsamer und existenzgefährdender Zerstörung der erdnaturbezogenen Dinge als probates Mittel bedeutsam werden, um diese Beziehungen aufzunehmen, zu gestalten und aufrechtzuerhalten.3 2
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Im Hintergrund dieser Perspektive stehen gegenwärtige kultur-/sozialtheoretische Ansätze, die Relationalität betonen und allgemein danach fragen, wie sich soziale Realitäten – Praktiken, Diskurse, Ereignisse, Dinge – als Ausdruck bestimmter Formen und Modi von Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und Nichtmenschen beschreiben lassen. Es geht um Ansätze, die jenseits dualistischer Subjektoder Objektorientierungen die Beziehungsweisen ins Zentrum ihrer Analysen und Beschreibungen rücken (Bolten 2014, Descola 2013a, Jaeggi 2016, Rosa 2016). Die Frage nach dem Wozu ist dann angezeigt und folgerichtig, wenn ein holistischer Kulturbegriff zugrunde gelegt wird, in dem sozial-kulturelle Situationen in einer Vernetzung differenter Sphären von Beziehungen beschreibbar werden (Beziehungen zu physisch-materiellen Dingen, soziale Beziehungen, Selbstbeziehungen, transzendente Beziehungen). In einem solchen Zugriff lassen sich Problemsituationen nicht nur als relationale, d.h. als Beziehungs- und Interaktionssysteme bestimmen. Diese Beziehungskonstellationen lassen vielmehr problemrelevante Reziprozitäten und Reziprozitätsdynamiken erkennen. Gemeint sind wechselseitige Verhältnisse der einzelnen Sphären zueinander. Erst durch die Annahme von Reziprozität ist es z.B. möglich, die Ursachen für dysfunktionale Naturbeziehungen nicht nur in den Naturbeziehungen
I Methodologischer Rahmen
Im Untersuchungsgebiet Haiti sind bedeutende soziale Beziehungsräume angezeigt, die sich um die Sache der Naturgegenstände und Naturbeziehungen im Rahmen von Interventions- und Hilfsmaßnahmen entfalten. Dies wurde einleitend erläutert. Es kann als unbestreitbare Tatsache gelten, dass in diesen Beziehungsräumen Naturbeziehungen nicht nur verhandelt, sondern beeinflusst, geprägt, letztlich auf besondere Weise hervorgebracht werden. Die vorfindlichen Naturbeziehungen unterliegen somit einem dominanten und fortlaufenden Zugriff durch entwicklungspolitische, humanitäre und/oder NGO4 -Maßnahmen, die sich auf die ökologische Erhaltung oder Inwertsetzung, auf die Minimierung von Naturrisiken oder auf Hilfe im Katastrophenfall ausrichten.5 Entsprechend kann argumentiert werden, dass der gegenwärtige Zustand der erdnaturbezogenen Dinge, insbesondere die ökologische Devastierung oder die katastrophalen Folgen von Naturereignissen nicht nur, aber eben auch Ausdruck dessen sind, was sich in diesen Beziehungsräumen vollzieht. Dies wäre ein erster allgemeiner Hinweis darauf, Sinn, Zweck oder gute Gründe der beobachteten Form von Destruktivität in diesen Beziehungen zur Intervention zu verorten. Gestützt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass sich destruktive Ereignisse und Phänomene im Rahmen der eigenen Tätigkeiten vermittelt haben, d.h. in Bezie-
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selbst zu untersuchen, sondern jene sozialen Beziehungen in den Blick zu nehmen, die sich zu diesen Naturbeziehungen ins Verhältnis setzen. Das Konzept der Reziprozität wird mit der Wozu-Frage insofern konkretisiert, als dass man davon ausgeht, dass die Dysfunktionalität in der einen Sphäre einer Funktionalität in einer anderen entspricht; zum holistischen Kulturbegriff, insbesondere zur Reziprozitätsthese vgl. Bolten (2014), Bolten (2009). »Non-Governmental Organization« (Nichtregierungsorganisation), im Folgenden als NGO bezeichnet. Bisher wurden die Begriffe Intervention und Hilfe unterschieden. Intervention bezieht sich dabei auf solche Maßnahmen, die mit einer Idee von Entwicklung in sozialökologischen Verwundbarkeitskontexten operieren. Hilfe bezieht sich auf solche Maßnahmen, die kurzfristig zur Abwehr akuter Notlagen, z.B. im Zuge extremer Naturereignisse, bereitgestellt werden. Diese Unterscheidung besitzt für den weiteren Gang der Argumentation eine untergeordnete Rolle. Rekurriert wird auf das Gemeinsame beider Versionen. Es geht um Zugriffe auf gesellschaftliche Naturverhältnisse in ausgewiesenen Problemsituationen, sei es im Zuge schleichender oder akuter sozialökologischer Krisen, und um das Ziel, eine Veränderung zum Besseren in den Lebensumständen zu bewirken. Im Folgenden wird für beide Formen der Begriff Intervention verwendet; zur kritischen Würdigung des Entwicklungsbegriffs vgl. Müller-Mahn & Verne (2014).
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Naturdiplomatie
hungen, die ebenfalls aufgenommen wurden, um Veränderungen im Umfeld von sozial-ökologischen Krisen zu initiieren, wenn auch durch die naturdiplomatische Orientierung als Spuren.6 Fakt ist, dass in diesen Beziehungen eine (selbst-)destruktive Form der Zurichtung der Dinge sichtbar wurde, dass innerhalb dieser Beziehungen Dinge zerstört und/oder auf Zerstörung verwiesen wurde. Allein, dass dies so ist, betrachte ich als deutlichen Hinweis auf eine Konfliktbeteiligung durch Intervention und darauf, dass der Zerstörung eine besondere Funktion in diesen Beziehungen zukommen könnte. Und hypothetisch gesprochen, verweist dies darauf, dass an dieser Art von Sinnerzeugung generell und grundsätzlich etwas nicht stimmt. Folglich sind es diese Tatsachen, die es erlauben nach der Zweckmäßigkeit der beobachteten Form von Destruktivität vorzugsweise im Kontext von Interventionsbeziehungen zu fragen, diese dort zu suchen und zu entschlüsseln. Dies ist die grundlegende Ausrichtung, welche die gesamte Spurenreflexion leitet. Die Spuren werden also in einem Beziehungsgeschehen zur Intervention kontextualisiert. Von diesem Punkt aus kann nun die Verfahrensweise der Spurenreflexion bestimmt werden. Dargestellt werden Beobachtungs-/Reflexionsschritte wie sie im Feld im Zuge der Fallarbeiten entwickelt und durchgeführt wurden und nun die Argumentation in dieser Arbeit strukturieren.7 Um sich der Zweckmäßigkeit von aktiver, gewaltsamer und existenzgefährdender Zerstörung der erdnaturbezogenen Dinge, vorzugsweise im Kontext von Interventionsbeziehungen, forschend anzunähern, lohnt es sich zunächst vom Ende her zu fragen: Woran würde man in der Praxis von Intervention bemerken, ein solches Wozu tatsächlich erfasst zu haben? Man würde
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Ähnliche Phänomene wurden ebenso im Rahmen von entwicklungspolitischen und NGO-Tätigkeiten beobachtet und beraten. Dies wird an späterer Stelle erläutert. Diese Spurenreflexion besteht in einer Kombination von empirischer Illustration und theoretischer Argumentation. Von empirischer Illustration ist deshalb die Rede, weil in dieser Arbeit ein doppelter Anspruch verfolgt wird, nämlich erstens einen konzeptionell wenig verankerten Weg wissenschaftlicher Beobachtung und Reflexion im Feld zu er-/begründen und dazu zweitens jene Thesen zu veranschaulichen, die auf diesem Weg gewonnen werden können. Es geht somit um die Darlegung empirischer Befunde, die einer bestimmten Beobachtungs- und Reflexionsweise folgen, eine Weise, die es entlang dieser Befunde wiederum selbst erst theoretisch zu fassen und zu beschreiben gilt. In dieser Arbeit wird diese Beobachtungs-/Reflexionsweise als Naturdiplomatie, ferner: als Vermittlung als Erkenntnisweg beschrieben.
I Methodologischer Rahmen
es daran bemerken, Erkenntnisse gewonnen zu haben, die zu einer Positionierung und zu Taktiken verhelfen, mit denen es möglich ist, Zerstörung aus der Intervention auszuschließen und durch diesen Ausschluss situativ einen Raum für Veränderungen zum Besseren zu öffnen. Es wäre daran zu bemerken, dass diese Beziehungen nunmehr auf eine Weise Sinn erzeugen oder einen Zweck erfüllen, ohne dafür destruktive Mittel zu gebrauchen. Beobachtbar und erfahrbar wäre ein Stattdessen. Die gesamte Spurenreflexion ist somit vom Ziel geleitet, in der Praxis von Intervention ein solches Stattdessen anbieten, anleiten und gemeinsam herstellen zu können. Damit dies gelingt, braucht es Antworten auf die Frage, was genau der Bezugspunkt ist, zu dem sich ein Stattdessen entwickeln ließe. Um sich absetzen zu können, um selbst nicht destruktiv und feindselig zu agieren, um es anders zu machen, braucht es Einsichten, worauf sich die beobachtete Destruktivität richtet, wie und wodurch sie in Gang gehalten wird und welcher Sinn und Zweck sich damit für die Intervention verbindet.8 Forschungspraktisch bedeutet dies einen Dreischritt der Beobachtung und Reflexion. Dieser wird im Folgenden skizziert. Die Suche nach einem möglichen Gelingen Unter der Maßgabe, sich über die forschende Annäherung an das Was, Wie und Wozu von Destruktivität einem Stattdessen in der Intervention zuzuwenden, d.h. etwas, das auf andere Weise Sinn ergibt, für das es nunmehr gute Gründe gibt, geht es in einem ersten Schritt darum, überhaupt für etwas anderes offen zu werden. Es muss also etwas gefunden werden, das sich in eine spätere Intervention aufnehmen, womit sich arbeiten lässt und das nicht
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Mit der Fokussierung auf ein Stattdessen wird ein möglicher Zustand in der Zukunft avisiert, bei welchem das Problem nicht mehr existiert. Ausgehend von den Merkmalen des Zustands eines gelösten Problems kann dessen Beobachtung, Analyse und Beschreibung angeleitet werden. Das Stattdessen eines Problems liefert somit Anregungen, wie das Problem zu beobachten ist. Mit einer solchen Problembestimmung wird dann ebenso sichtbar, was sich genau für eine Praxis ohne Problem verändern muss und kann. Den Ausgangspunkt für die Forschung in einem Stattdessen des Problems zu markieren, ist angelehnt an problem- und lösungsorientierte Beobachtungs- und Beratungsformen. Ein Problem von seiner Lösung her zu fokussieren, bedeutet für die Forschung einen Beobachtungsvollzug von jenem Zustand aus zu organisieren, der durch die Anwendung der Forschungsbefunde möglich werden kann; zu lösungsorientierten Beobachtungs- und Beratungsformen vgl. Barthelmess (2016:155-160), Dolan & de Shazer (2022:22-42), von Schlippe & Schweitzer (2016:54-59).
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die Sprache von Destruktivität spricht. Diesseits der »Spuren der Destruktivität« und diesseits eines Feldes, das durch anhaltende Krisen und wiederkehrende Katastrophen geprägt ist, heißt dies, nach einem möglichen Gelingen zu suchen. Konkret gemeint ist die Suche nach solchen Formen von Naturbeziehungen, die Lebensvollzügen zuträglich sind, die als wertvoll und gut erfahren werden. Es geht um Naturbezüge, mit denen sich Erfahrungen verknüpfen, der Natur und hierüber sich selbst gerecht werden zu können. Sucht und untersucht man ein mögliches Gelingen und schreitet diesbezüglich zu Erkenntnissen voran, entsteht dann zugleich ein Wissen darüber, was situativ durch die (selbst-)destruktive Zurichtung der erdnaturbezogenen Dinge vermieden wird und verloren geht. Markiert ist somit ein Anfangspunkt, um der Zielrichtung von Destruktivität einen Namen zu geben. Sichtbar wird nämlich, welche Beziehungsweisen zu den Dingen kaum oder nicht mehr aktualisiert und welche Erfahrungsräume und Potentiale in den Missständen untergraben werden. Die Frage, die sich daran anschließen kann, ist, was es für die Menschen so schwierig oder gar bedrohlich machen könnte, sich auf Formen von Naturbeziehungen zu orientieren, mit denen ein Gelingen zumindest berührt wäre. Eine solche Forschung entspricht der Suche nach verborgenen, weniger sichtbaren und zugänglichen Ressourcen im Feld. Es geht um sogenannte »[…] gute Quellen, aus denen die Kreativität schöpft, die einerseits Belastungen und Probleme abpuffern, zum anderen aber Grundlage für Potentiale […] bieten« (Petzold 1997/2012:4). Verborgenheit ist dazu in zweifacher Hinsicht zu lesen. Es geht erstens um sogenannte »gute Quellen«, die möglicherweise in solchen Formen von Naturbeziehungen liegen, die dem eigenen Blick verborgen und die zweitens im Zuge der Krisen-, Katastrophen und Veränderungsdiskurse und entsprechenden Interventionskulturen den Menschen kaum oder nicht mehr zugänglich sind. Dies meint nicht, dass diese nicht mehr da sind, sondern dass dafür kaum Wahrnehmung, keine Anerkennung und ebenso wenig Artikulationsformen und -möglichkeiten existieren, um diese einem Gelingen zuzurechnen. Für beides, die blinden Flecken der eigenen Beobachtung und denen in einem größeren Diskursfeld, heißt es entsprechend beobachtungssensibel zu werden. In dieser Doppelbewegung gesucht wird also ein Gelingen, das im Feld prinzipiell angelegt ist, wozu es
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Erfahrungen gibt oder geben müsste, die aber schwer verfügbar und in den vorfindlichen Deutungs- und Beschreibungssystemen kaum einholbar sind.9 Die forschungspraktische Herausforderung besteht folglich darin, dort ein Sehen und Verstehen einzuüben, wo es kaum mehr einen Fokus, geschweige denn Ideen, Narrative und Begriffe gibt und worüber sich auch nicht einfach so sprechen lässt. In einem Feld, wo das Misslingen, d.h. ein stark defizitorientierter Diskurs allgegenwärtig und wirkmächtig scheint, lassen sich ad hoc keine Definitionen und Thesen bestimmen oder Befragungen durchführen, die das Gelingen adressieren. Und wenn dies doch versucht wird, dann verbleiben diese in der Logik der gewählten, meist »mitgebrachten« Problemdefinitionen. Im Resultat werden Annahmen zum Gelingen im Spiegel eines vorgefassten Misslingens abgeleitet. Folglich betritt man mit der Suche nach dem Gelingen – diesseits der Missstände und jenseits einer vorgefassten Version des Scheiterns – Neuland und hat die Aufgabe, Pionierarbeit zu betreiben. Eine solche Pionierarbeit gelingt durch ein vorsichtiges Explorieren, das sich inmitten eines destruktiven Feldes auf das Gelingen als etwas schwer Verfüg- und Vermittelbares ausrichtet. Dazu braucht es entsprechend geöffnete begriffliche Werkzeuge, insbesondere ein Begriff von Natur und Naturbeziehung, mit denen es möglich wird, auf Unterschiede in den Naturverständnissen und -bezügen aufmerksam zu werden. Und es braucht eine Beobachtungsstrategie. Im Feld bedeutete dies, aus den jeweiligen Arbeitssituationen heraus auf das Gelingen fokussierte
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Damit verbunden ist eine Forschungshaltung, die von der Maxime geleitet ist, dass auch in den schwierigsten und defizitärsten Situationen »gute Quellen« oder Ressourcen liegen, d.h. Wissen, Erfahrungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, die einem Gelingen zugerechnet werden können. Entsprechend geht es, entgegen einer defizitorientierten, um eine ressourcenorientierte Beobachtung. Ressourcenorientierung als forschende Grundhaltung nimmt ihren Ausgangspunkt in den ressourcenorientierten Zugriffen der sozial-ökologischen Vulnerabilitäts- und Resilienzansätze, auch wenn diese für die vorliegende Arbeit an späterer Stelle modifiziert werden (Adger 2000, Birkmann 2006, Blaikie et al. 2014, Bürkner 2010, Crane et al. 2010, Müller-Mahn & Cannon 2010, Walker & Salt 2006). Ferner ist dieser Zugriff inspiriert durch Ressourcen-/Resilienzorientierung als Grundhaltung in systemischen Beratungsformen (Barthelmess 2016:126-129, von Schlippe & Schweitzer 2016:209-211, WelterEnderlin 2012:7-19). Er ist ebenso inspiriert durch solche Beratungsformen (z.B. in der sozialen Arbeit), die Empowerment-Strategien verfolgen (Bröckling 2004, Herriger 2015).
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und dazu explorative Beobachtungen anzuleiten.10 In den Gesprächen hieß dies z.B. auf das zu achten, was sich im Beisein einer Interventionsfigur nicht aussprechen lässt oder was den vorgefassten Deutungsrahmen des Misslingens irritiert. In den Arbeitssituationen vor Ort hieß es ebenso weniger das gesprochene Wort als vielmehr das alltägliche Tun im Umgang mit der Natur zu beobachten, dazu nach »intakten« Zuständen der Dinge zu suchen und schließlich auf all das zu achten, worin sich Stimmigkeit vermittelt.11 Grundständig hieß es, für all das eine Aufmerksamkeit zu entwickeln, was eine Ausnahme zum Misslingen bilden könnte.12 Erkundet werden Formen von Naturbeziehungen des Gelingens in einem Feld, das sich zumindest diskursiv für ein solches Gelingen verschlossen hat. Was damit bestimmt wird, und dies ist das diplomatische Moment dieser Form von Beobachtung, ist der Anfang für eine Positionierung, die sich im Laufe der Forschung stärker konturiert. Begonnen wird, dem Stattdessen eine Stimme zu verleihen. Indem man diesseits von Destruktivität nicht vorschnell danach fragt, was alles misslingt, sondern vorerst ein mögliches Gelingen als Zielrichtung der Destruktivität exploriert, hat man einerseits Erkenntnisse zur Hand, mit denen sich in einer späteren Intervention Sinn und Zweck auf andere Weise herstellen ließen. Dies bedeutet nicht einfach, einer zerstörerischen/zerstörten Welt eine heile entgegenzusetzen, zu romantisieren und
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Im weitesten Sinn sind damit Explorationen im Vollzug teilnehmender Beobachtungen gemeint (Breidenstein et al. 2020:83-93, Merkens 2007). Die Verwendung der Bezeichnung Stimmigkeit ist durch Watzlawicks Ausführungen inspiriert, bei denen Momente der Stimmigkeit in Selbst-Welt-Verhältnissen verortet werden, also in Erfahrungen, bei denen die Diskrepanz (nicht Differenz) von Selbst und Welt anheimfällt, nivelliert oder überwunden wird und anstelle von Diskrepanz ein ausbalanciertes, wenn nicht sogar harmonisches Einssein mit sich selbst und der Welt wahrnehmbar wird (Watzlawick 2011:24-27). Ich lese diese Deutung als Anlass, »stimmige Wirklichkeiten« in Beziehungen und ihren Vollzugsweisen zu suchen, solche zwischen Menschen wie auch zwischen Menschen und Nichtmenschen. Stimmigkeit, relational gewendet, gilt dann als Indiz für ein mögliches Gelingen. Die Suche nach Ausnahmen, in denen sich das Problem nicht zur Darstellung bringt, ist in lösungsorientierten Beobachtungs-/Beratungsformen ebenso eine Möglichkeit, um in Differenz zum Problem wichtige Erkenntnisse zur Beschaffenheit und zur Funktionalität eines Problems zu generieren, aber auch um in der Ausnahme mögliche Ressourcen für die Bewältigung des Problems aufzuschließen. In den Ausnahmen zeigt sich, was bisher kaum oder nicht verwirklicht ist, als ausbaufähig gilt und in den Problemkontext transferiert werden kann (Barthelmess 2016:132-133, von Schlippe & Schweitzer 2010:50).
I Methodologischer Rahmen
die Situationen schöner zu schreiben als sie sind. Vielmehr bedeutet dies eine gezielte Öffnung des Blicks, um sich verschütteter Potentiale gewahr zu werden. Andererseits wird es durch die Exploration dieser Potentiale möglich, selbst Abstand von der Destruktivität zu nehmen, d.h. von destruktiven Ereignissen, von den dazugehörigen Sprech- und Redeweisen sowie einem mächtigen Diskurs des Misslingens. Gemeint ist ein Abstand, der dringend gebraucht wird, um sich der Destruktivität vom Standpunkt eines möglichen Gelingens wiederum zuwenden zu können. Im Grunde vollzieht sich in dieser forschenden Bewegung ein sukzessiver Wechsel der Beobachterposition. Möglich wird so, sich weniger im Medium, also inmitten eines destruktiven Feldes zu befinden, sondern als Zuschauer eher dabei, aber nicht mehr ganz dabei zu sein.13 Mit den Erkenntnissen zu Naturbeziehungen des Gelingens markiert sind also nicht nur die Grundlagen für ein verschüttetes Potential, sondern zunächst eine Position, um den destruktiven Kräften eines Beziehungsfeldes ein stückweit näherzukommen. Die Suche nach dem Gegenläufigen Diese Position, die Perspektive eines möglichen Gelingens, heißt es in einem zweiten Schritt strategisch zu nutzen. Im Rahmen der Tätigkeiten vor Ort ging es darum, sich mit dieser Position ins Feld zu stellen, zu beobachten, in konkreten Situationen Beziehungen aufzunehmen, mit dieser Position zu experimentieren und zu arbeiten. Das bedeutet, die Zuschauertribüne zu verlassen, nun wieder in der »Aufführung«, im Medium zu sein, d.h. mittendrin und ganz dabei, aber nunmehr deutlich positionierter.14 Das Gelingen wird im Miteinander artikuliert. Für das, wofür es bislang weder Fokus noch Ideen und Begriffe gibt, werden nun Worte gefunden und Gespräche geführt.
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Dargestellt ist ein Beobachtungsvollzug zur Distanzierung und auch zur Desidentifikation vom gängigen Deutungsrahmen des Misslingens und den darin gebundenen Formen, Beziehungen aufzunehmen und zu gestalten. Dies gelingt, indem ein Beobachtungsstandpunkt entwickelt wird, der ein Zuschauen, d.h. eine allgemeine reflexive Orientierung und hierin eine mehr objektorientierte Beobachtung ermöglicht; zur Dualität der Beobachtung als Objekt und der Beobachtung im Medium vgl. Gibson (1982); zum anwendungsorientierten Transfer dieser Beobachtungstheorie vgl. Rhode-Jüchtern & Schneider (2009:149-152); zur Unterscheidung von Beobachterpositionen in Vermittlungskontexten vgl. Schneider (2013a:26-34); zur Distanzierung im Zuschauen vgl. Schneider (2013a:32). Zur Dualität der Beobachtung als Objekt und im Medium vgl. auch diesbezüglich Gibson (1982), Rhode-Jüchtern & Schneider (2009:149-152).
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Naturdiplomatie
Mit dieser Position werden entsprechende Erfahrungen gemacht. Es geht vorzugsweise um Erfahrungen zu all dem, was diese Position infrage stellt, was ihr zuwiderläuft, diese sabotiert oder sogar attackiert. Dieser experimentelle Schritt folgt der These, dass sich in diesen eigenen Erfahrungen zugleich ein Erfahrungsraum vermittelt, der in den untersuchten Situationen gegenwärtig ist, d.h. der die Menschen selbst in irgendeiner Form betrifft. Diese Beziehungserfahrungen heißt es, in einer Art rekursiven Umkehr einer Analyse und Beschreibung zu unterziehen.15 Sie bilden eine wichtige, wenn nicht die wichtigste empirische Ressource, um dem Wie und Wozu der beobachteten Destruktivität näherzukommen. Metaphorisch gesprochen: Man mischt sich in ein Beziehungsgefüge ein, indem man einen bisher unbeachteten Mitspieler sichtbar platziert, diesen spielen lässt und zugleich beobachtet, was darauf drängt, diesen Mitspieler zu eliminieren. Vom Standpunkt des Gelingens aus sind also gegenläufige Positionen zu erkennen, Gewissheiten werden sichtbar, von denen anzunehmen ist, dass sie im Feld anstehen und wirksam sind.16 Auch das Wissen um diese »Gegenspieler« wird benötigt, um in einer späteren Intervention ein Stattdessen zu stiften. Es handelt sich um Erkenntnisse, die es braucht, um die Destruktivität nach und nach ausschließen zu können. Was es hierbei zu behandeln und auszuschließen gilt, sind dann nicht die »Gegenspieler« an sich, sondern all die Taktiken, welche diese darauf verwenden, das Gelingen zu unterminieren oder zur zerstören. Ihnen ist also ihr destruktives Potential
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Es geht in diesem zweiten Untersuchungsschritt weniger um ein Explorieren als Form der Erschließung im Feld vorfindlicher, aber schwer verfüg-/vermittelbarer Strukturen des Gelingens, als vielmehr darum, durch ein Experimentieren mit der erarbeiteten Position mögliche Einflussgrößen der Destruktivität zu erkennen und zu bestimmen; zur Unterscheidung experimenteller und explorativer Denksysteme vgl. Ahrens (2011:255-262). Dieser Untersuchungsschritt ist angelehnt an Methodologien der Praxisforschung, die als »design-based research« vorzugsweise in der pädagogischen Lehr- und Lernforschung oder traditionell als Aktionsforschung (»action research«) z.B. in der sozialwissenschaftlichen Organisations-, Entwicklungs- und Unterrichtsforschung zur Anwendung gelangen. Diese Ansätze sind dann geeignet, wenn Forschungsvollzüge aus der Praxis heraus generiert werden, wenn diesbezüglich ungeklärte Konfliktfelder bedeutsam sind, aber auch wenn es darum geht, neues Wissen auf experimentellem Weg mit der sozialen Realität zu konfrontieren; zum »design-based research«-Ansatz vgl. Altrichter & Posch (2006), Barab & Squire (2004), Reinmann (2005); zum klassischen »action research«-Ansatz vgl. Lewin (1975).
I Methodologischer Rahmen
zu nehmen. Für die Intervention heißt dies, jene Formen von Naturbeziehungen, die ein Gelingen berühren, aus der Klammer von Gegenläufigkeit zu befreien. Eine solche Untersuchung des Gegenläufigen hat ebenso mit Diplomatie zu tun. Mit dem Gegenläufigen ist etwas angezeigt, das erst sichtbar werden kann, wenn man beginnt, sich in der Perspektive eines möglichen Gelingens deutlich sichtbar zu positionieren. Gegenläufigkeit wird sich erst zeigen, wenn man mit dieser Position bereit ist, entsprechende Erfahrungen zu machen, auch wenn dies ungemütlich ist. In der Sprache der Diplomatie heißt dies, als Vertreter einer Position auf Messfühlung zu gehen, die Reichweite und vor allem die Grenzen dieser Position auszuloten.17 Was man als ein solcher Vertreter auf diesem Weg in die Erfahrung bringt, sind nicht nur Positionen, die sich von der eigenen unterscheiden, sondern vor allem jene oft feindseligen Taktiken, diese durchzusetzen. Damit wird klar, dass sich das Gegenläufige nicht erfragen, messen oder beweisen lässt, sondern prinzipiell über Erfahrungen in Beziehungen und Verhandlungen zugänglich wird, insofern diese wiederum einer kritisch distanzierten Analyse und Beschreibung unterliegen.18 Dass dies ungemütlich ist und der Kritik bedarf, liegt einerseits daran, dass man als Forschende mit den destruktiven Kräften eines Feldes nunmehr direkt in Berührung kommt. Und andererseits, weil »Zivilisierung« in diesem forschenden Vorgehen darin besteht, die eigene Involviertheit in die Zerstörung erkennen und anerkennen zu müssen. Man spricht mit der Stimme eines möglichen Gelingens, vertritt eine Position, die dem Anspruch des Feldes, den Ansprüchen der Menschen vor Ort, d.h. der
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Latour formuliert diesbezüglich: »Nach den schönen Ausdrücken der Diplomatie akzeptiert er [der Diplomat, A. S.] nur, in ›Verbindung zu treten‹ und ›Vertreter zu sein‹« (Latour 2015:266). Dieser experimentelle, genauer: selbstexperimentelle Schritt setzt voraus, dass sich Forschung für ein Wissenskonzept öffnet, das das Erfahrungswissen der Forschenden anerkennt (Reichert et al. 2000:244-247). Es geht in meinem Fall um ein Wissen, das in einem sicheren, umsichtigen, letztlich erfahrenen Umgang mit Beziehungsdynamiken liegt und sich im Zuge der Professionalisierung in der Theorie und Praxis von Vermittlung und Beratung entwickelt hat. Konkret gemeint ist ein Erfahrungswissen zur Selbst- und Metareflexion in Beziehungen, zur Analyse von Konflikten, zur Positionierung im Zuge schwerer Konflikte usw. Aus meiner Sicht ist ein solches Erfahrungswissen die Voraussetzung dafür, Diplomatie als Forschung in einem schwierigen Feld überhaupt zu ermöglichen und hierzu explorativ-experimentelle Zugriffe zu versuchen.
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Naturdiplomatie
Anderen möglicherweise gerechter wird. Man nutzt dies, um Kenntnis über implizit feindselige Positionen und deren Taktiken zu erlangen, die jedoch den eigenen Ansprüchen und Gewissheiten im Rahmen von Intervention zu sozial-ökologischen Fragen, im Anspruch zu helfen, etwas gegen die Armut zu tun usw., näherkommen. »Gegenspieler« zu entlarven, heißt zu erkennen und anzuerkennen, wie Intervenierende im Feld agieren, wenn auch oft mit den besten Intentionen.19 Die Bestimmung der Zweckmäßigkeit In einem dritten Schritt wird es möglich, die Erkenntnisse zum Gelingen und zum Gegenläufigen zusammenzuführen und zu fragen, wie sich beides auf unheilsame Weise verbinden kann, wie hierdurch Zerstörung provoziert und in Gang gehalten wird. Es handelt sich um einen interpretativen Schritt, der darin besteht, nachträglich und im konkreten Fall auf Interventionsbeziehungen zu reflektieren, die sich noch ohne die nun gewonnenen Erkenntnisse organisiert haben. In dieser Nachträglichkeit wird entschlüsselt, inwieweit die aktive, gewaltsame und existenzgefährdende Zerstörung der Dinge in diesem gemeinsamen »Spiel« von Intervention folgerichtig ist, inwieweit dies in diesen Beziehungen passend ist. Von hier aus lässt sich dann eine neue und abschließende Frage berühren, nämlich jene, wozu dieses »Spiel« überhaupt gespielt wird. Wozu nützt es, ein gemeinsames »Spiel« aufzuführen, das Zerstörung produziert? Mit den Antworten auf diese Frage hat man den Sinn und Zweck, die tieferen guten Gründe für die (selbst-)destruktive Zurichtung der erdnaturbezogenen Dinge erfasst, wie sie sich in den Spuren vermittelt, und eine grundgebende Ausrichtung für ein Stattdessen in der Intervention gewonnen.
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In dieser Argumentation klingt an, was Latour als »schmerzliche Trennung« oder »qualvolle Häutung« im Vollzug von Diplomatie bezeichnet. Es geht um das Aufspüren von Positionen, um Repräsentationen oder Weltanschauungen, die im Vollzug der Beobachtung und Verhandlung weder respektiert noch verachtet, sondern aufgegeben werden müssen, um gemeinsam Veränderungen zum Besseren zu bewirken. Mit dem Aufdecken der Gegenspieler geht es nicht nur um Revision, sondern um Verzicht, d.h. um eine »schmerzliche Trennung« von Sortierungsprinzipien wie sie insbesondere auf Grundlage vorgefasster naturalistischer Natur- oder essentialistischer Kulturauffassungen zum Ausdruck kommen (Latour 2015:266).
I Methodologischer Rahmen
Naturdiplomatie als Forschung In Grundzügen skizziert wurde eine Figur der Beobachtung und Reflexion der »Spuren der Destruktivität« inklusive ihrer methodischen Implikationen. Diese forschungspraktischen Schritte sind zwar orientiert an Methodologien qualitativ-empirischer Sozial-/Feldforschung, allen voran an Ethnographie, Aktions- und Diskursforschung, werden jedoch einer Methodologie zugerechnet, die ich als forschende Naturdiplomatie bezeichne.20 Dies hat Gründe. Die Notwendigkeit zur Forschung ist aus der Praxis fallbezogener Vermittlung und Beratung, letztlich aus Interventionsversuchen im Umfeld sozial-ökologischer Probleme, heraus entstanden. Bei der skizzierten Verfahrensweise handelt es sich um ein ad hoc-Verfahren, das mit wissenschaftlichen Mitteln auf Unvorhersehbarkeiten in den praktischen Arbeitsvollzügen und damit auf eine praxisbezogene Dringlichkeit reagiert. Gemeint ist ein Forschungsanlass, dem im Rahmen der zum damaligen Zeitpunkt möglichen Feldzugänge, der vereinbarten Arbeitsaufgaben sowie der vorhandenen Ressourcenausstattung angemessen begegnet werden musste.21 Diese Rahmenbedingungen markieren im Vergleich zu den gängigen qualitativ-empirischen Methodologien einen Unterschied, was die Anlage der Untersuchung betrifft. Der wichtigste Unterschied besteht darin, zugleich forschend als auch praktisch tätig zu sein. Die Herausforderung ist somit, Erkenntnisgewinnung im Rahmen der Praxis der Intervention zu platzieren und zugleich Erkenntnisgewinnung für die Praxis der Intervention zu betreiben. Einfach formuliert handelt es sich um Praxisforschung mit einem gewissen Druck, brauchbare Erkenntnisse zu generieren und diese mit sofortiger Wirkung der Praxis auszusetzen. Eine solche Forschung hat ihre Grenzen in der Reichweite ihrer Befunde. Die Erkenntnisse werden situativ und fallbezogen, dazu oft entlang von 20
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Der explorativ-experimentelle Zuschnitt besitzt neben Ethnographie und Aktionsforschung insofern auch Züge kritischer Diskursforschung, weil die gesamte Untersuchung im gesellschaftlichen Diskursfeld von Krise, Katastrophe und Intervention situiert ist, ihre Beobachtungen in diesem Kontext interpretiert werden, um sich zu diesem Diskurs kritisch zu positionieren; zur kritischen Diskursforschung vgl. Keller (2011:2761). Hier spielen Aspekte wie eine geringe finanzielle Ausstattung, begrenzte Zeiträume, aber auch die unsichere Lage vor Ort eine Rolle. Die für diese Arbeit relevanten Feldaufenthalte fanden in einer Zeit schwerer politischer Unruhen statt, womit größere logistische Anforderungen für ein angemessenes Maß an persönlicher Sicherheit verbunden waren.
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Naturdiplomatie
bedeutsamen Episoden in Mikrosituationen generiert.22 Zu erwarten sind somit weniger empirisch umfassend gesättigte Befunde als vielmehr Deutungshypothesen, genauer: Arbeitshypothesen aus ersten und möglicherweise gewagten Zugriffen. In einem solchen Verfahren wird eher sichtbar, wie eine bestimmte Beobachtungs- und Reflexionsweise, ein besonderer Gang der Argumentation, zu ungewohnten und neuen Thesen führen kann, die zur kritischen Diskussion auffordern und zu weiterführenden empirischen Untersuchungen einladen. Eine solche Forschung hat aber auch Potential. Dieses liegt darin, dass sie den gesamten Weg von der Praxis zur Forschung und zurück in die Praxis abschreitet. Für diesen Durchgang heißt es zwar einerseits Abkürzungen und einen Verlust an Reichweite in Kauf nehmen zu müssen. Andererseits sind es aber gerade diese Abkürzungen, die wiederum zur Entwicklung kreativer Erkenntniswege herausfordern, um zu angemessenen Thesen in einem undurchsichtigen Konfliktfeld zu finden. In dieser Ausrichtung, Praxisforschung mit transformativem Anspruch zu betreiben, liegt der Hauptgrund auf den Rekurs auf Diplomatie als methodologischer Rahmen. Diplomatie lädt dazu ein, einen kreativen Erkenntnisweg zu versuchen und dazu jene Elemente von Forschung, die in der Praxis von Vermittlung, Beratung und Diplomatie selbst angelegt sind, aufzugreifen, zu nutzen und auszubauen. Es geht um all jene theoretischen und methodischen »Werkzeuge« mit einem Potential zur Erkenntnisgewinnung in schwierigen Situationen. Streng genommen existiert keine Vermittlung, Beratung oder Diplomatie, die nicht auch Forschung ist und hierzu versucht, ungeklärte, problematische, mitunter bedrohliche und zerstörerische Situationen zu klären, Arbeitshypothesen zu gewinnen, um Lösungen vorzubereiten und anzubahnen. Insbesondere in der Diplomatie ist eine Form forschender Erschließung von Problemen angelegt, die eine Verbindung von Exploration und Experiment kennzeichnet und die dem skizzierten Verfahren zur Spurenreflexion zugrunde liegt. Das explorative Moment verweist dazu auf eine forschende Bewegung in Unbestimmtheit, Vagheit und Ungewissheit. Der Diplomat ist Erkunder, Messfühler, Dolmetscher und Kundschafter – wohlwissend, dass
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Das Vorgehen gelangt dadurch in die Nähe von Ansätzen der Mikroprozessforschung zur Analyse von Veränderungsmomenten in psychologischen Beratungs- oder Therapieprozessen. Mikroprozessforschung ist Forschung am Einzelfall, prozessorientiert, rekonstruktiv und fokussiert auf bedeutsame Momente oder Episoden im Beratungs-/ Therapieprozess (Fornaro 2016, Fornaro 2014).
I Methodologischer Rahmen
der Raum, den er betritt, ein unbestimmter, vager und ungewisser ist. Unbestimmt und vage ist die zu verhandelnde Sache, ungewiss das Ergebnis ihrer Verhandlung.23 In dieser Unbestimmtheit heißt es, experimentell zu werden, d.h. mit kategorialen Annahmen und normativen Setzungen zu experimentieren, diese jedoch beweglich und veränderbar zu halten, d.h. für rückbezügliche Reflexionen, Revisionen, aber auch für deren Verzicht zu öffnen. Gemeint ist eine Positionierung durch »Zivilisierung«, ein Aspekt, der gerade in der Diplomatie betont wird, wenn es darum geht, Vertreter einer Position zu sein, damit in einem unbestimmten, vagen und ungewissen Feld in Verbindung zu treten, diese Position zu verhandeln, zu verändern, vielleicht auch zu verraten, aber immer auf Übereinkünfte und Lösungen zu orientieren. Latours Pläydoyer für den Gebrauch von Diplomatie als Forschung, d.h. für Vermittlungen als Forschung, lautet: »In der verachteten Figur des Diplomaten liegt mehr Klugheit als in der anerkannten Funktion des modernistischen Anthropologen, denn dieser respektiert nur, weil er verachtet, während jener, weil er nicht verachtet, auch nicht respektiert. Er muss allerhand einstecken. Man nennt ihn falsch und heuchlerisch, während er sich im Gegenteil darüber empört und daran verzweifelt, wenn es ihm nicht gelingt, für jede Situation zu entdecken, was zur Ausarbeitung der gemeinsamen Welt, zum Heraussondern der besten und möglichen Welten bewahrt und was verworfen werden muss« (Latour 2015:267). Das zu entdecken, was der Ausarbeitung eines Besseren oder in der bisher gewählten Begrifflichkeit: eines Stattdessen dient, ist schließlich der Hauptaspekt, der es erlaubt, dass Diplomatie in angestrengten und schwer zugänglichen Situationen als Forschungsinstrument bedeutsam wird. In den nächsten drei Untersuchungen werden also die Befunde dieser explorativ-experimentellen Arbeit an und mit Positionen bzw. Perspektiven aufgeführt, um sich einem Verständnis der »Spuren der Destruktivität« anzunähern.
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Latour formuliert diesbezüglich: »Diplomatie ist Ungewissheit und damit ein riskanterer Beruf als ihn der Anthropologe ausübt« (Latour 2015:69).
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2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
Welche Gewissheiten gibt es darüber, was zerstört wird? Was wird vermieden oder geht verloren, wenn man trotz Alternativen am Anbau von Erdnüssen festhält, der in absehbarer Zeit die Böden zerstört; wenn man die einzige Wasserleitung zerschlägt, kurz bevor das Wasser für alle fließen könnte; wenn man seltene Langusten fischt, die man nicht braucht; wenn man ohne existentielle Not Bäume fällt und damit die eigenen Gärten gefährdet oder wenn man mit der Axt einen heiligen Mapou-Baum attackiert? Diese erste Untersuchung wird die Zielrichtung dieser destruktiven Akte explorieren. Empirisch illustriert und diskutiert wird dazu die These, dass in der Zerstörung ein mögliches Gelingen vermieden wird oder verloren geht. Was mit diesem Gelingen berührt ist, sind »gute Quellen« einer Weise, Naturbeziehungen aufzunehmen und zu gestalten, die Erfahrungen einer »Natur der Fülle« bereithalten können. Es geht um die Beschreibung solcher Ressourcen, durch die es möglich wird, dem ökologischen Potential der Nahrungsfülle, den wiederkehrenden »natural hazards« und hierüber sich selbst im Anspruch auf die Befriedigung existentieller Grundbedürfnisse, aber auch auf Lebensfülle gerechter werden zu können. Im Folgenden werden die Befunde sowie der Weg einer solchen Exploration dargestellt. Die Ausführung wird dazu in fünf Schritten entfaltet. Die gewählte Abfolge wird den Gang der Reflexion abbilden, so wie er die Beobachtungen im Feld gekennzeichnet hat. Bei diesen Reflexionsschritten handelt es sich um perspektivisch gerichtete Zugänge, mit denen es möglich wurde, den Untersuchungsgegenstand – die Zielrichtung der beobachteten Destruktivität – empirisch sichtbar zu machen, zu illustrieren und zumindest hypothetisch zu greifen:
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Naturdiplomatie
a) Beim ersten Schritt handelt es sich um einen normativen Zugang. Um den forschenden Blick für ein mögliches Gelingen zu öffnen, heißt es diesbezüglich berechtigten Einwänden zu begegnen, die sich explizit und implizit im gängigen Krisen- und Katastrophendiskurs in Politik und Intervention, in Wissenschaft und vor allem im Alltag vermitteln. Entsprechend normativ werden Ansprüche und Gründe vorgetragen, die eine Untersuchung zum Gelingen rechtfertigen. b) Mit dieser Öffnung des Feldes wird in einem zweiten Schritt eine Leitthese für die Beobachtung eines möglichen Gelingens entwickelt. Es handelt sich um einen hypothetischen Zugang. Formuliert und begründet wird, dass ein Gelingen dann angezeigt ist, wenn Naturbeziehungen möglich werden, in denen ein Anspruch auf eine »Natur der Fülle« artikuliert und durch entsprechende Praktiken beantwortet werden kann. c) Um den Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« sehen und angemessen beschreiben zu können, werden in einem dritten metatheoretischen Zugang passende begriffliche Werkzeuge notwendig. Ausgearbeitet wird ein von vorgefassten Deutungsansprüchen befreiter Naturbegriff und dazu eine ebenso befreite Version des Begriffes Naturbeziehung. Möglich wird so, den Blick für die Unterschiede in den Modi alltäglicher Bezugnahmen auf die Natur zu öffnen, die ein Gelingen zumindest berühren. d) In einem vierten empirischen Zugang werden die »guten Quellen« von Naturbeziehungen exploriert, durch die der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« zum Tragen kommen können. Einerseits wird eine solche Quelle in einem Können vermutet, dass die Einfachheit kultiviert und andererseits in der Erzeugung einer Verbundenheit mit der Natur, die als das Zuhause in Erscheinung tritt. Zuhause meint die Herstellung einer Art Gemeinschaft zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen, eine Gemeinschaft, die zur Wohnstätte wird, das soziale Leben organisiert und die überdies als spirituell-religiöse Heimat ihren Ausdruck findet. e) In einem abschließenden interpretativen Schritt werden die gewonnenen Thesen zu einer Naturbeziehungsweise, die das Gelingen zumindest berührt, mit den Spuren der Destruktivität in Beziehung gesetzt. Das Misslingen, welches sich in der beobachteten Form von Destruktivität offenbart, wird an dieser Stelle im Spiegel eines möglichen Gelingens interpretiert und diskutiert. Dieser Schritt wird die zweite Untersuchung vorbe-
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
reiten, die nach solchen Einflüssen fragt, die die Kraft haben, jene Lebensmöglichkeiten einer »Natur der Fülle« aktiv und gewaltsam zu vermeiden.
2.1
Zwei Einwände und Gründe dagegen
Wie kann mit der Exploration von Naturbeziehungen begonnen werden, die von einem möglichen Gelingen zeugen? Welcher Anfang lässt sich in einem Feld markieren, in dem Krise, Katastrophe und Gewalt den Alltag prägen? Wie beginnt man eine solche Untersuchung, wenn Zweifel auftauchen, ob und inwieweit es von Verantwortung zeugt, in existentiellen Notlagen über das Gelingen nachzudenken? Ist es angemessen, mit »Reisepass« und »Flugticket« in der Tasche, was in jedem Moment die Option eines Auswegs bereithält, in Situationen, die sich als ausweglos darbieten, über das Gelingen, zu guten Lebenserfahrungen zu forschen? Welche Sehschärfen und tote Winkel liegen in einem Blick, dem ein solches Privileg vorausgeht? Wie beginnt man ein mögliches Gelingen zu explorieren, wenn niemand die Ansicht teilt, dass dies richtig, zweckdienlich und gültig sein kann? Wie exploriert man ein Gelingen, wenn einem als Forschende die Missstände zu überwältigen drohen, man sich selbst damit identifiziert und den Eindruck bekommt, der Sache gerechter zu werden, es bei der Ausweisung von Defiziten zu belassen? Aufgeführt ist eine Reihe von Fragen, die Einwände berühren, hierin aber von einem Anfang künden, ein mögliches Gelingen zu erkunden. Es handelt sich um Fragen und Einwände, die sich mit dem gewählten Fokus aufdrängen und die es vorwegzunehmen zu gilt. Tut man dies, fokussiert und konturiert sich der Zugang zum Untersuchungsgegenstand. Aus meiner Sicht geht es um zwei Grundsatzfragen, die mit den aufgeführten Fragen anstehen. Die erste grundsätzliche Frage lautet, welchen Erfolg es überhaupt verspricht, inwieweit es plausibel und gerechtfertigt ist, in einer augenscheinlich zerstörerischen/zerstörten Welt nach einem möglichen Gelingen zu suchen. Der Einwand, der zu dieser Frage führt, ist, dass es nichts bringt, es zu spät und nahezu irrwitzig ist, einen solchen Versuch zu wagen. Die zweite grundsätzliche Frage lautet, wie man verantwortungsvoll über das Gelingen in einer augenscheinlich zerstörerischen/zerstörten Welt forschen kann, der man selbst – zumindest auf den ersten Blick – nicht angehört und die man in jedem Moment wieder verlassen kann. Welche Erkenntnisse, die ein mögliches Gelingen berühren, kann man hinterlassen, lassen sich verantworten? Der Einwand, der zu dieser Frage führt, ist, dass man durch eine
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Naturdiplomatie
solche Forschung geneigt ist, die tatsächlichen Missstände geringzuschätzen und einen Duktus zu erzeugen, dass es so schlimm doch gar nicht ist. Beide Einwände sind mir begegnet, der erste im Feld selbst, der zweite in Form einer Selbstkritik. Im Folgenden möchte ich diese Einwände vorwegnehmen, dazu erstens Gründe benennen, die eine Exploration des Gelingens generell rechtfertigen, und zweitens den Anspruch an eine verantwortungsvolle Vorgehensweise formulieren. Beides wird die Beobachtung in gewisser Weise öffnen. In dieser Öffnung liegt dann der gesuchte Anfang. Zur Plausibilität das Gelingen zu explorieren Ein Einwand, der mir im Feld und in den Recherchen hartnäckig begegnete und einer Ausführung bedarf, ist, dass die Exploration des Gelingens keinen Erfolg verspricht, es dafür keine Plausibilität gibt, es in Anbetracht der gesamtgesellschaftlichen Missstände falsch wäre, dies zu versuchen. Ein solcher Einwand soll mit folgenden Äußerungen illustriert werden. Ich denke dazu an die Aussage eines Delegierten der EU, der seit fünf Jahren in Haiti lebt und arbeitet und mit dem ich ein ausführliches Gespräch über die politische, soziale und ökologische Lage führte. Er äußerte: »Ich bin ehrlich, das Einzige, was diesem Land überhaupt noch helfen kann, ist ein massives Ereignis. Alles muss einfach nur weg und neu aufgebaut werden.« Ich frage ihn: »Was könnte ein solches massives Ereignis sein?« Er antwortet: »Eine weitere Naturkatastrophe und infolgedessen ein sozialer Aufstand.«1 Ein Beauftragter der »World Bank«, in leitender Position und seit nunmehr 25 Jahren in Haiti, bemerkte in einem informellen Gesprächskreis etwas Ähnliches: »Man darf es nur denken und nicht sagen: Aber ein Erdbeben allein reicht nicht in Haiti, es braucht ein weiteres.«2 In der kleinen Runde regte sich kein Widerspruch, es herrschte Einvernehmen. In einem anderen Gespräch mit einem als Eigentümer eines Berghotels und Leiter einer Reihe von ökologischen Entwicklungsinitiativen eher gut situierten Haitianer gab ich bekannt, dass ich mich im Rahmen einer Forschung über Naturbeziehungen auch für all das interessiere, was sich in den Lebensvollzügen der Menschen als stimmig und hierin gut bewährt hat. Ich wurde ausgelacht und auf meine Naivität
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Originalzitat englisch: EU-Experte: »I am honest, the only thing that can help this country at all is a massive event. Anything has to just be removed and rebuilt.« A. S.: »What could such a massive event be?« EU-Experte: »Another natural disaster and, as a result, a social uprising.« Originalzitat englisch: »You can only think of it, but you are not allowed to say it: Only one earthquake is not enough in Haiti, another one is needed.«
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
hingewiesen. Auch der Haitianer hatte die Vision einer eruptiven Form von Veränderung, im Sinne von Bürgerkrieg, Revolution oder Naturkatastrophe.3 Ist Haiti am Ende? Diese Frage steht nicht nur hinter diesen Statements, diese durchzieht auch das Gros der inter-/nationalen öffentlichen Debatte. Haiti ist am Ende, so das gängige Narrativ und steht nun kurz vor der »totalen Katastrophe«, wie es dazu pointiert in einer kürzlich erschienenen TVDokumentation präsentiert wird.4 Mehr als zehn Jahre nach dem großen Erdbeben wird in dieser Dokumentation eine ernüchternde Bilanz gezogen.5 Die meisten der Interventions- und Hilfsmaßnahmen greifen nicht mehr. Viele davon laufen nun aus. An den strukturellen Problemen wie der Armut, der
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Im Rahmen der Feldaufenthalte entstanden ist eine Reihe von Kontakten zu Mitgliedern der EU-Delegation, zu »World-Bank«-Beratern vor Ort und zu Personen, die an entsprechenden entwicklungspolitischen oder NGO-Initiativen partizipieren. Entwickelt hat sich ein intensiver Austausch informeller Natur. Die Aussagen wurden also im Rahmen informeller Treffen getroffen. Hierbei handelt es sich um exemplarische Statements, die m.E. oft, wenn auch nicht nur, eine Art stillen Common Sense in den Expatriate-Kreisen abbilden. Vgl. Arte-Reportage vom 10.01.2020 mit dem Titel »Haiti: Vor dem totalen Zusammenbruch« (https://www.arte.tv/de/videos/094601-000-A/haiti-vor-dem-totalen-zusamme nbruch/). Beim Arte-Bericht handelt es sich um ein Diskursfragment, das exemplarisch ist für das mächtige Narrativ der Krise und des Misslingens. Dieses Narrativ prägt den gesamtgesellschaftlichen Diskurs, d.h. es ist maßgebend für populäre, wissenschaftliche, professionelle und alltägliche Diskurse. Das Krisennarrativ ist nicht neu, sondern vielmehr ein persistentes Narrativ der letzten Jahrzehnte. Vergleichsweise kann hierzu noch auf einen Artikel aus dem Jahr 1990 in »Die Zeit« mit dem Titel: »Wüste Eden. Wie aus dem Karibik-Paradies ein trauriges Tropeneiland wurde – eine Fallstudie« verwiesen werden, in dem sich die gleiche Argumentationsstruktur findet (Condit 1990); zum populären Krisendiskurs vgl. auch Katz (2013); zum wissenschaftlichen Krisendiskurs vgl. Fatton (2014), Fatton (2011), Gratius & Kempin (2004), Lundahl (1979/2015), Lundahl (2013), Lundahl (2011). Beim großen Erdbeben handelt es sich um das Erdbeben am 12. Januar 2010 mit einer Stärke von 7,0 auf der Richter-Skala. Das Erdbeben mit dem Epizentrum in Léogâne hat vor allem die Hauptstadt Port-au-Prince und damit ein Gebiet schwer getroffen, das am wenigsten für ein solches Ereignis vorbereitet war. Über die Zahl der Todesopfer gibt es Unstimmigkeiten bei den Zahlen, die von der Regierung veröffentlicht wurden (ca. 230.000 bis 316.000 Todesopfer) und denen unabhängiger wissenschaftlicher Studien (ca. 65.000 bis 112.000 Todesopfer) (Lundahl 2013:190); zur quantitativen Analyse der katastrophalen Auswirkungen des Erbebens vgl. Lundahl (2013:190191), Lundahl (2013:202-209).
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Naturdiplomatie
mangelnden Grundversorgung mit keimfreiem Trinkwasser, Elektrizität, Medizin, an der Korruption, der Kriminalität, der Ernährungsunsicherheit, dem Abfallproblem, der Erwerbslosigkeit, insbesondere der Jugendlichen usw. hat sich nichts geändert. Der Wiederaufbau ist gescheitert; die Slums in den Städten sind nicht verschwunden; die politische Lage ist chronisch instabil; die Straßen sind voll mit Protestierenden.6 Ebenso gibt es auch für die schweren ökologischen Krisen wie Abholzung, Bodenerosion, Überfischung oder die wiederkehrenden Sozialkatastrophen durch Naturereignisse kaum Lösungen.7 Worauf die Berichte und Äußerungen also generell hindeuten, ist eine spürbare Resignation und die Hoffnung auf eine Lösung, bei der das nächste eruptive Großereignis, sei es eine radikalisierte soziale Bewegung,
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Zur Veranschaulichung der Probleme sind im Folgenden einige verfügbare Kenngrößen dargestellt: Haiti liegt im Rang der menschlichen Entwicklung auf Platz 170 von 189 Ländern und damit am untersten Ende (»Human Development Index«/Index menschlicher Entwicklung 0,510 Stand 2019) (Human Development Report 2020:2). Die Bevölkerungszahl liegt bei 11,123 Millionen (Stand 2018). Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 65,8 Jahre bei Frauen, 61,4 Jahre bei Männern (Stand 2018). Die Erwerbslosenquote liegt bei 14 %, die Erwerblosenquote bei Jugendlichen liegt bei 36 % (Stand 2017). Auf 1000 Einwohner kommen 0,7 Krankenhausbetten (Stand 2013) (Statistisches Bundesamt 2019:3-8). 58,5 % der Bevölkerung lebt in multidimensionaler Armut (»Multidimensional Poverty Index«/Index multidimensionaler Armut) (Länder-Informations-Portal 2020:o.S.). Laut Aussagen eines vor Ort tätigen NGO-Mitglieds der »Electriciens sans Frontières« (Elektriker ohne Grenzen) leben von ca. zwölf Millionen Menschen ohne Elektrizität im gesamten Karibikraum allein sieben Millionen in Haiti. Das Kardinalproblem der ökologischen Devastierung besteht in Bodendegradation und -erosion durch agrarwirtschaftliche Nutzung und Abholzung sowie in Biodiversitätsverlusten. Erosionsbedingte Sedimentationen und Überfischung führen zudem zur Degradation der bedeutsamen litoralen und marinen Ökosysteme (ÁlvarezBerríos et al. 2013, Lundahl 2013:34-35, McClintock 2004, McClintock 2003, Steckley 2015:131-133, Steckley & Shamsie 2015). Ein Drittel der Gesamtfläche ist Waldfläche. Diese Zahl ist neu und wird durch hochauflösende Satellitenbilder belegt (Churches et al. 2014, Tarter et al. 2018:2-5, Tarter 2016). Verbreitet ist jedoch gegenwärtig noch die Annahme einer nahezu totalen Abholzung mit einem Anteil der Waldfläche von 3,5 % (Stand 2018) (Statistisches Bundesamt 2019:8). Der Anteil an landwirtschaftlich genutzter Fläche an der Gesamtfläche beträgt 66,8 % (Stand 2018) (Statistisches Bundesamt 2019:8). Allerdings wird davon ausgegangen, dass gerade noch 30 % der Gesamtfläche landwirtschaftlich genutzt werden können (LänderInformations-Portal 2020:o.S.).
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der nächste Hurrikan oder ein neues Erdbeben für eine Art gesellschaftliches »reset« sorgen, wobei sich alles in eine neue Ordnung fügen kann. Der Einwand, der sich in diesen Befunden und im Diskurs über Haitis Dauerkrise vermittelt, besteht in der Frage, ob es plausibel und gerechtfertigt ist, anzunehmen, dass es auch nur irgendetwas gibt, das für ein Gelingen sprechen kann. Es wird plausibel und kann gerechtfertigt werden, insofern man den Anspruch verfolgt, dem Sog des Diskurses nicht zu erliegen, einen grundlegenden Zweifel zuzulassen und sich dazu sachlich begründet zu Aussagen ins Verhältnis zu bringen, auch oder gerade, wenn diese eine starke Deutungsmacht besitzen. Entsprechend sind an dieser Stelle gute Gründe zu markieren, die eine Perspektive auf ein mögliches Gelingen unter Würdigung der gesamtgesellschaftlichen Missstände erlauben und notwendig machen. Ein erster Grund liegt in der gewählten forschenden Haltung, die darin zum Ausdruck kommt, dass sie zwar eine problem-, darin aber ressourcenund lösungsorientierte Beobachtung anleitet. Damit wird der Maxime gefolgt, dass auch in den defizitärsten Situationen nützliche Ressourcen bzw. »gute Quellen« liegen, die Entwicklungsmöglichkeiten und Auswege bereithalten können. Die Aufgabe einer solchen Haltung besteht dann darin, sich deutlich abzusetzen von Positionen, die zu nichts führen, weil sie im Kern auf Krise, Katastrophe, Gewalt, Elend, ein allumfassendes Versagen und Ausweglosigkeit(!) fokussieren und dies zementieren. Positionen, die einseitig mit dem Scheitern, dem Ende und einem totalen Kollaps operieren, bedeuten eine gefährliche Problemtrance, die das Feld für jegliche Ressourcen und Lösungen verschließt. Sie gründen in einem ausschließlich auf das Misslingen verengten Blick, mit dem man der Differenziertheit und Komplexität von Gesellschaften jedoch unmöglich gerecht werden kann. Diese extremen Positionen sind nicht nur resignativ, sondern implizit feindselig, weil sie eben auch negieren, dass Menschen des Lebens würdig und fähig sind.8 Zweitens sind schwere Krisen und Katastrophen selbst fundamentale und andauernde gesellschaftliche Erfahrungsbereiche. Sie sind fest in das kol8
Auch wenn in den Äußerungen und den gewählten Diskursfragmenten extreme Positionen zum Ausdruck kommen, so ist eine Tendenz, das Gelingen zu unterminieren und zu negieren, auch in solchen Diskursen angelegt, die über einseitige Krisen-/Problemdiagnostik nach Entwicklungs-/Veränderungsmöglichkeiten suchen. Auch wenn es keinen etablierten Diskurs gibt, der sich dem Gelingen verpflichtet, so existieren vereinzelt, meist kulturwissenschaftlich orientierte Arbeiten, die sich kritisch zum gängigen Krisendiskurs positionieren (Beckett 2013, Farmer 2003, Polyné 2013, Ulysse 2015).
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lektive Gedächtnis und die Alltäglichkeit eingeschrieben: Sozialkatastrophen durch Naturereignisse, Diktatur, Staatsstreiche, Revolution, Bürgerkrieg, Epidemien wie Cholera, Hungerkrisen usw. Dies alles ist wohlvertraut und im Alltag immer greifbar nah.9 Ein krisenbedingtes »reset« herbeizusehnen, durch das sich alles in eine neue Ordnung fügen könnte, entspricht von daher einem Irrglauben. Dem EU-Delegierten begegne ich und frage, ob bei den vielen Krisen und Katastrophen nicht eher ihr Ausbleiben für eine echte Erschütterung sorgen könnte. Diese Frage ist spitzfindig und ebenso illusionär. Sie macht aber Sinn, weil sie die Logik irritiert und darauf verweist, was diesseits von Krise, Katastrophe, Armut, Gewalt und allumfassendem Versagen noch alles zu sehen ist. Sichtbar wären dann zunächst all die nützlichen Überlebensstrategien, die sich im Coping bewährt haben. Auch wenn in dieser Arbeit bei der Exploration des Gelingens nicht einseitig auf eine ressourcenvolle Bewältigung i.S. von Coping- oder Resilienzstrukturen abgehoben wird, sich hierin, wie an späterer Stelle erläutert wird, ebenso eine Verengung des Blicks offenbart, ist damit dennoch grundsätzlich ein (an-)erkennender Schritt angezeigt. Sichtbar werden nämlich Menschen, die zumindest des Überlebens fähig sind und tagtäglich tun, wozu sie imstande sind, um halbwegs tragbare Lebensverhältnisse zu schaffen. Damit ist ein weiterer Grund markiert, eine Perspektive, die sich dem Gelingen zuwendet, auch im Zuge einer anhaltenden schweren Krise zu verfolgen.10 Drittens geht es mit der gewählten Perspektive auf ein mögliches Gelingen weniger darum, eine umfassende Gesellschaftsdiagnose zu wagen, so wie es in den Krisenszenarien meist betrieben wird, sondern darum, diese Perspektive darauf zu verwenden, einer besonderen Form von Destruktivität näherzukommen. Es geht um die Form einer (selbst-)destruktiven Zurichtung erdnaturbezogener Dinge, womit auf Störungen und Dysfunktionalitäten in Naturbeziehungen verwiesen ist und die sich im Kleinen konkreter Situationen vermittelt hat. Ressourcen oder »gute Quellen« werden dann ebenso in Naturbeziehungen und auch im Kleinen alltäglicher Situationen vermutet und über die Frage adressiert, was Krise und Katastrophe und der da-
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Beckett betont überdies, dass diese Krisenerfahrungen individuell und kollektiv eine entsprechende »structure of feeling« erzeugen (Beckett 2019:11). Das Argument wird abgeleitet aus der bereits erwähnten Form ressourcenorientierter Forschung, die in sozialen und ökologischen Verwundbarkeitskontexten nach Copingund Resilienzstrukturen fragt (Adger 2000, Birkmann 2006, Blaikie et al. 2014, Bürkner 2010, Crane et al. 2010, Müller-Mahn & Cannon 2010, Walker & Salt 2006).
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
mit verbundene Diskurs des Misslingens möglicherweise unsichtbar machen oder nicht mehr zulassen. Gemeint ist das, was für Beziehungen zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen spricht, die das alltägliche Leben tragen können, womit gute Lebenserfahrungen angezeigt wären. Es geht somit um einen fokussierten Blick auf ein mögliches Gelingen, der sich an der Alltäglichkeit abarbeitet und im Kleinen konkreter Situationen versucht, entsprechende Einsichten zu erlangen. Von hier aus sind dann auch Verlinkungen in das große gesellschaftliche (Diskurs-)Feld von Krise und Katastrophe möglich. Eine solche Fokussierung im Maßstabswechsel ist aus meiner Sicht nicht nur ein weiterer Grund, der die explorative Suche nach dem Gelingen erlaubt, als vielmehr dringend notwendig, um sich quer zu den einseitig defizitorientierten Gesellschaftsdiagnosen zu positionieren.11 Viertens wird mit der Fokussierung auf Naturbeziehungen, die ein mögliches Gelingen ansprechen etwas adressiert, was als ein Anspruch des Feldes selbst betrachtet werden kann, d.h. keine vorgefasste oder »mitgebrachte« Perspektive abbildet. Zu einem solchen Zugriff hat das Feld, haben die Situationen selbst, auf- und herausgefordert. Beschreibungsformeln wie Natur und Gelingen (wenn dieses zur Natur ins Verhältnis gesetzt wird) sind im Alltäglichen anschluss- und diskursfähig, wenn auch »leise«. Meinen Beobachtungen zufolge handelt es sich um etwas, das sich im Kleinen alltagsweltlicher Diskurse wiederfindet, was sich mit viel Fingerspitzengefühl in den Gesprächen adressieren lässt und dazu Entlastung von einer erdrückenden Problemtrance bringt.12 Das Reden über die Natur und über all das, was Menschen an die erdnaturbezogenen Dinge bindet, ist möglich, jedoch weniger mit den EU-Delegierten, den »World-Bank«-Beratern, oder der haitianischen Vermögenselite. Es ist möglich mit denen, die im großen Diskurs des Misslingens eher als Verlierer erscheinen, sich aber tagtäglich in den gesellschaftlichen 11 12
Zum Perspektivenwechsel durch Maßstabswechsel vgl. Rhode-Jüchtern (2015). Über das Gelingen zu reden, wird nur dann möglich, wenn in den Gesprächen zugleich die Krisenerfahrungen anerkannt und gewürdigt sind. Ist dies der Fall, braucht das Gespräch konkrete Ankerpunkte. Wenn ich z.B. mit einem Farmer konkret und detailliert darüber spreche, was sein ertragreicher Garten alles für ihn bereithält, was er anbaut, wie oft er erntet und mir dazu Techniken und Praktiken zeigen und beschreiben lasse, darüber hinaus in Erfahrung bringe, was ihm diese Dinge und Tätigkeiten bedeuten und ich im besten Fall mit ihm in seinem Garten bin, dann kann sich eine Erzählung öffnen, in der bestimmte Dinge, Tätigkeiten oder Vorstellungen als »gute Quellen« bezeichnet und diskursiv als Gelingen verfügbar werden. Dies wird zunächst allein deshalb möglich, weil es fokussiert und erfragt wird.
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Missständen zurechtfinden, so z.B. Farmer, Fischer, Holzfäller, die Frauen auf den Märkten, junge Menschen und Kinder.13 Das Miteinanderreden über die Natur und das Gelingen ist deshalb anschlussfähig, weil es mitten ins Herz eines alltäglichen Erfahrungsbereichs trifft, der in seiner Bedeutsamkeit kaum zu überschätzen ist und womit schließlich ein weiterer Grund markiert wäre, der die gewählte Perspektive rechtfertigt und notwendig macht. Es ist die Natur, die in den Existenzweisen allgegenwärtig ist. Gemeint sind Naturbezüge, die den stark auf Subsistenz ausgerichteten Lebensweisen zugrunde liegen. Der soziale Modus der Produktion materieller Dinge zum (Über-)Leben besteht zum großen Teil in der Selbstversorgung, einem Bestehen aus sich selbst heraus14 , wobei der auf Kleinstflächen betriebene Anbau u.a. von Mais, Bohnen, Maniok, Bananen oder Reis, die Haltung von Nutztieren wie Schweinen, Rindern, Ziegen und Geflügel, die Fischerei zum Fang von Fisch und Meerestieren sowie die Forst-/Holzwirtschaft für die Produktion von Holzkohle als Hauptenergieträger die Grundlagen bilden.15 Hierin deuten sich Naturbezüge und »gute Quellen« an, die zumindest für eine Vertrautheit und ein ausgeprägtes Können im Umgang mit den Dingen sprechen und in einem ersten Zugriff als Naturnähe beschrieben werden können. Der alltägliche Erfahrungsbereich
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Gemeint ist Haitis rurale Bevölkerung, die insbesondere im Diskurs über die ökonomische Krise als marginalisierte gilt. Eine exemplarische und mittlerweile klassische Studie ist die Arbeit des Ökonomen Lundahl zur Agrarwirtschaft und Verarmung (Lundahl 1979/2015); zu neueren Arbeiten zur Situation der Landbevölkerung vgl. Échevin (2014), McClintock (2004), Steckley (2015), Steckley & Shamsie (2015), Steckley & Weis (2017), Vansteenkiste (2018). Subsistenz als Bestehen aus sich selbst heraus wird in Anlehnung an den philosophischen Subsistenzbegriff von Thieme verwendet: »Wird also von einem Bestehen aus sich selbst heraus gesprochen, ist darunter zu verstehen, dass sich ein Lebenssystem aus den eigenen Gesetzmäßigkeiten heraus an seine Umweltbedingungen anpasst und seinen Lebenszustand stabilisiert. Dieses Bestehen aus sich selbst heraus schließt folglich mit ein, dass es sich um ein offenes System handelt, das Subsistenzmittel aufnimmt, entwickelt und umwandelt, auf seine Umwelt reagiert, neue Handlungsalternativen ersinnt und sich anpasst« (Thieme 2010:20-21). Der Anteil von Selbstständigen unter den Erwerbstätigen liegt bei 88,5 %, davon 41,3 % in Land-, Forstwirtschaft und Fischerei, 46,5 % in Dienstleistungen und 12,3 % im produzierenden Gewerbe (Stand 2017) (Statistisches Bundesamt 2019:7); zur agrarwirtschaftlichen Situation in Haiti vgl. McClintock (2004), Steckley (2015:3997), Steckley (2015:131-158), Steckley & Shamsie (2015), Steckley & Weis (2017).
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ist demnach eine Natur, von der man sich nur schwer entziehen oder entfremden kann. Wenn von der Allgegenwart der Natur die Rede ist, dann ist damit etwas gemeint, das sich direkter in die Lebensvollzüge einschreibt und dadurch wohl einen der bedeutungsvollsten Erfahrungsbereiche abbildet.16 Mit Blick auf die Beständigkeit der subsistenzgeprägten Lebens- und Wirtschaftsweisen ist als letzter guter Grund zu erwähnen, dass sich darin nicht nur Vertrautheit und Können, sondern ebenso eine Verbundenheit mit den Dingen zum Ausdruck bringen könnte, die Möglichkeiten zu guten Lebenserfahrungen bereithält. Eine solche Annahme ist aber nur dann möglich, wenn man in den Subsistenzpraktiken nicht nur einen Entwicklungs-/ Modernisierungsrückstand oder einseitig das Resultat einer umfassenden Krisen-, Coping- oder Armutskultur vermutet. Allein, dass sich diese Lebensweisen gegen alle Einflüsse bewahrt haben, spricht dann zugleich auch dafür, dass in den Naturbeziehungen »gute Quellen« liegen können, die einem Gelingen zuträglich sind.17 An dieser Stelle sind nun eine Reihe von Gründen aufgeführt, die es grundsätzlich rechtfertigen und notwendig machen, das Gelingen im Umfeld
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Angedeutet ist ein Rekurs auf die sozialphilosophische Entfremdungsthese (Jaeggi 2016, Rosa 2014). Aus meiner Sicht lässt sich Entfremdung als Modus der Organisation von Naturbeziehungen in den untersuchten Fällen nicht veranschlagen. Die Störungen und Dysfunktionalitäten der Beziehungen, die sich in den »Spuren der Destruktivität« andeuten, sprechen also weniger die Sprache von Beziehungen, denen ein Mangel von affektiver Ansprechbarkeit oder Resonanz vorausgeht. Ich habe ursprünglich mit Entfremdung als Beschreibungsformel gearbeitet, diese jedoch später zurückgestellt, weil eher eine hochresonante, wenn auch ambivalente Bezogenheit und Verbundenheit mit den Naturgegenständen beobachtet werden kann, die sich gerade auch in Formen aktiver und gewaltsamer Zerstörung vermittelt. In dieser Lesart wird Beständigkeit in den subsistenzgeprägten Lebensweisen weniger reaktiv auf die Missstände gelesen, sondern als Widerstand auf einen Veränderungsdruck, der z.B. durch entwicklungspolitische Maßnahmen erzeugt wird. Diese These ist inspiriert durch eine Publikation von Bonanno & Wolf als Herausgeber, welche die Beständigkeit als Widerstandsphänomen auf neoliberale Agrarregime beispielhaft und in differenten Zugängen diskutiert (Bonanno & Wolf 2018); für den speziellen Fall Haiti vgl. Vansteenkiste (2018). Für den vorliegenden Zusammenhang interessant ist, dass wenn die Beständigkeit von Subsistenz und den darin eingelassenen Naturbeziehungen als Widerstand gedeutet wird und nicht nur als Coping-Praxis ohne Alternative, dann kann damit ein Hinweis auf ein mögliches Gelingen unterstellt werden.
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von Naturbeziehungen diesseits von Krise, Katastrophe, von Konflikt und Zerstörung und einem mächtigen Diskurs des Misslingens zu explorieren. Zum Anspruch eines verantwortungsvollen Explorierens Eine solche Exploration des Gelingens diesseits des Misslingens besitzt jedoch ihre Tücken. Ein zweiter Einwand, der mit einem solchen Vorhaben anklingt, ist, dass man geneigt ist, mit ein wenig Feldforschung in sicherer und privilegierter Position nunmehr dort blühende Landschaften und allseits zufriedene Menschen zu kreieren, wo es diese schlichtweg nicht gibt. Dieser Einwand wird nicht nur mitgeliefert im Diskurs über Haitis Dauerkrise sowie in den Äußerungen der Entwicklungsbeauftragten, sondern drängt sich auf, wenn man als Forschende oder Intervenierende in ein Feld einsteigt, in dem sich Existenzbedingungen vorfinden, die in keiner Weise die eigenen Erfahrungshintergründe berühren. Kurzum, es ist ein Einwand, der dann entsteht, wenn die eigene »Übersättigung« berührt wird, wenn die existentielle Armut der Anderen einen kritischen Blick zurückspiegelt, wenn man diesbezüglich vielleicht Entsetzen, Ohnmacht oder Schuld empfindet, wenn man hierdurch geneigt ist, die Missstände weicher zu zeichnen, damit man sie im Feld überhaupt ertragen kann, aber auch dann, wenn sich der Blick sehnsuchtsvoll verklärt, weil sich in den Subsistenzstudien mitunter Naturerfahrungen vermitteln, die einem selbst kaum mehr zugänglich sind.18 Es ist ein berechtigter Einwand, dass einer Exploration des Gelingens aufgrund persönlicher Dispositionen durchaus die Tendenz innewohnt, die tatsächlichen Missstände zu überschreiben, abzuschwächen und vor allem geringzuschätzen. Weder durch eine einseitige Zuschreibung einer totalen Katastrophe, die das Gelingen negiert, noch durch einen konträren Fokus auf das Gelingen,
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Gemeint sind Naturerfahrungen, die ein Erleben von Ursprünglichkeit, Unverfälschtheit sowie Resonanz bereithalten und hierin möglicherweise eine Sehnsucht beantworten. Diese Sehnsucht ist dann plausibel, wenn man die These beschleunigter und entfremdeter Selbst- und Weltverhältnisse in westlichen Wohlstandsgesellschaften zugrunde legt und als Forschende diesbezüglich einen eigenen Erfahrungshintergrund anerkennt (Jaeggi 2016, Rosa 2016:381-401, Rosa 2016:453-471, Rosa 2014). Die Gefahr besteht darin, dass sich eine solche Disposition gerade in eine Untersuchung einschleppen kann, die nach Formen von Naturbeziehungen sucht, die für gute Lebenserfahrungen in der Subsistenz sprechen. Dies heißt es im Blick zu behalten. So ist z.B. bei der Übernahme von Subsistenzbegriffen, die in der Selbstversorgung eine Art »zukunftsfähigen Lebensstil« konstatieren, kritisch auf eine solche Disposition zu achten; zur Subsistenz als »zukunftsfähiger Lebensstil« vgl. Dahm (2003).
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dessen Tendenz zum Schönfärben die Missstände unterminiert, wird man der Sache gerecht.19 Was es also braucht, um ein mögliches Gelingen in einem schwierigen Feld angemessen zu adressieren, ist eine Vorgehensweise, die es einfach formuliert weder schöner noch schlechter schreibt als es ist. Hierin liegt die Verantwortung. Worin zeichnet sich ein verantwortungsvolles Explorieren aus? Verantwortungsvoll beobachtet man erstens, wenn für die eigenen psychischen Dispositionen im Feld eine entsprechende Sensibilität und Handhabe vorhanden ist. Das ist das eine. Für die Forschungspraxis weitaus bedeutsamer ist aber das Wählen einer Beobachtungsperspektive, welche die Gefahr zur Überschreibung der Missstände bereits in ihrer Anlage berücksichtigt.
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An dieser Stelle ist zu betonen, dass Forschende oder Praktizierende nicht nur in ihren Professionen, sondern auch als Menschen im Feld sind und entsprechend affiziert werden, gerade dann, wenn es um existentielle Not, Gewalt und Zerstörung geht. In die Begegnungen eingelassen sind dann mitunter sehr persönliche Antworten, die sich zwangsläufig auf die Art und Weise auswirken, das Forschungs- oder Arbeitsobjekt zu greifen und einzuschätzen. Kurz ausgeführt seien die genannten zwei Zuschreibungen bzw. Reaktionen, die ich in Expatriate-Kreisen sowie bei mir selbst wiederkehrend beobachtet habe. Eine erste besteht in einem radikal-fundamentalen Fingerzeig auf die Betroffenen als Verursacher der Missstände. Diesen werden jegliche Bereitschaften und Fähigkeiten abgesprochen, etwas zum Besseren verändern zu wollen und auch zu können. Eine zweite Antwort besteht darin, in Situationen, die einen zu überwältigen drohen, geradezu reflexartig etwas Gelingendes zu suchen. Hierzu wird dann unterstellt, dass die Missstände lebbarer sind als angenommen, dass die Menschen etwas daraus machen, sie stark und widerstandsfähig sind und dass ihnen hierbei zu helfen ist. Der Gewinn aus beiden Reaktionen ist, das eigene psychische Kohärenzempfinden aufrechtzuerhalten, dann, wenn eigene Verfehlungen in der Interventionspraxis zu konfrontieren wären oder aber, wenn es darum geht, Helfermotive oder Motive der Sinnsuche in Schach zu halten. Anzuerkennen ist, dass sich diese Antworten generell aus einer Position heraus organisieren, bei der die eigene physische Unversehrtheit weitestgehend garantiert ist. Es handelt sich also um privilegierte Kontexte, in denen sich Forschende und Praktizierende im Feld bewegen und folglich auch ihre persönlichen Antworten bzw. Abwehren ausbilden. Es liegt auf der Hand, dass bei mangelnder Einsicht in diese Zusammenhänge ein Verlust an Sachlichkeit bei der Erkenntnisgewinnung zu erwarten ist; zur Involviertheit von Praktizierenden als Menschen in professionellen Begegnungen vgl. McNamee (2020); zur psychischen Abwehr innerer Konflikte vgl. Körner (2013:11-14), Körner (2013:25-34); zur Anerkennung von Gefühlen, des Sinnlichen und Lebendigen in der sozialwissenschaftlichen Praxis vgl. Hasse (2021).
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Konsequent einzunehmen ist eine forschende Haltung, die problemorientiert, hierin aber ressourcen- und lösungsorientiert vorgeht. Jedoch ist dieser Zugang bezogen auf die damit erzeugten Beschreibungen sehr sorgsam anzulegen. Entsprechend ist zu berücksichtigen, dass gerade durch die Beschreibung von »guten Quellen«, allen voran solchen, die in Begriffen wie Resilienz und Coping in sozial-ökologischen Verwundbarkeitskontexten adressiert werden, allzu leichtfertig Unterschiede herbeigeführt werden, die per definitionem an Zuständen rütteln können, an denen von der Sache her rein gar nichts gut ist. Gemeint sind Zustände, von denen behauptet werden muss, dass keine noch so ressourcenbezogene und hierin lösungsorientierte Deutung es erlaubt, ihre kategoriale Einordnung als nicht gut, katastrophal oder verheerend anzutasten, auch nicht implizit.20 Ein Beispiel: Infolge von Starkregen gibt es in einem urbanen Slumgebiet eine schwere Überschwemmung (vgl. Abb. 2). Die Abbildung zeigt eine solche Überschwemmung in Ti-Ginen in Petit-Gôave. Menschen werden verletzt oder sterben, verlieren ihre Tageseinkünfte zum Überleben, die Behausungen sind zerstört, Nutztiere verendet, Krankheiten entstehen usw. Was sich zeigt, ist ein Zustand der Not und des Elends in all seinen Facetten, ein Zustand, der ist, wie er ist, nämlich ausnahmslos verheerend. Beginne ich dieserart Situationen auf Strukturen des Gelingens zu untersuchen, dazu eine Dialektik von Krise und Antwort, von Störung und Reaktion, genauer: von Verwundbarkeit und Ressourcen der Bewältigung, anzunehmen und einzig in Begriffen von Widerstandskraft, Überlebensstrategie, Selbsterhaltung, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Regeneration oder Transformation zu beobachten und zu sprechen, dann ist dies leichtfertig. In dieserart Zugriff angelegt ist die Produktion von Wissen über ein Gelingen durch Resilienz und Coping, das sich reaktiv auf ein zerstörerisches
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Bei den Begriffen Resilienz und Coping handelt es sich um inhaltlich verwandte Begriffe, mit welchen das Verhältnis von Krise und Antwort auf system-/komplexitätstheoretische Weise ausgewiesen wird. Resilienz bedeutet allgemein, auf Krisen oder Störungen so zu reagieren, dass das Gestörte unbeschadet bleibt: Resilienz ist »the capacity of a dynamic system to absorb change and disturbances and still retain its base structure and function – its identity« (Walker & Salt 2006:113). Ähnlich werden die Begriffe »coping capacity« oder »adaptive capacity« definiert als »[…] the ability of a system (natural or human) to respond to and recover from the effects of stress or pertubations that have the potential to alter the structure or function of the system« (Burkett 2016:o.S.).
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Abbildung 2: Überschwemmung in Ti-Ginen, Petit-Gôave
(Amarald S., 20. September 2019. Die Aufnahme wurde von einem ortsansässigen Fotografen mit einer Drohne angefertigt und zur Verfügung gestellt.)
Geschehen bezieht, so z.B. die Überschwemmung als humanitäre Katastrophe. Produziert wird also ein Wissen über solche Ressourcen, um in der Not gravierender Umstände bestehen, diese bewältigen oder sogar darüber hinauswachsen zu können. Insbesondere im Resilienzdenken geht man davon aus, dass Krisen fortlaufend aus einer komplexen Umwelt emergieren, diese unausweichlich, unkontrollierbar und auch kaum verfügbar sind (Walker & Salt 2006:1-2, Walker & Salt 2006:9-10). Ausgegangen wird auch davon, dass Menschen, Dinge, Gemeinschaften – verstanden als psychische, soziale, ökologische, sozial-ökologische Systeme – ganz gleich, wie sie beschaffen und welcher Zumutungen sie ausgesetzt sind, immer schon nach Stabilität streben (ebd.). Folglich ist der Fokus auf Resilienz an ein Denken gebunden, welches die Krise zentriert, wobei aber das tiefgründige Verstehen der Krise selbst oder das Verstehen von all jenem, was als das Andere zur Krise gelten könnte, nebensächlich werden. Auf das Wesen möglicher Krisen lässt sich in der Perspektive von Resilienz nicht zugreifen. Stattdessen gelangt mit Resilienz in den Blick, was für die Krise fit machen, was als Ressource der Krisenbewältigung bedeutsam werden könnte. Die Ressource, die Quelle der Resilienz ist dann genau das, was eine Entität zusammenhält – und zwar egal, was an Krise kommt oder kommen könnte. Der ressourcenorientierte Blick im Resili-
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enzdenken fragt also, wie es einer Entität in einer sich ständig verändernden Umwelt gelingt, stabil zu bleiben und sucht hierzu nach Schlüsselvariablen oder Schlüsselressourcen.21 Solcherart Kenntnisse über Ressourcen sind nützlich, aber zugleich auch riskant. Dies deshalb, weil in einem Wissen, welches das Wesen der Krise nicht zu erhellen vermag, die Zustände verschwimmen als das, was sie von der Sache her sind: verheerend, katastrophal und in keiner Weise gut. Sie werden in den Beschreibungen von Ressourcen fluide und weniger greifbar, insbesondere für diejenigen, die als Beobachter, Intervenierende, Entscheider etc. nicht direkt betroffen sind. Das Risiko besteht folglich darin, dass diese Zustände einbüßen könnten, als das, was sie de facto sind, wissenschaftlich, politisch oder interventionspraktisch anerkannt zu werden. Die tatsächlichen Missstände erscheinen schwächer und verflüssigen sich, weil durch den einseitigen Ausweis von Ressourcen implizit ein »Ja, aber…« vernehmbar ist. Pointiert formuliert: Ja, es ist schlimm, verheerend, katastrophal, aber dennoch erstaunlich, welche Widerstandsfähigkeiten die Menschen besitzen, ein solches Geschehen zu bewältigen. Ein Gelingen einseitig mit Formeln wie Resilienz oder Coping zu beschreiben, macht es dann augenscheinlich weniger katastrophal, zumindest für diejenigen, die unversehrt beobachten, forschen, intervenieren oder entscheiden. Eine solche Engführung und Verflachung der Ressourcenorientierung auf Krisenreaktionen ist mitunter fatal, das gewonnene Wissen aus meiner Sicht nicht zu verantworten. Implizit mitgeliefert und überbetont wird ein Aufruf zur Eigenverantwortung in Situationen, die oft ausweglos sind, die sich eigenverantwortlich (i.S. von Resilienz und Coping) nicht mehr angehen lassen und eigentlich nach verantwortungsvolleren Beschreibungen, Interventionen oder Entscheidungen verlangen.22
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Diese Argumentation folgt der system-/komplexitätstheoretischen Grundlegung des sozial-ökologischen Resilienzdenkens, wobei diese erkenntnistheoretischen Setzungen als solche in den Ansätzen meist implizit mitgeführt werden. Sehr anschaulich und deutlich ausgeführt wird dieser Zuschnitt bei Walker & Salt (2006:1-14) sowie Walker & Salt (2006:111-124). Zur Ressourcenorientierung als Einfallstor für politische Praktiken, bei denen die Eigenverantwortung der Betroffenen überbetont wird vgl. Bröckling (2004), Bröckling (2003); zum Resilienzkonzept als paradoxe Rechtfertigung in Entwicklungs- und Umweltpolitiken, um den Ursachen von Krisen und ihrer Verantwortung zu entgehen vgl. Gebauer (2017), Hummel (2017); zum Zugzwang zur (Selbst-)Optimierung durch Ressourcen-/Resilienzorientierung vgl. Reddemann (2020); zur Ambivalenz von Not und Entwicklungsfähigkeit im Resilienzbegriff vgl. Reddemann (2020).
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Ein ressourcenorientierter Blick auf das Gelingen sollte folglich nicht in die Falle einer solchen Leichtfertigkeit tappen. Es heißt, anders zu schauen. Fokussiert werden sollte ein Gelingen, das Unterschiede herbeiführen kann, welche die Katastrophe, die Not, die Missstände weniger verflüssigen, sondern vielmehr in einer Weise in die Sichtbarkeit bringen, ohne dass diese etwas an ihrer Katastrophalität einbüßen. Eine »gute Quelle«, etwas Gelingendes aufzuspüren, bestünde ausgehend vom dargestellten Fall, also diesseits einer konkreten und wiederkehrenden Flutkatastrophe, darin, nach etwas zu suchen, das sich abseits davon und weniger in der Krise oder Katastrophe situiert. Es ginge so z.B. um das Auffinden von Naturbezügen, von Einstellungen und Praktiken, die von einem Umgang mit Naturgefahren zeugen, der Ansätze erkennen lässt, es meistern, es in der Hand haben zu können, und zwar ohne das Ausmaß einer Katastrophe erfahren zu müssen. Man könnte schauen, in welchen Situationen und vor allem wie ein Starkregen oder Sturm weniger Verwüstung hinterlässt oder was ganz alltägliche Denkweisen und Praktiken an sich bereithalten, um diese wiederkehrenden Naturereignisse beantworten zu können. Im Lichte dieserart Ressourcen, lässt sich dann auch das Verheerende jener Zustände anders oder neu konfrontieren, denen diese »guten Quellen« nicht oder kaum mehr zur Verfügung stehen. Sich verantwortungsvoll einem möglichen Gelingen zuzuwenden, heißt somit, zwar diesseits der Missstände, d.h. diesseits von Not, Krise, Katastrophe und Zerstörung zu explorieren, aber so, dass all dies durch die Beschreibungen eines Gelingens nicht fluide wird, sondern sich in diesen Beschreibungen deutlicher zeigen kann. Die Exploration des Gelingens ist somit auf die Herausbildung einer »starken«, d.h. deutlich konturierten und gangbaren Unterscheidung von Gelingen und Misslingen ausgerichtet.23 Grundlage hierfür ist ein Ressourcenbegriff, der sich nicht auf Resilienz, Coping oder Ressourcen als Hilfsmittel in Konflikt-, Stress- und Krisensituationen verengt, sondern diese stärker im Sinne von »guten Quellen« oder Mitteln zu einer gelingenden Lebensgestaltung aufgreift, was dann die Bewältigung von Krisen mit einschließt (Petzold 1997/2012:4-5). Im Mittelpunkt steht die Lebensgestaltung, zu der die Krise zwangsläufig gehört und nicht die Krise, auf die sich die Lebenspraktiken ausrichten. Es handelt sich um eine feine, aber
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Diese Unterschiedsbildung ist angeregt durch folgendes Plädoyer von Reddemann: »Es ist wichtig zu verstehen, was Menschen geholfen hat und hilft, sich wohl(er) zu fühlen, aber immer neben dem Verstehen dessen, was sie beschädigt hat und möglicherweise neu beschädigen wird« (Reddemann 2020:23).
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wichtige Akzentverschiebung, mit der weder das Misslingen noch das Gelingen einseitig betont werden kann. Mit dieser Akzentverschiebung ist in die Anlage der Untersuchung in differenzlogischer Manier ein Revisionsmoment eingebaut, welches die Unterschiede im Blick behält, die durch die gewonnenen Befunde angebahnt, erzeugt oder nivelliert werden. Dies wäre dann auch ein probates Mittel, den eigenen Dispositionen im Feld nicht zu erliegen. Ziel ist es also, Situationen des Misslingens im Spiegel eines im Feld explorierten Gelingens konturierter und um neue Erkenntnisse erweitert sehen zu können. Darin besteht der Anspruch an eine verantwortungsvolle Exploration des Gelingens.
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Natur und Beziehung – Befreite Kategorien
Die Vorwegnahmen von Einwänden haben die Beobachtung dahingehend geöffnet, ein mögliches Gelingen, welches in besonderen Formen von Naturbeziehungen liegt, überhaupt und angemessen zu adressieren. These ist, dass ein solches Gelingen in der (selbst-)destruktiven Zurichtung der erdnaturbezogenen Dinge vermieden wird, verloren geht, nicht mehr verfügbar ist, sich nicht mehr aktualisieren lässt. Ein mögliches Gelingen und damit etwas, womit allgemein gesprochen, ein guter Ausgang verbunden ist, wird – so die These – dann vermieden, • •
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wenn Farmer trotz Alternativen an einer Anbauweise festhalten, die die Böden in absehbarer Zeit zerstört; wenn die einzige verfügbare Wasserleitung mutwillig zerschlagen wird, just in dem Moment, wo das dringend benötigte Trinkwasser fließen könnte; wenn ein Fischer bewusst Raritäten wie Langusten (oder andere Meerestiere und Fische) fischt, obwohl man diese nicht braucht oder verkaufen kann; wenn ein Holzfäller einen heiligen Mapou-Baum fällt, obwohl dieser zum Köhlern weniger geeignet ist und man sich damit im spirituell-religiösen Sinn verletzlich macht;24
Das Holz eines Mapou-Baumes gilt unter den Köhlern als weniger geeignete Rohstoffquelle für Holzkohle. Tarter fügt jedoch hinzu, dass sich diese landläufige Auffassung
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
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wenn junge Gärtner exzessiv Bäume fällen, obwohl es keinen existentiellen Druck gibt und damit ihre lebensnotwendigen Gärten gefährden.
Es wird also etwas Gutes, Richtiges, Sinnhaftes oder Zweckmäßiges zerstört, es wird attackiert, geht verloren, ist nicht mehr verfügbar. Man fragt sich, warum und wozu? In einem Fall erinnert es an Zerstörungswut, im nächsten vielleicht an Unwissenheit, im nächsten dann doch an Coping in den Armutskrisen. Deutlich wird, dass sich diese Phänomene weder mit einfachen Hypothesen erfassen lassen noch mit komplizierten. Auch eine Idee einer strukturell verursachten Verwundbarkeit, einem existentiellen Zwang zur Ausbeutung natürlicher Ressourcen, einem »survival paradox« usw. lässt sich in diesen Fällen nicht arbeiten. Die Fälle passen nicht zu diesen Erklärungen oder umgekehrt die Erklärungen nicht zu den Fällen. Es bleibt ungeklärt, weshalb ein mögliches Gelingen, das Gute in der Destruktivität vermieden wird. Hypothetische Spekulationen sind also zurückzustellen. Was jedoch gesagt wird, wenn man die These verfolgt, dass diese Naturbezüge der Vermeidung eines möglichen Gelingens, von etwas Gutem dienen, dann, dass diese Beziehungen durch schwere Störungen und Dysfunktionalitäten geprägt sein müssen. Die »Spuren der Destruktivität« verweisen somit auf Formen von Naturbeziehungen, die negativ beeinträchtigt und beeinflusst sind oder werden. Die Destruktivität zeugt also von Erfahrungen, in denen die Möglichkeiten, Naturbeziehungen aufzunehmen und zu gestalten, die dem Gelingen, dem Guten dienen, beschädigt wurden und/oder werden. Versucht man nun die Zielrichtung der Destruktivität zu bestimmen, heißt das, diese Möglichkeiten des Gelingens in Naturbeziehungen genauer aufzuschließen. Gesucht und beschrieben werden letztendlich Ressourcen einer Naturbeziehungsweise zum Guten. Diesseits der Missstände sucht man diesbezüglich zunächst nach Indizien. Hierzu eine Episode aus einer Fallstudie in der Fischergemeinde Taino: Ein Fischer in der Gemeinde Taino erzählt, dass er seit nunmehr 45 Jahren im Meer ist, jeden Tag außer am Sonntag. Er hat ein kleines Holzboot, mit dem er hinausfährt. Von dort aus schwimmt und taucht er viele Stunden lang, er fischt mit einer Harpune. Er erzählt zufrieden, dass er mit dem Fischfang eine Großfamilie mit fünf Kindern gut ernähren und versorgen konnte. Er
auch als Ausdruck des Tabus lesen lässt, heilige und mystische Mapou-Bäume zu fällen (Tarter 2015:99).
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sagt, er wäre im Meer geboren, er lebe im Meer, das Meer ist sein Zuhause und er würde auch im Meer sterben.25 In der Erzählung des Fischers vermitteln sich Erfahrungen des Gelingens, die sich in ihrer Summe zu einem guten Leben verdichtet haben: 45 Jahre jeden Tag im Meer, eine Familie mit fünf Kindern usw. Es handelt sich um Erfahrungen, deren grundlegende Voraussetzung das Fischen ist und die somit untrennbar mit der Beziehung des Fischers zum Meer verknüpft sind. Gemeint ist eine Beziehung, die insoweit getragen haben muss, dass all das Leben möglich wurde, von dem er zufrieden berichtet. Es ist an dieser Stelle zunächst weniger von Bedeutung, welche existentiellen Zwänge in Haiti ein Leben als Fischer veranlassen, ob und inwieweit es sich hierbei um eine Tätigkeit aus Alternativlosigkeit handelt und somit in den Krisen- und CopingDiskurs passt. Viel bedeutsamer für die Suche nach Möglichkeiten von Naturbeziehungen zum Guten ist zunächst, dass er fischt – seit 45 Jahren jeden Tag außer am Sonntag – und dass ihm damit gelungen ist, »satt« zu werden und das eigene Leben zu meistern. Dies deshalb, weil die Tätigkeit des Fischens einerseits eine große Vertrautheit und ein umfassendes Können im Umgang mit dem Meer kennzeichnet und andererseits, weil das Fischen zugleich auch für eine besondere Verbundenheit spricht, nämlich für die grundgebende Erfahrung, im Meer zuhause zu sein. Beim Meer handelt es sich um etwas, wodurch der Fischer Zugehörigkeit empfindet. Hierin deutet sich eine »gute Quelle« an, d.h. ein Naturbezug, der tiefer greifen muss. Wenn das Meer das Zuhause wird, kann es nicht ausschließlich um eine existentielle Notlage gehen, die man tagtäglich zu bewältigen hat und durch die man vielleicht Ängste überwindet und Fertigkeiten ausbildet. Das Meer wäre kein Ort, an dem man geboren wird, an dem man zuhause ist und an dem man auch sterben wird, wenn es ausschließlich um das Überleben in der Not ginge. Dieser Fischer fischt, weil ihm das Meer ein Zuhause bietet, weil er es kann und weil er es muss. Es existieren also Zugehörigkeit und dazu ein Können, was das alltägliche Leben trägt und auch in der Not beständig ist. Als Indiz für das Gelingen kann also eine Form von
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Originalzitat: »Ich bin im Meer geboren, ich lebe im Meer und ich werde im Meer sterben. Das Meer ist mein Zuhause.« Kreolisch: »Mwen te fèt nan lanmè, mwen rete nan lanmè epi mwen ap mouri nan lanmè. Lanmè a se lakay mwen.« (Die Zitate in Kreol wurden entlang der gesprochenen Aussagen transkribiert und der Schriftsprache angepasst.).
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
Bezogenheit in Anschlag gebracht werden, bei der das Meer als Zuhause26 in Erscheinung tritt. Was nun im Fall des Fischers ungeklärt ist, ist die Frage, wie es ihm möglich wird, dass er sich dem Meer als zugehörig empfindet, dass er hierin eine tragende Beziehung wahrnehmen und erleben kann. Es ist offen, in welcher Art und Weise er sich mit dem Meer und den Dingen verbindet, was er sieht, denkt und fühlt, wenn er schwimmt und taucht, worin sein Können besteht und worauf es aufbaut. Was man an dieser Stelle weiß, ist, dass all dies dazu taugt, um mit dem Meer verbunden zu sein und somit im Leben eine gewisse existentielle Geborgenheit und Zufriedenheit zu entwickeln. Um dieserart Indizien nun weiter erschließen zu können, braucht es eine passende Perspektive, d.h. Beschreibungsformeln, mit denen die Modi der Aufnahme und Gestaltung von Naturbeziehungen, wie im Fall des Fischers zum Meer, überhaupt lesbar werden. Benötigt wird somit eine Perspektive, die die Richtung der Beobachtung – Möglichkeiten einer Naturbeziehungsweise zum Guten – zwar klar markiert, womit aber zugleich offengehalten wird, in welcher Gestalt dieser Gegenstand seinen Ausdruck finden kann. Dies setzt voraus, dass weder explizit noch implizit in einem objektivierenden Sinn bestimmt ist, was Natur an sich ist. Bleibt dies offen, ist somit auch nicht vorab bestimmt, wie man sich mit der Natur in Beziehung bringen kann oder zu bringen hat, um ein mögliches Gelingen anzubahnen. Was es also braucht, ist ein von Deutungsansprüchen befreiter Naturbegriff und daran anknüpfend eine ebenso offene begriffliche Version von Naturbeziehung. Diese zwei Setzungen werden im Folgenden skizziert. Ein befreiter Naturbegriff Was kennzeichnet einen befreiten Naturbegriff? Die Bezeichnung Natur wurde bisher unhinterfragt verwendet. Wiederholt wurde von Naturbeziehungen gesprochen, d.h. von Menschen, die mit der Natur Beziehungen pflegen. Bisher nicht gefragt wurde, womit Menschen in Beziehung treten, wenn von der Natur die Rede ist. Um Naturbeziehungen zu lesen, besteht der Anfangspunkt
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Das kreolische Wort »kay« ist die Wohnstätte; »lakay« meint die Gegend oder den Ort, an dem man lebt und mit dem man verbunden ist; der Ausdruck »lakay« ist ähnlich wie der deutsche Begriff Heimat (jedoch ohne ideologisierenden Ballast). Dies verdeutlicht auch das Sprichwort: »lakay se lakay«, was so viel bedeutet wie »Zuhause ist Zuhause« i.S. von: Es gibt keinen Ort, der wie das Zuhause ist. Der Fischer spricht von »lakay« als Wohnstätte und Heimat, wenn er das Meer als das Zuhause bezeichnet.
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darin, zu bestimmen, was mit Natur theoretisch bezeichnet werden kann. Mit einem von Deutungsansprüchen befreiten Naturbegriff wird mit der Frage nach dem Womit lediglich auf nichtmenschliche Dinge verwiesen: Naturphänomene, Naturereignisse, Zyklen, Landschaften, Tiere, Pflanzen, Elemente wie Wasser, Luft usw. Gemeint ist all das, was sich in einem wodurch auch immer vereinheitlichten Feld einer Erdnatur unterbringen lässt.27 Mit diesem Anfangspunkt ist Natur von der Sache her nicht mehr und auch nicht weniger als das, worauf sich das Denken und Tun von Menschen bezieht: das Meer des Fischers, der Boden des Ackerbauern, der Baum des Holzfällers, das Wasser der Dorfbewohner, die Languste des Fischers, die Erdnuss des Bauern, der Sturm der Bergbewohner, das Erdbeben der Bewohner von Port-au-Prince, die Pflanzen der Gärtner, die Ziegen der Hirten usw. Es geht also um die Vielfalt dessen, was sich gemeinhin als erdnaturbezogene Dinge, als Naturgegenstände oder als dingliche Umwelt bezeichnen lässt. Für diese Dinge die Bezeichnung Natur zu verwenden, ist legitim und plausibel, weil es sich hierbei um etwas handelt, das auch für den beobachteten Objektbereich gebräuchlich ist. Es steht außer Frage, dass die Unterscheidung Mensch und Natur auch im Untersuchungsgebiet ein grundgebendes Leitschema für die Wahrnehmung und Ordnung von Welt abbildet. Die Bezeichnung Natur ist vielseitig sprachlich verankert und diskursiv anschlussfähig.28 Für einen Anfang der Beobachtung und Reflexion kann also der Begriff Natur gesetzt und verwendet werden, weil damit eine im Alltag funktionale und bedeutsame Unterscheidung anerkannt wird. Was jedoch nicht gesetzt werden darf, ist, auf welche Weise diese Unterscheidung funktional und bedeutsam wird. Auf die Frage, womit Menschen in Beziehung treten, wenn von der Natur die Rede ist, lautet die einfache Antwort: Dinge in der Qualität, dass
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Wenn von Natur die Rede ist, sind Dinge gemeint, die man gemeinhin einer Erdnatur zurechnet. Damit wird lediglich ein Unterschied gemacht zur Bedeutung von Natur als Wesen eines Gegenstandes oder einer Sache. Im Kreolischen verwendet werden z.B. Bezeichnungen wie »lanati« (die gesamte Natur), »katastwòf natirèl« (die Naturkatastrophe), »fenomèn natirèl« (das Naturphänomen), »pwoblèm ekolojik« (das ökologische Problem). Im Gespräch mit Studierenden der Philosophie wurde zum Begriff »lanati« geäußert: »In Haitian Creole, we often say ›lanati‹ for nature with all the non-human made stuff around us that have certain powers over humans.«
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
sie zum Menschlichen einen Unterschied machen.29 Dieser grundsätzliche Anfangspunkt, die einfache Frage nach dem Womit (vor dem Wie und Wozu) ist unbedingt notwendig, um den schillernden Begriff der Natur vorerst von sämtlichen Zuschreibungen (z.B. harmonisch, zerstörerisch, objekthaft, systemisch) zu befreien, allen voran jenen, die den eigenen Modi von Naturvermittlungen entspringen und die sich oft implizit und unhinterfragt in die Analysen einschleppen.30 Damit wäre überhaupt erst die Voraussetzung bestimmt, um sich den unterschiedlichen Modalitäten von Naturbezügen anzunähern, wie sie für den beobachteten Objektbereich auch zutreffend und gültig sein könnten.31 Naturbeziehungen des Gelingens Streng genommen handelt es sich hierbei weniger um einen theoretischen, sondern vielmehr um einen alltäglichen Anfangspunkt. Es geht um eine Natur, um erdnaturbezogene Dinge, die in die Alltäglichkeit – von Sprache, Diskursen, Praktiken – eingelassen sind, sich hierin als das, was sie sind, ver29
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Wird von erdnaturbezogenen Dingen, Naturgegenständen oder dinglicher Umwelt gesprochen, geht es um all das, was im Alltagsverständnis als außermenschlich gilt, nicht von Menschen gemacht, allenfalls von diesen beeinflusst ist und aus sich selbst heraus existiert. Im (natur-)philosophischen Sinn sind damit hybride Dinge angesprochen. Hybride Dinge werden als ontologische Mischungen aufgefasst, d.h. als Dinge, die zugleich natürlich sind als auch in sozialen Praktiken hergestellt und diskursiv verhandelt werden. Diese Hinwendung zur Hybridität der Erdnatur ist Konsequenz der Debatte um das Anthropozän als Erdzeitalter des Menschen und der darin ausgewiesenen globalen ökologischen Krisen. Dennoch sind gerade für den Vollzug alltäglicher Kommunikation und Praxis Objektivierungen der Natur maßgebend und bedeutsam. Für die Untersuchung von Naturbeziehungen anerkannt wird somit, dass z.B. ein Baum, ein Berg, das Meer, ein Gewitter, ein Virus, eine Ackerfläche in den alltäglichen Bezügen als das dinglich Andere wahrnehmbar wird, dass dies als Natur objektiviert wird, wohlwissend, dass es sich hierbei aber nicht um objektive Tatsachen handelt; zu erdnaturbezogenen Dingen als Hybride oder Zwischenwesen vgl. Descola (2014:3239), Descola (2013b:41-45), Latour (2015:41-48), Latour zit. in: Wieser (2014:149), Zierhofer (1999); zum Anthropozän und einer menschgemachten Natur vgl. Crutzen (2005), Crutzen (2002), Ehlers (2008:229-250); zum lebensweltlichen Verständnis von Natur vgl. Gebhard (2013:44-46). In meinem Fall ist eine naturalistisch-naturwissenschaftlich orientierte Bezugnahme auf nichtmenschliche bzw. erdnaturbezogene Dinge gemeint. Wenn bei Naturbeziehungen zunächst von Beziehungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Dingen die Rede ist, wird hierin grundsätzlich hinter einen vorgefassten Begriff von Natur zurückgetreten (Descola 2013a:14-15).
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mitteln. Damit grundständig anerkannt ist, dass die Natur an sich etwas ist, das erst im Wahrnehmen und Erleben, im Denken und Tun der Menschen, d.h. als Natur für sich ihren Ausdruck findet. Görg formuliert: »Wir können mithin gar nicht anders, als von einer gesellschaftlichen Vermitteltheit aller Naturtatsachen auszugehen« (Görg 1999:11).32 Spricht man von der Natur, lässt sich also nur von Naturbeziehungen sprechen. Spricht man hierzu von erdnaturbezogenen Dingen, spricht man folglich von Dingbeziehungen. Die Natur, die Dinge avancieren zum Gegenüber des Selbst. Die Natur, die Dinge als das Andere sind ein Ich, welches einem Ich gegenübersteht (Descola 2013a:181). Dies ist die Grundvoraussetzung für eine Beziehung. Sich nun aufeinander zu beziehen und zu vermitteln, bedeutet eine doppelte Bewegung von Verbinden und Unterscheiden. Ich und Nicht-Ich erfahren sich als getrennt, weil es Unterschiede gibt und zugleich auch als verbunden, weil es Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten, eben Verbindendes gibt. Im Verbindenden zeigt sich das Unterschiedene und umgekehrt kann sich im Unterschiedenen das Verbindende artikulieren. Descola spricht dazu von Identifikation als »[…] das allgemeinste Schema, mittels dessen ich Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen mir und dem Existierenden feststelle, indem ich Schlüsse ziehe aus den Analogien und Gegensätzen zwischen der äußeren Erscheinung, dem Verhalten und den Eigenschaften, die ich mir beimesse, und denen, die ich ihnen zuschreibe« (Descola 2013a:176). Identifikation ist ein »Mechanismus der Vermittlung zwischen Selbst und Nichtselbst«, der jeder »determinierten Beziehung zu irgendeinem Anderen« vorhergeht (ebd.). Bezogen auf die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen verweist Descola somit auf unterschiedliche ontologische Modalitäten der Identifikation und hierin Vermittlung, die letztendlich den Beziehungen, d.h. ihrer Modi, Formen und praktischen Ausdrucksweisen vorhergehen (ebd.). Wenn man nun eine Beziehung, genauer: eine bestimmte Beziehungsweise verliert, wenn also bestimmte Modalitäten der Identifikation und Vermittlung nicht mehr greifen können, verliert man nicht nur das Verbindende, d.h. die gemeinsame Sache, das Vertraute, die Zugehörigkeit, das Können usw.,
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In diesen Vermittlungen entsteht dann jeweils das, was als Natur erfahren wird. Begrifflich offen zu halten ist, auf welche Weise und wozu diese Vermittlungen organisiert und welche Erfahrungen hierin wahrscheinlich werden; zur Natur als eine Erfahrungsweise vgl. Gebhard (2013:41-42).
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sondern immer auch die Möglichkeit, sich zu unterscheiden. Verloren geht ebenso, sich in der Unterscheidung von einem Gegenüber seiner selbst gewiss zu sein und zu werden. Dieser Gedanke ist insofern wichtig, weil hierin deutlich wird, was gemeint ist, wenn von Beziehungen als tragende Beziehungen die Rede ist. Beziehung trägt, weil im Verbinden die Freiheit zum Unterscheiden liegt und somit die Möglichkeit von Erfahrungen, ein eigenes Selbst zu haben, eine eigene Identität zu entwickeln, letztlich ein eigenes Leben zu leben.33 Der Fischer fischt, er ist in Beziehung mit dem Meer und kann hierüber sein Leben zur vollen Entfaltung bringen. Er kann Identität als Fischer, Partner, Vater usw. ausbilden. Er hat die Chance, sich seiner selbst gewiss zu werden. Und andersherum trägt Beziehung, weil im Unterscheiden die Freiheit zum Verbinden liegt und somit die Möglichkeit, auch dem Anderen etwas Eigenes zuzusprechen, um von hier aus einen gemeinsamen Anspruch, eine gemeinsame Sache oder Mitte zu finden und zu gestalten. Der Fischer kann das Meer als Gegenüber erkennen und anerkennen, weil er selbst vom Meer als Gegenüber erkannt und anerkannt wird. Die gemeinsame Sache wäre hier, ein Miteinander – ein »Meer der Fülle« – zu gestalten, das den Fischer und das Meer in der Beziehung und somit nachhaltig am oder im Leben halten. Beziehungen tragen, weil sie das Leben nähren. Sie nähren durch eine Kraft, die aus einer Dynamik des Vermittelns, d.h. des Verbindens und Unterscheidens und hierin letztlich aus einer Übereinkunft ins Fließen kommt. Wenn dieser Fluss entsteht, kann man von gelingenden Vermittlungen, d.h. dem Leben zuträglichen Beziehungen sprechen, wenn nicht ist ihr Misslingen angezeigt. Was in dieser Argumentation anklingt, ist eine Idee von Naturvermittlung, die im phänomenologischen und/oder hermeneutischen Sinn als dialogisches Geschehen aufgespannt wird.34 Der Vollzug von Beziehungen zwi33
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Grundiert ist diese Aussage durch die Annahme, dass sich das Selbsterleben überhaupt erst in Beziehungen entwickelt, wozu auch Beziehungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Dingen zählen (Gebhard 2013:28-33, Gebhard 2013:63-66, Schmid 1998:250-258). Dieser Rekurs ist inspiriert durch wissenschafts-/bildungsphilosophische Arbeiten, die insbesondere das physisch-geographische oder geologische Arbeiten mit phänomenologischen und/oder hermeneutischen Vorgehensweisen vergleichen und diesbezüglich die Beziehungen zwischen Forschenden und Forschungsgegenstand als dialogische begreifen (Baker 2000, Crease 1997, Demeritt & Dyer 2002, Dickel 2011, Zahnen 2011).
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schen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen wird hierbei als eine Art vermittelndes Gespräch konzipiert.35 Damit wird betont, dass es weniger um einseitige Bezugnahmen als Aneignungen der Dinge geht, sondern um eine Art ko-kreatives Verhältnis, in dem die Dinge selbst eine »Stimme« haben, »ansprechen«, so wie man selbst »anspricht« und sich hierüber ein Prozess des gegenseitigen Antwortens entwickelt. In diesem Sinne lässt sich dann auch von Übereinkünften sprechen. In einem solchen Zugriff werden die Dinge weniger zu objektiven Tatsachen. Sie werden vielmehr zu Tatsachen, mit denen sich verhandeln lässt. Folglich kann an der Zurichtung der erdnaturbezogenen Dinge, an der Art und Weise, wie sie behandelt oder misshandelt werden, gesehen werden, ob und inwieweit das Gespräch mit der Natur, ob Naturvermittlungen gelingen und Naturbeziehungen tragen, d.h. ob und inwieweit ihre Kraft ins Leben fließt oder sich in der Destruktivität verliert.36 Eine Untersuchung, die auf Möglichkeiten einer Naturbeziehungsweise zum Guten fokussiert und hierzu nach Hinweisen sucht, fragt dann, was es braucht, dass die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen das Leben nähren und tragen. Gefragt wird, wie Vermittlungen gelingen können, welche Modalitäten des Verbindens und Unterscheidens dazu greifen, in welchen
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Ein Klassiker in diesem Zusammenhang ist die autobiographisch angelegte Studie des Geologen Cloos, der seine Tätigkeiten und Erfahrungen als Naturwissenschaftlicher als »Gespräch mit der Erde« konzipiert und beschreibt (Cloos 1954/1989). Eingangs wurde von Dysfunktionalitäten, Störungen oder Schädigungen von Naturbeziehungsweisen gesprochen. Damit ist gemeint, dass die Vermittlungen scheitern, dass bestimmte Modalitäten des Verbindens und Unterscheidens nicht mehr greifen können, diese ge-/zerstört wurden und werden und sich hierüber keine stimmigen Praktiken etablieren lassen. Man kann dies bildlich als eine Art unterbrochene Bewegung zu den Dingen und zurück auffassen. Folglich sind destruktive Akte dann wahrscheinlicher, wenn die Dinge »ansprechen« und in hohem Maße affizieren, sich aber in der Begegnung kein vermittelnder Dialog entfalten darf oder kann. Insbesondere eine aktive und gewaltsame Zerstörung lässt vermuten, dass sich die erdnaturbezogenen Dinge als mögliche Resonanzsphären eben nicht entziehen, dass sie als Gegenüber vielmehr greifbar nah sind. Gerade weil es in naturnahen Lebensverhältnissen eine hohe Ansprechbarkeit gibt, die dazugehörigen Modi der Vermittlung aber blockiert sind, entsteht ein Nährboden für Destruktivität. In dieser Perspektive wird dann auch verständlich, weshalb bei der beobachteten Form aktiver und gewaltsamer Zerstörung weniger von einem Misslingen durch Entfremdung oder Resonanzverlusten ausgegangen wird.
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
Ansprüchen sich Ich und die Natur als Nicht-Ich begegnen, wie man sich hierin erkennt und anerkennt und stimmig zueinander findet.
2.3
Zum Anspruch auf eine »Natur der Fülle« – Eine Leitthese
Untersucht man nun die »Spuren der Destruktivität« darauf, wie sich in den Fällen Ich und die Natur als Nicht-Ich begegnen, ob und inwieweit man sich erkennt, anerkennt und stimmig zueinander findet, kann dies zumindest erst einmal verneint werden. Augenfällig wird, dass hier Dinge angegriffen werden, die als ein Gegenüber zu Beziehungen auffordern, die an sich Möglichkeiten zum Guten bereithalten. Es handelt sich also um Konstellationen, in denen Naturvermittlungen gelingen könnten. Dies deshalb, weil das, was angegriffen wird, noch nicht degradiert ist und wenn doch dann davon zeugt, dass dies zu beheben wäre. Die Beziehungen spannen sich also gerade nicht auf als ein Verhältnis zu bereits zerstörten Dingen, zumindest nicht auf den ersten Blick. Der Boden des Farmers zeugt mit einer Alternative zur Erdnuss von stabileren und ertragreichen Bodenverhältnissen; die Languste mit Corail am Unterbauch verweist auf viele mögliche Langusten und im weitesten Sinn auf ein gefülltes Meer; die einzige Wasserleitung in einer schwer zugänglichen Siedlung zeugt von reichlich fließendem und sauberem Wasser; die Bäume als schützende Vegetation garantieren weiterhin ertragreiche Gärten; ein heiliger Mapou beherbergt die Geister und schützt das Leben. Die Grundvoraussetzung, um Beziehungen zum Guten aufzunehmen, d.h. ein Womit, mit dem sich diesbezüglich verhandeln ließe, ist in diesen Fällen gegeben. Grundsätzlich gegeben ist also die Möglichkeit, eine gemeinsame Sache aufzuschließen, einen Anspruch zu formulieren, um sich mit den Dingen stimmig in Beziehung zu bringen. Dies geschieht aber nicht. Gefragt werden muss, welche gemeinsame Sache hier vermieden, welcher Anspruch nicht formuliert wird oder werden kann, um stimmig zueinander zu finden? Oder umgekehrt: Welche Beziehungsweisen würden sich aktualisieren, genauer: welche Naturvermittlungen würden greifen, wenn der Farmer den Boden anerkennt, als das, was er ist, nämlich (potentiell) ertragreich; wenn die Languste nicht gefischt wird, man die Möglichkeit ihrer Reproduktion und somit eine Nahrungsquelle erhält; wenn das Wasser fließen würde und sich hierüber ein Grundbedürfnis befriedigt; wenn die Bäume nicht gefällt werden und somit die vollen Gärten erhalten bleiben;
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wenn der Mapou unberührt bleibt und man hierüber weiterhin am Schutz der Geister partizipiert? Leitthese ist, dass sich dann Naturbeziehungen aktualisieren, dass Naturvermittlungen greifen würden, in denen ein Anspruch auf eine »Natur der Fülle« umfassend zum Tragen kommt, man sich somit auf die Fülle als gemeinsame Sache verständigt und sich darauf versteht. Was ist damit gemeint? Fülle wird hierzu in zweifacher Hinsicht im Sinne von Nahrungsfülle und Lebensfülle konzipiert, wobei erstere die Grundlage bildet. Ein grundlegendender Anspruch, der die alltäglichen Beziehungen zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen, insbesondere in der Subsistenz aufspannt und in Haiti nicht überschätzt werden kann, besteht im existentiellen Grundbedürfnis, über genug Nahrung zu verfügen.37 Dieses Grundbedürfnis trifft im tropischen und subtropischen Haiti an sich auf eine Natur, die durch hochdynamische und produktive Ökosysteme eine (potentielle) Fülle an Nahrung zu bieten hätte. Mit Nahrung sind allgemeine Lebensmittel wie Essen, Wasser, Energiequellen, Heilmittel usw. gemeint, die über natürliche Ressourcen zu beziehen sind und die Existenz grundständig sichern. Die hohe Dynamik und Produktivität der Ökosysteme besteht in der schnellen Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, so z.B. durch die geringe Saisonalität, durch ganzjährigen Anbau und eine reiche Biodiversität. Nun ist es nicht ohne Einwände möglich, ein allgemeines naturräumliches Potential der Fülle anzunehmen. Eine solche Annahme ist dann problematisch, wenn im gängigen Diskurs über die ökologische Krise die natürlichen Ressourcen bereits als zerstört gelten oder im Begriff sind, unwiderruflich zerstört zu werden. Als Kernprobleme gelten Bodenerosion sowie Biodiversitätsverluste durch Abholzung und Überfischung. In dieser Logik des unwiderruflichen Verlusts wäre dann auch das naturräumliche Potential zerstört. 37
Laut »United Nations World Food Programme« (Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen) sind gegenwärtig 49 % der Menschen in Haiti unterernährt; ca. ein Drittel der Bevölkerung (3,7 Millionen) brauchen Unterstützung durch Lebensmittel (htt ps://www.wfp.org/countries/haiti). Besonders alarmierend ist die Situation der Kinder und generell in ruralen Gebieten: »[…] the situation of children in Haiti is among the worst in the world. One in twelve children dies before the age of five due to avoidable diseases caused by malnutrition. Lack of drinking water, unsanitary conditions and inadequate nutrition for children in rural communities have also been reported. […] The lack of food security is due, in large measure, to chronic poverty faced by most of the population« (Rights And Democracy 2008:23).
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
Nimmt man dagegen aber vielmehr auch solche Befunde ernst, die eine Sanierung und Regeneration der Ökosysteme für möglich halten, dann ist die Annahme eines Potentials der ökologischen Fülle berechtigt. Diese Möglichkeiten kursieren insbesondere in den zahlreichen naturwissenschaftlich grundierten Interventionsmaßnahmen zur Regeneration der Fischpopulationen oder der Waldbestände.38 Ein Potential der ökologischen Fülle kann ebenso entlang neuerer wissenschaftlicher Befunde angenommen werden, die z.B. das Ausmaß der Abholzung und entsprechender Bodenerosion als weniger alarmierend ausweisen als bisher angenommen (Álvarez-Berríos et al. 2013, Churches et al. 2014, Tarter et al. 2018:48-52). Diese Annahme ist auch dann zulässig, wenn im Mikromaßstab sozial-ökologische Situationen fokussiert werden, in denen sich Ressourcenknappheit und -verluste weniger stark vermitteln und/oder es gangbare Ideen zur Sanierung, Regeneration und Pflege der Ökosysteme gibt. In den Fallstudien waren diese Bedingungen gegeben. Sämtliche Untersuchungen wurden von ortskundigen Ökologen und Agronomen begleitet, die ein solches Potential bestätigt haben. Der Natur gerecht und hierüber sich selbst gerecht zu werden, hieße also, sich von einer an sich reichen und vollen Natur im Grundbedürfnis auf Nahrung anerkennen zu lassen und umgekehrt, eine solche reiche und volle Natur anzuerkennen, aufrechtzuerhalten oder entstehen zu lassen.39 Einen Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zu formulieren und angemessen zu beantworten, heißt, sich mit der ökologischen Fülle als Nahrungsquelle ins Verhältnis zu bringen. Dies wiederum ist die Voraussetzung, um Lebensfülle zu erfahren, d.h. wie im Fall des erwähnten Fischers das eigene Leben zur Entfaltung zu bringen. Wird man auf einer existentiellen Ebene satt, d.h. besitzt man Mittel und Wege, um in der Auseinandersetzung mit den Dingen über ausreichend und gute Nahrung zu verfügen, kann sich die Lebensfülle überhaupt erst anbahnen. Was ein solches Sattwerden betrifft, liegen zumindest 38
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Zu exemplarischen Interventionsmaßnahmen vgl. https://www.reforestaction.com/en /reforestation-haiti, https://reefcheck.org/reef-news/haitis-reefs-most-overfished-in-th e-world, https://www.nature.org/en-us/about-us/where-we-work/caribbean/haiti. Dass es ein solches Anerkennungsverhältnis geben kann oder gegeben hat, lässt sich z.B. annehmen, wenn konstatiert wird, dass in Haiti bis in die 1980er Jahre 86% der Nahrungsmittel selbst produziert wurden. Diese Strukturen sind aufgrund der fragilen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Verhältnisse sowie der rasanten Bevölkerungszunahme weitestgehend zusammengebrochen. Lebten 1980 noch ca. fünf Millionen Menschen in Haiti, so sind es 2020 mehr als elf Millionen. Nahrungsmittel werden heute zu großen Teilen importiert (Länder-Informations-Portal 2019:o.S.).
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im naturräumlichen Potential der ökologischen Fülle wichtige Voraussetzungen. Für ein gutes Leben, allen voran in der Subsistenz, geht es also darum, sich mit diesem Potential ins Verhältnis zu bringen. Fülle wäre dann der gemeinsame Anspruch, die gemeinsame Sache, welche die Naturbeziehungen aufspannt und worauf es angemessene Antworten braucht.40 Sich auf die Fülle zu verständigen und sich darauf zu verstehen, bringt allerdings noch eine weitere Dimension der Natur ins Spiel. Haitis Natur ist nicht nur durch eine ökologische Fülle geprägt, sie ist zugleich auch in hohem Maße ereignishaft. Einem Anspruch auf eine »Natur der Fülle« Rechnung zu tragen, bedeutet zugleich auch, sich mit den wiederkehrenden Naturereignissen ins Verhältnis zu bringen, die das Potential haben, zu erschüttern, allen voran Erdbeben und extreme Wetterereignisse wie tropische Stürme, Hurrikane, Gewitter, Starkregen sowie ihre Begleiterscheinungen wie Überschwemmungen, Massenbewegungen usw. Gemeint ist die Fülle an sogenannten »natural hazards«.41 Die ökologische Fülle anzuerkennen, aufrechtzuerhalten oder entstehen zu lassen, um sich im Anspruch auf Nahrungs- und Lebensfülle anerkennen zu lassen, heißt zugleich auch, dieser Ereignisfülle gerecht zu werden. Die einfache Leitthese ist, dass in naturnahen und subsistenzgeprägten Lebensverhältnissen Naturvermittlungen greifen müssten, die sich auf das Sattwerden orientieren. Dass ein solches Sattwerden im doppelten Sinn als 40
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Ein möglicher Einwand ist, dass mit einer These, die ausgehend von einem naturräumlichen Potential ein Anerkennungsverhältnis markiert, implizit ein naiver Essentialismus angelegt und hierin eine geo-/naturdeterministische Argumentationsgrundlage vorbereitet wird. Aus meiner Sicht ist dieser Einwand nicht gerechtfertigt, weil mit der gewählten Perspektive von Naturvermittlungen erdnaturbezogene Dinge zwar als Objekte bedeutsam werden, jedoch nicht im Sinne von objektiven oder determinierenden Tatsachen, sondern vielmehr als Objekte für Beziehungen und damit als verhandelbare Tatsachen. In diesem Zugriff auf Vermittlungen sind weder Argumentationen möglich, die in der Determiniertheit durch objektive natürliche Tatsachen subjektive Handlungsspielräume unterminieren noch solche, in denen erdnaturbezogene Dinge als Objekte für Beziehungen und Vermittlungen »vergessen« werden. Die Bezeichnung »natural hazard« meint »an unexpected and/or uncontrollable natural event of unusual magnitude that might threaten people« (Bokwa 2016:o.S.). Für Haiti wird eine »multi hazard«-Situation ausgewiesen, bestehend aus »seismic hazards« (z.B. Erdbeben, Tsunamis), »hydrometeorological and climate related hazards« (z.B. Starkregen, Stürme, Überflutungen), »external geodynamic hazards« (z.B. Erdrutsche, Schlammflüsse, schwere Muren) und »coastal hazards« (z.B. Sturmfluten, Überflutungen der Küsten, Küstenerosion, Tsunamis) (Republique d’Haïti 2010).
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
Streben nach Nahrungs- und Lebensfülle konzipiert wird, hat theoretische und empirische Gründe. In theoretischer Hinsicht ist dies Konsequenz einer Konzeption von ressourcenorientierter Exploration, die nach Hinweisen für »gute Quellen« der Lebensgestaltung sucht, zu der die Krisen zwangsläufig gehören (und die weniger die Krisen und darin eingelassene Coping-/ Resilienzstrukturen ins Zentrum ihrer Beobachtung rückt). Auch oder gerade, wenn mit dem Begriff der Lebensfülle eine Tendenz zum »Schönfärben« der Missstände naheliegt, insbesondere in Anbetracht der devastierten ökologischen Dinge und der Hungerkrisen, wird damit für die wissenschaftliche Beobachtung zur Anerkennung eines universalen Anspruchs aufgefordert. Mit dem Fokus auf Möglichkeiten der »Lebensgestaltung einschließlich Krisen« im Begriff der Lebensfülle wird ein Subjekt unterstellt, das von einer »Sorge um sich« (Schmid 1998:244-250) geleitet ist, dass über die Befriedigung existentieller Grundbedürfnisse hinaus nach Selbstentfaltung und gelingender Lebensführung strebt oder anders formuliert: ein Subjekt, das im Streben nach existentieller Sicherheit und Geborgenheit zugleich Möglichkeiten und Wege der Selbstentfaltung und gelingender Lebensgestaltung aufschließt.42 Es muss natürlich offen gehalten werden, was dies in den empirischen Situationen konkret bedeutet, welche Vorstellungen, Werte und Praktiken dazu in den Naturbeziehungen greifen. Aus meiner Sicht anerkannt werden muss lediglich, dass zum Menschsein und -werden ein Anspruch auf Lebensfülle gehört, für den der Anspruch auf Nahrung die Grundlage bildet. Lebensfülle wird dazu verstanden als eine Fülle an Lebenserfahrungen, die sich in den Beziehungen zu Anderen und zum Anderem entwickeln. Gemeint ist eine Fülle
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Damit wird angeschlossen an ein Subjektkonzept, wie es in einer Philosophie der reflektierten und/oder ökologischen Lebenskunst zugrunde gelegt wird (Schmid 2008, Schmid 1998). Schmid konstatiert: »Die Sorge, vom Selbst herrührend, wird auf das Selbst zurückgewendet. Sie richtet sich vor allem auf die inneren Verhältnisse des Selbst, seine Seele, […]. Die Sorge richtet sich jedoch ebenso auf das äußere Selbst und seine leibliche Verfassung, die die Grundlage aller Existenz darstellt. Wird auf die Möglichkeit, das Selbst in diesem doppelten Sinne zum Gegenstand der Sorge zu machen, verzichtet, bleibt seine Verfassung der Willkür der Verhältnisse überlassen« (Schmid 1998:245). Der Rekurs auf ein »Subjekt der Sorge um sich« ist Konsequenz des Anspruchs »zivilisierter« Beobachtung, die davon ausgeht, dass ein Bemühen um Selbstentfaltung eine universelle Disposition ist. Ein solcher Rekurs ist dann Kritik und Korrektiv an impliziten Subjektpositionen (z.B. das versagende Subjekt) in den Diskursen über Haitis Dauerkrise und der totalen Katastrophe, die eine solche Disposition weniger veranschlagen.
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an Lebenserfahrungen, die Kohärenzerleben und hierin Selbstgewissheit sowie Lebenssinn erzeugen.43 Bei dieser eher normativen Hinwendung zur Lebensfülle im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« handelt es sich um eine Entscheidung, der zwei persönliche Irritationen und Revisionen im Feld vorausgehen, die es in einem kurzen Exkurs darzulegen gilt. Die erste Irritation besteht im Bild des »Auffressen der Natur«, der vom Hunger getriebenen Zerstörer der ökologisch wertvollen Dinge, das insbesondere die intellektuellen Alltagsdiskurse begleitet. Dieses Bild vermittelt sich beispielsweise in Aussagen von zwei regionalpolitisch engagierten Agronomen: »Sie fressen das Land«44 oder »Es ist der Hunger dieser vielen Menschen, der die Natur zerstört.«45 Dabei wird insbesondere auf die Überbevölkerung, die Kompensation der Ernährungsunsicherheit durch extensive und intensive Landnutzungen hingewiesen, die schwere Bodendegradation und -verluste verursacht.46 Es handelt sich bei diesen Aussagen immer um ein Reden über die Leute, die Bauern usw., d.h. über die Anderen. Aus meiner Sicht greifen hier Mechanismen, den Anderen zu infantilisieren und zu marginalisieren, insbesondere diejenigen, die in direkter Bezogenheit zur Natur leben.47 43
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Im Begriff von Kohärenz wird eine einseitige Subjektzentrierung vermieden, indem die Möglichkeiten der Selbstentfaltung mit Beziehungserfahrungen verbunden werden: »Das Werk, auf das die Sorge sich konzentriert, ist die Kohärenz des Selbst. Die Kohärenz ist das Gefüge, das die vielen Aspekte des Ichs in einem vielfarbigen Selbst in einen wechselseitigen Zusammenhang bringt […]. Das Konzept der Kohärenz trägt dem Umstand Rechnung, dass Subjekte, fern davon identisch mit sich zu bleiben, unentwegt Andere sind, verändert von den Begegnungen mit den Anderen und Anderem; dass sie Erfahrungen machen und mit Situationen und Zufällen zu tun haben, von denen sie nicht als dieselben belassen werden, sodass das jeweilige Selbst sagen kann: Ich bin dieses Selbst und bin es doch auch nicht. Die Kohärenz sorgt sich um die Integration des Anderen in jedem Sinne, arbeitet ständig neu an der Strukturierung des Selbst und ermöglicht ihm auf diese Weise, sich selbst nicht gänzlich zu verlieren« (Schmid 1998:252). Originalzitat kreolisch: »Y ap manje tè a.« Originalzitat kreolisch: »Se paske anpil nan moun sa yo nan grangou ki fè yo detwi lanati.« Erwähnt sei an dieser Stelle auch ein Witz mit sarkastischer Note, der in der Studie von Beckett kritisch erläutert wird: »What are the only two exports of Haiti?« Die Antwort lautet: »People and soil« (Beckett 2019:28). Die These, dass es ein wirkmächtiges Bild des »Auffressens der Natur« gibt, rekurriert vorzugsweise aus Beobachtungen in Gesprächen, an denen ich selbst beteiligt war. Es ist anzunehmen, dass diese Tendenz Infantile und Marginalisierte auszuweisen, auch die Fachdiskurse implizit überall dort prägt, wo Überbevölkerung und Hunger einsei-
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
Das implizite Menschenbild hinter einer Aussage wie »Sie fressen das Land« ist offensichtlich. Gewählt werden zwar Metaphern, welche die Schwere des ökologischen Verfalls und der Not kennzeichnen sollen, die aber mit Figuren wie des einseitig instinktgeleiteten und ausbeuterischen Handelns, der Unwissenheit und in gewisser Hinsicht auch des Stumpfsinns operieren. Von einem Reden, das ein »Subjekt der Sorge um sich« anerkennt, findet sich in diesen Bildern keine Spur. Selbst wenn Hungerkrisen ein Treiber für ökologische Zerstörung sind, entsprechen diese impliziten Figuren jedoch in keiner Weise jener Achtsamkeit und Wertschätzung im Umgang mit Nahrungsmitteln, die bei Menschen zu beobachten sind, für die die alltägliche Grundversorgung mit Nahrung keine Selbstverständlichkeit ist. Weder die im großen Maßstab betonte Überausbeutung von Böden, Fischbeständen oder Wäldern durch Überbevölkerung und chronische Ernährungsunsicherheit noch die aktive und gewaltsame Zerstörung in den kleinen Geschichten wie die der Erdnussbauern oder Langustenfischer haben mit einem »Auffressen der Natur«, mit Instinkten, Unwissenheit oder Stumpfsinn zu tun, sondern, wie noch zu zeigen sein wird, mit einem möglicherweise gestörten Verhältnis zu einer »Natur der Fülle«. Eine weitere Irritation bestand im Feld darin, dass ich die Zeichen der Hungerkrisen nicht zwangsläufig dort auffinden konnte, wo diese zu erwarten gewesen wären, nämlich im ruralen Haiti.48 Das Verbleiben in der Subsistenz wird oft als Antwort und vor allem als ein auswegloses Feststecken in den Armutskrisen gelesen, als Überlebensstrategie, die auf kurz oder lang keine mehr ist.49 Dies ist auch zu beobachten, aber nicht nur. Beobachtbar im ruralen und subsistenzgeprägten Haiti sind ebenso Menschen, die satt werden, die durchaus in der Lage sind, über genügend Nahrung zu verfügen und ihre Leben zu leben. In den Fallstudien habe ich diese Menschen z.B. unter den Fischern in der Fischergemeinde Taino, unter den Farmern in den Farmergemeinden Monben (im Süden in den Bergen von Côtes-de-Fer), in Saint-Gerard (im Südwesten in den Bergen in Petit-Goâve) oder in Bohoc (in
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tig kausal mit der ökologischen Devastierung verrechnet werden. Eine exemplarische Argumentation hierzu, die überdies auf ein gewachsenes Narrativ hinweist, findet sich bei Lundahl (1979/2015:187-200) sowie Lundahl (2013:34-35). Zur chronischen Ernährungsunsicherheit in Haiti, insbesondere in ländlichen Gebieten vgl. Rights and Democracy (2008), Steckley (2015:39-97), Steckley (2015:131158), Steckley & Shamsie (2015). Steckley & Weis (2017). Zur ruralen Krise, insbesondere als Armutskrise vgl. Échevin (2014), Lundahl (1979/2015), Lundahl (2013:31-37), Steckley (2015:65-79), Steckley & Weis (2017).
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Zentralhaiti in der Nähe von Hinche) angetroffen. Wenn es etwas gibt, worauf sich diese Leute in der Subsistenz verstehen, dann ist dies, zumindest über ausreichend Nahrung zu verfügen und dafür einen entsprechenden Umgang mit den Dingen zu pflegen. Erfragt man ihre Lebensgeschichten, dann lässt sich im Streben nach existentieller Sicherheit eben auch eine Haltung zur »Sorge um sich«, letztlich zur Lebensfülle feststellen. Das Antreffen von Menschen, die sich in der Subsistenz gut ernähren können, deren Lebensvollzüge durchaus stimmig erscheinen, hat schließlich die These legitimiert, Hinweise für ein mögliches Gelingen im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zu vermuten. Sattwerden zu können, zeugt dann vom Bemühen auf die ökologische Fülle und die Ereignisfülle sowie den Anspruch auf Nahrungsfülle und Lebensfülle angemessene Antworten zu finden. Nun ist aber genau dieses Sattwerden zugleich auch von aktiver und gewaltsamer Zerstörung begleitet. Die »Spuren der Destruktivität« haben sich in subsistenzgeprägten Lebensverhältnissen zum Ausdruck gebracht, in denen sich Hinweise für ein angemessenes Verhältnis zur Fülle beobachten lassen oder sich dieses wiederbeleben ließe. Die Erdnussbauern wissen um alternative Anbauweisen, die zumindest von der ökologischen Fülle und hierüber davon künden, satt werden zu können; die Fischer wissen um die Knappheit der Fischbestände und die Bedeutung von wichtigen Langusten, um das Meer als Nahrungsquelle zu erhalten; die Gärtner in Bohoc leben einerseits ein Verhältnis zur Fülle mit ihren ertragreichen und gepflegten Gärtnern und zerstören diese gleichzeitig durch exzessives Abholzen der Bäume; das fließende Wasser bringt einen Aspekt der Fülle zur Geltung und auch der Mapou, geht man davon aus, dass ein gutes Leben auch in einer Art spirituellen Geborgenheit gründet. Die »Spuren der Destruktivität« geben somit Grund zur Annahme, dass sich die Möglichkeiten im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« einerseits entfalten können, andererseits aber auch nicht. Sie verweisen darauf, dass sich auf kurze oder lange Sicht kein Erfahrungsraum offenbart, der das Leben der Menschen und Dinge nähren könnte. Anzunehmen ist, dass das, was es für eine Haltung zur Fülle bedarf und ihr vorhergeht, einerseits verfügbar ist oder werden kann und andererseits nicht verfügbar ist oder werden kann. Auf die »guten Quellen« von Naturbeziehungen, die es braucht, um einen Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zu formulieren und zu beantworten, lässt sich verfügen und zugleich auch nicht. Es scheint zunächst ambivalent.
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
2.4
Gute Quellen des Gelingens
Um welche »guten Quellen« geht es? Was wird nicht aktualisiert, wenn eine »Natur der Fülle« in der Destruktivität vermieden wird und verloren geht? Im Folgenden wird eine Interpretation entlang der vorgestellten theoretischen Prämissen sowie bedeutsamer empirischer Momente im Feld vorgestellt. Diskutiert werden im Wesentlichen zwei Felder von Ressourcen einer Naturbeziehungsweise zum Guten. Einerseits geht es hierzu um die Grundzüge eines praktischen Könnens, das die Einfachheit kultiviert und andererseits um eine Form von Verbundenheit als Zugehörigkeit zur Natur, die diesem Können vorausgeht. Die Interpretation wird also über die Beschreibung von Praktiken zur Beschreibung eines Mechanismus der Naturvermittlung voranschreiten, der diesen Praktiken vorhergeht. Beides – Einfachheit und Verbundenheit – spricht schließlich Möglichkeiten an, ein angemessenes Verhältnis zur Fülle in den genannten Dimensionen von Nahrungs- und Lebensfülle im Umgang mit der ökologischen Fülle sowie der Ereignisfülle zu etablieren. Exploriert wurde dazu in Situationen, in denen sich gangbare Voraussetzungen dafür finden, also dort, wo sich die Hungerkrisen weniger stark zu erkennen geben, es halbwegs gelingt, in der Subsistenz satt zu werden. Die Interpretation wird jene Thesen formulieren, die es in Kontrastierung mit den »Spuren der Destruktivität« erlauben, von Dysfunktionalitäten und Störungen in den Naturbeziehungen zu sprechen, womit im Grunde genommen ein gestörtes Verhältnis zum Anspruch und zu den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« angezeigt ist, was seinen Ursprung in einem gestörten Mechanismus der Vermittlung zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen findet. Die Interpretation wird damit zugleich jene Thesen formulieren, mit denen praktisch im Rahmen einer späteren Intervention auch weitergearbeitet wurde.
2.4.1
Einfachheit
Um die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« aufzuschließen, braucht es Kenntnis und Können im Umgang mit den Dingen. Darüber, dass man über die Dinge in Kenntnis und mit ihnen vertraut ist, entwickelt sich das Können. Wenn ich Früchte vom Baum pflücken möchte, muss ich den Baum und mich selbst gut kennen, um sicher auf ihn zu klettern. Um zu Fischen brauche ich die Fähigkeit ausdauernd zu schwimmen, zu tauchen, einen geschickten Umgang mit der Harpune und Kenntnis über und Gespür für das Meer. Ich muss wissen, was und wo ich fischen kann und wie ich selbst dabei sicher bin. Ich
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muss wissen, was ein Tier braucht, wie ich es aufziehen kann, wie ich es töten, zerlegen und zubereiten kann, um es verspeisen zu können. Ich brauche Kenntnis darüber, wie man Kaffee anbaut, die Kaffeebohnen im Feuer röstet und mahlt, um den Kaffee zu genießen, den ich mag und der mir zum Ritual geworden ist. Die Beispiele ließen sich vielseitig fortführen. Damit wird eine einfache These zum Ausdruck gebracht: Gelingt es, satt zu werden, wird eine »gute Quelle« verfügbar, im Umgang mit den Dingen, Kenntnis zu haben und etwas zu können. Im Folgenden geht es darum, ausgewählte Aspekte dieses praktischen Könnens als Hinweise zu interpretieren, einen Anspruch auf eine »Natur der Fülle« angemessen zu beantworten. Einfachheit und Leiblichkeit Die Besonderheit dieses Könnens in der Subsistenz besteht in der Anwendung einfachster und robuster Techniken. Es ist Handwerk, der Hände Werk und vor allem ohne Körperkraft, d.h. ohne ein leiblich grundiertes Können nicht zu denken. Es braucht die robusten Körper der Frauen, der Männer und auch der Kinder. Die Fischer schwimmen, tauchen und fischen selten mit Netzen, meistens jedoch mit einer Harpune. Sie benutzen winzige Holzboote, um hinauszufahren und oft nicht einmal das, dann reicht ein Behältnis am Fuß. Sie schwimmen und tauchen oft über Stunden. Auch die Farmer und Gärtner in den Bergen ackern per Hand, mit Spaten und Hacke und sind oft den ganzen Tag lang auf den Feldern oder in den Gärten. Die Holzfäller benutzen eine einfache Axt, um Holz für Kohle zu beschaffen. Ob Frauen, Männer oder Kinder, sie schleppen alles, Früchte, Wasser, Holz usw. Sie sammeln, packen und sie laufen. Morgens, wenn die Sonne aufgeht, gehen sie bepackt mit ihren Produkten und Werkzeugen durch die Berge, auf Wegen, die allenfalls noch mit dem Esel zu passieren sind. Ziel sind die Gärten, die Felder und die Märkte. Bevor es dunkel wird, laufen sie zurück. Oft dauert eine Strecke zu Fuß mehrere Stunden lang. Das Sattwerden im Können hat also mit Leiblichkeit zu tun. Gelingt es, satt zu werden, hat man Gewissheit über die eigene Leiblichkeit erlangt, kennt man die eigenen Kräfte, seine körperlichen Fähigkeiten und auch die Grenzen. Naturbeziehungen in der Subsistenz sind ein leibliches Geschehen. Die erdnaturbezogenen Dinge als Gegenüber sprechen ein leibliches Selbst an und umgekehrt spricht man hierüber zu den Dingen. Man tritt also unmittelbar leiblich in Beziehung und kann es so mit allem aufnehmen, was die Welt der Dinge umfasst. Aus meiner Sicht gelingt dies auf besondere Art und Wei-
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se, was sich sehr deutlich bei den Fischern zeigt. Der Fischer angelt nicht, er besitzt kein Netz und er sitzt auch nicht auf einem Boot, um seiner Tätigkeit nachzugehen. Der Fischer ist nicht auf dem Wasser und damit dem Meer und den Fischen nahe und distanziert zugleich. Der Fischer ist im und unter Wasser, um mit einer Harpune zu fischen. Sinnbildlich gesprochen gehört er in diese Welt des Meeres so wie die Fische selbst. Er ist nicht draußen, sondern mittendrin und somit ein Teil davon. Dieses Mittendrinsein, das Schwimmen und Tauchen sind insofern herausfordernd, weil dies nichts anderes zulässt, als sich mit »Leib und Seele« einzulassen und mit den Dingen mitzugehen. Um zu schwimmen, um überhaupt atmen zu können, um im oder unter Wasser lebendig und angstfrei zu sein und sich fortzubewegen, muss man sich mit dem Wasser, mit jeder Wellenbewegung, Strömung oder Untiefe verbinden können. Beim Schwimmen und Tauchen geht es nicht darum, sich den Dingen mit Kraft entgegenzustellen und etwas bezwingen zu wollen.50 Der Unterschied zum Boot mit Angel oder Netz ist, dass man sich leiblich weniger absetzt, indem man z.B. die schützende Behausung eines Bootes wählt und hierin unberührter bleibt. Erst wenn man sich voll und ganz in die Welt des Meeres stellt, mit den vorfindlichen Dingen mitgeht, sich in den Fluss des Wassers einfügt, es den Fischen gleichtut, sich mit dem Meer vereint, wird man zum Jäger, der seine Beute stellt. Aus meiner Sicht steckt in dieser leiblichen Bezugnahme eine besondere Dialektik des Verbindens und Unterscheidens, d.h. ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis, das sich auch dann beobachten lässt, wenn Bäume erklettert, kilometerweite Wege zu Fuß zurückgelegt werden und man generell keine komplexen Technologien verwendet. Um den Dingen etwas für sich selbst abzugewinnen, muss man sich mit »Leib und Seele« verbinden, d.h.
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In Kürze zu erwähnen ist, dass dies das besondere Können im Schwimmsport auszeichnet, allen voran in freien Gewässern. Eine erzählerische und sehr anschauliche Darstellung dieser leiblichen Begegnung mit dem Wasser findet sich bei von Düffel (2016) sowie von Düffel (2006). Eine eher praktische Anleitung zum ausdauernden und angstfreien Schwimmen in freien Gewässern findet sich bei Loos Miller (2011). Hierbei wird beschrieben, welche besonderen körperlichen und geistigen Techniken es braucht, um im Wasser die richtige Atmung zu finden, wasserinduzierte Angstimpulse zu meistern, Ausdauer zu entwickeln, mit den Wasser-, Wetter- und Untergrundverhältnissen mitzugehen usw. Diese Verweise werden an dieser Stelle angeführt, um deutlich zu machen, dass all dies unter den beobachteten Fischern selbstverständlich ist. Es gibt weder Angstempfinden noch Atem- oder Ausdauerprobleme.
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selbst in dieser Welt der Dinge sein, ihre Eigenschaften und Dynamiken teilen, mit ihnen eine tragende Gemeinschaft bilden, die dann wiederum Differenzierung ermöglicht. Einfach formuliert: Wenn man im Meer zuhause ist, ein Teil davon ist, wird es möglich, in dieser Gemeinschaft eine Position des Anderen als Fischer oder Jäger einzunehmen. Zu klären ist dann, wodurch diese Gemeinschaft gestiftet wird, was den Fischer im und unter Wasser sein lässt, was ihn verbindet und trägt und worüber er zum Jäger werden kann, d.h. was letztlich den Unterschied von Angel, Netz und Boot auf dem Wasser zur Harpune unter Wasser kennzeichnet. Dazu an späterer Stelle mehr. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass es sich um ein leibliches Selbst handelt, welches den Dingen begegnet. Hieran schließen sich dann einfachste Techniken – Harpune, Axt, Machete usw. – an, die sich als selbsterweiternde Hilfsmittel interpretieren lassen. Nimmt man diese Körper- oder Leibzentrierung ernst, dann wird ebenso deutlich, dass zum Sattwerden eine »Sorge um sich« greifen muss, dass es gerade in der Subsistenz darum geht, ein »starkes« Selbst zu entwickeln, das imstande ist, sich mit der Natur, mit den Dingen in Beziehungen zu bringen.51 Es handelt sich dann im wahrsten Sinne des Wortes um ein Bestehen aus sich selbst heraus. In einem leiblich grundierten Können – so die These – vermitteln sich somit Grundzüge einer Haltung zur Nahrungs- und Lebensfülle.52
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Die Ausführungen sind als Hinweis aufzufassen, Naturbeziehungen insbesondere unter einem Aspekt von Leiblichkeit zu interpretieren. Die Argumentation ist inspiriert von kommunikationspsychologischen Ansätzen einer »embodied communication« (Storch & Tschacher 2014, Storch et al. 2010). Denken und Kommunikation gelten als »embodied« bzw. verkörpert: »Geist ist vielmehr als das, was das Gehirn tut. Der Geist – und damit meinen wir das bewusste Denken und Planen, aber auch die oft unbewussten Vorgänge und Entscheidungen – ist immer in einen Körper eingebettet« (Storch & Tschacher 2014:21). In diesen Ansätzen wird das leibliche Selbst zum Dreh- und Angelpunkt für Beziehungen. In leibphänomenologischen Arbeiten ist in dieser Beziehungsperspektive von einem »fungierenden Leib« die Rede, der »im Wahrnehmen, im Handeln, im Empfinden, in der Sexualität, in der Sprache usf. selbst eine bestimmte Leistung vollbringt, eine Funktion ausübt« (Waldenfels 2000:42). Ferner liegen der Argumentation sozialtheoretische Überlegungen zugrunde, die für eine stärkere Hinwendung zur Körperlichkeit im Vollzug sozialen Handelns plädieren (Gugutzer 2015). Auch in der beobachteten Destruktivität zeigt sich diese Form von leiblicher Begegnung. Die Dinge werden körperlich und kraftvoll attackiert.
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Einfachheit und Zeitlichkeit Mit der Einfachheit, mit einem leiblich grundierten Können ohne komplexe Technologien, ist ebenso ein besonderes Zeitverhältnis verbunden. Die Einfachheit der Techniken geht mit viel Zeit einher, d.h. mit Langsamkeit, Rhythmus und einem gewissen Takt. Für ein paar wenige Fische ist man vom Sonnenaufgang bis zum späten Vormittag schwimmend und tauchend im Meer. Auch die Farmer, Gärtner und Holzfäller ziehen morgens mit dem Sonnenaufgang los und kommen am Nachmittag zurück. Das Zubereiten der warmen Mahlzeiten dauert Stunden. Es beginnt in der Frühe und endet am Nachmittag. Gemüse, Fisch und Fleisch, alles wird sehr lange auf dem Feuer gekocht. Die Prozedur der Verarbeitung von Kaffeebohnen dauert mitunter einen ganzen Tag. Im Essen liegen also Hitze und Zeit. Es geht um Zeit, sich den Dingen zuzuwenden, eine Zeit, die man durch die Einfachheit bekommt.53 Mit den schnellen Lebenszyklen der Dinge und der Langsamkeit des Tuns kreuzen sich zwei verschiedene Ebenen des Zeitempfindens. Im Erleben bedeutet dies eine »Zeitlichkeit des Augenblicklichen«, wobei sich die Augenblicke weit ausdehnen.54 Es ist der geweitete Augenblick, in dem sich Gewissheit für das Können findet. Man selbst wird in dieser Weitung satt und die Vielfalt
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Die These, dass die Einfachheit Zeit einfordert und eine gewisse Art von Langsamkeit aufspannt, um den Dingen und hierüber sich selbst gerecht zu werden, ist inspiriert durch die einführend erwähnte Aussage von Latour, man müsse sich Zeit zu nehmen, um keine zu verlieren und langsamer werden, damit es schneller geht (Latour 2015:11). Diese Aussage lässt sich auch für den vorliegenden Kontext gebrauchen. Indem man sich mit viel Zeit und Langsamkeit den Dingen zuwendet, werden diese gewürdigt und gepflegt, was für den Wert der Beziehungen spricht. In der Aufwendung von Zeit und Langsamkeit liegen ebenso Aspekte von Gründlichkeit und Grundsätzlichkeit. Sich z.B. den Kaffeebohnen einen ganzen Tag lang zuzuwenden zeigt, dass man hier gründlich dafür sorgt, ein grundsätzlich bedeutsames Ritual zu pflegen. Gemeint ist der Kaffee am Morgen oder am Nachmittag, der meist gemeinsam eingenommen wird und wiederum ein wichtiges Moment der sozialen Beziehungspflege darstellt. Die Deutung im Hinblick auf eine »Zeitlichkeit des Augenblicklichen« ist inspiriert von Ausführungen bei Descola, der den verschiedenen ontologischen Routen, die den Naturverhältnissen vorhergehen können, eine eigene Zeitlichkeit zuweist. In animistischen und totemistischen Ontologien ist dies eine Zeitlichkeit des Augenblicklichen im Gegensatz zur orientierten Zeit im Naturalismus oder zur zyklischen Zeit im Analogismus (Descola 2014:98-100). Transferiert wurde lediglich die Bedeutung des Augenblicklichen. Dies ist in diesem Zusammenhang insofern nicht abwegig, weil wie noch zu zeigen sein wird, die vorfindlichen Naturbeziehungen eben auch von animistischen Haltungen zu den Dingen geprägt sind.
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der Dinge bleibt erhalten. Dem Anspruch kurzer Zyklen begegnet man durch die Dauer des Augenblicklichen. Einfachheit und Maßhalten Einfachheit und Dauer im Augenblick liegen auch in der Verarbeitung der Dinge. Dies gilt insbesondere für die Nahrung. Auch hierzu werden körperbetonte, einfachste und robuste Techniken angewandt. Dabei geht es vor allem um Frische und schnelle Verwertbarkeit. Dinge als Nahrung werden unverzüglich zubereitet, verbraucht oder auf den Märkten verkauft. So wie man es der Natur entnimmt, wird es verwertet. Es gibt keine Vorräte, kein Haltbarmachen und Vorhalten. Dies deshalb nicht, weil die an sich gefüllte Natur stets etwas zur Verfügung stellt, aber auch, weil die an sich schnelle Verderblichkeit der Dinge ohne Elektrizität und spezialisierte Techniken kein Haltbarmachen ermöglicht. Vorhalten und Anhäufen gibt es nicht und wenn doch, dann bereitet es Unbehagen. Samuel, ein Farmer in Monben in den Bergen bei Côtes-de-Fer, äußert dazu: »Wir haben hier in den Bergen keinen Hunger. Wir sind satt und es geschieht manchmal, dass wir tatsächlich zu viel haben, meist Gemüse wie Tomaten oder Brotfrüchte. Es gibt aber für uns keine Möglichkeit, alles zu verbrauchen.« 55 Für Samuel sind die Haufen von nicht verwertbaren Tomaten oder »lam veritab« (haitianische Brotfrucht) fast unerträglich. Sie wirken wie ein Stau in einem sich ständig reproduzierenden System, wie ein Zuviel, das den Fluss stört. Es bereitet ihm Unbehagen, das Gemüse nicht in einen angemessenen Verwertungszyklus zu überführen. Dies lässt sich auch in den Küchen beobachten. Wird Nahrung zubereitet, dann in einer Menge, dass alles unverzüglich und in bekömmlichen Maßen verzehrt werden kann. Es erweist sich als unstimmig, wenn etwas an Nahrung übrigbleibt, was gut für einen selbst wäre. Ich erinnere mich an eine Frau in der Fischergemeinde Taino, die direkt am Strand eine Kochstation betreibt. Bei ihr essen viele der Fischer und Kinder. Sie ist erleichtert und zufrieden, wenn sie am frühen Nachmittag nichts mehr anzubieten hat. Dann lief nicht nur das kleine Geschäft gut, vielmehr hat sie es in ihrer Wahrnehmung richtig und gut gemacht. Sie hat es geschafft, Maß zu halten und alles unverzüglich zu verwerten. Es geschieht 55
Originalzitat kreolisch: »Nou pa grangou isit la nan mòn yo. Nou plen. Epi pafwa sa rive nou gen twòp, sitou legim tankou tomat oswa lam veritab. Men, pa gen okenn fason pou nou manje tout.«
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
einmal, dass diese Frau am frühen Nachmittag mit einem größeren Fisch und der Bitte zu mir kommt, ihn aufzubewahren für den nächsten Tag. Sie war sichtlich unzufrieden, erklärte, dass der Fisch heute ein Zuviel wäre. Sie habe nun gehört, ich wüsste in der Stadt vielleicht jemanden mit einem Kühlschrank. Den Fisch noch am selben Tag zuzubereiten und zu verspeisen, hätte ein Übermaß an Essen bedeutet. Ihn zuzubereiten und als Essensrest an die Haustiere zu verfüttern, wäre ebenso undenkbar. Die Tiere fressen gut, aber in jedem Fall nur das, wofür man selbst nicht geeignet ist. Schweine bekommen die Schalen der Kartoffeln, nicht die gekochte Kartoffel, die übrigbleibt. Der Hund bekommt den Knochen, nicht das Fleisch. Es handelt sich hierbei um einen graduellen, aber wichtigen Unterschied im Umgang mit der Nahrungsfülle. Die Herstellung von Masse, von Überfülle läuft der Fülle der Natur entgegen. Es greift den eigenen Anspruch an und bedeutet ein ungutes Gefühl. Die Einfachheit der Techniken bei der Herstellung von Nahrung kann als eine Antwort auf die an sich vielfältige und stets gefüllte Natur gelesen werden. Einfachheit ist hier insofern angemessen, weil sie verhindert, über die Maße hinaus zu produzieren und somit die Fülle zu zerstören. Es reicht eine Harpune, wenn man sich jederzeit etwas aus dem Meer nehmen kann. Es braucht kein Netz für eine Masse an Fischen, die sich an Land anhäufen und dort verderben. Es reicht eine Machete für die zwei bis drei Kokosnüsse, die man bei Bedarf vom Baum holt, die anderen bleiben hängen. Wichtig ist vielmehr, dass es den Baum mit den Kokosnüssen gibt. Es reicht eine kleine Anbaufläche, ein kleiner Garten, wenn ich kundig darin bin, diese vielfältig gefüllt zu halten. Die Vorratskammer ist die produktive Natur selbst, man hält sie reich und voll mit allem, was sie zu bieten hat. In die Einfachheit eingebaut ist eine Begrenzung dahingehend, dass sich nur nehmen lässt, was man gerade braucht. Maßhalten durch Einfachheit, darin liegt eine Gewissheit, satt zu werden und die Dinge am Leben zu erhalten. In der ökologischen Fülle steckt die Aufforderung, es bei einfachen und zuverlässigen Techniken, bei handwerklichem Geschick und es dazu grundsätzlich bei einem leiblich grundierten Können zu belassen. Einfachheit und Erschütterung Mit der Einfachheit der Techniken, ist auch jener Modus angezeigt, um sich mit der Ereignisfülle der Natur ins Verhältnis zu bringen. Im Anspruch auf eine »Natur der Fülle«, auf das Sattwerden, hat man unweigerlich mit den
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großen Ereignissen umzugehen, allen voran mit den Stürmen, heftigen Gewittern, Starkregen, Überflutungen, aber auch mit den Erdbeben, d.h. mit der »katastwòf natirèl« (Katastrophe der Natur), wie man so oft hört. Wenn die Leute von der »katastwòf natirèl« sprechen, meinen sie nicht ausschließlich die Zerstörung und die Verluste. Sie meinen das plötzliche, schnelle und heftige Auftreten der Ereignisse. Sie sprechen von der Wucht, der Kraft und der Erschütterung, spürbar vor allem am eigenen Leib.56 Man fürchtet sie, ist aber dennoch darauf eingestellt. Das meint keine Kontrolle und Steuerbarkeit durch Frühwarnungen und umfassende Vorkehrungen. Man akzeptiert das Unkontrollierbare und erwartet, dass die Ereignisse immer wieder kommen und dass dies Erschütterung, Verlust und Zerstörung bedeutet. Antoine aus Monben äußert: »Du weißt nicht, wann es geschieht, aber der Sturm kommt, wieder und wieder. Und wenn er da ist, dann wartest du ab und betest zu Jesus. Danach schaust du, was du verloren hast und fängst von Neuem an, so wie jeden Tag.« 57 Er weiß, wovon er spricht und wird ruhig, wenn er erzählt. In Bezug auf die »katastwòf natirèl« ändert sich bei den Leuten die Stimmung beim Reden. Es wird still und sehr klar, die Emotionen verschwinden. Man spürt, dass sie alle von diesen Erlebnissen geprägt sind, dass es niemanden gibt, der davon befreit wäre. Man spürt aber auch, dass hierin Einvernehmen und die Selbstgewissheit liegen, es meistern zu können. Sie können die Zerstörung, vor allem die materiellen Verluste meistern, weil das, was man hat und kann,
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Über die erschütternden Naturereignisse wird viel gesprochen. Oft spannt sich das lebensgeschichtliche Erzählen entlang dieser Zäsuren auf, d.h. insbesondere um das Erdbeben 2010 sowie Hurrikan »Matthew« 2016, aber auch entlang von lokaleren Ereignissen wie Überschwemmungen. Auffällig ist, dass von sich aus wenig bis gar nicht über die materiellen Verluste gesprochen wird. Ich selbst habe nur einen Fall erlebt, wo man die Tiere beklagt hat, die durch Hurrikan »Matthew« verendet sind. Dagegen wird betont, wie schlimm diese Ereignisse sind, was dann eher auf die physische und psychische Erschütterung hindeutet. Ein Beleg dafür ist, dass die Leute oft beschreiben, wo sie sich im Moment des Ereignisses aufgehalten und was sie getan haben. Es handelt sich um einen graduellen, aber wichtigen Unterschied in der Deutung der Wahrnehmung von Naturereignissen. Originalzitat kreolisch: »Ou pa konnen lè l ap rive, men siklòn ap vini ankò e ankò. Epi lè siklòn la rive, ou mete tèt ou alabri, epi ou rete tann ak rele Jezi. Aprèsa, ou gade kisa ou te pèdi epi kòmanse ankò, menm jan tankou chak jou.«
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
beständig ist. Voraussetzung ist, man bleibt selbst unbeschadet und am Leben. Einfache Techniken, Handwerk, Leiblichkeit, das Maßhalten, die Genügsamkeit, die Dauer im Augenblick ist nur an wenig gebunden, das tatsächlich zerstörbar ist. Man hat gelernt, ohne Elektrizität und fließendes Wasser zu leben; man weiß, wie man längere Phasen mit wenig Nahrung übersteht; man weiß, draußen zu leben, zu improvisieren, wenn es an sich nichts mehr gibt; man weiß die Gärten und Ackerflächen wiederherzurichten und sich in den Lauf der Dinge, in den geweiteten Augenblick wieder einzufügen. Was jedoch die Erschütterung, die Verletzungen an Leib und Seele betrifft, berührt eine andere Frage. Mit den Spuren der Erschütterung lässt sich aus meiner Sicht nur schwer umgehen, auch nicht durch Einvernehmen. In der Einfachheit liegt ein möglicher Schlüssel, um zumindest ein Einvernehmen mit all dem Ungewissen und Unberechenbaren zu erzeugen, was die Kraft hat, Dinge zu zerstören: das Haus, die Tiere, die nächste Ernte, den Brunnen usw. In Bezug auf die eruptiven Momente in den Beziehungen zur Natur liegen in der Einfachheit also Beständigkeit und somit eine an sich verlässliche Coping-Strategie. Es ist einer der wenigen Wege, darin aber ein robuster Weg, sich zu präparieren.58 Im Anspruch auf eine »Natur der Fülle«, im Sattwerden gefordert, ist also ein Können, sich schnell in den Lauf der Dinge wieder einzufügen. Die Einfachheit und Beständigkeit der Techniken und damit eine Zeitlichkeit des geweiteten Augenblicks helfen dabei. Zusammenfassung Exemplarisch und pointiert dargestellt wurden Hinweise auf ein praktisches Können, das die Einfachheit kultiviert. Mit Blick auf »gute Quellen« des Gelingens wurde versucht, in der Einfachheit Hinweise aufzuschließen, die für die
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Diese These ist inspiriert durch Äußerungen des Anthropologen de Castro, der den Indigenen in Brasilien und traditionellen Gesellschaften eine weitaus größere Widerstandsfähigkeit bei zukünftigen Katastrophen durch Naturereignisse zuspricht: »The indigeous Brazilians are much better prepared to live without electricity or running water. Just as, in fact, the poor of the planet are better prepared than the rich for misery, for a precarious existence, to spend days without eating, because they are already going through that.« Und an anderer Stelle wird konstatiert: »The so called ›traditional peoples of the planet‹ are people able to revert to techniques and livelihoods that are beyond our reach. We are animals that have lost the ability to reproduce outside a highlycontrolled environment. We’re too domesticated. We can’t live outside that technological bubble that surrounds us. If we run out of electrical power, we’re lost« (De Castro 2019:o.S.).
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Artikulation eines Anspruchs auf eine »Natur der Fülle« sprechen. Es bleibt weiteren, vorzugsweise ethnographischen Untersuchungen vorbehalten, genau zu bestimmen, inwieweit sich in der Einfachheit ein Repertoire an Techniken und Verfahren im Umgang mit den Dingen bewahrt und bewährt hat, um der ökologischen Fülle und der Ereignisfülle im Anspruch auf Nahrungsund Lebensfülle gerecht werden zu können. Wichtig im Rahmen dieser Exploration ist, in einer grundständig praktizierten Einfachheit diesbezüglich ein Bemühen zu erkennen und zu würdigen. Eine solche Würdigung ist in Anbetracht der überwältigenden Defizitorientierung in den Krisen- und Katastrophendiskursen unbedingt notwendig, im wissenschaftlichen Tun jedoch nicht einfach. Für jede vorgetragene These finden sich eine Vielzahl von Antithesen. Die Fachliteratur ist voll davon. Für jede vorgetragene These finden sich aber auch einige empirische Hinweise und zumindest ein guter Grund, diese aufzunehmen und weiterzuverfolgen. Dieser gute Grund liegt in der Zweckmäßigkeit von Erkenntnissen, die ein mögliches Gelingen berühren. Die Beobachtungen und empirischen Hinweise lassen vermuten, dass in der Einfachheit sehr sensible Strategien angelegt sein können, um mit der ökologischen Fülle bei einer gleichzeitig hohen Dichte zerstörerischer Ereignisse nachhaltig umzugehen oder dies zumindest zu versuchen. Die vorgetragenen Thesen weiterzuverfolgen, hieße dann auch im Rahmen von Intervention an dieser Stelle nach Lösungen zu suchen. Gemeint sind Lösungen, an denen es gerade im Defizitdiskurs sichtbar mangelt und die dringend gebraucht werden. Über die Einfachheit mit Blick auf ein Gelingen von Naturbeziehungen nachzudenken heißt, hierin einen grundlegenden Modus zu vermuten, um in der Komplexität und Unsicherheit im Umgang mit den erdnaturbezogenen Dingen, aber auch in der Komplexität und Unsicherheit einer von sozialen und politischen Krisen dominierten Lebenswelt nachhaltig zu bestehen. Einfachste Techniken, Leiblichkeit sowie Langsamkeit dienen zum Maßhalten in der ökologischen Fülle und zur Beständigkeit bei den Erschütterungen.59 59
Die Bezeichnung nachhaltig wird in seiner etymologischen Bedeutung verwendet und keinem spezifischen Nachhaltigkeitskonzept zugeordnet. Nachhaltig bedeutet nachhaltend, erhaltend: »Das seit dem Ende des 18. Jh. bezeugte Adjektiv ist eine Ableitung von dem heute veralteten Substantiv ›Nachhalt‹ etwas, das man für Notzeiten zurückbehält, ›Rückhalt‹, das zu dem gleichfalls veralteten ›nachhalten‹ ›andauern, wirken‹ (vgl. nach und halten) gehört« (Duden 1997). Das, worauf sich menschliches Tun bezieht, das, was beansprucht und vereinnahmt wird, besteht fortwährend wei-
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Mit diesem praktischen Können, das die Einfachheit kultiviert, ist im Untersuchungsgebiet an sich nichts Ungewöhnliches berührt. Ungewöhnlich ist eher, damit Hinweise auf »gute Quellen« zu verbinden. Es handelt sich um etwas, das sich besonders dort beobachten lässt, wo es Menschen, Familien und Gemeinschaften mit wenig oder ohne verlässliche Hilfe von außen schaffen, aus sich selbst heraus zu bestehen. Beispielhaft sei hierzu auf viele der Fischer in der Fischergemeinde Taino oder der Farmer in den abgelegenen Farmergemeinden Monben, Saint-Gerard oder Bohoc verwiesen. Das Können und das Sattwerden zeigen, dass sie zumindest versuchen, einen Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zu artikulieren und hierzu das fast Unmögliche wagen, weder eine Überausbeutung an der Natur noch an sich selbst zu vollziehen. Gelingt dies halbwegs, sind sie zufrieden so wie der alte Fischer in Taino, die jungen Gärtner in Bohoc oder die Farmer in Monben und einige in Saint-Gerard. In einem destruktiven Feld, in den Krisen- und Katastrophendiskursen erscheinen sie wie die großen Ausnahmen. An sich sind sie dies aber nicht. Es sind am Ende diejenigen, denen es noch möglich ist, im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« das zu tun, worin sich vertraute und bewährte Lebenspraktiken finden.
2.4.2
Verbundenheit
Der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« können sich – so die These – erst dann über ein praktisches Können entfalten, wenn sich ter, es überdauert, bleibt erhalten und wird nicht zerstört. Dieses Nach- und Erhalten der erdnaturbezogenen Dinge ist dann weniger eine konkrete Handlungsweise, sondern vielmehr ein Zustand, der sich durch die Aufnahme und im Vollzug gelingender Naturbeziehungen einstellen kann und aufrechterhalten lässt. In der Perspektive hybrider erdnaturbezogener Dinge handelt es sich bei Nachhaltigkeit um einen Zustand der Passung und Stimmigkeit, d.h. wenn die Natürlichkeit (Stoffkreisläufe), Diskursivität (Bedeutungen) und Praktiken (Sozialität) erdnaturbezogener Dinge als dynamisch balanciert in Erscheinung treten. Im Nachhaltigkeitsbegriff des Leitbildes zur nachhaltigen Entwicklung wird das Nach- und Erhalten einer Natur im Begriff der natürlichen Ressourcen bezeichnet und damit im naturtheoretischen Sinn enggeführt auf eine Bedeutung der Natur als Ressource. Nachhaltigkeit ist der Gegenbegriff zur Ausbeutung und Endlichkeit sogenannter natürlicher Ressourcen. Diese Perspektive wird in dieser Arbeit erweitert und einem von Verständnis von Naturbeziehungen in der dargestellten Weise zugeführt; zum Konzept Nachhaltigkeit und Leitbild nachhaltiger Entwicklung vgl. Grober (2003), Grunwald & Kopfmüller (2012:11-30), Jackson (2011:35-60), Norton (2017).
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eine Verbundenheit mit der Natur entwickelt. Verbundenheit meint ein Miteinander, genauer: die Erfahrung einer Art Gemeinschaft mit den erdnaturbezogenen Dingen, die durch ein Gefühl der Verwandtheit grundiert ist.60 Das besondere Können, das die Einfachheit kultiviert, wäre ohne ein solches Fundament der Verbundenheit nicht denkbar. Um jedoch Verbundenheit zur Natur zu erfahren, müssen sich die Dinge entsprechend vermitteln. Ich muss in der Natur als Nicht-Ich, in den Dingen als ein Gegenüber etwas wahrnehmen und sehen können, was zur Identifikation taugt und das den praktischen Bezugnahmen auf die ökologische Fülle und Ereignisfülle im Anspruch auf Nahrungs- und Lebensfülle vorhergeht. Die Naturbeziehungsweisen, die sich im praktischen Können der Einfachheit zum Ausdruck bringen, sind somit auf ihre vorhergehenden Modi der Identifikation bzw. Vermittlung zu befragen.61 Ein erster zentraler Hinweis, der auf die Verbundenheit mit der Natur verweist, ist mit der Bedeutung der Natur als Zuhause angezeigt. Wie bereits erwähnt, handelt es sich hierbei um eine starke Metapher, die sich in allen Fallstudien vermittelt hat. Als das Zuhause gilt das Draußen, was zugleich das Drinnen ist. Damit ist die lebensweltliche Umgebung gemeint, in der die Gärten der Gärtner, die Felder der Farmer, die Weiden der Hirten, das Meer des Fischers usw. den Mittelpunkt bilden.62 Im Beispiel des Fischers zu Beginn
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Verwandtheit meint ein sinnlich-affektives Band zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen. Zu sprechen ist auch von einem Naturgefühl, welches das subjektive Naturempfinden, -erleben und -gespür grundiert. Mit dem sinnlich-affektiven Band ist die Erfahrung einer Beziehung zur Natur verbunden, die für die Persönlichkeitsentwicklung sehr bedeutsam ist (Gebhard 2013:18-19, Gebhard 2013:27). Erinnert sei an den Begriff der Identifikation als Mechanismus der Vermittlung zwischen Ich und dem Anderen, d.h. zwischen Ich und der Natur als Nicht-Ich, die jeder Beziehung vorhergeht (Descola 2013a:176). Streng genommen geht es weniger um eine Räumlichkeit bzw. Raumwahrnehmung, die sich über die Unterscheidung drinnen/draußen organisiert. Wenn von drinnen/draußen die Rede ist, wird also betont, dass diese Unterscheidung in den Untersuchungskontexten weniger funktional ist, um ein Draußen als Raum zum Durchqueren oder einen vorübergehenden Ort zu einem lebensweltlich bedeutsamen Drinnen zu markieren. Wenn man diese Unterschiedsbildung anwendet, dann deshalb, um zu verdeutlichen, dass das Draußen gerade kein Durchgangsort ist, sondern alle lebensweltlich bedeutsamen Zusammenhänge umfasst und somit zugleich zum Drinnen avanciert. Verständlich wird dann, weshalb diese Unterscheidung in den Untersuchungskontexten wenig Sinn macht. Als Beschreibungsformel liefert sie aber bereits eine Erklärung dafür, wie sich in einer Räumlichkeit unabhängig von drinnen/draußen eine
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der Darstellung wird dies sehr pointiert formuliert. Der Fischer sagt, er sei im Meer geboren, er lebe im Meer und er wird auch im Meer sterben. Das Meer ist sein Zuhause und damit eine Welt, zu der er gehört, die er als wirtlich und haltend empfindet. Alles, was der Fischer im Umgang mit dem Meer kann und tut, wird getragen durch die basale Erfahrung, im Meer zuhause zu sein.63 Von welchem Zuhause spricht er? Wie ist es möglich, das Meer als das Zuhause zu sehen, genauer: in der Beziehung zum Meer Verbundenheit, wenn nicht sogar Zugehörigkeit zu empfinden? Wenn er davon spricht, dass er im Meer lebt, liegt es nahe, diese Aussage mit seiner Tätigkeit des Fischens zu verbinden. Die meiste Zeit verbringt er im oder in der Nähe des Wassers; seine Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen beziehen sich folglich immerzu auf das Meer, das Wasser, das Wetter, die Fische, die Meerestiere usw. Das Meer ist Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. Das kleine Geschäft, die Familie, das soziale Leben, alles hängt am Meer und am Fisch. Wenn er davon spricht, im Meer geboren zu sein und dort auch zu sterben, dann drückt er damit aus, aus dem Meer entsprungen und somit ein Teil davon zu sein.64 In einer ersten Lesart lässt sich diese Zugehörigkeit zum Meer dahingehend interpretieren, dass er in eine Fischerfamilie und in eine Fischergemeinde und somit in eine Welt voll mit Dingen, Bedeutungen und Praktiken rund um das Meer hineingeboren wurde. Gemeint ist ein Anfang, der ihm bis zu seinem Lebensende zur Orientierung wird. Was seine
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Natur als das Zuhause in die Erfahrungen bringt. Einfach formuliert: Man geht weniger hinaus in die Natur oder lebt draußen in der Natur, weil man bereits darin ist, d.h. inmitten all der Dinge der lebensweltlichen Umgebung, die zu einem Zuhause wird. Das ist auch der Grund, weshalb hauptsächlich von »lakay« (als Lebensort, der eine Gegend umfasst) die Rede ist, wenn vom Zuhause gesprochen wird und weniger von »kay« (als die Wohnstätte). Wenn von einer haltenden oder wirtlichen Welt die Rede ist, wird die dingliche Umwelt insbesondere in ihrer Funktion als eine zentrale emotionale Orientierung aufgefasst, der die Erfahrung eines Gefühls von Verwandtheit mit den Dingen vorausgeht (Gebhard 2013:27). Woran diese Aussage, im Meer geboren zu sein und dort auch zu sterben, zunächst erinnert, ist ein Bild des Meeres als Ursprung allen Lebens (Konersmann 2003:221-223). Diese Deutung wird jedoch nicht weiterverfolgt, weil sich die Aussage auf die gesamte Lebensspanne bezieht und die Bedeutung des Meeres als ein Zuhause herausstellt, das über Geburt und Tod hinaus Bestand hat. Die Aussage verdeutlicht dann eher, dass man einer Gemeinschaft, einer bestimmten Welt der Dinge zugehört. Die Interpretation wird sich also auf die Erschließung des Meeres als Zuhause als Exempel für die Natur als Zuhause beziehen und weniger eine allgemeine Ursprungsidee verfolgen.
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Lebenserfahrungen betrifft, heißt dies, dass er vom ersten Atemzug mit dem Meer zu tun hatte, d.h. dinglich und symbolisch über die Teilhabe an den Erfahrungen der Eltern und der anderen. Seine frühen Erfahrungen waren dann ähnlich wie die des siebenjährigen Joanie, ein Fischerjunge in Taino. Das Meer, die unmittelbare Umgebung und darin eingelassen ein kleines Haus bilden das Zuhause von Joanie. Sein Leben findet statt am Strand bei den Eltern, den Fischern, den Frauen und den Kindern und vor allem schwimmend und tauchend im Wasser nahe der Uferzone. Wenn er gerade nicht am Strand, im Wasser oder in der Schule ist, dann durchstreift er die Gegend, den Bereich, der in seiner Wahrnehmung das gesamte Zuhause umfasst. Er tut dies meist, um sich etwas Essen wie Früchte zu besorgen. Wenn er in der Gegend herumstreift, ist er beschäftigt mit den Dingen wie den Pflanzen, den Bäumen, den Fischen, den Muscheln, mit seinem Huhn oder seiner Katze sowie mit der Familie, den Freunden und Bekannten. Ist Joanie im Wasser, dann übt er das Schwimmen und das Tauchen, er lernt dies allein durch Nachahmung der anderen. Auch das Sammeln von »lambi« (essbare Muscheln) schaut er sich ab und auch, wie es gelingt, einen Fisch zu fangen. Joanie kennt das Wasser, jede Bewegung, er kennt jeden Fisch und jedes Meerestier. Er kennt den Meeresboden und weiß genau, wo er die »lambi« findet. Er kennt auch jede Pflanze und jedes Tier in der Umgebung. Er hat Begriffe dafür und für ausgewählte Tiere wie sein eigenes Huhn und die Katze auch einen Namen. Bei all den Dingen, die sein Zuhause bilden, kann er genau unterscheiden, was er damit anfangen kann, was er darf und was nicht, was er essen kann und was nicht, was Gefahren und Risiken bedeuten usw. Er lernt all dies durch Ausprobieren, Nachahmen und über die Tradierungen der Älteren. Joanie wird in diesem Zuhause sein Selbst ausbilden, getragen von den vielfältigen und vielseitigen Beziehungserfahrungen zu den Menschen und zu den Dingen, die das Meer umfassen. Wenn es gelingt, wird Joanie eine Naturbeziehungsweise verinnerlichen, die ihm zu einer wichtigen emotionalen Orientierung wird, die eine Fülle von Erfahrungen ermöglicht und durch die er viel Selbstgewissheit erlangen kann. Dabei geht es grundständig um die Erfahrung, sich als verbunden und zugehörig zu empfinden und etwas zu können. Beides sind Grundpfeiler, um, wie im Fall des alten Fischers, satt zu werden und das Leben meistern zu können. Die Aussage des Fischers, er lebe im Meer, gewinnt also in der Geschichte von Joanie an Plausibilität. Die Zugehörigkeit, ein Zuhause zu haben, kann hierzu in zwei Richtungen beschrieben werden. Einerseits geht es um die Ausbildung einer Beziehungsweise zum Meer als Grundlage dafür, dass sich soziale Identitäten entwickeln:
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Freunde, Partnerschaft, Familie, Gemeinde, Fischerverbund usw. Die Beziehungen zum Meer sind dann insofern funktional, dass sie tragende soziale Beziehungen organisieren. In diesen sozialen Gemeinschaften läge dann eine Kraft, um satt zu werden. Andererseits greift diese Erklärung nicht weit genug. In einer solchen Lesart bleiben die Dinge einseitig auf eine Bedeutung als Ressource für Nahrung und für die Organisation des sozialen Lebens beschränkt. Aus meiner Sicht unterminiert man in dieser Interpretation die Dinge in ihrer Bedeutsamkeit, die sie für die Menschen tatsächlich haben, wenn es um eine Verbundenheit geht, durch die man sich der Natur zugehörig, mit ihr verwandt fühlt. Es geht eben nicht nur um soziale Identität, für welche die Naturbeziehungen die Grundlage bilden, sondern darum, dass die sozialen Gemeinschaften überhaupt erst möglich werden, wenn sich zugleich auch eine Gemeinschaft mit den Dingen in die Erfahrungen bringt, d.h. wenn man wie der alte Fischer der Überzeugung ist, dem Meer entsprungen zu sein, im Meer zu leben und auch im Meer zu sterben. Das Zugehörigkeitsempfinden zu einer Natur als dem Zuhause bildet sich somit im Miteinander zwischen Menschen und Dingen, d.h. durch die Verbundenheit in einem Kollektiv, das das Meer, die Fische, die Pflanzen, die Tiere, die Fischer, die Frauen, die Kinder usw. umfasst. Im Zuge dieser Vergemeinschaftungen speist sich ein Gefühl von Zugehörigkeit und hierüber die Erfahrung, ein Zuhause zu haben.65 Diese These der Vergemeinschaftung von Menschen und erdnaturbezogenen Dingen gewinnt an Gewicht und Plausibilität, wenn man diesbezüglich noch einmal die Tätigkeit des Fischens als leibliches Geschehen betrachtet (schwimmend, tauchend im Meer). Sich auf das Meer voll und ganz, d.h. mit »Leib und Seele« einzulassen, hinein- und mitzugehen, es den Fischen gleichzutun, bedarf eines Erlebens, im Meer gehalten und getragen zu sein, Teil davon zu sein sowie etwas Wirtliches zu empfangen. Das Meer muss also als wichtige emotionale Orientierung bedeutsam werden, sonst würde man nicht im und unter Wasser fischen. Anzunehmen ist, dass es ein sinnlich65
Was in dieser These durchscheint, ist die Idee von Kollektiven, die Menschen und erdnaturbezogene Dinge umfasst, wie sie prominent bei Latour für eine politische Ökologie behandelt wird (Latour 2015). An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass ich ohne eine simple Vorstellung von Mensch-Ding-Gemeinschaften wenig Beobachtungssensibilität für das Reden im Begriff einer Natur als Zuhause aufgebracht hätte. Erst unter der Annahme einer besonderen Form von Vergemeinschaftung lässt sich hierin ein entscheidender empirischer Hinweis vermuten, die beobachtete Form der Destruktivität als Frage des Gelingens und Misslingens von Naturvermittlungen zu behandeln.
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affektives Band gibt, ein zu dieser Tätigkeit stimmiges Naturempfinden, -erleben und -gespür, welches aus einer Art Vergemeinschaftung mit dem Meer hervorgeht. Dass es um ein solches Band geht, wird besonders deutlich, wenn man die Fischer danach fragt, was in Anbetracht ihrer prekären Situation und der latenten Fischknappheit das Schlimmste wäre, was ihnen passieren könnte und dazu geantwortet wird, nicht mehr fischen zu können. Nicht mehr fischen zu können, meint in erster Linie, nicht mehr zu schwimmen, zu tauchen, im Meer zu sein, zum Jäger zu werden usw., d.h. gemeinsam mit den Dingen zu leben und sich hierüber zu differenzieren. Nicht mehr fischen zu können, meint erst in zweiter Linie, eine Nahrungsquelle, Einkünfte oder soziale Beziehungen zu verlieren. Sie sprechen davon, ohne das Meer krank zu werden, was so viel bedeutet, das Gespür für die Natur, die emotionale Orientierung, das Kohärenzerleben zu verlieren, d.h. einen umfassenden Selbstverlust erfahren zu müssen. Das Bedrohlichste an der Verknappung an Fisch, dem Zwang auf Alternativen auszuweichen, ist der Selbstverlust durch den Verlust der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit den Menschen und den Dingen, die das Meer umfasst. Um diese Naturverbundenheit tiefgründiger zu verstehen, ist nach dem Verbindenden, genauer: nach einem entsprechenden Modus der Identifikation zu suchen. Auszugehen ist hierbei von einer ontologischen »Melange der Naturen«. Konkret heißt dies, dass für die Verbundenheit und das Zugehörigkeitsempfinden in erster Linie ein animistischer Modus der Identifikation, aber zugleich auch eine naturalistische Bezugnahme bedeutsam werden. Dies wird im Folgenden näher erläutert. Modi des Verbindens und Unterscheidens Der Anthropologe Descola hat insgesamt vier verschiedene Ontologien herausgearbeitet, die den Beziehungen zwischen Menschen und Nichtmenschen vorhergehen und von denen zwei – Animismus und Naturalismus – für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind (Descola 2013a:197-364).66 Descola zeigt damit auf, dass die für uns naheliegende naturalistische Ontologie nur eine Möglichkeit abbildet, Naturbeziehungen aufzunehmen und zu gestalten. Ontologie bezeichnet die Art und Weise, wie Identifikationen mit den erdnaturbezogenen Dingen erzeugt werden, woraus sich bestimmte Dispositionen 66
Es geht um die ontologischen Routen des Animismus, Totemismus, Analogismus und Naturalismus (Descola 2013a:197-364); zur schematischen Übersicht vgl. Descola (2013a:346); zur Kurzdarstellung vgl. Descola (2014:95-100).
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des Seins, also Beziehungsweisen ableiten, die wiederum unser Erleben und Empfinden sowie unsere Erfahrungen und Praktiken strukturieren. Identifikation als Vermittlung zwischen Ich und der Natur als Nicht-Ich wird dazu auf den elementaren Mechanismus ontologischer Unterscheidung zurückgeführt, »unbestimmte Objekte zu spezifizieren, indem wir ihnen eine ›Interiorität‹ und eine ›Physikalität‹ ähnlich denen zuerkennen oder absprechen, die wir uns selbst beimessen« (Descola 2013a:181). Descola spezifiziert die Bezeichnungen Interiorität und Physikalität wie folgt: »Unter dem vagen Terminus ›Interiorität‹ ist eine Reihe von Eigenschaften zu verstehen, die von allen Menschen erkannt werden und die sich zum Teil mit denen decken, die wir gewöhnlich Geist, Seele, Bewusstsein nennen – Intentionalität, Reflexivität, Affekte, die Fähigkeit zu bezeichnen oder zu träumen. Einschließen kann man auch die immateriellen Prinzipien, von denen vermutet wird, dass sie die Belebung verursachen wie der Atem oder die Lebensenergie, ebenso noch abstraktere Begriffe wie die Idee, dass ich mit anderen ein und dieselbe Wesenheit, dasselbe Handlungsprinzip oder denselben Ursprung teile, manchmal in einem Namen oder einem Epitheton objektiviert, die uns gemeinsam sind« (Descola 2013a:181-182). Zur Physikalität heißt es: »Dagegen betrifft die Physikalität die äußere Form, die Substanz, die physiologischen, perzeptiven und sensomotorischen Prozesse, sogar das Temperament oder die Art und Weise, in der Welt zu handeln, insofern sie den Einfluss zu erkennen geben, den Körpersäfte, Ernährungsweisen, anatomische Züge oder eine besondere Art der Fortpflanzung auf das Verhalten oder den Habitus ausüben« (Descola 201a3:182). Eine naturalistisch orientierte Vermittlung zwischen Ich und der Natur als Nicht-Ich bedeutet, dass sich Menschen mit den erdnaturbezogenen Dingen in ihrer Physikalität als ähnlich betrachten, sich aber bezogen auf ihre Interiorität unterscheiden.67 Menschen und erdnaturbezogene Dinge ähneln sich in ihrer biologischen oder ökologischen Form. Man unterscheidet sich, weil man den Dingen die Interiorität, d.h. Seele, Geist oder Bewusstsein abspricht. Verbundenheit entwickelt sich in diesen naturalistischen Bezugnahmen durch 67
Es handelt sich bei dieser Kurzdarstellung um eine vereinfachte, aber darin zweckmäßige Argumentation, die sich an den Ausführungen zum Naturalismus bei Descola (2013a:259-300) orientiert.
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das Gemeinsame in den Formen. Hierin ist man Teil oder besitzt eine Rolle in einem vereinheitlichten Feld der Natur. Erdnaturbezogene Dinge begreift man dazu meist als lebende Systeme, so wie man selbst ein lebendes System ist. Im Systemdenken wird Verbundenheit durch die Idee erzeugt, miteinander über komplexe und dynamische Stoffkreisläufe zu interagieren.68 Dass die erdnaturbezogenen Dinge eine Innerlichkeit, d.h. Seele, Geist oder Bewusstsein haben könnten, bleibt in diesem Zugriff außen vor. Ist man mit der Natur verbunden, dann deshalb, weil man eine Nähe zu den biologischen oder ökologischen Formen empfindet, zu ihrer Lebendigkeit, zur Komplexität und Dynamik ihrer Stoffkreisläufe. Gemeint ist eine Lebendigkeit, an der man teilhat, weil man sie selbst auch verkörpert. Ein anderer Modus des Verbindens findet sich im Animismus, einer weiteren ontologischen Route und dem Gegenstück zum Naturalismus.69 Hierbei geht man davon aus, dass Menschen und Dinge sich in ihrer Interiorität ähneln, sich aber bezogen auf ihre Physikalität unterscheiden. Menschen und Dinge besitzen Seele, Geist oder Bewusstsein. Folglich ähneln sie sich auch in der Organisation ihrer Gemeinschaften. In einer allgemeineren Gebrauchsweise spricht man beim Animismus von der »Beseelung der Natur« (Gebhard 2013:50). Wenn im weiteren Verlauf der Arbeit von animistischen Naturbezügen die Rede ist, dann wird hierzu noch stärker auf eine spirituelle Dimension verwiesen, bei der die Beseelung in gewisser Weise auch als eine magische Bezugnahme in Erscheinung tritt. Gemeint ist eine Art »Vergeisterung der Dinge« als immaterielles Prinzip, bei dem Menschen und Dinge in eine geistige Welt eingebettet, als von Geistern umgeben oder ausgestattet wahrgenommen werden. Es ist diese geistige bzw. »vergeisterte« Welt, durch die sich am Fluss der Lebensenergien teilhaben lässt. Durch die »Beseelung der Natur« vermittelt sich die Erfahrung von Verbundenheit somit eher in einer Weise, wie sie in den Beziehungen zwischen den Menschen erlebbar ist. Die 68
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Gemeint ist insbesondere ein Systemdenken, was unter Bezeichnungen wie Öko-, Biooder Geosystemen firmiert, wozu alltagssprachlich natürliche Prozesse zählen, die aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren resultieren. Fachsprachlich geht es eher um Systeme, deren Eigenschaften und Dynamiken aus einer komplexen Vernetzung von Kompartimenten und Interaktionen hervorgehen; zum Systemdenken in den Naturwissenschaften vgl. Schurz (2006); zum Begriff der Komplexität vgl. Mainzer (2008); Mitchell (2008). Es handelt sich bei dieser Kurzdarstellung um eine vereinfachte, aber darin zweckmäßige Argumentation, die sich an den Ausführungen zum Animismus bei Descola (2013a:197-218) orientiert.
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Pflanzen, die Tiere, die Landschaften usw. besitzen dann zwar unterschiedliche Physikalitäten. Sie sind aber wie man selbst mit Seele, Geist, Bewusstsein und mit belebenden Geistern ausgestattet, womit man sich identifiziert, was einen affiziert, worüber man letztlich Beziehungen aufspannt und in Austausch treten kann. In psychoanalytischer, genauer: objektbeziehungstheoretischer Sicht konstatiert Gebhard, dass die animistischen Zugänge zur Natur für die gesunde psychische Entwicklung von Kindern sehr bedeutsam sind (Gebhard 2013:50).70 Grund hierfür ist, dass sich in diesen Zugängen nicht nur eine »kognitive Interpretation der Welt, sondern zugleich auch eine affektive Beziehung zur ihr« entfaltet (ebd.).71 Dies wiederum ist die Voraussetzung, dass sich innere Repräsentanzen von Naturbeziehungen als beständige Quelle einer emotionalen Orientierung ausbilden. Bei Gebhard heißt es, »dass erst durch die Aneignungstätigkeit die Objekte der Außenwelt psychisch repräsentiert werden, […]. Die Objektrepräsentanzen repräsentieren […] nicht nur die Objekte, sondern stets und unflechtbar damit verbunden die Interaktionen und Interaktionserfahrungen zu diesen Objekten. Insofern sind die symbolischen Repräsentanzen der äußeren phänomenalen Welt in gewisser Weise ›Beziehungsrepräsentanzen‹ […] oder ›geronnene Interaktionserfahrungen […]“ (Gebhard 2013:16-17). Es ist die affektive Beziehung zur Welt, welche das Gefühl und die Erfahrung ermöglicht, mit den erdnaturbezogenen Dingen verwandt zu sein (ebd.). Die im Modus animistischer Identifikation erworbenen Beziehungsrepräsentanzen und hierin das Verwandtheits- oder Naturgefühl sind folglich für die symbolisch-interpretativen Formen der Welterschließung grundgebend (Gebhard 2013:62). Um die natürliche Umwelt als haltend, tragend und wirtlich zu erleben, um sich in einer Welt der erdnaturbezogenen Dinge zurechtzufinden, sich zu beheimaten, mit diesen sinnstiftend umzugehen, 70 71
Die Studie von Gebhard (2013) bezieht sich auf westliche Kulturen. Mit Objektbeziehungen sind im psychoanalytischen Sinn die verinnerlichten Beziehungen bzw. Beziehungserfahrungen zwischen einem Selbst und einem Anderen angesprochen. Hierzu standen bisher die Beziehungen zwischen Menschen im Vordergrund, also Beziehungserfahrungen, die mit Personen gemacht wurden und werden. Dies gilt aber nicht mehr nur: Mittlerweile ist anerkannt, dass uns die Beziehungen zu den Nichtmenschen genauso prägen wie zu den Menschen. Als psychisch bedeutsame Objekte, genauer: als Objekte für Beziehungen gelten somit Personen gleichermaßen wie Dinge (Gebhard 2013:17-18).
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diese zu pflegen und zu erhalten, braucht es eine gelingende innere Navigation und hierzu die Fähigkeit, sich sinnlich-affektiv mit den Dingen zu verbinden (Gebhard 2013:27). Gebhard konstatiert ebenso, dass die animistische Weise der Identifikation im Zuge westlicher Sozialisation, insbesondere durch das naturalistische Naturverständnis, eine naturwissenschaftliche Norm und schulische Bildung überlagert, wenn nicht sogar ausgespielt wird (Gebhard 2013:58-60). Diese Überlagerung verhindert jedoch nicht, dass der animistische Modus des Verbindens/Unterscheidens und hierüber das Naturgefühl als innere Navigation in späteren Lebensphasen wieder aktualisiert werden kann. Gebhard spricht von »Denk- und Fühlformen, die zwar überlagert oder verdrängt werden können, jedoch niemals ihre Bedeutung für das Selbst- und Weltbild verlieren« (Gebhard 2013:61). In den animistisch orientierten Vermittlungen etabliert sich also ein sinnlich-affektives Band zur Natur, ein Naturgefühl, das auch im Erwachsenenalter von Bedeutung ist, selbst dann, wenn naturalistische Bezüge mit ihren eher kognitiven Interpretationen der Natur dominieren (Gebhard 2013:27, Gebhard 2013:62). Folglich liegt es auf der Hand, anzunehmen, dass diese Aktualisierungen des Naturgefühls (über animistisch orientierte Vermittlungen) gerade dann stärker anstehen, notwendig und förderlich sind, wenn es in den naturnahen subsistenzgeprägten Lebensweisen darum geht, sich im Umfeld der Dinge zu beheimaten, hierüber psychische Stabilität aufrechtzuerhalten oder zu erlangen. Auch Descola geht davon aus, dass die verschiedenen Ontologien potentiell in jedem Menschen koexistieren, es sich hierbei um universelle Dispositionen handelt, dass aber, je nach historisch-kultureller Situation, die eine oder andere Variante vorherrschend ist (Descola 2013a:347). Gebhard geht sogar so weit, zu behaupten, dass insbesondere Kinder mühelos zwischen den animistischen und naturalistischen Bezugnahmen, hin- und herpendeln können, ohne dabei in Konflikte oder gar durcheinander zu geraten (Gebhard 2013:57).72 72
Entsprechend wird betont, dass ein ontologischer Pluralismus berechtigt sein sollte, dass sich die einseitig naturalistische Identifikation nicht mehr von selbst besteht. Was mit dieser Koexistenz jedoch keinesfalls gesagt wird, ist, dass ein Wechsel einer gewachsenen Disposition leicht herbeizuführen wäre (Descola 2013a:347). Was aber gesagt wird, ist, dass wir, psychologisch und anthropologisch betrachtet, die beste Voraussetzung in uns tragen, um verschiedene Naturbeziehungsweisen zu erfassen, zu verstehen und uns darüber zu verständigen; zur Diskussion der Vermittlung von Unterschieden in den Naturbeziehungsweisen vgl. Schneider (2022).
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Die untersuchten Fallarbeiten geben Grund zur Annahme, dass animistische sowie naturalistische Naturvermittlungen koexistieren und integriert werden. Im praktischen Können, in der alltäglichen Bearbeitung der Dinge ist ohne Frage eine naturalistische Bezugnahme, eine Auseinandersetzung mit den Dingen als biologische oder ökologische Formen zu beobachten, wenn auch nicht ausschließlich. Beobachtbar wird dies an einer Art naturkundlicher Kenntnis als Tradierungs- und Erfahrungswissen, über das sich mit Farmern, Gärtnern oder Fischern sprechen lässt. Verständigungen über ökologische Zusammenhänge sind möglich, wenn auch nicht in jedem Fall leicht herbeizuführen. Eine gelingende Verständigung ist dann wahrscheinlicher, wenn man die konkreten Bearbeitungs- und Verarbeitungstechniken erfragt. Dann wird beispielsweise über Erosionsanfälligkeit, über Bodenverhältnisse, über die Anbaubedingungen bestimmter Pflanzen, über die Bestandteile und Zubereitung eines Fisches, das Zerlegen einer Ziege beim Schlachten usw. gesprochen.73 Wenn die Natur aber als das Zuhause be- und verhandelt wird, kann davon ausgegangen werden, dass der animistische Modus des Verbindens dominiert, sich hierüber Verbundenheit als Erfahrung eines Gefühls von Verwandtheit und Zugehörigkeit etabliert. Das vereinheitlichte Feld der Natur, in dem man ein Teil ist oder eine Rolle hat, entsteht dann nicht vordergründig durch Ähnlichkeiten in den biologischen oder ökologischen Formen, als vielmehr durch Ähnlichkeiten in der Art, dass Menschen als auch Dinge als
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In meinem Fall zu berücksichtigen ist, dass ich diesen naturalistischen Zugriff möglicherweise überbetone. Dies deshalb, weil es sich um jenen Zugriff handelt, der auch meinem entspricht. Für die animistischen Bezüge, die sich in diesen Techniken ebenso zeigen, ist diesbezüglich ein blinder Fleck anzunehmen, der sich nicht nur aus der anfänglich fehlenden Beobachtungssensibilität meinerseits ergibt, sondern, wie später zu zeigen sein wird, es in Anwesenheit einer Intervenierenden kaum möglich ist, darüber zu sprechen. Anzunehmen ist also, dass man sich vorzugsweise in jener Disposition begegnet, in der sich am ehesten eine Verständigung herbeiführen lässt. Die animistischen Zugriffe im praktischen Können sind mir erst nach und nach bei der ritualisierten Herstellung von Heilmitteln (meist Kräutertinkturen), aber letztlich in zwei bedeutsamen Momenten bewusster geworden: dem Differenzieren der Fische beim Fischen mit der Harpune nach Farben sowie beim Schlachten, Zerlegen und Verarbeiten einer Ziege. Die Zerlegung des Tieres wurde eigens von einer Voodoo-Praktizierenden ausgeführt und durch entsprechende Rituale begleitet, um diesen Vorgang mit der geistigen Welt abzustimmen. Beides spricht für ein formbezogenes Unterscheiden im Vollzug der Identifikation.
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beseelte und geistige Wesen gelten, sich absichtsvoll begegnen, sich affizieren und hierüber vergemeinschaften. Modi des Verbindens und Unterscheidens im Voodoo Animistische Naturvermittlungen sind eng verknüpft mit dem spirituell-religiösen System des haitianischen Voodoo. Was bedeutet Voodoo? Bei Voodoo handelt es sich um »[…] ein Ensemble von religiösen Vorstellungen und Riten afrikanischen Ursprungs, das eng verknüpft mit katholischen Praktiken, zur Religion der gesamten bäurischen Bevölkerung und des Stadtproletariats […] von Haiti geworden ist. Ihre Anhänger verlangen von ihr, was Menschen allzeit von der Religion erwartet haben: Heilung ihrer Leiden, Befriedigung ihrer Bedürfnisse und die Hoffnung auf ein Fortleben« (Métraux 1959/2017:11). Diesseits dieser standardmäßigen und klassischen Beschreibung, bei der Voodoo in einem religiöses Bezugsfeld verortet und hierin vordergründig in seinen sozialen Funktionen, insbesondere in Armutskontexten, ausgewiesen wird, geht es nun um den Zusammenhang von Voodoo und den vorfindlichen Naturvermittlungen. In dieser Perspektive lässt sich Voodoo dann eher als Natur- und Lebensphilosophie bezeichnen.74 These ist, dass im Voodoo jene Verbundenheit erzeugt wird, die es braucht, um die Natur als Zuhause zu erfahren und worüber sich eine Beziehungsweise organisiert, welche die Einfachheit kultiviert. In dieser Verbundenheit liegt dann die Voraussetzung, um einen Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zu formulieren und ihre Möglichkeiten aufzuschließen. Der im Voodoo angelegte Mechanismus der Naturvermittlung bildet also eine grundlegende Voraussetzung dafür, sich um sich selbst sowie um die Zusammenhänge zu sorgen, in denen man lebt und die zu einem Zuhause
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Die Bezeichnung Natur- und Lebensphilosophie ist aus Gesprächen mit VoodooPriestern und Voodoo-Praktizierenden übernommen. Sie ist ferner an eine Zuschreibung angelehnt, bei der Voodoo als »way of life« bezeichnet wird (Desmangles 1992:4). Anzumerken ist, dass Voodoo in der Fachliteratur oftmals als einzigartige synkretistische Religion bezeichnet wird, als eine Religion, die sich in Haiti selbst entwickelt hat und bei der die Elemente west- und zentralafrikanischer Religionen und des Katholizismus kombiniert werden. Voodoo gilt, wenn auch nicht offiziell, als Volksreligion und sozialer und kultureller Rahmen (Desmangles 1992:1-18, Lademann-Priemer 2011:63-64, Métraux 1959/2017:60-64, Murray 1985:192-195).
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werden.75 Um zu verstehen, wie diese Vermittlung funktioniert, braucht es kein umfassendes Verstehen der verschiedenen Voodoo-Traditionen, ihrer Praktiken und Rituale.76 Aus meiner Sicht kann man es hierzu einfach und elementar halten, so einfach wie es im Alltag unter den Menschen gehandhabt wird und so elementar wie es der Mechanismus ontologischer Unterscheidung von Interiorität und/oder Physikalität nahelegt.77 Das Wichtigste im Voodoo ist die Sorge um die »lwa« (Geister). Desmangles konstatiert: »Like many other traditional religions, Voudou teaches that the universe is peopled by thousands of invisible spirits who are inherent in all persons and things, and who direct the physical operation of the universe. Hence, the repetitive patterns of change in substances in the universe – the rise and decay of things, the rotation of days and astral bodies, the cycle of seasons, and the sucession of human generations – are all parts of a grand cosmic scheme which are perceived as the manifest faces or personae of the lwas« (Desmangles 1992:92).
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Die angemessene »Sorge um sich« und die Dinge, die einen umgeben, ist bei Schmid der Kern einer ökologischen Lebenskunst (Schmid 2008:67). Voodoo bildet kein einheitliches und hierin institutionell organisiertes Glaubenssystem: »Voudou varies from one locality to another; it is not unusual to find that within an area of one square mile, two ounfòs (temples) maintain differing myths and rituals regarding divergent pantheons of lwas« (Desmangles 1992:4). Die folgenden Ausführungen über Voodoo sind aus Gesprächen entnommen, die ich mit zwei Voodoo-Priestern und den Voodoo-Praktizierenden im Rahmen der Fallstudien, aber auch darüber hinaus, geführt habe. Im Feld entstanden ist eine intensive Auseinandersetzung zum Thema Voodoo und Natur, insbesondere mit einem der Voodoo-Priester, Ti Alèn, in Petit-Goâve, der auch die spätere Interventionsarbeit beratend begleitet hat. Angeleitet wird also weniger eine fachwissenschaftlich grundierte Voodoo-Diskussion. Dargestellt wird vielmehr eine pointierte Erzählung, welche die empirischen Hinweise mit der Frage der Naturvermittlungen verbindet und im Hinblick auf mögliche »gute Quellen« gelingender Naturbezüge diskutiert. Die Ausführungen bilden somit ein Voodoo-Verständnis ab, das sich in den beobachteten Situationen entwickelt hat und mit dem ich in späteren Interventionen gearbeitet habe. Insgesamt bestand der eigene Anspruch darin, zu einer Voodoo-Auslegung zu gelangen, wie sie in den beobachteten Situationen greift und die ich selbst auch vertreten und zur Sprache bringen kann.
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Es handelt sich um ein Pantheon an Geistern, die einen übermächtigen Gott des Universums auf der Erde vertreten.78 Laut Aussagen des befragten Voodoo-Priesters Ti Alèn79 geht man davon aus, dass jeder Mensch und jedes Ding aus einem Körper bestehen, dem eine Seele (Geist, Bewusstsein) innewohnt und der von den Geistern umgeben, begleitet, manchmal auch besetzt wird oder diese beheimatet. An dieser Auffassung zeigt sich, dass den erdnaturbezogenen Dingen Ähnlichkeiten in der Interiorität zugesprochen werden, man hierüber in Verbindung tritt. Die Geister, welche die Menschen und Dinge umgeben, gelten dabei als eigenständige Wesen mit ganz unterschiedlichen Aufgaben, Funktionen oder Absichten, letztlich mit ganz unterschiedlichen Qualitäten. Es handelt sich um Qualitäten, die als vielgestaltige Lebensenergien erfahrbar werden und in die Dinge und Menschen fließen. Im Voodoo sind es die Geister, welche die Körper und Seelen nähren.80 Aus der Pflege und dem Dienen der Geister (»sèvi lwa«) schöpft man somit die Kraft, einen Platz im Leben einzunehmen, einer Zuständigkeit zu folgen und das alltägliche Leben zu meistern. Folglich sind es auch die Geister, die Menschen und Dinge zu Kollektiven vereinen. Für die Erzeugung von Zugehörigkeit in einer Natur als dem Zuhause ist somit eine Verbindung zu den Dingen vermittelt über die Geister, genauer: über deren als Lebensenergien erfahrbaren Qualitäten maßgebend. Die Unterschiede zwischen und auch innerhalb dieser Gemeinschaften in Form von Zuständigkeiten sowie Rollen und Positionen organisiert sich entlang dieser verschiedenen spirituellen Qualitäten, d.h. entlang von Passungen und Abweichungen in der eigenen Spiritualität. Kurzum, ein Fischer gehört in die Gemeinschaft mit dem Meer, weil er selbst an eine Geisterwelt angeschlossen ist, an Lebensenergien partizipiert, die ebenso für das Meer und die Dinge,
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Diese transzendente Größe oder Gott als ultimative Quelle der Kraft wird als »Bondye« bezeichnet; zu »Bondye« vgl. Murray (1985:205-209); zum Pantheon der »lwa« vgl. Desmangles (1992:4-5), Desmangles (1992:92-130), Métraux (1959/2017:88-133). Es handelt sich um ein Pseudonym, den spirituellen Namen des Priesters. Im haitianischen Voodoo gibt es sowohl Priester (»houngan« oder »oungan«) als auch Priesterinnen (»mambo«). Körper und Seelen werden durch die Geister genährt und oft auch geheilt. Zu erwähnen ist, dass Voodoo eine grundlegende Hilfsstruktur darbietet für sämtliche Lebensbereiche. Das Heilen sowie Unglück zu vermeiden sind zentrale Funktionen von Voodoo. Voodoo-Priester und -Priesterinnen sind Lebensberater, praktische Philosophen und Heiler; zu den sozialen Funktionen von Voodoo vgl. Métraux (1959/2017:62-64).
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die das Meer umfasst, bedeutsam sind. Er hat für dieses Feld eine Zuständigkeit und in dieser Gemeinschaft eine Rolle oder Position. Folglich kann er kein Farmer sein und umgekehrt wird in spiritueller Hinsicht auch kein Farmer zum Fischer. Wenn die Menschen vom Wald, vom Meer, von den Feldern, den Weiden usw. als Zuhause sprechen, dann kann davon ausgegangen werden, dass sie ihre Gemeinschaft gefunden und hierin ihren Platz, ihre Rolle und Position auch eingenommen haben. Das Reden von einem Zuhause ist also ein starkes Indiz dafür, dass sie einer Art spirituellen Zugehörigkeit und Zuständigkeit folgen und es ist ebenso ein starkes Indiz dafür, dass sie hierüber Kohärenz und Selbstgewissheit erfahren, womit sich Möglichkeiten einer gelingenden Lebensgestaltung anbahnen. Tun sie dies nicht, wird der Wald, das Meer usw. nicht als das Zuhause empfunden, sind sie fehl am Platz, folgen sie weder dem Ruf einer spirituellen Gemeinschaft noch nach einer Zuständigkeit. Bäume, Berge, Landschaften, Böden, das Meer usw. werden bedeutsam in der Art und Weise, wie sie die Geister umfassen, d.h. wie sich ihre Kräfte in ihnen zum Ausdruck bringen, sich darin manifestieren. Tritt man in den Dialog mit den Geistern, spannt sich also ein starkes Natur- und hierüber ein Selbstverhältnis auf. Gelingt dieser Dialog, dient man den Geistern und pflegt diese und partizipiert somit an den damit verbundenen Lebenskräften und -prinzipien. Damit wird man schließlich den Körpern und Seelen der Dinge gerecht, was wiederum bedeutet, dem eigenen Körper und der eigenen Seele gerecht zu werden. In diesem Sinne greift dann ein Bemühen der »Sorge um sich«. Folglich ist das Leben abhängig von einer Natur gefüllt mit Geistern. Der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle«, d.h. in der Auseinandersetzung mit der ökologischen Fülle und Ereignisfülle satt zu werden, basiert auf einer Natur gefüllt mit Geistern und hierüber auf einer entsprechenden Vergemeinschaftung mit den Dingen.81 81
These der Argumentation ist, dass es bei einer Natur als Zuhause um eine Gemeinschaft zwischen Menschen und Dingen geht, der eine Naturvermittlung vorhergeht, die sich über Ähnlichkeiten in der Interiorität organisiert. Die Dinge vermitteln sich über Geisterkräfte, die in die Körper einfließen. Für diesen Zusammenhang wurde die Bezeichnung animistisch gewählt. In der Fachliteratur gibt es keinen Konsens darüber, ob sich die Naturbeziehungen im Voodoo als animistische Bezugnahmen aufspannen. Métraux unterstützt in gewisser Weise die Animismus-These (Métraux 1959/2017:174-180). Desmangles hingegen bestreitet dies und konstatiert ausschließlich ein analoges Verhältnis zwischen Objekt und »lwa« (Desmangles 1992:93-94). Die Kernfrage ist, ob die Geister in die Dinge eingehen, die Dinge hierüber als beseelte
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Wenn man nun die Beziehungen zu den Geistern verliert, wenn diese elementaren Vermittlungen gestört sind, dann verliert man den Zugang zur Welt und zur Natur. Man verliert das Verbindende in den Beziehungen zu den Dingen, man verliert das Zuhause in der Natur, man verliert das Fundament, soziale Beziehungen sowie das besondere Können in der Subsistenz zu entfalten. Man verliert am Ende die Beziehung zu sich selbst. In den Wahrnehmungen der Voodoo-Praktizierenden hat man die Beziehungen zur geistigen Welt und den Geistern dann verloren, wenn diese die Menschen oder ein Gebiet verlassen. In den Gesprächen mit den Voodoo-Priestern und -Praktizierenden zeigt sich dieser Verlust in einer tiefen Resignation und Trauer. Entsprechende Äußerungen sind dramatisch. So berichtet Ti Alèn, der Voodoo-Priester in Petit-Goâve, in größter Sorge davon, dass das Meer stirbt, dass die Wälder, die Böden und die Berge sterben, weil viele der Menschen die Verbindung zu den Geistern, d.h. die Verbindung zu den Dingen verloren haben. Dass dies so ist, hat nach Aussage von Ti Alèn die Ursache, dass man das Dienen, genauer: die Pflege der Geister vernachlässigt. Damit wird auf einer
erfahrbar werden oder ob sich die Geister, ihre Qualitäten und Kräfte usw. als analoge bzw. den Dingen zugeordnete situieren und erfahren lassen. In der ersten Variante fallen Geist und Ding in eins, in der zweiten ist dies getrennt. Ausgehend von den Feldbeobachtungen habe ich mit folgender Deutung gearbeitet: Geister und Dinge fallen in eins und genauso auch nicht. Spricht man im Voodoo z.B. davon, dass man dem Baum dient, dann meint man weniger den biologischen Körper, sondern den Geist, der im Baum sitzt, der diesem zugeordnet ist. Dass aber der Geist im Baum sitzt, macht den Baum zu dem, was er ist, ein Ding aus einem Körper mit einer Seele, die sich durch die Kraft des Geistes nährt. Der Geist an sich lässt sich analog oder getrennt zum Baum denken und erfahren. Aber umgekehrt lässt sich der Baum eben nicht analog oder getrennt vom Geist denken oder erfahren. Der Baum wird ohne Geisterkräfte als solcher gar nicht wahrnehmbar oder greifbar. Sobald mein Fokus nicht der Geist, sondern der Baum ist, fallen Baum und Geist in eins. Dann lebt der Baum mit und durch die Geisterkraft und wird hierdurch zum Gegenüber und einer verhandelbaren Tatsache. Für mich begründet dies den Rückgriff auf die Animismus-These. Dieser Rückgriff begründet sich auch darin, dass in dieser Debatte implizit der Stellenwert von Voodoo als Naturphilosophie/-religion verhandelt wird. Mir scheint es, dass die Analogismus-These ein wenig dazu taugt, Voodoo zu »modernisieren« und auch dazu, dass sich damit die Eingriffe durch christlich-religiös geschürte Voodoo-Tabus dann auch moderater lesen lassen. Die Animismus-These wurde auch deshalb stärker verfolgt, weil die beobachtete aktive und gewaltsame Zerstörung der Dinge, wie später aufzuzeigen sein wird, auf einer beschädigten animistischen Grundlage wahrscheinlicher ist.
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grundsätzlichen Ebene gesagt, dass die Verbindungen unterbrochen, die Naturvermittlungen gestört sind, dass die Gespräche mit der Natur scheitern. Wenn von der Vernachlässigung des Dienens oder Pflegens der Geister die Rede ist, meint dies zweierlei. Einerseits wird sich nicht um die Dinge gekümmert, wodurch sie die Geister nicht angemessen beherbergen oder beheimaten können. Würde man sich um die ökologischen Dinge (als Organismen, lebende Körper oder Systeme) kümmern, so z.B. um stabile Bodenverhältnisse, um ausreichend Vegetation und hierzu insbesondere um die Bäume, würde man den Geistern insofern gerecht werden, dass sie sich in der Natur beheimaten können.82 Man würde also die Kräfte der Geister über die Pflege der Körper aufschließen. Andererseits ist die Pflege der Geister nicht in einer Art ökologischen Pflege der Dinge erschöpft. Der Hauptaspekt des Pflegens besteht in verschiedenen Zeremonien und Ritualen, bei denen man die Geister anruft und füttert.83 Es handelt sich um eigenständige Praktiken, die direkt die Geister adressieren. Auch diese Praktiken gelten in den Augen der Voodoo-Priester als vernachlässigt. Es gibt also zwei unterschiedliche Versionen des Dienens oder Pflegens: Wird die dingliche Umwelt für die Geister wirtlich gehalten und die ökologische Fülle gepflegt, achtet und respektiert man die Geister, deren Qualitäten, Absichten und Prinzipien. Die Geister in ritualisierten Praktiken anzurufen und zu füttern, meint eine Pflege über eine Art direkte Kommunikation. Man kommuniziert direkt mit den Geistern, um an ihrer Kraft zu partizipieren, was sich ebenso positiv auf die Verfasstheit der Menschen und Dinge auswirkt. Wenn vom Pflegen, Kümmern oder Füttern der Geister die Rede ist, dann sind immer beide Versionen gemeint, wobei die eine die andere bedingt. Geht es um die Devastierung der erdnaturbezogenen Dinge, d.h. die Vernachlässigung der ökologischen Pflege, wird dies einerseits als Voraussetzung dafür betrachtet, die Geister bzw. die Verbindung zu ihnen zu verlieren. Andererseits ist diese Devastierung wiederum die Folge davon, sich in angemessenen Ritualen und Praktiken nicht gekümmert zu haben und von den Geistern, genauer: von der Kraft der Geister verlassen worden zu sein. Insgesamt ist diese Vernachlässigung der Geister jedoch immer ein Ausdruck einer Vernachlässigung der »Sorge um sich« und der Dinge, die einen umgeben,
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Zur Bedeutung der Bäume im Voodoo vgl. Rey (2005), Tarter (2015). Zur ausführlichen Darstellung dieser Zeremonien und Rituale vgl. Métraux (1959/2017:197-306).
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eine Sorge, in der sich der Anspruch auf eine »Natur der Fülle« artikulieren könnte.84 Auch die katastrophalen Ereignisse – die »katastwòf natirèl« – werden in dieser Art spirituellem Verlust gedeutet. Sie gelten laut der Voodoo-Priester in erster Linie als Resultat der Vernachlässigung der ökologischen Pflege. Hierbei geht es weniger darum, Naturereignisse wie Stürme, Erdbeben und Überschwemmungen als erschütternde Antwort einer mächtigen Naturgewalt, mächtiger Geister oder einer transzendenten Macht zu lesen.85 Es sind nicht die Ereignisse und auch nicht die Geister, die absichtsvoll zerstören, sondern vielmehr ihr Verlust, der zum Einfallstor für die zerstörerischen Ereignisse avanciert. Damit wird gesagt, dass die fehlende Verbundenheit, die
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An dieser Stelle steht die Frage an, woher diese Vernachlässigung rührt. Auch wenn dies den Kern der Argumentation in den folgenden Untersuchungen bildet, soll eine Erklärung des Voodoo-Priesters Ti Alèn in Petit-Goâve angeführt würden. Es handelt sich um einen Auszug aus einem Gespräch zum Thema des exzessiven Holzfällens. Der Voodoo-Priester erklärte: »Wir wissen nicht, was mit den Leuten geschieht, wenn sie die Bäume fällen, besonders die heiligen. Sicher ist aber, dass ihnen etwas passiert und sie wissen das.« (kreolisch: »Nou pa konnen sa k ap pase moun yo lè yo koupe pyebwa yo, espesyalman pyebwa sakre yo. Men, li sèten gen yon bagay ki pase e yo konnen sa.«) Ich frage nach: »Wie erklärst du dir, dass sie es tun?« (kreolisch: »Kijan ou eksplike ke yo fè sa?«) Der Priester antwortet: »Ich denke, die Angst ist weniger geworden.« (kreolisch: »Mwen panse yo pa gen krentif ankò, li diminye.«) Ich bezweifele diese Aussage aufgrund meiner Beobachtungen zu den destruktiven Praktiken und äußere: »Das glaube ich nicht. Ich denke, es gibt etwas, dass stärker ist als die Angst.« (kreolisch: »Mwen pa kwè sa. Mwen panse ke gen yon bagay ki pi fò pase krentif.«) Der Priester antwortet: »Du hast recht, es ist die Wut.« (kreolisch: »Ou gen rezon, se kòlè.«) Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird die Wut thematisiert und der Priester beginnt die gesamte Krisenlage, das politische Scheitern, den Einfluss der Kirchen usw. zu beklagen. Er argumentiert, indem er die gängigen Krisennarrative bemüht. Dies ist im Untersuchungsgebiet in einer christlich-religiösen Deutung der Fall. Naturereignisse sind hierbei ein Ausdruck einer Absicht Gottes und unter Umständen Ausdruck des Zorns Gottes darüber, dass sich die Menschen dem Voodoo zuwenden. Dies wird an späterer Stelle erläutert. Umgekehrt wird in der Voodoo-Literatur konstatiert, dass auch die Voodoo-Geister den Menschen zürnen, wenn sie sich anderen Religionen zuwenden (Lademann-Priemer 2011:67). In den Gesprächen mit den Priestern und Praktizierenden habe ich dieses Argument nicht entdeckt. Betont wird, dass das Dienen der Geister vernachlässigt wird, insofern man sich vom Voodoo abwendet, was aber weniger einen Zorn der Geister hervorruft als vielmehr das Erleiden eines Verlusts an Lebensenergien, Ordnung, Gemeinschaft usw. aufgrund ihrer Passivität.
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mangelnde Pflege der Gemeinschaften aus Menschen und Dingen, die Menschen um ein Vielfaches verletzlicher macht. Bei einer Katastrophe durch eine Überschwemmung mit ausgeprägten Schlammflüssen wird dann nicht der gewaltige Starkregen verantwortlich gemacht, sondern die generelle Zerstörung der Vegetation und der Böden als Herberge der Geister. Ein Starkregen mit katastrophaler Auswirkung demonstriert dann eher, was man bereits verloren hat, nämlich die Verbindung zu den lebensbewahrenden und -schützenden Geistern. Was insgesamt auffällt bei der Sorge, Trauer und Angst um die Geister in den Voodoo-Kreisen, ist, dass diese eine existentielle Dimension berühren. Es ist weniger die Sorge oder Angst vor bestimmten vielleicht bösen Reaktionen der Geister, sondern vielmehr die Trauer darüber, dass man von ihnen verlassen wird und dass dies an sich den Verlust des Lebens bedeutet. Anzumerken ist, dass Voodoo und hierin animistische Naturbezüge in den ruralen Gegenden weit verbreitet sind (Métraux 1959/2017:62-64). Dies ist insofern plausibel, weil in der Subsistenz starke und tragende naturbezogene Sinn- und Orientierungssysteme benötigt werden. Zu erwähnen ist dann auch, wenn in naturnahen Lebensformen der animistische Modus des Verbindens nicht mehr aktualisiert werden kann, etwas sehr Grundlegendes verloren geht. Drastisch formuliert: Der Hunger der Menschen und der Verfall der erdnaturbezogenen Dinge lässt sich dann auch dahingehend interpretieren, dass sich animistische Sinn- und Orientierungssysteme als Grundlage für die Aufnahme und Gestaltung von Naturbeziehungen zum Guten, letztlich für das Können und die Selbstgewissheit im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« kaum mehr zur Geltung bringen lassen. Und umgekehrt lässt sich behaupten, dass überall dort, wo es gelingt, in der Subsistenz der ökologischen Fülle und der Ereignisfülle gerecht und hierüber halbwegs satt zu werden, animistische Bezüge greifen. Die Natur als spirituelle Heimat ist das Fundament, um einen Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zu formulieren und dazu ein Können in der Einfachheit zu entwickeln, das sich nunmehr auch in naturalistischen Begriffen artikulieren kann. In dieser Art koexistieren die verschiedenen Naturauffassungen, existiert eine Disposition des Seins als eine »Melange der Naturen«, wobei das Fundament die animistische Haltung zu den Dingen ist. Diese Verbindung mit oder Integration von naturalistischen Auffassungen kann deshalb gelingen, weil Voodoo an sich eine starke Integrationskraft besitzt. Voodoo selbst ist eine Melange unterschiedlichster religiöser und weltanschaulicher Bezugssysteme, wozu differente Naturauffassungen unweigerlich gehö-
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ren. Auch davon zeugen die Gespräche in den Voodoo-Kreisen, die sich für diese Melange sofort öffnen, wenn es um den Erhalt, die Regeneration und die Pflege der Dinge im spirituellen und ökologischen Sinn geht. Dazu wird an späterer Stelle mehr geäußert. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass mit dieser ontologischen »Melange der Naturen« ein Ideal der Koexistenz und Integration von Naturvermittlungen angesprochen wird, für das es empirische Hinweise vorzugsweise dort gibt, wo die Menschen satt werden. Aus meiner Sicht verweisen diese Koexistenz und Integration auf eine »gute Quelle«, mit der sich der Anspruch auf eine »Natur der Fülle« artikulieren und beantworten lässt. Hierin liegen zumindest Hinweise auf Möglichkeiten einer Naturbeziehungsweise zum Guten. Im Fall von Joanie, dem Fischerjungen in Taino, könnte diese Koexistenz und Integration bedeuten, dass er im Zuge seiner Selbstbildung im Umfeld der Dinge animistische und naturalistische Bezüge herstellen kann, ohne dass diese sich gegeneinander ausspielen. Integration würde bedeuten, dass er die Fähigkeit beibehält, mühelos zwischen den Bezugnahmen hin- und herzupendeln, um der ökologischen Fülle und auch der Ereignisfülle gerechter zu werden. Er hätte naturkundliche Kenntnis erlangt durch die Tradierungen der Eltern und in Abhängigkeit davon, ob und wie oft er die Schule besucht. Er hätte die Grundzüge einer naturalistischen Orientierung verinnerlicht und damit »Werkzeuge« in der Hand, um sein Können dahingehend zu entfalten, die erdnaturbezogenen Dinge im ökologischen Sinn zu pflegen. Er könnte diese Kenntnisse einweben in eine Natur, die sein Zuhause ist, weil diese eine Welt aus Menschen, Dingen, Seelen und Geistern bildet. Für ihn würde dies keinen Bruch bedeuten. Er würde die Dinge in Achtsamkeit und Respekt für die Geister pflegen und hierüber Stärke und Schutz erfahren, auch bei den großen Ereignissen. Und umgekehrt würde er die Geister auf direkten Weg pflegen aus Achtsamkeit und Respekt sich selbst und den Dingen gegenüber. Er würde sein Zuhause durch die ökologische Fülle und die Geister als wirtlich und haltend erfahren. Voraussetzung hierfür wäre sein Naturgefühl als innere Navigation, um für sich selbst und die Dinge Sorge zu tragen. Er würde vielleicht beides, eine Faszination für die Lebendigkeit in den Formen sowie für das Geistige und Magische entwickeln. Er würde aber auch Trauer empfinden, wenn das Meer nur noch wenig Fisch anzubieten hat und in einem doppelten Zugriff fragen: Was stimmt nicht in den ökologischen Zusammenhängen und was hat dies mit den Geistern zu tun? Und vielleicht
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auch: Was kann man tun, um die ökologische Fülle vermittelt durch eine Welt der Geister praktisch wieder entstehen zu lassen?86
2.5
Destruktivität im Spiegel des Gelingens
Für eine »Natur der Fülle«, d.h. im Anspruch auf Nahrungs- und Lebensfülle über einen angemessenen Umgang mit der ökologischen Fülle und Ereignisfülle, braucht es Menschen, die bereit sind und die Möglichkeit haben, sich auf einen solchen Anspruch einzulassen. Dies heißt, Naturbeziehungen aufnehmen zu wollen und zu können, die durch ein ausgeprägtes Naturgefühl und ökologisches Bewusstsein geprägt sind, aus denen sich eine Kraft schöpft, die ins Leben der Menschen und Dinge fließen kann. Um diese Naturbeziehungen pflegen zu können, braucht es Kenntnis, Gespür und Körperkraft, d.h. ein leiblich grundiertes Können, das die Einfachheit kultiviert. Es braucht Einvernehmen mit dem Unvorhersehbaren, Vertrauen und Beständigkeit bei den großen Ereignissen. Es braucht Rhythmus, Takt und Zeit für die Dinge, d.h. eine Zuwendung im geweiteten Augenblick. Um die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« aufzuschließen, um im Leben satt zu werden, braucht es eine Natur, die zu einem Zuhause wird. Satt macht, wenn sich in diesem Zuhause Partnerschaft, Familie, Freunde, also soziale Beziehungen finden. Satt macht, wenn die Natur gefüllt ist mit kraftvollen Geistern. Satt macht, wenn man den Geistern dient und sich hierüber eine »Sorge um sich« und die Dinge, mit denen man lebt, vollzieht. Satt macht, wenn die Natur als das Zuhause zur spirituellen Heimat wird. Satt macht, wenn es durch ökologische Kenntnis, praktisches Können und Magie im Umgang mit den Dingen möglich wird, Kohärenz und Selbstgewissheit zu erfahren. Im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« artikuliert sich ein sinn- und orientierungsstiftendes 86
Die abschließende Geschichte von Joanie spricht aus meiner Sicht eine Art im Entstehen begriffene Sozialfigur an, die ich insbesondere in Gesprächen mit den naturkundlich/naturwissenschaftlich gebildeten Farmern und Agronomen erlebt habe, bei denen eine bemerkenswerte Verbindung von Naturgefühl und ökologischem Bewusstsein zu beobachten war. So hat mir ein Agronom mit größtem Interesse sämtliche Pflanzenarten in seinem Garten und die dazugehörigen Besonderheiten der Anbauweise erklärt, mich auf Probleme wie einen Schädlingsbefall durch Überwässerung hingewiesen und mir gleichzeitig gezeigt, welche Geister-Qualitäten sich in seinem Garten zum Ausdruck bringen, welche Geister sich wo aufhalten und dass der Schädlingsbefall in spiritueller Sicht kein gutes Zeichen ist.
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Naturverhältnis, das Möglichkeiten für Erfahrungen eines guten Lebens zumindest eröffnet. Diese Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« können in Anbetracht der ökologischen Krisen, allen voran der Kardinalprobleme von Abholzung, Bodenerosion und Überfischung sowie der mangelnden Ernährungssicherheit der Menschen generell und mit Blick auf die Spuren aktiver und gewaltsamer Zerstörung der Dinge als verhindert und blockiert gelten. Als verhindert und blockiert gelten dann insbesondere jene Mechanismen von Naturvermittlungen, die dem Anspruch auf eine »Natur der Fülle« vorhergehen. Verhindert und blockiert ist die Erzeugung von Verbundenheit, die Erfahrung eines Gefühls der Verwandtheit mit der Natur, einer haltenden und wirtlichen Umwelt, was in einer animistischen Disposition gründet, bei der man von den Seelen und Geistern der Dinge affiziert wird und sich so aufeinander bezieht. Fehlt die Verbundenheit, das sinnlich-affektive Band mit der Natur, ist auch das praktische Können in der Einfachheit verhindert und blockiert. Verhindert und blockiert ist ebenso das praktische Aufschließen von naturkundlicher/-wissenschaftlicher Kenntnis, die zwar kognitiv anspricht, sich aber ohne ein ausgeprägtes sinnlich-affektives Band zur Natur nicht mobilisieren lässt. Kurzum, verhindert und blockiert ist eine lebenszugewandte »Melange der Naturen«, wie sie im Voodoo angelegt und gefördert wird. Diese Aussage besitzt eine gewisse Härte, trifft aber dennoch einen Kern. Die generelle Devastierung der erdnaturbezogenen Dinge, der Hunger der Menschen, die erodierten Böden der Erdnussbauern, die Axt an der Wasserleitung, die Corail-tragende Languste, das exzessive Abholzen, die Axt am Mapou, all dies zeugt nicht nur davon, dass Naturvermittlungen dysfunktional, gestört oder beschädigt sind. Allein die Tatsache, dass es diese Störungen gibt, dass diese sich als aktive und gewaltsame Zurichtung der erdnaturbezogenen Dinge vermitteln, verweist darauf, dass in den alltäglichen Naturbeziehungen eine grundsätzliche Frage verhandelt wird. Verhandelt wird, ob man den Anspruch auf eine »Natur der Fülle« überhaupt artikulieren darf und kann, d.h. die existentielle Frage, ob es aufgrund der eigenen Dispositionen gut, richtig und stimmig ist, dass Menschen und Dinge am und im Leben bleiben. Dazu ein Beispiel: Erinnert sei an den Erdnussbauern in Masia, der auf seiner kleinen Parzelle Land nicht einmal eine Handvoll Erdnüsse erntet. Masia bildet gemeinsam mit Mayo und Dupuy eine Bergregion in einer Höhenlage von ca. 300m bis 500m, die politisch-administrativ der Küstenregion Petit-Gôave im Süden Haitis zugeordnet sind. Die Bewohner von Masia, Ma-
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yo und Dupuy verstehen sich als eine lokale Gemeinschaft; es handelt sich um Kleinbauernfamilien; geschätzt werden ca. 3.000 Einwohner. Insbesondere mit Feldbau auf kleinsträumigen Ackerflächen von wenigen Quadratmetern, die sich zumeist in Familienbesitz befinden, werden offensichtlich Überlebensstrategien verfolgt. Angebaut werden neben Bohnen und vereinzelt Bananen hauptsächlich Erdnüsse, die als »cash crops« auf den lokalen Märkten in Petit-Gôave gehandelt werden. Die ökologischen Bedingungen, unter denen der Anbau betrieben wird, sind derart problematisch, dass sie zu einer existentiellen Krise kumulieren. Kurzum, Bodendegradation bis hin zur Desertifikation zerstören absehbar das, worauf die gesamte Existenz dieser Menschen beruht: ein ertragreicher Boden. Hervorgerufen wird das Ganze durch starke Erosionsprozesse eingebunden in eine Kaskade aus Abholzung, fehlender humusbildender Vegetation und den kleinräumig praktizierten intensiven und extensiven Bodennutzungen. In dieser Region zeigt sich der Hunger. Der erwähnte Farmer ist dafür stellvertretend. Die Menschen schaffen es kaum mehr, mit dem wenigen, was sie produzieren, satt zu werden. Es handelt sich um bittere Not. Das, was sich in Masia im Unterschied zu den Farmern in Monben, Bohoc, aber auch denen in Saint-Gerard scheinbar dramatisch vermittelt, ist eine Abwärtsspirale hervorgerufen durch ein »cash crop survival paradox«. Die existentielle Frage, ob die Menschen und Böden am und im Leben bleiben, findet also eine erste Antwort in einer Erdnuss-Überlebensstrategie, die keine mehr ist. Weder die Böden noch die Menschen werden so überleben können. Wie akut diese existentielle Frage jedoch ist und dass es nicht ausschließlich um ein »survival paradox« geht, zeigt sich in einer besonderen Begebenheit. Wir sind in Masia auf Anfrage einiger lokalpolitisch Engagierter.87 Der Auftrag besteht darin, einen bereits begonnenen Prozess des »community building« zur Etablierung stabilerer lokalpolitischer Strukturen zu begleiten, um das Problem der Bodenerosion gemeinschaftlich zu konfrontieren. Die grundsätzliche Frage ist: Wie kann man den Böden gerechter und hierüber auch noch satt werden? Wie ließe sich hierzu ein Anspruch in der Begegnung zwischen Menschen und Böden finden und artikulieren? In einem von mehreren Treffen mit jeweils ca. 100 Kleinbauern geschieht Folgendes. Die Problemlage wird lang und ausführlich geklärt. Es gibt niemanden, der sich der Sache um den schwerwiegenden Bodenverfall nicht bewusst gewesen 87
Gemeint ist ein Team bestehend aus zwei Beratern, zwei Agrarökologen, einem Dolmetscher und einem Baumzüchter/Umweltschützer.
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wäre. Nun wird aber eine naheliegende und einfache Lösung vorgetragen. Zur Aufforstung und als alternative »cash crop« angeboten werden tausende Mangobaum-Setzlinge. Es handelte sich um Pflanzen eines Baumzüchters/ Umweltschützers aus Peti-Gôave, der ebenso am Gespräch beteiligt ist und der die Pflanzen über eine NGO umsonst beziehen könnte. Die Mango stünde für eine nachhaltige Verbesserung der Böden und der Einkünfte. Dieser Vorschlag wird jedoch von den Anwesenden durch harsche Abwehr blockiert. Man wollte dies nicht. Es gab heftigen Widerstand und die Verhandlungen scheiterten. Wofür steht dieser Widerstand? Er steht nicht für fehlenden Veränderungswillen, auch nicht für mangelndes Problembewusstsein und auch nicht für fehlende Ressourcen im sozialen Gefüge, um eine Veränderung in der Anbauweise anzugehen. Er steht auch nicht für fehlenden Veränderungsdruck und kann ebenso wenig als Widerstand gegen den Baumzüchter oder einen drohenden Autonomieverlust gelesen werden. Es ist auch kein Widerstand gegen uns als Anwesende in der Diskussion, sondern vielmehr eine traurige Demonstration der existentiellen Frage, ob man lieber tot als lebendig wäre. Wofür steht die Mango? Auf einer existentiellen Ebene kündet sie zumindest davon, wieder satt werden zu können, d.h. von Umständen, um zunächst über ausreichend Nahrung zu verfügen. Sie spricht ein menschliches Grundbedürfnis an. Auch wenn mit der Mango-Strategie sicher viele offene Fragen zur Praktikabilität angezeigt wären, bringt sie zu diesem Zeitpunkt erstmalig eine Sache zurück an den Verhandlungstisch, nämlich die Möglichkeit(!) einer Lösung. Es geht mit der Mango nicht um die Verhandlung einer Lösung unter vielen, sondern darum, dass es überhaupt eine Lösung geben könnte. Mit dieser Möglichkeit gelangt nun erstmalig der Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zurück an den Verhandlungstisch, ein Anspruch, den man nun zumindest formulieren könnte. Dies jedoch erzeugt heftigen Widerstand. Aus meiner Sicht zeugt dieser Widerstand davon, dass man diesen Anspruch nicht haben und artikulieren darf. Nicht zu artikulieren ist dann all das, was an eine »Natur der Fülle« gebunden wäre: das Können in der Einfachheit, das Zuhause, die spirituelle Heimat, Selbstgewissheit, ausreichend Nahrung und Lebensfülle. Der heftige Widerstand zeugt davon, dass hier ein Tabu berührt sein könnte, was dazu führt, dass sich eine Naturbeziehungsweise zum Guten umkehrt und in eine selbstzerstörerische Überausbeutung der Böden mündet. Meines Erachtens ist dies eine Abwendung vom Leben, ein kategorisches Nein ohne Alternative.
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
Ich habe diesen Fall am Ende dieses Kapitels gewählt, um deutlich zu machen, dass existentielle Fragen und schwere Konflikte sichtbar werden, wenn man beginnt, in einem destruktiven Feld Möglichkeiten des Gelingens zu explorieren und damit zu arbeiten. Erinnert sei an die Aussage von Latour, dass »the diplomat sets up a space for conflicts« (Latour 2013:o.S.). Der Widerstand auf die Mango in Masia demonstriert exemplarisch, mit welcher Art von Konflikten man es zu tun bekommt. Ich selbst habe lange Zeit darüber reflektiert, wovon dieserart Widerstände zeugen, die oft dann auftauchen, wenn es um mögliche Veränderungen, um mögliche Lösungen oder einfach nur darum geht, das Gelingen zu thematisieren und dazu mit verschiedenen Thesen gearbeitet. Eine These ist, dass es sich beim Widerstand um die Abwehr von Ein- und Übergriffen in etablierte Lebenswelten handeln kann, dass hier Interventionen von außen aus guten Gründen sabotiert und somit drohende Verluste abgewehrt werden. Für diese These spricht auf den ersten Blick auch die gewaltsame Zerstörung der Wasserleitung in Grand-Gôave just in dem Moment als sich eine Lösung anbahnte. Für diese These spricht auch der Fischer mit seiner Corail-tragenden Languste in Taino, der mir das Tier prompt nach einem Gespräch über die mögliche Handhabe der Überfischung präsentiert hat. Und auch die Abwehr der Mango-Lösung in Masia passt auf den ersten Blick dazu. Es greift aber in allen Fällen nicht weit genug, Widerstand ausschließlich als etwas zu betrachten, womit drohende Verluste durch potentielle Eingriffe abgewehrt werden. Dies deshalb nicht, weil das, was es an sich zu verlieren gäbe, bereits verloren ist oder im Begriff ist, verloren zu gehen. Die »material limits« sind bereits erfahrbar, der Verlust an Fischen und Meerestieren, an Böden oder Bäumen. Im Grunde genommen verliert man mit den Dingen das Gegenüber, die Natur als Du und damit die Grundvoraussetzung für Vermittlungen und Beziehungen, die sich in der Subsistenz einem Gelingen öffnen könnten. Beginnt man nun durch diplomatische Versuche den Anspruch auf eine »Natur der Fülle« wieder sichtbar zu machen und zu nähren und tauchen hierzu heftige Widerstände und destruktive Impulse auf oder wird von solchen Praktiken berichtet, dann muss es sich dabei um etwas handeln, womit ein schwerer Konflikt berührt ist. Wenn sich die mit einer »Natur der Fülle« verbundenen Lebensmöglichkeiten nicht in die Gespräche aufnehmen und vor allem wieder aufschließen lassen, dann ist dies ein deutlicher Hinweis auf eine Überzeugung, dass das, was man verliert oder bereits verloren hat, nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Widerstand und Destruktivität sind
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folgerichtig, wenn es ein Tabu gibt, genauer: wenn mit dem Anspruch und den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« ein Tabu berührt ist.88 Sie sind Ausdruck einer blockierten Identifikation und Vermittlung, einer ins Gegenteil gekehrten Naturbeziehungsweise zum Guten und dienen der Aufrechterhaltung des Tabus. Widerstand und Destruktivität sind im Spiegel eines möglichen Gelingens, für das es weder im diskursiven Feld noch in den inneren Überzeugungen eine Erlaubnis gibt, eine stimmige Antwort. Wenn man nun die Eingangsfrage dieser Untersuchung aufgreift, welche Gewissheiten es darüber geben könnte, was genau zerstört wird, wenn erdnaturbezogene Dinge aktiv und gewaltsam angegriffen werden, dann kann die Antwort wie folgt lauten: Zerstört werden der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle«, die Möglichkeit über Nahrung zu verfügen und an der Lebensfülle zu partizipieren, wozu es die ökologische Fülle, einen beständigen Umgang mit der Ereignisfülle, eine Natur als Zuhause und eine Natur als spirituelle Heimat braucht. Man zerstört, was man dringend zum Leben braucht, was richtig, gut und nützlich wäre. Man zerstört aber auch das, wovon man überzeugt ist, dass es nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Ich habe sehr lange gebraucht, und dies blieb meinen persönlichen Dispositionen im Feld geschuldet, um zu erkennen und anzuerkennen, dass es in destruktiven Situationen wie z.B. jener der Erdnussbauern in Masia um die Aufrechterhaltung eines Tabus gehen könnte, d.h. dass im Widerstand nicht irgendeine Spielart des Gelingens verhandelt oder umkämpft wird, sondern grundsätzlich die Frage, ob es gut, richtig und stimmig ist, mit dem, was man ist oder sein könnte überhaupt am oder im Leben zu bleiben. Die Erdnussbauern in Masia sind ein Exempel dafür, dass man eine Naturbeziehungsweise zum Guten, den Anspruch auf eine »Natur der Fülle« und damit zum Leben bereits verloren hat, dass es den Menschen nicht einmal mehr möglich ist, überhaupt einen eigenen Anspruch auf die Natur und damit auf das Leben zu formulieren. Dass dies so ist, darüber täuschen auch die initiierten Veränderungsgesuche der lokalpolitisch Engagierten nicht hinweg. In einem unwirtlichen und destruktiven (Diskurs-)Feld steuert man also bei der diplomatischen Suche nach dem Gelingen unweigerlich auf die Frage, ob Men-
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Ein Tabu vermittelt sich in der Kommunikation indirekt, z.B. entlang von Widerständen. Ein Tabu berührt eine Grundwahrheit innerhalb einer Gemeinschaft. Diese Grundwahrheit ist nicht hinterfragbar, darf nicht berührt werden und dient dazu potentiell Schmerzhaftes zuzudecken (Schröder 1997:94).
2 Zivilisierte Annäherungen an das Gelingen – Über eine »Natur der Fülle«
schen aufgrund ihrer Überzeugungen überhaupt noch bereit und gewillt sein können und dürfen, gute Beziehungen zu den Dingen aufzunehmen und zu gestalten. Amarald, ein junger und kritischer Philosoph aus Port-au-Prince formuliert dazu sehr pointiert: »Die Natur wartet auf die Gesellschaft, auf die Menschen, dass sie wieder bereit sind. Vielleicht sind wir hier der ganzen Zerstörung müde geworden, vielleicht wollen wir die Erde lieber verlassen. Ich weiß es nicht. Die Natur meint es gut, sie braucht uns und wir brauchen sie.« 89 Die existentielle Frage nach Leben oder Sterben drängt sich in der Diplomatie auf und unterläuft jedes noch so wohlgemeinte Ansinnen. Auch die exemplarischen Statements des EU-Delegierten oder des »World-Bank«-Beraters, die sich alle in ihren eigenen Spielarten des Gelingens versuchen, können als Antwort auf diese Frage gelesen werden. Aus meiner Sicht müssen sie resignieren, das Gelingen abwehren und die totale Katastrophe herbeisehnen, weil sie mit dieser existentiellen Frage identifiziert sind und keine reflexive Distanz finden. Folglich ist es auch nicht möglich, diese Grundsätzlichkeit in ihre Analysen und Konzepte aufzunehmen. Dies würde bedeuten zu erkennen und anzuerkennen, dass bei all den Krisen und Katastrophen und vor allem beim Reden darüber eben auch ein kollektives Tabu bedeutsam sein könnte, etwas, dass sich grundsätzlich gegen das Leben richtet. Dies wäre dann auch die Voraussetzung dafür, Strategien aufzuschließen, um nicht mit der eigenen Version des Gelingens oder Misslingens, implizit oder explizit an der Aufrechterhaltung des Tabus mitzuwirken. Für ein Tabu des Anspruchs und der Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« sprechen die vielen Widerstände, die im Rahmen der Fallstudien aufgetaucht sind, und zwar immer dann, wenn sich eine »Natur der Fülle« durch Veränderungsgesuche und -versuche in die Sichtbarkeit drängte. Für dieses Tabu sprechen auch die beobachteten »Spuren der Destruktivität«, wenn man diese als Widerstand auf ein mögliches Gelingen betrachtet. Für dieses Tabu sprechen insbesondere (selbst-)destruktive Akte, wie z.B. die Axt am heiligen Mapou. Die Axt am Mapou ist ein hochaggressiver und symbolischer Angriff gegen die mit Geistern gefüllte Natur und damit gegen eine Gemeinschaft mit den Dingen, in der das eigene Leben aufgehen könnte. Für dieses Tabu spricht 89
Originalzitat kreolisch: »Lanati ap tann pou sosyete a, pou moun yo pare ankò. Petèt nou te fatige ak pil destriksyon isit la, petèt nou ta pito kite peyi sa a oswa tè a. M pa konnen. Lanati byen di, lanati bezwen nou e nou bezwen lanati.«
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ebenso der überwältigende Krisendiskurs und das Narrativ einer totalen Katastrophe, bei denen sogar die Rede über ein Gelingen untersagt ist, welches das Denken und Tun derjenigen erkennt und anerkennt, über die man letztendlich spricht. Für ein solches Tabu spricht generell die Tatsache, dass gerade dort, wo es ein ökologisches Potential der Fülle an Nahrung gibt oder geben könnte, was zudem durch ein Können in der Subsistenz beantwortet werden kann, d.h. dort, wo die Natur nah und allgegenwärtig ist, kaum Naturbeziehungen gelebt werden, die das Leben tragen. Für dieses Tabu spricht aber am deutlichsten, dass man bei genauerem Hinsehen Spuren gelingender Naturbeziehungen, die sogenannten Ausnahmen und »guten Quellen«, identifizieren kann, d.h. dass es Beziehungsweisen zwischen Menschen und Dingen gibt, die dem Anspruch und den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« folgen. Es sind diese kleinen Ausnahmen, die schließlich nicht mehr nur erlauben, die Missstände allein im Großen sowie in Kategorien von hybriden und komplexen Konflikten, d.h. als Gemische sozialer, politischer und ökologischer Katastrophen zu beschreiben, sondern dazu auffordern, mit gewagteren Thesen zu arbeiten. Eine gewagte These ist es, anzunehmen, es gäbe eine Tabuisierung des Anspruchs und der Möglichkeiten einer »Natur der Fülle«, etwas, dass sich grundsätzlich gegen die ökologische Fülle, ihre Handhabe in der Einfachheit, gegen die Verbundenheit als Zugehörigkeit zu einer Natur als Zuhause, gegen die spirituelle Heimat, das Sattwerden, letztlich gegen die Möglichkeiten richtet, eine eigene Identität zu haben mit all den guten und weniger guten Erfahrungen, die damit verbunden wären. Die Frage, die sich nun stellt, um einem Verständnis der Zweckmäßigkeit von (Selbst-)Destruktivität ein stückweit näher- oder beizukommen, lautet folglich, woraus sich dieses mögliche Tabu speist. Was läuft dem Anspruch und den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle«, letztlich einer Naturbeziehungsweise zum Guten zuwider oder entgegen? Was beschädigt die Vermittlungen zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen, das starke Naturgefühl als wichtige innere Navigation im Umgang mit der Natur? Welche Überzeugungen lassen sich finden, die das Sattwerden so bedrohlich und gefährlich machen? Diese Fragen sind Gegenstand der folgenden zweiten Untersuchung.
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
Welche Gewissheiten gibt es, die dem Gelingen im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« entgegenstehen, dieses unterlaufen, sabotieren oder gar tabuisieren? Der Leitfrage in dieser zweiten Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass mit dem Anspruch und den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« ein Tabu berührt ist. Die beobachteten »Spuren der Destruktivität« – der zerstörerische Erdnussanbau in Masia, das exzessive Baumfällen in Bohoc, das Zerschlagen der Wasserleitung in Grand-Gôave, der unnötige Fang der Languste in Taino, das Fällen des Mapou in Petit-Gôave – werden somit als Ausdruck entsprechender Tabuisierungen gelesen. Geht man von einem solchen Tabu aus, dann nimmt man an, dass Menschen Gewissheiten ausgebildet haben, die es verbieten, ein Natur- und Selbstverhältnis als Verhältnis zur Fülle zu gestalten. Es geht um Gewissheiten mit der Kraft, einen Daseinszweifel zu nähren, der es schlussendlich nicht erlaubt, die Ressourcen einer Naturbeziehungsweise zum Guten aufzuschließen, um dem Potential der ökologischen Fülle und der Ereignisfülle gerecht und hierüber satt zu werden. Wenn in den beobachteten Fällen ein Tabu wirkmächtig ist, dann ist es stimmig, die vollen Gärten, einen heiligen Mapou, ein mit Langusten gefülltes Meer, die fruchtbaren Böden oder eine Leitung für fließendes Wasser nicht zu erhalten. Dies ergibt Sinn, weil es sich bei all dem um etwas handelt, das dem Sattwerden zuträglich ist, aber nicht sein kann, weil man nicht haben kann, was nicht sein darf. Ziel dieser zweiten Untersuchung ist es, mögliche Konturen dieses Tabus und einen Modus der Tabuisierung herauszuarbeiten. Gefragt wird also grundsätzlich, welche Gewissheiten greifen, die das Sattwerden nicht erlauben. Beschrieben werden somit Gewissheiten, in der Sprache der Diplomatie: Positionen, die einer Position zuwiderlaufen, die ein Natur- und Selbstver-
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hältnis als Verhältnis zur Fülle markiert. Ausgeführt wird ebenso, wie sich aus an sich »nur« unterschiedlichen Positionen ein Tabu verfestigt, genauer: wie es möglich wird, zuwiderlaufende Positionen einseitig und machtvoll durchzusetzen, was zur Folge hat, dass sich eine Position verbietet. Dieser Untersuchung geht ein experimentelles und hierin exploratives Beobachtungsverfahren, eine Art Selbstexperiment, voraus. Die Aufgabe bestand darin, im Rahmen der Fallarbeiten die Position eines Gelingens von Naturbeziehungen zu vertreten, wie es die vorherige Ausführung nahelegt. Es ging also darum, von diesem Standpunkt aus zu beobachten, in Beziehung zu treten sowie Gespräche zu führen und die jeweiligen Erfahrungen einer Beschreibung, Analyse und weiterführenden Interpretation zu unterziehen. Dieser erfahrungsorientierte Ansatz ist ungewöhnlich, aber in Anbetracht der Untersuchung eines Tabus notwendig. Dies deshalb, weil ein Tabu die Tendenz hat, unsichtbar und unverfügbar zu bleiben, worauf es forschungsmethodisch im Rückgriff auf ein (selbst-)experimentelles Verfahren zu antworten galt. Und andererseits, weil zunächst die Möglichkeit eines Tabus unterstellt wurde, es also weder Thesen, geschweige denn Forschungsbefunde gab. Auch darauf hieß es methodisch zu reagieren, indem der experimentelle Zuschnitt als exploratives Verfahren verstanden wurde. Für die Befunde bedeutet dies zweierlei. Diese sind erstens subjektiv, weil das Erleben und die Erfahrungen der Forschenden selbst zur empirischen Ressource werden. Zweitens sind diese aber notwendig subjektiv, weil mithilfe dieses Zugangs überhaupt erst neue Thesen exploriert werden konnten. Um diesem Aspekt einer notwendig subjektiven Beobachtungskultur Rechnung zu tragen, wird im Folgenden eine erzählerische Form der Darstellung gewählt.1 Die Thesen zu einem möglichen Tabu werden entlang von empirischen Fallbeispielen, Diskursfragmenten und vorhandenen Forschungsbefunden erzählt. In diesen Erzählungen wird dann nicht nur der Gang der Beobachtung und Reflexion transparent, sondern vielmehr die 1
Es handelt sich um eine Form didaktischen Erzählens. Bei der didaktischen Erzählung werden exemplarische empirische Beobachtungen mit theoretischen Prämissen argumentativ zu Thesen verknüpft. Im didaktischen Erzählen liegt ein besonderer Schwerpunkt darauf, zu vermitteln, wie sich Wissen konstituiert, d.h. mit welchen erkenntnisleitenden Figuren, wissenschaftlichen Methoden und Erfahrungen Erkenntnisse produziert werden. Gegenstand der Vermittlung im didaktischen Erzählen sind sowohl Erkenntnisse als auch der Gang der Beobachtung und Reflexion; zum didaktischen Erzählen vgl. Rhode-Jüchtern (2004); zum Erzählen als Darstellungsform von Erfahrungswissen in der wissenschaftlichen Beschreibung vgl. Reichert et al. (2000).
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
Erfahrungshintergründe, aus denen sich die Argumentation speist. Transparent werden mein persönliches Erleben, eigene Vorurteile, Sprechweisen, Gesprächsstile sowie Präferenzen und Dispositionen zum beobachteten Gegenstand. Damit wird aber auch all das offengelegt, was mir selbst an »blinden Flecken« in dieser notwendig subjektiven Anlage nicht zugänglich ist. Die vorgetragenen Thesen werden im Erzählen in ihrer Genese im weitesten Sinne transparent, hierdurch lebendig, und zugleich auch verhandelbar. Im Folgenden werden vier Erzählungen präsentiert, die verdichtet, pointiert und kritisch die Konturen eines möglichen Tabus nachzeichnen. Diese Erzählungen werden gerahmt durch eine kurze begriffstheoretische und methodologische Grundlegung zum Gegenstand Tabu, Tabuisierung und Tabuforschung sowie einer theoretischen Betrachtung am Ende, bei der die Befunde kategorial an eine erkenntnisleitende Figur von Subjektivierung durch Tabuisierung zurückgebunden werden. Die Argumentation wird in sechs Schritten entfaltet: a) In einem ersten Schritt wird über die besondere methodologische Herausforderung bei der empirischen Beschreibung und Analyse der Konturen eines Tabus und dem Modus von Tabusierungen informiert. b) In einem zweiten Schritt wird eine Erzählung präsentiert, die die tabuisierende Tendenz einer Deutung der ökologischen Devastierung als Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Ressourcen beschreibt und diskutiert. Es handelt sich hierbei um ein mächtiges Narrativ, welches den Diskurs über Haitis ökologische Krisen prägt und eine Interventionspraxis mit ökologisch-technologischem Interesse anleitet. c) Eine weitere Erzählung widmet sich der tabuisierenden Tendenz von Opferzuschreibungen. Gemeint ist ein Zugriff auf Menschen als Opfer der Armut, der in Interventionen zur Armutsbekämpfung aufscheint und als strategisches Mittel vorzugsweise in christlichen Organisationen zu beobachten ist. d) Eine dritte Erzählung diskutiert die tabuisierende Tendenz eines Zugriffs auf Menschen als Schuldige an den katastrophalen Naturereignissen. Beschrieben wird die Wirkmächtigkeit einer Deutung dieser Ereignisse als Strafe Gottes, die im konservativ-christlichen Diskurs augenfällig wird und als Missionierungsstrategie in den entsprechenden Organisationen und Gemeinden zum Einsatz kommt.
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e) Eine letzte Erzählung widmet sich der tabuisierenden Tendenz von Interventionen, die einen Zugriff auf Menschen als von Hilfe, und hierüber von ihren eigenen Lebensmöglichkeiten, Ausgeschlossene organisieren. Dies lässt sich in Fällen beobachten, bei denen sich Interventionsmaßnahmen für Korruption öffnen, d.h. wenn Interventionen zur einseitigen Verhandlung politischer, territorialer und symbolischer Machtansprüche avancieren und dafür soziale Exklusionen zum probaten Mittel werden. f) In einem abschließenden Schritt geht es darum, die gewonnenen Befunde an einen Begriff von Subjektivierung durch Tabuisierung kategorial zurückzubinden.
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Zur Untersuchung zuwider- und gegenläufiger Positionen
Versucht man die Konturen eines Tabus zu erschließen, fragt man weniger, warum etwas nicht sein kann, sondern vielmehr, weshalb und wozu etwas nicht sein darf. Arbeitet man z.B. mit der Annahme, dass es ein Tabu geben könnte, über ausreichend und gute Nahrung zu verfügen, dann fragt man zunächst weniger, warum es nicht gelingt, dass die Leute satt werden. Gefragt wird vielmehr, welche Gewissheiten sich ausgebildet haben, die es nicht erlauben, über ausreichend und gute Nahrung zu verfügen. Es geht also um das Nichtdürfen und weniger um das Nichtkönnen. Bei einem Tabu, dem Nichtdürfen, sind aber weniger direkte Verbote angesprochen. Reimann konstatiert: »Tabus dürfen nicht mit Verboten verwechselt werden. Ein Unterschied zwischen direkt verbotenen Handlungen besteht darin, dass über Verbote durchaus gesprochen werden kann, sie z.B. nach einer rationalen Begründung hinterfragt werden können. Tabus aber stehen außerhalb jeder Diskussion, da sich die tabuisierte Handlung quasi von selbst verbietet« (Reimann 2017:421). Wenn etwas nicht sein darf, dann wird versucht, dieses aus der Welt des Handelns, der Sprache und der Kommunikation auszugrenzen. Ein Tabu ist somit in erster Linie ein kommunikatives Mittel, um ein sozial artikuliertes Vermeidungsgebot durchzusetzen.2 2
Ein Tabu ist Mittel der Kommunikation, um bestimmte Handlungen, worunter auch kommunikative und Sprachhandlungen zählen, zu vermeiden, die in einem sozialen Feld als inakzeptabel gelten. Tabus sind funktional. Sie organisieren die soziale Verge-
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
Mit dem Gelingen im Anspruch und in den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« ist – so die These – ein Vermeidungsgebot berührt, das mithilfe von Tabuisierungen durchgesetzt wird. Wie lässt sich nun erschließen, woraus dieses Gebot schöpft? Einfach formuliert: Wer oder was bestimmt und vor allem wie und wozu wird bestimmt, dass etwas nicht sein darf? Dieses Nichtdürfen erschließt sich durch eine Suche in zwei Richtungen. Erstens sucht man nach solchen Gewissheiten, die jenen Gewissheiten zuwiderlaufen, die im Anspruch und in den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« gebunden sind. Genau genommen geht es um die Suche nach Unterschieden, die sich hierzu als widersprüchlich, unvereinbar oder einfach nur anders präsentieren. Zweitens bedeutet aber Zuwiderlaufen nicht zwangsläufig eine Tabuisierung des Unterschiedenen. Dies geschieht erst, wenn sich das Zuwiderlaufen als ein Gegenlaufen zum Ausdruck bringt, d.h. wenn sich im Vollzug des Unterscheidens Erfahrungen speisen, die auf ein Nichtdürfen des Unterschiedenen hinauslaufen. Für das methodische Vorgehen bleibt dies nicht ohne Konsequenz. Für die Identifikation von Positionen, die der vertretenen Position einer »Natur der Fülle« zuwiderlaufen, eignen sich z.B. Analysen des Krisen- und Interventionsdiskurses und/oder entsprechender Praktiken. Ziel hierbei ist, Deutungen zu rekonstruieren, von denen man annimmt, dass sie subjektivierend wirken, d.h. sich im alltäglichen Denken und Tun der Menschen vermitteln.3 Allerdings wird mit dieserart von Rekonstruktion nicht erkennbar, ob mit dem Zuwiderlaufen auch ein Gegenlaufen im Sinne eines Tabus verbunden ist. Um Gegenläufigkeit zu untersuchen, braucht es die Analyse von Erfahrungen, die im Vollzug des Unterscheidens, letztlich mit dem Unterschiedenen gemacht werden. Nun liegt es nahe, diese Erfahrungen zu erfragen, Interviews zu führen usw. Auch damit lässt sich nicht erfassen, dass die zuwiderlaufenden Positionen tatsächlich mit Tabuisierungen operieren. Dies deshalb
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meinschaftung, dienen dem Schutz, decken Schmerzhaftes ab. Tabus sind aber auch Herrschaftsmittel, durch die soziale und politische Kontrolle ausgeübt wird; zum Begriff und zur Funktion eines Tabus vgl. Kraft (2015:11-18), Kraft (2015:115-124), Reimann (2017), Schröder (2002), Schröder (1997). Damit angesprochen sind diskursanalytische Zugänge, die insbesondere nach der Vermitteltheit von diskursiv hergestellten Deutungen oder narrativen Figuren in alltäglichen Praktiken fragen; vgl. hierzu Ansätze zur wissenssoziologischen Diskursanalyse von Keller (2011:48-61), Keller (2005:219-223); zu einer entsprechenden Methodologie der Verlinkung des »Großen« gesellschaftlicher Kommunikation mit dem »Kleinen« alltäglicher Praktiken vgl. Schneider (2013a:149-156).
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nicht, weil Tabu und Tabuisierung sich nicht einfach erfragen lassen. Dies liegt in der Natur der Sache oder einfach formuliert: Ein Tabu ist tabu.4 Um Tabu und Tabuisierung zu verstehen, braucht es folglich einen Umweg, d.h. einen experimentellen Weg, der indirekt-direkt die tabuisierende Tendenz einer Gewissheit, das Nichtdürfen einer anderen sichtbar werden lässt. Experimentell zu forschen, heißt dann zweierlei. Erstens geht es darum, ausgehend vom Standpunkt einer »Natur der Fülle« zu beobachten, d.h. im Krisen- und Interventionsdiskurs und/oder entsprechender Praktiken zuwiderlaufende Differenzmomente zu erfassen und hierüber für mögliche alltägliche Erfahrungshorizonte des Nichtdürfens sensibel zu werden, die mit den Unterschieden zu erwarten sind.5 Zweitens heißt Experimentieren, und dies bedeutet den indirekt-direkten Weg, mit der Position einer »Natur der Fülle« selbst Erfahrungen zu machen. Diese Erfahrungen sind entgegen der Interpretation von möglichen Erfahrungshorizonten dann ein direkter Hinweis darauf, ob und inwieweit sich Gegenläufigkeit, also eine tabuisierende Tendenz zum Ausdruck bringt.6 Erst wenn man Aufschluss darüber erlangt, welche Unterschiede vorliegen und wie sich diese als Unterschiede vermitteln, ist es möglich, davon zu sprechen, ob und inwieweit ein Tabu wirksam sein könnte. Wie wird eine tabuisierende Tendenz, das Gegenläufige als ein Nichtdürfen erfahrbar? Ein Tabu wird sich dem Beobachter indirekt vermitteln. In Ge4
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Tabuisierung stellt eine Form von Unterlassungskommunikation dar. Durch Schweigen, Verschweigen oder auch Kaschierungen wird das, was vermieden werden muss, indirekt in der aktuellen Kommunikation als Tabu markiert (Schröder 1997:93). Wenn man Befragungen durchführt, um herauszufinden, ob bestimmte Überzeugungen ein Tabu berühren, müsste man zunächst vom Gesprochenen auf das Nichtgesprochene schließen und in einem weiteren Schritt das Nichtgesprochene thematisieren und hierzu entsprechende Aussagen und Reaktionen untersuchen, die darauf drängen das Vermeidungsgebot aufrechtzuerhalten sowie die dargebotenen Inhalte wieder auszuschließen. Da man sich mit einem Tabu aber in Erfahrungsbereiche begibt, die emotional oft stark berühren, woran sich Schmerzhaftes bindet, wäre mit einem solchen Vorhaben auch die ethische Frage berührt, inwiefern sich ein solcher Zugriff im Rahmen von Forschung überhaupt verantworten ließe. Zur Untersuchung der Vermitteltheit von diskursiv hergestellten Deutungen im »Großen« mit den Praktiken im »Kleinen« vgl. Schneider (2013a:149-156). Diese Art von Forschung lässt sich aus meiner Sicht auch verantworten. Dies deshalb, weil man als Forschende nunmehr eine Position nur vertritt, mit der ein Tabu berührt sein könnte. Man greift also weniger in einen sensiblen Bereich ein. Unvermeidbar ist jedoch, dass man diese Bereiche oft unwissentlich berührt.
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
sprächen ist ein Tabu meist eine Art blinder Fleck, etwas Absentes, das eine starke Tendenz aufweist, unsichtbar zu bleiben. Es gehört also zum Wesen eines Tabus, nicht thematisiert zu werden. Ein Tabu ist tabu.7 Was nicht sein kann, weil es nicht sein darf, darüber lässt sich nicht sprechen und spricht man auch nicht.8 Wenn also die Gewissheiten zum Gelingen in einer »Natur der Fülle« als tabuisiert gelten, wird es zu diesem Gelingen keinen vorgefassten und offenen Raum geben, in dem sich passende Worte oder Artikulationsformen bereits vorfinden. Folglich besteht ein deutlicher Hinweis auf ein Tabu darin, dass sich über das Tabuisierte nicht oder kaum sprechen, dass es sich schwer, allenfalls mit viel Fingerspitzengefühl oder nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen in die Gespräche aufnehmen lässt.9 Die explorative Untersuchung zu einem möglichen Gelingen im Anspruch auf eine »Natur der Fülle«, hat eine solche Tendenz gezeigt. Über das Gelingen zu sprechen, es zu adressieren und Worte zu finden, wurde kaum möglich und wenn doch, dann nur abseits von Interventionsansprüchen und -erwartungen. Deutlicher bemerkt man ein Tabu jedoch daran, dass alles, was im Miteinanderreden in die Nähe des Tabuisierten rückt und somit sichtbar werden könnte, abgewehrt, vermieden oder zerstört wird. Auch hier gilt die einfache Formel: Ein Tabu ist tabu. Dem Beobachter bringt sich ein Tabu somit in einer Art in die Erfahrung, dass sich den entwickelten Gedanken und Thesen, der vertretenen Position und Haltung etwas hartnäckig entgegenstellt. Das Gegenläufige als Nichtdürfen zeugt weniger von etwas, das die vertretene Position herausfordert, zum Zweifeln, zum Hinterfragen oder zur Revision einlädt. Das Gegenläufige ist vielmehr widerständig und widerspenstig, erlaubt keine Kritik, keine Auseinandersetzung oder Verhandlung. Es geht mit
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In den Ausführungen zur Kommunikation eines Tabus bei Schröder wird konstatiert: »Dem Tabu wäre wohl am besten entsprochen, wenn man darüber schweigt« (Rudas zit. in: Schröder 1997:93). Ein Tabu wird indirekt in der Kommunikation markiert. Liest man Zerstörung, z.B. das Fällen eines heiligen Mapou, in der Perspektive der Kommunikation eines Tabus, dann wird mit diesem Akt indirekt ein Tabu, im vorliegenden Fall ein Voodoo-Tabu, markiert. Kraft formuliert z.B. eine Suchfrage, um ein Tabu zu identifizieren: »Was müsste ich tun oder sagen – ohne ein Gesetz zu brechen –, um in meiner Ehe, Familie, Firma, Partei etc. ausgeschlossen, zumindest aber geschnitten zu werden?« (Kraft 2015:18). Aus meiner Sicht stellt diese Frage eine lohnende Reflexionsfrage dar, die aber kaum geeignet ist, ein interkulturell situiertes Gespräch im Umfeld eines Tabus im Gegenstandsfeld von Naturbeziehungen zu öffnen.
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dem Anspruch oder sogar dem Druck einher, die vertretene Position aufgeben zu müssen. Es ist diese machtvolle Repression eines Standpunkts zugunsten eines anderen, was als wichtiger Hinweis gelten kann, sich in der Nähe eines Vermeidungsgebots, eines Tabus aufzuhalten. Man spürt und bekommt deutlich vermittelt, die vertretene Position nicht haben zu dürfen, weil eine andere ihren Geltungsanspruch einfordert. Für Schröder fungiert das Tabu sogar als Herrschaftsmittel: »Tabus und Tabuisierungen hingegen sind immer ein ausgesprochenes Herrschaftsmittel, durch das soziale und politische Kontrolle ausgeübt wird. Wo Tabus existieren, wird nicht nur geschwiegen, sondern auch verdrängt, manipuliert und Sprachlenkung betrieben« (Schröder 1997:93). Ist es nicht möglich, sich im Gespräch von der Wirkmächtigkeit eines Tabus reflexiv zu distanzieren, beginnt man die vertretene Position ungeprüft zu verlieren und jene Überzeugungen auszubilden, die im Gegenläufigen auf Durchsetzung drängen. Pointiert formuliert, heißt ein Tabu »gehorchen, ohne zu fragen« (Rudas zit. in: Schröder 1997:93). Das Gegenläufige als Nichtdürfen zeigt sich in Gesprächen, die etwas Tabuisiertes aufscheinen lassen, anhand verschiedenster Widerstände und Inszenierungen, die subtil oder direkt die vertretene Position unterlaufen.10 Dass etwas eine vertretene Position subtil unterläuft, zeigt sich beispielsweise, wenn Gespräche konfus werden, in der ewig gleichen Argumentation verlaufen, wenn immer wieder Themen gewechselt werden, wenn Sprachlosigkeit herrscht, Gespräche kein Ende finden oder aus unplausiblen Gründen beendet werden. Gegenläufigkeit bringt sich im Gespräch auch subtil über Konflikte oder Streitereien in Erscheinung, die scheinbar plötzlich in der Gegenwart einer vertretenen Position auftreten und mit dieser augenscheinlich nichts zu tun haben. Direkter geht es dagegen zu bei Reaktionen wie dem heftig artikulierten Widerstand auf die Mango-Strategie im Fall Masia, aber auch wenn Gespräche harsch abgebrochen werden, wenn sich direkt und aggressiv vermittelt, dass die vertretene Position falsch ist, wenn es explizit nicht erlaubt ist, diese Position vorzutragen usw.11 Es geht also um ein vielfältiges Repertoire kommunikativer Mittel, das dazu taugt, die vertretene Position
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Es geht hierbei um die gesamte kommunikative Kunst der Vermeidung, das Tabuisierte ins gesprochene Wort aufzunehmen und verhandelbar zu machen. Es geht um kommunikative Mittel, das Tabu indirekt zu markieren und aufrechtzuerhalten. Bei dieser Aufzählung handelt es sich um kommunikative Mittel zur Abwehr der vorgetragenen Position, die sich im Feld beobachten ließen.
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
unvermittelbar zu halten und diese zugunsten der Durchsetzung einer anderen zu zerstören.12 Versucht man nun, empirisch ein Tabu aufzuspüren, steckt im Miteinanderreden und hierzu in der Analyse und Beschreibung von Momenten des Gegenläufigen die größte Ressource. Eine solche Arbeit ist aber alles andere als einfach. Es ist ungemütlich. Dem Beobachter wird eine enorme Beobachtungssensibilität abverlangt. Es heißt sensibel zu sein für die eigene Ansprache und Position im Feld. Man muss einerseits sehr genau wissen, was der eigene Standpunkt ist, welche Gewissheiten man selbst repräsentiert und anbietet und wie man dabei vorgeht. Dann lässt sich auch entschlüsseln, worauf sich das Gegenläufige richtet. Andererseits bedeutet Beobachtungssensibilität, die eigene Disposition zur Reaktionsbildung zu kennen. Man muss um die eigene Bereitschaft wissen, auf all jenes zu reagieren, was darauf hinausläuft, die vertretene Position zu unterlaufen und zu zerstören. Möglich sind Enttäuschung, Rückzug, Wut, Mitleid, Ohnmacht, Angst usw. Was es braucht, ist eine Handhabe, all dies der Reflexion zugänglich zu machen und weniger auszuagieren. Beobachtungssensibilität heißt, sich gut zu kennen, Abstand zu wahren und selbst nicht feindselig oder gar zerstörerisch zu werden. Dies kann aus meiner Sicht grundsätzlich gelingen, wenn man für sich selbst eine starke forschende Haltung mit reflexiver Distanz anerkennt und sich bewusst ist, wozu die Beobachtung und Analyse des Gegenläufigen nützlich sind. Es ist der wohl wichtigste Zugang zum Verstehen und zur Bearbeitung einer Destruktivität, bei der aktiv und gewaltsam zerstört wird, was man dringend zum Leben braucht. Nichtsdestotrotz ist diese reflexiv-forschende Haltung ebenso an eine besondere Professionalität in der Beratung gebunden. Was in diesem selbstex-
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In der Fachliteratur wird das Tabu in einer kommunikativen Situation als »Nicht-Ort« beschrieben. Das Tabu schließt etwas aus, was in dieser Idee zu einer Art Leerstelle avanciert (Kröger & Herford 2002:o.S.). Aus meiner Sicht geht es bei einem solchen »Nicht-Ort« um einen Ort, wo das, was tabuisiert wird, nicht ist, aber sein kann oder, wie im vorliegenden Tabu des Gelingens, sein sollte. Dieser Ort ist aber dann nicht »leer«, sondern wird entsprechend eingenommen von einem Stattdessen. In dieser Interpretation kann auch davon die Rede sein, dass es im Vollzug von Tabuisierung darum geht, einen Standpunkt machtvoll durchzusetzen, für diesen Standpunkt einen Ort »einzunehmen«, der eigentlich mit anderen Ansprüchen, Bedeutungen, letztlich einer anderen Position besetzt ist. Tabu und Tabuisierung werden in dieser Arbeit also vordergründig in ihrer Funktion als Herrschaftsmittel, genauer: als Mittel der Durchsetzung von Positionen avisiert.
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perimentellen Forschungssetting notwendig ist, ist eine Beobachtungssensibilität, die als Grundhaltung des Eingebundenseins für die Beratung eingefordert und vor allem auch eingeübt(!) wird: »Mit der Haltung des Eingebundenseins wird den Interdependenzen, die sich zwischen dem Berater und dem Adressaten abspielen, Rechnung getragen. Wir wirken und agieren – darauf reagieren unsere Klienten. Aber auch die Klienten wirken und agieren – und darauf reagieren wir. […] Es geht darum sich selbst gleichsam von oben zu beobachten, wie man auf bestimmte Klienten reagiert, was sie in einem auslösen« (Barthelmess 2016:118). Wie wurde konkret gearbeitet? Im Feld habe ich die Position einer »Natur der Fülle« vertreten, d.h. beobachtet und Erfahrungen gemacht.13 Ich habe mit dieser Position experimentiert, behutsam ausprobiert, wie sich Aspekte eines Gelingens im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« artikulieren lassen und darauf geachtet, was geschieht. Untersucht habe ich, welche Gewissheiten darauf drängen, von mir ausgebildet zu werden und in welcher Art und Weise ich zur Ausbildung dieser Gewissheiten angehalten werde, d.h. ob und inwieweit hierzu mit Anpassungs- und Unterwerfungserwartungen oder sogar mit Sanktionen operiert wird. Konsequent kontextualisiert habe ich diese Erfahrungen im übergeordneten Diskurs- und Erfahrungsfeld von Krise, Katastrophe und Intervention. Kurzum, ich habe mich als Vertreter oder Sprecher eines möglichen Gelingens von Naturbeziehungen und somit in einer grundständig ressourcenorientierten Haltung ins Feld gestellt und mich dahingehend ausprobiert, Beobachtungen von Differenzmomenten anzuleiten, Beziehungen aufzunehmen und Gespräche zu führen. Es wurde sehr schnell klar, dass Erfahrungen wie der heftige Widerstand auf die Mango-Strategie in Masia keinen Einzelfall abbilden. Beobachtbar wurde, dass man sich durch die Artikulation eines möglichen Gelingens tatsächlich in ein Konfliktgebiet begibt, ein Tabu berührt und es in keinem Fall um eine friedfertige Versammlung geht, in der die Stimme eines Natur- und Selbstverhältnisses als Verhält13
Zum Standpunkt einer »Natur der Fülle« beobachtet und experimentiert habe ich vorzugsweise im Rahmen der Fallarbeit in der Fischergemeinde Taino. Die Taino-Studie kann diesbezüglich als Leitbeispiel gelten. Hinzu kommen Beobachtungen in den Farmergemeinden Monben und Bohoc und nachträgliche Reflexionen zur Fallarbeit in der Farmergemeinde Masia sowie in einer abgelegenen Siedlung von Grand-Goâve. Hinzu kommen Beobachtungen von Interventionspraktiken der jeweils ortsansässigen NGO sowie Gespräche mit Vertretern der Lokalpolitik und in einem erweiterten entwicklungspolitischen Feld, wie z.B. mit den EU-Delegierten.
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
nis zur Fülle einen angemessenen Platz bekäme, d.h. als Verhandlungspartner erkannt und anerkannt wäre. Vielmehr beobachtbar ist ein Konfliktfeld hervorgerufen durch ein feindseliges Gerangel um differente Deutungsansprüche auf die Natur. Die Befunde dieser Beobachtungen werden im Folgenden erzählt.
3.2
»Gib auf, was du kannst, weil du zerstörst!« – Aufrufe zur Kapitulation
Ich möchte diese Ausführungen mit Auszügen einer wissenschaftlichen Abhandlung mit dem Titel »Haiti: Naturraumpotenzial und Entwicklung« aus dem Jahr 1980 beginnen: »Dieses Phänomen [die unkontrollierte Abholzung, A. S.] ist nur dadurch zu erklären, dass der Haitianer nicht das mindeste Verständnis für den Wald als ökologische Komponente und als erneuerbares wirtschaftliches Gut hat. Für die größere Zahl der Leute ist er nichts weiter als eine Bodenreserve, aus der man sich nach Belieben bedienen kann« (Donner 1980:203). »Haiti bietet, im Gegensatz zu einigen anderen Ländern der Dritten Welt, keine Beispiele dafür, dass die landwirtschaftliche Bodennutzung Hand in Hand mit einer Bodenpflege geht« (Donner 1980:206). »Der Akteur des Dramas [der Bodenerosion, A. S.] und damit der Schuldige (wenn auch nicht im moralischen Sinne) ist, […], der kleine Bauer im Bergland, der seinen Boden erschöpft, um zu überleben, und der damit die Zukunft verspielt, weil er nicht bereit ist, etwas zu tun, was auf mittlere oder längere Sicht Erträge bringt« (Donner 1980:208). Dieserart Aussagen finden sich in dieser expliziten Form kaum mehr in aktuellen wissenschaftlichen Abhandlungen, stehen aber dem gesprochenen Wort über die ökologische Devastierung und ihrer Ursachen und Verursacher in politischen und Interventionskreisen in nichts nach.14 Die Auszüge wurden als Exempel gewählt, um auf die Ausformung, Bedeutung und Persistenz einer
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Dies wurde mit dem Bild des »Auffressen der Natur« bereits angedeutet; vgl. Abschnitt 2.3. Zum Anspruch auf eine »Natur der Fülle« – Eine Leitthese.
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ersten Deutung aufmerksam zu machen, die einer möglichen Naturbeziehungsweise im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zuwider- und gegenläuft. Gemeint ist das diskursmächtige Narrativ der Zerstörung der Natur, bei der man die erdnaturbezogenen Dinge mitunter aktiv (über-)ausbeutet.15 Es handelt sich um eine Perspektive der Zerstörung, die ihre Tatbestände und Täter immer schon zu kennen glaubt. In der Zerstörungslogik damals wie heute geht es um erdnaturbezogene Dinge als natürliche Ressourcen, die zugrunde gerichtet werden. Als Täter gelten je nach Beobachtungsfokus »der Haitianer«, der »kleine Bauer«, der Fischer oder der Holzfäller, die Politik und Institutionen, die internationale Gemeinschaft usw. Ursachen sind das fehlende Interesse, die Unfähigkeit, der Unwillen, mangelnde Kenntnis der Ökologie, das fehlende ökologische Bewusstsein, der Druck zum Überleben usw. Welche Abwärtsspirale aus verfehlten politischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Praktiken auch bemüht wird, die Argumentationen laufen darauf hinaus, dass es eine aktive Überausbeutung und Zerstörung natürlicher Ressourcen gibt, obwohl diese bei besserer Pflege, solider ökologischer Kenntnis, einem ausgeprägten ökologischen Bewusstsein, mit den richtigen Technologien, bei einem entsprechenden politischen Interesse usw. an sich zu erhalten oder zu regenerieren wären.16 Auch die beobachteten »Spuren der Destruktivität« zeugen im Kern von aktiven, mutwilligen und ausbeuterischen Zugriffen auf eben diese Ressourcen wie Böden, Fische, Wasser oder Holz. Die dargestellten Interpretationen scheinen zunächst auch hier nahezuliegen. Die Versuchung ist entsprechend groß. 15
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In der Studie von Beckett kommt dieses Narrativ sehr pointiert zum Ausdruck. Er schildert einen Gesprächsauszug zwischen ihm und dem Gründer einer Umweltinitiative, einem Haitianer mit Namen Luc aus Port-au-Prince. Der Autor wird von Luc gefragt, was er über Haitis ökologische Krise weiß. Die Antwort und der Gesprächsauszug lauten: »I told him I had read that Haiti was one of the most deforested countries in the world and it suffered from terrible rates of soil erosion, that it was one of the most transformed environments in the world. I said I had learned that the environmental crisis had led to the collapse of the peasant economy, which in turn had sent hundreds of thousands of peasants to the city or overseas in search for work. He nodded along thoughtfully. I felt like I was at an audition. When I stopped, Luc looked at me. ›Yes, yes‹, he said. ›What you say is correct. You’ve done your homework!‹ […] ›My country is an agrarian nation. If we don’t solve the environmental crisis‹, he said, ›then that’s it. We’re finished‹« (Beckett 2019:21). Ein klassisches Beispiel per excellence für diese Zerstörungslogik findet sich bei Lundahl (1979/2015:187-234) sowie in einer Neuauflage bei Lundahl (2013:34-35).
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
Nun wird aber anders gefragt. Dies deshalb, weil die Zielrichtung der Destruktivität eben nicht nur erdnaturbezogene Dinge als natürliche Ressourcen (als Nahrungs-, Rohstoffquelle, wirtschaftliches Gut) betrifft, wie es die Zerstörungs- und Ausbeutungsperspektive nahelegt. Angegriffen oder zugrunde gerichtet werden – so die These – erdnaturbezogene Dinge, die ihren Status als verhandelbare Tatsachen eingebüßt haben! Angegriffen werden Dinge, die sich für gelingende Naturbeziehungen kaum oder nicht mehr aufschließen lassen. Angegriffen werden somit Bedeutsamkeiten und Möglichkeiten, die im Umfeld der Dinge liegen: Nahrung, das Zuhause, soziale Beziehungen, die spirituelle Heimat, Selbstgewissheit durch Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, das Gefühl für Kohärenz, Beständigkeit und hierin zum Einvernehmen. Die Zerstörung der Dinge dient in dieser erweiterten Lesart der Vermeidung eines möglichen Gelingens im Anspruch auf eine »Natur der Fülle«. Sie dient weniger nur einer kurz- oder mittelfristigen Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Für diese Akte der Vermeidung von »füllenden und erfüllenden« Naturbeziehungen in Anschlag gebracht wird die Wirkung eines Tabus, welches u.a. durch einen machtvollen Zugriff auf Menschen in Gang gesetzt und fortlaufend reproduziert wird, der mit Figuren von Ausbeutern und Zerstörern einer Natur operiert. Gemeint ist eine Natur, die einseitig zur natürlichen Ressource und hierüber zu einem schützenswerten Gut wird.17 Diese These ist schließlich die Voraussetzung, um bei der Beobachtung von destruktiven Phänomenen, wie sie die Fallbeispiele vermitteln, mit dem gängigen Interpretationsrahmen zu brechen. Entsprechend ist zu fragen, was das Narrativ der zerstörerischen (Über-)Ausbeutung natürlicher Ressourcen selbst anrichtet, wie es zu einem katalysierenden Moment für Zerstörung werden kann, indem es im Kleinen die Möglichkeiten eines alltäglichen Natur- und Selbstverhältnisses unterläuft, tabuisiert und beschädigt. Diskutiert wird, wie sich die diskursive 17
Bei der Natur als Ressource bzw. schützenswertes Gut handelt es sich um Figurationen, die in den westlichen Naturalismen angelegt sind und in umweltethischer Perspektive als anthropozentrische Zugriffe auf die Natur gelesen werden können. Menschen werden hierbei als der Natur überlegen betrachtet. Den erdnaturbezogenen Dingen wird ihr Eigenwert abgesprochen. Folglich können diese auch nur in ihrer Zweckmäßigkeit für die Menschen (an-)erkannt werden. Bei erdnaturbezogenen Dingen handelt es sich um Ressourcen, die es zu gebrauchen gilt, die man ausbeuten, aber auch schützen kann; zum Anthropozentrismus in der Umweltethik vgl. Thompson (2017:7790).
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Zuschreibung als aktiver, mutwilliger und mitunter gewaltsamer Ausbeuter und hierin Zerstörer auf jene auswirken kann, die von diesen Zuschreibungen be- und getroffen werden – der »kleine Bauer«, der »kleine Fischer«, der »kleine Holzfäller« usw. Wie schlägt sich eine solche Zuschreibung durch, wenn sie auf Menschen trifft, denen andere Dispositionen zur Natur eigen sind? Welche Subjektivierungen sind also mit einem solchen Zugriff zu erwarten? Wie wird aus dem Zuwiderlaufen ein Gegenlaufen, d.h. wie tabuisierend, beschädigend und in seiner Auswirkung zerstörerisch ist das Reden von den Ausbeutern und Zerstörern? Gemäß der (selbst-)experimentellen Anlage werden diese Fragen zunächst entlang von eigenen Erfahrungen diskutiert und dazu exemplarisch ein Gespräch mit einem der EU-Delegierten in den Mittelpunkt gerückt. In einer weiterführenden Interpretation werden die Selbstreflexionen mit Fallbeobachtungen verknüpft und die tabuisierende Tendenz des Zerstörungsnarratives diskutiert. Im Gespräch über die Fischer in Taino In der Gemeinde Taino treffe ich in einem kleinen und beliebten Restaurant einen der EU-Delegierten zum Gespräch. Wir sind an diesem Tag verabredet, um uns über unsere jeweiligen Tätigkeiten vor Ort auszutauschen. Ich erkläre ihm, dass ich in Haiti ein wissenschaftliches Interesse verfolge, dazu zu Naturbeziehungen, sozial-ökologischen Problemen und Vermittlungen arbeite. Er selbst ist in Haiti mit Projekten im Bereich nachhaltiger Stadtentwicklung involviert.18 Unsere Arbeitsgebiete besitzen also eine gewisse Schnittmenge. Das Restaurant besitzt einen Strandzugang. Von hier aus hat man eine gute Sicht auf das Meer und die Fischer in ihren kleinen Holzbooten, die an diesem Vormittag in großer Anzahl zu beobachten sind. Ich beginne über meine Studien zu den Fischern in Taino zu berichten, dass ich ihre Praktiken und Techniken untersuche, um zu verstehen, wie sie die Beziehungen zum Meer pflegen. Ich trage ihm vor, dass die einfachen, körperbetonten und auf den ersten Blick rückständig anmutenden Fangtechniken – schwimmend und tauchend mit der Harpune – ein Indiz für eine starke Vertrautheit und Verbundenheit mit dem Meer sind. Ich erläutere, dass das Meer für die Fischer grundsätzlich etwas ist wie ein guter und haltender Ort, an dem man sich beheimatet und der über Nahrungsvorräte verfügt. Ich erwähne dazu, dass die Fischer vom Meer als dem Zuhause sprechen, dass 18
Zum Überblick der aktuellen EU-Projekte vgl. https://www.eeas.europa.eu/haiti/eu-pr ojects-haiti_en?s=142.
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sich die einfachen Fangtechniken auch als Sorge um diese Gemeinschaft mit der Natur lesen lassen. Ich erläutere, dass, wenn man das Fischen vor dem Hintergrund einer tieferen Verbundenheit betrachtet, das Harpunenfischen von seiner Anlage her eher von einer Strategie zeugt, satt zu werden, dazu aber maßzuhalten, um die Vielfalt und Fülle an Fisch und Meerestieren und damit das Zuhause zu erhalten und zu pflegen. Einem einzelnen Fischer gelingt es so eben nicht, ein Zuviel für sich selbst zu erzeugen. Ich äußere abschließend, dass sich im maßvollen Harpunenfischen auch Ansätze einer Lebens- anstatt Überlebensstrategie erkennen lassen, dies insbesondere dann, wenn man berücksichtigt, dass sich hierüber auch das soziale Leben in einer Art solidarischen Form organisiert. Ich vertrete also die Grundzüge der Position einer »Natur der Fülle«, indem ich insbesondere auf das praktische Können rekurriere, das die Einfachheit kultiviert und dem eine besondere Verbundenheit mit der Natur vorausgeht. Meine Erläuterungen werden vom EU-Delegierten unterbrochen und mit deutlicher Kritik abgelehnt. Die Idee von Einfachheit in ihrer möglichen Bedeutsamkeit als Lebensstrategie und somit als eine sensible Antwort auf das ökologische Potential der Fülle wird argumentativ direkt angegriffen, somit im Keim erstickt und einer Verhandlung nicht zugelassen. Mir wird sehr plausibel dargelegt, dass die Fangtechniken nichts mit Nachhaltigkeit zu tun haben, sondern schlichtweg nur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Zerstörung des Meeres als Ökosystem bedeuten. Die Gebiete seien dermaßen überfischt, die Fischer würden herausholen, was sie kriegen können. Sie könnten auch gar nicht anders, weil jeder von ihnen in Not ist und um das Überleben kämpft.19 Dass sich die Fischerei in der Form bewahren konn-
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Nachhaltigkeit wird in dieserart Interventionsansätzen im Sinne einer nachhaltigen ökologischen Inwertsetzung der Dinge verstanden, um die Grundversorgung der Menschen abzusichern und die natürlichen Lebensgrundlagen langfristig zu erhalten. Hier greift ein Nachhaltigkeitskonzept auf impliziter naturalistischer und anthropozentrischer Grundlage im Sinne der Erdnatur als Ressource für Menschen und einer entsprechenden Balance von Ökologie, Ökonomie und Sozialem. Am Konzept der Nachhaltigkeit wird generell kritisiert, dass es sich zwar um ein bedeutendes gesellschaftspolitisches Konzept, aber auch um einen inflationär gebrauchten und unscharfen Begriff handelt. Kritisiert wird ebenso die ausgeprägte Normativität sowie die mangelnde sozialtheoretische Fundierung des Begriffs. M.E. kann diese Kritik um eine mangelnde naturtheoretische bzw. anthropologische Fundierung ergänzt werden; zur Kritik am Nachhaltigkeitsbegriff vgl. Eblinghaus & Stickler (1998), Görg (2003), Görg (1996), Norton (2017).
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te, wäre ein Zeugnis der Armut und Verwahrlosung und läge schlussendlich daran, dass es keinerlei Bewusstsein und Kriterien sowie staatliche Regulative gibt, die diese unkontrollierten und willkürlichen Entnahmen insofern steuern würden, dass die Populationen an Fisch und Meerestieren weniger Schaden nehmen. In der Einfachheit auch nur irgendeinen angemessenen Umgang mit der Natur zu vermuten, wäre schlichtweg falsch. Ich würde damit weder die Not dieser Leute erkennen noch den Raubbau, der damit in Gang gehalten wird. Die Befunde zur Überfischung sprächen schließlich für sich.20 Während er berichtet, kommt mir noch der Gedanke, dass überhaupt niemand weiß, außer die Fischer selbst, welche Kriterien und Regeln tatsächlich greifen, wenn schwimmend und tauchend gefischt wird und dass hier vorschnell ein Tun unterstellt wird, das einseitig durch Rückständigkeit, Unwissenheit und Leichtfertigkeit geprägt ist. Ich denke dies, weil ich von den Fischern gelernt habe, dass man mitunter nach Farben und Verhalten der Fische differenziert, mir dies bis dato neu war und ich hierin ein Differenzierungsvermögen vermute, dass sich stimmig zu einem Identifikationsmodus verhält, der sich über Ähnlichkeiten in der Interiorität und über Unterschiede in der Physikalität vollzieht. Ich überlege auch, dass durch die Verbundenheit, wenn die Natur das Zuhause wird, dieserart räuberische Zugriffe gar nicht naheliegen. Dies deshalb nicht, weil das Meer, die Fische usw. eben nicht nur als biologische Formen, d.h. als seelen-, geist- oder geisterlose natürliche Ressourcen anverwandelt werden, die man zurichten, ausbeuten oder im ökologischen Sinn schützen kann. Es sind Dinge, mit denen man in den Dialog tritt, mit und über die man sich organisiert, durch die man affiziert wird, ähnlich wie es in den Beziehungen zwischen Menschen geschieht.21 Ich unternehme also gedanklich noch den Versuch, ihm argumentativ etwas anzubieten, das meine Thesen etwas stärken könnte, komme aber nicht dazu, weil ich beginne, meine Gedanken als absurd zu empfinden und mich überzeugen zu lassen. Der EU-Delegierte erklärt, dass man schwimmend, mit Holzboot und Harpune eben nur nahe der Uferzone fischen kann, was dazu führt, dass die Gebiete speziell in diesem Bereich überfischt sind, dass es längst überfällig
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Zur Überfischung vgl. https://reefcheck.org/reef-news/haitis-reefs-most-overfished-inthe-world. Vgl. Ausführungen zu den Identifikations-/Vermittlungsmodi im Animismus in Abschnitt 2.4.2 Verbundenheit.
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ist, komplexere Technologien einzusetzen wie z.B. Netze und Motorboote, um das Fanggebiet zu verlagern und zu vergrößern, die Ufergebiete zu entlasten und für die Fischer einen sicheren Fang, d.h. genügend Nahrung und damit einen Puffer gegen die Armut zu gewährleisten. Überfällig wären auch die Ausweisung ausgedehnter Schutzgebiete, die Installation von Patrouillen und staatlichen Regulativen, so dass sich die Ökosysteme erholen können. In dieser Situation geschieht es, dass ich meine vertretene Position aufgebe. Mir gelingt es nicht mehr, mit der Stimme der Fischer zu sprechen und hierzu über den Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« zu informieren. Mir gelingt es ebenso wenig, dem EU-Delegierten darzulegen, dass dem praktischen Können in der Einfachheit ein Modus der Identifikation und Vermittlung vorhergeht, in dem das Meer in besonderer Weise als das Zuhause erfahren wird, eine Gemeinschaft, in der das Selbst und die Identität eines Fischers gründen. Mir gelingt es nicht einmal, so etwas wie ein ausgeprägtes Naturgefühl, das sinnlich-affektive Band zur Natur anzusprechen, welches uns in den naturalistischen Orientierungen eher fremd geworden ist.22 Mir gelingt es nicht, darauf zu insistieren, eine solche Fremdheit und hierin ein Nichtverstehen zumindest für möglich zu halten.23 Dies wäre jedoch die erste Voraussetzung dafür, die Einfachheit der Techniken nicht per se als einseitig ausbeuterisch und zerstörerisch abzulehnen, auch dann nicht, wenn diese, massenhaft ausgeübt, zerstören. Mir gelingt es nicht, deutlich zu machen, dass Strategien wie Netz, Motorboot und Schutzgebiet zwar Strategien sind, um die natürlichen Ressourcen zu erhalten und den Ökosystemen zur Regeneration zu verhelfen, dass damit aber keineswegs gesagt ist, dass diese stimmig zu den vorfindlichen Naturvermittlungen sind und so das Gelingen garantieren.24 Mir gelingt es nicht, zu demonstrieren, dass in diesen Interventionen Verlusterfahrungen anstehen, die ihrerseits ein Potential zur
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Vgl. Ausführungen zur Ausbildung des Naturgefühls im Zuge animistischer Naturvermittlungen in Abschnitt 2.4.2. Verbundenheit. Mit Fremdheit ist an dieser Stelle eine Entfremdung als eine Art verminderte affektive Ansprechbarkeit gemeint. Damit ließe sich auch von Resonanzverlusten durch naturalistische Naturvermittlungen sprechen, wie sie mit der sozialphilosophischen Entfremdungsthese konstatiert werden (Jaeggi 2016, Rosa 2016, Rosa 2014). Ein Gelingen ist dann nicht garantiert, wenn die Interventionen implizit gegen eine der Dispositionen zur Natur gerichtet sind. Dies geschieht immer dann, wenn in naturalistisch grundierten Programmen der animistische Modus der Naturvermittlung vernachlässigt oder negiert wird.
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Zerstörung in sich tragen, insofern es für diese Verluste kein gangbares Stattdessen gibt. Ich komme also nicht dazu zu sagen, dass mit dem Insistieren auf das Meer als Nahrungsressource und schützenswertes Ökosystem, auf Ausbeuter und Zerstörer, auf Motorboot, Netz und Schutzgebiet im Kern das Naturgefühl als wichtige innere Navigation der Menschen infrage gestellt, bestritten, letztlich sabotiert wird. Wenn man das Harpunenfischen einseitig als zerstörerisch ausweist und auf komplexe Technologien oder Schutzgebiete drängt, attackiert man die geistige und emotionale Orientierung, eine innere Navigation, die das Leben der Fischer fundiert.25 Ungeachtet von all dem, was ich zu sagen hätte, bin ich in dieser kleinen Szene konfrontiert mit einer Form der Kritik, die überwältigt, nichts anderes zulässt und mir unmissverständlich klarmacht, dass meine Schlussfolgerungen falsch sind. Meine Reaktion in diesem Moment besteht in einer Art Lähmung, Beschämung, dem Gefühl von Unwissenheit und Fehlinterpretation, aber auch in einem gewissen Schuldgefühl, mit einer vielleicht zu idealisierenden These einer überholten, ausbeuterischen und zerstörerischen Praxis zur Legitimation zu verhelfen. Ich lasse mich also überzeugen. Nun kann man diese Reaktion psychodynamisch deuten, es bei einer besonderen Dynamik der Beziehung zwischen dem EU-Delegierten und mir belassen und vielleicht so etwas wie einen fachlichen Disput erkennen, bei dem ich mich mit meinen schwachen Thesen geschlagen gebe. Dies wäre möglich.26 Ebenso möglich ist aber, an dieser Stelle gerade keinen fachlichen Disput zu vermuten, sondern sehr ernst zu nehmen, was mit mir selbst geschieht in einem Gespräch, in dem ich beginne, den Naturbeziehungen der Fischer eine Stimme zu geben und damit ins Kreuzfeuer gerate. In meinem eigenen Erleben liegen dann Hinweise für ein Erleben, das auch für die Fischer sprechen könnte. Die harsche Kritik des EU-Delegierten bringt mich anfänglich noch zum Zweifeln. Ich ringe kurz darum, argumentativ etwas anzubieten. Gleich im nächsten Moment betrachte ich meine Gedanken, die sich über lange Zeit und eine intensive Auseinandersetzung entwickelt haben, als absurd. Im nächsten
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In der Perspektive des Meeres als dem Zuhause wäre die schlichte Ausweisung eines Schutzgebietes mit Fangverboten und Patrouillen eine territoriale wie auch symbolische Vereinnahmung, d.h. eine Art Kolonialisierung. Man kann auch unterstellen, dass ich aufgrund meiner eigenen naturalistischen Disposition empfänglicher bin, mich überzeugen zu lassen. Dagegen spricht jedoch, dass ich eine solche Empfänglichkeit in allen Begegnungen vorab angenommen und entsprechend reflektiert habe.
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Moment werde ich sprachlos und verliere die Position. Im nächsten Moment bin ich leer und ohne Position und beginne, mich überzeugen zu lassen. Ich verlasse das Gespräch überzeugt davon, dass mein Denken, mein Blick auf die Sache falsch sind. Ich bin überzeugt, dass sich diese Position nicht verantworten lässt, weil diese die Zerstörung fördert. Ich bin überzeugt, es anders machen oder neu sehen zu müssen, ohne zu wissen, wie. Ich verlasse das Gespräch ratlos, innerlich stumm und dumpf, dafür aber mit der Gewissheit, nicht richtig zu liegen. All dies sind Anzeichen für Gegenläufigkeit, die sich aufbaut, indem ich mich deutlich positioniert im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zu erkennen gebe. Kurzum, ich habe versucht, das ausgeprägte Naturgefühl der Fischer zur Sprache zu bringen, was in animistischen Naturvermittlungen erzeugt wird und sämtlichen Praktiken vorhergeht. Dieses Naturgefühl war nicht verhandelbar; es ist dem Gespräch und somit auch meiner Wahrnehmung und meinem Erleben genommen worden.27 Es wurde durch die naturalistisch grundierte Sprechweise über natürliche Ressourcen, Ökosysteme, Ausbeuter und Zerstörer überlagert, wenn nicht sogar verletzt. Erinnert sei daran, dass im Naturalismus ein Zugang liegt, der eher kognitiv als affektiv funktioniert (Gebhard 2013:50, Gebhard 2013:61). An die Stelle des Naturgefühls ist nun eine neue Gewissheit getreten, nämlich zerstörerisch zu sein, gekoppelt mit einem diffusen Gefühlsgemisch aus Leere, Scham und Schuld. Sind Naturempfinden, -erleben und -gespür und all das, was daraus resultiert, nicht mehr artikulierbar und verhandelbar, ist auch das vorhergehende Naturgefühl nicht mehr wahrnehmbar und verfügbar. Es darf nicht sein. In diesem affektiven Gemisch entfaltet sich die Wirkung eines Tabus, wird die tabuisierende Tendenz einer Perspektive der Zerstörung natürlicher Ressourcen erkennbar, genau genommen: spürbar.28
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An diesem Punkt entsteht dann der sogenannte »Nicht-Ort« des Tabus, dort wo etwas als Tabuisiertes den Ort verlässt und eine andere Überzeugung andockt (Kröger & Herford 2002:o.S.). Gebhard geht davon aus, dass das Naturgefühl überlagert, verdeckt oder verdrängt wird, aber nicht verloren geht (Gebhard 2013:61). Wenn von einem verletzten Naturgefühl die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass man dieses nicht mehr wahrnehmen kann. Die Verletzung besteht darin, dass das Gefühl und das damit verbundene Empfinden und Erleben, Denken und Tun nicht mehr zugänglich sind. Der verwehrte Zugang zu oder die Verdrängung eines Gefühls wäre dann auch die Voraussetzung für die im Naturalismus angelegten Entfremdungsphänomene.
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Interpretation Der Schluss, der nunmehr durch meine eigenen Erfahrungen naheliegt, ist, dass all dies nicht nur für mich und meine Reaktionsbildung spricht, sondern in gewisser Weise auch für die Menschen – die Fischer in Taino – zutreffen könnte, wenn diese diskursiv oder direkt in den Interventionen mit dem Narrativ von Ausbeutung und Zerstörung konfrontiert sind. Anzunehmen ist, dass sie in ihrem Naturgefühl angegriffen und verletzt werden, nämlich dann, wenn die Begegnungen weder Worte, Sprache und Artikulationsformen des Anspruchs und der Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« zulassen. Anzunehmen ist, dass auch sie ein diffuses Gefühlsgemisch von Leere, Scham oder Schuld bemerken, dass sie innerlich stumm oder dumpf werden und beginnen, das Naturgefühl zu verdrängen und hierüber ihre innere Orientierung, das Naturempfinden, -erleben und -gespür zu verlieren.29 Was sich in diesen Vorgängen vermittelt, ist ein subtiler Druck innerlich zu kapitulieren. Man hat in diesen Situationen und Begegnungen nichts mehr anzubieten. Diese kleine Szene mit dem EU-Delegierten lässt also erahnen, was geschehen kann, wenn Menschen in naturnahen Subsistenzkulturen mit Interventionsmaßnahmen konfrontiert sind, die versuchen das »Drama mit der Natur« als »ökologisches Drama« anzugehen. Im gesprochenen Wort und den Taktiken der Intervention werden zwar vordergründig die verfehlten Praktiken adressiert: das Überfischen der ufernahen Gebiete durch überholte Techniken; das tiefe Graben der Böden in erosionsanfälligen Hanglagen; Nutztiere, die unkontrolliert weiden und die Böden ungünstig verdichten; der Kahlschlag an jungen Bäumen und zudem mit einfacher Axt und Säge, der eine natürliche Verjüngung der Vegetation nicht mehr zulässt usw., also all das, was der ökologischen Pflege offenbar zuwiderläuft. Im Hintergrund dieser Verhandlungen wird damit aber die Frage berührt, ob und inwieweit das eigene Naturgefühl richtig und stimmig ist, d.h. die innere Navigation des Handelns, die in der Subsistenz die Lebensorientierung schlechthin bedeutet. Eine solche These lässt sich aber erst dann vermuten, wenn man in der Einfachheit
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Auch wenn das Zerstörungsnarrativ zum Einfallstor für Entfremdungen wird, kann in den Fällen nicht von einer generellen Entfremdung gesprochen werden. Entfremdung als affektiver oder Resonanzverlust setzt sich deshalb nicht durch, weil es weitere mächtige Narrative gibt, die wiederum gezielt das Naturgefühl berühren und somit der Wirkmächtigkeit des Zerstörungsnarrativs zuwiderlaufen. Diese Zugriffe werden in den Abschnitten 3.3 bis 3.5 erläutert.
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
weniger nur einen Zugriff auf natürliche Ressourcen (als Resultat von Naturvermittlungen über Ähnlichkeiten in der Physikalität), sondern vielmehr eine praktische Ausdrucksform des Anspruchs auf eine »Natur der Fülle« (in erster Linie grundiert in Naturvermittlungen über Ähnlichkeiten in der Interiorität) erkennt und anerkennt. Eine für den »kleinen Fischer«, den »kleinen Bauern«, den »kleinen Holzfäller« subtil erfahrbare Botschaft, die in der Szene mit dem EU-Delegierten anklingt, könnte somit lauten: »Gib auf, was du tust, weil du in dem wie du fühlst, was du bist, kannst und lebst, nicht richtig und zerstörerisch bist!« Die Frage ist nun, weshalb eine solche Botschaft das Naturgefühl tatsächlich angreifen und beschädigen kann. Das Narrativ der Zerstörung der Natur findet sein Einfallstor erstens darin, weil dessen naturalistische Grundierung anschlussfähig ist, es sich im Untersuchungsgebiet um eine Koexistenz naturalistischer und animistischer Ontologien handelt und überdies die Tendenz zur Integration besteht. Zweitens findet die Zerstörungslogik einen Nährboden darin, dass mit den erdnaturbezogenen Dingen ja tatsächlich etwas nicht stimmt, die Lage schwierig, existentiell herausfordernd und spürbar unsicher ist. Es sind die Tatsachen, die mit der Zerstörungsperspektive offengelegt werden, die diese aber zugleich auch so gefährlich machen. Es kann nicht geleugnet werden, dass es Überfischung, Bodenerosion, Abholzung usw. gibt und ebenso wenig, dass dies mit den einfachsten Techniken gelingt. Die Natur als Ressource ist und wird massiv beeinträchtigt. Beeinträchtigt ist dann auch die bewährte Weise, mit den Dingen tragende Beziehungen aufzunehmen und zu gestalten. Es handelt sich um einen schleichenden Verlust, der wie ein Hintergrundrauschen einmal mehr und einmal weniger zu vernehmen ist. Ich habe in Taino keinen unter den älteren Fischern getroffen, die nicht bemerken, dass es weniger Fisch und Meerestiere gibt. Sie berichten davon, dass sie für einen angemessenen Fang lange Zeiten im Meer verbringen, dass es an manchen Tagen sehr schwierig ist, etwas zu fischen, dass bestimmte Arten seltener sind usw. Auch die Farmer in Masia spüren den Verfall ihrer Böden sehr deutlich und auch sie reden darüber. Auch die Holzfäller in Bohoc merken, wenn es kaum noch Bäume zum Fällen gibt und die Überschwemmungen im Dorf und den Gärten immer katastrophaler werden. Gesellt sich zu diesem Hintergrundrauschen eines schleichenden Verlusts von Ressourcen und tragenden Beziehungen eine deutliche Schuldzuschreibung, d.h. dafür verantwortlich zu sein, weil man die Dinge ausbeutet, missachtet und nicht in der Lage ist, diese zu pflegen, dann ist dies weniger verwirrend, son-
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dern vielmehr bestätigend. Dies deshalb, weil es mir als Fischer, Farmer oder Holzfäller nun ganz offensichtlich nicht mehr entgeht, dass es mir nicht gelingt, die Natur und damit das Zuhause zu pflegen, indem ich z.B. die Überfülle begrenze, bewusst maßhalte, keinen Fisch oder kein Gemüse zu viel in der Box dulde, mich langsam und mit viel Zeit den Dingen zuwende, ausdauernde körperliche Arbeit für ein paar wenige Fische, für ein wenig Holz, für ein paar wenige Erdnüsse aufbringe oder ausnahmslos alles verwerte, sodass nichts mehr übrigbleibt. Die Wahrnehmung eines schleichenden Verlusts gepaart mit einer Deutung von Ausbeutung und Zerstörung der Dinge, für die das eigene Denken und Tun verantwortlich ist, lassen also erwarten, dass sich dazu stimmige Selbstgewissheiten entwickeln. Dazu ein abschließendes Beispiel: In Taino führe ich ein langes Gespräch mit Jean Luc, einem jungen Fischer. Wir reden über seine Lebensgeschichte, die sich wie bei den meisten um die Tätigkeiten des Fischens aufspannt. Jean Luc berichtet mir von einem Ereignis, das ihn bis heute begleitet und das wie eine Zäsur in seiner Geschichte erscheint. Er betont, dass es ihm ein Anliegen ist, mir davon zu erzählen. Vor einigen Jahren hat Jean Luc eine Meeresschildkröte gefangen und kurz darauf am Strand getötet. Es war das einzige Mal. Er würde an sich keine Meeresschildkröten jagen, dies wäre nicht sein Gebiet und auch unter den Fischern in Taino unüblich.30 In diesem Fall war es aber anders, mit dem Tier stimmte etwas nicht. Er erzählt, wie er das Tier zum Strand brachte und dort tötete und dass ihm in jenem Moment eine »weiße Frau« entgegenlief und vor lauter Entsetzen anbrüllte, dass man keine Meeresschildkröte fangen und schon gar nicht töten dürfte, dass diese Tiere ge-
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Die Fischer in Taino fischen und verspeisen keine Meeresschildkröten. Im Interventionsdiskurs wird allerdings betont, dass Meeresschildkröten seit Jahrzehnten massiv gefischt werden und die Bestände dramatisch zurückgehen. Die Eier und das Fleisch dienen als Nahrungsquelle. Zudem ließen sich mit Meeresschildkröten Einkünfte generieren. Aus entsprechenden Recherchen ist mir ein Markt in Port-au-Prince bekannt (»Marché Hyppolite«), wo Meeresschildkröten verkauft werden. Hinzu kommen Berichte, dass die Tiere zum Verkauf an Mitarbeiter eines japanischen Mobilfunkanbieters gefischt werden bzw. anderweitig in Expatriate-Kreisen abgesetzt werden. Dass die Tiere verspeist werden, wurde mir in keinem Fall bestätigt. Es dürfte sich dazu um regionale Besonderheiten handeln; zur Situation und interventionspraktischen Handhabe der Meeresschildkröten in Haiti vgl. https://seaturtlespacecoa st.org/an-update-on-haiti-ocean-project/, http://www.haitioceanproject.org/index.php /programs/sea-turtle-conservation, https://www.umb.edu/editor_uploads/images/urba n_harbors_uploads/Haiti_Project_Summary_Final.pdf.
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schützt sind und dass das, was er da tut, ein schweres Vergehen ist. Bei der Frau handelte es sich um die Mitarbeiterin einer NGO in Grand-Goâve ganz in der Nähe. Der Fischer sagt, dass er seit diesem Vorfall nie wieder eine Meeresschildkröte angefasst habe und nunmehr sogar die Nähe zu diesen Tieren meidet. Es bereite ihm seitdem ein Unbehagen. Ich frage zunächst nach, ob ihn dieses Unbehagen nun auch beim Fischen begleitet. Er meint, seit diesem Vorfall wäre es anders geworden. Er fischt wie gewohnt, aber er würde jetzt darauf hören, was ihm die Leute (der NGO) sagen. Das Ereignis mit der Frau beschäftigt ihn bis heute und ich bekomme den Eindruck, dass er mir den Vorfall schildert, um etwas nachzuverhandeln, vielleicht auch zu korrigieren. Schließlich ist die Szene mit mir als Intervenierenden eine ähnliche. Jean Luc hat sich im Entsetzen der Frau erstmals als Zerstörer erfahren und diese Überzeugung in sich aufgenommen. Dass dies so ist, zeigt sich daran, dass er betont, nun stärker auf die Leute zu hören, womit er weniger die Fischer als diejenigen in den Organisationen meint. Was seine Beziehungen zu den Meeresschildkröten betrifft, hat er kapituliert. Sein Tun, eine Meeresschildkröte zu fangen und zu töten, wurde gesehen und fundamental kritisiert. Was bleibt, ist ein Unbehagen, das auch dann hin und wieder greift, wenn er einfach wie gewohnt fischt. Die Szene mit der »weißen Frau«, von der er berichtet, zeigt, dass es hier nicht möglich war, sich »zivilisiert« zu begegnen. Es gab keinen Raum nachzufragen, was es mit der Meeresschildkröte auf sich hat, wie es zu dem Fang kam und weshalb er das Tier getötet hat. Er wurde nicht gefragt, wer er ist, was er macht usw. Es gab also keine Bemühung, die Meeresschildkröte in irgendeiner Weise zu kontextualisieren und hierüber einer Verhandlung zugänglich zu machen. Dies ist das eine. Auf der anderen Seite wäre ein solches Bemühen auch schwierig gewesen. Ich frage Jean Luc, was ihn zu dieser Tat veranlasst hat. Er konnte es mir nicht erklären, es gab keine Worte dafür. Es liegt für mich nahe, ähnlich der »weißen Frau« schlichtweg nur Willkür zu vermuten, einen Jagdimpuls, einen Akt der Zerstörung, vielleicht doch eine Chance ein paar Gourdes zu verdienen oder welche Gründe es auch noch geben mag. Wohlwissend, dass sich Naturbeziehungsweisen aber über eine besondere innere Navigation aufbauen, dass hier Vermittlungen greifen, die mir mitunter fremd sind und über die sich mit einer »Fremden« auch nicht sprechen lässt31 , mache ich einen Unterschied und frage nach: »Ich gehe davon aus, dass es für dich einen 31
Das Schweigen, nicht sprechen zu können, ist ein Hinweis für das Tabu, das ich als Intervenierende zunächst repräsentiere, von der eine Zerstörer-/Ausbeuterperspektive
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guten Grund gab, die Schildkröte zu fangen und zu töten. Würdest du sagen, dass es aus deiner Sicht richtig war, dies zu tun?«32 Er antwortet mit einem deutlichen »Wi« (»Ja«) und hatte Tränen in den Augen. Sicherlich ist eine Interpretation entlang dieser Aussage vage und muss offengehalten werden. Vielleicht gab es eine besondere Situation unter Wasser, vielleicht war das Tier versehrt, vielleicht hatte es auch irgendetwas mit der Geisterwelt zu tun. Vielleicht war es aber doch einfach nur Willkür oder die Chance auf ein paar Gourdes. Es bleibt offen. Deutlich wird aber, dass es an dieser Szene etwas gibt, was der Worte bedarf, was geklärt werden will, was möglicherweise übersehen wurde und die Tötung einer Meeresschildkröte plausibel, wenn auch im ökologischen Sinne nicht richtig macht. Warum sonst drängt ein Fischer nach Jahren darauf, dieses Ereignis zu thematisieren? Was sich in dieser Szene zeigt, ist ein kategorisches Nein, vorgetragen aus einer richtigen Perspektive: Meeresschildkröten sind schützenswert und dürfen nicht mutwillig geschlachtet werden. Diese richtige Perspektive trifft aber auf eine Perspektive, die ebenso richtig ist, d.h. sie trifft auf die Kenntnisse und Erfahrungen eines Fischers in Taino, der in einer komplexen Beziehungswelt des Meeres zuhause ist. Durchaus anzunehmen ist, dass dieser Tat ein Grund vorhergeht, der einer »Fremden« (der Anderen, der »Weißen«) rational erst einmal nicht zugänglich ist, vielleicht auch ein Grund, um dem Tier gerechter zu werden. Dies müsste man unterstellen, solange die Fakten nicht klar auf dem Tisch liegen. Stattdessen bricht das Gebrüll eines kategorischen Neins in diese komplexe Beziehungs- und Erfahrungswelt des Fischers ein, hinterlässt seine Spuren und führt nun zu einem latenten Unbehagen. Es ist dieses kategorische Nein, das in die Idee vom Zerstörer und Ausbeuter eingelassen ist, was auch in diesem Fall das Naturgefühl verletzt, den Selbstzweifel nährt und hierüber tabuisiert. Jean Luc hört nun genau hin, was die anderen sagen, um es nicht wieder falsch zu machen und zum mutwilligen Zerstörer zu werden. Jean Luc ist unsicherer geworden, das betont er auch. Der Vorfall markierte dafür den Anfang, es kommen später noch weitere hinzu. Meines Erachtens kann man
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zu erwarten ist. Dass das Ereignis zum Thema wurde, zeigt, dass man versucht, auf das Tabu aufmerksam zu machen, ohne es jedoch zu berühren. Originalzitat kreolisch: »Mwen panse ou te gen yon bon rezon ki fè w te kenbe epi touye tòti a. Selon ou menm, èske sa te kòrek?«
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
an dieser Stelle durchaus rhetorisch fragen, was nun auf lange Sicht im ökologischen Sinne problematischer ist: der Tod einer Meeresschildkröte oder ein Fischer, der an sich zweifelt und nicht mehr erspüren und fühlen kann, was er eigentlich spüren und fühlen müsste, wenn er jeden Tag fischt? Womit der Diskurs über die ökologischen Krisen, über Ausbeutung und Zerstörung und die dazugehörigen Taktiken in der Intervention implizit operieren, ist eine Kapitulationserwartung, wobei aber unbestimmt bleibt, was nach der Verunsicherung und dem Aufgeben kommen könnte. Was die Meeresschildkröten betrifft, hat der Fischer kapituliert. Was das Fischen generell betrifft, kann er nicht aufgeben. Er gehört zu denen, die nun genau hinhören, was die anderen Leute sagen, weil er in einer einzigen Szene gelernt und verinnerlicht hat, dass mit ihm, seinem Naturgefühl, seinem Denken und Tun etwas nicht stimmt, dass dies zerstörerisch ist. Wenn er sagt, er höre genau hin, dann heißt dies, dass er nach einer Orientierung sucht, die ihm ein fühlbar behagliches und richtiges Fischen erlaubt. Er sucht Antworten, um eine Lücke zu schließen. Aufgeben kann er genauso wenig wie all die anderen. In den Alltagsrealitäten der Fischer, Farmer oder Holzfäller ist das Kapitulieren undenkbar, weil es für sie keine Alternative gibt. Um also satt zu werden, fischt und ackert man weiter und holzt wie gewohnt ab, dies aber nunmehr auch identifiziert als Ausbeuter oder Zerstörer, d.h. unsicher und ambivalent. Im Meer, in den Gärten und auf den Feldern findet man somit Menschen, die an sich eine Einfachheit im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« praktizieren, dies aber ebenso tun in der Überzeugung zu zerstören und dazu nicht einmal die Chance haben, zu kapitulieren. Es liegt auf der Hand, hierin Ambivalenzen zu vermuten, die sich im Umgang mit den erdnaturbezogenen Dingen ihrerseits zerstörerisch auswirken können. »Gib auf, was du tust, weil du, in dem wie du fühlst, was du bist, kannst und lebst, zerstörst!« Dies ist die implizite Aufforderung in den naturalistischnaturwissenschaftlich grundierten Interventionen. Hierin liegt eine paradoxe Form von Tabuisierung des Anspruchs und der Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« und ein erster Grund, weshalb das Sattwerden so bedrohlich und gefährlich ist.
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»Sei ein Opfer der Armut, dass man dir hilft!« – Aufrufe zur Zerstörung
Der diskursive und interventionspraktische Zugriff auf Menschen als Ausbeuter und Zerstörer der natürlichen Ressourcen wird von einem weiteren Zugriff begleitet, bei dem Menschen einseitig als Opfer der Armut ausgewiesen und auch behandelt werden. Die Opferposition ist das Pendant zur Täterposition. Auch hier handelt es sich um eine wirkmächtige Deutung, die dem Gelingen im Anspruch und in den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« zuwider- und gegenläuft. Im Folgenden wird gefragt, wie und vor allem in welchen Kontexten sich diese Opferpositionen zur Geltung bringen, wie diese eingefordert und durchgesetzt werden, wozu sie nützen und welche Wirkungen damit zu erwarten sind. Herausgearbeitet wird die Tendenz zur Tabuisierung einer »Natur der Fülle« vorzugsweise im Rahmen von Interventionen zur Armutsbekämpfung, insofern diese mit Opferzuschreibungen operieren. Grundlage der Argumentation bilden auch hier zunächst die eigenen Erfahrungen aus den experimentellen Versuchen, vom Standpunkt eines möglichen Gelingens zu beobachten und ins Gespräch zu finden. Beobachtungen zur Armut In Taino verbringe ich viel Zeit mit den Fischern und den Leuten. Es ist eine besondere und im Nachhinein einmalige Situation. Die Umstände sorgen dafür, dass ich mehrere Wochen am Stück in der Siedlung bin. Es gibt kein Benzin mehr im Land. Ich bin also gezwungen, der Umstände auszuharren und zu bleiben. Ich merke, dass mich die Leute annehmen. Ich bin kein vorübergehender Gast mehr und auch keine Fremde, bei der man Hilfe sucht, die Hilfe anbietet oder zu intervenieren versucht. Ich bin nun inmitten der Alltäglichkeit der Gemeinde und von Anrufungen und Aufgaben befreit.33 Die Leute sind aufmerksam, bemüht und oft auch besorgt um mich. Bereits am frühen Morgen erwartet mich die Köchin an ihrer Station, um mein Essen für den Tag zu planen. Bei ihr treffe ich die Fischer, ich halte Smalltalk, manchmal helfe ich bei Kleinigkeiten. Ich verbringe viel Zeit mit den Kindern. Hin und wieder findet es sich und ich sammle »lambi« zum Kochen oder schwimme mit einem der Fischer mit. Ich rede viel mit den Fischern. Sie tun dies gern und frei, wenn man Interesse zeigt und nichts erwartet. Es heißt, die Fischer 33
Es etablieren sich Grundzüge eines Settings für Ethnographie und hierin insbesondere einer teilnehmenden Beobachtung (Breidenstein et al. 2020:83-93, Merkens 2007).
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gehören wie die Farmer in den Bergen oder die Holzfäller zu den Ärmsten unter den Armen. Sie bilden den gesellschaftlichen Kern, gelten jedoch als ausgeschlossen, marginalisiert und als die großen Opfer unter all den Missständen.34 In meiner Zeit in der Fischergemeinde Taino, in der Alltäglichkeit des Tuns spüre ich wenig von einer Opferhaltung.35 Sich als Opfer der Armut zu empfinden, passt augenscheinlich nicht ins Selbstverständnis dieser Menschen.36 Auch in den Farmergemeinden Bohoc und Monben mache ich ähnliche Beobachtungen. Sicherlich erkenne ich, wie wirklich die Armut ist. Ich sehe die Probleme, den existentiellen Druck, die materiellen Begrenzungen 34
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Hierbei handelt es sich um eine gängige Deutung in den alltäglichen und professionellen Diskursen. Diese Deutung wird ebenso transportiert im wissenschaftlichen Diskurs über Haitis rurale Krise, und zwar dann, wenn die ökologische Devastierung im Begriff von Verwundbarkeit durch Armut thematisiert, wenn die Überausbeutung der natürlichen Ressourcen mit einer existentiellen Notwendigkeit begründet wird und umgekehrt die ökologischen Probleme eine entsprechende Krise der Land-, Fisch- und Forstwirtschaft verursachen; zur Armut und Haitis ruraler Krise vgl. Échevin (2014), Lundahl (1979/2015), Lundahl (2013:31-37), McClintock (2004), McClintock (2003), Steckley (2015:65-69), Steckley & Weis (2017). Die Figur des verarmten Bauern, Fischers oder Holzfällers ist darüber hinaus eine Deutung, die generell durch modernisierungstheoretisch geführte Ländlichkeitsdiskurse forciert wird, bei denen Subsistenzkulturen oder rurale Lebensstile als traditionelle und mitunter rückständige Lebensformen ausgewiesen werden. Das Ländliche gilt dann als die Peripherie einer an sich modernen Lebenswelt. Diese Deutungen sind ebenso prominent in modernisierungstheoretisch grundierten Entwicklungsansätzen, die m.E. auch die gegenwärtigen Nachhaltigkeitsstrategien/-technologien von Entwicklungshilfe/-politik grundieren, wenn auch implizit; zur modernisierungstheoretischen Grundlegung von Entwicklungsansätzen vgl. Müller-Mahn & Verne (2014). Im Folgenden wird von Opferposition oder Opferhaltung gesprochen. Damit wird weniger diskutiert, ob und inwieweit es Opfer gibt, sondern die Funktionalität der Opferposition für die Organisation von Beziehungen und Kommunikation betont. Opferzuschreibungen, d.h. als Opfer beschrieben zu werden oder sich selbst als Opfer zu beschreiben, werden somit als Mittel zur Erzeugung eines Tabus betrachtet. Mit Opferzuschreibungen wird dann operiert, wenn Menschen vorzugsweise als von Anderen oder Anderem verletzt oder beschädigt gelten; zur Entwicklung von Opferzuschreibungen in der Moderne vgl. Goltermann (2017), Goltermann (2018). Wenn Menschen sich als arm beschreiben, heißt dies nicht zwangsläufig, dass sie sich auch als Opfer empfinden. In den beobachteten alltäglichen sozialen Situationen wurde weder auf eine Selbstzuschreibung als arm noch als Opfer rekurriert. Im Folgenden geht es um beides, sich nicht als arm und entsprechend auch nicht als Opfer zu empfinden.
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wie das Boot, das langsam zerbricht, die Badelatschen verkehrt herum an die Füße gebunden, sodass diese als Taucherflossen dienen, weil für das bisschen an Ausrüstung oft kein Geld da ist. Ich sehe die Kleidung, die fast keine mehr ist. Ich sehe die Knappheit an Nahrung an der Art, wie die Teller bestückt werden, der große Berg Reis oder Mais zum Sattwerden, etwas Bohnensauce oder gekochtes Gemüse und alle paar Tage vielleicht ein bis zwei kleine Stücken Fisch oder Fleisch. Ich sehe die Not, wenn man sehr krank wird und es keine medizinische Versorgung gibt, die fehlenden Zähne, meist bei den Frauen, sowie die von der Arbeit ausgemergelten Gesichter und Körper. Die Liste an Hinweisen, um die Not zu lesen, ließe sich über Seiten fortführen. Armut, das Leben am Existenzminimum, ein Bestehen von einem Tag zum anderem, dies ist real. Daran gibt es keinen Zweifel. Auffällig ist aber, dass die Menschen zwar in dieser existentiellen Not leben, sich aber in diesen Zuständen weniger als Arme und somit auch nicht als Opfer begreifen. Im Selbstverständnis dieser »Armen« findet man eine solche Haltung also kaum. Zum Opfer und in ihren Augen tatsächlich arm wird man nur dann, wenn man nichts mehr hat und auch nichts mehr kann, es echte Grenzen gibt, um sich an den Subsistenz- und Tauschökonomien zu beteiligen. Ich verstehe dies erst, als mir eine blinde Frau am Strand ein paar Erdnüsse verkaufen möchte. Sie fällt mir zunächst gar nicht auf unter den vielen, die mir hier täglich Früchte, Fisch oder ein Getränk anbieten. Ich kaufe nie, weil ich in Sorge bin, dass es kein Ende nimmt. Auch diesmal kaufe ich nichts und ernte dafür den Unmut des Fischerjungen Joanie. Er sagt sehr gekränkt: »Ihr musst du was geben. Sie ist eine Arme!«.37 Ich beobachte die Szene weiter. Jeder gibt dieser Frau, was er ihr geben kann. Ein Mann nimmt sie am Arm und hilft ihr bei ihrem Weg. Sie bekommt Früchte, ein warmes Essen, etwas Geld, ein Lächeln und nette Worte dazu. Jeder hat etwas übrig in diesem Fall, außer mir. Aus meiner Sicht zeugt dies von einem sogenannten feinen Unterschied, d.h. einer alltäglich bedeutsamen sozialen Differenzierung und dazu von einer solidarischen Struktur, d.h. einer gemeinschaftlichen Fürsorge und existentiellen Absicherung der Armen, genauer: der Opfer unter den »Armen«. Geachtet werden hierzu die Grundbedürfnisse, wie z.B. das Essen. Die Pflicht, die daraus entsteht, ist immer etwas zurückzuhalten, das man bei Bedarf geben kann. Die Frau an der Kochstation für die Fischer hat immer
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Originalzitat kreolisch: »Ou dwe ba li yon bagay. Li se yon, pòv!«
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einen Teil für die Armen einkalkuliert. Besitze ich zwei Paar Schuhe, gehört ein Paar davon im Zweifel nicht mir. So lautet die unausgesprochene Regel. Dieses fürsorgliche Netz entwickelt sich nicht nur, weil es in gewisser Hinsicht jeden treffen kann, tatsächlich zu verarmen. Wird man z.B. krank, verliert die Körperkraft, bricht mitunter die gesamte Subsistenz zusammen. Eine Art gemeinschaftliche Fürsorge kann sich auch deshalb entwickeln, weil die Einfachheit der Praktiken im Umgang mit den Dingen wenig Konkurrenz zulässt. Wenn handwerkliches Können und die leistungsfähigen Körper die Grundlagen bilden, ist eine ausgeglichenere Verteilung an Arbeit, Gütern und Produkten in den Gemeinden wahrscheinlicher. Man kann diesen Gedanken auch noch weiterführen und in der solidarischen Struktur ein Resultat aus der Vergemeinschaftung mit den Dingen sehen, der in einer Fischer- oder Farmergemeinde alle unweigerlich angehören. Das Bemühen um eine »Sorge um sich« und die Dinge impliziert dann auch ein Bemühen um die soziale Gemeinschaft. Was sich beobachten lässt, ist, dass sich die Armut in den Gemeinden mit gemeinschaftlicher Fürsorge, Kultur, Lebensstil und darin mit Selbstgewissheit verbindet und dass hierin auch etwas anderes liegt als ausschließlich Resilienz, Coping und Überlebensstrategie.38 Dies betont auch Abner, Kultursoziologe und Umweltpolitiker auf Landesebene. Er äußert: »Ich habe immer etwas Widerstand damit, wenn man in allem, was diese Leute tun, bloß einen Überlebensmodus sieht. Es ist vielmehr als das. Es ist ein Lebensstil.«39 Auch Charles, ein Bildungswissenschaftler und -politiker, sieht dies ähnlich, wenn er konstatiert: »Es geht bei den Fischern und Farmern nicht nur um Coping. Was wir hier vor-
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Bereits der Begriff Überlebensstrategie führt eine implizite Opferzuschreibung mit sich. In einer Situation, in der Handlungszwänge dominieren, der man ausgesetzt ist und die man passiv erleidet, zu überleben, betont eine aktive Gestaltung dieser Situation. In Begriffen von Vulnerabilität und Resilienz liegt eine solche Dialektik eines passiven Opferseins/-werdens und aktiver Gestaltungsfähigkeit im Sinne von Widerstandskraft zugrunde. Widerstandskraft und die Mobilisierung von Überlebensstrategien bezeichnen dann weniger ein passives als ein aktives Opfer. Arbeitet man mit einem Begriff wie Lebensstrategie tritt die Opferzuschreibung in den Hintergrund, was aber nicht bedeutet, dass damit ausgeschlossen wäre, auch zum Opfer werden zu können. Originalzitat kreolisch: »Mwen toujou gen yon ti moso rezistans lè mwen wè chak gwo jefò pou kontinye viv. Li plis pase sa toujou. Se fason yo viv.«
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finden, ist eine historisch gewachsene Kultur der Armut. Darin findet sich Identität.«40 Auch wenn diese Aussagen einen Lebensstil oder eine „Kultur der Armut“ betonen, ist damit in der vorgestellten Perspektive eher ein Lebensstil oder eine Kultur gemeint, die sich um ein Natur- und Selbstverhältnis entwickelt, das im Anspruch und in den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« gründet, wozu in den Dauerkrisen unweigerlich ein Verhältnis zur Armut und hierin eben auch die Möglichkeit gehört, tatsächlich zum Opfer zu werden.41 Dass ich in der Fischergemeinde Taino, aber auch in den Farmergemeinden Bohoc und Monben zwar Armut, aber dazu in der Armut weniger eine Opferhaltung vorfinde, liegt also daran, dass dies nicht ins Selbstverständnis von Menschen passt, die sich um die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« bemühen und hierzu notgedrungen eine lebendige »Kultur der Armut« pflegen. Dass ich selbst offen und sensibel bin für eine solche Beobachtung und Interpretation, ist möglich, weil ich nunmehr erkannt und anerkannt habe, was als deren möglicher eigener Anspruch gelten kann. In einer Position, die im Natur- und Selbstverhältnis einer »Natur der Fülle« »gute Quellen« und Lebensmöglichkeiten erkennt und diese respektiert, repräsentiere 40 41
Originalzitat kreolisch: »Pou agrikiltè ak pechè yo, li pa sèlman yon konba. Lavi nou isit la, istorikman, se yon kilti povrete. Idantite nou nan sa menm.« Ich habe an dieser Stelle bewusst auf Definitionen von Armut verzichtet, um auf die Verwendung der Unterscheidung arm/nicht arm aufmerksam zu machen, wie sie in den beobachteten Situationen ansteht. Es steht außer Frage und wurde an anderer Stelle bereits erwähnt, dass es sich um gravierende Armutsphänomene handelt, die in Kenngrößen wie HDI (»Human Development Index«/Index menschlicher Entwicklung) oder MPI (»Multidimensional Poverty Index«/Index multidimensionaler Armut) verarbeitet werden. Im Feld ebenso beobachtbar ist eine Art Common Sense zur Armut. In Gesprächen, welche die Lebensumstände und hierin das existentielle Bestehen und die Armut umkreisen, war ich oft konfrontiert mit der Aussage, dass in Haiti jeder arm ist. Dabei handelt es sich um eine Grundüberzeugung, die sich aber erst dann vermitteln kann, wenn eine entsprechende Differenz sichtbar wird, so z.B. in den Organisationen zur Intervention wie auch repräsentiert in meiner Person. Gemeint ist eine Differenz zwischen Hier (in Haiti ist man arm) und Dort (in Europa ist man reich). Wird diese Differenz hinfällig oder kann in den Hintergrund treten (wie in einem etablierten Setting teilnehmender Beobachtung), dann werden Differenzierungen von arm/nicht arm in einem Kontext von Armut sichtbar, der als solcher eine Grundtatsache des Lebens bildet. Das Besondere an dieser Differenzierung ist, dass sich diese für ein Selbstverhältnis im Rekurs auf Opferpositionen nicht öffnen lässt. Opferzuschreibungen greifen dann allenfalls in Bezug auf andere (z.B. die Kranken). Die Ausführungen unterminieren also nicht die existentielle Not, sondern enttarnen vielmehr die Unzweckmäßigkeit von Opferpositionen für die alltägliche Lebensgestaltung.
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ich ähnlich wie Abner und Charles eine Haltung, die auf eine einseitige Opferzuschreibung verzichtet. Folglich gibt es vor Ort auch weniger Anlass und Grund, sich in meiner Gegenwart als ein Opfer der Armut zu inszenieren, so wie es oft den gegenseitigen Erwartungen in den Begegnungen zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen entspricht.42 Mein eigener Verzicht, Menschen in prekären Lebensumständen einseitig als Opfer zu deklarieren, legt in den Situationen allerdings nicht nur die Facetten einer lebendigen »Kultur der Armut« frei, wie es sich in Taino, Bohoc oder auch Monben oft zeigt. Eine weitere Beobachtung ist, dass oft erst der Verzicht auf eine Opferzuschreibung eine Opferposition provoziert, diese sogar mit Druck eingefordert wird. Die Menschen bestehen darauf, sowohl als aktive Gestalter als auch als Opfer der Armut auftreten zu dürfen. Zum Anspruch auf eine »Natur der Fülle«, der sich in einer »Kultur der Armut« immerhin noch artikulieren kann, vermittelt sich also etwas Gegenläufiges. Opferpositionen zeigen sich tatsächlich weniger in der Alltäglichkeit des Tuns. Sie treten vielmehr dann auf den Plan, wenn man als Beobachtende beginnt, die Armut und die Missstände – ohne Opferzuschreibungen – zu adressieren, Gespräche zu führen und zu verhandeln, also dann, wenn sich die Begegnungen für Interventionen öffnen. Im gesprochenen Wort, in der gemeinsamen Reflexion auf die gelebten Zustände, werden Opferpositionen nahezu reflexartig an- und aufgerufen. Das, was sich in den eher alltäglichen Beziehungen zwischen mir (in der Rolle einer teilnehmenden Beobachterin) 42
Dieser Schritt, auf einseitige Opferzuschreibungen zu verzichten, ist mir nach und nach gelungen. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass aufgrund meiner persönlichen Disposition in Interventionsbeziehungen eine Tendenz naheliegt, auf Menschen als Opfer der Armut zuzugreifen. Mit einer solchen Disposition, insofern sie nicht reflektiert ist, besteht die Gefahr, dass Helferkollusionen entstehen, die m.E. auch einen Großteil der Interventionsbeziehungen vor Ort kennzeichnen. Bei einer Helferkollusion handelt es sich um ein ungleiches, sich darin aber gegenseitig stabilisierendes Arrangement zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen, das allerdings Entwicklungsmöglichkeiten einschränkt, wenn nicht sogar verhindert, weil es vorzugsweise um den Erhalt der Beziehung in ihrer jeweils selbststabilisierenden Wirkung geht. Der Helfer braucht dann den Hilfsbedürftigen, um sich als Helfer zu erleben, hierüber an Anerkennung zu partizipieren usw. Der Hilfsbedürftige braucht den Helfer, um hilfsbedürftig bleiben zu können, hierüber Schutz zu erfahren, aber auch um Veränderungen zu vermeiden, die an Ungewissheit und Ängste gebunden sind. Das Phänomen der Helferkollusionen ist ein Grundproblem in Beratung, Therapie und in Settings, die eine Figur von Hilfe in ihrer Anlage tragen; vgl. dazu die mittlerweile klassischen Arbeiten von Schmidbauer (2018), Schmidbauer (2017).
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und den Leuten als lebendige »Kultur der Armut« in die Erfahrung bringt, wird just in dem Moment von einer mächtigen Selbstversion als Opfer ausgehebelt, wenn es um die Verhandlung von Problemen, Hilfe und Lösungen geht (und ich hierzu in der Rolle einer Intervenierenden in Erscheinung trete). Das Fallbeispiel Masia, der heftige Widerstand auf die Mango-Strategie als Vorbote zu den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle«, ist dafür exemplarisch. Es zeigt, dass hier eine wirkmächtige Erfahrung und Identifikation als Opfer der Armut greifen muss, etwas, das sich augenscheinlich nicht so einfach aufgeben lässt. Wäre man in dieser prekären Lage nicht in dieser Opferposition gefangen, könnte man das Angebot annehmen, zumindest einer Verhandlung zulassen und einen Ausweg versuchen. In der Widerständigkeit zeigt sich somit, dass mit dieserart Selbstzuschreibung eine tiefere Bedeutsamkeit, Zweckmäßigkeit oder die Wirksamkeit eines Tabus verbunden sein könnte. Ein Gesprächsversuch mit den Fischern in Taino Am Beispiel der Fischer in Taino kann dies verdeutlicht werden. Auch sie fordern die Opferposition mit latentem Druck ein. Dies geschieht als ich darum bitte, ein gemeinsames Gespräch zum Thema der Knappheit an Fisch und Meerestieren zu führen. Mit diesem Gespräch ist ein formelleres Setting verbunden als bei den vielen vorherigen Begegnungen im alltäglichen Miteinander. Es geht darum, gemeinsam ein Problem zu adressieren, wovon die Fischer selbst betroffen sind. Nun gibt es eine erste Verabredung und auch eine zweite, zu der die Fischer aber einfach nicht erscheinen. Mich wundert dies, weil die Beziehungen gut und stabil sind, die Fischer erfahren haben, dass sie in ihrem Denken und Tun gesehen und gewürdigt sind. Dass die Fischer nicht erscheinen, lese ich als sanften Widerstand und ich vermute, dass es irgendetwas gibt, das eine solche Intervention schwierig macht. Ich gehe davon aus, dass ein solches Gespräch in den Augen eines Fischers das wohl heikelste Thema berührt: den Verlust an Fisch und Meerestieren. Dennoch halte ich an meiner Bitte fest und in einem dritten Versuch gelingt es und wir führen das Gespräch. Es sind 15 Leute, die sich versammeln. Das Gespräch startet zügig und ohne Nachfrage beginnen die Fischer mit Klagen und Anklagen darüber, wie beschwerlich und wenig einträglich die Fischerei geworden ist, dass nichts getan wird, die Regierung versagt und dass man sie schließlich alle verhungern ließe. Mir fällt auf, wie flüssig, kohärent und einstimmig vorgetragen wird, dass man Opfer fehlender politischer Re-
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gulierung und staatlicher Fürsorge, Opfer der Ressourcenknappheit, letztlich Opfer der Armut ist, die man selbst nicht verschuldet hat und an der man auch nichts ändern kann. Habe ich am Vormittag noch Fischer getroffen, die im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« die Armut meistern und hierzu einen äußerst lebendigen Alltag gestalten, so sitzen am späten Nachmittag nun Menschen vor mir, die sich allesamt als passive Opfer in diesen Umständen wiederfinden. Es greift somit eine Opferposition. Ich bemerke diesen Unterschied und auch, dass mich dies irritiert. Ich beginne, um Fragen und Argumente zu ringen, stelle fest, dass ich in dieser überwältigenden Problemtrance gefangen bin und mir die eigene Position entgleitet, die ja eigentlich darin besteht, das Problem der Überfischung vom Standpunkt der Fischer und ihrem Verhältnis zur Fülle zu adressieren. Ich verstehe zunächst nicht, weshalb man offensichtlich nicht gewillt ist, über mögliche eigene Ansprüche zu diskutieren.43 Für mich ist diese Problemtrance schwer auszuhalten. Ich schweife in meinen Gedanken ab, bis mein Blick an der Kleidung der Fischer hängen bleibt. Sie sind gut gekleidet, tragen aber fast alle die gleichen Hemden mit dem Logo einer christlich-religiösen Entwicklungsorganisation. Ich bemerke dies und stelle mir die Frage, mit welcher Stimme die Fischer an diesem Nachmittag sprechen und ob es sich dabei um die Stimme handelt, mit der man sich in der Organisation zusammenfindet. Ich greife die Beobachtung vorsichtig auf und frage nach, ob die Fischer bei all den Problemen, die sie vortragen, an irgendeiner Form von Hilfe partizipieren können. Es stellt sich heraus, dass alle der anwesenden Fischer in die Hilfsstruktur dieser NGO eingebunden sind und mit etwas Geld und Ausstattung unterstützt werden. Voraussetzung ist, dass sie sich unter dem Dach der NGO als eine Art Fischer-
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Opferpositionen vermitteln sich oft mit einem entsprechenden Druck, etwas tun und helfen zu müssen. Ist man an dieser Stelle ansprechbar, beginnt man oft vorschnell nach Lösungen zu suchen, Hilfe anzubieten usw. Folgt man diesem Druck nicht, baut sich zunächst eine Problemtrance und eine entsprechende Schwere auf. Deutet man dies im Hinblick auf einen kommunikativen Modus der Tabuisierung, dann ist die Opferposition dafür zweckmäßig, in einen anderen Standpunkt förmlich hineingezogen zu werden. Diese Vereinnahmung einer Sache (z.B. Armut) durch eine Opferzuschreibung erschwert oder zerstört die Kommunikation über Lebensmöglichkeiten, aktive Veränderungen usw. So werden Aspekte einer »Natur der Fülle« oder einer »Kultur der Armut« nicht mehr verhandelbar. Sie werden vermieden, ausgeschlossen, sprichwörtlich aufgelöst. In der Opferposition liegt also ein probates und mächtiges Mittel, ein Vermeidungsgebot durchzusetzen, allen voran in der Intervention.
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verbund organisieren und dass sie Mitglied der dazugehörigen kirchlichen Gemeinde sind.44 Mir wird schlagartig bewusst, dass die Fischer in dieser NGO-forcierten Gemeinschaft vor mir sitzen und somit mit einer anderen Stimme sprechen als am besagten Vormittag. Mir wird ebenso bewusst, woher der anfängliche Widerstand rührt, ein Gespräch zu führen, ein Widerstand, der sich in dieser Situation noch deutlicher konturiert. Kurzum, ein Gespräch oder eine Intervention anzuleiten, die sich auf ein mögliches Gelingen in einer »Natur der Fülle« versteht und verpflichtet, ist für die Fischer nicht zulässig, weil diese anderweitig, nämlich in den christlichen Organisationen als Opfer der Armut gebunden und missioniert werden. In der Art und Weise, wie sich diese Assoziation formiert, findet sich Gegenläufigkeit. Interpretation Die Art und Weise, wie die Fischer ihre Stimme finden, wie sie sich in ihren Klagen und Anklagen selbst erzählen, liefert einen Hinweis darauf, wie man unter dem Dach der christlichen Organisation zusammenfindet. Man findet zusammen, indem man die Überzeugung teilt, ein Opfer der Missstände zu sein. Eine erste Frage an dieser Stelle ist, wie es gelingt und was es den Leuten nützt, sich als Opfer der Armut zu identifizieren. Daraus lässt sich ableiten, wieso es widerständig und oft gar nicht möglich ist, dass sich Gespräche und
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Wenn es sich um eine christliche Organisation handelt, geht es in erster Linie um die Herstellung einer Zugehörigkeit zur kirchlichen Gemeinde und um Missionierung. Die Festigung im Gottesglauben steht dabei im Vordergrund. Das Missionierungsziel organisiert dann auch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen sozialen und ökologischen Problemen und umgekehrt werden mit diesen Problemen Missionierungsstrategien verknüpft. Um auf die Missionierungs- und Interventionstätigkeiten der christlichen Gemeinden in der Region Grand-Goâve zu verweisen, sei exemplarisch der Fall von »Haiti Arise« erwähnt. Kirche und eine Art Allround-Entwicklungsorganisation bilden einen Missionierungs-/Interventionscluster. Die Mission von »Haiti Arise« lautet: »Our determination is to raise Godly leaders in Haiti through education to strengthen their families, neighbours and country. Bring relief to poverty, stimulate the economy and to preach the good news so that lives will be saved and hope for a strong future will be given to Haiti. […] We believe that prayer is our most fundamental element of ministry, showing our dependence on the Lord. As a faith-based mission, we sustain every ministry in continuous personal and corporate prayer. […] We strive to develop Christian character and uphold a Christ-like manner in all that we do, living and working above reproach. […] We continually strive to see beyond where we are and pursue opportunities to expand our influence as a ministry and do all that God has called us to do« (https://www.haitiarise.org/).
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Interventionen für ein Gelingen öffnen, das mögliche eigene und aktive Ansprüche auf die Natur und das Leben berührt. Von der Teilhabe an und dem Bestehen der Fischerassoziation in der christlichen Organisation hängt ab, Hilfe und Zuwendungen zu erhalten, die in der Armut auch benötigt werden. Außerhalb dieser NGO gibt es für die Fischer vor Ort keinen anderen Zugang zu Hilfe.45 Dass man jedoch als Opfer ansprechbar wird, ist nicht nur ein Hinweis auf eine Form von Kollektivierung, die das Opfersein als implizites und explizites Kriterium mitführt, sondern ebenso ein Zeichen von Abhängigkeit. Die Fischer müssen als Opfer in Erscheinung treten und tatsächlich werden sie es auch, weil sie abhängig sind von der materiellen Unterstützung durch die Organisation, um ihren Alltag halbwegs zu regeln.46 Abhängigkeit zeigt sich nicht allein darin, dass man als Opfer der Armut ansprechbar wird, um materielle Zuwendungen und Hilfe zu erfahren. Diese Abhängigkeit greift mit Blick auf das vorfindliche Naturverhältnis tiefer. In den Organisationen als Opfer ansprechbar zu werden, ist in allererster Linie mit dem Zuspruch und der Erlaubnis verbunden, weiter fischen zu dürfen! Ist man ein Opfer in den Missständen, wie z.B. der Ressourcenknappheit, ist
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In der Region Grand-Goâve existiert ein Netz christlicher NGOs zur Armutsbekämpfung, womit zugleich auch die ökologischen Fragen, insbesondere die Überfischung adressiert werden. Dazu finden sich auch zahlreiche nicht-christliche NGOs oder entwicklungspolitische Initiativen. Es ist davon auszugehen, dass der Großteil der Fischer in irgendeiner dieser Organisationen gebunden ist. Eine weitere prominente christliche Organisation mit Schwerpunkt Armut und Überfischung vor Ort ist »Food for the Poor« (https://www.foodforthepoor.org/our-work/where-we-serve/haiti/). Diese Opferzuschreibung wird implizit formuliert, indem sich die Organisationen als Helfer und Entwickler präsentieren, die einer göttlichen Mission folgen. Was man an konkreter materieller Zuwendung erhält, ist an Kriterien gebunden, die einen Opferstatus zementieren. Aus den Recherchen der Internetauftritte (z.B. von »Haiti Arise« oder »Food for the Poor«) sowie vor Ort ist nicht zu rekonstruieren, um welche Kriterien es im konkreten Fall geht. Aus den Gesprächen vor Ort ist aber zu entnehmen, dass die Leute gewillt sind, Zugang zu den Organisationen und den Zuwendungen zu erhalten und sich entsprechend den Armutskriterien anpassen. Ein besonders extremer Fall sind die Berichte von zwei Frauen, die, um Nahrungsmittelrationen zu bekommen, ihre Kinder auf Diät setzen, damit diese ein gefordertes Untergewicht nicht überschreiten, das als Maßgabe für die Verteilung dient. Es ist nicht zu prüfen, wie verlässlich diese Aussagen sind. Es handelt sich aber um Hinweise, die davon zeugen, wie sich der Zugriff auf Opfer in konkreten Kriterien und Annahmen, was Armut ist und für den Einzelnen bedeutet zum Ausdruck bringt (z.B. ein bestimmtes Körpergewicht).
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man dafür zugleich auch weniger verantwortlich. Durch die Brille des Anspruchs und der Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« gelesen, bedeutet, ein Opfer zu sein, immerhin noch die Möglichkeit, im Meer als dem Zuhause, in der Gemeinschaft mit den erdnaturbezogenen Dingen, letztlich in einem ausgeprägten Naturgefühl die Grundlagen für die eigene Identität erhalten zu können. Diesen Zuspruch braucht es in einer Welt der Dinge, die sich bereits als zerstörte vermittelt, in der man als deren Zerstörer gebrandmarkt ist und subtil zum Kapitulieren gedrängt wird. Aus meiner Sicht liegt in der Opferposition ein Korrektiv zur Identifikation als Zerstörer, etwas womit sich mit der latenten Schuld, den drohenden Verlusten und der Unmöglichkeit zu kapitulieren besser umgehen lässt. Im Rahmen von Hilfsstrukturen, welche die hilfsbedürftigen Fischer, Farmer oder Holzfäller als Opfer der Armut ansprechen und dazu mit Geld, Technik und Strategien deren Tätigkeiten unterstützen, steckt also zunächst die Erlaubnis, weiter zu fischen, weiter zu ackern, Bäume zu fällen usw. In der vorherigen Perspektive von Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Ressourcen steckt hierin der Zuspruch, weiter zu zerstören. Die Fischer werden als Opfer durch die Organisation materiell und moralisch dahingehend unterstützt, weiter zu fischen. Von beidem ist man abhängig. Es liegt somit auf der Hand, weshalb es nicht möglich ist, ein Gespräch oder eine Intervention anzuleiten, die auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Ansprüchen zielt und hierin auf Opferzuschreibungen verzichtet. Bei den Zugehörigkeiten zu den Organisationen geht es um existenzsichernde und verlässliche Strukturen, die es in keinem Fall zu gefährden gilt (und in die man als Beraterin auch nicht eingreift). Was geschieht aber, wenn sich Menschen in den Organisationen als Opfer der Armut identifizieren, hierüber mehr Stabilität finden und nun mit einer Selbstgewissheit als Opfer ihre Tätigkeiten weiter ausüben? Auch durch die diskursive und interventionspraktische Ausweisung von Opfern der Armut werden das ausgeprägte Naturgefühl verletzt, werden an sich verlässliche Naturvermittlungen beschädigt und in der Konsequenz (selbst-)zerstörerische Überlebensstrategien gefördert. Dies weniger deshalb, weil man als Opfer zum »Nehmen« und zum »Ausbeuten« ermuntert wird, sondern, weil sich die Kriterien und Regeln der helfenden Organisationen gerade nicht am Anspruch und an den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« orientieren und hierüber ihre Strategien entwickeln und es in einer abhängigen Opferposition fast unmöglich ist, sich nicht auf die Kriterien, Regeln und Techniken der helfenden Organisation verpflichten lassen. Die Krux besteht
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darin, dass mir in der Position als Opfer der Armut das Fischen, Ackern, Baumfällen zwar erlaubt sind, dass dies aber nunmehr nur unter dem reglementierenden Dach einer helfenden Organisation vollbracht werden muss. Diese Erlaubnis geht in den Taktiken und Praktiken der Organisation – Werte und Regeln der Kollektivierung, die Auswahl von Strategien und Techniken – wieder verloren. Sie wird implizit entzogen, weil der Modus der Naturvermittlung, der all dem implizit vorhergeht, schlussendlich nicht der eigenen Disposition entspricht.47 Was sich damit zementiert, ist wiederum die Überzeugung, ein Opfer zu sein.48 Dazu ein Beispiel: Im Nachbarort von Taino ist eine zweite christliche Organisation im Sinne von Armutsbekämpfung mit ökologischem Interesse unter den Fischern tätig. Dort wurde durch die NGO ein Fischerdorf installiert. Man hat einer Auswahl von lokalen Fischern kleine Häuser, ein Motorboot und zahlreiche Netze zur Verfügung gestellt (vgl. Abb. 3).49 Auch hier gibt es für Opfer der Armut die Erlaubnis zum Fischen unter der Bedingung, sich zu vergemeinschaften. Diese Kollektivierung wird allerdings mit mehr strategischem Druck eingefordert. Man bekommt das Haus und die Ausrüstung zum Fischen. Mit dem Haus im Fischerdorf und der kirchlichen Gemeinde
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Wie der christliche Deutungsanspruch auf die Natur das Naturgefühl missbraucht, das im spirituell-religiösen Fundament des Voodoo gründet, wird im nächsten Abschnitt 3.4 »Du trägst schwere Schuld!« – Aufrufe zur Resignation ausgeführt. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich in den christlichen Organisationen sowohl naturalistische als auch animistische Naturvermittlungen aktualisieren können, diese aber für eine Idee von Gottesabsicht instrumentalisiert und hierin beschädigt werden. Diese kontrollierenden und verpflichtenden Zugriffe auf Menschen und die damit verbundenen lebensweltlichen Eingriffe durch Interventionen zur humanitären Hilfe sind in der Fachliteratur hinreichend belegt. Untersuchungen, die dies jedoch explizit im Hinblick auf die Auswirkungen auf die vorfindlichen Naturverhältnisse diskutieren, sind mir nicht bekannt. Eine solche Auswirkung zumindest anzudeuten, ist das Ziel dieser Argumentation. Zum zerstörerischen »Teufelskreis« von Interventionen in Haiti, insbesondere nach dem großen Erdbeben 2010, sind vorzugsweise die Arbeiten des Anthropologen Schuller zu erwähnen (Schuller 2016, Schuller 2012). Es geht um die Organisation »Food for the Poor«, die den Zugriff auf Opfer der Armut bereits im Namen trägt. Für diese Strategie finden sich in der Internetpräsenz der Organisation Belege in Form von Dokumentationen bzw. Imagefilmen zur Einweihung der Fischerdörfer. In diesen Filmen werden Menschen gezielt als Opfer der Armut vorgeführt, zu denen sich die Organisation als Helfer in göttlicher Mission strategisch und passend inszeniert (https://www.youtube.com/watch?v=k9XaL98TjUY&list=PLAM v6sL3aG3uaOfCTfwbL3xue6Rq92pFa).
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wird die Zugehörigkeit zum Kollektiv auch räumlich installiert. Bei der Ausrüstung handelt es sich um komplexere Techniken (Motorboot und Netz), die Naturvermittlungen auf naturalistischer Grundlage folgen. Dies wurde bereits erwähnt.
Abbildung 3: Das Motorboot von »Food for the Poor« in Taino
(eigenes Foto, August 2019)
Die einstige Verbundenheit mit dem Meer und hierin einem Zuhause sind also gestört. Mit dem Haus, dem Fischerdorf und der kirchlichen Gemeinde wird stattdessen ein anderes Zuhause in einer neuen sozialen und religiösen Gemeinschaft geboten, was zwar weniger das ursprüngliche Naturgefühl, die Gemeinschaft von Menschen und Dingen berührt, aber etwas mehr materielle Sicherheit gewährt. Die Bindung zur Gemeinschaft wird forciert durch zusätzliche Abhängigkeiten, welche u.a. die neuen Techniken erzeugen. Es braucht Kraftstoff für das Motorboot und Mittel zur Instandhaltung, was eigenständig nicht aufzubringen und wiederum an Zuwendungen der NGO gebunden ist. Für die Fischer, die nun dem Fischerdorf angehören, mag all dies zwar eine Entlastung in ihrer prekären Lage bedeuten. Der Preis hierfür ist aber eine Fischerei jenseits der eigenen Disposition mit überlagertem, verdrängtem und kaum mehr verfügbarem Naturgefühl. Die Fischer werden als Opfer der Armut in einer vorinstallierten sozialen Ordnung neu platziert. Gemeint ist eine Ordnung, die auf die Veränderung der vorfindlichen Naturbeziehungen drängt, die aber nicht anzugehen ist, ohne einen Selbstverlust erfahren zu müssen, bedenkt man den animistischen Modus als grundgebende innere Navigation, um der Natur zu begegnen. Was
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sich somit andeutet, ist, dass die vorfindlichen Natur- und Sozialbeziehungen mehr aus der Balance geraten, als dass sie Balance erzeugen. Eine zunehmende Dysbalance in den sozialen Beziehungen zeigt sich sinnbildlich an den Wellen des Motorbootes, welche die schwimmenden Fischer und Holzboote erfassen, wenn es sich durch das Meer in fangsicherere Gebiete bewegt, in die man ohne Motorisierung nicht gelangen könnte. Sinnbildlich dafür sind auch die territorialen Vereinnahmungen durch die Netze, die nun für die Fischerdorf-Fischer möglich werden. Die Dysbalance in den Naturbeziehungen, das Verstummen des sinnlich-affektiven Bands zur Natur, zeigt sich am deutlichsten daran, dass sich Motorboot und Netz von einem Wert absetzen, der in einer Gemeinschaft mit den Dingen darin besteht, mithilfe einfachster Techniken keine Überfülle zu produzieren. Der Knackpunkt ist, dass Motorboot und Netz ein Anhäufen bedeuten. Generiert wird ein Zuviel an Fisch und Meerestieren, was man selbst meist gar nicht braucht. Die neuen Techniken fordern zum Ausbeuten auf, befeuern die wirtschaftliche Konkurrenz, die soziale Ungleichheit und den sozialen Konflikt. Deutlich wird dies daran, dass sich der viele Fisch, ob mit Harpune oder Netz gefangen, oft gar nicht verwerten lässt, dass die eigentliche Arbeit der Fischer erst dann beginnt, wenn sie mühsam versuchen, ihren Fang am Strand, auf dem lokalen Markt oder den wenigen Restaurants für ein paar Gourdes zu verkaufen. Was in Strategien von Armutsbekämpfung, die mit starken Opferpositionen operieren, vernehmbar ist, ist ein Aufruf zur Zerstörung der eigenen Lebenswelt, was paradoxerweise dann gelingt, wenn Menschen in prekären Lagen darum ringen, ihre Lebensmöglichkeiten und Identitäten aufrechtzuerhalten; wenn sie dazu auf Zuwendungen angewiesen sind, für die verlangt wird, als Opfer aufzutreten und sich entsprechend anzupassen; wenn sie so ihren eigenen Anspruch auf die Natur verlieren, hinter ihre eigenen Dispositionen zurücktreten und somit am Ende tatsächlich zu Opfern werden. Die Fischer im Fischerdorf können zwar weiter fischen und sich halbwegs ernähren, aber zum Preis der Vereinnahmung in einem Kollektiv, das dem Grunde nach auf eine schleichende Selbstzerstörung drängt. Was sich in diesen Kollektivierungsversuchen vermittelt ist die Botschaft: »Wenn du arm bist, sei ein Opfer, dann helfen wir dir, um satt zu werden. Als Opfer tue, was du kannst, aber so, dass du deine Welt zerstörst!« Auch hierbei handelt es sich um eine paradoxe und hochambivalente Anrufung. Im Gegensatz zur Anrufung zur Kapitulation, bei der z.B. der Fischer als Ausbeuter in seinem Anspruch auf eine »Natur der Fülle« gar nicht erst erkannt ist, setzt
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die Anrufung zur Zerstörung gerade bei seiner Disposition an, letztlich am Drang und der Notwendigkeit, eine naturbezogene Tätigkeit auszuüben, an der das gesamte Selbst und Leben hängt. Wird mit Opferpositionen operiert, geht es nicht darum, Alternativen zum Fischen zu finden, d.h. den einen oder anderen Fischer zur Aufgabe zu bewegen und Optionen zu kreieren, die die Ökosysteme und die Fischer entlasten. Vielmehr wird der Deal angeboten, durch materielle Zuwendungen etwas mehr existentielle Sicherheit und allem voran die Legitimation zum Fischen zu erhalten, wenn man sich dazu als Opfer der Armut positioniert und diese Position im Rahmen eines (meist christlichen) Kollektivs stabilisiert. Als Opfer bleibt man abhängig, auf Hilfe angewiesen, ist zur Unterwerfung und zum Dank verpflichtet. Man bleibt gebunden an die Ideale, Regeln und Werte derjenigen, die einem helfen. Aus meiner Sicht stecken darin der Keim zum Missbrauch der Armut und im Rahmen der christlichen Hilfsstrukturen vordergründig Missionierungsabsichten. Dieses nunmehr manipulative Spiel mit der Abhängigkeit und Not, was nicht nur die Fischer, sondern auch die Farmer oder Holzfäller betrifft, unterläuft letztlich die Möglichkeit, eigene Ansprüche zu artikulieren, um in schwierigen Umständen der Subsistenz aktiv Anschlüsse für die ökologische Fülle, die Nahrungs- und die Lebensfülle zu finden. Die Fischer in Taino sind exemplarisch dafür. Sie ahnen und wissen, dass etwas nicht stimmt. Aus meiner Sicht ist dies auch ein Grund, weshalb sie mich einerseits so umfänglich in ihren lebendigen Alltag einführen und andererseits dann doch ein Gespräch mit mir aufnehmen, um dabei ihre andere Welt als die großen Opfer der Missstände darzubieten. Es ist ein mutiger Schritt, weil sie somit auf gegenläufige und ambivalente Anforderungen an das eigene Selbst, auf eine Tabuisierung der Fülle und einen schweren Konflikt anspielen. Wenn ich durch Interventionen als Opfer der Armut ansprechbar werde, weil ich von Zuwendung und Zuspruch abhängig bin, dann kann ich mich nicht auf die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« ausrichten. Als Opfer der Armut kann und darf ich auch nur bedingt satt werden. Bin ich satt, dann bin ich kein Opfer mehr. Ich verliere Zuspruch, Zuwendung und die Teilhabe in einem sozialen Feld von Intervention. Gemeint ist eine Teilhabe, die notwendig ist, weil sie in den Krisen und Erschütterungen der Zukunft etwas mehr Sicherheit garantiert. Um als Fischer, Farmer oder Holzfäller Opfer zu bleiben, ist es mir untersagt, eine Lebenswelt zu kreieren, die in der ökologischen Fülle Erfahrungen zur Nahrungs- und Lebensfülle bereithält. Im Ge-
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genteil muss diese Lebenswelt, wenn sie denn aufscheint, mit einer Tendenz zur Zerstörung beantwortet werden. Ist man geübt darin, in dieser Perspektive zu beobachten, dann sieht man die Tendenz zu zerstören am rasenden Motorboot, das sich rücksichtslos eine Schneise inmitten der vielen anderen Harpunenfischer bahnt. Man bemerkt es im Widerstand, wenn die Fischer erst gar nicht zum Gespräch und wenn doch in geballter Opferformation erscheinen oder wenn wie in Masia gangbare Lösungen wie das Mango-Angebot heftig abgewehrt werden. Es vermittelt sich auch noch direkter, wie im Streit über den Zugang zu Trinkwasser in Grand-Goâve. Die gesamte Infrastruktur der Wasserversorgung wurde nur wenige Stunden später zerstört, nachdem sich eine Lösung anbahnte und zu dieser Lösung ein Anspruch auf Fülle – auf allzeit fließendes Wasser – vorgetragen wurde. Ich selbst habe mehrfach deutlich formuliert, dass die Menschen bei allen Unvereinbarkeiten grundsätzlich einen Anspruch und das Recht auf Trinkwasser haben. Auch der Richter im Amt bekräftigte dies. Die Möglichkeit auf fließendes Wasser wurde kurzum gewaltsam zerstört. Man selbst bleibt so ein Opfer der Wasserknappheit, ein Opfer der Armut. Was ich zu diesem Zeitpunkt unterschätzt habe, ist die Wirkmächtigkeit einer Opferposition als Mittel, um das Gebot der Vermeidung des Anspruchs und der Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« aufrechtzuerhalten, wodurch es nicht erlaubt ist, über fruchtbare Böden wie in Masia, über stabile Fischpopulationen wie in Taino oder aber fließendes Wasser wie in der abgelegenen Siedlung nahe Grand-Goâve zu verfügen. Die These, zu der die Beobachtungen insgesamt einladen, ist, dass also Menschen auf dem Meer fischen und in den Bergen wirtschaften, die nicht nur durch die Tatsache von Krise und Armut, sondern in der Flut von Interventionen und einem mächtigen Krisendiskurs eine Überzeugung verinnerlicht haben, Opfer zu sein und sein zu müssen und dass hiermit die implizite Aufforderung verbunden ist, im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« nicht satt werden zu dürfen.
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»Du trägst schwere Schuld!« – Aufrufe zur Resignation
In dieser dritten Erzählung wird die These gegenläufiger Opferpositionen spezifiziert und weitergeführt und hierzu auf eine Deutung aufmerksam gemacht, die in einer besonderen Form von Schuldzuweisung besteht. Es geht um die Überzeugung, an den großen Naturereignissen Schuld zu tragen und deren katastrophale Auswirkungen als entsprechende Strafen zu empfinden.
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Es handelt sich um eine Deutung, die im christlich-religiösen Diskurs über die Naturkatastrophen ihren Ausdruck findet und von der anzunehmen ist, dass sie die christlich fundierten Interventionsmaßnahmen begleitet. Es wird davon ausgegangen, dass nicht nur das Risiko der Naturkatastrophen, sondern ebenso die damit verknüpfte Idee von Schuld und Strafe ein ausschlaggebendes Moment darstellt, sich in den christlichen Organisationen als Opfer der Armut zu vergemeinschaften oder vergemeinschaften zu lassen. Der Darstellung voraus geht eine besondere Erfahrung vor Ort, die Vorhersage eines Hurrikans. Hierüber wurde es möglich, Einblicke in den Umgang mit der Bedrohung durch ein Naturereignis zu erlangen und im Beten zu Gott oder Jesus auf eine Bewältigungsform aufmerksam zu werden, die zum Einfallstor für eine Deutung von Schuld und Strafe wird. Die Darstellung zeigt, wie eine solche Deutung mit Blick auf die vorfindlichen Naturbeziehungen funktionieren kann und wie sich ihre Wirkmächtigkeit, d.h. ihre Tendenz zur Tabuisierung einer »Natur der Fülle« in Beobachtungen, Begegnungen und Gesprächen zu erkennen gibt. Beobachtungen zu Hurrikan »Dorian« als drohende Katastrophe Ich bin in Taino als sich Hurrikan »Dorian« ankündigt, der sich in der Vorhersage über einige Tage vom tropischen Sturm zum Hurrikan entwickelt und auch Haiti einschließt.50 Es sind gut sieben Tage, die ich mit wachsamem Blick auf einen drohenden Sturm und somit auf eine mögliche Katastrophe verbringe. Davon verbringe ich fünf Tage tatsächlich in großer Unruhe. Es gibt einen Benzinnotstand. In meiner Unterkunft in Taino gibt es keinen geschützten Ort. Das Haus befindet sich nur wenige Meter entfernt von der Uferzone, direkt unter einem instabilen Hang mit wenig Bäumen. Die wenigen Wege und Straßen sind nicht asphaltiert und bereits unter normalen Bedingungen nur unter Mühen passierbar. Für die gesamte Siedlung gibt es keinen Schutz, weder vor dem Wind noch vor den Wassermassen. Ich fühle mich gefangen und ausgeliefert im Angesicht eines Sturmes, der uns nun alle in der Siedlung zu überfluten droht. Ich habe also Angst und kann nur hoffen, dass nichts passiert. Ich frage mich, ob es den anderen hier auch so
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Es geht um Hurrikan »Dorian« in der Zeit vom 24. August bis 9. September 2019, der in der Vorhersage für Haiti und die Dominikanische Republik als Hurrikan der Kategorie 2 und 3 vorhergesagt wurde, später die Richtung gedreht hat, sodass keine Effekte aufgetreten sind (https://www.weather.gov/mhx/Dorian2019).
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geht. An der Geschäftigkeit des Alltags ändert sich in diesen Tagen kaum etwas. Dennoch wandelt sich die Stimmung und es wird angespannt still. In den ersten Tagen spricht sich herum, dass es einen »siklòn«51 geben könnte. Zu beobachten ist immer die gleiche Reaktion, ein von Entsetzen durchdrungenes »Oh non!«52 Getan wird aber nichts, man wartet ab. Es geschieht, wie es Antoine aus den Bergen in Monben beschreibt: »Wenn der Sturm da ist, dann wartest du ab und betest zu Jesus. Danach schaust du, was du verloren hast und fängst von Neuem an so wie jeden Tag.«53 In dieser Situation erscheint mir diese Aussage unheimlich wirklich. Ich imaginiere die möglichen Massenbewegungen, Überschwemmungen, die Zerstörung der kleinen Häuser, die Verwüstungen in den Gärten, die verendeten Tiere, die Verletzten usw. Ich werde still und bemerke meine eigene Verletzlichkeit und eine deutliche Grenze. All dies kann und möchte ich nicht sehen und erleben. Dafür, so denke ich, bin ich nicht gemacht. Ich denke aber auch, dass für ein solches Ereignis niemand gemacht ist, dass es für die Leute immer wieder die gleiche Bedrohung, die gleiche überwältigende Angst, das gleiche Entsetzen, die gleiche Ungewissheit ist und dass es in Erwartung eines Sturmes auch kaum Coping gibt. Coping beginnt hier nach dem Sturm, wenn die Katastrophe da ist, wenn man weiß, was man verloren hat und man von neuem anfangen muss. Der einzige Unterschied zu mir in dieser Situation des nahenden Unheils ist, dass die meisten Leute bereits die Erschütterungen eines Sturmes, eines Hurrikans, erfahren haben und dass sie wissen, dass ein weiterer sie genauso erschüttern wird wie beim ersten Mal. Dieser Unterschied ist jedoch ein marginaler. Ein Trauma, dass sich wiederholt, bedeutet nicht, dass damit die Angst, das Entsetzen und die Ungewissheit geschmälert wären, die es im Vorfeld oder im Zuge eines solchen Ereignisses zu bewältigen gilt.54 51 52 53 54
Deutsch: schwerer Sturm oder Hurrikan. Deutsch: »Oh nein!« Originalzitat kreolisch: „Epi lè siklòn la rive, ou mete tèt ou alabri, epi ou rete tann ak rele Jezi. Aprèsa, ou gade kisa ou te pèdi epi kòmanse ankò, menm jan tankou chak jou.« In dieser Argumentation wird auf den Zusammenhang von Naturkatastrophe und Traumatisierung verwiesen. Damit wird lediglich festgestellt, dass diese Ereignisse traumatisierend sein können. Die Wiederholung entsprechender Erfahrungen kann eine Retraumatisierung bedeuten. Retraumatisierung heißt, dass die Intensität und die Folgen des Erlebens nicht vermindert, vielmehr verschlimmert werden können. Schock spricht hierzu von einem psychischen »Furchtnetzwerk« (Schock 2016:26). Fragt man nach Bewältigungsformen, dann fragt man im Fokus von Traumatisierung
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Was sich mit Hurrikan »Dorian« also anbahnt, ist eine Erschütterung, die niemand braucht oder erfahren sollte. Ich begreife in diesen Tagen, wie viel Angst, Entsetzen und Ungewissheit im Angesicht eines Sturmes gebunden sind und wie viel Einvernehmen entwickelt werden muss, damit umzugehen, wenn es kaum einmal möglich ist, die eigene Unversehrtheit halbwegs zu garantieren. »Es wird vorbeigehen«55 , sagt einer der Fischer. Ein anderer scherzt auf tragische Weise und meint: »Für den Sturm brauchst du viel Rum.«56 Die Leute tun also das, was sie tun können, d.h. sie werden ruhig, fügen sich in die Geschehnisse, beginnen tragisch komisch zu scherzen und sie beten, auch die, die es sonst nicht machen. In Taino wird viel gebetet in diesen Tagen und ich weiß, sie tun es auch andernorts. Fragt man, was die Leute unternehmen, um sich auf einen »siklòn« vorzubereiten, gibt es immer die gleiche Antwort: »Ich warte ab und bete zu Jesus.«57 Ich habe diese Aussage unzählige Male gehört. Ob »siklòn« oder Erdbeben, man betet. Jean Yves, ein Studierender aus
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auch danach, welche Möglichkeiten aktiviert werden, um auf ein Ohnmachtserleben in einer hochvulnerablen Situation mit möglichen Folgen für die psychische Integrität reagieren zu können. Dieser Gedanke ist für die folgende Argumentation wichtig, die sich hierzu den Möglichkeiten im Beten zuwendet. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird auf den Begriff Trauma verzichtet, stattdessen wird von Erschütterung, Verwundbarkeit oder Verletzlichkeit gesprochen. Dass der Begriff Trauma nicht verwendet wird, begründet sich darin, dass von einem Krisendiskurs als Traumadiskurs Abstand zu nehmen ist. Der Begriff Trauma wird im medialen Diskurs inflationär und leichtfertig verwendet, um die Missstände in Haiti zu beschreiben und zu erklären. M.E. geht es hierbei meist um eine Letztbegründung. Eine als traumatisiert bezeichnete Gesellschaft erscheint folglich als immer schon unheilbar geschädigte Gesellschaft und pointiert formuliert: als eine Gesellschaft, die es zu »therapieren« gilt, die es ohne Intervention als maßgeschneiderte »Therapie« nicht vermag, Auswege zu finden. In Begriffen wie Erschütterung, Verwundbarkeit oder Verletzlichkeit wird die Möglichkeit des Traumas also berücksichtigt, aber nicht enggeführt und eine leichtfertige Zuschreibung geschädigter Menschen vermieden; zum Krisendiskurs als Traumadiskurs sei auf medienwirksame Schlagzeilen verwiesen wie z.B.: »Trauma in Haiti – an assault on the senses« (https://www.huffpost.com/entry/trauma-in-haitian-assa ult_b_449481), »Haiti nach der Jahrhundertbeben – Armut, Unsicherheit und Trauma« (https://www.spiegel.de/panorama/haiti-nach-dem-jahrhundertbeben-armut-uns icherheit-trauma-a-917363.html); zum Begriff und den Auswirkungen von Retraumatisierung vgl. Schock (2016:26-40). Originalzitat kreolisch: »Sa gen pou l fini.« Originalzitat kreolisch: »Ou bezwen anpil wonm pou siklòn nan.« Originalzitat kreolisch: »M ap tann epi m ap rele Jezi.«
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Port-au-Prince, berichtet, dass er ein ganzes Jahr lang nach dem großen Erdbeben 2010 im Auto geschlafen hat und er die vielen Menschen bei jedem der Nachbeben hören konnte, wie sie laut gebetet haben. Es wird generell viel geredet über die großen Naturereignisse wie Hurrikan »Matthew« oder das große Erdbeben. An diesem Erzählen wird deutlich, dass es sich hierbei um Zäsuren handelt, die sich in das individuelle und kollektive Gedächtnis deutlich eingeschrieben haben.58 Dabei ist unverkennbar, dass die Geschichten über das Beten ganz vorn anstehen und sich durch alle Berichte ziehen wie ein roter Faden. Und nun sitze ich mittendrin und beginne fast selbst zu beten, um von einem drohenden Sturm verschont zu bleiben. Es ist das Einzige, was bleibt und etwas hilft in dieser unheimlichen und schutzlosen Situation. Ich begreife nun, was es einem abverlangt, wenn Antoine sagt: »Man wartet ab« und dazu versucht ein Einvernehmen zu erzeugen, mit all dem, was da kommen kann. Es ist die Angst, das Entsetzen und die Schutzlosigkeit, in der das Beten zu Jesus, d.h. zu etwas Übergeordnetem, Allmächtigem hilft.59 Diese enorme Verletzlichkeit braucht also dringend Halt, wird aber leider auch zum Einfallstor in eine Welt, in der man für die großen Naturereignisse schuldig gesprochen wird. Auch dies klingt mit dem Beten zu Jesus an, kontextualisiert man dieses mit den eher streng konservativen christlichen Auffassungen, die in Haiti ebenso weit verbreitet sind wie Voodoo.60 Hurrikan »Dorian« führt 58
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Mit dem Begriff großes Naturereignis sind Ereignisse katastrophalen Ausmaßes gemeint, die in den Alltagsdiskursen als »katastwòf natirèl« bezeichnet werden. Gegenwärtig kann davon ausgegangen werden, dass das Erdbeben 2010 und Hurrikan »Matthew« 2016 als besondere individuelle und kollektive Erfahrungshintergründe wirken. Zur Bedeutung des Betens aus psychologischer Sicht, insbesondere in seinem therapeutischen Wert vgl. Martinez & Martinez Vila (2000:109-128); zum Beten als existentielle Therapie, was die Krisenbewältigung berührt vgl. Martinez & Martinez Vila (2000:111-126). Haitis Volksreligionen sind Voodoo, Katholizismus und Protestantismus (in eher streng konservativer, d.h. oft evangelikaler Ausprägung). Es wird davon ausgegangen, dass bis auf wenige Ausnahmen insgesamt eine sehr starke Religionsbindung besteht. Die Zahlenangaben sind sehr unterschiedlich. Man nimmt an, dass 80 % der Bevölkerung in den katholischen Kirchen und 16 % in den protestantischen gebunden sind (Chepkemoi 2017). Laut Angaben des CIA-Factbook handelt es sich um einen Anteil von 54,7 % in den katholischen und 28,5 % in den protestantischen Kirchen (https:/ /www.cia.gov/the-world-factbook/countries/haiti/). Es ist davon auszugehen, dass neben diesen Zugehörigkeiten (vorzugsweise zur katholischen Kirche) zugleich Voodoo praktiziert wird. In der Fachliteratur wird diskutiert, ob es sich um ein religiöses Para-
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nicht nur ein weiteres Mal die eigene Verwundbarkeit vor Augen, sondern auch die Schuld, ein solches Ereignis und damit die eigene Verwundbarkeit provoziert und verursacht zu haben. Es geht um die Überzeugung, in einem Naturereignis wie einem Sturm oder Erdbeben die Manifestation einer transzendenten Macht, letztlich eine Absicht, Antwort oder Strafe Gottes zu vermuten. Sehr deutlich drückt sich dies im Statement einer jungen Frau in der eingangs erwähnten Arte-Reportage zum Erdbeben aus: »Mich würde nicht wundern, wenn Gott bei all dem, was in diesem Land geschieht, die Erde wieder beben lässt.«61 Es ist nicht nur die Armut, die die Menschen in die christlichen Organisationen treibt, in denen sie als hilfsbedürftige Opfer behandelt und gebunden werden. Es ist in erster Linie die Verwundbarkeit im Zuge der wiederkehrenden und unkontrollierbaren großen Naturereignisse, also die Tatsache, dass es in der strukturellen Armut jederzeit möglich ist, tatsächlich zum Opfer zu werden. Es ist die Möglichkeit, im Glauben, in einer Anbindung zum Göttlichen, Hoffnung und Einvernehmen aufzuschließen und es ist ebenso die Überzeugung, an der eigenen Verwundbarkeit Schuld zu tragen, welche die Menschen in den christlichen Organisationen und Gemeinden hält. Es ist diese Schuldzuschreibung, mit der die Verwundbarkeit in der Armut durch die Ereignishaftigkeit der Natur missbraucht wird. Dem Grunde nach – so die These – wird aber die Natur, werden die großen Naturereignisse und hierüber die vorfindlichen Naturbeziehungen missbraucht, um Missionierung zu betreiben.62
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dox oder eine Symbiose handelt. Diese Frage lässt sich m.E. je nach Standpunkt unterschiedlich beantworten. Im spirituell-religiösen System des Voodoo ist eine Symbiose, aus meiner Sicht eine Integration angesprochen. Vom christlich-religiösen Standpunkt handelt es sich eher um ein Paradox. Grundsätzlich kann konstatiert werden, dass sich die spirituell-religiösen Bezüge auf einer alltäglichen Ebene mischen, eine klare Trennung unmöglich ist; zur Frage des religiösen Paradoxes oder der religiösen Symbiose vgl. Desmangles (1992:1-16). Vgl. Arte-Reportage: »Haiti: Vor dem totalen Zusammenbruch« (https://www.arte.tv/d e/videos/094601-000-A/haiti-vor-dem-totalen-zusammenbruch/). Abbott & White beschreiben in einer ethnographischen Studie Narrative des christlichen Glaubens im Umfeld des Erdbebens 2010. Grundthese ist, dass die im christlichen Glauben gebundene Hoffnung als Pendant zur Angst eines der zentralsten Elemente war, im Zuge der Erschütterungen zu überleben. Eine im Glauben mobilisierte Hoffnung wird als bedeutsame Coping-Strategie herausgearbeitet. Es handelt sich um eine Darstellung, die auf beeindruckende Weise demonstriert, welche Möglichkeiten sich in einer (christlich-)religiösen Gebundenheit aufschließen lassen, um schwie-
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Missbrauch an der ontologischen Disposition Ich möchte diesen Gedanken zunächst hypothetisch entfalten, um in einem weiteren Schritt beispielhaft zu illustrieren, wie sich Schuldzuschreibungen im Zuge der großen Naturereignisse als Gegenläufiges zum Anspruch und zu den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« zum Ausdruck bringen. Gefragt wird dazu, wie es gelingt, sich als schuldig zu empfinden, d.h. was es braucht, um für die Deutung eines zerstörerischen Naturereignisses als Strafe Gottes empfänglich zu werden. Gefragt wird auch, was es bedeutet, diese Schuld anzunehmen und zu tragen. Hurrikan »Dorian« zieht vorbei und Erleichterung auf. Das Beten hat geholfen. Man ist kein weiteres Mal erschüttert und ebenso kein weiteres Mal schuldig geworden. Es scheint, als ist man diesmal davongekommen. Ich betone dies deshalb leicht überspitzt, weil man sich einer Schuldzuschreibung kaum entziehen kann, solange den alltäglichen Naturbeziehungen animistische Vermittlungen vorhergehen, wie sie insbesondere im Voodoo angelegt sind. Gemeint ist der grundlegende Modus, sich über Ähnlichkeiten in der Interiorität mit den Dingen zu identifizieren und in Beziehung zu treten. Auch ein Naturereignis gilt dann im weitesten Sinn als mit Bewusstsein, Seele, Geist oder Geistern ausgestattet. Durch eine solche Disposition ist man von Grund auf geneigt, Naturereignisse wie ein Erdbeben oder ein Sturm als absichtsvolles Geschehen wahrzunehmen. Eine christliche Deutung, die ein großes Naturereignis als Absicht, Antwort oder Strafe eines übermächtigen Gottes betrachtet, ist subjektiv also per se anschluss- und ausbaufähig. Wenn Gott die Erde beben lässt, lassen sich die verheerenden Auswirkungen auch als Strafe auffassen. Zumindest berühren diese subjektiv die Frage, ob rigste, wenn nicht sogar andauernde traumatisierende Krisensituationen zu meistern (Abbott & White 2019). Mit der angeführten These des Missbrauchs an einem Naturverhältnis, indem ein Naturereignis als Absicht, Antwort oder Strafe Gottes betrachtet wird, wird dieses Sinn- und Orientierungssystem der Hoffnung nicht infrage gestellt. Trotz dieser Würdigung geht es aber auch darum, neben dem Aspekt der Hoffnung einen Aspekt der Schuld anzudeuten. Eine solche Schuldzuschreibung wird als Eingriff in die vorfindliche Naturbeziehungsweise erörtert, ein Eingriff, mit dem sich so etwas wie Hoffnung gerade mobilisieren lässt. Was damit sichtbar wird, ist, dass ein Narrativ der Hoffnung nicht ohne ein Narrativ der Schuld zu denken ist. Die Studie adressiert diesen Zusammenhang nicht, auch wenn sie ein Naturverhältnis, die Beziehung zwischen den Menschen und dem Erdbeben, ins Zentrum ihrer Betrachtung rückt. In der Ausarbeitung eines Narratives der Hoffnung liegt diesbezüglich eine Vermeidung, in der Logik von Tabuisierung vielleicht sogar die Aufrechterhaltung eines Vermeidungsgebots.
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es hierbei um Strafe geht. Das Naturereignis besitzt also eine Intention. Es besteht in einer Ansprache, für die man im ontologischen Sinn die passende Ansprechbarkeit mitbringt. Das Naturereignis trifft und betrifft also nicht nur in seiner Erschütterung an sich, sondern ebenso weil man mit dieser Erschütterung selbst gemeint und angesprochen ist. Die christliche Deutung absichtsvoller Naturereignisse lässt sich also durch ein ausgeprägtes Naturgefühl, durch die animistischen Bezüge im Voodoo überhaupt erst umfassend zur Geltung bringen. Dies deshalb, weil gerade im Voodoo die Natur adressiert wird, diese Natur über eine göttliche Geisterwelt zugänglich und als Gegenüber erfahrbar wird. Im Voodoo selbst lassen sich die großen Naturereignisse ebenso mit einer göttlichen Ansprache verbinden. Diese Ansprache ist aber weniger direkt. Gott lässt die Erde nicht beben, den Sturm nicht stürmen usw. Dies geschieht eher, weil sich die schützenden und ordnenden Geisterkräfte und -prinzipien nicht aktualisieren lassen, weil sich das Göttliche vielmehr entzieht. Dass die Natur mit dem Göttlichen ineinander geht, aber hierin zugleich auch nicht identisch ist, legt dann eher eine Interpretation nahe, in der sich die göttliche Intention über eine Art Rückzug und Absenz vermittelt. Die Erde bebt, der Sturm stürmt, weil man des Göttlichen verlustig ist. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass im Voodoo-Verständnis die Erde bebt, weil sie bebt, der Sturm stürmt, weil er stürmt, d.h. dass nicht die Absenz des Göttlichen diese Ereignisse auslöst, sondern dass diese Absenz bedeutet, sich nicht schützen zu können, verletzlich zu werden, wenn sich im Lauf der Welt die erdnaturbezogenen Dinge als Ereignisse manifestieren.63 Die göttliche Absicht, die sich im Voodoo unterbringen lässt, ist, dass Gott die Menschen und Dinge sich selbst überlässt, sie ihre Ordnung, Kraft usw. verlieren, was dann zu den Katastrophen führt. Im weitesten Sinn kann dies als indirekte Strafe gelesen werden. Zwischen der christlichen Version und der Voodoo-Version der Deutung eines Naturereignisses liegt zwar in Bezug auf die konkrete Gestalt möglicher Schuldzuschreibungen ein wesentlicher Unterschied, der aber auf der Ebene der ontologischen Disposition keinen Unterschied macht. Aus meiner Sicht bedeutet dies, dass beide Deutungen in den alltäglichen Perzeptionen folglich auch nur einen graduellen Unterschied bedeuten. Die Erde bebt. Der Sturm stürmt. Aber dies hat in beiden Auslegungen immer mit göttlichen Absichten
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Dieses Argument ist den Gesprächen mit den Voodoo-Priestern entnommen.
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und einer Ansprache an mich selbst zu tun. Dies ist das dialogische Moment in den Naturbeziehungen. Was damit gesagt werden soll, ist, dass Menschen für die Interpretation eines zerstörerischen Naturereignisses als Absicht, Antwort oder Strafe Gottes empfänglich sind, weil sie für eine solche Interpretation die passende ontologische Disposition – eine Naturvermittlung über Ähnlichkeiten in der Interiorität – mitbringen. Und genau hieran setzt der Missbrauch an den vorfindlichen Naturbeziehungen an. Geht man davon aus, dass die eigene Disposition im Alltag nicht ohne Weiteres zugänglich ist, es sich eher um etwas Vorbewusstes handelt, dann kann man sich mit animistischer Grundorientierung der Deutung eines Naturereignisses als Absicht, Antwort oder Strafe Gottes nur schwer entziehen. Umgekehrt bin ich mit ausgeprägter naturalistischer Grundorientierung nur schwer in der Lage, eine solche Deutung anzunehmen. Dies deshalb, weil der Modus eben über Ähnlichkeiten in der Physikalität funktioniert und ich geneigter bin, den Dingen Bewusstsein, Seele, Geist und Geister überhaupt erst gar nicht zuzusprechen. Wenn ich naturalistisch prädisponiert die Ohnmacht im Zuge einer drohenden Katastrophe durch ein Naturereignis erlebe und anfange zu beten, dann um in der Ohnmacht irgendein Einvernehmen zu erzeugen. Der Sturm stürmt dann trotzdem, weil er stürmt. Er kommt oder kommt nicht. Der Sturm an sich ist aber weniger absichtsvoll. Insofern ist das Operieren mit der Strafe Gottes, mit der Schuld an den großen Naturereignissen in den konservativ-christlichen Kreisen ein Zugriff auf Menschen durch einen direkten Angriff auf Voodoo. Dies geschieht in der Art, dass das vorhergehende animistische Prinzip der Naturvermittlung gepaart mit einer enormen Verwundbarkeit in der Ereignishaftigkeit der Natur missbraucht werden.64 Wenn also in den entsprechenden Diskursen mit Voodoo böse oder gar teuflische Praktiken unterstellt werden, durch die katastrophale Naturereignisse als Strafe Gottes heraufbeschworen werden, dann liegt das Wirkmächtige und Gefährliche weniger darin, dass das Naturgefühl unterminiert oder überlagert, der sinnlich-affektive Zugang zu den Dingen untergraben wird.65
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Laut der Studie von Abbott & White (2019) kann an dieser Stelle hinzugefügt werden: »…und für die Hoffnung mobilisiert werden.« Zum Anti-Voodoo-Diskurs und insbesondere zur Darstellung von Voodoo als satanischer Kult durch die christlichen Missionen im Zuge des Erdbebens vgl. Germain (2011), Richmann (2012). Anti-Voodoo-Aktivitäten sind sowohl in der haitianisch-ka-
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Wirkmächtig und gefährlich ist, dass das Naturgefühl und die dafür verantwortliche ontologische Disposition gerade nicht überlagert werden, was dazu führen würde, dass Menschen ihr Naturgefühl verdrängen und sich von den Dingen entfremden. Stattdessen wird mit diesem Naturgefühl gearbeitet, es wird bearbeitet, sodass man sich, indem wie man fühlt und was man tut, im Voodoo als feindselig, böse oder teuflisch empfindet, das gleiche Gefühl aber dazu taugt, um in den christlichen Missionen Gnade und Hoffnung empfangen zu können.66 Entsprechend »teuflischer« als die anderen sind dann auch die naturverbundenen Fischer, Farmer oder Holzfäller, die durch ihr ausgeprägtes sinnlich-affektives Band zu den Dingen und durch ihre Armut die wohl größte Anfälligkeit für die Missionierungen besitzen. Man trägt also im Angesicht der großen Naturereignisse, insofern man den konservativ-christlichen Organisationen, Kirchen und Gemeinden angehört, immer auch ein besonderes Schuldgefühl. Das folgende Beispiel verdeutlicht dies. Das Erdbeben und die Fische Im bereits dargelegten Gespräch mit den Taino-Fischern, die in der Opferformation der christlichen NGO vor mir sitzen, wird lang und facettenreich über die geringe Verfügbarkeit an Fisch und Meerestieren geklagt. Die Fischer sprechen darüber, dass sich die Ressourcenknappheit deutlich bemerkbar macht und dass sie dadurch einen spürbaren Verlust erleiden. Im Gespräch frage ich nach, wie lange sie diese Veränderungen bereits beobachten. Einer der Fischer antwortet vorsichtig, dass dies vor ungefähr zehn Jahren begonnen habe. Die anderen Fischer pflichten ihm bei und ergänzen die Aussage, indem sie betonen, wie mühelos es sich in den Jahren davor noch fischen
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tholischen Kirche wie auch in den protestantischen Kirchen prominent, wobei die katholische Kirche Voodoo eher noch toleriert. Der latente und kontinuierliche AntiVoodoo-Diskurs hat sich seit den 1990er Jahren verschärft, insbesondere durch die Expansion evangelischer Glaubensrichtungen in Haiti (Louis 2011); zur Diskussion einer generellen Ablehnung von Voodoo durch die christliche Kirche vgl. Lademann-Riemer (2011:101-106). Diese Erklärung ist dann plausibel, wenn man im Voodoo nicht ausschließlich ein analoges Verhältnis von Geist und Objekt vermutet, sondern zugleich und vordergründig ein animistisches Verhältnis unterstellt, in dem Objekt und Geist zusammengehen, eine Einheit bilden. Der Geist lässt sich ohne das Objekt denken, das Objekt jedoch nicht ohne den Geist; vgl. Abschnitt 2.4 Gute Quellen des Gelingens. Ein gezielter Angriff wird möglich und erfahrbar, wenn es eine Wahrnehmungsweise gibt, bei der das Göttliche mit dem Objekt identisch ist.
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ließ. Ich frage weiter, was sich vor zehn Jahren verändert haben könnte, dass es ab da so rapide mit den Fischen abwärts ging. Einer spricht es aus, dass es die Zeit des Erdbebens gewesen wäre. Auch diesmal wird zustimmend genickt. Ich hake nach und frage, worin sie denn genau die Ursache sehen. Auch hier die leise, aber prompte Antwort, dass dies mit dem Erdbeben, mit den Erschütterungen zu tun haben muss. Im ersten Moment passt diese Aussage in das Bild einer Opferposition, bei der man geneigt ist, für die Knappheit an Fischen und Meerestieren die eigene Verantwortung abzugeben. Man kann also vermuten, dass man nach einer passablen Erklärung sucht. Dies passt aber nicht ganz, wenn man die Stimmung und die Sprechweise in dieser Situation berücksichtigt. Es wird leise, bedacht und vorsichtig vorgetragen und überhaupt erst nachdem ich nachfrage. Ginge es um Gründe, dass man für die Überfischung selbst nicht verantwortlich ist, dann müsste es neben den Klagen auch Anklagen geben. Im Erzählen müssten sich dann entsprechende Erklärungen und Schuldzuweisungen finden. All dies geschieht nicht, wenn es um die knappen Fischbestände geht. Man beschreibt die Veränderungen und den Verlust, jedoch ohne dafür Gründe anzuführen. Ich deute die Aussage mit dem Erdbeben also anders und habe hierzu zunächst drei Hypothesen im Kopf. Auffällig ist erstens, dass die gesamte Problematik der Ressourcenknappheit mit einem einzigen Ereignis, wenn auch Großereignis verknüpft wird. Ich überlege, ob diese Verknüpfung gewählt wird, um die Sehnsucht nach einer einfachen Erklärung für ein unverfügbares, schleichendes und komplexes Phänomen wie der Überfischung zu befriedigen. Der zweite Gedanke ist, dass die Fischer möglicherweise eine naturkundliche Deutung versuchen, dabei jedoch einem kausalen Fehlschluss unterliegen. Der dritte Gedanke ist, dass die Fischer vielleicht bemerken, dass seit dem Erdbeben mehr Menschen das Fischen als Überlebensstrategie verfolgen und sich hierdurch die Überfischung spürbar verschärft hat. Ich prüfe diese Thesen durch Nachfragen. Ich frage, weshalb das Erdbeben eine so große Rolle spielt und ob sie mir genau erklären können, welche Verbindung sie zwischen dem Erdbeben und dem Verlust der Fische sehen. Daraufhin schweigen die Fischer. Ihr Blick entzieht sich und sie antworten nicht. Es herrscht Totenstille. Mir wird sofort klar, dass es um etwas anderes gehen muss als meine »mitgebrachten« Hypothesen, etwas, das sie in der dargebotenen Opferformation einer christlichen NGO nicht aussprechen können, wollen oder dürfen. Wenn sie das Erdbeben für den Verlust der Fische in Anschlag bringen, dann wird nicht mehr, aber auch nicht weniger zum Ausdruck gebracht, dass
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es ein erschütterndes Ereignis gegeben hat, welches die Fische vertrieben und damit den Verlust ihrer Lebensgrundlage verursacht hat. In dieser Szene frage ich mich, ob das Erdbeben und der damit kausal verknüpfte Verlust der Fische als etwas wirklich Schwerwiegendes empfunden werden. Mir kommt diese Vermutung, weil das Gespräch in diesem Moment dermaßen erdrückend ist, dass ich das Gefühl habe, ich verliere die Luft zum Atmen. Die Stimmen werden leise, die Körperhaltungen sind eingefallen, die Blicke sind leer und es herrscht ein Schweigen, das stiller nicht sein könnte. In diesem Schweigen liegt also etwas, wozu es keiner Worte und Sprache bedarf, möglicherweise aber auch etwas, was sich nicht aussprechen oder gar zugeben lässt. Mir kommt in dieser Szene zum ersten Mal die Idee von Schuld, dass man sich schuldig fühlt, das katastrophale Erdbeben und hierüber den Verlust der Fische in irgendeiner Weise mitzuverantworten. Wie ich in dieser lähmenden Stimmung sitze, erinnere ich den mächtigen Diskurs christlich-religiöser Hardliner, die behaupten, das Erdbeben sei durch einen Pakt mit dem Teufel verursacht worden. Medial hochwirksam inszeniert und verhandelt wurde die Aussage von Pat Robertson, einem US-amerikanischen Evangelikalen, Prediger und Politiker mit enormer TV-Popularität, dass das Erdbeben als Revanche gelesen werden kann auf einen Pakt, den haitianische Sklaven mit dem Teufel geschlossen hätten, um die Unabhängigkeit von den französischen Kolonialisten zu erreichen. Das Statement von Robertson ist ein direkter Angriff auf Voodoo, weil für den Auslöser der Unabhängigkeitsrevolution seit 1791 eine Voodoo-Zeremonie gilt. Die Aussage zeugt zwar von einem Extremfall, ist aber sinnbildlich für den konservativ-christlichen Diskurs, der in der gezielten Abwehr und Unterminierung von Voodoo und damit jener Quelle besteht, aus der die alltäglichen Naturbezüge schöpfen.67 Wenn man sich mit Naturbeziehungen, mit unterschiedlichen Ontologien und insbesondere mit Voodoo ein wenig vertraut gemacht hat; wenn man davon ausgeht, dass es dabei im Kern um nicht mehr, aber auch nicht um 67
Beispielhaft sei auf die Schlagzeilen der Nachrichtensender CNN und US News am 13. Januar 2010 verwiesen: »Pat Robertson says Haiti paying for ›pact to the devil« (http:// edition.cnn.com/2010/US/01/13/haiti.pat.robertson/index.html) sowie »Pat Robertson blames Haiti earthquake on pact with the devil« (https://www.usnews.com/opinion/bl ogs/robert-schlesinger/2010/01/13/pat-robertson-blames-haiti-earthquake-on-pact-wi th-the-devil). Dieser Diskurs verbreitete sich nur wenige Tage nach dem Ereignis am 12. Januar 2010; zur kritischen Diskussion der medialen Inszenierung des Erdbebens vgl. Hebblethwaite (2014), Lademann-Riemer (2011:67).
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weniger geht als um einen starken sinnlich-affektiven Naturbezug, woraus sich das Leben der Menschen und der Dinge nährt; wenn man »zivilisiert« genug ist, um vom Standpunkt einer »Natur der Fülle« zu beobachten, dann bekommt man in einer lähmenden Situation wie mit den Fischern eine Ahnung davon, wie wirkmächtig Deutungen von Schuld und Strafe sein können, wenn diese sich auf den Weg machen, zu Überzeugungen zu werden. Wie ich diesen leisen Gedanken in meinem Kopf bewege, sehe ich nun Fischer vor mir, die ontologisch und psychologisch betrachtet in der Lage sind, eine sinnstiftende »Melange der Naturen« zu kreieren, d.h. eine animistische Haltung zu den erdnaturbezogenen Dingen zu pflegen, sich dazu ebenso auf naturkundliche Kenntnisse zu berufen, aber auch im Zuge der erschütternden Naturereignisse, Gott, Jesus oder eine transzendente Macht anzurufen, um irgendein Einvernehmen zu erzeugen. In ihrer Welt, und gerade in den Voodoo-Traditionen, ist diese Integration angelegt und bedeutet alles andere als einen Widerspruch. Stattdessen sitzen aber Fischer vor mir, die nicht nur Opfer der Armut sind, sondern Schuldige, weil sie aus konservativ-christlicher Sicht in dieser an sich friedfertigen Übereinkunft differenter Naturbezüge mit dem Teufel paktieren. Beides, der Opfer- und der Schuldgestus, wird mir in dieser Szene zu viel. Auch hierbei entgleitet mir meine Position, bin ich drauf und dran zu resignieren, um dann aber für einen Moment die Geduld und die Haltung zu verlieren. Ich beginne mit naturalistisch-naturwissenschaftlicher Stimme zu sprechen und erläutere mit sehr harschem Ton, dass für den Verlust der Fische, alles Mögliche verantwortlich gemacht werden kann, aber ganz bestimmt nicht nur das Erdbeben. Wie ich dies ausspreche, packt mich der Ärger über mich selbst. Ich vermute, die Fischer mit wissenschaftlicher Arroganz vor den Kopf gestoßen zu haben. Es kommt anders. Es ist vielmehr ein Moment, in dem sich die gesamte Situation entspannt und erleichtert. Die Lähmung verschwindet. Die Augen sind wach. Mein Statement wird anerkennend aufgenommen und das Gespräch öffnet sich für einen völlig neuen Diskurs zum Thema Überfischung, der nun auch die eigenen Verantwortlichkeiten berührt. Man spricht über die eigenen Techniken, das Problem mit den Netzen und auch den Einfluss der wenigen Großfischereien, welche die Fische nur verrückt machen würden. Es wirkt, als hätte sich etwas aufgelöst. Mir wird klar, dass mir in dieser Situation wohl eher zufällig gelingt, eine Überzeugung zu korrigieren, Schuld abzuwehren und damit eine Art Enttabuisierung anzustoßen. Dies gelingt mir zwar im Rückgriff auf eine wissenschaftliche Autorität, aber ohne das ani-
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mistische Fundament oder den Gottesglauben an sich zu attackieren. Dies auch deshalb, weil ich es unterlasse, eine naturwissenschaftlich fundierte Erklärung für die Entstehung und Auswirkung eines Erdbebens abzuliefern. Ich sage lediglich, dass das Erdbeben nicht die Ursache für die Misere ist. Dass mein Statement aber letztlich diese Reaktion hervorbringt, zeigt, dass das Erdbeben und der Verlust der Fische im Sinne von Schuld und Strafe wahrgenommen werden, dass man hier die Überzeugung ausgebildet hat, eine schwere und lähmende Schuld zu haben, die darauf drängt, befreit zu werden. Auffällig ist auch, wie sich hierüber die Opferhaltung löst und sich das Gespräch für eine Auseinandersetzung entlang der eigenen Ansprüche und Verantwortlichkeiten öffnet. Interpretation Das Schuldgefühl, das aus der Überzeugung erwächst, selbst feindselig, böse oder teuflisch zu sein, obwohl man es nicht ist, hat eine andere Qualität als die Schuldzuweisungen, die sich im Rahmen der ökologisch-technologischen Interventionen vermitteln, d.h. im Diskurs über die Ausbeuter und Zerstörer der natürlichen Ressourcen. Die Ursache für die Verwundbarkeit der Menschen bei den katastrophalen Naturereignissen wird dabei auf den zunehmenden Verfall der erdnaturbezogenen Dinge zurückgeführt, d.h. wenn beispielsweise durch Bodenerosion bei Stürmen oder Starkregen heftige Überschwemmungen oder durch abgeholzte und instabile Hangsysteme Massenbewegungen entstehen.68 Ein solcher Diskurs greift dabei aber das spirituelle Fundament nicht direkt an. Auch die Schuldzuweisungen im Voodoo sind ähnlich, wenn man durch den Verlust der Geister verletzlicher bei den großen Ereignissen wird. Die Kraft der Geister verliert man, weil man die erdnaturbezogenen Dinge als Heimat der Geister vernachlässigt und sich nicht adäquat kümmert. In beiden Lesarten ist man der »Sorge um sich« und den Dingen, die einen umgeben, nicht gut nachgekommen, ist man aus verschiedenen Gründen der Natur und hierüber sich selbst nicht gerecht geworden. Diese Gründe kann man untersuchen, verstehen, man kann sie abwehren oder für Lösungen zugänglich halten. Auch wenn in diesen Deutungen ebenfalls mit Schuld operiert wird, ist diese Schuld beweglicher, handhabbarer. 68
Eine Schuldzuschreibung wird in der Hazardperspektive z.B. mit der Unterscheidung von »natural hazards« und »man-made hazards« greifbar, indem die gesellschaftliche Produktion von Risiken betont wird (Gebhardt 2007:1032).
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Es macht einen Unterschied, an einem Naturereignis durch Unwissenheit, Armut, Abhängigkeit, Not, durch falsche Techniken usw. schuldig zu werden, als dieses aktiv und wissentlich herbeigeführt zu haben. Die Überzeugung die Katastrophen heraufzubeschwören, mit dem Bösen zu paktieren, also böse zu sein, macht diese Schuld schwer, ausweglos und unerträglich. Die Botschaft, die im konservativ-christlichen Diskurs zu den schweren Naturereignissen steckt, lautet: »Du machst dich verletzlich, weil du, indem wie du fühlst, was du bist und tust, böse bist!« Die Anrufung, die in dieser Botschaft bezogen auf das eigene Natur- und Selbstverhältnis mitgeliefert wird, ist zu resignieren oder in den christlichen Missionen und Gemeinden, etwas von dieser Schuld abzutragen und hierüber an Hoffnung zu partizipieren. Es ist Resignation, die sich in der erdrückenden und lähmenden Stimmung mit den Taino-Fischern vermittelt. Es handelt sich um eine Resignation, bei der man als Gegenüber, als Vertreter einer Position, die sich auf die »guten Quellen« eines Natur- und Selbstverhältnisses zur Fülle verpflichtet, aber auch zornig wird. Mein unkontrollierter Ausbruch verdeutlicht dies. Dieser zeigt aber auch sehr anschaulich, wie viel Wut in diesem Fall und in der Übernahme einer absurden Schuld als unausgesprochen und unterdrückt gelten kann. Es liegt auf der Hand, dass hierin ein Nährboden für jene aktive und gewaltsame Form von Zerstörung liegt, wie sie in den beobachteten Spuren in Erscheinung tritt. Die Axt am Mapou ist dazu ein Exempel per excellence (vgl. Abb. 4). Ein junger Holzfäller setzt zum Kahlschlag eines im Voodoo heiligen Baumes an. Das Abholzen an sich ist nicht nur stimmig, wenn man hierin einen ausbeuterischen oder zerstörerischen Akt eines jungen Mannes vermutet, dessen sinnlich-affektives Band zur Natur als überlagert oder verdrängt gelten kann (Zerstörerperspektive). Es ist ebenso nicht nur stimmig, wenn man davon ausgeht, dass der Holzfäller eine Opferposition verinnerlicht hat, seine Verantwortung abwehrt und in seiner prekären Lage die entsprechende Legitimation findet (Opferperspektive). Dass die Axt einen heiligen Baum trifft, spricht vielmehr für die Übernahme von Schuld und hierin der Überzeugung feindselig, böse oder gar teuflisch zu sein. Dies spricht vielleicht auch für einen Daseinszweifel, dem begegnet wird, indem man die Grundlage des Unheils – die beseelten, »vergeisterten« und hierin heiligen Dinge – vernichtet (Schuldperspektive).69 69
Zum Fällen der Bäume als Anti-Voodoo-Aktivität wird konstatiert, dass »the battle between church and tree is clearly a power struggle between African heritage and West-
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Abbildung 4: Die Axt am Mapou
(eigenes Foto, August 2019)
ern religious domination; the tree represents the resurgence of the sacralization of nature and also indicates the powers of Voodoo spirituality to unsettle Western dominance« (Stein zit. in: Tarter 2015:92). Tarter stellt weiter fest: »At the very least, the example demonstrates servitors willingness to assimilate aspects of Catholicism within Voudou symbolism, while the Church remained unwilling to accept the veneration of the tree by Vodouyizan (Voudou practitioners)« (Tarter 2015:92).
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Etwas subtiler vermittelt sich eine solche Mission im Fall von Philippe, dem Fischer, der mir die Corail-tragende Languste präsentiert. Ich möchte seine Geschichte als Abschluss dieses Kapitels anführen. In Taino treffe ich den Fischer Philipe, er ist 25 Jahre alt. Ich verbringe viel Zeit mit ihm, dies auch deshalb, weil er als Einziger unter den Leuten auffällig gut Englisch spricht. Er fischt wie die anderen Fischer, wirkt aber immer etwas traurig. Er erzählt mir seine Geschichte, die mit Hurrikan »Matthew« neu beginnt. Er fischt, seitdem er ein Kind ist. Auch er hat eine Verbundenheit mit dem Meer ausgebildet wie all die anderen. Das Meer bedeutet das Zuhause. Mit dem Fischen ernährt er sich selbst nicht nur lange Zeit gut. Das Fischen ist zugleich auch die Grundlage für eine Reihe bedeutender Lebenserfahrungen. Es ermöglicht Einkünfte, um sich frühzeitig von der Herkunftsfamilie zu lösen und unabhängiger zu werden. Das Fischen ermöglicht die Schule und sogar den Beginn einer weiterführenden Ausbildung. Philipe hat Pläne und verzichtet in den Jahren vor dem Hurrikan auf alles, was ihn existentiell zu sehr herausfordern könnte. Er verzichtet darauf, frühzeitig selbst eine Familie zu gründen und versorgen zu müssen. Er will unabhängig bleiben und lernen – so seine Worte – und bahnt sich somit einen Weg ins eigene Leben. Hurrikan »Matthew« hat diesen Weg unterbrochen. Das Wenige, was er hat, verliert er wie alle anderen auch. Aber um diesen Verlust geht es weniger. Viel bedeutsamer ist, dass er durch die Katastrophe ziemlich schnell etwas bekommt, nämlich eines der kleinen Häuser in einer Armensiedlung in Grand-Goâve. Das Haus kommt prompt in den Wochen nach dem Sturm und wird zur Verfügung gestellt durch eine christliche Mission.70 Mit diesem Haus gehört er seitdem in ein Kollektiv aus Armen, genauer: aus Opfern der Not nach Hurrikan »Matthew«. Philipe wird Mitglied in der Gemeinde. Am Sonntag ist er immer in der Kirche und dort aus tiefster Dankbarkeit auch engagiert. Er engagiert sich insbesondere im Fischerverbund, der sich über die Kirche organisiert. Er hat, wie er mir gegenüber betont, ein großes Interesse für Ökologie und hierzu besonders am Meer. Es scheint, als findet sich in diesen sozialen und christlich-religiösen Bezügen ein neuer von Hoffnung getragener Weg. Wir kommen aber auf das kleine Haus zu sprechen, das er mit seiner Schwester und deren Sohn bewohnt. Er erzählt, dass er nun alles, das Haus, die Schwester, ihr Kind und sich selbst mit der Fischerei versorgen muss und dass dies nicht einfach ist. Er bräuchte 1500 Gourdes (ca. 13 Euro) am Tag, um 70
In diesem Fall geht es um die Organisation »Haiti Arise« (https://www.haitiarise.org/).
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zu überleben, eine Summe, die sich mit Fischfang allein kaum erwirtschaften lässt. Hierin wird deutlich, dass sich das Fischen nunmehr von einer Lebensstrategie zu einer schlechten Überlebensstrategie gewandelt hat. Es fällt auf, wie resigniert er ist, vor allem dann, wenn er von der Schule, dem Englischlernen und der Ausbildung berichtet. Ebenso fällt auf, dass er zugleich auch unterwürfig dankbar wirkt. Er betont mehrfach, dass er ohne die Kirche gar nichts mehr in seinem Leben hätte, dass er über nichts klagen dürfte, ihm ginge es ja noch ganz gut. Die Kirche hätte ihm schließlich das Haus geschenkt. Ich denke bei diesen Äußerungen, dass er aber auch eine Menge verloren und das Haus ihm eine Menge aufgebürdet hat. Verloren ist die Lebensperspektive, eine Fischerei, die ihn allein hätte tragen können, die ihm etwas Freiheit gewähren würde, seinen eigenen Weg zu finden. Ich denke auch, dass dies nach dem Sturm, nach der Erschütterung, wieder aufnehmbar gewesen wäre, insofern das Haus und die Kirche nicht eingegriffen hätten. Ich behalte diesen Gedanken jedoch für mich. Der Fischer Philipe war im Angesicht des Hurrikans verletzlich. Er hatte Angst und Not ob der psychischen Erschütterung und der Zerstörung. Er ist zum Opfer geworden und er hat Hilfe gebraucht. Die Hilfe kam in Form eines kleinen Hauses, an sich ein guter Anfang. Das Haus verpflichtet jedoch auf die Regeln und Werte der christlichen Gemeinde und hierüber auf eine bestimmte Weise, mit dem Meer, der Natur in Beziehung zu treten. Es verpflichtet auf soziale Beziehungen in einem religiösen Kollektiv aus Opfern des Hurrikans. Es verpflichtet auf die Fischerei als Überlebens- denn als Lebensstrategie. Es verpflichtet darauf, das eigene Leben entlang der Zäsur eines großen Naturereignisses zu führen, durch das er verletzt wurde. Es verpflichtet auf das Trauma. Philippe war es nicht möglich, sich in die Subsistenz auf seine Weise wieder einzufügen. Es gab keine Hilfe, die ihn diesbezüglich unterstützt hätte. Stattdessen wurde und ist er gebunden an einen durch das Haus und die Kirche vorinstallierten und nunmehr von Hoffnung getragenen Lebensweg. Dass er konvertierte und diesen Weg wählte, so sagt er selbst, hat mit dem Hurrikan zu tun und der tiefen Dankbarkeit, dass man ihm in dieser Situation geholfen hat. Diese großzügige Hilfe käme nicht von ungefähr. Er sagt, Jesus hätte ihm vergeben und nun auf den richtigen Weg gebracht. Das Thema Voodoo in dieser Situation anzusprechen, nachzufragen, was genau ihm vergeben wurde, wäre undenkbar. Es ist tabu. Was in dieser Äußerung zumindest durchscheint ist das Schuldgefühl, die eigene Not und Ver-
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wundbarkeit im Angesicht des Hurrikans in gewisser Hinsicht selbst mit verursacht zu haben. Er ist missioniert worden. Abbildung 5: Languste mit Corail
(eigenes Foto, August 2019)
Der Fischer Philipe ist nun wie viele der Fischer als Konvertierter auf dem Meer, er fischt nun täglich von einem anderen Zuhause aus. Gemeint ist ein Zuhause, in dem man über die Verwundbarkeit und über Schuld gebunden wurde und es auch bleibt, weil die wenigen Zuwendungen und vor allem die Hoffnung tragen.71 Dass er in dieser Welt nach dem Sturm als verarmter Fischer allmählich resigniert, spüre ich, weil ich seinen einstmaligen Anspruch 71
Zur Mobilisierung von Hoffnung im Zuge christlich-religiöser Gebundenheit als Coping-Strategie vgl. Abbott & White (2019).
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auf das Sattwerden, auf die Nahrungs- und Lebensfülle im Umgang mit der Natur erkannt und anerkannt habe. Was aus dieser Resignation werden kann, zeigt, dass er derjenige Fischer ist, der zwar ein ökologisches Interesse bekundet, aber dennoch sichtlich gleichgültig den Fang der Corail-tragenden Languste präsentiert und abfällig äußert: »Ist doch egal, die Eier schmecken gut!«72 (vgl. Abb. 5). Er ist nun einer der Fischer, dem das Verhalten, die Farben und die Vielfalt der Fische gleichgültiger sind, einer von denen, die herausholen, was eben geht, selbst dann, wenn sich für den Fisch keine Verwertung und Einkünfte finden. Er ist einer von denen, dem die Gemeinschaft mit den Dingen, dem das Meer als das Zuhause nichts mehr bedeuten darf, weil dies in einer absurden Deutung als falsch und verteufelt gilt. Das Zuhause wird schleichend zerstört und es wirkt, als wird er in diesen Akten gerade zu dem, was man ihm nachsagt. Er agiert nunmehr feindselig den erdnaturbezogenen Dingen und sich selbst gegenüber. Es zeigt sich also deutlich, wie sich die Resignation über den eigenen Selbstverlust in einer kleinen Szene mit einer Languste bemerkbar macht, dass sich hier gezielte Missionierung und Zerstörung die Hand geben. Dass es im konservativ-christlichen Diskurs, den Organisationen und Gemeinden überhaupt gelingen kann, die grundständige Armut und die Anpassungsfähigkeit von Menschen im Zugriff auf Opfer zu instrumentalisieren, hat m.E. eine tiefere Ursache in der psychischen Verletzlichkeit und der Not im Zuge der großen Naturereignisse. Dies ist die Voraussetzung, um sich für eine Idee von Schuld und Strafe öffnen zu können, diese anzunehmen und zu tragen. Dass diese Öffnung gelingt, liegt an den ausgeprägten sinnlich-affektiven Naturbezügen, deren spirituell-religiöser Verbindung zum Voodoo und hierin an einem Dasein in einer göttlichen, wenn auch »vergeisterten« Natur. Das Operieren mit Schuld und Strafe setzt nun genau an dieser Stelle an. Es attackiert und trifft im Kern das Natur- und Selbstverhältnis als Verhältnis zur Fülle und damit die Lebensgrundlage in einem tieferen Sinn. Greift man in hochvulnerablen Situationen durch Schuldzuweisungen in dieses System ein und damit Identitäten an, kann das bezogen auf die Natur nur Resignation mit Zerstörung bedeuten.
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Originalzitat kreolisch: »Sa pa fè anyen, ze oma yo gou!«
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
3.5
»Für dich gibt es hier keinen Platz mehr!« – Aufrufe zum Gehen
Eine vierte abschließende Erzählung berührt ein Phänomen von Gegenläufigkeit, das im Diskurs über Haitis Landflucht anklingt und womit eine Form von Armutsmigration vorzugsweise in die Städte oder ins Ausland gemeint ist. Es handelt sich um Migrationsbewegungen, die in erster Linie auf die Zunahme der Bevölkerung, der ökologischen Probleme und hierin einer strukturellen Armut zurückgeführt werden. Gemeint ist eine Krise der Subsistenzkulturen, die im Kern als Bodenfrage verhandelt wird.73 Landflucht zeigt sich in der Abwanderung vorzugsweise junger Menschen. Die Deutung dabei ist, dass nur jene Menschen bleiben, die nicht mehr gehen können. Ländlichkeit, rurale Lebensstile, die Subsistenzkulturen gelten als nicht mehr lebbare und auch rückständige Lebensformen. Einerseits handelt es sich hierbei um eine Deutung, welche in Abwanderungsdebatten folgerichtig ist, die makromaßstäblich auf Grundlage von Push- und Pull- sowie »rational choice«-Theorien geführt werden.74 73
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Catanese konstatiert: »Many of those [emigrants, A. S.] who left the country for economic reasons have to some extent to be affected by the environmental deterioration wrought by widespread deforestation and the erosion and exhaustion of productive soil« (Catanese 2019:58). Die Landflucht in die Städte, insbesondere in die Metropole Port-au-Prince, gilt wiederum als Ursache für Haitis urbane Krise, womit ein überproportionales und unreguliertes Wachstum der Städte gemeint ist. Port-au-Prince wurde durch die Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten überwältigt. Anfang der 1980er Jahre lebten im Großraum Port-au-Prince noch ca. 700.000 Einwohner. Diese Zahl hat sich bis Mitte der 1990er Jahre verdoppelt. Seit Mitte der 2000er Jahre verzeichnete die Stadt ca. drei Millionen Einwohner (Beckett 2019:28-30). Die makromaßstäbliche Beobachtung von Migrationsbewegungen operiert mit dem Konstrukt einer Bevölkerung, so z.B. Haitis Landbevölkerung. Damit wird eine Art kollektives Subjekt unterstellt und in seinem Wanderungsverhalten beschrieben. Für diese Beschreibung werden Merkmale auf der Makroebene bzw. der sozialen und ökonomischen Umwelt herangezogen und mit den Handlungslogiken eines nutzenorientierten Akteurs auf der Mikroebene verknüpft. Die Migrationsentscheidung ist dann das Resultat einer Abwägung von sogenannten Push-Faktoren im Herkunftsgebiet und Pull-Faktoren im Zielgebiet. In einem solchen migrationstheoretischen Zuschnitt wird dann eine Art Protagonist der Wanderungsbewegung produziert bzw. zahlenmäßig modelliert. Es handelt sich meist um einen Akteur, der zur persönlichen Nutzenmaximierung zutiefst ökonomisch-rationale Entscheidungen trifft. Der Protagonist der Abwanderungsdebatte in Haiti ist dann ein vorzugsweise männlicher Wirtschafts-, Armuts- oder Elendsflüchtling; zur »rational choice«-Theorie vgl. Hill (2002); zum
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Andererseits geht es bei der Abwanderungsfrage nicht bloß um eine diskursmächtige Deutung, sondern um eine Frage, die sich im alltäglichen Erfahrungshorizont der gesamtgesellschaftlichen Dauerkrise jedem ernsthaft vermittelt, der die entsprechenden Ressourcen hat, eine solche Option in Erwägung zu ziehen. Abwanderung ist zudem auch kein spezifisch ländliches Phänomen. Der tatsächliche Druck und das Reden darüber, gehen zu müssen, nicht mehr bleiben zu können, keine Lebensperspektive zu haben, ist allgegenwärtig. Wer kann, der erwägt, zu gehen, genauer: zu fliehen. Es ist eine belastende Dauerfrage, die auch dann, wenn man bleibt, nie abgeschlossen ist.75 Es liegt auf der Hand, dass man als Auswärtige förmlich in diesen Diskurs »rennt«, dass man in unzähligen Situationen als Möglichkeit oder als Projektionsfigur für diese Frage fungiert. Aber darum geht es in dieser Erzählung weniger. Es geht auch weniger darum, zu fragen, wie sich diese mächtige Deutung im Kleinen individueller Überzeugungen zur Geltung bringt, sondern darum, es als Tatsache zu behandeln, dass sich die Frage Gehen oder Bleiben stellt, dass Abwandern und Flucht oft die einzig richtigen Optionen sind. Der Versuch, der an dieser Stelle jedoch unternommen wird, ist, den sogenannten Migrations- oder Fluchtdruck genauer zu untersuchen und hierzu ein Phänomen der Gegenläufigkeit anzunehmen. Vom Standpunkt einer »Natur der Fülle«, lässt sich – so die These – für das Abwandern nicht nur die prekäre Lage in einer strukturellen Armut in Anschlag bringen, sondern vielmehr auch ein Phänomen sozialer Exklusion mit einer Tendenz zur Vertreibung feststellen, die ihren Ursprung in den korrupten Machenschaften von Entwicklungsorganisationen nimmt. Die Erzeugung von Migrationsoder Fluchtdruck, läuft dann dem Anspruch und den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« entgegen. Nicht bleiben zu dürfen (anstatt nicht bleiben zu können) ist dann der Hinweis für eine Tendenz zur Tabuisierung. Ein solcher Mechanismus wird im Folgenden hypothetisch entfaltet und empirisch entlang von eigenen »Fluchtimpulsen« in einem besonderen Fall illustriert.
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Push- und Pull-Konzept vgl. Gans (2007); zur Dekonstruktion von Abwanderungslogiken vgl. Schneider (2013b:191-207); zum Abwanderungsdiskurs als Armutsflucht in Haiti vgl. Catanese (2019:48-60), Lundahl (2011:125-153). Exemplarisch soll die Aussage eines Studierenden in Port-au-Prince zitiert werden: »I live in Haiti. That means I live in a prison. I have no choice to choose, what is good for myself. I need a break from this country, at least for a while to find out, whether I can stay or not.«
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Beobachtungen zum Druck verschwinden zu müssen Der folgenden Darstellung voraus gehen die Erfahrungen in Monben, einer Farmergemeinde in den Bergen in der Nähe von Côtes-de-Fer im Süden Haitis. Nach Monben komme ich nach mehrfachen und eindringlichen Bitten von Germaine, der sich, wie er mir glaubhaft vermittelt, vor Ort lokalpolitisch engagiert und unter anderem versucht, eine Gemeindeschule aufzubauen. Die Region um Monben ist eine der Regionen, die durch Hurrikan »Matthew« schwer getroffen wurden und es bis heute sind.76 Folglich sind in dieser Gegend auch eine große Anzahl von Entwicklungsorganisationen aktiv. Es handelt sich meist um lokale Organisationen mit Fokus auf die Ernährungssicherung durch Förderung und Entwicklung der Agrarwirtschaft, die durch internationale Institutionen (z.B. FAO77 , EU, »The World Bank«) initiiert, konzeptionell begleitet und finanziert werden.78 Allein in der unmittelbaren Region um Monben mit mehreren Tausend Einwohnern gibt es mittlerweile acht lokale Organisationen, die sich im Zuge von Hurrikan »Matthew« etabliert haben. Die Zuwendungen durch die internationalen Institutionen wurden und werden in Kooperationen mit staatlichen und lokalen Akteuren konzeptionell gebunden und in die Region transferiert. In der Region um Monben konkurrieren diese lokalen Organisationen untereinander auf das Schärfste. Es geht hauptsächlich um die Teilhabe an finanziellen Mitteln, um Territorialansprüche und den politischen Einfluss vor Ort. Ich erfahre später, dass die gesamte
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Hurrikan »Matthew« traf als Hurrikan der Kategorie 4 am 4. Oktober 2016 besonders den Südwesten Haitis. Die Datenlage ist unübersichtlich. Die Anzahl der Todesopfer liegt zwischen 300 bis 500. Mehr als 2,3 Millionen Menschen waren direkt betroffen. Infolge des Hurrikans entwickelte sich zudem eine Cholera-Epidemie; zu Hurrikan »Matthew« vgl. »National Hurricane Center Tropical Cyclone Report Hurricane Matthew« (h ttps://www.nhc.noaa.gov/data/tcr/AL142016_Matthew.pdf), »Haiti: IOM Haiti Appeal/ Hurricane Matthew 9. October 2016« (https://reliefweb.int/report/haiti/haiti-iom-app eal-haiti-hurricane-matthew-9-october-2016), »USAID Caribbean Hurricane Matthew Fact Sheet« (https://www.usaid.gov/matthew/fy17/fs19). »Food and Agriculture Organization of the United Nations« (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen), im Folgenden als FAO bezeichnet. Es geht um Mittel zur humanitären Hilfe im Zuge von Naturkatastrophen vorrangig durch EU, FAO und »The World Bank«; zur EU-Hilfe vgl. https://ec.eu ropa.eu/echo/where/latin-america-and-caribbean/haiti_en; zur FAO-Hilfe vgl. www. fao.org/emergencies/crisis/hurricanematthew/intro/fr/; zur Hilfe der »World Bank« vgl. https://www.worldbank.org/en/results/2017/10/20/rapidly-assessing-the-impact-of -hurricane-matthew-in-haiti.
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Gegend bereits in den Händen dieser acht Organisationen liegt und dass hierdurch das bestehende soziale, politische und territoriale Gefüge mittlerweile neu verhandelt wird.79 In das Machtgefüge dieser »großen Acht« gehört auch Germaine, der mich unter dem Vorwand einer gemeinnützigen Tätigkeit nach Monben lockt. Er erhofft sich mit mir als Wissenschaftlerin aus Europa an seiner Seite ein lukratives Geschäft und einen Statusgewinn. Es geht ihm nicht nur darum, eine Ausländerin nach Monben zu bringen, was in der Wahrnehmung oft für Geld und Ansehen steht, sondern ebenso eine Wissenschaftlerin, was Erkenntnisse und Deutungsmacht verspricht. Ich ahne von all dem zunächst nichts. Der Auftrag an mich besteht offiziell darin, bei den vermeintlich selbstorganisierten Formen des »community building« zu unterstützen, die geplanten Schulprojekte zu beraten, Problemdiagnostik im Bereich der Subsistenzwirtschaften zu betreiben usw. Dass ich diesem Auftrag folge, begründet sich aus dem Eindruck, eine gewisse Expertise und Zuständigkeit zu haben und ebenso aus meinem Forschungsinteresse. Der rural geprägte Süden Haitis ist mir bis dato unbekannt. Unbekannt sind mir ebenso Gebiete, deren Subsistenzwirtschaften von einem großen Naturereignis wie einem Hurrikan massiv beeinflusst sind. Mir scheint es, als wäre damit ein besonderer Feldzugang und eine weitere Fallstudie möglich. In den Augen von Germaine bin ich jedoch ein nützliches »Ticket«, um finanzielle Mittel, Menschen und Ansehen für seine Organisation zu mobilisieren. Ich werde also korrumpiert und bekomme einen lebendigen Eindruck davon, was Korruption bedeuten kann. Es dauert nicht lange, bis ich bemerke, dass an der gesamten Sache etwas nicht stimmt, behalte es aber für mich und entscheide mich dennoch dazu, eine Weile vor Ort zu bleiben, mich aber für nichts im Sinne der Interessen von Germaine zur Verfügung zu stellen. Ich mache also bei seinem Vorhaben nicht mit. Stattdessen nehme ich eigenständig Kontakt mit den Bewohnern auf, verbringe Zeit mit den Frauen in der Küche, mache Spaziergänge durch die Gegend, sitze mit den Farmern in den Gärten, beschäftige mich mit den Kindern
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Es handelt sich um Korruption, die in Haiti allgegenwärtig ist. Laut CPI (»Corruption Perception Index«/Korruptionswahrnehmungsindex), der die wahrgenommene Korruption im öffentlichen Sektor beschreibt, liegt Haiti mit 82 von 100 Punkten (2019) auf Platz 170 der Weltrangliste und damit erheblich unter dem Durchschnitt. Je höher die Punktzahl, desto massiver fällt die Korruption aus; zum CPI vgl. https://www.laen derdaten.info/Amerika/Haiti/korruption.php.
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und schreibe an meinem Forschungstagebuch. Ich bin also vor Ort, aber anders als man es erwartet. Geplant ist, dass in den ersten Tagen nach meiner Ankunft ein größeres Treffen mit Anwohnern und den Initiatoren der vermeintlichen Projekte zur lokalpolitischen Gemeinschaftsbildung stattfindet. Bis dahin habe ich also etwas Zeit, um den Leuten vor Ort implizit zu demonstrieren, weshalb ich eigentlich gekommen bin, nämlich um die Gegend, die Menschen, ihre Tätigkeiten in der Subsistenz, ihre Naturbeziehungen und drängenden Fragen zu untersuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen, dazu weder übermäßig zu intervenieren noch ungefragt Hilfe anzubieten. Mir gelingt es gut, in dieser Weise Beziehungen aufzunehmen und die von Germaine zugewiesene Rolle abzustreifen. Dieses Vorgehen bleibt nicht ohne Wirkung und es geschieht, dass zum vorgesehenen Termin bis auf Germaine und drei weitere Personen aus dessen Gefolgschaft niemand kommt. Die Anwohner bleiben also fern. Wir sitzen in kleiner Runde von sechs Personen und Germaine wird unruhig und wohl auch wütend auf mich. Sein Vorhaben, mich in seine Geschäfte einzubauen, beginnt in diesem Moment zu scheitern. Ich bemerke den aufkeimenden Unmut daran, dass ich in der Runde kaum mehr zu Wort komme oder wenn doch, dass meine Fragen und Statements unkommentiert bleiben, das Thema gewechselt wird, dass man sich vom Gesprächsort entfernt und dass das Treffen schließlich langsam im Sand verläuft. Was man mit diesen Manövern versucht, ist, mich aus der Gesprächsrunde auszuschließen, mich loszuwerden. Dieser Modus der Exklusion zieht sich von nun an durch die kommenden Tage. Germaine und seine Leute bleiben zwar freundlich, aber äußern darf ich mich nicht. Ich merke, wie angespannt und aggressiv die Stimmung wird, kann aber gut damit umgehen und nehme mich zurück. Sucht man eine Botschaft, die Germaine und seine Leute in dieser Situation aussprechen würden, wenn sie es dürften, dann lautet diese: »Verschwinde mit deinen Ansprüchen, du störst!« Um welche Ansprüche geht es? Ich vertrete zu diesem Zeitpunkt eine Position, die sich nicht korrumpieren lässt. Das ist das eine. Ich stehe auch sonst für niemanden in der klassischen Helfer-Hilfsbedürftigen-Konstellation zur Verfügung. Dies befreit die Begegnungen mit den Bewohnern des Dorfes. Man erwartet nichts voneinander außer etwas Neugierde und Interesse am jeweils anderen, letztlich eine anerkennende Form von Zuwendung. Obsolet werden also der vertraute Modus, um Beziehungen und Gespräche aufzunehmen, indem Opferpositionen aufgerufen und Schuldzuweisungen mobilisiert werden. Stattdessen öffnet sich das Feld und ich begegne Menschen und ih-
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ren Geschichten, denen ich sonst nicht begegnen würde. Es sind Menschen, die bereit sind, mich mit ihren alltäglichen Lebenswelten vertraut zu machen. Zudem verfolge ich ein Interesse am Leben in der Subsistenz und dazu an all dem, wodurch dies gelingen könnte.80 Auch dies erzeugt ein gutes Miteinander und setzt sich ab von den gängigen Gepflogenheiten, in Form von Klagen und Anklagen über Krisen und Probleme zu sprechen. Die Leute bemerken den Unterschied und sie beginnen zu erzählen, was ihr Leben in den Bergen beständig, gut, aber auch beschwerlich macht. Es sind die Tage, in denen sich die Idee über ein Natur- und Selbstverhältnis im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zunehmend sättigt, wofür sich in der Abgeschiedenheit dieser Region trotz der Katastrophe durch den Hurrikan eine Reihe von Belegen findet. Unverkennbar sind aber auch Hinweise, dass diese »guten Quellen« von den Machenschaften der lokalen Entwicklungsorganisationen unterlaufen werden. Es wird von unzweckmäßigen Bereicherungen, Erpressungen und der sukzessiven Vereinnahmung des Gebietes berichtet.81 Ich ahne, dass mit diesen Erzählungen ein Konflikt anspielt wird, dass man über mich vielleicht auch eine Koalitionsbildung versucht. Was sich hierbei zeigt, ist zwar ein Konflikt, in den ich durch die Machenschaften von Germaine und meinen Aufenthalt vor Ort nun selbst verstrickt bin, der sich aber dadurch überhaupt erst in die Sichtbarkeit bringt. Interpretation Ich erkenne die Konfliktdynamik und verfolge ab da die These, dass die Eingriffe der lokalen Organisationen die soziale Exklusion der Bewohner herbeiführen können. An mir selbst bemerke ich, dass man sich dieser Dynamik nicht entziehen kann. Solange ich an diesem Ort bin, habe ich damit umzugehen, mit dem, was ich denke und kann, hier nicht sein zu dürfen. Es ist schwer auszuhalten und auch nicht ungefährlich, in einer Situation zu verweilen, in der man als unerwünscht, störend, wenn nicht sogar als bedrohlich wahrgenommen wird. Ich empfinde also tatsächlich großen Druck, verschwinden zu 80 81
Es handelt sich um eine moderate ressourcenorientierte forschende Haltung in einem Setting teilnehmender Beobachtung. Als Beispiel für eine solche Bereicherung ist das Wohnhaus eines jungen Rechtsanwaltes in Côtes-de-Fer, der an einer der Organisationen beteiligt ist. Ich konnte recherchieren, dass das Haus mit internationalen Geldern im Zuge von Hurrikan »Matthew« gebaut wurde. Es gab bei diesem Rechtsanwalt im Rahmen einer schwierigen Anreise nach Monben eine kurzfristige Zwischenübernachtung und mich wunderte die gehobene Ausstattung eines Hauses in dieser Region.
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müssen und frage mich, ob dies eine implizite Botschaft ist, die an diesem Ort generell wirkmächtig wird, d.h. dass durch die Machtansprüche lokaler Eliten jene Menschen vertrieben werden, die das Potential haben, das Ansehen, den Einfluss sowie das Streben nach Geld und Landbesitz zu gefährden. Meine Frage ist: Wenn ich in meiner Positionierung zur Bedrohung werde, die ein Natur- und Selbstverhältnis im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« in die Sichtbarkeit bringt, wen repräsentiere ich damit in diesem sozialen Gefüge? Im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« repräsentiere ich Sozialfiguren wie Antoine, ein 38-jähriger lebenstüchtiger und an sich kräftiger Mann, verheiratet und Vater von vier Kindern, zutiefst verbunden mit der Region, den Leuten und der Natur.82 Antoine ist einer von denen, die gemeinsam mit ihren Familien das Potential hätten, die Subsistenz progressiv weiterzuführen. Landwirtschaft ist seine Berufung. Er ist reich an Ideen, hat die Schule besucht und er besitzt die Kraft, ausreichend Landbesitz, die Familie und auch ein wenig Geld, um das Leben gefüllt und erfüllt zu halten. In der Perspektive eines Subjekts der »Sorge um sich« und der Dinge, die es umgeben, finden sich also stimmige Bedingungen. An sich müsste Antoine zur tragenden Generation dieser Gemeinde gehören. These ist, dass er diese Ansprüche nicht artikulieren kann und darf, ohne dafür den sozialen Ausschluss zu riskieren. Eine solche Artikulation würde nicht nur die Verbundenheit in einem solidarischen Netz in Gefahr bringen, was man im Subsistenzalltag und vor allem durch die Verwundbarkeit bei den großen Naturereignissen unbedingt benötigt. In Gefahr wären ebenso mögliche Hilfszuwendungen, von denen man nicht ausschließen kann, dass man sie zukünftig braucht. Die Krisen, die Katastrophen, die prekären Lagen sind immer greifbar nah, die Wahrscheinlichkeit, wiederkehrend neu anfangen zu müssen, entsprechend hoch. Nun ist es aber so, dass die »Krisenabsicherung« durch die internationalen Hilfsmittel zumindest in Monben ausschließlich durch das korrupte Nadelöhr der »großen Acht« fließen und dass es sich hierbei um eine Struktur handelt, die sich auf lange Sicht verfestigen wird.83 82 83
Auch er spricht von der Natur als seinem Zuhause. Im Fall von Antoine gab es einen solchen Artikulationsversuch. Er hatte die Option, sein Gemüse zu verkaufen und dazu das entsprechende Angebot eines Restaurantbetreibers in Petit-Goâve. Es handelt sich um ein beliebtes Restaurant in Expatriate-Kreisen mit einer Art gehobener Bio-Küche. Der Restaurantbetreiber war interessiert daran, seine Produkte direkt aus den Bergen zu beziehen und auch daran, eine Lösung zu finden, um seine beschwerlichen Marktbesuche zu reduzieren. Ausgemacht wurde eine
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In Monben sind es die jungen Männer, die fehlen. Es gibt sie nicht. Sie gehen, weil sie in der Subsistenz, in ihrer Art des Gelingens, letztlich im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« nicht mehr existieren können und dürfen. Sie scheitern, aber sie gehen nicht nur aufgrund einer ausweglosen prekären Lage, so wie es bei Phänomenen der Landflucht und Haitis ruraler Krise oft beschrieben wird. Sie geraten vielmehr unter Druck, verschwinden zu müssen, weil sie in den regionalen Gemeinschaften ihren Platz nicht einnehmen dürfen. Sie scheitern an der eigenen Verwundbarkeit, allen voran im Zuge der zerstörerischen Naturereignisse. Gemeint ist eine Verwundbarkeit, mit der sich in der Beständigkeit der Einfachheit in der Subsistenz eigentlich gut umgehen ließe, gäbe es eine Form von Hilfe ohne machtvolle Unterwerfungsstrukturen, d.h. eine Hilfe, die auch Leute wie Antoine einschließt und weniger korrumpierbar ist. In der Perspektive von Figuren wie Antoine wäre aber auch zu vermuten, dass sie ihre Verwundbarkeit, insbesondere bei den großen Naturereignissen, dann besser bewältigen könnten, wenn keine Hilfe kommt. Sie wären zumindest befreit von den Machtansprüchen einiger weniger. Die Frage ist, wie verwundbar ob der Naturkatastrophen sie wirklich sind und inwieweit Hilfsstrukturen, die für Korruption zugänglich sind, nicht zusätzlich für eine erhöhte Verwundbarkeit sorgen. Antoine verschwindet auf Zeit, so wie alle der jungen Männer in Monben. Seit einigen Jahren arbeitet er illegal auf einer Zuckerrohrplantage oder auf dem Bau in Santo Domingo in der Dominikanischen Republik. Die Frau und Kinder bleiben in Monben zurück und werden versorgt von den durchschnittlich 150 US-Dollar, die Antoine monatlich nach Hause schickt. Die Menschenhändler kommen in die Dörfer, wählen gezielt junge Männer aus, die dann auf geheimen und lebensgefährlichen Routen über die Grenzen geschmuggelt werden.84 In Santo Domingo bleibt Antoine, solange bis er nicht mehr arbeiten kann, d.h. bis er physisch und psychisch erschöpft ist. Er schafft in der Regel acht Monate. Danach geht er zurück nach Monben, aber nur um
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direkte Lieferung einmal pro Woche. Es gab Lösungen für die logistischen Herausforderungen sowie Vorbereitungen für eine kleinere Kooperation von Farmern vor Ort. Kurzum, es gab die Möglichkeit, ein Geschäft zu starten. Dies wurde jedoch aktiv mit Drohungen verhindert. Dieses Geschäft hätte im Gefüge der Entwicklungsorganisationen in der Region Monben einen Unterschied gemacht. Zum Migrationsphänomen in die Dominikanische Republik sowie zur Diskriminierung und Marginalisierung haitianischer Einwanderer vgl. Ferguson (2003), Lundahl (2011:125-153).
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sich für ein paar Monate von den Strapazen zu erholen. Ist er wieder rüstig genug, beginnt ein neuer Zyklus. Dass ich Antoine in seinem Zuhause antreffe, liegt daran, dass er dort gerade zur Regeneration ist. Machen kann er nichts, dazu fehlt ihm die Kraft. Der kleine Acker, der Garten und das Haus werden notdürftig durch seine Frau und die Kinder versorgt. Es ist unverkennbar, dass all dies verfällt. Es ist Preis einer impliziten Regel und dem Druck für 150 US-Dollar monatlich verschwinden zu müssen. Für das Gelingen der Subsistenz fehlt es zunehmend an Vitalität und Körperkraft, also an all dem, was die Einfachheit im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« grundiert und was Antoine nunmehr als saisonaler Flüchtling in der Dominikanischen Republik verkauft. Es ist eine Frage der Zeit, bis auch sein Land nicht mehr bewirtschaftet wird und in den Pool der lokalen Großgrundbesitzer fließt. Antoine wird dieses Lebensmodell zwischen Santo Domingo und Monben nicht mehr lange aufrechterhalten können. Wenn es ihm gelingt und seine Körperkräfte ausreichen, wird er bei einem der nächsten Zyklen nicht mehr zurückkommen, die Familie hinterherholen oder aber verlassen. Das ist zu der Zeit, als ich ihn treffe, noch die einzige Option, die ihm bleibt. Ich beschreibe diese Geschichte, weil sie auf die Vertriebenen in Monben verweist und sich hier ein Muster der sozialen Exklusion im Umfeld der von internationalen Institutionen getriggerten Interventionen spiegelt, wenn diese trotz bester Intentionen zur Korruption einladen.85 Man sieht die Menschen zunächst nicht, die mit dem, was sie sind und können, nach Monben und in eine Gemeinschaft zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen gehören. Man sieht sie nicht, weil sie nicht da und wenn doch, dann außer Kräften sind und somit nicht mehr aktiv werden können. Man sieht sie auch nicht, weil es ihre Geschichten nicht gibt, weil sie nicht erzählt werden
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Im weitesten Sinne sind diese durch die internationale Gemeinschaft getriggerten Interventionen deshalb für Korruption anfällig, weil die Frage nach den vorfindlichen Modalitäten von Naturvermittlungen einen blinden Fleck berührt, weil man die Subsistenzförderungen einseitig naturalistisch angeht, mit Artikulationsfiguren von Opfern operiert und damit per se nicht die richtigen Leute adressiert. Der Anwalt mit seinem schicken Haus ist nicht naturverbunden, besteht nicht aus sich selbst heraus. Er lebt fernab der betroffenen Gemeinden. Auch Germaine ist nur hin und wieder vor Ort, lebt vorrangig in Port-au-Prince, um seine Geschäfte zu pflegen. Beide gehören aber zu denjenigen, die Zugang zu den Mitteln haben und nunmehr entscheiden, welche Mittel wohin fließen.
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und wenn doch, dann in den Logiken von Push- und Pull-Faktoren und eines durch »rational choice« getriebenen Armutsmigranten interpretiert werden. Über Geschichten wie die von Antoine wird nicht gesprochen. Dies deshalb nicht, weil sie in Monben zum Alltag gehören. Man spricht aber auch nicht, weil diese Geschichten nicht erfragt werden und weil das, was mit den Menschen verloren geht, d.h. der Anspruch und die Möglichkeiten auf Nahrungs- und Lebensfülle über ein anerkennendes Verhältnis zur ökologischen Fülle und der Ereignisfülle in den Logiken von Intervention und Hilfe in ihren lokalen Ausprägungen nicht mehr zur Geltung gelangen kann und darf. Ich selbst werde auf die Vertriebenen erst durch meinen eigenen Fluchtimpuls aufmerksam, durch den passiv-aggressiven Druck aufgrund meiner Position und Forschungsinteressen verschwinden zu müssen. Erst mit dieser Erfahrung ist es mir möglich zu sehen, wer und was in Monben fehlt, aber nicht fehlen dürfte. Ich sehe nun die fehlenden Männer, mit denen die Frauen und Kinder am einzigen Ort mit Mobilfunkempfang telefonieren. Ich höre nun das Reden über das Fehlen eines generationsübergreifenden solidarischen Netzes. Ich höre Mütter und Väter, die ihre Söhne seit Jahren nicht gesehen haben. Ich sehe Antoine, wie er an mir kraftlos vorbeihumpelt und ich mich frage, wieso der einzige junge Mann im Dorf so versehrt ist. Ich sehe es aber auch, weil ich diese Geschichten erfrage und mich damit etwas annähere, was nicht erlaubt ist. Dass es die vom Geld und der Hilfe Vertriebenen gibt, liegt daran, dass sie oft nicht arm oder alt oder eben nicht korrupt genug sind, um an der Hilfe, wenn sie tatsächlich gebraucht wird und fließt, zu partizipieren. Männer wie Antoine und ihre Familien stehen in der Mitte ihres Lebens, richten sich aber als Arbeitssklaven andernorts zugrunde, weil sie im Machtgerangel und durch den Missbrauch lokaler Eliten kaum mehr eine Chance haben. Gemeint ist ein Machtmissbrauch, der sich durch ein Großereignis, wie Hurrikan »Matthew«, durch internationale Gelder und durch Interventionsstrategien mit wenig Sensibilität für die vorfindlichen Naturbeziehungen in Gang setzen kann. Der Hurrikan, das Naturereignis an sich, so scheint es nahezuliegen, ist in dieser Hinsicht das kleinere Problem. Die jungen Männer verschwinden, wie es erwartet wird und sie reproduzieren damit den Status Quo der ruralen Krise, der Selbstausbeutung und auch einer schleichenden Überausbeutung der erdnaturbezogenen Dinge, geht man davon aus, dass sich in der sukzessiven Vereinnahmung und dem Ausverkauf des Gebietes durch die lokalen Organisationen weniger ein Verhältnis zu einer »Natur der Fülle« findet. Das Sattwerden gelingt so nicht.
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
3.6
Subjektivierung durch Tabuisierung
Diese zweite Untersuchung ist mit der Annahme gestartet, dass es sich beim Anspruch und bei den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« um etwas handelt, dass nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Die beobachtete Destruktivität ist folgerichtig, wenn mit Ressourcen wie Einfachheit, Einvernehmen und Verbundenheit, die in einer Naturbeziehungsweise zum Guten liegen, ein Tabu berührt wird. Im Kern führen Tabuisierungen dazu, dass die Modalitäten von Naturvermittlungen gestört und beschädigt werden, die diesen »guten Quellen« vorhergehen. Gestört und beschädigt sind dann Naturvermittlungen im Modus einer ontologischen »Melange der Naturen«, d.h. im Modus der Koexistenz und Integration animistischer sowie naturalistischer Vermittlungen. Gefragt wurde, woraus sich ein mögliches Tabu speist, welche Gewissheiten es gibt, die einer »Natur der Fülle« zuwiderlaufen. Gefragt wurde zugleich auch, wie Tabuisierungen funktionieren, d.h. mit welchen Praktiken und Taktiken es gelingt, ein Tabu durchzusetzen, wie aus dem Zuwider- ein Gegenlaufen wird. Die Aufgabe bestand also einerseits darin, situativ zuwiderlaufende Gewissheiten, genauer: Differenzmomente aufzuspüren, diese in das jeweilige wissenschaftliche, professionelle und populäre Diskursfeld einzubetten und zu diskutieren, inwieweit diese Gewissheiten die vorfindlichen Naturvermittlungen beeinflussen und beeinträchtigen können. Andererseits bestand die Aufgabe darin, das Augenmerk situativ stärker darauf zu richten, auf welchen Wegen bestimmte Deutungen im Großen im Kleinen des alltäglichen Denkens und Tuns zur Geltung gebracht werden, sodass sich handlungsleitende Selbstgewissheiten ausbilden. Experimentell und im Kleinen untersucht wurde dazu, wie in (Interventions-)Beziehungen auf Menschen zugegriffen wird, wie diese vereinnahmt werden, um die jeweiligen Deutungsund Machtansprüche zu legitimieren und durchzusetzen. Um von einem Tabu und von Tabuisierung zu sprechen, braucht es also beides: Kenntnisse über zuwiderlaufende Gewissheiten sowie Einsichten in eine Beziehungskultur, die es vermag, entsprechende Subjektvierungen zu erzeugen.86
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In sozialtheoretischer Perspektive wurden Diskurs-/Interventionspraktiken betrachtet und gefragt, »in welcher Richtung sie ›subjektivierend‹ wirken, d.h. welche Dispositionen eines zugehörigen Subjekts sie nahelegen und über welche Wege ihnen diese Modellierung eines entsprechenden Körpers, eines Wissens und einer Psyche gelingt« (Reckwitz 2008:135).
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Um die Konturen eines möglichen Tabus und den Modus von Tabuisierung zu beobachten und zu beschreiben, wurde im Begriff von Subjektivierung eine sozialtheoretische und hierin erkenntnisleitende Figur zugrunde gelegt. In einer einfachen, darin aber zweckmäßigen Definition bedeutet Subjektivierung, dass Menschen zu Subjekten eines Zugriffs werden und im Vollzug dieses Zugriffs Selbstgewissheiten ausbilden können, die sich zu den jeweiligen Gewissheiten und Formen des Zugriffs stimmig verhalten. Diese Zugriffe drängen darauf, bestimmte Selbstgewissheiten auszubilden, die wiederum eine bestimmte Weise der Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen organisieren, womit im praktischen Vollzug dieser Beziehungen wiederum bestimmte Handlungen wahrscheinlicher werden.87 Wenn im Kontext dieser Untersuchung von Subjektivierung die Rede ist, dann wird damit weniger auf die Modi und Formen von Subjektivierungen abgehoben, welche der Ausbildung von Selbstgewissheiten zur Selbstentfaltung oder eigenständigen Positionierung in einem sozialen Feld zuträglich sind, sondern eben auf die Ausbildung von Selbstgewissheiten im Sinne des Zugriffs. Um einen Zugriff handelt es sich folglich nicht, wenn Menschen durch Deutungen über sich selbst angesprochen und ansprechbar werden, wenn es Spielräume gibt, diese eigenständig, reflexiv, interpretativ zu sich selbst zu bringen, d.h. zu verhandeln und auszuhandeln. Um einen Zugriff handelt es sich dann, wenn diese Deutungen mit Erwartungen verbunden sind, diese auf- und annehmen zu müssen. Wenn Menschen unter Druck geraten, den angebotenen Versionen über sich selbst gerecht werden zu müssen und dazu die passenden Selbstgewissheiten ausbilden, handelt es sich um einen Zugriff. Mit der Bezeichnung Zugriff wird somit ein Unterwerfungsoder Machtaspekt betont.88 87
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Rekurriert wird auf Subjektivierung als Perspektive des Feldes praxeologisch-poststrukturalistischer Theorien: »Subjektivierung meint den permanenten Prozess, in dem Gesellschaften und Kulturen die Individuen in Subjekte umformen, sie damit zu gesellschaftlich zurechenbaren, auf ihre Weise kompetenten, mit bestimmten Wünschen und Wissensformen ausgestatteten Wesen ›machen‹: das doing subjects« (Reckwitz 2017:125). Im Begriff von Subjektivierung ist das Subjekt beides, eine »agierende, autonome Instanz« und etwas »Unterworfenes« (Reckwitz 2017:126). Wenn von Zugriff die Rede ist, wird der Unterwerfungsaspekt betont. Tabuisierung ist in dieser Lesart Mittel zur Subjektivierung und hierin genauer: ein Modus zur Unterwerfung. Fokussiert wird dann, was einer Subjektform eines Subjekts der »Sorge um sich«, das zugleich autonom und
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
Für die Untersuchung wurde angenommen, dass sich im gesellschaftlichen Diskurs- und Erfahrungsfeld von Krise und Katastrophe Deutungen auffinden lassen, durch die Menschen nicht nur angesprochen und ansprechbar werden, sondern vielmehr, dass darin Hinweise liegen, dass Menschen zu Subjekten von Zugriffen werden. Dies deshalb, weil der Diskurs über Haitis Dauerkrise unweigerlich das gesellschaftliche Praxisfeld von Intervention berührt, womit zugleich ein mächtiger sozialer und politischer Handlungsrahmen verbunden ist. Subjektseitig betrachtet können Zugriffe vermutet werden, weil Interventionsbeziehungen einen bedeutenden alltäglichen Erfahrungsbereich abbilden und ebenso, weil Beziehungen zur Intervention bereits in ihrer Anlage von einem ungleichen Machtverhältnis zeugen. In der Intervention werden Menschen angesprochen, denen man unterstellt oder die von sich selbst behaupten, dass sie sich in prekären, hilflosen und schwierigen Situationen befinden und dies in den meisten Fällen tatsächlich auch sind. Anlass für Intervention bilden die Krise, die Not, letztlich die Begrenzung und Verengung von Handlungsspielräumen, zumindest auf einer Seite. In der Intervention an sich liegt also immer schon die Möglichkeit, vielleicht auch eine Tendenz zum Machtmissbrauch, auf Seite der Hilfsbedürftigen durch die Anfälligkeit in einem Zugriff vereinnahmt zu werden, und auf der Helferseite durch die Verführung einen Zugriff auszuüben.89 Für die Beobachtung in der Perspektive von Subjektivierung durch Tabuisierung wurde die These maßgebend, dass sich im Vollzug der gesellschaftlichen Kommunikation und (Interventions-)Praxis der Krise weniger Deutungen artikulieren, die sich mit dem individuellen Denken und Tun im Kleinen verlinken, d.h. die vermittelt und ausgehandelt und hierdurch fortlaufend reproduziert werden. Beobachtbar und erfahrbar – so die These – wird vielmehr
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unterworfen ist, in einem gesellschaftlichen Feld zuwiderläuft, sodass der Unterwerfungsaspekt in den Vordergrund tritt. Die Kunst in der Intervention bestünde dann darin, die grundlegende Frage der Subjektposition zu klären und Subjekte in der Spannung von Autonomie und Unterwerfung aufzurufen. Aus meiner Sicht steckt eine solche Subjektposition in Ansätzen, die mit Resilienzideen operieren, wobei aber auch hier zunächst auf ein leidgeprüftes, ohnmächtiges und hierin unterwerfungsbereites Subjekt rekurriert wird, das paradoxerweise in seiner Widerstandskraft zu Autonomie und Selbstverantwortung zurückfinden soll (Reddemann 2020, ferner auch Bröckling 2003). Die grundsätzliche Frage, die mit einem solchen Plädoyer auf den Plan tritt, ist, inwieweit eine Subjektform, die Mündigkeit betont, tatsächlich gesellschafts-/entwicklungspolitisch gewollt ist.
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ein Erwartungsdruck, zu den dargebotenen Deutungen passende Selbstgewissheiten auszubilden, um eine gesellschaftliche Kommunikation und (Interventions-)Praxis der Krise aufrechtzuerhalten! Hierin liegt ein gradueller theoretischer Unterschied, der jedoch bedeutsam ist, um die Möglichkeit eines Tabus und der Tabuisierung des Natur- und Selbstverhältnisses als Verhältnis zur Fülle überhaupt anzunehmen und ins Auge zu fassen. Zum Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung wurden vier Problem- oder Krisenfelder, die im Diskurs und der Praxis von Intervention vordergründig anstehen und denen man sich als Forschende (mit Interventionsanspruch) auch nicht entziehen kann. Gemeint sind die Reden über die ökologische Devastierung, Armut, Naturkatastrophen und Migration.90 In vier Erzählungen wurden empirische Hinweise aufgezeigt und diskutiert, dass mit diesen Themen im Diskurs und der Praxis von Interventionen den von Intervention abhängigen Menschen verschiedene Versionen ihrer selbst vermittelt, genauer: verabreicht werden und dass sich dazu implizit und explizit Erwartungen artikulieren, diesen Bildern zu entsprechen. Diskutiert wurden Zugriffe, die von Tendenzen zeugen, ein Natur- und Selbstverhältnis als Verhältnis zur Fülle zu tabuisieren. Konkret geht es um die tabuisierende Tendenz von Erwartungen zu kapitulieren, die in Zugriffen auf Menschen als Ausbeuter und Zerstörer der natürlichen Ressourcen in den ökologisch-technologischen Interventionen artikuliert werden; um die tabuisierende Tendenz von Erwartungen, die eigenen naturbezogenen Subsistenzkulturen zu zerstören, die in Zugriffen auf Menschen als Opfer der Armut vorzugsweise in (christlich-religiösen) Interventionen zur Armutsbekämpfung artikuliert werden; um die tabuisierende Tendenz von Erwartungen zur Resignation, die in Zugriffen auf Menschen als Schuldige an der eigenen Verwundbarkeit durch das Heraufbeschwören schwerer Naturereignisse vorzugsweise zum Zweck christlich-religiöser Missionierung artikuliert werden sowie um die tabuisierende Tendenz von Erwartungen, abzuwandern, die sich dann artikulieren, wenn Menschen im Zugriff korrupter Interventionskulturen von ihren eigenen Lebensmöglichkeiten ausgeschlossen werden.
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Damit ist nicht gesagt, dass es weitere Themen und entsprechend vereinnahmende Zugriffe auf Menschen gibt. Es handelt sich um das thematische Feld und entsprechende Subjektformen, die für die eigene Interventionspraxis von Bedeutung sind. Ein weiterer Zugriff, eine in dieser Arbeit nur wenig berücksichtigte Subjektform, ist z.B. die Figur eines traumatisierten Subjekts.
3 Zivilisierte Annäherungen an ein Tabu – Über die Macht von Subjektivierungen
In dieser Untersuchung wurde somit auf vier mögliche Subjektformen oder -positionen hingewiesen und die These entwickelt, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Menschen Selbstgewissheiten in sich tragen, Ausbeuter und Zerstörer der natürlichen Ressourcen, Opfer der Armut, Schuldige an den katastrophalen Naturereignissen sowie von den eigenen Lebensmöglichkeiten Ausgeschlossene zu sein. Es handelt sich um Selbstgewissheiten, die den Selbstgewissheiten im Anspruch und in den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« nicht nur zuwider- sondern gegenlaufen. Gegenläufigkeit in Form von Subjektivierung durch Tabuisierung wird dann wirklich und wirkmächtig, wenn Gewissheiten die Kraft haben, die vorfindlichen Naturbeziehungen anzugreifen, sodass sich deren vorhergehende Naturvermittlungen nicht mehr aktualisieren lassen. Die Wirkmächtigkeit eines Tabus zeigt sich darin, dass das tragende sinnlich-affektive Band zur Natur beschädigt ist. Hierin beschädigt ist die Quelle einer Selbstgewissheit, sich um sich selbst und die Dinge, die einen umgeben, sorgen zu können. Ein Tabu wirkt also dann, wenn sich das Tabuisierte auch im ontologischen Sinne verbietet, wenn nicht nur Ansprüche und Möglichkeiten nicht erlaubt sind, sondern sich ebenso eine Disposition zum Sein nicht mehr aktualisieren kann, d.h. jene Modi von Identifikationen und Beziehungsweisen, die es braucht, um diese Ansprüche zu formulieren und dazu Möglichkeiten ihrer Gestaltung aufzuschließen. Bei den ausgebildeten Selbstgewissheiten als Zerstörer, Opfer, Schuldige oder Ausgeschlossene handelt es sich also insgesamt um etwas, das nicht nur zu tiefgreifenden Ambivalenzen, sondern, wie bereits erwähnt, zu einem grundlegenden Daseinszweifel führen dürfte. Vertritt man die Annahme, dass in den untersuchten Fällen so etwas wie ein Natur- und Selbstverhältnis als Verhältnis zur Fülle angelegt sein könnte, dann wird deutlich, dass die Menschen durch diese gegenläufigen Gewissheiten in einer dramatischen Form konfrontiert sind. Will heißen: Bei der Nahrungs- und Lebensfülle, dem Sattwerden, handelt es sich um einen universalen Anspruch. Diesen Anspruch zu verfolgen heißt, mit dem naturräumlichen Potential der Fülle sowie der Ereignishaftigkeit der Natur umgehen zu können. In der Spannung hochdynamischer und -regenerativer Ökosysteme und den großen Naturereignissen braucht es robuste und gangbare Antworten. Hinweise für solche Antworten liegen u.a. in der Einfachheit, dem Einvernehmen und der Verbundenheit im Umgang mit den Dingen. Hierin aktualisieren sich verschiedene Ontologien, letztlich eine Disposition zum Sein in einer friedfertigen »Melange der Naturen«. Pointiert formuliert heißt dies: Die naturalistische Vermittlung organisiert Aspekte der Einfachheit, der animistische Zugriff im Voodoo schafft
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das Fundament einer Verbundenheit und die darin eingewobenen christlichreligiösen Motive, erkennbar im Beten zu Gott oder Jesus, verhelfen ein Einvernehmen in Situationen zu erzeugen, die unkontrollierbar sind und das Potential haben, zu erschüttern. Wird diese »Melange der Naturen« gestört und beschädigt, bedeutet dies einen Zugriff, wenn nicht sogar einen Angriff auf den universalen Wert der Nahrungs- und Lebensfülle. Das Sattwerden erscheint dann als etwas, das sich verbietet. Mit Blick auf die Gegenläufigkeit liegt also die Schlussfolgerung nahe, dass sich im Selbstverständnis der Menschen ein grundsätzlicher Zweifel am Leben ausbildet. Von der jeweiligen Situation, vom Ausmaß der Abhängigkeit durch Armut, Not und Verwundbarkeit, von der Fähigkeit mit Ambivalenzen umzugehen, hängt dann ab, inwieweit die gegenläufigen Gewissheiten einen Daseinszweifel nähren und hierüber handlungsleitend werden. Es hängt davon ab, ob und inwieweit diese Gewissheiten noch verhandelbar sind, d.h. ob und inwieweit sie sich mit dem Anspruch auf ein Gelingen in einer »Natur der Fülle« stimmig ins Verhältnis bringen lassen. Die Gewissheiten und Praktiken in einer lebendigen »Kultur der Armut« sind z.B. ein Hinweis, dass es hin und wieder Spielräume für eine solche Verhandlung gibt. Es liegt in der Situation, am Selbst, an den vorfindlichen sozialen Kollektiven, einen Weg zu finden, um in einem schwierigen Feld zu navigieren, wo es einen Daseinszweifel gibt, hervorgerufen durch einen Kampf um die Ansprüche auf und die Zugänge zur Natur. Auch wenn an dieser Stelle offenbleibt, wie sich diese Navigation in den einzelnen Situationen genau gestaltet, ist in Anbetracht eines Krisen- und Katastrophendiskurses und der dazugehörigen Interventionskulturen sicher, dass niemand an einer solchen Herausforderung vorbeikommt. Sicher ist auch, dass diese Navigation oft scheitert, weil es durch einen Modus von Subjektivierung durch Tabuisierung oft nicht mehr möglich ist, Ansprüche auf die Natur zu formulieren, die anderen Ansprüchen schlichtweg nur zuwiderlaufen, hierin jedoch verhandelbar und für Lösungen zu mobilisieren wären. Die Befunde liefern schlussendlich Hinweise darauf, dass in Interventionsbeziehungen im Grunde genommen Beziehungsweisen durchgesetzt werden. Jeder Deutungsanspruch, der sich zu einer Selbstgewissheit durcharbeitet, mit der sich eine Naturbeziehungsweise unterminiert oder verbietet, hat es zugleich geschafft, eine andere Beziehungsweise zwischen Menschen und Dingen sowie zwischen Menschen zu etablieren. Wenn ich beginne, zu resignieren, weil mich eine Gewissheit umtreibt, die eigene Verwundbarkeit in einem Akt des Bösen selbst verschuldet zu haben, dann bin ich nicht bloß zu
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einer Einsicht gelangt, sondern habe ebenso verinnerlicht, wie ich zu dieser Einsicht gekommen bin. Habe ich diese Einsicht als Subjekt eines Zugriffs gewonnen, habe ich ebenso eine Beziehungsweise erfahren, die im weiteren Verlauf der Arbeit als paradox-feindselig bezeichnet und noch genauer ausgeführt wird. Als Subjekt eines Zugriffs beginne ich also nicht nur, die an mich gerichteten Erwartungen zu erfüllen, indem ich passende Selbstgewissheiten ausbilde, sondern hierin ebenso eine paradox-feindselige Beziehungsweise zu übernehmen. Was sich in den »Spuren der Destruktivität«, in den Akten aktiver und gewaltsamer Zurichtung erdnaturbezogener Dinge somit in erster Linie zum Ausdruck bringt, ist eine paradox-feindselige Beziehungsweise, die in Diskurs und Praxis von Krise und Intervention angelegt ist, in konkreten Interventionsbeziehungen ihren Ausdruck findet, dort eingefordert und eingeübt wird. Zerstörerisch sind dann nicht die gegenläufige Selbstgewissheit oder der unterdrückte Anspruch, sondern jene Akte, die für diese Beziehungsweise zwischen Menschen und zwischen Menschen und Dingen folgerichtig sind. Die »Spuren der Destruktivität« zeugen dann davon, auf welche Weise man sich versteht, die Dinge und Menschen sowie sich selbst zu behandeln. Sie zeugen aber vor allem davon, auf welche Weise man selbst behandelt wurde und wird. Der Kernbefund meines diplomatischen Experiments besteht also darin, dass sich eine Position im Sinne eines Natur- und Selbstverhältnisses als Verhältnis zur Fülle in den vielen kleinen Situationen durch den Zugriff gegenläufiger Positionen nicht vermitteln, oft nicht einmal entwickeln ließ. Folglich nicht vermitteln und entwickeln ließ sich eine erkennende, anerkennende und hierin »zivilisierte« Art und Weise, Beziehungen aufzunehmen und zu gestalten, wie es die Diplomatie verlangt. Die »Waffen wurden also nicht an der Garderobe abgegeben«, »zivile Versammlungen« waren zunächst nicht möglich (Latour 2015:110). Auf Feindseligkeiten wurde nicht verzichtet. Dies ist insgesamt ein deutlicher Hinweis darauf, dass eine friedfertige Beziehungskultur, insbesondere in der Intervention unterminiert oder nur scheinbar gegeben ist. Die Begegnungen mit dem EU-Delegierten in Taino, mit den »Entwicklungshelfern« wie Germaine in Monben, die indirekte Begegnung mit einer NGO zur Armutsbekämpfung im Gruppengespräch mit den Fischern in Taino, das Gespräch mit Philipe, dem Fischer und seinem Haus als »Geschenk Gottes« nach Hurrikan »Matthew« sind nur einige exemplarische Fälle dafür. Es kann an dieser Stelle nur erwähnt werden, dass sich diese Beispiele über Seiten fortführen ließen. Mein diplomatisches Ex-
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periment, mit einer Position auf Messfühlung zu gehen, deren Reichweite und Grenzen auszuloten, hat letztendlich auf Feindseligkeit zwischen Menschen, insbesondere zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen, aufmerksam gemacht. Diese Feindseligkeit heißt es anzuerkennen und als Voraussetzung für ein Konfliktgeschehen in Anschlag zu bringen, in dem nicht nur die Beziehungen zwischen Menschen, sondern jene zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen kollabieren. Explizite Formen dieses Kollapses werden in der folgenden Untersuchung diskutiert. Interpretiert wird weiter, wie sich in dieser Feindseligkeit Sinn und Zweck zu erkennen geben, dem eine Destruktivität zuträglich ist, bei der man zerstört, was man dringend braucht, das aber nicht sein kann, weil es nicht sein darf.
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Wie und wozu konstellieren sich im Rahmen von Intervention in einem Feld widersprüchlicher Gewissheiten schwerwiegende Konflikte, die sich in der Zerstörung der erdnaturbezogenen Dinge und damit der eigenen Existenzgrundlagen entladen? Diese dritte Untersuchung wird die »Spuren der Destruktivität« weiterführend interpretieren. Dazu wird die Annahme verfolgt, dass es ein kollektives Tabu eines Natur- und Selbstverhältnisses als Verhältnis zur Fülle gibt. Wenn von einem kollektiven Tabu die Rede ist, dann ist damit ein gesellschaftliches Diskurs-, Erfahrungs- und Praxisfeld der Krise und Intervention gemeint, in denen widersprüchliche Gewissheiten mit einer tabuisierenden Tendenz immer schon anstehen und fortlaufend reproduziert werden. Modus dieser fortlaufenden Reproduktion ist eine paradox-feindselige Beziehungskultur. Begibt man sich mit einem Interventionsanliegen in dieses Feld, dann, so die These, begegnet man in erster Linie Menschen, die sich als Zerstörer oder Ausbeuter der natürlichen Ressourcen, als Opfer der Armut, als Schuldige an den großen Naturereignissen sowie als vom eigenen Leben Ausgeschlossene erfahren und hierüber erleben, dass sich ein Gelingen im Anspruch und in den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« verbietet. Dieser Erfahrungshorizont lässt wiederum erwarten, dass man Menschen begegnet, die einen generellen Daseinszweifel ausgebildet haben. Intervention situiert sich immer in diesem bereits vorfindlichen kollektiven Feld. Die bisherigen Ausführungen haben bereits angedeutet, dass in diesen Erfahrungshorizonten ein Nährboden für destruktive Tendenzen liegt, dass Tabu und fortlaufende Tabuisierung eine Form von Destruktivität wahrscheinlicher machen, bei der man aktiv und gewaltsam zerstört, was man dringend braucht. Zerstört wird eine Natur, werden erdnaturbezogene Dinge, welche die Möglichkeiten zur Nahrungs- und Lebensfülle bereithal-
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ten. In der Logik eines Tabus wird hierin zerstört, was man nicht haben kann, weil es nicht sein darf. Im Folgenden geht es darum, an ausgewählten Interventionsbeispielen zu diskutieren, dass und wie eine solche Form von Destruktivität im Rahmen von Intervention in Erscheinung tritt, dass Interventionsversuche, insofern sie nicht sensibel sind für das kollektive Grundrauschen, an der Aufrechterhaltung des Tabus mitwirken. An drei konkreten Fällen wird aufgezeigt, dass Intervention, wenn auch mit den besten Intentionen, einen Konflikt in Gang hält, bei dem Destruktivität nahezu zwangsläufig ist. Ziel ist es, dieses Konfliktgeschehen zu beschreiben und abschließend zu interpretieren, wozu Feindseligkeit, Konflikt und Destruktivität aufrechterhalten werden, was es nützt, ein solches »Spiel der Intervention« überhaupt zu spielen. Kurzum, gefragt wird, was im Rahmen von Intervention im eigentlichen Sinne verhandelt wird, wenn diese sich nicht für Differenzen in den Dispositionen zur Natur öffnet. Darin erkennbar werden Sinn und Zweck der beobachteten Form von Destruktivität, der gute Grund zu zerstören, womit schließlich eine Grundausrichtung für das Stattdessen in einer Naturdiplomatie als Intervention gewonnen ist. Die Argumentation wird in fünf Schritten entfaltet. a) In einem ersten Schritt werden der Gang einer Interpretation vorgestellt, die sich nunmehr an den Erkenntnissen einer tabuisierten Naturbeziehungsweise zum Guten orientiert, um sich der Zweckmäßigkeit von Feindseligkeit, Konflikt und Zerstörung im Rahmen von Interventionsbeziehungen anzunähern. b) In einem zweiten Schritt wird ein erstes Interventionsbeispiel diskutiert. Vom Standpunkt einer tabuisierten Naturbeziehungsweise zum Guten wird das Scheitern einer Aufforstungsmaßnahme im Rahmen eines nunmehr zehnjährigen und bisweilen erfolgreichen NGO-Projekts mit Schwerpunkt Aufforstung und agrarwirtschaftliche Entwicklung interpretiert. Vorgestellt wird ein Fall aktiver und gewaltsamer Zerstörung im Rahmen von Intervention, in den ich als Intervenierende selbst nicht involviert, sondern in Bezug auf das Scheitern beratend aktiv war. c) In einem dritten Schritt wird ein eigener Versuch von Intervention im Rahmen des Konflikts um den Zugang zu Trinkwasser in Grand-Goâve vorgestellt. Explizit gefragt wird auch in diesem Fall, wie das Zerschlagen der Wasserinfrastruktur in der Logik eines Tabus und impliziter Tabuisierung durch Intervention verständlich wird.
4 Zivilisierte Annäherungen an den Konflikt – Über einen guten Grund zu zerstören
d) In einem vierten Schritt werden die eigenen Tätigkeiten im Rahmen der Intervention mit den Erdnussbauern in Masia in der erweiterten Perspektive einer tabuisierten Naturbeziehungsweise zum Guten interpretiert und aufgezeigt, wie sich in der Intervention die Entfaltung einer Lebensmöglichkeit verbietet. e) Abschließend wird eine fallübergreifende Interpretation versucht und hierzu eine Deutungshypothese für das Wozu von Destruktivität formuliert. Mit dieser Zweckmäßigkeit erkannt ist ein generelles Konfliktgeschehen, welches sich in den dargestellten Fällen und darüber hinaus abbildet und die Grundlage ist, um ein praktisches Verfahren für eine Naturdiplomatie als Intervention anzuleiten.
4.1
Vorbemerkung zur Interpretation
Es ist generell davon auszugehen, dass sich die Gewissheiten als Zerstörer, Opfer, Schuldige oder Ausgeschlossene mit denen im Anspruch und in den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« auf unheilsame Weise verbinden. Dies deshalb, weil diese Verbindung einen tiefgreifenden und grundsätzlichen Zweifel am Leben nährt. Destruktivität kann somit auch in Verbindung mit einem Daseinszweifel gelesen werden, der die Frage berührt, ob es Sinn macht, gut und richtig ist, im Anspruch auf die Natur eine »Sorge um sich« zu betreiben. Das Gemeinsame aller beobachteten Fälle aktiver und gewaltsamer Zerstörung der erdnaturbezogenen Dinge besteht dann darin, dass sich die Antwort auf diese existentielle Frage in einem deutlichen Nein artikuliert, wenn auch in unterschiedlicher Form und Gestalt.1 In der Zerstörung vermittelt sich ein Nein. Die Axt am Mapou in Petit-Goâve, die Axt an der Wasserleitung in Grand-Goâve, das Festhalten am zerstörerischen Erdnussanbau in Masia, die Corail-tragende Languste in Taino, das exzessive Abholzen in Bohoc usw. sind in dieser Lesart immer Ausdruck eines Neins zur Aufrechterhaltung der ökologischen Fülle, damit eines Neins zur Verbundenheit mit den Dingen, eines Neins zur Nahrungs- und Lebensfülle, letztlich eines Neins zu den Möglichkeiten einer »Natur der Fülle«. Dieses Nein, so die These, speist sich aus einem Tabu und wird ausagiert im feindseligen Modus 1
In der Logik eines Vermeidungsgebots handelt es sich um ein kategorisches Nein, das keine Alternativen und entsprechende Verhandlungsspielräume zulässt. Dieses Nein ist entschieden, es wird aktiv und gewaltsam vorgetragen.
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jener Beziehungskultur, mit der auf die Durchsetzung eines Tabus gedrängt wurde und wird. Nun haben sich alle der beobachteten »Spuren der Destruktivität« im Umfeld eigener Interventionsversuche vermittelt, d.h. in Beziehungen zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen. Es handelt sich also um ein Nein, welches erst in diesen Beziehungen sichtbar wurde, das sich vor meinen eigenen Augen zugetragen hat. Folglich wird dieses Nein, wird die Zerstörung auch als etwas behandelt, das diesen Beziehungen anhaftet, dort also zur Geltung kommt. Anerkannt werden muss, dass es sich bei diesem Nein gegen eine »Natur der Fülle« um etwas handelt, das für die Aufnahme, Aufrechterhaltung und Gestaltung dieser Beziehungen von Bedeutung ist. Zerstörung lässt sich somit auch als Zerstörung im Vollzug von Intervention verstehen, als etwas, das in einem »gemeinsamen Tanz« der Intervention hervorgebracht wird. Folglich ist für diese Untersuchung ein Wechsel des Beobachterstandpunkts maßgebend. Bisher wurde hauptsächlich davon ausgegangen, dass sich die beobachteten Phänomene der Destruktivität in meinem Beisein, d.h. im Beisein eines »Dritten« artikulierten. Hierin wurden Konfliktanspielungen vermutet und mit einem Forschungsanlass verbunden. In psychodynamischer Perspektive vertritt man die Annahme, dass sich dem Therapeuten/Berater als Drittem bestehende und wenig bewusste Konflikte der Klienten (Konflikte in den Beziehungen zu sich selbst und zum Anderen) vermitteln, dass sich diese in die therapeutische/beraterische Beziehung einschleppen, als Übertragungen inszeniert werden und entlang dieser Inszenierungen auch gelesen und verstanden werden können.2 Angewendet auf die Interventionsbeziehung heißt dies: Der Intervenierende als »Dritter« beobachtet distanziert, wenn auch durch die eigenen Dispositionen nicht neutral, was sich vor seinen Augen vollzieht, welche Konflikte angespielt werden und versucht hierüber zum Verstehen zu finden. Als Intervenierende erkenne ich somit an, dass sich in der Art, wie sich der Beziehungsraum zwischen mir und denen gestaltet, deren Fragen und Probleme zu verhandeln sind, bereits sehr viel aussagt über die Grundstruktur der zu behandelnden Problematik. Einfach formuliert: Wenn in meinem Beisein eine
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Zur Wahrnehmungs-/Beobachtungsperspektive einer Figur des Dritten in Therapie und Beratung mit integrativer – psychodynamischer und systemischer – Grundlegung vgl. Grieser (2011:300-310).
4 Zivilisierte Annäherungen an den Konflikt – Über einen guten Grund zu zerstören
Wasserleitung zerschlagen wird und ich damit in einen Strudel aus Feindseligkeit gerate, dann ist diese Feindseligkeit der Verweis auf ein Problem, das zwar ohne mich existiert, welches aber im Beziehungsgeschehen der Intervention reinszeniert und vorgeführt wird und sich dort auch durch eine entsprechende Analyse begreifen lässt. Wenn nunmehr aber von einem »gemeinsamen Tanz« der Intervention die Rede ist, dann wird z.B. das Zerschlagen der Wasserleitung in meinem Beisein stärker situationsbezogen und hierin systemisch betrachtet, d.h. weniger als Verweis oder Symptom eines allgemeineren Problems als vielmehr als etwas, das erst situativ im vorfindlichen Beziehungsraum der Intervention entsteht, worin sich in gewisser Hinsicht eine gemeinsam erzeugte Praxis und Übereinkunft spiegelt. Um ein Problem wie die Zerstörung der Wasserleitung zu verstehen, ist dann der »gemeinsame Tanz« um die Wasserleitung zu erschließen.3 Metaphorisch gesprochen heißt dies, nicht nur darüber im Bilde zu sein, wo getanzt wird, welche möglichen Kontexte die Begegnungen rahmen. Ging es bisher darum, als distanzierter »Dritter« den Tanzbereich zu erkunden, geht es entlang der gewonnenen Erkenntnisse – zum Gelingen und Tabu einer »Natur der Fülle« – nun darum, zu verstehen, wer mit wem in diesem Feld tanzt und vor allem wie und wozu getanzt wird. Insbesondere geht es darum, dem eigenen Auftritt als Intervenierende ein stückweit näherzukommen. Entsprechend untersucht wird, worauf das gewaltsam artikulierte Nein gegen eine »Natur der Fülle« innerhalb von Beziehungen eine plausible Antwort ist, die eigentlich aufgenommen werden, um Probleme zu adressieren und zu lösen. Im Folgenden wird also nicht mehr danach gefragt, welche Gewissheiten einem möglichen Gelingen von Naturbeziehungen zuwider- oder gegenlaufen, die in einem Diskurs-, Erfahrungs- und Praxisfeld von Krise, Katastrophe und Intervention genährt werden. Die nunmehr vertretene Position ist eine, die Abstand nimmt, erkennt und anerkennt, dass es durch den generellen Zugriff auf Menschen als Zerstörer und Ausbeuter, als Opfer, als Schuldige oder Ausgeschlossene starke Tendenzen gibt, eine Naturbeziehungsweise zum Guten als Tabu zu erfahren. Angenommen wird, dass damit im »gemeinsamen Tanz« der Intervention eine, wenn auch implizite, Aushandlung greift, dieses Tabu anzuerkennen und aufrechtzuerhalten. Von diesem Standpunkt aus werden nun ausgewählte Interventionsbeispiele 3
Zum »gemeinsamen Tanz« der Produktion von Wirklichkeiten in Therapie und Beratung in systemischer Perspektive vgl. Barthelmess (2016:119-129).
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dahingehend fokussiert, wie sich im Vollzug der Interventionsbeziehungen aufgrund eines Tabus und hierin durch die Unvermittelbarkeit und Unverfügbarkeit von zuwiderlaufenden Positionen, genauer: von Dispositionen zur Natur Phänomene der Zerstörung zum Ausdruck bringen. Eine solche Interpretation fordert in erster Linie dazu auf, nachträglich die eigenen Versuche von Intervention in den Blick zu nehmen. Die »Spuren der Destruktivität« zeigen, dass sich in den Beziehungen zwischen mir als Helfender und den Hilfsbedürftigen ein deutliches Nein artikuliert hat. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies: Diese Beziehungen haben trotz bester Intentionen zunächst Zerstörung provoziert und hervorgebracht oder sie wurden genutzt, um auf Zerstörung und Konflikt aufmerksam zu machen. Insbesondere die anfänglichen Bemühungen im Feld, die nach jetzigem Kenntnisstand als weniger »zivilisiert« gelten können, sprechen die Sprache direkter Zerstörung. Dafür exemplarisch sind die Fallbeispiele einer Intervention zum Konflikt über den Zugang zu Trinkwasser in Grand-Goâve sowie die Intervention mit den Erdnussbauern in Masia. Es handelt sich um Beispiele, in denen Intervention aufgrund der Zerstörung gescheitert ist. Das eigene Scheitern spricht dabei allerdings nicht für eine Besonderheit. Es ist vielmehr exemplarisch für viele der Interventionen und es spricht dafür, dass in diesen Beziehungen grundsätzlich etwas nicht stimmt.4 Im Folgenden wird aufgeführt, wie sich diese Zerstörung als Zerstörung in der Intervention in Gang setzt. Dazu werden drei weitestgehend »unzivilisierte« Interventionsversuche von einem »zivilisierten« Standpunkt interpre4
Dieser Behauptung geht eine Reihe von Beratungsgesuchen von Intervenierenden (im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit und NGO-Tätigkeiten mit ökologisch-technologischen Interesse) voraus. Aus diesem Pool an Gesprächen und Beratungen wird im Folgenden ein exemplarischer Fall ausgewählt. Aus meiner Sicht geht es um gängige Schwierigkeiten und Formen des Scheiterns der Interventionen, die allerdings öffentlich weniger thematisiert werden, in einem eher geschlossenen Raum von Kommunikation verhandelt werden und auch dort ein Vermeidungsgebot berühren. Wenn das Scheitern verhandelt wird, dann in entsprechend einfachen Erklärungsmustern. Ein Beispiel: Eine Delegation der »Electriciens sans Frontières« (Elektriker ohne Grenzen) beklagt, dass die neu installierten Solaranlagen auf Schulgebäuden nur wenige Wochen nach der Installation entfernt oder zerstört wurden. Als einfache Erklärung wird vorgetragen, dass es sich dabei um Plünderungen handelt, forciert durch Eigeninteressen und eine Notstandssituation. Diese Deutung von Plünderungen an Dingen, die dem Gemeinwohl dienen, markiert eine Art Gemeinplatz im informell gesprochenen Wort über das Scheitern. Auch hierbei handelt es sich um eine Art Letztbegründung, mit der die eigene Beteiligung am Problem umgangen wird.
4 Zivilisierte Annäherungen an den Konflikt – Über einen guten Grund zu zerstören
tiert, der erkennt und anerkennt, dass mit einer Naturbeziehungsweise zum Guten ein Tabu berührt sein könnte, dass sich in jede Intervention einmischt und auf Anerkennung drängt. Es werden drei Fälle vorgetragen, wovon zwei aus der eigenen Intervention stammen.
4.2
Streifzüge gegen die Bäume
Im Rahmen des Interventionsprogramms einer NGO wird versucht, eine Reihe der von Abholzung besonders schwer betroffenen Gebiete im Süden Haitis wieder aufzuforsten.5 Hierin wird also grundsätzlich ein ökologisches Interesse verfolgt. Kern der Intervention besteht in der Verwendung besonderer Pflanzenzüchtungen, die für ein schnelles Wachstum und damit eine zügige Regeneration der Ökosysteme sprechen. Zur Umsetzung wird eine Nachhaltigkeitsstrategie gewählt, d.h. Aufforstung wird mit den sozioökonomischen und politischen Gegebenheiten in der Region gezielt verknüpft. Man kooperiert gemeinsam mit der Lokalpolitik, arbeitet aber hauptsächlich mit Farmern zusammen. Sie bekommen kleine Flächen zur eigenen Bewirtschaftung bereitgestellt, müssen sich aber bei der großräumigen Aufforstung des Gebietes aktiv beteiligen. Zudem erhalten die Farmer finanzielle Zuwendungen als eine Art Grundabsicherung. Sie sind dazu weiter verpflichtet, ein Ausbildungsprogramm zur Agrar- und Forstwirtschaft zu absolvieren, um die Flächen nachhaltig produktiv zu halten. Die Interventionsmaßnahme läuft bereits seit mehreren Jahren und ist aus Sicht der Initiatoren zunächst auch sehr erfolgreich. In Gesprächen mit dem derzeitigen Leiter des Projekts, einem Agrarökologen aus Belgien, erfahre ich, dass das gesamte Projekt zu scheitern beginnt. Insbesondere diejenigen Farmer, die in die Maßnahmen seit einigen Jahren involviert sind und welche die bereitgestellten Flächen mittlerweile ertragreich bewirtschaften, die materiell grundversorgt sind und zudem weite Teile des Gebietes wieder aufgeforstet haben, beginnen nun die jungen Bäume wieder abzuholzen. Der Leiter der NGO berichtet, dass es derzeit einen rasanten und beunruhigenden Prozess der Abholzung in der Region gibt.
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Die folgenden Informationen sind den Beratungsgesprächen mit dem Projektleiter entnommen. Zur Verwendung des Falls in dieser Arbeit liegt ein Einverständnis zu einer anonymisierten Darstellung vor.
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Flächen, finanzielle Zuwendungen und ökologisches Wissen schützen in diesem Fall nicht davor, dass die aufkeimende ökologische Fülle wieder zerstört wird. Auch in diesem Fall geht es um ein Nein gegen eine »Natur der Fülle« als ein Phänomen der Zerstörung, das in die Beziehungen im Rahmen von Intervention eingelassen ist. Auch in diesem Fall kann konstatiert werden, dass Intervention, wenn auch unbeabsichtigt, Zerstörung provoziert und hervorbringt. Es lohnt die Frage, was in diesen Beziehungen nicht stimmt. Auf den ersten Blick scheint eine Interpretation nahezuliegen, die auch von den Projektverantwortlichen verfolgt wird. Man geht davon aus, dass sich die Abholzung gegen die gesamte Intervention richtet, dass sich hier Feindseligkeit, mangelnde Bereitschaft zum Lernen, Unfähigkeit, Sorglosigkeit, vielleicht auch Profitstreben zum Ausdruck bringen. Entsprechend sind die Verantwortlichen beunruhigt, gekränkt und wütend. Die Abholzung der Bäume wird also einerseits als Angriff und Sabotage empfunden und andererseits fühlt man sich auf merkwürdige Weise darin bestätigt, dass es mit diesen Leuten einfach nicht geht. Man hat es mit Zerstörern zu tun, die sich auch mit einem guten Konzept nicht davon abbringen lassen. Diese erste Interpretation, so die These, ist ganz und gar »unzivilisiert«, weil sie ein eigenes Zutun an der Abholzung nicht einmal für möglich hält. In einem zweiten Zugriff liegt es nahe, eine Interpretation entlang der Grundüberzeugung zu versuchen, mit der das Projekt überhaupt entwickelt wurde, wofür sich Legitimation und Geld mobilisieren lassen konnten. Das Projekt begegnet der ökologischen Devastierung, allen voran der Bodenerosion, indem Menschen, die »kleinen Bauern«, als Verursacher des Problems ausgewiesen werden, wenn auch hervorgerufen durch eine entsprechend hohe Vulnerabilität. In dieser Logik ist es möglich, die wiedereinsetzende Abholzung im Erklärungszusammenhang von Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Ressourcen zu verrechnen. Man könnte die gewählten Maßnahmen zur Verringerung der Vulnerabilität und zur ökologischen Regeneration kritisieren und anerkennen, dass es damit nicht gelungen ist, die Leute zu einer Praxis der nachhaltigen Pflege der Böden und Wälder zu bewegen und ihnen hierüber dauerhaft zu einer existentiellen Grundversorgung zu verhelfen. Man könnte sich eine Schwäche in der Wissensvermittlung eingestehen und hierzu nach neuen Wegen suchen. Mit Blick auf die Abholzung, so lässt sich in dieser Perspektive schlussfolgern, fügen sich die Farmer nun wieder nahtlos in das Bild des Zerstörers und Ausbeuters mit wenig Interesse für die ökologische Pflege der Dinge und für sich selbst, weil es Versäumnisse in der Anlage, den Strategien und Methoden sowie der Ausführung des Projekts gab.
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Auch diese Interpretation ist weitestgehend »unzivilisiert«, weil sie in der Logik eines Zugriffs auf Menschen als Ausbeuter und Zerstörer erfolgt, entsprechend blind ist für Unterschiede in den Dispositionen zur Natur, auch dann, wenn man nun mehr die eigenen Verfehlungen berücksichtigt. Das Nein in der Abholzung der Bäume erschließt sich in dieser Interpretation nicht. Das Nein in der Abholzung der jungen Bäume erschließt sich erst dann, wenn man hierin Akte vermutet, für die es gute Gründe gibt. Geht man davon aus, dass sich für die Farmer die eigenen »guten Quellen« einer Naturbeziehungsweise nicht aufschließen lassen, weil damit ein Tabu berührt ist, dann besteht ein möglicher Grund für das Abholzen darin, in den Beziehungen im Rahmen der Intervention eine, wenn auch fatale, Übereinkunft zu erzeugen. Geht man also davon aus, dass es ein gewachsenes Tabu gibt, welches jede Interventionsbeziehung kontextualisiert, dann spricht das Abholzen der Bäume gerade nicht für eine Sabotage der Intervention und auch nicht für verfehlte und erfolglose Strategien und Methoden, sondern vielmehr für etwas, das für diese Beziehungen stimmig und erwartbar ist. Was geschieht bei genauerem Hinsehen? Den Farmern wird ein gutes Angebot unterbreitet, in der Subsistenz überhaupt wieder bestehen zu können und langfristig zu mehr existentieller Sicherheit zu gelangen. Die Bedingung, die daran geknüpft wird, ist, die ökologische Fülle wieder entstehen zu lassen, und zwar durch nachhaltig genutzte Ackerflächen und durch die Aufforstung des Gebietes. Was sich durch die aufkeimende ökologische Fülle in die Erfahrung bringt, sind der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle«. Dies meint Nahrungs- und Lebensfülle in der Subsistenz, fundiert in einer Verbundenheit mit der Natur, die zum Zuhause und zur spirituellen Heimat wird. Im Kern angesprochen ist das sinnlich-affektive Band zu den Dingen. Die Intervention führt also direkt in diesen Bereich einer »Natur der Fülle«. Oder anders formuliert: Sie führt diesen Bereich zumindest vor Augen. Die Farmer nehmen das Angebot an. Sie machen mit, möglicherweise auch, weil man in der Armut gar nicht anders kann. Gemeinsam lässt man die ökologische Fülle wieder entstehen. Damit rückt die gesamte Intervention zugleich in die Nähe des Tabuisierten, das sich mit jedem wachsenden Baum, mit jeder ertragreichen Ernte deutlicher in die Wahrnehmung drängt. Im Aufkeimen der ökologischen Fülle vermittelt sich zwar das, was in einer »Natur der Fülle« möglich ist, was man aber nicht haben kann, weil es nicht sein darf. Angesprochen wird das ausgeprägte Naturgefühl, aber zugleich auch all das, was dies beschädigt: die Gewissheiten, Zerstörer, Opfer,
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Schuldige oder Ausgeschlossene zu sein. Es ist weniger wichtig zu wissen, welche dieser Gewissheiten sich aktualisieren. Wichtig ist, dass die ökologische Fülle das Naturgefühl (und den vorhergehenden animistischen Modus der Vermittlung) und zugleich auch das Gegenläufige berührt. Wenn man nun davon ausgeht, dass Intervention selbst eine Tendenz zur Tabuisierung mit sich führt, wie im vorliegenden Fall durch den Zugriff auf Menschen als Ausbeuter und Zerstörer, dann wird sichtbar, dass das Angebot der ökologischen Fülle zwiespältig ist. Man reicht in naturalistischer Manier gesundende Ökosysteme dar und bietet damit den Farmern überhaupt erst wieder die Grundlage, einen Anspruch auf eine »Natur der Fülle« zu formulieren. Im gleichen Atemzug verbietet sich diese Möglichkeit. Dies deshalb, weil in der Art und Weise, wie dieses Angebot unterbreitet wird, eine »Natur der Fülle« gerade nicht respektiert ist. Es liegt nicht im Blickfeld der Intervention, dass es hierbei um ein Natur- und Selbstverhältnis gehen könnte, dem sowohl animistische Vermittlungen als auch naturalistische vorhergehen. Ungesehen ist, dass man mit der ökologischen Fülle im Kern zur Vergemeinschaftung mit den Dingen und damit zur Nahrungs- und Lebensfülle einlädt, dieses aber im gleichen Moment unterläuft, weil es in einer naturalistischen Version von natürlichen Ressourcen, von Ressourcenschutz/-management durch nachhaltige Landnutzung, von Ausbeutung und Zerstörung so etwas wie eine „Natur der Fülle“ nicht gibt. Im Grunde genommen, macht man weniger ein Angebot, sondern wird vielmehr auf paradoxe Weise feindselig. Was also geschieht, ist, dass sich die Intervention im bereits vorfindlichen Feld gegenläufiger Gewissheiten situiert und implizit auf die Anerkennung des Tabus drängt. Aus meiner Sicht liegt hierin der Anfang für das Unheilsame in den Beziehungen. Was nämlich für die Farmer entsteht, ist eine Pattsituation, genauer: eine gefährliche Doppelbindung.6 Man bekommt Nahrung in Form sich stabilisierender Ökosysteme gereicht. Diese Nahrung ist gut, sie wird dringend 6
Doppelbotschaft, Doppelbindung (»double bind«) steht für ein dysfunktionales Kommunikationsmuster, insbesondere in existentiellen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Menschen. Doppelbotschaften sind inkongruente oder paradoxe Botschaften, bei der sich gegenseitig ausschließende Handlungsanweisungen ausgesprochen oder angeordnet werden. Um Doppelbotschaften handelt es sich auch, wenn sich Sachebene und Beziehungsebene widersprechen. Der Empfänger der Doppelbotschaft kann weder der einen noch der anderen Anweisung folgen, ohne die jeweils andere zu verletzen. Im Nachhinein kann dem Empfänger immer angelastet werden, gerade die falsche Anweisung befolgt zu haben. Egal was er tut, es ist falsch. Einer Doppelbotschaft
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gebraucht. Dargeboten wird die Möglichkeit des Sattwerdens durch »füllende und erfüllende« Beziehungen zur Natur. Die Art und Weise, wie man das tut, d.h. in der naturalistischen Logik von ökologischer Intervention, wird aber zugleich vorgetragen, dass man diese »Nahrung« nicht zu sich nehmen kann und darf. Weil es für diese Botschaft ein entsprechend vorbereitetes kollektives Erfahrungsfeld gibt, liegt es auf der Hand, dass man hiermit auf einen Empfänger trifft, der bereit ist, eine solche Botschaft tatsächlich auch aufzunehmen. Diese bestätigt dann eher, wovon man bereits überzeugt ist. Was tut man in einer Situation, in der man Nahrung zwar dargereicht bekommt, die man aber nicht zu sich nehmen darf? Verspeisen, was einem nicht zusteht? Zerstören, was man nicht haben darf? Man kapituliert, resigniert oder wird wütend. Die Farmer beginnen zu zerstören, sie gehen aktiv und gewaltsam gegen die aufkeimende ökologische Fülle vor, indem sie die jungen Bäume wieder abholzen. Sie könnten in eine Naturbeziehungsweise zum Guten hineinwachsen, aber gleichzeitig können und dürfen sie es nicht, weil sie einseitig dazu angehalten werden, sich in einer naturalistischen Weise mit den Dingen in Beziehung zu bringen, um ihre Verfehlungen als Zerstörer und Ausbeuter der natürlichen Ressourcen und hierüber sich selbst in den Griff zu kriegen. Es geht eben ausschließlich um Ökologie, um die Regeneration und Aufrechterhaltung der Dinge in ihren Physikalitäten, um die Ausbildung eines entsprechenden ökologischen Bewusstseins, vielleicht auch um die Anbahnung von ökologischer Lebenskunst.7 Dafür bekommt man Geld, eine Fläche und sitzt im Ausbildungskurs für nachhaltige Landnutzung. In all diesen wohlgemeinten Bemühungen vermittelt sich implizit, dass der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« nicht sein dürfen, d.h. ein vertrautes Tabu, das einen Daseinszweifel nährt. Wieder abzuholzen ist dann ein deutliches Nein zu den eigenen Lebensmöglichkeiten, aber ein Ja zu den impliziten Prämissen der Intervention, somit eine plausible Antwort auf eine Form von Doppelbindung und die Anerkennung des Tabus. Hierin liegt die fatale Übereinkunft, durch die sich im Rahmen der gemeinsamen Intervention ein zerstörerisches Kollektiv überhaupt erst entwickeln kann.8
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ausgesetzt zu sein, bedeutet eine hohe psychische Belastung; zur Doppelbindungstheorie vgl. Schulz von Thun (2016:277-285), Watzlawick et al. (2011:232-242). Zur ökologischen Lebenskunst vgl. Schmid (2008). Zu betonen ist, dass die Intervention selbst erst dann Zerstörung produziert, wenn sie in ihrer Anlage und Durchführung in das kollektive Feld des Tabus hineinführt. Operiert man mit einer Idee der Zerstörung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen,
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4.3
Die Axt an der Wasserleitung
In einer eher abgelegenen Siedlung von Grand-Goâve mit einigen Hundert Einwohnern liegt direkt neben der Siedlung die einzige Wasserleitung, die über einen Berg ins Tal führt und dort eine Siedlung im Uferbereich versorgt. Versorgt werden ausschließlich diejenigen, die über Anschlüsse verfügen und für das Wasser zahlen können. Die Leitung wird von der DINEPA, dem staatlichen Wasseranbieter,9 unterhalten, die Infrastruktur wurde seinerzeit von der internationalen Hilfsorganisation Oxfam10 errichtet. Bei den Zahlenden handelt es sich um wohlhabendere Anwohner, darunter auch zwei Restaurantbetreiber, ein Hotelier sowie die Verantwortlichen eines Kinderheims. Im Tal versorgt werden ca. 15 Grundstücke. Diejenigen, die sich das fließende Wasser leisten können, besitzen zudem Alternativen mit eigenen Wassertanks und Aufbereitungsanlagen, um die Grundversorgung mit Trinkwasser dauerhaft zu gewährleisten. Die restlichen Siedlungen im Gebiet beziehen Wasser aus einem der Brunnen, die durch verschiedene entwicklungspolitische Maßnahmen oder NGOs installiert wurden. Der Brunnen für die abgelegene Siedlung ist versiegt, sodass die Bewohner nun täglich weite und beschwerliche Strecken zurücklegen, um Wasser zu besorgen. Die Idee liegt also nahe, an einer Wasserleitung zu partizipieren, die unmittelbar an der Siedlung vorbeiführt. Darüber entfacht ein heftiger Konflikt. Die Zahlungskräftigen sind zunächst nicht bereit, die einzige Wasserleitung im Gebiet zu erweitern, sodass die Siedlung ohne funktionsfähigen Brunnen versorgt wäre. Sie fürchten technische Mehraufwände und hauptsächlich Mehrkosten, d.h. insbesondere das Wasser für die anderen mitfinanzieren zu müssen. In der von Wasserknappheit betroffenen Siedlung ist man darüber empört, geht es bei ihnen doch darum, überhaupt eine halbwegs verlässliche Versorgung herzustellen. In der Gemeinde ist man sichtlich in Not und unter Druck, das Wasserproblem irgendwie in den Griff zu kriegen. Der Streit spitzt sich zu, man spricht sogar Morddrohungen aus und binnen von Tagen landet er vor Gericht. Der Richter im Amt betont das Grundrecht auf Wasser,
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ist man mittendrin im Feld eines Vermeidungsgebots, wodurch sich zugleich auch Opferpositionen, Schuldzuschreibungen oder Gewissheiten des Ausgeschlossenseins artikulieren. »Direction Nationale de l’Eau Potable et de l’Assainissement« (DINEPA) (https://www. dinepa.gouv.ht/). Zu den Tätigkeiten von Oxfam International in Haiti vgl. https://www.oxfam.org/en/w hat-we-do/countries/haiti.
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mahnt zur Solidarität und sieht die entscheidende Verantwortung beim staatlichen Wasseranbieter. Eine Vertreterin der DINEPA ist in der Verhandlung anwesend. Es kommt zur Einigung, die Versorgung der Siedlung über die bereits existierende Wasserleitung zu ermöglichen. Ein Ausbau wird durch die DINEPA vorgeschlagen und auch auf die Finanzierung wird sich geeinigt, insbesondere die Zahlungskräftigen sind nunmehr bereit, das Vorhaben zu unterstützen. Darüber hinaus wird eine dritte Lösung vorgeschlagen. Es geht um einen ungenutzten Brunnen in moderater Entfernung, der mit einer Pumpe für weniger als 500 US-Dollar zu aktivieren wäre. Selbst die dafür notwendigen Mittel werden durch die vermögenden Anwohner zugesagt. Es scheint, als wäre für alle eine einvernehmliche Lösung gefunden. Nur wenige Zeit später wird allerdings in der Nacht die gesamte Wasserinfrastruktur durch die von Wasserknappheit betroffenen Siedlungsbewohner zerstört. Es gibt nun für niemanden Wasser aus dieser Leitung, auch nicht aus dem Brunnen. Die Einzigen, die nun noch über eine adäquate Wasserversorgung verfügen, sind die Anwohner im Tal, die über ihre eigenen Alternativen verfügen. Im Anschluss an den Vorfall gibt es noch einige Tage heftige Aufregung, bis sich die Sache beruhigt. Man besorgt nun weiter das Wasser in beschwerlichen Brunnengängen. Die zerstörte Wasserleitung wurde, wie ich später erfahre, durch die vermögenden Anwohner instandgesetzt und seitdem auch nicht wieder attackiert. Was ist passiert? Wie lässt sich dieses Nein, diese Zerstörung interpretieren und verstehen? Es wurde bereits erwähnt, dass es sich hierbei um ein Nein zur Fülle, ein Nein zur adäquaten Versorgung an Wasser handelt, das man an sich dringend braucht. In der Logik eines Tabus wird zerstört, was gut und unbedingt notwendig ist, aber wovon man zugleich überzeugt ist, es nicht haben zu können oder zu dürfen. Gibt es diese Gewissheit und nährt sich damit ein Daseinszweifel, muss die sich nun ankündigende Wasserversorgung verhindert werden. Dies ist das eine. Was hat aber die Zerstörung mit der eigenen Intervention zu tun? Wie wurde hierdurch das bereits vorfindliche Tabu berührt und möglicherweise eine zerstörerische Doppelbindung erzeugt? Ich selbst war in den Konflikt von Anfang an involviert. Ich habe gemeinsam mit einem zweiten Berater mit allen Parteien gesprochen, Standpunkte eruiert und trotz ihrer Verschiedenheit in jedem Gespräch grundsätzlich und sachlich darauf insistiert, dass es einen Anspruch auf Wasser gibt, dies auch im Gerichtssaal. Ich habe ein Recht auf Wasser ins Spiel gebracht, dadurch den Zugang zum Wasser geebnet und implizit die Möglichkeit zum Anspruch auf Fülle sichtbar gemacht. Es
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bleibt an dieser Stelle offen, wie sich die Möglichkeit, über ausreichend Wasser zu verfügen, mit einer »Natur der Fülle« verknüpft. Sicher ist, dass dies die Subsistenz erleichtern könnte. Hinzu kommt, dass wir im Vorfeld der Gerichtsverhandlung gemeinsam mit Ortskundigen und einem Ingenieur versucht haben, eine alternative Wasserlösung zu finden. Der Konflikt schien zu verstrickt, zu eskalierend. Die Idee bestand darin, dass die Konfliktparteien über voneinander unabhängige Wasserzugänge verfügen und sich der Streit so auf lange Sicht beruhigt. Der Vorschlag mit der Instandsetzung eines ungenutzten Brunnens wurde also ebenso von unserer Seite ins Spiel gebracht. Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Möglichkeit auf eine grundständige Wasserversorgung durch mich in der Rolle einer Intervenierenden angeboten wurde, dass diese Positionierung den gesamten Prozess deutlich gesteuert hat, selbst im Gericht. Durch diese Position geriet aber auch in diesem Fall der gesamte Entwicklungsprozess in die Nähe des Tabus, d.h. in ein kollektives Feld aus Identifikationen als Opfer, Täter, Schuldige oder Ausgeschlossene. Dieses mächtige Feld habe ich zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt und anerkannt, d.h. ich habe mich selbst nicht als Repräsentantin dieses Feldes gesehen. Mit der Zerstörung, durch die Artikulation des Neins wurden Opfer- und Zerstörerpositionen gewaltsam eingefordert und demonstriert und damit die Anerkennung des Tabus. Demonstriert wurde also etwas, das im Beisein einer Intervenierenden aus dem reichen »Norden« durchaus Sinn macht. Bei der Zerstörung handelte es sich also nicht nur um ein Phänomen von Gegenläufigkeit zum wiedererweckten Anspruch auf eine »Natur der Fülle«, sondern ebenso um eine unheilsame Übereinkunft mit dem, was ich in meiner Rolle als Intervenierende repräsentiere. Als Intervenierende gehöre ich diesem kollektiven Feld von Tabuisierungen an. Ob ich es will oder nicht, formuliere ich in einer solchen Position, ähnlich wie die Agrarökologen im Projekt zur nachhaltigen Land-/Forstwirtschaft im Süden Haitis, eine paradox-feindselige Botschaft im Sinne: »Hier ist das Wasser und die Fülle, aber haben darfst du das nicht.« Diese Botschaft ist in all den Situationen deutlich zu vernehmen, in denen ich mich wohlwollend mit besten Intentionen einmische, insbesondere als ich die Lösung mit dem ungenutzten Brunnen forciere und vortrage. Es zeigt sich darin, dass ich die vermögenden Leute mobilisiere, sich solidarisch zu verhalten und dass ich selbst den Richter dazu bringen kann, ein Grundrecht auf Wasser zu benennen und etwas auszusprechen, das in Haiti nahezu irrwitzig ist. Ich spreche all dies an, biete die Fülle, tue dies jedoch als eine Figur, die von außen kommt, sich einmischt und damit in erster Linie ein unhinterfragtes
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Set an Überzeugungen repräsentiert, so z.B. dass man zur Fülle selbst nicht fähig, nicht gut genug, nicht reich genug ist usw. Diese Zuschreibungen stecken in meiner damals noch ausgeprägten Tendenz auf Menschen als Opfer der Armut zuzugreifen, werden aber erst virulent durch meine naturalistische Orientierung, die deutlich aufscheint im einseitigen Fokus auf pragmatisch-technologische Lösungsangebote. Lang und breit eruiert wurden z.B. die technischen Möglichkeiten der Reaktivierung der Wasserleitung wie auch die eines Brunnens. Die Wasserfrage wurde hierin gerade nicht auf der Ebene einer Bedeutsamkeit thematisiert, die sich aus einem Natur- und Selbstverhältnis als Verhältnis zur Fülle ableitet. Aus meiner Sicht galt es, ein Grundbedürfnis für Menschen als Opfer der Armut zu sichern, indem man beratend klug zunächst einen Konflikt beseitigt und in naturalistischer Manier Technologien und Mittel zur Wasserversorgung bereitstellt. Die Rede vom Grundrecht auf Wasser für Opfer der Armut gekoppelt an eine technische Lösung inklusive der notwendigen »500 US-Dollar« ist somit doppelbödig. Sich auf ein solches Wasserrecht zu verpflichten, ist nicht möglich, weil sich hierin die Möglichkeit zu einer »Natur der Fülle« ankündigt, die sich in einer Verständigung auf Opfer und technische Lösungen zugleich wieder verbietet. Weil man das »eine« Wasser nicht haben darf, kann auch das »andere« nicht fließen. Die Zerstörung der Infrastruktur ist somit folgerichtig. Dass die Beziehungen in diesem Fall auf einer grundlegenden Ebene kranken, zeigt, dass es gemeinsam nicht möglich wurde, ohne Zerstörung auszukommen. Auch in diesem Fall hat sich ein zerstörerisches Kollektiv entwickelt, dies durch Not, durch Ungerechtigkeit, aber auch durch zu viel Einmischung, durch mangelnde Einsicht in die vorfindlichen Naturbeziehungen und deren Tabuisierung und grundsätzlich durch eine stille Übereinkunft in der Anerkennung des Tabus, was schlussendlich eine Übereinkunft in der Feindseligkeit bedeutet. In der Feindseligkeit ist man einander vertraut, darüber findet man Verbindung und bestätigt sich. Erst als alles zerstört ist, die Beziehungen zerfallen sind, hat sich die Lage beruhigt und konnte man zum Status Quo von Wasserknappheit, wohlbemerkt in direkter Sicht- und Reichweite zu einer funktionierenden Wasserleitung, zurückfinden. Auch ich war spontan geneigt, es wie die Agrarökologen zu halten und in meinem Entsetzen hier einseitig auf Zerstörungswut zu rekurrieren. Im eigenen Anspruch auf »Zivilisierung« wurde mir jedoch nach und nach bewusst, dass sich diese Szenen in meinem Beisein, d.h. vor den Augen einer Intervenierenden mit einer paradox-feindseligen Botschaft abspielten, eine Botschaft, der man schließlich mit der gleichen Feindseligkeit begegnet. Ohne Zweifel
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ist hierin ein generell gestörtes Beziehungsgeschehen zu vermuten, das darauf drängt, bearbeitet zu werden.
4.4
Protest gegen die Mango
Auch die bereits dargestellte Sequenz in Masia, in der mit Farmern über eine nachhaltige Veränderung der Anbauweise von Erdnüssen zu Mangos beraten wurde, steht für einen Fall gestörter Interventionsbeziehungen. Im Beziehungsgeschehen der Intervention taucht heftiger Widerstand auf. Deutet man diesen nicht als Sabotage an der Intervention, dann wird auch hierin sichtbar, dass sich ein Nein zur ökologischen Fülle artikuliert, die sich mit der Mango-Strategie erstmalig wieder ankündigt. Dies bedeutet ein Nein zur Möglichkeit, in der Subsistenz wieder bestehen, letztlich an der Nahrungsund Lebensfülle teilhaben zu können. In diesem Nein steckt somit ein Ja zu den bisher verfolgten Überlebensstrategien, d.h. zum Anbau von Erdnüssen, zur Degradation der Böden und damit zum Verlust der Grundlage für die Pflege von Naturbeziehungen, die die Existenz sichern könnten. Auch dieses Nein steht dann dafür, ein Tabu anzuerkennen und aufrechtzuerhalten. Dass sich dieses Nein artikulieren kann, liegt in der Dynamik von Interventionsbeziehungen, die in diesem Fall gerade dazu einladen, einen solchen Akt zu vollziehen und das Tabu zu festigen. Nimmt man diese These ernst, dann muss gefragt werden, wie eine solche Einladung ausgesprochen wird. Welche Gründe gibt es, dass auch in diesem Fall keine Intervention möglich wird, die ohne Zerstörung auskommt, genauer: bei der es nicht gelingt, der Zerstörung der Böden ein Ende zu bereiten? Als Anzeichen dafür, dass die Beziehungen zueinander grundsätzlich einen feindseligen Modus aufweisen, kann der heftige Widerstand gelten, konkret der laute Protest auf den Vorschlag der Mango als alternative und nachhaltige »cash crop« und der plötzliche Abbruch der Verhandlungen. Die vorgetragene Lösung wird nicht beraten. Es wird kein Für und Wider erwogen, d.h. keine plausiblen Gründe für das eine oder andere formuliert. Es ist im Gespräch also nicht möglich, verschiedene Standpunkte zu explorieren und hierzu zu vermitteln. Das Angebot wird pauschal abgelehnt, die Möglichkeit, dass es eine Lösung geben könnte, im Ansatz erstickt. Durch diese harsche Form von Abwehr wird zudem ein Raum geschlossen, noch einmal grundsätzlicher nachzufragen, um das Ob und Überhaupt von Veränderungen in den Sozialstrukturen der Gemeinde zu diskutieren.
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Um zu verstehen, weshalb sich das Nein in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt, lohnt es sich, Gesprächsanlass und -situation genauer zu betrachten. Der heftige Widerstand taucht in einem gemeinsamen Gespräch zwischen Farmern, deren Familien und den Intervenierenden auf, allen voran meiner Person, einem weiteren Berater sowie dem Baumzüchter mit den Mangobaum-Setzlingen aus Petit-Goâve. Das Gespräch wird mit dem Ziel einberufen, über die Problemsituation zu beraten und mögliche Veränderungen auszuloten. Das Gespräch findet statt, nachdem ich bereits eine Zeit in Masia verbracht, die Gemeinde und Problemlage ausführlich erkundet habe. Ich selbst bin den Leuten mittlerweile vertraut und habe einen guten Einblick in die schwierige Situation vor Ort. Kurzum, ich weiß im Einzelfall um die bittere Armut, die erodierten Böden und die Ohnmacht, die man in Masia tagtäglich erlebt. Ich bin in dieser Zeit in einer forschenden und, was die Not und Armut betrifft, (an-)erkennenden Haltung vor Ort. Mein Eindruck ist, dass in der Würdigung der Missstände, Akzeptanz, Bestätigung und Trost liegen, wodurch sich ein gutes Miteinander einstellt. Mit dem Auftakt zum Gespräch ändert sich diese Positionierung im Feld. Ab da geht es mehr um Intervention als um Forschung zur Problemdiagnostik. Ein gemeinsames Gespräch in meinem Beisein zu führen, bedeutet nun zweierlei. Einerseits heißt dies, die Missstände öffentlich in der Gemeinschaft adressieren zu müssen, wobei noch unklar ist, zu welchen Deutungen sich diese in meinen Forschungen entwickelt haben, welche Statements und Reaktionen meinerseits tatsächlich zu erwarten sind. Hierin liegt Ungewissheit, aber in Bezug auf die Bodenfrage dennoch etwas Erwartbares. Es wird um den ausbeuterischen Zugriff auf natürliche Ressourcen gehen, den Menschen in einer hochvulnerablen Situation tagtäglich betreiben. Dies repräsentiere und denke ich zu diesem Zeitpunkt, wenn auch implizit. Ich bin schließlich als Forschende mit Fokus auf die ökologische Devastierung im Feld. Andererseits handelt es sich um eine Situation, die mit einem Auftrag zur Kollektivierung verbunden wird, d.h. sich im Umfeld der Missstände gemeinsam auf Veränderungen zu orientieren. In dieser Situation vermittelt sich also ein gewisser Druck, es von nun an anders machen und einen Unterschied herbeiführen zu müssen. Dieser Druck wird genährt durch meine Anwesenheit, d.h. durch eine Person, die nunmehr weniger forschend als intervenierend in Erscheinung tritt und mit geballtem Insiderwissen zur Armut und ökologischen Devastierung beginnt, am Status Quo zu rütteln. Man läuft also Gefahr, verletzlicher zu werden als man es sowieso schon ist, d.h. dass das wenige an Verlässlichkeit in den praktizierten Überlebensstrategien infrage gestellt
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wird. In meiner Position als Intervenierende liegen also etwas Machtvolles und die Möglichkeit eines Übergriffs. Was diese Gefahr allerdings etwas abmildert, ist die Tatsache, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt vorrangig mit einer Opferposition operiere und ich in meinen Ansprachen versuche, Menschen gerade nicht als Ausbeuter und Zerstörer ihrer natürlichen Lebensgrundlagen auszuweisen. Zum damaligen Zeitpunkt war mir nicht klar, dass diese Versuche gar nicht gelingen können, weil der Zugriff auf Zerstörer und Ausbeuter eine Erwartung bedeutet, die im vorfindlichen kollektiven Feld des Tabus immer schon mit meiner Person verknüpft ist. Was meine Bemühungen aber leisten, ist, dass in meinem Fall eher eine starke Tendenz zum Zugriff auf Menschen als Opfer der Armut zum Tragen kommt. Ich tue dies in jedem Moment, in dem ich mich zwar forschend der Devastierung der Böden zuwende, aber dazu die Vulnerabilität der Subsistenzwirtschaften, letztlich die Armut fokussiere und diesbezüglich auch sichtbar Erschütterung zum Ausdruck bringe. In dieser Haltung anerkannt wird somit die Not, dass man Opfer dieser Not ist und dass es dadurch auch verständlich ist, zum Zerstörer und Ausbeuter zu werden. In einer Position, die sich auf die Armut versteht und die Bodenfrage zur ökologischen Sache macht, geht es gar nicht anders, als zu einer Gewissheit des Ausbeuters und Zerstörers das passende Korrektiv gleich mitzuliefern. Im Bereich des Erwartbaren liegt also, dass man in einem gemeinsamen Interventionsgespräch nunmehr als Opfer der Armut (und hierüber befreit, es im ökologischen Sinne anders machen zu müssen) anerkannt wird. Die Opferrolle schmälert den Veränderungsdruck, der sich mit dem Gespräch ankündigt. Auf den Punkt gebracht: Durch meine bisherige Positionierung im Feld werden also Opfer der Armut (und weniger Zerstörer und Ausbeuter) zum Gespräch geladen. Geladen werden aber Opfer mit dem Ziel, diese zu nachhaltig ökologischen Veränderungen zu bewegen. Darin liegen eine grundsätzliche Unvereinbarkeit und eine erste feindselige Tendenz. Veränderungen sind an sich ungewiss, unsicher, brauchen Tatkraft und Mut und lassen sich aus einer Opferidentifikation heraus, die den Problemen mit Ohnmacht, Ausweglosigkeit und Schuldabwehr begegnet, nur schwer angehen. Zum vereinbarten Gespräch erscheinen die Leute zahlreich, was an der unausgesprochenen Übereinkunft liegt, vornehmlich als Opfer der Armut gewürdigt zu werden. Erwartungsgemäß geschieht es, dass sie die Missstände ausführlich und gut adressieren, dabei an den gewohnten Modus des Klagens und Anklagens anschließen. Die Botschaft, die mit diesen Klagen und Anklagen an mich gerichtet ist, besteht darin, öffentlich Anerkennung zu vollzie-
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hen. Das ist der Deal, das ist man von mir gewohnt. Folglich versuche ich diesen Erwartungen zu entsprechen, aber nicht nur. Mein Kurs der Würdigung der Armut, Not und Ohnmacht verändert sich schlagartig als ich im Zuge des Miteinanderredens eine Lösung präsentiere, die von der Sache her gut ist, die dringend gebraucht wird und einen gangbaren Ausweg bedeuten könnte. Es geht um eine Lösung, d.h. die Aufforstung mit Mangobäumen, wodurch die ökologische Fülle wiederentstehen könnte und darin der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« zumindest aufscheinen. Aber nicht nur dies scheint auf. Die Mango spricht die Leute zugleich und nunmehr vordergründig als Zerstörer und Ausbeuter an. Diese Lösung wird in dieser Situation nun Menschen als Zerstörern und Ausbeutern präsentiert, die aber über die gesamte Zeit meiner bisherigen Anwesenheit als Opfer der Armut bestätigt und anerkannt wurden. An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass ich mich bis dato als Forschende im Feld bewege, als ein Gegenüber aus einer anderen, satten und reichen Welt und dazu die ökologische Devastierung, den Hunger und Not fokussiere. Hierin erzeugt wird eine Differenz, die ungleicher nicht sein könnte. Dass in diesen Begegnungen dennoch so viel Einvernehmen liegt, besteht in der impliziten Vereinbarung, die Beziehungen zueinander im Modus von Opferzuschreibungen zu gestalten. Es liegt auf der Hand, dass die nun vorgetragene Lösung diesen Modus heftig irritiert. Dies ist einerseits ein Verrat an den Beziehungen, an der gemeinsamen, wenn auch impliziten Absprache auf Opferpositionen zu rekurrieren. Es ist enttäuschend. Andererseits steckt hierin auch eine zwiespältige, d.h. paradox-feindselige Botschaft. Dass man nun Zerstörern und Ausbeutern die Mango anbietet, bedeutet, dass tatsächlich immenser Druck entsteht, sich verändern zu müssen. Eine solche Veränderung anzugehen, braucht aber eigenständige, handlungsbereite und -fähige Menschen und keine, die sich als Opfer empfinden. Es bräuchte das starke Naturgefühl als innere Navigation und die Möglichkeit, die »guten Quellen« aufzuschließen, die in einem Natur- und Selbstverhältnis als Verhältnis zur Fülle gründen. Für eine solche Möglichkeit bieten die Beziehungen keinen Raum, im Gegenteil wird diese durch die Ausweisung von Opfern sowie von Zerstörern und Ausbeutern feindselig unterlaufen. Folglich lautet die doppelte Botschaft, die in dieser Situation anklingt: »Nehmt die Mango, die Fülle und verändert euch zum Guten. Aber als Opfer der Armut und als Zerstörer dürft und könnt ihr das nicht!« Die latente Feindseligkeit, die in dieser Botschaft steckt, ist unverkennbar. Der heftige Widerstand und der Gesprächsabbruch nur folgerichtig. Man
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kann einen solchen Vorschlag weder annehmen noch ablehnen. Der Ausweg, der den Leuten bleibt, ist, die Situation zu verlassen, d.h. zu kapitulieren, zu resignieren und zu zerstören, also auch hier beim Status Quo zu bleiben und dem Tabu zu folgen. Auch zu diesem Zeitpunkt war mir die Wirkmächtigkeit des Tabus und die eigene Tendenz zur Tabuisierung nicht bewusst. Ohne Bewusstsein für ein Erfahrungsfeld, in dem sich der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« verbieten, liegt es auf der Hand, mit der eigenen Intervention selbst zu tabuisieren und einen Daseinszweifel zu nähren, der zu Zerstörung führt. Im Fall Masia wurde die Chance vertan, etwas nachhaltig im Sinne einer Naturbeziehungsweise zum Guten in Bewegung zu bringen. Ein Grund dafür, dass sich auch hier Grundzüge eines zerstörerischen Kollektivs aktualisieren, liegt also an fehlender Einsicht, eine Einsicht, die es aber braucht, um aufkeimende Lebensmöglichkeiten nicht zu ersticken. Mich selbst hat dieser Fall lange beschäftigt, weil mit der Mango eine echte Chance vertan und zerstört wurde. Ich bin mittlerweile zur Überzeugung gelangt, dass die Mango dann einer Verhandlung zugänglich gewesen wäre, wenn diese nicht im Rahmen der gewählten Intervention ins Spiel gebracht worden wäre. Eine kleine, aber feine Nachjustierung hätte aus meiner Sicht zu einem anderen Ergebnis geführt. Schlüsselfigur ist der Baumzüchter, ein junger Mann und Umweltschützer, der hochengagiert ist. Er ist eine jener Figuren, die ein ausgeprägtes Naturgefühl mit Ökologie verbinden und dazu noch über Zugang zu Ressourcen verfügen (z.B. NGO-Mittel für Baumsetzlinge). Wäre die Mango als sein Vorschlag zu antizipieren gewesen, hätte er mit seiner eigenen Disposition zur Natur auch die entsprechende Disposition bei den Farmern angesprochen. Sicherlich wäre die Tendenz zu viktimisieren auch in seinem Fall angelegt, insbesondere durch seinen Status, über Mittel und Ansehen zu verfügen, und die Tatsache, dass er bereit ist, die Bäume zu verschenken. Diese Tendenz wäre aber weniger wirkmächtig, weil der Baumzüchter durch seine Haltung vielmehr das Naturgefühl berührt, dieses nicht beschädigt und somit enttabuisiert. Er hätte implizit die Erlaubnis ausgesprochen, die Mango als Möglichkeit einer Naturbeziehungsweise zum Guten überhaupt einer Verhandlung zuzulassen. Stattdessen tritt er in meinem Beisein auf und gehört nunmehr zum Feld von Tabu und Tabuisierung, in dem es unmöglich ist, einen eigenen Platz zu bestreiten. Die Mango als an sich gute Lösung ist deshalb vom Verhandlungstisch, weil sich im Rahmen einer paradox-feindseligen, darin aber einvernehmlichen Beziehungsweise, eine Lösung nicht nur nicht entfalten konnte, sondern
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vielmehr nicht durfte! Dass die Mango als Vorbote einer »Natur der Fülle« gescheitert ist, zeigt dann nicht, dass Menschen nicht bereit und fähig dazu sind, sondern vielmehr dass in den Beziehungen von Intervention die Möglichkeit nicht angelegt ist, eine solche Veränderung anzugehen.
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Indifferenz – Der gute Grund zu zerstören
Die dargestellten Fallbeispiele sind exemplarisch für Interventionsbeziehungen, die im Kern eine paradox-feindselige Organisation aufweisen, hierdurch Phänomene der Zerstörung provozieren und somit scheitern. In der vorgestellten Perspektive wird dieses Scheitern mit fehlender Einsicht in die Modi und Wirkungen der Tabuisierung eines Natur- und Selbstverhältnisses als Verhältnis zur Fülle in Verbindung gebracht. Die Kunst bestand und besteht darin, in der Zerstörung nicht nur das Scheitern der jeweiligen Intervention zu sehen, sondern dieses Scheitern als wichtige Ressource zu betrachten, um ein grundsätzliches Konfliktgeschehen zu verstehen. Die aufgeführten Fälle wurden deshalb ausgewählt, um an Mikrosituationen überhaupt erst einmal aufzuzeigen und dafür zu sensibilisieren, dass Phänomene aktiver, gewaltsamer und selbstzerstörerischer Zurichtung der erdnaturbezogenen Dinge in Interventionsbeziehungen eingelassen sind. Demonstriert wurde weiter, welche Zerstörungskraft und vor allem wie sich diese in Beziehungen vermittelt, die man eigentlich aufnimmt und gestaltet, um Veränderungen herbeizuführen und welche eine Sprache des Gelingens sprechen. In die Beziehungen eingelassen ist ein Nein. Dieses Nein wird nicht einseitig als ein Nein gegen die jeweilige Intervention verstanden, sondern als Nein zu dringend gebrauchten und an sich guten Lebensmöglichkeiten infolge tabuisierter Ansprüche auf die Natur. Um dieses Nein zu kommunizieren, wurde und wird Zerstörung gewählt, das Fällen der jungen Bäume, das Zerschlagen der Wasserinfrastruktur oder der laute Protest auf eine Lösung, die eine Wende einer selbstzerstörerischen agrarwirtschaftlichen Nutzung bedeuten könnte. Solche Akte sind Ausdruck eines Beziehungsgeschehens, das von gegenseitiger Feindseligkeit getragen ist. Das Nein in der Zerstörung hat seinen Ursprung darin, dass es differente Ansprüche auf die Natur geben könnte, letztlich verschiedene ontologische Dispositionen, sich mit den erdnaturbezogenen Dingen in Beziehung zu bringen und hierüber Maßstäbe und Praktiken für das Leben abzuleiten. In dieser Differenz begegnet man sich feindselig. Zerstörung entsteht, wenn
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sich die Artikulation differenter Ansprüche auf die Natur in der Art verbietet, dass von Seiten der Intervenierenden oft ein einseitiger Deutungsanspruch auf die Natur erhoben und mit allen Mitteln durchgesetzt wird. Zerstörung entsteht, wenn mit dieser Durchsetzung Daseinszweifel genährt und Pattsituationen provoziert werden und wenn es ebenso die Bereitschaft gibt, dieser Durchsetzung zu folgen. Feindseligkeit lässt sich also weder zur einen noch zur anderen Seite auflösen bzw. machen solche Versuche keinen Sinn. Auch wenn die Zerstörung der Dinge in den dargestellten Fällen von Seiten der Intervenierenden geschürt wird, mit der Intervention Deutungsansprüche machtvoll durchgesetzt werden, geht es bei dieserart Feindseligkeit immer auch um etwas, für das es Einvernehmen, vielleicht auch eine Art stille Übereinkunft gibt. Ich betone dies deshalb, um den Fokus nunmehr stärker auf eine Beziehungsdynamik in der Intervention zu legen und für die fortwährende Anerkennung eines Tabus eine Übereinkunft in der Feindseligkeit zu vermuten, was erst dann gelingen kann, wenn sich in einem Feld die entsprechenden Bereitschaften, Positionen und Praktiken bereits ausgebildet haben. Aus meiner Sicht liegt in der Feindseligkeit eine gewachsene, zutiefst vertraute und akzeptierte Form, sich in der Intervention zu begegnen. Dies zeigt sich deutlich daran, wie reflexartig Opfer, Zerstörer oder Schuldige angerufen werden, wie bereitwillig man sich in diese Positionen fügt oder umgekehrt, mit welchem Druck diese eingefordert werden. Es gibt in den Beziehungen zur Intervention kaum etwas, dass diese Positionen ersetzen könnte. Sie werden gebraucht und bilden den Grundmodus, einander zu begegnen. Meine persönliche Erfahrung im Feld hierzu ist: Es ist einfacher, zu tabuisieren, feindselig zu sein und zu werden, hierüber Anerkennung zu erfahren, als friedfertig zu agieren. Dies deshalb, weil dies in einem Feld, wo eine entsprechend vereinnahmende Form von Intervention historisch gewachsen und allgegenwärtig ist, zunächst den impliziten Erwartungen aneinander entspricht. Kurzum, in den drei Fällen, und nicht nur dort, wurden Dinge zerstört, Lebensmöglichkeiten im Keim erstickt, wurden Menschen fundamental angegriffen oder haben sich umgekehrt als gescheitert erfahren. Es braucht also ein gewisses Maß an Feindseligkeit, um diese Resultate zu erzielen. In diesen Beziehungen stimmt also tatsächlich etwas nicht.11 11
Die These, dass es eine gemeinsame Verständigung auf die Feindseligkeit gibt, wird auch deshalb formuliert, weil diese zweckmäßig ist. Damit verschiebt sich die Frage weg von der Ursachenforschung und der Suche nach Verantwortlichen und hin zu
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Worauf ist das Nein gegen eine »Natur der Fülle«, die Zerstörung im Rahmen von Intervention eine plausible Antwort? Die Ausführungen legen nahe, dass dieses Nein dazu dient, die vertraute Feindseligkeit (und hierüber das Tabu) aufrechtzuerhalten und damit etwas, auf das man sich zu verstehen gelernt hat. Was aber ist damit gewonnen? Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass gewaltsame Mittel wie eine Axt an der Wasserleitung dazu dienen, um in den Beziehungen, in den Ansprüchen auf die Natur Differenz zu markieren und einzufordern. Dies würde bedeuten, sich aufzulehnen, gegen eine andere Position gewaltsam anzugehen. Man würde gegen Überzeugungen kämpfen, die das eigene Denken und Tun als falsch, wertlos, zerstörerisch, ausbeuterisch usw. ausweisen. Feindselig ginge es also zu, wenn man beginnt, sich aufgrund von Differenz in den ontologischen Dispositionen, d.h. unterscheidbarer Ansprüche auf die Natur mit entsprechenden Mitteln zu bekriegen. In der Zerstörung der Dinge vermitteln würde sich dann der gescheiterte Versuch, auf Unterschiede aufmerksam zu machen und ein Recht auf die jeweiligen Positionen einzufordern. In einem solchen offenen, vielleicht auch »reiferen« Konflikt läge Spannung und für die Diplomatie die Herausforderung, aus dem Disput einen Tanz der Standpunkte zu machen. Aber dafür müssten die Standpunkte, die das Potential für einen solchen Konflikt in sich tragen, für alle zugänglich und sichtbar werden. Man müsste erst einmal wissen, wofür man eintritt, gegen wen und was man ankämpft. Es kann als sicher gelten, dass auf der Ebene differenter ontologischer Dispositionen ein solch offener Konflikt nicht geführt wird. Die Feindseligkeit, von der hier die Rede ist, erfüllt demnach einen anderen Zweck. An dieser Stelle sei die These gewagt, dass diese Feindseligkeit gerade nicht dazu dient, einen Konflikt in der Differenz der Ansprüche auf die Natur offen zu führen, sondern im Gegenteil darauf verwendet wird, diesen zu verhindern. Die These ist, dass Feindseligkeit auf das Unsichtbarwereinem Beziehungsgeschehen, womit sich praktisch arbeiten lässt. Dass dieses Beziehungsgeschehen durch einen Modus der Subjektivierung durch Tabuisierung, d.h. aus Erwartungen zur Unterwerfung in Gang gehalten wird, steht dabei außer Frage. Es geht mir also nicht darum, aus Handlungszwängen Handlungsspielräume zu machen, indem man behauptet, es gibt die Bereitschaft sich unterwerfen zu lassen. Wenn von einer solchen Bereitschaft die Rede ist und hierin in gewisser Hinsicht eigenständige Akte vermutet werden, dann deshalb, weil eine solche Bereitschaft gewachsen ist, sich ein kulturelles Muster der Begegnung verfestigt hat und es zu diesem Muster keine Alternativen gibt. Dass es nun wiederum keine Alternativen gibt, legt den Schluss nahe, dass es für die Feindseligkeit einen guten Grund gibt.
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den von Differenz zielt, dass darin die mittlerweile stille Übereinkunft liegt. Feindseligkeit wird gewählt, um ein Tabu durchzusetzen. Sie wird aber ebenso gewählt, um dieses Tabu anzuerkennen. Was damit gelingt, ist Differenz und dazu insbesondere die Uneinholbarkeit dieser Differenz zu nivellieren.12 Nivelliert wird die Möglichkeit in den Ansprüchen auf die Natur einen Unterschied zu machen, d.h. verschiedene und andersartige Modalitäten der Beziehung zwischen Ich und der Natur als Nicht-Ich zu artikulieren und in entsprechenden Praktiken zu beantworten. Nivelliert wird aber auch die Möglichkeit, sich in diesen Unterschieden nicht verstehen zu können. Unsichtbar und aus dem Miteinander verbannt wird, sich auf Fremdheit und das Nichtverstehen in der Fremdheit verstehen zu müssen. Feindseligkeit wird somit gewählt, um auf der Ebene von Naturbeziehungen und ihren vorhergehenden Modi der Vermittlung Indifferenz zu erzeugen. Mit dieser Indifferenz gewonnen wäre dann, sich der Anstrengung von »zivilisierten« Begegnungen, der Anstrengung von Reflexionen und Revisionen der eigenen und anderen Ansprüche und auch der Möglichkeit, keine Übereinkunft zu finden, nicht unterziehen zu müssen. Mit dieser Indifferenz geht dann aber auch verloren, überhaupt einen Anspruch auf die Natur zu haben. Die Zerstörung der erdnaturbezogenen Dinge, insofern sie aus der Intervention hervorgeht, ist dann Ausdruck dieser feindselig erzeugten Indifferenz und damit eines Kollapses von Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen. Was in diesen Situationen übrig bleibt, ist nichts. Zerstört wird die Natur als Nicht-Ich, d.h. in den Dingen ein anspruchsvolles Gegenüber zu haben, mit dem es in der
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Uneinholbarkeit kann auch mit dem Begriff des Unverfügbaren bezeichnet werden, das jedem Selbst- oder Weltverhältnis innewohnt. Das Unverfügbare entzieht sich dem, was beherrscht, kontrolliert und gewusst werden kann. Das Unverfügbare ist ein Widerstand in einem, wie es Rosa bezeichnet, »aggressiven Weltverhältnis« (Rosa 2018:10). Sich einer Dimension von Unverfügbarkeit auszusetzen, setzt die Revision einer aggressiven Bezugnahme auf Menschen und Dinge voraus, wodurch Responsivität und Resonanzfähigkeit als Essenz menschlichen Daseins wahrscheinlicher werden (Rosa 2018:32). In der Argumentation von Krämer ist das Uneinholbare und Unverfügbare in Beziehungen und Vermittlungen im Begriff des radikal Anderen/Anderem repräsentiert. Bei Krämer heißt es, man »ist dem Fremden, das sich zeigt, ohne dass es von ihm zu bezeichnen, zu identifizieren und zu kolonisieren ist, ausgeliefert« (Krämer 2008:90). Uneinholbarkeit, Unverfügbarkeit, das radikal Andere heißt es zu erfahren, zu erleiden. Es kann nicht ermittelt oder verstanden werden.
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einen und anderen Weise gelingen könnte, Beziehung aufzunehmen und zu gestalten. Das Nein in der Zerstörung der Dinge ergibt also Sinn und dies in zweifacher Hinsicht. Es ist ein plausibles Nein auf etwas, was man dringend zum Leben braucht, wovon man aber überzeugt ist und wurde, es nicht haben zu dürfen. Es ist aber ebenso ein plausibles Nein zur Möglichkeit, im Anspruch auf die Natur einen Standpunkt zu haben, einen Unterschied zu machen, hierüber in Beziehung zu treten, sichtbar zu werden, einen offenen, »reiferen« Konflikt auszutragen, sich fremd zu sein und zu werden, die Erfahrung des Anderen zur Revision, Entwicklung und Veränderung zu nutzen, sich vielleicht aber auch gar nicht verstehen zu können. Auch dieses Nein entsteht aus der Repression, die in der Intervention angelegt ist und von Menschen ausgeübt wird, die sich selbst nicht als ein Gegenüber zu erkennen geben, das »zivilisiert« genug und bereit wäre, ein Angebot zu formulieren, sich im Anspruch auf die Natur tatsächlich zu begegnen, genauer: ein Gegenüber, das »zivilisiert« genug und bereit wäre, zu einer solchen Begegnung einzuladen oder sich einladen zu lassen.13 13
Es liegt nahe, in dieser Beziehungsweise das Relikt oder das Fortdauerns eines kolonialen Erbes zu konstatieren. Aus meiner Sicht ist diese These mehr als gerechtfertigt. Dennoch habe ich es bewusst vermieden, eine entsprechende Argumentation zu entfalten oder auf Bezeichnungen von kolonial und postkolonial zu rekurrieren. Grund dafür ist, eine einseitige fachtheoretische Verortung im Feld poststrukturalistisch-postkolonialer Ansätze zu vermeiden, auch wenn diese gerade für die Untersuchung von Subjektivierungen durch Tabuisierung maßgeblich ist. Der begriffliche Verzicht ist notwendig, um die Schwere und Bürde von Opfer- und Schuldfragen, die unweigerlich in diesen Diskursen anstehen, nicht zu reproduzieren. Es handelt sich um etwas, das in den praktischen Vollzügen im Feld immer ansteht, eine Verhandlung in dieser Perspektivierung jedoch zu nichts führt außer der Reproduktion von Täter- und Opferpositionen. Aus meiner Sicht geht es darum, bereits in der Sprache diplomatisch vorzugehen. Dies bedeutet gerade nicht, die Tatsache eines kolonialen Erbes in den gegenwärtigen Beziehungen auszublenden, sondern für neue Perspektiven fruchtbar zu machen. Spreche ich von kolonial im Stil postkolonialer Kritik, stehen Täter und Opfer fest. Spreche ich hingegen von feindselig, stehen Opfer und Täter auch fest, jedoch kann eine solche Zuordnung hinter eine Frage zur gemeinsamen, wenn auch unter Druck erzeugten, Beziehungskultur zurücktreten. Es geht dann um Feindseligkeit und Beziehungskultur diesseits eines Täter-Opfer-Komplexes. Dieser Verzicht folgt der Aussage von Latour, wenn es heißt, die Urszene der Kolonisation müsse neu gespielt werden. Neu bedeutet, einen Anfangspunkt zu finden, der hinter die Setzungen eines kolonialen Deutungsrahmens zurücktritt, wohlwissend, dass dieser durch postkoloniale Kritik zunächst zu erkennen und zu verstehen ist (Latour 2015:263).
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Für den Grundkonflikt, der mit der Zerstörung der Dinge im Rahmen von Intervention in allen Fällen angezeigt oder angespielt wird, kann dann eine einfache, aber in der Konsequenz schwerwiegende Deutungshypothese formuliert werden. Der Grundkonflikt besteht darin, in der Indifferenz keinen Konflikt bzw. keine Möglichkeit auf einen Konflikt zu haben. Drastisch formuliert: Es gibt keine Möglichkeit auf einen »echten« Streit, auf »echte« Fragen, auf einen Disput der Standpunkte und somit auch keine Möglichkeit, daraus einen Tanz zu machen. In dieser Lesart geht es um ein viel grundsätzlicheres Tabu hinter der Tabuisierung eines Natur- und Selbstverhältnisses als Verhältnis zur Fülle. Dieses Tabu besteht darin, dass es in den verschiedenen Ansprüchen auf die Natur die Begegnung als jeweils Fremde, darin aber »Zivilisierte« nicht geben darf. Gibt es also ein Missverständnis, das in der »Urszene der Kolonisation« (Latour 2015:263) seinen Ursprung findet, dann, dass man bis heute glaubt und daran festhält, sich nicht als Fremde begegnen zu müssen, zu dürfen oder zu können. Es ist diese Grundüberzeugung, die es verbietet, in den Ansprüchen auf die Natur eine Differenz zu markieren, eine Differenz, die man aber braucht, um sich auseinandersetzen zu können, die jedoch immer auch einen Aspekt von Unverfügbarkeit und Unvermittelbarkeit mit sich führt. Die Verwerfungen in den dargestellten Interventionsbeziehungen, die machtvollen Ein- und Übergriffe, der Drang sich durchzusetzen, aber auch jener sich zu unterwerfen, die gesamte paradox, verdeckt oder offen feindselige Beziehungskultur, basieren auf diesem Missverständnis, dem Tabu zur Differenz, das sich nunmehr zu einem selbstzerstörerischen Muster verselbstständigt hat, in das man als Hilfsbedürftiger, aber auch als Intervenierender mehr oder weniger geworfen ist. Für eine Naturdiplomatie, die sich der Übereinkunft von Differenzen in den Ansprüchen auf die Natur verpflichtet, bedeutet dieser Befund eine große Herausforderung. Wie und wozu kann und sollte man Diplomatie betreiben, wenn es keinen Konflikt, nicht einmal die Möglichkeit dazu gibt? Diplomatie in der Indifferenz scheint paradox und braucht es nicht. Geht es denn dann überhaupt um Diplomatie, wenn es um die Zerstörung der erdnaturbezogenen Dinge geht? Es muss um Diplomatie gehen, jedoch in der Art, dass es Ziel werden muss, diese zu ermöglichen. Latour betont, dass die vorderste Aufgabe von Diplomatie in der Intensivierung von Konflikten besteht (Latour 2013:o.S.). Die vorliegenden Feldstudien zeigen, dass es vor der Intensivierung von Konflikten überhaupt erst einmal ein Feld geben muss, in dem eine offene und »reifere« Form von Konflikten zugelassen ist. Vor der Intensivierung von Konflikten braucht es zuallererst Positionen, über die man strei-
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ten, um die man kämpfen, über die man verhandeln, die man verstehen oder nicht verstehen kann. Damit Diplomatie greifen kann, müssen erst einmal die Grundlagen geschaffen werden. Es braucht also zunächst einen Raum, in dem es möglich ist, in den Ansprüchen auf die Natur Differenz zu markieren, d.h. einen Raum, in dem Begegnungen erlaubt sind, die in dieser Hinsicht zum Unterscheiden und zum Verbinden auf- und herausfordern. Wie öffnet sich ein solcher Raum? Dieser Raum kann erst entstehen durch eine grundständig »zivilisierte« Beobachtung und Reflexion im Feld. Die Untersuchungen zeugen davon, dies zumindest zu versuchen. Als »zivilisiert« gelten kann eine naturtheoretisch offene und ressourcenorientierte Annäherung an ein mögliches Gelingen von Naturbeziehungen, so wie es die Ausführungen zum Anspruch auf eine »Natur der Fülle« nahelegen. Gemeint ist ein Gelingen, das durch eine ontologische »Melange der Naturen« grundiert sein könnte, etwas, für das es empirische Hinweise gibt und was man zumindest für möglich halten sollte. Animistische Bezüge bilden hierzu die Voraussetzung, um Verbundenheit mit den Dingen zu erzeugen. Der naturalistische Zugriff in einer Art von naturkundlicher Kenntnis strukturiert die Einfachheit von alltäglichen Techniken und Praktiken. Erst beides zusammen ergibt Sinn, weil der Naturalismus in der Einfachheit als Antwort auf die ökologische Fülle aus der spirituell grundierten Gemeinschaft mit den Dingen eine ge- und erfüllte Lebenswelt macht. Der christlich-religiöse Bezug, Jesus, ist bedeutsam für das Einvernehmen, was es braucht, um mit den Erschütterungen durch die großen Naturereignisse umzugehen. Insgesamt liegt in dieser »Melange der Naturen« eine gangbare und elegante Disposition, einer vollen, aber auch ereignishaften Welt der erdnaturbezogenen Dinge zu begegnen, darin satt zu werden und zu leben. Als »zivilisiert« gelten kann auch, wenn man dazu in poststrukturalistischer Manier das Pendant machtvoller Subjektivierungen erkennt, die darauf zielen, das Gelingen im Anspruch auf eine »Natur der Fülle«, letztlich die mit einer »Melange der Naturen« verbundene Friedfertigkeit, zu tabuisieren.14 Dies geschieht oft unwissentlich durch die naturalistische Verengung des Blicks in der ökologisch-technologischen Intervention, der durch die Entseelung, Entgeisterung oder Entgötterung der Welt nur Ausbeuter und Zerstörer kennt und in dieser Logik zur Korruption anstachelt. Dies geschieht aber auch gezielt durch die konservativ-christlichen Missionen, bei denen die 14
Wenn von poststrukturalistischer Perspektive die Rede ist, dann ist die postkoloniale Kritik implizit mitgeführt.
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Armut und die Verwundbarkeit im Zuge der großen Naturereignisse derart missbraucht werden, indem man in der Suche nach göttlichem Einvernehmen in menschlichen Ausnahmesituationen an einer Hoffnung durch Schuld partizipiert. Als »zivilisiert« kann auch gelten, wenn man die Modi und Zweckmäßigkeit der Zerstörung der Dinge in einem widersprüchlichen Feld zuwider- und gegenläufiger Ansprüche und Positionen erkennt. Gemeint sind die Form und der Zweck von Beziehungen, auf die man sich im Rahmen von Intervention still zu verstehen gelernt hat und die den Verfall der Dinge fördern. Allen voran geht es um die Modi einer paradox-feindseligen Beziehungskultur, die am Ende darauf zielt, eine Kerndifferenz im Anspruch auf die Natur zu nivellieren. Erst mit diesem Schritt, der die Feindseligkeit nicht mehr nur sieht, sondern im eigenen Denken und Tun für möglich hält, wird eine friedfertige Absetzbewegung möglich, wie es die Diplomatie verlangt. Mit einer Naturdiplomatie als Forschung, mit dem Verstehen über »zivilisierte« Formen von Beobachtungen und Reflexionen, ist ein Anfang bestimmt, um einen Raum für eine Diplomatie in der Praxis, d.h. einer Diplomatie als Intervention zu öffnen. Bei den gewonnenen Erkenntnissen handelt es sich insgesamt um eine Position, mit der es möglich ist, ein feindseliges Feld der Intervention anzuerkennen, aber vielmehr sich nunmehr sensibilisiert und wachsam in dieses Feld stellen zu können, ohne wissentlich und unwissentlich selbst feindselig zu werden. Mit dieser Position ist also ein Anfang bestimmt, um diesem Feld nicht mehr ausweichen zu müssen und es gar nicht mehr zu versuchen, so wie es die Sehnsucht der EU- und »World-Bank«-Berater nach einer totalen Katastrophe nahelegt. Mit dieser Position braucht man auch die Wirkmächtigkeit dieses Feldes nicht mehr ignorieren, um dann in der Praxis doch von ihr eingeholt zu werden, indem man in vermeintlich aufgeklärter Manier darauf insistiert, es nunmehr gänzlich anders zu machen. Durch die naturtheoretische Öffnung dieser Position wird es möglich, die Differenz in den Dispositionen zur Natur zumindest für möglich zu halten. Mit dieser Position gelingt es, diesem Feld mit postkolonialer Kritik zu begegnen, auf Unterwerfungsstrukturen aufmerksam zu werden, in die man am Ende offensichtlich selbst verwickelt ist. Dies ist ein Anfang, um in entsprechenden Situationen die Feindseligkeit und zerstörerischen Doppelbindungen zu erkennen und Abstand zu nehmen. Mit dieser Position ist aber noch keine gangbare Alternative zu dieser Feindseligkeit gewonnen. Es reicht also nicht aus, sich entsprechend offen
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für das Andere sowie kritisch und wachsam zu positionieren. Was fehlt ist ein Handlungsrepertoire, mit dem es gelingt, in dieser Positionierung mit den gewonnenen Erkenntnissen inmitten eines destruktiven Feldes tatsächlich bestehen und Schritt für Schritt zu einer Naturdiplomatie voranschreiten zu können. Es braucht Praktiken und Taktiken, um inmitten all der Verwerfungen, die »Urszene der Kolonisation« tatsächlich neu durchzuspielen (Latour 2015:263). Es braucht Praktiken und Taktiken, im Anspruch auf die Natur Differenz zu sehen und sichtbar zu machen, damit Konflikte, echte Fragen, Diplomatie und Veränderungen möglich werden. Es braucht einen Weg, um zu lernen, die »Waffen« der Feindseligkeit tatsächlich »an der Garderobe abzugeben« (Latour 2015:110), um hierin vorsätzlich mit dem Tabu der Differenz, d.h. mit der Indifferenz zu brechen. Es braucht den Tabubruch, der den Raum für eine Begegnung als Fremde und hierin für das Verstehen und Nichtverstehen, für den Konflikt, aber auch für Lösungen zumindest öffnet. Anstelle von Feindseligkeit sollte ein friedfertiger Umgang mit Unterschieden in den Beziehungsweisen zur Natur eingeübt werden, dies mit all ihren Konsequenzen für den Krieg und den Frieden in einer Naturdiplomatie.
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II Naturdiplomatie als Intervention
II Methodologischer Rahmen
Wie lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen von Naturdiplomatie als Intervention praktisch wenden, d.h. wie werden Destruktivität und Konflikt einer Bearbeitung zugänglich? Die Erkenntnisse zu den »Spuren der Destruktivität« wurden mit dem Ziel generiert, ein Stattdessen in der praktischen Intervention anzuleiten. Es wurde konstatiert, dass sich die beobachtete Destruktivität gegen ein mögliches Gelingen von Naturbeziehungen richtet, dass diese zerstörerischen Akte ein Nein zu einer »Natur der Fülle« statuieren. Dieses Nein wird vollzogen, weil die »guten Quellen« von Naturbezügen, d.h. die Einfachheit, das Einvernehmen und die Verbundenheit durch eine vorhergehende ontologische »Melange der Naturen« ein Tabu berühren. Dieses Tabu wird gespeist durch machtvolle Subjektivierungen in einem Diskurs- und Erfahrungsfeld von Krise, Katastrophe und entsprechender Intervention. Dieses Tabu wird fortlaufend reproduziert durch eine Feindseligkeit, auf die man sich in der Intervention still verständigt und zu verstehen weiß. Feindseligkeit, Tabu und das Nein in der Zerstörung erzeugen Indifferenz, eine Indifferenz, mit der sich die Anstrengung von Reflexion, Revision und Nichtverstehen vermeiden lässt, d.h. sich in den Ansprüchen auf die Natur als Fremde zu begegnen. Wie ist die Handhabe einer solchen Position? Wie lässt sich diese Position gebrauchen, um zur Feindseligkeit, Tabuisierung und Zerstörung ein Stattdessen anzuleiten? Oder anders formuliert: Wie lässt sich diese Position gebrauchen, um in der Intervention einen Raum zu kreieren, der von einem »zivilisierteren« und friedfertigeren Miteinander zeugt? Gemeint ist ein Miteinander, in dem Unterschiede in den Ansprüchen auf die Natur artikulierbar, in dem Positionen sichtbar, streitbar und verhandelbar sind, in dem man sich auf Fragen, Konflikte und Übereinkünfte orientiert, in dem man sich aber auch auf die Fremdheit, das Unverfügbare und das Nichtverstehen zu verstehen lernt. Wie
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Naturdiplomatie
findet man zu einem Stattdessen, dass sich als Naturdiplomatie bezeichnen lässt? Im Rahmen von Intervention liegt eine erste Gebrauchsweise einer solchen Position nahe und wurde bereits angedeutet. Die Thesen nützen, um eine entsprechende Perspektivierung zu erreichen. Probleme, Konflikte sowie Phänomene aktiver und gewaltsamer Zerstörung im Umfeld der erdnaturbezogenen Dinge lassen sich nun auch durch die Brille einer gestörten und beschädigten Naturbeziehungsweise zum Guten lesen. Die jeweiligen Modi der Tabuisierung können aufgeschlossen, die gegenseitige Feindseligkeit erkannt werden usw. Diese Position lässt sich somit gebrauchen, um eine erweiterte Form von situativer Problemdiagnostik zu betreiben. Die Position fungiert dann als eine Art Erkenntnisfigur.1 Eine solche eher forschende Handhabe ist gut, im Rahmen von Problemdiagnostik und für die Navigation in einem schwierigen Feld auch unerlässlich. Um die weiterführende Ausgestaltung eines solchen forschenden Zugangs geht es im Folgenden jedoch weniger.2 Was mögliche Veränderungen in Bezug auf eine gelingende Kommunikation in der Praxis von Intervention betrifft ist dieser Zugang allein nicht zielführend. Mit Forschung, situativer Diagnostik und der Generierung eines problembezogenen Wissens ist noch keine Handhabe gewonnen, die tatsächlich das Stattdessen einer Naturdiplomatie ermöglicht. Auch dies wurde bereits erwähnt. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein entsprechender Erkenntnistransfer zu leisten imstande ist, eine erkennende und anerkennende Form des Miteinanderredens über die
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Erkenntnisfigur meint ein Werkzeug reflexiv-kritischer Beobachtung: »Mit Erkenntnisfigur ist eine Art Gewebe, ein Strukturgebilde von Vorannahmen und der Regeln der Erzeugung von Erkenntnis gemeint, in die das […] erkenntnisorientierte Denken jeweils eingebettet ist« (Nick 2001:15). Dieser Position gehen entsprechende Vorannahmen voraus: eine naturtheoretisch geöffnete Perspektive auf Naturbeziehungen (und entsprechender reziproker sozialer Beziehungen), eine subjekttheoretische Bestimmung eines (an-)erkennenden »Subjekts der Sorge um sich« sowie sozialtheoretische Bezüge des »doing subjects« in der Perspektive von Subjektivierungen durch Tabuisierung. Was an dieser Stelle fehlt und Gegenstand der folgenden Ausführung ist, ist die Bestimmung einer vermittlungstheoretischen Perspektive. Um diese Position als Erkenntnisfigur weiterführend für Forschungszwecke gebrauchen zu können, bedarf es der Entwicklung entsprechender Methodologien. Grundsätzlich wird konstatiert, dass sich mit dieser Position zunächst empirische Forschungsanlässe und -fragen im Umfeld sozial-ökologischer Problemstellungen bestimmen und untersuchen lassen.
II Methodologischer Rahmen
Natur herbeizuführen.3 Im Gegenteil wird dies eher dazu führen, die Konflikte zu stabilisieren. Dass ein solcher Erkenntnistransfer nicht möglich ist, liegt daran, dass dies die Sache an sich nicht zulässt. Es geht um ein Tabu, das tabu ist. Die Paradoxie ist, dass man sich mit dieser Form von Vermittlung in einem Feld befinden würde, in dem sich Kommunikation bislang entlang eines Vermeidungsgebots organisiert, man aber zugleich versucht wäre, durch entsprechende Erkenntnisse zu diesem Vermeidungsgebot in den Modus der Erzeugung desselben Vermeidungsgebots einzugreifen. Dies funktioniert nicht. Um also zu einem Stattdessen als Naturdiplomatie in der Intervention voranzuschreiten, heißt dies zunächst, über eine Handhabe des Tabus in der Vermittlung nachzudenken. Berührt ist somit die Frage nach dem Wie der Vermittlung einer Sache, die zunächst nicht vermittelbar ist. Einfacher formuliert: Es ist also nicht möglich, all jenen zu Einsichten in ein Tabu zu verhelfen, die an dessen Aufrechterhaltung situativ, konkret und praktisch mitwirken und damit in gewisser Hinsicht einen Gewinn, zumindest aber einen Zweck, verbinden. Es gelingt nicht und wäre auch wenig verantwortungsvoll, Menschen in einer prekären Lage in reflexiver Manier Erkenntnisse darüber zu verabreichen, dass ihre eigenen Ansprüche auf die Natur tabuisiert sind, dass sie dieses Tabu selbst anerkennen, auch deshalb ihre Existenzgrundlagen zerstören und es nun an der Zeit wäre, sich der eigenen Ansprüche wieder bewusster zu werden und für eine Vermittlung mit denen der Anderen zugänglich zu halten, um die eine oder andere neue Lösung für ihre Probleme zu generieren. Ebenso wenig wird es nützen, die Intervenierenden vor Ort auf die tabuisierenden Tendenzen ihrer Programmgrundlagen und der dazugehörigen Praktiken aufmerksam zu machen, auf ihre Uneinsichtigkeit in differente ontologische Dispositionen zur Natur und die damit verbundene Feindseligkeit zu verweisen und zu erwarten, dass sich damit ein neues Denk- und Handlungsrepertoire einstellt. Den Programmen gehen Legitimationen voraus. Sie sind an Evaluations- und Finanzierungslogiken gebunden. Sie sind in diesen Anlagen und Ausführungen ebenso richtig
3
Gemeint ist eine Vermittlung als Wissenstransfer/Wissenschaftstransfer, die sich zur Aufgabe macht, (wissenschaftliche) Erkenntnisse in gesellschaftliche Praxisfelder zu transferieren, d.h. »Wissenslücken« zu überbrücken oder zu schließen. Im Fall eines Tabus kann eine solche »Wissenslücke« gerade nicht vorausgesetzt werden. Um ein Tabu weiß man, wenn auch implizit. Vermittlung organisiert sich in diesem Fall um die Funktionalität dieses impliziten Wissens; zum Wissenstransfer/Wissenschaftstransfer vgl. Ash (2006), Secord (2004).
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Naturdiplomatie
und gut und lassen sich im Feld der Praxis nicht einfach über Bord werfen.4 Reflexiv-kritische Vermittlungen zeigen an dieser praktischen Stellschraube also deutlich ihre Grenzen.5 Ein Tabu drängt darauf, nicht angefasst zu werden. Wer in die Aufrechterhaltung eines Tabus selbst verstrickt ist, wird auf eine solche reflexiv-kritische Vermittlung mit Abwehr reagieren. In einem solchen Versuch wird sich allenfalls zeigen, welche Wirkkraft in einem Tabu gebunden ist. Im günstigsten Fall scheitern die Verhandlungen, im schlechtesten motiviert man dazu, nun erst recht Wasserleitungen zu zerschlagen oder man bringt den nächsten Helfer dazu, ein gesellschaftliches »reset« durch eine neue Katastrophe herbeizusehnen. Gäbe es in einer solchen Vermittlung weniger Abwehr und es käme zur Einsicht in die Modi des Neins in der Zerstörung, d.h. in Subjektivierung durch Tabuisierung und eine gewachsene Feindseligkeit, dann würde Unsicherheit und Ungewissheit um sich greifen, es nicht anders oder besser machen zu können. Man müsste sich Fehler und Versagen eingestehen, ohne eine gangbare Alternative zu haben. Allein dass dies der Preis für das Verstehen wäre, wird still dafür sorgen, dass dieserart Erkenntnisse nicht aufgenommen und zugänglich werden. Aber auch, wenn das Tabu ein Tabu bleibt, werden Wasserleitungen zerschlagen, Bäume gefällt, Langusten mit Corail gefangen und präsentiert, heilige Bäume angegriffen und Erdnüsse angebaut. Es wird weiterhin eine Masse an Helfern mit den besten Intentionen geben, die im Feld, weniger jedoch in den Evaluationsberichten oder Internetauftritten der Projekte, ihr Scheitern und ihre Ratlosigkeit unter dem
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Ich spreche von Interventionen auf wissenschaftlicher Grundlage, die sozialökologische Probleme berühren. Entsprechend kritische Diskurse sind m.E. nicht im Feld der Praxis zu führen, gehören jedoch in die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Grenze meint, dass sich diese Gegenstände der Vermittlung weitestgehend entziehen. Wäre dem nicht so, wäre ein reflexiv erworbenes Wissen über mich selbst im Falle eines Tabus wenig konstruktiv, weil es zu einer fundamentalen Kritik führt. Erzeugt würden Einsichten in ein schwerwiegendes Problem, die es nicht braucht, um es zu lösen. Ein reflexiv-kritischer forschender Zugang war die Voraussetzung, um zu den Befunden dieser Arbeit zu gelangen. Kritik und Reflexivität sind die zentralen Elemente einer Naturdiplomatie als Forschung. In der Praxis von Vermittlung erfordern die Erkenntnisse zu einem Tabu nunmehr die Abkehr von entsprechender Reflexivität und Kritik, weil man damit einen Zugriff auf Subjekte provozieren und damit genau das reproduzieren würde, wovon man sich durch reflexiv-kritische Forschung abzusetzen versucht.
II Methodologischer Rahmen
Deckmantel der Verschwiegenheit beklagen. So oder so, es bleibt, wie es ist. Dies ist zunächst die Krux mit einem Tabu. Sich einem Tabu, den darin gebundenen Zweifeln, den Verlusten, der Feindseligkeit und Zerstörung direkt zu stellen, bedeutet prinzipiell etwas, wozu man bereit sein muss. Mit einer solchen Bereitschaft ist nicht irgendeine Art von Veränderungswillen oder -druck gemeint. Davon gibt es im Untersuchungsfeld auf allen Seiten genug. Das Schwierige ist, dass sich dieser Veränderungswille oder -druck gerade aufgrund eines Tabus nicht für Veränderungen mobilisieren lässt. Ein Tabu zu konfrontieren, was einen selbst unmittelbar betreffen kann, dieses sehen und annehmen zu können, funktioniert erst, wenn an die Stelle von Tabuisierung, Feindseligkeit und Zerstörung etwas anderes getreten ist, wenn das Tabu als Tabu keine Wirkmächtigkeit besitzt, wenn sich damit weniger gewinnen lässt als mit einem Stattdessen. Die Bereitschaft, sich einem Tabu zu stellen, kann also nur bedeuten, für eine Art nachträgliche Reflexion in einer nunmehr gewandelten Situation bereit zu werden, d.h. wenn man in der Sicherheit einer anderen Realität Abstand zum Konfliktgeschehen nehmen kann oder gewonnen hat.6 An dieser Stelle grundsätzlich gefragt werden muss, ob es dann überhaupt um die Bereitschaft und Fähigkeit gehen sollte, ein Tabu als solches zu konfrontieren, wenn auch in einer nachträglichen Reflexion. Aus meiner Sicht geht es nicht darum, die gewonnenen Erkenntnisse mit einem solchen Ziel zu verbinden. Stattdessen geht es im Idealfall darum, Situationen zu erzeugen, in denen man das Tabu einfach lassen kann, es überflüssig wird und schlichtweg nicht mehr da ist. Es ginge also um ein Miteinander, in dem sich die Differenz in den Ansprüchen auf die Natur befreit und friedfertig artikulieren kann. Gemeint ist ein Reden über die Ansprüche und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« im Blick eines Anderen und zwar ohne dass es hierfür noch direkte Verweise auf Tabuisierungen und Feindseligkeiten braucht, die sich bisher mit dieser Differenz verknüpfen. Der Anfang für etwas Neues besteht dann darin, die Differenz anzufassen, dafür aber deren Tabuisierung
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Zu erwähnen ist, dass ich im Rahmen meiner forschenden und praktischen Tätigkeiten eine solche Position des Abstands einnehmen konnte. Ich war eigenständig und ohne Mandat einer entwicklungspolitischen Organisation oder NGO im Feld und überdies auch nicht an ein wissenschaftliches Fachparadigma gebunden. Diese befreite Positionierung hat aus meiner Sicht den Zugang zur Fragestellung dieser Arbeit und ihrer Auseinandersetzung ermöglicht.
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liegen zu lassen, um somit der Gefahr zu entgehen, Verletzungen wiederzubeleben, Interventionen fundamental zu kritisieren und die alten Feindseligkeiten in Schach zu halten. Der Hinweis auf die nachträgliche Bereitschaft wäre dann noch insofern wichtig, weil es im Zuge von Veränderungsprozessen Momente geben kann, in denen sich Entsetzen, Trauer über die Verluste, Empörung über die Feindseligkeit, vielleicht auch Schuld zum Ausdruck bringen und dass dies, wenn es auftritt, einen entsprechenden Umgang oder eine Nachjustierung erfordert. Insgesamt heißt dies aber, dass es die direkte Konfrontation mit dem Tabu, mit den Erkenntnissen zu einem Was, Wie und Wozu von Tabuisierung, Feindseligkeit und Zerstörung in der praktischen Arbeit von Intervention im Feld nicht braucht, diese einer Veränderung sogar abträglich ist. Grundsätzlich obsolet ist also eine Form von Vermittlung, in der versucht wird, über eine erkenntnisgebundene Arbeit, d.h. über das Verstehen und Durcharbeiten eines Tabus, Enttabuisierung zu betreiben. Obsolet ist aber nicht, dass es um Enttabuisierung gehen muss, um einen Weg aus der interventionsbedingten Zerstörung und hin zu einem Stattdessen als Naturdiplomatie anzubahnen. In diesem zweiten anwendungsorientierten Teil der Arbeit wird gefragt, wie eine solche Enttabuisierung gelingen kann. These ist, dass es um die Anbahnung einer grundlegend gewandelten Beziehungskultur des Tabubruchs durch Differenz gehen muss, um die destruktiven Muster in den Begegnungen zur Intervention zum Zurückweichen zu bringen. Mit dieser Beziehungskultur, die sich im Dialog zur Entfaltung bringt, greift man in den bestehenden paradox-feindseligen Beziehungsmodus ein. Verändert werden der Modus, sich in der Indifferenz in den Ansprüchen auf die Natur zu begegnen. Damit wird die Art und Weise verändert, über die Natur und Naturbeziehungen zu sprechen, Fragen zu formulieren und Antworten zu generieren. In der folgenden Untersuchung werden dazu Anregungen einer praktischen Vorgehensweise aufgeführt. Entlang eigener kleiner Fallarbeiten wird aufgezeigt, wie sich entsprechende Interventionsanlässe aufspüren und im Rahmen einer gewandelten Beziehungskultur aufschließen lassen, wie sich hierüber ein Stattdessen als Naturdiplomatie entwickeln kann. Was sich durch die Arbeit an einer Beziehungskultur des Tabubruchs durch Differenz zeigt, ist ein Potential zur Veränderung. Entsprechend wird abschließend diskutiert, was mit diesem Potential gewonnen ist und was nicht, was es heißt und wozu es nützt, im bestehenden Feld von Intervention für ein Stattdessen als Naturdiplomatie zumindest erst einmal zu plädieren.
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
Wie lassen sich Feindseligkeiten im Rahmen von Interventionsbeziehungen auflösen? Was sind die Taktiken und Prinzipien einer Beziehungskultur der Enttabuisierung durch die Markierung von Differenz in den Ansprüchen auf die Natur? Ziel dieser Untersuchung ist, auf das Potential einer Beziehungskultur zu verweisen, die es vermag, in der Intervention ein Stattdessen als Naturdiplomatie zu stiften. Es geht um eine Form des Miteinanderredens, bei der die Differenz in den Ansprüchen auf die Natur sichtbar und artikulierbar wird. Durch diese Beziehungskultur ist es möglich, Kommunikation und Vermittlung neu zu organisieren und hierüber mit dem Vermeidungsgebot des Anspruchs und der Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« zu brechen.1 Es geht um eine Beziehungskultur, die es ermöglicht, über die Natur, über erdnaturbezogene Dinge und die damit verbundenen Fragen zu verhandeln, indem man über Naturbeziehungen in ihrer einen oder anderen Weise verhandelt. Gemeint ist ein Miteinanderreden, das an den »Anfang« ontologischer Dispositionen zurückführt. Praktisch und didaktisch wird somit die einfache Frage verfolgt: Wie und wozu findet der Gegenstand Naturbeziehungen ins Gespräch? Eine Beziehungskultur des Tabubruchs durch Differenz ist friedfertig. Sie versteht sich als Eingriff, verzichtet dazu aber auf den Zugriff auf Menschen und Dinge. Sie hält ihre Überzeugungen, Problemdefinitionen und Rezepte verhandelbar. Sie verzichtet nicht auf den Streit, das Zweifeln, das Revidieren und das Fragen. Sie setzt auf den offenen und »reifen« Konflikt, der in der Spannung von Unterschieden liegt. Friedfertig heißt, die Annahme zu teilen, 1
Mit Tabubruch bzw. Enttabuisierung wird somit ein Entwicklungspotential unterstellt (Kraft 2015:180). Aufgeschlossen werden kann dieses Potential, wenn in dem, was durch das Tabu verloren geht, eine drängende Entwicklungsaufgabe vermutet wird (Kraft 2015:184). Mit einer Beziehungskultur des Tabubruchs durch Differenz wird hierfür eine entsprechende Strategie vorgeschlagen.
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Naturdiplomatie
dass es Lösungen gibt, dass auch in schwierigsten Lagen Ressourcen liegen und dass Menschen bereit sind, diese aufzuschließen, wenn es die Erfahrung gibt, dass es leicht, gut und richtig ist, Tabu und Feindseligkeit liegen zu lassen. Eine solche Beziehungskultur zielt auf das Urbachmachen von Unterschieden. Sie sucht nach »guten Quellen«, die in der Verbindung dieser Unterschiede liegen, nach dazu passenden Fragen und Lösungen. Sie ist in dieser Hinsicht eine strenge ressourcen- und lösungsorientierte Beobachtungs- und Gesprächshaltung.2 Kernstrategie dieser Beziehungskultur ist das Urbarmachen von Unterschieden. Dazu braucht es zugleich Mittel und Wege, um all das liegen zu lassen, was das Unterscheiden unmöglich macht. Beides bedingt einander. Urbarmachen ist Liegenlassen. Liegenlassen ist Urbarmachen. Erst im Liegenlassen können die Unterschiede greifen, kündigt sich eine wechselseitige Anerkennung im Gespräch an. Urbarmachen und Liegenlassen sind keine einfachen Aufgaben, bedenkt man Sinn, Zweck und die Persistenz des Tabus. Ein Tabu drängt darauf anerkannt zu werden. Entsprechend wird sich auch die vertraute Feindseligkeit in den Gesprächen immer wieder zum Ausdruck bringen. Damit heißt es, umzugehen. Es reicht also nicht einfach aus, ressourcen- und lösungsorientiert nach Unterschieden zu suchen. Um diese Unterschiede einem fruchtbaren Streit zuzuführen, braucht es zugleich eine Beobachtung- und Gesprächshaltung, genau genommen: Gespür, Takt und Taktik für das Liegenlassen. Im Dialog liegen gelassen werden muss das gesamte feindselige Repertoire, das den Krisen- und Katastrophendiskurs etabliert, hierüber eine Problemtrance nährt und somit das Tabu in Gang hält. Vom Dialog auszuschließen sind einseitige Opfer- und Schuldzuschreibungen sowie Beschreibungen von Problemen, die mit Letztbegründungen operieren, um Ausweglosigkeit zu betonen. Liegenlassen ist dann ein weiterer Akt, die »Waffen an der Garderobe abzugeben«, um eine »zivile Versammlung« zu ermöglichen (Latour 2015:110). In der Gesprächspraxis heißt dies, immer wieder dafür zu sorgen, dass die »Waffen« auch an der Garderobe liegen bleiben. Die in diesem Vorhaben avisierte Beziehungskultur fordert also beides: das Urbarmachen und das Liegenlassen, d.h. eine Dialektik von Differenz und Tabubruch. Im Folgenden werden die Grundzüge einer solchen Beziehungskultur beschrieben. Herausgearbeitet und diskutiert werden Taktiken 2
Zur ressourcen-/lösungsorientierten Grundhaltung in der Beratung vgl. Barthelmess (2016:126-129), von Schlippe & Schweitzer (2016:209-211).
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
und Prinzipien, um Interventionsbeziehungen aufzunehmen und miteinander ins Gespräch über die Natur, genau genommen: über Naturbeziehungen in ihrer einen oder andere Weise, zu finden. Insgesamt herausgestellt wird, wie es gelingt, die Voraussetzung für ein Stattdessen als Naturdiplomatie zu schaffen. Gemeint ist die Herstellung eines Raumes vermittelbarer und verhandelbarer Positionen. Die Argumentation wird in drei Schritten entfaltet: a) In einem ersten Schritt wird dazu eine längere Fallvignette in Form einer Erzählung präsentiert. Es handelt sich um ein Gespräch zur Intervention, das im Rahmen einer regionalen umweltpolitischen Initiative angeregt und geführt wurde. Dieses Gespräch ist exemplarisch für eine Reihe von Interventionsanlässen im Untersuchungsgebiet, in denen ein naturdiplomatischer Zugang erprobt wurde. Die Fallvignette ist beispielhaft, um auf die besondere Struktur und Dynamik eines Gesprächs zu verweisen, welches sich das Urbarmachen von Differenz und das Liegenlassen von Tabu und Feindseligkeit zur Aufgabe macht. b) In einem zweiten Schritt werden die skizzierten Taktiken des Gesprächs vermittlungstheoretisch an drei wesentliche Prinzipien zurückgebunden und entlang weiterer Beispiele vertiefend diskutiert. Erarbeitet wird eine auf den Gegenstand zugeschnittene Idee von Sachlichkeit, Unterschiedsbildung und Enttabuisierung. Damit formuliert werden Anregungen zu einem transferfähigen Vermittlungsansatz. c) Abschließend wird kritisch diskutiert, welches Veränderungspotential mit einer Beziehungskultur gewonnen ist, die einen Raum für die naturdiplomatische Vermittlung öffnet, welche Möglichkeiten, aber auch Grenzen es gibt, ein solches in einem erweiterten Feld von Intervention aufzuschließen.
5.1
»Die Geister verlassen das Land« – Ein Interventionsanlass
In der Nähe von Acul-du-Nord im ruralen Norden von Haiti gibt es ein Treffen mit einer Reihe von Farmerfamilien, umweltpolitisch Engagierten, Agronomen und Agrarökologen sowie Studierenden der Politikwissenschaft aus der Region. Es handelt sich um die erste Begegnung in dieser Konstellation. Die Veranstaltung steht für eine Art regionale umweltpolitische Initiative. Anlass ist, über die schwierige Lage in der Subsistenz zu verhandeln und dazu insbesondere ökologische Probleme in ihren lokalen Ausprägungen zu adres-
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sieren. Es geht auch hier um Wasserknappheit, die Devastierung der Böden und um die massiven Rodungen zur Holzgewinnung. Ich selbst komme mit dieser Initiative über einen Agronomen in Kontakt, der mir aus einem anderen Arbeitszusammenhang bekannt ist. Ich begleite zunächst die Vorbereitungen, unterstütze das Vorhaben also in konzeptionellen Fragen und folge später der Einladung, die Veranstaltung gemeinsam mit den Initiatoren durchzuführen. Zu diesem Zeitpunkt bin ich in meinem Forschungsprozess weit vorangeschritten und beginne, die Befunde zur Tabuisierung einer Naturbeziehungsweise des Gelingens und zu dem paradox-feindseligen Beziehungsmodus im Rahmen von Intervention für die Praxis eines naturdiplomatischen Verfahrens fruchtbar zu machen und zu diesem Zweck wieder stärker intervenierend zu arbeiten. In Acul-du-Nord bietet sich dazu ein neues und günstiges Arbeitsfeld. Dies deshalb, weil ich in der Region bisher weder forschend noch praktisch tätig war. Für mich bietet sich somit eine Gelegenheit, entsprechende Taktiken einer Beziehungskultur des Urbarmachens von Differenz und des Liegenlassens von Tabu und Feindseligkeit auszuloten. Das Treffen wird angekündigt und die Leute erscheinen zahlreich.3 Im Folgenden wird der Verlauf des Gespräches entlang von fünf taktischen Schritten dargestellt und diskutiert. Der Differenz im Gespräch Raum geben Eine erste zentrale Strategie von Differenz und Tabubruch besteht im Auftakt des Gesprächs, insbesondere in einer sehr einfachen und klaren Art wie ich mich als Intervenierende positioniere. Ich positioniere mich in einer doppelten Rolle als Wissenschaftlerin und als wissenschaftliche Beraterin. Ich stelle mich vor und erkläre, dass ich mich in meinen Forschungen hauptsächlich mit Naturbeziehungen und ökologischen Fragen auseinandersetze und hierzu seit längerer Zeit in Haiti arbeite. Ich stecke somit ein Themenfeld und eine gewisse Expertise ab, für die ich eine Zuständigkeit empfinde. Ich betone zunächst eher abstrakt, dass ich mich in meiner Arbeit zu Naturbeziehungen für das Leben in enger Verbindung mit der Natur interessiere, wie es gelingt, sich tagtäglich selbst zu versorgen und welche Herausforderungen damit verbunden sind. Ich berichte vom Leben in der Subsistenz, dass ich dazu viel von den Farmern und Fischern, den Frauen und Kindern gelernt habe, dass ich Einblicke gewonnen habe über die Anbauweisen, die Gestaltung der Gärten, die Fangtechniken, die Zubereitung von Nahrung, die Tagesabläufe, aber 3
Zu diesem Treffen erschienen ca. 70 Personen.
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
auch in die besondere Verbundenheit mit der Natur und dass mir vieles davon fremd war. Ich betone ebenso, dass ich nach Haiti gekommen bin, weil die Natur einige Besonderheiten bereithält, mit denen sich die Menschen auseinandersetzen müssen. Ich erläutere, dass ich verstanden habe, dass die Natur ein ganz gutes Potential bereithält, um sich selbst versorgen zu können, aber dass dazu auch die Risiken zu meistern sind, allen voran die Stürme und die Überschwemmungen. Abschließend bemerke ich, dass mir bewusst ist, dass es nicht einfach ist, insbesondere wenn es um die ökologischen Probleme und Katastrophen geht. Neben meiner Positionierung als Wissenschaftlerin mache ich deutlich, dass ich im Umfeld dieser Schwierigkeiten auch beratend aktiv bin, dass es mir wichtig ist, mich auszutauschen. Ich erwähne, dass es sich diesbezüglich oft als nützlich erwiesen hat, wenn in den Gesprächen eine Person dabei ist, die an sich fremd ist, die sich aber vor Ort auseinandergesetzt hat, welche Wissen, Begriffe und vor allem Fragen anbieten kann, die zum Nach- und Weiterdenken in der eigenen Sache anregen. In dieser Positionierung steckt zunächst eine Würdigung des alltäglichen Tuns, aber auch der Probleme. Bedeutsamer ist jedoch, dass ich damit einerseits darlege, wo meine Expertise und damit der Gesprächsfokus liegen, nämlich auf Fragen zur Natur, zu den Naturbeziehungen und damit verbundener Probleme. Diese Setzung ist entscheidend. Das Gespräch bekommt eine grundsätzliche thematische Rahmung. An dieser Setzung ist aber vielmehr entscheidend, dass sie bewusst abstrakt und nachdrücklich auf Naturbeziehungen fokussiert. Dieser Gegenstand wird unterstrichen, indem ich sage, dass es sich dabei um ein wichtiges Thema der Forschung handelt, zu dem es noch viel zu verstehen gibt und dass ich auf diese Arbeit viel Zeit verwende. Durch die thematische Setzung Naturbeziehungen wird die Natur als Gegenüber explizit ins Gespräch gebracht. Damit wird implizit ins Gespräch gebracht, dass es Menschen sind, die in diesen Beziehungen ihre eigenen Erfahrungen machen und entsprechend auch eigene Theorien zu diesen Erfahrungen ausbilden. Damit wird ebenso festgelegt, über die erdnaturbezogenen Dinge im Modus von Beziehungen zu sprechen, etwas das im Streben nach Indifferenz als unterminiert gelten kann. Zugleich wird implizit eingeführt, dass es Unterschiede in den Beziehungsweisen zur Natur geben muss. Dafür spricht die Tatsache, dass man Forschung zu Naturbeziehungen betreibt, was nur Sinn ergibt, wenn es so und auch anders sein könnte. Diese thematische Setzung bedeutet einen ersten Schritt in Richtung Differenz und Tabubruch. Die Möglichkeit, einen Unterschied im Anspruch auf
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die Natur urbar zu machen, wird eingeführt und somit zugleich eine erste Strategie ausgehebelt, das Vermeidungsgebot dieses Unterschieds durchzusetzen. Was nun weniger möglich ist, sind thematische Abweichungen, mit denen unbedingt zu rechnen ist, wenn es um Fragen zur Natur geht und ein entsprechendes Tabu vermutet wird.4 Indem ich meine Expertise und Zuständigkeit durch die thematische Klammer deutlich konturiere, kann ich mich auch jederzeit darauf berufen und im Fall von Abweichungen das Gespräch zum Kern der Sache zurückführen. Ich biete das Gespräch also ausschließlich zum Thema Naturbeziehungen an, wohlwissend, dass sich mit dem sachlichen Ankerpunkt auch andere Fragen klären lassen. Was dieser Auftakt generell verspricht, und meines Erachtens ist dies auch der Grund, weshalb er tatsächlich so gut funktioniert, ist, dass Menschen, die meist nicht gesehen, erkannt und anerkannt werden, ein stilles Angebot erhalten, etwas über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Der Gesprächsauftakt lässt erahnen, dass es um das eigene Denken und Tun gehen könnte, dies durch die Perspektive einer wissenschaftlichen Beraterin, die als Andere in der Lage ist, bezogen auf die alltäglich bedeutsamen Beziehungen zur Natur einen Unterschied zu sehen und vielleicht auch zur Sprache zu bringen. Ein solcher Auftakt ist ein wenig verstörend, weil man die gängigen Themen von vornherein ausschließt bzw. in den Hintergrund drängt, um einer ungewissen Sache Raum zu geben.5 Es ist aber nur ein wenig verstörend, weil in dieser Ansprache das Tabu vorerst unberührt bleibt. Es wird nicht angefasst, weil eben nur in einer abstrakten Begrifflichkeit von Naturbeziehungen gesprochen wird. Dies ist die Voraussetzung, dass sich Neugierde 4
5
In vielen Gesprächen beobachtbar wurde die Tendenz, das Gespräch von der Sache der Natur, insbesondere von den ökologischen Problemen wegzuführen, selbst dann, wenn diese den expliziten Gesprächsanlass bildeten. Generell bestand die größte Hürde darin, überhaupt in ein Gespräch zu finden, dass die Sache der Natur berührt. In den Diskursen vordergründig sind dringlichere und vor allem viele andere Probleme, sodass das Naturthema ins Hintertreffen gerät. Aus meiner Sicht ist damit nicht nur eine Gewichtung von Dringlichkeiten angezeigt, sondern vielmehr eine bestimmte Form der Kommunikation, die Natur als Absentes zu markieren, um das Vermeidungsgebot zu erhalten. Das Reden über die Natur war also alles andere als selbstverständlich. Ein gängiges Themenfeld, das immer zu erwarten ist, ist das Beklagen einer fehlenden staatlichen Fürsorge. Ein Erklärungsmuster ist, dass die nationale und internationale Politik nicht gewillt und auch nicht in der Lage ist, für geordnete und helfende Strukturen zu sorgen. Das Ausweichen in die Abstraktion einer makromaßstäblich geführten politischen Debatte, die Ausweglosigkeit betont, erscheint wie eine Art Reflex, wenn das Thema der Natur berührt ist.
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
auf das Gespräch entwickeln kann. Ein solcher Gesprächsauftakt, der die eigene Position zwar diesseits des Vermeidungsgebots markiert, aber darauf verzichtet es aufrechtzuerhalten, ist aus meiner Sicht unumgänglich. Ein gewisses Maß an Feindseligkeit zulassen, um sie zu eliminieren Im Grunde genommen gebe ich mit diesem Auftaktimpuls den Raum, in dem sich der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« artikulieren könnten, was jedoch nicht heißt, dass dies auch geschieht. Auch wenn diese Möglichkeit anklingt, vielleicht auch eine gewisse Neugierde und Bereitschaft vorhanden sind, wird dieser Raum nicht mit entsprechenden Erfahrungen und subjektiven Theorien gefüllt. Dies deshalb nicht, weil es dafür weder Worte noch Artikulationsformen gibt. Worte werden gefunden, um an dieser Stelle ein Schweigen zu erzeugen. Ein Tabu bedeutet Unterlassungskommunikation. Es wird also Tendenzen geben, diesen nunmehr geöffneten Raum anderweitig zu besetzen. Würde ich in dieser Öffnung vorschnell mit interessierten Fragen beginnen, die in den Bereich des Tabuisierten treffen, würde ich die Realität des Tabus, der Feindseligkeit, von bedeutsamen Subjektivierungen und der Sprachlosigkeit ignorieren, was einen eigenen möglichen Anspruch auf die Natur betrifft.6 Hierin liegt eine große Gefahr, diesen gerade geöffneten Raum wieder zu verlieren und das Gespräch zum Scheitern zu bringen, bevor es überhaupt begonnen hat. Gebraucht wird also eine weitere Taktik, um all das im Dialog liegen zu lassen, das darauf drängt, diesen geöffneten Raum der Differenz für sich einzunehmen. Gemeint sind sämtliche Formen des Sprechens, die Indifferenz erzeugen in der Art, dass man die Frage der Natur generell und meist reflexartig zurückdrängt. Dieses Zurückdrängen gelingt, indem auf dringlichere Probleme verwiesen wird, wie z.B. die prekäre Lage in der Armut, indem Ausweglosigkeit beklagt wird, Opferpositionen eingefordert und Schuldige ausgewiesen werden oder man sich selbst anklagt. Indem sich der Krisen- und Katastrophendiskurs, meist fixiert auf seine politischen und ökonomischen Dimensionen, in seinen individuellen Schattierungen aktualisiert, wird das
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In der Perspektive systemisch orientierter Beratungsformen würde man an dieser Stelle eine Art neugieriges Fragen ansetzen, um Informationen zu gewinnen für die Generierung von Arbeitshypothesen. Ein solches Fragen ist jedoch dann kontraindiziert, wenn man die Modi von Unterlassungskommunikation im Umfeld eines Vermeidungsgebots berücksichtigt; zur Hypothesenbildung in systemischen Interventionen vgl. von Schlippe & Schweitzer (2010:54).
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Reden über die Natur und folglich über die eigenen Naturbeziehungen vermieden. Die Taktik besteht darin, all dies erst einmal zuzulassen. Um den geöffneten Raum der Differenz nicht zu verlieren, ist es wichtig, dass sich dieser zunächst mit den gängigen, wenn auch tabuisierenden Szenarien anfüllen darf. Die Kunst besteht aber darin, sich davon selbst nicht vereinnahmen zu lassen, d.h. zu dieser Form des Miteinanderredens Abstand zu wahren. Für mich heißt dies, dabei zu sein, zuzuhören, aufmerksam zu bleiben, aber all dies nicht anzuerkennen. Erkennen, aber nicht anerkennen, dies ist entscheidend. Nicht anzuerkennen gelingt, wenn ich selbst bei jenem Beziehungsund Gesprächsangebot verweile, das ich im Auftakt durch die eigene Positionierung, durch die thematische Zuständigkeit und Expertise unterbreitet habe. Davon ist in keinem Fall abzuweichen. Ich bleibe dabei, für Themen zur Natur, zu Naturbeziehungen und damit verbundener Fragen offen zu sein und unterlasse es, mich anderweitig einzumischen. Ich vertraue darauf, dass die eigene Position gerade in diesen Szenen an Kontur gewinnt, d.h. als etwas Anderes tatsächlich sichtbar und erfahrbar wird. Greift also eine Tendenz zur Tabuisierung, läuft der Auftaktimpuls wie eine Hintergrundmusik. Im Hintergrund hört man leise, was und wie man stattdessen verhandeln, wie man darin selbst sichtbar werden kann usw. Zu vernehmen ist auch, dass eine solche Form des Miteinanderredens gangbar ist, weil die eingeführte Position von Erfahrungen zeugt, dass es möglich ist, mit Fischern, Farmern, Frauen und Kindern in ein Gespräch über die eigenen Ansprüche auf die Natur zu finden. Greift also eine Tendenz zur Tabuisierung, dann laufen diese Szenarien nun im Beisein einer Interventionsfigur ab, die sich darauf zu verstehen gelernt hat, mit den Leuten über die Sache der Natur und Naturbeziehungen zu sprechen. Die Vermeidungsszenarien werden sich in den Augen eines solchen Gegenübers verlieren, weil sich darin schlichtweg keine Resonanz mehr findet. Sie werden liegen gelassen. Das Gespräch beginnt, sich zu wenden, indem man versucht, neue Resonanzpunkte zu finden. Es wird, wie von selbst, nach Wegen gesucht, um in Beziehung zu treten. Dies geschieht deshalb, weil das Auftaktangebot einen neuen, lebensbejahenden Wert anspricht.7
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Reul spricht von einem verlangsamten und geduldigen Stil der Therapie bzw. Beratung, um günstige Zeitpunkte aufzuspüren, in denen bislang selten formulierte Selbstund Situationsbeschreibungen sichtbar werden können. Gemeint sind eine Art Ausdauer und Gespür für die kairetische Chance, um mögliche Veränderungen anzubah-
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Eine solche Wendung kündigt sich meist an, wenn inmitten der Klagen, Anklagen und der Problemtrance, das Gespräch auf die Sache der Natur kommt, wenn auch auf die Devastierung, dies verlangt das Tabu. Wenn aber die Natur zur Sprache kommt, ist dies ein Zeichen, dass man nunmehr beginnen kann, über Naturbeziehungen zu verhandeln.8 Im Gespräch zeigt sich ein solcher Moment inmitten einer längeren Phase des Klagens und Anklagens, die mit Fragen einsetzt, weshalb man zum Treffen gekommen ist, worüber man sprechen müsste, was man sich vom Gespräch verspricht usw. Es wird gar nicht geantwortet, es wird sofort geklagt und angeklagt. Es geht um die Allgemeinplätze, die Not, die Armut, die Fehler der Politik, um Korruption, dass keiner hilft, dass man nichts hat, am Ende sei usw. All dies spitzt sich zu als eine junge Frau aufsteht, das Wort ergreift und laut in die Runde spricht: »Wenn ich könnte, würde ich alle in der Regierung töten!«9 Nachdem man lang geklagt und angeklagt, sich gegenseitig in der Not bestätigt hat und ich in dieser Zeit leise und aufmerksam beobachtet habe, schaut man im Angesicht dieser Aussage nun auf mich. Möglicherweise ist diese Äußerung ein Zuviel, ein kritischer Moment und man erwartet eine Reaktion. Ich antworte bedacht: »Mein Eindruck ist, wenn Sie so etwas sagen, dann muss es eine große Enttäuschung geben. Dies wird mir gerade bewusst. Ich selbst kann aber nicht umfassend einschätzen, was die Regierenden tun oder nicht, das so enttäuschend ist. Ich kenne mich nicht aus, es ist nicht mein Gebiet. Mir ist es heute also nicht möglich, darüber eine Auseinandersetzung zu führen, aber vielleicht kommen wir im Laufe des Gesprächs noch einmal darauf zurück.« 10
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nen. Aus meiner Sicht ist dies im Falle einer Kommunikation, die sich um ein Tabu organisiert, eine der wichtigsten Stellschrauben (Reul 2018:121-127). Ein Einwand könnte an dieser Stelle lauten, dass man mit dieser Taktik ebenso Unterlassungskommunikation betreibt. Dies ist richtig. Allerdings folgt diese Vermeidung nicht der Logik von Tabuisierung, sondern jener einer abgesteckten Expertise und Zuständigkeit. Ich mische mich nicht ein in Themen, die mir fern sind. Originalzitat kreolisch: »Si m tè kapab, mwen t ap touye tout moun nan gouvènman an!« Originalzitat kreolisch: »Mwen gen enpresyon ke si ou di yon bagay konsa, ou dwe desi de gouvènman anpil. Se kounyea mwen vin okouran de sa. Men, mwen menm pa ka evalye kisa moun ki nan pouvwa yo ap fè oswa pa fè, ki fè w desi konsa. Mwen pa konnen anyen nan sa; se pa domèn mwen. Se pou rezon sa, li pa posib pou mwen gen yon diskisyon sou sa jodi a. Men nou ka tounen sou sijè sa a pandan konvèsasyon an.«
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Ich gehe nicht auf die Wut ein, auch nicht auf den Vorschlag über die Unterlassungen der Politik im Großen zu reden, würdige aber die Enttäuschung, die sich in dieser Aussage zum Ausdruck bringt. Ich lasse es liegen. Es ist jener Moment, in dem das Gespräch zu einem neuen Thema findet. Im Anschluss an diese Szene ist es eine Weile still und es geschieht, dass ein älterer Mann aufsteht und sichtlich bewegt in die Runde spricht: »Was nützt das ganze Reden, die Geister verlassen das Land, weil wir uns nicht gut kümmern. Wir werden hier alle sterben!«11 Mit dieser Aussage kommt nun das Gespräch erstmalig auf die Natur zurück. Der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« beginnen, sich in dieser Äußerung zumindest zu zeigen. Von der Sache her wird auf die Natur vermittelt durch die Geister, eine Natur als Zuhause, d.h. auf das Naturgefühl als wichtige innere Navigation verwiesen. Das Ganze ist eingekleidet in ein Todesurteil und wird vorgetragen in einer Selbstanklage. Aber es wird vorgetragen, das ist entscheidend! Auf die Natur wird rekurriert, indem auf die spirituelle Verbundenheit im Voodoo verwiesen wird. Ich bewerte diese Äußerung als eine, wenn auch harsche, Antwort auf mein Angebot über Naturbeziehungen zu sprechen. Sie zeigt, dass man mich als Gegenüber wahrnimmt und möglicherweise bereit ist, über den eigenen Anspruch auf die Natur ins Gespräch zu finden. Die Differenz ist offensichtlich. Eingeführt wird eine Natur als Gemeinschaft aus Menschen und Dingen, die sich über eine göttliche Geisterwelt vermittelt. Am Verhandlungstisch ist nun eine Natur, die nicht meine ist. Offensichtlich ist aber zugleich auch der Konflikt, der sich um diesen Naturbezug ausgebildet hat. Wohlbemerkt, es wird ein Todesurteil formuliert. Dieses Statement ist nun der Gesprächs- und Interventionsanlass. Die Differenz befreien »Was nützt das ganze Reden, die Geister verlassen das Land, weil wir uns nicht gut kümmern. Wir werden hier alle sterben!« Diese Aussage wiegt schwer, weil sich darin der Daseinszweifel zum Ausdruck bringt, dass man das Leben verliert oder bereits verloren hat. In der Aussage steckt eine Letztbegründung, hinter die sich zunächst nicht zurücktreten lässt: Ohne Geister gibt es kein Leben; ohne die Natur gibt es kein Leben. Man stirbt, weil man von den Geistern verlassen wird. Was nützt also das ganze Reden. Dargelegt wird ein Fazit zu
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Originalzitat kreolisch: »Pil pale anpil yo pa itil anyen. lwa yo kite peyi a paske nou pa pran swen yo ankò. Nou ap mouri isit la!«
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allem, was bisher gesagt wurde. Der mit Klagen und Anklagen angefüllte Gesprächsraum wird nunmehr schlagartig leer. Alles, was bisher vorgetragen wurde, verliert an Plausibilität. Man muss nicht mehr über Korruption, das Versagen der Politik, die eigenen Verfehlungen reden, wenn auf einer grundlegenden Ebene die Geister und damit die Natur und damit das Leben im Begriff sind, unwiderruflich zu verschwinden. Formuliert wird das Ende, ein Höhepunkt an Ausweglosigkeit. Folglich regt sich in der Runde auch kein Widerstand. Es gibt kein Gegenargument, stattdessen Einvernehmen und ratlose Gesichter. Es entsteht der Eindruck, das Gespräch ist zu Ende. Aus meiner Sicht liegt hierin ein Anfang. Ich lese das Statement als Angebot an mich und frage, was sich mir mitteilen möchte. Ich verfolge dazu zwei Hypothesen. Ich überlege erstens, ob es sich hierbei um einen Rückgriff auf den vertraut feindseligen Beziehungsmodus handeln könnte. In dieser Lesart würde man den eigenen Anspruch auf die Natur, die spirituelle Verbundenheit zwar vortragen, aber damit zugleich vorführen, dass es keinen Wert verspricht, über die Natur und die Naturbeziehungen zu reden. Dies deshalb nicht, weil man die Sache mit der Natur bereits verspielt hat, es nichts mehr zu verändern gibt. Die Geister verlassen schließlich die Gegend. Es könnte sich um eine verdeckte Anklage handeln, dass es zu spät ist, eine solche Auseinandersetzung zu führen, dass die Intervention zur Differenz, der damit verbundene Handschlag zum Frieden schlichtweg zu spät kommt. Dies ist das eine. Eine andere Deutung legt nahe, dass man die Natur vermittelt durch die Geister gerade deshalb ins Gespräch bringt, um an das spirituelle Fundament zu erinnern und um zu konstatieren, dies dringend haben zu müssen, um zu leben. Ich lese die Aussage also in ihrer Umkehrung: Wenn die Geister wieder da wären, dann können wir leben! Direkt zu formulieren, dass man dafür sorgen kann, die Geister, die Natur, das Leben zurückzugewinnen, ist nicht möglich, wenn man das Tabu bedenkt. Es ist nicht erlaubt, im Raum von Intervention über das sinnlich-affektive Band zu den Dingen und die »guten Quellen« zu sprechen, die in einer Natur vermittelt durch die Geister gründen. Auch in meinem Beisein ist dies zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Es gibt in diesem Beziehungsraum keine Begriffe, Beschreibungen und Sprechweisen, die einen solchen Gegenstand einholen könnten und auch keine Erlaubnis. Erlaubt und stimmig ist in diesem Moment, die Geister als etwas, das man dringend zum Leben braucht, zu erwähnen, dies aber in Form ihres Verlusts und einer Selbstanklage. Das Vermeidungsgebot bleibt in dieser
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Deutung erhalten. Die Geister verlassen das Land, die Natur stirbt, weil man selbst nicht in der Lage ist bzw. sein darf, sich gut zu kümmern. Ich selbst habe nun zwei Möglichkeiten zu reagieren. Eine erste besteht darin, die Frage der Pflege der Geister und damit die Pflege von Naturbeziehungen ins Gespräch zurückzuführen und auszuloten, was es bedeuten würde, sich wieder kümmern zu können. Eine andere Möglichkeit ist, in der Logik des Vermeidungsgebots zu bleiben, dem Nein in der Aussage zu folgen, die Selbstanklage aufzugreifen und zu thematisieren, weshalb man die spirituelle Pflege der Natur vernachlässigt. Ich bin für einen Moment geneigt, das Letztere zu tun, weil dies dem Druck des Tabus entspricht, erkenne dies aber und tue es aus taktischen Gründen nicht. Ich lasse es also liegen. Aus meiner Sicht geht es im Sinne von Differenz und Tabubruch nun darum, die Möglichkeiten einer spirituellen Pflege der Natur und damit die Pflege von Naturbeziehungen ins Gespräch zurückzuführen. Dazu braucht es eine weitere Taktik, die den vorgetragenen Anspruch der spirituellen Verbundenheit mit der Natur aus einer Interpretation von Verlust, Versagen und Ausweglosigkeit herauslöst. Herauslösen meint, diesen Anspruch von seinem Tabu zu befreien. Konkret geht es um eine Umdeutung der Aussage mithilfe starker Kategorien, die neue Spielräume der Interpretation eröffnen und hinter die sich ebenso wenig einfach zurücktreten lässt.12 »Was nützt das ganze Reden. Die Geister verlassen das Land, weil wir uns nicht gut kümmern. Wir werden hier alle sterben!« Ich bin für einen Moment ruhig, greife dann die Aussage auf und stelle folgende, eher rhetorische Frage: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das sagen kann und darf. Aber wäre es auch möglich, dass die Geister gar nicht weg sind, sondern noch da, sie aber ihre Kraft eingebüßt haben, weil ihre Umgebung nicht mehr gut ist?« 13 Ich erläutere dazu, wie ich auf diese Idee komme und berichte von den Gesprächen mit einem der Voodoo-Priester. Ich sage, dass ich von ihm erfahren habe, dass es wirtliche Umwelten braucht, um die Geister zu beheimaten.
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In der Beratung dienen Umdeutungen, ein Reframing, dem Aufschließen von Möglichkeitskonstruktionen. Eingeführt werden Thesen, Deutungen oder Kategorien, die den »Möglichkeitssinn« wecken (von Schlippe & Schweitzer 2010:56); zur Kunst des Umdeutens vgl. von Schlippe & Schweitzer (2016:311-317), Watzlawick et al. (2009:116-134). Originalzitat kreolisch: »Mwen pa sèten si mwen ka di sa. Men, petèt lwa yo pa ale vre, yo toujou la men yo ka sèlman pèdi fòs yo paske anviwònman an vin pa bon?«
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
Ich erläutere, dass dieser Gedanke dafür stehen könnte, dass der Eindruck verlassen zu werden daherkommt, dass man die Kraft der Geister nicht mehr spüren kann, weil sich diese Kraft in einer unwirtlichen Umgebung nicht entfalten kann und die Geister somit weniger Schutz für das Leben bieten können, dass dies aber nicht zwangsläufig heißen muss, dass es die Geister nicht mehr gibt. Ich führe mein Argument noch einen Schritt weiter und frage, ob die Kraftlosigkeit der Geister nicht auch für eine allgemeinere Müdigkeit unter den Menschen sprechen könnte und stelle damit in den Raum, dass es doch sein kann, dass man der ganzen Probleme und Zerstörung überdrüssig geworden ist.14 Ich bin überrascht, mit welcher Aufmerksamkeit meine Ausführungen verfolgt werden und dass sich hierüber ein Diskurs entfalten kann, der nun eine wechselseitige Anerkennung spiegelt. Was habe ich mit diesem Statement gemacht? Ich habe einen Anspruch aufgegriffen, in dem ich der Natur vermittelt durch die Geister, der Natur als Zuhause, schließlich dem Naturgefühl einen Platz im Gespräch zuweise und zwar ohne diesen zu bestreiten. Es ist selbstverständlich. Damit bin ich meinem Beziehungs- und Gesprächsangebot treu geblieben, differente Ansprüche auf die Natur zu verhandeln. Ich bin ebenso darin sichtbar geworden, dass ich in dieser Hinsicht Kenntnis habe. Möglicherweise lag in der Äußerung des älteren Mannes auch ein kleiner Test in der Art, wie weit man mit mir in diesem Gespräch gehen kann und von mir akzeptiert wird. Zudem habe ich durch die Einführung von Kategorien wie Kraft, Kraftlosigkeit und Müdigkeit, die Ausweglosigkeit in der Erfahrung von Verlust und Verlassenwerden umgedeutet. Ich habe also die spirituelle Verbundenheit anerkannt, dazu aber die Verengung in der Ausweglosigkeit nicht anerkannt und damit das Tabu liegen gelassen. Ins Spiel gebracht habe ich dazu weniger eine neue als vielmehr eine moderatere Auslegung der gewählten Interpretation und dies mit Aussagen eines Voodoo-Priesters fundiert.
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Ich hatte bei dieser Deutung die Bezeichnung Müdigkeitsgesellschaft des Philosophen und Kulturtheoretikers Han im Kopf, eine Idee, die eher für westliche Leistungsgesellschaften in Anschlag gebracht wird. Der westlichen Leistungsgesellschaft wird eine »systemische Gewalt« zugewiesen, die »psychische Infarkte hervorruft«. In einer freien Interpretation war ich in dieser Szene, ob der vielen Krisen und der entsprechenden Diskurse, an eine »Müdigkeitsgesellschaft« aufgrund eines »Infarktes« erinnert und habe deshalb diese Beschreibung gewählt; zur Müdigkeitsgesellschaft vgl. Han (2010).
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Unterlassen habe ich, die Deutung vom Verlust insgesamt infrage zu stellen. Unterlassen habe ich somit, einer als zerstört erfahrenen Welt eine mit kraftvollen Geistern »beseelte« Natur entgegenzusetzen und damit ebenso ein mögliches Gelingen zu berühren! Mit den gewählten Kategorien wird an die Verlusterfahrung angeschlossen. Dieser Anschluss ist wichtig, weil man den Menschen die Richtigkeit ihrer Erfahrungen und Gefühle nicht absprechen kann. An dieser Stelle vorschnell auf eine Natur als Zuhause zu rekurrieren, die eine Reihe an Lebensmöglichkeiten bereithält, würde zur erfahrenen Verlustrealität einen Abstand provozieren, der nicht einzuholen ist. Dies wäre unglaubwürdig und wiederum nicht anerkennend, was die Ausweglosigkeit nur weiter zementiert. Ich habe also Beschreibungen gewählt, welche die Verlusterfahrung weiter mitführen, aber zugleich die Möglichkeit für eine Veränderung bereithalten. Es sind Beschreibungen, mit denen sich arbeiten lässt. Mit der Idee von Kraftlosigkeit und daraus resultierender Müdigkeit eingeführt und erinnert ist, dass es um eine Kraft, um Lebenskraft geht, die sich aus den Beziehungen zu den Geistern und damit aus den Beziehungen zur Natur schöpfen lässt.15 Damit ist zwar gesagt, dass, wenn die Geister und die Natur kraftlos sind, man selbst kraftlos und müde ist und folglich auch, dass etwas in diesen Beziehungen nicht stimmt. Damit ist aber auch gesagt, dass sich über die Aufnahme und Pflege dieser Beziehungen, die Kraft wieder mobilisieren ließe. Mit dieser Umdeutung wird auf ein Veränderungspotential verwiesen und somit ein Angebot unterbreitet, das Gespräch diesbezüglich weiterzuführen. Der kritische Moment dieser Szene ist, dass damit eine Entscheidung ansteht, ein Schritt in Richtung Veränderung zu erwirken oder es zu lassen. Man ist bereit. Erst jetzt ist der geöffnete Raum vorbereitet, dass er sich mit Themen, Positionen und Fragen zur Pflege von Naturbeziehungen füllen kann. Das Tabu ruht zunächst, d.h. der Anspruch und die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« sind sichtbar und in einer Form artikulierbar, die sich nicht um ein Vermeidungsgebot organisiert. Einfach formuliert: Die Natur hat im Gespräch ihren berechtigten Platz gefunden und kann nun über
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Auch beim Begriff Kraft handelt es sich um eine allgemeine starke Kategorie, worüber sich der »Möglichkeitssinn«, ein Feld der Veränderung aufschließen lässt. Berührt wird ein sinnlich-ästhetischer universeller Erfahrungsbereich der Kraft, Lebenskraft, dessen Pendant die Müdigkeit ist. An dieses Erfahrungsvermögen lässt sich erinnern. Es lässt sich durch eine entsprechende Kategorie abrufen und trägt und führt somit das weitere Gespräch; zum philosophischen Begriff der Kraft vgl. Menke (2017).
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Fragen zur Pflege von Naturbeziehungen, welche die Lebenskraft ins Auge fasst, behandelt werden. Von nun an geht es taktisch klug darum, die Differenz stärker zu konturieren, nach Spannungen und Verbindungen zu suchen, die von den eher abstrakten Kategorien zu konkreten Fragen, Problemen und Umsetzungen führen. Die Differenz konturieren Das Gespräch geht vorerst erwartungsgemäß weiter. Man betont die Kraftlosigkeit und Müdigkeit, wirkt aber zugleich auch erleichtert, dass man der Geisterwelt weniger verlustig sein könnte, dies schon allein deshalb, weil die Natur vermittelt durch die Geister nunmehr ins Gespräch gefunden hat und sichtbar ist. Die Kunst besteht nun darin, dass Thema der Pflege der Naturbeziehungen mit Blick auf eine mögliche Veränderung aufzuschließen. Ein konkreter Diskurs über Kraftlosigkeit und Müdigkeit ist dazu wenig förderlich. Es braucht vielmehr eine Wendung, die ein Erfahrungsfeld der Lebenskraft berührt. An dieser Stelle wäre jedoch kontraindiziert, einen konkreten spirituellreligiösen Diskurs über die Kraft der Geister zu versuchen, die als Lebenskraft erfahrbar wird. Gemeint sind z.B. Nachfragen, worin denn die Kraft der Geister bestünde, was es heißt, von einer kraftvollen Geisterwelt umgeben zu sein, woran dies zu bemerken wäre usw. Diese Fragen sind deshalb zu vermeiden, weil ich damit erstens ein eher sinnliches Erfahrungsvermögen berühre, das weniger der Worte bedarf. Hinzu kommt zweitens, dass sich im Umfeld solcher Nachfragen dann eher ein Anlass findet, über Praktiken und Rituale zur Pflege der Geister zu reden, wie sie angewandt werden, um auf direktem Weg mit ihnen zu kommunizieren. Die wichtige Frage des Zustandes der physischen Dinge könnte dadurch wieder in den Hintergrund treten.16 16
In Abschnitt 2.4.2 Verbundenheit wird das Kümmern um die Geister im Voodoo beschrieben und hierzu zwei Formen ausgewiesen: eine indirekte Form, bei der man die erdnaturbezogenen Dinge pflegt, sowie eine direkte Form als eine in Ritualen gebundene Kommunikation mit den Geistern. Zu erwähnen ist an dieser Stelle noch einmal, dass sich die Natur durch die Geister vermittelt, d.h. Ding und Geist zusammengehen, die Geister aber auch als eigenständige Wesen gelten, also mit den Dingen nicht nur identisch sind. Dieses analoge Verhältnis wäre m.E. der Eintritt in die Vermeidungskommunikation. Es besteht die Möglichkeit, die Geisterwelt analog und getrennt von der Natur zu thematisieren, worüber die Dinge aus dem Blick geraten. Im Gespräch insgesamt verfolgt habe ich, über den Fokus auf die Geisterkraft, die in die Dinge einfließen, stärker den animistischen Bezug anzuregen. Mir ging es also bildlich gespro-
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Mit diesen Nachfragen provoziert wäre drittens allerhand Stoff für eine verfehlte Diskussion darüber, welche Vernachlässigungen sich bei der Pflege der Geister insbesondere auf diesem direkten Wege finden. Mit einem VoodooDiskurs würde ich viertens auch der Differenziertheit der Gesprächsrunde nicht gerecht. Anwesend sind Farmer, deren Familien, Agronomen, Agrarökologen und politisch und umweltpolitisch Engagierte. Auch wenn ich bisher wenig weiß über deren Naturbeziehungsweisen, ist zu vermuten, dass zwar in der Situation das gesamte Spektrum vorfindlich ist, wie es im Begriff einer ontologischen »Melange der Naturen« erläutert wurde. Unklar ist jedoch, welche Bezüge im Einzelfall vordergründig anstehen. Mit zu starker Betonung auf eine Geisterwelt im Voodoo provoziert wäre eine Engführung, womit es naheliegt, einige der Teilnehmer und somit Positionen und Potentiale zu verlieren. Prinzipiell gehe ich jedoch davon aus, dass mit der Geisterwelt im Voodoo etwas angesprochen ist, das in dieser Runde alle betrifft, wozu es aber individuell unterschiedliche Erfahrungen, Auffassungen, letztlich auch Vorstellungen gibt. Diese möglichen Imaginationen heißt es, durch ein gezieltes Nichtnachfragen zu erhalten, nicht anzugreifen, weil darin eben auch die Chance liegt, all das, was im Gespräch an Neuem auftaucht, individuell zu verarbeiten. Insgesamt geht es darum, dass man über und um die Geister keine Details erfragt, dass man hierzu gerade keine Setzungen verhandelt, es aber wichtig ist zu wissen, dass es in diesem Gesprächsraum die Natur der Geister geben darf und muss, weil man damit schlussendlich das Naturgefühl als wichtige innere Navigation anregt. Dieses Naturgefühl wird schließlich gebraucht, um ein Gespräch zu führen, das sich auf die Möglichkeit eines Gelingens in den eigenen Ansprüchen orientiert. Was sich zunächst für mich schärft, indem ich einen spirituell-religiösen Diskurs vermeide, ist der Fokus auf die vorhergehenden Modi der Naturvermittlung: der Modus des Verbindens über Ähnlichkeiten in der Interiorität (und Unterschiede in der Physikalität) oder der Modus über Ähnlichkeiten in der Physikalität (und Unterschiede in der Interiorität) (Descola 2013a:181-182). Und noch einfacher formuliert schärft sich der Blick für den Unterschied zwischen einem eher affektiven oder eher
chen weniger darum, über den Geist zu sprechen, der im Baum sitzt (und den man deplatzieren kann), sondern über den Baum, der durch Geisterkraft zum Baum, d.h. lebendig und zum Gegenüber wird. Mit dieser Zielrichtung ist dann ein konkreter Geisterdiskurs zu vermeiden, zumindest solange bis tatsächlich ein konkretes Ding eingeführt ist.
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
kognitiven Band zu den Dingen. Mit einer solchen Reduktion auf eine einfache Leitdifferenz durch den Verzicht auf spirituell-religiöse Begriffe und Deutungen lasse ich das Tabu liegen. Und umgekehrt ist dies für mich der einzige Weg, um überhaupt ein Gespräch entlang der verschiedenen Ansprüche auf die Natur zu organisieren. Meine eigene naturalistische Disposition lässt es nicht zu, einen spirituellreligiösen Diskurs zu versuchen. Dies weniger, weil ich es nicht will, sondern weil das animistische Naturverhältnis und insbesondere eine Natur im Voodoo nicht mein »Zuhause« sind. Es handelt sich um einen Erfahrungsraum, der für mich nicht einzuholen ist, der mir in gewisser Hinsicht fremd ist und bleibt. Ich habe mir zwar Wissen angeeignet, einen basalen Unterschied verstanden und auch die eine oder andere Erfahrung gemacht, so vielleicht auch das eigene Naturgefühl wiedererweckt, aber nicht meine vorherrschende ontologische Disposition gewechselt. Ich selbst könnte also eine solche Debatte niemals halten und stünde nur noch als Fremde in diesem Gesprächsraum. Würde ich einen Geisterdiskurs anregen, bestünde die Gefahr darin, dass das Gespräch nunmehr einseitig von einer Geisterwelt vereinnahmt wird, sich hierin die Leitdifferenz verliert, ein Modus zur Indifferenz greift, der nun unter umgekehrten Vorzeichen die ontologische »Melange der Naturen« tabuisiert. Was ich aber halten und organisieren kann, ist ein Gespräch über den Unterschied. Die Taktik an dieser Stelle liegt somit darin, für milde Begrenzungen zu sorgen und das Gespräch auf ontologische Dispositionen zurückzuführen, was nicht heißt, dass man über Ontologien spricht, sondern in der Perspektive differenter Modi der Naturvermittlung und zwar dann, wenn Inhalte und Fragen zur Natur formuliert werden. Ich frage also nicht, wie es sich mit der Kraft und Pflege der Geister bisher verhält und gehe davon aus, dass man mir unterstellt, dazu zumindest Kenntnis zu haben. Stattdessen versuche ich eine Intervention, die nun das Thema der Pflege der Dinge in doppelter Perspektivierung berührt. Ich beginne zu erzählen, dass mir in meinen bisherigen Forschungen sehr klar geworden ist, dass die Kraft der Geister für die Natur und das Leben sehr wichtig ist. Ich berichte von einem Erlebnis, einem längeren Spaziergang mit einem Farmer in Saint-Gerard im Süden, der mir gezeigt hat, woran ich in der Natur erkenne, dass die Geister da sind und wo sie fehlen, dass und wie sie ihre Wirkung entfalten. Ich erzähle, dass es ein wichtiges Erlebnis war, diese Orte als kraftvoll zu erfahren und dass es mir nun kaum mehr möglich ist, einen Baum, ein Feld oder das Meer zu sehen, ohne dies mit Geisterkräften zu verbinden. Ausgehend von diesem Erlebnis berichte ich, wie ich es selbst gewohnt bin,
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die Natur zu beobachten. Ich erzähle, dass sich mein Blick auf die Bäume, die Böden, das Wasser, die Pflanzen usw. richtet, dass ich eine Vorliebe für Landschaften habe, dass ich fasziniert davon bin, wie alles ineinander spielt, dass mir aber dabei eine Geisterwelt nicht zugänglich ist. Ich beschreibe, dass ich gelernt habe, Strukturen und Dynamiken zu sehen, dass ich sofort erkenne, wie sich ein Hang bewegt an der Art, wie die Bäume stehen, wie sich der Wind, das Wetter an den Bewegungen des Wassers lesen lassen usw. Ich berichte auch davon, dass es mir eher Unbehagen bereitet, wenn ich beobachte, dass ein Hang in Bewegung ist und darunter Häuser stehen, wenn ich auf den ersten Blick erkenne, dass die Böden verschwinden, Flüsse zu viel oder zu wenig Wasser führen, das Meer braun ist, weil sich durch Bodenerosion Sedimente einlagern, wenn Bäume erkranken oder nicht mehr da sind und dass ich annehme, dass all dies das gleiche Unbehagen bedeutet wie wenn man spürt, dass in diesen Situationen die Geister an Kraft verlieren. Ich äußere weiter, dass ich es bisher gewohnt bin, wenn ich bemerke, dass es z.B. einer Pflanze an Wasser fehlt, diese zu wässern, ich mich aber nicht darum bemühe, auch zu fragen, ob und inwieweit ich die Geister in diese Pflege einbeziehen muss. Ich bemerke dazu aber, dass es um beides gehen sollte, das Wässern und die Sorge um die Geister. Entsprechend frage ich rhetorisch in die Runde, ob es aufgrund dieser beiden Perspektiven nicht naheliegen könnte, dass auch beides in engem Zusammenhang steht. D.h., wenn es dem Baum im ökologischen Sinne gut geht, es auch den Geistern gut geht oder wenn der Baum nicht ausreichend versorgt ist oder es kaum noch welche gibt, auch die Geister an Kraft verlieren?17 Ich formuliere die Frage, ob es dann nicht sinnhaft wäre, sich wieder stärker um die Bäume zu kümmern, d.h. neben dem direkten auch auf diesem indirekten Weg die Geister zu pflegen und ob man an dieser Stelle nicht zusammenarbeiten könnte. Aus meiner Sicht handelt sich um einen gewagten Vorstoß, Ökologie für die Kraft der Geister zu mobilisieren, indem ich die zwei Modi von Naturvermittlungen beispielhaft gegenüberstelle und in einer Frage verbinde. Ich befürchte zunächst unglaubwürdig zu sein, zu viel geredet zu haben usw. Was sich aber einstellt, ist ein großes Interesse an meinen Thesen. Diese finden Resonanz bei den Farmern, am deutlichsten jedoch bei den Agronomen und Agrarökologen in der Runde, die sich nunmehr in ihrer stärker naturalistischen Orientierung angesprochen fühlen. Was hier in einem sehr einfa17
Diese Idee habe ich aus den Gesprächen mit den Voodoo-Priestern gewonnen, die eine solche Verbindung in jedem Fall betont haben.
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
chen Statement anklingt, ist ein befreiter Umgang mit einem an sich vertrauten Unterschied einer naturalistischen und animistischen Orientierung. Das sinnlich-affektive und das kognitive Band können nun im Rahmen einer Intervention ineinandergreifen. Eine mögliche »Melange der Naturen« wird durch meine Ausführungen wiederbelebt und damit etwas, worin sich an sich viel Integrationskraft findet. Es liegt auf der Hand, dass dies insbesondere die stärker naturwissenschaftlich Gebildeten in der Runde anspricht, die nun sofort beginnen, das Gespräch in ihrer doppelten Perspektivierung sehr konkret und praktisch weiterzuführen. Aus meinen Forschungen weiß ich, wie schwer sich die naturwissenschaftlich ausgebildeten Agronomen, Agrarökologen, Geologen oder Ökologen tun, ihr ursprünglich animistisch getragenes Naturgefühl zu pflegen und dass es oft geschieht, dass sie versuchen, dieses zu verbergen. In dieser kleinen Szene, d.h. beim Versuch die eine Naturvermittlung für die andere aufzuschließen, liegt für den weiteren Verlauf des Gesprächs der entscheidende Schritt. Das Gespräch ist befreit vom Voodoo-Tabu. Es ist aber auch befreit vom Tabu der Integration. Und was das Wichtigste ist, es ist entlastet von zu viel exklusivem Voodoo und zu viel exklusiver Naturwissenschaft, weil es um beides geht, um eine Balance zu finden. Zu Fragen voranschreiten Es ist erstaunlich, welche Dynamik das Gespräch nun entwickelt. Es geht vorzugsweise um die Frage der Bäume und um mögliche Aufforstungen in besonders betroffenen Gebieten, für die sich nun die Agronomen und Agrarökologen stark machen. Diese Frage wird als am dringlichsten ausgewiesen. Sie wird aber nun diskutiert als Frage der Regulation von Rodungen und gezielten Pflanzungen sowohl im ökologischen als auch im spirituellen Sinn. Man berät sehr konkret darüber, Priester, Ortsvorsteher, Farmer und Ökologen zusammenzuführen. Man berät, in welcher Form Bestandsaufnahmen der Gebiete durchgeführt werden müssen, dass dazu das Wissen der Priester, der Farmer und der Ökologen wichtig sei. Man berät auch ein erstes Konzept, wie sich Regularien finden lassen, dass z.B. Abholzungen erst nach entsprechender Prüfung und mit Auflagen genehmigt werden. Man berät über Pflanzenarten, die der Geisterwelt gerechter werden. Man berät ein Prinzip aus Abholzung bei gleichzeitiger Aufforstung usw. Man berät, wie man die Lehrer einbezieht und sich Bildungskonzepte entwickeln lassen, was es dazu braucht und wer dies leisten kann. Es sprudelt also nur so von Ideen. Es geht
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bei all dem an sich um nichts Neues. Neu ist aber, dass diese Ideen nun auf der Grundlage enttabuisierter Unterschiede in den Ansprüchen auf die Natur greifen können und dass diese im Rahmen eines Kollektivs entstehen, das sich im Zuge dieser kleinen Intervention gebildet hat. Seitdem entwickelt hat sich ein »Pflanzenprojekt«, das sich der Entstehung der ökologischen Fülle für eine »Natur der Fülle« in ausgewählten Gebieten verpflichtet.18 Herausgebildet hat sich ein fester Arbeitskreis aus Ökologen, Agronomen, Priestern und Lehrern, den jeweils ortsansässigen Farmerfamilien und den Ortsvorstehern. Man arbeitet gemeinsam an den oben genannten Themen, allen voran an der Bildungsarbeit und dem Aufschluss von Ressourcen in den jeweiligen Sozialsystemen, um entsprechende Veränderungen anzugehen. Ich selbst begleite diese Arbeit nun wieder stärker aus der »zweiten Reihe« mit dem Fokus auf Fragen zur Vermittlung (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse. Was diese Fallvignette insgesamt demonstriert, ist kein großer »Wurf« messbarer Lösungen, kein Masterplan im Rahmen von Intervention. Es wurden noch keine Gebiete umfassend aufgeforstet oder die Böden saniert. Bis zu einer Sanierung der ökologischen Dinge als Grundlage für eine »Natur der Fülle« ist es noch ein weiter Weg. Die Subsistenz ist immer noch beschwerlich, die Armut und die Not groß, das Geld fehlt und auch das kollektive Grundrauschen des Tabus ist nicht verschwunden. Es wurde jedoch ein Anfang gestiftet, der Sinn ergibt, Erfolg verspricht und zu Neuem voranschreitet. Es sind Bildungsmomente passiert.19 Es wurde im tieferen Sinn eine Verbindung von Naturwissenschaft und Voodoo wiederbelebt, die nun das weitere Vorhaben trägt. Dieser Anfang wurde möglich, weil mit Langsamkeit, Geduld und viel Fingerspitzengefühl Tabuisierung und Feindseligkeit im Gespräch liegen gelassen wurden. Stattdessen wurde (an-)erkennend und kritisch das Unterscheiden gepflegt. Was aus meiner Sicht jedoch die wichtigste Erfahrung markiert, die das weitere Vorhaben mit all seinen Potentialen sowie möglichen Verwerfungen und Schwierigkeiten tragen kann, ist, dass es möglich und zweckmäßig ist, im Rahmen von Intervention auf friedfertige Art und Weise in Beziehung und über die Sache der Natur in den Dialog zu treten. Hierin liegt der Anfang für das Stattdessen einer Naturdiplomatie.
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Die Initiative nennt sich »Grand Plant Structure«. Zum Finden und Bestimmen von Fragen im Dialog vgl. Dickel & Schneider (2014), Dickel & Schneider (2013), Schneider (2014).
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
5.2
Prinzipien von Beziehungskultur
Dargestellt wurde eine ausführliche Fallvignette, in der sich die Taktiken einer Beziehungskultur des Urbarmachens (von Differenz) und Liegenlassens (des Tabus) andeuten. Die ausführliche und pointierte Form der Darstellung von Mikrosequenzen eines einzelnen Gesprächs wurde deshalb gewählt, weil sich eine solche Beziehungskultur auch nur in den Mikrostrukturen des Dialogs aktualisiert.20 Beziehungskultur bringt sich als eine Kultur der Vermittlung im Gespräch in Erscheinung. Anliegen dieser Vermittlung ist es, ein Feld des friedfertigen, genauer: »zivilisierten« Miteinanderredens zu etablieren, indem die Natur und Naturbeziehungen als im Erfahrungs- und Diskursfeld von Intervention tabuisierte und hierin oft absente und widerspenstige Gegenstände wieder Präsenz erlangen, sichtbar und angemessen artikulierbar werden. Vermittlung wird darauf verwendet, das Vermeidungsgebot zu entkräften. Beziehungskultur durch die Vermittlung von und entlang der Differenz in den Ansprüchen auf die Natur in einem Umfeld, das diese Differenz tabuisiert, geht dann jeder »zivilisierten« Verhandlung über die Sache der Natur vorher. Ohne Vermittlung, die es vermag, ein Feld der Kommunikation zu öffnen, welches die verschiedenen Spielarten von Naturbeziehungsweisen willkommen heißt, wird es keine (an-)erkennende Verhandlung oder nur Pseudoverhandlungen zu dieser Sache geben. Keine Frage wird den Kern eines Problems im Umfeld der erdnaturbezogenen Dinge treffen, wenn diese nicht auch auf die ontologischen Dispositionen zurückführt. Eine solche Vermittlung entfaltet sich in der Offenheit und dem Eigenspin eines Gesprächs. Vermittlungsprozesse sind in allererster Linie davon abhängig, dass miteinander gesprochen wird. Gespräche sind Knotenpunkte, d.h. kleine, aber entscheidende Fixierungen, die ein Netz von Kommunikation überhaupt erst aufspannen. Das Gespräch kann als die natürliche 20
In Psychotherapieverfahren mit phänomenologisch und/oder hermeneutischer Grundlegung geht man davon aus, dass sich die Beziehungen zwischen einem Therapeuten/Arzt und einem Patienten im Gespräch aktualisieren und vollziehen. Wenn das Gespräch die Grundvollzugsweise dieser Beziehungen ist, dann ist es auch das Gespräch, in dem Veränderung, Entwicklung, Bildung und Heilung ihren Anfang nehmen (Dickel 2020, Lang 2000:111-127). Was als Grundlegung für die therapeutische Beziehung gilt, wird in dieser Arbeit jenseits der Heilkunde für die Beratung (Intervention) als Vermittlung (Diplomatie) und der Beziehung zwischen Berater und Klient in Anschlag gebracht.
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Grundeinheit der Praxis der Vermittlung gelten. Vermittlung selbst bedeutet ein Interaktionsgeschehen, das bezogen auf eine Sache in der Differenz von Positionen navigiert, diese sichtbar macht, Spannungen und Fragliches aufgreift, also all das, was dem Grunde nach auf Bearbeitung drängt. Vermittlung ist in diesem Sinn kein linearer oder gar berechenbarer Vorgang der Instruktion, d.h. es geht nicht darum, einseitig Wissen und Lösungen anzubieten. Stattdessen geht es um die Herstellung eines intersubjektiven Feldes, in dem Positionen sichtbar werden, d.h. Personen, Dinge und Sachen eine Stimme haben. Vermittlung gelingt, wenn es möglich ist, im Gespräch (an-)erkennend und ko-kreativ mit dieser Vielstimmigkeit umzugehen. Auf den Punkt gebracht, kann konstatiert werden: »In hermeneutischer Tradition führt der Weg [der Vermittlung und zum Verstehen, A. S.] über den Dialog – sowohl über den Dialog mit der Sache, […], als auch über den Dialog mit einem Gegenüber. […] Das Verständnis für die Sache ist gebunden an das Meistern des Dialogs. Meister einer Sache zu sein, heißt in der Lage zu sein, sich der Sache zu stellen« (Dickel & Schneider 2013:68).21 Das vermittelnde Gespräch über die Natur als ein Gespräch über Naturbeziehungen in ihrer einen oder anderen Weise wird dann zum Dreh- und Angelpunkt einer Intervention als Vermittlung, genauer: als Naturdiplomatie. Ein solche Vermittlung arbeitet dem Grunde nach mit all dem, was in der jeweiligen Gesprächssituation vorfindlich ist und darauf drängt, sich zu manifestieren: Themen, Fragen, Erfahrungen, Vorstellungen, Vorurteile, Kommunikationsweisen. Diese Vermittlung ist didaktisch-methodisch alles andere als zugerichtet, folgt aber basalen Prinzipien, die sich im Gespräch zu Taktiken verfertigen. Durch diese Prinzipien ist das Gespräch in gewisser Weise vorgefasst. Das naturdiplomatisch orientierte Gespräch wird zunächst in einer Weise gerahmt, dass es bezogen auf die zu verhandelnde Sache und die Art und Weise ihrer Verhandlung nicht vollumfänglich offen ist. Dies mag auf den ersten
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Die Ausführungen zum Dialog sind an Gadamers Entwurf einer philosophischen Hermeneutik orientiert (Gadamer 2010). Dieser Ansatz bildet die Grundlage der Weiterentwicklung des hermeneutischen Prinzips der Dialogizität in der Vermittlung, insbesondere in fachgebundenen Vermittlungsanlässen (Dickel 2018, Dickel 2014, Dickel & Schneider 2014, Dickel & Schneider 2013, Gebhard 2015, Kolenda 2015, Krawitz 2014).
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
Blick paradox scheinen und gegen das dialogische Prinzip sprechen. In Anbetracht der tabuisierten Ansprüche und Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« und dem Streben nach Enttabuisierung ist dies aber sinnhaft. Vermittlung wird somit gezielt darauf verwendet, tabuerhaltende Themen und Kommunikationsweisen auszuschließen, weil ihr Anliegen darin besteht, das Gespräch für ein Stattdessen zu öffnen! Prinzipien werden formuliert und entsprechende Taktiken darauf verwendet, um situativ den Gesprächsraum für alles zu schließen, was darauf drängt, die Sache der Natur feindselig zu unterlaufen, um stattdessen bezogen auf diese Sache der Natur die größtmögliche Offenheit zu erzielen. Dies ist die vermittlungstheoretische wie auch -praktische Konsequenz aus den gewonnenen Erkenntnissen, allen voran den Einsichten zum Tabu einer »Natur der Fülle«. Im Folgenden werden die Prinzipien dieser Vermittlung als »Basiswerkzeuge« einer Beziehungskultur des Urbarmachens (von Differenz) und des Liegenlassens (des Tabus) vorgestellt.
5.2.1
Das Prinzip Sachlichkeit
Für das Stattdessen in der Intervention als Naturdiplomatie ist das Gespräch zur Sache der Natur, genauer: zu Naturbeziehungen in ihrer einen oder anderen Weise maßgebend. Dies ist der Rahmen. Vermittlung hat die Aufgabe, eine solche Sache überhaupt ins Gespräch zu bringen, zu entfalten, mit einer konkreten Fragestellung zu verbinden und hierüber verhandelbar zu machen. In einem Feld der Kommunikation, in dem die Sache der Natur vermieden wird, bedeutet dies die Herausforderung, all das zu vermeiden, was die Kommunikation zur Sache der Natur vermeidet. Um diese Herausforderung zu meistern, ist ein erstes grundlegendes Vermittlungsprinzip bedeutsam, das als Sachlichkeit bezeichnet wird. Sachlichkeit bedeutet eine Art zu beobachten und zu sprechen, bei der man hinter Deutungen und Bedeutungen, hinter Vorurteile und Erwartungen zurücktritt, die einen Gegenstand immer schon umfassen. Sachlichkeit meint dann im weitesten Sinn eine Reflexionsbewegung, die eine Art »Nullpunkt« markiert. Dieser »Nullpunkt« ist dann ein Ort, von dem aus sich befreit beobachten und sprechen, sich eine (an-)erkennende und auf Verständigung orientierte Kommunikation organisieren lässt.22
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Die folgende Auslegung einer Idee von Sachlichkeit für den Gegenstand Naturbeziehungen ist inspiriert von einem kommunikationstheoretisch gewendeten Sachlichkeitsbegriff. Sachlichkeit ist dabei weniger das Ziel der Vermittlung zwischen Personen und Sachen. Man bewegt sich nicht auf eine Sachlichkeit zu, sondern durch Sachlich-
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Naturdiplomatie
Wie lässt sich ein solcher Ort des Beobachtens und Sprechens bestimmen? Ein Gespräch zu führen heißt, sich von der Sache führen zu lassen. In den mittlerweile klassisch gewordenen Worten Gadamers heißt es: »Ja es ist nicht einmal richtig zu sagen, dass sich die Partner einander anpassen, vielmehr geraten sie beide in einem gelingenden Gespräch unter die Wahrheit der Sache, die sie zu einer neuen Gemeinsamkeit verbindet« (Gadamer 2010:384). Im besten Fall sind es somit nicht die Anliegen und Intentionen einzelner Personen, sondern es sind die Ansprüche einer Sache, welche Inhalte, Fragen und Sprechweisen eines Gesprächs strukturieren. Für diese Sache, die in einem naturdiplomatisch orientierten Gespräch im Umfeld eines entsprechenden Vermeidungsgebots Bedeutung erlangt, muss auf einer grundständigen Ebene gesorgt werden, denn diese meldet sich nicht einfach zu Wort! Für die Sache zu sorgen, heißt somit nicht, irgendein Thema aus den vorgetragenen Themen auszuwählen in der Art, dass man das für die Situation passende findet. Mit Sachlichkeit ist zunächst eine Vorgabe verbunden, bei der bestimmt unbestimmt ein thematischer Rahmen gesetzt wird. Das naturdiplomatisch orientierte Gespräch wird durch die Sache der Natur in der Perspektive von Naturbeziehungen bestimmt, bleibt hierin aber zunächst unbestimmt. Eine entsprechende Taktik, diese Setzung zu markieren, wurde in der Fallvignette mit dem Gesprächsauftakt demonstriert. Sachlichkeit heißt nun, mit dieser abstrakten thematischen Setzung zu arbeiten, diese im Gespräch sichtbar zu machen und zu konkretisieren.23 Es heißt also eine konkrete Sache zum Thema Naturbeziehungen aufzuspüren, unter deren Führung man geraten kann. Die konkrete Sache muss hierzu
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keit auf Personen und Sachen. Sachlichkeit ist somit der Modus der Vermittlung und hierin ein Modus der Visibilisierung von Personen und Sachen, letztlich der Beziehungen zwischen Personen und Sachen (Hansmann 2014:64-66). Sachlichkeit bedeutet eine Vermittlung in der Spannung von Abstraktion und Konkretion. Ziel ist, etwas konkret Verhandelbares zu finden. Um dieses Ziel zu erreichen, wird jedoch ein Umweg über die Abstraktion gewählt. Für das naturdiplomatisch orientierte Gespräch im Umfeld einer Kommunikationsweise der Vermeidung der Sache der Natur besitzt die Abstraktion einen besonderen Wert. Abstraktion löst sich zunächst vom Konkreten. Sie ist somit geeignet, um konkrete Gefühle und das Betroffensein auszufiltern. Abstraktion schafft somit Distanz zu den schwierigen Erfahrungen, welche das Tabu und hierin die Vermeidung einer Sache begründen. Abstraktion ermöglicht in dieser Funktion das »re-entree« dieser Sache. Dieses Argument rekurriert auf eine Bedeutung von Abstraktion als eine Möglichkeit unangenehme Affekte abzuwehren (Kierkegaard zit. in: Gruen 2008:49).
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bestimmt werden und zwar so, dass jene Bedeutungen zu dieser Sache so unberührt wie möglich bleiben, die im vorfindlichen Gesprächsraum bereits anstehen, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde. Dieser Schritt in Richtung Konkretion verlangt das Zurücktreten an einen »Nullpunkt«. Dies mag zunächst danach aussehen, dass man am ursprünglichen Interventionsanlass vorbei kommuniziert, dass man die als eindeutig und dringlich vorgetragenen Probleme übergeht. In gewisser Hinsicht stimmt dies, es ist aber notwendig, weil das Gespräch, das es zu führen gilt, diese Probleme nicht als bereits definierte voraussetzen darf! Dies darf deshalb nicht vorausgesetzt werden, weil diese Probleme immer auch in der Logik des Vermeidungsgebotes einer »Natur der Fülle« bestimmt werden und sich implizit darauf verwenden lassen, dieses anzuerkennen und durchzusetzen. Im Gespräch sind diese Probleme zwar als Interventionsanlässe zu benennen, aber zunächst nicht zu verhandeln. Das Problem, das an sich den Gesprächsanlass liefert, wird also nicht zum akzeptierten Ankerpunkt des Gesprächs. Zum Ankerpunkt wird ein von diesem Problem noch befreiter, wenn auch verbundener Gegenstand. Mit der Suche nach einem konkreten »Nullpunkt« innerhalb des offenen und abstrakten Gegenstandsbereichs Naturbeziehungen tritt man also hinter jedes noch so einleuchtende Problem, hinter jede vorgefasste Problemdefinition zurück. Man tritt zurück, um die viel zu vertrauten und schwer tragenden Problemräume zu verlassen und um jene Fragen zu finden, die weniger in den Problemen selbst liegen als von dessen Lösungen künden!24 Der sogenannte »Nullpunkt«, dem sich die Sachlichkeit verpflichtet, liegt also vor einem möglichen, noch zu bestimmenden Problem, genauer: vor einer Frage, die es zu finden gilt und die eine Antwort oder Lösung mitführt. Die Wichtigkeit dieses Vorgehens muss an dieser Stelle betont werden. Gerade wenn man die Annahme vertritt, dass es im Zuge der erdnaturbezogenen 24
Angedeutet ist eine Logik von Lösungen als Lösungen zweiter Ordnung. Dies meint, dass das Verstehen der Ursachen eines Problems nicht zwangsläufig Lösungen des Problems erzeugt, sondern diese oft auch behindert. Lösungen zweiter Ordnung ergeben sich, wenn einfach formuliert über die Bande eines Problems gespielt wird. Die Idee, ein Thema zu setzen, welches es vorerst nicht zulässt, eine Analyse der mitgebrachten Probleme zu betreiben, bedeutet, über die Bande zu spielen in der Hoffnung, dass in diesem thematischen Feld außerhalb des Problems eine Frage vorbereitet wird, welche die Kraft hat, das ursprüngliche Problem, wenn nicht gleich zu lösen, zumindest aber handhabbar zu machen; zu Lösungen zweiter Ordnung in der Beratung vgl. von Schlippe & Schweitzer (2016:54-59), Watzlawick et al. (2009:99-115).
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Zerstörung um Probleme geht, bei denen Tabuisierungen irgendeine Rolle spielen, muss man entsprechend zurücktreten, um nicht bereits mit einer vorgefassten Problemdefinition in irgendein feindseliges Fahrwasser zu geraten. Der sachliche Ankerpunkt, der konkrete »Nullpunkt« im Rahmen der Setzung Naturbeziehungen muss nun gefunden, genauer: bestimmt werden. Dies bedeutet eine Vorgehensweise größtmöglicher Einfachheit und Reduktion. Dazu zu fokussieren sind die Beziehungen zwischen einem Ich und der Natur als Nicht-Ich, d.h. Beziehungen zwischen Menschen und den erdnaturbezogenen Dingen. Werden in einem Gespräch Naturbeziehungen im Modus von Sachlichkeit avisiert, dann bedeutet dies, sich daran zu orientieren, womit die Anwesenden in Beziehung treten, auf welches Womit sich das Gespräch richtet, wenn es um die Natur geht. Gemeint ist der Fischer und das Meer, der Fischer und die Languste, der Holzfäller und der Mapou, der Farmer und der Boden, die Bewohner des Dorfes und das Wasser usw. Im Gespräch heißt es aufmerksam zu sein für dieses Womit, durch das sich konkrete Beziehungen zwischen Ich und der Natur als Nicht-Ich markieren lassen. Um mehr geht es nicht. Es bedeutet, alles, was in der Situation zur Sprache kommt, zunächst auf dieses Womit der erdnaturbezogenen Dinge zurückzuführen und dieses so bedeutungsarm sowie wert- und vorurteilsfrei wie möglich zu halten. Kurzum, aus all dem, was gesprochen wird, muss die konkrete Beziehung zwischen Ich und der Natur als Nicht-Ich erst herauspräpariert und benannt werden. Geht es beispielsweise um ein Gespräch, das veranlasst wird, um über Probleme der Farmer in der Subsistenz zu sprechen, heißt Sachlichkeit, danach zu suchen, welche erdnaturbezogenen Dinge als Gegenüber der Anwesenden zum Ausdruck kommen. In der Fallvignette wurde ein solches Womit, die Natur als Gegenüber, durch den Verlust der Geister angespielt und hierin über eine spirituelle Bedeutung vorgetragen. Im weiteren Verlauf hat sich das Womit sehr konkret auf die Bäume verlegt. Die Beziehung zwischen den Anwesenden (Farmer, Agronomen etc.) und den Bäumen sind in diesem Fall der »Nullpunkt«. Das weitere Gespräch wurde dann geleitet von der Frage, wie sich mit dieser Beziehung zu den Bäumen arbeiten und ein Sprechen anbahnen lässt, das unterschiedliche Modi von Naturvermittlungen erkennen lässt. In dieser Differenz entstanden ist eine neue Frage, nämlich jene, wie sich die ökologische Pflege der Bäume für eine »Natur der Fülle« aufschließen lässt. Es handelt sich um eine Frage, die im Problem der Abholzung als ein Interventionsanlass nicht einmal angelegt war.
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Sachlichkeit im Gespräch zur Intervention sucht das Womit der erdnaturbezogenen Dinge. Sie sucht dieses entlang entsprechender Resonanzen, aber vielmehr dort, wo es keine Resonanz gibt, aber geben müsste. Wie ein Detektiv heißt es zu beobachten, auf welches Womit sich die Aufmerksamkeit richtet oder eben gerade nicht. Man fragt, womit, d.h. mit welchen erdnaturbezogenen Dingen treten Menschen in Beziehung? Womit ist starke Resonanz verbunden, womit nicht, sollte es aber sein? Sachlichkeit bedeutet in einem kommunikativen Feld, das immer schon gefüllt ist mit Bedeutungen, die sich, wenn auch nicht nur, um ein Tabu organisieren, die Dinge eher an sich als für sich zu nehmen, um hierüber zu konkreten Naturbeziehungen zurückzuschreiten. Dort liegt der sachliche Ankerpunkt, der »Nullpunkt« als Ort, von dem aus sich beobachten und ein (an-)erkennendes und auf Verständigung orientiertes Gespräch aufnehmen und organisieren lässt. Was es braucht, um konkrete Naturbeziehungen aufzuspüren, ist eine Beobachtung, die es vermag, ein Womit innerhalb einer Bedeutung zu lesen und entsprechend herauszulösen. Das Womit ist subjektiv umfasst. Es ist eingekleidet in Bedeutungen, die einem selbst oft fremd sind. Dieser Umfassung vorher gehen differente Modi der Naturvermittlung, für die es eine entsprechende Sensibilität braucht. Wüsste ich nicht, dass die Geister im Voodoo und hierin für eine animistisch orientierte Naturvermittlung eine entscheidende Rolle spielen, würde mir im Gespräch niemals auffallen, dass damit ein Womit, ein Sprechen über die Natur als Gegenüber angezeigt ist und dass es an dieser Stelle Sinn macht, die Bäume ins Gespräch zu bringen, weil diese im Voodoo eben auf besondere Weise bedeutsam sind. Wüsste ich nicht, dass die Natur als Gemeinschaft erfahren wird, könnte ich nicht verstehen, dass in Aussagen, die sich auf ein Zuhause beziehen, ein Womit berührt ist wie das Meer oder der Wald, worüber sich sprechen ließe. Um ein Womit aufzuspüren und entsprechende Naturbeziehungen zu markieren, braucht es Kenntnis über die vorfindlichen Naturvermittlungen und welche subjektiven Bedeutungen damit zu erwarten sind. Ein Gespräch auf ein befreites Womit, auf Naturbeziehungen zurückzuführen, ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass diese Gespräche vorerst immer einen neuralgischen Punkt berühren, der gerade durch Sachlichkeit sorgsam aufgegriffen werden kann. Was in dieser Beschreibung als ein immer schon mit Bedeutungen und einem Tabu angefüllter Gesprächsraum bezeichnet wird, markiert einen lebensweltlichen Ort, der mit Erfahrungen schwerer Verluste durch die ökologische Devastierung, mit Erfahrungen schwerer Erschütterungen durch die katastro-
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Abbildung 6: Erdnussbauer in Masia
(eigene Fotos, Februar 2018)
phalen Naturereignisse und ebenso mit der einen oder anderen bitteren Gewissheit gefüllt ist, für all dies die Verantwortung zu tragen und tragen zu müssen. Es gibt also in jedem Fall schmerzhafte Gründe, die Sache der Natur und der Naturbeziehungen im Gespräch zu vermeiden und auszuschließen. Ich selbst habe im Feld nicht ein einziges Gespräch erlebt, zu dem zwar Probleme im Umfeld der erdnaturbezogenen Zerstörung den Anlass bildeten, bei dem man aber ad hoc in der Lage und bereit gewesen wäre, diese Themen tatsächlich zu beraten. Sinnbildlich dafür ist der eingangs erwähnte Erdnussbauer in Masia (vgl. Abb. 6), der mir mit der Spitzhacke demonstriert, wie er auf seiner kleinen Fläche nach ein paar wenigen Erdnüssen sucht und diese auch findet, dabei jedoch kein einziges Wort darüber verliert, was er da tut und stattdessen auf die Regierenden schimpft und über die Wahl des nächsten Staatspräsidenten redet und hierüber versucht, mit latentem Druck ins Gespräch zu finden. Auch in dieser kleinen Sequenz war es die Aufgabe, das Gespräch zunächst weg von der Politik und zurück auf das Womit, den Boden zu bringen, was sich hier indirekt vermittelt. Grundsätzlich hat das naturdiplomatisch orientierte Gespräch also damit umzugehen, dass sich das Reden über die Naturbeziehungen mit Sprachlosigkeit und Schweigen verbindet. Sachlichkeit trägt diesen Umständen Rechnung, weil durch die Reduktion verhindert
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
wird, leichtfertig und vielleicht auch unwissentlich in schwierige Lebenswelten einzugreifen. Die Fallvignette ist auch in dieser Hinsicht beispielhaft.
5.2.2
Das Prinzip Unterschiedsbildung
Bei Sachlichkeit handelt es sich um das Grundprinzip der Vermittlung in einem naturdiplomatisch orientierten Gespräch. Es geht um eine strenge Orientierung auf ein befreites Womit, die erdnaturbezogenen Dinge an sich, die als Gegenüber konkrete Naturbeziehungen aufspannen. Sachlichkeit bewegt sich um einem »Nullpunkt«, der vor der vorgetragenen Bedeutung, vor der Frage oder dem Problem liegt und das Gespräch organisiert. Im Grunde genommen werden durch eine solche Reflexion die Dinge in ihrer subjektiven Bedeutsamkeit, werden Unterschiede in den Ansprüchen auf die Natur überhaupt erst sichtbar und greifbar. Sachlichkeit arbeitet nun weniger mit der Vielfalt an Bedeutungen, die sich an der Oberfläche des Sprechens über Naturbeziehungen zeigen. Im Modus von Sachlichkeit werden diese Bedeutungen beobachtet und mit den Modi der vorhergehenden Naturvermittlungen verknüpft. Bedeutungen werden also auf die jeweilige Disposition zur Natur zurückführt. Das Gespräch wird dann entlang des Unterschieds organisiert, der sich auf dieser Ebene zu erkennen gibt. Beim Vermittlungsprinzip der Unterschiedsbildung handelt es sich um einen weiteren Modus sachlicher Reduktion, der es vermag, ein (an-)erkennendes und auf Verständigung orientiertes Gespräch zu organisieren. Um diese Verknüpfung oder Zuordnung zu verschiedenen Modalitäten vorhergehender Naturvermittlungen herzustellen, ist aus meiner Sicht ein einfaches Orientierungsschema zweckmäßig. Die Beobachtung bezieht sich dazu auf die Leitdifferenz, Naturbeziehungen über Ähnlichkeiten in der Physikalität und/oder Interiorität zu organisieren (Descola 2013a:181-182).25 Die Befunde dieser Arbeit sprechen dafür, dass sowohl Naturvermittlungen im Verbindungsmodus über die Physikalität (als naturalistische Orientierung) als auch über die Interiorität (als animistische Orientierung) greifen. In einer weiteren Vereinfachung kann damit konstatiert werden, dass sowohl kognitive Dispositionen (in der naturalistischen Orientierung) als auch starke affektive Dispositionen (in der animistischen Orientierung) zur Natur vorherr25
Die Grundfigur bei Descola (2013a) wird als zentrale vermittlungstheoretische Prämisse für den Dialog über die Sache der Natur in der Perspektive von Naturbeziehungen aufgegriffen.
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schend sind (Gebhard 2013:50). Argumentiert wird, dass diese verschiedenen Naturvermittlungen ineinandergreifen, sodass sich von einer Art ontologischen »Melange der Naturen« sprechen lässt. Für die konkrete Vermittlungsarbeit, das Verknüpfen und Zuordnen von Bedeutungen, das Unterscheiden im Vollzug des Gesprächs, ist nun weniger eine genaue Rückbindung an Beschreibungsformeln wie naturalistisch, animistisch usw. vordergründig. Für die Orientierung im Gespräch ist tatsächlich nur die Unterscheidung von Physikalität/Interiorität und hiermit ferner von kognitiv/affektiv maßgebend. Im Feld bewährt hat sich, diese Grundfigur instrumental und pragmatisch zu handhaben und aus den Theorien über die dazugehörige Ontologie herauszulösen. Bewährt hat sich, das Bedeutungspaket dieser theoretischen Beschreibungen nicht auszupacken, weil sich dadurch neue Spielräume der Verhandlung offenbaren.26 Für die Organisation eines naturdiplomatisch orientierten Gesprächs spielt es also vordergründig eine Rolle, ob die Dinge eher über eine Bezugnahme über die Physikalität oder Interiorität aufscheinen und weniger ob sich dies von Fall zu Fall als naturalistisch oder animistisch oder als keines von beidem bezeichnen lässt. Herausgestellt hat sich, dass diese Grundfigur zwar ein vereinfachtes Orientierungsschema bietet, sich darin aber der größte Wert für die Anbahnung eines Gesprächs zur Sache der Natur und Naturbeziehungen spiegelt. Aus meiner Sicht ist mit der Grundfigur der Unterscheidung Physikalität/Interiorität und ferner kognitiv/affektiv eine vermittlungstheoretische Prämisse bestimmt, die von größtmöglicher Anwendungsorientierung zeugt und, was viel wichtiger ist, die grundlegend ist für jedes Gespräch, das über
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Eine Zuordnung oder Erkenntnisfigur entlang einer Unterscheidung wie Naturalismus/Animismus ist in der Vermittlungspraxis m.E. deshalb weniger zweckmäßig, weil sich hiermit der Spielraum für das Erkennen von ontologischen Mischungen verringert und ebenso, weil bestimmte Bedeutungen aufgerufen werden. Letzteres ist angezeigt, wenn z.B. animistische Zugänge sogenannten Naturvölkern oder archaischen Kulturen zugerechnet werden, womit immer auch ein Wink auf Entwicklungs- und Modernisierungsrückstände verbunden ist. Verzichtet man in der Praxis auf diese begrifflichen Zuordnungen, ist man in diesem Sinne auch befreit von den dazugehörigen Bewertungen und Entwicklungsideen. In meiner eigenen Arbeit war der Rekurs auf eine wertfreie und sachliche Grundfigur von Physikalität/Interiorität und ferner affektiv/kognitiv letztendlich das entscheidende Moment einer langen Revision, um in der Praxis von Vermittlung tatsächlich zu einer (an-)erkennenden Beobachtung und Sprechweise zu finden. Diese Unterscheidung fungiert m.E. als eine Art Stoppregel, wodurch sich insbesondere die eigene naturalistische Schlagseite in den Griff kriegen lässt.
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die Natur und Naturbeziehungen geführt wird, insofern man darin einem Anspruch auf Anerkennung und Verständigung folgt.27 Arbeitet man mit der Unterscheidung Physikalität/Interiorität setzt man voraus, dass es Unterschiede in den ontologischen Dispositionen gibt, diese prinzipiell angelegt sind, dass je nach Situation, die eine oder andere Variante vorherrschend ist. Vorausgesetzt wird damit ebenso, dass sich die Ansprüche auf die Natur auch nur in der einen oder anderen Weise artikulieren können und sich hierüber auch nur jeweils stimmige Fragen und Antworten finden lassen. Weiterhin vorausgesetzt wird, dass in der Verbindung dieser unterschiedlichen Artikulationen wiederum ganz eigene Fragen und Antworten liegen. Vorausgesetzt wird insgesamt, dass man als Beobachter mit eigener Disposition das meiste davon nicht kennt, dass man sich in gewisser Weise zwar vertraut, aber vielmehr fremd ist. Der Erfolg eines Gesprächs ist dann davon abhängig, inwieweit es gelingt, sich auf das Nichtwissen und die Fremdheit einzulassen.28 Dies gelingt eher, wenn man mit dem Wissen um die Unterschiede nicht nur Konflikte erwartet, die nicht sein dürfen und die es entsprechend zu vermeiden gilt. Einlassen wird leicht, wenn man im Wissen um die Unterschiede eher fruchtbare Spannungen und Konflikte erwartet. In diesen Spannungen liegt aus meiner Sicht eine große Ressource der Intervention, um im Umfeld der sozialökologischen Krisen Fragen aufzuschließen, die auf diese Krisen antworten, anstatt diese weiter zu schüren. Wie lässt sich mit der Unterscheidung Physikalität/Interiorität im Gespräch arbeiten? Diese Arbeit bedeutet in erster Linie entlang dieser Unterscheidung zu beobachten und darauf aufbauend ein Sprechen anzuleiten, d.h. Sprache, Worte und Begriffe anzubieten, welche die Unterschiede brauchbar einholen. Wenn ein Womit im Gespräch auftaucht und verhandelt wird, dann ist nach seiner subjektiven Umfassung und dem vorhergehenden Modus der Naturvermittlung zu fragen. Wenn ein Womit im Gespräch vergessen oder ausgeschlossen wird, dann ist zu fragen, welche Umfassung
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Aus meiner Sicht deutet sich hierzu eine Möglichkeit an, die nicht nur für das Untersuchungsgebiet Haiti spricht. In der Beratung wird dies allgemein als Haltung des Nichtwissens und Nichtverstehens bezeichnet, wobei sich dieses Nichtwissen und Nichtverstehen nicht auf die historisch-kulturelle Situiertheit und Kontextualität der Beratung selbst bezieht, die man aber unweigerlich ansteuert, wenn es um die Dispositionen zur Natur geht; zur Haltung des Nichtwissens und Nichtverstehens vgl. Barthelmess (2016:89-117).
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und welcher Modus sich nicht aktualisieren lassen und auch danach, was stattdessen greift. Der verbindende Modus über Ähnlichkeiten in der Physikalität bringt im Gespräch »ökologische Dinge« wie Ökosysteme, prozessuale Ereignisse usw. hervor, denen man Bewusstsein, Seele, Geist und Geister abspricht. Der verbindende Modus über Ähnlichkeiten in der Interiorität bringt »vergeisterte Dinge« oder »vergöttlichte Dinge« hervor, die mit Bewusstsein, Seele, Geist und Geister ausgestattet sind. Aus meiner Sicht sehr gut handhabbar und ausreichend ist die Vorstellung von Dingen, die Absichten haben oder hinter denen Absichten stehen. Es gibt dann erdbezogene Dinge, die tun, was sie tun und dass es dafür gute Gründe gibt. Die Absenz der Dinge im Gespräch bringt »leblose Dinge« hervor, entweder weil sich keine Verbindung zur ökologischen Lebendigkeit der Dinge herstellen lässt oder aber im spirituell-religiösen Sinn keine Verbindung existiert, durch die man gemeinsam mit den Dingen am Schutz und an der Kraft Gottes oder der Geister partizipieren könnte. Auch in diesen vier Kategorien steckt eine Vereinfachung, die sich jedoch für den Gang durch ein Gespräch bewährt hat.29 Mit den »ökologischen Dingen« wird auf die naturalistisch-naturwissenschaftliche Orientierung abgehoben, bei den »vergeisterten Dingen« auf die Naturauslegungen im Voodoo, bei den »vergöttlichten Dingen« auf die christlich-religiösen Bezüge im Voodoo oder den Kirchen. Es geht jedoch immer um die Unterscheidung Physikalität/Interiorität, wobei mit der Kategorie »leblose Dinge« auf mögliche Störungen oder Beschädigungen beider Modi abgehoben wird, wie sie jenen Akten der Zerstörung zur Indifferenz vorausgehen. Im Grunde sind diese kategorialen »Werkzeuge« im Dialog konsequente Ableitungen aus den gewonnenen Befunden zu den »guten Quellen« des Gelingens von Naturbeziehungen wie auch deren Vermeidung.
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An dieser Stelle ist ein Kommentar zur Einfachheit als Prinzip der Vermittlung anzumerken. Vermittlung organisiert sich mithilfe von Heuristiken, die es mir im Gespräch ermöglichen, ad hoc Arbeitshypothesen zu bilden. Heuristiken sind effiziente Denkwerkzeuge, die bestimmte Informationen ignorieren (müssen), um in komplexen Entscheidungssituationen handlungsfähig zu sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Vereinfachung inakkurat wäre. Im Gespräch braucht es somit einfache Denkwerkzeuge, die in Echtzeit eine zuverlässige und sachgerechte Auseinandersetzung mit der Sache gewährleisten. Einfachheit antwortet auf die Komplexität der Sache und Situation ihrer Verhandlung; zum Umgang mit Heuristiken in komplexen Entscheidungssituationen vgl. Gigerenzer & Gaissmaier (2011).
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Als Beobachter hat man also mit der Unterscheidung Physikalität/ Interiorität und den Kategorien »ökologische Dinge« (Physikalität), »vergeisterte Dinge« (Interiorität), »vergöttlichte Dinge« (Interiorität) sowie »leblose Dinge« (weder noch) ein gangbares »Werkzeug« in der Hand, um im Gespräch auf entsprechende Bedeutungen und Sprechweisen aufmerksam zu werden oder diese einzuführen. Im Gespräch ist darauf zu achten, ob und inwieweit Bedeutungen und Sprechweisen gewählt werden, die eine Verbindung über die Physikalität und/oder der Interiorität der Dinge markieren oder die Abwesenheit einer dieser Modi erkennen lassen oder davon zeugen, dass sich diese schlichtweg gar nicht mehr aktualisieren. Je nachdem was vorliegt, heißt es, daran zu arbeiten. Dies kann bedeuten, die konkret verhandelten Naturbeziehungen in einem der Modi überhaupt erst präsent zu machen oder zu einem bereits aktualisierten Modus einen Unterschied zur Sprache zu bringen. Liegen diese Unterschiede vor, sind diese immer miteinander in Verbindung zu bringen. Wird in einem Gespräch beispielsweise ein tropischer Sturm als ein Womit oder Gegenüber adressiert, dann sind die damit verbundenen Aussagen entlang der Unterscheidung Physikalität/Interiorität mithilfe der dargelegten Kategorien zu deuten. Wenn es im Reden über den Sturm zu einer Aussage kommt, wie: »Du hast damit umzugehen. Der Sturm ist etwas, das große Macht über uns hat«30 , dann liegt es in Haiti nahe, dass dieser Aussage eine Naturvermittlung im Modus von Interiorität vorhergeht. Der Sturm wird als Naturgewalt gedeutet, die Macht über einen besitzt. Was diese Aussage zum Vorschein bringt, ist möglicherweise ein »vergöttlichtes Ding«. Nun kann man nachfragen, um diese Annahme zu verifizieren: Woher rührt diese Macht? Was verleiht einem Sturm diese Macht? 31 Wenn dann lediglich geantwortet wird: »Ich weiß nicht, wer oder was darüber entscheidet, aber der Sturm wählt dich aus«, dann wird deutlich, dass auf etwas Übergeordnetes, eine transzendente Größe, etwas Göttliches rekurriert und der Sturm als Naturgeschehen mit einer Idee von Absicht verknüpft wird, die an einen selbst gerichtet sein muss.32 Sicherlich 30 31 32
Diese Aussage stammt von einem Philosophiestudierenden in Port-au-Prince: »You have to deal with it, the ›siklòn‹ is something that has strong power over us.« Zu fragen ist an dieser Stelle nicht, was den Sturm so machtvoll macht, weil man damit den Erfahrungsbereich der Erschütterung berührt. Es handelt sich um die Antwort des Studierenden: »I don’t know who or what decides, but the storm chooses you.« In anderen Gesprächszusammenhängen wurde dieses Auserwählen oft in der Art bezeichnet, dass einen die Dinge oder die Ereignisse finden. Für die Interpretation ist ein Fehlschluss zu vermeiden, der mir selbst hin und wieder
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ist neben einer solchen Aussage ebenso bewusst, dass der Sturm ein extremes Wettereignis darstellt, dass sich hier eine besondere atmosphärische Situation entwickelt. Weitaus bedeutsamer ist aber, dass mit dem Sturm eine Gerichtetheit auf das eigene Selbst vermutet und dies vordergründig geäußert wird. Wie auch immer dies im Einzelnen gedeutet wird, ist es ein absichtsvolles Unheil, das droht. Im Grunde genommen wird geäußert, dass, wenn ein Sturm die Absicht hat, mich empfindlich zu treffen, dann trifft er mich auch, wenn nicht, dann nicht. Es ist dann weniger das gewaltige atmosphärische Prozessgeschehen (Physikalität), mit dem man in Beziehung tritt, sondern die Absicht des Sturmes, möglicherweise Unheil, Zerstörung usw. zu bringen. Mit einem Sturm umzugehen, heißt dann, mit seiner unheilbringenden Gerichtetheit auf mich selbst umzugehen und hierin ein Einvernehmen zu erzeugen. Es ist dann z.B. sehr verständlich, dass man beginnt abzuwarten und zu beten und dass man im Nachhinein »aufräumt« und schaut, welche Absicht ein Sturm verfolgt haben könnte. Tritt man dagegen mit dem Sturm in Beziehung und geht dieser eine Naturvermittlung im Modus der Physikalität vorher, dann geht es um das extreme und gewaltige Wetterereignis und weniger um eine auf mich gerichtete Absicht. Dann fragt man eher, wann der Sturm kommt, mit welcher Intensität, wen und was er treffen könnte und welche möglichen Wirkungen damit in der gegenwärtigen Situation verbunden sind. Man sieht dann im Sturm zuallererst ein absichtsloses atmosphärisches Prozessgeschehen, das zu entsprechenden praktischen Vorkehrungen auffordert, insofern dies möglich ist. In beiden Modi geht der Sturm mit vollkommen verschiedenen Ansprachen einher. Der »absichtsvolle« Sturm ist eher eine Ansprache an das Einvernehmen. Der »absichtslose« Sturm ist dagegen eine Ansprache an Katastrophenschutz und -vorsorge, die deutlich leichter fallen, wenn ich der Überzeugung bin, dass ein Sturm nicht wirklich mich meint, sondern dass er kommt, weil er kommt. Die Aufgabe im Gespräch wäre einen »absichtsvollen« von einem »absichtslosen« Sturm zu unterscheiden, aber ohne mit der einen Lesart die andere auszuhebeln, sondern beide Auslegungen für eine entsprechende »Sorge um sich« zu mobilisieren.
passiert ist. Wenn die Natur einen findet oder auserwählt, heißt dies in erster Linie, dass man von einer »göttlich-vergeisterten« Natur gefunden oder auserwählt wird. Ich habe dieserart Aussagen zunächst ausschließlich mit der Idee von Naturgewalt im naturalistischen Sinne verknüpft, eine Naturgewalt, die anspricht, der man ausgesetzt und oft auch ausgeliefert ist. Diese Lesart passt aber nicht zu Aussagen, die das Auserwählen und damit eine stärkere Intentionalität betont.
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Die Aussage müsste dazu weiterverfolgt und ihr eine zweite Deutung gegenüberstellt werden, sodass sich das Eine im Spiegel des Anderen erkennen lässt. Dies wäre die Voraussetzung, um eine Verbindung zu suchen und eine gemeinsame Sache aufzuschließen. Es ginge dann vielleicht um ein Gespräch über die Verwundbarkeit und das Einvernehmen im Angesicht eines bedrohlichen Naturereignisses, dem man sich zwar nicht entziehen kann, was aber weniger unheilvolle Absichten als Botschaften bereithält, die es rechtfertigen und erlauben, nicht nur abzuwarten, ob man gemeint oder schuldig ist, sondern auch Vorkehrungen zu treffen.33 In einem weiteren Beispiel sei noch einmal auf die ausführlich dargestellte Fallvignette des Gesprächs im Rahmen der umweltpolitischen Initiative in
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Unterschiedsbildung vollzieht sich in gewisser Weise als eine Art »Entgötterung« der Dinge und versteht sich hierzu als Anregung zur Reflexion. Dies ist aus meiner Sicht kein Zugriff auf den Glauben, wenn auch ein Eingriff, der dem (Über-)Leben dient. Diese »Entgötterung« stellt nichts fundamental infrage. Sie erweitert den Sinn- und Handlungshorizont. Koerrenz konstatiert zur »Entgötterung« als Aufgabe religiöser Bildung: »Das Vorhandensein verschiedener Götter ist im Alltag nicht zu leugnen. Der entscheidende Punkt ist vielmehr der, dass der Mensch in seiner Weltwahrnehmung und Lebensgestaltung über seine Götterverehrung kritisch reflektieren muss.“ Es geht darum, »dass der Mensch in die Lage versetzt wird, kritisch darüber zu reflektieren, welchen Mächten bzw. welcher Macht er sein uneingeschränktes Vertrauen schenkt, oder anders formuliert: worauf er sein Leben baut. Das Erlernen einer kritischen Götterkompetenz ist eine Herausforderung von religiöser Bildung als Teil einer allgemeinen Bildung, weil das allgemeine religiöse Bedürfnis den Menschen dazu treibt, sich bewusst oder unbewusst auf eine oder mehrere Mächte in einer der Religion strukturäquivalenten Haltung zu verpflichten« (Koerrenz 2013:151). »Entgötterung« im Rahmen eines Gesprächs über Naturbeziehungen, insbesondere über das Verhältnis zu Naturereignissen, die erschüttern können, ist weniger als kritische Haltung zu verstehen und mündet auch nicht in eine »Götterkompetenz«. Sie richtet sich vielmehr an die Relativierung einer »der Religion strukturäquivalenten Haltung« (ebd.) und zielt auf eine kleine Freiheit, sich z.B. im Falle eines Sturmes nicht nur einvernehmlich einer in der Religion vorgetragenen Absicht Gottes zu unterwerfen. Im naturalistischen Auge ist dieses passive und selbstvergessene Mitgehen mit der Absicht (oder auch Strafe) befremdlich. Die diesbezügliche Revisionsaufgabe im Feld bestand für mich darin, das passive Erzeugen von Einvernehmen mit der Absicht weniger vom naturalistischen Standpunkt aus nicht zu verstehen als vielmehr von einem religiösen Standpunkt aus zu kritisieren. Mit der Idee von »Entgötterung« als eine Bewegung zur Freiheit einer »Sorge um sich«, wie sie als Herausforderung religiöser Bildung formuliert ist, lässt sich eine entsprechende Kritik vortragen und die Unterschiedsbildung in dieser Hinsicht legitimieren.
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Acul-du-Nord verwiesen. Im Gespräch wurden zunächst keine konkreten Naturbeziehungen artikuliert. Diese waren absent. Ein Womit der erdnaturbezogenen Dinge wurde mithilfe taktischer Schritte schließlich über den Verlust der Geister angespielt und hat sich im Rekurs auf die Bäume weiter konkretisiert. Auch dieser Bezugnahme geht eine Naturvermittlung im Modus der Interiorität vorher. Geäußert wurde sinngemäß, dass die mit den Dingen verbundenen Geister verschwinden. Sie verlassen das Land. Wenn geäußert wird: »Wir werden hier alle sterben«, dann kann dies dahingehend gedeutet werden, dass im Rückzug der Geister die Absicht liegt, die Menschen sterben zu lassen. Auch in diesem Fall wurde im Gespräch zunächst in der Logik von Interiorität gearbeitet und die Aussage entsprechend weitergeführt. Sie wurde umgedeutet in einer Art, dass man die Intention der Geister verändert, vielleicht auch entkräftet hat. Die Geister und die Natur sind nicht weg, sondern noch da, aber kraftlos und müde ob der ganzen Zerstörung. Man kann damit nun eher die Botschaft verknüpfen, dass die »vergeisterten Dinge« dazu aufrufen, ihre Kraft wieder zu mobilisieren und dass man dazu selbst gefordert ist. Dieser Deutung wurde nun ein nützlicher Unterschied gegenübergestellt, indem die Bäume als »ökologische Dinge« eingeführt wurden. In dieser Lesart bot sich nun eine echte Chance, über die ökologische Pflege eine wirtliche Umwelt für die Geister zu errichten, sodass die Kraft wieder fließen kann. Erst in der Verbindung von »vergeisterten Dingen« und »ökologischen Dingen« wurde es möglich, über das Problem von Rodungen und Aufforstungen konkret, praktisch und lösungsorientiert nachzudenken. Auch der Fall des erwähnten Erdnussbauern ist sehr anschaulich für die Arbeit mit der Unterscheidung Physikalität/Interiorität im Gespräch. In der Szene nimmt der Farmer die Spitzhacke und gräbt nach den wenigen Erdnüssen auf seiner kleinen Parzelle. Dabei redet er ununterbrochen über notwendige Veränderungen in der Politik und die Wahl eines neuen Präsidenten. Die Dinge, insbesondere der Boden, dem er sich während seiner Rede grabend zuwendet, finden nicht in seine Ausführungen. Auf den Boden und die Erdnüsse als Womit wird lediglich verwiesen, in dem was er gerade tut. Diese Absenz der Natur im gesprochenen Wort bringt ein »lebloses Ding« hervor, etwas worüber sich in der Szene nicht sprechen lässt, obwohl es naheliegt und darauf drängt, besprochen zu werden. Diese Absenz lässt vermuten, dass hier keiner der Modi greifen kann, es weder möglich ist über die Physikalität noch über die Interiorität der Dinge in Beziehung zu treten und dies zur Sprache zu bringen. Nun ist der gerade beackerte Boden ein durch Erosion in Zerstörung begriffener Boden. Für den Farmer ist der Boden in dem, was er sein
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sollte, nämlich ertragreich, nicht mehr verfügbar und damit tatsächlich nahezu leblos. Das Reden über die Missstände der Landespolitik kann also als indirekter Link zu dieser Leblosigkeit gelesen werden. Die Politik ist schuld, diese zerstört den Boden, nicht der Farmer, der gerade mit der Spitzhacke die letzten Erdnüsse sucht. Dies wäre eine mögliche Deutung. In dieser Situation ist man Opfer der Umstände, was so viel heißt, weder den Dingen noch sich selbst gerecht werden zu können oder zu dürfen. In dieser Szene ist es schließlich gelungen, die Erdnüsse als Womit ins Gespräch zu bringen. Als diese sichtbar wurden, konnte zunächst in einer Art Smalltalk über den Geschmack, die Beliebtheit, die Verarbeitung von Erdnüssen usw. gesprochen werden. Erst in einem weiteren Schritt waren interessierte Nachfragen zu den Anbaubedingungen und -weisen und die gezielte Einführung einer ökologischen Sache möglich. Der Farmer begann über die Hanglage, die Höhenlage und die klimatischen Verhältnisse, das tiefe Graben und die Erosionsanfälligkeit zu sprechen. Er sprach über die ökologischen Zusammenhänge, die den Boden zerstören. Eine Weiterführung in der Art, dass man auf dieser Grundlage die Argumentation einfach umkehrt und ein Gespräch führt, indem man das »ökologische Ding« entlang einer möglichen Sanierung und Regeneration bespricht, liegt auf der Hand und wurde mit der Mango-Strategie an späterer Stelle auch versucht. Was bei dieser Strategie aber fehlte, ist die gezielte Arbeit am Unterschied, die Einführung von enttabuisierten »vergeisterten Dingen« und möglicherweise auch ein Rekurs auf »vergöttlichte Dinge«. Eine Weiterführung hätte bedeuten können, auch hier mit Dingen zu arbeiten, welche Bewusstsein, Seele, Geist und Geister, letztlich Intentionen in sich tragen. Neben der ökologischen Form ginge es um eine Auseinandersetzung mit den Absichten und Botschaften, die ein nunmehr auch göttlich und geisterhaft »beseelter« Boden in seinem gegenwärtigen Zustand vermittelt, wie diese zu lesen sind, wie man an die Lebendigkeit wieder anschließen könnte usw. Auch diesbezüglich wären die Logiken zu verbinden in der Art, dass man ökologisches Wissen mit dem Wissen über Absichten oder Botschaften der Dinge im Gespräch verknüpft. Ein letztes Beispiel zur Verdeutlichung der Arbeit mit der Unterscheidung Physikalität/Interiorität ist das Gespräch mit den Fischern in Taino. Die Fischer erscheinen zu einem Gespräch, in dem es um die Problematik der Knappheit an Fisch und Meerestieren gehen soll. Die Fischer reden zunächst davon, wie schwierig und wenig einträglich die Fischerei geworden ist. Ein Womit, ein Naturbezug wird vorgetragen und ist eingekleidet in das gängi-
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ge Gesprächsmuster von Klagen und Anklagen. Es wurde auch hier deutlich, dass sich dieses Womit der Fische im Gespräch nicht greifen lässt, d.h. dass hier weder eine Naturvermittlung im Modus der Physikalität noch eine im Modus der Interiorität in Anschlag gebracht werden konnte. Auch in dieser Szene brachte sich eine gewisse Absenz, brachten sich eher »leblose Dinge« zum Ausdruck. Erst mit der Nachfrage, seit wann es mit der Verfügbarkeit von Fisch so schwierig ist und die Fischer auf das Erdbeben verweisen, wurde ein entsprechender Modus sichtbar. Angespielt wurde das Erdbeben in seiner Absicht, die Fische zu vertreiben. Die Beziehung zum Meer und der Fische wurde also indirekt in einer Bezugnahme auf das Erdbeben sichtbar, eine Bezugnahme, die mit dem Erdbeben ein exklusiv »vergöttlichtes Ding« entstehen ließ. Die Deutung des Erdbebens, das als Strafe Gottes möglicherweise die Fische vertrieben hat, greift dabei direkt in die »vergeisterte« Gemeinschaft der Fischer mit dem Meer und den Fischen ein. Auch in dieser Szene wurde ein Unterschied eingeführt, indem der gedankliche Schluss von Erdbeben und dem Rückgang der Fischpopulationen naturwissenschaftlich gekappt wurde. Gekappt bzw. infrage gestellt wurde eine Verknüpfung, der eine Vermittlung im Modus der Interiorität vorhergeht. Damit wurde die Beziehung der Fischer zum Meer und den Fischen vom Erdbeben und einer damit verbundenen Schuld befreit, was in diesem Fall noch zufällig und unwissentlich gelungen ist.34 Mit der nun vorliegenden Naturbeziehung ließ sich insofern arbeiten, dass sich das Gespräch zum Rückgang der Populationen an Fisch und Meerestieren für die Frage der Überfischung und für die Frage der ökologischen Pflege für eine Natur als dem Zuhause tatsächlich öffnete.
5.2.3
Das Prinzip Enttabuisierung
Sachlichkeit in ihrer erweiterten Form von Unterschiedsbildung ist das zentrale Prinzip, um in der Intervention eine (an-)erkennende und auf Verständigung orientierte Form des Miteinanderredens über die Natur in der Perspektive von Naturbeziehungen zu organisieren. Es handelt sich um das Basiswerkzeug der Vermittlung in einer Beziehungskultur des Urbarmachens (von Differenz) und des Liegenlassens (des Tabus). Es wurde bereits konstatiert
34
Auch in diesem Fall ging es um eine Art moderate »Entgötterung« des Erdbebens als einer exklusiv »vergöttlichten« Sache durch eine naturalistische Argumentation, um in die Balance einer »Melange der Naturen« zu einer kleinen Freiheit der »Sorge um sich« zurückzufinden.
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
und exemplarisch illustriert, dass das Urbarmachen mit dem Liegenlassen verknüpft ist, dass es um beides geht. In der Unterschiedsbildung lässt man das Tabu liegen. Lässt man das Tabu liegen, ist Unterschiedsbildung möglich. Beides vollzieht sich im Modus sachlicher Reduktion und Anerkennung. An dieser Stelle geht es abschließend darum, eine grundsätzliche Orientierung für das Liegenlassen des Tabus zu formulieren. Sachlichkeit als Unterschiedsbildung bedeutet im Gespräch eine implizite Verhandlung darüber, die »Waffen« von Tabuisierung und Feindseligkeit abzugeben. Eine solche Verhandlung appelliert weniger an die Bereitschaft, Einsicht zu einem Tabu zu gewinnen, dieses zu konfrontieren und durchzuarbeiten. Enttabuisierung geschieht vielmehr im Vollzug einer Reflexion und einem Sprechen, das den Unterschied konfrontiert und durcharbeitet. Enttabuisierung vollzieht sich in der konsequenten Auseinandersetzung mit einem Stattdessen. Ein solches Stattdessen ist aber nicht einfach da. Es wird im wahrsten Sinne des Wortes urbar gemacht. Konkret heißt dies, jede Form der Vermeidung eines Sprechens über die Sache der Natur und Naturbeziehungen zu umgehen, jeden gegenläufigen Moment durch ein Stattdessen unschädlich zu machen. Es geht darum, aus dem Nein etwas zu machen. Gemeint ist ein Nein in den zerstörerischen Akten, das Nein in den Widerständen, das Nein im Klagen und Anklagen, das Nein zu einer »Natur der Fülle«, das Nein zum Leben, ein Nein, das sich in den Gesprächen auf vielfältigsten Wegen zur Geltung bringt. Dieses Nein, egal in welcher Form vorgetragen, berührt im Kern einen Daseinszweifel, die Frage: »Kann und darf ich sein?« Enttabuisierung heißt dann nicht nur, ein Repertoire zu besitzen, um die Unterschiede in den Ansprüchen auf die Natur lesen und einordnen zu können sowie damit zu arbeiten. Diese sachliche Navigation braucht ebenso ein Gespür für die Artikulation des Daseinszweifels, ein Gespür für das Nein. Zur eher schematisch organisierten Beobachtungsweise zur Unterschiedsbildung gesellen sich also Gespür und vor allem Takt im Umgang mit dem Daseinszweifel.35 Es gibt keine Erkenntnisfigur, um die Artikulation eines Neins zu erfassen. Ich möchte an diesem Punkt sogar behaupten, dass man den Daseinszweifel zuallererst erspürt, bevor man ihn deutet. Er haftet den Gesprächen an
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Das Gespräch ist an einen taktvollen Umgang mit dem Gegenüber gebunden: »Jedes Feingefühl, das den Taktvollen auszeichnet, ist ein Gefühl für das Du, für den Mitmenschen, für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen Menschen« (Muth zit. in Zirfas: 2012:173).
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als Wut, als Lähmung, als Schwere, als Enge. Kurzum, die Artikulation eines Neins ist kaum auszuhalten. Es hat etwas Bedrängendes und Überwältigendes. Und gerade weil dies so ist, geht es um das Urbarmachen eines Ja in jeder kleinen Situation, in der sich ein Nein vermittelt.36 Die damit verbundene Beobachtungs- und Gesprächshaltung ist eine, die wachsam ist für das Nein und danach strebt, dass sich die Frage »Kann und darf ich sein?« zumindest im Gespräch für niemanden mehr stellt. In der Naturdiplomatie gibt es für diese Frage keinen Raum. In einem Gespräch beginnt man das Ja im Nein urbar zu machen, wenn den verhandelten Themen die lebensbejahende Frage vorausgeht, wie es möglich ist, eine potentiell volle und zugleich ereignishafte Natur anzuerkennen, um sich von dieser Natur im Anspruch auf ein gefülltes und erfülltes Leben anerkennen zu lassen. Um ein Ja im Nein handelt es sich, wenn dem Anspruch auf das Sattwerden eine ebenso lebensbejahende und friedfertige »Melange der Naturen« vorhergehen darf. Dies ist die Grundrichtung. Dennoch wird der Arbeit am Unterschied die Frage »Kann und darf ich sein?« als ein wiederkehrendes »Ja, aber…!« anhaften. Steht diese Frage im Raum, genauer: erspürt man sie, behandelt man diese nicht als solche, sondern implizit. Im Sprechen über die Unterschiede ist dazu ein schlichtes und entschiedenes Ja zum Leben zu kultivieren. Ein Ja artikuliert sich dann, wenn man die Äußerungen im Gespräch, die von einem Daseinszweifel zeugen, jeweils für eine neue Lebensmöglichkeit aufschließt. Eine solche transformierende Arbeit kann sich nur kleinschrittig vollziehen und muss von Aussage zu Aussage entfaltet werden. Wenn beispielsweise geäußert wird, dass die Geister und die Natur im Begriff sind unwiderruflich zu verschwinden, ist damit die Frage »Kann und darf ich sein?« berührt. Wenn ich diese Äußerung aufgreife, aus der Ausweglosigkeit mit einer Deutung herausführe, die weniger das Verschwinden als vielmehr die Kraftlosigkeit der Geister betont und ich zu deren konkreten Wiederbelebung den Unterschied über eine ökologische Sache einführe, ist dies ein Ja zum Leben. Es ist nicht nur eine (an-)erkennende Bewegung hin
36
Bei Zirfas geht es beim Takt in pädagogischen Gesprächskontexten um die taktvolle Zumutung der Mündigkeit. Der Takt ist eingebunden in die »pädagogische Paradoxie, Menschen zu einem selbstbestimmten Verhalten aufzufordern, das sie von sich aus zunächst noch nicht verwirklichen können« (Zirfas 2012:165). Hierin liegt die Zumutung. Auf das naturdiplomatisch orientierte Gespräch gewendet, ließe sich dann von einer »taktvollen Zumutung« der Freiheit sprechen, die Freiheit von einem Tabu und der Freiheit zu einer »Sorge um sich« und die Dinge, die einen umgeben.
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
zu einem Anspruch auf eine »vergeisterte« Gemeinschaft mit Dingen, sondern ebenso eine sehr konkrete Möglichkeit die Beziehungen zur Natur wiederaufzunehmen. Wenn ich im Gespräch mit dem Erdnussbauern vermeide, dem Angebot zu folgen, über die Fehler der Politik zu reden, weil sich darin die Dinge als absent und »leblos« repräsentieren, ist dies zunächst ein Nein gegen die Zerstörung. Versuche ich stattdessen über den Boden und die Erdnüsse zu sprechen und damit über etwas, was diesen Mann in der Subsistenz tagtäglich betrifft, ist dies ein erstes leises Ja. Dieses Ja greift weiter, wenn ich hierzu nicht nur die Zerstörung, d.h. auf die Erfahrung einer materiellen Grenze fokussiere, sondern auf die Möglichkeit, einen Boden zu sanieren, sodass dieser ertragreich wird. Eine Lebensmöglichkeit ist damit zumindest angezeigt. Wenn Menschen in einem anderen Fall der Überzeugung sind, von einem Sturm deshalb getroffen, verletzt und zerstört zu werden, weil man damit direkt gemeint ist, dann bedeutet ein Ja, d.h. eine Lebens- oder sogar Überlebensmöglichkeit, einen Unterschied durch einen Sturm als Naturereignis einzuführen, der aus der unheilbringenden Intention vielmehr eine Botschaft macht, die es erlaubt, der eigenen Verwundbarkeit mit einer entsprechenden »Sorge um sich« zu begegnen. Wenn im thematisch ähnlichen Fall die Fischer in Taino das Erdbeben in seinem Einfluss auf den Rückgang der Fische als Strafe empfinden, dann bringt sich auch hier der Daseinszweifel durch eine mögliche Schuld zum Ausdruck. Ein Ja und eine Lebensmöglichkeit sind dann angezeigt, wenn es neben der Verhandlung der Intention eines Erdbebens ebenso eine Erklärung zur Struktur und Dynamik eines Naturereignisses gibt, bei der der Zusammenhang zwischen Erdbeben und der schwindenden Verfügbarkeit an Fisch als nicht richtig ausgewiesen ist. Die Lebensmöglichkeit, die sich damit verbindet, ist, dass es nun überhaupt erst einmal möglich wird, die Beziehung der Fischer zum Meer und den Fischen zugleich als ökologische Sache und »vergeisterte« Gemeinschaft mit den Dingen wieder in den Blick zu nehmen, um sich von diesem Punkt aus über eine Regeneration der Fischbestände zu beraten. Ein Daseinszweifel lässt sich auch dann erspüren, wenn die jungen Gärtner in Bohoc in einem Gespräch beginnen davon zu berichten, dass sie exzessiv Bäume fällen und dazu betonen, dass sie keine neuen pflanzen, obwohl sie das müssten. Die Frage »Kann und darf ich sein?« zeigt sich in diesem Fall weiter, wenn offen und in ökologischen Begriffen davon gesprochen wird, dass man ein Zerstörer ist und wenn überdies erkannt ist, dass sich diese Zer-
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störung mittelfristig gegen die eigene Existenzgrundlage der Gärten richtet. Auch hier ist im Gespräch ein Ja angezeigt, wenn zur Version von Zerstörung, zunächst eine Idee des Machens und Gestaltens einer ökologischen Fülle zur Seite gestellt wird und man dazu auf die alltägliche Herstellung der gefüllten und lebensnotwendigen Gärten rekurriert. Wenn sich in dieser Verhandlung herausstellt, dass man sich als Gestalter einer ökologischen Fülle nicht richtig, nicht gut genug und fehl am Platz betrachtet, wenn geäußert wird, verschwinden zu müssen, heißt es einen Unterschied zu transportieren, der auch diesem Nein mit einem Ja begegnet. Dann steht nicht nur die ökologische Sache im Blick, sondern das Aufgreifen einer vergessenen Verbundenheit, möglicherweise auch das Einvernehmen, dass auf die Botschaften oder Intentionen der erdnaturbezogenen Dinge setzt, ein gutes Leben bereithalten zu können. In einer Situation, der man sich als junger Mensch nicht entziehen kann, sind dann alle Formen von Naturbezügen zu mobilisieren, die eine Subsistenz ermöglichen, die weniger eine Überlebens- als eine Lebensstrategie bedeuten. Auch in einem solchen Zugriff öffnet sich das Gespräch im Sinne einer Bejahung des Lebens. Unterschiede, die Arbeit am Unterschied, sind also weniger darauf zu verwenden, einen Deutungsanspruch zu markieren, sondern im Nein ein Ja aufzuschließen und eine taktvolle Zumutung von Lebensmöglichkeiten zu betreiben. Darin besteht die sachliche Navigation einer Vermittlung in der Spannung von Unterschiedsbildung und Enttabuisierung.
5.3
Beziehungskultur und ihr Potential zur Veränderung
Beziehungskultur vollzieht sich im Gespräch. Über die Beziehungen in der Intervention entscheidet die Art und Weise, wie Gespräche geführt werden. In der Naturdiplomatie werden Gespräche zur Sache der Natur, über Naturbeziehungen in ihrer einen oder anderen Weise geführt. Hierüber vollziehen sich Beziehungen, die als friedfertig gelten können. Welches Veränderungspotential ist damit gewonnen? Im Idealfall bietet sich im Zuge dieser Gespräche nun weniger Raum, eine Wasserleitung zu zerschlagen oder tausende Mangobaum-Setzlinge abzulehnen. Idealerweise wäre man jetzt gewillt, mehr Bäume zu pflanzen als man fällt, weniger Langusten zu fischen und auch die Axt nicht mehr am Mapou anzusetzen. Im Idealfall findet sich ein neues Fischerkollektiv, das sich nun um eine stärkere Regulation des Fischfangs als eine Art Selbstfürsorge be-
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
müht. Ideal wäre auch, wenn man das Risiko eines tropischen Sturmes oder einer Überschwemmung weniger passiv erleidet, als aktiv mit etwas mehr Mut zur Vorsorge trägt usw. Dies wäre wünschenswert, entspricht aber wohl eher einer Illusion. Auch wenn diese Gespräche ausgesprochen kontextsensibel sind, ein neues Feld sowie eine neue Form der Verhandlung aufschließen, ein vom Tabu befreites Sprechen anbahnen und die eine oder andere neue Frage und Antwort bereithalten, wird es weiterhin ein mächtiges Diskurs- und Erfahrungsfeld von Krise, Katastrophe und Intervention geben, in welches man eingebunden ist. Die Fischer sitzen auch nach dem Gespräch wieder in ihrer christlichen Assoziation, erhalten materielle Zuwendung, die Legitimation zum Fischen und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, indem sie den göttlichen Absichten eines Erdbebens oder Hurrikans folgen. Der nächste Sturm, die nächste Überschwemmung werden kommen und in Bohoc, Monben, Masia, Taino oder anderswo werden Mittel fließen und Rezepte bereitgestellt, die eine Lebens- und Problemwelt an den vorfindlichen Naturbeziehungen vorbei befördern. Die Fischbestände erschöpfen sich weiter, die Böden erodieren, das Wasser ist chronisch knapp und auch das Holz ist weniger verfügbar, d.h. die »material limits« bleiben auch nach einem solchen Gespräch weiterhin erfahrbar. Man ist durch ein wenig Miteinanderreden also noch lange nicht befreit davon, die bewährten Überlebensstrategien verfolgen, zumindest aber eine »Kultur der Armut« pflegen zu müssen. Man ist und bleibt auf Hilfe angewiesen. Man wird also darauf drängen oder gedrängt werden, die vertrauten paradox-feindseligen Beziehungen wiederaufzunehmen. Dies ist gewiss. Die angestrebte Veränderung im Rahmen eines Stattdessens als Naturdiplomatie sieht entsprechend anders aus. Es handelt sich um eine bescheidenere Vision. Eine Beziehungskultur des Tabubruchs durch Differenz zielt in erster Linie auf neue Beziehungserfahrungen, die zumindest das Potential für den Idealfall von Veränderungen in sich tragen. Diese Erfahrungen werden möglich durch ein beherztes Eingreifen in eine gestörte Beziehungswelt zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und erdnaturbezogenen Dingen. Hierin erfahrbar werden zunächst Veränderungen in den Beziehungen zu sich selbst. Was diese Gespräche leisten, ist eine Wandlung des Blicks auf die Natur und die Wiedergewinnung des Anspruchs auf eine »Natur der Fülle«, wenn auch nicht deren Möglichkeiten. Diesen Anspruch haben zu dürfen und artikulieren zu können, führt dann zumindest vor, dass es Lösungen geben könnte, mit denen man sich selbst und der Natur gerechter wird. Es ist diese kleine, aber wichtige Erfahrung im Rahmen einer Intervention, die
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sich in einem erweiterten Diskurs- und Erfahrungsfeld der Intervention nicht mehr einfach ausmerzen lässt. Man partizipiert zwar weiterhin in den Organisationen und reproduziert eine paradox-feindselige Beziehungsweise, aber nunmehr nicht nur. Dies ist die Zumutung, aber auch die Chance, die sich mit den Gesprächen in der Naturdiplomatie ankündigt. Darin liegt zunächst keine sichtbare Veränderung in der äußeren Realität, aber ein Anfang. Geht man davon aus, dass diese Erfahrungen wirken, dann kann erwartet werden, dass der eine oder andere Dialog im Rahmen der vorfindlichen Interventionskulturen sich wieder stärker auf die Sache der Natur orientiert und entlang jener »guten Quellen« – Einfachheit, Einvernehmen, Verbundenheit – geführt wird, die von einem möglichen Gelingen von Naturbeziehungen zeugen. Im Feld habe ich mich selbst gefragt, wie es für die Fischer oder Farmer im Zuge dieser Erfahrungen weitergehen kann. Wen könnte man im erweiterten Feld von Intervention treffen, um dieserart Gespräche weiterzuführen? Wer wäre am ehesten bereit und in der Lage, mit Menschen zu verhandeln, die einen Anspruch auf eine »Natur der Fülle« artikulieren, und was wichtiger ist, deren Möglichkeiten durch die entsprechenden Wissens- und materiellen Ressourcen konkret und gangbar zu entfalten? Im Fall der umweltpolitischen Initiative von Acul-du-Nord stellt sich diese Frage akut. Im Gespräch hat sich nahezu idealtypisch ein neues Kollektiv gebildet, das nun sehr konkret in den ersten Gegenden Bäume pflanzt und Lehrkräfte in den Bergen ausbildet. Diese Initiative wird davon abhängen, ob und inwieweit sich die Gespräche weiterführen lassen, ob und inwieweit man Gehör und auch die notwendigen Mittel findet. Es hängt davon, ob und inwieweit sich eine solche Initiative institutionalisieren kann. Wo finden sich im vorfindlichen Feld der Interventionen Voraussetzungen und Anschlüsse, um ins Gespräch und auch ins Geschäft zu finden, sodass sich der Anspruch auf eine »Natur der Fülle« um konkrete und gangbare Möglichkeiten erweitern lässt? In einem Gedankenexperiment lässt sich behaupten, dass man in Aculdu-Nord auf eine der ökologisch-technologischen Interventionen mit Nachhaltigkeitsanspruch treffen müsste. Erinnert sei an die Fallvignette der NGO zur nachhaltigen Aufforstung und Bodensanierung im Süden Haitis, die durch massive Abholzung der in der Regeneration begriffenen Flächen nunmehr zu scheitern beginnt.37 Ungeachtet dieses Scheiterns hätten die Intervenierenden mit ihrem Interesse an sozial-ökologischer Nachhaltigkeit für ein Pflanzenprojekt, wie das in Acul-du-Nord, die notwendige 37
Vgl. Abschnitt 4.2. Streifzüge gegen die Bäume.
5 Beziehungskultur – Tabubruch durch Differenz
Expertise, die Bäume, finanzielle Mittel usw. Voraussetzung wäre jedoch, man könnte zusammenfinden und über die Möglichkeiten einer »Natur der Fülle« verhandeln. Es muss nicht noch einmal wiederholt werden, dass es an dieser Voraussetzung fehlt und die Krux in der Intervention gerade darin liegt, einen solchen Diskurs zu vermeiden. Aber dennoch läge aus meiner Sicht in dieser Begegnung eine kleine Chance, sich dem Ideal einer Veränderung in einem weiteren Schritt anzunähern. Oder anders formuliert: Die Chance besteht darin, dass Intervenierende wie die natur- und sozialwissenschaftlich informierten Agrarökologen im Süden am ehesten über die Voraussetzung verfügen, für den Anspruch auf eine »Natur der Fülle« sensibel zu werden, um ihre Mittel darauf zu verwenden. Sie müssten bloß erkennen, dass die besondere Stärke ihres Interventionsansatzes, der auf sozial-ökologische Nachhaltigkeit setzt, gerade darin besteht, diesbezüglich die besten Voraussetzungen zu besitzen. Die dargestellte NGO-Maßnahme im Süden Haitis ist exemplarisch für Interventionen, die mit den besten Intentionen erfolgen! Mit besten Intentionen ausgestattet sind Interventionen, die im Untersuchungsgebiet ein ökologisches Interesse verfolgen, sich dem Erhalt und der Regeneration der ökologischen Fülle verpflichten. Worauf man sich damit grundständig orientiert, sind die Lebensgrundlagen in den Subsistenzkulturen und somit einer Natur als Gegenüber, um Beziehungen anzubahnen. Die Arbeit an der ökologischen Regeneration fungiert dann als Angebot, Naturbeziehungen überhaupt erst wieder mit den eigenen Ansprüchen verbinden und erhalten zu können sowie für Erfahrungen gelingender Lebensvollzüge zugänglich zu machen. Eine Intervention ist auch dann mit der besten Intention ausgestattet, wenn diese sich darauf verpflichtet, die Verwundbarkeit durch Naturrisiken abzupuffern. Dies in der Art, dass man sich um beständige Strukturen in der Subsistenz bemüht, um im Zuge einer Erschütterung überlebens- und handlungsfähig zu bleiben oder zügig wieder zu werden. Dies aber auch, indem man versucht, im Sinne von Katastrophenschutz und -vorsorge entsprechende Risiken zu minimieren. Diese richtigen Intentionen vermitteln sich in den integrativen Konzepten von sozialer und ökologischer Vulnerabilität, Resilienz und Nachhaltigkeit, die m.E. den Großteil der Interventionen mit ökologischem Interesse grundieren. Wenn der konzeptionelle Weg über die Natur zu den Menschen und von den Menschen zurück zur Natur geht, ist eine richtige Intention angezeigt. Dies deshalb, weil diese Interventionen direkt die vorfindlichen Naturverhältnisse adressieren und in einem Untersuchungsgebiet, wo die Natur
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einen der bedeutendsten Erfahrungsbereiche abbildet, nicht vorsätzlich darauf setzen, diese Naturverhältnisse für Missionierung, politische Einflussnahme, materielle Bereicherungen zu ge- oder sogar zu missbrauchen. Dass diese Intentionen richtig sind, kann entlang der Devastierung der erdnaturbezogenen Dinge, der Ernährungsunsicherheit, der Armut, der Naturrisiken sowie der Befunde zu den »guten Quellen« des Gelingens behauptet werden. Wird, wie im Pflanzenprojekt von Acul-du-Nord, ein Anspruch auf eine »Natur der Fülle« wiedergewonnen und artikuliert, dann würde man mit diesen Interventionen aufgrund ihrer Zielrichtung das richtige Gegenüber treffen. Nun sind aber die sozial-ökologischen Nachhaltigkeitsstrategien wie jene der NGO-Maßnahme im Süden Haitis ebenso exemplarisch für Interventionen, die trotz bester Intentionen von einer Schwächung betroffen sind, die sowohl die Helfer, die Hilfsbedürftigen als auch die erdnaturbezogenen Dinge betrifft. Gemeint sind Kollektive, die im Zuge ihrer Vergemeinschaftung unabsichtlich schwach und hierin zerstörerisch werden. Diese Schwäche zeigt sich dann z.B. in den wieder abgeholzten Bäumen. Es geht um Interventionssysteme, in denen Helfer und Hilfsbedürftige im gemeinsamen Zugriff auf die Natur auch in eine gemeinsame Zwickmühle und Not geraten, man sich implizit auf die Indifferenz und ein Nein verständigt. Für ein Pflanzenprojekt, wie das in Acul-du-Nord, läge in der Begegnung mit den Agrarökologen im Süden also eine hohe Wahrscheinlichkeit, geschwächt zu werden. In einem Feld, das durch politische, soziale und ökologische Krisen und Katastrophen geprägt, das von Interventions- und Hilfsmaßnahmen dominiert ist und als Folge aktive und gewaltsame Formen von Destruktivität an Menschen und Dingen hervorbringt, sind Interventionsansätze, die sich um die Sache der Natur und Naturbeziehungen in Begriffen von sozialer und ökologischer Vulnerabilität, von Nachhaltigkeit und Resilienz bewegen, stark und schwach zugleich. Sie sind stark, weil sie den entscheidenden Punkt, d.h. den alltäglich wohl wichtigsten Erfahrungsbereich der Natur treffen und hierüber einen Weg zur Veränderung versuchen. Sie sind schwach, weil sie aufgrund ihrer naturalistischen Orientierung, einer Naturvermittlung im Modus von Ähnlichkeiten in der Physikalität und hierin einem einseitigen Fokus auf »ökologische Dinge« meist unwissentlich in ein umkämpftes Gebiet geraten. Sie sind beteiligt an einem Konflikt um Deutungsansprüche auf die Natur, der sich entlang der Frage organisiert, ob die Dinge als »ökologische« oder »vergöttlichte« oder »vergeisterte« zu handhaben sind, eine Frage, die mit der Alltäglichkeit eines Sowohl-als-Auch konsequent bricht.
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Keine Nachhaltigkeitsstrategie vermag es zu leisten, dass Menschen und erdnaturbezogene Dinge wieder stimmig zueinander finden, wenn in einem Kampf um die Durchsetzung von Deutungsansprüchen auf die Natur die vorfindlichen Naturbeziehungen an sich umkämpft und bekämpft werden. Keine Theorie von Vulnerabilität, in der die Sache der Natur mit sozialen, ökonomischen und politischen Fragen verknüpft und in Begriffen von Komplexität und Hybridität verhandelt wird, vermag es zu leisten, starke Interventionsbeziehungen zu stiften, solange nicht erkannt ist, welche Verletzlichkeit für Menschen und Kollektive durch diesen Kampf um die Deutungsansprüche auf die Natur selbst erwächst. Keine Theorie der Resilienz wird ihren eigenen Vorgaben gerecht, wenn sie blind ist für die feindseligen Kräfte, die ein Naturverhältnis als Verhältnis zur Fülle tabuisieren und hierin einen Daseinszweifel schüren, der jeder Mobilisierung von Widerstandskräften, von systemischer Selbstregulierung und -organisation, von Coping-Kapazität, der Stärkung von Sozialsystemen in einer Art Eigenspin sowie der Bewältigung traumatisierender Ereignisse zuwider- und gegenläuft. Resilienz gedeiht eher, wenn das Gelingen in einer Version erlaubt ist, die der bereits vorfindlichen entspricht. Widerstandskraft entwickelt sich dann, wenn z.B. der bedrohliche Sturm, der Starkregen oder die Überschwemmung überhaupt an die Widerstandskraft, an die Coping- und Gestaltungsfähigkeit appellieren dürfen(!) und weniger daran erinnern, eine Strafe erleiden und erdulden zu müssen. Auch Resilienz braucht ihren ermöglichenden Kontext. All diese Ansätze im bezugstheoretischen Feld von Vulnerabilität, Resilienz und Nachhaltigkeit müssten es zunächst leisten, sich über ein Tabu zu erheben, sodass das Gelingen überhaupt eine verhandelbare Größe wird. Theorien von Vulnerabilität, Resilienz und Nachhaltigkeit müssten also in den vorfindlichen Strukturen selbst Resilienz entwickeln. Die Schwäche liegt also nicht in der Intention, auch nicht in der konzeptionellen Grundlegung dieser Interventionsversuche. Sie besteht darin, dass diese Ansätze aufgrund eines impliziten Naturverständnisses naturalistischer Provenienz nicht widerstandsfähig oder gemacht sind für die Arbeit in einem Feld, in dem sich um die Ansprüche auf die Natur heftige Feindseligkeiten und eine immense Zerstörungskraft ausgebildet haben. Folglich kann diese Schwäche in der Praxis von Intervention auch nur dazu führen, dass sich schwache und hierüber wiederum zerstörerische Kollektive ausbilden. Es ist also zu fragen, wie diese Ansätze widerstandsfähiger werden, um ihre Stärke zu entfalten. An welcher Stellschraube ließe sich drehen, um sich über Tabu, Feindseligkeit und Zerstörung zu erheben, damit man anbieten kann,
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was man anzubieten hat? Gemeint ist der Erhalt und die Wiedergewinnung der ökologischen Fülle, damit die Natur als Gegenüber und die Chance, über eine »Natur der Fülle« zu erfahren, satt werden zu können und in Anbetracht von Naturrisiken auch weniger verwundbar zu sein. Und um beim Gedankenexperiment zu bleiben: An welcher Stellschraube ließe sich also drehen, dass man in Acul-du-Nord mit den Agrarökologen im Süden zusammenfindet, sodass sich ein starkes Kollektiv entwickeln kann? Die Stellschraube liegt auch hier nicht darin, ein Tabu durchzuarbeiten und zu verstehen. Weniger blind zu sein für Tabu, Feindseligkeit und Zerstörung, heißt vielmehr sehen zu können, welche »guten Quellen« des Gelingens in einem schwierigen Feld bereits angelegt sind. Die Stellschraube ist denkbar einfach. Es bräuchte eine kleine nachholende Entwicklung in der Art, dass nunmehr auch die Vulnerabilitäts-, Resilienz- und Nachhaltigkeitsexperten in der Lage sind, den Unterschied in den Naturvermittlungen zu sehen und sich darauf zu verstehen. Dies bedeutet nicht, die eigene naturalistische Orientierung zu unterminieren, im Gegenteil. Diese kann und muss in ihrer konzeptionellen Verfertigung, z.B. in einer Nachhaltigkeitsstrategie und -technologie, beibehalten und konturiert werden, aber in einer Art, dass man damit einen nützlichen und anschlussfähigen Unterschied anbietet. Wird es möglich, eine solche Haltung zu repräsentieren, dann wäre dies die Voraussetzung für einen Akt gegenseitiger Anerkennung. Die einzige Aufgabe besteht darin, zu lernen, dass es verschiedene Klaviaturen von Naturbeziehungsweisen gibt und dass sich in der Spannung von Differenz, die eine oder andere neue Frage und Antwort findet. Für Intervenierende, die in einem naturalistischen Zugriff auf die Dinge Wissen und Expertise ausgebildet haben, heißt dies, nachzuholen, wozu man im Untersuchungsgebiet von Grund auf in der Lage ist, geht man davon aus, dass eine ontologische »Melange der Naturen« angelegt ist, die auf eine an sich volle und ereignishafte Natur antworten könnte. Man müsste lediglich zur Einsicht gelangen, dass es in der Alltäglichkeit des Denkens und Tuns an sich selbstverständlich ist, dass die Dinge »ökologisch«, »vergöttlicht« und auch »vergeistert« sind. Könnte man in der Intervention repräsentieren, dass man sich darauf versteht, würde man tatsächlich die selbstauferlegte Ressourcen- und Lösungsorientierung anstreben. Eine implizite Verständigung auf die Indifferenz, bei der man sich gegenseitig die Verletzlichkeiten spiegelt, wäre in einem Akt des Unterscheidens überflüssig. Erst dann fokussiert man in den Interventionsbeziehungen auf eine Grunderfahrung, es
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im Anspruch auf eine »Natur der Fülle« schaffen zu können und nicht mehr darauf, dass dies nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Für mein eigenes Projekt, das ein Stattdessen als Naturdiplomatie über diese Arbeit hinaus weiterverfolgen wird, stellt sich nun die Frage, wie sich ein Verständnis für den Unterschied in den ontologischen Dispositionen im Rahmen einer »Intervention der Intervention«, also einer Intervention zweiter Ordnung anbahnen ließe. Das naturdiplomatisch orientierte Gespräch sollte auch auf dieser Ebene konzipiert und vor allem geführt werden. Naturdiplomatie bedeutet somit insgesamt eine dreifache Aufgabe. In der Arbeit mit Hilfsbedürftigen geht es um Enttabuisierung und Unterschiedsbildung, sodass sich der Anspruch auf eine »Natur der Fülle« wieder artikulieren kann. In der Arbeit mit Helfern mit richtigen Intentionen geht es darum, für die Koexistenz und Integration von Naturbeziehungsweisen zu sensibilisieren, sodass es gelingt, die eigenen Stärken aufzuschließen. In der Arbeit mit Hilfsbedürftigen und Helfern heißt es, dafür zu sorgen, in diesen Begegnungen zu vermitteln. Die vorliegende Arbeit hat für den ersten Fall einen Weg aufgezeigt, für den zweiten einen Ausblick formuliert und für den dritten eine Vision angedeutet. Wahrscheinlicher ist nun, dass es in Acul-du-Nord mit den Agrarökologen im Süden nunmehr eine Chance gibt, überhaupt ein Gespräch zu führen, sich hierin auf die Sache der Natur zu orientieren, sich als Fremde zu begegnen, sich zu verstehen und auch nicht zu verstehen, um schließlich jene Fragen und Antworten zu finden, die eine ökologische Fülle als Voraussetzung für eine »Natur der Fülle« aufrechterhalten oder entstehen lassen.
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6 Naturdiplomatie – Schlussbemerkung
An dieser Stelle der Arbeit bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt und im Rahmen der Möglichkeiten, das vorliegende Forschungsanliegen zu bewältigen, vorerst nichts mehr hinzufügen. Für die Forschungsfragen gibt es aussagekräftige, wenn auch erste Antworten. Was es abschließend dennoch zu sagen gibt, sind einige wenige Anmerkungen zum wissenschaftlichen Beitrag dieser Arbeit. Diese Arbeit hat es aus meiner Sicht geleistet, einen Anfang zu markieren und dies in dreifacher Hinsicht. Erstens wurde im Untersuchungsgebiet Haiti an kleinen und konkreten Fällen ein besonderes und bisher wenig beachtetes Phänomen aktiver, gewaltsamer und (selbst-)zerstörerischer Zurichtung der erdnaturbezogenen Dinge aufgedeckt. Dieses Phänomen wurde mit naturdiplomatischen Mitteln gelesen und es wurde mit den gleichen Mitteln behandelt. Sichtbar wurde ein interventionsbedingtes Konfliktmuster hinter der Destruktivität, welches sich im weitesten Sinne als ein im Raum interkultureller Begegnung provozierter »double bind« bezeichnen lässt. Im Grunde wurde damit nicht mehr, aber auch nicht weniger als auf ein fundamentales Missverständnis verwiesen, welches gewöhnlich solchen Begegnungen anhaftet, in denen die Sache der Natur eine Rolle spielt. Aufgezeigt wurde ebenso, wie sich dieses Missverständnis durch eine kleine Revision beheben lässt. Plädiert wurde für eine Öffnung des Blicks für die Sache der Natur in der Perspektive von Naturbeziehungen in ihrer einen oder anderen Weise, um in einer zerstörerischen Dynamik einen Anfang für ein Stattdessen zu finden. Dies gilt in der Praxis von (Feld-)Forschung wie auch der Vermittlung. Mit diesen Befunden, die entlang vieler kleiner Szenen und bedeutsamer Momente im Feld generiert wurden, rückt nun eine weitaus größere Frage in ein neues Licht. Hierin liegt ein weiterer Anfang. Es handelt sich um die generelle Frage, welche und wessen Naturen wir verhandeln und behandeln, wenn wir versuchen das »Drama mit der Natur«, die ökologischen Krisen,
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die Unwiderruflichkeit der »material limits« anzugehen, dies in der Wissenschaft, in der Politik, im Feld der Bildung, in der entwicklungspolitischen Intervention und anderswo. Diese Frage ist nicht neu und die Befunde dieser (Feld-)Forschung sprechen einmal mehr dafür, dass es richtig ist, diese Frage zu adressieren. Was an dieser Frage aber bewegt, wenn sie tatsächlich im Kleinen gestellt wird, ist, dass sich hierüber entscheiden kann, ob man friedfertig oder feindselig zusammenfindet. Über friedliche oder gewaltvolle Zustände entscheidet eben auch, dass die Natur und vor allem wie und wozu die Natur in den Dialog findet. Dies mag pathetisch klingen, kommt aber nicht von ungefähr. Es handelt sich um die wohl wichtigste Ansprache des Feldes selbst, d.h. um eine Botschaft, die sich aufdrängt, wenn man sich der Sache der Natur und der Naturbeziehungen in der Alltäglichkeit des Denkens und Tuns im Rahmen von Intervention, letztlich aber durch eine naturdiplomatisch angelegte (Feld-)Forschung stellt. Der wissenschaftliche Beitrag, der sich in den Befunden spiegelt, besteht also darin, dass mit dem Anliegen einer Naturdiplomatie im Kern eine Frage der Friedensforschung berührt ist. Die Befunde sind also in erster Linie anschlussfähig im Feld der Friedenswissenschaften. Mir selbst schien dieser Aspekt lange nicht vordergründig. Dies deshalb nicht, weil ich um die Sache der Natur zwar nicht weniger, aber andere Konflikte erwartet habe. Zu erwähnen sind Konflikte um den begrenzten Zugang zu natürlichen Ressourcen, Konflikte im Zuge der Naturkatastrophen, der Klimakrisen usw. Neu war mir, dass sich um die Frage der Verhandlung der Natur selbst Feindseligkeiten und eine entsprechende Zerstörungskraft aufbauen, dass Naturbeziehungsweisen an sich umkämpft und bekämpft werden. Dies nun stärker als eine Frage der Friedensforschung zu behandeln, ist aus meiner Sicht dringend notwendig. Drittens sind die Befunde dieser Studie denkbar einfach. Der Weg, diese Befunde zu generieren, war jedoch alles andere als einfach. Mit den »Spuren der Destruktivität« wurde ein ethnographischer Ausgangspunkt markiert, eine praxisbezogene Dringlichkeit aufgespürt. Es handelte sich hierbei um eine starke Irritation im Zuge vermittlungspraktischer Tätigkeiten, für die es Antworten brauchte. Die beobachteten Verwerfungen waren nicht gewöhnlich, sie waren anders und vor allem extrem. Wenn von Extremen die Rede ist, dann sind Beobachtungen gemeint, die weniger auf graduelle Differenzen als vielmehr auf das Äußerste eines Spektrums an Positionen und Ausdruckformen in einem Phänomenbereich verweisen. Es handelte sich um eine besondere Form von Destruktivität, die sich als in hohem Maße spannungsträchtig, widersprüchlich und dringlich vermittelte. Wonach die Spuren schließ-
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lich verlangten, war die Ausarbeitung eines passenden forschenden Zugangs, der allerdings bedeutete, die bisher vertrauten Wege zu verlassen. Die Herausforderung bestand darin, in Situationen, die perplex und ratlos machten, einen zuverlässigen Weg zum Verstehen aufzuschließen. Der Forschungszugang war entsprechend pragmatisch, d.h. durch und durch geleitet von einem Denken in Möglichkeiten und Machbarkeiten und einer Idee von aktiver Mittelmäßigkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Um zu forschen und zu einem Verstehen voranzuschreiten, wurde die Gestaltung einer »aktiven Mitte« zur Maßgabe, d.h. die konsequente Arbeit an einer Synthese (weniger an einer Mischung) verfügbarer theoretischer Beschreibungsformeln und methodologischer Mittel, die es vermag, der Sache gerechter werden zu können. Es hieß also eine Reihe pragmatisch motivierter Anleihen zu machen, dazu Fachgrenzen zu überschreiten, neue Denk- und Arbeitsformen aufzuschließen und divergente zusammenführen, Praxiswissen für eine Forschungsmethodik zu mobilisieren usw. Für mich als Geographin mit Schwerpunkt Integrativer Geographien sowie als Forscherin zu Vermittlungsfragen in diesem Feld bildete schließlich die Notwendigkeit zu vier fachlichen Grenzüberschreitungen die zentrale Herausforderung. Um den »Spuren der Destruktivität« gerecht werden zu können, habe ich begonnen, nunmehr stärker sozial- bzw. kulturanthropologisch zu denken und zu arbeiten. Als Empirikerin hieß es hierzu, insbesondere eine Bewegung hin zu einer ethnographisch orientierten Feldforschung zu meistern. Als sich die Frage der Naturbeziehungen im Feld wider Erwarten als eine religiöse Frage offenbarte, wurde es notwendig, auf Erkenntnisse und Standpunkte in Religionswissenschaft und -pädagogik zu rekurrieren, obwohl dies mein Arbeitsfeld bisher kaum berührte. Auch diesbezüglich hieß es, eine gewisse Fremdheit zu bewältigen und eine sachlich angemessene Sprache zu entwickeln. Hinzu kommen die Anleihen im Bereich der Tabuforschung und dazu die Herausforderung, die empirische Erforschung der Konturen eines Tabus zu ermöglichen, das den Weg in den wissenschaftlichen Diskurs noch nicht geschafft hat. Um das Tabu greifen und bearbeiten zu können, wurde eine vermittlungstheoretische Reflexion und Revision notwendig, die für mich selbst die größte Herausforderung bedeutete. Eine weitere Anleihe liegt im Fachgebiet der Kommunikationspsychologie. Entsprechende Theorien und Erkenntnisse sind mir zwar als psychologische Beraterin sehr vertraut, wurden aber bisher weniger darauf verwendet, um ein Forschungsverfahren zu entwickeln, um Beobachtungs- und Reflexionsweisen im Forschungsprozess
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zu organisieren, letztlich um eine Forschungsfrage zu beantworten. Dafür maßgebend war die Synthese systemtheoretischer und phänomenologischhermeneutischer Perspektiven, d.h. die pragmatisch motivierte Verbindung systemischer und psychodynamischer Ansätze. Dieser Fokus auf die Gestaltung einer »aktiven Mitte« durch die pragmatisch motivierte Synthese entsprechender theoretischer Mittel hat es schlussendlich aber erlaubt, die beobachtete Form der Destruktivität an den erdnaturbezogenen Dingen wissenschaftlich auf einen einfachen Punkt zu bringen. Was dabei insgesamt markiert wurde, und dies ist der dritte Anfang, ist ein Weg transformativer Forschung, bei der die Vermittlung selbst zur Forschung werden kann. Gemeint ist eine »zivilisierte« Forschung im Vollzug von Vermittlungen, die sämtliche ihrer Anleihen auf eine (selbst-)kritische Reflexion und Revision verwendet, um dem Verstehen einer schwierigen Sache näherzukommen. Es bleibt zu fragen und zu diskutieren, ob und inwieweit sich gerade in der aktiven Mittelmäßigkeit von Naturdiplomatie als Forschung ein besonderer wissenschaftlicher Wert spiegelt.
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Übersicht über die Fallstudien Im Untersuchungsgebiet Haiti wurden bisher insgesamt neun Fallstudien zu Vermittlungs- und Beratungsprozessen im Umfeld sozial-ökologischer Probleme angelegt und durchgeführt. Darunter zählen hauptsächlich Beratungen in ruralen Gemeinden jeweils gemeinsam mit Bewohnern und den lokalpolitisch Zuständigen. Ebenso durchgeführt wurden zwei Organisationsberatungen im Fall einer NGO sowie einer umweltpolitischen Initiative. Hinzu kommt außerdem ein Fall von regionaler Politikberatung. Die Beratungen wurden jeweils vor Ort durchgeführt und waren mit mehrtägigen/-wöchigen Aufenthalten verknüpft. Alle Fallstudien wurden durch Untersuchungen zur Problemdiagnostik begleitet. Je nach Bedarf wurden hierzu Ortsbegehungen, teilnehmende Beobachtungen, problemzentrierte Interviews und ferner auch soziale Netzwerkanalysen durchgeführt. Diese forschenden Tätigkeiten wurden in Haiti wissenschaftlich unterstützt durch Geo- und Agrarwissenschaftler sowie durch Studierende der Philosophie und Politikwissenschaften der Université d’Etat d’Haïti (Port-au-Prince). Hinzu kamen die jeweiligen Experten vor Ort, so z.B. ausgebildete Agronomen und »community organizer«. Die Beratungen selbst organisierten sich jeweils in mehreren Gruppengesprächen und wurden in einem Team aus zwei Beratern durchgeführt. Bei der zweiten Person neben mir handelte es sich um einen Agrarökonomen, Politologen und Organisationberater haitianischer Herkunft mit Lebensort in Berlin (Deutschland) und Boston (USA). Sämtliche Forschungen und Beratungen wurden von mindestens einem Dolmetscher begleitet. Bei der Verhandlungssprache handelte es sich in erster Linie um haitianisches Kreol, in Ausnahmen um Englisch oder Französisch. Übersetzt wurde simultan (Kreol bzw. Französisch/Englisch und/oder Kreol bzw. Französisch/Deutsch). Ich selbst verfüge über gute Fähigkeiten, Kreol zu verstehen und über ein grundständiges Repertoire, mich im Alltag zu
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verständigen. In Beratungsgesprächen, die ich selbst angeleitet habe, habe ich Deutsch gesprochen. Gedolmetscht wurde in diesen Fällen durch den zweiten Berater, der über ausgezeichnete Deutschkenntnisse verfügt. a) Taino-Studie: Taino ist eine kleine Fischersiedlung in der Region Grand-Gôave direkt an der Küste. Die ökologische Grundproblematik besteht in Überfischung. Lebensgrundlage bildet der traditionelle Fischfang. Fisch und Meerestiere werden hier von ca. 30 bis 50 Fischern zur Selbstversorgung und zum Verkauf auf dem lokalen Markt sowie für drei anliegende Restaurants und einem kirchlichen Kinderheim gefischt. Auch wenn es keine verlässlichen Daten gibt, kann davon ausgegangen werden, dass das Gebiet überfischt ist, womit die gegenwärtig noch verlässlichen Mikroökonomien zunehmend negativ beeinträchtigt werden. Das Thema der Knappheit an Fisch und Meerestieren wird in Taino durch die Fischer offen adressiert. Es bildete den Anlass für die Beratung. Gearbeitet wurde zu diesem Thema vorzugsweise mit den Fischern und auf deren Wunsch. b) Masia-Studie: Die Gegend um Masia, Mayo und Dupuy gehört zur Region Petit-Gôave. Es handelt sich um eine Bergregion in einer Höhenlage von ca. 300m bis 500m. Die Bewohner von Masia, Mayo und Dupuy verstehen sich als eine lokale Gemeinschaft; geschätzt werden ca. 3.000 Einwohner. Insbesondere mit Feldbau auf kleinräumigen Ackerflächen von wenigen Quadratmetern, die sich zumeist in Familienbesitz befinden, werden Überlebensstrategien verfolgt. Zur Existenzsicherung werden vorzugsweise Erdnüsse, Bohnen und vereinzelt Bananen angebaut. Die sozial-ökologische Grundproblematik besteht in schweren Formen von Bodenerosion, ferner auch in zunehmender Wasserknappheit. Die Beratung wurde durch lokalpolitische Entscheidungsträger initiiert. Der Auftrag bestand darin, Kollektivierungsmaßnahmen in der Gemeinde zur Etablierung stabiler lokal-/regionalpolitischer Strukturen und für eine nachhaltige Verbesserung der Bodenverhältnisse anzubahnen und zu begleiten. c) Saint-Gerard-Studie: Saint-Gerard ist eine weitere Berggemeinde in der Region Petit-Gôave. Die Ausgangslage in Saint-Gerard ist ähnlich zu der in Masia, Mayo und Dupuy. Allerdings verfügt diese montane Region über bessere infrastruk-
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turelle Voraussetzungen (z.B. ein gut begehbares Gelände mit einer ausgebauten Struktur an Fußwegen und einer Straßenanbindung zur Stadt, die mit Eseln oder Motorrädern passierbar ist). Zudem gibt es einige naturräumliche Besonderheiten (z.B. Wasserfälle). Hier bestand der Beratungsauftrag darin, neben der agrarwirtschaftlichen Nutzung auch alternative Perspektiven für die Regionalentwicklung aufzuzeigen (z.B. eine touristische Perspektive). d) Bohoc-Studie: Bohoc ist eine kleine landwirtschaftlich geprägte Gemeinde in der Region Hinche. Sozial-ökologische Probleme, wie z.B. Bodenerosion und Wasserknappheit, sind in Bohoc weniger stark ausgeprägt. Im Gegenteil lassen sich in der Gemeinde gelingende Subsistenzwirtschaften beobachten. Auffällig sind diesbezüglich die jugendlichen Akteure, die mit ihren üppigen und ertragreichen Gärten beeindrucken. Die Beratungen in Bohoc habe ich selbst anfänglich lediglich begleitet. Der ursprüngliche Beratungsauftrag bestand darin, über die verkehrsinfrastrukturellen Probleme, dazu insbesondere die Möglichkeiten des Ausbaus einer Dorfstraße in direkter Anbindung zu den städtischen Märkten zu beraten und hierzu auf lokal- und regionalpolitischer Ebene einen Entscheidungsprozess zu initiieren und zu begleiten. Der Beratungsfokus hat sich während des Aufenthalts in Bohoc dann stärker auf die Jugendlichen des Dorfes und ihr Bestehen in den Subsistenzkulturen verlegt. e) Monben-Studie: Monben ist eine kleine Berggemeinde in der Region Côtes-de-Fer, die durch Hurrikan »Matthew« (2016) schwer getroffen wurde und es bis heute ist. Folglich sind in dieser Gegend auch eine große Anzahl von Entwicklungsorganisationen aktiv. Es handelt sich um lokale Organisationen mit Fokus auf die Ernährungssicherung durch Förderung und Entwicklung der Agrarwirtschaft, die durch internationale Institutionen (z.B. FAO, EU, »The World Bank«) initiiert, konzeptionell begleitet und finanziert werden. Allein in der unmittelbaren Region um Monben mit mehreren Tausend Einwohnern, gibt es mittlerweile acht lokale Organisationen, die sich im Zuge von Hurrikan »Matthew« etabliert haben. In der Region um Monben konkurrieren diese lokalen Organisationen untereinander auf das Schärfste. Es geht hauptsächlich um die Teilhabe an finanziellen Mittel, um Territorialansprüche und den politischen Einfluss vor
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Ort. Der ursprüngliche Beratungsanlass entstand im Umfeld einer dieser lokalen Organisationen. Der Leiter bat um Unterstützung bei den selbstorganisierten Formen des »community building«, bei der Planung eines Schulprojektes sowie bei der Problemdiagnostik im Bereich der Subsistenzwirtschaften. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass im Umfeld der Organisation Korruption eine zentrale Rolle spielt, wozu auch das Beratungsgesuch missbraucht wurde. Die Beratung wurde nicht durchgeführt, der Aufenthalt vor Ort vordergründig auf Forschung verwendet. f) Grand-Gôave-Studie: In einer eher abgelegenen Siedlung von Grand-Goâve mit einigen Hundert Einwohnern wurde ein Konflikt um den Zugang zu Trinkwasser beraten. In unmittelbarer Nähe der Siedlung liegt die einzige Wasserleitung in der Gegend, die über einen Berg ins Tal führt und dort eine Siedlung im Uferbereich versorgt. Versorgt werden ausschließlich diejenigen, die über Anschlüsse verfügen und für das Wasser zahlen können. Die Leitung wird von der DINEPA, dem staatlichen Wasseranbieter unterhalten, die Infrastruktur wurde seinerzeit von der internationalen Hilfsorganisation Oxfam errichtet. Bei den Zahlenden handelt es sich um wohlhabendere Anwohner, darunter auch zwei Restaurantbetreiber, ein Hotelier sowie die Verantwortlichen eines Kinderheims. Im Tal versorgt werden ca. 15 Grundstücke. Diejenigen, die sich das fließende Wasser leisten können, besitzen zudem Alternativen mit eigenen Wassertanks und Aufbereitungsanlagen, um die Grundversorgung mit Trinkwasser dauerhaft zu gewährleisten. Die restlichen Siedlungen im Gebiet beziehen Wasser aus einem der Brunnen, die durch verschiedene entwicklungspolitische Maßnahmen oder NGOs installiert wurden. Der Brunnen für die abgelegene Siedlung ist versiegt, sodass die Bewohner nun täglich weite und beschwerliche Strecken zurücklegen, um Wasser zu besorgen. Die Idee liegt also nahe, an einer Wasserleitung zu partizipieren, die unmittelbar an der Siedlung vorbeiführt. Darüber entfacht ein heftiger Konflikt. Die Zahlungskräftigen sind zunächst nicht bereit, die einzige Wasserleitung im Gebiet zu erweitern, sodass die Siedlung ohne funktionsfähigen Brunnen versorgt wäre. Sie fürchten technische Mehraufwände und hauptsächlich Mehrkosten, d.h. insbesondere das Wasser für die anderen mitfinanzieren zu müssen. Der Beratungsauftrag wurde von Siedlungsbewohnern ohne Wasser formuliert und bestand darin, den Konflikt zu deeskalieren und eine Lösung für die Wasserversorgung zu finden.
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g) NGO-Beratung: Im Rahmen des Interventionsprogramms einer spanischen NGO wird versucht, eine Reihe der von Abholzung besonders schwer betroffenen Gebiete im Süden Haitis wieder aufzuforsten. Kern der Intervention besteht in der Verwendung besonderer Pflanzenzüchtungen, die für ein schnelles Wachstum und damit eine zügige Regeneration der Ökosysteme sprechen. Zur Umsetzung wird eine Nachhaltigkeitsstrategie gewählt. Man kooperiert gemeinsam mit der Lokalpolitik, arbeitet aber hauptsächlich mit Farmern zusammen. Diese bekommen kleine Flächen zur eigenen Bewirtschaftung bereitgestellt, müssen sich aber bei der großräumigen Aufforstung des Gebietes aktiv beteiligen. Zudem erhalten die Farmer finanzielle Zuwendungen als eine Art Grundabsicherung. Sie sind dazu weiter verpflichtet, ein Ausbildungsprogramm zur Agrar- und Forstwirtschaft zu absolvieren, um die Flächen nachhaltig produktiv zu halten. Die Interventionsmaßnahme läuft bereits seit mehreren Jahren und ist aus Sicht der Initiatoren zunächst auch sehr erfolgreich. Das Projekt beginnt nunmehr zu scheitern. Insbesondere diejenigen Farmer, die in die Maßnahmen seit einigen Jahren involviert sind und welche die bereitgestellten Flächen mittlerweile ertragreich bewirtschaften, die materiell grundversorgt sind und zudem weite Teile des Gebietes bereits aufgeforstet haben, beginnen nun die jungen Bäume wieder abzuholzen. Die Beratung wurde durch den Leiter der NGO initiiert. Der Beratungsauftrag bestand darin, Lösungen für das Abholzungsproblem zu entwickeln. h) Acul-du-Nord-Studie (Beratung einer umweltpolitischen Initiative): In der Nähe von Acul-du-Nord im ruralen Norden wurde ein Beratungsprozess im Rahmen einer lokalen umweltpolitischen Initiative durchgeführt. Es handelt sich um einen Zusammenschluss aus ortsansässigen Farmern, Agronomen und umweltpolitisch engagierten Jugendlichen. Anliegen der Initiative ist, die sozial-ökologischen Probleme wie Bodenerosion, Rodungen zur Holzgewinnung und Wasserknappheit in ihren lokalen Ausprägungen zu adressieren und diesbezüglich insbesondere Bildungsarbeit zu betreiben. Der Beratungsauftrag bestand darin, das Vorhaben in konzeptionellen Fragen zu beraten sowie die Transition zu einer stärkeren Institutionalisierung zu begleiten.
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i)
Bergbau-Studie Tapion (Politikberatung): Bei Tapion handelt es sich um einen Höhenzug am Ortsrand der Stadt Petit-Gôave. Hier wird Sand gefördert, ein Rohstoff, der als profitables Baumaterial genutzt wird. Tapion ist exemplarisch für eine jener Minen, wie es sie landesweit gibt und welche durch exzessive und unkontrollierte Rohstoffförderung in Erscheinung treten. Die Minen werden von von Personen der haitianischen Vermögenselite betrieben. Die Minenarbeiter arbeiten unter Schwerstbedingungen. Exzessiv heißt, dass den Bergen alles abgerungen wird, was durch einfache Technik und Arbeitskraft möglich ist. Unkontrolliert heißt dazu, dass sich die Rohstoffförderung jeglicher politisch-planerischer Kontrolle entzieht. Resultat dieser Praktiken ist die Produktion von enormen Risiken durch potentielle Massenbewegungen. So auch in Tapion, einem Höhenzug, der in eine urbane Infrastruktur eingebunden ist. Massenbewegungen katastrophaler Ausprägung für Mensch und Infrastruktur sind hier sehr wahrscheinlich. Der Beratungsauftrag bestand darin – initiiert durch den Bürgermeister von Petit-Gôave – die Entwicklung einer Strategie zur Gefahrenabwehr zu unterstützen. Der Prozess konnte aufgrund der instabilen politischen Lage in Haiti zunächst nicht weitergeführt werden.
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