Imperiale Gegenwelten: Haiti in den französischen Text-und Bildmedien 9783964569943


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Imperiale Gegenwelten: Haiti in den französischen Text-und Bildmedien
 9783964569943

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C. Hermann Middelanis Imperiale Gegenwelten

C. Hermann Middelanis

Imperiale Gegenwelten Haiti in den französischen Text- und Bildmedien (1848-1870)

Frankfurt

• Vervuert Verlag



1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitstitel

Middelanis, Carl Hermann : Imperiale Gegenwelten : Haiti in den französischen Textund Bildmedien (1848-1870) / C. Hermann Middelanis. Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 Zugl. : Bielefeld. Diss., 1991 ISBN 3-89354-070-9 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main, 1996 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Inhaltsübersicht Danksagung

8

I Einleitung 1 Blinde Flecken 2 Gegenwelten 3 Rassismus

9 9 13 16

II Spiegel-Kabinett-Stücke 1 Die Funktion positiver Helden 2 Mme de Duras: Ourika 2.1 Die gebildete Schwarze 2.2 Geschwisterliebe oder Sicherung des blutreinen Stammbaums 2.3 Lebensbeichte oder Anamnese? 2.4 Eine Erzählung über die Revolution während der Restauration 3 Satiren auf die Sklaverei 3.1 Prosper Mérimée: Tamango 3.1.1 Philanthropismussatire 3.1.2 Herrschaftstypen 3.1.3 Zivilisation und Barbarei 3.2 Daumiers Philanthropenkarikaturen 4 Zusammenfassung

21 23 26 28 31 34 37 38 39 40 41 42 45 47

III Faustin Soulouque und die Medien der Zweiten Republik 1 Berichterstattung über den 16. April 1848 2 Das Second Empire Haitis 3 Soulouque in der satirischen Presse der Zweiten Republik 3.1 Abgrenzung gegenüber der "seriösen" Presse 3.2 Typenbildungen 3.2.1 Oktober 1849 3.2.2 Besuch im Affenkäfig 3.3 Was karikieren "haitianische" Bilder? 3.3.1 Erste Soulouque-Karikaturen 3.3.2 Cham - Politik-oder Gesellschaftssatire? 3.3.2.1 Karikaturen mit Anspielungen auf die aktuelle französische Politik 3.3.2.2 Karikaturen der Napoleon-Mythologie 3.3.2.3 Soulouques Geldsorgen 3.3.3 Vernier 3.3.4 Daumier 3.3.5 Quillenbois 3.4 Die Haitianisierung Frankreichs 3.4.1 Le Constitutionègre 3.4.2 "Le voyage de Soulouque-le-Désiré" 3.4.2.1 Die groteske Exotik einer antikonstitutionellen Kampagne 3.4.2.2 Die gloreiche mexikanische Vergangenheit 3.4.2.3 Mit Voltaire gegen Soulouque 3.4.3 "Odyssée du Prince-Président Soulouque"

49 50 53 57 57 58 59 66 71 72 76 76 77 79 82 85 88 91 91 94 94 96 98 101

6 4 Soulouque und das Theater der Zweiten Republik 4.1 "Haitianische" Weihnachtsmärchen 4.1.1 Duvert/Lauzanne: La Fin d'une République ou Haïti en 1849 4.1.2 Dumanoir/Clairville: Les marraines de l'an III 4.1.3 Die Reaktion der Presse 4.2 Die Zensur streicht Soulouque 4.3 Lamartine und Toussaint Louverture 4.3.1 Interpretationsansätze 4.3.2 Anekdoten um die Inszenierung 4.3.3 Die Pressereaktionen 4.3.4 Parodie und Karikatur zu Toussaint Louverture 5 Reaktionen auf die französische Soulouque-Satire im In- und Ausland 5.1 Europäische Satiren zum neuen Kaiserreich in Haiti 5.2 Reaktionen aus der Karibik 5.3 Der vergebliche Versuch, "Soulouque" in Paris zu stürzen IV Geschichts- und Gesellschaftsenwürfe für Haiti in der Ära des Bonapartismus 1 Französische Studien zu Haiti in den 1840er Jahren 1.1 Die Haitianer stellen sich vor 1.2 Schoelchers Haiti-Beschreibung und Bissettes Reaktion 1.3 Die Französische Darstellung Haitis ( 1843-1848) 1.3.1 Lepelletier de Saint-Rémy 1.3.2 Paul Lamache 1.4 Zusammenfassung 2 Französische Hintergrundsberichterstattung zu Soulouques Kaiserreich 2.1 Die Gegner Soulouques 2.1.1 Gustave d'Alaux 2.1.2 Ästhetikentwürfe für Haiti 2.1.2.1 Le merveilleux haitien 2.1.2.2 Die Penetration Afrikas 2.1.3 Sind die Gegner Soulouques Gegner der Schwarzen? 2.2 Die Verteidiger Soulouques 2.2.1 Hippolyte de Saint-Anthoine und die Annales d'Afrique 2.2.2 Dr. Théophile Guérin 2.2.3 Paul Dhormoys 3 Die haitianische Historiographie zwischen zwei Adressaten 3.1 Was wird in Soulouques Kaiserreich veröffentlicht? 3.2 Die haitianischen Autoren und ihre Pariser Kritiker 3.2.1 Das Wahre oder das Wahrscheinliche 3.2.2 Haitianische Konflikte und französische Konfliktdarstellung 3.2.3 Haitianische Autoren und die Rassentheorien 4 Die Reaktionen auf Soulouques Sturz 4.1 Bilanzen 4.2 Welche Lateiner auf Hispaniola? 4.3 Die Rückkehr des Voudou 5 Zusammenfassung

106 107 107 109 110 111 113 114 116 116 120 124 125 127 129 137 139 140 143 150 151 153 153 154 155 156 163 164 169 174 175 175 176 178 181 184 190 191 192 198 201 202 204 208 212

7 V Soulouque in der satirischen Presse des Second Empire 1 "Seriöse" Bilder über das Kaiserreich Haiti 1.1 Illustrierte Distanzierungen gegenüber dem Staatsstreich 1.1.1 Das Musée des Familles 1.1.2 Die Illustration 1.2 Englische und französische Bilder Faustins 1 1.3 Haiti zur Unterhaltung der Kinder 2 Der karibische Gesslerscherz und die französische Despotenkritik 2.1 Despoten im Schatten Sebastopols 2.2 Daumier setzt eindeutige Zeichen 2.2.1 Ein Monarch kann einen anderen verdecken 2.2.2 Hut ab, M. Prudhomme! 2.2.3 Der neue Kaiser des "Bas-Empire" 2.3 Chams Reaktionen 3 Soulouque stört die Pariser Friedenseuphorie 3.1 Der haitianische Cäsar 3.2 Welche Kleider stehen dem geschlagenen Kaiser? 3.2.1 Chams Lösung 3.2.2 Königin Ranavalo provoziert die Krieger 3.2.3 Daumiers Lösung 4 Soulouques Sturz und die Wiederkehr der Republik 4.1 Ein positiver Held: Geffrard 4.2 Soulouque in Paris 4.2.1 Der Rausschmiß ("coup de balai") 4.2.2 Soulouque als Kolonialwarenhändler 4.2.3 Pariser Paläste 4.2.4 Pariser Hütten 4.2.5 Im Theater 4.2.6 Daumier entläßt Soulouque 4.2.7 Schwarze in Paris 5 Die Karibik zwischen Voudou, Alkohol und Revolte 5.1 Revolten 5.2 Voudou in der Karibik oder Katholizismus in Frankreich? 5.3 Welche Bilder über die Karibik? 6 Nachruf

215 217 217 217 217 220 221 223 225 226 227 229 231 233 235 236 242 244 246 247 252 254 259 260 264 266 269 271 274 277 281 282 283 287 290

VI Schluß 1 Haiti, ein Land, wo europäische Experten auf Wunder hoffen 2 Was leistet die Satire im imperialen Kontext? 3 Wann verliert Soulouque seine Bedeutung?

295 295 297 299

Bibliographie

307

Anhang I (Abbildungen)

317

Anhang II (Zeittafel)

465

Register

473

Danksagung Dieses Buch ist aus einer Dissertation hervorgegangen, die im Sommer 1991 von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld angenommen wurde. Während der Vorbereitungszeit haben mich folgende Institutionen finanziell unterstützt: die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Heinrich-Hertz-Stiftung, der Forschungsschwerpunkt Lateinamerika der Universität Bielefeld. Überdies erhielt die Dissertation einen Preis der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft/Bielefeld. Für die Nutzung der umfangreichen Bildbestände danke ich der Leitung der Stadtund Universitätsbibliothek in Frankfurt/Main. Bei der Erstellung dieser Arbeit waren mir zahlreiche Freunde und Bekannte auf unterschiedlichste Weise behilflich, sie mögen mir verzeihen, wenn ich nicht ihren Beitrag spezifiziere, sondern mich für eine alphabetische Aufreihung entschieden habe. Zuförderst möchte ich meinen Eltern und Geschwistern danken, dann Christiane Blaß, Joseph Büker, Dr. Marcel Chatillon, Miguel Châvez, Dr. Liz Childs, Nina und Edouard Duval-Carrié, Peter Frisch, Prof. Dr. Frauke Gewecke, Prof. Dr. Nils Jacobsen, Dr. Thomas Krüggeier, Prof. Dr. Charles Minguet, Dr. David Nicholls, Prof. Dr. Raimund Rütten, den Bibliothekaren der Bibliothèque Saint Louis de Gonzague/Port-au-Prince, Andrea Ziemer vom Vervuert Verlag. Herausheben möchte ich die minutiöse Korrekturarbeit von Annette Clamor und Dr. Peter Strack, ferner die anregende Zusammenarbeit mit Doris Voß beim Layout der Abbildungen. Ganz besonders möchte ich den beiden Betreuern meiner Arbeit, Frau Privatdozentin Dr. Monika Bosse und Herrn Prof. Dr. André Stoll, danken für die einvernehmlichen Jahre gemeinsamer Arbeit, die zahllosen Anregungen und Verbesserungsvorschläge sowie für die vielen institutionellen Hilfestellungen. Meiner Frau Anita Knittler danke ich, daß sie diese Arbeit stets unterstützt, aber auch nicht zu wichtig genommen hat. Eigentlich wollte ich diese Arbeit meiner Großmutter Josephine Bülow widmen, leider verstarb sie vor der Veröffentlichung, so daß ich an dieser Stelle nur noch an die Frau erinnern kann, die mir die Freude an der Kunst vermittelt hat. Bielefeld im Herbst 1995

I Einleitung 1 Blinde Flecken Alle werden ihn gekannt haben. Doch kaum jemand, der sich mit Politik und Kultur des Second Empire in Frankreich beschäftigt hat, widmet ihm mehr als einen Absatz oder eine Fußnote. Die Rede ist von dem haitianischen Kaiser Faustin, dem ersten seines Namens. Für die französischen Zeitgenossen war der ungebildete Präsident Faustin Soulouque bis zum 4. Oktober 1849, als die Pariser Presse seine Kaiserproklamation mitteilte, ebenso unbekannt wie zweieinhalb Jahre zuvor für die Haitianer, als sie am 1. März 1847 zu ihrem Erstaunen erfuhren, daß der Senat ihnen diesen eher unauffälligen schwarzen General für das höchste Amt in der Republik präsentierte. In Haiti entwickelte er sich zu einem Diktator, dessen Prachtentfaltung alles bisherige in den Schatten stellte. In Frankreich sollte sein Name eine derartige Popularität erlangen, daß der Zensor sich sogar gezwungen sah, Likörflaschenetiketten mit seinem Konterfei zu verbieten. Selbst Berichte von der "blutrünstigen" Königin Ranavalona aus Madagaskar oder vom Amazonenheer des Königs Guezo aus Dahomey mit ihrer Mischung aus Rassismus und Sexismus 1 , oder vom argentinischen Diktator Rosas 2 , obwohl Zielscheibe zweier französisch/englischer Kanonenbootexpeditionen, konnten in der ehemaligen Metropole nicht das Interesse wecken, das den Nachrichten aus dem karibischen Second Empire zuteil wurde. Die zeitliche Koinzidenz zweier Imperialprojekte beiderseits des Atlantiks enthielt genau die innenpolitische Brisanz, die es ermöglichte, die Vielfalt der Stereotypen über die einstige "Perle der Antillen" im französischen Kontext zu aktualisieren. Diese Studie will die Strategien analysieren, die die Integration der fremden Phänomene in den Wahrnehmungshorizont der eigenen Gesellschaft garantieren. Das umfangreiche französische Text- und Bildmaterial zu Faustin Soulouques Kaiserreich soll hier nicht nur dokumentiert, sondern auch chronologisch fortschreitend als wechselseitiger Abgrenzungsprozeß zwischen den diversen politischen und ästhetischen Positionen vorgestellt werden, die die zeitgenössischen Medien propagierten. 1

Siehe Kap. V.3.2.2.

2

Dieser sowie Soulouque und der mexikanische Ex-Kaiser Agustín Iturbide (siehe auch dessen Funktion bei Tocqueville in Kap. III.3.2.1) sind die einzigen nichteuropäischen Exemplare im Despotenkabinett der Châtiments, siehe V. Hugo: Les Châtiments m . 8 , IV. 11, V.7, VI.5, VI. 14,

vn.i3.

10 Todorov hat bereits in La conquête de l'Amérique - La question de l'autre am Beispiel der für die neuzeitliche Episthemolgie grundlegenden Begegnung mit den Ureinwohnern Amerikas darauf verwiesen, daß die Fremdwahrnehmung sowie die Darstellung der Fremden von der Eigenwahrnehmung in der zuvor bekannten Welt abhängt. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu betonen, daß das Bild des Fremden nicht ausschließlich von der eigenen Weltsicht abhängt, sondern von weiteren Faktoren: So resultiert etwa die Entwicklung der argumentativen Strategien eines Las Casas von der Brevissima Relation zur Apologetica Historia nicht nur aus einem veränderten Religions Verständnis3, sie ist auch wesentlich von der Textsorte, den Adressaten, der jeweiligen politischen Konstellation und von der Inquisition beeinflußt 4 . Wenn also in diese Untersuchung die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts gerade etablierenden Massenmedien einbezogen werden, so muß der Interpret sowohl die Gattungsgrenzen, als auch die besonders in der Zeit der Zweiten Republik und des Zweiten Kaiserreichs wechselnde Rolle der Zensur ständig berücksichtigen. Erst eine Analyse des Text- und Bildmaterials, die die Interdependenz der drei Faktoren: Medien, staatliche Instanzen und Autoren- bzw. Künstler-Standpunkt einbezieht, kann die vielfältigen Neuinszenierungen der Stereotypen über Haiti im französischen Kontext erklären. Nach diesen Prämissen fällt es nicht schwer, die Randexistenz Soulouques in der Sekundärliteratur zu erklären. Konsultiert man die breitangelegten Studien über das Bild der Schwarzen in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts 5 , so erfährt man, daß zu diesem Thema im Second Empire kein qualitativ anspruchsvolles Werk entstanden ist. Seit der endgültigen Sklavenbefreiung 1848 und vor der massiven Kolonisierung Afrikas in der Dritten Republik scheint Frankreich seinen Bedarf an exotischen und rassistischen Bildern hauptsächlich mit Sujets aus dem Orient gedeckt zu haben. Wenn Léon-François Hoffmann in einem Aufsatz beiläufig durchaus die Funktion der Soulouque-Satire erkennt, so bestätigt er damit nur indirekt den obengenannten Befund: N'oublions pas que les moqueries dont Soulouque a fait l'objet ne sont pas uniquement attribuables au racisme des français ou au ressentiment d'avoir perdu leur colonie: Puisque la censure du second empire ne tolérait pas d'attaques contre Napoléon III, l'opposition se voyait forcée d'adopter un langage chiffré. Le lecteur français comprenait bien que lorsqu'un pamphlétaire persiflait l'empereur Faustin 1er, c'est également à un autre empereur, à Napoléon-le-Petit, qu'il s'en prenait. Et

3

Siehe Todorov, S. 152-172 und S. 191-199.

4

Siehe Middelanis, S. 180.

5

Siehe Fanoudh-Siefer, Antoine und Cohen. Ferguson kommt das Verdienst zu, die Literatur über die Schwarzen zwischen 1848 und 1880 bearbeitet und im Kontext der Gobineauschen Rassentheorie systematisiert zu haben. Hoffmann, 1973, S. 222/23, und Antoine, S. 279/80, erwähnen beiläufig die Karikaturen über Faustin I e r , welche dazu beigetragen hätten, Haiti in Frankreich lächerlich zu machen.

11 l'on trouve dans les Châtiments, de V. Hugo, maintes comparaisons de Napoléon III à Soulouque, qui ne sont pas à l'avantage du premier.6 Der Vergleich Napoleon III. - Soulouque kann nicht übergangen werden, weil ein prominenter zeitgenössischer Kritiker Louis-Napoleons, Victor Hugo, ihn in die Sphären der politischen Lyrik erhoben hat. Im Falle der den Motiv-Forschern durchaus bekannten Vaudeville-Stücke wird der Rassismus-Vorwurf ungleich schneller erhoben. Die Vorläufer, auf die sich der exilierte Dichter bezieht, werden bei Hoffmann zu anonymen "pamphlétaires". Weswegen der uninformierte heutige Leser nicht ahnen kann, daß sich hinter diesem Kollektivbegriff Journalisten aus allen Sparten der Pariser Presse verbergen. Zeitgenössische Kritiker des Staatsstreichs von Louis-Napoleon, etwa Marx, Hugo, Ténot oder Taxile Delord, stellen ihn als Nachäffer von Faustin I er aus Haiti dar. Die aktuelle Historiographie des Second Empire zieht es jedoch vor, den Spitznamen "Badinguet"7 zu tradieren oder auf Daumiers Ratapoil (Abb. 107) als Karikatur Louis-Napoleons zu verweisen und über die Soulouque-Satiren zu schweigen. Sicherlich kommt dem Knüppel-Helden aus Paris eine größere historische Bedeutung zu, repräsentiert er doch jene Klasse, das Lumpenproletariat, deren politische Funktion zum ersten Mal von Marx im 18. Brumaire des Louis Bonaparte beschrieben wird. Dennoch mag es noch heute als Zumutung erscheinen, wenn der Gastgeber der "fête impériale" mit einem schwarzen Kaiser verglichen wird. Eine Arbeit über das Haiti-Bild in der französischen Presse dieser Epoche liegt nicht vor8, überdies haben vergleichbare Studien, wie etwa die von Jacqueline Covo über das Bild von Benito Juárez während der Mexiko-Expedition, Schwierigkeiten, die spezifischen Strategien der satirischen Presse zu würdigen. Illustrationen und Karikaturen dienen, wenn sie überhaupt erwähnt werden, als Bildbelege für die im Text aufgefundene Tendenz. Etwaige Differenzen zwischen beiden Satire-Gattungen werden nicht thematisiert. Auch Jeismanns umfangreiche Studie über die Entwicklung des "Feindbegriffs" in Deutschland und Frankreich, die unter anderem ausführlich auf die Kriegspropaganda von 1870/71 eingeht, weicht von dieser Praxis nicht

6

Siehe Hoffmann, 1976, S. 92, Anm. 7.

7

Während der Juli-Monarchie hatte Louis Napoleon zwei Putschversuche unternommen, 1836 in Straßburg und 1840 in Boulogne. Nach dessen Scheitern wurde er zu lebenslanger Haft in der Festung Ham verurteilt, aus der er 1846 in der Verkleidung eines Maurers namens Badinguet floh. Ein weiterer Spottname wurde aus den Anfangssilben der drei Putschorte gebildet: "Boustrapa".

8

Für die deutsche Historiographie zu Haiti bis 1848 bietet die Dissertation von Karin Schüller reichhaltiges Material. Uerlings geht ausführlich auf die deutsche Presse der Revolutionszeit ein, um Kleists Novelle Die Verlobung von San Domingo kritisch zu würdigen. Ein ähnlicher Themenkreis wird bei Zantop, allerdings ohne Bezug auf Uerlings analysiert. Sie integriert auch zeitgenössische Grafiken. Weniger differenziert und übergreifender stellt Christine Benn die Rezeption der haitianischen Revolution in der englischsprachigen Literatur dar.

12 ab9. Eine originelle Begründung für die Nichtbehandlung von Karikaturen lieferte Wenger in seiner Studie über das Preußenbild in Frankreich, indem er auf die Einschränkungen der Karikaturisten "an der freien Entfaltung ihrer Kritik" durch die Zensur verweist 10 . Auf diese Weise verhindert man den Zugang zu den chiffrierten Verweissystemen, die die Bedeutung von veröffentlichten Texten und Bildern unter repressiven politischen Bedingungen konstituieren. In den vergangenen Jahren hat das Interesse der Kunstgeschichte an der Karikatur zugenommen 11 . 1989 wurde auf dem Frankfurter Kolloquium Die Karikatur zwischen Republik und Zensur12 von mehreren Teilnehmern eine Analyse gefordert, die andere Text- und Bildmedien integriert. Die Notwendigkeit eines solchen methodischen Zugangs belegt etwa Kunzles monumentale Studie über den Comic im 19. Jahrhundert. Der Autor dokumentiert Chams und Nadars Soulouque-Karikaturen/Comics und erkennt auch im letzteren Falle den Angriff auf Louis-Napoleon, berücksichtigt aber nicht die Charivari-Texte, auf die sich die Karikaturen beziehen13. Zwar ist das Verhältnis von Karikatur und Zensur in der Studie von Goldstein für das gesamte 19. Jahrhundert in Frankreich reich dokumentiert, doch konstatiert er gerade für die rigideste Zensurpraxis während des Second Empire (1852-66) - also die Zeit, die hier von besonderem Interesse ist - mangels dokumentierter Fälle den unpolitischen Charakter der Karikaturen und folgt damit im wesentlichen Blums Résumée über Daumiers Arbeiten 1859: ... le goût public était trop porté vers la frivolité et les effets de théâtre. On témoingnait à la fois de l'admiration et de la curiosité pour ce général noir d'Haïti, Soulouque, venu à Paris visiter les monuments. Une image le montrait commençant à rendre justice aux blanches, c'est-à-dire braquant sa lorgnette sur un groupe de femmes (Abb. 181, CHM). Mais l'intérêt de la caricature politique n'était pas dans ces facéties sur les Chinois et le nègre.14

9 Jeismann erwähnt zwar kurz die unterschiedlichen Intentionen eines Cham und Daumier, siehe S. 216 und S. 222 ff., doch hätten seine Kenntnisse der Materie (siehe Jeismanns Kommentare in A. Stoll (Hrsg.), S. 412-17 u. S. 422 f.) durchaus zur Differenzierung seiner Thesen beitragen können. Gerade Daumiers Preußen-Bilder markieren deutlich den Schnittpunkt zwischen gemäßigt republikanischen Feindbildern und den Karikaturen der Commune, die überhaupt nicht erwähnt werden. Darüberhinaus läßt der Autor die Chance ungenutzt verstreichen, die wechselseitigen Beziehungen zwischen deutscher und französischer Bildsatire zu untersuchen. Letzteres ist bereits von Ursula Koch zum Teil erarbeitet worden. Zur Bildproduktion der Commune, siehe den Katalog: Die politische Lithographie im Kampf um die Pariser Kommune der Arbeitsgruppe, Frankfurt. 10 Siehe Wenger, S. 27. 11 Eine gute Zusammenfassung und Kritik der Forschung bis zum Ende der siebziger Jahre findet sich bei Herding, 1980. 12 Siehe Rütten, 1991. 13 Siehe Kunzle, 1990, S. 105. 14 Siehe Goldstein, S. 179-184 und Blum, S. 176.

13 Zu diesem Urteil kann man nur gelangen, wenn man die innenpolitische Bedeutung Soulouques, die in der Zweiten Republik entwickelt worden ist, außer Acht läßt. Ferner wird gerade in dieser Zeit die Lesekultur des Dechiffrierens entwickelt, auf die sich dann die Karikaturisten der späten 1860er Jahre in ihrer Auseinandersetzung mit der Zensur berufen 15 . Für die liberale Endphase des Second Empire und den Krieg von 1870/71 hat Murphy eine Studie vorgelegt, die die Abrechnung Rimbauds mit der "ménagerie impériale" analysiert. Dabei bezieht er die zahlreichen, kaum chiffrierten Karikaturen ein und die zu diesem Zeitpunkt öffentlich zirkulierenden obszönen Spottgedichte. Auf deren Inhalt wird nur in ganz wenigen publizierten Soulouque-Satiren angespielt (siehe Kap. V.4.2.5). Die in dieser Epoche explizite Bedeutung der Denunziationszeichen verhindern, daß Murphy auf deren Vorgeschichte während der repressiven Pressepolitik Napoleons III. eingeht. Selbst in Haiti, wo man die Parallelisierung zwischen dem französischen und dem haitianischen Bonapartismus nicht vergessen hat 16 , werden die Cham-Karikaturen oder die Artikel von Gustave d'Alaux als Beleg für den französischen Rassismus gegen die ehemalige Kolonie angesehen, ohne daß sie systematisch in ihrem PresseUmfeld untersucht würden. Das Schweigen über den Bekanntheitsgrad Soulouques während der Regierungszeit Louis-Napoleons erklärt sich also nicht so sehr aus der Unkenntnis der Quellen, sondern vor allem aus den methodischen Prämissen, die einen Zugang zu den intermedialen Beziehungen eher verhindern.

2 Gegenwelten Seit der dialektischen Entwicklung der Revolutionen in Frankreich und Haiti 17 hat die Projektion der innergesellschaftlichen Verhältnisse Frankreichs auf Haiti eine Tradition. So schreibt Charles de Rémusat 1826 im Globe: 15 Goldstein, S. 185, stützt sich hier auf die nach 1871 gelieferten Beschreibungen der chiffrierten Bildsprache von Charles Gilbert-Martin und Léon Bienvenu, illustriert aber diese Verfahren nur an dem zensierten Material; das nicht zensierte Umfeld bleibt wegen des Langzeitcharakters der Studie ausgespart. Daß Soulouque bei Goldstein nicht erwähnt wird, liegt an der Beschränkung auf die Karikaturen-Zensur; er hätte zwar auch dort Hinweise auf ihn gefunden (siehe Kap. V.4.2), aber ebenso in anderen Bildmedien, wie Likörflaschenetiketten (siehe ebenda), oder in der Theaterzensur (siehe Kap. III.4.2). Zur Theaterzensur siehe Krakovitch, die allerdings auch nicht ausführlich den Fall der Nuit blanche dokumentiert und für die Darstellung der Zensurpraxis im Second Empire sich hauptsächlich auf die Verteidigungsschrift des Zensors Hallays-Dabot beruft. 16 Siehe Gouraige, S. 42; Max Dorsinville, S. 203; und Jean Desquiron, S. 238. 17 Yves Benots Studie La Révolution française et la fin des colonies weist minutiös nach, daß die Radikalisierung der Revolutionäre in der Karibik eine Abfolge von Reaktionen auf das widersprüchliche Verhalten der Revolutionäre in der Metropole war.

14 La révolution de Saint-Domingue offre dans un cercle plus resseré, mais avec des caractères plus saillants, les mêmes passions, les mêmes intérêts, les mêmes préjugés que notre révolution.18 Auch Saint-Marc Girardin greift in dem berühmten Artikel (Journal des Débats, 8.12.1831), wo er anläßlich des Aufstandes der "canuts" in Lyon das Proletariat als "nouveaux barbares" 19 definiert, auf einen Vergleich mit dem Aufstand in Übersee zurück, wenn er den Protest der Textilarbeiter als "espèce d'insurrection de Saint-Domingue" bezeichnet. Die revolutionären Vorgänge in Haiti erfüllten zwei Funktionen: Sie dienten als Metapher für die jeweils bedrohlichste Sozialrevolutionäre Bewegung in Frankreich, und sie blieben ein Fanal für alle Sklavenhalter, damit bestätigten sie die These, daß die Schwarzen nicht mit der Freiheit umgehen können, - oder sie waren, aus der Sicht der Reformer, ein Modell-Fall, den es um jeden Preis zu verhindern galt. Die ehemalige Kolonie ist also bereits vor 1848 in mehrfacher Hinsicht Frankreichs "miroir déformant" 20 . Das Bild vom Zerrspiegel hat im erwähnten Kontext vor allem denunziatorischen Charakter gegenüber Unterschichten und ihren politischen Agenten. Die Parallelität zweier Kaiserreiche dehnt die Vergleichsmöglichkeiten potentiell auf alle Straten der Gesellschaft aus, so daß die nach außen projizierten Barbarenkonzepte durchaus denen entsprechen, die in Frankreich zur Stigmatisierung anderer sozialer Gruppen benutzt werden, daß aber auch das eigentliche Ziel der Barbarisierung der Fremden im Ans-Licht-Bringen der barbarischen Grundlagen der eigenen Gesellschaft aus der politisch organisierten Verdrängung bestehen kann 21 . Als Herrschafts- und Sittenkritik hat die satirische Brechung der heimischen normativen Verhaltenskodices im Bild der Anderen in der französischen Literatur eine lange Tradition von Montaigne über Montesquieu und Voltaire bis hin zu Daumiers in den 1840er Jahren entstandener Serie Voyage en Chine. Für die zahlreichen Projektionsräume der unter den Zensurbedingungen des Second Empire operierenden Satire Daumiers ist in den Artikeln des von André Stoll herausgegebenen Ausstellungskataloges Die Rückkehr der Barbaren - Europäer und 'Wilde' in der Karikaktur Honoré Daumiers aufgezeigt worden, mit welch komplizierten semiotischen 18 Zitiert in: J.-J. Goblot: "Genèse et signification de L'Habitation Rémusat et la Révolution.", in: Ch. de Rémusat: L'Habitation...,

de Saint-Dominuge-, S. X X I V / X X V .

Charles de

19 Zu den semantischen Besetzungen dieses Konzepts siehe Pierre Michel: Les barbares 1848.

1789

-

20 Siehe P. Michel / M. Nathan: "Les principes et la sucrerie: La critique du discours colonial et ses limites", in: Ch. de Rémusat: L'Habitation..., S. LXXXI. 21

Die Auswirkungen des auf die Fremden projizierten Barbarenkonzepts hat für Haiti Laënnec Hurbon in der sehr anregenden Studie Le Barbare imaginaire untersucht. Er zeigt auf, wie die Haitianische Elite im 19. Jahrhundert den Barbarei Vorwurf aus der europäischen Literatur übernommen und unter anderem auf die religiösen Praktiken der bäuerlichen Unterschichten angewandt hat. Diese haben daraufhin wiederum die unterstellten barbarischen Praktiken in ihren Mythenhaushalt als Figurationen ihrer Unterdrückung übernommen und in furchteinflößenden Inszenierungen nach außen gewendet.

15 Strategien der Karikaturist die nach außen gerichteten Feindbilder auf die Repräsentationsbühne des französischen Herrschaftsystems zurückverweist. Die hier vorliegende Untersuchung ist aus der interdisziplinären Bielefelder Arbeitsgruppe hervorgegangen und versucht zu zeigen, daß die in der Text- und Bildsatire zu Tage tretenden Verweisstrategien implizit auch alle übrigen Haiti-Inszenierungen in der Zeit des zweiten französischen und haitianischen Bonapartismus bestimmen 22 . Gerade im Hinblick auf die fiktionale, widerständige Tradition solcher Länderoder Reiseberichte ist im Titel der Begriff "Gegenwelten" gewählt worden 23 . Er sollte nicht mit einigen ähnlichen Konzepten verwechselt werden: Mit dem des "Gegenbildes", das die Satire angeblich als positive Folie der Negativität entgegenhält. Preisendanz hat seinen Vorbehalt gegen eine solche Forderung überzeugend formuliert: (Es) wäre der Erweis fällig, durch welche Mittel und Verfahren die satirische Darstellung es zuwege bringt, daß ihre Negativität für ein positives Gegenbild transparent wird, durch welche Praktiken der Satiriker seine Vorstellung dessen, was sein sollte, 'im Gemüt zu erwecken weiß'. Solange nicht nach den konkreten Bedingungen der Möglichkeit impliziter Gegenbilder gefragt wird, solange bleibt solche Gegenbildlichkeit ein bloßes d u m m y element der Satire Theorie. 2 4

Nicht von ungefähr weist die operationeile Metapher der "Gegenwelten" eine gewisse Nähe zu dem von Terdiman verwandten Begriff des "counter-discourse" auf, wird dieser doch von der zeitgenössischen Massenpresse abgeleitet und ebenfalls auf die Text- und Bildsatire dieses Blattes angewandt. Da der Autor seine Beispiele den ersten zehn Jahren des Charivari entnimmt, kann er in der Diskussion um den Status der Karikaturen-Bildunterschriften vielleicht noch mit Recht Daumier als Teil eines von der Redaktion getragenen, kohärenten "counter-discourse" vermuten und dies gegen die "kunsthistorische" Annahme vom Künstlergenie postulieren. Doch auch für diese Epoche ist es nicht mit dem Hinweis getan, daß eine Absprache zwischen Tex-

22 Einzelergebnisse des aus dem o. g. Katalog sind bereits - auf ein anderes Kontextfeld projiziert - von der Projektmitarbeiterin Elizabeth Childs' im Rahmen ihrer Dissertation Daumier and the Exotic Vision weitergeführt worden. Um Überschneidungen zu vermeiden, hat die Kunsthistorikerin ihre Kommentare zu den Soulouque-Karikaturen nicht sehr ausführlich gehalten und sich hauptsächlich auf das Bildmaterial beschränkt. An dieser Stelle möchte ich Liz Childs' Dank erwidern, für die zahlreichen Gespräche und ihre Gastfreundschaft sowie logistische Unterstützung in Paris. 23 Das von Thomas Bremer, 1982, vorgeschlagene Konzept "Haiti als Paradigma" wäre durchaus sinnvoll, wenn er es an die französische Wirklichkeit rückgebunden hätte und nicht als paradigmatisches Beispielfeld für Revolutionen in der Dritten Welt ausgegeben hätte. Dies ermöglicht zwar, literarische Werke wie die von Hugo, Lamartine, Kleist, Wordsworth bis hin zu Graham Greene, Alejo Carpentier und "James Bond" vergleichbar zu machen. Indes geschieht dies auf einer zu allgemeinen Ebene, die kaum angemessen den Stellenwert der Haitianischen Revolution in den diversen Nationalliteraturen erklärt. 24 Siehe Preisendanz, S. 415.

16 tern des satirischen Tagesblattes und Lithographen betreffs der Bildlegenden unterstellt werden könne. Das Bild der C/ian'van'-Redaktion würde insbesondere im Hinblick auf die Kommentierung aktueller politischer Ereignisse modifiziert werden, wenn man den Dialog der Artikel miteinander, ihre Bezüge zu anderen Presseorganen sowie die Reaktionen bzw. Vorgaben der Zeichner in die Untersuchung mit einbezöge: Aus der homogenen Textur einer Redaktion würden dann die Profile unterschiedlicher "counter-discourses" hervortreten. Der Befund einer solchen widerständigen Stimmenvielfalt ergibt sich allerdings nicht nur für die satirische Presse, sondern ebenso für das ganze Spektrum der Haiti-Kommentare: daher der Plural "Gegenwelten".

3 Rassismus Die Möglichkeit, daß die Stereotypen über die Schwarzen durch die satirische Brechung auf die Autoren dieser Bilder zurückfallen, setzt beim Satiriker ein Bewußtsein für die rassistischen und /oder imperialistischen Grundlagen solcher Bilder voraus. Nun wird gerade diese Annahme von Ferguson in den Schlußfolgerungen seiner Arbeit in Frage gestellt: It remains to be considered, moreover, whether any contemporary writer completely eschews the racial stereotype and, indeed, whether the concept of racism itself is necessarily a relevant criterion in the assessment of the period's writing.25 Man muß in der Tat danach fragen, ob das Kriterium des Rassismus überhaupt adäquat ist, wenn der Begriff selbst - gemäß der Etymologie des Petit Robert - erst 1930 Eingang in den französischen Wortschatz fand. Ein Blick in die tonangebenden Zeitschriften des Second Empire soll die Debatten um den Rassenbegriff beleuchten. Trotz allem unsystematischen Gebrauch des Begriffs "race", den man bei den Zeitgenossen Gobineaus vorfindet, sind zwei Definitionsansätze zu unterscheiden: Die biologische, das heißt in der Regel (natur-) wissenschaftliche, Ableitung einerseits, und andererseits diejenige, die im weitesten Sinne auf zivilisatorische Differenzen zurückgreift; dabei ist es unerheblich, ob sich die Autoren den Monogenisten oder Polygenisten zurechnen 26 . Exemplarisch führt A. Sudre 1859 in der Revue EuroIS Siehe Ferguson, S. 307. Das Stereotyp des Schwarzen definiert Ferguson wie folgt: "The fundamental stereotype has invariable features and connotations - blackness, ignorance, inferiority which are common to each of its dependent sub-types...", S. 303. Die Möglichkeit, daß eine schwarze Fiktionsfigur als Satire auf einen Weißen angelegt ist, sieht Ferguson durchaus, etwa im Falle von Simon Boubées Mangroléon Ier, roi du Kaor-Tay als Karikatur Gambettas, siehe S. 300. 26 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier die Rezensionen in der Revue des Deux Mondes von A. Esquiros, Paul de Rémusat und A. de Quatrefages sowie die von Sudre in der Revue Européenne genannt. Zur Entwicklung des Streits zwischen Monogenisten und Polygenisten bis

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péenne

die A r g u m e n t e g e g e n e i n e b i o l o g i s c h e Rassentheorie ins Feld. S e i n grund-

sätzlicher E i n w a n d g e g e n e i n e angeblich v o n der Natur determinierte hierarchische Ordnung der M e n s c h e n ist die A n n a h m e der Perfektibilität aller M e n s c h e n . B e w u ß t stellt sich der R e z e n s e n t in die Tradition e i n e s B e n j a m i n Constant, der bereits in den 1820er Jahren ähnlich g e g e n die Ü b e r l e g u n g e n zur Rassen-Stratifikation in D u n o y e r s L'Industrie

et la morale

argumentierte. Constant weigert sich, d e s s e n "Spekulationen"

im Hinblick auf ihre w i s s e n s c h a f t l i c h e Fundierung zu untersuchen; g e n a u s o w e n i g beabsichtigt er, in der Tradition R o u s s e a u s einen idealisierten

vorzivilisatorischen

Naturzustand i r g e n d w e l c h e r "bons sauvages" zu postulieren, ihn interessieren hauptsächlich die p o l i t i s c h e n Implikationen einer b i o l o g i s t i s c h e n Definition: De l'infériorité l'asservissement Dunoyer établit lons l'ont répété

reconnue de telle race et de la supériorité de telle autre à de la première, la distance est trop facile à franchir: et ce que M. sans autre but que la démonstration d'une vérité spéculative, les copendant trois cents ans, pour motiver l'oppression la plus illégitime

Les Noirs d'Haïti sont devenus des législateurs forts raisonnables, des guerriers assez disciplinés, des h o m m e s d'Etat aussi habiles et aussi polis que nos diplomates ... Leur constitution vaut mieux que la plupart des constitutions d'Europe. Laissons donc les physiologistes s'occuper des différences primitives que la perfectibilité dont toute l'espèce est douée surmonte tôt ou tard, et gardons-nous d'armer la politique de ce nouveau prétexte d'inégalité et d'oppression. 2 7

zum Ende des 18. Jahrhunderts, siehe Bitterli, Kap. III; die Entwicklung in 19. Jahrhundert ist bei Cohen in Kapitel 8 dokumentiert. In der Dritten Republik, als der Konflikt zwischen Kirche und Staat sich verschärfte, definiert der Grand Larousse unter dem Stichwort: "race" diese mit antiklerikaler Tendenz biologisch und polygenistisch. 27 Siehe B. Constant, S. 94 f. Constants Artikel erschien im Februar 1826 in der Revue Encyclopédique, also kurz nach der Gewährung der Unabhängigkeit Haitis durch Charles X. Der Theoretiker des Liberalismus kritisierte im übrigen die königliche Legitimierung dieses Aktes, siehe ebd., Anm. 1. Ohne sich explizit auf Constant zu berufen, führt auch Tocqueville in seinen Briefen an Gobineau die Freiheit und Perfektibilität des Individuums gegen dessen "materialistische Prädestinationslehre" ins Feld. Er läßt sich dann auf die Festschreibung der Rassenunterschiede ein, um deren gesellschaftspolitische Konsequenzen aufzuzeigen: "Encore, si votre doctrine ..., était plus utile à l'humanité! Mais c'est évidemment le contraire. Quel intérêt peut-il y avoir à persuader à des peuples lâches qui vivent dans la barbarie, dans la mollesse ou dans la servitude, qu'étant tels de par la nature de leur race il n'y a rien à faire pour améliorer leur condition, changer leurs moeurs ou modifier leur gouvernement? Ne voyez-vous pas que de votre doctrine sortent naturellement tous les maux que l'inégalité permanente enfante, l'orgueil, la violence, le mépris du semblable, la tyrannie et l'abjection sous toutes ses formes?", siehe de Tocqueville an A. de Gobineau, 17.11.1853, in: Tocqueville, A. de: Oeuvres complètes, Bd. 9, S. 202/03. Konsequent läßt Tocqueville auch ein rein wissenschaftliches Interesse des Rassisten im folgenden Brief (20.12.1853, a. a. O., S. 205) nicht gelten. Auf dessen Germanophilie anspielend, bekennt er: "Mais je ne suis pas devenu assez allemand en étudiant la langue allemande pour que la nouveauté ou le mérite philosophique d'une idée me fasse oublier l'effet moral ou politique qu'elle peut produire."

18 Die Kritik an dem, was später Rassismus genannt werden sollte, war also den Zeitgenossen durchaus bekannt, sie wurde in den tonangebenden Zeitschriften diskutiert. Rassisten und Perfektibilisten waren sich allerdings darin einig, daß die europäische Zivilisation - im Falle Gobineaus eine vergangene, die feudale - die Norm für alle übrigen sei. Entsprechend wurden aus beiden Modellen imperialistische Praktiken abgeleitet, wobei das zweite durch das Festhalten an der Kategorie Freiheit zumindest die Möglichkeit eines mehr oder weniger selbstbestimmten gegenseitigen Austauschs vorsah 28 . Angesichts aktueller Debatten um die genetische "Prädestination" von Minderheiten, die nicht der Norm entsprechen, scheint es wieder notwendig, auf diese Differenzen hinzuweisen. Zwischen dem ersten Regierungsjahr des Staatspräsidenten Louis-Napoleon (1849), in das die haitianische Kaiserproklamation fällt, und dem Sturz des Kaisers Napoleon III., im Jahre 1870, begleiten Soulouque und Haiti in den unterschiedlichsten "Inszenierungen" die bewegte Entwicklung der französischen bonapartistischen Herrschaft. Die Untersuchung der Variationen dieser Gegenwelten zum heimischen Imperium im Hinblick auf ihre ideologischen und ästhetischen Implikationen sowie auf ihre Interdependenzen wird chronologisch fortschreitend die Arbeit strukturieren. Zur Illustration der fiktionalen Auseinandersetzung mit literarischen Darstellungen Haitis oder der Sklaverei werden in einem ersten Teil einige ausgewählte Beispiele aus der Zeit von 1815 bis 1848 vorgestellt. Gleichzeitig ist dies der Ort, an dem bisherige Literaturkritik zu dem Themenfeld kritisch gesichtet werden sollte. In zwei Hauptteilen wird das Material aus den Satireblättern analysiert. Zuerst die Satireproduktion der Zweiten Republik, der ein besonderer Eigenwert zukommt, da aufgrund der politischen Bedingungen in diesem Zeitraum zumindest die Textzensur noch nicht sehr rigide war, eine größere Vielfalt an Satireblättern der Öffentlichkeit zur Verfügung stand und der Soulouque-Figur andere Funktionen als im Zweiten Kaiserreich übertragen wurden. Im Unterschied dazu bleibt das zu analysierende Material hinsichtlich der Repräsentation des haitianischen Kaiserreichs während des Second Empire bis 1859 notgedrungen auf Texte und Karikaturen des Charivari reduziert, da er das einzige Blatt war, das sich nach dem Staatsstreich noch der politischen Satire widmete. Die anderen überlebenden Blätter Le Tintamarre, Le Journal pour Rire und der später hinzugekommene Le Gaulois bringen Nachrichten aus dem kulturellen Leben und Sittensatire; Haiti erscheint dort nicht mehr. Für den Zeitraum von Soulouques Sturz 1859 bis zum Ende des Second Empire wird innerhalb dieses Kapitels die weitere Entwicklung dieser Satirefigur verfolgt. Zwischen die beiden Kapitel über die Satire ist ein Hauptteil plaziert worden, der die "seriöse" Hintergrundberichterstattung zu Haiti in Artikelserien und Monographien analysiert. Zunächst werden die wichtigsten Schriften über Haiti aus den

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Zur Anwendung dieser Theorien auf Haiti, siehe Kapitel IV, insbesondere I V . 2 . 1 . 2 . 3 .

19 1840er Jahren vorgestellt, damit vor diesem Hintergrund, der Paradigmenwechsel, den das neue Kaiserreich in Haiti, die Zweite Republik und das Zweite Kaiserreich in Frankreich verursachen, schärfer markiert werden kann. Außerdem wird eine Positionsbestimmung der schreibenden haitianischen Oppositionellen zu Soulouque sowohl im Mutterland als auch im Pariser Exil vorgenommen sowie deren etwaige Verbindungen zu französischen Autoren aufgezeigt. Im Verlauf der ganzen Arbeit stellt sich immer wieder die Frage, ob und mit welchen Inszenierungsverfahren es dem Produzenten von Texten oder Bildern über die fremde und die eigene Gesellschaft unter Zensurbedingungen überhaupt möglich ist, die besondere ästhetische und politische Konditionierung seiner Arbeit zu thematisieren. Ein solch selbstreflexives künstlerisches Vorgehen ist nur zu erkennen, wenn man die Simulationsstrategien, die diesen Bilderrätseln zugrunde liegen, in ihren heterogenen diskursiven Bezügen erfaßt. In diesem Sinne ist diese Studie als Archeologie der verhüllten Intentionen zu verstehen.

II Spiegel-Kabinett-Stücke Im Zentrum dieser Arbeit steht die Analyse der französischen Reaktionen auf zwei Autokratien, die etwa zeitgleich beiderseits des Atlantiks ihrem jeweiligen Staat neuen Glanz zu verschaffen suchten. Eine solche Parallelität der Regierungsformen veranlaßte die Zeitgenossen explizit oder implizit, ihre Präsentationschemata einer andersfarbigen Gesellschaft zu hinterfragen: In wie weit waren die Wahrnehmungsmuster, mit denen man die - wenn auch durch die gemeinsame Vergangenheit nicht gänzlich fremden - Anderen belegte, durch Interessen- und Konfliktlagen der eigenen Gesellschaft geprägt? Man mußte im nachrevolutionären Frankreich allerdings nicht erst auf Soulouque warten, um die Instrumentalisierung der Schwarzen durch diverse Ideologien mehr oder weniger chiffriert vor dem heimischen Publikum zu denunzieren. Die großen Studien über die literarische Präsentation der Afrikaner und ihrer Nachfahren im Untersuchungszeitraum, die Hoffmann, Antoine, Cohen und Ferguson vorgelegt haben1, belegen, daß Fiktion, Reiseberichte und historisch politische Essays dem französischen Leser seit der 1825 erfolgten Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis durch die ehemalige Metropole ein breit gefächertes Spektrum an Stereotypen zur Erfassung der ersten Republik freier Schwarzer zur Verfügung stellten. Dabei kann man davon ausgehen, daß alle damaligen Autoren von der Höherwertigkeit der heimischen Zivilisation ausgingen. Schließlich wurden durch die Indemnitätszahlungen an die ehemalige Kolonialmacht und den von ihr zu diesem Zweck gewährten Kredit2 die Abhängigkeitsverhältnisse in einer neokolonialen Variante wiederhergestellt - eine Allegorie (Abb. 1) illustriert und denunziert zugleich ungewollt die paternalistische und imperialistische Grundstimmung gegenüber dem Karibikstaat im

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Hoffmann, 1973, erwähnt Haiti gemeinsam mit anderen Darstellungen von Schwarzen in der Literatur der Romantik, siehe S. 146-266. Antoine nimmt aufgrund des politischen Kriteriums der ersten und zweiten Abolition den längeren Zeitraum von 1794 bis 1848 als eine Einheit. So werden in diesem Kapitel zwar auch die Pflanzerpamphlete seit dem 18. Brumaire vorgestellt, doch der größte Teil der Literatur fällt, wie bei Hoffmann, in den Zeitraum von 1815 bis 1848, siehe S. 167-271. Auch Ferguson greift für seine Typenbildungen immer wieder auf die Werke des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts zurück.

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Die Regierung von Charles X. akzeptierte 1825 die "Gewährung" der Unabhängigkeit Haitis nur unter der Voraussetzung, daß die international isolierte Republik den ehemaligen Pflanzern, vertreten durch den französischen Monarchen, 100 Millionen Goldfranken Entschädigung zahlte. Diese Zahlung sollte durch einen langfristigen Kredit sichergestellt werden. Die politischen, sozialen und ökonomischen Folgen dieser neokolonialen Abhängigkeit für die Entwicklung des jungen Staates untersucht die hervorragende Dissertation von Benoît Joachim.

22 einstigen Mutterland, die im übrigen ebenfalls in zahlreichen französischen Elogen auf die Unabhängigkeit der Schwarzen in Verse gefaßt wurde. 3 Allerdings legten die oben genannten Wissenschaftler, bedingt durch die synoptische Anlage ihrer Darstellungen, weniger Wert auf die Herausarbeitung der metadiskursiven Strategien in den Texten, die die Konditionierung der verwendeten Bilder durch die dominierenden Ideologien der Restauration und der Juli-Monarchie reflektieren. Diese Lücke soll hier anhand einiger Beispiele gefüllt werden. Sie entstammen alle der literarischen Fiktion, da - wie noch im ersten Teil des vierten Kapitels zu zeigen sein wird - Reiseberichte und Essays zu Haiti, die in den 1840er Jahren entstanden sind, keinerlei Problematisierung der zugrundeliegenden Prämissen erkennen lassen. Offenbar versetzen ästhetische Verfahren Autoren leichter in die Lage, die zirkulierenden Projektionsmechanismen, die den Status der Fremden - in diesem Falle der Schwarzen - fixieren sollen, auf ihre Interessengelenktheit zurückzuführen. Zwei Beispiele (Baron Rogers Keledor und Victor Hugos Bug Jargal), die zugleich die unterschiedlichen literarischen Verarbeitungen des Motivs der haitianischen Revolution veranschaulichen, sollen einleitend die Frage klären helfen, ob die Darstellung positiver schwarzer Helden geeignet war, die dominierenden negativen Urteile über Menschen dieser Hautfarbe zu brechen. Eine andere Lösung dieser Aufgabe bietet Mme de Duras' Novelle Ourika. Es handelt sich um die Leidensgeschichte einer jungen Senegalesin, die im Paris der Revolution mit den diversen Diskurssystemen konfrontiert wird, in die die jeweiligen tonangebenden Fraktionen die Afrikaner einsperrten. Die unterschiedlichen postrevolutionären Positionen zum Sklavenhandel und zur Abolition werden ungemein konzentriert in Merimees Novelle 7amango einander gegenübergestellt. Abschließend wird an einigen Karikaturen Daumiers veranschaulicht, welche Distanzierungssignale der Zeichner in die Spottbilder über die genannten Problematiken einbaute. Diese Exempla fiktionaler Spiegel-Kabinette, in denen sich die abwertenden Blicke auf die Fremden brechen, gelten von den Zeitgenossen bis heute zu Recht als das qualitativ Anspruchsvollste, was während der Restauration und der Juli-Monarchie über Schwarze publiziert wurde. Aus diesem Grunde liegen auch bereits einige Interpretationsansätze vor, die die wesentlichen methodischen Annäherungen an die Thematik wiedergeben, so daß die Analyse dieser Werke gleichzeitig mit einer Diskussion über die Methodik einhergeht.

3

Hoffmann, 1973, S. 161-163, faßt Yvan Debbashs Analysen der Oden zusammen.

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1 Die Funktion positiver Helden In einer Situation, in der die früheren Pflanzer von der haitianischen Regierung Entschädigungen fordern und daher die von den Sklaven begangenen Grausamkeiten in den schrecklichsten Farben malen, oder französische Militärs (Descourtilz, Lacroix, Métrai) die Niederlage in Saint-Domingue aufarbeiten und in unterschiedlicher Gewichtung die Brutalität des Guerrillakrieges schildern, ist die literarische Darstellung positiver schwarzer Helden (Kélédor und Bug Jargal) 4 bemerkenswert. Können diese Protagonisten das allgemein negative Bild der Schwarzen aufhellen? Um zu entscheiden, ob diese Frage adäquat gestellt ist, gilt es, die Funktion des positiven Helden im jeweiligen Text zu definieren. In dem Roman Kélédor des Baron Roger berichtet ein früherer Sklave über seine Verschleppung vom Senegal nach Saint-Domingue, seine Flucht in die Berge, die Teilnahme an Toussaints Revolution, den Brand des Cap, das Königreich Christophes und seine Rückkehr in den Senegal. Die Erzählung des Schwarzen wird vom Autor durch zahlreiche wissenschaftliche Anmerkungen - insbesondere zu Westafrika - bestätigt. Der Baron Roger war von 1820 bis 1827 Gouverneur im Senegal. Als überzeugter Sklavereigegner hatte er versucht, mit Musterplantagen den Schwarzen die Produktion für den Export näherzubringen 5 , ein Konzept, das sich stark an Condorcets Vorstellungen über das Verhältnis der Republik zur Kolonie orientiert, wie es letzterer in der zehnten Epoche der Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain darlegt. Kélédor illustriert die Theorie: Ohne exotische Elemente und relativ distanziert werden aus der Rückschau die Ereignisse in Haiti dargestellt, die Monarchie Christophes kritisiert und der Sieg der Republik nicht als Sieg der Mulatten-Elite, sondern als Durchsetzung des besseren Systems vorgestellt. Doch den Protagonisten zieht es zurück in die Heimat, wo er auf der Musterplantage Richard-Tol die Vision des friedlichen Nebeneinander von Franzosen und Afrikanern verwirklicht sieht6. Es ist naheliegend, daß Fanoudh-Siefer diesem Roman wegen seiner positiven Darstellung der Schwarzen und der zahlreichen realistischen Details über die Natur Westafrikas und die Gebräuche seiner Einwohner eine herausragende Stellung in der Literatur über die Schwarzen einräumt, und auch Cohen führt Belege dafür an, daß schon die Zeitgenossen Rogers Werk als Ausnahme- und Minderheitenphänomen an4

Die Besprechung von Lamartines Ende der 1830er Jahre begonnenem Theaterstück, Toussaint Louverture, erfolgt wegen des Bezuges zur Aktualität des haitianisch/französischen Bonapartismus in Teil ni.4.3.

5

In der Realität scheiterte diese Politik sowohl wegen des mangelnden Interesses vor Ort als auch wegen der ausbleibenden Unterstützung durch die Metropole, siehe den Brief H. B. Gerbiers an das Marineministerium vom 25.8.1827, zitiert bei Hargreaves, S. 91.

6

Eine wesentlich weniger euphorische Beschreibung dieser Musterplantage findet sich in dem zeitgenössischen Reisebericht von René Caillié, Bd. 1, S. 188.

24 sahen7. Selbst wenn man das Engagement des Autors gegen die französische Kolonialpolitik würdigen muß, fehlt es doch an einer kritischen Distanz zur Inszenierung des scheinbar idealen afrikanischen Experiments. Die offensichtliche Stilisierung des Schwarzen gemäß den theoretischen Bedürfnissen des Autors wird in keiner Weise thematisiert, im Gegenteil, der reiche Anmerkungsapparat soll den Realitätsgehalt der Fiktion unterstreichen. Insofern ist Fanoudh-Siefers Eingangsfeststellung, daß es sich weder um einen Roman, noch um einen Reisebericht handele, berechtigt. Es handelt sich aber ebensowenig um die Übersetzung einer "histoire locale" (S. 29), sondern vielmehr um einen fiktionalisierten politischen Essay. Ginge es darum, Literatur nach dem Kriterium der größten Anzahl verarbeiteter Quellen8 und der Vielzahl "realistischer" Elemente zu bewerten, so wäre Victor Hugos erster historischer Roman, Bug Jargal, in der französischen Literatur über Haiti eindeutig das herausragende Beispiel für die sprachgewaltige Umsetzung historischer Details in ein fiktionales Werk. Gerade wegen der größeren Nähe zur haitianischen Realität hebt Régis Antoine Bug Jargal als Darstellung einer authentischen Antillenkultur positiv von Lamartines Drama Toussaint Louverture ab, wenn er auch nicht so weit geht wie Mouralis, der Hugos Roman als Vorläufer eines Césaire oder eines Carpentier ansieht 9 . Dagegen hat Bremer zu Recht eingewandt, Hugo würde mit dem Roman eine Reform der Sklavenhaltergesellschaft zu einem aufgeklärten Patemalismus hin betreiben 10 . Beide Positionen gehen aber aufgrund ihrer Fragestellung davon aus, daß das Anliegen des Romans in der Wiedergabe der karibischen Wirklichkeit liege. Tatsächlich stilisiert der Autor das revolutionäre Saint-Domingue entsprechend den Kategorien der Metropole. Die Rahmenerzählung, die zur Zeit der Revolutionskriege gegen England spielt, ist ein eindeutiger Indikator: In einer abschließenden Note merkt der Autor an, daß der Erzähler heldenhaft für Frankreich gefallen sei, kurz bevor die Zivilkommissare ihn wegen des am Lagerfeuer erzählten Abenteuers 7 Siehe Fanoudh-Siefer, S. 29 ff. und Cohen, S. 223. Hoffmann, 1973, S. 182, kritisiert indirekt Fanoudh-Siefer, wenn er die schlechte literarische Qualität des Romans, besonders den allzu offensichtlichen Diskurs des Autors in der Feder des Schwarzen gegen das humanistische Engagement stellt: "On oublie très vite que Kélédor est un Noir. Son odysée est plutôt celle d'un Candide mélancolique qui termine ses jours en cultivant, sinon son jardin potager, du moins sa plantation de canne à sucre." Was immer Hoffmann unter einem "Candide mélancolique" versteht mag, diese Schlußpointe zielt am eigentlichen Problem des Romans vorbei. Es handelt sich bei Roger nicht um einen Desillusionsroman voltairescher Provenienz. Kélédors Schlußvision ist alles andere als ambivalent, es ist die Apologie eines in der Realität gescheiterten Modells. 8 Etienne hat mit viel Akribie die Quellen des Romans verortet, während Debien, S. 306, im Gegensatz zu ersterem, das Werk in den Kontext der Diskussion um die Unabhängigkeit Haitis stellt, wobei Hugo sowohl die Pflanzerinteressen, als auch durch die Ideal-Figur Bug Jargal die Negrophilen bedient. 9 Siehe Antoine, S. 264, Anm. 287, S. 187/88 und Mouralis, S. 65 ff.. 10 Siehe ausführlich Bremer, 1978, und Bremer, 1982, S. 334.

25 in Saint-Domingue als Royalisten, Katholiken, Gegner der Sklavenbefreiung und Girondin verhaften konnten 11 . Diese Notiz kann als Hinweis an den Leser verstanden werden, daß das Interpretationsmuster für die Lektüre in der französischen Revolutionserfahrung begründet ist. Die Beschreibung der "ambassadeurs à bonnet rouge" und die der überseeischen Revolutionäre, die Hugo hauptsächlich zu Mulatten färbt, weisen große Ähnlichkeiten auf. Die Mulatten manipulieren die schwarzen Massen 12 , während der schwarze Königssohn Bug Jargal mit seinen ihm ergebenen "congos" sie sind alle noch nicht zu lange in der Kolonie, um von der Sklaverei korrumpiert worden zu sein - die Greuel der dekadenten Pflanzer (Aristokraten) rächt und für ein Zusammenleben mit den humanen Pflanzern kämpft. Die ausschließlich positive Figur des schwarzen Helden, die Lektion, die er dem Erzähler über den wahren Ehrbegriff erteilt, seine Vorstellung von direkter Rechtsprechung und der Märtyrertod für seine schwarzen Brüder deuten an, daß Hugo das Ideal eines Feudalregenten nach Afrika beziehungsweise nach Saint-Domingue verlegt, weil die mittelalterliche Vision eines gerechten volksnahen Königs im Frankreich der Restauration kaum mehr glaubwürdig erscheint - auch wenn der Dichter zur gleichen Zeit in der Ode Le sacre de Charles X den König als "prêtre et roi" tituliert. Diese Verschiebung einer anachronistischen politischen Vision in die geographische Ferne und auf eine noch nicht von der Sklaverei korrumpierte Fraktion der anderen Rasse enthält allerdings bereits eine erhebliche Dosis an impliziter Selbstkritik angesichts einer gänzlich anderen Aktualität in Frankreich und Haiti 13 . Für die Romane Bug Jargal und Kélédor scheint das Urteil zuzutreffen, das Ferguson über mehrere Texte fällt:

11 Siehe Hugo: Bug Jargal, S. 204. 12 Die Schwarzen entsprechen bei Hugo den Sans-culottes, während er die "petit-blancs" zu Kämpfern für ihre Rasse und die Ehre Frankreichs stilisiert. Es ist bemerkenswert, daß kein französischer Autor im Zeitraum von 1791 bis 1870 den Aufstand der weißen Unterschichten von Port-au-Prince unter der Führung Pralotos, bei dem der Chevalier de Mauduit gelyncht wurde, zum Gegenstand einer Erzählung gemacht hat. In Deutschland hat Theodor Mügge 1835 diesen Aufstand als Höhepunkt des Romans Der Chevalier inszeniert. Auf diese Weise gelingt es ihm - trotz aller Parteinahme für die aristokratischen Ideale Mauduits - die bei Hugo naheliegende Rassencharakterisierang in Klassencharaktere aufzulösen. Siehe auch Schüller, S. 136-142. 13 Eine weitere Parallelisierung von französischer und haitianischer Revolution nimmt Rémusats unveröffentlichtes Theaterstück L'Habitation de Saint-Domingue aus dem Jahre 1824 vor. Es unterscheidet sich von Hugos Roman durch die Abwesenheit eines wie immer gearteten positiven Heldens. Man kann sich allerdings nicht des Eindrucks erwehren, daß die Unterhaltungsfunktion des Stückes den didaktischen Hinweis auf die Sinnlosigkeiten von Revolutionen dominiert. Das Manuskript des Stückes ist 1967 bei der Inventarisierung der Archives municipales in Toulouse aufgefunden und von einer Lyoner Forschergruppe unter der Leitung von J. R. Derré mit informativen Begleitartikeln ediert worden.

26 The negro is either a cunning and cruel révolté (gemeint sind: Tamango und Atar Gull, C.H.M.) or an idealised porte-parole (gemeint sind: Bug Jargal, Ourika und Kélédor) for European ideology. 14

Ferguson geht dabei von der Annahme aus, ein in Europa oder auch in Übersee publizierter Text könne eine authentische Vision der Schwarzen liefern. Dies gilt schlechterdings nicht für die von ihm besprochene Epoche; nicht einmal für die von ihm unberücksichtigten literarischen Texte der Farbigen aus der francophonen Karibik, da diese Autoren nicht nur die europäische Leserschaft mitanvisieren, sondern sich auch an deren ästhetischen und/oder ideologischen Kategorien orientieren beziehungsweise diese abwandeln. In jedem Fall bleiben diese das entscheidende Bezugssystem (siehe auch Teil IV.3.2). Die positiven Helden Hugos und des Baron Roger können deswegen nicht glaubwürdig das Bild der Schwarzen oder Haitis verändern, weil sie nur als Projektionen für in Frankreich gescheiterte politische Modelle dienen. Anstatt dieses Scheitern zu thematisieren, wird mit dem positiven Bild die Fiktion einer Realisierungsmöglichkeit aufrechterhalten. Im Folgenden soll gezeigt werden, mit welchen literarischen Mitteln man die zeitgenössischen französischen Konzepte über die Schwarzen in ihrer Interessengeleitetheit denunzieren konnte.

2 Mme de Duras: Ourika Les romans de Mme de Duras, ..., sont bien de la Restauration, écho d'une lutte non encore terminée, avec le sentiment de grandes catastrophes en arrière.15

Dieses Zitat aus Sainte-Beuves 1834 in der Revue des Deux Mondes veröffentlichten Studie über Mme de Duras' literarisches Werk hätte die Sekundärliteratur, die sich ansonsten so stark an seinem Artikel orientiert, ernster nehmen sollen. Stattdessen wird der Versuch, einem Werk wie Ourika seinen einstigen Status als "Bestseller"16 wenigstens ansatzweise zurückzugeben, damit begründet, daß die Autorin lange vor Frantz Fanon die pathologischen Folgen der Stigmatisierung Kolonisierter beschrieben habe 17 . Wenn es allerdings darum geht, zu erklären, wie die Gastgeberin eines der angesehensten Salons der Restauration zu solchen Einsichten gelangt ist, greift

14 Siehe Ferguson, S. 278. 15 Siehe Sainte-Beuve, S. 722. Antoine, S. 234, weist auf die Verbindung der Frauen- und der Schwarzenfrage in dieser Novelle hin, sieht sie aber in den ideologischen Grenzen der Restauration verhaftet. 16 Lucien Scheler hat die starke Nachfrage nach der Novelle akribisch anhand der Editionsgeschichte rekonstruiert. 17 Siehe O'Connell, S. 56, und Crichfield, S. 54/56.

27 man gern auf die von Sainte-Beuve bereitgestellten Erklärungsmuster zurück 18 : Pretest gegen soziale und rassische Vorurteile aufgrund des girondistischen Erbes ihres Vaters - der Duc de Kersaint ließ unter der Guillotine sein Leben und der nach außen gezügelte Wunsch, grenzenlos lieben, aber auch politisch einflußreicher zu sein, womit auf ihre Beziehung zu Chateaubriand angespielt wird 19 . Im Gegensatz zum Stil ihres berühmten Briefpartners, der ein Meister im Darstellen von Tropengewittern war, attestiert Sainte-Beuve ihr einen voltaireschen Stil, mit dem sie wohl die Gewitter ("orages"), die unter der schillernden Oberfläche ihrer Gesellschaft und ihrer Person tobten, in eine ansprechende Form ableite. Obwohl der Literaturkritiker nur fünf Jahre nach dem Tod der Autorin schreibt, erscheint die Restauration als längst vergangene Epoche, die diffus angesprochenen Unruheherde als überwunden. Wie persönliche Erfahrungen, literarische und politische Modelle in Ourika verarbeitet werden, bleibt auch bei ihm unklar, wenn man davon absieht, daß Mme de Duras mit Mme de Staél und Mme Roland verglichen und gegen die dem Ancien Régime verpflichteten Schriften der Mme de Souza als näher an ihrer Epoche positiv abgegrenzt wird. Stattdessen berichtet er, die halbe Erzählung sei in einer Nacht auf den Wunsch ihrer Salonbesucher niedergeschrieben worden und habe das reale Leben einer Senegalesin zum Gegenstand, die zweijährig der maréchale de Beauveau vom Chevalier de Bouffiers aus der Kolonie mitgebracht wurde. Bereits vor Sainte-Beuve hatte ein Raubdruck die nicht besonders raffiniert kaschierten Initialen "chevalier de B." und "madame de B." identifiziert 20 , wobei das Original schon den "chevalier de B." als Gouverneur des Senegal kenntlich gemacht hatte. Es bestand also für alle folgenden Interpreten kein Zweifel an der Identität der Romanfiguren. Dabei hat niemand die offensichtliche Differenz des Todesdatums der realen Ourika - sie starb sechzehnjährig 1799 - und das der fiktiven Figur - die als Nonne während des Empire stirbt für signifikant erachtet. Sonst hätte man erkennen müssen, daß mit Ourika auf sehr originelle Weise eine schwarze Frau als Indikator für bestimmte ideologische Veränderungen in Frankreich von 1780 bis 1804 geschaffen wurde. Erst wenn man diese

18 Siehe Hoffmann, 1973, S. 224. 19 Mme de Duras' nicht gleichwertig erwiderte Liebe zu dem Schriftsteller und Staatsmann ist der Ausgangspunkt für Claudines Herrmanns Vorwort und die Anmerkungen in der von ihr besorgten Reedition von Ourika. Herrmann belegt anhand des Briefwechsels zwischen Mme de Duras und Chateaubriand überzeugend, mit welch geringem Einfühlungsvermögen dieser auf ihre Probleme einging, ihr politisches Interesse abqualifizierte, hauptsächlich seine eigenen Großtaten kommentierte und schließlich durch seine Briefe an andere Frauen den Verdacht seiner Korrespondentin bestätigte, im Ausdruck seiner Gefühle gegenüber der jeweiligen Briefpartnerin nicht besonders differenziert gewesen zu sein. Diese biographischen Einzelheiten sind sicher ein Erklärungselement für die Leiden der Autorin, die es ihr ermöglichten, eine Figur wie Ourika überzeugend zu zeichnen, doch wird Herrmann mit dem Hinweis auf die unterdrückte Liebesfähigkeit der Frauen den ästhetischen und politischen Qualitäten der Novelle gerade auch im Hinblick auf die Frauenfrage nicht gerecht. 20 Siehe Scheler, S. 21.

28 implizite Analyse der Revolutionszeit erkannt hat, wird auch deutlich, welche "luttes non encore terminées" der Restauration gemeint sind.

2.1 Die gebildete Schwarze Das Wesen, das im Salon der Mme de B. heranwächst, ist gleichzeitig ein bekanntes Phänomen aus den aristokratischen Kreisen des Ancien Régime wie auch ein literarisches Unikat. Ourika steht in der Tradition der Schwarzen, die in der Administration der europäischen Höfe durch ihre klassische Bildung Karriere machten und gleichzeitig belegten, daß Schwarze perfektibel sind. Sie sollten 1808 dem Abbé Grégoire in De la littérature des nègres als Kronzeugen gegen die Rassentheoretiker dienen 21 . Ourika nimmt zu Füßen der Mme de B. an deren Empfängen teil; es unterscheidet sie nur die Hautfarbe von den anderen Frauen, die auf diese Weise als Wunderkinder in die Salonkultur hineinwuchsen, wie zum Beispiel Mme de Staël 22 . Doch ist dieser Unterschied entscheidend, denn die Literatur kennt im Gegensatz zum gebildeten Schwarzen keine gebildete Schwarze, die in Paris gelebt hätte. Zwar hat Mme de Staël 1795 mit ihrer vor der Revolution entstandenen Erzählung Mirza eine gebildete Schwarze in die französische Literatur eingeführt, doch ist ihr Schauplatz Afrika, wo genausowenig eine Lebensmöglichkeit für eine Frau besteht, die bereit ist, sich aufgrund ihrer Bildung über Stammeszugehörigkeit und Moralgrenzen hinwegzusetzen. Da Mirzas Geliebter sich nicht von der alten Ordnung trennen kann, nimmt sie sich das Leben. Solch eine Souveränität wird Ourika nicht zugestanden. Mit fünfzehn besitzt sie alle körperlichen und geistigen Eigenschaften, um zu reüssieren, und ihre Gönnerin führt sie stolz auf einem Ball vor, wo sie, Afrika repräsentierend, eine Comba tanzt. Der Erfolg bei den Geistesgrößen ist ihr sicher. Bis zu diesem Moment ihres Lebensberichts sieht sich Ourika nicht als Schwarze, weil sie von allen positiv in der ihr zugewiesenen Rolle bestärkt wird. Da man allerdings für ihr Kostüm Reiseberichte konsultiert, stellt sich heraus, daß offenbar schon zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit bestand, sie künstlich als Exotin von ihrer weißen Umgebung abzugrenzen. Das für alle Lebensbeichten konstitutive Erleuchtungserlebnis wird für sie zum von außen herangetragenen Desillusionserlebnis, das nicht, wie etwa im Pikaro-Roman, zu einem listigen Kampf gegen die repressive Gesellschaft führt. Ourika belauscht ein Gespräch zwischen ihrer Gönnerin und einer "marquise de ...". Letztere weist darauf hin, daß das schwarze Wunderkind mittlerweile ins heiratsfähige Alter 21 Bei Bitterli, S. 180-203, werden zahlreiche Beispiele überseeischer Gäste aufgeführt. Wenn man von den wenigen gebildeten Farbigen absieht, ergeben sich interessante Unterschiede zwischen Frankreich und England. Die in England freigelassenen Sklaven proletarisierten sich sehr schnell, während die Schwarzen in Frankreich als Hausangestellte und exotisches Requisit ihrer Dienstherrschaft ein relativ gutes Leben hatten. 22 Siehe M. Bosse: "Madame de Staël...", S. 817.

29 gekommen sei, aber kein Mann, der ihren Ansprüchen genügen könnte, sie heiraten werde, da er keinen schwarzen Nachwuchs wünsche. Madame de B. hält dagegen, daß man sie zu einer gewöhnlichen Person hätte erziehen sollen, doch sei dies unmöglich gewesen, vielleicht sei sie so distinguiert, daß sie sich über ihr Los hinwegsetzen werde. Darauf folgt die kategoriale Replik: Vous vous faites des chimères, dit madame de ...: la philosophie nous place au-dessus des maux de la fortune, mais elle ne peut rien contre les maux qui viennent d'avoir brisé l'ordre de la nature. (Mme de Duras, S. 36/37)

Die Angesprochene weist dieses Argument nicht zurück, sondern meint, "madame de ..." sei sehr hart. Letztere, die als kalt raisonierend und inquisitorisch charakterisiert wird, bringt Ourikas Problem durch die Unterscheidung zwischen "fortune" und "nature" auf den Punkt. Das Konzept vom bildungsfähigen Schwarzen geht von der prinzipiellen Möglichkeit des sozialen Aufstiegs aus, während "nature" hier nur den physiologisch definierten Rassenunterschied bedeuten kann. Der Umstand, daß Ourika weit über ihrem Stand erzogen worden ist, deutet an, daß die Blutreinheitstheorien nicht für das einfache Volk gelten müssen und damit auch als soziales Unterscheidungskriterium der Aristokratie eingesetzt werden. Als Ourika wegen der Erkenntnis, nur als Negerin gesehen zu werden, erkrankt, konsultiert man den Begründer der Schule von Montpellier, Barthez 23 . Da die Autorin fast keinen Eigennamen zitiert, kommt ihm eine Signalwirkung zu: ... Barthez, qui m'examina avec soin, me tâta le pouls, et dit brusquement que je n'avois rien. Madame de B. se rassura et essaya de me distraire ... (Mme de Duras, S. 38)

Diese Passage könnte als Beleg für den voltaireschen Stil angeführt werden. Warum diese Parodie einer Untersuchung? Aus Barthez' Schule in Montpellier gehen die physiologischen Studien über die Schwarzen hervor, die deren moralische Minderwertigkeit belegen sollen. Als Beispiel sei hier, auch im Blick auf die Entwicklung der Novelle, die Parallelisierung der physiologischen und moralischen Klassifizierung der Schwarzen aus der 1801 ver-

23 Paul-Joseph Barthez, geboren 11.12.1734, gestorben 15.10.1806 in Paris. Studierte Medizin in Montpellier. In den 50er Jahren in Paris, wo er gute Kontakte zu den Verfassern der Encyclopédie unterhielt, für die er den Artikel "Femme (physiologie)" verfaßte, in dem der Frau, aufgrund ihrer spezifischen Aufgaben für die Fortpflanzung, eine andere Konstitution als die des Mannes zugeschrieben wird. 1761 erhielt er einen Lehrstuhl für Medizin in Montpellier. Dort entwickelte er seine Theorie vom Vitalismus, der das Zusammenspiel aller Organe durch eine allem innewohnende Kraft, das "principe vital", gegen die Wirkkraft der Materie oder der Seele postuliert. 1771 erschien das Werk Nouveaux éléments de la science de l'homme. 1781 wurde er Leibarzt des duc d'Orléans. Im November 1789 verließ er Paris und zog sich während der Revolution in das Languedoc zurück. 1802 wurde er von Napoleon gemeinsam mit Corvisart wieder an die Universität Montpellier gerufen, von wo aus er nach Paris zurückkehrte. Alle Angaben aus dem Dictionnaire Universel von Larousse.

30 öffentlichten Histoire naturelle du genre humain von Virey zitiert, die auf den Arbeiten aus Montpellier basiert: Tous ces caractères montrent véritablement une nuance vers la forme des singes, et s'il est impossible de la méconnaître au physique, elle est même sensible dans le moral. L'homme noir est né imitateur, comme le singe; il reconnaît la supériorité intellectuelle du blanc, supporte assez aisément son esclavage, est très insouciant et paresseux. Ces habitudes annoncent une mollesse naturelle ou innée de l'âme.24 Der gleichen Schule entstammen auch die neuesten Studien über die Frauen, besonders das erfolgreiche Buch von Pierre Roussel Système physique et moral de la femme (1775), dessen Thesen wiederum 1802 von Cabanis, der ebenfalls indirekt von Barthez beeinflußt ist, in dem Werk Rapports du physique et du moral de l'homme aufgenommen werden. Die von Barthez konstatierte organische Differenz, die Feingliedrigkeit und Dehnbarkeit der Gefäße, Muskeln, Bänder und Organe, wird nunmehr auf die Moral übertragen: die Frau sei für Empfindungen (statt für Ideen) und zur Seßhaftigkeit (statt zur Bewegung) prädestiniert 25 . Aufgrund solcher Aporien muß Ourikas erregte Empfindsamkeit als gesund erscheinen. Es ist überdies wichtig, daß Mme de B. sich von Barthez beruhigen läßt, daß also nicht nur die Mme de ... auf die natürliche Differenz vertraut. Diese Episode spielte sich in der Chronologie der Erzählung zur Zeit des Ausbruchs der Revolution ab. Damals forderte Condorcet, noch vom Gleichheitsideal beseelt, das Bürgerrecht für die Frauen und die schrittweise Abschaffung der Sklaverei. Ourikas Umfeld ist schon von einem Naturbegriff überzeugt, der die Differenz betont. Im Gegensatz zu anderen Frauen, die nach dem Ausbruch der Revolution die Salons verlassen, empfangen Mme de B. und, ihr zugetan, Ourika die Revolutionäre weiterhin im Salon. Ourika hofft, von dem "désordre" profitieren'zu können: J'entrevis ... que toutes les fortunes renversées, tous les rangs confondus, tous les préjugés évanouis, amèneraient peut-être à un état de choses où je serais moins étrangère; et que si j'avois quelque supériorité d'âme, quelque qualité cachée, on l'apprécierait lorsque ma couleur ne m'isolerait plus au milieu du monde ..." (Mme de Duras, S. 41) Ourika kann wiederum nur auf das Wirken der nicht-biologischen Faktoren hoffen, wobei das Problem darin besteht, daß der "monde" nach wie vor der gleiche ist, und 24 Aus J.-J. Virey: Histoire naturelle du genre humain, Bd. 2, Paris 1824 2 , S. 3/4, zitiert bei Hoffmann, S. 125. Jules-Joseph Virey, geboren 1776 in Hortes, gestorben 1847 in Paris. Verteidigte den Vitalismus gegen Lamarck. 1801 veröffentlichte er die Histoire naturelle, 1825 De la femme sous les rapports physiologiques, moraux et littéraires, siehe Larousse: Dictionnaire universel. 25 Claudia Honegger weist darauf hin, daß die physiologischen Theorien zuerst auf Schwarze und Irre angewandt und dann erst auf die Frauen ausgeweitet wurden. Sie unterstreicht den Einfluß des Salons der Madame de Helvétius, wo Roussel und Cabanis verkehrten; von ihnen ging die Kritik an den auf Erziehung basierenden Entwicklungstheorien des Meisters nach dessen Tod aus, siehe S. 296, S. 300-307.

31 sich sehr schnell herausstellt, daß die radikaler. Theorien nur dazu dienen, Partikularinteressen durchzusetzen. Wenn in der Metropole schon keine Besserung der Situation zu erwarten ist, so haben doch die Schwarzen in Übersee ihr Schicksal selbst in die Hand genommen: Ourika reagiert auf den Sklavenaufstand von 1791 entsprechend ihrer paternalistischen (oder besser "maternalistischen") Disposition: On commençoit à parler de la liberté des nègres: ... comme ils étaient malheureux, je les croyois bons, et je m'intéressois à leur sort. Hélas! je fus promptement détrompée! Les massacres de Saint-Domingue me causèrent une douleur nouvelle et déchirante: jusqu'ici je m'étais affligée d'appartenir à une race proscrite; maintenant j'avois honte d'appartenir à une race de barbares et d'assassins. (Mme de Duras, S. 43)26

Ourika ist ausschließlich auf Mme de B. angewiesen, deren Salon sich nach dem 10. August 1792 schnell leert. Letztere verläßt Paris nach der Guillotinierung des Königs, um sich mit ihrem Enkel Charles und Ourika in Saint-Germain niederzulassen, wo sie durch die Protektion einiger Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses unbehelligt wohnen können. Ihr zweiter Enkel wird ins Exil geschickt, um auf der Seite des Prinzen Condé zu kämpfen. Die Gruppe, die den Salon belebt hat, ist machtlos; Mme de B. muß sich nunmehr auf fremde Kräfte verlassen. Durch die Isolierung erlebt Ourika weder den kurzen Aufstieg und die folgende Repression der politisch engagierten Frauen in Paris noch die Ankunft der ersten farbigen Abgeordneten nach der Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien. Ourika überlebt im inneren Exil als eine Figur, die ihre Existenz den liberalen Salons des ausgehenden Ancien Régime verdankt.

2.2

Geschwisterliebe oder Sicherung des blutreinen Stammbaums? On aurait cru que tous les liens s'étaient resserrés par le malheur: j'avois senti que là, du moins, je n'étais pas étrangère. (Mme de Duras, S. 46)

Die Terreur und die nachfolgende Zeit bis zur Rückkehr der Salonbesucher Ende 1795 schaffen Ourika einen beinahe utopischen Raum, in dem sie und der etwa gleichaltrige Charles sich um Mme de B. kümmern. Dieses Idyll wird noch von einem Priester komplettiert, der sich vor der Revolution über die Religion lustig gemacht hat und nunmehr seiner Rente von zwanzigtausend Pfund nachtrauert. Von 26 Diese Position entspricht der Olympe de Gouges in dem 1792 gedruckten Vorwort zu ihrem Stück L'esclavage des noirs ou l'heureux naufrage (Erstveröffentlichung 1788 unter dem Titel Zamore et Mirza ou l'heureux naufrage), worin die Autorin die Sklaven und Mulatten von Saint-Domingue zur Mäßigung aufruft. Gleichzeitig berichtet sie aber auch von den Provokationen des Club Massiac bei der Uraufführung des Stückes 1789 und über ihre Schwierigkeiten als Autorin. Diese offene Auseinandersetzung in den gesellschaftlichen Debatten gestattet Mme de Duras ihrer Protagonistin nicht.

32 ihm ist also kein wahrer Trost zu erwarten, so daß die drei ihre Seelenstärke aus sich selbst schöpfen müssen. Charles, ebenfalls Waise, aber Enkel der Madame, der das Recht hat, sie "Mutter" zu nennen, hat bereits die Schulausbildung und die obligate Italienreise hinter sich, während Ourika nur den Salon ihrer Gönnerin kennt. Nachdem also die Ausgangslage zwischen den beiden "Geschwistern" nochmals herausgearbeitet worden ist, führt die Autorin sie in einem Szenario zusammen, das an Paul et Virginie oder an Atala erinnert; schon Louis XVIII. bezeichnete Ourika als "une Atala du salon" 27 . Wesentliche Unterschiede zu beiden Werken bestehen darin, daß das ungleiche Geschwisterpaar in Frankreich lebt, und die grundlegende Differenz zwischen beiden weder sozial noch religiös, sondern rassisch ist. Dementsprechend wird eine mögliche Verbindung der beiden überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Ourika berichtet Charles nicht von dem Leid an ihrem Stigma, während er ihr alles mitteilt, so daß sie sich, durch die Schmerzen gereift, weniger als Schwester, denn als Mutter sieht, die nur noch das Beste für ihren Sohn wünscht. Als die Gesellschaft wieder zu ihrem "ordre naturel" zurückfindet, beginnt Ourikas Martyrium von neuem, da den Neuankömmlingen erklärt werden muß, wieso eine Negerin sich in dem Salon aufhalten darf. Ihr einziger Trost besteht in der Freundschaft zu Charles, auf die sie stolz ist. Doch die Gesellschaft ist nicht zur natürlichen Ordnung zurückgekehrt, um die die "fortune" überwindende Idylle endlich zu realisieren. An Charles wird eine Heiratskandidatin herangeführt, die genau den Anforderungen der neuen Ordnung entspricht: Sie ist eine Aristokratin, die einzige Überlebende ihrer Familie und damit Erbin eines großen Vermögens; hinzu kommen ihre persönlichen Eigenschaften: ... jolie sans s'en douter, et d'une modestie si tranquille qu'on voyoit qu'elle ne devoit qu'à la nature cette charmante vertu. (Mme de Duras, S. 50/51); vergleiche dagegen die Charakterisierung Ourikas im selben Alter aus dem Munde der Mme de ...: elle devient charmante, son esprit est tout à fait formé,..., elle est pleine de talents, elle est piquante, naturelle;... (ebd., S. 35) Die Revolution hat das Ideal der geistvollen, anregenden Frau in das des schönen, zurückhaltenden Wesens gewandelt. Charles ist hingerissen, er will ihr Vater und Mutter ersetzen, ihr Geliebter und Gatte werden. Als Ourika ihn nach längerer Abwesenheit in Saint-Germain wiedersieht und sie sich wie früher beim Spaziergang austauschen, glaubt sie, das alte Glück wiedergefunden zu haben, doch Charles korrigiert sie: Comme autrefois! ... ah! quelle différence! avois-je donc quelque chose à dire dans ce temps-là? ... Elle me donnera son premier amour; tout son coeur s'épanchera dans le mien; ... Quelles délices, Ourika, de penser qu'elle sera la mère de mes enfants, qu'ils puiseront la vie dans le sein d'Anaïs! Ah! ils seront doux et beaux comme elle! Qu'ai-je fait, ô Dieu! pour mériter tant de bonheur! 27 Siehe Scheler, S. 18.

33 Hélas! j'adressois en ce moment au ciel une question toute contraire! (Mme de Duras, S. 52/53) Anai's erfüllt ihre Pflicht und schenkt Charles einen Sohn, was Ourika zu folgendem Kommentar veranlaßt: L'enfant de Charles étoit beau comme Anaïs; le tableau de cette jeune mère avec son fils touchoit tout le monde: moi seule, par un sort bizarre, j'étois condamnée à le voir avec amertume; ... Pourquoi ne me laissoit-on pas suivre mon sort? Eh, bien! je serois la négresse esclave de quelque riche colon; brûlée par le soleil, je cultiverois la terre d'un autre: mais j'aurois un compagnon de ma vie, et des enfants de ma couleur, qui m'appelleraient: Ma mère! Ils appuieront sans dégoût leur petite bouche sur mon front,... (Mme de Duras, S. 58) Alle Frauenperspektiven sind inzwischen auf die eine reduziert: dem Gatten biologisch einwandfreie Nachkommen zu sichern. Da diese die Entwicklung derjenigen spiegelt, die ursprünglich das Erziehungsexperiment an Ourika wohlwollend begleitet haben, projiziert sie die Alternative zu ihrem augenblicklichen Leben zurück auf einen Zustand, den sie damals als schrecklich empfand, der ihr nach den neuen Werten nunmehr positiv erscheinen muß. Die realen freien Frauen in den Kolonien können kein Modell für Ourika sein, da an ihr - als fremdem Körper in der französischen Salongesellschaft - die Durchsetzung physiologischer Modelle zur Kategorisierung der Menschen, zunächst der Schwarzen, dann der Frauen, vorgeführt werden soll. Daß sich gleiches auch für Irre zeigen ließe, beweist das reale Beispiel der einzigen berühmten Revolutionärin, die die Terreur überlebt hat, Théroigne de Méricourt, die nach Charenton eingewiesen wurde 2 8 . Unter diesen Bedingungen kann das Modell der Geschwisterliebe nicht funktionieren. Es genügt aber nicht, daß die Mohrin ihre Schuldigkeit getan hat, sie muß als Schuldige abtreten. Die Anklage formuliert wieder die aus dem englischen Exil zurückgekehrte Mme de ...: ... toutes vos douleurs ne viennent que d'une passion malheureuse, d'une passion insensée; et si, vous n'étiez pas folle d'amour pour Charles, vous prendriez fort bien votre parti d'être négresse. (Mme de Duras, S. 60) Die von der Gesellschaft Stigmatisierte wird kriminalisiert, weil sie als Produkt der Weißen an deren früheren Idealen festhält, die, mit der Praxis konfrontiert, ihre vorgebliche Unschuld verlieren. Nach diesem Vorwurf ist endgültig kein Platz mehr für Ourika in der Salongesellschaft. Nachdem Mme de ... sie mit ihrem ersten Auftritt an Mme de B. gebunden hat, bleibt nunmehr nur noch die Konsequenz, den abgeschirmten Raum zu verlassen, um Nonne zu werden. In der Chronologie der Novelle entspricht dieser zweite Auftritt dem 18. Brumaire. 28 Das für Théroigne de Méricourt gebrauchte Bild der Amazone ist modifiziert in Mme de Staëls Zulma als Modell eingegangen. Bosse, 1988, S. 156 ff., hat Zulma als Figur verortet, die eine mittlere Postion zwischen den politischen Diskursen Théroigne de Méricourts und Mme Rolands einnimmt.

34 Die Welt außerhalb von Salon und Kloster böte Ourika auch keinen Platz mehr. Am 20. Mai 1802 wurde die Sklaverei wieder eingeführt, gleichzeitig wurde jedem Schwarzen der Aufenthalt in Frankreich untersagt, was aber nicht bedeutet, daß es dort keine gegeben hätte, sie starben in den Gefängnissen. (Der einzig bekannte Fall ist der Toussaint Louvertures, tatsächlich sind Tausende deportiert worden 29 .) Am 21.3.1804 wurde der Code Civil veröffentlicht, der Frau und Kinder als Besitz des Gatten definiert 30 . Die religiösen Orden wurden 1801 nach dem Concordat wieder zugelassen; Schulschwestem sollten nun die revolutionäre Forderung nach Frauenbildung verwirklichen. Ourika tritt bei den Ursulinen ein. Da die weltlichen Utopien in der Revolution in der ersten Phase realisiert und danach, gemäß dem Wertesystem der siegreichen männlichen Bourgeois, gewaltsam reduziert worden sind, stellt sich die Frage, ob die von Aufklärung und Revolution angefeindete Religion, nun wieder institutionalisiert, als Heilsgarantin für die schwarze Frau wirksam werden kann.

2.3 Lebensbeichte oder Anamnese? Denise Virieux-Ciamin (S. 98) hebt in ihrer Rezension über die Neu-Edition von Ourika die Ambiguität des Schlusses hervor und fragt sich, ob die Konversion der Schwarzen zur Schwester aller Leidenden authentisch sei. Um dieses Problem zu lösen, gilt es, einen Blick auf die Tradition der Textgattung zu werfen. Auf der formalen Ebene handelt es sich um den Lebensbericht einer Ich-Erzählerin, der in eine Rahmenerzählung eingebaut ist31. Ourikas Darstellung ihres Lebens weist eindeutige Elemente religiöser Konfessionen auf: die verstreuten Anrufungen Gottes, ja sogar Topoi aus den Schriften der Mystiker, die, wie etwa im Falle der Theresa von Avila, formal auf Geheiß ihrer Beichtväter zur Feder greifen, um dann allerdings Manifeste einer eigenständigen religiösen und literarischen Lebens- und Schreibpraxis hervorzubringen 32 . Angesichts dieser Schriften oder auch des souveränen "Moi seul" der Confessions Rousseaus, müssen die fremdbestimmten Erleuchtungserlebnisse der Ourika wie grausame Satiren wirken und erinnern eher an den berühmten Tritt, der Candide aus seinem westfälischen Paradies befördert. Das mystische Gegenüber des göttlichen Geliebten, der als Erfahrungsfigur des gesellschaftlich nicht mehr vermit29 Siehe die detaillierte Aufstellung des Schicksals der Deportierten aus den Kolonien, die von den Brüdern Auguste, 1979, als "contribution à l'histoire de l'expédition française de Saint-Domingue (1802-03)" veröffentlicht worden ist. 30 Siehe Albistur/Armogathe, S. 242. 31 Für Crichfield, S. 45, nähert sich diese Erzählung der klassischen Tragödie an, da bereits zu Beginn der tragische Ausgang abzusehen ist. 32 Zu den Wortergreifungsritualen der Mystiker siehe die brillanten Analysen in: Michel de Certeau: La fable mystique, Paris 1982, und zu Theresa von Avila siehe Stoll, 1984, besonders S. 102 ff..

35 telten Anderen erscheint, wird durch ein Idealbild von Charles ersetzt. Der letzte Satz von Ourikas Bericht, den der Rahmenerzähler mit dem Kommentar versieht, daß sie nach diesen Worten unvermittelt abgebrochen habe, ist eine Erwiderung auf Charles' Widerstände, sie ins Kloster gehen zu lassen: Laissez-moi aller, Charles, dans le seul lieu où il me soit permis de penser sans cesse à vous ... (Mme de Duras, S. 64) Diese abschließende verdeckte Liebeserklärung, führt implizit zu drei einander gegenläufigen Schlußfolgerungen: Ourika akzeptiert einerseits die Kriminalisierung und wendet sie andererseits als Protest gegen Charles' augenblickliche Rolle in Opposition zu den utopischen Möglichkeiten ihres früheren Beisammenseins. Schließlich unterstreicht ihr nachträgliches Schweigen, daß die metaphysische Instanz nicht in ihrem ureigensten Raum mächtig ist, sondern daß die stigmatisierte Figur vielmehr an den uneingelösten Idealen derjenigen, die sie erzogen haben, zugrundegeht. Diese Lesart ergäbe sich, wenn Ourika allein erzählte. Die Interpretation der Novelle wird durch den zweiten Erzähler verkompliziert. Es handelt sich dabei um einen jungen Arzt (Abb. 2), der, gerade aus Montpellier kommend, in Paris eingetroffen ist. Er ist der dritte Arzt, der konsultiert wird, um Ourika zu heilen - auch ihm gelingt es nicht. Er beginnt mit dem, was die Mme de B. nach der Diagnose von Barthez aufgrund weiblicher Intuition anstrebte: Ablenkung, Beruhigung der "imagination" und Verdrängung der negativen Gefühle. Diese Behandlung wird von Ourika mit der Bemerkung abgelehnt, daß sie inzwischen glücklich sei. Doch die Erinnerung bewirkt, daß sie weinen muß. In diesem Moment greift der geschulte Diagnostiker ein und zeigt ihr den Widerspruch zu ihrer vorherigen Behauptung auf. Doch die Nonne bleibt bei ihrer Position. Auch ihre spätere Erzählung wird noch einmal von Tränen unterbrochen, als sie, nach Charles' Vision von Anäis und ihren schönen Kindern, Gott um den Tod bittet. Wieder weist der Arzt auf den Widerspruch zur Gegenwart hin und wieder behauptet sie, Gott habe sich ihrer erbarmt. Ourika hat sich aus therapeutischen Gründen bereiterklärt, ihre Geschichte zu erzählen. Der Arzt dagegen reagiert nur auf ihre körperlichen Symptome. Diese Anamnese ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens würde man in einem Kloster eine Beichte erwarten und zweitens war es gerade eine Beichte, die ihrem Leben die angebliche oder reale Wendung gab, nachdem ein Arzt sie bereits aufgegeben hatte. Der zur letzten Ölung herbeigerufene Priester ist die erste und einzige positive religiöse Figur in dem Werk. Er verhält sich anders als alle anderen, die bereits auf das Äußere mit Erstaunen reagieren: Le prêtre reçut l'aveu de mes fautes: il ne fut point effrayé de l'état de mon âme; comme un vieux matelot, il connoissoit toutes ces tempêtes. Il commença par me rassurer sur cette passion dont j'étois accusée: Votre coeur est pur, ..., c'est à vous seule que vous avez fait du mal; ... Dieu est le but de l'homme: quel a été le vôtre? ... priez Dieu, Ourika: il est là, il vous tend les bras; il n'y a pour lui ni nègres ni blancs:... (Mme de Duras, S. 62)

36 Nachdem der abgeklärte Priester ihr klar gemacht hat, daß vor Gott die Stigmatisierungen durch die Welt nicht zählen, nimmt sie die Affirmation der Gleichheit aller vor Gott zum Ausgangspunkt einer positiven Umwertung ihres Daseins, das sich nunmehr an der Seite der Ausgestoßenen vollenden soll, ohne daß eine radikale Befragung der determinierenden Konditionen ("le but" des bisherigen Lebens), wie sie etwa in den mystischen Schriften vorgenommen wird, vorangegangen ist. Sie invertiert fast in Candideschem Optimismus ihre früheren Anklagen gegen Gott: Grand Dieu! ... pourquoi avez-vous donné la vie à la pauvre Ourika? pourquoi n'est-elle pas morte sur ce bâtiment négrier d'où elle fut arrachée, ou sur le sein de sa mère? ... Pourquoi étoit-elle condamnée à la vie? (Mme de Duras, S. 53); vergleiche nach der Konversion: Dieu, en me jetant sur cette terre étrangère, voulut peut-être me prédestiner à lui; il m'arracha à la barbarie, à l'ignorance; par un miracle de sa bonté, il me déroba aux vices de l'esclavage, et me fit connoître sa loi: ... (Mme de Duras, S. 63) Schon das "peut-être" deutet an, daß das Ziel ihres Lebens nicht in dem Annehmen eines neuen Gesetzes liegt. Darüber hinaus scheint das Kloster dessen Erfüllung nicht zu begünstigen. Ihr letzter Satz legt nahe, daß sie sich nach der Nähe eines Anderen sehnt, der nicht mehr existiert. Zu dem göttlichen Geliebten ist sie nie vorgedrungen; sie hält sich stattdessen an ein Gesetz, das die Kirche als Heilsinstanz zwischen Gott und die Menschen gestellt hat. An Ourika wird verdeutlicht, daß auch ein von befreienden Idealen fremdbestimmtes Wesen sich notwendigerweise für das autoritäre Modell entscheiden muß. Dergestalt konditioniert braucht sie sich nicht mehr vor der "imagination" in acht zu nehmen, da sie diese gar nicht in einem kreativen Sinne nutzen kann. Weder der Arzt noch sie selbst ahnen, zu welchen Erkenntnissen sie gelangen könnte, verließe sie die Prämissen, die für ihre Erzieher wie für den Arzt konsensfähig waren. Nachdem die Medizin versagt und keine wirklich Konfession stattgefunden hat, gibt der Berichterstatter über die Krankengeschichte, die durch die Lehren der modernen Medizin erst ausgelöst wurde, abschließend diesem Leben einen religiösen Sinn und verdeckt so die wahren Ursachen dieser Leidensgeschichte unter dem Mantel des göttlichen Erbarmens: Ourika hatte gebetet: "O mon Dieu! ... laissez-la mourrir comme la feuille tombe en automne." (Mme de Duras, S. 56). Der letzte Satz: "... elle mourut à la fin d'octobre; elle tomba avec les dernières feuilles d'automne." (Mme de Duras, S. 64) Hinter der sentimentalen Fassade der Novelle verbirgt sich weder die Lebensbeichte eines autonomen Subjekts noch die objektive Anamnese eines Mediziners, sondern der implizite Nachweis der Autorin, daß alle zeitgenössischen Sinnstiftungsmodelle exklusiv sind.

37

2.4 Eine Erzählung über die Revolution während der Restauration Zuiück zu Sainte-Beuves Bemerkung, Mme de Duras Literatur handele von noch virulenten Problemen ihrer Zeit. Durch die Wahl ihrer Heldin hat sie die Frauenfrage mit der der Schwarzen verknüpft. An der fremden Figur werden alle Modelle des Exoten oder rassisch Anderen inszeniert. Die ins Unerträgliche gesteigerte Isolierung illustriert die Fremdbestimmung, die für alle Frauen vorgesehen ist, auch wenn die Salonkultur einen Anschein von Freiheit zu erwecken scheint. Mme de Duras situiert ihre Erzählung bewußt in einem sozialen Umfeld, an dessen Renaissance sie während der Restauration maßgeblichen Anteil hat. In diesen Kreisen ist es wieder "schick", sich gegen den Sklavenhandel zu engagieren, was das Thema des Dichterwettbewerbs der Académie von 1822 belegt 33 . Die Schwarzen erwecken wieder Mitleid, man ergreift für sie Partei, so wie sich Mme de Duras auch für die Befreiung Irlands einsetzt. Als sie sich gegen den Krieg in Spanien ausspricht, muß sie sich von Chateaubriand vorhalten lassen, mit dem Herz statt mit dem Kopf zu sprechen 34 . Der wesentliche Unterschied zum vorrevolutionären Protest gegen den Sklavenhandel besteht darin, daß er nunmehr religiös begründet wird. Bereits 1814 richtet Mme de Staël einen Appel aux souverains réunis à Paris zur Abschaffung des Sklavenhandels, in dem sie sich auf die englischen Abolitionisten beruft, die sie als "chrétiens zélés" bezeichnet 35 . In dieser Situation erinnert die Autorin mit ihrer Leidensfigur daran, daß sowohl die Aufklärungsideale als auch die realen Befreiungsversuche der Frauen und Schwarzen in und an der Revolution gescheitert sind, und daß vorrevolutionäre Tendenzen in der Wissenschaft - in einer verhängnisvollen Arbeitsteilung mit der Kirche - während des Empire einen Zustand für Frauen und Schwarze geschaffen haben, der nicht überwunden ist. Trotz allen politischen Engagements ihrer Klasse in der ersten Phase der Revolution ist die Bilanz verheerend und die Salonkultur scheint wiederum im Begriff zu stehen, ihre frühere Liberalität in Evasionsräume zu verlagern. Mit Ourika soll gezeigt werden, daß die Projektion der eigenen nicht eingelösten Freiheitsideale auf die Fremden für diese nicht lebbar ist, und daß das eigene Verdrängen eine Selbstbestimmung verhindert. Ourika ist eine radikale Befragung der aktuellen Lebensbedingungen aus der Perspektive der in der jüngsten zeitgenössischen Geschichte teilweise verwirklichten Befreiungsmodelle. Gleichzeitig ist dieses Werk eine frühe weibliche Positionsbestimmung gegenüber den im ganzen 19. Jahrhundert thematisierten Vereinnahmungsversuchen der Frauen durch Medizin und Religion.

33 Siehe Hoffmann, 1973, S. 153. 34 Siehe Herrmann in: Mme de Duras, S. 20. 35 Zitiert bei Antoine, S. 224.

38 Wie bereits erwähnt, wurde Ourika ein Riesenerfolg, an dem zahlreiche Autoren partizipieren wollten. Hoffmann 36 kommt das Verdienst zu, die Variationen des Themas zusammengestellt zu haben. Sie verzerren durch die Manipulationen der Vorlage, was bei Mme de Duras subversiv verstanden werden konnte 37 : Delphine Gay, die spätere Mme Emile Girardin, befreit Ourika aus der Sklaverei, damit sie vom Glauben der Väter zum wahren findet. Bei Ulrich Guttinger gibt Ourika Gott die Schuld, nicht weiß geschaffen zu sein; sie wäre dieser Hautfarbe würdig gewesen. Gaspar de Pons macht sie zur erotisch unbefriedigten Exotin und Merle / de Courcy bringen sie "petit-nègre" sprechend auf die Bühne, immmerhin erlauben sie ihrer dümmlichen Exotin am Schluß, ihrem Liebeskummer mit einem Selbstmord ein Ende zu setzen. Hier sind bereits alle Unterhaltungsregister gezogen, die später im Zusammenhang mit Soulouques Kaiserreich auf Haiti zur Geltung kommen werden 38 . Es erstaunt daher nicht, wenn Ourika nach diesen Trivialisierungsstrategien als fiktive Frau des haitianischen Kaisers 1849 zu einem anderen Leben ersteht. Das Verfahren der Mme de Duras, eine Fremde nach Frankreich zu holen und dort das Problem der Fremdheit an die innergesellschaftlichen Konflikte anzubinden, wird später auch von den Satirikern der Zweiten Republik und des Zweiten Kaiserreichs angewandt werden.

3 Satiren auf die Sklaverei Wenn Schwarze von den Rassentheoretikern als Karikaturen der Weißen angesehen werden, dann muß eine Satire auf Schwarze als Darstellung der Realität erscheinen. Wenn dann noch Menschenhandel zum Gegenstand des Spottes wird, kann das nur

36 Siehe Hoffmann, 1973, S. 225 ff.. 37 Die einfachste Methode der Lektürelenkung wurde in der 1825 in Paris erschienenen spanischen Übersetzung angewandt, die Veränderung des Titels: Urika - La negra sensible, ó los efectos de una educación equivocada. Es ist wahrscheinlich, daß die Sklavenhalter auf Cuba ein anvisiertes Publikum waren. Humboldt hatte aus Martinique erfahren, daß die Erzählung dort den Protest der Pflanzer hervorgerufen habe, da die Autorin es gewagt habe, nicht nur eine gebildete Schwarze zu zeigen, sondern auch noch eine nicht-kreolische, womit auf die Pflanzerideologie angespielt wird, derzufolge der Schwarze erst die Schule der Sklaverei durchlaufen müsse, um zur Zivilisation zu gelangen, siehe Herrmann in: Mme de Duras, S. 21. 38 Beachtet man die hier vorgelegte Interpretation und das breite Spektrum der Rezeption der Novelle, dann ist Fergusons Urteil über das Werk der Mme de Duras nur in seiner Allgemeinheit zuzustimmen: "Madame de Duras, however, had sought to affirm the suitability of the Negro as an apposite vehicle for tragic experience, and this largely innovatory project together with a growing tradition of abolitionist literature perhaps encouraged later writers to depict black characters not simply as comic stooges, but also as victims and objects of compassion.", siehe S. 174. Die Problematisierung der Determinanten des mitleidenden Blicks und damit auch der "sentimentalen" Gattung, wie es von der Autorin schonungslos am historischen Beispiel vorgeführt wird, ist von Ferguson nicht erkannt worden.

39 den Verdacht des heutigen Lesers hervorrufen, zynisch die Nachfrage nach rassistischen Klischees zu bedienen. Tatsächlich hat diese Thematik die interessantesten Text- und Bildsatiren über Schwarze - und speziell über die weißen Projektionen auf die Schwarzen - vor 1848 angeregt. Zwei Beispiele sollen die Probleme der Verortung solcher Zerrbilder im zeitgenössischen ästhetischen und ideologischen Umfeld veranschaulichen.

3.1 Prosper Mérimée: Tamango Die literarische Qualität der am 4.10.1829 in der Revue de Paris erstmals veröffentlichten Novelle Tamango ist nie ernsthaft in Frage gestellt worden; schon Gustave Planche befand: C'est un récit, ..., qui commence comme une satire, et qui finit comme une épopée homérique ou dantesque.39

Für den heutigen Kritiker stellt sich die Frage, wie eine Erzählung, die gleichermaßen Sklavenhändler und Sklaven zu Satirefiguren macht, moralisch zu rechtfertigen ist. Fanoudh-Siefer bringt das methodische Problem, das den Umgang mit Satire überhaupt erschwert, auf den Punkt: Cette rapide et brillante nouvelle de Mérimée nous pose un petit problème: il nous est difficile de démêler la position de l'auteur.40

Diese Frage klärt Lucette Czyba, indem sie aufzeigt, mit wem Mérimée Umgang hatte. Im Salon von Etienne Delécluze trafen sich regelmäßig die Mitglieder der Société morale chrétienne, aus deren Reihen Auguste de Staël 1825 nach dem Vorbild von Thomas Clarksons Cri des Africains eine Untersuchung über die Zustände auf den Sklavenschiffen in Nantes vorgelegt hatte. Dieser elitäre Kreis habe nach Czybas Meinung zwar Verbesserungen für das Los der Sklaven vorgeschlagen, aber nie die Radikalität eines Victor Schoelcher vertreten. Mérimée habe diese Position 41 unterhaltsam in einer rassistischen Satire illustriert. Hoffmann 42 hält sich erst gar nicht an biographischen Details auf und stellt fest, der Autor führe seinen Held als Liebhaber exotischer Uniformen und Trinker ein und als solcher stürbe er auch. 39 Zitiert in Paturiers Vorwort zu Mérimée, Tamango, S. 283. 40 Siehe Fanoudh-Siefer, S. 34. 41 Siehe Czyba, S. 31 und 37. Die Diskussionszusammenhänge und Lektüren von Mérimée sind bereits 1927 von Vignols herausgearbeitet worden; dieser Studie sehen sich alle späteren Kommentare verpflichtet. 1829 bestand noch kein Unterschied zwischen den Positionen der Société morale chrétienne und denen Victor Schoelchers, dessen Standpunkt zur Abschaffung der Sklaverei sich erst im Laufe der Juli-Monarchie radikalisierte. Noch viel später, lange nach dem von ihm entworfenen Abolitionsdekret aus dem Jahre 1848 kritisierte er die Politik der Entschädigungen, die die Macht der Pflanzer perpetuiert habe, siehe Antoine S. 227 ff.. 42 Siehe Hoffmann, 1973, S. 185.

40 Zu wesentlich weitreichenderen Ergebnissen sind Hainsworth und Little gekommen, die die parodistische Neuinszenierung literarischer Vorlagen wie Aphra Behns Oroonoko, Prévosts Histoire générale des Voyages oder Raynales Histoire philosophique des Deux Indes bis hin zu Bug Jargal nachgezeichnet haben. Beide Kritiker weisen darauf hin, daß zu kaum einem Satz in dieser Novelle nicht eine Vorlage gefunden werden könne. Dies sei aber keineswegs der Ausweis mangelnder Inspiration, vielmehr habe der Autor mit seinen lakonischen Stil ein "patchwork"43 intertextueller Beziehungen entstehen lassen. Den moralischen Effekt eines solchen Verfahrens hat Régis Antoine in seiner Studie zu Tamango folgendermaßen charakterisiert: Que dit finalement ce refus mériméen de l'éloquence, sinon qu'il est indécent de pousser à la place des noirs le Cri des Africains,44

3.1.1 Philanthropismussatire Geht man von diesem Hinweis aus, dann kann die Erzählung sicher als Satire auf den Philanthropismus gelesen werden. Der Kapitän Ledoux benutzt die Kritik der Gegner des Sklavenhandels, um sein Schiff so zu verbessern, daß möglichst viel des "bois d'ébène" gut erhalten in den Kolonien ankommt. Zwei ambivalente Figuren werden als "homme humain" charakterisiert: Der Übersetzer, der den Sklaven "nie etwas Böses getan hatte", und der englische Gouverneur. Der Übersetzer kauft zwar die nicht absetzbaren Sklaven frei und schenkt ihnen die Freiheit, sie nützt ihnen aber nichts, da ihre Heimat zweihundert Meilen entfernt liegt. Auch pflegt der Übersetzer Tamangos Wunden, obwohl oder gerade weil er es war, der den Kapitän auf die Idee brachte, den schwarzen Sklavenhändler gefangen zu nehmen. Der "lieutenant/interprète"45 ist die größte Gefahr für die Konspirateure, da er sie versteht, und sie sich daher einer anderen Sprache bedienen müssen. Als letzter weißer Überlebender schießt er selbst noch eine Kanone ab und tötet die meisten Aufständischen, bevor er massakriert wird. Der Kommunikator zwischen beiden Welten kann als eines der wichtigsten Herrschaftsinstrumente von Ledoux daher nicht auf Gnade hoffen. Der englische Gouverneur von Jamaika verteidigt Tamango gegen den Rebellionvorwurf der Pflanzer mit der Begründung, daß der Sklavenhandel illegal sei, und der schwarze Aufständische daher das Recht auf Notwehr geltend machen könne; überdies habe er nur Franzosen getötet. Wichtiger als dieser Seitenhieb, der die Anglophobie der Leser bedient und gleichzeitig die französischen Philanthropen als fünfte Kolonne Englands abqualifiziert, sind die Folgen der Großzügigkeit des Gouverneurs: Tamango wird zum Lohnarbeiter, und später wird der 43 Tilby zitiert bei Little, S. 30. 44 Siehe Antoine, S. 249. 45 Mérimée verbindet beide syntaktisch so miteinander, daß es sich um die selbe Person handeln könnte, siehe Tamango, S. 300.

41 "fort bel homme" zur "nützlichen" Aufgabe des exotischen Schellenbaumspielers degradiert. Das Leben, zu dem der englische Schiffsarzt die "momie" auf dem Schiffswrack wiedererweckt hat, ist eine grausame Parodie auf das neue Leben des Lazarus. Tamango geht nicht an der Vorliebe der Schwarzen für den Alkohol zugrunde, sein Alkoholismus auf Jamaika ist der des englischen Proletariers. Daß die fortschrittliche Philanthropie ihn in diese Klasse befördert hat, erkennt man am Paradox seines Todes: Er stirbt in den Tropen an einer englischen Krankheit, der Lungenentzündung. 3.1.2 Herrschaftstypen Der eigentliche Gegenstand der Erzählung ist die Opposition zwischen dem afrikanischen Sklavenjäger Tamango und dem europäischen Sklavenhändler Ledoux, die als Konfrontation zweier kulturell unterschiedlicher Herrschaftsstile dargestellt wird. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß sich die Beschreibung des grotesken Kostüms von Tamango stark an Victor Hugos Darstellung Biassous in Bug Jargal orientiert. Ein wesentliches Detail ist allerdings übersehen worden: Mérimée charakterisiert keine seiner Figuren mit den Mitteln der Physiognomik, während bei Hugo Biassous Gesichtsausdruck seinen Charakter widerspiegelt: Sa figure i g n o b l e offrait un rare m é l a n g e de f i n e s s e et de cruauté. 4 6

In Tamango liegt der Schwerpunkt der Beschreibung auf der kulturellen, nicht auf der biologischen Differenz. Die Sklaven werden bei Mérimée von Beginn an in der Rolle abgestumpfter Opfer, erst des schwarzen und dann des weißen Unterdrückers, dargestellt. Auf der Seite der Weißen unterstehen die Matrosen der eisernen Disziplin des Kapitäns, die durch die gemeinsame Hoffnung auf Profit aufrechterhalten wird. Die unterschiedlichen Methoden der Machtsicherung werden in einer Episode, die genau in der Mitte der Erzählung situiert ist, illustriert. Der Ausgangskonflikt ist in beiden Kulturen gleich, die Schwierigkeit der Männer, sich der Treue ihrer Frauen zu versichern: Quand un mari a peur que sa femme ne fasse ce que font bien des femmes en France comme en Afrique, il la menace du Mama-Jumbo. (Tamango, S. 295) Der Brauch des "Mama-Jumbo" ist in diversen Reiseberichten beschrieben worden. Er lieferte immer wieder Anlaß zu Spekulationen über den Aberglauben bzw. über Teufelskulte der Afrikaner. In Mérimées Version scheint zumindest die Unaufgeklärtheit der Frauen im Vordergrund zu stehen, allerdings muß man auf die erzählende Figur achten47: Der Übersetzer schildert das Ritual, wobei er entweder die afrikani46 Siehe Hugo Bug Jargal, S. 173. Den Vergleich hat Czyba, S. 35, herausgearbeitet. 47 Diese Episode ist ausführlich bei Hainsworth analysiert, der an dieser Stelle zu dem voreiligen, aber richtigen Schluß kommt: "... the Mama-Jumbo episode is so conceived as to constitute, under the guise of criticism of the Negroes, an adverse judgement on the intelligence of the

42 sehen Termini oder Vergleiche aus der Nautik benutzt. Auf diese Weise wird unterstrichen, daß er nicht in die fremde Welt eindringt. Die afrikanischen Frauen sollen abergläubisch erscheinen, da er wünscht, seine Frau sei es auch. Ledoux dagegen behauptet, sich der Treue seiner Frau sicher zu sein, da sie wisse, daß er sie verprügeln würde. Als er die von Tamango mit dem "Mama-Jumbo" bedrohte Ayché nicht trösten kann, schlägt er sie einfach, "car on perd patience à la fin" (Tamango, S. 296). Tamangos Strategie, die Sklaven hinter sich zu bringen, indem er sie glauben macht, der Teufel habe ihm die Feile zur Befreiung zukommen lassen - weder die Sklaven noch die Weißen haben bemerkt, daß Ayché sie ihm gegeben hat -, geht implizit durchaus von der Rationalität der Schwarzen aus. Diese hätten nämlich nie alle Weißen massakriert, da sie das Schiff nicht lenken können. Daher fordern sie auch sofort nach dem Massaker, daß Tamango seine Behauptung belegt, er könne den "fétiche des blancs" beherrschen. In dieser Situation bleibt dem Sklavenjäger nichts anderes übrig, als sich, wie Ledoux, auf Waffengewalt zu stützen. Mérimée übernimmt die Klischees vom trunk- und rachsüchtigen, triebabhängigen, verschlagenen und abergläubischen Wilden, um sie der eindimensionalen Modernität eines Ledoux entgegenzustellen. Die Position, die ein solches Bild vom "Wilden" entwirft, basiert nur auf technischer und kapitalistischer Rationalität. Deutungsmuster, die die Dialektik von Unterdrückung und Revolte in der eigenen Kultur fiktional analysieren, erscheinen Ledoux zu vermittelt: Als er im Theater die Vêpres siciliennes sieht, interessiert ihn nur, auf welch engem Raum sich wie viele Leute im Parkett quetschen können. Wieder stellt sich die Frage, ob der Autor die Gewalt der Zivilisation denunzieren oder nur mit der Satire auf die Reflexionsdefizite des Unterdrückers hinweisen will.

3.1.3 Zivilisation und Barbarei Mérimée läßt gar keinen Zweifel aufkommen, worin für ihn der Qualitätsunterschied zwischen Barbarei und Zivilisation besteht: ... aussitôt les esclaves furent remis aux matelots français, qui se hâtèrent de leur ôter leurs fourches de bois pour leur donner des carcans et des menottes en fer; ce qui montre bien la supériorité de la civilisation européenne. (Tamango, S. 290) Dies ist eine der Stellen, die es für Fanoudh-Siefer so schwierig macht, die Autorenmeinung herauszufinden. Handelt es sich um einen Autorenkommentar, oder schließt sich der Kommentar mimetisch der Meinung der Matrosen an? Tatsächlich scheinen diese der Überzeugung zu sein, ihre modernen Unterdrückungsutensilien garantierten ihnen die Herrschaft. Die vermeintlichen Barbaren bestärken sie in dem Glauben. So prüft Tamango die Aufmerksamkeit der Weißen, indem er sich neben Europeans, who are so far from suspecting that the slaves they despise are about to triumph over them. At the same time the sum of the tale, clearly, sets in parallel savagery and civilization, to the greater glory of neither.", siehe Hainsworth, S. 19.

43 einen Matrosen fallen läßt, der gerade fliegenden Fischen - ein Paradox im funktionalen Weltbild - nachschaut, und ihm das Gewehr fortnimmt, es dann aber unter grotesken Bewegungen falsch handhabt; kein Weißer schöpft Verdacht. Während des Aufstandes benutzt Tamango das erbeutete Gewehr als Keule, Ledoux greift ihn mit einem Säbel an. Nachdem Tamango das Gewehr verloren hat, dünkt sich Ledoux bewaffnet als Sieger, doch springt ihm der Schwarze, "aussi agile que les panthères de son pays", in den Arm. Nach längerem Zweikampf stürzen sie zu Boden, und der Afrikaner liegt zuunterst. Wieder ist die Hierarchie gemäß der Zivilisationstheorie hergestellt, doch der Barbar wehrt sich mit dem einzigen Mittel, das ihm bleibt, der ihm unterstellten Bestialität: ... Tamango, étreignant son adversaire de toute sa force, le mordit à la gorge avec tant de violence que le sang jaillit comme sous la dent d'un lion ... puis, se relevant, la bouche sanglante, et poussant un cri de triomphe, il perça de coups redoublés son ennemi déjà demi-mort. (Tamango, S. 300)

Ledoux scheitert, weil er sich zweimal an die Zeichen der Zivilisationshierarchie verliert, anstatt, wie Tamango, die reale Chance zu nutzen. Im Gegensatz zur ähnlichen Thematik der Racheakte von Sklaven beim Aufstand von Saint-Domingue wird zwar ein Bild benutzt, das Kannibalismus evoziert, doch zerstückeln die Schwarzen die Leichen der Weißen nur und werfen sie dann ins Meer. Diese Zerstörung der Körper findet ihre Bedeutung in der Opposition zu Ledoux' Sorge, die schwarze "Ware" intakt zu halten. Nach der Vernichtung der Weißen, tritt die Barbarei der Schwarzen offen zu Tage, sie können nicht mit dem "fétiche des blancs" umgehen. Schon Vignols 48 hat festgestellt, daß der hier geschilderte Fall nicht den realen Revolten auf Sklavenschiffen, die Mérimée gekannt habe, entspricht. Damals nämlich ließen die Aufständischen einige Seeleute am Leben, damit sie zurück nach Afrika segeln konnten. Es liegt also nahe, daß der Autor das Bild des umhertreibenden Schiffes als metadiskursive Transposition einer französischen Debatte einsetzt: Der Anlaß ist der Untergang der Méduse und Géricaults Verarbeitung des Sujets (Abb. 3). 1816 war die Méduse mit Kolonisten in den Senegal geschickt worden, unter dem Kommando eines unfähigen, aber politisch genehmen Kapitäns. Durch Navigationsfehler kenterte das Schiff. 15 Tage lang trieb die Besatzung auf einem völlig überfüllten Floß vor der Küste Afrikas. Auf diesem Floß sicherte der Schiffsarzt Savigny mit brutaler Unterdrückung und Rationierung das Überleben der Stärksten49. Mérimée hat einige Elemente aus dem Bericht Savignys übernommen. So findet man in Tamango auch den Kampf um die Nahrung, das Verhungern der Schwachen, weil ihnen niemand etwas abgibt, oder die Weigerung, Ertrinkende zu retten, damit das

48 Siehe Vignols, S. 548 f. 49 Zum politischen Skandal, der von der Marineleitung vertuscht werden sollte und vom Journal des Débats aufgedeckt wurde, siehe Roger Mercier, S. 53-55 und Rizzo, S. 123-126.

44 Boot nicht übervoll wird. Es fehlt wieder der Kannibalismus, der sogar in Savignys Vorlage für Weiße bezeugt ist. Im Gegensatz zu Géricaults drastischen Leichendarstellungen weigert sich Mérimée, diese dem Leser zu bieten: Pourquoi fatiguerais-je le lecteur par la description dégoûtante des tortures de la faim? (Tamango, S. 305) Hat sich der Erzähler die zeitgenössische Kritik an dem Gemälde zu eigen gemacht, die des Malers Grautöne angriff? 50 Wenn die "bienséance"-Regel eingehalten wird, dann gerade deshalb, um die Lücke zu unterstreichen, die die Lesererwartung mit Bestialität gefüllt sehen möchte, da im Falle von "Neger"-Szenen die Autoren die "bienséance"-Barrieren fallen lassen dürfen oder - gemäß einer rassistisch begründeten aristotelischen Norm 51 - sogar sollen. Die solcherart erreichte Fokussierung auf die durch Herrschaftsansprüche herbeigeführte Katastrophe erlaubt andererseits nicht die von Géricault vorgenommene Stilisierung des Schwarzen zur Hoffnungsfigur, die dem Leiden auf den Roßplanken einen Rettungshorizont aufweist. In Tamango werden mit den Mitteln der Satire konsequent verschiedene Herrschaftsmuster, die sie tragenden Diskurse und ihre selbstzerstörerischen Konsequenzen durchgespielt. Eine Hoffnungsperspektive verbietet sich. Mérimées Satireverfahren besteht darin, jedes Konzept über die Fremden mit der jeweiligen Realität zu konfrontieren. Die permanenten Perspektivenwechsel des Erzählers verunsichern den Leser derart, daß er nie eine eindeutige Position finden oder beziehen kann. Man kann, Antoines Urteil radikalisierend, feststellen, daß es gar nicht darum geht, die Afrikaner ihren Protestschrei selbst ausstoßen zu lassen: Es entsteht überhaupt keine Kommunikation zwischen den Kulturen, den Geschlechtern oder den Menschen allgemein, die nicht Herrschaftsverhältnisse abbildet und letztlich zur Vernichtung der Anderen führt. Durch die Nicht-Anwendung biologischer Rassenmerkmale hält Mérimée an der prinzipiellen Vergleichbarkeit des menschlichen Verhaltens fest, was wohl dazu geführt hat, daß Gustave Planche dem Treiben auf hoher See homerische oder danteske Züge zuschrieb. Die Satire kann allerdings nur durch das Inferno der Herrschaftsdiskurse führen, die Landung im ehelichen Hafen oder der Aufstieg ins Empyreum sind anderen Textsorten vorbehalten.

50 Zur Kritik an dem Gemälde siehe, Rizzo, S. 131/32 und zu Peter Weiß Interpretation des Schwarzen als Befreiungskünder, ebd., S. 133 ff. 51 Eine solche Ästhetik sollte 1850 in der Debatte um Lamartines Stück Toussaint Louverture Jules Janin in der Revue des Deux Mondes einnehmen (siehe III. 4.3.3).

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3.2 Daumiers Philanthropenkarikaturen Daumier hat sich mit dem Problem der Sklaverei während der Julimonarchie im Zusammenhang der Serie Les philanthropes du jour und der Debatten über die Zuckerproduktion beschäftigt. Der Thematik Merimees steht eine Karikatur (Abb. 4) über das "droit de visite", also das Recht, fremde Schiffe auf eine verbotene Sklavenfracht hin zu kontrollieren, nahe. Diese englischen Übergriffe auf französische Schiffe waren seit der Konzession der französischen Regierung 1834 an England höchst umstritten und gehören zu den anglophoben Topoi der Literatur über die Sklaverei 52 . Als 1842 der Vertrag zwischen Frankreich und England über die gegenseitige Kontrolle verlängert werden sollte, protestierten vor allem Republikaner und Bonapartisten gegen die Einschränkung der französischen Souveränität. Victor Schoelcher sah sich veranlaßt, gegen die Republikaner eine Broschüre Du droit de visite zu veröffentlichen, und Lamartine zählt im Parlament am 20.5.1842 alle englischen Grausamkeiten in Indien und China auf, um dann aber Englands einziges humanitäres Engagement, den Kampf gegen den Sklavenhandel, zu loben und die Regierung aufzufordern, den Vertrag zu verlängern 53 . Daumier gibt mit dem hochnäsigen Blick des dicken englischen Seeoffiziers auf die gekrümmten, frierenden Schwarzen genau das Klischee über den rassistisch gefärbten englischen Paternalismus wieder. Der "petit-negre"-Dialog in der Bildunterschrift unterstreicht nochmals die Bildaussage, daß nämlich den Schwarzen Bambusstockschläge drohen, falls sie nicht freiwillig vierzehn Jahre Lohnarbeit leisten. Doch das Bild zeigt im Hintergrund noch eine vierte Figur, die, schadenfroh über die Schulter lachend, sich die Szene ansieht. Das ist der Matrose, der in Daumiers Karikaturen über die französische Marine in Übersee (siehe Abb. 174/175) für das kolonialistische Bewußtsein des Kleinbürgers steht. Die Schadenfreude resultiert aus dem rassistischen Selbstbewußtsein des kleinen weißen Mannes, daß die Engländer sich um rassisch minderwertige Menschen kümmern müssen. Die Karikatur ist durch einen doppelten rassistischen Blick konstruiert, zum einen den des Engländers auf die Schwarzen, zum anderen den des Matrosen auf alle drei Figuren im Vordergrund 54 . Ebenfalls aus der Perpektive des Kolonialisten hat Daumier bereits drei Jahre zuvor die Folgen des Kampfes um Subventionen zwischen Zuckerrübenbauern und Zuckerrohrplantagenbesitzern gezeichnet (Abb. 5). Eines der stärksten Argumente der Befürworter der Zuckerrübe, zum Beispiel Say und Stourm, bestand darin, daß sie

52 Hoffmann, 1973, S. 252 ff., führt zahlreiche literarische Belege für die englische Scheinheiligkeit bei der Kontrolle des illegalen Sklavenhandels an. Vielfach wurde dieser mit einer Piraterie-Romantik verklärt. 53 Siehe Lamartine: La France parlementaire, Bd. III, S. 220. 54 1846 stellte Auguste-François Biard im Pariser Salon ein Gemälde mit dem Titel Droit de visite aus, das dankbare befreite Sklaven zeigt, siehe Honour, S. 150.

46 den Rohrzucker, und damit die Sklaverei, überflüssig machen könnten 55 . In der Parlamentssitzung vom 26.5.1837 unterstützt Lamartine noch diese Logik, um dann sechs Jahre später den Rohrzucker zu verteidigen, unter anderem mit der anti-bonapartistischen Feststellung, der Rübenzucker sei eine Erfindung des Empire und mit ihm untergegangen56. Diese Position ist hier nur deshalb zitiert, weil der Charivari Ende der dreißiger Jahre bonapartistische Positionen vertrat, und die Karikatur also auch aus dieser Perspektive gelesen werden konnte. Offensichtlich sind die Rollen invertiert; der Schwarze hat Fett angesetzt, er braucht nicht mehr zu arbeiten, während der abgemagerte Pflanzer mit der Peitsche gestikuliert. Der ständige Vorwurf gegen die Sklaven, von Natur aus faul zu sein, droht nun Wirklichkeit zu werden, womit seine bisherige Funktion entlarvt wird. Daß diese Karikatur die Pflanzer getroffen hat, belegt eine Anekdote aus Granier de Cassagnacs Voyage auxAntilles (S. 212), der behauptet, in den Sklavenhütten auf Guadeloupe die Wände unter anderem mit Daumier-Karikaturen tapeziert gesehen zu haben. Ob dies nun der Realität entspricht oder nicht, ist nicht von Belang. Da einem Schwarzen im rassistischen System eines Granier kein Kunstverständnis zusteht, greift er naturgemäß zur Karikatur und hält die einzige bis dahin erschienene Daumier-Grafik, die einen Schwarzen zeigt, für den von ihm angestrebten Idealzustand. Schließlich sei noch eine Karikatur erwähnt, in der die gerade besprochene mit einer wesentlichen Veränderung zitiert wird (Abb. 6). Ein begüterter Philanthrop tritt seinen schwarzen Diener, damit er endlich lerne, nicht immer "maitre" zu sagen. Über der Szene prangt ein Gemälde, auf dem ein Pflanzer einen Sklaven auspeitscht. So wird deutlich, woher der Reichtum kommt, der dem Philanthropen sein Rentier-Dasein erlaubt. Wie auch in der späteren Schoelcher-Karikatur (Abb. 108) sieht Daumier das Phänomen des Abolitionismus als Zeitvertreib der Großbourgeoisie an57. Die heute vielzitierte Petition der 1505 Arbeiter gegen die Sklaverei, die Schoelcher am 22.1.1844 beiden Kammern vorgelegt hat 58 , scheint nicht sonderlich den allgemeinen Eindruck korrigiert zu haben. Daumier zeigt in seinen Karikaturen weder Schwarze, die, etwa in der Tradition der frühen Revolutionsphase, um ihre Freilassung bitten, noch kettensprengende Spartaci, sondern Figurationen des rassistischen oder kolonialistischen Diskurses, die sich entweder über Blicke konstituieren oder direkte Gewalt abbilden. Die Schwarzen werden daher auch nicht idealisiert, sondern erhalten je nach Konstellation mehr oder weniger verzerrte Gesichtszüge, wobei gleichzeitig die Weißen keinesfalls dem vielbeschworenen Apollo von Belvedere entsprechen. 55 In der Dekade von 1827-1836 wurde der Zuckerkonsum in Frankreich noch zu 83% aus Rohrzucker und nur zu 15% aus Rübenzucker gedeckt, in der Dekade von 1837-1846 stieg der Anteil des Rübenzuckers auf 36%, während der Rohrzucker auf 63% sank, siehe Cohen, S. 192. 56 Siehe Lamartine: La France parlementaire, 57 Siehe Childs, S. 201 f.. 58 Siehe Alexandre-Debray, S. 108.

Bd. II, S. 366 und Bd. III, S. 351.

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4 Zusammenfassung Es muß darauf hingewiesen werden, daß es sich bei den vorgestellten Texten um die qualitativ besten aus diesem Themenbereich handelt 59 . Die gängigen Verarbeitungen sind bei den Ourika-Variationen angesprochen worden. Alle hier erwähnten Autoren führen rassistische und exotisierende Klischees vor. Im Gegensatz zum Baron Roger und zu Hugo benennen die anderen Autoren jedoch die Funktion solcher Bilder. Umgekehrt idealisiert auch keiner, außer Géricault, die Schwarzen in ihrer Rolle als Opfer, nur Hugo kreiert eine einzelne Ausnahmefigur. Dieser Verweigerung einer Heroisierung entspricht die Kritik an den Philanthropen, denen unterstellt wird, daß sie die Sklavereifrage als hurtianitären Zeitvertreib ansähen, als Evasionsraum vor der selbst erfahrenen oder der ausgeübten Unterdrückung. Elemente dieser Philanthropenkritik decken sich mit der der Sklavereibefürworter. Die radikalste Zerstörung aller möglichen von Weißen für Schwarze ersonnenen Glücksmodelle betreibt Mme de Duras, indem sie sich scheinbar auf den melancholischen Ton der philanthropischen Lyrik ihrer Zeit einläßt und die Isolierung ihrer Heldin betreibt. Verschärft wird dieses Verfahren noch durch die Anbindung an die zeitgenössischen Frauen-Modelle und den konsequenten Bezug auf die soziale Gruppe der Autorin, wodurch der Aufbau von Illusionen umso authentischer wirkt. Die folgende notwendige Desillusionierung weist letztlich weit über die Schwarzenproblematik hinaus und kann als Ausgrenzung der prekären Autorinnenposition angesehen werden, da alle sich ihr anbietenden Literaturmodelle gleichzeitig mit zerstört werden. Keiner der übrigen Autoren geht so weit, zumindest nicht in diesem Beispielfeld. Mérimées Satire funktioniert durch den permanenten Perspektivenwechsel, der die jeweils realistischen Details immer gegen ein vorgeprägtes Wahrnehmungsmuster stellt. Dieses Verfahren wird in einzelnen Szenen auch in Eugène Sues Roman Atar Gull angewandt, doch heben sich durch die Feuilletonromanstruktur die Perpektivenwechsel, die den Szenenwechseln entsprechen, nicht gegenseitig auf, sondern werden aneinandergereiht. Die gelungene Parodie auf den Prix Montyon gegen Ende des Romans geht daher in der Szenenfolge unter.

59 Ferguson ist mit seiner Relativierung der Motivforschung dem hier vertretenen Ansatz recht nahegekommen, wenn er ohne detaillierte Belege feststellt: "Hence, while it is true that black protagonists of Mérimée and Sue are, in terms of characterisation, virtually indistinguishable, it is no less the case that Mérimée's terse and ironic tale creates an effect radically different from that engendered by Sue's prolic melodrama. Equally, if Ourika and Kélédor share many psychological qualities and narrative characteristics, they nevertheless appear in texts directed towards refined sensibilité and didactic realism respectively. Despite the obvious restrictions of the inter-textual orthodoxy, these characters may be seen to serve a number of distinct literary purposes.", siehe Ferguson, S. 279.

48 Beide hier vorgestellten Verfahren - der Verzicht auf exotisches Dekor oder rassistische Zuschreibung bei konsequenter Anbindung der isolierten Schwarzenfigur an die französischen Zustände sowie der rasche Perspektivenwechsel zur Verunsicherung des Leserstandpunktes werden dagegen häufig in den satirischen Texten des Charivari erscheinen. Daumiers Satire entlarvt schließlich den kolonialistischen und/oder rassistischen Blick, indem bei ihm das Bild des Schwarzen mit den Merkmalen zu finden ist, die ihm die Physiognomisten oder Craniologen zuschreiben 60 . Der Weiße, dessen Perspektive das Bild strukturiert, ist der eigentliche Autor der verzerrten Gesichtszüge der Schwarzen und daher die karikierte Figur.

60 Siehe Childs, S. 118-130.

III Faustin Soulouque und die Medien der Zweiten Republik Um 1850 gelangte die Mehrzahl der Nachrichten aus Haiti mit fünf- bis sechswöchiger Verspätung, meist via New York und/oder London, nach Paris. Die wenigsten Blätter verfügten über andere Informationsquellen, wie etwa die diplomatische Korrespondenz. Bis der französische Leser also etwas über ein haitianisches Ereignis erfuhr, war dies bereits durch eine doppelte Selektion manipuliert: zunächst die englische und/oder amerikanische und dann die französische Aufbereitung der englischsprachigen Vorlagen. Dementsprechend druckten die französischen Zeitungen teils widersprüchliche, teils sich ergänzende Berichte am selben Tag oder in kurz aufeinanderfolgenden Zeiträumen, im Falle von Korrespondentenberichten 1 hoben sie deren Authentizität besonders hervor. Eine Analyse der Artikel über Haiti sollte sich aufgrund dieser Vermittlungspraxis weniger darum bemühen, die Manipulationen an den Fakten - soweit diese heute überhaupt noch rekonstruierbar sind - und die Veränderungen gegenüber der angelsächsischen Presse aufzuzeigen, sondern vielmehr darum, die Präsentation der Nachrichten zum Ausgangspunkt zu nehmen. Dieser Ansatz legt nahe, die qualitativen Attribute, die den Protagonisten oder Gruppen zugeschrieben werden, zu erfassen und den bekannten Stereotypen zuzuordnen; denn diese garantieren dem zeitgenössischen Leser die einzigen sicheren Bezugspunkte im Informationenwirrwarr. Auf diese Weise würde aber noch einmal an einer bisher ungenutzten Quelle schon Bekanntes bestätigt. Die eigentliche Frage, warum die Stereotypen funktionieren, ist damit nicht beantwortet. Diese müssen nämlich auf direkte oder indirekte Weise mit den Kategorien verknüpft werden, die dem Leser zur Erfassung seiner eigenen Aktualität zur Verfügung stehen. Dem heutigen Interpreten gibt bereits die damalige Tagespresse viele Hinweise, daß die Artikelschreiber diese Verknüpfungspraxis explizit gemacht haben; die satirische Presse lebt geradezu vom Aufdecken der impliziten Interessen, die die anderen Blätter leisten. Es kann also sein, daß die gleichen Stereotypen unterschiedlichen politischen, sozialen und ästhetischen Konzepten angepaßt und somit gegeneinander abgegrenzt werden müssen. Solche Prozesse können nur chronologisch fortschreitend im Bezug auf die jeweilige französische Aktualität und im intermedialen Vergleich analysiert werden. 1

Hinter der Angabe "notre correspondent" verbirgt sich manchmal auch die vom Außen- oder Marineministerium zur Verfügung gestellte Korrespondenz.

50 Mit diesem Ansatz soll deutlich gemacht werden, daß die Geschichte des Haiti-Bildes in Frankreich vor allem die Geschichte der Veränderung französischer Mentalitäten ist, die sich unter anderem in der Presse manifestieren.

1 Die Berichterstattung über den 16. April 1848 Aus der Sicht der Geschichtsschreibung über Haiti 2 erscheint der 16. April 1848 als das wahrscheinlich wichtigste Ereignis der Regierungszeit Faustin Soulouques. Dies ist auch von den französischen Zeitgenossen vor Ort so wahrgenommen worden 3 . An besagtem Tag eskalierte der Konflikt zwischen Soulouque und der Mulattenelite, deren Gefolgsleute und die schwarzen Unterschichten von Port-au-Prince, die Zinglins, lieferten sich Straßenschlachten. Letztere richteten unter denjenigen Bourgeois, die sich nicht rechtzeitig in ausländische Konsulate retten konnten, ein Blutbad an. Schließlich griff Soulouque ein und stellte die Ruhe wieder her. Die Mulattenführer wurden inhaftiert und 1849 auf Soulouques Befehl hingerichtet 4 . Aber auch der Zinglin-Führer, Similien, wurde 1849 gefangengenommen und starb später im Kerker. Für den Rest der Regierungszeit Soulouques blieb die Mulattenelite politisch entmachtet, die Unterschichten artikulierten höchstens passiven Widerstand. Wie reagiert die Pariser Presse? Die ersten Nachrichten erreichen Frankreich Anfang Juni 1848 in einem Klima sich verschärfender Klassengegensätze. Finden da karibische Klassen-/Rassenkämpfe noch Interesse? Neben der Beantwortung dieser Fragen erlaubt ein Blick auf die damalige Presse, die Rolle zu bestimmen, die Soulouque nach der Meinung der Pariser Journalisten im Rahmen der Ereignisse gespielt haben mag. Später, nach seiner Proklamation zum haitianischen Kaiser 1849, wird ihm nämlich von der französischen Hintergrundberichterstattung (siehe etwa bei Gustave d'Alaux, Teil IV.2.1.1) die Verantwortung für die Massaker zugeschrieben werden.

2

Siehe Madiou, Mémoires Ii, S. 16; Firmin, S. 362; Bouzon, S. 64 ff.; Baur, S. 135-138; MacLeod, S. 40/41. Einer der nicht kontroversen Punkte in der Biographie Faustin Soulouques ist seine Wahl zum Präsidenten im März 1847 als Kompromiß-Kandidat der Senatoren-Clique um die Brüder Ardouin. Außerdem steht außer Zweifel, daß diese Gruppe den ungebildeten schwarzen General, wie schon zuvor seinen Vorgänger Riché, als Marionette ihrer Interessen zu gebrauchen gedachte. Kontrovers ist dagegen bereits die Ursachenermittlung, aus welchen Gründen der neugewählte Präsident sich aus der Vormundschaft der Senatoren und Minister zu befreien suchte: Lag es an der Arroganz letzterer, an seinem plötzlich erwachten Machtstreben oder an beidem? Die Antworten ergeben sich in der Regel aus dem Grad an Zivilisiertheit, den der Autor dem schwarzen Politiker zuzugestehen bereit ist.

3

Die längste und detaillierteste diplomatische Korrespondenz zwischen 1847 und 1859 betrifft dieses Ereignis, siehe Archives des Affaires Etrangères CP Haïti Bd. 16 Raybaud, 6.5.1848, Jannin, 7.5.1848, ebenso den Brief eines Mazin an Levasseur in Paris, o. D. N°241.

4

Siehe Einleitung (IV.3), Anmerkung zu Beaubrun Ardouin.

51 Die Artikel sind über einen Zeitraum von drei Wochen, vom 2. bis zum 24. Juni 1848, gestreut5, was einerseits sicherlich das Resultat der spärlich fließenden Informationen ist, andererseits aber auch ein Indikator dafür, daß die haitianischen Ereignisse nicht zu den wichtigsten gehören. So bringen zum Beispiel weder das Journal des Débats noch das Siècle irgendeine Notiz. Demgegenüber scheinen die beiden konzeptionell sehr verschiedenen Berichte der Presse und des Constitutionnel6, aus anderen als den üblichen englischen Quellen zu schöpfen. Der Constitutionnel liefert eine Fülle von Namen und Ortsangaben, die genaue Kenntnisse voraussetzen 7 . Der Leser erfahrt, daß hinter dem Massaker der General Similien stand, "déjà connu pour son esprit factieux", und daß Soulouque, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, Proskriptionen erließ, denen vorwiegend die früheren Anhänger Rivière-Hérards 8 zum Opfer fielen. Schließlich wird noch erwähnt, daß Soulouque der provisorischen Revolutionsregierung in Paris zur erfolgreichen Revolution gratuliere und daß sich der französische Konsul während der Massaker durch sein selbstloses Eintreten für die Opfer hervorgetan habe. Das Adjektiv "factieux" stellt die Verbindung zur augenblicklichen Situation in Frankreich her, wo die extreme Linke ebenso bezeichnet wird. Derjenige Leser, der weiß, daß die Anhänger Rivière-Hérards vier Jahre zuvor mit dem Sturz Boyers, der sich zur Zeit im Pariser Exil aufhält, die Instabilität des Landes provozierten, findet die Regel bestätigt, daß die Revolution ihre Kinder frißt. Der Akzent dieses Artikels liegt daher eindeutig auf dem Kampf politischer Fraktionen, wenn nicht Klassen. Ganz anders dagegen der Artikel in der Presse, der kaum Namen, dafür aber eine umso detaillierte Beschreibung der Kämpfe in Port-au-Prince liefert 9 . Er bringt die Ereignisse gleich zu Beginn mit dem Abolitionsdekret in Verbindung: Haiti solle den Mulatten in den Kolonien als Beispiel dafür dienen, was passieren werde, wenn sie 5

Die Artikel sind innerhalb der Kolonnen "Nouvelles Etrangères" unter den Rubriken "Angleterre", "Amérique", "Indes Occidentales", "Saint-Domingue" und "Haïti" zu finden. Dieses Schwanken zwischen dem Herkunftsland der Nachricht und der Region, wo das Ereignis stattgefunden hat, gibt keine Auskunft über eine etwaige eurozentrische Position des Artikelschreibers, da Ähnliches auch für Europa festzustellen ist. Ein sicherer Indikator ist dagegen die Verwendung des alten Kolonienamens.

6

"Haïti" im Constitutionnel,

7

Diese Kenntnisse fehlen wahrscheinlich dem Artikelschreiber, da er sonst nicht den falschen Ortsnamen "Mariogane" übernommen hätte. Der gleiche Fehler findet sich in der Presse vom 2.6.1848, die die Nachricht von dem aus New York kommenden Schiff Ellsworth übernommen hat. Aus der selben Quelle schöpft der Artikel der Démocratie Pacifique, in dem beinahe richtig "Miragoane" steht, es fehlt lediglich der Akzent.

9.6.1848; "Derniers événements d'Haïti", in La Presse, 19.6.1848.

8

Rivière-Hérard war 1843 einer der Anführer der Revolution gegen Boyer. Er kann leicht mit Charles Hérard ainé, genannt Rivière, verwechselt worden sein, zumal er als General an dessen Regierung 1843/44 teilnahm, siehe Madiou, Histoire, Bd. VII, Kap. 27 und 28. Die Information ist wahrscheinlich falsch, da die Opfer Soulouques, die Gruppe um die Brüder Ardouin, 1843/44 gegen Rivière-Hérard in der Opposition standen.

9

Die Beschreibung der Kämpfe vor dem schwedischen und englischen Konsulat legen die Vermutung nahe, daß der Bericht des Konsuls Raybauds die Vorlage ist, siehe Anm. 3.

52 die Schwarzen gegen die Weißen aufhetzten und sich nach der Vertreibung der "race européenne" als neue Aristokratie etablierten; sie würden auf bestialische Weise massakriert. Andererseits berichtet der Autor erleichtert und wie zum Beweis einer Bestätigung der "natürlichen" Ordnung der Rassen durch die Schwarzen, daß kein Weißer geschädigt worden sei. Der Artikel schließt: De pareils faits parlent assez haut. Nous espérons qu'ils inspirent à nos gouvernans une sage réserve, et aux hommes de couleur de nos colonies de la modération et de la sagesse. Der Bericht verfolgt zwei Ziele: die Befriedigung der Sensationslust - im Rückgriff auf die Horrorszenen während der Revolution in Saint-Domingue - und die Sicherung der metropolitanen Vorherrschaft in den Kolonien. Beide Artikel, wie auch die späteren Veröffentlichungen des Morning Chronicle, der von einer "véritable boucherie entre les noirs et les mulâtres" 10 berichtet, geben nicht ausschließlich den Schwarzen bzw. den Anhängern Similiens die Schuld an den Massakern. Alle Kommentare, bis auf den ersten der Démocratie Pacifique11, der noch undifferenziert den "peuple" im Aufstand gegen den Präsidenten wähnt, enthalten implizite Hinweise darauf, daß die Regierung ihre Politik nicht zu sehr von den Massen bestimmen lassen solle, um derart blutige Ausschreitungen zu vermeiden. Soulouque wird als Präsident vorgestellt, von dem man nicht genau weiß, ob er nicht in der Lage oder nicht willens ist, den Ausbruch des Konfliktes zu verhindern, der ihn schließlich aber doch beenden und damit seine Macht ausbauen kann. Mit wesentlich größerem zeitlichen Abstand reagiert die Illustration12 auf die Nachrichtenvielfalt aus Haiti. Daher braucht sie nicht mehr mit diffusen Hinweisen auf die französische Aktualität zu arbeiten; die Juniaufstände haben für die notwendige Klarheit gesorgt. Offensichtlich scheinen die karibischen Ereignisse erst jetzt einen illustrierten Artikel wert, den wie üblich eine Korrespondentennotiz begleitet. Dieser kann man entnehmen, daß die Schwarzen auf der Insel aufgrund einer vielleicht berechtigten Unzufriedenheit anarchische Zustände herbeigeführt haben und die Regierung entweder selbst Opfer oder aber machtlos ist. Die Zeichnungen (Abb. 6a) illustrieren eindeutig den Bericht, indem sie im Urwald umherirrende bewaffnete Schwarze und einen sitzenden, Zigarre rauchenden Soldaten zeigen. Das haitianische Chaos gibt Anlaß zu zwei Konklusionen mit Blick auf Frankreich:

10 Abgedruckt in: Le Moniteur und La Démocratie Pacifique am 17.6.1848. Ein weiterer Artikel des Morning Chronicle aus Les Cayes, der am 24.6.1848 im National und im Constitutionnel erscheint, berichtet von den Grausamkeiten der Piquets; der Constitutionnel fügt diesem einen weiteren aus der Times, ebenfalls aus Les Cayes, hinzu, der verdeutlicht, daß Soulouque die Unruhen ausnützt, um die Macht zu usurpieren. 11 Démocratie

Pacifique,

12 Siehe Illustration,

4.6.1848.

19.8.1848, S. 373.

53 Der Korrespondent: "Vous êtes bien heureux, vous autres Européens, de n'avoir affaire qu'à des fous; les fous ne manquent pas ici; mais leur folie est celle des barbares." Antwort der Redaktion: ... l'Europe a également ses barbares qui ont failli rendre ces fous dangereux, et qui ont en effet mis les leçons de leurs docteurs en pratique durant quatre mortelles journées. Angesichts des Schreckens, der der Panser Bourgeoisie nach dem Juni-Aufstand in den Knochen sitzt, wird das rassistische Understatement des realen oder fiktiven Korrespondenten aus der Karibik desavouiert, zugunsten einer prinzipiellen Vergleichbarkeit der Zustände. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß in Paris die Barbarei der Arbeiter besiegt worden ist. Dem Leser soll vorgeführt werden, wie es in der Metropole aussähe, wenn die Nationalgarde nicht gesiegt hätte. Aus diesem Grund soll die Regierung in Haiti machtlos erscheinen, obwohl Soulouque in Wirklichkeit bereits seine Ordnung hergestellt hat. Wenn nämlich nicht nur die Aufstände, sondern auch ihre Beendigung vergleichbar wären, offenbarte sich, was so nur implizit mitgedacht wird: Der Sieg der Zivilisation ist nur mit barbarischen Mitteln zu erreichen. Der schwarze Generalpräsident darf nicht das gleiche getan haben wie der weiße General Cavaignac. Die Rassengleichheit endet hier.

2 Das Second Empire Haitis Im Gegensatz zu den Nachrichten über den 16. April 1848 reagierte die gesamte Pariser Presse sofort auf die Kaiserproklamation Soulouques. Offensichtlich weckte dieses Ereignis ein ungleich größeres Interesse als die Massaker. Dies lag zweifellos an der französischen Aktualität: Der Neffe Napoléons war, dessen Mythos ausnutzend, zehn Monate zuvor mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden. Louis-Napoléons Treue zur Republik war schon zu diesem Zeitpunkt fraglich, hatte er doch bereits die Gesetze gebrochen und in Rom die Republikaner von französischen Soldaten vertreiben lassen, damit der Papst, unterstützt von Truppen der französischen Republik, dort wieder autokratisch herrschen konnte. Gerade zu dem Zeitpunkt, als das Parlament die nachträgliche Bewilligung zusätzlicher Kredite für die Romexpedition diskutierte, erfuhr man vom Ende der haitianischen Republik 13 . Wiederum kam die Neuigkeit via England, dieses Mal allerdings bereits als Parodie: Soulouque nenne sich jetzt "Garibaldi-Robespierre-Napoléon Soulouque". Blät-

13 Die Debatte im Charivari über die Italienexpedition hat Rütten ausführlich dargestellt in: Rütten, R.: "Die Verstümmelung der Republik und das Verstummen des Republikanismus im satirischen Diskurs des Charivari der Jahre 1848-1949.", in: Rütten, R. (Hrsg.), S. 255 ff.

54 ter diverser politischer Couleur 14 griffen den Titel auf. Diese Kombination erscheint in England sinnvoll, da dort zum Beispiel die Revolutionskarikatur eines Gillray Napoleon häufig als Jakobiner zeigte, und Garibaldi-Soulouque demnach - entsprechend der chiastischen Struktur der Stilfigur - die augenblickliche rot-schwarze Neuauflage des Bonapartismus darstellt. Wenn nun in Frankreich die offizielle Regierungszeitung (Le Moniteur), eine orleanistische (Le Journal des Débats) und eine republikanische (Le Siècle) diese Namensparodie unkommentiert übernehmen, kann sie nur als Beleg für die barbarische Imitation europäischer Kultur verstanden werden. Die in diesem Titel angelegte Parallelisierung der traditionellen (Schwarze) und der neuen Barbaren (Jakobiner / linke Republikaner) mit den Bonapartisten hätte weder der Moniteur noch der Siècle vorgenommen. Gegen diese rassistische Strategie der Entaktualisierung des karibischen Kaiserreichs reagiert die linke Tagespresse sowohl implizit als auch explizit: Die Démocratie Pacifique15 bringt die eigentliche Nachricht mit dem korrekten Titel "Faustin I er par la grâce de Dieu et par la constitution empereur d'Haïti" unter der Überschrift "Un exemple à ne pas suivre", was als Warnung an Louis-Napoleon zu verstehen ist. Der groteske Titel erscheint in einer anderen Spalte - in der Rubrik "Faits divers" - als Produkt "de la plupart des journaux", was das fragwürdige Vorgehen dieser Blätter, nämlich die Barbarisierung der durchaus politischen Aktualität, deutlich unterstreicht. Der National leitet seinen Haiti-Artikel ebenfalls mit einem Hinweis auf den französischen Napoleon-Imitator ein: Nous ne serions pas surpris qu'on illuminât, ce soir, à l'Elysée.16 Die Voix du Peuple17 verwahrt sich gegen die angebliche Anleihe des Namens Garibaldi, um Soulouque aber gleich darauf in den angemessenen Kontext zu stellen: Soulouque, d'après un bruit qui court à Port-au-Prince ..., devait se faire couronner empereur sous les magnifiques qualifications de François-Nicolas-Radetsky-Windigraetz-Haynau-Bourbon de Naples, bombardeur-empereur 1 er d'Haïti. On aurait dû ajouter: par la grâce de la violation de la Constitution, l'égorgement ou la déportation des patriotes les plus éclairés ... C'est une chose bien décevante ... de voir une société de nègres, hier esclaves, aujourd'hui emancipée sous les lois de la République, exhumer les traditions dont on ne peut plus recoudre la trame, se donner un maître sous le nom d'empereur, tandis que nous voyons en Europe briser les sceptres et les trônes. So angemessen die Ehrenrettung Garibaldis und der Angriff auf die europäischen Despoten und ihre Generäle auch sein mögen, der Autor des Artikels - sollte es 14 Siehe Journal des Débats, 4.10.1849; Le Moniteur und Le Siècle, 5.10.1849. 15 Siehe La Démocratie Pacifique, 5.10.1849. 16 Siehe Le National, 5.10.1849, der National gibt nicht den grotesken Titel wieder, sondern übernimmt den Artikel aus dem Globe. 17 Siehe La Voix du Peuple, 7.10.1849.

55 Proudhon selbst sein? - führt trotz des Hinweises auf die aufgeklärten haitianischen Patrioten und die prinzipielle Gleichheit aller Tyrannen wieder die Trennung zwischen dem "Neger"-Volk und den Völkern Europas ein. Allein die Erwähnung der augenblicklichen europäischen Autokraten, ohne den in Frankreich drohenden auch nur zu nennen, dürfte die "stürzenden Throne" als frommen republikanischen Wunsch erscheinen lassen. Im gleichen antidespotischen Ton, aber mit der festen Überzeugung, daß der "peuple haïtien" sich die hemmungslose Bereicherung des neuen Machthabers nicht bieten lasse, ist der Artikel der Réforme gehalten, um dann allerdings Soulouque einen nützlicheren Despoten gegenüberzustellen, nämlich den ersten haitianischen König Christophe: Christophe après avoir vu Bonaparte parodier la monarchie, voulut aussi faire le roi;... Son patriotisme couvrait sa cruauté, si rien au monde peut couvrir la cruauté; il multipliait les écoles, appelait d'Europe des hommes distingués ... pour instruire ses jeunes concitoyens. 1 8

Stünde nicht das Verb "parodier" in Verbindung mit dem Namen Bonaparte, könnte man diese Passage durchaus als Rat an den französischen Prätendenten verstehen, wie eine patriotische Diktatur auszusehen habe. Anders als die linke Presse, die den haitianischen Despotismus - mit Blick auf die französischen Verhältnisse - mehr oder weniger überzeugend kritisiert, muß die der Regierung nahestehende versuchen, jeden Vergleich durch möglichst groteske Details unmöglich zu machen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Artikel des Constitutionnel19, der wörtlich den Bericht des französischen Konsuls in Haiti, Maxime Raybaud, übernimmt. Dies ist wahrscheinlich der Mehrzahl der Leser unbekannt gewesen und wäre insofern irrelevant für diese Studie, wenn damit nicht gleichzeitig die Nachrichtensteuerung zumindest des Außenministeriums analysiert werden könnte. In seiner Einleitung aktiviert der Artikelschreiber die Topoi über Haiti, wie zum Beispiel den katastrophalen Zustand des einst reichen Saint-Domingue oder die zahllosen Massaker. Der so vorbereitete Leser erfährt aus Port-au-Prince folgendes: L'un des sénateurs portait à la main une couronne fabriquée dans la nuit avec du carton doré, en attendant mieux; et l'empereur sensible à cette attention, ..., se cou18 Siehe La Réforme, 6.10.1849. Diese tendenziell negrophile Position des Autors ist in der französischen Haitiliteratur nicht bekannt, da als positives autoritäres Regime das Toussaint Louvertures gewählt würde wie etwa bei Victor Schoelcher. Schoelcher bezeichnet Christophes Regime als Militärdiktatur russischen Typs, ohne dabei Sympathie für Pétion oder gar Boyer zu bekunden. Schoelcher hat der Réforme nahegestanden, da er, nachdem sie im Januar 1850 ihr Erscheinen einstellen mußte, zu den Gründern des Nachfolgeblattes Le Vote Universel gehörte. Siehe Schoelcher, 1843, S. 147 ff. und Bellanger, S. 236. 19 Siehe Le Constitutionnel, 4.10.1849 und Archives des Affaires Etrangères CP Haïti, Bd. 17, Raybaud, 29.8.1849. Der Constitutionnel bringt nicht die groteske Namenskombination. Sein

56 vrit aussitôt de cette couronne. ... S.M.I. veut être couronné le plutôt que possible, et avec la plus grande pompe. Elle passe des heures entières en contemplant devant une série de gravures représentant les cérémonies du sacre de l'empereur Napoléon.20 Die vergoldete Pappkrone wird aufgrund dieser Veröffentlichung zum festen Bestandteil der grotesken Faits divers über Soulouques Kaiserreich. In ihr gipfelt die Tendenz des Artikels, es der Lächerlichkeit preiszugeben. Auch die auf Soulouques Meditation folgende Ankündigung, daß die dem napoleonischen Vorbild nachempfundenen Krönungsutensilien in echtem Gold bereits in Paris bestellt worden seien, ändert nichts an der Vorstellung, daß die Schwarzen sich mit einem offensichtlichen Imitat zufrieden geben und nicht über die notwendigen Insignien im eigenen Land verfügen, also keine Tradition haben 21 . Man scheint im Außenministerium sicher gewesen zu sein, daß aufgrund dieser kindischen Imitation jeder Vergleich mit dem französischen Regierungschef, der ebenfalls ausgiebig die Napoleon-Mythen studiert hat, ausgeschlossen ist. Daß die Schwarzen generell als Karikaturen der Weißen angesehen werden, zeigt ein Blick auf die illustrierten Zeitungen. So plaziert das Musée des Familles (Abb. 7) unter der Überschrift "Journal du mois" das Konterfei Soulouques neben das des im Oktober verstorbenen Komponisten Chopin und kommentiert: Pardonnez nous de mettre un éclat de rire à côté d'une larme, la grotesque figure de l'empereur Soulouque (Faustin 1er) en regard de la délicieuse tête de Chopin. (S.62) Soweit ist die Illustration, aus der die Grafik stammt, nicht gegangen. Sie zeigt Soulouque und seine Würdenträger (Abb. 8) und enthält sich jedes wertenden Kommentares; statt dessen druckt sie den von nationaler Begeisterung zeugenden Brief des Zeichners Jaymé Guilliod de Léogane ab. Leider ist dessen Identität nicht geklärt, da sämtliche Informationen über ihn auf seinen Briefen an die Illustration beruhen 22 . Seine Porträts legen jedoch nahe, daß er mit der haitianischen Wirklichkeit vertraut war. Er versieht den Kaiser wie auch die Fürsten mit dem in der Armee üblichen Kopftuch, obwohl er mit dem europäischen Hofzeremoniell vertraut war. Ob es sich um eine realistische oder fingierte Darstellung handelt, muß dahingestellt bleiben; Bericht wird einen Tag später von dem republikanischen Exilblatt Indépendance nommen.

Belge über-

20 Ein weiterer Bericht über den Antrag des Kaisertitels durch den Senat wird von der englischen Zeitung Globe gebracht, die teilweise detaillierter als Raybauds Bericht ist, es wird aber nur von einer "couronne impériale" und für die Kaiserin von einer "magnifique et précieuse chaîne d'or" berichtet. Diese Version wird vom Journal des Débats, National, Moniteur und der Démocratie Pacifique, alle 5.10.1849, übernommen. 21 Die tatsächliche Krone Soulouques, die entsprechend Raybauds Bericht wirklich erst zum Zeitpunkt der Proklamation in Paris bestellt worden ist, wird später in der Illustration und im Musée des Familles abgebildet, siehe Abb. 111. 22 Siehe P. Thoby-Marcelin: Panorama de l'Art haïtien, Port-au-Prince 1956, S. 11, zitiert bei Lerebours, S. 128 Anm. 4.

57 entscheidend ist letztlich der Eindruck auf den Betrachter. Auf den dürfte ein Kaiser mit Kopftuch fast die gleiche Wirkung gehabt haben wie einer mit Pappkrone, zumal dessen neuer Adel sich mit ungleich repräsentativeren Kopfbedeckungen schmückt, unter denen allerdings ebenfalls das Kopftuch zum Vorschein kommt. Die Intention der Zeitung scheint trotz des fehlenden wertenden Kommentares umso fragwürdiger, als auf der anderen Seite ausschließlich Karikaturen zu sehen sind. Diese zeigen zwar keine Schwarzen, aber die Gesamtkonzeption der Doppelseite legt dem Leser nahe, den neuen karibischen Hofstaat als Karikatur eines europäischen anzusehen 23 . Zusammenfassend ist festzustellen, daß keine Zeitung die Lächerlichkeit des haitianischen Ereignisses in Frage stellt. Tendenziell legen die linken Blätter den Akzent auf die Kritik an der Despotie und am imperialen Modell, das sie - da historisch überholt - nicht auf Frankreich anwenden wollen, während sich die Mehrheit der Journale an den grotesken Details ergötzt. Selten wird die Abqualifizierung der Person Soulouques aufgrund körperlicher Merkmale vorgenommen. Diese ausschließlich rassistische Position findet sich nur im Musée des Familles.

3

Soulouque in der satirischen Presse der Zweiten Republik

3.1 Abgrenzung gegenüber der "seriösen" Presse Gerade die Berichterstattung über die Kaiserproklamation Soulouques macht deutlich, daß der Gebrauch der Parodie und grotesker Figuren sich nicht als Kriterium zur kategorialen Trennung von "seriöser" und satirischer Presse anbietet. Der oben aufgezeigte Befund ist ein Beleg für die diffus verbreitete anthropologische Grundannahme des europäischen Zeitgenossen, die im Schwarzen eine minderwertige Rasse sieht und ihn folglich als kulturlosen Imitatoren des Weißen, das bedeutet als dessen Karikatur, hinstellt. Der aus dieser Position ableitbare politische und kulturelle Führungsanspruch des Weißen gegenüber den "Negern" bewirkt, daß die Aufbereitung der Nachrichten über karibische Phänomene nicht nur der faktenbezogenen Information, sondern auch dem Unterhaltungswert verpflichtet ist. Die Presse der Zweiten Republik versteht sich als Organ der politischen Auseinandersetzungen. Daher geht man in weit stärkerem Maß explizit auf die Positionen anderer Blätter ein, als das heutzutage der Fall ist. Der Ort dieser Auseinandersetzung 23 Ein Kommentar zur spanischen Innenpolitik in der "Histoire de la semaine" L'Illustration, 3.11.1849, belegt diese These und schränkt zugleich die rassistische Lesart zugunsten einer chauvinistischen ein: "Il n'y a plus dans le monde qu'un pays où la politique prête encore à rire. Ce n'est pas Haïti avec son empereur Faustin, c'est l'Espagne avec ses reines galantes et dévotes."

58 ist zunächst das Editorial, aber auch die ausführliche Wiedergabe der jeweils anderen Meinung der ausländischen, der Provinz- und der Pariser Presse. Wenn diese mit Kommentaren versehen wird, dann in strikter Unterscheidung von dem Zitat, dessen Provenienz angegeben wird. Das metadiskursive und damit zugleich tendentiell ideologiekritische Element, das den satirischen Text auszeichnet, ist also, wenn auch nicht in solcher Intensität, in allen Zeitungen zu finden. Dieses Kriterium allein reicht demnach nicht zur eindeutigen Unterscheidung der beiden Pressetypen aus, überdies macht auch der satirische seine eigene ideologische Position häufig nicht explizit kenntlich. Wenn sich die satirische Presse von der übrigen kategorial trennen läßt, dann dadurch, daß sie Nachricht und Kommentar vermischt oder aber rein fiktive Nachrichten verbreitet. Dabei orientiert sie sich an den Rubriken der "seriösen" Blätter. Der Charivari etwa bringt seine Satiren regelmäßig unter der Überschrift "Assemblée Nationale Législative" oder "Semaine de la bourse". Die Silhouette lehnt sich an die "Chronique de la semaine" der Illustration an, wenn sie ihre Artikel mit "Silhouette de la semaine" überschreibt. Die Gattung der Klatschspalte über das Neueste aus den Palästen der Macht nimmt die Serie "Salle des Pas perdus" des Corsaire auf. Eine die unseriösen Praktiken der "seriösen" Presse entlarvende Funktion kündigt sich bereits in den Überschriften "Bavardages" und "Canardiana" des Caricaturiste an. Schließlich erweist sich der Tintamarre noch als Vorläufer der heutigen Alternativpresse, wenn er denen, die nie das Recht auf einen Kommentar erhalten, fiktiv die Spalten "Pensées d'un emballeur" und "Typographie française. - Distractions de correcteurs." offenhält. Für sich genommen ist diese mehr oder weniger deutliche Annäherung an die Untergliederung der "seriösen" Presse noch kein Qualitätsmerkmal; erst der gesamte Artikel, die ganze Nummer oder die Artikelserie können Auskunft über den eigentlichen Wert der Satire geben.

3.2 Typenbildungen Da im Fall Soulouque die "seriöse" Presse satirische Verfahren angewandt hat, ist die Reaktion der satirischen Blätter von besonderem Interesse. Eine detaillierte chronologische Analyse vor allem der ersten Artikel der täglich erscheinenden Satireblätter, des republikanischen Charivari und des legitimistischen Corsaire, wird zeigen, ob ein Bedarf bestand, sich von den Praktiken der Tagespresse abzusetzen und eine eigenständige Satiresprache zu entwickeln. Da die Bildsatire in der Regel aufgrund der ihr eigenen Produktionsbedingungen nicht so schnell reagieren kann wie die schreibende Zunft, werden die verschiedenen Tendenzen der Entwicklung ihrer Bildsprache im Anschluß an die Textsatire behandelt, womit allerdings kein linearer Einfluß vom Text zum Bild unterstellt werden soll.

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3.2.1 Oktober 1849 Der Charivari reagiert sofort als erstes Satireblatt auf die Nachricht aus Haiti. Er wählt die Form des fiktiven Dialoges. Zwei nicht näher charakterisierte Personen treffen sich. Derjenige, welcher über das neue Kaiserreich informiert ist, läßt den anderen raten: - ... Serait-il (Soulouque) mort du choléra? / - Plût au ciel! / - Vous êtes féroce ... Vous souhaitez la mort de votre semblable. / - D'abord, Soulouque n'est pas mon semblable, il est noir et je suis blanc. / - Tous les hommes sont frères ... La nuance n'est rien; allez passer seulement six mois à la campagne, sans chapeau de paille, et vous reviendrez à Paris presqu'aussi noir que Soulouque ,.. 24

Bevor die eigentliche Nachricht veröffentlicht wird, werden zwei Rezeptionsmuster in Bezug auf die Rasse vorgeführt: Der Informant stellt die rassische Differenz vor die politische, während die andere Person, noch unter dem Einfluß der Abolitionsrhetorik stehend, für die Gleichheit plädiert. Wer von dieser Person republikanische Entrüstung angesichts der karibischen Neuigkeit erwartet, wird überrascht: - ... ce président de la République de Taïti, vient de se faire proclamer empereur. / - Vous disiez tout à l'heure république de Saint-Domingue. / - Mais vous savez bien qu'on écrit Taïti et qu'on prononce Saint-Domingue ... Comment pouvez-vous vous occuper d'orthographié et de prononciation dans un pareil moment.

Wiederum greift der Satiriker nicht das politische Phänomen als solches an, sondern die bereits aufgezeigte Praxis der Tagespresse, Haiti weder eine geographische noch eine staatliche Identität zuzuerkennen und somit erst die Voraussetzung für das groteske Bild zu schaffen. Der imaginäre Dialog wendet sich dann einem anderen Pressemedium zu: der Illustration, die auf einem Holzschnitt Soulouque als "un républicain véritablement bon teint" vorgestellt habe. Darauf erwidert der Gesprächspartner, daß man nicht einem Holzschnitt, sondern eher einer Lithographie trauen könne. Der Text fügt drei disparate Elemente zusammen: die unmoderne Bildproduktionsweise der Illustration25, deren Praxis, die jeweils Herrschenden seriös zu porträtieren und schließlich noch die Anspielung auf die augenblickliche französische Regierung, in der der Charivari nur "républicains du lendemain", also nicht authentische "véritablement bon teint" ausmacht. Die auf solche Weise zustandegekommene Groteske will letztlich gerade die Text- und Bildsatire des Charivari als das seriösere Verfahren der Nachrichtenübermittlung verteidigen, da sie die reale groteske Desinformation, die 24 Siehe Le Charivari "Un nouvel empereur", 4.10.1849. 25 In den Ateliers der Illustration wurden noch die zeitaufwendigen und schneller verschleißenden Holzschnitte angefertigt, während der Charivari von Beginn an Lithographien verwendete, siehe Kunzle, 1979, S. 14. Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß die Illustration bis zu diesem Zeitpunkt keine Bildreportage über Soulouque gebracht hatte, statt dessen antizipiert der Charivari die Kritik an dem bereits beschriebenen, später erschienenen Soulouque-Porträt (Abb. 8).

60 von der Presse über Haiti verbreitet wird und die sie beim Leser voraussetzen kann, thematisiert. Implizit macht der Satiriker deutlich, daß die Verwendung grotesker Elemente in der übrigen Presse keine Satire im Verständnis des Charivari hervorbringt, da sie nicht aufklärt, sondern bestehende Stereotypen verfestigt. Nach der Kritik an den Rahmenbedingungen der Haiti-Rezeption geht der Charivari während der beiden folgenden Tage auf den konkreten Fall des kolportierten Phantasietitels von Soulouque ein. Obwohl diese lächerliche Namenskombination überhaupt nicht vom Constitutionnel erwähnt wurde, schreiben die Charivari-Artikel sie gerade diesem Blatt zu, was darauf schließen läßt, daß die offiziöse Informationssteuerung bekannt gewesen sein muß. Wieder wird die Form des schon bekannten Frage- und Antwortspiel gewählt. Für den Befragten bieten sich drei mögliche römische Kaisernamen an, die auf den haitianischen Herrscher zutreffen könnten: Cäsar erscheint nicht gerade originell - genau ihm sollte Napoléon III. 1864 eine Studie 26 widmen. Pompeius kann nur die mangelnden Geschichtskenntnisse des Schwarzen bloßstellen. Schließlich noch Caracalla, die afrikanisch-gallische Variante des spätantiken Despoten, der sich großer Beliebtheit beim Volk erfreute, und dem der Montagnard Napoleon-Jérôme Bonaparte ähnlich gesehen haben soll27. Allein dieser Kaiser-Name sei sowohl für Soulouque als auch für Louis-Napoleon der angemessene: - Ah! diable! je suis fâché qu'il n'ait pas jeté un peu de Caracalla dans tout cela ... N'importe, ces trois noms me semblent assez heureusement accouplés ... Le nom de Robespierre surtout me paraît admirablement choisi pour un empereur.28 Mit dem Hinweis auf Caracalla gerät die linke Variante des augenblicklichen Bonapartismus ins Blickfeld, daher wird dann der "régicide", Robespierre, im Sinne der Überzeichnung, als besonders geglücktes Beispiel aus der kolportierten Namenskette

26 Napoléon III: La vie de César, Paris 1864 27 Siehe Le Grand Larousse und J. J. Ampère: "L'histoire romaine à Rome VIII. Commencement de la décadence. - De Commode à Alexandre Sévère.", in: Revue des Deux Mondes, 9, 1857, S. 563-589. Ampères Geschichte der römischen Kaiser erregte die Aufmerksamkeit der Zensur, siehe Bellanger, Bd. 2, S. 264. Der 188 n. Chr. in Lyon geborene Sohn des Afrikaners Septimus Severus und einer syrischen Mutter verdankt seinen Namen einem langen gallischen Übergewand. Ampère verschweigt den gallischen Ursprung des Gewandes und deutet es als Zeichen des aufkommenden Orientalismus. Die von Caracalla begangenen Grausamkeiten, insbesondere der Brudermord an Geta, wiesen ihn demnach als Repräsentanten der sich in Rom ausbreitenden orientalischen Despotie aus. Ampère geht ausführlich auf die luxuriösen Thermen und ihre Funktion als Massenvergnügungsmittel ein, zieht aber in der Aktualität nur den Vergleich zu den "clubs", jedoch nicht den zu den populären Vergnügungsstätten des Second Empire. Auf Caracallas Physiognomie wird ebenfalls nicht angespielt. Die Subversivität von Ampères Serie dürfte eher in der Gesamtperspektive, die sich im ersten Satz dieses Artikels spiegelt, begründet sein: "A vrai dire, la décadence de Rome a commencé avec l'empire.", S. 563. Der Hinweis auf die Ähnlichkeit Napoléon-Iérômes mit dem Soldatenkaiser findet sich bei Charles de Rémusat, Bd. 4, S. 358. 28 Siehe Le Charivari "Confirmation d'une importante nouvelle", 5.10.1849.

61 beibehalten. Die groteske Kombination erfährt eine zusätzliche Steigerung, indem Soulouque ein für dieses Panoptikum passendes Kostüm geschneidert wird: ... une blouse rouge, les cheveux poudrés à blanc avec aile de pigeon, et un petit chapeau à cornes. Von besonderem Interesse sind hier die nach aristokratischer Manier weiß gepuderten, seitlich abstehenden Haare Robespierres, die eine Affinität des Diktators zur Monarchie nahelegen. Die Beziehung des neuen Kaisers zur Terreur wird in Anspielung auf die üblichen Sklavenhosen in den Abbildungen Schwarzer (Abb. 4) angedeutet: ... Après ça. Soulouque ne doit pas beaucoup y tenir, puisque voilà plusieurs années qu'il se pose en sans-culotte. Der Artikel verstärkt die im Phantasietitel angelegte Tendenz, das Empire - ausgehend von der Biographie Napoleons und Soulouques - als Vollendung des Jakobinismus darzustellen. Auch die anfängliche Distanzierung vom Constitutionnel verhindert nicht, daß sich hier die ideologischen Positionen der gemäßigten Republikaner und der legitimistischen Presse treffen. Im fiktiven Dialog des folgenden Tages wird die Meldung des Phantasietitels dementiert, was dem Informanten äußerst peinlich ist, da nun der Charivari nicht mehr den Ruf genieße, besser als der Constitutionnel informiert zu sein. Der Gesprächspartner widerspricht nun umso ungenierter: - Vous dites que ce mulâtre s'est fait appeler Faustin ... vous vous trompez sans doute, vous voulez dire Faux-Teint Ier? / - Les calembours sont complètement inconnus dans l'île Saint-Domingue, ..., j'ai écrit Faustin, et je vous supplie de prononcer ce mot comme je l'ai orthographié. / - Je le veux bien, mais Faux-Teint Ier m'aurait semblé plus convenable pour ce monarque mal blanchi.29 Die Korrektur der Falschmeldung wird ebenfalls mit einer falschen Behauptung eingeleitet. Die Veränderung der rassischen Zuordnung des haitianischen Kaisers verlagert die rassistische Farbenlehre in die politische und nimmt wieder das Thema der in der Pariser Regierung agierenden republikanisch gefärbten Monarchisten oder Bonapartisten auf. Angesichts des Informationenwirrwarrs über Soulouque, greift der Informant nun, um die Seriosität der Presse zu retten, auf das rassistische Argument zurück, daß die Objekte des Spottes selbst nicht zum Spott fähig seien. Wenig später allerdings, nachdem er die Details über Pappkrone und Kostüm aus dem Constitutionnel wiedergegeben hat, fügt er ein satirisches Element hinzu: ... (Soulouque) a lu dans l'histoire que les plus fameux empereurs ne marchent jamais en public sans une main de justice (soweit, leicht ironisch verzerrt, der Bericht des Constitutionnel, CHM)... En attendant, il porte une halle-barde.

29 Siehe Le Charivari "Toujours Soulouque", 6.10.1849.

62 Wieder wechselt die Meinung des Sprechenden in offene Despotismuskritik. Seiner Rolle entsprechend übernimmt der Gesprächspartner die Aufgabe, das starke politische Bild dadurch zu verwässern, indem er versichert, daß zur Hellebarde die Schärpe gehöre, was den haitianischen Kaiser in die Nähe eines Musketiers rückt. Sein Gegenüber fragt sich daraufhin, ob man überhaupt ein noch seriöses politisches Gespräch führe. Dem wird wiederum entgegengehalten, daß man mit solch miserablen Informationen nun einmal nicht argumentieren könne und daß nur eine Tatsache von nun an nicht mehr in Frage zu stellen sei, der Name Faux-Teint /er. Mit dieser Feststellung enden die drei Artikel. Hier wird das der "seriösen" Presse fremde Verfahren der fiktiven Plauderei verwendet, die auf komische Weise die Tradition des philosophischen Dialogs der Aufklärung weiterführt. Die ständigen Positionswechsel sabotieren systematisch die ideologische Identität der Gesprächspartner. Mimetisch übertreibt die Satire sowohl die ständig wechselnde Presseberichterstattung als auch die daraus resultierenden Meinungsumschwünge der Rezipienten. Während die "seriöse" Presse das Informationsvakuum aber umso leichter mit Stereotypen über Haiti zu füllen weiß, betreibt die Satire Kritik an diesem Verfahren, stellt sich also konsequent auf die Ebene des Metadiskurses. Lediglich aus dem zweiten Artikel läßt sich eine inhaltliche Argumentationslinie herauslesen, allerdings ohne daß die Kritik an der Nachrichtenaufbereitung preisgegeben würde. Der Titel Faux-Teint / er erweist sich somit als Chiffre nicht nur für den "monarque mal blanchi" und seine schlecht "entweißten" republikanischen Gegenüber in der französischen Regierung, sondern ebenso für die gesamte Art Presseberichterstattung, die die Fakten im falschen Licht der Stereotypen zu präsentieren pflegt. Andere Blätter werden diesen Titel zwar aufnehmen, ihn aber nicht in seiner vom Charivari geprägten Polyvalenz nutzbar machen. Die Serie des Corsaire zeigt, daß die Redaktion Schwierigkeiten hat beziehungsweise nicht die Notwendigkeit sieht, eine eigene Satiresprache zum Phänomen Soulouque zu finden. Dies ist umso erstaunlicher, als die drei Artikel des Charivari bereits als Modell vorlagen. Der erste Corsaire-Artikel bringt die fiktive Nachricht, daß die Montagne gegen den "18 brumaire de Soulouque" im Parlament protestiert habe. Tags darauf folgt die Reproduktion des Constitutionnel-Berichts, und wiederum einen Tag später wird die Falschmeldung verbreitet, der französische Consul Raybaud wolle Soulouque nicht anerkennen, wenn dieser nicht die Schuldenraten zahle30. Bis dahin ist keine Innovation gegenüber den Praktiken der "seriösen" Presse festzustellen. Interessanter ist da schon der folgende Artikel, der den "feuilles rouges", die die Schnelligkeit des haitianischen Staatsstreichs angreifen und als "Mardi-gras" verhöhnen, als Retourkutsche die Februarrevolution entgegenhält:

30 Siehe Le Corsaire "Salle des pas perdus", 7.10., 8.10., 9.10.1849.

63 ... on avait remplacé la main de justice par les bayonnettes, et le sceptre par la pipe culotte. Que pensez-vous des carêmes-prenans?31 Die Vergleichsebene zwischen der 48 er -Revolution und dem Regimewechsel in Haiti ist die bereits vorgestellte antidemokratische Annäherung der traditionellen "barbares" und der "nouveaux barbares". Noch expliziter parallelisiert der Caricaturiste: Que nos démocrates soient les maîtres,... Nous aurions sa majesté Proudhon au lieu de l'empereur Soulouque. Du rouge au noir, croyez-le bien, il n'y a que la peau qui diffère.32 Gerade die Hintanstellung des biologischen Kriteriums verdeutlicht die ideologische Grundlage dessen, was man geneigt sein könnte, royalistischen Rassismus zu nennen, was aber in Wirklichkeit nichts anderes ist, als eine weitere Farbvariante im universellen Kampf gegen die revolutionären Unterschichten. Die Gleichsetzung Soulouques mit dem Gegner bürgerlicher Besitzansprüche funkioniert, wenn beide als revolutionäre Parvenüs angesehen werden. Dieses Verfahren verdeckt, daß es in der französischen Aktualität andere Bereicherungsmethoden gibt als die utopischen Entwürfe eines Zuchthäuslers 33 . Obwohl die Nationalversammlung ihn schon am 31. Juli 1848 mit 691 gegen zwei Stimmen vom Rednerpult verbannt hatte und damit auch Proudhons Isolierung im republikanischen Lager offen zu Tage trat, konnte - im Rückgriff auf den Anarchisten - das schwarz-rote Gespenst noch immer von den eigentlichen Imitatoren karibischer Verhältnisse ablenken. Auch der Corsaire schöpft den kritischen Gehalt der Soulouque-Figur erst dann voll aus, wenn er sie mit dem französischen Prätendenten in Verbindung bringt. Dieser wird zwar nicht selbst angegriffen, wohl aber eine seiner schillerndsten journalistischen Stützen, Emile de Girardin. Der Besitzer und Chefredakteur der Presse hatte 1848 Louis-Napoleons Kandidatur, danach, im Frühjahr 1849, den orleanistischen Prince de Joinville unterstützt, sich schließlich, nach der Repression des 13. Juni, der Montagne genähert und trat nun für eine Steuerreform ein, nicht ohne jedoch die Kontakte zum Elysée über den Links-Bonapartisten Napoléon-Jérôme aufrechtzuerhalten 34 . Der legitimistische Corsaire nimmt Girardins häufig kolportierte Ambition auf ein Ministeramt zum Anlaß, ihn solange zum Kabinettschef 31 Ebd. "Salle des pas perdus", 10.10.1849. 32 Siehe Le Caricaturiste "Ltle des singes", 21.10.1849. Der Titel spielt auf die vorausgehende Karikatur (Abb. 23) an, die weiter unten besprochen wird, während der Artikel das Affenbild mit Blick auf den neuen haitianischen Adel von "toute la singerie de l'empire" einsetzt, also die metaphorische Kritik am Empire aus royalistischer Perspektive formuliert. 33 Proudhon war 1849 im Zusammenhang mit der militärischen Besetzung der Nationalversammlung und seiner Kritik an Louis-Napoleons Staatsstreichgelüsten zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Selbst wenn bekannt war, daß Louis-Napoleon Proudhon in Folge einer persönlichen Korrespondenz wieder erlaubte zu publizieren, war eine Gleichsetzung Proudhons mit Soulouque aufgrund dessen genereller Kritik an der Regierungsgewalt nicht gerechtfertigt, siehe Fietkau, S. 413 ff., besonders S. 415 Anm. 112. 34 Siehe Pellissier, S. 253-257, und Agulhon, S. 136.

64 Soulouques zu ernennen, bis die Presse nach Ablauf von Louis-Napoleons Amtszeit Soulouque zum neuen Präsidenten Frankreichs proklamieren werde. Die Redakteure der Presse seien keine authentischen "blancs"35. Diese Vermischung gegenwärtiger und künftiger Falschmeldungen soll aus royalistischer Perspektive das Bestreben kritisieren, erneut ein Empire der Parvenüs zu errichten. Nach mehreren Versuchen scheint der Corsaire seinen Soulouque-Typ gefunden zu haben. In seiner Opposition zu Soulouque / Napoleon versteigt sich der Redakteur Courtois einen Tag später zu einer der seltenen, nicht satirischen Apologien Toussaint Louvertures, der die Krone verschmäht habe und wie der Duc d'Enghien ein Opfer Napoleons geworden sei36. Offensichtlich geben sich die Redakteure des Corsaire nicht soviel Mühe, die Bandbreite der Haiti-Stereotypen einer satirischen Kritik zu unterziehen, wie es im Charivari der Fall ist. Wie in der Tagespresse dominiert eher das Understatement über die Höherwertigkeit der eigenen Zivilisation; daher scheint ein zusätzlicher Bedarf an Komik kaum vonnöten. Die Tendenz der royalistischen Bonapartismuskritik der beiden letzten Artikel findet sich in der Folgezeit kaum wieder. Die Reaktion des Charivari auf den Corsaire blieb nicht aus. Nachdem die ideologische Funktion der diversen Falschmeldungen, die auch das legitimistische Satireblatt wiedergibt, entlarvt ist, nimmt nun der Charivari eindeutige politische Zuordnungen vor. In dem Artikel "Reconnaîtra-t-on Soulouque?" 37 wird die Frage nach der Anerkennung Soulouques aufgenommen und in den Kontext der französischen Außenpolitik gestellt. Diese habe weder die römische Republik anerkannt noch die provisorische Regierung in Ungarn. Frankreichs Präsident breche die Verfassung, werde aber dennoch, als Parvenü, nicht von den reaktionären Monarchen anerkannt. Vor diesem Hintergrund kehrt der Autor die Haiti-Berichterstattung gegen ihre Urheber, den bonapartistischen Constitutionnel und die legitimistische Opinion Nationale, indem er darauf insistiert, Soulouque sei der beste Imitator der von diesen Blättern propagierten monarchischen Repressionstradition: Er henke Republikaner und ver35 Siehe Le Corsaire "Actualités politiques", 11.10.1849. Für die Wahl der Presse spricht auch, daß sie als einziges der großen Pariser Blätter den Systemwechsel in Haïti weder ausführlich kommentierte noch dokumentierte, sondern am 4.10.1849 lediglich eine dreizeilige Nachricht brachte, was die Ablehnung eines etwaigen Vergleichs zwischen Louis-Napoleon und Soulouque nahelegt. 36 Courtois: "L'empereur Soulouque", in Le Corsaire, 12.10.1849. Das positive Urteil Courtois' ist umso erstaunlicher, als er in seiner Jugend an der Leclerc-Expedition teilgenommen hatte und sich über Toussaints affenartige Physiognomie lustig gemacht haben soll. Auch habe er die Kulturlosigkeit der Haitianer als Beleg angeführt, daß die Schwarzen nur schrittweise von der Sklaverei befreit werden dürften. Als Sohn eines Mitgliedes der Convention habe er zwar mit Raynals Schriften das Lesen gelernt, doch stehe die Wirklichkeit gegen die Prinzipien. Diese Desillusionierung seiner Generation habe auch dazu beigetragen, daß er für die unterschiedlichsten politischen Richtungen geschrieben habe, ohne sich je einer zugehörig zu fühlen. Seriös habe er nur Kunstkritik betrieben, so sieht es zumindest die Biographie des Journalisten, die bei Ph. Audebrand (S. 112-127) finden ist. 37 Siehe Le Charivari "Reconnaîtra-t-on Soulouque?",13.10.1849.

65 teile - in Ermangelung von Geld - Kokosnüsse an seine Untertanen. Im Falle seiner Anerkennung könne auch der französische Außenminister de Tocqueville mit einer solchen rechnen. Die Kokosnuß, als Metapher für die haitianische Inflation und die ausbleibende Schuldentilgung, greift die Argumentation des Corsaire satirisch überspitzt auf, um gerade wegen des Vorbildcharakters des haitianischen Empire die Ordensinflation in Frankreich nach der erfolgreichen Niederschlagung der römischen Republik anzuprangern; denn Mitte Oktober 1849 forderte der Präsident in einem Nachtragshaushalt vom Parlament die Finanzierung der Romexpedition. Der Charivari überzeichnet insbesondere die realistischen Elemente der Berichterstattung des Constitutionnel: die tatsächlichen Erschießungen werden durch die unehrenhaftere Henkung ersetzt, ebenso wie die Orden durch Kokosnüsse. Die forcierte Distanz zwischen den haitianischen und französischen Phänomenen weist umso mehr auf ihre Ähnlichkeit hin. So wird letztendlich die herabsetzende neokoloniale Perspektive der bonapartistischen und legitimistischen Blätter implizit gegen sie selbst gekehrt, da deutlich gemacht wird, daß Frankreich ideologisch vom haitianischen Modell abhängig ist. Der nächste konsequente Schritt des Charivari ist die Umbenennung Soulouques: "Robespierre" sei eine Falschmeldung, die "journaux honnêtes et modérés" hätten die Anweisung erhalten, nunmehr den Namen "Napoléon-Molé-Thiers-NettementVieyrat-Bourbousson Soulouque" 38 zu verbreiten. Der von diesem "parti Soulouque" erhoffte "coup d'état" ist ein weiterer Hinweis auf die französische Aktualität: die Regierungsumbildung vom 31.10.1849, mit der Louis-Napoleon die Minister des "parti de l'ordre" durch ihm näherstehende ersetzte 39 . Der Constitutionnel40 verteidigt diese erste eigenständige Aktion des Präsidenten gegen den Vorwurf des Staatsstreiches, der auch in den Reihen der regierungstragenden Mehrheit laut wurde. Der Charivari führt durch die Parataxe der Namen nicht nur die Soulouque-Figur als festes Element der französischen Innenpolitik ein, sondern fügt - genau in dem Moment, in dem sich die Republikaner über die Risse in der Ordnungsallianz freuen sollten - , die Bonapartisten (Napoleon, Bourbousson 41 ), Orléanisten (Molé, Thiers) und

38 Siehe Le Charivari "Le Parti-Soulouque", 1.11.1849. Schon in einem Artikel vom 17.10.1849 ("L'Almanach de Gotha") ließ der Charivari einen Legitimisten einen neuen Titel finden ("Pierre-Napoléon-Robespierre-Garibaldi Soulouque"), um mit Pierre Napoléon auf einen weiteren Montagnard und ein Enfant terrible in der Familie Louis-Napoleons hinzuweisen. 39 Marx spricht vom "Ministerium der Kommis", Marx, 1850, S. 76, Agulhon sieht mit diesem Ministerium einen "parti de l'Elysée", S. 144, entstehen. 40 Véron, der Besitzer und Chefredakteur des Constitutionnel, berichtet stolz in seinen Mémoires (Bd. 6, S. 97 f.), daß er an diesem Tag vom Präsidenten empfangen wurde. Die Folge des endgültigen Einschwenkens auf die Linie Louis-Napoleons war Vérons Bruch mit Thiers, dessen Anteil an der Zeitung er zurückzahlte. 41 Bourbousson war seit 1848 Abgeordneter des Département Vaucluse und unterstützte zu dieser Zeit den Elysée, mußte sich aber nach dem 2. Dezember 1851 aus der Politik zurückziehen.

66 Legitimisten (Nettement 42 ) zu einer aktuell nicht erkennbaren und daher scheinbar grotesken Einheitsfront hinter der schwarzen Figur zusammen. Gerade zu diesem Zeitpunkt wäre es falsch, zu übersehen, daß alle diese Gruppen einen "schwarzen" Hintergedanken haben, der durch den Streit um die Legitimität der Regierungsumbildung verdeckt wird: Sie suchen einen Mann "de la trempe de Soulouque pouvant se charger de traiter les républicains comme des nègres" - und dieser wird Louis-Napoleon sein. Zum ersten Mal erscheint "Soulouque" hier als prophetische Figur. Der Charivari will damit verdeutlichen, daß der "parti de l'ordre" nicht auseinanderfallen wird. Eine ganz ähnliche Einschätzung der Situation gibt der soeben geschaßte Außenminister de Tocqueville 43 , der allerdings Louis-Napoleon mit den spanischen und mexikanischen Usurpatoren Espartero und Iturbide gleichsetzt. Dieser Vergleich aus einem persönlichen Brief an den Freund de Beaumont verdeutlicht, daß der gebildete "républicain du lendemain" eher bereit ist, die augenblickliche Situation Frankreichs mit der dekadenten politischen Kultur anderer lateinischer Länder zu vergleichen, als mit dem ungleich aktuelleren Modell des karibischen Bonapartismus, dessen Protagonist eben keine europäischen Blutsbande aufweist. So zeigt sich einerseits der explizite Chauvinismus und implizite Rassismus de Tocquevilles, zum anderen der Subversivitätsgrad der neuen Namenskombination des Charivari.

3.2.2 Besuch im Affenkäfig Wenn bisher dargelegt werden konnte, daß der Charivari durch die konsequente Anbindung seiner Soulouque-Kommentare an die französische Aktualität eine rassistische Lektüre zu verhindern suchte, so ist doch bei einigen der folgenden Artikel festzustellen, daß die Grenzen zu eindeutig rassistischen Beschreibungen überschritten werden. Der Auslöser ist die Ankündigung, daß Soulouque zur Bestellung eines Throns einen Gesandten nach Paris geschickt habe. Die Silhouette44 greift als erstes Satire42 Alfred Nettement ist Redakteur der legitimistischen Opinion Publique, siehe Bellanger, S. 217. 43 In einem vertraulichen Brief an de Beaumont vom 4.11.1849 (Tocqueville: Oeuvres complètes, 8,2, S. 232 ff.) sieht de Tocqueville die Parlamentsmehrheit, die bisher den Präsidenten getragen hat, zu diesem Zeitpunkt gegen ihren früheren Kandidaten stehen, doch werde sie sich aus Angst vor den "rouges" und durch Korruption wieder hinter ihn stellen. Diese Analyse der Situation bestätigt sich für ihn bereits im November, so daß er am 28.11.1849 (ebd., S. 249 ff.) wiederum an de Beaumont schreibt: "...nous voilà prêts à nous jeter dans les bras de je ne sais quel faible et médiocre conquérant qu'on ne saurait classer que quelque part entre Espartero et Iturbide." (S. 252). 44 Siehe La Silhouette "Nouvelles diplomatiques", 4.11.1849, S. 11. Die Mitarbeiter der am 20.12.1844 gegründeten satirischen Wochenzeitung sind teilweise mit denen des Caricaturiste (de Bragelonne, A. Vitu) identisch. Chefredakteur ist E. Fau, sonstige Mitarbeiter M. de Revel, Hycard, Janin und Gérard de Nerval. Vitu läßt sich als eindeutiger Bonapartist identifizieren, er schreibt gleichzeitig für den Dix Décembre und wird auch weiterhin für regierungsnahe Blätter tätig sein; Janin ist der Literaturkritiker der orleanistischen Presse, seine rassistischen Positionen werden in III.4.3.3 diskutiert, siehe Hatin, S. 425, 508; Jones, S. 105; Larousse, Stichwort

67 Blatt das Thema auf und verarbeitet es auf exemplarisch ambivalente Weise. Der Gesandte heißt - gemäß dem schon aus Christophes Zeiten bekannten Spott auf die haitianischen Adelstitel - "marquis de la Marmelade": ... l'illustre envoyé ... est descendu au Jardin-des-Plantes, où M. Barthélemy-SaintHilaire lui a fait préparer une cage, je veux dire un appartement digne de lui.

Auf diese Szene reagiert der Charivari noch mit der bekannten Strategie: Le marquis de la Compote est allé descendre tout droit au Jardin-des-Plantes, à l'hôtel des Singes, tenu par le gouvernement. 45

Diese Zitate illustrieren die beiden Aspekte der Affen-Metapher. In der Silhouette wird der haitianische Botschafter, offensichtlich aus einer rassistischen Perspektive, eher den Affen als den Menschen zugeordnet, während im Charivari der Affenkäfig auf die Bedeutung des "singer" (Nachäffens) verweist, da die Regierung eigens ein Hotel für Fachleute dieser Tätigkeit eingerichtet habe. Auch die Namensänderung vom realen haitianischen Ortsnamen zum scheinbaren Synonym "compote" verweist auf die Effekte der bonapartistischen Aktivitäten an den Körpern der politischen Gegner. Im weiteren Verlauf des Artikels kommt der Autor der Silhouette nicht auf das Bild des Affen zurück; ebenso bleibt er die Erklärung schuldig, weshalb ausgerechnet eine politisch nicht eindeutig festlegbare Figur wie Barthélemy-SaintHilaire den Käfig einrichtet46. Statt dessen läßt er das exotische Fremdwesen erfahren, daß man mittlerweile in Paris die Throne zu Brennholz verarbeite, was aus einer mehr von Hoffnung als von Realitätssinn geprägten republikanischen Sicht die Unbildung des Schwarzen noch unterstreicht. Der Charivari dagegen nutzt die Möglichkeiten der Affenszene in ihrer ganzen Bandbreite, indem er dem "marquis de la Compote" zwei Affen als Sekretäre zugesellt, die der Audienz, die er Thiers gewährt, beiwohnen und diesen nachäffen. Neben Thiers besuchen den exotischen Imitator weitere Vertreter der Ordnungspartei, wie Molé und Berryer, die petit-nègre sprechen und versuchen, wie Affen zu schaukeln. Obwohl dieser und ähnliche Artikel47 die "A. Vitu"; Bellanger u.a., S. 222. Beliebte Ziele dieses Satireblattes sind die Montagnards, die Presse und der Constitutionnel, die Legitimisten, aber auch der Präsident selbst. Es werden also ähnliche Sujets behandelt wie im Charivari, allerdings ohne dessen Agressivität. 45 Siehe Le Charivari "Visites au marquis de la compote", 7.11.1849. 46 Dem Larousse (Stichwort: Barthélemy-Saint-Hilaire, Jules) nach zu urteilen, ist der Philosoph B-S-H zu diesem Zeitpunkt bereits von seinem ursprünglichen republikanischen Engagement ins bonapartistische Lager gewechselt, als Mitglied des Collège de France habe er 1851 an dem Verbot der Vorlesungen Michelets mitgewirkt, um dann nach dem 2. Dezember selbst sein Amt niederzulegen. Rémusat sieht in seinen Mémoires (Bd. 4, S. 424 f.) B-S-H im November 1849 noch als gemäßigten Republikaner, der gegen die Universitätsreformgesetzpläne von Falloux in einer Kommission Stellung bezieht. Es ist außerdem möglich, daß der Autor der Silhouette den Philosophen mit dem Zoologen Auguste de Saint-Hilaire verwechselt oder beide bewußt amalgamiert. 47 Siehe auch Le Charivari "Le nègre du miracle", 8.11.1849. In seiner antilegitimistischen Polemik folgt der Charivari (5.11.1849) im übrigen der Silhouette (4.11.1849, S. 11), wenn er dem

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rassistischen Bilder satirisch überbieten, zeigt die Aktivität der französischen Politiker während der Audienz, daß in Frankreich das Realität werden soll, was die übrigen Blätter als haitianische Wirklichkeit verkaufen. Somit werden die rassistischen Affenvergleiche eindeutig gegen sie gewendet. Die folgenden Artikel 48 sind wesentlich weniger eindeutig. Ihnen allen ist gemein, daß sie Soulouques vorgebliche Versuche, ein Kaiserreich nach napoleonischem Vorbild auf Haiti zu errichten, überzeichnet darstellen. Damit läßt sich der Autor des Charivari, der von sich behauptet (15.11.1849), bisher alles über Soulouque geschrieben zu haben, auf eine neue - bislang vermiedene - Strategie ein: den Entwurf eines eigenen Haiti-Bildes. Eine Analyse des Artikels "Les pages d'Ourika" soll die Problematik dieser Inszenierung illustrieren. Eingangs wird darauf verwiesen, daß es sich nicht um die Seiten des Romans der Duchesse de Duras handele, sondern um die Pagen der haitianischen Kaiserin, obwohl deren richtiger Name, Adelina 49 , bekannt war. Mit dem Namen der damals populärsten schwarzen Frauenfigur der Literatur - die Funktion dieser "Popularisierung" ist bereits analysiert worden (siehe II.2.3) - führt der Autor ein deutliches Derealisierungselement ein und schafft damit gleichzeitig eine Verbindung zum französischen Bildarsenal über die Schwarzen. Diese schwarze Satirekaiserin informiert sich über die Hofhaltung Josephines selbstverständlich in den Büchern des NapoleonApologeten Marco Saint-Hilaire, der selbst allerdings nicht, wie in den ChamKarikaturen (siehe unten III.3.3.2.2) freiwillig nach Haiti ausgewandert ist. Ourika erwählt sich nun ihre Pagen unter den schönsten Knaben der Insel: ... dans la précipitation du premier moment, on avait enrôlé au nombre des pages de l'impératrice quelques singes. Ce qui est contraire à toutes les traditions des cours européennes. L'erreur a été réparée, mais les pages d'Ourika n'offrent pas un coup d'oeil beaucoup plus agréables depuis ce temps;... Der Autor beginnt mit einer raffinierten Inszenierung der Affenmetaphorik. Der "haitianische" Hof imitiert die Hofhaltung Napoleons, welche sich wiederum am Zeremoniell unter Louis XVI. orientiert habe. Nach Marco Saint-Hilaire hat der angehende Kaiser von den Pagen in Versailles behauptet: "... un page est malin comme un

Vicomte d'Arlincourt für seine apologetische Schrift Dieu le veut die Mitgliedschaft in Soulouques "ordre de Saint-Faustin" anträgt. 48 Siehe Le Charivari "Le Duc de Trou-Bonbon", 12.11.1849; "Soulouque ami des arts", 15.11.1849; "Où l'on donne des nouvelles de l'abbé Châtel", 17.11.1849; "Les Pages d'Ourika", 18.11.1849. 49 Der Charivari korrigiert dieses "Namensmißverständnis" erst am 20.12.1849 in dem Artikel "L'Annuaire impérial", um gleich darauf zu behaupten, Adelina hieße in Wirklichkeit "Evelina". Es ist nicht gelungen, diese Anspielung zu entschlüsseln, vermutlich handelt es sich um eine der sprichwörtlichen Schauspielerinnen oder Tänzerinnen, die sich Louis-Napoleon nach den Vorstellungen in den Elysée kommen ließ. Alle seine bis zu diesem Zeitpunkt von der Literatur erfaßten Geliebten hörten auf andere Vornamen, siehe Williams, S. 48 ff.

69 singe, ..."50. Die Wilden nehmen das Bild wörtlich, womit nur umso deutlicher wird, daß die bonapartistische Etikette nicht in der europäischen Tradition steht. Die eigentlich rassistische Wendung des Artikels folgt erst jetzt, da der Autor, auf den Status des Schwarzen als Bindeglied zwischen Mensch und Affe anspielend, meint, die neuen Pagen sähen auch nicht wesentlich angenehmer aus. Auch die Begründung dafür, daß man jetzt in Paris weiße Pagen rekrutiere, da die europäischen Millionäre die "noirs du Congo" in Livreen zwängten, ist eher als modernisierter literarischer Topos zu sehen, auch wenn nicht zu erkennen ist, daß in diesem Kontext das erstmals in der Histoire des Deux Indes51 auftauchende abolitionistische Kampfbild vom Weißen, der dem Schwarzen dient, seine alte Schärfe wiedererhalten sollte. Vielmehr macht sich der Autor nun Gedanken über die Livrée: L'uniforme d o n n é par Soulouque aux pages de l'impératrice est bien fait pour tenter les j e u n e s Parisiens qui aiment le luxe et les grands plumets blancs.

Während der neue unrepublikanische Pomp, der auf den offiziellen Pariser Empfängen und Bällen gepflegt wird, als exotisch kritisiert wird, zielt die Farbe der Röcke auf ein bereits aus einem anderen politischen Lager bekanntes Barbarenmuster: Soulouque a vu des gravures représentant ces costumes, mais il les a vus en noir (sans calembour) et il s'est imaginé q u e ces habits devaient être du rouge le plus éclatant. Si quelqu'un s'avisait d e lui soutenir que cette livrée était verte, Soulouque répliquerait à son contradicteur en lui faisant appliquer une centaine de coups de bambou.

Der Hinweis darauf, daß es sich um kein Wortspiel handele, trifft zwar auf die politische Verortung des Kaisers in diesem Zusammenhang zu, nicht aber auf seine Hautfarbe, die ihn als ungebildeten Schwarzen determiniert. Wenn der Autor aus der von Saint-Hilaire zitierten Livrée die rote Farbe für das falsche Kleidungsstück hervorhebt, so spielt er auf die Affinität zwischen den Schwarzen und den "rouges", den "nouveaux barbares", an. Hier nähert sich dieser Artikel dem Antibonapartismus des Corsaire an, doch wird auch diese Tendenz durch den Schluß entkräftet: ... Soulouque prétend encore q u e la bastonnade est u n e tradition impériale. - Seulement il a c o n f o n d u dans ses lectures l'histoire prussienne et l'histoire de France, et par suite il a prêté à Napoléon la canne d e Frédéric.

Selbst wenn der heutige Interpret natürlich nicht von dem Autoren verlangen kann, das vorauszusehen, was ein Jahr später auf den Pariser Straßen Realität werden sollte, 50 Siehe Saint-Hilaire, 1848, S. 9. Über die Kleidung der Pagen verfügt Napoleon: "... ils porteront l'uniforme de ma maison, habit vert, veste et culotte rouges, le bas de soie blanc dans les appartements, la botte à l'écuyère à cheval.", S. 9/10. Weiteres zu diesem Zitat im Kommentar zur entsprechenden Cham-Karikatur (Abb. 38) im Kapitel III.3.3.2.2.. 51 Siehe das Kapitel: "Origine et progrès de l'esclavage. Arguments imaginés pour le justifier. Réponse à ces arguments.", in: Raynal, S. 202/03. Die Übername und Umkehrung dieses Bildes durch die antirevolutionären Pflanzerpamphlete und deren Verarbeitung in Hugos Bug Jargal ist bei Benot, 1989, beschrieben.

70 und ebenso wenig historistisch festhalten muß, daß die Bastonade eher in Neapel als in Haiti gebräuchlich war und die dortigen Bourbonen indirekt durch die Präsenz französischer Truppen in Rom gestützt wurden, so erweist sich das hier praktizierte Verfahren doch als nationalistische Abwehr einer hyperbolischen Metapher, die bisher im Charivari für den Despotismus stand. Die politische Konstellation nach der Kabinettsumbildung im Monat November ergibt als Erklärungsmodell für das Zunehmen rassistischer Elemente in der Soulouque-Satire des Charivari keinen Sinn. Es fällt vielmehr schwer, die Behauptung zu akzeptieren, daß es sich bei den bisherigen Artikeln immer um den selben Autor gehandelt habe. In jedem Fall geht aus diesem Beispiel hervor, daß die Redaktion Rechtsabweichungen zuließ und daß zumindest für den November 1849 keine einheitliche Strategie ihrerseits vorausgesetzt werden kann. Schließlich sei noch auf den letzten langen Artikel im Charivari52 aus dem Jahre 1849 hingewiesen, der sich auf den ersten Blick in die eben beschriebene Reihe einzuordnen scheint. Zwei affenähnliche petit-nègre-sprechende Gesandte des haitianischen Botschafters "prince de Trou-Bonbon" (im Artikel vom 25.11.1849 war er noch "duc de Trou-Bonbon) erscheinen in einem "costume de fantaisie" im Théâtre-Historique bei Alexandre Dumas, um den Besuch seiner Eminenz für die Vorstellung des jüngsten Erfolgsstückes Le comte Hermann anzukündigen und dem Autoren - zusätzlich zu seinen zahllosen bisher von gekrönten Häuptern erhaltenen Gunstbeweisen - einen Ring Soulouques durch die Nase zu ziehen. Der solcherart geehrte Autor bietet dem an einen Orang-Utan erinnernden Botschafter die ansonsten dem Prince de Montpensier vorbehaltene Loge an und setzt sich neben seinen Gast, der dauernd Apfelschalen ins Parkett wirft und kaum an sich halten kann, nicht über das Geländer zu springen. Nichts scheint naheliegender, als daß ein haitianischer Halbaffe die Theaterstücke des Mulatten Dumas besuchte, wäre da nicht der aktuelle Bezug: Die zweite Vorstellung des obenerwähnten Stückes wurde in der Tat unvorhergesehen am 22.11.1849 vom Präsidenten besucht 53 . Wenige Tage darauf veröffentlichte der Corsai re54 einen realen oder fiktiven Brief Dumas', in dem dieser dagegen protestiert, daß der Präsident die Loge des Theaterdirektors, des Duc de Montpensier, besetzt habe, während er, Dumas, sich im Hintergrund gehalten habe. Der Charivari reagiert also mit seiner Satire auf den Corsaire-Brief mit einer doppelten Strategie: zum einen gibt er den haitianischen Botschafter als schwarze Maske Louis-Napoleons aus und stellt diesen somit als Nachäffer seines Onkels hin, zum anderen soll der Ari52 Siehe Le Charivari "Le prince de Trou-Bonbon au Théâtre-Historique, 30.11.1849. Diesem Artikel sind zwei vorausgegangen, die in weniger rassistischer Weise die Zustände in Haïti schildern: "L'Horoscope de Soulouque", 25.11.1849; "Le duc de Trou-Bonbon et le docteur PouPou", 28.11.1849. 53 Siehe u.a. Le Constitutionnel "Nouvelles diverses", 23.11.1849. 54 Siehe Le Corsaire, 27.11.1849.

71 stokratenfreund Dumas sich dem Prinzpräsidenten andienen, um auf keinen Fall den Anschluß an den zukünftigen Adel zu verlieren. Der Tintamarre55 nimmt das Affenbild zwar nicht auf, zielt aber mit seinem nach dem Charivari-Artikel veröffentlichten Kommentar in die gleiche Richtung: Vous avez été l'ami de tous les princes, monsieur Dumas, ... vous devez être, après MM. Horace Vemet et Gourgaud 5 6 , l'homme le plus décoré de France et d'Haïti: aussi sommes-nous fort étonnés que, malgré vos précédents, vous n'ayez pas été au devant du président. Il vous eût fait un bon accueil ... Il est si bon prince. Mais, patience, ça viendra.

Die gängige Redewendung "de France et de Navarre" ist bereits durch eine politisch aktuellere ersetzt worden. Mit den pompösen Auftritten des Präsidenten wird Frankreich haitianisiert, doch soll es noch einige Monate dauern, bis die satirische Presse dieses Thema aufgreift. Mit diesem Artikel, der - wenn auch in extremer Übertreibung - die eigentliche metaphorische Bedeutung des Affen inszeniert, verschwindet vorerst Soulouque aus dem Charivari, um während der Weihnachtszeit nunmehr in den Theatern aufzutreten (siehe Kapitel III.4.1.).

3.3 Was karikieren "haitianische" Bilder? Prinzipiell scheint der Karikaturist vor dem gleichen Dilemma zu stehen wie der Satireautor, da ja das Soulouque-Porträt (Abb. 8), das die Illustration noch ohne wertenden Text-Kommentar vorstellte, wenig später vom Musée des Familles als Witzbild abgewertet wurde, womit dem latenten Bedürfnis des französischen Publikums, schwarze Eminenzen als Karikaturen der Weißen anzusehen, genüge getan wurde. Die Strategie des Zeichners müßte also darin bestehen, die negroiden Gesichtszüge noch mehr vom weißen Schönheitsideal zu entfernen und die Kostümierung noch lächerlicher zu gestalten. Die eigentliche Herausforderung besteht allerdings darin, bildlich einen Transfer zum französischen Präsidenten anzuregen, also das sichtbar zu machen, was die illustrierte Vorlage nicht zeigt: Das Illustration-Konterfei weist nämlich aufgrund seiner vorgeblichen Authentizität keinerlei Ähnlichkeit in Physiognomie oder Kleidung mit dem französischen Kaiserthron-Aspiranten oder dessen Onkel - auf. Da die Karikatur nicht der originalgetreuen Widergabe verpflichtet ist, ergeben sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, durch mehr oder weniger eindeutige Bildelemente auf die mitanvisierte hochgestellte Persönlichkeit in Paris zu verweisen. Dabei ist für den Interpreten von Bedeutung, welche Zeichen oder Figurenkonstellationen eingesetzt werden und welcher ideologischen Provenienz sie zuzuordnen

55 Siehe Le Tinatamarre "La lettre de M.A.Dumas.", 8.12.1849. 56 Horace Vernet (1789-1863) Historienmaler, der die Schlachten Napoleons glorifizierte; der Baron Gaspard Gourgaud schrieb auf Sankt Helena die Mémoires, die Napoleon ihm diktierte, nieder.

72 sind. Unter Ideologie sind sowohl - im engeren Sinne - die in Zeichen kodifizierten Mythen der verschiedenen politischen Gruppierungen zu verstehen als auch die diese übergreifenden Standpunkte, die sich aus der jeweiligen Klassen-, Geschlechts- und in diesem Falle besonders der Rassenzugehörigkeit ergeben.

3.3.1 Erste Soulouque-Karikaturen Die Karikaturisten reagierten mit ungefähr einer Woche Rückstand auf die Artikel über Soulouque. Auch sie näherten sich dem neuen Phänomen unsicher an, wobei einige überhaupt nicht die Notwendigkeit zu sehen schienen, einen Soulouque-Typ zu entwickeln. Als erster wurde derjenige aktiv, dessen Soulouque-Karikaturen bis heute als einzige - zumindest in Haiti - bekannt sind, und der auch die meisten angefertigte: Cham. Er war unter allen Zeichnern am ehesten für schwarze Themen prädestiniert, hatte doch sein Großvater, der Comte de Noe, die Pflanzung Breda besessen, auf der Toussaint Louverture bis zur Revolution gelebt hatte. Der Künstlername "Cham" der Comte de Noe soll zu Philipon gesagt haben: "Je suis le fils de Noe ... mettez Cham." - ist vielleicht als Erinnerung an die einstigen Besitztümer in Saint-Domingue zu verstehen, aber gewiß nicht als eine Selbststilisierung zum schwarzen Schaf der Familie, da er im Haus seines Vaters lebte, und dieser ein gern gesehener Gast in der Redaktion des Charivari war 57 . Wenn das gemäßigt republikanische Satireblatt Cham als "reac" qualifizierte, so ist dies in erster Linie - entsprechend seiner Selbstinszenierung - als Kokettieren mit seiner aristokratischen Herkunft zu verstehen; seine Zeichnungen waren zwar hauptsächlich gegen die radikalen Gruppen der Zweiten Republik, wie die Sozialisten, Feministinnen und Abolitionisten, gerichtet, doch entsprach dies eher der allgemeinen Linie der Zeitung. Die ersten sechs Vignetten (Abb. 9-14) deuten bereits die folgende Entwicklung an. Den erwähnten Artikeln entnimmt Cham nur den "chapeau ä comes" als notwendiges Kleidungsstück und fügt ihm den grauen Mantel hinzu. Dies sind seine beiden wichtigsten Requisiten, um jemanden als Anhänger des "petit caporal" zu kennzeichnen. Cham hat sie in den vorausgehenden Monaten mehrfach benutzt, um Girardins Wechselkurs zwischen Republikanismus und Bonapartismus ins Bild zu setzen (Abb. 15-17). Louis-Napoleon selbst erscheint in seinen Karikaturen nie in diesem Aufzug, wohl aber bei Nadar im Journal pour rire. Noch ist nicht sicher, ob Soulouque das vollständige Napoleon-Kostüm erhält. Nur eine Vignette zeigt die

57 Siehe Ribeyre, S. 13, 101, 138. Da Koch/Sagave in ihrer Kurzbiographie zu Cham keine bibliographischen Angaben gemacht haben, ist nicht nachzuvollziehen, woher die Information stammt, Cham habe mit seiner Familie gebrochen, um Zeichner zu werden. Die Fülle an Belegen für das gute Einvernehmen des Karikaturisten mit seiner Familie, die Ribeyre vorlegt, könnte ein indirekter Indikator dafUr sein, daß eine solche Geschichte tatsächlich im Umlauf war und der Cham-Biograph sich gezwungen sah, mit einer größeren Zahl von Fakten zu reagieren.

73 schwarze Figur mit Reiterstiefeln, ansonsten trägt er kurze Hosen wie die übrigen Schwarzen, die nur durch ihre Kopfbedeckung unterscheidbar sind: Die Generäle tragen den mit einer langen Feder und Quasten an den Enden geschmückten Hut der napoleonischen Generäle, die einfachen Soldaten sind barhäuptig. Die offensichtliche Hauptaussage aller Karikaturen besteht darin, daß dem schwarzen Imitationsversuch die Mittel für die Errichtung eines Second Empire fehlen. Immerhin werden die Probleme nicht auf Unbildung zurückgeführt. Vielmehr unterstreicht Cham die Grausamkeit des Barbaren, der mit der Peitsche den "code Napoleon-Soulouque" einführen will (Abb. 9), oder dem General befiehlt, einen Orden an das nicht vorhandene Knopfloch zu heften (Abb. 10). In beiden Karikaturen ist gleichzeitig eine Kritik an den aktuellen französischen Zuständen zu sehen: zum einen wird der Präsident gezwungen sein, seine Napoleon-Imitation mit Gewalt durchzusetzen, zum anderen schickt er seine Armee in das kostspielige Rom-Abenteuer, für das er zwar kein Geld, wohl aber ausreichend Orden hat. Um diese doppelte Lesart zu garantieren, zeigen zwei Vignetten, wen das haitianische Vorbild besonders fasziniert: Girardin (Abb. 11), der, wie bereits gesehen, sowohl vom Charivari als auch vom Corsaire angegriffen wird, und den Parlamentspräsidenten Dupin (Abb. 12), der hier für die von ihm angeführte regierungstragende Mehrheit steht, die in dieser Lesart von Adelstiteln träumt. Trotzdem zeigen alle diese Bilder noch keinen schwarzen Napoleon, der der gleichzeitigen französischen Ausgabe mit dem typischen Zwirbelbart gleichzusetzen wäre; die kurzen Hosen, das typische Sklavenattribut, und - in zwei Bildern - Kinnbärte (Abb. 10 u. 13), die wohl an den Bocksbart des Teufels erinnern sollen, stehen dem entgegen. Um die Typisierung Chams richtig werten zu können, muß man die Versuche anderer Zeichner hinzuziehen. In der Chronologie folgte das zweite wöchentlich erscheinende Karikaturenblatt aus dem Hause Philipon, das Journal pour rire, mit Nadars Sicht auf Haiti (Abb. 18). Häufiger und direkter als der Charivari griff dieses Blatt, und allen voran Nadar, Louis-Napoleon an 58 . So aktiviert der Zeichner in seiner Soulouque-Vignette zwei seiner Louis-Napoleon-Typen, er kleidet Soulouque, wie Cham, in den grauen Mantel und setzt ihm den "chapeau ä deux comes" auf, der diesmal der Kopfbedeckung des realen französischen Präsidenten entsprechend mit drei Federn geschmückt ist, wobei die des "Haitianers" etwas unordentlicher sind als die des Franzosen. Der gleiche Kopfschmuck ziert auch den mit einer weißen Decke belegten Schimmel. Auf diese Decke ist noch eine Krone appliziert. Hier reitet offensichtlich ein Monarchist ins Turnier, vorbei an ganz normal gekleideten Schwarzen, die ihn mit erhobenen Armen empfangen; diese Bewegung wird von einem Affen auf der Palme imitiert. Die Bildunterschrift, die ebenfalls auf den Schwarz-WeißGegensatz abhebt, erläutert, daß die monarchistische Maskerade in "Haiti" die

58 Nadar hat in der von ihm herausgegebenen Revue Comique veröffentlicht.

keine Soulouque-Karikaturen

74 Schwarzen nicht verändert habe, was, auf Frankreich übertragen, bedeutet, daß trotz der monarchistischen Aspirationen des Präsidenten die Bevölkerung republikanisch bleibt. Die Bildunterschrift macht deutlich, daß die erhobenen Arme als Zeichen des Protestes zu verstehen sind - der Blick auf eine nebenstehende Karikatur unterstützt die Bedeutung dieser Gestik (Abb. 19). Interessant an dieser Soulouque-Darstellung ist vor allem, daß nur der Monarch verzerrt dargestellt wird und selbst der Affe, als emblematische Figur der Nachahmung, gegen den aktuellen Imitationsversuch protestiert. Der Gegensatz zu Cham besteht also vor allem in der Behandlung der Nebenfiguren, die dieser eher in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Autokraten zeigt. Da bei Nadar die Kraftprobe zwischen Volk und Herrscher noch nicht entschieden scheint, wirken sie längst nicht so exotisch wie der eigentliche Protagonist. Einen Tag später erschien im Caricaturiste ein Soulouque-Porträt aus der Feder eines weiteren Aristokraten, des comte Charles Marie de Sarcus, der, weil er sich mit Krücken fortbewegen mußte, den Künstlernamen "Quillenbois" gewählt hatte 59 . Dieser zeigt den schwarzen Kaiser (Abb. 20) in vollem Ornat, begleitet von einer häßlichen barfüßigen Gattin, die ein affenartiges Kind mit der Kopfbedeckung der Nationalgarde an der Hand hält. Im Hintergrund auf der rechten Seite die in diversen Uniformen herausgeputzten Generäle, auf der linken Seite spärlich bekleidete tanzende "Neger" bei einer unter Napoléon beliebten Volksbelustigung, dem Schlaraffenbaum. Der Titel nimmt das Wortspiel "Fauxteint" auf, und die Bildunterschrift deutet mit "farouches républicains nègres" an, daß die falsche Farbe nicht das Weiß der legitimen Monarchie des Ancien Régime sei, sondern die aristokratische Tünche über diejenigen, die damals ("Renouvelé de l'histoire de France") wie heute, aus der revolutionären Armee kommend, die Militäraristokratie stellen. Aus dieser legitimistischen Sicht imitieren die Schwarzen, gemäß ihrer Rassen- und Klassendetermination, somit die falsche französische Tradition. Bei aller Affenartigkeit dieses Kaiserpaares muß auch in dieser Karikatur vermutet werden, daß die rassistischen Elemente bewußt verstärkt wurden, um zu zeigen, auf wessen Stufe sich die augenblicklichen Imitatoren in Frankreich eigentlich stellen. Das Cäsarenkostüm des schwarzen Kaisers ist hier noch eindeutig als solches zu erkennen. Dies ist nicht mehr der Fall in einer Karikatur, die Fabrizius am gleichen Tag in der Silhouette (Abb. 21) veröffentlichte. Selbst wenn die Bildunterschrift auf Napoléon verweist, zeigt das Bild einen willkürlich kostümierten Affen. Es ist unwahrscheinlich, daß Fabrizius innerhalb eines Tages mit dieser Karikatur auf die Nadars reagieren konnte, was die Ähnlichkeit der Titel in der Bildunterschrift nahelegt. Auf jeden Fall macht die Stilisierung zum Affen ohne jegliches bildliches Attribut, das auf den französischen Kaiser und/oder seinen Neffen verwiese, jeden Vergleich unmöglich. Diese Karikatur ist eindeutig rassistisch.

59 Siehe Ribeyre, S. 113. Quillenbois soll Cham zu Beginn seiner Karriere unterstützt haben.

75 Die beiden letzten Zeichnungen verdeutlichen das Verfahren Chams, sich für ein Napoleon-Kostüm zu entscheiden, das - im Gegensatz zu den anderen Figuren - weder eindeutig dem Empire noch der jakobinischen Herkunft zuzuordnen ist, und schließlich zur gleichen Zeit sowohl für Louis-Napoleon als auch für andere zeitgenössische Bonapartisten benutzt werden kann. Die schwarze Figur bietet sich also gleichzeitig als Träger des Spottes über den schwarzen Kaiser, den französischen Prätendenten und das gemeinsame Vorbild an. Diese Polyvalenz von Chams Soulouque-Typ scheint auch von den anderen Karikaturisten gesehen worden zu sein. Fabrizius, der selbst Louis-Napoleon-Karikaturen mit dem Hut und grauen Mantel gezeichnet hat (Abb. 73), greift eine Szene von Cham (Abb. 22) auf: die Truppenparade (Abb. 23). Dort salutiert ein Soldat vor Soulouque und seinen Generalen, von denen sich der oberste Feldherr nur durch das Kopftuch unterscheidet. Die Bildunterschrift übernimmt offensichtlich die leicht veränderten Namen und Titel aus der Haiti-Hofberichterstattung der Illustration, um die wirklichen Verhältnisse in Haiti zu zeigen: die karibische Titelinflation steht in keiner Relation zu der eigentlichen Größe und Leistung der dortigen Armee. Der alleinstehende Soldat ist vielleicht sogar etwas vorteilhafter gezeichnet als die halbnackte Armee bei Cham, die Gesamtaussage ist ähnlich. Der entscheidende Unterschied besteht in dem Kostüm Soulouques, das bei Fabrizius nicht mehr die doppelte Lesbarkeit garantiert. Cham verdeutlicht seine Position noch einmal, indem er eine weitere Truppenparade zeichnet, die später zum Titelblatt seines Albums Soulouque et sa cour avancieren sollte (Abb. 24). Über dem General setzt er Affen in die Palme und parodiert in der Bildunterschrift Napoleons berühmten Ausspruch vor der Schlacht bei den Pyramiden: Soldats, du haut de ces pyramides quarante siècles vous contemplent!" in: "Soldats, du haut de ces cocotiers quarante singes vous contemplent! Auf den ersten Blick ist Chams Antwort auf Fabrizius genauso rassistisch wie dessen Position, wird doch ein auf klassische Bildung anspielender Kontext in die Barbarei der Unzivilisierten übersetzt. Zudem ist kaum anzunehmen, daß Chams wesentliches Anliegen darin bestand, eine nichtrassistische Karikatur anzufertigen, vielmehr unterstreicht "Soulouques" Kostüm nochmals, daß alle augenblicklichen Nachäffungsversuche des Empire notwendigerweise "haitianische" Dimensionen annehmen. Bereits im November 1849 hat sich Chams Soulouque-Kostümierung aufgrund ihrer doppelten Lesbarkeit durchgesetzt. Doch haben fast alle Karikaturisten Schwierigkeiten, eine möglichst enge Anbindung an die politischen Verhältnisse in Frankreich herzustellen, ohne Konzessionen an die rassistischen Erwartungen des zeitgenössischen Betrachters zu machen, vor deren Hintergrund allerdings erst die Anschwärzung Louis-Napoleons funktioniert. Am Beispiel einiger Karikaturisten soll

76 aufgezeigt werden, wie sich die Bedeutung der Bilder im Spannungsfeld zwischen Physiognomie, Kostümierung und Aktualitätsbezug bewegt.

3.3.2 Cham - Politik- oder Gesellschaftssatire? Chams Karikaturen im allgemeinen und besonders seine Haiti-Karikaturen stellen den Interpreten vor zahlreiche Probleme. Wie bereits gesehen, ist zum Zeitpunkt der Zweiten Republik Chams wesentlicher Arbeitsbereich nicht die ganzseitige, der Aktualität verpflichtete Einzelkarikatur, sondern die meist aus neun Vignetten bestehende, durchaus unterschiedlichen Themen gewidmete "Revue comique de la semaine". Zwar hat Cham sich seit der zweiten "Revue" 60 , in der er "Haiti" behandelt, für den Soulouque-Typ mit dem "chapeau à deux cornes", dem grauen Mantel, den weißen Hosen und den Reiterstiefeln entschieden, doch sind die Themenbereiche, mit denen Soulouque in Verbindung gebracht wird, immer noch so unterschiedlich, daß sich die Frage stellt, ob die Bilder einzeln zu lesen sind oder - einander ergänzend eine bestimmte Aussage vermitteln. Das Verhältnis des einzelnen Bildes zu den Nebenbildern erscheint eher beliebig, wenn man in Betracht zieht, daß die Vignetten später, im März 1850, in einer anderen Reihenfolge unter dem Titel Soulouque et sa cour als Album zusammengefaßt worden sind. Schon aus Werbegründen ist nach dem März 1850 immer nur noch auf dieses Album hingewiesen worden, so daß man davon ausgehen kann, daß es die Grundlage für den Erfolg seiner Soulouque-Karikaturen ist. Da also die Bilder beliebig austauschbar sind, und aus der praktischen Erwägung heraus, nicht alle 60 Vignetten behandeln zu können, sollen hier nur die wesentlichen Themenbereiche vorgestellt werden. 3.3.2.1 Karikaturen mit Anspielungen auf die aktuelle französische Politik Außer den schon erwähnten Dupin und Girardin wird nur noch ein Politiker ins Bild gesetzt: der Astronom Leverrier (Abb. 26), der 1849 für das Département Manche ins Parlament ging und sich den Bonapartisten anschloß; ihn bittet Soulouque, einen Stern nach ihm zu benennen. Ferner hat Soulouque die schmutzige Arbeit vor sich zu überprüfen, wer sich nach der Kaiserproklamation als "nègre du lendemain" schwarz geschminkt nach Haiti begeben hat (Abb. 27) - eine eindeutige Anspielung auf die "républicains du lendemain", die in Frankreich in die Regierung drängen, um die Republik abzuschaffen. Der selten anzutreffende direkte aktuelle Bezug legt die Vermutung nahe, Cham zeichne kaum politische Karikaturen. Dagegen sprechen jedoch nicht nur die im folgenden noch zu behandelnden Vignetten, die sich mit der bonapartistischen Mythologie auseinandersetzen, sondern auch zwei besonders drastische Karikaturen, die allerdings in der tendentiell monarchistischen Illustration und nicht im Charivari - veröffentlicht wurden. 60 Siehe Cham: "Revue comique de la semaine", in: Le Charivari, 18.11.1849.

77 Die Illustration brachte am 17.11.1849 neun Vignetten von Cham, die unter dem Titel "Bulletin de la Politique impériale à Haïti" (Abb. 28) bereits alle späteren Themenbereiche von Soulouque et sa cour behandeln. Die wahrscheinlich gelungenste Soulouque-Karikatur Chams zeigt den schwarzen Napoleon mit einem Fernrohr beim Betrachten einer Reihe von Galgen, an denen seine Untertanen hängen (Abb. 29). Die Bildunterschrift spielt doppelzüngig auf die kürzlich vorgenommene Regierungsumbildung in Paris an, daß nämlich alle Nichtmitglieder des "parti de l'ordre" suspendiert worden seien. Auf diese Weise wird das relativ harmlose Revirement zu dem Staatsstreich stilisiert, dessen Möglichkeit auch die Illustration erwägt, dann aber wieder verwirft 61 . Dieses bedeutete eine maßlose Überzeichnung der Aktualität. Dagegen ließe sich jedoch einwenden, daß die Gehenkten eben nicht als frühere Regierungsmitglieder kenntlich gemacht werden, sondern vielmehr auf die allgemeinen Umgangformen gegenüber den Untertanen verweisen, die durch das Fernrohr in "Soulouques" Hand eine zukünftige Dimension bekommen: Das Fernrohr bedeutet den Ausblick des Präsidenten auf seine Wünsche für die Zukunft der Republikaner. Der Putsch des "parti de l'Elysée" wäre demnach ein erster Schritt in diese Richtung. Eine solch radikale Perspektive ist in politischer wie ästhetischer Hinsicht zu diesem Zeitpunkt in der Illustration einmalig. Überdies liefert die folgende Vignette den expliziten Beleg dafür, daß der schwarze Napoleon und der französische Präsident als eine Person gesehen werden sollen. Es geht wieder einmal um Dupin, der diesmal nicht auswandert, sondern als Weißer die Peitsche aus "Soulouques" Hand empfängt (Abb.30). Die Bildunterschrift läßt keinen Zweifel zu, daß die Szene eigentlich in Frankreich spielt: S.M. offre à l'illustre président de son assemblée nationale (Hervorhebungen von CHM) le moyen de réduire l'opposition. Spielte die Szene in Haiti, so müßte es sich - gemäß der Überschrift der Bilderserie um eine "assemblée impériale" handeln. Der Grund für die Publikation in der Illustration ist nicht eindeutig zu klären, doch ist zumindestens darauf hinzuweisen, daß Cham solch explizite Karikaturen angefertigt und auch veröffentlicht hat - jedoch nicht im Charivari, was zu dem Schluß führt, daß dessen Redaktion seinen Bilderserien eine andere Funktion zugedacht haben könnte. 3.3.2.2 Karikaturen der

Napoléon-Mythologie

Der eigentliche Organisator an "Soulouques" Hof ist Marco Saint-Hilaire (Abb. 3137). Der frühere Page Josephines hat in den 40er Jahren den Napoléon-Kult mit Schriften aufrechterhalten, die etwa den bezeichnenden Titel Histoire populaire, anecdotique et pittoresque de Napoléon et de la grande Armée trugen. Pünktlich zu 61 Siehe L'Illustration

"Histoire de la Semaine", 10.11.1849.

78 Louis-Napoleons Rückkehr kamen die bereits erwähnten Mémoires d'un page de la cour impériale heraus. Cham läßt sich natürlich nicht die Gelegenheit entgehen und bringt an dem Tag, als der Artikel erscheint, eine Vignette zu den "Pages d'Ourika" (Abb. 38, siehe auch III.3.2.2), deren Bildunterschrift - noch eindeutiger als der Text selbst - auf die bei Saint-Hilaire wiedergebene Definition eines Pagen durch den angehenden Kaiser anspielt: L'impératrice Ourika obligée de souffrir les espiègleries des pages attachés à sa personne.

Napoleon: ... un page est malin comme un singe, espiègle comme un écolier, ,..62 Gleichzeitig nimmt diese Vignette die Eulenspiegeleien der Affenkinder in dem 1846 entstandenen Bilderbogen aus Epinal Voyage au pays des singes (Abb. 39) auf. Im modernen Massenmedium, auf die bürgerlichen Zustände der Epoche zugeschnitten, knüpft dieser an die Tradition der mit Rokoko-Kostümen bekleideten Affen an, wie sie etwa auf den Gemälden des Schlosses von Chantilly zu sehen sind. In beiden Fällen besteht die Funktion der verkleideten Affen darin, den Zeitgenossen einen Spiegel vorzuhalten 63 . Die Zusammenführung der unterschiedlichen Bedeutungen des Affenmotivs läßt diese Vignette zu einem Schlüssel für das Verständnis der Karikaturen zum Napoleon-Mythos werden, selbst wenn in den anderen Zeichnungen keine Affen, sondern nur affenartige Schwarze zu sehen sind. Diese steigern, entsprechend den Regeln der Bildsatire und der allgemein verbreiteten Vorstellung vom inadäquaten Umgang Unzivilisierter mit den hehren Elementen weißer Kultur, die Großtaten des Schwarzen im grauen Rock zu ebenso großartigen Grotesken. Es handelt sich also um die Nachäffung als Karikatur des Napoleon-Kultes und um die Spiegelung dessen, was sich in Frankreich abzeichnet. So sticht Soulouque dem General, der Masséna darstellen soll (Abb. 40), ein Auge aus, dreht seinen Untertanen bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein Ohr um 64 (Abb. 41) und läßt sich in die Luft sprengen, um auch ein Attentat in der rue Saint-Niçaise erlebt zu haben (Abb. 43). Um die Rolle von Talma einzunehmen, wandert der Schauspieler Levassor (Abb. 42), der im Februar 1850 in dem Stück Deux vieux papillons am Théâtre Montansier einen alternden Lüstling spielt, aus und vergreift sich gleich nach seiner Ankunft an Ourika. 62 Siehe Anmerkung SO. 63 Eine unterhaltende Beschreibung und Kommentierung der Affen-Gemälde in Chantilly wurde 1862 im Band 30 des Magasin pittoresque mit Illustrationen (S. 12, 13, 92, 93, 161, 249) nach Photographien von Maxime Ducamp geboten. Offensichtlich sollte die bürgerliche Leserschaft sehen, daß die höfische Gesellschaft sich Uber sich selbst lustig machen konnte. Ob sie damit dem einmal jährlich dort feiernenden Napoleon HI. als Vorbild hingestellt, dessen Feiern in der Tradition des großen Conde oder gar als Nachäffereien des vorigen Jahrhunderts gesehen werden sollten, ist nicht zu klären. Die Offenheit der Lesemöglichkeiten wird wohl das Interesse gesteigert haben. 64 Napoleon wäre in der Nacht vor der Schlacht von Jena beinahe von der Wache erschossen worden, weil er auf ihren Anruf nicht reagiert hatte. Als aufmunternde Geste für die gute Verrichtung seiner Pflicht kniff der Kaiser den Soldaten Morisot ins Ohr.

79 Soulouque befragt wie Napoleon die Wahrsagerin Mlle. Lenormand (Abb. 44/45), die ihm allerdings nur mitteilt, daß sie in seiner Hand einen Halbmond und die Zahl 16 lese, woraus sie schließe, daß man sich im Charivari (rue du Croissant Nr. 16) über ihn lustig mache, was der Wahrsagerin eine Tracht Prügel einbringt. Aber auch Soulouque geht nicht ohne körperlichen Schaden aus der Geschichte hervor, da Ourika absolut nicht bereit ist, wie Josephine, die Scheidung tatenlos hinzunehmen (Abb. 46). Der wachhabende Soldat kann den Text nicht behalten und sagt statt "petit caporal" immer "petit animai", womit der Untergebene, entsprechend den Regeln der klassischen Komödie, die Wahrheit sagt (Abb. 47). Wenn Cham den räumlichen und zivilisatorischen Abstand zum napoleonischen Modell ins Groteske steigert, so ist der zeitliche ebenfalls mitzudenken, was wiederum auf die Inadäquatheit des französischen Imitationsversuches verweist. 3.3.2.3 Soulouques

Geldsorgen

Es ist bereits festgestellt worden, daß die völlige Unangemessenheit des karibischen Empire-Imitats mit dem chronischen Geldmangel der haitianischen Regierung erklärt wird. Dies ist nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen. Zwar werden die ständigen Geldforderungen Louis-Napoleons für seine Privatschatulle und das kostspielige illegale Romabenteuer der Armee auch im Oktober 1849 wieder auf die Tagesordnung der Assemblée gesetzt, doch meint Cham durchaus auch die bis dahin schleppend verlaufende, wenn nicht vollständig unterlassene Tilgung jener Schulden, die Haiti von Frankreich für die Unabhängigkeitsanleihe aufgezwungen worden waren. Wenn Cham nun den französischen Botschafter beim Eintreiben dieser Schulden zeigt (Abb. 48/49), so entspricht dies zwar der scheinbar natürlichen Ordnung und dem französischen Rechtsverständnis, nicht aber der historischen Wirklichkeit. Denn erst die verkaufte Unabhängigkeit erlaubt es den Franzosen wieder, sich ausgerechnet in dem Land wie neokoloniale Herren zu bewegen, wo die napoleonische Armee ihre erste und noch dazu eine ihrer schwersten Niederlagen erlitten hat. Die Proklamation des haitianischen Kaiserreiches gibt dem Karikaturisten endlich die Möglichkeit zu zeigen, daß die Haitianer nicht nur finanziell, sondern auch kulturell von Frankreich abhängig seien. Der Imitationsversuch - so Cham - muß notwendigerweise scheitern, da die Franzosen die Schwarzen immer noch nicht vollständig zur Raison, sprich zu der von ihnen kontrollierten Wirtschaft gebracht haben. Die expliziten Karikaturen zu diesem Thema werden von Cham zwar erst im Frühjahr 185065 veröffentlicht, finden aber ebenso in besagtem Album ihren Platz. Der Corsaire zum Beispiel hat gleich zu Beginn seiner Haiti-Berichterstattung die Schuldenfrage mit der Anerkennung des neuen Kaiserreichs verbunden 66 .

65 Siehe Cham: Paiement de l'indemnité de Saint-Domingue, in: Le Charivari, 17.3.1850. 66 Siehe Anmerkung 30.

80 Die neoimperialistische Lesart der Karikaturen wird erst spät explizit gemacht, selbst wenn man voraussetzen kann, daß sie die ganze Zeit mitgedacht werden muß. Daher bietet der chronische Geldmangel auch die Möglichkeit, in einer großen Anzahl Vignetten von Anfang an Soulouque mit der Kultur des "Kleinbürgertums" und der "Unterschichten" 67 in Verbindung zu bringen. Solange Cham französische "Größen" in das gelobte karibische Land emigrieren läßt oder die Napoleon-Mythologie lächerlich macht, ist eine eindeutige antibonapartistische Komponente zu erkennen. Wenn aber Drehorgelspieler (Abb. 50), Kasperletheater (Abb. 51/52), der billige Jakob (Abb. 53) und Billigtapeten (Abb. 54) nach Haiti eingeführt werden und sich haitianische Großwürdenträger als Schuhputzer (Abb. 55), Pommes-Frites-Brater (Abb. 56) und Postboten (Abb. 57) verdingen müssen, dann werden die Schwarzen an den Platz gebracht, an den sie nach Meinung des etablierten Bürgertums gehören. Diese Zuordnung verdeutlicht gleichzeitig auf anschauliche Weise, daß Grundlage des Rassismus die Klassengegensätze im zeitgenössischen Paris sind. Die dortige Unterschichtenkultur wird als adäquater Exportartikel nach Haiti vorgestellt. Es ist bezeichnend, daß Cham, etwa im Gegensatz zu Fabrizius (Abb. 21), Soulouque noch nicht auf die Palme oder in den Affenkäfig setzt, wo ja bereits die Autoren des Charivari, wenn auch in anderer Konstellation und Intention, den kaiserlichen Botschafter einquartiert haben. Die hier karikierten Schwarzen sind keine Halbaffen, sondern werden der gleichen Kultur zugeordnet wie die weißen Barbaren. Wenn Kunzle die Chamschen Bilderserien als Sublimierung der Leiden und des Kampfes der Unterschichten ansieht 68 , dann muß dem zunächst einmal entgegengehalten werden, daß der idealtypische Unterschichtenrezipient dieses Albums wohl kaum bereit war, den schwarzen Monarchen mit Frau und Kind auf der Bank vor dem gleichen Kasperletheater vorgeführt zu bekommen, zu dem er sonntags auf den Champs-Elysées seinen Nachwuchs auszuführen pflegte. Gleichzeitig liefert Kunzles Artikel aber einen wertvollen Hinweis darauf, daß Cham die Alltagskonflikte häufig grausam inszeniert - inwieweit das auch für andere Karikaturisten gilt, mag im Augenblick dem Befund der noch zu analysierenden Karikaturen überlassen bleiben. Der schwarze Napoleon wäre demnach nichts anderes als die negative Projektion jener Kleinbürgerträume, die den französischen Bonapartismus als Fiktion an der Macht halten. Der schwarze Monarch kämpft mit aller Gewalt gegen das rassische und soziale Fatum an, das ihm, wie dem Kleinbürger, keinen Platz an der anachronistischen Sonne des heraufdämmernden Second Empire bereithält. "Soulouques" Grausamkeit bei Cham antizipiert die Gewalt, mit der der weiße Imitator 20 Jahre lang die Armee, die Steuern und Mieten der Kleinbürger ausnutzen wird, um seinen Traum von der Wiederherstellung der "gloire" zu verwirklichen. 67 Diese "Klassen" sind von Kunzle, 1980, S. 223, als die eigentlichen Adressaten der Karikaturen Chams ausgemacht worden. Inwieweit man vom Inhalt der Karikaturen auf ihre Adressaten schließen kann, soll am Ende dieses Kapitels diskutiert werden. 68 Siehe Kunzle, 1980, a.a.O.

81 In einem Kampf allerdings stehen Cham und seine schwarze Figur an der gleichen Front: Wie der Karikaturist hat Soulouque keinerlei Sympathie für die "Bas-bleus" (Abb. 58). Doch überschreiten dessen Gegenmaßnahmen mal wieder die Grenze des Schicklichen, womit der Vergleich zwischen dem Autor und seiner Figur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, den der Männlichkeit, gebracht ist, und die Methoden des Karikaturisten wiederum als zivilisiert dastehen. Leider ist nicht bekannt, ob Cham bereits 1850 davon träumte, zu den Kleinbürgern und "Bohémiens" 69 nach Batignolles zu ziehen, was er tatsächlich erst später mit Frau und Haustieren verwirklichen sollte70. Wenn dem so wäre, hätte Soulouque die Träume des Zeichners antizipiert (Abb. 59). In jedem Fall verbringt die schwarze Figur dort im Schatten einer Palme ihren Lebensabend mit dem, was Cham metaphorisch schon die ganze Zeit getan hat: Kaninchen zu verkaufen - bedeutet doch im Französischen "poser un lapin" jemanden versetzen . Wie gesehen läßt sich Chams Bilderserie kaum auf eine Aussage reduzieren. Ebensowenig spiegelt sie jene "kleinbürgerlich-anarchistische" Haltung wider, die Kunzle bei dem Künstler vermutet, in der Annahme, die Leserschaft des Charivari sei in gebildete Republikaner und die weniger anspruchsvollen breiten unteren Mittelschichten zu unterteilen. Demnach würde Daumier für die erste Gruppe und Cham für die zweite zeichnen. Man könnte dieser Lesart das offen zur Schau getragene Aristokratentum Chams entgegenhalten, doch muß dieses nicht unbedingt seine Zeichnungen beeinflußt haben. Vielmehr scheint die These als solche fraglich. Eindeutig - auch durch die in dieser Studie angeführten Beispiele - zu belegen, sind die Appelle an die Bildung der Leserschaft. Es ist zwar wahrscheinlich, daß es ungebildete Menschen gab, die sich in den Auslagen Chams leicht verständliche Zeichnungen ansahen und über sie lachten; aber warum diese Bilderserien trotzdem nicht auch für jene Gebildeten angefertigt worden sein sollen, ist nicht einzusehen. Gerade das Soulouque-Album kann doch für den antibonapartistischen Bildungsbürger die Funktion haben, die Richtigkeit seines politischen und kulturellen Standpunktes zu bestätigen und den Bonapartismus als ein kleinbürgerliches Negerphänomen abzuqualifizieren; was nicht bedeuten soll, daß die Kleinbürger im sicheren Bewußtsein ihrer rassischen Höherwertigkeit nicht ebenfalls über die Karikaturen ihrer eigenen Kultur lachten. In Anlehnung an die Kaninchenmetapher ist aber eher zu vermuten, daß Cham den Unterschichten zynisch einen Neger aufgebunden hat. Dennoch bleibt es sein Verdienst, das Soulouque-Kostüm gefunden und wenigstens bis zur Veröffentlichung des Albums an ihm festgehalten zu haben. Immerhin hat er Soulouque nicht mit den Linken in Verbindung gebracht, was nach seinen Ausfällen gegen Proudhon oder Leroux durchaus denkbar gewesen wäre. Zwar ist auch 69 Siehe Kunzle, 1980, S. 220. Kunzle erwähnt Chams Haus in Batignolles im Zusammenhang mit der Juif-Errant-Seris, was nahelegt, daß er dort bereits in den 40er Jahren gelebt habe. Diese Meinung ist zumindest nicht durch die Biographie Ribeyres gestützt. 70 Siehe Ribeyre, S. 195.

82 Girardin (Abb. 60/61) vom Corsaire als Adept "Soulouques" denunziert worden, doch ist diese Person wegen ihrer vielfältigen Positionswechsel von allen Seiten angreifbar. Offensichtlich sollte mit der Chamschen Soulouque-Figur ein diffuser Antibonapartismus verbreitet werden. Cham selbst gibt in den wenigen SoulouqueVignetten, die er nach dem Album in der Zweiten Republik anfertigt, das NapoleonKostüm auf, und zwar zugunsten eines Märchenprinzen, der spätestens bei seinem Einzug in die Weltausstellung in London im Frühjahr 1851 die kritische Qualität an einen exotisch rassistischen Fait divers abgeben mußte (Abb. 62). Zu diesem Zeitpunkt sind aber Chams schreibende und zeichnende Kollegen mit der eindeutigen Gleichsetzung von Soulouque und Louis-Napoleon weit über die ursprünglichen Intentionen des aristokratischen "Kostüm-Schneiders" hinausgegangen. 3.3.3 Vernier Von allen Karikaturisten im Charivari griff Vernier 1850/51 am häufigsten die Person des Präsidenten im Zerrbild an, und in einem Fall intervenierte die Zensur mit dem einzigen Verbot während der Zweiten Republik gegen den Charivari71 (Abb. 69). Es muß hierauf hingewiesen werden, da Verniers Bilder gegen den neuen Bonapartismus unter der Präsidentschaft Louis-Napoleons von der Sekundärliteratur kaum gewürdigt worden sind. Im Zusammenhang der Soulouque-Thematik ist jedoch nur von Wichtigkeit, daß an Verniers Opposition gegen den weißen Imitator nicht gezweifelt werden kann. Die erste Karikatur 72 (Abb. 63) zeigt den schwarzen Napoleon im vollständigen Kostüm, wobei Vernier nicht den grauen Mantel übernimmt, sondern den bereits in den Artikeln erwähnten Frack wählt, der ebenfalls die Zeit vor und nach der Kaiserkrönung repräsentiert. Der Soldat der "garde impériale" und auch der "Duc de la Marmelade" sind wie bei Cham barfüßig. Ein signifikanter Unterschied zu Cham besteht allerdings in dem angehefteten Stern. Dieser wird auch nicht in den CharivariArtikeln erwähnt, sondern erscheint zum ersten Mal als Goldstern in einem Bericht des Globe, den das Journal des Débats wiedergibt 73 . Vernier macht diesen Goldstern - in Analogie zu der vom Constitutionnel verbreiteten Pappkrone - nun zu einem Produkt aus Pappe, womit der Eindruck der Mittellosigkeit und lächerlichen Imitation des Haitianers unterstrichen wird. Andererseits basiert der Witz der Bildunterschrift gerade auf diesem Stern. Der "kaiserliche Taschenspielertrick" besteht darin, die allgemeine Entrüstung über das russische Eingreifen gegen die ungarische Republik zu durchbrechen, dem Zaren zu gratulieren und dafür einen echten Orden mit Diamanten

71 Ab dem 18.4.1851 wird diese Affäre ausführlich im Charivari kommentiert, siehe Goldstein, S. 176 ff. Auf die Prozeßberichterstattung wird anläßlich der Daumier-Karikaturen 1855/56 eingegangen werden. 72 Es handelt sich um die erste ganzseitige Soulouque-Karikatur. 73 Siehe Le Journal des Débats,

5.10.1849.

83 zu kassieren. Die Analogie zwischen der russischer. Unterstützung Österreichs und Louis-Napoleons Vorgehen in Rom, das j a auch die österreichische Herrschaft in Italien einstweilen stabilisierte, ist offensichtlich. Die eigentliche Aktualität der Karikatur jedoch besteht darin, daß die französische Regierung durch die Vermittlung des noch amtierenden Außenministers de Tocqueville erreicht hatte, daß Kossuth, der Anführer der ungarischen Republik, aus dem türkischen Exil nach London gehen konnte und nicht an das zaristische Rußland ausgeliefert wurde, womit der Präsident sich ein liberales Image zu schaffen hoffte 74 . Vernier benutzt die schwarze Figur nun dazu, um das deutlich zu machen, was die sich offiziell liberal gebende Propaganda verschweigt: Louis-Napoleon hatte nämlich soeben de Tocqueville aus dem Amt entlassen und kurz zuvor Mazzini mit "russischen" Methoden aus Rom ins Londoner Exil gejagt; jetzt verhalf er Kossuth dazu, ihm dort Gesellschaft zu leisten, anstatt nach Sibirien deportiert zu werden. Mit seiner Bildunterschrift knüpft Vernier an den Artikel "Reconnaîtra-t-on Soulouque" 75 an, der Louis-Napoleon als Adepten Soulouques und des Zaren darstellte. Der Bezug auf zwei unterschiedliche Pressebereiche führt zu einer ambivalenten Aussage: Für sich genommen zeigt das Bild die lächerlichen haitianischen Verhältnisse, zusammen mit der Bildunterschrift kritisiert es die barbarisierende Intention der "seriösen" Presse gegenüber Soulouque, indem auf die Vergleichbarkeit der französischen und der haitianischen, das heißt antirepublikanischen Politik hingewiesen wird. Diese Ambivalenz löst sich Ende Dezember im Sinne einer rassistischen Darstellung Soulouques (Abb. 64) auf. Ohne aktuellen Bezug zeigt Vernier, daß die Einkleidung der haitianischen Soldaten nach napoleonischem Vorbild gänzlich mißlingt, weil die Neger weder die Statur noch den notwendigen Drill haben. Wieder ist eine Abweichung von Chams Kostüm der signifikante Indikator. Soulouque trägt diesmal zwar den grauen Mantel, aber unter dem Napoleonhut ist deutlich das haitianische Kopftuch zu sehen, das aus der Illustration

bekannt ist und hier im Sinne der Fabri-

zius-Karikatur (Abb. 23) eingesetzt wird. Verniers Antibonapartismus geht also nicht so weit, die französische und karibische Variante gleichzusetzen. Keine zwei Wochen später erscheint eine Karikatur zum Dreikönigstag (Abb. 65), die den schwarzen und die weißen Monarchen auf eine Stufe stellt. Überdies macht sie den einzigen nicht-rassistischen Gebrauch von der Pappkrone: Sie ist dem schwarzen Neuankömmling gemäß dem französischen Brauch aufgesetzt worden. So empfängt Soulouque in trauter Runde mit dem österreichischen Kaiser, dem russischen Zaren und der sonst unter diesen Despoten nicht anzutreffenden englischen Königin den französischen Parvenü. Auf dem Kuchen steht, wie diese Herrschaften zu ihren Reichtümern gekommen sind, mit denen sie sich schmücken: "liste civile", "impôts" und "confiscations". Alle diese Bereicherungsmethoden versucht Louis-Na74

Siehe Agulhon, S . 143.

75 Siehe Anmerkung 37.

84 poleon zwar auch schon anzuwenden, aber noch hindert ihn das Parlament daran. Das soll im nächsten Jahr anders werden. Diese Karikatur verdeutlicht, wie man den alljährlich wiederkehrenden volkstümlichen Brauch für die politische Aktualität nutzen kann. Das Datum ermöglicht, den allgemein befürchteten Staatsstreich in einer bewußt harmlos gehaltenen Familienszene - das Messer in der Hand des österreichischen Kaisers ist ein euphemistisches Bild für das, was mit den Republikanern angestellt werden wird - , zu antizipieren. Die Jahresausblicke der illustrierten Magazine werden hier also politisiert. In ähnlicher Weise hatte auch Cham wenige Tage vorher in seiner einzigen "Actualité"-Karikatur zu Soulouque (Abb. 66) während der Zweiten Republik den Brauch der Neujahrsgeschenke genutzt und damit gleichzeitig die "Haiti"-Berichterstattung des Charivari als besonders subversiv dargestellt. Die politische Aktualität liegt in dem Verleumdungsprozeß, den der Constitutionnel einige Wochen zuvor gegen das Satireblatt angestrengt hatte. Hier nun wird diese Imitation Véronscher Praktiken, die ja durchaus politische Motive haben könnte, auf die allgemein menschliche Ebene des Gatten gebracht, dem das Geld fehlt, die Ansprüche seiner Gemahlin zu befriedigen, und damit entpolitisiert. Gleichzeitig ist es aber auch möglich, daß Cham auf die damals zur großen Publikumsbelustigung in zahlreichen Theatern inszenierten Soulouque-Auftritte (siehe III.4.1) reagiert, um mit seinem Napoleon-Kostüm an die Urheberschaft der Satirefigur beim Charivari zu erinnern. Im Vergleich zu Vernier wird allerdings deutlich, daß es Cham nicht gelungen ist, volkstümliche Motive adäquat in eine politische Karikatur zu verwandeln. Vernier greift in seiner letzten Soulouque-Karikatur (Abb. 67) noch einmal die Aussage der ersten (Abb. 63) auf und konfrontiert zum ersten und einzigen Mal den karibischen und den französischen Imitatoren. Soulouque erscheint als schwarzer Napoleon, die linke Hand in der Weste, in der langen Reihe der europäischen Despoten, um dem französischen Präsidenten zur Belohnung für gutes Lernen die Zustimmung zu seiner Politik zu übergeben. Es ist auffällig, daß die Monarchen ihre Aufwartung in den Uniformen ihrer Truppen machen, während Louis-Napoleon sie noch in dem halb-zivilen Kostüm, das er während der Truppenparaden der letzten Monate getragen hat, empfängt. Die Oberbefehlshaber ihrer Armeen ordnen sich als Soldaten dem Präsidenten unter, der wenige Tage zuvor seinen Kriegsminister, den General d'Hautpoul, und den Oberbefehlshaber der Pariser Truppen, den General Neumayer, entlassen hatte76. Noch vor dem Staatsstreich hat der Neffe die Politik seines Vorbilds verwirklicht. Napoleon-Soulouque steht als Zeuge im Hintergrund einer Szene, die die einstigen Kriegsgegner (Rußland, Österreich und Preußen - Frankreich) versöhnt. Damit wird deutlich, daß die Grundlage der allseits propagierten "gloire" der Militarismus war. Im Gegensatz zum Vorjahr muß die schwarze Figur nun nicht mehr her-

76 Siehe Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 163.

85 halten, um den zu verschleiernden Part der französischen Politik zu illustrieren; der Präsident reißt jetzt in aller Öffentlichkeit die Macht an sich. Auch in Verniers Karikaturen ist eine anfängliche Unsicherheit bei der Typisierung der schwarzen Figur festzustellen. Die Funktion seines Soulouque ist dann überzeugend, wenn er der politischen Aktualität entsprechend eingesetzt wird. Besonders die bei ihm einmalige Gegenüberstellung von Soulouque und Louis-Napoleon trägt zur Klärung der Bedeutung des schwarzen Napoleon auch für andere Karikaturisten bei. Vemiers Zeichnungen orientieren sich an den statischen Bildern der Illustration, wobei die Komik lediglich durch die ungewohnte Konstellation, nicht aber durch übermäßige Verzerrung oder groteske Grausamkeit, wie etwa bei Cham, zustandekommt. Andere seiner Louis-Napoleon-Karikaturen sind wesentlich bewegter, und die wohl grausamste - das vom Präsidenten veranstaltete Preisschießen auf den Kopf der Republik - ist dann auch verboten worden (Abb. 68). 3.3.4 Daumier Daumiers einzige Soulouque-Karikatur77 (Abb. 69) während der Zweiten Republik erscheint zu einem Zeitpunkt, da Haiti zwar in Paris Stoff für Kommentare liefert, diesmal jedoch nicht wegen seines Kaisers, sondern wegen Lamartines Theaterstück Toussaint Louverture. Daumier entwirft keine Karikaturen zu dem Stück selbst, allerdings reagiert er auf die der anderen Zeichner, wie weiter unten noch zu sehen sein wird (III.4.3.4). Wenn er sich dann mit achtmonatiger Verspätung doch noch dem schwarzen Kaiser zuwendet, so muß hierfür ein besonderer Grund vorliegen. Keiner der vorausgehenden Soulouque-Artikel des Charivari hat Daumier zu diesem Blatt inspiriert. Nichtsdestoweniger ist es von einer eindeutigen Aktualität. Am 31.5.1850 meldete der Moniteur, daß die Vortagsausgabe des Siècle beschlagnahmt worden war, wegen eines Feuilleton-Artikels von Louis Denoyers, der einen direkten Angriff auf den Präsidenten darstellte. Denoyers hatte in einem fiktiven Brief an den Präsidenten die am 30.5. vom Parlament beschlossene Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts als einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Diktatur bezeichnet. In seiner Verteidigung vom 2.6. weist der Siècle zu Recht daraufhin, daß dieses Gesetz von der Parlamentsmehrheit, den "burgraves", beschlossen wurde, und der inkriminierte Artikel folglich als Angriff auf sie zu werten sei. Das eigentliche Novum der Reaktion des Elysée besteht darin, daß zum ersten Mal ein Blatt wegen Präsidentenbeleidigung konfisziert und darüber hinaus ein Journalist persönlich angeklagt wurde. Dies war möglich, weil nur die Feuilleton-Autoren, gerade aufgrund des unpolitischen Charakters der Rubrik,

77 Siehe Daumier: L'Empereur Soulouque ayant appris..., in: Le Charivari, 15.6.1850. D 2015. Große Teile des folgenden Unterkapitels beruhen auf meinem Kommentar zu den SoulouqueKarikaturen Daumiers in Stoll, 1985, S. 102, dem hier noch einige Beobachtungen hinzugefügt werden.

86 ihre Artikel zeichneten. Einige "burgraves" arbeiteten aber gleichzeitig bereits darauf hin, alle Artikel namentlich kenntlich zu machen, was dann auch tatsächlich am 16. Juli beschlossen und seit dem 20. September 7 8 durchgeführt wurde. Der Fall Denoyers führte also exemplarisch der Öffentlichkeit vor, was mit der geplanten Pressegesetzgebung bezweckt werden sollte. Daumier fertigt zu dieser Thematik zwei aufeinanderfolgende Karikaturen an; beide benutzen das Motiv des Schmorens in der Hölle, allerdings in seiner säkularen Bedeutung der Barbarisierung von Frauen und überseeischen Fremden in der Form des Hexensabbats und des Kannibalismus. Die Bilder werden im Abstand von neun Tagen veröffentlicht, sind aber, wie man der Steinnumerierung 79 entnehmen kann, direkt hintereinander hergestellt worden, also als unmittelbare Reaktion auf die Zensurmaßnahme anzusehen. Die erste Karikatur zeigt eine Hexenszene (Abb. 70), in der die Verleger der drei konservativen Zeitungen Le Constitutionnel, La Patrie (beide bonapartistisch) und L'Assemblée Nationale (legitimistisch) Blätter in einen Kessel werfen, dessen Feuerung vom Orleanisten-Teufel Thiers angefacht wird. Der selbstgestellte Anspruch aufklärerischer Wirkung der Presse wird durch die künstlichen Lichtspender repräsentiert und kontrastiert mit der obskurantistischen Tätigkeit. Welche Blätter in den Kochtopf geworfen werden, ist nicht eindeutig auszumachen, es könnten sowohl Stimmzettel - die Stimmen der Unterschichten werden durch das neue Wahlgesetz verbrannt - als auch die linke Presse gemeint sein, die man mit dem neuen Pressegesetz zu knebeln gedenkt. In jedem Fall ist offensichtlich, daß Daumier, ähnlich der Verteidigungsargumentation des Siècle, zunächst den parlamentarischen Arm des Präsidenten angreift, um dann dessen eigentliche Tat in der klischeehaftesten barbarischen Form darzustellen. Wie mit einem Fokus wird der Kessel in den Vordergrund geholt und mit ihm der Hauptakteur und dessen Opfer. Ohne Zweifel tritt der schwarze Napoleon zerrissene Zeitungsseiten mit Füßen, so daß auch ohne Bildunterschrift klar ist, daß hier ein weißer Journalist gekocht werden soll. Die Möglichkeit eines solchen Vorfalls wird von der rassistischen Presse vor allem deshalb gern als wahrscheinlich ausgegeben, weil die Franzosen in Haiti - aufgrund ihrer Kanonenboote, die man zum Eintreiben der Schulden zu brauchen scheint - sicher sein können, daß er nicht eintritt. Hätte es also wirklich einen Angriff auf einen weißen Journalisten gegeben, hätten die Zeitungen längst eine großangelegte Strafexpedition gefordert. Folglich handelt es sich in gezeigter Szene nicht um den realen Soulouque, sondern um die "schwarze" Version

78 Siehe Bellanger, S. 230. Das Gesetz ging als loi Tinguy, benannt nach dem Abgeordneten der Vendée, Marquis de Tinguy, in die Pressegeschichte ein. 79 Den Hinweis auf die Steinnumerierung verdanke ich Liz Childs, die inzwischen die von Provost angefertigte vollständige Liste der Steinnumerierungen herausgebracht hat. Jeder zu bearbeitende Stein wurde vom Künstler in der Produktionsreihenfolge nummeriert. Die Zahlenangaben befinden sich häufig in der Nähe der Künstlersignatur.

87 des französischen Imitators, der mit dem Prozeß gegen Denoyers eine zivilisierte Pressepolitik aufgibt. Die Werte und das Zeichensystem der Zivilisation werden auf - den Kopf gestellt. Daher stilisiert die Dampfaura auf der Seite des Weißen den Journalisten zum Märtyrer. Selbst wenn der prosaische Dampf keinerlei Heilsgarantie zuläßt, wird der weißen Figur das Pathos des wehrlosen Opfers zugeschrieben. Der Einzelfall wird zur exemplarischen Voraussschau für die Zukunft. Durch den Perpektivwechsel von dem kleinen Teufels und seinen Mithelfern auf den Oberteufel wird bereits im Bild klar, was die Unterschrift 80 explizit macht: Die "burgraves" sollen sehen, welches Mittel sie dem von ihnen gestützten Imitator propagandistisch in die Hände spielen. Völlig abgetrennt von der Szene im Vordergrund tanzen im Hintergrund halbnackte "Neger". Warum verzichtet Daumier nicht, wie in der vorherigen Karikatur, auf den Hintergrund oder begnügt sich wenigstens, wie Cham in ähnlichen Konfliktsituationen, mit einer Palme? Die tanzenden "Neger" bringen doch nur noch ein zusätzliches Klischee in das Bild. Offensichtlich übernimmt er das Motiv aus dem Portrait-charge über Schoelcher (Abb. 108)81. In der Zwischenzeit ist es ähnlich bei Quillenbois' Soulouque-Karikatur aufgetaucht, wo die Untergebenen um den Schlaraffenbaum tanzen (Abb. 20), und, wie noch zu zeigen sein wird, bei Cham in einer Karikatur zum Lamartine-Stück (Abb. 100). Vergleicht man diese Szenen mit anderen spärlich bekleideten Schwarzen bei Cham, fällt auf, daß dieser in seinen Soulouque-Darstellungen fast immer das Verhältnis Feldherr-Soldat karikiert, also das Genie und das den Mythos tragende Fußvolk. In der Schoelcher-Karikatur ist festzustellen, daß die tanzenden affenartigen Wesen die Funktion haben, den Objektcharakter der Schwarzen in dessen politischem Diskurs zu entlarven. Also erfaßt der Hintergrund jene Aktualität, die den Konflikt im Vordergrund provoziert hat, nämlich die Entmündigung der Unterschichten durch das neue Wahlgesetz. Überdies wird angedeutet, daß die bonapartistische Variante der Unterdrückung des Volkes darin besteht, es gleichzeitig zum Tanzen zu bringen, damit es den politischen Vordergrund gar nicht mehr wahrnimmt. Sämtliche Elemente der Daumier-Karikatur sind nicht neu, sondern zum großen Teil von Cham übernommen. Auch Daumier verläßt sich auf die bereits sprichwörtliche Figur mit dem "petit chapeau de Napoléon"; wie Cham nutzt er die typi80 Im Falle Daumiers stellt die Bildunterschrift immer ein Problem für den Interpreten dar, da sie nach übereinstimmenden Auskünften der Zeitgenossen in den seltensten Fällen von Daumier selbst angefertigt wurde, was für den Betrachter keinen Unterschied macht, aber durchaus eine vom Zeichner nicht intendierte Lesart des Bildes bewirken kann. Die Tatsache, daß es in Haiti einen Moniteur gab, muß nicht unbedingt als Indiz dafür angesehen werden, daß hier der reale Soulouque karikiert wird, da der französische Moniteur die Vergleichbarkeit beider Länder garantierte. Überdies dürfte den wenigsten Lesern die Existenz des haitianischen Moniteur bekannt gewesen sein, da er nie in der französischen Presse zitiert wird. 81 Kommentar zu dieser Karikatur in IV. 1.2.

88 sehen Verfahren der Karikatur, die Verzerrung der Physiognomie und die groteske Übertreibung der Aktion. Der entscheidende Unterschied zu Cham, und hierin wieder die Nähe zu Vernier, liegt in der politischen Aktualität, die keinerlei Ambivalenz zuläßt. In wieweit der Zeichner außerdem auf die Karikaturen zu dem Lamartine-Stück reagiert haben könnte, wird weiter unten erörtert. Die Aktualität des Dramas böte eine Erklärung dafür, warum Daumier Soulouque und nicht Louis-Napoleon selbst als Figur wählte. Obwohl ein Presseprozeß der Auslöser für den Bildprotest war und die Karikaturisten sich schon immer potentiell in der Situation Denoyers befanden, war es zu diesem Zeitpunkt möglich, Louis-Napoleon direkt anzugreifen, was die Karikaturen im Journal pour rire belegen. Grundsätzlich ist aber zu vermuten, daß Daumier trotz einiger weniger Louis-Napoleon-Karikaturen es vorzog, nicht die Person, sondern das Phänomen des Bonapartismus zu attackieren. Soulouque bedeutet sowohl die Person als auch das Prinzip. Zwei Monate später sollte Daumier eine andere, seinen Intentionen adäquatere Figur, Ratapoil (Abb. 107), gefunden haben. Man könnte annehmen, daß diese eine Karikatur Daumiers im Vergleich zu den vielen von Cham kaum auffiel, tatsächlich wurde das Bild mit dem Teerkessel in den folgenden Monaten mehrfach von Charivari-Autoren erwähnt, selbst 1855 sollte es noch einmal wiederbelebt werden (siehe V.2.1). 3.3.5 Quillenbois Die politische Aktualität ist mehrfach als Kriterium herangezogen worden, um die prinzipielle Vergleichbarkeit des grotesk vorgestellten Haiti mit der französischen Politik hervorzuheben und damit die die Zusammenhänge verschleiernde Funktion des negativen Haiti-Bildes in der "seriösen" Presse ans Licht zu bringen. Dabei wurde bisher immer vorausgesetzt, daß diese Strategie aus einer republikanisch/antibonapartistischen Position gewählt werde. Ist die Barbarisierung des französischen Bonapartismus aber auch aus der antisozialistischen Variante einer antibonapartistischen Position möglich? Das Fallbeispiel hat Quillenbois im Caricaturiste geliefert: Zum zweiten Jahrestag der Februarrevolution erschien eine antisozialistische Soulouque-Karikatur (Abb. 25). Soulouque, im grauen Mantel, mit Reiterstiefeln und federgeschmücktem Napoleonhut empfängt seinen Chefdenker Louis Blanc. Die Brisanz dieser Karikatur liegt in ihrer sowohl historischen als auch aktuellen Komponente. Tatsächlich hatte Louis-Napoleon während seiner Festungshaft in Ham für die Redaktion seiner Schrift L'extinction du pauperisme einen dreitägigen Besuch des Sozialisten Louis Blanc 82 bewilligt bekommen. Im Februar 1850 befand sich dieser allerdings seit mehr als einem halben Jahr im Londoner Exil, von wo aus er sich gegen Unterstellungen der bonapartistischen Blätter La Patrie und Le Napoléon zur Wehr setzen mußte, er habe die Pariser Arbeiter für den 24. Februar zu einer Demonstration aufgerufen. Blanc 82 Siehe Herre, S. 62.

89 hielt dagegen, ein solches Unternehmen könne er gar nicht angezettelt haben, da er genau wisse, daß der Präfekt Carlier nur darauf warte, mit der Polizei auf Demonstranten losgehen zu können 8 3 . Die Pariser Arbeiter lieferten dann auch den bonapartistischen Ordnungshütern an diesem Tag keinen Repressionsvorwand. Die an die Terreur erinnernde Maximum-Verordnung in der Karikatur hat keinen aktuellen Bezug, sondern soll vielmehr auf die einstige Freundschaft anspielen, die die augenblickliche Pressekampagne aus dem Elysée zu vertuschen versuchte. Ohne Zweifel soll Louis-Napoleön als Roter angeschwärzt werden. Doch scheint der Zeichner nicht allein auf das Chamsche Kostüm setzen zu wollen und fügt ihm deshalb zur scheinbaren Verdeutlichung - noch das jakobinische Gleichheitsdreieck als Orden hinzu. Tatsächlich ist ihm damit eine ähnlich Groteske gelungen wie der ursprünglich englische Phantasietitel "Napoléon-Garibaldi...", den Quillenbois selbst bereits durch "Fauxteint" ersetzt hatte. Es ist anzunehmen, daß der Betrachter sich daran erinnerte, daß einzig der wirkliche Kaiser von Haiti mit der Maximum-Verordnung in Verbindung zu bringen war, da er den Außenhandel verstaatlicht hatte und seinen Untertanen, in Umkehrung der jakobinischen Absicht, die Waren zu Maximalpreisen verkaufte, die seine Privatschatulle füllten. Im Unterschied zu Daumier und Vernier greift diese Karikatur nicht nur den augenblicklichen Machthaber, sondern auch dessen Opfer an. Quillenbois entfernt "Haiti" von Frankreich, da Blanc - in Analogie zu Chams Girardin oder Dupin (Abb. 11/12) - in das "Haiti" seiner revolutionären Träume versetzt wird. Im Gegensatz zu Chams Figuren befindet sich Blanc schon im Exil. Wenn er das gelobte Land auf der anderen Seite des Atlantiks findet, dann nur, um nicht gleich wieder über den Kanal zurückkommen zu dürfen, wie Blancs einstiger Gesprächspartner, der nach seiner Flucht aus Ham über England Jahre später in Paris triumphal seinen Einzug hielt. Wenn Cham seine Figuren freiwillig nach Haiti ziehen läßt, dann in der Absicht, den zukünftigen Modellimport aus der eigenen Vergangenheit über den Umweg der Barbarei zu denunzieren; Quillenbois verbannt den Exilierten in die Barbarei. Die von der antisozialistischen Presse produzierte Aktualität wird in der Karikatur über die Vergangenheit des Präsidenten/Prätendenten vereindeutigt, aber wegen der nicht kenntlich gemachten gegenwärtigen Situation des Exilierten dient sie letztlich der Ausgrenzung einer sozialistischen Vergangenheit in die Barbarei. In den Augen der Zeitgenossen verhielt sich die Karikatur zur Salonmalerei wie Haiti zu Frankreich, daher konnten Karikaturen über Haiti als realistische Darstellungen der dortigen Verhältnisse gelesen werden. Alle Zeichner gehen von dieser Grundannahme aus, doch nur die wenigsten markieren, wie Fabrizius, einen kategorialen Unterschied zu Frankreich und zeichnen einen Affen auf dem Baum (Abb. 21). Tatsäch83 Siehe Louis Blanc in seinem Exilblatt Le Nouveau Monde - Journal historique et politique, 15.2.1850, in Paris habe die Commission du Luxembourg gegen die Unterstellungen des Napoléon protestiert.

90 lieh orientiert sich die Wiedergabe haitianischer Verhältnisse an der jeweiligen Wahrnehmung der französischen Politik und Gesellschaft, und selbst Fabrizius' Affenbild reagiert auf eine vergleichbare Aktualität (siehe Bildunterschrift), indem es gerade diese Vergleichbarkeit negiert. Auf der politischen Ebene lassen sich die beiden Richtungen ausmachen, die bereits in der satirischen Presse anzutreffen sind. Diejenigen, die beide Bonapartismen aus der republikanischen Perspektive vergleichen, haben den Vorteil, daß sie die Politik der französischen Regierung nur schwarz zu schminken brauchen, um der Glanzund Helligkeitsmetaphorik, mit der jede politische Herrschaft sich zu umgeben pflegt, ihre Schattenseite entgegenzuhalten. Dabei kümmern sie sich bewußt nicht darum, ob ihre Bilder der haitianischen Realität entsprechen oder nicht. So setzen sich die meisten über die wenigen angeblich authentischen Bilder in der Illustration, die keinen schwarzen Napoleon zeigen, hinweg. Statt dessen nehmen sie ausschließlich die Nachricht vom karibischen Empire als Vergleichsgrundlage, was ihnen ermöglicht, neben den Handlungen der französischen Regierung die von ihr propagierte Napoleonmythologie schwarz zu färben. Wesentlicher Bezugspunkt dieser Karikaturen ist also der Diskurs der französischen Regierung. Auch die Karikaturen eher monarchistischer Provenienz bemühen sich, den weißen dem schwarzen Bonapartismus gleichzustellen. Dabei greifen sie einerseits auf die republikanischen Ursprünge beider Regime zurück, andererseits auf einen zweiten negativen Bezugspunkt, das Bild vom "nouveau barbare". Der Bonapartismus dient ihnen als Beweis dafür, daß Schwarze wie Linke nur danach trachten, die legitime Herrschaft zu entmachten, um sich an ihre Stelle zu setzen, da sie keine eigenständige Kultur besitzen und nur falsch imitieren können. Der Unterschied zwischen den kulturellen Orientierungsmustern der Oberschichten und der Unterschichten in Frankreich ist die Grundlage zahlreicher Karikaturen von Cham, der die Lebensformen der Schwarzen mit denen der Unterschichten oder auch der Kinder gleichsetzt. Wenn man gerade in diesen Alltagskarikaturen ausschließlich einen Rassismus wirksam sähe, der die biologische Determiniertheit (die Affenartigkeit) der Schwarzen als minderwertige und damit dominierbare Rasse festschreibt, brächte man sich um den Erkenntniswert, den die Karikaturen liefern, um das Funktionieren des Rassismus zu erklären. Die Karikatur will in diesem Fall fremde Phänomene verzerrt wiedergeben. Dies ist ihr nur dann möglich, wenn sie auf schon etablierte Wahrnehmungsmuster zurückgreift, die auch in der eigenen Gesellschaft funktionieren. Damit macht sie aber durch die Verzerrung deutlich, welche innergesellschaftlichen Konflikte das Funktionieren des Rassismus garantieren.

91

3.4 Die Haitianisierung Frankreichs 1850 Die Soulouque-Propaganda der Satire-Blätter scheint sehr schnell gewirkt zu haben. Bereits am 19. Februar 1850 behauptete der Evénement zwar unbestätigt, aber auch undementiert, ein vom Moniteur nicht genannter Abgeordneter der Linken habe im Parlament den Namen Soulouque für eine "hochgestellte Persönlichkeit", womit man für gewöhnlich der Präsident oder sein nächstes Umfeld bezeichnete, benutzt. Allerdings sei dieser Spitzname bereits von den Orléanisten, insbesonders von deren "général en chef", damit ist Thiers gemeint, eingeführt worden. Angesichts dieser parlamentarischen Anschwärzungspraxis ging die satirische Presse zu direkteren Formen des Vergleichs von Frankreich und Haiti über.

3.4.1 Le

Constitutionègre

Am 27.1.1850 erschien zum ersten Mal der Tintamarre mit neuer Titelseite als Le Constitutionègre. Dessen Büro - so ist dort zu lesen - befinde sich in Haiti, "Rue de l'Homme à la grosse cravatte, 10" - eine Anspielung auf die überdimensionalen Halstücher des Con.v/i?uiion«e/-Herausgebers, docteur "Mimi" Véron. Das Motto der Zeitung lautet: "Dévoué, mais stupide." Der Tintamarre erklärt in einem späteren Artikel, daß er keine Mühen gescheut habe, ... à faire entrer dans son cadre exigu un second journal qui a toute l'ampleur et toute la stupidité de son prototype, ...84 Warum zu diesem Zeitpunkt eine Attacke auf das Blatt, dessen Herausgeber, wie erwähnt, bereits seit Anfang November 1849 regelmäßigen Zugang zum Elysée hatte? In der Zwischenzeit mußte der Charivari eine Klage Vérons abwehren, welche Daumier zu einigen seiner gelungensten Karikaturen gegen den Doktor inspirierte (Abb. 71) und die Satirezeitung vermuten ließ, daß die rue de Valois in Kürze einen AntiCharivari lancieren werde 85 . Tatsächlich erschien Anfang Januar die Erstausgabe des Wochenblattes Le Napoléon, dessen Drahtzieher der Charivari im Elysée und in der Redaktion des Constitutionnel vermutete, da die Leser gleich in der ersten Nummer progammatisch mit dem Vorabdruck von L'ère des Césars des Véron-Freundes "Coco" Romieu (Abb. 72) auf die Anliegen des Blattes vorbereitet wurden. Am 27. Januar proklamierte der Charivari voreilig den Tod des bonapartistischen Propagandainstrumentes, während am selben Tag die Silhouette ihre Titelseite mit einer Karikatur schmückte, die Louis-Napoleon von hinten an seinem Schreibtisch als Chefredakteur des Napoléon zeigt 86 (Abb. 73).

84 Siehe Le Tintamarre "Au Charivari ou Au voleur! au voleur! au voleur!", 17.2.1850, S. 6. Die Redaktion des Constitutionnel befand sich in der rue de Valois. 85 Siehe Le Charivari "L'Anti-Charivari", 8.1.1850. 86 Siehe Le Charivari "Le Napoléon", 8.1.1850; "Oraison funèbre du Napoléon.", 27.1.1850.

92 Mit dem Constitutionègre verdichtet der Tintamarre also die Kritik an der Pressepolitik des Präsidenten und seiner publizistischen Helfershelfer, daher wird nicht die neue Revue travestiert, sondern das Blatt der Ghostwriter (frz.: "nègre") für den Elysée-Palast. Scheinbar erfreute sich dieses Verfahren großer Popularität, da es in neun aufeinanderfolgenden Nummern bis zum 24.3.1850 durchgehalten wurde. Die Aufmachung der Titelseite entspricht der des Vorbilds: Kommentar der Redaktion zu den Vorgängen im Parlament; Wiedergabe der Senats-Sitzungen, in denen der Parlamentspräsident "Biscotin" 87 der Linken ständig das Wort entzieht; die "Faits divers", die immer mit dem Bericht der kaiserlichen Aktivitäten des Vortages auf Bällen und im Ministerrat beginnen und den exzessiven Alkoholkonsum des Souveräns anzeigen; Börsennachrichten und die Theaterankündigungen (z.B. "Théâtre de l'Empire. - Vive l'empereur!; Théâtre du Vieux Grelot. - Le Tigre altéré de sang, ou lé (!) Démagogue démasqué"); schließlich noch unten auf der Seite das Feuilleton, selbstverständlich von Alexandre Dumat (!), mit dem Titel Yarock le Kozak, welcher auf die von der Regierung betriebene Renaissance des alten Feindbildes anspielt 88 . Die übrigen Satireblätter reagierten zwar nicht explizit auf diese Serie, aber dennoch gibt es Indizien, daß der Tintamarre den richtigen Ton getroffen hatte, wie z.B. die von ihm selbst ausgelöste Debatte um die Nummer vom 10. Februar. Diese besonders geglückte Ausgabe polemisiert gegen das neue Schul- und Universitätsgesetz ("loi Falloux" 89 ), das zu jener Zeit in der Assemblée Nationale diskutiert wurde und ein klerikales, von den "préfets" kontrolliertes, allgemeines Unterrichtssystem einführen sollte. Das Gesetz erhält im Constitutionègre die Bezeichnung "loi sur l'abrutissement public". Der Berichterstatter "M. Potiron" (gemeint ist der Abgeordnete de Parieu 90 ) gibt folgende Begründung: L'abrutissement public ... est la nécessité du moment. Répandre l'ignorance en la mettant à la portée d e toutes l e s bourses et de toutes les intelligences, tel était donc le but que devait se proposer le gouvernement.

Drei Tage später beschrieb der Charivari mit Bezug auf die "fünfte Jahreszeit" einen fiktiven Karnevalszug, dessen Wagen die Schriftzüge "Droit à l'ignorance" und "Ignorance gratuite et obligatoire" tragen, allerdings ohne einen Hinweis auf Soulouque oder die satirische Schwesterzeitung. Letztere reagiert am darauffolgenden Sonntag und klagt den Charivari91 des geistigen Diebstahls an. Auf diese Weise ge87 Gemeint ist hier der französische Parlamentspräsident Dupin. 88 Siehe Marx: Klassenkämpfe

in Frankreich,

S. 90.

89 Siehe Agulhon, S. 144 ff. 9 0 Siehe das Protokoll der Assemblée- Sitzung in: Le Constitutionnel,

8.2.1850.

91 Siehe Le Charivari "Assemblée Nationale Législative", 13.2.1850 und Le Tintamarre "Au Charivari", 17.2.1850, S. 6. Der Autor wirft dem Charivari indirekt vor, eine "contrefaçon belge" produziert zu haben. Er schlägt das Blatt so mit seinen eigenen Waffen, da in Brüssel ein Charivari belge erschien, der zu diesem Zeitpunkt noch exakt sein französisches Vorbild wiedergab, erst nach dem Staatsstreich in Paris sollte er eigenständig agieren (siehe III.5.1).

93 lingt es dem Tintamarre, den gewichtigen - in dieser Angelegenheit politisch ähnlich gesinnten - Konkurrenten der mangelnden Originalität zu überführen und gleichzeitig die breite Wirkung des Constitutionnel-Pastiche zu unterstreichen. Kurz darauf wurde das kurze Theaterstück Une nuit blanche92, das unter anderem eine Begegnung zwischen Soulouque und dem Unterrichtsminister inszeniert, von der Zensur abgesetzt. Dieser brüstet sich vor dem Potentaten: Dans l'art d'étouffer les esprits / Nous sommes les apôtres; / Comme on ne nous a rien appris / N'apprenons rien aux autres. 93

Wenn man dem Siècle Glauben schenken darf, war diese Passage zwar nicht der unmittelbare Auslöser besagter Zensurmaßnahme, erregte aber nichtsdestoweniger Anstoß bei den Hütern der Theaterordnung. Die Strategie des Tintamarre bewegte sich also durchaus im Bereich einer möglichen Zensurintervention. Angesichts dieser offensichtlichen Haitianisierung der Pariser Parlamentsdebatten erscheinen die "Faits divers" des Constitutionègre als unverfänglich oder gar als Annäherung an den antisozialistische Barbarendiskurs 94 : Chaque jour on signale de nouveaux accidents dus en partie aux neiges qui couvrent les environs. Avant-hier encore, à l'extrémité sud du petit bois des Gibbons, cinq socialistes affamés ont attaqué un loup qui rentrait paisiblement dans sa famille.

Die augenblickliche Pariser Wetterlage wird ins tropische Affenland verlegt. Der Wolf, der immer noch in einigen französischen Rückzugsgebieten in Rudeln Menschen und Tiere bedroht, kehrt hier als friedliche Einzelperson in seine Familie zurück. Durch die Opposition zu den Sozialistenmassen wird er hier zum emblematischen Tier des Bourgeois aufgebaut. Damit erinnert der Autor an eine Figur der frühbürgerlicher Philosophie, an Hobbes' Wolfsmenschen. Der "Gibbon-Wald" entpuppt sich mit Hilfe der bekannten Affen-Metapher als Blätterwald der HaitiImitatorenpresse. Diese barbarisiert nämlich die Sozialisten, indem sie das kapitalistische Wolfsprinzip auf die Gegner der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen projiziert. Das "haitianische" Fait-divers verdeutlicht die Intention der antisozialistischen Barbarenhetze (siehe III.3.3.5): die systemimmanente Bedrohung von Besitz und Familie wird den längst besiegten Sozialrevolutionären zugeschrieben, und dieses Schreckgespenst sichert Louis-Napoleon die Rolle des scheinbaren Beschützers bürgerlicher Werte. Mit der aktuellen Satire über die antirepublikanische Darstellung Haitis als Paradies der Sozialisten wird metaphorisch verdeutlicht, daß zwei Jahre nach der Februar-Revolution - die Pariser Bourgeoisie im Wolfsprinzip einen Naturzustand sehen soll, der gesellschaftlichen Frieden zu garantieren vorgibt. 92 Siehe das Kapitel III.4.2. 93 Siehe de Matharel im "Feuilleton du Siecle", 26.2.1850. 94 Die oben zitierte Nummer vom !0. Februar liefert das anschaulichste Beispiel für diese Textstrategie.

94 Mit dem Constitutionègre werden zum ersten Mal über einen längeren Zeitraum die von der "seriösen" Presse verbreiteten lächerlichen Bilder konsequent mit denen der Berichterstattung über die französischen Verhältnisse gleichgesetzt. Wenn auch der oder die Autoren sich nicht durchgehend um die Typisierung "haitianischer" Figuren bemühen, so garantiert doch schon die Aufmachung der Zeitung den zu leistenden Transfer. Das solcherart aufgebaute Haiti des Metadiskurses enthüllt aktuell die Funktion der Barbarenbilder in der offiziösen Presse des cäsaristischen Präsidenten.

3.4.2 "Le voyage de Soulouque-le-Désiré" In den Parlamentsferien im Sommer 1850 unternahm Louis-Napoleon zwei ausgedehnte Propagandareisen durch die Provinz 95 . Die erste führte ihn vom 12.8. bis zum 28.8. durch die Bourgogne nach Lyon, von dort über die Franche-Comté ins Elsaß und schließlich über Lothringen zurück nach Paris. Der Präsident reiste mit der Bahn als Promotor der Modernisierung Frankreichs, damit wollte er den republikanischen Osten für eine Verfassungsänderung zugunsten der Wiederwahl gewinnen. Begleitet wurde er, außer von bonapartistischen Parlamentariern, von jenem Claqueur- und Schlägertrupp, der unter dem Namen Société du Dix Décembre als Auslöser von Krawallen über die nationalen Grenzen hinaus Bekanntheit erlangen sollte. Marx leitete aus diesem Phänomen die soziale Kategorie des Lumpenproletariats 96 ab. Der Erfolg dieses "Tour de France" blieb zweifelhaft; überall wurde dem Ruf: "Vive l'empereur!" - hauptsächlich von Vertretern der Unterschichten - das "Vive la république!" entgegengehalten. Selbst auf der zweiten Reise (vom 3.9. bis zum 12.9.1850) durch die "konservative" 97 Normandie nach Cherbourg war der Widerstand gegen eine bonapartistische Restauration nicht zu überhören. 3.4.2.1 Die groteske Exotik einer antikonstitutionellen

Kampagne

Der Charivari kommentierte diese Reisen, jeweils im Abstand von einigen Tagen, in der Artikelserie "Le voyage de Soulouque-le-Désiré" 98 . Dieser Titel verdankt sich bezeichnenderweise einem Ereignis, das eine neue Qualität in die WiederWahlkampagne des Präsidenten einbrachte. Louis-Napoleon suchte die Annäherung an das immer noch zur Hälfte republikanische Militär durch Feste, die er im Anschluß an Truppenparaden gab. Das erste fand am Abend vor der Abfahrt 95 Siehe Agulhon, S. 153; die Stationen der Reisen bei de Tocqueville: Oeuvres complètes, Bd. 8.2, S. 282 Anm.2. 96 Siehe Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, S. 160. 97 Siehe Agulhon a.a.O. Einen konservativen Antibonapartismus vermutet der Augenzeuge de Tocqueville, trotz der zahlreichen republikanischen Manifestationen in Cherbourg, besonders auf dem Lande, siehe de Tocqueville an G. de Beaumont, 9.9.1850, a.a.O., S. 292-296. 98 Siehe Le Charivari "Le Voyage de Soulouque-le-Désiré", 12.8., 18.-22.8., 24.8., 26.8., 29.8., 6.9,9.9., 11.9.1850.

95 zur Provinztournee in Paris statt. Seit diesem 1Î. August füllen Knoblauchwürste, Champagner und Zigarren nicht nur die Spalten der republikanischen Oppositionspresse; selbst ein Vertrauter des Elysée wie Mérimée kam nicht umhin, der künftigen Schwiegermutter Louis-Napoleons, der Gräfin Montijo, sein Befremden über diese plumpen Anbiederungsversuche mitzuteilen". In der C/ianvan-Berichterstattung zu diesem Fest läßt der Autor die trunkenen Soldaten ("nègres de la garde") in der Tradition der römischen Prätorianergarden programmatische Toasts auf den Gastgeber ausrufen: "Vive Soulouque-1'Adoré! Vive Soulouque-le-Chéri! ... Vive Soulouque-leBien-Aimé!" Die Reihenfolge der Trinksprüche entspricht den unterschiedlichen Dienstgraden, und es wird betont, daß erst der Realitätssinn der unteren Chargen den nicht mehr servilen, sondern prospektiven Ehrentitel: "Soulouque-le-Désiré" hervorgebracht habe. Zu Beginn der Reiseberichterstattung war sich die Redaktion noch nicht einig darüber, ob die Haitianisierung die angemessene Form sei. Eine mögliche Alternative sah man in Briefen Ratapoils, des Hauptmanns der "Décembriseurs", welcher, die Mythen des Rußlandfeldzugs - die Saône wird zum Njemen - und der durch Romieu revitalisierten Cäsaren vermischend, seine Niederlage gegen die republikanische Agitation in Dijon dem Pariser Polizeipräfekten Carlier eingestehen muß, woraufhin dieser antwortet: "Ratapoil, rends-moi ma légion!" 100 . Die Tatsache, daß der Katholik Montalembert den Präsidenten begleitete, legte eine antiklerikale Berichterstattung nahe, so stellte man den Priester als Tartuffe und den Präsidenten als dessen gutmütig dummes Opfer Orgon ("renfoncé dans son coin et dans ses moustaches") dar 101 , doch damit hätten die Charivari-Autoren letzterem wohl für eine Artikel-Reihe eine zu passive Rolle zugestanden. Das, was sich vor den erstaunten Augen nicht nur des republikanischen Publikums abspielte, ließ sich nicht angemessen in "französischen" Modellen beschreiben. Solange man Frankreich als Republik ansah, mußten sich die Unternehmungen des Präsidenten exotisch ausnehmen. Er und seine Begleiter wollten nicht mehr sein, was sie vorstellen sollten. Die Folge war, daß sie auf das Land, das sie bereisten, eine fremde Staatsform projizierten. Die Diskrepanz zwischen angestrebter und eigentlicher Bedeutung beruhte also keineswegs auf einer satirischen Überzeichnung seitens des Charivari, sondern war bereits Realsatire, die man allerdings versuchte, adäquat mit exotischen Modellen zu übersetzen: Louis-Napoleon wird zu "Soulouque-leDésiré"; Thiers zum "prince de Trou-Colimard". Diesen Namen, "Colimard", verwendete der Charivari häufig zur Inszenierung eines Politikertyps. Die Wortschöpfung leitet sich wahrscheinlich von "colin-maillard", dem Blindekuhspiel ab, und zielt somit auf Thiers Suche nach dem geeigneten politischen System zur Ablösung der 99 Siehe Mérimée: Correspondance 100 Siehe Le Charivari 16./17.8.1850.

1850-51, Bd. 6, S. 89/90.

"Proclamation du colonel Ratapoil", 12.8.; "La déroute de Bourgogne",

101 Siehe Le Charivari "La Place d'honneur à M.Tartuffe", 14.8.1850.

96 Republik, wie auch gleichzeitig angedeutet wird, daß die Tastversuche im Abgrund enden könnten. Romieu tritt als "duc de Coco-Cassonade" auf, Véron als "comte de Mimi-Goyave". Selbstverständlich darf auch der Hinweis auf den Voudou nicht fehlen, und so wird der Priester zum "oby Mama-Talembert". Einem nicht bestätigten Gerücht zufolge soll sogar Bug largai (Victor Hugo) "Vive l'empereur!" gerufen haben. Begleitet wird der Troß von der "confrérie de Saint-Mouchard" (le mouchard= der Spitzel). Die offiziöse Presse mutiert zu "La Patate politique, industrielle et littéraire" (Le Constitutionnel), "La Bamboula, journal de l'ordre" (Le Pouvoir, Nachfolger des Dix Décembre, journal de l'ordre) und eine elsässische Zeitung in "Le Melon d'eau". Die Anspielung auf Nahrungsmittel kommt häufig in den Ortsangaben vor: "Bon-Nanan" (Lyon), wo Soulouque besonders von den "producteurs de cloches à melon" und den "cultivateurs d'ananas" gefeiert wird, "Bourg-les-bananes" (Bourgen-Bresse), "Lons-le-Coco" (Lons-le-Saulnier), "la rivière des Cocotiers" (der Rhein), "le district des Cocotiers" (das Elsaß), "la province des Petits-Cocotiers" (das Département Bas-Rhin), "Cocobourg" (Cherbourg). Die wenig originellen Landwirtschaftsprodukte der Normandie sind: "la beurre de coco" und "les tripes à la mode de BonNanan". Dieses agrarische "Haiti" ist keineswegs die Anpassung an das karibische Vorbild, sondern einerseits ein Hinweis auf die anvisierten bäuerlichen Stützen der bonapartistischen Renaissance und andererseits ein Spiegelbild der "Panem et circensis"-Strategie des Präsidenten, wozu sich besonders das Motiv der Kokusnuß anbietet, deren Milch sowohl zu Schnaps als auch zu einem Erfrischungsgetränk verarbeitet werden kann (Abb. 74) und deren Schale - mit dem eingravierten Konterfei des hohen Besuchers - als Orden die Brust der Veteranen schmückt. 3.4.2.2 Die glorreiche mexikanische

Vergangenheit

Die Annahme, daß mit dieser Serie nicht das reale Haiti diskriminiert werden soll, es sich vielmehr um das Gemälde einer bonapartistischen Exotik handelt, findet sich darin bestätigt, daß man den Onkel Soulouque/Louis-Napoleons nicht etwa Toussaint Louverturem nennt, sondern Fernand Cortei. Um alle Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen, weisen die Autoren zwanzig Tage nach Einführung der Figur auf deren Herkunft hin: die von Napoleon in Auftrag gegebene exotische Oper Fernand Cortei, komponiert von Spontini nach dem Libretto von Jouy und Esménard 103 . Diese war wegen ihres reichen Dekors und des Auftritts von Kunstreitern aus dem Zirkus Franconi bei ihrer Uraufführung ein großer Erfolg, wurde aber wenig später von Napoleon abgesetzt und - mit verändertem Inhalt - erst 1817 unter Louis XVIII. wieder gespielt. 102 Auf die Funktion Toussaint Louvertures als haitianisches Modell Soulouques in der Pariser Presse geht das Kapitel zur Rezeption von Lamartines Toussaint Louverture ausführlich ein. 103 Fernand Cortez ou la Conquête du Mexique, Oper in drei Akten, zum ersten Mal am 29. November 1809 im Théâtre de l'Académie Impériale de Musique aufgeführt. Informationen zu Aufführungsgeschichte und Inhalt bei Oehlmann, S. 354/55.

97 Cortez der Eroberer besiegt den Obskurantismus der menschenopfernden Mexikaner und eint das Land. Er wird von Telasco bekämpft, dessen Schwester Amazili einerseits Cortez liebt und andererseits für den Frieden eintritt. Die Librettisten betreiben hier die gewagte Uminterpretation eines großen literarischen Erfolgs der Aufklärung, Les Incas von Marmontel 104 . In diesem Roman wird Cortez als der goldhungrige Eroberer und Zerstörer angeklagt; Telasco und Amazili sind ein edles Liebespaar, das, im Widerstand der Incas gegen die Spanier kämpfend, sich für die Eroberung Mexicos rächt und stirbt. Jouy und Esménard stellen in ihrer Adaptation der Eroberung Mexikos vor allem den Konflikt zwischen den grausamen Göttern und dem die Menschenopfer verachtenden Christentum ins Zentrum des Geschehens. Diese Debatte wird bei Marmontel bezeichnenderweise von Las Casas mit anderen "Wilden" an einem anderen Ort geführt, wobei der Dominikaner diese durch seine Humanität überzeugt. Da die Widmung der Oper in ihrer ersten Edition dem König von Spanien, Joseph Bonaparte, galt und im Lager der Spanier das Bild Karls V. zu sehen war, liegt nahe, daß ihre ideologische Ausrichtung zur Legitimation des napoleonischen Spanienabenteuers dient: Der geniale Feldherr stellt das alte Imperium gegen die Kräfte eines reaktionären Katholizismus wieder her. Es ist fraglich, ob diese forcierte Anwendung des Themas auf die augenblickliche europäische Situation geglückt war. Grundsätzlich schien allerdings zur damaligen Zeit vieles auf Napoleon beziehbar. So erzählt E.T.A. Hoffmann anläßlich der Berliner Aufführung im November 1814 die Anekdote, daß eine junge Frau vor Freude kaum an sich halten konnte, als das Götzenbild stürzte, da sie dies "für eine sinnreiche Anspielung auf den Sturz der Statue Napoleons in Paris" 105 hielt. Die Autoren des Charivari sind sich der doppelten Tradition des Cortez-Motivs bewußt. Cortez sei konsequent gegen die mexikanischen "démagogues" und die Religion ihres Gottes Proudhon vorgegangen, der - so Amazili 106 - die Abschaffung von Familie, Religion und Besitz verlangte. Die vorgeblichen kommunistischen Zustände bei den Edlen Wilden, wie sie etwa La Hontan, Rousseau oder Diderot der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts in kritischer Absicht vorgehalten haben, werden aktualisiert, um deutlich zu machen, welche Tradition zugleich mit der Dämonisierung des eingekerkerten Politikers angegriffen wird. Die Cortez-Figur in der Soulouque-Serie bezieht ihre satirische Qualität aus dem Spannungsfeld beider Werke: Das Anknüpfen an die spektakulären Schauspiele aus der Zeit des Onkels wird mit der aufklärerischen Kritik an Beutezügen im Kontext 104 Eine äußerst reich dokumentierte Studie über die Rezeption der Marmontelschen Incas findet sich in der Dissertation von Löhndorf, der allerdings nur einmal auf die Spontini-Oper hinweist, S. 259. 105 Siehe E.T.A. Hoffmann: Schriften zur Musik, S. 299. 106 Siehe Le Charivari "L'Epée de Fernand Cortez", 7.9.1850. Bei Marmontel lehnt Amazili die freie Liebe auf der Ile Christine ab, womit eine Abkehrung von den libertinen Konzepten eines La Hontan signalisiert wird.

98 des aktuellen Umwerbens des Militärs vermischt. Diese Zwangsverbindung entspricht dem gewaltsamen Umgang der Librettisten mit der Marmontelschen Vorlage. Die zu Opfern stilisierten Mexikaner erscheinen nur einmal im haitianisierten Frankreich, mit ihnen wird ein Zustand antizipiert, der sich zwar deutlich abzeichnet, aber noch nicht eingetreten ist. Da der Kampf zwischen Republik und Empire noch nicht entschieden ist, wird "Soulouque-le-Désiré" ein wesentlich listigerer Gegner aus der Literatur als die Edlen Wilden entgegengestellt. 3.4.2.3 Mit Voltaire gegen Soulouque Überall, wohin "Soulouque-le-Désiré" kommt, ist eine Figur nicht weit, die anfänglich nur als "ivrogne" bezeichnet wird, dann aber den Namen "Cocambo" erhält. "Cocambos" wesentliche Eigenschaft besteht darin, in den unterschiedlichsten Verkleidungen bei den Paraden des Präsidenten aufzutauchen, "Vive la constitution!", "Vive la république!" oder "Vive l'amnistie!" zu rufen und zu verschwinden, bevor er erwischt wird. In einem fiktiven Artikel des Univers religieux holt Montalembert zum Schlag gegen "Cocambo" aus: Cocambo n'est pas seulement à Haïti, Cocambo habite aussi la France. Il y a deux cents ans que je le connais, il s'appelait alors Voltaire ...107 Dem folgt ein buntes Gemisch von Namen, die "Cocambo" - je nach Epoche - verkörpere: Robespierre; Proudhon; der Chefredakteur des Constitutionnel zur Zeit der Restauration; Thiers, der nur gerade seine negroiden Ursprünge verwischt habe; die Feuilletonromanautoren Sue, Dumas und Balzac. "Cocambo" habe die Tuilerien gestürmt, in den Nationalwerkstätten gearbeitet, sei deportiert worden, habe den zinsfreien Kredit, die Schulpflicht und die Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erfunden; selbst Louis-Philippe habe versucht, sich mit ihm zu versöhnen und gemeinsam mit ihm die Marseillaise gesungen. Die Folgen dieses Experiments seien hinreichend bekannt. Kurz, "Cocambo" bedeute die Anarchie, er sei der Teufel, er habe sich das Ende der Kirche zum Ziel gesetzt. Daher schließt der katholische Abgeordnete mit der Neuauflage jener Forderung, die er bereits zwei Monate zuvor im Parlament gestellt hatte und die von Daumier ins Bild gesetzt wurde 108 (Abb. 75): Il faut faire l'expédition de Rome contre Cocambo. ... Si nous ne rétablissons pas l'inquisition, nous sommes perdus. Daß zuerst Voltaire zitiert wird, kommt nicht von ungefähr, handelt es sich doch offensichtlich um eine Adaptation des "Cacambo" aus dem Candide. Sollten die Charivari-Autoren bereits 120 Jahre vor der Züricher Candide-Inszenierung jene 107 Siehe Le Charivari "Cocambo", 25.8.1850, es handelt sich um eine Sonntagsausgabe. Die falsche Angabe der Jahrhunderte bleibt unklar. 108 Analysiert wurde diese Karikatur von R. Rütten: "Rom und doch ein Ende", in: Stoll, 1985, S. 164.

99 Interpretation der Voltaireschen Figur vorgenommen haben, die von Stackelberg mit dem Titel "Cacambo als Kommunist" griffig anzugreifen suchte? Kommunist ist weder der "Cocambo" im Charivari noch der "Cacambo" Voltaires. Ihre tatsächliche Funktion in den jeweiligen Texten ist damit noch nicht geklärt. Im Falle des Candide hat auch von Stackelberg keine eindeutige Antwort anzubieten 109 . Da es sich bei beiden Texten um Satiren handelt, die eine Vielzahl von literarischen und weltanschaulichen Traditionen neben- oder gegeneinanderstellen, ist es trotz der grundlegenden dichotomischen Struktur nicht notwendig, daß eine Figur oder ein Bild die Meinung des Autors artikuliert. Von dieser Annahme ausgehend empfiehlt es sich, die literarische Herkunft der Figuren zu verorten und sie mit anderen intertextuellen Bezügen zu konfrontieren. Voltaire übernimmt die Dienerfigur bereits aus der spanischen Literatur. "Cacambo" ist aufgrund seiner gegen die "limpieza-de-sangre"-Doktrin verstoßenden Abstammung und seiner zahlreichen untergeordneten Tätigkeiten eindeutig als "picaro" zu definieren. Allerdings hat dieser "picaro" den Desillusionierungsprozeß schon hinter sich; er ist eine der "statischen" Figuren, die die Irrfahrten "Candides" begleiten, selbst aber keine Entwicklung mehr durchmachen 110 . Bezeichnenderweise hat "Cacambo" sich in die entgegengesetzte Richtung desjenigen bewegt, dessen Namen seiner verballhornt, Colombo. Für den Mestizen aus Tucumán bietet die Neue Welt kein besseres Leben. Er kehrt in das Land seiner literarischen Vorbilder zurück, aus dem noch der Buscón von Quevedo aufbrach, um in Amerika eine neue, bessere Existenz zu finden, was ihm aber nicht vergönnt war, da er sich selbst nicht gebessert hatte 111 . Wenn "Cacambo" sich nun wiederum in Cádiz einschifft, dann nur vordergründig aus Liebe zu seinem neuen Herrn, der immer noch hofft, die beste aller Welten zu finden. Zwar entsteht der picareske Roman zeitgleich mit der Utopie und seine Funktion, die Gesellschaftskritik, ist auch ein wesentliches Element der

109 Siehe "Cacambo als Kommunist.", in: J. v.Stackelberg, 1979, S. 93-97. An anderer Stelle sieht v. Stackelberg "Cacambo" in seiner Rede vor den "Oreillons" als Sprecher Voltaires, um einige Seiten später die Erkundigung des treuen Dieners nach der Etikette am Hofe in "Eldorado" als Untertanengeist abzuqualifizieren, siehe Voltaire, 1987, S. 260, Anm. 85 und S. 262, Anm. 97. 110 In dieser Hinsicht ist Dirscherl zuzustimmen. Wenn er allerdings die Funktion des Dieners mit der der Alten als die von Handlungs-"Garanten" definiert, greift dies zu kurz, da "Cacambo" in seinen späteren Auftritten immer gleichzeitig mit den "Kommentarfiguren" um Rat gefragt wird und sich die Gruppe sogar nach seinen Ratschlägen richtet, er demzufolge also durchaus eine Weltsicht vermittelt. Darüber hinaus läßt die fehlende Entwicklung der Figur darauf schließen, daß sie eine der zahlreichen literarischen Traditionen repräsentiert, die diese Satire einander gegenüberstellt und auf ihre Funktionsfähigkeit im Koordinatensystem der Literatur des 18. Jahrhunderts befragt; siehe Dirscherl, S. 164. 111 "...determiné, consultándolo primero con la Grajales, de pasarme a Indias con ella, a ver si mudando mundo y tierra mejoraría mi suerte. Y fuéme peor, pues nunca mejora su estado quien muda solamente lugar, y no de vida y costumbres." Quevedo: Historia de la vida del buscón, S. 393.

100 Zukunftsentwürfe, doch qualifiziert gerade das Verweigern einer Aussicht auf gesellschaftliche Veränderung den Picaro-Roman als anti-utopische Gattung. Aus diesem Grund begleitet "Cacambo" den "Candide" in utopischen Situationen, in denen sein Herr Gefahr läuft, den fremden Kontinent als Realisierung utopischer Entwürfe zu sehen. Auch Voltaire erlaubt seinem "picaro" keine substantielle Veränderung seiner Ausgangssituation: er bleibt bis zum Schluß Diener und muß sich über das Unmaß an Arbeit beschweren, während diejenigen, die seinem Rat in Jesuitenangelegenheiten gefolgt sind, weiter über den Lauf der Welt diskutieren. Zum Schluß, nachdem "Candide" die berühmte Formel gefunden hat, daß jeder seine Fähigkeiten nutzbringend einzusetzen habe, und "Cacambo" sich demnach nicht mehr allein um das Fortleben der anderen kümmern muß, schneidet "Candide" "Pangloss" das Wort ab, um den sinnlosen Syllogismen die nüchternere Gartenidylle entgegenzusetzen. Gerade mit dem Einspruch "Cacambos" hat Voltaire ein Element in die Konklusion eingebaut, das ein harmonisches Aufgehen in der bürgerlichen Gewinn-Nutzen-Ideologie der Gartengesellschaft verhindert - selbst wenn diese Voltaires Position und dessen reale Aktivitäten widerspiegeln sollte. Es ist dieses Aufbegehren gegen den "ordre" in seinen beiden Bedeutungen, als Jesuitenorden und herrschende Gesellschaftsordnung, das die voltairesche Figur für die Charivari-Autoren interessant macht, hinzu kommt noch ihre Fähigkeit, sich allen Situationen mimetisch anzupassen. Dem Dienen der zahlreichen Herren und der Neigung, sich gegen dieses Schicksal (fortuna, destiné) aufzulehnen, substituiert der Montalembert- Artikel strukturell adäquat den Durchlauf durch die politischen und ästhetischen Systeme der letzten 150 Jahre. Aus dieser Perspektive wird auch erklärbar, warum "Cocambo" nicht im Kontrast zur Ideologiefeindlichkeit der Picaros steht: ebenso wie der Verweis auf die Montagnards, für die der Charivari an anderer Stelle keine allzu großen Sympathien zeigt, ist auch der Ruf "Vive le République!" nur die aktualisierte Opposition gegen den Versuch, einen "ordre" zu etablieren. Auch ein weiterer Widerspruch zur Voltaireschen Vorlage ist aufzulösen, wenn man beachtet, wie die Figur zunächst von ihren Gegnern kommentiert wird. Obwohl der listige Schelm gar nicht betrunken ist, wird "Cocambo" von "Soulouque-ledésiré" als "ivre" angesehen, was Trou-Colimard zu folgender Erklärung veranlaßt, die wiederum auf ein bekanntes historisches Modell hinweist: Toujours ivre; il faut qu'il soit enragé pour nous avoir suivis jusqu'ici. Je suis sûr qu'il va crier: -Vive la Constitution!"'12 (Hervorhebung C.H.M.) Man muß schon aus der weit entfernten Position des Verfassungsgegners urteilen, um eine verfassungstreue Person mit dem Merkmal des "enragé" zu belegen. Auf diese Weise denunziert der Charivari den undifferenzierten Umgang mit der Sozialrevolutionären Bewegung als Mittel zur Abqualifizierung der Gegner des "ordre"

112 Siehe Le Charivari "Voyage de Soulouque-le-Désiré", 18.8.1850.

101 im lÇ.Jahrhandert113. Die südamerikanische Variante der Trunkenheit ist der Konsum von Coca oder auch im "haitianischen" Kontext von "coco", daraus ergibt sich die Namensveränderung von "Cacambo" zu "Cocambo". In den Charivari-Artikeln ist in die Figur des republikanischen Protestes, wie im Falle des "Cortéz", die Konfrontation zwischen literarischer Tradition der Aufklärung und der Stigmatisierungsstrategie derjenigen, die im Begriff sind, Frankreich zu haitianisieren, eingeschrieben. 3.4.3 "Odyssée du prince-président Soulouque" Angesichts der aufwendigen Reiseberichterstattung ist es erstaunlich, daß die Karikaturisten "Soulouque-le-désiré" nicht ins Bild setzen. Infolge der verschärften Pressegesetze vom Juli 1850 ist man geneigt, die Zensur für diese Lücke verantwortlich zu machen. Tatsächlich ließe sich der Artikel "Soulouque, protecteur des arts"114 als Anspielung auf einen Besuch der Zensoren in der Œanvan-Redaktion lesen, darin rät man Cham ab, sich zur Zeit nach Haiti zu begeben: Soulouque, à force de feuilleter son album, pourrait finir par rire jaune, et un nègre n'est pas toujours maître d'un premier mouvement de vivacité, surtout quand ce nègre est un empereur. Le souvenir de la fameuse marmite de bitume dans laquelle fut plongé un infortuné solliciteur doit être éternellement présent à la mémoire de Cham!

Aus dieser Passage sind zwei Argumente festzuhalten: Zum einen wird das rassistische Farbenspiel auf die politische Ebene der Imperialkritik verlagert; zum anderen erinnert ein Text über Cham an die Daumier-Lithographie (Abb. 69), ganz so als ob Cham selbst nicht die Repression unter Soulouque angegriffen hätte. In den folgenden Nummern wird noch häufiger auf das Teerkesselbild angespielt, was im nachhinein die damalige Aktualität angesichts der Presserepression unterstreicht. Die Bedrohung durch die Zensur scheint also real. Dagegen stehen mehrere Karikaturen von Vernier, die - in einer bis dahin im Charivari unüblichen Direktheit - Louis-Napoleon bei seinen antikonstitutionellen Umtrieben porträtieren und lächerlich machen, insbesondere die Vision vom 27.8.1850 (Abb. 76), die betrunkene Soldaten zeigt, wie sie durch eine Champagner-Flasche auf Louis-Napoleon schauen und in der Flasche das Konterfei von Napoleon I. erblicken. Vernier nahm damit die Praxis des anderen Philippon-Blattes, des Journal pour rire, auf, das schon seit dem 10. Dezember 1848 den Napoleon-Neffen mit dem typischen Zwirbelbart überspitzt porträtierte. Der Grund für die damalige Anklage gegen Denoyers, der direkte Angriff auf die Person des Präsidenten, war also wiederum gegeben, wurde aber diesmal nicht geahndet.

113 Siehe D. Richet: "Enragés", in: Furet/Ozouf, S.360-365. Richet: "Le terme même - les Enragés - souligne le discrédit dont a souffert, à l'époque même et pendant tout le XIX e siècle, ce mouvement d'extrême gauche...", S. 360. 114 Siehe Le Charivari "Soulouque, protecteur des arts", 23.8.1850.

102 Schließlich veröffentlichte Nadar in der "Revue trimestrielle" des Journal pour rire am 27.9.1850 den einzigen wirklichen Soulouque-Comic: die "Odyssée du prince-président Soulouque", die in 45 Bildern den Verlauf der Reise Louis-Napoleons nachzeichnet 115 (Abb. 77). Es war also durchaus möglich, die Charivari-Artikel ins Bild zu setzen. Bereits der Titel der Nadarschen Bilderserie läßt keinen Zweifel aufkommen, welche Person sich hinter dem Namen Soulouque verbirgt: Odyssée du prince-président Soulouque accompagné de LL.EF. Ragotin et Montalenvers.(relation officielle.) Die Verwendung des nunmehr häufig von der offiziösen Presse verbreiteten Titels "prince-président" unterstreicht die Ambitionen Louis-Napoleons, während das "ledésiré" im Charivari-Tml die propagierte Sehnsucht der Massen betonte. Ferner ist Soulouque mit einem realistischen Requisit des Prätendenten ausgestattet, dem Federbusch-Hut. Nadar selbst hatte ihn bereits in seiner ersten Soulouque-Karikatur eingesetzt (Abb. 18), um später jedoch Chams Typ zu übernehmen (Abb. 78/79). Noch Ende August hatte Bertall in der selben Zeitung den schwarzen Napoleon auf einem Bankett im Kreise der "Société du dix décembre" gezeichnet (Abb. 80). Die Karikatur liegt ganz in der Tradition der vorherigen Soulouque-Karikaturen, die das wahre Gesicht des Präsidenten in seinen "schwarzen" Intentionen bloßstellen; auch die Bildunterschrift trennt Soulouque von Louis-Napoleon, um die Ambivalenz aufrecht zu erhalten. In diesem Falle verweisen die schwarze Farbe und die deutlich negroiden Gesichtszüge auf eine zunehmend unzivilisierte Politik. Nadars Aufnahme des Federhutes will also einerseits - wie im Titel - einen größtmöglichen Bezug zum französischen Präsidenten herstellen, charakterisiert aber zugleich auch seinen Träger als jemanden, der den sprichwörtlichen "panache" hat, der großspurig auftritt. Tatsächlich wurden mit dem "panache" die Scharlatane, die umherziehenden Zahnzieher und Wunderheiler, dargestellt. Eine Zeichnung von Gustave Janet aus dem Musée des Familles (Abb. 81) illustriert solch einen Auftritt. Nadar nutzt diesen Tatbestand und zeigt spärlich bekleidete Schwarze ("villageois") mit Zahnschmerzen, die Soulouque mit einem Wunderheiler verwechseln (Abb. 82). Diesem leicht erkennbaren schwarzen "prince-président" werden überdies noch zwei der am häufigsten karikierten Politiker zugesellt, Montalembert und Thiers. Montalembert ("Montalenvers") im Jesuitenkostüm ist nur durch die schwarze Farbe verändert, auf die Übernahme der "oby"-Bezeichnung aus der Charivari-Serie wird verzichtet. Auch inszeniert der Zeichner nicht das Wortspiel im Namen - man hätte ihn umgekehrt auf den Kutschbock setzen können, um die rückwärts gewandte Welt-

115 Diese Serie wird kurz von Childs, S. 211/12 und Kunzle, 1990, S. 105, kommentiert. Leider nutzen beide weder die Gelegenheit, den Comic mit Chams Soulouque et sa cour zu vergleichen noch sehen sie den Bezug zu den C/ianvari-Artikeln. Wie Kunzle zu der Behauptung kommt, das Journal pour Rire würde Politik zu diesem Zeitpunkt vermeiden, ist unverständlich, zeichnet doch Nadar dort viel mehr direkte Angriffe gegen den Präsidenten, als je im Charivari zu sehen waren.

103 sieht zu veranschaulichen. Auch Thiers ("ragotin") zeichnet sich weder im Text noch im Bild durch eine besondere Geschwätzigkeit 116 aus; im traditionellen orientalisierten Kostüm des kleinen schwarzen Dieners ist er sofort durch die typische randlose, runde Brille, das hervorstehende Kinn und die Hakennase zu identifizieren. Beide erscheinen als die wahren Organisatoren der Reise, obwohl ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß sie eigentlich nicht dem "prince-président", sondern dem Haus Chambord bzw. Orléans anhängen (Abb. 83) - tatsächlich besuchte Montalembert zur gleichen Zeit den comte de Chambord in Wiesbaden und Thiers nahm an der Beerdigung Louis-Philippes in England teil 117 . Immer einen Schritt hinter Soulouque stehend, achten sie darauf, daß das von ihnen in Bewegung gesetzte Geschöpf keine allzu großen Dummheiten macht. Stärker als im Charivari rückt hier die Komplizenschaft des "parti de l'ordre" in den Vordergrund: Die monarchistischen Fraktionen brachten zwar jeweils ihre eigenen Kandidaten ins Spiel, ließen aber gleichwohl den populärsten Thronanwärter nicht fallen, da ihre Politik in jedem Fall auf die Abschaffung der Republik, das bedeutete in der Sprache der Satire auf die Haitianisierung Frankreichs, abzielte. Diese Tendenz betont vor allem die offensichtlichste Abweichung von der Charivari-Berichterstattung. Das neue Produkt bonapartistischer Propaganda, die "Société du Dix-Décembre", weicht hier einem schwarzen mechanischen Hund, der - von "ragotin" bedient - immer "Vive l'empereur!" ruft. Selbst wenn der Kläffer am Schluß der Reise von Soulouque einen Orden erhält (Abb. 84), bleibt doch Thiers der Hauptorganisator der Claque. Diese wird von der repressiven Komponente der "décembriseurs" abgekoppelt. Die Knüppelgesellschaft tritt nur einmal, anläßlich der Rückkehr "Soulouques" nach Paris, beim Verprügeln "ehrbarer" Bürger in Aktion, während der Orleanisten-Chef den Hund auf dem Arm hält (Abb. 85). Letzterer signalisiert - entgegen der tatsächlichen politischen Konstellation - den ständig wiederholten "ordre"-Diskurs, der Monarchisten und Bonapartisten eint. Der Mechanismus des Tieres denunziert zugleich die Reise als fehlgeschlagenen Kommunikationsversuch mit der Bevölkerung. Der Hund ist nur ein Element dieser Gesamtaussage. So ist Soulouque zum Beispiel fast immer von der Menge isoliert. Diese Trennung überwindet er gern, wenn es gilt, sich weiblichen Personen zu nähern (Abb. 86-89), was zumeist allerdings von seinen Begleitern unterbunden wird. Die schwarze Maske erlaubt Nadar, auf die ausschweifenden Sexualpraktiken im Elysée-Palast anzuspielen, erwartet man doch von einem Exoten nichts anderes. Diese Karikaturen thematisieren auch das einzige Mal die tatsächlichen Beziehungen des Präsidenten zu Frauen. Im Gegensatz zu allen anderen Zeichnern und Artikelschreibern der Zweiten Republik zeigt Nadar nicht 116 Montalenvers setzt sich zusammen aus: monter à l'envers (z.B. à cheval) = sich verkehrt herum auf ein Pferd setzen. Ragotin ist abgeleitet von: le ragot = das Geschwätz, die üble Nachrede, siehe auch Childs, S. 212. 117 Siehe Agulhon, S. 154/55.

104 "Ourika'VAdélina, sondern läßt, übrigens sehr zum Entsetzen seiner Begleiter, zur Verabschiedung des "prince-président" dessen Harem antreten (Abb. 86). Eine wirkliche Annäherung findet nur zwischen Soulouque und den mit Holzprotesen ausgestatteten Veteranen aus der Armee des Onkels statt (Abb. 90). Besonders der berühmte Soldat mit dem Holzkopf vergießt Tränen der Rührung, als der Neffe vergeblich versucht, ihn ins Ohr zu kneifen. Ein anderes Mal, als sich der schwarze Potentat, allen Warnungen vor "Kommunisten" zum Trotz, auf einen "bal populaire" wagt (Abb. 91), passiert folgendes: Là une scène horrible a failli avoir lieu: une horde de cannibales a entouré le prince avec l'intention bien évidente de marcher sur son cor, et elle y eût peut-être réussi sans le vieux général comte de Charenton, qui a bravement tiré son épée et mis en fuite cette canaille brutale et féroce. Le vieux général a été redécoré.

Da es tatsächlich in Besançon auf einem Volksfest zu einem Zusammenstoß zwischen dem höchstrangigen Verfassungsgegner und Republikanern gekommen war, wird die "seriöse" Berichterstattung über dieses Ereignis in Text und Bild auf unterschiedliche Weise korrigiert. Der Witz des Textes besteht in der metaphorischen Bedeutung des "marcher sur les pieds", das hier hyperbolisch durch ein Hühnerauge gesteigert wird. Ganz dem innenpolitischen Barbaren-Diskurs entsprechend, werden die Gegner des Präsidenten zunächst als Kommunisten und dann - in der Steigerung - als Kannibalen angegriffen, die ihn allerdings nicht fressen, sondern das zu tun drohen, was bei Tanzveranstaltungen das Normalste ist, ihm auf die Hühneraugen zu treten, das heißt auf seinen empfindlichsten Punkt: die zur Schau getragene Volksnähe. Die Überschreitung des respektheischenden Abstandes, der die transhistorische Aura des Reisenden garantieren soll, provoziert sofort den Konflikt zwischen den beiden Diskurselementen. Das Bild ergänzt in diesem Fall den Text und lenkt die Aufmerksamkeit von dem Konflikt auf den "Helden" dieses "Abenteuers" ab. Dieser ist im Begriff, einen Säbeltanz aufzuführen. Die Windmühle auf seinem Napoleonhut verweist auf den sprichwörtlichen Kampf gegen Windmühlen, was in Verbindung mit der im Adels-Titel angegebenen Heilanstalt ("comte de Charenton") nur bedeuten kann, daß die Kampagne als ein donquijoteskes Unternehmen anzusehen ist. Nur senile Veteranen sind noch auf Orden aus, während die Schaulustigen sich vor ihnen in Sicherheit zu bringen suchen. Nadar (Abb. 93) nimmt hier ein Motiv von Cham auf, der den König von Neapel zeigt (Abb. 92), wie er französische Soldaten zum Dank für ihr antirepublikanisches Vorgehen in Rom 118 mit Orden beschießt. Die schon von Cham innenpolitisch gemeinte Szene wird jetzt in Haiti/Frankreich nachgestellt, um zu zeigen, daß das Volk wertlose Orden ablehnt, mit denen es in eine scheinbar glorreiche Vergangenheit zurückbombardiert werden soll.

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Kommentar zu dieser Karikatur bei R. Rütten: "Rom und doch ein Ende", in: Stoll, 1985, S. 132.

105 Sollten die Untertanen ihre Verfassungstreue durch "Vive la République!"-Rufe oder das Abspielen der "Haïtienne" unter Beweis stellen und auf den Präsidenten zugehen (Abb. 94/95), so verwandeln sie sich in bedrohliche, mit Jakobinermützen versehene, schwarze Sansculotten, vor denen der Präsident zurückweicht. Auch in diesem Fall bemüht sich Nadar um eindeutige Zuordnungen, die Requisiten für die schwarz gefärbten Figuren entstammen direkt dem Mythologem-Arsenal des Republikanismus und des Bonapartismus, welches durch die Text- und Bildsatire bereits hinreichend auf "Haiti" angewandt worden ist. Die aktuelle Reiseberichterstattung in der Charivari-Serie wird in der Odyssée du prince-président Soulouque adäquat auf die Karikatur der illustrierten Medien übertragen, obwohl in diesem Fall die Illustration die Reise des Präsidenten mit nur wenigen Bildern begleitete, sondern vielmehr die Hofhaltung des comte de Chambord in Wiesbaden und den Tod Louis-Philippes zeigte. Wenn auch die meistgelesene Illustrierte den traditionellen Monarchien nachtrauerte, so entspricht die Bildkomposition Nadars doch ihrem Stil. Aus diesem Grund erklärt sich auch, daß die drei Reisenden fast immer vor französischer Kulisse agieren. Nur in vier Fällen sind Palmen im Hintergrund zu erkennen, ohne daß ihnen eine besondere Signifikanz zukäme, es sei denn herauszustellen, daß einzig das in seiner Struktur immer gleiche Geschehen im Vordergrund von Bedeutung ist: die Parodie der von der offiziösen Presse inszenierten Kommunikation zwischen dem "prince-président" und seinem Volk. Die in Chams Soulouque et sa cour enthaltene Mythologiekritik wird von diesem Comic in das Tagesgeschehen überführt. Während Chams aus der "Revue comique de la semaine" hervorgegangene Serie zu einem der Aktualität entzogenen Erfolg wurde, nimmt Nadar die Gattung "Revue" ernster und schafft so eine Bilderserie mit aktuellen politischen Anspielungen, was Cham zu Soulouque nur in den seltensten Fällen gelungen ist. Nadars Serie hat also den Vorteil, noch einmal die wesentlichen Elemente der Haiti-Karikaturen zu einer eindeutig auf Frankreich bezogenen antibonapartistischen Gegenberichterstattung zu bündeln. Sie ist zugleich Höhe- und beinahe auch Schlußpunkt der Bildproduktion zu Soulouque/Louis-Napoleon vor dem Staatsstreich. Das schon bei Cham angelegte Prinzip der Serie, wird von den drei Haitianisierungsstrategien konsequent weitergeführt. Cham bewegte seine Figuren noch unentschieden zwischen Haiti und Frankreich hin und her. Die französische Medienlandschaft wird nunmehr direkt angegriffen: vom Tintamarre mit dem Pastiche einer Zeitung, vom Charivari mit dem Pastiche der offiziellen Verlautbarungen unter Rückgriff auf die literarische Opposition zwischen Aufklärung und erstem Empire und von Nadar mit der Karikatur der Bildberichterstattung. Der Diskurs, der Haiti in der Mehrzahl der Presseorgane als grotesken Imitationsversuch einer höherwertigen europäischen Zivilisation vorstellt, erscheint nach diesen Travestien selbst als barbarisch. Über die bloße Wendung des Barbarei-Stigmas gegen die heimischen Klischeeproduzenten hinaus, gelingt es allen drei Serien die in den Imitationsmodellen

106 angelegte Barbarei kenntlich zu machen. Die Haitianisierung deckt ein wesentlich breiteres Diskursspektrum ab, als etwa die beinahe "realistische" Satire eines Vernier (Abb. 76), der auch der Präsidentenreise seine verzerrende Vision der offiziösen Organe entgegenhält. Von vergleichsweise anderer Aktualität ist dagegen Daumiers gleichzeitig entstandene Serie Les Idylles parlementaires, die eine antike arkadische Bühne für die Inszenierung der durch die Präsidentenreise verdeckten Ferienvergnügungen des "parti de l'ordre" aufstellt. Wie im Juni 1850 setzt sich Daumier zuerst mit dem parlamentarischen Arm der Regierung (Abb. 70) auseinander, bevor er den Prätendenten selbst angreift: diesmal jedoch nicht als Soulouque (Abb. 69), sondern als Ratapoil, den Führer der Lumpenproletarier (Abb. 107). In beiden Fällen wird getrennt, was die Haitianisierung teilweise kontrafaktisch vereint. Ohne eine umfassende Interpretation im Rahmen dieser Thematik anbieten zu können, kann als Ergänzung zum bisherigen Befund vermutet werden, daß Daumier auf einer staatstheoretischen Ebene die augenblickliche Dynamik zwischen nicht mehr intakter repräsentativer Demokratie und zunehmendem demokratischem Populismus als Entwicklung von der Karikatur der klassizistischen Mythologeme der ersten Republik zur Karikatur der Volkssouveränität in der Gestalt des Lumpenproletariers interpretiert.

4 Soulouque und das Theater der Zweiten Republik Eigentlich hätte man die drei kurzen Theaterstücke, in denen die Soulouque-Figur eine Rolle spielt, mit in das Satire-Kapitel integrieren können, da sie wesentlich von den erwähnten Text- und Bildsatiren beeinflußt sind. Wenn ihnen dennoch ein eigenes Kapitel gewidmet wird, dann deshalb, weil die Rezensionen einen anderen Blick auf die Rezeption des Soulouque-Phänomens werfen als die politischen Kommentare. Dabei vermittelt die Rubrik "Feuilleton", in der die Rezensionen erschienen, als Ort für persönliche Kommentare sicher kein objektiveres Bild. Immerhin enthalten sie Hinweise auf die Publikumsreaktion und liefern eindeutige Belege zum einzigen nachweisbaren Zensurfall im Umfeld der Soulouque-Thematik. Im Anschluß daran soll noch auf Lamartines Theaterstück Toussaint Louverture und seine Rezeption eingegangen werden. Da es bei seiner Uraufführung 1850 eine andere Aktualität erhalten sollte, als die vom Autor bei der Abfassung Ende der 1830er Jahre intendierte, veranschaulichen die ausführlichen Kritiken die unterschiedlich aktivierbaren Rezeptionsraster zur Erfassung der haitianischen Geschichte in diesem spezifischen Moment und belegen somit, welch kompliziertes Zusammenwirken von Elementen, wie Bedeutung des Stücks, Autorenpersönlichkeit, Inszenierung und Kritik, einen Theatererfolg konstituiert.

107

4.1 "Haitianische" Weihnachtsmärchen Am 18. Dezember 1849 erschienen gleich zwei Stücke119, die das neue Kaiserreich in Haiti inszenierten: Duvert und Lauzannes A-propos-Vaudeville La Fin d'une République ou Haiti en 1849 im Théâtre du Vaudeville und Dumanoir und Clairvilles Revue Les marraines de l'an III im Théâtre de la Montansier. Beide Schauspiele haben trotz ihrer unterschiedlichen Gattungszugehörigkeit das gleiche Anliegen, eines der groteskesten Ereignisse des vergangenen Jahres im wahrsten Sinne des Wortes Revue passieren zu lassen und gleichzeitig einen Ausblick auf die Zukunft zu geben. Die Stücke werden kurz getrennt vorgestellt, um dann anhand der gleichzeitig verfaßten Rezensionen, die Publikumsreaktion zu erläutern. 4.1.1 Duvert/Lauzanne: La Fin d'une République

ou Haïti en 1849

Das Théâtre du Vaudeville hatte bereits seit einiger Zeit durch eine Reihe von Vaudevilles, die unter dem Obertitel La foire aux idées liefen, mit einem eindeutig antirepublikanischen Engagement auf sich aufmerksam gemacht. Der unbestimmte Artikel im Titel des neuen Stücks weist darauf hin, daß Haiti Modellcharakter für Frankreich haben soll, was nicht verhindert, daß alle rassistischen Topoi eingesetzt werden120. Die Autoren stellen nicht, wie man vermuten könnte, einen Staatsstreich vor, sondern zeigen seine Auswirkungen auf die Politiker. Deswegen ist die Handlung auf der Ile de la Tortue angesiedelt und nicht in Haiti (häufig wird der Landesname für die Hauptstadt benutzt), was überdies exotischer klingt. Auf dieser zu Haiti gehörenden Insel geben zwei schwarze Militärs den Ton an, der General Rémoulade, der einen Fritierstand unterhält und von allen aufrechten Republikanern verlangt, Speisen bei ihm zu kaufen, und der Admirai Petitpatapon, der von Beruf Schuster ist und auf der Insel keinen "va-nu-pied" duldet. Beide tragen über ihren halblangen gestreiften Sklavenhosen eine weiße oder eine Lederschürze, darüber einen mit Goldepauletten und Stickereien besetzten Rock, und einen Zweispitz mit einer roten Feder. Desweiteren figurieren noch der Mulatte und Bürgermeister Liseron, weiß gekleidet und mit Strohhut, der, immer lustig, für den gesunden Menschenverstand eintritt und so versucht, die grotesken Erscheinungsformen der Politik seiner schwarzen Mitbürger abzumildern. Diese dulden nämlich keine Weißen auf der Insel ("cette race bâtarde qui tient le milieu entre l'homme et le singe", S. 6). Cora, die Frau Rémoulades, hat ihre Milchschwester, die weiße Marie, schwarz ge119 Banville schreibt in der "Semaine dramatique" des Le Dix Décembre, 24.12.1849, daß er sechs Theaterstücke gezählt habe, in denen man das Wortspiel "Faux-Teint I pour Faustin" gebracht habe. Banville ist der einzige mir bekannte Rezensent, der sich auf andere als auf die hier zitierten Stücke bezieht, leider gibt er nicht an welche. In anderen Jahresendrevuen scheint es keinen nennenswerten Soulouque-Auftritt gegeben zu haben. 120 Auf den rassistischen Charakter des Stückes weist Hoffmann, 1973, S. 222/23, hin, ohne allerdings den Bezug zur französischen Innenpolitik zu sehen.

108 färbt, damit sie der Rache der Schwarzen entgehe. Doch als sich diese gerade abgeschminkt hat, um zu sehen, wie schön sie wirklich ist, da zerbricht Cora unglücklicherweise die Flasche mit dem Färbemittel. Liseron wird das Problem lösen und Marie nebst ihrem Geliebten, dem Weißen Alfred de Tarvel, zur Flucht verhelfen. Bis dahin behauptet er aber, daß Alfred in Wirklichkeit ein Schwarzer sei, der ein Mittel habe, weiß zu färben - der beste Beweis dafür sei Marie. Sofort machen sich beide Generäle unabhängig voneinander an Alfred heran, um sich weiß färben zu lassen. Da trifft die Nachricht von der Proklamation des Kaiserreiches ein. Beide Generale entschließen sich sofort zum Widerstand gegen dieses "odieux attentat z'à la volonté des nègres" (S. 8). Als sie allerdings erfahren, daß Soulouque sie zum "comte" bzw. "duc" geadelt und ihnen das "cordon de commandeur de l'ordre de Saint-Faustin" verliehen hat, legen sie ihr republikanisches Gewand ab zugunsten eines Kostüms im Stile Louis XV.. Liseron, der leer ausgeht, resümiert: Les voilà donc ces gens d'humeur altière, / Les plus ardents sont les premiers conquis! / Un maître arrive: on passe au vestiaire, / Et les Brutus deviennent des marquis! / ... / Car j'aperçois sur vos talons le rouge / Que vous portiez jadis sur vos bonnets! (S. 12). Und während Soulouque in goldbesetzter Uniform inklusive Hut mit Federn verschiedenster Couleur der Ile de la Tortue einen Besuch abstattet, verschwinden die beiden Weißen. Offensichtlich werden hier zwei Farb-Codices miteinander vermischt: der Rassengegensatz schwarz/weiß - wobei weiß sowohl den Schwarzen als auch den Mulatten als absolutes Schönheitsideal erscheint - , und die politischen Positionen schwarz-rot im Sinne von jakobinisch, radikal republikanisch; schwarz-bunt für bonapartistisch, neo-aristokratisch; schließlich gemischtfarbig für gemäßigt republikanisch. Ob die Farbe Weiß den Legitimismus symbolisiert, ist nicht eindeutig ausgeführt, liegt aber aufgrund von Alfreds Adelstitel nahe. Da die Weißen die Insel verlassen, scheint es auf Haiti keinen Platz für den Legitimismus zu geben. Auf Frankreich übertragen führt das zu folgender Lesart: Solange die in bester jakobinischer Tradition von den Sozialisten proklamierten Ideale und die Ideologie des Bonapartismus dominieren, muß man sich auf die gemäßigten Republikaner, das heißt, den gesunden Menschenverstand des Volkes und nicht auf dessen selbsternannte Vertreter stützen. Die vitalen Kräfte des Volkes werden sich schließlich durchsetzen, die Weißen wieder ins Land holen und ihnen die Macht überlassen; denn Liseron antizipiert bereits das Ende nach dem Kostümwechsel: ...si long que soit le carnaval, il a un terme; (Gaiement.) après le mardi-gras, il faut le mercredi des cendres! (S. 11). Neben dem schon bekannten Schema der Gleichsetzung von Barbaren und "neuen Barbaren", findet hier die Rolle der Mulatten als Agenten der französischen Interessen zum ersten und einzigen Mal Eingang in die nicht "seriöse" Haiti-Darstellung.

109 Während die Mulatten in den Haiti-Artikelserien der großen Zeitschriften zu Vertretern der Zivilisation hochstilisiert werden (siehe IV.2.1), spielen sie in Satire, Parodie, Vaudeville und Karikatur kaum eine Rolle. Wahrscheinlich duldete der Schwarz-Weiß-Gegensatz keine Zwischenfarbe. Hier ermöglicht die Mulatten-Figur, eine legitimistische Position zu illustrieren, die allerdings ohne die Unterstützung bürgerlicher Kräfte nicht mehr überleben kann. 4.1.2 Dumanoir/Clairville: Les marraines

de l'an III

Dieses Stück gehört einer Gattung an, der die Rezensenten eine stetig zunehmende Beliebtheit seitens des Publikums attestierten: die Jahresendrevue. Abgesehen von einer Rahmenhandlung stellt sie nur lebende Bilder zu Ereignissen aus dem vergangenen Jahr vor, die von populären Liedern begleitet werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der pompösen Ausstattung dieser Bilder, so daß die Theater um die aufwendigste Revue wetteifern. Diese schienen im Jahr 1849, wenn man den Rezensionen trauen kann, dem Théâtre de la Montansier gelungen zu sein. Der Titel der Revue evoziert eher eine Reminiszenz an die Große Revolution, als daß er der Sprachregelung der Zweiten Republik entspräche. An der Wiege des "an III" versammeln sich die Feen, um dem Kind ihre Gaben mitzugeben, Reichtum, Ruhe und Frohsinn. Natürlich darf auch die böse Fee, das ist die Politik, nicht fehlen, war sie es doch, die die beiden letzten Jahre verdorben habe. In den folgenden Akten defilieren Ereignisse und Persönlichkeiten des letzten Jahres vor dem Kind, das entscheiden kann, ob es diese übernehmen möchte oder nicht. Als erster tritt Soulouque auf. Er trägt einen Hut mit bunten Federn, einen mit Gold abgesetzten roten Mantel, gelbe bestickte "culottes" und mit Edelsteinen verzierte Stiefel. Er wird von Mme Soulouque, Coco und Bobo begleitet. Verständlich, daß er die Aufmerksamkeit des "an III" erregt. Soulouque träumt von nichts anderem als nach Paris zu kommen, billig einzukaufen, gut zu essen, Weißwein zu trinken, sich in der Opéra eine Mätresse zu suchen und Farcen zu inszenieren. Zur Finanzierung seiner Krönung hat er seine beiden Schwestern an einen Sklavenhändler verkauft und wenn sein Volk mal nicht "chica" tanzt, sondern unzufrieden ist, bekommt es eben Schläge mit dem Knüppel. Das "an III" erkennt schnell, daß es sich um einen Monarchen "faux teint" handelt und antwortet ihm - seiner Rede entsprechend - in petit-nègre, daß es ihn im kommenden Jahr nicht mehr sehen wolle. Auch dieser Auftritt läßt Anleihen beim Charivari erkennen und dessen politische Richtung spiegelt sich ansatzweise in Soulouques Ausruf wieder: Empereur, ce titre est sucré! / Comme empereur, je fus sacré, / Et je ne fus pas massacré! / Le choeur: Ah! c'est vraiment nouveau! ... / Bravo! (2. Akt, 3. Szene) Gegen diese kritische Lesart steht der exotische Operettenprinz, der, wie der französische Provinzbewohner, Paris anstaunt, aber als Neger im Monarchenkostüm dort nichts verloren hat, außer dem Pariser Publikum seine rassische und kulturelle Hö-

110 herwertigkeit zu bestätigen. Eine eindeutige politische Position ist aus diesem Stück nicht abzulesen. Es tritt für den "ordre" ein und bezieht damit implizit gegen die Radikalrepublikaner Position, ohne diese jedoch vorzuführen. Daher werden die Schwarzen auch nicht mit den "neuen Barbaren" in Verbindung gebracht. Trotz der angedeuteten antibonapartistischen Untertöne müssen sich die Bonapartisten allerdings nicht angesprochen fühlen, da der schwarze Märchenprinz von seinem französischen Pendant in Kostüm und Sprache derart weit entfernt wurde, daß kaum von einem direkten Zeichentransfer die Rede sein kann.

4.1.3 Die Reaktion der Presse Fast die gesamte Pariser Presse war der einhelligen Meinung, daß Duvert und Lauzanne mit ihrem Stück weit unter ihrem Niveau geblieben seien und daß die Autoren zur falschen Zeit krampfhaft politische Anspielungen herbeigeführt haben. Die Jahresendrevue erfreute sich wegen ihrer prunkvollen Inszenierung dagegen ungeteilter Zustimmung. Die in der Expositionsszene der Marraines zum Ausdruck gebrachte Politikmüdigkeit schien also auch die meisten Rezensenten befallen zu haben. Der politische Charakter der Fin d'une République muß zu lebhaften Publikumsreaktionen geführt haben, wobei - je nach Ansicht des Rezensenten - mal der Protest der Republikaner, mal der Applaus der Republikgegner überwog. Versucht man aber, die politische Aussage des Stückes anhand der Rezensionen zu bestimmen, so ergibt dies ein unterschiedliches Bild. Théophile Gautier etwa macht in Girardins Presse aus seiner Wut über den schlechten Stil der Autoren keinen Hehl und befindet kurz, das Stück sei reaktionär 121 . Paul Meurice merkt im Evénement an: Nous avons été fort humiliés en entendant... un ancien joli mot de l'Evénement sur les bonnets rouges et les talons rouges, un mot qui était vaillant et spirituel sous MM Cavaignac et Marrast, mais qui, sous Louis Bonaparte et M. Dupin nous a semblé mauvais et triste comme un plat refroidi.122 Eindeutig an diesem Urteil sind nur die politische Position des Hugoschen FamilienBlattes im Vorjahr und der Vorwurf des Plagiats zur falschen Zeit; unklar bleibt, ob man die augenblickliche Regierung nicht mit den damaligen Linken vergleichen dürfe - ein sehr fragwürdiges Etikett, hat doch der General Cavaignac den Juni-Aufstand zusammengeschossen - oder ob man sie nicht eher mit dem schwarzen Monarchen vergleichen müsse. Sauvage läßt da im Moniteur123 keinen Zweifel aufkommen: Je n'aime donc pas ces misérables à-propos politiques qui, de près ou de loin, ridiculisent la forme du Gouvernement qui nous régit;... Damit kommt zumindest das Regierungsblatt zu dem Schluß, daß das Stück gegen den Präsidenten gerichtet sei, wenn auch der Rezensent einige "mots spirituels" ge121 Siehe T. Gautier: "Feuilleton de la Presse", 24.12.1849. 122 Siehe P. Meurice: "Feuilleton de l'Evénement", 24.12.1849. 123 Siehe Sauvage: "Spectacles", in: Le Moniteur, 24.12.1849.

Ili funden zu haben glaubt. Also scheint es doch nicht ganz so miserabel gewesen zu sein. Einzig Charles Besselièvre im legitimistischen Corsairem ist gänzlich mit dem Schauspiel zufrieden und freut sich darüber, daß das Publikum alle darin geäußerten Aufforderungen zur Abschaffung der Republik mit donnerndem Applaus bedacht habe: Jener Bürger in der roten Weste, der sich darüber beschwert habe, daß die Bewohner der Ile de la Tortue verzerrt dargestellt worden seien, habe den übertragenen Sinn sehr wohl verstanden. Diese Episode signalisiert, daß es ein Bewußtsein für die rassistische Grundanlage des Stückes gegeben haben muß, der Kritiker stilisiert dann aber - gemäß der Gleichsetzung von alten und neuen Barbaren - den antirassistischen Protest in einen linksrepublikanischen um. Die Ablehnung des Rassismus durch einen Teil des Publikums findet sich allerdings in keiner der übrigen Rezensionen, es sei denn als Distanzierung von der extremen Übertreibung. Wenn aber über den politischen Charakter des Fin d'une République und auch seine schlechte literarische Qualität kein Zweifel bestand, dann stellt sich die Frage, warum die Zensur nicht eingegriffen hat. Die Antwort ergibt sich aus der Diskussion um das Stück Une Nuit blanche, in der häufig mit den Theaterstücken des Dezember 1849 argumentiert wurde.

4.2 Die Zensur streicht Soulouque Der einzige bekannt gewordene Eingriff der Zensur im Zusammenhang mit einer Theateraufführung zur Soulouque-Thematik ist nur in der zeitgenössischen Presse dokumentiert; das Stück selbst, Une nuit blanche, der zweite Akt einer größer angelegten Revue von Méry und Gérard (ein Pseudonym von Gérard de Nerval), der als "pochade" (als wenig ausgearbeitete Klamotte) am Karnevalssonntag 1850 vom Odèon aufgeführt wurde, ist nicht mehr aufzufinden. Es ist Charles de Matharel zu verdanken, daß er diesen Fall für diejenigen, die sich eines Tages für die "Episoden unseres Theaters" interessieren sollten, nachgezeichnet hat 125 . In einem fiktiven Dialog - dieses Mittel, Eingriffe der Behörden zu unterlaufen, ist ja bereits aus dem Charivari bekannt - stellt der Feuilletonist die wahrscheinlich inkriminierten Passagen zusammen: Napoléon-Robespierre-Soulouque, empereur d'Haïti, roi des grandes Antilles, protecteur de la confédération du Mississipi, médiateur de la confédération mexicaine, se fait lire dans le livre de M. Thiers l'histoire du 18 brumaire;... Da der Titel Soulouques alle bisher gekannten Exotisierungsversuche übertrifft, kann er kaum Anstoß erregt haben, wohl aber die Anspielung auf einen Apologeten früherer Putsche. Gemeint ist Thiers Histoire du Consulat et de l'Empire, ferner wird spä124 Siehe Ch. Besselièvre: "La Fin d'une République", in: Le Corsaire, 23.12.1849, derselbe meint einen Tag zuvor, daß der Soulouque in der Revue "une excellente caricature" sei. 125 Siehe Ch. de Matharel: "Feuilleton du Siècle", 26.2.1850.

112 ter auch noch auf Marco de Saint-Hilaire als Buchvorlage hingewiesen. Nachdem Soulouque mit dem historischen Modell und dessen Propagandisten vertraut gemacht worden ist, geht er an die Arbeit. Sekundiert von seinem Unterrichtsminister schafft er, wie bereits erwähnt (siehe III.3.4.1), das Lesen- und Schreibenlernen ab, da das nur die unerwünschte Verbreitung von Zeitungen fördere. Des weiteren läßt er sich von dem Minister überzeugen, daß zwar allen das Recht auf Schulbildung zustehe, aber nur diejenigen, die sie auch bezahlen könnten, in ihren Genuß kämen - gerade so, wie es in allen zivilisierten Ländern sei. Als nächster tritt der Kriegsminister auf, der Soulouque Vorschläge unterbreitet, wer einen Orden verdiene: Die Soldaten dafür, daß sie weder kämpften noch Sold erhielten, und - aus Gründen der Gleichheit und Gerechtigkeit - natürlich auch die Generale, die zwar ebenso wenig kämpften, aber zumindest dafür besoldet würden. Auch die Romexpedition wird angesprochen: Vous le savez, tout chemin mène à Rome. ... Mais souvent Rome est un mauvais chemin. Schließlich stellt sich noch heraus, daß Soulouque in Wirklichkeit ein Pariser Domestike sei, der sich schwarz geschminkt habe, um in Haiti nicht erkannt zu werden. Dort habe man ihn gegen seinen Willen zum Kaiser ausgerufen; ein Schicksal, daß er mit dem sprichwörtlichen Einäugigen im Land der Blinden teile. Darauf sei - so der Rezensent - ein Zuruf aus dem Saal gekommen, man könne dies nicht von anderen behaupten. Die eigentlich inkriminierte Stelle sei jedoch die Schlußstrophe gewesen, die in folgender Aufforderung gipfelte: Gardons pour nous, peuple d'élus, / La liberté féconde, / Et que tous les rois absolus / Partent pour l'autre monde. Wenn die vorherigen Passagen nicht als Majestätsbeleidigung empfunden wurden, warum dann gerade diese? Für alle, die sich nicht vorstellen konnten, worin das eigentliche Vergehen dieses Stückes bestand, hatte die Voix du Peuple bereits einige Tage zuvor klargestellt: Tout aussitôt l'imagination de la police s'est mise en campagne: cet empereur Soulouque ne serait-il point...? Et ce don Basile, ministre de l'instruction publique, ne serait-il pas aussi ...? c'est évident, l'illusion est limpide, et cela dans un moment où on discute la loi sur l'enseignement!126 Der entscheidende Grand für das Eingreifen der politischen Ordnungswächter liegt also in der Aktualität. Daraus läßt sich ableiten, daß weder Exotisierung noch rassistische Anspielungen einen Zensureingriff verhindern können, wenn der Tagesbezug eindeutig ist. Diesen findet man allerdings genauso in den Constitutionnègre-Artikeln des Tintamarre. Ebenso spricht der Charivari in seinem Kommentar zu diesem

126 Siehe La Voix du Peuple, 19.2.1850.

113 Zensurakt von einem Offensiv- und Defensiv-Bündnis zwischen Soulouque und dem Präsidenten der Republik und fordert schließlich dazu auf, wenn man den Innenminister Ferdinand Barrot auf der Straße treffe, unverzüglich "Vive Soulouque!" zu rufen 127 . Das bedeutet, daß die Presse sich zu diesem Zeitpunkt noch eine eindeutigere Präsidentenbeleidigung erlauben konnte. Im schärfer überwachten Theater war dies jedoch schon nicht mehr möglich 128 . Die Klamotte war allerdings bereits einen Tag vor ihrer Aufführung vom Evénement zu einem theaterpolitischen Testfall hochstilisiert worden, so behauptete Hugos Familienblatt, daß das Innenministerium den Direktor des Odéon, Bocage, auf gewisse Anspielungen hingewiesen habe, und zitiert wie folgt: M. Bocage a fait répondre qu'il espérait que les ouvrages républicains de MM. Méry et Gérard jouissaient sur la scène de la même tolérance qu'avaient rencontrée au Vaudeville les ouvrages réactionnaires de MM. Clairville, Maurice Alboy et tutti quanti, et qu'il croyait bien que la police s'honorerait en ne prenant pas, contre des couplets patriotiques, une initiative dont elle s'était abstenue contre des épigrammes chantées au profit des jésuites ou de la monarchie. 1 2 9

Nach dieser Werbeaktion war klar, daß die "pochade" ein Publikumserfolg werden mußte. Das Ministerium schien auch zumindest gezögert zu haben, ob es sich nun offen auf die Seite der Reaktion schlagen sollte oder nicht. Die nach drei Spieltagen erfolgte Absetzung des Stückes war die dümmste und zugleich sicherste Methode, seinen Inhalt durch die republikanische Presse publik zu machen. Diese ließ sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen, nochmals auf die reaktionäre Propaganda des Théâtre du Vaudeville zu schimpfen, ohne dabei explizit auf Duverts und Lauzannes Fin d'une république einzugehen.

4.3 Lamartine und Toussaint

Louverture

Zwei Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei durch die provisorische Revolutionsregierung unter der Führung Lamartines brachte das Théâtre de la Porte SaintMartin mit großem Aufwand ein Stück, das seit 1839 als literarischer Beitrag des Politikers und Dichters zum Kampf für die Abolition in den französischen Kolonien angekündigt worden war. Da das Anliegen des Autors also schon realisiert worden war und die Durchführung des Abolitionsdekretes in den Ausschüssen auf ihre Verwirklichung wartete - Lamartine interessierte sich im Gegensatz zu dem eigentlichen Verfasser des Dekretes, Victor Schoelcher, nie für diese Details, und die Presse schrieb ihm auch nie in dieser Sache ein besonderes Engagement zu - stellt sich die 127 Siehe Le Charivari "Soulouque inviolable", 23.2.1850. 128 Etwa um die selbe Zeit wurde der "Rapport Charton" über die Situation der Theater abgeschlossen, der sich, unter anderem, für die Abschaffung der Zensur aussprach. Er wurde vom Parlament ignoriert. Im Juli 1850 erließ der Innenminister Baroche ein verschärftes Zensurgesetz, siehe Krakovitch, S. 211/12. 129 Siehe L'Evénement, 16.2.1850.

114 Frage, aufgrund welcher Überlegungen die Theaterdirektion ein zehn Jahre altes Stück aufführte und welche Aktualität dann die veröffentlichte Pariser Meinung in dem Stück zu erkennen glaubte. Im Rahmen dieser Untersuchung macht die Fragestellung insofern einen Sinn, als Lamartines Theaterstück den Helden der haitianischen Revolution positiv darstellt und der Erfolg von Toussaint Louverture vielleicht das damalige durch Soulouque stark diskreditierte Haiti-Bild wenigstens zeitweilig aufgebessert haben könnte. Nach einem kurzen Überblick über Positionen der heutigen Sekundärliteratur, wird der Großteil des folgenden Kapitels daher vor allem der Analyse zeitgenössischer Presserezensionen, aber auch den Parodien und Karikaturen zu dem Stück gewidmet sein. 4.3.1 Interpretationsansätze Bereits Lamartine selbst war sich über die Gattungszugehörigkeit von Toussaint Louverture nicht im klaren, er schwankte zwischen "tragédie moderne" und "poème dramatique et populaire", für ihn hing die Zuordnung des Genres nämlich auch vom Aufführungsort ab. Doch auch in dieser Frage konnte der Autor sich nicht zwischen dem Théâtre Français und einem "théâtre mélodramatique du boulevard" entscheiden130. Entsprechend heterogen fallen die Urteile der Sekundärliteratur aus. Während Antoine131 den formalen Kontrast zwischen den melodramatischen Elementen und dem klassischen Versmaß des Alexandriners einerseits und dessen inhaltlicher Entsprechung als Gegensatz von radikaler Rhetorik und kolonialistischer Grundhaltung andererseits als wesentliche Gründe für die Schwäche des Stückes anführt, sehen Hoffmann 132 und Brahimi Lamartine gerade wegen dieser Rhetorik als Vorläufer der Negritude an. Jurt situiert das Stück im Kontext von Lamartines politischen Aktivitäten gegen die Sklaverei; ähnlich argumentiert auch Benot (1989), der bei Lamartine sowohl eine kolonialistische als auch eine antikolonialistische Tendenz in der Tradition Raynals ausmacht, wobei Toussaint Louverture seiner Meinung nach zur letzteren gehöre. Dem ist hier folgender, bislang unbeachteter Aspekt hinzuzufügen, der einige ästhetische wie auch ideologische Widersprüche aufzulösen verspricht. Bereits Antoine hat zwei wesentliche Hinweise gegeben: das Drama habe einen stark religiösen Charakter, und außer Toussaint würden alle historischen Persönlichkeiten der Revolution zu Statisten degradiert. 130 Siehe Anmerkung der Redaktion zu Lamartine: Les noirs, 1843, S.891, und Lamartine: "Préface", in: Toussaint Louverture, S. VII. Es ist bisher ungeklärt, warum das Stück 1843 nicht im Théâtre Français gespielt wurde. Die nachträgliche Entscheidung für ein Boulevardtheater dürfte wohl eher aus finanziellen Erwägungen und nicht von dem in der "Préface" vorgeschobenen Grund der Volksnähe beeinflußt worden sein, was weiter unten ausgeführt wird. 131 Siehe Antoine, S. 257-264. 132 Siehe Hoffmann, 1973, S. 212/213.

115 Das Stück beginnt in dem Moment, als Toussaints Herrschaft zum ersten Mal eine gemischtrassige, freie Gesellschaft auf Saint-Domingue garantiert. Der Befreier befindet sich auf einem Felsen, dem Volk entrückt, das ihn als Gesandten Gottes feiert. Die übrigen historischen Persönlichkeiten werden entweder dem Volk zugeordnet oder schleichen sich widerrechtlich bei Toussaint ein. Die inneren Konflikte des Helden kennen nur der Priester und das Publikum. Dieser besorgt mit einer Mischung aus Raynalscher Radikalität und christlicher Nächstenliebe die ideologische Aufrüstung 133 . Die Ankunft der Flotte Napoleons stellt den Helden nämlich vor den Konflikt zwischen seiner Rolle als Vater der Nation und der Liebe zu seinen Söhnen, die sich nun zwischen ihm und Napoleon entscheiden müssen. Es stehen sich also zwei von der "Vorsehung" auserwählte Führer gegenüber, der christlich legitimierte Schwarze und der Feldherr aus Frankreich. Napoleon und seine Gesandten werden als doppelzüngige Figuren ohne Moral vorgestellt. Auf diese Weise gelingt es Lamartine, Toussaint zum Agenten seines eigenen Antibonapartismus 134 und seiner Ablehnung der Sklaverei zu stilisieren; allerdings mit der Konsequenz, daß der Autor einen schwarzen Napoleon geschaffen hat, der alle positiven Werte, die dem weißen von seinen Apologeten zugeschrieben werden, auf sich vereint. Nur benötigt er einen weißen Pater, da sich die Befreiung von der Sklaverei entsprechend dem Zivilisationsmodell der Weißen zu vollziehen hat. Vor diesem Hintergrund erklären sich auch die "Deus ex machina"-Auftritte des Paters135. Die moralisierende Argumentation beraubt somit das historische Drama seiner historischen Dimension und reduziert 133 Wenn man unbedingt einen aktuellen Bezug sucht, dann könnte man den Pater als Theologen der Befreiung hinstellen. 134 Lamartines Antibonapartismus hat Guyard ausführlich analysiert. 135 Ähnliche "Deus ex machina"-Auftritte werden, mit antiklerikaler Tendenz, in dem sozialistischen Kolportage-Roman Le règne du Diable von Pierre Philippe Delclergues inszeniert. Der Chefredakteur der Zeitschrift Le Christ républicain veröffentlichte die dritte Episode seines Romans, die den Befreiungskampf Toussaint Louvertures auf Haiti beschreibt, von November 1849 bis Mai 1850 also zeitgleich mit den Proben und den Aufführungen von Toussaint Louverture. Der Autor hält sich, genau wie Lamartine, nicht an historischen Details auf, sondern stilisiert die Erschießung von Moïse zu einer infamen Intrige eines weißen Priesters, mit dem Ziel, die gemeinsame Front der Revolutionäre aufzubrechen. Gemäß dem Modell von Sues Juif Errant wird Haiti zur Illustration des Plädoyers für die "association" der Unterdrückten, die, wie immer, von der Kirche und den Reichen, in diesem Fall aber noch dazu von den Verrätern der Revolution, Napoleon und Leclerc, am Erfolg ihrer Befreiung gehindert werden. Delclergues sieht nach der Erfahrung des Juni 1848 und nach der Rom-Expedition 1849 nicht mehr die Möglichkeit, einen christlich republikanischen Priester darzustellen, was Lamartine 1839/43 noch konnte; die Schwarzen bedürfen nunmehr keiner klerikalen Vermittlung, sondern gehorchen dem universellen Gesetz der "association", die aber auch als Gesellschaftsmodell bereits gescheitert ist. Die Episode bricht bezeichnenderweise nach dem Verrat an Toussaint Louverture ab und zeigt, genau wie bei Lamartine, nicht die unabhängigen Haitianer. Weder das Modell des christlich-paternalistischen Kolonialismus noch der christlich-pazifistische Sozialismus sind in der Historie und der Aktualität realisiert worden. Beide Priester-Figuren haben strukturell die gleiche Funktion, die ideologische Botschaft des Werks gegen die Evidenzien der Geschichte zu legitimieren.

116

die Diskussion des Bonapartismus, in seiner französischen und karibischen Spielart, auf den Kampf zwischen dem Verfechter der Sklaven-Kolonien und dem Garanten einer Kolonialidylle.

4.3.2 Anekdoten um die Inszenierung Lamartine selbst war sich der Wirkung seines Stückes nie sicher und hat es zweimal, 1840 und 1843136, aus politischen Gründen vorgezogen, Toussaint Louverture nicht aufführen zu lassen. Daß er das Drama schließlich doch verkaufte, lag vor allem an seinen finanziellen Schwierigkeiten. Nachdem bereits mehrere Theater wegen des zu hohen Preises abgelehnt hatten 137 , erwarb es im Herbst 1849 der Verlagsbesitzer Michel Lévy für die ungeheure Summe von 30000 Francs, um es am Théâtre de la Porte Saint-Martin mit Frédérick Lemaître in der Hauptrolle spielen zu lassen. Der große Theaterstar der Julimonarchie, der die Figur des Robert Macaire kreiert hatte, hoffte mit Toussaint Louverture auf ein glänzendes Comeback. Die Theaterdirektion und er setzten sowohl auf den Bekanntheitsgrad des Politikers und Dichters - immerhin war es dessen erstes Theaterstück - und auf das Publikumsinteresse an der Sklavereithematik 138 . Überdies wurden keine Kosten für ein reich ausgestattetes exotisches Dekor und ebensolche Kostüme gescheut, unterstützt durch eine Pressekampagne, die immer wieder kleine Notizen über den Stand der Vorbereitung brachte. So ist es nicht verwunderlich, daß bereits einen Monat vor der Uraufführung alle 2000 Plätze verkauft waren. Vertreter aller politischen Parteien, einschließlich LouisNapoleons und Jérôme Bonapartes selbst, gaben sich am 4.4.1850 an der Porte SaintMartin ein Stelldichein. Doch das parteienübergreifende Wohlwollen gegenüber dem Autor währte nicht lange; und als Isaac Louverture im Stück ausrief: "Napoléon est un blanc!" sollen die Republikaner im Saal, zur Präsidentenloge gewandt, laut Beifall geklatscht haben. Am Ende der Vorstellung gab es eine Viertelstunde stehende Ovationen für den Autor, der sich jedoch lieber zurückgezogen hatte, vielleicht auch, um nicht vor dem Präsidenten akklamiert zu werden; so jedenfalls der Evénement139.

4.3.3 Die Pressereaktionen Die Presse 140 war sich in einem Punkt einig: Das Drama sei ein Erfolg, aber dieser sei auf die hervorragende Leistung Frédérick Lemaîtres, das glänzende Debüt von Lia 136 Siehe Toesca, S. 357, 378. 137 Siehe La Silhouette, 14.1.1849, S. 8. 138 Siehe Lemaître, S. 297. 139 Siehe L'Evénement, 7.4.1850; L'Opinion Publique, 9.4.1850. Es ist wichtig, daß die Episode des republikanischen Applauses sowohl von einem oppositionellen als auch von einem legitimistischen Blatt berichtet wird, da die republikanische Revue Liberté de Penser Ende April 1850 behauptete, das Publikum habe den weißen dem schwarzen Napoleon vorgezogen. 140 Der Auswertung liegen folgende Artikel zugrunde, die unter der Rubrik "Feuilleton" erschienen sind. Wenn der Autor zu identifizieren war, so ist sein Name mit angegeben:

117 Félix, der jüngeren Schwester von Rachel, und auf die "mise en scène splendide" (Silhouette) zurückzuführen. Alle stimmen darin überein, daß Lamartine ein großer Dichter sei, aber keine Theaterstücke zu schreiben verstehe. Kein Rezensent erwähnt Lamartines oder Schoelchers Rolle bei der Aufhebung der Sklaverei. Wenn diese überhaupt noch zur Sprache kommt, dann, um deutlich zu machen, daß das Stück zur falschen Zeit gespielt worden ist. Die Démocratie Pacifique meint, vor 1848 wäre es nützlicher gewesen. Moniteur und Assemblée Nationale finden die Anschuldigungen gegen Frankreich fehl am Platz, da schließlich die Republik 1848 wie schon die Convention 1794 die Sklaverei abgeschafft habe. Diese Argumentation ist umso erstaunlicher, als sich die beiden konservativen Blätter mit einem Dekret aus der Jakobinerherrschaft identifizieren. Dagegen vergißt niemand, Lamartines Rolle in der Februarrevolution zu erwähnen. Théophile Gautier stellt leicht ironisch fest, daß die Lyra doch schwerer zu tragen sei als das Staatsamt - und dieses mußte der Dichter/Revolutionär unter dem doppelten Druck der Juni-Insurgenten und der Truppen Cavaignacs abgeben. Wesentlich ausfallender wird da schon Hugos Blatt, der Evénement, der Lamartine direkt vorwirft, als Dichter und Politiker versagt zu haben. Angesichts der Aggressivität des Artikels kann man ein hohes Maß Eifersucht bei dem Autor der Burgraves vermuten, zumal einige Blätter beide Autoren vergleichen und zu dem Schluß kommen, daß eigentlich beide keine Dramatiker seien. Fast alle Feuilletons berichten, das Publikum sei erstaunt gewesen über die Schwärze der Schauspieler. Ob das nach den vielen "Soulouquerien" wirklich der Fall war, sei dahingestellt. Offensichtlich stört soviel Schwarz das Schönheitsideal der Kritiker, doch geht keiner so weit wie Jules Janin im liberalen Journal des Débats, der das Stück gar zum Anlaß nimmt, eine rassistische Ästhetik abzuleiten: Die Tragödie sei weiß und französisch - auf diese Weise hat er den Hinweis auf Othello ausgeschlossen - , und er fährt fort:

L'Evénement, 7.4.1850 und 9.4.1850; 7.4.1850: Th. de Banville, in: Le Dix-Décembre-, 8.4.1850: J. T., in: L'Union; Le Charivari; Jules Janin, in: Le Journal des Débats', Charles de Matharel, in: Le Siècle; Auguste Lireux, in: Le Constitutionnel; Théophile Gautier, in: La Presse; Paul de Musset, in: Le National, Jules de Pemaray, in: La Patrie und in: Le Caricaturiste, 14.4.1850; 9.4.1850: Louis Boyer, in: Le Corsaire; Calixte Ermel (Pseud. von Pontmartin), in: L'Opinion Publique-, G. Y., in: La Voix du Peuple-, 10.4.1850: Edouard Thierry, in: L'Assemblée Nationale-, 13.4.1850: Philippe Busoni, in: L'Illustration-, 14.4.1850: La Silhouette-, T. Sauvage, in: Le Moniteur, 15.4.1850: La Démocratie Pacifique-, 16.4.1850: J. G. im "Bulletin" der Liberté de Penser, 29, 1850, S. 521-525; Gustave Planche: "Toussaint Louverture, drame de M. Alphonse de Lamartine", in: La Revue des Deux Mondes, 2, 1850, S. 353-368.

118 ... que la blancheur ... ait été violemment arrachée de la poésie française ... et que nos comédiens en soient réduits à se barbouiller la face, ... voilà ce qui me passe et ce qui m'étonnera toujours. Wenn schon die Gattung Ziel rassistischer Ausfälle wird, so kann man sicher noch Eindeutigeres erwarten, was den Gegenstand betrifft. Tatsächlich gehen fast alle Blätter auf die bei Lamartine angelegte dualistische Struktur ein und bezeichnen Toussaint als "Napoléon noir". Manche benutzen diesen Namen nur als Synonym, ohne einen direkten Vergleich zwischen den beiden Kontrahenten anzustellen (Gautier, Boyer, Le Charivari, La Démocratie Pacifique). Die Silhouette zeigt zum Beispiel ein Bild mit dem schwarzgefärbten Lemaître im Napoleon-Kostiim, die Hand in der Weste. Andere dagegen vergleichen die beiden auf der Grundlage breit angelegter historischer Ausführungen. Dabei ist auffällig, daß diese Autoren sich fast ausschließlich auf die bereits erwähnte Histoire du Consulat et de l'Empire von Thiers stützen, wobei die Quelle explizit nur von de Matharel zitiert wird. Diese Auswahl ist insofern bezeichnend, da weder ein haitianischer Autor Madious Histoire könnte bereits in der Redaktion der Revue des Deux Mondes vorgelegen haben, da er im Herbst desselben Jahres von D'Alaux angegriffen wird noch etwa das vielbeachtete Buch Victor Schoelchers zu einer differenzierten, aber tendenziell positiven Beurteilung des Revolutionshelden Eingang in die Artikel fanden. Allerdings macht Thiers Histoire den Aufständischen in Saint-Domingue in der entscheidenden Frage der Intentionen Napoleons ein wichtiges Zugeständnis. Er geht zwar davon aus, daß das Ziel der Leclerc-Expedition nicht die Wiederherstellung der Sklaverei war, daß die Repression auf Guadeloupe aber diesen Eindruck in SaintDomingue sehr wohl hervorrufen konnte 141 . Diese Einschränkung übernimmt einzig der Autor der Liberté de Penser. Er sieht den Unterschied zwischen beiden Protagonisten in der kulturellen Differenz begründet und nicht in der rassischen. De Matharel zeichnet Toussaint im republikanischen Siècle zunächst als einen sympathischen aufrechten Republikaner, der später dann Napoleon nachgeäfft habe. Dieser Feststellung liegt die Annahme zugrunde, daß der Schwarze gut sei, solange er die richtige politische Richtung nachahme, selbständig entwickeln könne er sich jedoch nicht. Während de Matharel dem Schwarzen also immerhin noch die Fähigkeit zubilligt, das Richtige gut zu imitieren, steht für Lireux, Thierry, Pontmartin und Janin eindeutig fest, daß ein Vergleich beider Feldherren einer Beleidigung für den Weißen gleichkomme. In diesem Zusammenhang versteigt sich der Kritiker der liberalen Revue des Deux Mondes zu dem ideologisch zweifelhaften Unterfangen, den weißen Staatsmann dem Bereich der Politik zu entrücken, womit er genau der bonapartistischen Annahme entspricht, daß der von der Vorsehung erwählte Führer über den Parteien stehe:

141 Siehe A. Thiers, Bd. IV, S. 210.

119 ... Bonaparte n'est pas un blanc, mais un homme d'une intelligence supérieure, d'une volonté inébranlable, d'une sagacité rare, fait pour le commandement... Obwohl die Anspielung auf den Vorfall während der Premiere (der Applaus der Republikaner) offensichtlich ist, muß man nicht unbedingt davon ausgehen, daß diese Apotheose des Onkels zwangsläufig die Demonstration des Publikums gegen den Neffen verurteilt. Vielmehr impliziert diese Betonung der Ausnahmefigur, zumindest theoretisch, die Ablehnung sowohl schwarzer wie auch weißer Gleichsetzungen. In jedem Fall darf nicht der Eindruck entstehen, daß die großartigen militärischen Erfolge Napoleons durch einen Schwarzen beschmutzt wurden. Anderen Rezensenten reicht die Hervorhebung der eigenen glorreichen Vergangenheit nicht, es muß gezeigt werden, daß es kategoriale Unterschiede zwischen französischen und haitianischen Verhältnissen gibt. In diesem Fall figuriert Soulouque als Nachfolger Toussaints. Der schwarzen Despotie stellt Thierry die Abolitionsliteratur der Aufklärung und die französisch/englischen Kontrollen des illegalen Sklavenhandels entgegen. Wohl nie zuvor bewertete die legitimistische Presse aufklärerisches Gedankengut so positiv. Eine solche Position hätte man eher von Janin erwartet, doch der begnügt sich mit dem Hinweis, wenn man schon die Linie Toussaint/Soulouque mit französischen Phänomenen vergleichen wolle, kämen allenfalls die Montagnards in Frage. Gegen eine rassistische Erklärung der Barbarei in Haiti nimmt der Autor der Liberté de Penser Toussaint mit einer im Hinblick auf die satirische Presse ambivalenten Begründung in Schutz: Ensuite, il faut en convenir, à l'heure qu'il est, Soulouque fait tort à Toussaint, du moins Soulouque tel que la moquerie s'est plu à nous le représenter: on se souvient trop que cette terre où se passe l'action est la même où se fait, dit-on, en ce moment cette ridicule parodie des jours glorieux de l'Empire. Angesichts dieser Passage fällt es schwer zu entscheiden, was den Blick des republikanischen Kritikers mehr trübt, die räumliche oder die zeitliche Distanz. Ganz auf der Linie seiner oben erwähnten Position trennt der Autor Soulouque von Toussaint. Dann geht er einen halben Schritt weiter und stellt zu Recht die Soulouque-Berichterstattung in Frage, allerdings nur einen Teil, die "moquerie". Zwei Monate nachdem ein Theaterstück wegen einer solchen "moquerie" verboten wurde, übersieht der Autor, daß wenigstens einige Satiren explizit den einzig adäquaten Vergleich zwischen Frankreich und Haiti leisten: Louis-Napoleon als Imitator Soulouques lächerlich zu machen. Stattdessen beruft sich der Feuilletonist lieber auf den positiven Wert der "jours glorieux de l'Empire". Diese Zitate aus der sich nicht als bonapartistisch verstehenden Presse zeigen deutlich, daß das Empire immer noch einen parteienübergreifenden Konsens stiftet, besonders dann, wenn "Unzivilisierte" als Denunziationsfiguren eingesetzt werden. Zweifellos hat Lamartine mit seinem Toussaint nationale Empfindlichkeiten verletzt, aber durch die idealistische Zeichnung seines Helden hat er es seinen Kritikern leicht

120 gemacht, mit einem idealistischen Napoleon-Bild genauso undifferenziert das französische Selbstbewußtsein zu restaurieren. Was die historische Debatte angeht, hat Paul de Musset Lamartines Schwachpunkt klar erkannt: Das Drama beginne zu spät und ende zu früh. Ein wirklichkeitsgetreuer Schluß hätte nämlich die einzige Barbarei Napoleons gegenüber Toussaint, die von niemandem abgestritten worden ist, die unmenschliche Gefangenschaft im Fort Joux und die Verweigerung eines Prozesses, auf die Bühne gebracht. Wahrscheinlich hätte dann allerdings die Kritik die Parallele zu Napoleons Ende auf St. Helena gezogen. Mussets Hinweis auf den historischen Toussaint belegt, daß Lamartine - trotz der Fokussierung auf seinen Helden - kein Theaterstück über Toussaint Louverture, sondern für die Abschaffung der Sklaverei schreiben wollte. Niemand hat das besser erfaßt als de Banville, wenn er mit ironischem Unterton bemerkt: II (Lamartine) ne peut entrer dans l'histoire qu'à la condition de la transfigurer sur le modèle de ses espérances et de ses rêves ... Avant tout, pour juger une oeuvre de Lamartine il faut fermer tous les livres, et imposer silence à la mémoire.

Lamartines Idealisierung der historischen Figur führt zu den gleichen Schwächen, die schon in Kélédor und Bug Jargal festgestellt wurden. Die Kritik mußte sich beinahe zur stilistischen, ideologischen und historischen Beckmesserei herausgefordert fühlen. Nur wenige entzogen sich diesem Geschäft mit den Mitteln der Ironie. Das ausführliche Presse-Echo erlaubt dem Interpreten, zu rekonstrieren, welche vielfältigen Elemente zum Erfolg des Stückes beitrugen. Diese hätten kaum das Haiti-Bild beeinflussen können. Tatsächlich sind im Zusammenhang mit Toussaint Louverture die gleichen Urteile über Haiti gefällt worden, die auch schon zur Abwertung Soulouques herangezogen wurden. Und so gehen die Feuilletonisten selten, und dann nur ablehnend, auf die von der Satire betriebene Gleichsetzung der damaligen Bonapartismen diesseits und jenseits des Atlantiks ein. 4.3.4 Parodie und Karikatur zu Toussaint

Louverture

142

Die Tatsache, daß das Stück in zwei Parodien und zahlreichen Karikaturen der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, belegt zum einen seine Popularität zum anderen aber auch, daß es genügend Stoff zur Parodie bot, denn nicht jedem Theatererfolg des Jahres 1850 kam auf indirekte Weise eine solche Publizitätssteigerung zu Hilfe. Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, daß die Kritik diese Art der Komik abgelehnt hat, und das sicher nicht wegen der rassistischen Scherze, sondern eher aus einer grundlegenden Abneigung gegen dieses Genre. Parodie und Karikatur folgen teilweise den Argumenten der Feuilletonkritik, wenn sie das Motiv des Schwarz-Schminkens ausnutzen, aber nicht - wie etwa in einigen 142 Siehe Labiche/Varin und F. Langlé. Das Stück von Langlé ist heute nicht mehr aufzufinden, es ist auch sofort nach seiner Uraufführung abgesetzt worden, siehe Th. de Banville, in: "Feuilleton du Dix Décembre", 29.4.1850.

121 Soulouque-Satiren - um einer politischen Aussage willen, sondern um die Beschmutzung des Pariser Theaters zu beklagen (Abb. 96/97), bei Labiche und Varin etwa singt Traversin im Abschlußlied: Ah! messieurs, n'allez pas, ce soir, / Nous traiter à coups d'cravaches; / Songez que dans un ouvrage noir / On peut pardonner des taches. Der Klamauk resultiert sowohl aus der Grenzverwischung zwischen Form und Inhalt wie auch zwischen Schauspieler und Rolle, womit auf deren sklavenähnliche Abhängigkeit von der Publikumsgunst angespielt wird. Nur noch rassistisch ist dagegen der Titel von Chams Comic zu Toussaint Louverture zu verstehen: Toussaint sale figure (Abb. 99). Ebenso reizt die Diskrepanz zwischen den schwarzen Figuren oder auch melodramatischen Elementen und den aus der klassischen Tragödie stammenden Alexandrinern zum Spott. Bei Duiong (Abb. 98) und Cham (Abb. 102) wird eindeutig die Unfähigkeit der Schwarzen, im klassischen Versmaß zu sprechen, ins Bild bzw. in die Bildunterschrift gesetzt, während Labiche dieses Motiv auf den Autor bezieht, wenn Traversin sich entschuldigt: Mille pardon si je parle en vers! ... c'est un tic que j'ai contracté dans ma jeunesse! ... ça m'a fait bien du tort dans la société! (2. Akt, 3. Szene) Bei Lamartine scheint sich die Gesellschaft nie darüber klar zu sein, ob die Dichtervergangenheit den Politiker dominiert. Auf jeden Fall hilft sie ihm, den Alltag in Bildern aus der Revolution zu besingen: ... je leur plante des cocotiers au milieu des rues! ... je leur chante des romances sur la liberté, (ebd.) Somit erklärt sich die Metaphorik von Labiches Untertitel (Parodie de Toussaint Louverture en quatre actes mêlée de peu de vers et de beaucoup de prose) als Inversion der Revolutionsrhetorik. Der Titel Traversin et couverture dagegen zielt auf die Charaktere Lamartines, die - aus der idealistischen Sphäre der Tragödie in den banalen Alltag des Melodrams überführt - die Unstimmigkeiten der Vorlage mit den derben Mitteln des niederen Genres vereindeutigen. Die inzestuöse Beziehung zwischen Toussaint und Adrienne, seiner angenommenen Tochter und Vertrauten, die der Titel suggeriert, entspricht nicht der Handlung auf der Bühne, wo sich Couverture nicht entscheiden kann, welchen der beiden Brüder sie liebt. Die "parodie" bezieht sich aber nicht nur auf die schwarzen Charaktere, die weißen Generäle benehmen sich genauso tölpelhaft. Cham läßt sich - zu Beginn seines Comics - den Hinweis auf die politische Vergangenheit Lamartines nicht entgehen, wenn er spärlich bekleidete Schwarze um einen zum Blitzableiter umfunktionierten Schlaraffenbaum mit Lamartines Kopf auf der Spitze tanzen läßt (Abb. 100). Der Blitzableiter erinnert an Lamartines Aussage zu seinem eigenen Verhalten im Juni 1848 (Abb. 101):

122 J'ai conspiré avec les factieux ... oui, c o m m e le paratonnerre conspire avec la foudre! ...143

Nachdem er schon das Junidesaster nicht hat verhindern können, wird er nun von spärlich bekleideten Schwarzen umtanzt. Diese Szene, die der Daumierschen Schoelcher-Karikatur (Abb. 108) nachempfunden ist, aber durch das Hinzufügen des Blitzableiters an Komplexität gewinnt, illustriert die Funktion des Stückes. Demnach läßt sich der Autor - seinem Alter ego (Toussaint) entsprechend - als entrückten Fetisch der Abolition feiern, um den Juni 48 in Vergessenheit geraten zu lassen. Mit dieser Strategie riskiert er gleichzeitig, die Sache der Schwarzen zu kompromittieren und die "Blitze" der Kritik auf sie abzuleiten. Am Ende des Comics wird nochmals an die augenblickliche Situation des Autors erinnert, wenn dieser Toussaint als Sklaven an den Verlag Michel Lévy verkauft 144 (Abb. 103). Das hehre Ziel der Sklavenbefreiung muß also für 30000 Francs zur Aufbesserung der Privatschatulle herhalten. Mit der Anfangs- und Schlußvignette denunziert Cham wie kein anderer, in welche Rahmenbedingungen die verspätete Uraufführung des Stückes einzuordnen ist. Die offensichtlichen Privatinteressen des Autors rechtfertigen die Parodie, da sie im Vorfeld der Aufführung bereits das Pathos der Toussaintschen Verse korrumpierten. Dem gleichen Vorwurf konnte sich schon zuvor der Hauptdarsteller nicht entziehen. Robert Macaire taucht nun, in der Zweiten Republik, mit der modisch aktuelleren Farbtönung des Negrophilen auf (Abb. 104) und setzt auf diese Weise das Prinzip des "Enrichissez-vous", das er in der Juli-Monarchie verkörperte, weiter fort; ein gelungenes Comeback! Auf diese Karikatur und einen am darauffolgenden Tag im Charivari erscheinenden Artikel 145 , der die erstaunliche Kehrtwendung Thiers zur republikanischen Fraktion der Assemblée kommentiert, reagiert Daumier (Abb. 105): Er stellt diesen in einem dem Republikanerkostüm des Macaire/Louverture/Lemaître nachempfundenen Gewand vor die ratlosen "burgraves" Montalembert, Molé und Berryer. Die Zeichnung soll Thiers Parlamentscoup als Mummenschanz enttarnen. Diese Verkleidungsszene nimmt implizit aber auch eine Korrektur an Chams Aktualitätsbegriff vor, da dessen Karikatur als ganzseitiges "actualité"-Blatt veröffentlicht wurde. Daumier zieht die politische Auseinandersetzung theaterinternen Konflikten vor. Im gleichen Sinne könnte auch die Wiederaufnahme des Zitats aus dem Schoelcher-Porträt (Abb. 108) in Daumiers Soulouque-Karikatur (Abb. 69) zu deuten sein, wobei Lamartines Versuch, sich weiter in den politischen Vordergrund zu spielen, durchaus

143 Siehe Lireux, S. 84 und Chams dazugehörige Karikatur auf derselben Seite, in der Lamartine als Blitzableiter - sich anschickt, von den aus den Wolken herbeieilenden Aufständischen die Fahne zu übernehmen, und den Blitz ins Gefängnis von Vincennes, wo sie später gefangengehalten wurden, ableitet. 144 Das gleiche Motiv erscheint bereits ein Jahr zuvor als Vignette in der Silhouette,

14.1.1849.

145 Siehe Le Charivari "La conversion de M. Thiers ou le nouveau archevêque de Granade", 15.4.1850.

123 von politischer Brisanz ist. Nur befindet sich Lamartine derzeit in der Opposition 146 und nicht, wie Thiers und Soulouque/Louis-Napoleon, in der Nähe oder im Zentrum der Macht. Letztere sind also in die Mitte der satirischen Zielscheibe, d.h. des kritischen Interesses, zu plazieren. Das eigentlich Erstaunliche besteht in dem, was die Parodie und die Karikaturen nicht zeigen: Sie nutzen die Popularität Toussaints nicht, um ihn mit Soulouque in Verbindung zu bringen 147 . Offensichtlich besteht ein stillschweigender Konsens darüber, das Drama möglichst aus den politischen und historischen Bezügen zu lösen, um die persönlichen Ambitionen von Autor und Schauspieler sowie dessen Ästhetik der Lächerlichkeit preiszugeben. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Rezensionen. Methodisch ist in diesem Zusammenhang anzumerken, daß man sich fragen muß, welchen Stellenwert der Rassismusvorwurf gegenüber den "unseriösen" Genres hat, wenn durchaus gewichtige Teile der seriösen Presse, die ungleich leichter differenzieren könnten, vor keinem rassistischen Cliché zurückschrecken, um eine Aktualität, die Teile der "unseriösen" Presse gegen die politischen Nutznießer des Rassismus wenden, zu verdrängen. Ein Blick auf die hier behandelten Theaterstücke ermöglicht zumindest eine hypothetische Antwort: Dieselben Kritiker, die aus politischen und historischen Gründen im Kontext der Toussaint LoMverture-Aufführung harte rassistische Argumente benutzen, haben, wie auch fast alle übrigen, den Soulouque-Auftritt in den Marraines de l'an III gelobt. Ebenso einmütig war die Meinung, daß die Parodien auf Toussaint Louverture mißlungen seien. Daraus ließe sich die implizite Forderung ableiten, daß das Theater eher einen exotischen Rassismus pflegen solle, der weder allzu deutliche Hinweise auf das politische Tagesgeschehen, wie etwa im Falle des Stückes Fin d'une république, enthalten noch sich der hohen Kultur annehmen dürfe. Die Anspielungen auf die Alltagskultur und allgemeinmenschliche Themen legen nahe, daß die Theaterstücke eine ähnliche Funktion erfüllen sollen wie das Album Chams. Das Verbot der Nuit blanche scheint insofern ein Sonderfall zu sein, als selbst die Presse des "parti de l'ordre" sich zu keinem Ausbruch von Schadenfreude hinreißen ließ, sogar der Corsaire schwieg, was nur damit zu erklären ist, daß die Klamotte als theaterpolitische Provokation angesehen wurde, deren Publizität möglichst niedrig zu halten sei. Problematisch ist die Position der Apologeten dieses Stückes, etwa de Matharels, der sich in seiner Rezension zu Toussaint Louverture hart an der Grenze 146 Guyard verweist auf mehrere Versuche Louis-Napoleons, Lamartine ins Außenministerium zu holen, was dieser aus Solidarität mit seinen Kollegen von 1848 aber ablehnte. Nichtsdestoweniger ist er der Politik des Präsidenten gegenüber aufgeschlossener als der Rolle, die der erste Napoleon gespielt hat. 147 Lediglich in einer Bildunterschrift bei Dulong kommentieren zwei Theaterbesucher den Applaus. Der eine glaubt sich nach "Saint-Domingue" versetzt und sucht die Loge Soulouques. Es handelt sich um einen nicht besonders geglückten Versuch, auf den Vorfall in der Premiere anzuspielen.

124 zum Rassismus bewegt. Die Propaganda politischer Positionen bewirkt auch im republikanischen Feuilleton häufig eine eurozentrische negative Besetzung der Anderen. Nur die wenigsten Rezensenten, etwa de Banville, nutzen konsequent die stilistischen Freiheiten, die diese Kolumne ermöglicht, und thematisieren mit den Mitteln der ironischen Brechung die Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster in den Pariser Theatern gegenüber der karibischen Andersartigkeit.

5 Reaktionen auf die französische Soulouque-Satire im In- und Ausland Während der Zweiten Republik erlangte Soulouque eine Popularität in den Pariser Medien, die keinem schwarzen Monarchen der Epoche - etwa der Königin Pomare von Tahiti, der Königin Ranavalona von Madagaskar oder dem König Guezo und seinem Amazonenheer - zuteil wurde. Dies resultierte zweifellos aus der politischen Aktualität in Frankreich, sonst hätte die Tagespresse nicht sofort in den ersten Oktobertagen des Jahres 1849 die haitianische Kaiserproklamation ausführlich kommentiert. Bis zum Ende des Jahres wurden die wesentlichen Soulouque-Typen entwickelt: der groteske Napoleon-Imitator; die Figur, mit der der Bonapartismus und seine karibisch/französische Renaissance satirisch angegriffen wurde; der Kaiser der "alten" und "neuen" Barbaren und der exotisch dümmliche Märchenprinz der BoulevardTheater. In jedem Fall diente der neue haitianische Autokrat als Gegenbild zur jeweils eigenen ideologischen und ästhetischen Befindlichkeit. Anhand einiger Beispiele ausländischer Satireblätter soll gezeigt werden, ob analoge Strategien eingeschlagen wurden. Des weiteren stellt sich die Frage nach der Reaktion des realen Soulouque auf die Text- und Bildsatire. Selbstverständlich gehörte dessen Entrüstung darüber von Anfang an zu den Topoi der Haiti-Berichterstattung, doch ist schwer einzuschätzen, ob sie dort wirklich ernst genommen wurde; die diplomatische Korrespondenz erlaubt zumindest einige Hypothesen. Als dann Louis-Napoleon das ausführte, wovor mit der Soulouque-Figur zwei Jahre lang gewarnt worden war, nämlich den Putsch gegen das Parlament am 2. Dezember 1851, manifestierte sich auch der Bekanntheitsgrad des Satire-Produkts: Auf den Boulevards wurde der Putschist als "Soulouque" beschimpft. Anhand der Berichte über diese Protestrufe läßt sich die soziale Position der Charivari-Leser bestimmen. Mit dem Staatsstreich wird die Haitianisierung Frankreichs abgeschlossen.

125

5.1 Europäische Satiren zum neuen Kaiserreich in Haiti Ein Blatt, das seine engen Kontakte zum Pariser Charivari bereits im Titel andeutet, ist der englische Punch - the London CharivariiAS. Von ihm würde man am ehesten erwarten, daß er der Linie des Pariser Blattes folgte, doch das trifft nicht zu. Wenn auch keine Karikaturen über Soulouque gebracht wurden, zeigten ihn doch die Artikel als grotesken schwarzen Monarchen ohne jeden erkennbaren Bezug zu Napoleon oder seinem Neffen; das heißt, daß man in London auf eine spezifische satirische Strategie verzichtet und der Linie der "seriösen" Berichterstattung folgt. Dem ersten Artikel aus dem Herbst 1849149 war scheinbar zusammenhanglos eine Karikatur gegen die Sklaverei in den USA vorangestellt. Ob damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß die Redaktion, trotz aller Ausfälle gegen Soulouque, die Sklaverei ablehnt, oder, im Gegenteil, der Artikel die Karikatur desavouieren soll, muß offen bleiben. Ein einziges Mal bekam der Haitianer von der Redaktion eine andere Rolle zugeschrieben: Gleich nach dem Staatsstreich 150 tritt er im Verein mit den reaktionären Kräften Europas, Ferdinand von Neapel, dem Zaren, dem österreichischen Kaiser und dem Papst auf, um dem französischen Staatsstreichhelden eine Lebkuchenkrone und Truppen anzubieten. Die Krönung aller Neujahrsgeschenke sind aber die 6.000.000 Ja-Stimmen, die den 2.Dezember im nachhinein rechtfertigen: ... which New Year's Gift has certainly been unparalleled in the annals of any country professing to have the slightest love for Freedom! Damit übertrifft die französische Nation die bisher Haiti unterstellte Barbarei. Auf diese Weise wird eine große Zahl von Charivari- und Tintamarre-Artikeln aktualisiert ebenso wie die Vernier-Karikaturen (Abb. 63, 65, 67). Diese einmalige Huldigung der Despoten reiht sich in die äußerst aggressiven Reaktionen des konservativen englischen Satireblattes auf den Putsch in Paris ein. In den folgenden Jahren sollte es überhaupt kein Interesse mehr für den schwarzen Kaiser zeigen. Ein Despotenbündnis hätte man sicherlich auch in Rom oder Neapel inszenieren können, doch dort durften schon 1849 keine Satireblätter mehr erscheinen; widerständische italienische Kultur konnte zu diesen Zeitpunkt nur noch in Turin publiziert werden. Dort nimmt der Fischietto auch sofort die Soulouque-Figur in sein Repertoire auf und präsentiert ihn als Vorbild Louis-Napoleons 151 . In einem ganz im Stile 148 Der bereits zitierte Punch à Paris ist eine Ausgabe des Pariser Charivari mit Karikaturen von Cham und Texten, die nicht aus dem Punch stammen. Das Blatt hat sich im Mai/Juni 1850 einige Nummern lang gehalten. 149 Siehe The Punch, 1849, 2, S. 219. 150 Siehe The Punch, 1852, 1, "New Year's Gifts to Louis Napoleon.", S. 10. 151 Siehe II Fischietto "La più bella invenzione del secolo", 11.10.1849; "Le repubbliche se ne vanno", 16.10.1849; "L'imperatore di san Domingo a tutti gli imperatori d'Europa", 23.10.1849; "Ancora un po'di Soulouque", 3.11.1849; "Briciole", 8.12.1849.

126 des Charivari gehaltenen fiktiven Dialog wird zum Beispiel am 16.10.1849 festgestellt, daß sich alle Republiken in Kaiserreiche verwandelten, wobei allerdings festzuhalten sei, daß in Piemont ohnehin niemand wisse, was der Begriff "Republik" eigentlich bedeute. In Haiti sei Soulouque von Senat, Militär und Klerus - eine Mischung aus antikem Rom und aktuellem Frankreich - , aber auch vom Volk gefeiert worden: —Il popolo, corno sempre, ha lasciato fare e s'è godate le feste dell'incoronazione. / -M'immagino che saranno state magnifiche. / —Magnifichissime: pulcinellate, busse e capestro!

Der Fischietto gibt sich keinen Illusionen über die Anfälligkeit des Volkes für "Brot und Spiele" hin, während der Charivari zu diesem Zeitpunkt nie so explizit wird und das Volk eher zum Opfer der Imperialpolitik stilisiert. Die Repression erscheint allerdings auch hier als Variation über das Kasperletheater-Thema: Anzi, Luigi Napoleone vi ha già spedito un inviato straordinario, per farsi insegnareda Faustino I l'arte ... / —Delle pulcinellate e delle busse? / —Queste egli già conosce. / —E di che dunque? / —Del capestro."

Der Schreiber läßt sich - im Unterschied zum Charivari - gar nicht erst auf das ambivalente Bild des Botschafters im Affenkäfig ein, sondern sendet gleich einen französischen Botschafter nach Haiti, um somit den Vorbildcharakter Soulouques für Louis-Napoleon zu unterstreichen. Am 3.11. erwähnt ein Artikel - unter eindeutigem Bezug auf die französische Präsenz in Rom - Soulouques Großmachtpläne und fährt fort, daß es sinnvoller wäre, gleich Frankreich statt der französischen Antillen zu erobern: —Quanto gusto avrei di vedere la razza negra trapiantata sul suolo bianco francese! / —Caro mio, voi non vedreste altro che riportato sulle fisionomie il colore che il cuore e il carattere degl'indigeni già possedono."

Bemerkenswert an diesem Schlußwort ist, daß die national-chauvinistische Schadenfreude, mit der die italienische Satire sich leicht über die französische Besatzermentalität in Rom lustig machen könnte, zurückgewiesen und dem politischen Farbenspiel der Vorrang gegeben wird. Damit unterstreicht das Turiner Blatt implizit, daß die Haitisatire nur im bonapartistischen Kontext ihre eigentliche Schärfe entwickelt 152 . Eine Sonderstellung unter den europäischen Satireblättern nimmt der Charivari beige ein, der bis zum Staatsstreich in Paris ausschließlich die Artikel und Karikaturen seines französischen Vorbildes übernahm. Erst die verschärfte Pressezensur in Frankreich bewirkte die Emanzipation des belgischen Blattes zu einem Organ der re-

152 In ähnlicher Bedeutung ist die Soulouque-Figur in Deutschland, etwa im Hamburger Mephistopheles, eingesetzt worden. Ute Harms hat in ihrer Dissertation über dieses Satire-Blatt im Vergleich mit dem Charivari die Anwendung auf die Hamburger Verhältnisse analysiert, siehe S. 122, 233.

127 publikanischen Exilopposition 153 . Eine der ersten eigenständigen Karikaturen 154 (Abb. 106) zeigt Soulouque mit dem Hut Louis-Napoleons in Haiti, wo er einen Sträfling auf der Reise nach Cayenne trifft. Obwohl der reale Soulouque nie eine mit der Deportation von 1852 vergleichbare Aktion anordnete, erscheint er wieder als Vorbild Louis-Napoleons, wohl deshalb, weil er bisher als der barbarischste Despot galt. Obwohl er selbst nur petit-nègre spricht, entgehen ihm dennoch nicht die eklatanten Rechtsverstöße der französischen Regierung: Unschuldige Bürger, die bei den Dezember-Massakern auf den Boulevards aufgegriffen wurden, waren im Frühjahr 1852 in Paris von Standgerichten als politische Gefangene nach Lambessa/Algerien und Cayenne/Guayana geschickt worden, wo sie - entgegen den üblichen Bestimmungen für politische Häftlinge - teilweise Zwangsarbeit leisten mußten 155 . Dieses brutale Vorgehen ruft sogar Soulouques Mitleid hervor. Die damit einhergehende Entrüstung des schwarzen Kaisers über die "contrefaçon" erklärt sich aus der Erkenntnis, daß die französische Aktualität nunmehr die Haiti zugeschriebenen Grausamkeiten übertrifft. Alle ausländischen Satiren und Karikaturen greifen im Kontext ihrer SoulouqueInszenierungen auf die Verfahren der französischen Blätter, insbesondere des Charivari, zurück, wobei sie überwiegend den Bezug zur französischen Aktualität und in geringerem Maße den zum eigenen Tagesgeschehen suchen. Abgesehen vom Punch wird in den anderen Beispielen die politische Perspektive der Republikaner vorgezogen.

5.2 Reaktionen aus der Karibik Für die ständig wiederkehrende Behauptung, Soulouque habe sich über die Charivari-Artikel und -Karikaturen erregt, gibt es wenig gesicherte Belege. In der diplomatischen Korrespondenz vom Januar 1850 findet sich der erste und einzige Hinweis. Der Konsul Raybaud kommentierte die haitianische Niederlage gegen die Dominikanische Republik mit folgender Überlegung: Elle est rendue plus douloureuse par quelques plaisanteries que les journaux d'Europe et des Etats-Unis se sont récemment permises à ce sujet; par divers articles plus ou moins satiriques, plus ou moins furieux contre son élévation et par 153 Die Ankündigung eigenständiger Karikaturen in der Ausgabe vom 22. 2. 1852: "La censure en interdisant à Paris la publication de gravures politiques, l'administration du Charivari belge, afin de conserver au journal ... un intérêt que le Charivari français a perdu, vient de prendre des mesures pour offrir deux fois par semaine à ses abonnés, des actualités dues à un crayon aussi habile que spirituel." Zur Entstehung des Charivari belge, später Le Grelot, und zur belgischen Reaktion auf den Staatsstreich, siehe Jacques Hellemans: "Napoleon der Kleine und die belgische Presse vom Staatsstreich bis zur Proklamation des Kaiserreichs.", in: R. Rütten (Hrsg.), S. 314-317. 154 Den Hinweis auf diese Karikatur verdanke ich Herrn Hellemans. 155 Eine literarische gut dokumentierte Verarbeitung dieser grausamen Episode der Diktatur Louis-Napoleons findet sich im 2. Kapitel von Zolas Ventre de Paris.

128 des caricatures sur sa personne qu'apporte chaque paket mensuel, il s'en montre affecté jusqu'à la puérilité et je ne serai pas surpris que bientôt la presse étrangère fût interdite en Haïti. 156

Diese Passage läßt nur wenige Feststellungen zu, zum einen, daß die Text- und Bildsatire in Haiti bekannt war und daß sie, zum anderen, frei zirkulieren konnte; denn von dem befürchteten Presseimportverbot war später nie mehr die Rede. Es wird allerdings auch berichtet, daß man es nicht gewagt habe, Soulouque den beleidigenden Artikel eines amerikanischen Agenten aus der New Yorker Evening Post gegen die haitiansche Regierung zur Kenntnis zu bringen 157 . Dieses Beispiel deutet bereits an, daß wahrscheinlich die haitianische Regierung, bestimmt aber der haitianische Konsul in Paris zwischen "seriöser" und satirischer Presse zu unterscheiden wußte. Tatsächlich protestierte dieser immer nur - in genauer Kenntnis der französischen Usancen - gegen Artikel in der "seriösen" Presse. Maliziös merkte er gegenüber dem Außenministerium in Paris anläßlich einer Rezension von Taxile Delord im Siècle an: Tout en déplorant ces excès, je les comprends chez un peuple où la Presse n'a pas de frein, et où elle peut se livrer à toute sorte de licence. Je ne les conçois pas dans un pays, comme la France, où l'administration pose des limites à toute liberté pour le bien, non pour le mal. Je me garderai bien d'établir une polémique avec Le Siècle: le mal ne ferait que s'envénimer. 158

Unter Berufung auf die französische Zensurgesetzgebung kann der haitianische Repräsentant die französische Regierung indirekt der Beleidigung des haitianischen Kaiserreichs bezichtigen. Erst wenn man sich vor Augen hält, daß Delord jahrelang im Charivari Satiren über Soulouque verfaßt hatte und daß er nun das aus der ArtikelSerie der Revue des Deux Mondes längst bekannte Haiti-Buch des politischen Gegners, d'Alaux, rezensierte 159 , wird deutlich, daß der haitianische Konsul mit dem Protest auf die französische Pressepolitik gegenüber Haiti im allgemeinen zielte. Die Antwort des Außenministers Walewski lautete, man könne in diesem Fall nicht einschreiten, die französiche Regierung habe auf Anfrage und nach Prüfung des Tatbestandes allerdings das Recht, im Falle der Provokation einer fremden Regierung gegen die jeweilige Zeitung einzuschreiten. Entweder hatte Walewski schon die Satire so weit verinnerlicht, daß er den haitianischen Kaiser nicht mehr als fremde Regierung ansah, oder für diesen galt nicht, was für den Papst üblich war; ein Offenbarungseid ohne diplomatische Folgen 160 . 156 157 158 159

Siehe Raybaud an den Außenminister, 20.1.1850, in: CP Haïti, Bd. 17. Siehe Wiet an den Außenminister, 18.1.1853, in: CP Haïti, Bd. 20. Siehe Séguy Villevaleix an Walewski, 6.11.1856, in: CP Haïti, Bd. 21. Zum Inhalt von T. Delords Rezension über d'Alaux: L'empereur Soulouque et son empire, in: Le Siècle, 5.11.1856, vgl. das Kapitel über d'Alaux (IV.2.1.1). 160 Walewski an Séguy Villevaleix, 11.11.1856, in: CP Haïti, Bd. 21. Das Außenministerium leitete ebenfalls keine Untersuchung ein, nach einem weiteren Protest von Séguy Villevaleix gegen einen Artikel im Spectateur, der Soulouque als "parodie d'Empereur" titulierte, obwohl der Konsul auf einen vorausgehenden "avertissement" gegen die Presse wegen Beleidigung

129 Die französischen Repräsentanten in der Karibik hatten dagegen keine Hemmungen, ihre Empfindlichkeiten gegenüber der Satire sogar bis auf die Ministerebene zu bringen. Im Frühjahr 1852 brach in der Dominikanischen Republik ein lang schwelender Konflikt zwischen dem französischen Konsul, Lamieussens, und seinem britischen Kollegen, dem berühmten Naturkundler Schomburgk, offen aus. Schomburgk soll unter anderem zum Präsidenten der Republik folgendes gesagt haben: Le grand D e s s a l i n e s imitait l'oncle, il paraît que le n e v e u veut imiter S o u l o u q u e . 1 6 1

Der aus Haiti wegen des Konflikts herbeigeeilte Konsul, Raybaud, erfuhr, daß Schomburgk nur den Punch zitiert habe, was Lamieussens zu folgendem Kommentar veranlaßte: Il est en e f f e t très vrai, ... que M . Schomburgk reçoit c e journal, qui depuis le 2 Xbre lui a servi plus d'une f o i s à é g a y e r ses visiteurs à nos d é p e n s e s . 1 6 2

In seinem vom britischen Außenminister angeforderten Bericht, der nach Paris weitergeleitet wurde, scheint es Schomburgk vorgezogen zu haben, sich zu diesem Punkt nicht zu äußern; am Quai d'Orsay ließ man die Sache auf sich beruhen. Diese pikante Anekdote unterstreicht den neokolonialen Anspruch der französischen Repräsentanten in der Karibik. Wenn ein anderer Europäer die Zivilisationsfassade ankratzte und sie auf eine Stufe mit den verachteten Schwarzen stellte, gaben sie sich als lächerliche Verteidiger des von ihnen beanspruchten Großmachtstatus zu erkennen. Angesichts solch überzogener Reaktionen drängt sich der Eindruck auf, daß Soulouques Insistieren auf Eigenständigkeit die symmetrische Reaktion gegenüber dem neokolonialen Rassendünkel der Zivilisierten war.

5.3 Der vergebliche Versuch, "Soulouque" in Paris zu stürzen Der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 markiert nicht nur den Anfang vom Ende der Zweiten Republik, sondern ebenso den Höhe- und Endpunkt der Entwicklungung der Soulouque-Figur während der vorangehenden zwei Jahre. Als Louis-Napoleon im des Papstes hingewiesen hatte, siehe Séguy Villevaleix an Walewski, 26.10.57, in: CP Haiti, Bd. 21. 161 Lamieussens an den Außenminister, nicht ohne sich zuvor für das wörtliche Zitat entschuldigt zu haben, 12.4.1852, in: CP Santo Domingo, Bd. 4. Der Naturwissenschaftler, Sir Robert Schomburgk, war von 1848 bis 1857 britischer Konsul in Santo Domingo. Er plädierte für eine Teilautonomie des spanischsprachigen Teils der Insel unter haitianischer Oberhoheit. Diese Position unterstützte die guten Beziehungen der englischen Administration zu dem schwarzen Kaiser und tendierte dahin, den Einfluß der Franzosen und der Amerikaner in Santo Domingo zurückzudrängen, siehe Baur, S. 145 f.. 162 Lamieussens an den Außenminister, 28.9.1852, ebd.. Es muß darauf hingewiesen werden, daß dieses Schomburgk unterstellte Zitat nicht aus dem Punch stammt, und es wäre nicht sonderlich erstaunlich, wenn der britische Botschafter außer in den Punch auch noch einen Blick in den Charivari geworfen hätte, und dessen Satiren besser verstanden haben sollte als Raybaud, der sie nur als Angriffe auf Soulouque hinstellte.

130 Morgengrauen dieses Tages die Truppen in Paris aufmarschieren ließ, wurde die fiktionale Gleichsetzung des Napoleon-Neffen mit Soulouque Realität, so sahen es zumindest die Pariser Bürger. Der erste Bericht, der die "A bas Soulouque!"-Rufe auf den Boulevards erwähnt, kommt aus dem Exil, es handelt sich um Victor Hugos Ende 1852 in Brüssel veröffentlichtes Pamphlet Napoléon-le-Petit. In seiner Schilderung der Vorgänge auf dem Boulevard Montmartre am 4. Dezember setzt er diesen Ruf dramatisierend ein: Zuerst schildert ein General dem Präsidenten die Lage auf den Boulevards: ... sur les boulevards les cris: à bas la dictature! - (il n'osa dire: à bas Soulouque!) et les sifflets éclataient partout...; dann nähert sich der Autor der Menge auf dem Boulevard: Une population immense, en deçà des barricades couvrait les trottoirs des deux côtés du boulevard, silencieux sur quelques points, sur d'autres criant: à bas Soulouque! à bas le traître!"; schließlich - in Nahaufnahme - der erste gewaltsame Übergriff: Devant le café Cardinal il (un bataillon d'infanterie, CHM) est accueilli par un cri unanime de: vive la République! Un écrivain qui était là, rédacteur d'un journal conservateur, ajoute: A bas Soulouque! L'officier d'état-major qui conduisait le détachement lui assène un coup de sabre qui, esquivé par l'écrivain, coupe un des petits arbres du boulevard. Inwieweit diese Informationen über den Auftakt zu dem Massaker auf Augenzeugenbeziehungsweise Ohrenzeugenberichten beruhen, muß offengelassen werden. Die erste in Frankreich veröffentlichte kritische Schilderung des Staatsstreichs scheint von Hugo beeinflußt, so schrieb Ténot 1868 in der Eintragung zum 4. Dezember, Boulevard Montmartre, 14 Uhr: Elle (la foule, CHM) regardait passer les soldats, tantôt silencieuse, tantôt criant: 'Vive la République, vive la Constitution!' Sur quelques points des cris plus accentués se faisaient entendre: "A bas les prétoriens! A bas Soulouque!'163 Auch in dieser Szene wird der "Soulouque"-Ruf aus der Menge eigens festgehalten und mit dem sonst nirgends erwähnten Hinweis auf die Prätorianer verbunden, was auf einen gewissen Bildungsgrad der Rufenden schließen läßt. 1869 schilderte Taxile Delord den 2. Dezember wie folgt: ... tous les bruits de la ville viennent aboutir au boulevard; gens du monde, bourgeois, écrivains, artistes, transportent dans la rue l'opposition des salons; ils font des plaisanteries et des bon mots; ils crient: 'Vive la Constitution! Vive la Liberté' et surtout: 'A bas Soulouque!' Ce dernier cri retentit sans cesse à l'oreille des troupes, qui ne le comprennent pas. 164

163 Siehe Ténot, S. 229. 164 Siehe Delord: Histoire du Second Empire, Bd. 1, S. 331. Einen ähnlichen Sinn könnte auch die von Victor Hugo in der Histoire d'un crime (2. IX, S. 138) wiedergegebene Anekdote vom

131

Als sich die Situation einen Tag später zuspitzt, habe man weniger "A bas Soulouque"-Rufe gehört 1 6 5 . D i e s e Information kann dreierlei bedeuten, es habe nun kein Grund mehr für "bon mots" vorgelegen, die Passanten z ö g e n das allgemein verständlichere "Vive la République!" vor, um bei den Soldaten Sympathie zu wecken, oder sie fürchteten den "Soulouque"-Ruf als schon zu weitgehend. Selbst wenn Delords Datierung differiert, s o stimmen der Ort und die soziale Stellung der Rufer überein. Alle drei Autoren legen Wert darauf, daß die entrüstete M e n g e auf den Boulevards diese Formel als eine besonders wirksame Form des bürgerlichen Widerstandes 1 6 6 einsetzte. Die Soldaten verstanden ihn offenbar nicht, da sie aus den Unterschichten rekrutiert wurden - auch H u g o läßt nur einen Generalstabsoffizier agieren. Delords oben erwähnte Aufzählung charakterisiert am zutreffendsten die Leserschaft des Charivari.

Daß der Protest auf den Boulevards sich der Bilderwelt dieses Blattes be-

diente, konnte auch die apologetische Darstellung Mauduits v o n 1852 nicht verschweigen: 2. Dezember: "Du boulevard Poissonière à la porte Saint-Denis, il y avait peu de groupes, mais ici les cris et les sifflets et les à bas les Ratapoils\ dominaient..." 3. Dezember, rue de la paix: Auf den Ruf "A bas les traîtres" schlägt der colonel de Rochefort in die Menge. 4. Dezember, nahe Tortoni: "A la vue de cette avant-garde, retentit le cri de guerre adopté depuis deux jours: Vive la République! Vive la Constitution! A bas la dictature! / A ce dernier cri, aussi rapide que l'éclair d'un seul bond, le colonel de Rochefort franchit les chaises et l'asphalte, tombe au milieu du groupe, et fait aussitôt le vide autour de lui!" 1 6 7

Abend des 3. Dezember haben, als ein Sergeant den von Girardin gedruckten Aufruf zum Widerstand las und die Menge auf dem Boulevard ihn dazu aufforderte, in das "A bas Soulouque!" einzustimmen. Als er dies verweigerte, schlug man ihm vor, "Vive Soulouque!" zu rufen, was er auch zur allgemeinen Erheiterung sofort tat. Wahrscheinlich war auch ihm die Bedeutung des Namens unbekannt gewesen. 165 Ebd., S. 353. 166 Wenn hier der Begriff "bürgerlicher Widerstand" benutzt wird, dann erstens, weil die Autoren den friedlichen Charakter des Protestes auf den Boulevards hervorheben - dies im Gegensatz zu dem brutalen Vorgehen der Truppe, die ein bis dahin nie gekanntes Massaker an wehrlosen Passanten anrichtet mit dem expliziten Ziel der Abschreckung des Bürgertums - . Zweitens, im Gegensatz zu dem von den bürgerlichen Abgeordneten der Montagne propagierten bewaffneten proletarischen Widerstand der "Faubouriens". Die Bewohner der "Faubourgs" blieben den Barrikaden fern, weil sie bereits seit Juni 1848 keine Waffen mehr hatten und LouisNapoleon ihnen das allgemeine Wahlrecht zurückgegeben hatte. Offensichtlich sind die Montagnards die letzten gewesen, die dem Schreckgespenst der proletarischen Revolte aufsaßen. Ob auf der Barrikade oder dem Trottoir, die Form des bürgerlichen Widerstandes erklärt sich aus den von der Regierung ständig lebendig gehaltenen Schrecken des Juni 1848. Der Staat selbst dagegen verhielt sich "unbürgerlich" und richtete an einem Tag exemplarisch ein Massaker an, das sonst nur an inneren und äußeren Barbaren statuiert wurde. 167 Siehe Mauduit, S. 151, auch am 3. Dezember hört man überall die "Ratapoil"-Rufe, S. 178, S. 217.

132 In dieser von der Zensur akzeptierten Version der Ereignisse, wird deutlich, daß die "Ratapoils"-Rufe bei Mauduit das gleiche Phänomen anzeigen sollen, das Delord mit "Soulouque" hervorhebt: das Unverständnis der Soldaten; auf beide Satire-Figuren können sie nicht reagieren, da sie nicht zur Leserschaft des Charivari gehören. Ferner fällt die Ersetzung des Singulars durch den Plural auf, womit die Hauptfigur des Staatsstreichs von dem Vorwurf, ein Lumpenproletarier oder ein Verräter zu sein, ferngehalten wird. Für ihn sind nur eindeutige politische Begriffe wie "dictateur" oder "tyran" zugelassen, da diese - aus der regimetreuen Sicht Mauduits - durch das spätere Plebiszit widerlegt worden sind. Der Gebrauch von "Soulouque" würde gerade aus dieser Perspektive die frühere These der Haitianisierung Frankreichs bestätigen. Selbst wenn die Soldaten die "Ratapoils"-Beschimpfung nicht verstanden und nur die "traîtres" geahndet haben, kennt der Leser ja zumindest die Bedeutung der DaumierFigur. Obwohl der Autor ausdrücklich behauptet, daß nicht die Soldaten, sondern die Leute auf den Barrikaden betrunken gewesen seien, verrät er doch in dem Wunsch, einerseits authentisch zu sein und andererseits die schlimmsten Beschimpfungen gegen den durch das Plebiszit legitimierten Staatsstreichhelden zu unterschlagen, was für die Rufer auf den Boulevards evident gewesen sein muß: Die betrunkenen Soldaten zeigen, daß die ihrer republikanischen Generäle beraubte Armee auf das Niveau der lumpenproletarischen Dezembergesellschaft heruntergekommen war 168 . Durch die für die Armee ehrenrührige Gleichsetzung mit den "ratapoils" reproduzieren Text und Zensur im übrigen unbewußt die Einstellung des Autokraten gegenüber einer seiner wichtigsten Stützen. Die Tatsache, daß die drei republikanischen Autoren den "Ratapoil"-Ruf nicht erwähnen, muß nicht unbedingt bedeuten, daß er nicht zu hören war. Da es ihnen darum geht, das autokratische Regime zu treffen, bestätigen sie mit "Soulouque" die Fokussierung auf den Diktator. Ihnen muß ja - im Gegensatz zu Mauduit - die subversive Qualität des "Ratapoil"-Typs bekannt gewesen sein. Diesen hatte Daumier ein Jahr zuvor als antibonapartistische Figur (Abb. 107) geschaffen. Sie bezeichnet, als Führergestalt mit dem Zwirbelbart, die bis dahin nicht gekannte politische Mobilisierung des Lumpenproletariats durch den Staat gegen die etablierten Institutionen zur Durchsetzung seiner Interessen. Daher trägt "Ratapoil" einen verschlissenen bürgerlichen Frack und einen eingedrückten Zylinder: Sein Werkzeug ist der Knüppel. Er kann sich bei Wein und Knoblauchwürsten sowohl mit den proletarischen Kittelträgern als auch mit den unteren Chargen der Armee verbünden, desgleichen mit den traditionellen Parteien im Elysée - vorausgesetzt, er steht im Zentrum und alle gehorchen seinem Knüppel (Abb. 128). Dessen von keinen 168 "Die Armee selbst ist nicht mehr die Blüte der Bauernjugend, sie ist die Sumpfblüte des bäuerlichen Lumpenproletariats.", Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 203. Agulhon, S. 234, relativiert die Marxsche These vom Staatsstreich der gehobenen und niederen Lumpenproletarier für die Parzellenbauern, indem er darauf aufmerksam macht, daß es gerade die Parzellenbauern in Provinzregionen waren, die den entschiedensten Widerstand leisteten.

133 Regeln und keiner Hierarchie kontrollierte Gewalt garantiert den Zugang zu bisher unerreichbaren oder scheinbar bedrohten Fleischtöpfen. Daß Soulouque ganz ähnlich an die Macht gekommen war, dürfte den meisten, die seinen Namen als Beschimpfung gegen Louis-Napoleon einsetzten, unbekannt gewesen sein. Mit "Soulouque" wird gegen den Typus des barbarischen Despoten protestiert, mit "Ratapoil", in diesem konkreten Fall, gegen die Korrumpierung der Armee, und damit allgemein gegen die Mobilisierung des Subproletariats, die unter anderem diese Diktatur erst ermöglichte. Ob die antibonapartistischen Bürger auf den Boulevards "A bas Soulouque!" gerufen haben oder nicht, ist letztlich nicht entscheidend, wichtig ist vielmehr, daß die Autoren, die diesen Ruf in ihren Text einbauen, mit ihm eine Formel gefunden haben, die die Situation der Demonstranten adäquat erfaßt. Es handelt sich um den Ausdruck der Ohnmacht einer Klasse, die am Zivilisationsbegriff festhielt und trotz der militärischen Übermacht der Gegenseite ihre moralische und kulturelle Überlegenheit zu manifestieren sucht. Die Bürger auf den Boulevards wollen weder die kulturelle Differenz, die sie von den Soldaten trennt, überwinden noch auf die Barrikaden steigen. Sie glauben weiterhin daran, daß ihre Umgangsformen immer noch als Leitbilder für die Soldaten funktionieren und diese davon abhalten werden zu schießen. Aber Soulouque/Louis-Napoleon hat aufgehört, lächerlich zu sein, und wendet für einen kurzen Zeitraum die Barbarei gegen diejenigen, denen das neue Regime schon bald wieder garantieren wird, unbesorgt über die Boulevards zu flanieren, wenn sie nicht nach der politschen Macht greifen. Im Moment des Gewaltausbruchs markiert der Protest gegen "Soulouque" gewissermaßen den Umschlag von kultureller Überheblichkeit in nacktes Entsetzen 169 . Diesen Moment versucht Victor Hugo zu evozieren, wenn er aus dem Exil die Barbarei in Napoléon-le-Petit anprangert und besonders in den Châtiments in zahllosen Varianten sämtliche Tyrannen der Weltgeschichte, darunter natürlich auch "Faustin, singe d'un nègre" 170 , als Vorbilder Louis-Napoleons vorführt. Marx hat darauf hingewiesen, daß Hugo den Putschisten "groß statt klein macht" 171 , was letztlich nur Ausdruck der augenblicklichen Ohnmacht des Autors ist und damit die Fortsetzung des bürgerlichen Entsetzens auf den Boulevards. Andererseits stimmen Hugo und 169 Durch die genaue soziale Verortung des "A bas Soulouque"-Rufes und die Herausarbeitung seiner Funktion geht die hier vorgestellte Analyse über die von Childs hinaus: "To speak the name Soulouque was to disempower Louis Napoléon figuratively by reducing him to an ignorant clown in the circus of politics, and to expose him as a grotesque caricature of the first Napoléon.", siehe Childs, S. 208. 170 Siehe V. Hugo: Les Châtiments, Buch IV, XI. Andere Gedichte, in denen Soulouque oder Haiti erwähnt werden: Buch Ol, VIII "Splendeurs" II; Buch V, VII "Les grands corps de l'état" (das "O de Soulouque deux burlesque cantonade!" findet seine Entsprechung etwa zur gleichen Zeit bei Marx, in: Der achtzehnte Brumaire, S. 206: "Soulouques Großwürdenträger"); Buch VI, XIV "Floréal"; VII, XIII "Force des choses". 171 Siehe Marx: "Vorwort zur zweiten Auflage des Achtzehnten Brumaire", in: MEW, 8, S. 559.

134 Marx darin überein, daß der Neffe immer nur die Karikatur seines Onkel sein kann, eine Neuauflage des Empire sei nicht möglich. Beide sehen aber nicht die Notwendigkeit, das Vorbild selbst einer Kritik zu unterwerfen: Marx aufgrund der historischen Gesetzmäßigkeit, die das erste Empire als Etappe der Stabilisierung bürgerlicher Herrschaft legitimiert. Hugo greift den Putschisten des 18. Brumaire als Vorbild des Neffen an, hält aber an dem Feldherrn, der Frankreichs Ruhm in der ganzen Welt verbreitete, fest. Kongenial zu Napoleons Genie schaut der Dichter im Exil in eine republikanische Zukunft, in der Europa und Amerika von Kriegen befreit sein werden. Diese neue republikanische Weltordnung wird von Gott herbeigeführt, der sie durch die Stimme des exilierten Sehers prophezeit. Die Verbannung aus Frankreich bewirkt also nicht nur das Festhalten am Konzept des providenziellen Mannes, sondern seine Steigerung ins Metaphysische in der alttestamentarischen Tradition 172 . Wenn Hugo in Napoléon-le-petit

schreibt:

L'Europe riait de l'autre continent en regardant Haïti quand elle a vu apparaître ce Soulouque blanc. 1 7 3

dann übernimmt er nur einen Teil der Charivari-Strategie, nämlich Louis-Napoleon als Soulouque-Imitator zu denunzieren. Tatsächlich zeigen die Reaktionen auf den Boulevards, daß man vor dem Staatsstreich über den zweiten Soulouque nur - lachte. Doch war die Belustigung über den Präsidenten nicht das einzige Anliegen der SatireBlätter. In vielen republikanischen Text- und Bildsatiren der Zweiten Republik wurden die aktuellen Anzeichen der Barbarei nicht nur vorausschauend ins "Haitianische" vergrößert, sondern auch in der zumindest über das Kostüm angedeuteten Retrospektive die im historischen Modell angelegten autoritären Konzepte verspottet: so der aufklärungsfeindliche Klerikalismus, der Personenkult und die militärische Barbarei. Der Charivari und andere haben mit der Soulouque-Figur die brutalen Folgen der Imitation aufgezeigt, eben weil sie in Frankreich bereits Realität und keine lächerliche Komödie war. Der schwarze Mann mit dem Napoleonhut und dem grauen Rock ebenso wie der schwarze Mann im Louis-Napoleon-Kostüm, der den Veteranen mit der Holzkopfprothese auszeichnet, steht - als Karikatur des bonapartistischen Diskurses - in einem Dreieck zwischen Onkel, Neffen und Soulouque. Diese Balance wird durch den Staatsstreich zerstört und gerät kurzfristig zur Verschmelzung der beiden aktuellen Imitatoren. Hugo kann nur noch den Protest dokumentieren und ihn in seiner Begrenztheit fortschreiben. Erst zu diesem Zeitpunkt und für dieses Beispiel trifft zu, was Terdiman als Charakteristikum des "counter-discourse" ausmacht:

172 Siehe etwa in den Châtiments die Gedichte "Expiation" und das Schlußgedicht "Lux" Wesentlich ausführlicher begründet findet sich diese Analyse bei Fietkau, S. 424ff. 173 Siehe Hugo, V.: Napoléon-le-Petit,

2, VI, S. 424.

135 So these counter-discourses inscribe within themselves a failure of social struggle to achieve infrastructural resolution of the stresses within the new formation. 174 Gerade das breite Spektrum der republikanischen antibonapartistischen Text- und Bildsatire mit ihren Perspektiv-Verschiebungen zwischen Aktualität und mythologischer Vorlage, hoher und Alltags-Kultur, rassistischen/exotischen Bildern und universaler Despotenkritik zeugt von einer ungleich größeren Diskursvielfalt und Reflektion über deren Konditioniertheit als die eindimensionalen Hegemoniebestrebungen des bonapartistischen Diskurses, der schließlich mit Waffengewalt durchgesetzt wurde. In Frankreich wachte fortan die Zensur darüber, daß die Angriffe auf die Herrschaft sich nicht offen artikulieren konnten. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich herausstellen, inwieweit die Tradition des antibonapartistischen Kampfes der Zweiten Republik und des BürgerProtestes der Boulevards in die Soulouque-Satiren des Zweiten Kaiserreichs Eingang fanden.

174 Siehe Terdiman, S. 67.

IV Geschichts- und Gesellschaftsentwürfe für Haiti in der Ära des Bonapartismus Une rédaction complète doit aussi avoir son nègre pour les questions Cuba, Soulouque, Pomaré, sucre, esclavage et autres spécialités transatlantiques. Si le nègre manque, on prend tout bonnement un rédacteur de bonne volonté, qui ait un style fortement coloré et des cheveux crépus.1

Diese amüsante, einem unterhaltsamen Presseführer der 1850er Jahre entnommene Schilderung der Rollenverteilung in Pariser Zeitungsredaktionen bestätigt anschaulich einen Befund des vorhergehenden Kapitels, daß Nachrichten aus Haiti immer auch einen hohen Unterhaltungswert haben sollten. Wie man diesen erzeugt, darüber können die Frères Goncourt berichten, nachdem sie Edouard Lefebvre bei der Erstellung des "annuaire" der Revue des Deux Mondes über die Schulter geschaut haben: Buloz l'ayant supplié de lui faire aussi Haïti, Edouard le fait d'après les cartons (du ministère, CHM). Trésors les plus curieux et les plus cocasses sur Soulouque, ceci entre autres: M. Dillon, notre consul là-bas, amenant Soulouque à la paix avec les Dominicains, moyennant une canne à pomme d'or guignée par Soulouque tout le temps de la conférence. Dillon s'en aperçoit, parle, parle, laisse l'empereur s'enflammer pour sa canne et quand il le voit bien non convaincu, mais amoureux de la pomme, la lui offre et Soulouque se décide à la paix.

Obwohl diese Anekdote nicht in der Revue erschienen ist, zeigt sie dennoch, was die Goncourts für publikumswirksam hielten, und wie Konsulats-Berichte entsprechend manipuliert wurden. Dillon unterstreicht nämlich in seiner Beschreibung der Audienz mehrfach, daß er dem haitianischen Herrscher jedes Detail des filigran ziselierten Stockknaufs erklärt habe, um ihm diesen dann anschließend zu schenken. Soulouque habe eine "joie toute africaine" gezeigt und in seiner unüberbietbaren Raffgier zwar das Geschenk behalten, aber dennoch keinen Frieden mit der Dominikanischen Republik geschlossen. Erst im folgenden Bericht vermeldet der Diplomat die Zustimmung des Kaisers zu einem Waffenstillstand und der Öffnung der Grenzen zwischen beiden Staaten2. Die Goncourts demonstrieren also, wie man aus einer Fülle von Fakten einen "fait divers" präpariert und arrangiert. Damit reproduzieren sie in ihrem Medium genau die Verfahrensweise der oben genannten Redakteure, welche kurzweiligen Unterhal1 2

Siehe Delord/Frémy/Texier, S. 37. Siehe E. und J. Goncourt, Bd. 1, S. 299; und Dillon an Walewski, 20.2.1857 in AAE, CP Haiti, Bd. 21.

138 tungsstoff für die Pariser Cafés und Salons liefern. Dies war aber eher die Funktion der "faits divers"-Spalten in den Tageszeitungen und vor allem der Satire-Blätter als die der anspruchsvollen Zeitschriften. Dennoch hatte gerade die angesehene Revue des Deux Mondes zwei Jahre lang Gustave d'Alaux äußerst großzügig Platz für seine Haiti-Berichterstattung gewährt, die anthropologische, soziale und kulturelle Theorien mit Anekdoten vom Hofe Soulouques verbindet. Nun könnte es sich gerade hier um einen der besagten Redakteure mit dem "style fortement coloré" und den "cheveux crépus" gehandelt haben, zumal d'Alaux kurz zuvor einen Artikel über die cubanische Literatur in der gleichen Revue veröffentlicht hatte. Ein Vergleich mit den Artikelserien und Monographien sowohl der 1840er wie auch der 1860er Jahre ergibt aber, daß die komische Anekdote ein Spezifikum der gesamten Soulouque-Berichterstattung war. Aus dieser Tatsache läßt sich zweierlei schließen: erstens, daß das haitianische Kaiserreich wirklich eine grausam komische Imitation des "europäischen Modells" war, und zweitens die Hintergrundberichterstattung nicht getrennt von den satirischen Texten analysiert zu werden braucht. Entsprechend dem Ansatz dieser Arbeit, geht es gerade nicht darum, die übermittelten Nachrichten aus Haiti auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sondern ihre diskursive Aufarbeitung für das französische Publikum zu untersuchen. Bei aller durchaus zu unterstellenden unfreiwilligen Komik des haitianischen Kaiserhofes muß gleichwohl nach den Gründen gesucht werden, die renomierte Zeitschriften dazu veranlassen konnten, Stilfiguren zu benutzen, die eher dem Repertoire von BoulevardTheatern entsprungen sein dürften. Bereits das letzte Kapitel hat wohl anschaulich dargestellt, daß Marx nur das verallgemeinerte, was viele, auch nicht republikanische Franzosen über das Regime Louis-Napoleons dachten, als er einleitend über dessen 18. Brumaire schrieb: Hegel bemerkt irgendwo, daß alle weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.3 Der Interpret der Artikelserien sollte also ständig danach fragen, ob nicht die französische "Farce" die Inszenierung der haitianischen beeinflußt. Zu deren Einordnung sollen die verschiedenen Interpretationsmuster aus der Zeit vor 1848 im Hinblick auf ihre gemeinsamen Grundannahmen und ihre divergierenden Ableitungen vorgestellt werden, wie auch die Neubewertung der haitianischen Gesellschaft nach dem Sturz Soulouques 1859. Die zu diesem Zeitpunkt vorgenommenen Perspektivverschiebungen sind besonders interessant, da sich in Frankreich weiterhin die französische "Karikatur Napoleons" 4 an der Macht befindet. Den Artikelserien und Monographien wird ein eigenständiges Kapitel gewidmet, weil sie sich - im Gegensatz zur Praxis der Tageszeitungen - bemühen, die jeweilige 3

Siehe Karl Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, S. 115.

4

Siehe ebd., S. 117.

139 politische Aktualität in historische und soziale Kontexte einzufügen. Somit steht zu vermuten, daß diese Textsorte ausführlich darlegt, was die Satire pointiert formuliert. Ob allerdings der Bezug zu den historischen, politischen und sozialen Verhältnissen in Frankreich deutlicher als in den "unseriösen" Witzblättern hervorgehoben wird, muß erst die Analyse ergeben. Überdies ist zu beachten, daß der satirische Soulouque-Diskurs bereits in seiner ganzen Vielfalt etabliert war, als die ersten Gesamtdarstellungen des Phänomens Soulouque erschienen. Aus diesem Grund ist deren Besprechung auch zwischen die Kapitel über die Satire in der Zweiten Republik und im Second Empire plaziert worden. Was die französische Darstellung der haitianischen Geschichte betrifft, so können die Pariser Autoren der 1850er Jahre auf die ersten drei großen Darstellungen der haitianischen Revolution von Madiou, Ardouin und Saint-Rémy zurückgreifen. Man könnte sich nun damit begnügen, den Einfluß dieser Historiker auf die französischen Essayisten genau zu verorten, doch sollte man darüber hinausgehend versuchen, die Kausalitäten zu klären: Werden Elemente dieser Werke den eigenen Prämissen subsumiert oder stimmen die haitianischen Chronisten nicht vielmehr in gewissen Grundannahmen (etwa zur Modernisierung, zum Bonapartismus oder gar zum Rassismus) mit den metropolitanen Schreibern überein? Eine Positionsbestimmung der drei Autoren in dem selbst gewählten Spannungsfeld zwischen haitianischen und französischen Adressaten muß allerdings ein Versuch bleiben, da fast alle Hinweise aus ihren eigenen Publikationen stammen, und keine expliziten Kommentare zur Verfügung stehen. Dieser Vorbehalt gilt ebenfalls für die Pariser Journalisten, die - wie zu zeigen sein wird - teilweise erstaunliche Wandlungen ihrer Sympathie zu Haiti vollziehen. Entscheidend ist die Einordnung der hier zu besprechenden Texte auf zwei verschiedenen Bedeutungsebenen: der ideologischen im Kontext der jeweiligen politischen Diskurse und der der Gattung, die zwischen wissenschaftlichem und fiktionalisiertem Essay oszilliert, schließlich handelt es sich ja um ein sujet "fortement coloré".

1 Französische Studien zu Haiti in den 1840er Jahren Eine Vielzahl von Traktaten zur Abolitionsfrage erwähnt immer wieder das Beispiel Haiti als zu vermeidende Lösung. Insofern ist es im politischen Diskurs des Frankreich der 1840er Jahren stets präsent. Doch nur wenige Studien bemühen sich, die internen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser einzigen Republik freier Schwarzer detailliert zu beleuchten. Obwohl die Autoren dieser Abhandlungen dabei von unterschiedlichen ideologischen Standpunkten ausgehen, bedienen sie sich ähnlicher Argumentationsraster, die, bei aller Differenz im Detail, auf gemeinsame Grundannahmen hindeuten. Sie sollen im folgenden herausgearbeitet

140 werden, um den Interpretationsrahmen zu skizzieren, an dem sich die späteren Kommentatoren zu Soulouque orientierten. Üblicherweise wird das historiographische Interesse an solchen Studien von der Frage nach der Authentizität der zugrundeliegenden Fakten geleitet. Dies muß sich angesichts eines Landes mit einer nicht besonders zentralisierten Administration und einem vitalen Interesse an der Fälschung der Handelsstatistiken als entscheidendes Manko erweisen, hängt doch von den Zolleinnahmen die Erfüllung der Schuldenrückzahlungen an Frankreich ab. Aufgrund dieser Bedingung hielten schon die Zeitgenossen nur Augenzeugen für glaubwürdig. Daß aber Reisende ebenfalls nur das sehen, was sie schon kennen, belegen die - zugegeben extremen - Beispiele aus zwei Haiti-Reiseberichten: Die Schilderungen der Empfänge, die die Bewohner von Portau-Prince im Frühjahr 1841 sowohl dem Sklaverei-Gegner Victor Schoelcher als auch dem prominentesten Befürworter der Sklaverei, Granier de Cassagnac, bereiteten, soll hier zunächst analysiert werden. Anhand dieser Episoden kann gezeigt werden, daß Reiseberichte im Hinblick auf die Erfassung ihrer ideologischen Implikationen eher zu einem unkritischeren Umgang mit den neuen Daten tendieren als die Informationsverarbeitung aus "zweiter Hand".

1.1 Die Haitianer stellen sich vor 1841 wuchs die soziale Unruhe in Haiti. Das Boyer-Regime (1818-1843) hatte der Republik eine Phase der Stabilität bei niedriger Produktivität beschert. Nach der völkerrechtlichen Anerkennung Haitis durch Frankreich zum Preis einer exorbitanten Reparation von einer Million Francs, mit der sich der junge Staat über Jahrzehnte verschulden sollte, hatte Boyer 1826 mit dem Mittel des Code Rural versucht, die Landbevölkerung zur Exportproduktion zu zwingen. Diese widersetzte sich aber den angedrohten Zwangsmaßnahmen und zog es vor, ihre Freiheit auf der Basis von Subsistenzproduktion als Parzellenbauern zu sichern. Aus diesem Grund polarisierte sich die haitianische Gesellschaft zu Beginn der 1840er Jahre: Einer kleinen städtischen Bourgeoisie, die vom spärlichen Handel profitierte, stand die übergroße Mehrheit der Subsistenzbauern gegenüber. Die junge Generation der Mulatten um Herard Dumesle, Saint-Preux und Dumai' Lespinasse forderte immer nachdrücklicher grundlegende Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen. 5 Bei seiner Ankunft in Port-au-Prince fand Victor Schoelcher die schlimmsten Beschreibungen der Gegner Haitis bestätigt, die Hauptstadt bot ein desolates Bild. Wen sollte er für die Schlaglöcher und die verfallenden Häuser verantwortlich machen? Die Gäste auf den Bällen anläßlich seines Besuches verfestigten den Eindruck, den er schon beim Empfang durch die Regierung gewonnen hatte: Die haitianische HighSociety rekrutierte sich gänzlich aus Mulatten. Für den Philanthropen lag daher der 5

S i e h e Nicholls, S. 6 7 - 7 6 .

141 Schluß nahe, daß die Mulattenelite sich auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit bereichere und diese im Elend ungebildet dahinvegetieren lasse. Sein Selbstbild als Kämpfer gegen die Unterdrückung der Schwarzen schien ihm Legitimation genug, seine Analyse der gesellschaftlichen Zustände des Gastlandes auch öffentlich zu äußern, was wiederum die dortigen Oppositionellen erfreute. Welche Reaktionen der Besuch Schoelchers auslöste, hat der Historiker Madiou 6 anschaulich geschildert. Der Chronist hält den Vorwurf, die Regierung verweigere den schwarzen Massen systematisch jeden Anspruch auf Bildung, zwar für berechtigt, doch scheint ihm die Perspektive des Abolitionisten auch durch die haitianische Opposition manipuliert. Als unwürdigstes Beispiel führt Madiou eine Episode an, in die er selbst "gutgläubig" verwickelt war. Ein junger Mulatte namens Blockaus hatte Madiou gebeten, dem französischen Gast die Schule auf seiner Pflanzung zu zeigen. Obwohl der Autor noch nie von einer solchen "philanthropischen" Einrichtung gehört hatte, führte er Schoelcher dorthin. In einem Raum befanden sich zwanzig spärlich bekleidete schwarze Kinder mit einem Alphabet in der Hand. Auf Befragen des Gastes war jedoch keines in der Lage zu lesen oder zu schreiben, was dieser auf den außergewöhnlichen Umstand seines Besuchs zurückführte. Da die eingeschüchterten Zöglinge schwiegen, nutzte er sogleich die Gelegenheit, um seine Vorstellungen über zivilisierte Lebensführung kundzutun: Il embrasse les plus jolis, dit à leurs mères d'ôter les amulettes qu'ils avaient au cou, que c'était entretenir les superstitions du fétichisme. Il dit à leurs pères d e se marier, de cesser de vivre en plaçage, que le mariage seul constituait la famille. Là on reconnaissait l'homme d e bien, le sacerdote sincère. 7

Tatsächlich hatte Herr Blockaus erst tags zuvor die Schuleinrichtung gekauft, um einen guten Eindruck auf den Gast zu machen, was ihm offensichtlich auch gelang, da er lobend im Reisebericht erwähnt wird. Doch ließ es der reisende Abolitionist nicht allein bei guten Ratschlägen für die schwarze Landbevölkerung bewenden, sondern forderte die Opposition auf, die Re6

Siehe Madiou, Bd. VII, S. 357-362. Madiou war 1841 Mitarbeiter des Staatssekretärs Inginac und durch seine Familie eng mit Boyer verbunden, siehe Madiou, Mémoires I und II. Ob Madiou seine Rolle bei diesem Besuch positiv aufzuwerten suchte, ist nicht zu entscheiden, darf aber wohl vorausgesetzt werden, gerade weil Schoelcher ihn überhaupt nicht erwähnt. Ein weiterer Historiker, Ardouin, erwähnt den Reisebericht von Schoelcher nur im Zusammenhang mit dem des Quäkers Candler: "On a pu remarquer dans ces volumes la différence qui existe entre un quaker et un abolitionniste..." (siehe Ardouin, 1860, B d . l l , S. 142 Anm. 1.). Dieses ambivalente Urteil Ardouins erklärt sich aus den heftigen Angriffen, die Schoelcher gegen ihn als Senatspräsidenten und Stütze der Regierung in Port-au-Prince richtete (siehe Schoelcher, 1843, S. 186, 223-226.). Schoelchers Position wurde am 7. Juli 1841 von dem französischen Abolitionisten Isambert in einem Artikel im Constitutionnel aufgenommen. Ardouin reagierte ein Jahr später mit einer Broschüre gegen Isamberts und Schoelchers Angriffe, in der er den beiden riet, zuerst ihren Aufgaben als Oppositionelle in Paris nachzukommen, bevor sie sich in die inneren Angelegenheiten eines fremden Landes einmischten, siehe Ardouin 1842.

7

Madiou, Bd. VII, S. 361.

142 gierung zu stürzen. Madiou merkt an, daß diese ihn zu Recht hätte ausweisen und dabei wohl auf das Stillhalten des französischen Konsuls rechnen können, da Schoelcher sich als Republikaner auch in Pariser Regierungskreisen nicht allzu großer Beliebtheit erfreute. An keiner Stelle seines Reiseberichts erwähnt der republikanische Philanthrop die ihm von der haitianischen Regierung zugestandene Meinungsfreiheit. Selbst wenn Madiou Schoelcher als unermüdlichem Kämpfer gegen die Sklaverei abschließend hohen Respekt zollt, deutet er dennoch eine Kritik an dessen eurozentrischem Auftreten an: Il retourna en France en laissant parmi les hommes de couleur en général une impression très défavorable, et parmi les noirs un effet indéterminé, flottant: ceux-ci se demandaient s'il n'était pas vraiment un agent secret de la France.8 Während die Reaktionen auf den Besuch des negrophilen Haiti-Freundes auch in der historischen Rückschau ambivalent bleiben, sind sich Ardouin und Madiou einig in der Beurteilung des Empfangs, den die Jugend von Port-au-Prince einem frischgewählten Abgeordneten der Sklavenhalter Guadeloupes und notorischen Schwarzenhasser bereitete9. Granier de Cassagnac war erst seit einigen Stunden an Land, hatte lediglich das französische Konsulat besucht und sich von dem erwarteten schlechten Zustand der Straßen überzeugt 10 , als während eines Diners etwa 40 Personen vor seinem Hotel einen "charivari" inszenierten, Schmährufe gegen ihn skandierten und einige Fensterscheiben einwarfen. Ob wirklich Gefahr für sein Leben bestand, konnte er selbst nicht eindeutig belegen". Jedenfalls gelangte er unbeschadet ins Konsulat, erhielt am folgenden Tag eine Audienz beim zuständigen Staatssekretär, Inginac, der ihm versicherte, daß die Urheber des Aufruhrs inhaftiert worden seien, woraufhin er beschloß, sich wieder einzuschiffen. Für Granier besteht kein Zweifel, daß die junge Mulattenelite der Hauptstadt den Krawall organisiert hatte, wobei vor allem die von ihm angeführte Begründung erwähnenswert ist:

8 Ebd. Schoelcher selbst warf Ardouin vor, er habe während seines Aufenthaltes versucht, ihn als Agenten der Sklavenhalter und des französischen Ministeriums zu denunzieren (siehe Schoelcher, 1843, S. 224). 9 Siehe Ardouin, a.a.O., S. 142-144; und Madiou, a.a.O., S. 362 f.. Während Granier de Cassagnacs Reise rief Bissette in der Pariser Revue des Colonies (Mai 1841, S. 423 ff.) die Haitianer dazu auf, den Pflanzerfreund mit Protesten und Duell-Forderungen zu überhäufen. In der JuniAusgabe des Organs der Sklavereigegner zitiert Bissette ausführlich Satiren des Corsaire und des Charivari zum Ausgang der Abgeordneten-Wahl in Guadeloupe, was unterstreicht, daß diese auch über die Abolitionistenkreise hinaus bei der metropolitanen Opposition auf Kritik stieß. 10 Siehe Granier de Cassagnac, 1844, S. 205. 11 Ebd., S. 225. Die Tatsache, daß sieben schlecht bewaffnete schwarze Soldaten genügten, um ihn und den Kanzler des Konsulats ohne Zwischenfall in die französische Gesandtschaft zu begleiten, spricht eher für die von Madiou und Ardouin behauptete friedliche Absicht der Aktion.

143 En général, les nègres d'Haïti sont beaucoup trop abrutis, et beaucoup trop misérables pour s'occuper d'autre chose que des deux liards de bananes qu'il leur faut chaque jour pour ne pas mourir de faim. Wenn schon die Schwarzen in die Nähe der Affen gerückt werden, so bietet die Tierwelt natürlich auch Metaphern für Mulatten: J'ajoute que l'idée d'être traîné dans les ruisseaux infects du Port-au-Prince, de sentir dans ma chair les ongles des mulâtres de Saint-Domingue, me causait quelque horreur.12 Die Provokation der jungen Mulatten hat also genau das erreicht, was bezweckt worden war: die Mobilisierung aller Angstphantasien eines Sklaverei-Befürworters. Selbst die Regierung schien die Strategie, gegen einen Rassisten mit der Inszenierung seiner Vorurteile zu protestieren, implizit unterstützt zu haben, da sie die Unruhestifter nach nur einem Tag aus der Haft entließ. Diese revanchierten sich mit einem rauschenden Fest für das politische Establishment in Port-au-Prince. Wenn die dortigen Würdenträger Granier de Cassagnac mit einem Staatsakt empfangen hätten, so stand zu befürchten, daß dieser seinen Lesern eine solche Zeremonie als unfreiwillige Parodie auf die Zivilisation präsentiert hätte; die karnevalistische Aktion hingegen unterstrich die bei allen Haitianer fest verwurzelte Abneigung gegen die Sklaverei und überwand für kurze Zeit die innenpolitischen Differenzen. Diese beiden Episoden verdeutlichen, daß man bei der Beurteilung der Kontakte zwischen Haitianern und Ausländern - in diesem Fall Franzosen - zwei Verhaltensmuster immer einkalkulieren muß: die vermeintlich Kulturlosen waren nicht nur sehr genau über die Diskussionen in Paris informiert, sondern sie manipulierten ihre "Gäste" auch entsprechend der jeweiligen innenpolitischen Opportunität. Man kann zwar nicht kategorisch sagen, daß die Fremden in Haiti nichts anderes gesehen und gehört haben, als ihnen ohnehin schon vor ihrer Ankunft bekannt war - Schoelcher hätte sicher lieber ein positiveres Haiti-Bild gezeigt - , doch zielt das Bemühen der Besucher wie auch der Gastgeber eindeutig darauf ab, die fremde Wirklichkeit in schon bestehende Wahrnehmungsmuster der Reisenden zu integrieren.

1.2 Schoelchers Haiti-Beschreibung und Bissettes Reaktion Seine zweite Reise 1840/41 in die Karibik unternahm der Industriellensohn, Republikaner und Abolitionist Victor Schoelcher ausschließlich zur kritischen Bestandsaufnahme der Lebensbedingungen der Schwarzen in den dortigen Kolonien und in Haiti 13 . Seine für die französische Öffentlichkeit überraschendste Erkenntnis bestand 12 Ebd., S. 208, S. 217. 13 Die erste Reise hatte Schoelcher 1829 im Auftrag seines Vaters aus geschäftlichen Gründen nach Mexiko geführt. Seine Briefe Uber mexikanische Sitten, den Unabhängigkeitskampf und den desolaten Zustand der Silberbergwerke wurden 1830 in der Revue de Paris abgedruckt. Die

144 darin, daß Wirtschaft und Gesellschaft der schwarzen Republik sich in einem katastrophalen Zustand befanden. Emphatisch verwahrt er sich gegen einen rassistischen Mißbrauch seiner Argumente und klagt die politisch Verantwortlichen an: Ennemis des noirs, ou plutôt amis de l'esclavage, allez vous reprendre votre vieux thème sur la stupidité native de la race africaine? Faites; mais alors convenez que ... en France, sur 80000 hommes de conscription, on en trouve chaque année 40000 qui ne savent ni lire ni écrire, ... Non, non ce n'est pas le peuple haïtien, mais bien ses chefs qu'il faut accuser de cette misère intellectuelle. An anderer Stelle stellt er die rhetorische Frage: ... quels que soient les exécrables calculs des égoïstes qui se trament à la tête d'Haïti, voit-on que la république noire soit, malgré tout, beaucoup plus arriérée que sa voisine la république blanche du Mexique? 14 Dennoch unterlaufen Schoelcher Wendungen, die die Opposition Oligarchie - Masse in die Nähe des Rassengegensatzes Mulatten - Schwarze rücken, der auch Granier de Cassagnacs Beschreibung dominiert: Laissez venir un nègre et tout change de face. Und wenn die Regierung diesen Rat nicht befolgt, wird es schlimmer kommen: Quelque Moïse noir apparaîtra tôt ou tard et délivrera sa patrie de cette abominable politique qui tend à en faire un désert peuplé de fainéans.15 Die prophetische Drohung mit einem schwarzen Moses richtet sich nicht mehr, wie bei Lamartine und seinen aufklärerischen Vorbildern Mercier und Raynal, gegen die weißen Sklavenhalter, sondern gegen die herrschende Elite in Port-au-Prince. Der immer gleiche Rückgriff auf eine transhistorische schwarze Figur, sei es der "vengeur du Nouveau Monde", der "Spartacus noir", "Moïse" oder ein unbekannter schwarzer Politiker 16 offenbart auch bei dem reisenden Philanthropen eher den Befund zahlreicher ungelöster politischer Probleme als deren Lösung. Anders als noch Mercier, der 1770 in seinem utopischen Roman (L'an 2440, Kap. 42) den "vengeur du Nouveau Monde" die Waffen niederlegen und weise Gesetze statuieren läßt, muß Schoelcher von historischen Realisierungen der errungenen Freiheit ausgehen: Die von der zeitgenössischen Mulattengeschichtsschreibung gefeierten Heroen der Unabhängigkeit, zweite Reise 1 8 4 0 / 4 1 hatte er privat finanziert, sie führte ihn in die englischen, französischen, holländischen und spanischen Kolonien und nach Haïti, das er im zweiten Band seines 1843 erschienenen Reiseberichts ausführlich beschreibt. Zur Biographie Schoelchers siehe die Studie von Janine Alexandre-Debray; einen kurzen Abriß seiner Radikalisierung in der AbolitionsFrage gibt Antoine, S. 2 2 7 - 2 3 0 . 14 Siehe Schoelcher, 1843, S. 2 0 7 und S. 328. 15 Siehe ebd., S. 241 und S. 325. Granier de Cassagnac sagt ebenfalls die nahe Rache der Schwarzen an den Mulatten voraus. Angesichts dieser Gefahr macht auch er bei den negrophilen Oppositionellen um die Mulatten Dumesle und Saint-Preux "quelque mérite" aus, siehe Granier de Cassagnac, 1844, S. 2 0 8 . Im Zusammenhang mit dem gegen ihn inszenierten "charivari" rückt er diese noch in die Nähe von Raubtieren. 16 Schoelcher behauptet, einen präsidiablen

Schwarzen

namens Simon entdeckt zu haben,

schweigt sich aber über dessen politische Position aus, siehe Schoelcher, 1843, S. 3 1 7 .

145 Ogé und Rigaud, greift er an, weil sie ausschließlich den Interessen ihrer Klasse verpflichtet seien. Wesentlich positiver, in Hinsicht auf das Gemeinwohl, erscheint ihm die gemischtrassige Gesellschaft, wie sie Toussaint Louvertures Verfassung von 1801 vorsah 17 . Unter Toussaint seien öffentliche Ämter nur nach Tugend- und Talent-Kriterien vergeben worden, allerdings kann der Abolitionist nicht umhin, dieses System als Diktatur einzustufen (S. 119-128). Doch nähme sich diese gegenüber den folgenden positiver aus: Dessalines war eine "pitoyable imitation d'une variété plus illustre, mais non moins coupable" (S. 143), Pétion "un ambitieux fainéant" (S. 150), Christophe "le Caligula noir" (S. 152), sein Regime ähnlich der russischen Militärdespotie; schließlich läßt die umfassende Kritik an Boyer vermuten, daß Schoelcher in ihm die haitianische Verzerrung der französischen Laissez-faire-Politik LouisPhilippes sieht. Nur aus der Negation kann der selbsternannte Staatstheoretiker für die Insel ein politisches Regime entwerfen, für das in der jüngsten französischen oder nordamerikanischen Vergangenheit kaum ein erfolgreiches Modell zu finden sein dürfte. Noch hat sich kein charismatischer Republikaner manifestiert, der seine Bürger durch die Prämierung von Tugenden und Talenten erziehen würde. Gerade diese aber seien notwendig, um modernisierungshemmende egalitäre Tendenzen zu unterdrücken. So propagiere auf dem Lande der Code rural eine Parzellenwirtschaft, die afrikanische Traditionen wie die Subsistenzproduktion und den Voudou verstärke18. Die Bauern begnügten sich mit etwas Wasser und fünf bis sechs Bananen, Geldverkehr oder Handwerk seien unbekannt. Unter solchen Bedingungen könne es auch keine Schicklichkeit geben: Leurs femmes vont la poitrine nue comme les esclaves femelles de la Guadeloupe; on les voit dans cet état aux rivières où elles lavent ne pas s'inquiéter du voyageur qui passe; ,..19 Nicht gegen die Arbeitsbedingungen, sondern gegen die fehlende "pudeur" revoltiert die bürgerlich männliche Moral des Menschenfreunds. Als habe sie sich explizit auf diese Stelle bezogen, kritisierte Flora Tristan sein anscheinend ausschließliches Interesse für die Sklaven mit folgender Bemerkung: Il me faudra absolument faire connaître cet homme, car il y a des Robert Macaire de tous les genres. ... Voilà un philanthrope qui est allé en Afrique pour étudier la 17 Reinster Ausdruck der Mulattenideologie scheint ihm Fauberts Theaterstück Ogé zu sein, worin der Titelheld 1790 - entgegen der geschichtlichen Wahrheit - die Freiheit aller und ihre Unabhängigkeit prophezeit. Die Mulatten, ob regierungstreu wie B. Ardouin oder oppositionell wie E. Nau lehnten Toussaint als Instrument der weißen Pflanzer ab (S. 219-226). 18 Schoelcher erkennt hier durchaus einen Nexus zwischen Agrarstruktur und Kultur, der unter anderem von Gérard Barthélémy in Le pays en dehors analysiert worden ist. Barthélémy zeigt auf, daß der Gegensatz Mulatten-Schwarze im Laufe der haitianischen Geschichte als ständig mobilisierbares Ideologem die Opposition zwischen den am europäischen Fortschrittsmodell orientierten Gruppen der Gesellschaft und der afrikanisch-egalitären Tradition der Landbevölkerung verdeckt. 19 Siehe Schoelcher a.a.O., S. 263.

146 condition des nègres, ... Il passe tous les jours devant le lavoir. Oh! il n'a pas vu les femmes dans l'eau! 20

In der Stadt wird die Gleichheitsforderang der Unterschichten angesichts der mangelnden Genügsamkeit der Reichen agressiver vorgetragen: ... le citoyen qui donne un bal est obligé d'avoir une garde à la porte pour empêcher la canaille de monter, parce que la canaille veut toujours monter. Elle saisit effectivement les choses en bloc, et puisqu'on lui a parlé d'égalité, elle veut brutalement l'égalité complète. ... Quand à nous, loin de nous étonner que la canaille haïtienne jette des pierres contre les portes qu'on ne veut pas lui ouvrir, nous nous étonnons vraiment qu'elle ne les enfonce pas." (S. 301, Kursivschrift im Original)

Die Kursivschrift signalisiert, daß der Autor zitiert und damit zugleich suggeriert, daß sich die "citoyens" - es dürften wohl die Mulatten gemeint sein - wie die Nachfolger der Sklavenhalter aufführen, was aus der Perspektive der "canaille" sicher auch der Fall war. Schoelcher sieht scheinbar selbst die Notwendigkeit, mit einer Revolution zu drohen, da eine Regierung, die selbstlos für das Gemeinwohl arbeitet, nicht in Sicht ist. Allerdings drängt sich dem heutigen Leser die Frage auf, ob im Falle einer neugewonnen Freiheit und Gleichheit die vormals Bananen essenden Massen und die barbusigen Frauen die Notwendigkeit erkennen, für einen Kühlschrank zu arbeiten, den der republikanische Reisende so sehr vermißt. In der Tat argumentiert er, daß diese Errungenschaft der Zivilisation einen doch in allen Kolonien nur nicht im unabhängigen Haiti erfrische. Trotz seines radikaleren Engagements für die Abschaffung der Sklaverei ist Schoelcher, ähnlich wie Lamartine, zu jenen idealistisch patemalistischen Republikanern zu zählen, die später die erste Phase der 48er-Revolution prägten. Als dann im Juni 1848 die Massen in Paris die Parlamentstüren eintraten, um die Gleichheit einzufordern, mußten diese gutsituierten Revolutionäre sprachlos zusehen, wie ihre legalistischen Illusionen im Klassenkampf zwischen bürgerlicher und proletarischer Ordnung untergingen 21 . Diesem Eindruck konnten sich vor allem die satirischen Zeitgenossen schon damals nicht entziehen. So schrieb der legitimistische Corsaire: Ce négrophile tient aussi beaucoup du titre de fils de Robespierre. Et il n'existe pas de membre du Jockey-Club qui ait un appartement plus somptueux ni une table plus exquise. 2 2

20 Flora Tristan, Tour de France, zitiert bei Alexandre-Debray, S. 107/08. Flora Tristans Kritik an Schoelchers Desinteresse gegenüber den Frauenrechten wurde nach ihrem Tode eindrücklich widerlegt, als 1851 der Freund der Schwarzen gemeinsam mit Crémieux gegen die versammelte Assemblée Nationale für das Frauenwahlrecht stimmte, siehe ebd., S. 162. 21 Siehe ebd., S. 141. Schoelcher sollte ein zweites Mal in französischen Klassenkämpfen das Gefühl der Ohnmacht erleben, als er - wie Lamartine im Juni 48 - während der Commune 1871 zwischen den Communarden und den Versaillais zu vermitteln suchte. 22 Siehe "Les Fils de 93", in: Le Corsaire, 8.11.1850.

147 Daumiers Schoelcher-Karikatur folgte der Argumentationslinie Flora Tristans. Im Frühjahr 1849, noch bevor Schoelcher an der Seite Ledru-Rollins im Juni gegen die Rom-Expedition protestierte, zeichnete der republikanische Karikaturist einen erhobenen Hauptes gehenden Bürger (Abb. 116), der die affenartigen Neger, die ihn umtanzen, keines Blickes würdigt. Die Zwerge der Freiheit, die frisch befreiten Sklaven, erheben den Sekretär für Kolonialfragen ins Monumentale. Vergleicht man diese Karikatur mit der des anderen Abolitionisten Isambert (Abb. 117), so ist der Gegensatz in Kleidung und Haltung offensichtlich. Isambert erscheint als Imitator der Schwarzen, während Schoelcher sich mit dem moralischen Gewicht des Befreiers in Paris aufrecht bewegen kann, die Befreiten dagegen behalten ihre kurzen Sklavenhosen an. In der Tradition seiner Philanthropen-Karikaturen der 1840er Jahre (Abb. 6) radikalisiert Daumier noch Flora Tristans Position, indem er behauptet, der großbürgerliche Abolitionist interessiere sich nicht nur nicht für die Wäscherinnen, sondern nicht einmal für die Zukunft der Schwarzen 23 . Sicher werden beide Dokumente Schoelchers tatsächlichem Einsatz für die Rechte der Schwarzen in den Kolonien und für die Durchsetzung einer demokratischen Republik in Frankreich nicht gerecht. Doch da Text- und Bildsatire auf der Ebene der politischen Diskurse ansetzen, sehen sie in ihm den Repräsentanten einer großbürgerlichen Revolutionselite, wobei der legitimistische Verweis auf Robespierre eine terroristische Radikalität suggeriert, die Daumiers Zeichnung durch das gediegene Auftreten des Abgeordneten gerade negiert. Damit die 1848 von der Sklaverei befreiten Neubürger in den französischen Antillen nicht auch die Türen der Pflanzer einwarfen - die revolutionäre Tugend der Regierung in Paris konnte vielleicht dort nicht jeden anstecken glaubte Schoelcher, seine antiklerikale Gesinnung verleugnend, den Ex-Sklaven eine katholische Erziehung verabreichen zu müssen 24 . Die historische Entwicklung belegt nur, was in seinem Reisebericht bereits angelegt ist: Das propagierte europäische Gesellschaftsmodell taugt zur Analyse der Richtungskämpfe innerhalb der Elite, muß aber notwendig zur Ablehnung der komplex-heterogenen Sozialverhältnisse auf dem Lande führen. Die unmittelbare Pariser Reaktion auf Schoelchers Reisebeschreibung belegt, daß der Autor ungeachtet seiner politischen und antiklerikalen Positionen nunmehr zu einer Institution im illustren Kreis der renommierten Sklavereigegner avanciert war 25 . 23 Im Gegensatz zu Cham hat Daumier nie die farbigen Abgeordneten der Kolonien karikiert. 24 Siehe Nelly Schmidt, 1984, S. 205/06. Schoelcher war sehr beeindruckt von der religiösen Unterweisung der jüngst Befreiten in den englischen Kolonien und kritisierte die mangelhaften Aktivitäten der französischen Kolonialverwaltung vor 1848. Danach versuchte er selbst bis 1851, das englische Modell auf den französischen Inseln zu verwirklichen, indem er La Mennais' Missionsorden, die Frères de l'Instruction Chrétienne, dorthin schicken ließ. 25 Politische Vorbehalte finden sich bei Cochut, S. 181, Anm. 1, religiöse bei Lamache, 1843, S. 154, beide loben allerdings Schoelchers moralisches Engagement. Granier de Cassagnac, S. 240 spricht in der Beschreibung seines Haiti-Aufenthalts nur von einem "französischen Philanthropen".

148

Ausführlich nahm Elias Regnault Schoelchers Beschreibung, insbesondere die der haitianischen Verhältnisse unter Boyer, in seine Histoire des Antilles26 auf. Wenn der Autor auch Schoelchers Kritik an den Politikern übernimmt, so ist er doch weit davon entfernt, nun auf einen schwarzen Moses zu warten: Quand le peuple haïtien voudra que ses rues soient pavées, et ses routes entretenues, il faudra bien que le gouvernement le satisfasse; mais il faudra aussi qu'il aide le gouvernement par son travail. Pétion et Boyer ont abandonné leurs administrés aux pendants de leur nature paresseuse: voilà quels ont été les fruits. Mais Toussaint et Christophe avaient remplacé le fouet des commandeurs par le bâton des inspecteurs; et il est bien à présumer que c'était par nécessité, et nullement par cruauté ou par plaisir, qu'ils faisaient battre leurs frères.27 Solche Charakterzuschreibungen, die rassistischen Klischees sehr nahe kommen, finden sich bei Schoelcher nicht. Aber auch Regnault verrät immerhin implizit, daß die Gewalt der schwarzen Despoten, beziehungsweise der Laisser-faire-Stil der Mulatten-Elite, sich aus der Tatsache erklärt, daß beide einem europäischen Gesellschaftsbeziehungsweise Gruppenmodell anhängen, das aber am passiven Widerstand der Massen scheitert, die die Freiheit vor allem als die Abwesenheit von fremdbestimmter Arbeit verstehen. Hier handelt es sich letztlich um die spezifische Modernitätsfeindlichkeit der Landbevölkerung und nicht um ein Rassenphänomen, daher kann der Autor Schoelcher folgen und ganz ähnliche Verhaltensmuster bei den weißen Ibaros auf Puerto Rico ausmachen. Die massivste und nachhaltigste Ablehnung von Schoelchers Darstellung des Inselstaates stammte ausgerechnet aus der Feder von jemandem, der in seiner Zeitschrift noch dazu aufgerufen hatte, den Franzosen als wahren Freund der Sklaven in der Karibik zu empfangen, von Charles Bissette, dem Herausgeber der Revue des Colonies. Des Philanthropen Reisebericht über Haiti habe diese Freundschaft zerbrechen lassen, indem er den Rassenhaß in der jungen Republik schüre, obwohl ein solcher dort eigentlich noch nicht existiere 28 . Bezeichnenderweise setzt Bissettes Kritik auf der historischen Ebene an und nicht bei der Beschreibung des haitianischen Alltags. Wieder werden die historisch realisierten Staatsmodelle gegeneinander ausgespielt, zugunsten einer Mulattengeschichtsschreibung mit ihrer traditionellen Grundannahme: Eintreten für die Unabhängigkeit und Herrschaft der Aufgeklärten zum Wohle des friedlichen Zusammenlebens von Schwarzen und Mulatten. Diese Position erweist sich als kohärent, wenn man sie vor dem Hintergrund der noch ausstehenden Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien sieht, wo eine Neuauflage 26 Das Werk erschien erst 1849. Da aber die Darstellung der Geschichte Saint-Domingues/Haitis mit Boyers Sturz abbricht, ist anzunehmen, daß das Werk bereits kurz nach dem Erscheinen von Schoelchers Reisebericht verfaßt wurde. 27 Siehe E. Regnault, S. 86/87. 28 Der äußerst aggressive Ton der Abhandlung läßt darauf schließen, daß persönliche Konflikte in die Debatte einflössen. Dies suggerieren auch Perrinons Broschüre, S. 52 ff., und Audebrands Souvenirs, S. 150/51.

149 der Pflanzerpolitik von 1789 bis 1793 verhindert werden soll, die darin bestanden hatte, beide unterdrückte Gruppen, die "freien Farbigen" und die Sklaven, gegeneinander aufzuhetzen. Unter der Prämisse, daß die Abolition nicht die Loslösung der Inseln aus dem französischen Kolonialimperium bewirken solle, käme nach der Abschaffung der Sklaverei die Rolle des Bindegliedes zwischen den Interessen von Pflanzern und Plantagenarbeitern den Mulatten zu. Sie könnten die beste Politik in der Kolonie betreiben. Damit artikuliert die neu entstehende farbige Mittelschicht gegenüber der lästigen Konkurrenz der negrophil gesonnenen metropolitanen Philantropen ihren Anspruch auf die zukünftige Kolonialverwaltung . Trotz dieser eindeutigen ideologischen Festlegung kann man Bissette nicht, wie etwa Antoine, als Spalter im Kampf um die Abolition bezeichnen 29 . Er kämpft, wie Schoelcher, für sie und sieht ebenfalls den Schwarzen als gleichwertigen Menschen, der noch zur Freiheit erzogen werden muß. Ihre Differenz besteht in der Einschätzung der postkolonialen Eliten, wobei die verhandelten Politikkonzepte wieder nicht der haitianischen sozialen und ökonomischen Realität Rechnung tragen, sondern auf europäische Modelle zurückgreifen. Dieser scheinbar theoretische Konflikt gewann in dem Augenblick an politischer Brisanz, als sich Bissette 1849 in Martinique für die Pflanzerfraktion zur Wahl stellte und aufgrund seiner früheren Popularität auch von Schwarzen gewählt wurde. Während des Wahlkampfes und danach wurde er vom Courier de la Martinique unterstützt, dessen Herausgeber Auguste Gaillard de Maynard, ein Freund Granier de Cassagnacs, war 30 . Unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse in Haiti griff der Courier den republikanischen Kandidaten, Schoelcher, als denjenigen an, der den Rassenhaß in der Nachbar-Republik geschürt habe, somit für die Massaker vom April 1848 verantwortlich sei und schließlich Soulouques Aufstieg vorausgesagt habe. Schoelcher wie auch seine farbigen Gefolgsleute, Perrinon und Gaumont, antworteten in Broschüren und wiederholten die Argumente von 1844, es sei Schoelcher nur darum ge29 Siehe Antoine, S. 229. Antoine konstatiert - im Rückgriff auf Souliés Le Bananier ( 1843) - den zunehmenden Rassismus in Frankreich, gegen den alle Farbigen hätten geeint stehen müssen. Nun belegt dieser Text auch, daß Soulié nicht nur die Sklaverei unterstützt, sondern gleichzeitig - ganz in der Tradition des Club Massiac - die freien Farbigen äußerst negativ, als antifranzösische Agenten darstellt. Bissettes Argumentation bezieht gerade auch diese Komponente des Kolonialproblems mit ein. 30 Siehe Debien, S. 153 Anm. 13. Andere Blätter gegen Schoelcher: Le Commercial und L'Avenir, pro-Schoelcher: La Liberté, La Réforme und Le Progrès, der einem Prozeß Bissettes zum Opfer fiel, siehe Fleurets Brief an seine Mutter Ende Dezember 1850, abgedruckt ebd., S. 153-156. Die von Debien herausgegebenen Briefe des Désiré Fleuret schildern anschaulich den Konflikt zwischen Schoelcheristen und Bissettisten auf Martinique. Fleuret weist zahlreiche Ähnlichkeiten mit Figuren auf, die man im Repertoire der Vaudevilles zur Sklaverei findet. In Toumus jubelte er noch im April 1850 Esquiros zu und beklagte die Deportation der Republikaner. Als er dann wenig später auf Martinique landete, um als Bissettes Schützling Karriere zu machen, wechselte er das Lager. Trotz zahlreicher Rückschläge hielt er an Bissette fest und er hoffte, dessen Tochter heiraten zu können, er starb jedoch im April 1852. Im Januar hatte er noch den Staatsstreich Louis-Napoleons bejubelt.

150 gangen, die mulattenfreundliche und fortschrittsfeindliche Politik Boyers anzugreifen, keineswegs aber den aktuellen Zustand zu erstreben, Soulouque sei nicht der "Moïse noir", sondern - und hier wird das Register gewechselt - der "Caligula haïtien"31. Der Messias der modernen Republik Haiti läßt eben weiterhin auf sich warten... Unterstützung erhielt Schoelcher ebenfalls von haitianischen Intellektuellen, sowohl von Pradine, der später von Soulouque geadelt werden sollte, als auch von dem Verbannten Saint-Rémy 32 . Beide betonten vor allem die Tatsache, daß der französische Philanthrop den Mut gehabt habe, mit der Marginalisierung der Landbevölkerung das grundlegende Übel der haitianischen Gesellschaft zu benennen. Zwar sei er teilweise falschen Informationen aufgesessen, doch sei dies kaum seine eigene Schuld, sondern im Gegenteil die seiner Informanten gewesen. Die Haltung Saint-Rémys ist umso erstaunlicher, als er im folgenden Jahr ein Buch über Toussaint Louverture veröffentlichte, das im wesentlichen die von Bissette zitierten Positionen der Mulattengeschichtsschreibung wiederholen sollte. Was den Konflikt auf Martinique betrifft, so ist die Parteinahme der genannten Haitianer wohl als Reaktion auf die Annäherung Bissettes an die Pflanzerinteressen zu verstehen. Schoelcher wird hier demnach als derjenige gesehen, der am glaubwürdigsten die Interessen der Gesamt-Kolonie vertritt.

1.3 Die französische Darstellung Haitis (1844-1848) Der Sturz Boyers (1843) führte zu einer politischen und sozialen Radikalisierung in der Republik: Neben den beiden Fraktionen der Mulatten-Elite (Boyeristen versus Anhänger Hérard Dumesles), kämpften die schwarzen Generäle aus dem Norden und die revolutionäre Kleinbauernbewegung unter der Führung Acaaus im Süden um die Macht. Bis zur Wahl Soulouques wechselten sich kurz nacheinander vier Präsidenten ab: Charles Hérard (Vetter Hérard Dumesles); der schwarze General Guerrier, der von den Boyeristen unter der Führung der Ardouin-Brüder gestützt wurde, der schwarze General Pierrot, der die Interessen des Nordens vertrat und Riché, der wiederum Rückhalt bei der Ardouin-Clique fand. Alle bekämpften mehr oder weniger intensiv die Piquet-Bewegung Acaaus. Hinzu kam die Abspaltung des spanischsprachigen Ostteils der Insel, der sich zumindest des Wohlwollens der Großmächte erfreute und insofern von den Haitianern als ständiges Einfallstor neo-kolonialer Unternehmungen angesehen wurde.

31 Siehe Schoelcher, 1849, S. 171. 32 Siehe Gaumont, S. 48/49, und Schoelcher, 1849, S. 168. Madiou, Bd. VII, S. 533, berichtet, daß der von Schoelcher gefeierte Revolutionsführer Herard Dumesle später seine früheren Gefolgsleute als Schoelcheristen zu denunzieren suchte.

151 Die bisher besprochenen Studien sind auf die Situation nach 1843 nicht eingegangen. Aus der Analyse zweier Darstellungen der Insel, die in Paris um 1846 erschienen, wird sich ergeben, inwieweit die neue, unübersichtliche Situation in der karibischen Republik die Argumentationsraster in der Metropole verändert hat.

1.3.1 Lepelletier de Saint-Rémy Neben Schoelchers Reisebericht stammt die bestdokumentierte Studie über Haiti von Lepelletier de Saint-Rémy, die er 1846 in zwei Bänden vorlegte. Die wesentlichen Thesen finden sich allerdings schon zwei Jahre zuvor in einem Artikel der Revue des Deux Mondes. Der Autor war ein Kreole von den französischen Antillen, der im Marineministerium arbeitete, die Kolonialbanken in Paris vertrat und für Girardins Presse schrieb 33 . Bei ihm werden die Revolution auf Saint-Domingue und die jüngsten haitianischen Ereignisse aus der Perspektive eines Vertreters der Kolonialinteressen interpretiert. Auch für den Kreolen besteht der grundlegende Konflikt der haitianischen Gesellschaft im Kampf zwischen Schwarzen und Mulatten, der sich zum ersten Mal im Bürgerkrieg zwischen Toussaint und Rigaud manifestierte 34 . Daß es dazu kommen konnte, sei im wesentlichen auf das Versagen der Weißen zurückzuführen, die sowohl in der Kolonie als auch in der Metropole die Situation stets falsch eingeschätzt hätten 35 . Nach der Unabhängigkeit stünden sich beide Rassen unversöhnlich gegenüber: Die Masse der Schwarzen, deren Grausamkeit notwendig gewesen sei, um zur Unabhängigkeit zu gelangen, die nun aber der Intelligenz der Mulatten das Feld überlassen sollten. Letztere hätten wiederum den Nachteil der numerischen und moralischen Schwäche. Da die Regierungen Pétions, Boyers und Hérards die Schwarzen in ihrer Unbildung belassen hätten, wäre es ihnen unmöglich gewesen, die von den Verfassungen geforderte demokratische Partizipation in einer Weise in die Tat umzusetzen, daß sie nicht das System gefährde. Die Machtübernahme des schwarzen Generals Pierrot sei das Resultat der Mulattenpolitik. Gleichzeitig strafe 33 Siehe Antoine, S. 229, Anm. 194. Antoine reiht ihn unter die rassistischen Vorläufer Gobineaus ein. Ohne seine im folgenden noch darzulegende rassistische Grundkonzeption in Frage stellen zu wollen, muß doch zwischen ihm und dem im gleichen Kontext erwähnten Frédéric Soulié unterschieden werden, da letzterer noch eindeutig für die Sklaverei eintritt, während Lepelletier diese zumindest für Haiti ablehnt. 34 Siehe Lepelletier, 1844, S. 668 f. 35 Siehe Lepelletier, 1846, Bd. 1: Für die Pervertierung der kolonialen Sitten wird die Raffgier der Metropole verantwortlich gemacht, S. 106; die Abweisung der freien Farbigen durch die Assemblée de Saint-Marc sei eine sträfliche Fehleinschätzung gewesen, S. 124; die Differenzen unter den Weißen haben Sonthonax' Abolitionsdekret provoziert, S. 131; Laveaux habe Toussaint befördert und somit die Herrschaft der Schwarzen gestützt, S. 137; das Directoire Toussaint gegen Rigaud ausgespielt, 1844, S. 668; die Pflanzergruppe um Josephine Napoleon in der Expeditionsfrage falsch beraten, S. 153; Leclerc zu viele Gefangene erschießen lassen, S. 166, und schließlich habe Rochambeau die letzte Möglichkeit eines Bündnisses mit den Mulatten verpaßt, S. 168.

152 dieser aufgrund seiner minderen intellektuellen Kapazität Schoelchers Voraussage vom fähigen schwarzen Präsidenten Lügen; überdies könne das Staatsoberhaupt nicht dem Modell der "tyrans organisateurs", Toussaint und Christophe, folgen, da die demokratische Grundhaltung der Massen dies nicht zulasse. Dieses Phänomen sei im übrigen in der Mehrzahl der vorzeitig zur Unabhängigkeit gelangten lateinamerikanischen Republiken zu beobachten. Haiti werde sich also auf eine längere Phase der Instabilität einrichten müssen, die durch den Umstand verstärkt werde, daß es versuche, den mit europäischer Hilfe befreiten spanischen Teil der Insel zurückzuerobern. Die einzige Lösung dieses Dilemmas bestehe darin, die Mulatten endlich davon zu überzeugen, daß Frankreich Haiti nicht mehr in die Sklaverei zurückzuführen wünsche. Stattdessen sollte die haitianische Elite den zivilisatorischen Einfluß Frankreichs in Afrika - damit ist Algerien gemeint - in Betracht ziehen, ihre Angst vor einer möglichen Dominanz der Weißen aufgeben und sie vielmehr zur moralischen Erneuerung ins Land holen 36 . Ausgehend von einem kolonialen Beispiel formuliert der Autor ein Konzept, das die "mission civilisatrice" fast schon in die informellere "coopération" überführt. So viel Liberalismus schien Lepelletier dann doch zuviel: 1846 findet er in der Zusammenfassung seines Buches eine andere Lösung für die Insel. Frankreich solle dafür sorgen, daß Haiti die Dominikanische Republik anerkenne, welche als Gegenleistung die Bucht von Samana an die Schutzmacht abtrete, die dann dort einen Übersee-Hafen errichte, über den der Im- und Export der ganzen Insel mit französischen Schiffen abgewickelt werde. Auf diese Weise sei auch der Einzug der Schuldendienste gesichert 37 . Dieses Ausweichen auf die neokoloniale Variante des Protektorats verdeutlicht, daß die den Mulatten angebotene "moralische Stärkung" keineswegs der ganzen weißen Rasse nutzen soll, sondern allein den nationalen französischen Interessen. Das hier verwendete Rassenkonzept verschleiert mehr, als daß es zu eindeutigen Positionsbestimmungen dient. Von einer biologischen Determinierung kann keine Rede sein. Den Schwarzen wird Gewalt, Unbildung, der Hang zu Tyrannei und Demokratismus zugeschrieben, doch seien sie durchaus zu kulturellen Leistungen fähig; die Mulatten indes verfügten wohl über Intelligenz, seien aber nicht am allgemeinen Fortschritt interessiert. Den garantierten allein die Weißen. Doch dieser Fortschritt erwächst für den Autor nicht aus dem freien Spiel der Kräfte, sondern nur in der gesicherten Einflußsphäre Frankreichs. Letztendlich beschreibt Lepelletier am Beispiel Haiti das Modell, das er für die französischen Kolonien nach der Abschaffung der Sklaverei vorsieht. Die Mulatten nehmen in diesem System die gleiche Position ein wie die Pflanzer in den Kolonien. Die bourgeoisen Elemente der Peripherie sollen

36 Siehe Lepelletier, 1844, S. 682 ff. 37 Siehe Lepelletier, 1846, S. 414 f.

153 durch die Metropole gestärkt werden, müssen dafür aber auf das freie Angebot ihrer Exportprodukte auf dem Weltmarkt verzichten.

1.3.2 Paul Lamache Auch Paul Lamaches 1846 im katholischen Correspondant veröffentlichter Artikel sieht die Schuld am Verlust Saint-Domingues in der Verstocktheit der Weißen. Nach der Unabhängigkeit hätten dann die Mulatten in gleicher Weise dem Vorurteil der Farbe angehangen, womit auf gefährliche Weise ein Klassenkonflikt genährt worden sei: ... les anciennes rancunes des noirs contre les mulâtres compliquent dangereusement, en Haïti, la jalousie naturelle que les classes inférieures des sociétés démocratiques nourrissent contre les supériorités de fortune et d'intelligence; ... 38 .

Wird der Klassenneid als Erklärungsmodell dem Rassenkonflikt vorgezogen, so stellt der Autor darüber hinaus klar, daß der Mangel an Aktivität in den Tropen nicht auf ein Rassenspezifikum zurückzuführen sei, sondern vielmehr auf die Neigung der Unterschichten, die überreichlich von der Natur gelieferten Bananen ohne Anstrengung zu konsumieren. Dies sei bei den weißen Ibaros auf Puerto Rico genauso zu beobachten wie bei den Parzellenbauern auf Haiti. Seine Vorschläge zur Beseitigung der Mißstände: Eine umfassende religiöse Unterweisung der Schwarzen nach dem Vorbild der englischen Kolonien, allerdings durch katholische Priester, was - wie oben erwähnt - ausgerechnet Schoelcher zwei Jahre später realisieren sollte. Von gleicher Wichtigkeit sei die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien, um wieder weiße Investoren (auch hier sind Franzosen gemeint) nach Haiti zu locken. Der Kapitalimport sei sowohl dort wie auch in den französischen Kolonien notwendig, damit die Rohrzuckerproduktion wieder konkurrenzfähig gegenüber dem Rübenzucker werde. Dazu sei es im Falle der Republik besonders wichtig, die Dominanz der Subsistenzbauern zugunsten von Plantagen zu brechen, die sich zu Produktionseinheiten um eine Zentralraffinerie zusammenschließen. Lamache tritt also für den technisch-industriellen Fortschritt in einer expansiv definierten französischen Einflußsphäre in der Karibik ein. Die modernste Technologie überwinde Rassismus und Sklaverei, ihre sozialen Konsequenzen sollen durch die katholische Religion entschärft werden.

1.4 Zusammenfassung Abgesehen von Granier de Cassagnac, der den Schwarzen die Fähigkeit der Perfektibilität absprach, traten alle anderen der hier vorgestellten Autoren für die Abschaffung der Sklaverei ein. Es ist also zunächst festzuhalten, daß die diffuse Verwendung 38 Siehe Lamache, 1846, S. 526.

154 von Rassenkonzepten den Schreibenden nicht notwendigerweise als einen Befürworter der Sklaverei ausweist. Alle Autoren stimmen in der negativen Beurteilung des Boyer-Regimes überein und konstatieren einen Gegensatz zwischen Mulatten und Schwarzen, den sie zumindest implizit als Klassenantagonismus erkennen. Ferner liegt allen Studien das gleiche ökonomische Entwicklungsmodell zugrunde: Die Agrarproduktion müsse für den Export gesteigert, europäisches Kapital und Bildung ins Land geholt werden. Aus diesem Grund kann keiner die dominierende Subsistenzwirtschaft als genuine Errungenschaft der Revolution erkennen. Daß für große Teile der haitianischen Landbevölkerung Freiheit und Gleichheit realisiert worden sind, verstört die aufmerksameren Beobachter, die anderen nehmen es nicht einmal wahr. Die eigentlichen Differenzen liegen in den politischen Konsequenzen: Wer soll die Fortschrittspolitik mit welchen Mitteln durchsetzen? Kein Autor befürwortet die Diktatur, die zwar von der jeweiligen haitianischen Elite als unerwünschtes, aber nichtsdestoweniger als einzig erfolgversprechendes Mittel zur Durchsetzung ihrer Modemisierungsstrategien gegen die Subsistenzwirtschaft eingesetzt wird. Im wesentlichen reproduzieren die Modelle für die Karibik die metropolitanen Oppositionen: Autoritär-idealistischer Republikanismus versus Herrschaft der Intelligenz, welche dazu neigt, mit den "natürlichen" oder "gottgegebenen" Eliten übereinzustimmen. Ein weiterer Konfliktpunkt ergibt sich aus der Frage, wer dominieren soll: die diversen Fraktionen der autochtonen oder die metropolitane Elite. Die Radikalisierung der innenpolitischen Verhältnisse auf der Insel nach 1843 hat nicht zu einer wesentlich anderen Einschätzung der politischen Situation geführt. Dagegen kommt mit der Proklamation der Dominikanischen Republik dem geostrategischen Aspekt, insbesondere der Protektoratsidee größere Bedeutung zu. Für alle französischen Kommentatoren bleibt letztlich neben ihrer politischen Einstellung zum metropolitanen Laisser-faire Kapitalismus der Juli-Monarchie die Zukunftsperspektive der Kolonien der entscheidende Parameter zur Beurteilung der Entwicklung Haitis.

2 Die französischen Hintergrundberichte zu Soulouques Kaiserreich Angesichts einer relativ hohen Übereinstimmung fast aller französischer Autoren in ihrer Darstellung der haitianischen Gesellschaftsstruktur und Geschichte, die kaum durch die dortigen innenpolitischen Veränderungen modifiziert wird, ist zu erwarten, daß das Phänomen Soulouque nicht aus dem bisherigen Interpretationsraster herausfällt. Andererseits haben sich seit 1848 in Paris dramatische Veränderungen vollzogen: die Februar-Revolution, die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Ko-

155 Ionien, der Juni-Aufstand in Paris, vor allem aber der Aufstieg und Staatsstreich Louis-Napoleons. Hinzu kommt die nordamerikanische Expansion in den karibischen Raum, besonders seit dem Mexiko-Feldzug von 1848. Es ist daher anzunehmen, daß die Ereignisse in Frankreich Einfluß auf die Darstellung der Hofhaltung Soulouques haben, zumal die eigentliche Hintergrundberichterstattung erst ein Jahr nach der Proklamation des neuen Kaiserreichs einsetzt und somit an eine Fülle von "Faits divers" aus der Pariser Tagespresse und an klar konturierte Parallelisierungen beider Second Empires durch die Text- und Bildsatire anknüpfen kann. Es soll daher im folgenden untersucht werden, welche "miroir(s) déformant(s)" 39 die Autoren den Franzosen mit Hilfe der Darstellung von Kultur, Geschichte und Gesellschaft des karibischen Kaiserreichs vor Augen halten.

2.1 Die Gegner Soulouques Die Artikel der Tagespresse und der Satire-Blätter haben bereits einen Eindruck vermittelt, welche politischen Gruppierungen das Soulouque-Regime negativ beurteilten. Es ist außerordentlich günstig, daß die detaillierten Hintergrundberichte zweier Gegner des karibischen Monarchen jeweils in den beiden renommiertesten Zeitschriften der Epoche, der Revue des Deux Mondes und der Revue Contemporaine erschienen sind, und auf diese Weise eine orleanistische und eine bonapartistische Position vorgestellt werden können. Überdies begnügen sich beide Autoren nicht mit dem Bereich der Geschichts- und Gesellschaftsanalyse, sondern diskutieren auch die haitianische Literatur. Die hier vor zu stellenden ästhetischen Entwürfe metropolitaner Kritiker verdienen insofern Beachtung, als sie nicht aus einem eher negrophilen Engagement, wie bei Grégoire, Bissette oder Schoelcher, entwickelt worden sind. Die Gegenüberstellung beider Literaturkonzepte erlaubt insbesondere, den Grad an rassistischen Implikationen zu bestimmen. Leider ist keine republikanische Monographie oder Artikelserie bekannt, die sich kritisch mit den haitianischen Zuständen während Soulouques Regierungszeit beschäftigt hätte. Diese Autoren haben offensichtlich ihr Medium in der Satire gefunden, oder ziehen es vor - wenn sie sich im Exil befinden - die französische Spielart des Bonapartismus zu kritisieren. Victor Schoelcher zum Beipiel schreibt in London über Musik oder aber über die Konkubinen von Napoleon III.

39 Siehe P. Michel und M. Nathan: "Les principes et la sucrerie: La critique du discours colonial et ses limites.", in: Charles de Rémusat: L'Habitation ..., S. LXXXI. Diese von Michel und Nathan geprägte Metapher trifft genau die Intention von Rémusats Theaterstück (siehe II. 1 ). Wegen des satirischen Kontextes entfaltet das Bild aber erst im Hinblick auf das Kaiserpaar Soulouque - Napoleon III. seine volle Bedeutung.

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2.1.1 Gustave d'Alaux Ein Jahr nach der Proklamation des haitianischen Kaiserreichs begann Gustave d'Alaux 40 seine Artikelserie, die ihm den vom Journal pour Rire geprägten ironischen Titel des "Historiographe de Soulouque, mais mal en cours" eingebracht hat. Während eines Zeitraums von zwei Jahren unterhielt er die Leser der Revue des Deux Mondes regelmäßig mit einer gelungenen Mischung aus profunden Kenntnissen über Haiti und grotesken Details, die er später 1856 zu einer Monographie 41 zusammenfaßte. Dieses Buch ist bis heute für Schriftsteller und Historiker die meist zitierte Quelle zum zweiten haitianischen Empire. Angesichts des feuilletonistischen Stils hätte die Kritik zumindest einige Anmerkungen zur Provenienz von d'Alaux' Informationen sie stammen häufig aus der diplomatischen Korrespondenz - machen müssen. Grundsätzlich wäre aber nach der Intention des Autors zu fragen gewesen. Der obligate Verweis auf den zugrundeliegenden Rassismus reicht zur Charakterisierung des Werks nicht aus. Die Rezeption dieser "Hofberichterstattung" über die Monographie verhindert bereits die Einordnung in den zeitgenössischen französischen Kontext. Die Artikelserie wurde im letzten Jahr der Republik begonnen und endete nach dem Staatsstreich mit den Abhandlungen über die haitianische Literatur, welche nicht in die Monographie aufgenommen und daher auch von der Forschung nicht beachtet wurden. Ausgehend von der Annahme, daß die aktuelle politische Situation in Paris zumindst Einfluß auf die zugleich deutende Präsentation der haitianischen Verhält-

40 Über den Journalisten d'Alaux ist nicht viel bekannt. Die in haitianischen Publikationen anzutreffende Behauptung, d'Alaux sei das Pseudonym des französischen Konsuls Raybaud, die wahrscheinlich auf das Pamphlet eines anonymen Britannicus, siehe ders., S. 31, Anm., zurückgeht, ist falsch. Raybaud beteuert in einem Brief an den französischen Außenminister, er sei nicht d'Alaux, sondern habe diesen nur kurz in Paris kennengelernt, siehe AAE, CP Haïti, Bd. 20, 10.8.1852. Auch befindet sich unter den Dokumenten der Revue des Deux Mondes, die im Institut des Mémoires de l'Edition Contemporaine (IMEC) in Paris verwahrt werden, ein undatierter Brief von d'Alaux an den Herausgeber Buloz, worin der Autor drei Artikel über die "littérature noire et jaune" ankündigt, was die Einordnung des Schreibens in dem Karton des Jahres 1852 wahrscheinlich macht. Baur, S. 134, Anm. 7, behauptet unbelegt, d'Alaux sei 1816 in Paris geboren worden und 1885 ebenda verstorben. Dagegen liefert das Journal pour rire eine nicht ganz seriöse Biographie: "Gustave d'Alaux, né à Ustou, petit village de l'Ariège, célèbre par son école mutuelle de jeunes ours, et l'un des plus remarquables produits intellectuels de sa patrie.- Redacteur de la Revue des Deux Mondes où il publie des situations belges, espagnoles, portugaises, des souvenirs de voyages etc.etc.- Ex-rédacteur de Yex-Messager, de l'exAssemblée, du défunt Spectateur de Londres et de quelques feuilles non moins orléanistes des départements.- Historiographe de l'empereur Soulouque, mais mal en cours.", siehe "Laterne magique des auteurs, journalistes, peintres, musciens, etc.", in: Journal pour rire, 24.7.1852. 41 Die Monographie L'empire de Soulouque übernimmt die Artikel mit leichten Veränderungen und fügt noch eine ausführliche Beschreibung der Krönung hinzu. D'Alaux behauptet darin, er habe in der Zwischenzeit Haiti besucht, was nicht durch neue authentischere Informationen belegt wird.

157 nisse hatte, werden hier d'Alaux' Texte zur genaueren Bestimmung der ideologischen Implikate in chronologischer Reihenfolge analysiert.42 Bei d'Alaux ist das haitianische Volk hauptsächlich damit beschäftigt, von Bananen zu leben und Schlangen anzubeten. Wenn der Autor einleitend erklärt, er hege keine systematischen Ressentiments gegen die Schwarzen, dann muß der Leser rückblickend ein solches Bekenntnis für den fraglos besten Witz in dieser Sammlung skuriler Episoden halten. Der Autor hat diese Reaktion schon bei seinen Vorbemerkungen antizipiert: Le monde noir ... offre en e f f e t . . . une telle confusion de contrastes; la civilisation et le Congo, le touchant et l'atroce, le grotesque et le sang humain s'y mêlent, s'y pénètrent, s'y coudoient avec une telle brutalité d'invraisemblance et d'imprévu, qu'en restant scrupuleusement véridique, je risque d'autoriser à la fois les préventions les plus opposées. (Bd. 8, 1850, S. 773)

Die Fülle der Paradoxiefiguren läßt schon erahnen, daß in Haiti die Karikatur der menschlichen Gesellschaft vorgeführt wird. Der naheliegende Schluß, die Schwarzen seien nicht perfektibel, sollte aber nicht gezogen werden. Im Gegenteil, der Autor begnügt sich nicht mit dem häufig anzutreffenden Verweis auf ähnlich desolate Zustände in den übrigen lateinamerikanischen Republiken, sondern stellt fest, daß die Haitianer, wie neun Zehntel der europäischen Völker, den Fortschritt imitierten, allerdings nähere sich diese Imitation nicht immer auf Anhieb ihrem Vorbild an: L'imitation intelligente. Qu'elle ne soit pas toujours intelligente ici, que cette France aux cheveux crépus offre en ses accoutremens d'emprunt plus d'une incohérence burlesque ou sauvage, cela prouve à la rigueur une chose: c'est qu'on ne va pas en un jour de la rivière de Gambie aux bords de la Seine. (Bd. 8, 1850, S. 774)

Immerhin muß festgehalten werden, daß die Reise von Gambia nach Paris im Prinzip möglich ist. Die Einleitung benutzt den Rassenbegriff innerhalb einer FortschrittsSkala, deren Extreme mit den Begriffen "Zivilisation" und "Barbarei" zu umschreiben sind. Eine ähnliche Terminologie findet man auch in der Schrift des von d'Alaux im übrigen häufig zitierten Lepelletier de Saint-Rémy. Die eigentliche Differenz zwischen beiden Autoren ergibt sich aus dem Perspektivenwechsel zwischen 1844/46 und 1851: Das französische Zivilisationsmodell sei durch die radikalen sozialen Forderungen in der ersten Phase der 48er-Revolution ebenso bedroht worden wie die Mulatten in Haiti von dem parti-ultra-noir (oder ultraafricain), den protestierenden Kleinbauern Acaaus. Während Lepelletier die Piquets noch eher als vorübergehende Erscheinung ansah, bieten diese nunmehr Anlaß, sogar die traditionellen Wahrnehmungsmuster im Verhältnis zwischen Peripherie und Metropole zu verkehren. Nachdem d'Alaux Acaaus berühmte Definition: "Tout nègre qui est riche et qui sait lire et écrire est mulâtre; tout mulâtre qui est pauvre et qui ne sait

42 Hinter den Zitaten wird immer die Nummer des Bandes, Jahr und Seitenzahl in Klammern angegeben.

158 lire ni écrire est nègre." 43 übernommen und damit den Rassengegensatz in einen Klassengegensatz aufgelöst hat, ist es für ihn ein leichtes, die Parallelen zu den französischen Verhältnissen zu zeigen: ... une interprétation dont le génie nègre n'a pas le monopole, traduisit immédiatement la liberté républicaine par le droit de danser, de dormir et de manger les bananes du 'bon Dieu' en prenant le frais dans les bois. La banane, c'est le dîner tombé du ciel, et comme qui dirait le droit au travail de ces socialistes de la nature. (Bd. 8, 1850, S. 795) Dans le paysan nègre, il y a largement, ... , l'étoffe d'un paysan européen. (Bd. 8, 1850, S. 799) ... ceci se passait au mois de mars 1848: 'peuple noir' ne se doutait pas qu'à deux mille lieues de distance, 'peuple blanc' le copiait. (Bd. 8, 1850, S. 1064) Si par hasard on m'accusait de forcer ces rapprochemens, j'en établirais bien d'autres. 'L'innocence malheureuse' joue, par exemple, dans les proclamations d'Accaau (!) le même rôle que 'l'exploitation de l'homme par l'homme' dans certaines autres proclamations. 'L'éventualité de l'éducation nationale', cette autre corde de la lyre humanitaire d'Accaau (!), correspond visiblement 'à l'instruction gratuite et obligatoire', et lorsqu'il réclamait encore au nom des cultivateurs, qui sont les travailleurs de là-bas 'la diminution du prix des marchandises exotiques et l'augmentation de la valeur de leurs denrées', le socialiste nègre avait certainement trouvé la formule la plus claire et la plus saisissable de ce fameux problème des Accaau (!) blancs: diminution du travail et augmentation des salaires. ... il n'y aurait plus qu'à crier à la contrefaçon, si hélas! les contrefacteurs n'était pas de ce côté-ci de l'Atlantique. (Bd. 9, 1851, S. 323) Der Schrecken, den das "mélodrame européen en cent vingt journées" (Bd. 9, 1851, S. 346) den "Junisiegern" eingejagt hat, verändert auch die Darstellung der historischen Gesellschaftsmodelle Haitis. Der Autor bewertet vor diesem Hintergrund zwei Varianten schwarzer Herrschaft, Christophes Königreich und Pétions Republik, mit anderer Akzentuierung als seine französischen Vorgänger. Christophe habe die Diktaturen Toussaints und Dessalines vollendet: On a d'ailleurs beaucoup trop ri de cet innocent carnaval nègre. Chez ces pauvres ilotes africains, qui, pour faire acte d'égalité, ne trouvaient rien de mieux que d'emprunter à l'ancienne aristocratie blanche sa poudre et ses dentelles, il y avait peut-être des aspirations plus sincères de progrès social, de plus véritables instincts démocratiques, comme nous dirions aujourd'hui, que chez les avocats ouvriers et les médecins en blouse de nos lendemains de révolution. (Bd. 8, 1850, S. 793) Ohne eine Kausalbeziehung zu postulieren, soll als Kommentar zu dieser Stelle Chateaubriands Urteil über die napoleonische Herrschaft zitiert werden: ... les Français vont instinctivement au pouvoir: ils n'aiment point la liberté; l'égalité seule est leur idole. Or, l'égalité et le despotisme ont des liaisons secrètes. Sous ces 43 Siehe d'Alaux Bd. 9, 1851, S. 322. Die Einteilung in Mulatten und Schwarze wird in allen Artikeln neben der zweiten in Bourgeoisie und Massen beibehalten, doch belegt gerade der unsystematische Gebrauch beider Unterscheidungskriterien, daß sich der Autor über den Klassen-

159 deux rapports, Napoléon avait sa source au coeur des Français, militairement inclinés vers la puissance, démocratiquement amoureux du niveau.... il nivela les rangs, non en les abaissant, mais en les élevant: le niveau descendant aurait charmé l'envie plébéienne, le niveau ascendant a plus flatté son orgueil. 4 4

D'Alaux urteilt ähnlich über das Regime Christophes, allerdings hauptsächlich, um es aufzuwerten gegen die "plebejische" Möglichkeit der Nivellierung nach unten, wie sie angeblich die Revolutionäre der "120 Tage" zu realisieren gedachten. Gegen solche Egalitäts-Strategien soll Pétions Republik als eigentliches Ideal erscheinen, das der Präsident jedoch wegen des demokratischen Fundaments gegen rivalisierende Gruppen innerhalb der Elite mit einem "18 brumaire à l'africaine" (Bd. 8, 1850, S. 801) habe schützen müssen. Ansonsten zeigte Pétion "dans l'exercice du pouvoir une simplicité et un désintéressement que nous n'osons plus dire républicains" (ebd., S. 792). Das Pétionsche Modell habe sich unter Boyer durchgesetzt, doch auch dieser habe seine Macht mit einigen "Staatsstreichen" gegen das Parlament verteidigen müssen. Als er nicht mehr zu diesem Mittel griff, sei eine weitere rassenübergreifende Klassenkonstante wirksam geworden: ... c'est l'inévitable bourgeois dénonçant le gouvernement de la bourgeoisie. Boyer lui en remontrait avec beaucoup de sens le danger et le ridicule: au bruit de ces querelles m u l â t r e s , . . . , la pure A f r i q u e , . . . , ne finirait-elle pas par se réveiller? Mais, en comprenant que le gouvernement avait peur, l'opposition ne fit que redoubler de violence, et l'Afrique, ... , apprenant à son tour qu'elle faisait peur, résolut d'en profiter à l'occasion, (ebd., S. 802)

Nachdem zwei historische Aspekte bonapartistischer Politik in unterschiedlicher Wertung, die Nivellierung nach oben durch Titelinflation und die Herrschaft der Fähigsten gegen die Partikularinteressen der Bourgeoisie, für die haitianische Vergangenheit exemplarisch illustriert worden sind, geht d'Alaux auf die aktuelle Spielart des Cäsarismus unter den Bedingungen verschärfter Klassenkämpfe ein. Während die Autoren der Juli-Monarchie den Sturz Boyers noch als Wechsel in der Elite interpretierten und dementsprechend die jeweiligen paternalistischen Politik-Modelle empfahlen, konnte nach dem 16.4.1848 in Port-au-Prince und dem Juni 1848 in Paris die Radikalisierung der Massen nicht mehr übersehen werden. D'Alaux stellt daher Soulouques Aufstieg zum Kaiser als die Befreiung aus der Vormundschaft der Mulattenelite qua Mobilisierung der städtischen und ländlichen Unterschichten dar. Am 16.4.1848 seien die Mulatten politisch entmachtet worden. Nur der französische Konsul Raybaud habe durch seinen Mut Soulouque dazu bewegt, daß der "peuple noir" Charakter der Rassengrenze bewußt war und den Rassenbegriff nur einem allgemeinen diffusen Sprachgebrauch entlehnte. 44 Siehe Chateaubriand: Les mémoires d'outre-tombe, Buch 24, Kap. 6, ohne Angabe zitiert bei Furet/Ozouf, S. 228. Der direkte Bezug auf Chateaubriand ist allerdings auch nicht ausgeschlossen, da die Mémoires d'outre-tombe vom 9.1.1849 bis zum 3.7.1850 im Feuilleton der Presse veröffentlicht worden sind, siehe Maurice Levaillants Vorwort zur Pléiade-Ausgabe dieses Werkes, S. XXI.

160 die Bourgeoisie nicht auch noch physisch eliminierte. Andererseits sei es dem Präsidenten durch gezielte Exekutionen einiger Anführer und die Vergabe von Pfründen an andere gelungen, die Proklamation eines "empereur démocratique et social" 45 zu verhindern. Die Bourgeoisie sei ihm als Garanten der Stabilität also letztlich zu Dank verpflichtet gewesen. Erst in dieser Situation habe Soulouque sich zum Kaiser proklamieren lassen: 'Au nom de la nation, nous ... par la grâce de Dieu et la constitution de l'empire', ce qui donne à la fois satisfaction aux partisans du droit républicain, à ceux du droit divin et à ceux du droit constitutionnel... . O n voit que la constitution haïtienne n'a rien à envier, sous le rapport de l'absurde, à quelques autres constitutions." (Bd. 9, 1851, S. 542. Kursivschrift im Original)

Im politischen Koordinatensystem der Zweiten Republik prophezeit d'Alaux mit den Strategien Soulouques karikatural die Entwicklung von der Revolution zur drohenden bonapartistischen Herrschaft, wobei der Autor vor allem die Herrschaftssicherung durch den Appell an die Massen, Revolution, allgemeines Wahlrecht 46 oder Plebiszit ablehnt. Spätere Leser haben die zahlreichen Verweise auf die Klassenkämpfe in Frankreich in der "Hofberichterstattung" der Revue des Deux Mondes kaum wahrgenommen, wohl aber Soulouques Einbindung in das haitianische Kolorit, den "culte de la couleuvre", die "franc-maçonnerie africaine", was ihn zum Voudou-Kaiser abstempelte. Tatsächlich läßt sich dieses Element am schwersten eindeutig der französischen Situation zuordnen. Die Schlangenmetapher ist nicht vollständig auf die JuniInsurgenten 47 anzuwenden. Die Abhängigkeit von Voudou-Priestern kann mit LouisNapoleons Anlehnung an die katholische Kirche in Verbindung gebracht werden (siehe Teil III. 3.4.2: "Le voyage de Soulouque-le-désiré"), aber auch mit Napoleons sprichwörtlichem Aberglauben (Mlle. Lenormand, siehe Cham: Soulouque et sa cour, Abb. 47/48).

45 Siiehe d'Alaux, Bd. 9, 1851, S. 526. Gemeint ist Similien, der Anführer der Unterschichten von P'ort-au-Prince, der "zinglins". Soulouque hatte ihm wenige Tage nach den Kämpfen zwischen den 'zinglins" und den Mulatten zum Polizeipräfekten der Hauptstadt ernannt, um selbst im S.iiden die "piquets" endgültig zu pazifizieren. Nach dem erfolgreichen Abschluß dieser Kamp:agn:, ließ der Präsident den erstarkten Konkurrenten ins Gefängnis werfen, wo dieser Jahre später unter elenden Bedingungen verstarb. 46 Im der Debatte um die Wiedereinführung des allgemeinen Wahlrechts und angesichts der Hoffniungen der dezimierten Montagne auf ein Erstarken bei den kommenden Wahlen beschwört d 'Alaix im Frühjahr 1851 hyperbolisch die Rache der Linken am "parti de l'ordre" herauf, ind(em er den Wahlsieg der "rouges" mit den Gewaltausbrüchen der schwarzen Anhänger Similieins an 16.4.1848 in Port-au-Prince vergleicht, siehe d'Alaux, Bd. 10, 1851, S. 199 Anm. 1. 47 Süehi Oehler, S. 29/30, wo das Schlangenbild, auf die Bourgeois angewandt, als metaphorische! Gegenschlag der Arbeiterpropaganda interpretiert wird. D'Alaux behauptet aber (Bd. 8, i:85C, S. 1041), daß die Voudou-Schlange nicht giftig sei, womit das Merkmal der Gefährlichkceit 'erlorenginge.

161 Wenigstens einige Zeitgenossen wußten noch 1856 anläßlich der Publikation der Artikelserie in Buchform genau zwischen dessen unbestrittenem Unterhaltungswert und der politischen Position des Autors zu unterscheiden. So lobt Taxile Delords Rezension d'Alaux' Kuriositätensammlung aus Haiti, entrüstet sich dann aber abschließend: ... les allusions contre la révolution de février reviennent seulement un peu trop souvent dans ce récit, et lui donnent un air puéril. M. d'Alaux, quoique partisan du principe d'autorité, n'est pas grand admirateur de Soulouque ,.. 48

Ausgerechnet derjenige republikanische Journalist, der im Charivari vor dem Staatsstreich die besten antibonapartistischen Soulouque-Satiren geschrieben hatte, sollte das Verfahren d'Alaux' als "kindisch" abtun 49 ? Delord kennt genau die Technik der chiffrierten Parallelisierung zwischen den haitianischen und den französischen Verhältnissen, nur steht er im anderen politischen Lager und verteidigt die Errungenschaften der 48er Revolution. Die Feststellung, daß Soulouques Hofberichterstatter dem Autoritätsprinzip anhänge, aber gleichzeitig den schwarzen Herrscher nicht liebe, ist daher nur ein scheinbarer Widerspruch. Das vorgetäuschte Unverständnis des Republikaners unterstreicht nur das Dilemma des Ordnungshüters von 1850/51 und erklärt die eigentliche Absurdität seines Unternehmens: Die haitianische Groteske überzeichnet schonungslos die Situation der französischen Bourgeoisie zwischen der Skylla der Arbeiterbewegung und der Charybdis des bonapartistischen Parvenü. Im Gegensatz zum republikanischen Antibonapartismus, der "Haiti" unmißverständlich zum gelobten Land der "burgraves" stilisiert hat, versucht d'Alaux, der Leserschaft der orleanistischen Revue einen ideologischen Spagat zwischen Antibonapartismus und Antisozialismus vorzuführen, der tragikomisch wirken muß, weil er in Frankreich keinen Garanten der Zivilisation ausmachen kann. Die Fraktionen der Orleanisten und Legitimisten sind zerstritten. In Paris gibt es kein Äquivalent des französischen Botschafters von Port-au-Prince. Während der Autor Soulouque attestieren kann, die Anerkennung Frankreichs immer schon gesucht zu haben (Bd. 8, 1850, S. 1045), und gleichzeitig ihm das Bar48 Siehe T. Delord: "Soulouque par M. Gustave d'Alaux", in: Le Siècle, 5.9.1856, S. 3/4. 49 Ebenso scheinbar entrüstet wie Delord gab sich der haitianische Konsul in einem Brief an den Außenminister (siehe III.5.2). Die haitianische Regierung hatte nie gegen Delords Artikel im Charivari protestiert, erst als dieser im "seriösen" republikanischen Siècle das von der diplomatischen Korrespondenz inspirierte Buch d'Alaux' rezensierte, erhielt das Außenministerium ein Protestschreiben, um auf diese Weise die französische Regierung in die unangenehme Situation zu bringen, einen Republikaner in Schutz nehmen zu müssen. Diese Noten müssen als kleine diplomatische Nadelstiche verstanden werden, da der haitianische Konsul aus Erfahrung wußte, daß die französische Regierung wegen einer Reklamation der Soulouque-Regierung kein Avertissement verhängen würde. Dennoch versäumte er nie den Hinweis darauf, daß bei anderen Staatsoberhäuptern eine regierungsamtliche Verwarnung an Journalisten wegen Verunglimpfung durchaus üblich sei, womit von haitianischer Seite deutlich gemacht wird, daß das von der französischen Regierung tolerierte Lächerlichmachen Soulouques in seiner Funktion, die heimische Presserepression zu verschleiern, durchschaut ist.

162 barei-Stigma anheftet - ein weiterer Beleg dafür, daß es bei d'Alaux um die Denunzierung des politischen Modells geht - , wird die innenpolitische Szene der Dominikanischen Republik ausschließlich nach dem Kriterium der Francophilie, das heißt der möglicher Agenten französischer imperialistischer Interessen, beurteilt. Schließlich bietet sich hier eine junge Republik zum Protektorat an, nebst der Aussicht, die Bucht von Samana als Flottenstützpunkt zu nutzen. Da werden zwei durchaus verschiedene Grundbesitzertypen, der in Frankreich erzogene Baez und der quasi illiterate, machetenbewaffnete Viehtreiber Santana als Männer der Tat zu natürlichen Verbündeten gegenüber dem geschwätzigen Jimenez, der sich mit den Kräften, die auf nationale Unabhängigkeit bedacht sind - für sie steht der dunkelhäutige Puello verbündet. Mit ausdrücklicher Erwähnung von d'Alaux bringt die Illustration (Abb. 118) einen Artikel über die Dominikanische Republik, der die Kehrseite der haitianischen Medaille, die bisher von Guilliod de Léogane vorgestellt worden war (siehe Abb. 10), illustrieren soll. Die Zeichnungen (Abb. 118) halten sich genau an die Beschreibung aus der Revue des Deux Mondes und signalisieren Katholizismus, stämmige Bodenständigkeit und feingliedrige Noblesse. Das schwarze Element fehlt. Als d'Alaux schließlich nicht umhin kann festzustellen, daß sowohl England als auch die USA wie Frankreich daran interessiert sind, den Ostteil der Insel vor dem Übergriff der schwarzen Horden aus dem Westen zu schützen, müssen andere Kriterien dem französischen Parlament klar machen, daß es endlich dem sehnlichen Wünschen Santanas und Baez nachgeben und internationale Rücksichten aufgeben soll: ... la France, en dehors même des garanties morales et materielles qu'elle offre par son droit spécial sur l'ouest, droit qui ne saurait expirer qu'avec la dernière échéance de l'indemnité, ..., en dehors même du contraste de son désintéressement avec l'ardente convoitise de l'Angleterre et des Etats-Unis, ... , la France, ... , est la seule dont le patronage soit tolérable et enviable pour les Dominicains. L'Angleterre et les Etats-Unis, c'est sans doute la force, la sécurité, la richesse, le progrès matériel; mais le protectorat anglais, c'est le protestantisme; mais le protectorat américain, c'est, avec l'invasion du protestantisme, la tyrannie de cet inexorable préjugé de couleur ... (Bd. 10, 1851, S. 498) Nachdem außerdem noch Spanien wegen der Sklaverei auf Cuba und Puerto-Rico als mögliche Schutzmacht ausfällt, zeichnet sich hier bereits, neben den massiven militärischen Interessen im Hinblick auf Haiti, eine Argumentation ab, die Frankreich zur katholischen Großmacht im lateinischen Sprachraum erhebt. Diese Doktrin wird als Pan-Latinismus für die Mexiko-Expedition bestimmend sein 50 . Doch sind "die Lateiner" noch nicht bereit, einen grundlegenden Unterschied zwischen den Großmachtinteressen Frankreichs und denen der anderen Nationen zu sehen. Obwohl die Bewohner der Dominikanischen Republik von d'Alaux aus den oben 50 Über die Mischung aus saint-simonistischer Modernisierungstheorie, Katholizismus und Reminiszenzen an den Ägypten-Feldzug Napoleon I., die in Michel Chevaliers Latinismus-Konzept eingehen, siehe Minguet. Rojas Mix weist auf die fortschrittlichen Ursprünge des Latinismus in der Philosophie des Chilenen Bilbao hin.

163 genannten Gründen ungleich besser behandelt werden als die Haitianer, wird dort mit anonymen Pamphleten gegen die "osadia(!) ... mas(!) infame, grosera, é(!) injusta" 51 protestiert. Ein Jahr später veröffentlicht in Philadelphia ein anonymer Britannicus eine Gegenschrift zu d'Alaux, die sofort in Santo Domingo verbreitet wird. Der dortige französische Konsul muß zugeben, durch die Artikel der Revue in Schwierigkeiten zu geraten, spricht doch der Verfasser, der im Umfeld des englischen Konsuls Schomburgk zu suchen ist, bereits im Vorwort auf das französische Streben an, die jüngsten Ereignisse zum Exportprodukt zu machen: ... the articles in question; ... s h o w that, e v e n in our days, Machiavelian tricks are resorted to e f f e c t a 'coup d'état'. 52

Mit den gar nicht so grotesken Artikeln über die Dominikanische Republik hat d'Alaux wohl zu glaubwürdig die Meinung von Teilen der französischen Diplomatie wiedergegeben. In den innen- und außenpolitischen Kämpfen in Santo Domingo konnte der Protest gegen d'Alaux, dem Britannicus ja unterstellte mit Raybaud identisch zu sein, eine ganz andere Wirkung entfalten als in Haiti. 2.1.2 Ästhetikentwürfe für Haiti D'Alaux hatte seine pessimistisch komische Darstellung der Geschichte und Politik Haitis sowie die zukunftsorientierte Apologie eines französischen Zivilisationsexpansionismus gerade abgeschlossen, als in Paris Louis-Napoleons Staatsstreich auch der Presse die innenpolitischen Nadelstiche verbot. Also lag es nahe - wenn man weiterhin ein latentes Haiti-Interesse beim Leser befriedigen wollte - , sich gemäß der neuen Gesetzgebung dem weniger verfänglichen Feuilleton, der Literatur, zuzuwenden. Die Artikelserie über die kulturellen Hervorbringungen der dunkelhäutigen Francophonie zeugt jedenfalls von einer Interessenverlagerung fort von der direkten politischen Anspielung - d'Alaux läßt einige Hinweise einfließen 53 - zu Überlegungen hinsichtlich der Umsetzung zivilisationstheoretischer Annahmen in den Gattungskanon. Schon die Titel der Abhandlungen "Les Moeurs et la littérature nègre" und "La Littérature jaune" suggerieren eine ästhetische Kategorisierung basierend auf einer rassistischen Farbskala. Paradoxerweise ermöglicht gerade die Abschaffung der Sklaverei, daß

51 Siehe AAE, CP Santo Domingo, Bd. 4, Lamieussens an den Minister, 1.5.1851 und für das britische Pamphlet derselbe, 7.8.1852. 52 Siehe Britannicus, S. 4. 53 Der zynischste antisozialistische Ausfall: "... bon nombre de noirs ... que la révolution coloniale alla prendre en quelque sorte dans les mains des négriers ... passèrent ainsi sans transition du sans-culottisme physique au sans-culottisme politique, ..." (Bd. 14, 1852, S. 763). Als antibonapartistischer Hinweis auf die Unterdrückung der parlamentarischen Opposition bei gleichzeitiger Beibehaltung einer konformen parlamentsähnlichen Öffentlichkeit kann folgende Passage gelesen werden: "... c'est Soulouque criant tout d'une haleine: Vive la liberté! et vive l'empire! ... - emprisonnant, déportant ou fusillant sans pitié tout député ou sénateur qu'il soupçonne de parlamentarisme, mais conservant avec obstination son parlement." (Bd. 15, 1852, S. 945).

164 man nicht mehr aus humanitären Gründen auf die Schwarzen Rücksicht nehmen muß. Haiti kann nunmehr ohne Skrupel als "Laboratorium" farbiger Kulturfähigkeit angesehen werden. Wenn auch nach dem 2. Dezember an der republikanischen Errungenschaft der Abolition festgehalten wird, so ermöglicht doch der Blick auf die Kultur der Ex-Sklaven eine kritische Auseinandersetzung mit den republikanischen Vordenkern der Freiheit der Schwarzen. D'Alaux' Titel knüpft an Abbé Grégoires 1808 ungleich subversiveres Werk De la littérature des nègres an, mit dem dieser zumindest implizit als einziger öffentlich in Frankreich gegen die Wiedereinführung der Sklaverei durch Napoleon protestiert hatte. Ganz in der Tradition Grégoires sammelte auch der jüngst exilierte Victor Schoelcher Zeugnisse kultureller Leistungen der Schwarzen, - gegen ihn zu polemisieren, war unter dem Staatsstreichhelden kaum riskant. Das bonapartistische Konkurrenzblatt, die Revue Contemporaine, ließ vier Jahre verstreichen, bis Alexandre Bonneau seine Ansichten zur Lage der französischen Literatur in Haiti ausführlich darlegte. 1856 hatte Soulouque eine vernichtende Niederlage gegen die Dominikanische Republik erlitten und Napoleon III. befand sich als Gastgeber des Pariser Kongresses auf dem Höhepunkt seiner außenpolitischen Erfolge. Die beiden Imperatoren boten also ein höchst unterschiedliches Erscheinungsbild, so daß ein Vergleich sich weniger als zuvor aufdrängte. Auch Bonneau scheint - ohne ersichtlichen Bezug zur Aktualität - das schwarze Kaiserreich als Testfall für die Anwendbarkeit seiner Rassentheorien anzusehen. Ein Vergleich zwischen beiden Kritikern kann also zu einer präziseren Bestimmung des Gebrauchs von Rassenkonzepten führen sowie weitreichende Perspektiven auf das bis heute ungeklärte Verhältnis zwischen Metropole und Peripherie auf dem Gebiet der literarischen Produktion im gleichen Sprachraum eröffnen. 2.1.2.1 Le merveilleux

haïtien

100 Jahre vor Alejo Carpentiers berühmtem Vorwort zu El reino de este mundo, in dem der Cubaner am Beispiel der haitianischen Geschichte programmatisch und polemisch zugleich das reale "maravilloso" Lateinamerikas gegen das artifizielle "merveilleux" des Surrealismus ausspielen und damit das Manifest für die Ästhetik der sogenannten Boom-Literatur aufstellen sollte, führte Gustave d'Alaux die Kategorie des "merveilleux" ein, um die gleichen, sich dem kartesianischen Zugriff entziehenden Elemente der Kultur Haitis, die auch Carpentier faszinieren sollten, ironisch abzuqualifizieren. Explizit oder implizit reagieren alle drei Ästhetiken mit der Wiederentdeckung des "merveilleux" auf dessen Verbannung aus der französischen Literatur durch die "Doctrine Classique". Während es im surrealistischen Manifest ausschließlich als ästhetische, wenn auch dem zeitlichen Wandel unterworfene Größe

165 gesehen wird 5 4 , baut Carpentier g e g e n die klassizistische Kunst Europas - seine Polemik legt nahe, daß er den Surrealismus noch in dieser Tradition sieht - die Natur und Geschichte Lateinamerikas als wirklich "maravilloso" auf, die allerdings ebenfalls der literarischen Bearbeitung bedürften. W i e d'Alaux postuliert er dabei eine andere "Wirklichkeit" als die europäische. Es stellt sich die Frage nach den Konstituenten dieser anderen "Wirklichkeit". Ausgehend von der rassistischen Annahme, daß die Schwarzen keine eigene Kultur hätten, sondern von einem "peuple singe" 5 5 abstammten, seien sie, so der Kritiker der Revue,

nur zur Imitation fähig. Durch Analogieschlüsse meint er b e w e i s e n zu können,

daß das "Affenvolk" von Äthiopiern, Ägyptern 5 6 , Chaldäern, Juden, Persern, Indern, Syrern, Römern, Vandalen, spanischen Mauren, Griechen, Kopten, Chinesen und Malayen den j e w e i l i g e n Fetischismus übernommen habe, um dann in der Sklaverei diesen "cabalistique bric-à-brac" mit katholischer Idolatrie und karibischem "surnaturel" anzureichern: Nos boucaniers et nos engagés vinrent enfin saupoudrer le tout de féerie celto-romaine et imprimer le sceau d'une véritable universalité à cette complexe initiation. 5 7 Hier wird chauvinistisch jener Synkretismus beschrieben, der für Carpentier und andere die Basis des universalen Anspruchs ihrer Literatur werden soll. W i e manifestiert sich aber diese "complexe initiation"? D i e Schwarzen nutzten die Schrift, das "papier parlé", nur als Fetisch, und die Mulatten hätten bisher, wenn auch nicht ohne Talent, die französische Literatur allzu sehr imitiert. S o sieht sich der Autor g e z w u n g e n , auf den sonst nicht sonderlich geschätzten Victor Schoelcher 5 8 zurückzukommen und eine Art "oraler Literatur" avant la lettre einzuführen:

54 Breton geht sogar soweit, das "merveilleux" bei dem herausragenden Tragödienautor Racine und nicht etwa bei Corneille - zu finden: "... le merveilleux est toujours beau, /... / Le merveilleux n'est pas le même à toutes les époques; ... Ce sont les potences de Villon, les grecques de Racine, les divans de Baudelaire.", siehe A. Breton: Manifestes du surréalisme, S. 24/26. 55 D'Alaux übernimmt den Begriff aus den heiligen Schriften der Brahmanen Indiens, die berichten, der Gott Rama habe ein "peuple singe" von dort nach Ceylon vertrieben, das dann Ozeanien und Afrika besiedelt habe, siehe d'Alaux, 14, 1852, S. 770, Anm. 1. 56 Abessinier und Ägypter wurden wegen des christlichen Glaubens und der antiken Kultur nicht als Schwarze angesehen, selbst wenn Volney bereits 60 Jahre zuvor im 22. Kapitel von Les Ruines darauf hingewiesen hatte, daß es Schwarze waren, die am Oberlauf des Nil die Astrologie entwickelt hatten. 57 Siehe d'Alaux, Bd. 14, 1852, S. 771. 58 Schoelcher präsentiert im Anhang von Des colonies françaises, S. 417-434, die bis dahin beste Dokumentation von Kreol-Sprichwörtern, um in diesen oral tradierten Lebensweisheiten eine den Sklaven abgesprochene Philosophie nachzuweisen. Auch flicht er in seinen eigentlichen Reisebericht mehrfach Kreol-Sentenzen ein, wobei sie allerdings immer als "naives" qualifiziert werden. Sein Kapitel über die Literatur Haitis erwähnt die orale Tradition nicht. D'Alaux ist der erste französische Kritiker, der sie als Inspirationsquelle für die haitianische Literatur erkannte.

166 - car il y a ici un génie national, toute une littérature rêvée, chantée, dansée, contée, qui n'attend peut-être que sa formule écrite pour devenir un des plus curieux chapitres de l'histoire des idées et des races." (Bd. 14, 1852, S. 764)

Hier werden Elemente eines "erweiterten" Literaturbegriffs benutzt, die noch im ersten Kapitel der Poetik des Aristoteles die Ursprünge der späteren Gattungen umschrieben. Carpentier wird in El reino de este mundo die "himnos mágicos,... que aún se cantan en las ceremonias del Vaudou" 5 9 in die epische Beschreibung der Taten Makandals überführen. D'Alaux geht in der Folge nicht so sehr auf die "littérature rêvée" ein, sondern mehr auf die gesellschaftskritische Funktion der oralen Literatur. An zahlreichen Beispielen zeigt er, wie zuerst die Sklaven und dann die Untertanen der jeweiligen schwarzen Diktatoren ihre bedrückenden Lebensumstände in zweizeilige KreolSprichwörter faßten. Es folgen - als etwas komplexere Gattung - die von professionellen "zambas" dargebotenen Stehgreifgesänge, die, vor allem in Verbindung mit dem Nationaltanz, dem "carabinier", anwesende Personen parodierten. Schließlich wird noch des "candió", des Geschichtenerzählers gedacht, der über ein bekanntes Thema variiert, insbesondere über Tierfabeln und den ewigen Kampf zwischen Bouki und Petit-Malice: Bouki résume à lui seul la colossale goinfrerie de l'ogre français, la vigueur bonasse du Caragheuz turc, et l'épaisse bêtise du niais des atellanes antiques, le tout fondu dans un bain de tafia. Petit-Malice, au contraire, cumule dans un corps de nain le génie inventif du Petit-Poucet avec la malfaisante taquinerie de notre Polichinelle de foire."(Bd. 14, 1852, S. 792)

Wie nun diese literarische Tradition in die von Mulatten geschriebene Literatur eingehen solle, dafür gäbe es bisher kaum Beispiele, da sich die Komödien eines Duprez oder die costumbristischen Zeitungsartikel eines Ignace Nau an den Gebräuchen der städtischen Bevölkerung, wie der ständigen Auseinandersetzung um Heirat und Konkubinat, oder der Prunksucht der Militärs orientierten. Bei der Bewertung der haitianischen Historiographie wird d'Alaux an einer bezeichnenden Stelle konkreter. Zunächst geht er traditionell vor, indem er einerseits nach den ideologischen Prämissen und andererseits unter dem Gesichtspunkt der stilistischen Reinheit und der Klarheit des Aufbaus kritisiert. So wird Hérard Dumesles Voyage dans le Nord d'Haïti zwar wegen der politischen Linie akzeptiert, die Vermischung von Reisebericht und Geschichtsschreibung aber als "irresponsabilité" abgetan 60 . Demgegenüber verurteilt der Kritiker den Apologeten Christophes, Vastey, wegen seiner Parteinahme für die Schwarzen, zollt ihm aber wegen seines schönen Stils und anderer "gesunder" politischer und ökonomischer Ideen zumindest teilweise 59 Siehe A. Carpentier: El reino de este mundo, Vorwort, S. 56. 60 Daß Herard Dumesle sich auf ein französisches Vorbild, Volneys Les Ruines, beruft, legitimiert scheinbar für d'Alaux die Mischung der Gattungen genausowenig wie der Verweis auf Lawrence Sternes Sentimental Joumey.

167 Lob. Boisrond-Tonnerres Apologie Dessalines' lasse kein differenziertes Urteil zu, sie wird als "Rum-Faß-Produkt" abqualifiziert. Nur Ardouins Geographie

d'Haïti erfreut

sich - in diesem Koordinaten-System - ungeteilter Wertschätzung. Offensichtliche Probleme bereiten d'Alaux die drei Bände der Histoire A/om'fetir-Chefredakteurs,

Madiou.

Dieser

verdiene

als

Initiator

d'Haïti des der

neuen

Geschichtsschreibung Anerkennung, müsse aber alles neu schreiben, da Fakten und N a m e n zu einem ungeordneten Gemisch zusammengetragen worden seien. Diese Unordnung - gemeint ist wohl das Fehlen einer kohärenten Theorie, Madiou hat sein Werk rigoros chronologisch aufgebaut - bewirke immerhin, daß der "coloris local" erhalten geblieben sei, u m den sich alle haitianischen Historiker b e m ü h e n sollten: - Oh! les curieuses p a g e s de C o o p e r et les bons proverbes de Cervantes 6 ' que nous ont gâtés là, ... , la plupart des ... historiens d'Haïti ! Toute cette histoire qui pourrait être faite en dictons et en i m a g e s , on nous l'a delayée en discours à la façon de TiteLive et en s y s t è m e à la façon de l'abbé Raynal. (Bd. 16, 1852, S. 1078)

Als Beleg läßt d'Alaux eine Auflistung von Kreol-Sprichwörtern zu j e d e m herausragenden Ereignis der Revolution folgen, wobei er verschweigt, daß die Mehrzahl seiner Zitate aus der Histoire

Madious stammen. Dieses Schweigen, verbunden mit

der Kritik am Republikanismus (Titus Livius) und am Anti-Kolonialismus (Raynal) aller haitianischen Historiker, verrät mehr als es verhüllt: W a s den französischen Kritiker an Madiou fasziniert, ist die zuvor diagnostizierte stilistische Schwäche, die die Stimmen der Revolutionsveteranen ungefiltert zu Wort k o m m e n läßt und damit die Methode, die "oral history", in den Text integriert. E s soll eine Geschichte geschrieben werden, die über die Artikulation der Volkskultur die B e w e g g r ü n d e f ü r die Revolution transparent m a c h t - hier nähert sich der Orleanist Michelets Geschichtskonzept an - , deren Ziel aber in der Ausbreitung der Zivilisation liegen soll. Wie dieses D i l e m m a zu lösen ist, wird am Ende des Artikels über die Sitten der Schwarzen angedeutet. Letztere stünden kurz vor d e m Untergang: Die W e i ß e n seien als Garanten der Sprachenvielfalt und des Plantagensystems nicht mehr vorhanden, die Schwarzen isolierten sich durch die Landverteilung, was ihren Kreol-Sprachschatz vermindere, die gebildeten Mulatten und Schwarzen führten die "Afrikaner" in die Freimaurerlogen ein, w o sie französische R e d e n und rationalistische Moral kennenlernten, und schließlich seien die "candios" in Folge der Agitation von 1848 zu Würdenträgern Soulouques aufgestiegen und hätten sich v o m Volk getrennt. D e n Mulatten k ä m e nun die A u f g a b e zu, die untergehende Tradition zu kodifizieren; sie erreichten damit ein

61 Es ist bemerkenswert, daß der sonst so chauvinistische d'Alaux als vorklassischen ReferenzAutoren Cervantes wählt und nicht Rabelais. Auch hier findet sich wieder eine Parallele-ictr Carpentier, der in seinem Vorwort die Volkskultur, die die französischen Adepten des "künstlichen Wunderbaren" mißachten, im Quijote und den Novelas ejemplares aufgehoben sieht und deren Schöpfer er als einzigen spanischen Schriftsteller zitiert, siehe Carpentier, a.a.O., S. 5 1 / 5 3 .

168 doppeltes Ziel: sie schrieben gegen die Rassenvorurteile an und verschafften sich mit einer eigenständigen Literatur Zugang zum französischen Lesepublikum. D'Alaux' Konzept war schon wenige Jahre zuvor in der chilenischen Peripherie realisiert worden und zwar von dem exilierten Argentinier Sarmiento in seinem Geschichtswerk Facundo - Civilización y barbarie, das sich ebenfalls auf den nordamerikanischen Fachmann für die von der Modernität verdrängten Kulturen, den Romancier Cooper, berief. Der Geschichtsentwurf Sarmientos wurde 1846 ausführlich von Charles de Mazade in der Revue des Deux Mondes62 rezensiert. Ob sich d'Alaux nun von Sarmiento hat inspirieren lassen oder nicht, mag dahingestellt bleiben, entscheidend ist jedoch, daß beide für die Darstellung eines Landes, in dem europäische und barbarische Gesellschaftsformen gegeneinander kämpfen, fordern, daß die Kulturelemente der Barbarei in ihrer Ausdrucksform möglichst authentisch dargestellt werden sollen. Im realen Alltag komme ihnen kein Platz mehr zu, da sie auf gewaltsame Weise oder durch Erziehung von der Zivilisation verdrängt werden müßten. Sowohl der Argentinier als auch der Franzose sehen in den jeweiligen Gesellschaften zum Zeitpunkt ihres Schreibens die Kräfte des Fortschritts noch durch eine barbarische Diktator unterdrückt, doch glauben beide an den universalen Sieg der Zivilisation. Der Literatur kommt daher die Aufgabe zu, der besiegten Barbarei in der nationalen Epik einen zentralen Platz zu sichern. Sarmiento versteht den Facundo als eine Grundlegung der Literatur Argentiniens, implizit fordert er damit eine dem Gegenstand angemessene Ästhetik, die zugleich die Befreiung von allen akademischen, thematischen und gattungsmäßigen Einengungen herbeiführt. Diese Forderung wird im Facundo realisiert 63 . Der mit grotesken Details gespickte Entwurf einer haitianischen Nationalliteratur vonseiten des chauvinistischen Franzosen enthält - so blasphemisch es auch klingen mag - ähnliche ästhetische Konsequenzen aus dem Fortschrittskonzept wie bei Sarmiento, nur hält er noch am Gattungskanon fest. 100 Jahre später konstatierte Carpentier, daß die zivilisationsfeindlichen Elemente nicht gänzlich vom peripheren Kapitalismus zerstört worden sind. Da der Fortschritt inzwischen nicht nur in Lateinamerika seine mörderische Seite gezeigt hat, werden nunmehr die noch lebendigen barbarischen Residuen zur eigentlichen Kultur erklärt und der Süden Amerikas zum nicht-kartesianischen Kontinent ausgerufen.

62 Siehe Mazade, Charles de: "Facundo. Civilisation et barbarie", in: Revue des Deux Mondes, 15.11.1846. Das Werk wird nochmals vom selben Autor angesprochen in: "Le socialisme dans l'Amérique du Sud", a.a.O., 15.5.1852. 63 Siehe das Vorwort von Noë Jitrik zu der Ayacucho-Ausgabe von Facundo.

169

2.1.2.2

Die Penetration

Afrikas

In seiner ausführlichen Studie "Les noirs, les jaunes et la littérature française en Haïti" folgt Alexandre B o n n e a u 6 4 nicht nur im Aufbau der Vorlage d'Alaux', sondern übernimmt z u m Teil fast wörtlich dessen Kritiken 6 5 . D i e s ist u m s o erstaunlicher, als er sich auf zusätzliche Informanten beruft, w i e z u m Beispiel Liautaud Ethéart und Beaubrun Ardouin oder einen der besten Kenner der iberischen und lateinamerikanischen Kultur, Ferdinand Denis 6 6 . Die "couleur locale" - darunter werden die Gebräuche der Schwarzen, aber auch die tropische Natur verstanden - solle die Originalität der haitianischen Literatur ausmachen, sie habe darin nur dem nordamerikanischen Modell zu folgen, ohne allerdings die Regeln der französischen Sprache zu verlassen. Wenn Autoren wie Ignace Nau in Le Lambi

oder Saint-Rémy den Gebrauch v o n Kreolismen als spezifi-

sches Element ihrer Schreibweise reklamierten, werde der französischen Sprache bereits zuviel "couleur locale" zugemutet:

64 Alexandre Bonneau, geb. 26.4.1820 in Exoudun (Deux-Sèvres), stammte väterlicherseits aus einer protestantischen Familie. Er studierte Altphilologie und Philosophie in Toulouse und Straßburg, bevor er ein Rechtsstudium in Paris begann, das er aber wegen seiner literarischen Ambitionen aufgab, er blieb jedoch weiterhin ein ständiger Besucher der Vorlesungen Michelets und Quinets. 1845 ging er als Kolonialbeamter nach Algerien. Anfang der 50er Jahre war er Mitarbeiter der Revue Contemporaine, 1858 politischer Redakteur der Presse. 1859 wechselte er zur neugegründeten linksbonapartistischen, saint-simonistisch inspirierten Opinion nationale. Sein politischer Standpunkt wird bei Brisson/Ribeyre (S. 173) wie folgt definiert: "Si M. Bonneau jouit d'une haute réputation à Turin, en revanche, il n'est pas en odeur de sainteté à Rome, et nous pouvons ajouter qu'il serait aussi mal reçu à Constantinople qu'à Saint-Pétersbourg." Seine in der gleichen Kurzbiographie vorgestellten lyrischen Versuche sind nicht gerade dazu angetan, ihn als Kritiker seiner haitianischen Kollegen zu qualifizieren. Der Autor selbst scheint auch nicht mit seinen Gedichten zufrieden gewesen zu sein, da er den Lyrikband aus dem Verkauf nehmen ließ, siehe ebd. S. 173 ff. und Grande Encyclopédie von Larousse Stichwort "Bonneau". Vor seinem Artikel "Les noirs, les jaunes et la littérature française en Haïti" hatte er bereits zwei ausgewogene und positive Rezensionen über die ersten 5 Bände von Ardouins Etudes sur l'histoire d'Haïti (in: Revue Contemporaine, 19, 1855, S. 721-724) und über Emile Naus Histoire des Caciques d'Haïti (in: Revue Contemporaine, 20, 1855, S. 722-725) veröffentlicht, in letzterer geht er nicht darauf ein, daß Nau dem Adel Soulouques angehörte, was er im Falle Madious nicht zu erwähnen versäumt. Auch später erwies sich Bonneau als der Apologet Ardouins, es folgten Rezensionen der weiteren Bände der Etudes in der Presse (8.9.1858), in der Revue Contemporaine (Jan.-Feb. 1859, S. 223-228) und schließlich ein Nachruf in der Opinion Publique und in der Illustration (siehe V.4.2). 65 Zum Beispiel über Boisrond-Tonnerre: "... c'est sous l'influence du tafia, pris à la plus haute dose, qu'il écrivit, ..." (Revue Contemporaine, 29, 1856, S. 140). Da im folgenden ausschließlich dieser Artikel besprochen wird, werden die Seitenzahlen in Klammern ohne weitere Angabe hinter das Zitat gesetzt. 66 Das von Bonneau benutzte Material für eine in Aussicht gestellte Anthologie (S. 120 Anm.l) der Lyrik von "Barbaren" findet sich nicht in Denis' Nachlaß in der Bibliothèque Sainte Geneviève, der letzterer lange Jahre vorstand.

170 On peut observer la couleur locale sans hérisser la langue d'expressions qui lui font violence. La recherche du naturel n'est pas une chose qui doive être prise à la lettre; autrement on serait tenu, quand on fait parler un noir, de lui mettre du pur patois dans la bouche. (S. 127/28) Hier zeichnet sich eine Differenz zu d'Alaux ab, der durchaus die Andersartigkeit der schwarzen Kultur in der Literatur auch sprachlich dokumentiert sehen will, während Bonneau die Reinheit der metropolitanen Sprache gewahrt sehen möchte. Doch beschränkt sich der Purismus nicht allein auf die Literatur, was in den theoretischen Vorüberlegungen und im Nachwort ausgeführt wird. Bonneau benutzt die Abhandlung über die haitianische Literatur, um das Problem des Fortschritts auf der Karibikinsel endgültig biologisch zu lösen. Zunächst konstatiert er, daß die Kultur der Afrikaner seit Jahrtausenden stagniere. Wenn es Kulturen gegeben habe, die auf afrikanischem Boden Zivilisationen hervorbrachten, so seien in deren Adern Anteile fremden Blutes geflossen, womit auch hier wieder die Zugehörigkeit der Ägypter und Abessinier zur schwarzen Rasse abgestritten wird. Diese habe nur rudimentäre Kommunikationsformen entwickelt, in denen Verben und Tempusbildungen kaum vorkämen. In dieser Tradition stehe auch das Kreol. Die von Grégoire und anderen vorgebrachten Beispiele gebildeter Schwarzer leugnet der Autor nicht, doch seien diese alle in Europa ausgebildet worden, ebenso wie die beiden einzigen Schwarzen Autoren Haitis, Isaac Louverture und Darfour 67 , in Frankreich zur Schule gegangen seien. Allein aus sich heraus habe die schwarze Rasse keine Literatur hervorgebracht. Die Beispiele kreolischer Literatur seien von Mulatten zu einem "genre hermaphrodite" (S. 119) kodifiziert worden. Doch sei es selbst bei den Mulatten angebracht, auf die Blutmischung zu achten - Moreau de Saint-Mérys Farbskala biete sich als Klassifikationshilfe an - denn nur diejenigen mit dem größten Anteil weißen Blutes erzielten wahre kulturelle Leistungen, aus diesem Grunde werde Alexandre Dumas fils die literarische Qualität seines Vater einholen (S. 138). Genauso wenig wie sie Literatur hervorbringen könnten, hätten die Schwarzen die Unabhängigkeit Haitis sinnvoll zu nutzen vermocht: Au lieu d'apprendre, les noirs ont oublié; au lieu de travailler, ils se sont endormis; au lieu de se grouper autour des mulâtres représentant parmi eux l'intelligence et la lumière, ils les ont deux fois décimés; au lieu de recevoir parmi eux les hommes de l'Europe, ils ont voté des lois pour leur interdire le pays. (S. 149) 67 Bonneau geht soweit, Boyers Zensurmaßnahmen gegen den schwarzen Journalisten und Hauptfeind der Mulattenelite, Darfour, sowie dessen spätere Hinrichtung (1822) zu rechtfertigen. Zum Beleg zitiert er dessen Vierzeiler, der zwar nicht die Qualität der Châtiments aufweist, aber doch ein drastisches antidiktatorisches Bild zeichnet, das vor allem dem französischen Leser den Zensurakt sofort nachvollziehbar macht: "Il faut de l'abus du pouvoir / Abhorrer, saper l'arbitraire. / Il faut écraser l'encensoir / Sur la tête du mercenaire!" (S. 135) Für den französischen Bonapartisten haben die Methoden, die er sonst Soulouque vorwirft, einen ganz anderen Stellenwert, wenn sie von einem Mulatten gegen einen Schwarzen angewandt werden. Zu Darfour, siehe Nicholls, S. 72/73.

171 Man könne sich nicht vor der Wahrheit verschließen, der eigentliche Beitrag der Afrikaner zur Zivilisation bestünde in der Sklaverei, in diesem grausamen System haben sie als "machines vivantes" ungeheure Reichtümer hervorgebracht. Doch die eigentliche Berufung der Schwarzen in der Menschheitsgeschichte stehe noch aus, ihre Selbstauflösung: Or, toute race inférieure est destinée à disparaître un jour de la surface du globe. ... embrassant la question sous ses deux faces, on se dit: ou les nations européennes sont les plus cruelles, les plus perverses, les plus abominables des races humaines, ou elles accomplissent nécessairement, fatalement, aveuglement même, une loi mystérieuse et un décret de la Providence. (S. 150)

Die weniger grausame Seite der "Providence" sieht so aus: Les populations noires, cernées de tous côtés par les Européens, qui cherchent à pénétrer jusqu'au foyer même de leur race, doivent donc subir le sort commun à toutes les tribus barbares. ... La Providence a décrété le mariage des deux races, et la civilisation le consommera. (S. 151)

Die "providence", die schon Louis-Napoleon als Legitimation zur Eliminierung der französischen Republik gedient hat, soll nun auf Weltniveau ihre zivilisatorische Ordnungsaufgabe erfüllen. Die Wortwahl verrät, daß die hier angestrebte Massenhochzeit einer Vergewaltigung gleichkommt. Damit führt Bonneau nur konsequent zu Ende, was die saint-simonistischen Rassentheoretiker Gustave d'Eichthal und Victor Courtet 68 in ihren Schriften bereits angelegt hatten:

Exkurs D'Eichthal propagierte in seinem Briefwechsel mit dem zum Islam konvertierten Mulatten aus Guyane, Ysmail Urbain, noch eine idealistische Lösung der Sklavenfrage: den freien Zusammenschluß beider antagonistischer Rassen, der weißen männlichen und der schwarzen weiblichen; die aus dieser Verbindung entstehenden Mulatten würden als neue Rasse die Antillen bevölkern und von den Eltern die jeweils positiven Eigenschaften übernehmen. Beispiele für Abwesenheit des Rassenvorurteils und der -Vermischung fänden sich in der islamischen Welt, wo die afrikanischen Sklaven mit ihren arabischen Herren in einem Zelt lebten oder auch im familiären Umgang der Spanier, in deren Adern maurisches Blut fließe, mit ihren Sklaven auf Cuba. Nicht so organisch und daher kaum nachahmenswert sei eine Befreiung nach dem haitianischen Modell, wo die Schwarzen entgegen ihren Sitten und dem "génie de la race" nur die "mode constitutionnelle" der Epoche nachahmten. 69 68 Der Hinweis auf diese beiden Rassentheoretiker und ihren Einfluß auf Gobineau findet sich an mehreren Stellen in der sehr ausführlichen und reich dokumentierten "notice" von Jean Boissel in der Pléiade-Ausgabe der Oeuvres Gobineaus, S. 1216-1278. 69 Siehe d'Eichthal/Urbain, S. 41, 52, 57. Die Schilderung der albanischen Zustände übernimmt d'Eichthal aus Michel Chevaliers Reisebericht im Journal des Débats, 27.2.1838.

172 Die gewünschte spontane Vereinigung der Rassen könne nur über einen Sinneswandel der Weißen Zustandekommen, was d'Eichthal an seinem eigenen Beispiel zu belegen sucht: Il a fallu que je visse clairement combien de désordre et de souffrances résultent pour notre société du développement excessif de la puissance intellectuelle, pour que je comprisse aussi tout ce que valent les vertus des noirs, leur calme, leur naïveté, leur bonté, la fraîcheur même et la délicatesse de leur intelligence, et quel bien-être nouveau notre monde fatigué doit trouver dans leur contact. La race noire c'est le monde sauvage de Rousseau, mais dépouillé de sa barbarie, et non plus substitué, mais associée au monde civilisé. 7 0

Der saint-simonistische Kult der Verschmelzung weiblicher und männlicher Elemente findet hier seine Entsprechung in einer utopischen Rassenfusion, deren Charaktereigenschaften allerdings analog zur Geschlechteropposition biologisch begründet werden. Da sich eine gegenseitige Befruchtung der Rassen bei den Zeitgenossen nicht durchgesetzt hat, muß man dem Juden d'Eichthal und dem Farbigen Urbain ihre Selbststilisierung als "deux proscrits, deux prophètes" wohl zubilligen. Victor Courtet löst das Problem der Sklaverei wesentlich pragmatischer. Auch er geht von der Ungleichheit der Rassen aus. Jede Rasse trachte danach, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Am Beispiel der Geschichte Frankreichs versucht er - von Guizots und Thierrys Modellen inspiriert - zu belegen, daß die Arbeitsteilung bis in die Neuzeit einer Überlagerung von siegreichen und unterlegenen Rassen entspreche. Solange die Rassen sich nicht vermischten, gäbe es auch keine sozialen Veränderungen, diese entstünden erst durch Rassenmischung: Mais sitôt que le sang s'est mêlé, sitôt que la nature a passé son niveau sur les hommes de toute descendance, il n'existait en droit plus de noblesse, plus de roture. 71

Die Revolution von Saint-Domingue sei vorzeitig von Engländern und Mulatten herbeigeführt worden, die Rassenmischung sei nämlich noch nicht weit genug fortgeschritten gewesen, nun bewegten sich die früheren Sklaven wieder zu ihrem afrikanischen Zustand zurück. Auch das Beispiel der Vereinigten Staaten scheint die These der Sklavenbefreiung durch Heirat kaum nahezulegen, beruhe doch der Reichtum der Angelsachsen gerade auf der unüberwindbaren Rassentrennung. Dennoch sieht der Autor für die Entwicklung der schwarzen Rasse keine andere Lösung als das cubanische Modell, wo sich die Sklaven freikaufen und die Rassen mischen können. Der Schwarze brauche für seine Entwicklung das Zusammenleben mit den Weißen und den Mulatten. Wie die freiwillige Vermischung der Weißen mit den Schwarzen herbeigeführt werden soll, bleibt unklar. Courtet läßt keinen Zweifel an der Minder70 Siehe d'Eichthal/Urbain S. 16. Cohen (S. 236/37) schätzt das zivilisationskritische Element dieser Passage im Bezug auf die generelle technokratische Ausrichtung der Saint-Simonisten als wenig bedeutungsvoll ein. 71 Siehe Courtet, S. 280.

173 Wertigkeit der Schwarzen aufkommen, hält aber am Ideal der Fusion und der daraus resultierenden Egalität fest, obwohl er bei den nordamerikanischen Angelsachsen sieht, was später Gobineau seiner Theorie zugrundelegen sollte, nämlich daß nur die Reinheit der höheren Rassen die Zivilisation vor Dekadenz schütze. Gobineau selbst zeichnet ein wesentlich düstereres Bild von den Vereinigten Staaten: Sie sind für ihn ja gerade die weitestgehende politische und ökonomische Realisierung des Zukunftsund Fortschrittsmodells, das er als Dekadenz verwirft 72 . Zurück zu Bonneaus Heiratsmodell. Dieser antizipiert bereits den denkbaren Einwurf eines Gobineau, daß die Fusion zur Dekadenz der weißen Rasse führen könnte, und weist darauf hin, daß die weiße Rasse sich in Europa reinhalte. Selbst wenn Gobineau diese Antwort nicht gelten ließe, weil die Substanz der arischen Rasse insgesamt geschwächt sei, ist Bonneaus Theorie nicht am Gegenpol zu dessen RassentrennungsKonzept zu sehen. Im Gegensatz zu seinen beiden saint-simonistischen Vorläufern, die sich ja von der Verschmelzung der Rassen einen Fortschritt für beide Partner versprechen, wird hier zwar auch eine Fusion propagiert, doch den Weißen noch das Regenerationszentrum Europa vorbehalten - analog dazu soll die französische Sprache von Kreolismen reingehalten werden - , womit dieses Modell als das eines genetisch abgesicherten Kolonialismus anzusehen ist. Auch Bonneau steht wieder vor dem Problem, eine in metaphysische Sphären gesteigerte Größe wie die angeblichen Gesetze der Natur bemühen zu müssen, um die realen Hindernisse, die der Verwirklichung seines Fortschrittskonzeptes entgegenstehen, zu überspringen. Diese rassistische Lösung gewährt im Vergleich zu ihren Vorläufern dem zu absorbierenden Anderen überhaupt keinen Raum mehr für seine Andersartigkeit. Die Funktion der Literatur, wie sie d'Alaux entwickelt, eröffnet der schwarzen Kultur immerhin noch ein Feld, wo sie sich möglichst authentisch manife72 Siehe Gobineau, S. 1139ff. In Haiti scheint für Gobineau die Dekadenz weit fortgeschritten, da Schwarze und Mulatten sich mischten, statt wie es ihren Bedürfnissen entspräche, sich in geographisch unterschiedlichen Räumen anzusiedeln: die Mulatten an der Küste, die Handel und Blutkontakt zum weißen Europa garantiere, die Schwarzen in den Bergen, wo sie wie die Marrons ihre afrikanischen Traditionen pflegen könnten, S. 184. Immerhin sieht auch Gobineau keinen Unterschied zwischen der Dekadenz Haitis und der der lateinamerikanischen Republiken, S. 1132. Sudre nimmt in seiner ausführlichen Kritik an Gobineaus Rassentheorie Benjamin Constants Kritik an Lawrence und Dunoyer wieder auf, daß nämlich Vernunft und Moral allen Menschen mitgegeben seien und daß es nur unterschiedliche Zivilisationstypen gäbe: "... toute civilisation d'un ordre trop élevé est incommunicable à la barbarie, ... il faut des demibarbares pour faire l'éducation des sauvages, et une civilisation rudimentaire pour s'assimiler des Barbares.", S. 833. D'Alaux meint in seiner anschaulichen Sprache nichts anderes, wenn er die Gebildeten die Schwarzen in die Freimaurerlogen mitnehmen läßt. Bonneaus Position entspricht am ehesten A. de Quatrefages Kritik an Gobineau, die er 1857 in der Revue des Deux Mondes veröffentlichte. Dort plädiert er für Rassenmischung als Element des Fortschritts, der auf diese Weise von den Weißen verbreitet werden könne. Allerdings sorgten Umwelteinflüsse dafür, daß es niemals zu einer völligen Egalisierung komme, siehe Quatrefages, insbesondere S. 186-188.

174 stieren kann, selbst wenn auch hier kein eigenständiges Weiterleben mehr möglich sein darf. Der letzte theoretisch logische Schritt des Rassismus, die Dezimierung der Schwarzen nach dem Modell der nordamerikanischen Indianer, wird jedoch von niemandem gefordert, weil offenbar bewußt war, daß dann ja die Arbeitskräfte fehlen würden. Die Forderung nach der Öffnung Haitis für die Weißen bedeutet eben nicht wie bei Sarmiento, Import von zivilisierten Arbeitskräften, sondern bei d'Alaux Import von Zivilisatoren und bei Bonneau von besamenden Zivilisatoren.

2.1.3 Sind die Gegner Soulouques Gegner der Schwarzen? Das Grundproblem der Haiti-Literatur der 1840er Jahre, die Frage nach der Überwindung der Modernisierungshemmnisse, hat sich nicht geändert. Der Antagonismus zwischen schwarzen ungebildeten Massen und zivilisationsfreundlichen Mulatten hat sich unter dem Eindruck der politischen Entmachtung letzterer eher verschärft. Trotzdem setzen die kritischen Hofberichterstatter auf den langfristigen Sieg der Zivilisation und das Verschwinden der schwarzen Barbarei, sei es als kulturelle Verdrängung in die Epik oder als biologische Lösung. Während d'Alaux Soulouques Prunksucht sogar implizit als Einfallstor europäischer Kultur sieht, setzt Bonneau mit seinem "Massenheiratskonzept" ausschließlich auf das Wirken transhistorischer Kräfte. Es zeigt sich also, daß hier die beiden wesentlichen Theorien des Verhältnisses von Zivilisation und Barbarei auf den Fall Haiti Anwendung finden: Es stehen neo-kolonialer Liberalismus gegen neo-kolonialen Rassismus. Was d'Alaux vor allem in seinen Artikeln vor dem Staatsstreich, aber auch Bonneau indirekt durch sein Insistieren auf der Rassendifferenz, unterstreicht, ist die Tatsache, daß die Parallelen zwischen den politischen Verhältnissen in Frankreich und Haiti noch nie so offensichtlich erschienen. Daraus resultiert auch die seit der Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis in diesem Ausmaß nicht mehr gekannte Mischung von seriöser Berichterstattung und Unterhaltung mit grotesken Details aus der Kultur der Schwarzen. Am Beispiel der beiden renommiertesten Zeitschriften der Epoche wird noch einmal deutlich, daß im Falle des Kaiserreichs von Soulouque die gesamte seriöse Presse sich weit in den Bereich der Satire begibt, was nur dadurch zu erklären ist, daß die aktuelle Vergleichbarkeit der politischen Systeme die allgemein akzeptierte Opposition Zivilisation - Barbarei bzw. weiße Rasse - schwarze Rasse in Frage stellt. Der Orleanist erkennt die Universalität der schwarz - roten Gefahr an, um bedauernd die scheinbare Auflösung des Klassenkonflikts durch die bonapartistische Usurpation der Staatsgewalt zu konstatieren, während der Bonapartist den Klassengegensatz in einen Rassengegensatz überführt: Die "Providence" hat Frankreich geeint, jetzt schickt sie die Weißen in die Barbarei, um diese durch eine höherwertig gedachte Erbmasse zu regenerieren. Somit erweist sich Bonneau nicht nur als Gegner Soulouques, sondern als Gegner der schwarzen Rasse.

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2.2

Die Verteidiger Soulouques

2.2.1 Hippolyte de Saint-Anthoine und die Annales

d'Afrique

Der einzige, der das Kaiserreich Soulouques ständig positiv dargestellt hat, ist Hippolyte de Saint-Anthoine, der Leiter des "Institut d'Afrique" und Herausgeber der Annales de l'Institut d'Afrique, ab 1852 Annales d'Afrique. Über seine Position geben nur Artikel der Zeitschrift Auskunft. Saint-Anthoine versteht sein Blatt als Organ gegen die Sklaverei und den illegalen Sklavenhandel. Er sammelt systematisch Informationen aus der ganzen Welt für sein abolitionistisches Engagement. Es ist allerdings fraglich, ob die Zeitschrift in Frankreich große Beachtung fand, da sie kaum zitiert wird. In Lateinamerika hingegen scheint sie mehr Interessenten gefunden zu haben, ihr prominentester Abonnent war Benito Juárez. Die weitaus größte Anzahl von Subskribenten kam aus Haiti; ihre Liste liest sich wie ein Gotha des dortigen Kaiserreichs. Saint-Anthoine setzt sich besonders für die junge schwarze Republik ein. In diesem Sinne versteht sich auch sein Kommentar zur Kaiserproklamation: Le scèptre peut être aussi bien tenu par un noit que par un blanc. Nous unissons donc notre voix à celle de nos amis d'Haïti pour acclamer leur auguste Empereur. Que l'arbitre suprême le protège et l'assiste dans l'accomplissement de ses desseins généreux. Haïti! tu nous trouveras toujours au nombre des plus ardents défenseurs de ton indépendance. (Sept./Okt. 1849, S. 79) Die abschließende Apostrophe bestimmt die Auswahl der haitianischen Dokumente. So findet man häufig Auszüge aus dem Moniteur Haïtien, zahllose Reden der dortigen Priester zum Unabhängigkeitstag, aber auch Produktions- und Handelsstatistiken. Eine weitere Konstante ist die Parteinahme für Haiti gegen die Dominikanische Republik, die als Brückenkopf einer möglichen Rekolonialisierung aufgefordert wird, sich wieder unter die Herrschaft von Port-au-Prince zu begeben. Die Taten der dominikanischen Präsidenten werden mit dem gleichen Argwohn beurteilt, mit dem die übrige französische Presse Soulouque abzuqualifizieren sucht. Einen ausgesprochenen Personenkult errichtet der Herausgeber um Toussaint Louverture, den er als ersten großen schwarzen Politiker feiert. Um dessen angemessene Würdigung zu garantieren, scheut sich der Pariser Negrophile nicht, die sonst nie kritisierten Abkömmlinge von Sklaven anzugreifen und eine Kontroverse mit dem haitianischen Intellektuellen, Saint-Rémy, aufzunehmen. Dieser hatte es nämlich gewagt, sich in einem Brief an die Redaktion gegen Kritiken an seinem Buch über Toussaint Louverture zu verwahren73.

73 Siehe Annales d'Afrique, Jan./Feb. 1854, S. 14/15. Saint-Remy hatte 1850 im Pariser Exil La vie de Toussaint Louverture veröffentlicht. In diesem Werk vertritt der Historiker die schon von Schoelcher kritisierte Position, Toussaint sei ein Agent der Pflanzer und damit ein Feind der Unabhängigkeit gewesen.

176

Ansonsten wird den haitianischen Schriftstellern die Möglichkeit gegeben, für ihre Bücher zu werben, wovon auch etliche Soulouque-Gegner, wie Ardouin 74 , Gebrauch machen. Es erscheinen sogar positive Kritiken über Ardouin, dessen Toussaint-Bild sich nicht wesentlich von dem Saint-Rémys unterscheidet. Angesichts des prohaitianischen Engagements der Zeitschrift dürfte die überschwengliche Begrüßung Geffrards kaum verwundern. Alle Haitianer sollten sich um den großherzigen und liberalen Präsidenten scharen (März/April 1859, S. 30). Da es in diesem Fall kein negatives Image zu bekämpfen galt, konnte Soulouques Sturz als "rapide et méritée" (Sept./Okt. 1859, S. 92) qualifiziert werden und damit dürfte wohl auch die eigentliche Meinung des Chefredakteurs zum Ausdruck gebracht worden sein. Saint-Anthoine glaubt, mit einer apologetischen Haiti-Berichterstattung Kritikern wie d'Alaux und Bonneau entgegenzutreten, doch erwecken deren Artikel einen differenzierteren Eindruck, da sie die offensichtlichen Widersprüche in Soulouques Reich gemäß ihrer Interessenlage ausmalen, ohne allerdings die grundlegenden Konflikte analysieren zu können oder gar zu wollen. Der eigentliche Wert der Annales für die Haitianer bestand sicherlich darin, in Paris für ihre Schriften zu werben, wobei auch die Exilierten nicht ausgegrenzt waren. Die wichtigste Funktion des Blattes lag allerdings in detaillierten Dokumentationen gegen die Sklaverei. 2.2.2 Dr. Théophile Guérin 1856 versuchte dieser nicht näher identifizierbare Autor, ausgehend von den gleichen Fakten wie d'Alaux, dessen Artikelsammlung im gleichen Jahr als Monographie erschien, eine Verteidigung Soulouques zu schreiben. Als wolle der neue Chronist das Gruselkabinett seines Vorgängers noch übertreffen, behauptet er, bei den Voudou-Zeremonien würden Kinder gegessen, was allerdings bei einer kindlichen Rasse wie der schwarzen nicht weiter erstaunlich sei, da alle Religionen in ihren frühen Stadien Kinderopfer kennten (S. 27). Dies ist die einzige Stelle in der Studie, die den Voudou in Schutz nimmt, da er die Religion der "rouges noirs" (S. 21) sei. Damit nicht der Eindruck entstehe, nur Schwarze hätten eine politische Affinität zur roten Farbe, wird gleich darauf verwiesen, daß es in Frankreich "rouges blancs" gegeben habe, womit das Rassenkriterium wieder, wie bei d'Alaux, zugunsten der Klassendifferenz aufgegeben wird75. 74 Es ist allerdings erstaunlich, daß Ardouin nicht für den von ihm herausgegebenen Roman Stella des im Exil verstorbenen Emeric Bergeaud wirbt und daß diese allegorische Darstellung der haitianischen Revolution auch nicht rezensiert wird. 75 Der Vergleich der Linken mit Kannibalen hat in Paris im Zusammenhang mit der Denunzierung der Juni-Aufständischen Hochkonjunktur gehabt, siehe Oehler, S. 27 ff. Auch die Soulouque-Satire der Zweiten Republik hat zahlreiche dieser Beispiele vorzuweisen (siehe Kap. III). Daß Guerin diesen Vergleich nicht gezogen hat, belegt, daß er die schwarze Rasse nicht auf tierische Charaktereigenschaften festlegen will.

177 Soulouque habe nur zeitweilig dem Voudou gehuldigt, um die Massen im Kampf gegen die "bourgeoisie noire et jaune" (S. 28) zu mobilisieren. Diese habe nämlich während der Regierung Boyer nicht das geleistet, was man von ihr erwartete. Allerdings sei Soulouque vorübergehend nicht in der Lage gewesen, die "rouges noirs" nebst ihrem Führer Similien zu kontrollieren, daher habe er nicht das Mulattenmassaker verhindern können. Mit seiner Alternativ-Strategie, die Anführer der antagonistischen Fraktionen zu eliminieren oder sie in den Adelsstand à la "Louis XIV" zu erheben, habe er sich schließlich durchgesetzt. Kaum habe Soulouque die innenpolitische Ordnung etabliert, da sieht Guérin in den annexionistischen Gelüsten der Vereinigten Staaten eine Bedrohung des gesamten karibischen Raumes heraufziehen. Eine besonders beunruhigende Rolle bei der von der amerikanischen Großmacht angestrebten Verlagerung der Interessenssphären komme der Dominikanischen Republik zu, da sie sich bereits mehrfach für ein Protektorat angeboten habe. Soulouques fehlgeschlagener Feldzug im Januar des Jahres müsse nun endlich England und Frankreich auf den Plan rufen, um einen Frieden zwischen beiden Inselhälften herbeizuführen. Grundlagen sollen ein einheitlicher Zoll und die haitianische Flagge sein, eventuell sogar ein einheitliches Recht. Angesichts der amerikanischen Bedrohung stilisiert der Autor den haitianischen Kaiser zum seriösen Verhandlungspartner, den man in Schutz nehmen müsse: ... contre les exagérations des feuilles annexionistes qui ont intérêt à toujours calomnier la race noire même dans ce qu'elle peut avoir de généreux! Il y a peut-être autant d'outrecuidance grotesque dans le 'Capitole' de Washington qu'il y en a dans le palais de Port-au-Prince. (S. 85) Auf diese Weise wird der Revue des Deux Mondes klar gemacht, in welchem Lager sie sich seiner Meinung nach nunmehr befinde. Guérin stellt Soulouque als Bonapartisten vor, wobei er es vermeidet, auch nur den Namen Napoleons zu erwähnen. Der Leser soll zwar das Prinzip wiedererkennen, aber durch den Hinweis auf "Louis XIV" die Imitation des Schwarzen für angemessen grotesk halten. Die europäischen Mächte sollten für Soulouque die Außen- und Handelspolitik in die Hand nehmen, da sie sowohl seinen als auch ihren eigenen Interessen nützten. Der schwarze Monarch selbst solle zur Stabilisierung der innenpolitischen Situation seinen Bonapartismus à l'africaine betreiben, schließlich wisse er am besten, was für die Schwarzen gut sei. Hier wird die universelle Gültigkeit des Bonapartismus als Fortschrittsmodell, das sich dem jeweiligen Stand der Zivilisation anpaßt, proklamiert. Außerdem unterstützt die Studie die damals aktuelle Position der französischen Außenpolitik gegenüber Haiti. Angesichts der barbarischen US-Außenpolitik, wie sie sich in den Piratenunternehmungen eines Lopez oder Walker manifestiere, müßten auch die Europäer "ihre" Barbaren pflegen.

178

2.2.3 Paul Dhormoys Paul Dhormoys 7 6 folgt auf wesentlich unterhaltsamere und raffiniertere Weise Guérins Argumentation. Der fiktive Erzähler, ein frisch aus der Militärschule entlassener Unterleutnant, schildert seine Reise in die Dominikanische Republik, für deren Armee er sich anwerben ließ, und seinen späteren Aufenthalt in Haiti. Die Ich-Erzählung weist stark fiktionale Züge auf, so wird die Datierung, "185*", bewußt uneindeutig gehalten, außerdem benutzt der Autor die Gattungen der Seefahrt-Gespräche und der Liebesgeschichte, um über längere Passagen Dritte zu Wort kommen zu lassen. Während der Überfahrt erzählt ein Matrose sämtliche grotesken Geschichten 77 über Soulouque, einschließlich einer Voudou-Szene, die noch durch ein Kinderopfer, das der Matrose allerdings nicht genau sehen konnte, abgerundet wird. Der Erzähler schaltet sich wieder ein, um klarzustellen, daß man auf diese Weise Soulouque einem Publikum präsentiere, das Haiti mit Tahiti verwechsele und sich über die Kostüme der Schwarzen lustig mache, ohne sich vor Augen zu führen: Qu'était pour eux jadis un homme libre? Un homme qui portait un habit brodé, et qu'on appelait monsieur le comte ou monsieur le baron, un personnage, enfin, qui devait obéissance à un roi ou à un empereur." (S. 53) Desgleichen wirke die Kolonialzeit auch in dem Konflikt zwischen Mulatten und Schwarzen nach. Soulouque, gegen seinen Willen in ihn hineingestoßen, habe sich für die Schwarzen entschieden, weil die Mulatten nicht in der Lage gewesen seien, die anspruchslose, von der Natur verwöhnte Landbevölkerung zum Arbeiten zu bewegen: ... ils vous répondront que, ne manquant de rien, ils se soucient assez peu du progrès, de la civilisation, de la société, et... ils vous prieront poliment de vous ôter de leur soleil. - Quant à moi..., combien de fois me suis-je surpris à envier le sort de ceux qui,..., peuvent laisser couler la vie ... il vaut encore mieux pêcher dans les rivières ou sur 76 Une visite chez Soulouque wurde zuerst vom 5. bis zum 19.9.1858 im Feuilleton des Figaro in einer kürzeren Fassung veröffentlicht. Das Buch erschien im Februar 1859 ungefähr zeitgleich mit der Nachricht von Soulouques Sturz. Dhormoys, von dem Emile Chasles in seiner Buchbesprechung im Constitutionnel (23.8.1859) behauptete, er hieße Lambert, wofür es allerdings keinen weiteren Beleg gibt, war Redakteur des Monde Illustré und schrieb außerdem noch Rezensionen für die Revue Européenne. 1866 arbeitete er in der Redaktion des bonapartistischen Etendard mit, siehe Bellanger, S. 325. 77 Heinl/Heinl, S. 208, Anm. 17, verstehen dieses Verfahren nicht und geben die Sardinenbüchsen-Anekdote als authentisch aus. Nun ließe sich diese durchaus belegen, da sie gleich nach der Proklamation des Kaiserreichs durch die Presse ging, aber eben nicht mit Dhormoys' Text, da dessen Strategie ja gerade darin besteht, die abwertende, effektheischende Praxis der Presse zu denunzieren. Macleod, S. 37, und Antoine, S. 279, sind zwar von der Ernsthaftigkeit des Rehabilitationsversuchs überzeugt, meinen jedoch, daß Dhormoys sich nicht gegen die rassistische Presse durchsetzen konnte, womit sie die politische Brisanz des Soulouque-Themas in Frankreich auf das Problem des Rassismus reduzieren.

179 les plages d'Haïti que dans l'eau trouble et les b a s - f o n d s de la spéculation. ... ce n'est point aux socialistes et aux philanthropes modernes, à ceux qui ont proclamé la nécessité du travail, qu'il appartient de blâmer S o u l o u q u e de forcer ses sujets à travailler. (S. 6 4 / 6 5 )

Durch den Rückbezug auf die eigene Befindlichkeit problematisiert Dhormoys mittels der Erzählelfigur geschickt die Konditioniertheit des europäischen Blicks auf Haiti. Deren propagierte Werte erweisen sich angesichts der dortigen Landbevölkerung als Verdrängungsinstrumente des eigenen Wunsches nach Muße, der im Frankreich des 18. Jahrhunderts im rousseauistischen Mythos vom "bon sauvage" seinen Ausdruck gefunden hatte, der aber unter den Bedingungen des Kapitalismus, wofür "progrès", "civilisation" und "société" inzwischen stehen, zum höchst prekären Schmarotzertum der Spekulanten verkommen ist. Damit werden die metropolitanen Fortschrittsadepten und ihre Agenten in der Peripherie, die Mulatten, als Jäger nach dem Mehrwert, den andere produzieren, denunziert. Die Gegenseite, die ebenfalls dem "progrès" verpflichtet ist, aber die Gleichheit einfordert, muß sich ebenfalls von ihren rousseauistischen Ursprüngen verabschieden und das Recht auf Arbeit fordern. Auch Dhormoys hat den Juni '48 nicht vergessen und versucht nun, dessen Opfer als Ankläger gegen den Despoten zu stilisieren. Während d'Alaux' Strategie 78 darin bestand, die alten und neuen Barbaren gleichzeitig anzugreifen, werden hier die sich bekämpfenden Klassen in ihrer Zivilisation negativ vorgeführt. Der Rückbezug auf 1848 legt eine positive Beurteilung der gewaltsamen Entpolitisierung durch LouisNapoleon nahe, selbst wenn diese erst den beispiellosen Börsenboom des Second Empire ermöglicht hat. Es hat also keiner das Recht, Soulouques schmutziges Geschäft, das er auch für die Mulatten/Bourgeoisie erledigt, zu kritisieren. Der Barbar hat seine Untertanen aus dem scheinbar paradiesischen Zustand der Freiheit und Gleichheit, welcher sich als konfliktiver Bezugspunkt von Kapitalisten und Sozialisten erweist, in eine Nation überführt.

78 Dhormoys benutzt d'Alaux nebenbei, um Raybaud lächerlich zu machen. In der Buchfassung (S. 159) berichtet er, daß ein Autor der Revue des Deux Mondes bei seinem Besuch in der Dominikanischen Republik mit Steinen beworfen worden sei. Tatsächlich scheint d'Alaux nie dort gewesen zu sein, wohl aber der frühere Generalkonsul Raybaud, der, entgegen seinen Angaben gegenüber dem französischen Außenministerium, Ende 1858 als Privatmann - er besaß in Santo Domingo Land und versuchte, dort ein Siedlungsprojekt für provenzalische Bauern zu organisieren - mit der dominikanischen Regierung im Auftrage Soulouques über eine Wiedervereinigung verhandeln wollte. Dabei zog er sich den Zorn Santanas zu und mußte überstürzt das Land verlassen. Diese Episode schadete der französischen Diplomatie vor Ort, siehe AAE CP Haiti Bd. 22, Melinet an Walewski 12.12.1858. Da die Buchfassung eine ziemlich eindeutige Passage enthält, in der behauptet wird, der alte "Philhellene" (Raybaud) habe Anfang der 50er Jahre seine frühere Kampfeslust für die Dominikanische Republik gegen Haiti wiederbelebt (S. 9), und da in Santo Domingo hinter d'Alaux Raybaud vermutet wurde, ist anzunehmen, daß Dhormoys Kenntnis der diplomatischen Verwicklungen hatte und auf diese Weise den Widerspruch zwischen Raybauds augenblicklichem Verhalten und der früheren Hetze gegen Soulouque, die ja auch d'Alaux beeinflußt hatte, indirekt aufzudecken bestrebt war.

180 Nach dieser Denunzierung der Konditioniertheit des grotesken Soulouque-Bildes in Paris, wird die Dominikanische Republik mit genau den satirischen Mitteln beschrieben, die sonst zur Abwertung Haitis eingesetzt werden. Der wahre Soulouque sei der in Frankreich geschätzte Santana. Der eigentliche Haiti-Aufenthalt des fiktiven Ich-Erzählers füllt nur fünf Seiten: Es wird mitgeteilt, daß man dort ungestört reisen könne, die Menschen sehr hilfsbereit seien und der Gouverneur von Gonaives nicht nur fähig sei, die Girondins zu lesen, sondern sie auch sehr klug zu kommentieren wisse. Im Anschluß daran folgt eine Liebesgeschichte, die sich vor dem Hintergrund einer Verschwörung gegen den Kaiser entwickelt. Soulouque, der an dieser Stelle das einzige Mal im gesamten Roman auftritt, verbindet in einem salomonischen Urteil Staatsraison und Mitgefühl mit den Liebenden. Vor dem Urteil hatte der Held dieser eingeschobenen Erzählung ein geheimes Treffen mit dem haitianischen Kaiser, in dem er ihm die Begnadigung des Cinna durch Augustus als von der Nachwelt gerühmte Großherzigkeit vor Augen hielt, woraufhin der karibische Augustus ihm eine Scheinexekution und die Möglichkeit zur Flucht in Aussicht stellt. Soulouques Kommentar: ... vous m'avez raconté ce qu'a fait un empereur qui pouvait être clément sans danger, et qui savait que sa belle action serait connue et célébrée par tout le monde! Lequel est le plus grand de celui-là, ou de celui qui, forcé de cacher sa bonté, n'en fait pas moins grâce? Et cependant je ne suis qu'un pauvre nègre. (S. 264) Diese fiktive Episode spielt auf ein Ereignis der französischen Innenpolitik an. Am 14.1.1858 hatte der Italiener Orsini ein Attentat auf Napoleon III. verübt, um die Revolution in Italien voranzutreiben. Der französische Kaiser konnte sich zwar nicht dazu durchringen, den Attentäter zu begnadigen, gab ihm aber immerhin die Möglichkeit, seine Ideen während des Prozesses zu verbreiten. Zum Zeitpunkt der Publikation des Buches zeichnete sich der Italien-Feldzug ab und somit die Erfüllung des Testaments von Orsini 79 . Was Dhormoys' fiktiver Soulouque im privaten Bereich vorexerziert, soll belegen, daß ein Kaiser aus Gründen der Staatsraison das Gute im Verborgenen tun müsse, er also in Wirklichkeit wesentlich humaner sei als der nach außen gezeigte Despot. Soulouque und Napoleon III. seien demzufolge nicht das, wofür sie von der republikanischen Presse gehalten würden. Im jeweiligen nationalen Interesse seien sie die sichersten Verbündeten im Kampf gegen diejenigen Großmächte, die, wie die Vereinigten Staaten und Österreich, die Unabhängigkeit der Nationen bedrohen. Indem Dhormoys die Fiktion wählt, gelingt es ihm als einzigem Autor außer den Satirikern und Karikaturisten, "Haiti" auf der Metaebene als Argumentationsfigur der französischen Zivilisationsdiskurse zu veroiten. Der scheinbare Reisebericht zeigt die innen- und außenpolitischen Positionen der Pariser Regierung im Jahre 1858 auf und zieht daraus den Schluß, daß sich das Soulouque-Bild ändern müsse. Insofern er79 Siehe Plessis, S. 192-94.

181

schien sein B u c h nach S o u l o u q u e s Sturz auch nicht zu spät, da die Fahrt in die Karibik tatsächlich die g e s e l l s c h a f t l i c h e n Verhältnisse in der H e i m a t thematisiert. Sieht man v o n den rein abolitionistisch ausgerichteten Annales

d'Afrique

ab, s o ist

festzustellen, daß die Verteidiger S o u l o u q u e s die Vergleichbarkeit der S y s t e m e suchen und dabei den Bonapartismus als positiven B e z u g s p u n k t wählen. B e i d e g e h e n nicht so weit, den direkten V e r g l e i c h der b e i d e n Kaiser zu ziehen. D e r kulturelle Unterschied m u ß gewahrt bleiben, e s gilt e i n z i g die Universalität d e s politischen Prinzips. V o n daher ist e s auch nicht erstaunlich, daß sie d i e e i n z i g e n sind, die im Sinne der bonapartistischen I d e o l o g i e die Klassen- b e z i e h u n g s w e i s e Farbkonflikte unter der Herrschaft des Versöhners a u f g e h o b e n sehen.

3 Die haitianische Historiographie zwischen zwei Adressaten Im ersten Jahr der R e g i e r u n g s z e i t S o u l o u q u e s veröffentlichte T h o m a s M a d i o u 8 0 die erste große Gesamtdarstellung der G e s c h i c h t e Haitis in drei Bänden. In den letzten

80 Thomas Madiou, geboren 30.4.1814 in Port-au-Prince, gestorben 25.5.1884 ebenda. Sein Vater, Thomas Madiou, war Arzt, stammte von freien Farbigen ab und bekleidete eine einflußreiche Stellung in der Regierung Boyer. 1824 wurde Thomas fils nach Frankreich geschickt, um dort zu studieren. 1833 verlieh ihm die Universität Rennes den Titel "Bachelier ès lettres". Danach studierte er zwei Jahre Jura in Paris, wo er sich den Saint-Simonisten anschloß, die er in seinen Mémoires (I, S. XII) wegen ihres Hanges zur Theokratie kritisierte. 1835 kehrte er nach Portau-Prince zurück und wurde Sekretär des Staatssekretärs Inginac. In dieser Position bereiste er die haitianische Provinz und sammelte mündliche Berichte über die Revolution. Er heiratete Stella Bazelais, eine Verwandte des Präsidenten Boyer, die ebenfalls in Paris erzogen worden war. Gegen den Willen seines Vaters weigerte er sich 1842, Minister von Boyer zu werden. Nach der Revolution von 1843 ging sein Vater mit Boyer ins Exil nach Jamaika. Madiou fils bekämpfte die Piquets im Süden, lehnte aber eine militärische Auszeichnung für dieses Engagement ab. Riché ernannte ihn 1847 zum Direktor des Lycée National. In dieser Zeit veröffentlichte er die ersten drei Bände seiner Histoire d'Haïti. Nach den Massakern vom 16.April 1848, wo er auf Seiten der Mulatten stand, legte er sein Amt aus Protest nieder, wurde aber im November 1848 von Soulouque zum Chefredakteur des Moniteur bestimmt. Diesen Posten akzeptierte er seinem späteren Urteil gemäß nur, um nicht ins Exil gehen zu müssen. 1851 wurde er zum Redakteur der Regierungserlasse befördert. Seiner eigenen Darstellung nach stand er den "noiristes" Francisque und Salomon nahe. Dem Feldzug von 1855 konnte er durch eine Reise nach Paris entgehen, wo er seinen Sohn Léonce im Lycée Charlemagne einschulte, dieser sollte in den folgenden Jahren häufig bei den Michelets eingeladen werden. Madious Bruder, der mit Geffrards Tochter verheiratet war, spielte eine wesentliche Rolle beim Aufstand gegen Soulouque, den Thomas Madiou selbst bis zum Sturz begleitete. Der neue Präsident Geffrard übernahm die Patenschaft von Madious jüngstem Sohn und betraute den Historiker mit den Verhandlungen für das Konkordat in Rom. Später ernannte er ihn zum Botschafter in Madrid. Mit Salnaves Machtantritt ging Madiou ins Exil. 1874 bekleidete er kurzfristig den Posten des Erziehungsministers, mußte 1876 erneut emigrieren und wurde 1879 von Salomon zurückge-

182 vier Jahren des Bürgerkriegs seit der Revolution von 1843 hätte sich, seinem späteren Urteil zufolge 81 , der Gegensatz zwischen Schwarzen und Mulatten so dramatisch zugespitzt, daß die nationale Einheit auf dem Spiel gestanden habe. Es galt also, die historischen Bedingungen der Staatsbildung nachzuzeichnen. Die beiden anderen Autoren, die in den 1850er Jahren mit ihren großen Gesamtdarstellungen auf Madiou folgten, Beaubrun Ardouin 82 und Saint-Remy des Cayes 83 , waren als Exilierte in Paholt. Diese und weitere Angaben bei Lescouflair und in den noch unveröffentlichten Mémoires I und II, in die mir Peter Frisch in Port-au-Prince freundlicherweise Einsicht gewährte. Madiou hat die typische Karriere eines haitianischen Intellektuellen gemacht, der sich zwar durchaus seiner Familienbeziehungen bediente, aber auch gleichzeitig zum Boyer-Clan Distanz zu wahren wußte. 81 Siehe WlàA\ou\Mémoires

/, ohne Seitenangabe.

82 Beaubrun Ardouin, geboren im Oktober 1796 in Petit Trou des Baradères, gestorben 28.8.1865 in Port-au-Prince. Mit seinem Bruder Céligny arbeitete er in den 1810er Jahren als Drucker in der Imprimerie Nationale, beide bildeten sich als Autodidakten weiter. Anfang der 1820er Jahre wurde er Senator und Richter am Staatsgerichtshof. 1830 veröffentlichte er eine Geographie d'Haïti. 1838 verhandelte er, begleitet von Séguy Vilevaleix, in Paris die Ermäßigung der Unabhängigkeitsschulden und wurde am Hof Louis-Philippes empfangen. In den letzten Jahren der Boyer-Herrschaft avancierten die Brüder Ardouin zum offiziellen "Sprachrohr" des Präsidenten. 1843, nach der Revolution, begleiteten die Ardouins Boyer nach Kingston ins Exil, kehrten aber noch im selben Jahr zurück. Nach dem Sturz Hérard Dumesles übernahmen sie Ministerämter in den Regierungen Guérrier, Pierrot und Riché. Richés Tod führte zu einem Patt in der herrschenden Clique. In dieser Situation schlug Beaubrun Ardouin Soulouque als Kompromißkandidaten für die Präsidentschaft vor. Céligny wurde Soulouques Innenminister, während Beaubrun als Botschafter nach Paris ging. A m 16. April 1848 gerieten Céligny und Soulouque im Präsidentenpalast in einen Streit, bei dem Céligny verletzt und daraufhin ins Gefängnis geworfen wurde. Ein Jahr später wurde er ungeachtet eines anderslautenden Gerichtsurteils von Soulouque zum Tode verurteilt und erschossen. Geffrard hatte sich geweigert, bei dieser juristischen Farce mitzuspielen. Beaubrun Ardouin quittierte aus Protest seinen Posten in Paris, blieb aber dort und schrieb die elf Bände der Etudes sur l'Histoire d'Haïti. Er hatte regelmäßigen Kontakt zu Michelet, schrieb Artikel für das Lexikon von Dezobry und war Mitglied der Akademien von Caen und Dijon und der Société de Géographie. Nach Soulouques Sturz kehrte Ardouin 1859 nach Port-au-Prince zurück und wurde erneut als Botschafter nach Paris entsandt. Dort veröffentlichte er den Roman Stella von Eméric Bergeaud, der vor Soulouques Sturz im Exil in Saint-Thomas verstorben war. 1863 kehrte er nach Port-au-Prince in den Ruhestand zurück, w o er noch die historischen Porträts seines Bruders Céligny publizierte, ehe er 1865 verstarb. Selbst wenn die renommierte Zeitschrift der Société de Géographie seinen Tod nicht ausführlich kommentierte, dürften die beiden Nachrufe von Alexandre Bonneau in der Opinion Nationale (4.10.1865) und in der Illustration (14.10.1865 mit Porträt) wohl ein Indikator dafür sein, daß er zu seiner Zeit der bekannteste Haitianer in Paris war. Weitere Angaben zur Biographie, siehe Pressoir u.a., S. 179 ff. 83 Joseph Saint-Rémy (des Cayes) geboren 1818 in Basse-Terre/Guadeloupe, gestorben 1856 in Paris. Die Eltern wanderten 1824 während der Mulattenrepression in den französischen Kolonien nach Les Cayes/Haiti aus. Seine Ausbildung z u m Juristen erhielt Saint-Rémy in Paris. 1837 schickte er zusammen mit Pradine und einigen anderen haitianischen Studenten eine Petition an das Parlament in Port-au-Prince, um eine Statue für Pétion zu errichten. 1838 und 1840 beteiligten sein Studienfreund und er sich an den Wettbewerben der Gesellschaft für die Abschaffung der Sklaverei, sie erhielten eine lobende Würdigung wegen guten Stils. 1843 stand

183 ris nicht gerade prädestiniert, ein harmonisches Bild von der Geschichte ihrer Heimat zu entwerfen. Alle drei visierten explizit sowohl die haitianische Leserschaft als auch die französische an. Waren sie ausschließlich bestrebt, die historischen Auseinandersetzungen zwischen Kolonie und Mutterland nachzuzeichnen, oder bezogen sie auch Stellung zu den aktuellen Vorgängen in den beiden Gesellschaften? Wenn man davon ausgeht, daß alle drei Chronisten dezidierte Positionen sowohl zum Schoelcher-Besuch und seinem metropolitanen Echo als auch 1843 zu Boyers Sturz bezogen hatten (siehe Kap. IV. 1.1 u. 1.2), und daß die beiden Exilierten Madious Darstellung der revolutionären Vergangenheit scharf angriffen, kann mit Recht vermutet werden, daß zumindest die aktuelle Entwicklung in Haiti zur Diskussion stand. Mit zeitlichem Abstand haben Historiker, wie David Nicholls, diese Debatte in das für das 19. Jahrhundert bestimmende Paradigma "noiriste" versus "mulâtriste" eingeordnet und als Konflikt innerhalb der letzteren Gruppe verortet84. Den bis heute ideologisch bedeutenden Gegensatz zwischen Schwarzen und Mulatten deutet Barthélémy als eine Spaltung innerhalb der kreolischen Farbigen, deren Gruppierungen sich am europäischen Fortschrittsmodell orientieren. Der eigentliche Antagonismus, der die haitianische Geschichte seit der Revolution präge, bestehe jedoch zwischen der kreolischen und der afrikanischen Kultur, die auf die "bossals", die Sklaven der ersten Generation, zurückgehe 85 . Auch Hurbon stellt fest 86 , daß etwa alle haitianischen Intellektuellen des 19Jahrhunderts, außer vielleicht Anthénor Firmin, den Voudou als Manifestation einer retrograden bäuerlichen Weltsicht ablehnten. Saint-Rémy auf Seiten Hérard Dumesles und wurde 1845 von Guerrier ins Exil geschickt. Er scheint danach noch mehrmals nach Haiti zurückgekehrt zu sein, veröffentlichte aber zur gleichen Zeit in Paris mehrere Werke über die haitianische Geschichte. Sein Lebenswerk Pétion et Haiti blieb unvollendet. Die Hinweise in diesem Werk lassen darauf schließen, daß er völlig verarmt in Paris gestorben ist. Angaben zur Biographie, siehe Pressoir u.a., S. 194. 84 Siehe Nicholls, 1979, S. 85-107. Gouraige, S. 456-459, stellt Ardouin als Apologeten der Mulattenelite der West-Provinz dar. Das Kriterium der geographischen Herkunft ist als wichtige soziale Bindung unbedingt in Rechnung zu stellen, wird aber von Gouraige nicht auf die ganze Gruppe angewendet. Fleischmann, S. 273-277, sieht Ardouin, Madiou und Saint-Rémy als nachgeborene Mulattenideologen und stellt ihnen den Mulatten Juste Chanlatte als "noiriste" gegenüber, der in der Revolution wirklich an der Seite Christophes gekämpft habe. Chanlattes Text aber ist wenig vom persönlichen Erlebnissen geprägt, zumal er gar nicht am eigentlichen Unabhängigkeitskampf teilgenommen hat, siehe Madiou, Bd. 3, S. 183. Er betreibt stattdessen hauptsächlich die Apologie seines früheren Königs, die sowohl Boyer als auch Dessalines nicht ins beste Licht rückt. Auch die allegorische Vereinigung von Freiheit und französischer Krone, die einen Handelsvertrag hervorbringt, Chanlatte, S. 97 ff., - diese metaphysische Überhöhung und Versöhnung historischer Gegensätze kritisiert Fleischmann zu Recht am Beispiel Bergeauds - ist nicht gerade geeignet, den einstigen Autoren des von Dessalines unterzeichneten Exterminationsdekrets gegen die Franzosen als "noiriste" zu identifizieren. 85 Barthélémy, S. 92-102, unterstreicht etwa die Einigkeit Madious und Ardouins bei der Verurteilung der "egalitären" militärischen Organisation der afrikanischen "Banden" während der Revolution. 86 Siehe Hurbon, S. 65.

184 Der Historikerstreit in der Mitte des letzten Jahrhunderts läßt sich also als Richtungskampf innerhalb der Eliten interpretieren. Dabei steht der Interpret, wie noch einmal die jüngste deutsche Debatte gezeigt hat, vor einer schier unentwirrbaren "Verknäuelung"87 von persönlichen Anspielungen, methodischen und theoretischen Kontroversen, die scheinbar willkürlich instrumentalisiert werden. Nicht zuletzt deshalb sollen die vorhandenen Analysen nicht um eine neue erweitert werden, zumal hierzu sowohl eine Aufarbeitung der zeitgenössischen haitianischen Presse, die den hauptstädtischen "Klatsch" detailliert wiedergab, als auch genaue Kenntnisse über Familien- und Gruppenbeziehungen notwendig wären. Stattdessen werden anhand des vorhandenen Materials einige zusätzliche Aspekte beleuchtet, zum einen zur genaueren Erfassung oppositioneller Äußerungen zum Kaiserreich Soulouques in Haiti selbst, zum anderen zur Reflexion haitianischer Autoren auf die ideologischen Bedingungen des französischen Second Empire.

3.1 Was wird in Soulouques Kaiserreich veröffentlicht? Der erste Prozeß, in dem sich Soulouque von der Vormundschaft der Mulatten befreite, endete mit dem Todesurteil für Courtois, den Herausgeber der Feuille de Commerce. Offensichtlich fand somit auch ein als illiterat geltendes Staatsoberhaupt Mittel, die Presse zu kontrollieren. Von einem anderen Angriff auf einen Journalisten berichtet Madiou in seinen Memoiren, der Schwarze Boco sei gefangengenommen worden, weil er im Moniteur behauptet hatte, die Straßen von London würden besser instand gehalten als die in Port-au-Prince 88 . Betrachtet man aber die Buchpublikationen, so ergibt sich ein günstigeres Bild. Die im Pariser Exil veröffentlichten historischen Werke Ardouins und Saint-Remys konnten in Haiti gekauft werden 89 . Bereits 1850, ein Jahr nach der Erschießung Celigny Ardouins und dem Protest seines Bruders, konnte der Baron Linstant de Pradine diesen im Vorwort zu seiner Gesetzessammlung Haitis als seinen Freund rühmen und gleichzeitig sein Rechtskompendium dem Kaiser widmen 90 . Emile Nau lobt in seiner 87 Siehe Wehler, S. 189. In seinem "polemischen Essay" Entsorgung der deutschen Vergangenheit kann es sich auch ein so profilierter Sozialhistoriker wie Wehler nicht verkneifen, der Anekdote zur politischen Signifikanz zu verhelfen. 88 Siehe Madiou, Mémoires II, S. 20. 89 Saint-Rémy behauptet zwar im Vorwort zum vierten Band, der dritte Band seiner Geschichte Pétions habe zwei Jahre in Port-au-Prince in einer Lagerhalle gelegen, doch ruft er im gleichen Jahr im folgenden Band seine Landsleute zur Subskription für den letzten Band bei seinen namentlich genannten Agenten in Haiti auf, einige dieser Namen erscheinen auch als Verkäufer der Werke in der Werbung der Annales d'Afrique, siehe Saint-Rémy: Pétion et Haïti, Bd. IV, S. IX; Bd. V, S. XI/XII. Trouillots Behauptung (S. 31), daß die letzten drei Bände von Ardouins Etudes unter Soulouque verboten gewesen seien, kann schon deswegen nicht stimmen, da sie erst 1860 in Paris veröffentlicht wurden. 90 Siehe Pradine, S. VIII und IX.

185 Histoire des caciques Ardouins Etudes als "si neuves et si profondes" und SaintRémys Werke als "chaleureusement écrites" 91 . Ethéart unterläßt es sogar, Madiou in seinem Überblick über die haitianische Literatur in den Miscellanées zu erwähnen, während er andererseits sowohl eine Eloge Lamartines auf Ardouin wiedergibt als auch auf Bonneaus Rezension in der Revue Contemporaine verweist 92 . Schließlich nutzte Madiou selbst seine Stellung als Chefredakteur des Moniteur nicht aus, um etwa beim Abdruck von Bonneaus Rezension zu Emile Naus Werk die positive Erwähnung der beiden Exilierten, die ihn so hart kritisierten, zu unterdrücken 93 . Allerdings hatten jene auch nie den Kaiser persönlich angegriffen, sondern im Gegenteil seine Teilnahme am Kampf des republikanischen General Lamarre gegen Christophe positiv herausgestellt 94 . Saint-Rémy ging 1853 sogar soweit, die Jugend Haitis aufzurufen, die Regierung bei ihrer "oeuvre de conciliation et de progrès" zu unterstützen (S. 26). Er appelliert an Soulouques "coeur noble et grand" (S. 27) und fordert ihn auf, das ungerechtfertigte Exil durch einen Gnadenakt zu beenden. In allen Werken setzt er als Berufsbezeichnung "avocat aux cours impériales de l'Ouest et du Sud" hinter den Verfassernamen. Wann immer sich die Möglichkeit bietet, einen Minister oder dessen Vorfahren positiv zu erwähnen, wird dies nicht unterlassen 95 . Der einzige lebende Haitianer, den die beiden Exilhistoriker scheinbar ohne großes Risiko angreifen konnten, war Madiou. Bonneau suggerierte, daß Madiou sich unter Soulouque genötigt gesehen habe, Christophe positiv darzustellen. Nach dem Sturz Soulouques stattete der selbe Bonneau den vorher scharf attakierten Historiker mit einer "rare distinction" aus 96 . Der französische Kritiker stilisiert die ideologischen und 91 Siehe Nau, S. 333. 92 Siehe Ethéart, 1855, S. 122. Lamartines Brief vom 20.5.1853 muß eine direkte Antwort auf die Veröffentlichung des 2. Bandes von Ardouin sein, weil der Dichter dort (S. 261), als Unterzeichner des Abolitions-Dekrets, den Haitianern zur ewigen Ehrung anempfohlen wird. Der eigentliche Autor des Dekretes, Victor Schoelcher, wird sicher wegen der früheren Differenzen nicht erwähnt. 93 Siehe Moniteur Haïtien, 8.9.1854, abgedruckt bei Nau, S. 5. 94 Siehe Ardouin (Bd.7, 1856, S. 333), Saint-Rémy (Bd.5, 1857, S. 189 Anm. 1). Soulouque ließ nach seinem Amtsantritt einen Gedenktag für den Märtyrer von Môle Saint-Nicolas abhalten, siehe d'Alaux (Bd.8, 1850, S. 1046). 95 Siehe Saint-Rémy, 1850, S. 232 Anm. 1: Delvas Vater; 1853, S. 43 Anm. 3: Hippolyte; Pétion et Haïti, Bd. 1, S. 278 Anm. 2: Salomons Großvater an der Seite Rigauds. Da ohne positives Attribut angegeben wird, daß sein Enkel heute Finanzminister ist, kann diese Anmerkung als Hinweis auf den Positionswechsel der Familie Salomon gelesen werden; Saint-Rémy identifiziert sich mit der Mulattentradition in Les Cayes. Ein Hinweis auf Geffrard erübrigt sich, da dessen Vater eine zentrale und allgemein positiv bewertete Rolle im Unabhängigkeitskampf gespielt hat. 96 Siehe Bonneau, 1856, S. 145, und Bonneau, 1862, S. 14. In der einzigen wirklichen politischen Apologie erweist sich Madiou als Vorläufer der Ardouinschen These von der moralischen Höherwertigkeit der Mulattenelite des Westens: "... les hommes de couleur de l'Ouest, supérieurs aux Noirs en instruction, par le fait des circonstances, employant à l'amélioration morale et intellectuelle des masses leurs connaissances, n'ont jamais abandonné cette ligne politique ... la

186 methodischen Vorwürfe Ardouins und Saint-Rémys gegen den Chefredakteur des Moniteur haïtien, auf die weiter unten eingegangen wird, zur aktuellen Distanzierung von einem kompromittierten Intellektuellen. Es konnte also zwar nicht der Kaiser selbst, wohl aber die zentrale Figur des kaiserlichen Pressewesens von Gegnern des Systems angegriffen werden, ohne daß dies schwerwiegende Folgen für die Verbreitung ihrer Schriften hatte - es ist bereits darauf verwiesen worden, daß die ausländische Presse in Haiti nicht beschlagnahmt wurde (Kap.III.5.2). Die stark von der jeweiligen politischen Konstellation abhängige Intervention des Staates in die Medien, insbesondere die Tagespresse, weist, wenn auch nicht in der Härte des Strafmaßes, viele Gemeinsamkeiten mit der Praxis des Second Empire auf. Auch die Kontrolle des Theaters und die daraus resultierenden Strategien der Autoren sind durchaus vergleichbar, zumindest legt das der einzige dokumentierte Fall einer Majestätsbeleidigung nahe. 1854 hatte Liautaud Ethéart 97 das Theaterstück La Fille de l'Empereur geschrieben, das die tragische Liebe zwischen Dessalines' Tochter Célimène und Toussaints Neffen Chancy zum Gegenstand hat: Dessalines hatte sie mit Pétion verheiraten wollen, um auf diese Weise Schwarze und Mulatten zu verbinden. Célimène aber war bereits schwanger; der Vater ihres Kindes war Chancy. Dessalines selbst war darüber nicht informiert. Pétion, der von Chancy in Kenntnis gesetzt worden war, hatte das Angebot des Kaisers mit der Begründung abgelehnt, er habe einen Schwur getan, unverheiratet zu bleiben. Nach dem Bekanntwerden der Schwangerschaft wurde Chancy verhaftet; er erschoß sich mit einer Pistole, die Pétion ihm hatte zukommen lassen. Ethéarts Stück folgt im wesentlichen der Madiouschen Fassung dieser Polit-Tragödie, enthält aber einige melodramatische Elemente, insbesondere dann, wenn es um Pétions Verweigerung der Ehe geht. Dennoch ist dieser eindeutig die positivste Figur des Stückes. Dessalines selbst wird zum einen als Despot abgelehnt, andererseits als aufrechter Patriot gefeiert, der Toussaint der Kollaboration mit den Franzosen anpolitique conciliatrice qu'ont suivi les Pétion, les Borgella, les Guerrier et que pratique actuellement le Président Riché; ...", siehe Histoire d'Haïti, Bd. 1, S. 126/27. 1847, unter Riché, war Madiou Direktor des Lycée National. Den gleichen Posten bekleidete er noch als er den dritten Band veröffentlichte, in dem sich die von Bonneau unterstellte Parteinahme für Christophe befindet. Angesichts der Tatsache, daß Soulouque, wie oben bemerkt, an Lamarres Seite gegen Christophe gekämpft hatte, konnte sich der Historiker bei dem Präsidenten keinesfalls mit einem positiven Urteil über den Despoten aus dem Norden einschmeicheln. Die in Desquirons Pressegeschichte Haitis zitierten Passagen zu Madiou monumentalem Werk deuten vielmehr an, daß die Regierung Riché versucht haben soll, die Ankündigung der Publikation zu zensieren. Bereits zu diesem Zeitpunkt kündigt Saint-Rémy im Manifeste seine Kritik an Madious Pétion-Bild an, siehe Desquiron, S. 231 u. S. 243/44. 97 Liautaud Ethéart wurde am 9.März 1826 in Port-au-Prince geboren und starb dort am 21. November 1888. 1854 gründete er das Collège Wilberforce, dem er bis 1858 vorstand. Seit 1859 war er fast ununterbrochen in den diversen Regierungen als Mitarbeiter im Erziehungs-, Kriegs-, Außen- und Finanzministerium sowie zuletzt im Vorstand der Nationalbank tätig. Auch er bekleidete zeitweilig den Chefredakteur-Posten im Moniteur haïtien, siehe Duvivier, S. 229 Anm.l.

187 klagt, und die Massen gegen die Bereicherungspraktiken der neuen Elite verteidigen will. In dem Vorwort zur Pariser Ausgabe von 1860 schreibt Ethéart: Je n'ai pas besoin de ... rappeler,..., toutes mes déceptions, quand je présentais cette pièce, sur le conseil de quelques amis qui l'avaient lue au gouvernement qui régissait alors les destinées de notre pays: le titre, je crois, épouvanta les ministres de l'Empereur Soulouque, qui lui aussi avait une princesse, et il fut décidé qu'on ne m'accordait pas la permission ... Force me fut d'attendre le jour où Haïti redeviendrait libre. (S. 6)

Bemerkenswert ist vor allem, daß es überhaupt einen Autoren gab, der emsthaft geglaubt hatte, daß man ein solches Stück hätte aufführen können. Ethéart wartete aber nicht, bis in Haiti wieder die Freiheit herrschte. Stattdessen präsentierte er 1855 ein Stück, das in dem Sammelband Miscellanées in Port-auPrince veröffentlicht wurde. Das Drama spielt diesmal nicht in Haiti, sondern ist einer Episode aus dem 32. und 33.Gesang des Inferno nachempfunden. Dante sieht in der Hölle, wie Ugolino de la Gheradesca, ein Condottiere aus Pisa, dem Bischof von Pisa, Ruggiero d'Ubaldini, den Schädel abnagt. Auf der Erde suchte Ugolino, Ruggieros Gelüste auf den Dogentitel zu unterbinden, weswegen dieser seinen Widersacher und dessen Kinder in einem Turm verhungern ließ. Aus diesem Stoff entwickelt Ethéart das Stück Les Guelfes et les Gibelins. Im Vorwort schreibt er, er habe ursprünglich ein Stück über Toussaint Louverture geplant, doch da sei ihm Lamartine zuvorgekommen und so habe er bei Dante eine Parallele zum Schicksal Toussaints gefunden: Ugolin, dans son occupation constante à ronger le crâne de Ruggiero d'Ubaldini,..., doit sourire de satisfaction en voyant Toussaint Louverture ronger celui de Napoléon Bonaparte. (S. IV)

Der Dantesche Turm wird hier durch das Fort Joux ersetzt, in dem Toussaint erfroren ist. Der patriotische Vergleich verdeckt nur schwach einen aktuelleren, der aber für jeden Zeitgenossen offensichtlich gewesen sein müßte: In der Unterwelt werde es bald auch einige geben, die an Soulouques Schädel nagen. Ethéart hat dieses Rachemotiv von Emile Nau 98 übernommen, der im Vorwort seiner Histoire des Caciques noch deutlicher wird: Christophe Colomb charge de fers et fait périr le plus illustre des Caciques d'Haïti; peu après il est jeté lui-même dans les fers, et, en sortant de la captivité, il ne tarde 98 Emile Nau, geboren 1812 in Port-au-Prince, gestorben 1860 ebenda. Er war der Theoretiker der sogenannten Generation von 1836, der neben seinem Bruder Ignace die Brüder Ardouin und Lespinasse angehörten. In der Zeitung Le Républicain forderte der 24 jährige Neuerer eine Nationalliteratur, die das "génie africain" und das "génie européen" vereinen sollte. Die Gruppe zerbrach an politischen Differenzen. 1843 wurde Emile Nau zum Abgeordneten von Port-auPrince gewählt, wo er als Jurist tätig war. Soulouque adelte ihn zum Baron. 1854 veröffentlichte er die Histoire des caciques d'Haïti, die ihm ungeteilte Zustimmung sowohl in Haiti als auch in Frankreich einbrachte. Weitere Angaben bei Berrou/Pompilus, S. 247 und Viatte, S. 360.

188 pas à s'éteindre dans l'abandon, la pauvreté et la disgrâce. Napoléon fait arrêter déloyalement Toussaint Louverture, le premier des noirs, et l'envoie mourir sur un rocher glacé du Jura; douze ans plus tard, les rois de l'Europe coalisés le rélèguent sur le rocher brûlant de Sainte-Hélène où il expire. Les annales d'Haïti abondent en enseignements utiles pour l'étude et l'instruction de l'humanité. Le temps y ajoutera probablement d'autres événements d e plus grande portée que ceux qui sont déjà accomplis. (S. 15/16) B e i d e sehen die G e s c h i c h t e als Racheinstanz an, aber während Ethéart sie in einer fernen Unterwelt androht, hofft N a u n o c h auf die Strafe im Diesseits. Allerdings enthält Les Guelfes

et les Gibelins

auch direkte Warnungen an den D e s p o t e n , seinen

Untertanen nicht zu trauen. D a s Ideal j e d e s Diktators sehe w i e folgt aus: Pise sera entre mes mains un corps sans vie, à qui j e communiquerai, quand j e voudrai, le mouvement. (S. 70) Man müßte die lokale Kultur s c h o n gänzlich verkennen, u m hierin nicht e i n e Anspielung auf den W u n s c h nach einer Z o m b i f i z i e r u n g Haitis zu sehen. D i e M a s s e n , die zombifiziert w e r d e n sollen, akklamieren den Prätendenten noch mit "Vive le Doge!", d o c h hat Ruggiero nicht damit gerechnet, daß dies alles inszeniert ist, u m ihn in Sicherheit zu w i e g e n , denn gleich darauf wird er f e s t g e n o m m e n . E i n e deutliche Warnung, daß S o u l o u q u e s "Zombis" vielleicht d o c h nicht ganz s o m e c h a n i s c h "Vive l'empereur!" rufen. D i e Verfahren, die Zensur zu unterlaufen, sind in Haiti und F r a n k r e i c h " analog. Nur wer Ethéarts Text kennt, kann beurteilen, w a s B o n n e a u mit seiner scheinbar paternalistischen Literaturkritik betreibt: Le second drame Guelfes et Gibelins, est sous tous les rapports supérieur au premier; on y trouve de l'imagination et quelquefois la chaleur, mais ce drame laisse encore beaucoup à désirer au point de vue du style et de l'agencement, et M.Liautaud (!) a eu la malencontreuse idée de mettre en action l'episode terrible de la Tour de la Faim. Aborder après Dante un tel sujet c'est suspendre bien légèrement sur soi le poids d'une écrasante comparaison, et un athlète cent fois éprouvé dans l'arène littéraire reculerait devant les dangers d'une lutte pareille. 1 0 0 D i e paternalistische Perspektive verhindert, die Kritik an S o u l o u q u e auch nur anzudeuten, der Kritiker gibt d e m farbigen Theateraspiranten nicht e i n m a l den nahelieg e n d e n Rat, sich e t w a v o n Alexandre D u m a s ' Tour de Nesle

inspirieren zu lassen,

99 Siehe Philibert Audebrand "La reine de Madagascar", in Le Charivari, 25.7.1863. Der Autor deutet an, daß die Episode aus dem Inferno ein ständig wiederkehrendes Motiv in der oppositionellen Satire ist. 100 Siehe Bonneau, 1856, S. 131. Der haitianische Literaturhistoriker Duraciné Vaval kommt zu einer ähnlichen Bewertung, nachdem er zuvor sybillinisch auf ein universelles Rechtsempfinden hingewiesen hat: "... on sent que l'Archevêque de Pise va être puni de sa cruauté. Ce dénouement suggère cent choses et ouvre à l'horizon de vastes espaces. Ce dénouement donne satisfaction à l'instinct de justice qui sommeille au fond de nous. Mais, hélas! quel honneur un écrivain peut-il tirer en traitant ce grand sujet? Marcher sur les brisées de Dante, n'est-ce pas se condamner soi-même à une inévitable infériorité?", siehe Vaval, S. 253.

189 wahrscheinlich weil dieses Stück seit seiner Uraufführung 1832 mit Zensurproblemen behaftet war und diese Turm-Episode ebenfalls etwa vom Charivari für seine Angriffe gegen das bonapartistische Regime genutzt wurde 101 . In seinem Bemühen, jeden Vergleich zwischen Haiti und Frankreich rassistisch abzuwehren, betreibt Bonneau das Spiel der französischen Zensur, da es auch in Paris Leser gäbe, die sich daran erinnerten, daß auf der Belle-Ile, in Lambessa oder in Cayenne Gefangene dahinvegetierten. Der rein literarische Vergleich mit Dante verkennt nicht nur die Strategie Ethearts, er übersieht auch ähnliche Verfahren in der Pariser Presse. Der mündliche Widerstand gegen Soulouque, der sich etwa in Spottliedern oder Sprichwörtern artikulierte, ist nicht inventarisiert und würde somit eine lange Sucharbeit in den unterschiedlichsten Quellentypen erfordern. Einen Beleg für die Existenz solcher Lieder lieferte der französische Konsularangestellte Prax 1857 in seinem Manuskript über die Regierungszeit Soulouques. Die Bildlichkeit eines Loblieds auf das Handelsmonopol denunziert über die Metaphern für Soulouque ("ventre") und das Volk ("bouche") die realen Abhängigkeitsverhältnisse 102 . Soweit es sich aus den spärlichen Zeugnissen rekonstruieren läßt, wurden in Haiti ähnliche Formen des kulturellen Widerstandes gegen die Diktatur praktiziert wie in Paris. Ob die Repressionsmethoden im schwarzen Kaiserreich "barbarischer" waren als im weißen, das herauszufinden, mag denen überlassen bleiben, die über das entsprechende quantifizierende Instrumentarium verfügen. Sowohl Autoren als auch der "Volksmund" hatten auf beiden Seiten des Atlantiks die Schere im Kopf.

101 Die Mordserie der Marguerite de Bourgogne in La Tour de Nesle ist nicht auf Soulouque umgeschrieben worden, aber sonst häufig anzutreffen. 102 Hier Praxens Transkription und Erklärungen, siehe Prax, S. 483-486: "Chanson sur le monopole: 'Général zéchalote / Voyé porté pitit-salé; / Dis-li monopole en vigueur (bis) / Ventre avec bouche / Qu'après plaidé pour patate bon marché; / Ventre même Ii di com ça: / Moin pas ioun nhom musador; / Tant pis pour maqueriau zyé pété.' Pour faire comprendre ce langage, il faut donner deux traductions, l'une pour le sens propre, l'autre pour le sens figuré: 'Général échalote / Envoyez porter à petit-salé / Dites lui que le monopole est en vigueur. / Le ventre est avec la bouche / pour avoir la patate à bon marché; / Le ventre même dit comme ça: / Je ne suis pas un homme musard: / Tant pis pour le maquereau qui a un oeil crevé.' 'Général Similien / Envoyez à Charles Alerte; / Dites lui que le monopole est en vigueur. / Soulouque est avec le peuple / L'un et l'autre voulant la patate à bon marché; / Soulouque même dit comme ça: / Je ne suis pas un homme musard; / Tant pis pour le général Lazarre le borgne.'" Prax erklärt weiter, daß Similien und Alerte sich wie Schalotten und Schweinespeck vertragen hätten, daß Soulouque als Bauch die Macht repräsentiere, für die das Volk als hungriger Mund arbeite. Beide wollten demzufolge billige Kartoffeln. Das Volk stehe also auf der Seite Soulouques, der mit dem Monopol scheinbar die Nahrungsmittelpreise niedrig halte. Soulouque wolle nicht, wie der General Lazarre 1843, der Boyers Platz hätte einnehmen können, arm sterben. Similien und Alerte waren Anführer der städtischen Unterschichten, ersterer wurde 1849 entmachtet, während letzterer das Regime überlebte.

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3.2 Die haitianischen Autoren und ihre Pariser Kritiker Alle haitianischen Autoren, die in den 50er Jahren in Paris publizierten oder das Pariser Publikum als mögliche Leser anvisierten, weisen einige gemeinsame Prämissen auf, die nicht unbedingt von jedem französischen Zeitgenossen geteilt wurden: - Eine klare Absage an den Rassismus, was nicht die Meinung verhindert, die Mehrzahl der Schwarzen sei ungebildet und abergläubisch. Dieser Zustand könne allerdings durch Erziehung behoben werden, was zum Teil schon realisiert sei. Alle sind sich einig, daß Farbunterschiede nicht als Stratifikationskriterium benutzt werden sollten. - Eine klare Absage an die Despotie und damit ein tendenzielles Eintreten für die Republik, in jedem Fall aber für die Ideale der französischen Revolution. Unumstrittene Vorbilder sind Raynal, Brissot und Grégoire. Auch im Second Empire Napoleons III. signaliserten sie in Texten oder durch persönliche Bekanntschaften eine Affinität zum gemäßigten Republikanismus: Madiou und Ardouin verkehrten bei Michelet 103 , Saint-Rémy widmete sein Werk dem Abolitionisten Isambert und spielt dabei auf das Fehlen einer parlamentarischen Opposition in Paris an 1 0 4 und Faubert erinnerte in seiner Ode Aux Haïtiens an das Schicksal der ungarischen Republik, deren Niederschlagung durch die Österreicher im Jahre 1849 in Paris von den Republikanern als Menetekel für das erwartete Ende der Zweiten Republik benutzt wurde 1 0 5 . - Die Korrektur der in Frankreich vertretenen Meinung, daß die Convention den Sklaven die Freiheit geschenkt habe; für die Haitianer steht dagegen außer Frage, daß die Zivilkommissare und die Convention auf den Widerstand der aufständischen Sklaven reagieren mußten.

103 Der von Trouillot, siehe Pressoir u.a., S. 181, erwähnte Briefwechsel zwischen Ardouin und Michelet läßt sich nicht in dessen Korrespondenz belegen, ist aber wahrscheinlich, da in seinem Tagebuch mehrere Besuche Ardouins notiert sind, zum Beispiel am Mardi Gras 1857, als er gemeinsam mit Madious Sohn bei ihm dinierte. Michelet notierte ebenfalls, daß er am 26.5.1859 ein Diner zu Ehren Madious gab, zu dem einige bekannte Republikaner, unter anderem Taxile Delord, geladen waren. 104 In seiner Widmung zu Beginn des ersten Bandes von Pétion et Haiti schreibt er an Isambert: "Aujourd'hui encore, en l'absence de parlement, votre voix généreuse s'élève chaque fois qu'il s'agit de seconder les vues éclairées du ministre bienveillant qui dirige la Marine et les colonies." Der Minister war offensichtlich bereit, den Hinweis auf die Repression des Parlamentarismus zu übersehen und die ihm zugeschriebene Fortschrittlichkeit als hinreichende Legitimation für sein Amt zu akzeptieren, da sein Name unter den Subskribenten zu finden ist. 105 Die Ode wurde 1850 im Pariser Exil geschrieben und dort 1856 in dem Band Ogé, S. 143-145, veröffentlicht. Dieses Bekenntnis zur Republik hinderte Bonneau nicht daran, Faubert als "Boileau de son pays", 1856, S. 128, zu bezeichnen, wobei er sich auf dessen Liebeslyrik und das reine Französisch bezog.

191 - Die Ablehnung der napoleonischen Kolonialpolitik, verbunden mit dem Stolz, die stärkste und tapferste Armee der Epoche besiegt zu haben. Dem Sieg über die Engländer kommt nicht die gleiche Bedeutung zu. Tatsächlich dienen in allen diesen Argumenten die universalistischen Werte des französischen Republikanismus gegen die historischen Exzesse in Frankreich und Haiti als Bewertungsmaßstab. Das hier angestrebte Zivilisationsmodell sieht keine afrikanischen Gesellschaftsformen wie zum Beispiel kollektiven Bodenbesitz oder auch nur Subsistenzwirtschaft vor. Wenn auch die Beurteilungen über das Massaker an den Franzosen, das Verbot von Grundbesitz für Weiße und die Legitimität der Unabhängigkeitsschulden auseinandergehen, so stimmen doch alle haitianischen Autoren darin überein, daß Weiße der karibischen Republik in der aktuellen Situation auf dem Weg zu mehr Fortschritt helfen sollten. Bei so vielen ideologischen Gemeinsamkeiten stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die französischen Kommentatoren ihrerseits die Studien der Haitianer kategorisieren und dann eindeutig bewerten.

3.2.1 Das Wahre oder das Wahrscheinliche In der Epoche des aufkommenden Positivismus erstaunt es nicht, daß die Beurteilung eines historischen Werkes wesentlich von der Kritik der verwendeten Quellen und ihrer Darbietung abhängt. Die in Paris forschenden Haitianer machen da keine Ausnahme. Saint-Rémy und Ardouin heben besonders die Verwendung schriftlicher Dokumente aus den französischen Archiven gegenüber Madious Vertrauen in mündliche Traditionen hervor. Doch hat das Exil ihnen nicht gänzlich den Blick für die heimischen Realitäten getrübt, und so scheint ihnen selbst das Ausspielen der Archivarbeit gegen die Interviews mit Revolutionsveteranen ein unfaires Argument zu sein. Ardouin gibt zu, in seiner 1832 in Haiti verfaßten Géographie d'Haiti von ähnlichen Annahmen wie Madiou ausgegangen zu sein, erst das Studium der Pariser Dokumente habe sein Urteil geändert 106 . D'Alaux und Bonneau tadeln daher Madiou weniger für seine Lücken, als daß sie Saint-Rémy und Ardouin für die Anstrengungen loben, Madious Darstellung mit "positiven" Fakten zu konfrontieren 107 . Nun stellt sich die Frage, in welchem Sinn die "positiven" Fakten die mündliche Tradition, die die beiden Exilierten ebenfalls heranziehen, korrigieren sollen. Die französischen Kritiker hatten ja Madiou in ihren jeweiligen Zeitschriften vorgeworfen, die Ereignisse kritiklos aneinandergereiht zu haben (siehe IV. 2.1.2.1/2.1.2.3) daß dessen krampfhaftes Festhalten an der Chronologie die vielgelobte "couleur lo106 Siehe Ardouin, Bd.IV, S. 56. 107 Bonneau verkennt keineswegs die prekäre Quellenlage in Haiti, nur erwähnt er sie nicht bei der Besprechung Madious, sondern anläßlich einer Rezension der Histoire des caciques d'Haiti des insgesamt positiv beurteilten Emile Nau: "II (das Buch, CHM) est le fruit de longues recherches dont on comprend la difficulté dans un pays où il n'existe pas une bibliothèque. Cette reflexion, ..., désarmera les érudits qui reprochent hautement à M. Emile Nau de n'avoir consulté qu'une partie des sources espagnoles ...", siehe Bonneau, 1856, S. 147.

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cale" ermöglicht, wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Ein längeres Zitat von Saint-Rémy aus dem Jahre 1854 - ähnliche Argumentationen finden sich auch schon in den d'Alaux vorliegenden Werken - veranschaulicht, wie die Fakten zu einem kohärenten Urteil zusammengefügt werden sollen: Je regrette qu'un écrivain national, M. Madiou, ait cherché à ternir la mémoire de ce brave (Desruisseaux, C H M ) , en avançant qu'il désapprouvait la résistance que Rigaud opposa aux vues ambitieuses de Toussaint. Desruisseaux et sa famille avaient été victimes des blancs ... Il portait naturellement dans le coeur, c o m m e Rigaud, une haine invétérée aux colons, dont Toussaint se faisait le protecteur. L'héroïsme avec lequel il avait combattu les Anglais toute sa conduite, en un mot, repousse la supposition de M. Madiou. Il faut, avant d'écrire l'histoire, confronter les traditions, les vérifier les unes par les autres, s'éfforcer de démêler le vrai du vraisemblable. A ces conditions seulement, on peut faire une oeuvre durable et utile. 1 0 8

Unter Bezugnahme auf die aristotelische Zuordnung des Wahren als Gegenstand der Geschichte einerseits und des Wahrscheinlichen als Gegenstand der Fiktion andererseits wird hier, in Ermangelung einer "positiven" Quelle, mit einem Lebenslauf gegen die unterstellte böse Absicht des Kollegen argumentiert. Die Kategorien aus der Poetik werden dabei eigenwillig uminterpretiert: Das Wahre der Geschichte leite sich aus dem psychologisch Wahrscheinlichen ab; die Wahrheit der mündlichen Tradition an sich stelle noch kein historisches Faktum dar. Diese Neuauflage der Querelle du Cid mit umgekehrten Vorzeichen führt zum gleichen Schluß, daß nämlich das psychologisch Wahrscheinliche immer das Wahrscheinliche entsprechend der zugrundeliegenden Ideologie ist. Wenn d'Alaux und Bonneau also die beiden haitianischen Historiker für die Verwendung "positiver Fakten" loben, dann nur deswegen, weil diese eine scheinbare Verobjektivierung politischer Prämissen gewährleisten sollen.

3.2.2 Haitianische Konflikte und französische Konfliktdarstellung Anhand von drei Urteilen über historische Phänomene (den Bürgerkrieg zwischen Toussaint und Rigaud, die Rolle Dessalines und die konkurrierenden Systeme Christophes und Pétions) sollen die politischen Differenzen zwischen den drei

108 Siehe Saint-Rémy, Pétion et Haïti, Bd. 2, S. 109. Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß Toussaint ebenfalls gegen die Pflanzer und die Engländer gekämpft hatte. Saint-Rémy hat Madious Zitat bewußt mißverstanden, da dieser über Desruisseaux folgendes Urteil fällt: "II fut victime de son dévouement à la personne du général Rigaud, car maintes fois il avait dit que cette guerre civile avait son origine dans le patriotisme aveugle de son général qui n'aurait dû s'armer contre Toussaint Louverture que d'après les instructions précises du Directoire exécutif.", siehe Madiou, Bd. 2, S. 48. In dieser Darstellung handelt es sich also nicht um die von Saint-Rémy unterstellte Annäherung an Toussaints Kriegsziele, sondern um einen Konflikt zwischen persönlicher Loyalität und legalistischem Denken. Saint-Rémy will Madious mehrfach geäußerten Vorwurf, Rigaud sei genauso machtversessen wie Toussaint Louverture gewesen, entkräften.

193 Haitianern illustriert werden 109 , um sodann nachzuzeichnen, auf welche Weise diese sich in den Darstellungen der französischen Kritiker wiederfinden. Der zentrale Kritikpunkt der beiden Exilhistoriker an der Histoire Madious liegt in deren Beurteilung des Bürgerkrieges zwischen Toussaint und Rigaud als Kampf zweier Generäle um die Vorherrschaft auf der Insel, den beide Seiten zur Auseinandersetzung zwischen Schwarzen und Mulatten hochstilisiert hätten 110 . Für Ardouin und Saint-Rémy strebte Toussaint die Diktatur an und machte sich zum Werkzeug der weißen Pflanzer, während Rigaud für die Freiheit aller und die französische Republik eintrat 111 . Einen Konflikt der Kasten habe es nicht gegeben: Schwarze und Mulatten hätten auf beiden Seiten gekämpft, wer die gegenteilige Position beziehe, übernehme die Argumente der alten Kolonialherren: ... copier bénévolemment les écrits des étrangers, particulièrement des écrivains français, qui, abusant par les termes et les distinctions établis par le système colonial, ont attribué cette querelle à une haine instinctive entre le noir et le mulâtre." (Hervorhebung im Original, Ardouin, Bd. 4, S. 75) Hier wird der Madiousche Skeptizismus unter der Hand in eine Verteidigung Toussaints umstilisiert und durch die Ablehnung dieser unterstellten Apologie erscheinen die Haitianer im Pariser Exil als aufgeklärte Republikaner. Wenn die Exilierten in diesem Punkt noch der gleichen Meinung sind, so nähert sich Ardouin bei der Beurteilung Dessalines wiederum Madiou an, indem er den schwarzen General als wahren Helden der Unabhängigkeit feiert, dessen Regierung danach allerdings in Despotie ausgeartet sei. Beide Historiker verteidigen sogar das 109 Elemente der folgenden Analyse finden sich bereits bei Nicholls, S. 95 ff. 110 Madious Position läßt sich gut an seiner Verteidigung Bauvais' illustrieren. Dieser hatte seinen Posten als Kommandant von Jacmel genau in dem Moment verlassen, als ein Angriff der Truppen aus dem Norden bevorstand, weil der Beauftragte des Direktoriums, Roume, ihn auf Betreiben Toussaints abgesetzt hatte. Gegen die Vorwürfe aus den Reihen der Anhänger Rigauds begründet der Historiker das Verhalten des Generals wie folgt: "... il était dégoûté depuis longtemps, quoique homme de couleur, de la folle présomption des Mulâtres (!) qui, ambitieux et indisciplinés, se montraient difficiles à contenter. D'une autre part, il s'apitoyait sur l'aveuglement de la plupart des chefs des noirs qui, subissant l'influence des anciens colons, prêtaient leurs efforts sans s'en douter au rétablissement de l'ancien régime. Il ne voyait de patrie que dans la France républicaine ... /... Bauvais était un citoyen froid, instruit, d'un esprit supérieur; il s'étudia toujours à contenir ses passions ne voulant devenir l'instrument de l'ambition de Rigaud et de Toussaint qu'il estimait peu, il partit pour la France, déterminé à ne tirer désormais son épée que pour la cause sainte de la Patrie.", siehe Madiou, Bd. 2, S. 14 / 15. Bauvais eignete sich umso mehr als Identifikationsfigur für eine idealistische Position, als ihm erspart blieb, sich später mit Napoleons Politik zu kompromittieren, wie Pétion, Rigaud und Boyer, da das Schiff, das ihn nach Frankreich bringen sollte, auf der Überfahrt kenterte, und er seinen Platz im Rettungsboot für Frau und Tochter freimachte, indem er sich den Fluten übergab. 111 Ardouin greift auch die vermeintliche Position Saint-Rémys an, in Übereinstimmung mit Madiou den Konflikt Mulatten versus Schwarze als Auslöser des Krieges anzusehen. Tatsächlich verurteilte Saint-Rémy seit 1850 den Kastenkrieg als Propagandainstrument Toussaints, siehe Saint-Rémy, 1850, S. 318 / 319.

194 Massaker an den Franzosen als notwendig, um die früheren Greueltaten der Weißen zu rächen und in deren Blut die Einheit der Nation zu besiegeln. Auch das Verbot des Grundbesitzes für Weiße sei im Falle Frankreichs solange berechtigt gewesen, als in den Kolonien die Sklaverei bis 1848 fortbestand. Die letzteren Positionen kritisiert Saint-Rémy nachhaltig im Sinne der Menschlichkeit und der Freiheit des Besitzes 1 1 2 . In der Beurteilung Christophes folgt Ardouin aber nicht seinem Vorgänger. Nachdem dieser die Despotie des schwarzen Königs in allen grausamen Details geschildert hat, kommt er zu dem Schluß: Néanmoins faisant abstraction de ses fureurs qui ne se calmaient souvent qu'à la vue du sang, et qui l'ont réduit à s'ôter la vie en 1820, pour ne pas tomber en la puissance populaire, son gouvernement restera un modèle d'ordre et de forte organisation. (Madiou, Bd.3, S.520) Madiou argumentiert hier ähnlich widersprüchlich wie vor ihm Schoelcher in Frankreich, wenn das Regime des "caligula noir" (Schoelcher) gegen die Rassisten angeführt wird, um zu belegen, daß die Schwarzen Kultur hervorbringen könnten. Pétions Republik habe weder im Schulsektor noch in Architektur oder Landwirtschaft mehr geleistet. Ardouin "applaudiert" der Schilderung der Diktatur, um dann die Bedingungen für "ordre" und "organisation" zu definieren: Il n'y a pas non plus d'organisation,

puisque celle-ci n'est que le résultat de l'ordre

établi et suivi, d'après la règle et les lois qui l'obligent autant le gouvernement que les particuliers. Or, si le despote, le tyran sanguinaire ne suit que les inspirations de sa volonté et de ses caprices ... Si l'on peut appeler ordre et organisation

un tel état

de choses, ce sont ceux de la terreur; mais ce ne sera jamais un modèle à louer ..." (Hervorhebung im Original, Ardouin, Bd. 7, S. 61 ) " 3 Nach dieser Absage an ein autoritäres "ordre"-Konzept muß Ardouin als unbescholtener, prinzipientreuer und von Farbvorurteilen freier Republikaner erscheinen, Madiou dagegen nur noch als Apologet des jeweiligen haitianischen "ordre". Tatsächlich 112 Ardouin hatte bereits 1842 in seiner Replik auf Isamberts Artikel die Position Juste Chanlattes vertreten, Schwarze und Mulatten müßten im Blut ihrer Unterdrücker ihre Einheit besiegeln, siehe Ardouin, 1842, S. 9.1856empfiehlt Ardouin in einer Anmerkung (Bd. 6, S. 344, Anm. 1) Madious "excellent résumé biographique" zu Dessalines. Saint-Rémy geht im Vorwort zum fünften Band von Pétion et Haïti auf Leserzuschriften ein, die scheinbar in Ardouins und Madious Sinne die franzosenfeindliche Politik Dessalines' verteidigen, und macht dort vor allem Boisrond-Tonnerre und Juste Chanlatte als Kriminelle für das Exterminations-Dekret verantwortlich, wobei ihn sein Wunsch, diese beiden von jeglicher Humanität auszuschließen, sogar die "Objektivität" der Craniologie, die er sonst beim Rassenvergleich für unangebracht hält, anrufen läßt: "Il est à regretter que la science ne possède pas les boîtes osseuses de Boisrond et Chanlatte; soumises à l'analyse phrénologique, elles eussent pu grandement contribuer à expliquer les phases de leur existence.", siehe Pétion et Haïti, Bd. 5, S. VI, Anm. 1. 113 In Dezobrys Dictionnaire nähert sich Ardouins Beitrag unter dem Stichwort "Christophe" Madious Position etwas an: "Christophe était très-brave et très-cruel. II aimait le luxe jusqu'au faste. Doué de l'esprit d'organisation à un haut degré, mais aussi de celui du despotisme, il gouverna avec une dureté qui provoqua une révolution ...". Wesentlich ausführlicher aber ebenso widersprüchlich ist Isamberts Artikel in Michauds Biographie.

195 kommt aber der Verteidiger Pétions und Boyers auch nicht ohne den Rückgriff auf autoritäre Herrschaftsformen aus: Diese beiden, nach seiner Meinung aufgeklärtesten Regenten in der Geschichte der Republik mußten mehrfach die demokratische Verfassung und das Parlament außer Kraft setzen, um das Gemeinwohl, das selbstverständlich Schwarze und Mulatten umfasse, nicht durch Partikularinteressen zu gefährden. Konsequent vergleicht Ardouin in seinem Geschichtswerk die französische Revolution von 1848 an mehreren Stellen mit der haitianischen von 1843, die ihm nicht nur ein kurzes Exil und einen Gefängnisaufenthalt bescherte, sondern vor allem - mit der Zerstörung des boyeristischen Laissez-Faire-Regimes durch eine Fraktion der Bourgeoisie - das Aufkommen der "Kommunisten" unter der Führung Acaaus ermöglicht habe. Betont also Madiou die Einheit der Nation als Garantin für Fortschritt, so sieht Ardouin in der Einheit der Bourgeoisie das staatstragende Element. Beide setzten keine gesteigerten Hoffnungen in den Parlamentarismus, sondern hoffen eher auf am Gemeinwohl orientierte Politiker. Entbehrten diese beiden Postitionen schon einer überzeugenden historischen Realisierung, so unternimmt Saint-Rémy den noch schwierigeren Versuch, Pétion und dessen republikanische Überzeugungen als Höhepunkt der haitianischen Geschichte herauszustellen, gleichzeitig aber dessen autoritäre Verfassung und die diversen Entmachtungen des Parlaments zu kritisieren. Immerhin habe Pétion seine Macht ausschließlich zum Wohle des Staates eingesetzt, die diktatorialen Praktiken seien dagegen von Boyer übernommen worden, welcher den Staat bankrott gewirtschaftet habe. Die Revolutionäre von 1843 seien teils an ihrem eigenen Machtstreben, teils an den Gruppen- und Klassengegensätzen gescheitert. Saint-Rémys Ideal eines demokratisch gewählten Parlaments, das eine starke Exekutive kontrolliert, die die Versöhnung der Klassen und die Modernisierung auch mit fremdem Kapital fördern soll, ist nie verwirklicht worden. Jeder der drei haitianischen Historiker bot also den französischen Rezensenten, je nach Perspektive, genügend Material für Lob und Ablehnung. So hebt die einzige positive Rezension über Madious Histoire, die J. Girard in der Revue de l'Instruction publique en France veröffentlichte, den später von Ardouin so scharf kritisierten "ordre" hervor, den Madiou auch unter der Herrschaft Toussaint Louvertures konstatiert: Qu'avait fait Toussaint pour Saint-Domingue pendant sa dictature? Il y avait ramené l'ordre, le travail et la prospérité.114

114 Siehe J. Girard: "Histoire d'Haïti par Thomas Madiou", in: Revue de l'Instruction publique en France, 27.3.1854, S. 254. Bereits 1849 war eine Rezension von Charles Gaumont in der schoelcheristischen Liberté (11.8.1849) in Fort-de-France erschienen, die den Historiker wegen seiner Mäßigung lobt und trotz der augenblicklichen Kaiserreich-Parodie hofft, daß sich der Fortschritt in Haiti durchsetzen werde: "Ces reflections prouvent d'ailleurs, que l'auteur ne se fait pas illusion sur les conditions de progrès, et permettent de croire que la haute position qu'il occupe dans l'enseignement public ne sera pas sans fruits pour l'instruction de ses conci-

196 Abschließend bemerkt Girard, welche Harmonie heute zwischen Frankreich und Haiti herrschen könnte, wenn Napoleon Toussaint seinerzeit an der Macht belassen hätte. Der "premier des noirs" hätte somit vom "premier des blancs" akzeptiert werden sollen. Implizit wird hier das bekannte Argument benutzt, der Erste Konsul sei falsch beraten worden und habe in dem schwarzen Politiker nicht den Imitator erkannt, der sich nur danach sehnte, von seinem Vorbild anerkannt zu werden. Die Tatsache, daß die auch vom augenblicklichen Regime in Paris propagierten Werte zumindest schon einmal in der Geschichte von einem Schwarzen in der Karibik realisiert worden seien, könnte den zeitgenössischen Leser auf die Idee bringen, daß vielleicht auch der aktuelle schwarze Kaiser seinen französischen Kollegen erfolgreich imitiere oder daß es sich gar umgekehrt verhielte. In jedem Fall behauptet Girard, daß die Übernahme einer europäischen Regierungsform durch einen Schwarzen nicht notwendigerweise zur Karikatur geraten muß. Eine solche Position ist für Bonneau ausgeschlossen. Gleich zu Beginn seiner Rezension zerstört er Madious optimistische Vision des historischen Fortschritts, daß in Haiti Schwarze und Mulatten vereint zur antiken Größe Ägyptens zurückkehren könnten, mit dem bekannten Argument, daß weder Ägypter noch Abessinier Schwarze gewesen seien. Schwarze hätten nie Kultur hervorgebracht, nur Barbarei. Konsequent gipfelt seine Kritik an Madiou in dem Urteil: Nous reprocherons enfin à M. Madiou, qui montre dans ses deux premiers volumes un grand enthousiasme pour la liberté, et qui glorifie ... la révolution française de 1789, d'avoir, dans son troisième volume, publié sous le règne de Soulouque, essayé la réhabilitation de cet abominable tyran, Christophe, dont le nom seul, qu'on nous passe cette expression, donne la chair de poule aux partisans les plus ardents de l'absolutisme. (Bonneau, 1856, S. 144) Bonneau diskutiert nicht, wie Ardouin, die Kategorien Madious, ja, er verwendet sie noch nicht einmal, um keinerlei Verbindung zum Ordnungsbegriff des Bonapartismus erkennbar werden zu lassen. Stattdessen suggeriert er die opportunistische Wende Madious vom Republikaner zum Anhänger einer Regierungsform, die den Absolutismus übertreffe. Für Bonneau gerät jede schwarze Regierung zu einer selbst die reaktionärsten europäischen Kategorien sprengenden Groteske. Während also die haitianischen Kritiker gegen Madious regime-indifferente Suche nach einer Politik des Fortschritts die Ideale des Republikanismus anführten, reduzierte sich für d'Alaux und Bonneau der Historikerstreit auf eine Opposition zwischen Negrophilen und Mulattophilen, wobei ersterer darunter Antagonismus der Klassen und letzterer den der Rassen verstand. Offensichtlich sollte in Frankreich, während Soulouque in Haiti regierte, den Mulatten als Agenten der Zivilisation der Rücken gestärkt werden - auch die Verteidiger toyens." Der Journalist schien zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu wissen, daß Madiou aus Protest gegen die Mulattenmassaker seinen Posten als Direktor des Lycée National aufgegeben hatte.

197 Soulouques stellten ja nicht diese Qualität der alten Elite in Frage (siehe besonders IV.2.2.2) - , aus diesem Grunde wurden auch die beiden Apologeten Pétions nicht explizit negativ gegeneinander ausgespielt. Allerdings begnügten sich d'Alaux und Bonneau im Falle Saint-Rémys damit, dessen emphatischen Stil zu loben" 5 ; für sie war Ardouin die herausragende Persönlichkeit der haitianischen Historiographie, selbst wenn der Rezensent der Revue des Deux Mondes bei ihm einen "nationalisme violent" (d'Alaux, Bd. 16, 1852, S. 1082) ausgemacht hatte. Der Gefolgsmann Boyers und Ex-Botschafter genoß auch sonst in der akademischen Welt hohes Ansehen, immerhin konnte er als einziger Haitianer der Epoche in einer Encyclopédie, bei Dezobry, seine Ansichten über die Protagonisten der haitianischen Revolution in Kurzporträts vorstellen, während Madiou sich schon rühmte, wenn er mit Bouillet dinierte und in dessen Dictionnaire d'Histoire et de Géographie zitiert wurde 116 . SaintRémy wurde keine dieser Ehren zuteil, obwohl er doch am nachdrücklichsten für das Recht der Franzosen auf Bodenbesitz in Haiti eintrat. Es ist wahrscheinlich, daß der Exilierte aus Les Cayes nicht über die gleichen guten Beziehungen 117 verfügte, wie seine Historiker-Kollegen, die ja regelmäßig bei Michelet verkehrten. Auch scheint er wesentlich größere Finanzierungsschwierigkeiten als diese gehabt zu haben; das jedenfalls legen seine ständigen Subskriptions-Aufrufe in den Vorwörtern zu den einzelnen Bänden nahe. Diese äußeren Bedingungen hinderten Saint-Rémy keineswegs daran, sich auf eine Weise, die auch dem französischen Leser nachvollziehbar war, von Ardouin zu distanzieren. 1843, während der Revolution, standen sie einander gegenüber. Mit der Regierungsübernahme durch Guerrier kam die Ardouin-Clique wieder an die Macht, was für Saint-Rémy das erste 115 Die einzige ausschließlich Saint-Rémy gewidmete Rezension, die A. Bernard in der renommierten Revue de Paris veröffentlichte, deutet an, daß sich hinter der Formel des "emphatischen Stils" durchaus politische Konnotationen verbergen können: "Un Haïtien, victime d'une des révolutions de ce pays (la politique fait partout des victimes!)...". Ob mit dieser Digression auf die Exilierten des französischen Second Empire angespielt werden soll, ist eher unwahrscheinlich, da Bernard Saint-Rémys Position radikalisiert, wenn er Toussaints Deportation befürwortet, aber für die Zeit danach sich eine "association des races" (der Begriff stammt von Saint-Rémy) in der französischen Kolonie gewünscht hätte. Aus diesem Grunde schließt er sich auch einer anderen Position des Haitianers an, der Delgrès als das eigentliche Opfer der napoleonischen Kolonialpolitik ansah. Dieser farbige General hatte sich mit seinen Getreuen 1802 auf Guadeloupe aus Protest gegen die Liquidierung der gemischtrassigen Armee durch ein französisches Expeditionsheer in die Luft gesprengt. Schon Bissette hatte in seiner Polemik gegen Schoelcher Delgrès gegenüber Toussaint aufgewertet. Bernard folgt dieser Linie und kritisiert damit implizit Girards Madiou-Rezension im Sinne einer kontrafaktischen Idylle zwischen Mulatten und Weißen, siehe A. Bernard: "Pétion et Haïti, étude monographique et historique, par Saint-Rémy (des Cayes, Haïti)", in: Revue de Paris, 38, Juli-August 1857, S. 139. 116 Siehe Madiou: Mémoires II, S. 22 und 24. 117 Geht man von einigen Hinweisen in Madious Mémoires aus, so dürften die Freimaurer-Logen ein wichtiges Element im Pariser Verbindungsnetz der Haitianer gewesen sein. Leider war es mir nicht möglich, die entsprechenden Dokumente etwa der Loge des Trinitaires einzusehen.

198 Exil bedeutete. Soweit die innerhaitianischen Konflikte. Vielleicht erinnerte man sich in Paris auch nicht mehr daran, daß Schoelcher mit dem damaligen Oppositionellen korrespondiert hatte, zumal sich dieser inzwischen von dessen Toussaint-Apologie distanziert hatte. Als eindeutiges Signal mußte aber die Widmung des Werkes Pétion et Haïti an Isambert verstanden werden. Dieser hatte ja 1841 im Constitutionnel (5.8.1841) Ardouin als intellektuelle und politische Stütze des Boyer-Regimes für die Stagnation in Haiti verantwortlich gemacht und eine heftige Polemik mit dem haitianischen Senatspräsidenten ausgelöst. Im Erscheinungsjahr von Pétion et Haïti wiederholte der frühere Abolitionist in Hoefers Nouvelle encyclopédie générale in einem Artikel über Boyer seine früheren Angriffe gegen Ardouin 118 . Isambert war Anfang des Second Empire sicher keine Stütze des Regimes, stand aber nicht für die radikale republikanische Opposition wie sein langjähriger Mitstreiter Schoelcher 1 1 9 . SaintRémy erschien also trotz seiner Prinzipientreue als gemäßigter Republikaner, hatte sich aber von der wohl einflußreichsten Figur des haitianischen Exils in Paris distanziert. Das Fortbestehen der Feindschaft zwischen den beiden wurde von keinem französischen Kommentatoren erwähnt. Für sie zählt lediglich, daß diese Historiker auf Seiten der Mulatten stehen und zu Opfern des schwarzen Despoten stilisiert werden können.

3.2.3 Haitianische Autoren und die Rassentheorien Angesichts der politischen Kategorien, denen sich die Rezeptionsstrategien Pariser Kritiker verpflichtet sahen, darf man nicht unbedingt davon ausgehen, daß die Reduktion der haitianischen Nationalgeschichtsschreibung auf den Gegensatz Schwarze versus Mulatten einer rassistischen Argumentation bei den rezensierten Autoren entspricht. Es wurde zu Beginn dieses Kapitels darauf verwiesen, daß alle hier besprochenen Historiker die Rassentheorien explizit ablehnen. Dennoch stellt sich abschließend die Frage, ob nicht das von Franzosen und Haitianern gleichermaßen vertretene Fortschrittskonzept nicht auch einen Rückgriff auf Rassenkategorien bei den Farbigen nahelegt.

118 Es ist bemerkenswert, daß Isambert als Literaturangabe keines der bisher erschienen Bücher Saint-Remys angibt, wohl aber Madious. Diese bibliographische Lücke hinderte den Exilierten nicht daran, 1857, im Nachruf auf den französischen Abolitionisten, diesen mit den Veteranen der Revolution auf eine Stufe zu stellen, siehe Saint-Remy, Bd. 4, S. XI. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß Saint-Remy aus Guadeloupe stammte und seine Eltern die Insel verließen, als die Kolonialverwaltung die Mulatten verhaftete, die später von Isambert in Paris verteidigt wurden, siehe Pressoir u.a., S. 195. 119 Siehe die Artikel "Isambert", die kurz nach seinem Tod in den Enzyklopädien von Hoefer und Michaud erschienen und die sein Engagement für die Abolition in den Kolonien würdigten, sein Lebenswerk aber von wissenschaftlichen und juristischen Leistungen gekrönt sahen.

199 Saint-Rémy gebührt das Verdienst, als einziger haitianischer Zeitgenosse gegen den rassistischen Artikel Bonneaus protestiert zu haben 120 . In seiner Erwiderung hält Saint-Rémy dem Argument, Europas dominante Position beruhe auf der Absorption fremden Blutes und fremder Kulturen, folgende Perspektive entgegen: Sowohl für ihn als auch schon zuvor für Madiou und Nau ist von zentraler Bedeutung, daß der Fortschritt, der sich zur Zeit am deutlichsten in Europa manifestiere, das Erbe der Antike sei, deren Kultur aus den diversen Traditionen aller Rassen resultiere. Daher legen Madiou und Nau in ihren jeweiligen Vorworten so großen Wert darauf, daß die antike Zivilisation dem christlichen Europa von den Arabern, insbesondere von den Mauren - einer Mischung aus Arabern und Afrikanern - in Spanien vermittelt worden sei. Für das 19. Jahrhundert sagt Saint-Rémy eine entgegengesetzte Bewegung nach Afrika voraus, dort werde die Modernität sich ausbreiten, wenn es erst wieder in Kontakt mit anderen Kulturen getreten sei: C'est une erreur,... que de condamner sans appel une race, ..., parce qu'elle ne sera pas encore mise en mouvement, il faut, au contraire, plaindre cette race, lui tendre la main, l'aider à s'élever. (Pétion et Haïti, Bd. 4, S. VII) Damit widerlegt er Bonneau allerdings nur zum Teil, da dieser ebenfalls von der Annahme ausgeht, daß Afrika nur aus seiner Isolation, das heißt dem Verharren in der Barbarei, befreit werden müsse. Die Differenz liegt in der Methode, Saint-Rémy glaubt an die Perfektibilität der Individuen und Gesellschaften, weswegen er auf das paternalistisch erzieherische Modell setzt, während Bonneau den genetischen Kolonialismus propagiert. Auf seine karibische Heimat bezogen kann der Historiker nur die Argumentation aufgreifen, die schon die Revolutionäre von 1843 und Victor Schoelcher vertraten, es mangele nicht an Intelligenz und gutem Willen, sondern an einer vernünftigen Regierung. Implizit geht diese Kritik an Bonneau allerdings davon aus, daß Haiti nicht mit Afrika zu vergleichen ist, da der Kontakt mit den Europäern ja bereits existiert. Nun wurde aber dieser Kontakt mit Gewalt erzwungen. Kommen die damaligen haitianischen Intellektuellen, die die heimischen afrikanischen Traditionen zugunsten des europäischen Modells überwinden wollen, nicht in die Nähe des alten Pflanzerarguments, das die Sklaverei als eine notwendige Etappe des Übergangs von der afrikanischen Kultur zur europäischen vorstellte? Wer diese Analogie sieht, verkennt den qualitativen Sprung, den der revolutionäre Kampf für die Freiheit von Sklaverei und Kolonialismus für alle Schwarzen bedeutet.

120 Auch die aufmerksam die Hagiographie Toussaint Louvertures pflegenden Annales d'Afrique protestierten weder gegen Bonneau noch gegen d'Alaux, der im übrigen auch von keinem Haitianer angegriffen wurde. Erst Joseph-Louis Janvier kritisiert Anfang der 80er Jahre die Tradition der negativen Darstellung Haitis in den französischen Medien, allerdings aus der selbst von Farbvorurteilen geprägten Position des "noiriste", auf die Nicholls (S. 114 ff.), Hurbon (S. 58 ff.) und Fleischmann verweisen.

200 Am präzisesten wird dieses Entwicklungsmodell des Wechsels der Zivilisationen im Erleiden und durch die Überwindung europäischer Gewalt bei Emile Nau am Beispiel des nur scheinbar weit zurückliegenden indianischen Widerstands gegen die Spanier illustriert. Die hoffnungslose Chronik der Ausrottung der Ureinwohner in der Histoire des Caciques endet mit der Apotheose einer kurzfristig realisierten Utopie: Ein Kazikensohn, der als Sklave von Dominikanern auf den Namen Henri getauft und christlich erzogen worden ist, flüchtet nach erlittenem Unrecht durch die spanische Justiz in die Berge und organisiert mit einigen Gefährten ein autonomes Gemeinwesen. Die Indianer bauen dort eine blühende Landwirtschaft auf und verteidigen ihr Territorium in kurzen, aber umso effizienteren Ausfällen gegen spanische Garnisonen, wobei Henri verhindert, daß es zu Rachegemetzeln oder Gefangennahmen kommt; er wünscht die friedliche Koexistenz. Nau zieht folgendes Fazit: Il n'y avait plus moyen de reconnaître, dans ce reste des aborigènes d'Haïti, les descendants de cette race faible, éfféminée, en proie à la mollesse de son climat ... En passant par l'esclavage un petit nombre d'éprouvés avait survécu à la plus implacable desmiction, et s'était transformé par une énergie soudaine ... Cette énergie, qui n'était pas dans la nature ou le tempérament de l'Indien, un surcroît de malheur la lui donna. La volonté d'être libre acheva le miracle de ce changement. (Histoire des Caciques, S. 287 / 88)

Während die jahrelange Unterdrückung bei den Indianern also das Wunder eines zivilisierten Widerstandes vollbracht habe, seien die zur gleichen Zeit importierten ersten afrikanischen Sklaven dazu wohl noch nicht fähig gewesen: Ils tentèrent de faire quelque chose comme des vêpres africaines. Ils se jetèrent sur les maîtres, les massacrèrent, et incendièrent plusieurs habitations, (ebd., S. 289) Der anschließende Rückzug in die Wälder konnte für Nau nur eine Rückkehr zur "sauvagerie" bedeuten. Die Schlußperspektive der Histoire des Caciques ist ein Manifest für die revolutionäre "créole"-Kultur gegen die revoltierenden "bossals". Keiner der sonst so aufmerksamen Zeitgenossen lehnte die Studie wegen ihrer impliziten Nähe zur Pflanzerideologie ab, weil alle davon ausgingen, daß in eine eigenständige haitianische Kultur die Erfahrungen der Indianer und der Sklaven eingingen und daß die neue Gesellschaft die pervertierten Ideale der Unterdrücker, seien es die christlichen oder die des aufgeklärten Humanismus, besser verwirkliche. Die eigentliche Debatte dieser Vertreter der "créole"-Kultur dreht sich nur noch um die Frage, welche Regierungsform die barbarischen Traditionen Afrikas und der Sklaverei am besten unterdrücke. Aber ebenso wie ihre französischen Rezensenten sind die haitianischen Gesellschaftsentwürfe durch ihre Fixierung auf europäische Entwicklungsmodelle nicht in der Lage, jenen Widerspruch zu verdecken, der mit der Ausgrenzung einer andersartigen schwarzen Mehrheitskultur verbunden ist. So favorisieren einige Pariser Kritiker den Historiker Ardouin, der zwanzig Jahre lang ein Regime mitgetragen hat, das mit relativ wenig Gewalt die Fassade der Zivilisation in Haiti aufrechthielt.

201 Andere Rezensenten wie Girard und Bernard versetzen sich ins Jahr 1802 zurück und träumen - je nach Beurteilung des Bonapartismus - davon, die Geschichte im Sinne einer haitianisch-französischen Harmonie zu korrigieren. Auf Soulouques zeitweilige, populistische Annäherung an die Forderungen der schwarzen Unterschichten haben die

Kritiker

beiderseits

des

Atlantiks

keine

adäquate

Antwort.

Ein

solches

bonapartistisches Instrument der Herrschaftssicherung provoziert nur kontrafaktische oder ins Metaphysische gesteigerte Idealisierungen politischer oder rassistischer Theorien.

4 Die Reaktionen auf Soulouques Sturz Die Hintergrundberichterstattung über Soulouques Sturz setzte mit der üblichen Verzögerung erst im Herbst 1859 ein. Zu diesem Zeitpunkt war der Italien-Feldzug bereits abgeschlossen, der weniger repressive Umgang der Zensur mit der orleanistischen und republikanischen Presse, der zu Beginn des Krieges kurzfristig zur Annäherung zwischen der "linken" Opposition und Regierung geführt hatte (siehe Teil V.4), sollte insbesondere durch das Amnestie-Dekret vom August 1859 weiterbestehen bleiben 121 . Im Januar 1860 wurde dann ein stark freihändlerisch geprägtes Zollabkommen mit England abgeschlossen. Grund genug also, in Paris die Restaurierung der Republik in Haiti durch einen der Mulattenelite verbundenen General als Bestätigung der universellen Gültigkeit liberaler Prinzipien zu feiern 122 . Drei außenpolitische Ereignisse sollten in den Jahren bis 1867 die Kommentierung der haitianischen 121 Zur Konfrontation zwischen Bonapartisten und Republikanern und deren Auswirkungen auf die Pariser Presse, siehe insbesondere Kap. V.4.2.1.. 122 Fabre Nicolas Geffrard, geboren 1803 in Anse-à-Veau im Dept. "Sud", war der Sohn von Nicolas Geffrard, dem Unabhängigkeitshelden des Südens und Widersacher Dessalines. 1846 rettete Soulouque ihn vor einem Todesurteil, weswegen der Kaiser an seine Loyalität glaubte. Im Prozeß gegen Céligny Ardouin weigerte Geffrard sich, den Vorsitz zu übernehmen, weil er nicht Soulouques Anordnung einer Todesstrafe nachkommen wollte. Im Herbst 1858 suchte der Offizier Aimé Legros vergeblich nach einem Kabinettsmitglied, das bereit war, sich zum Sprecher der generellen Unzufriedenheit zu erklären und die Truppen zum Sturz des Despoten aufzurufen, schließlich fand er Unterstützung bei dem General Geffrard, der ihm von mehreren Ministern empfohlen worden war. Nach Soulouques Abdankung schützte der neue Machthaber seinen Vorgänger vor den aufgebrachten Massen und ermöglichte ihm die Überfahrt ins jamaikanische Exil. Mit der Rückkehr zur Präsidial Verfassung von 1846 wurde Geffrard zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt. Zu seinen außenpolitischen Erfolgen zählt das Konkordat mit dem Vatikan, das für die folgenden Jahrzehnte französischen Missionaren eine dominierende Position im haitianischen Erziehungswesen sicherte, die diplomatische Anerkennung durch die USA und die Vermittlung zur Beendigung der spanischen Okkupation Santo Domingos. Während einer innenpolitischen Repressionswelle wurde 1863 auch Aimé Legros zum Tode verurteilt und erschossen. 1867 schickten die aufständischen Truppen Salnaves (siehe V.5.1) Geffrard nach Jamaika ins Exil. Weitere Informationen bei Antoine Michel: Avènement du Général Fabre Nicolas Geffrard.

202 Verhältnisse entscheidend beeinflussen: der Sezessionskrieg in den Vereinigten Staaten, der die Sklavereidebatte Wiederaufleben ließ und dem Karibik-Staat eine bis dahin ungekannte wirtschaftliche Boomphase bescherte; die Annektion der Dominikanischen Republik durch Spanien im März 1861, die die Geffrard-Regierung in eine direkte Konfrontation mit einer europäischen Macht brachte; und der zeitgleiche Versuch, mit einem französischen Expeditionsheer Mexiko in ein Kaiserreich von Napoleons Gnaden zu verwandeln. Der wirtschaftliche Glanz der wiedererstandenen Republik wurde zuerst 1864 durch die Jeanne Pellé-Affäre, die Ängste vor dem Voudou in Erinnerung rief, und dann ab 1865 durch die zunehmenden BauernProteste im Norden der Insel befleckt. Die Analyse der französischen Hintergrundberichterstattung zu Haiti in den 1860er Jahren soll zeigen, inwieweit sich das grotesk komische Erscheinungsbild der farbigen Gesellschaft nach dem Sturz Soulouques verändert hat, und welche französischen und haitianischen Faktoren die Verschiebungen in den bisher vorgefundenen Darstellungsmustern bewirkt haben.

4.1 Bilanzen Das ausführlichste Resümee über die Herrschaft und den Sturz Soulouques lieferte abermals der "nègre" der Revue des Deux Mondes, Gustave d'Alaux. Der 50 Seiten umfassende Artikel "La révolution haïtienne de 1859"123 ruft noch einmal die spezifische Form des haitianischen Bonapartismus ins Gedächtnis sowie seine universellen gesellschaftlichen Auswirkungen: die politische Entmachtung der Bourgeoisie und die militärische Unterdrückung revolutionärer Elemente bei gleichzeitigem Appell an die Massen. Gescheitert sei der Kaiser - so d'Alaux - letztlich an der Ausbeutung der Armee und an seinem hemmungslos ausgelebten Hang zur Bereicherung, weshalb die Mehrheit der Bevölkerung sich bei seinem Aufruf zum Widerstand gegen die Revolutionäre passiv verhalten habe. Geffrard wird als human und gebildet 123 Da dieser Artikel ein halbes Jahr nach den Ereignissen in Haiti erschien und keine wesentlichen Neuigkeiten gegenüber der vorherigen Berichterstattung brachte, ist es bemerkenswert, daß Michelet in seinem Tagebuch notierte, wann seine Frau und er ihn gelesen hatten, siehe Michelet, Journal, Bd. 2, 17.9.1859 und 28.9.1859. Setzt man die Vertrautheit der Michelets mit den haitianischen Verhältnissen voraus - Madiou hatte den Historiker noch im Frühjahr auf seiner Reise nach Rom besucht - , kann die mit kuriosen Details gespickte Schilderung vom Sturz des haitianischen Despoten nur als eine gemeinsame Quelle der Erheiterung verstanden werden, sozusagen als verspätete Bannung eines Familientraumas. In ihren später erschienenen Memoiren berichtet Mme Michelet von den Erlebnissen ihres Vaters in SaintDomingue in einer von d'Alaux' Stil inspirierten grotesken Schreibweise von den Grausamkeiten der schwarzen Revolutionsführer, siehe Mialaret, S. 182-207. Bereits am 19.2.1859 hatte Michelet Soulouques Sturz im Tagebuch notiert. Trotz seiner Wertschätzung für Autoren und Zeichner des Charivari geht er aber nicht auf die zahlreichen Satiren ein, erst deren Aufarbeitung in der renommierten Revue des Deux Mondes erscheint ihm erwähnenswert.

203 präsentiert. Der neue Präsident habe bereits bei Aufnahme der Regierungsgeschäfte angedeutet, daß er Haiti in einen zivilisierten Staat umzuformen gedenke. D'Alaux ist weniger daran interessiert, die Republik als bessere Regierungsform anzupreisen, sondern vielmehr daran, den gestürzten Diktator durch die Gegenüberstellung mit dem neuen Regierungschef der Lächerlichkeit preiszugeben. Soulouque soll offensichtlich in die Mottenkiste der Groteske verbannt werden und damit die Parallele zum Pariser Imitator der Vergessenheit anheimfallen, sonst würde der Autor kaum so sehr darauf insistieren, daß der Ex-Kaiser den Weg ins Exil mit offenstehender Hose und in ständiger Sorge um die glänzende Kupferkiste, die seine letzten Schätze enthielt, antrat. Ein Vergleich mit Daumiers und Taxile Delords Inszenierung dieses Motivs (siehe V.4.2.1) wird verdeutlichen, daß d'Alaux keinen Analogieschluß für die zukünftige Entwicklung des französischen Kaiserreichs nahelegen will. Euphorisch feierte die in Paris veröffentlichte Broschüre des Haitianers Prosper Elie die Revolution und das neue Regime. Er bestätigt, daß die jüngste Vergangenheit dem französischen Publikum detailliert durch Gustave d'Alaux nahegebracht worden sei: Les faits relatés sont vrais, en général, à part certaines petites irrégularités et en ne tenant point compte de la forme grotesque dont l'auteur a jugé convenable d'envelopper tous les nègres et les mulâtres: Absolutisme, dilapidation, proscription, en un mot chaos pendant dix années: voilà le sombre résumé de cette décade pour l'histoire: C'en est assez! (S. 28)

Die neue Regierung müsse nun vor allem die Sitten, die Landwirtschaft und die Finanzen sanieren, und dabei der Devise folgen: "Le progrès par l'ordre et par la liberté!" Mit der Kombination "ordre" und "liberté" setzt sich Elie von d'Alaux ab, da dieser die "liberté" der Massen durch eine fortschrittsorientierte Arbeitsgesetzgebung eingeschränkt hätte. Tatsächlich weiß auch Elie nicht, wie seine beiden Ideale koexistieren könnten. Die Ironie der Geschichte wollte es, daß Geffrard ihn 1864 im Namen des "ordre" erschießen ließ, eben weil er für die "liberté" eintrat 124 . Eine wesentlich skeptischere Beurteilung erfuhr die jüngste Revolution in Port-auPrince durch den Haitianer Edmond Paul und eine anonym in Paris erschienene Schrift La gérontocratie en Haïti; die Thesen beider Pamphlete wurden ausführlich in Melvil-Bloncourts 125 Broschüre Des richesses naturelles de la République Haïtienne diskutiert. Der aus Guadeloupe stammende Melvil-Bloncourt scheint offensichtlich mehr Einsicht in die personelle Zusammensetzung der haitianischen Regierungen zu 124 Siehe Antoine Michel, S. 121. 125 Melvil-Bloncourt, geboren 1825 auf Marie Galante, schrieb in Paris für die Revue du Monde Colonial und war Korrespondent der haitianischen Zeitungen Le Bien public und Le Travail. Außerdem verfaßte er Lexikon-Beiträge für Hoefers Dictionnaire; unter anderem die Eintragung "Soulouque", die sich minutiös an die Angaben d'Alaux' hält. 1874 wurde er wegen Teilnahme an der Commune zum Tode verurteilt. Der Vollstreckung konnte er sich durch Flucht in die Schweiz entziehen, siehe Antoine, S. 275/76, 280. Edmond Pauls Position ist ausführlich bei Nicholls, S. 102 ff. dargestellt.

204 haben, da er nicht sofort auf bewährte Unterscheidungskriterien wie Farbnuancen oder politische Systeme zurückzugreift: Sous des dehors libéraux, le gouvernement d'Haïti qu'il ait eu pour chef un empereur ou un président n'a jamais été du reste qu'un pouvoir oligarchique dont les quelques membres disposent comme d'un patrimoine héréditaire. Ils forment une petite minorité qui, par une merveilleuse adresse et une cynique audace, a su, en dépit des révolutions qui viennent périodiquement ensanglanter leur malheureuse patrie, se maintenir dans toutes les hautes positions. (S. 13)

Nichtsdestoweniger hofft er, daß Geffrard sich der glorreichen Vergangenheit seines Vaters erinnere und die alte Garde ablösen werde. Auf solch ein Wunder hofft Edmond Paul im zweiten Band seiner Questions politico-économiques nicht mehr und fordert eine Regierung der aufgeklärten Technokraten 126 . Die von Melvil-Bloncourt und Edmond Paul scharfsichtig analysierten Muster der Machtverteilung sollten sich auch in Zukunft als dominant erweisen. Pauls Diktatur der Technokraten wurde teilweise in anderen lateinamerikanischen Staaten realisiert, etwa von den "cientificos" unter Porfirio Diaz in Mexiko. Doch dieser mußte Anfang der 1860er Jahre zuerst die spezifisch "lateinische" Zwangsmodernisierung seines Landes durch die Franzosen abwehren, bevor er sein positivistisches Fortschrittsprogramm im letzten Viertel des Jahrhunderts mit dem nötigen "Druck" realisieren konnte.

4.2 Welche "Lateiner" auf Hispaniola? Noch bevor Frankreich sich anschickte, sein lateinisches Empire in Mexiko zu errichten, nahm Spanien den Kampf gegen die Monroe-Doktrin und damit gegen die angelsächsische Vorherrschaft in Amerika auf - so jedenfalls mußte die Annexion der Dominikanischen Republik durch Spanien den Latinismus-Apologeten in Frankreich erscheinen. Wenn selbst ein Gustave d'Alaux angesichts der liberalen Regierung unter Geffrard seine Bedenken gegen die "indolence des noirs" fallen läßt, kann dann noch jemand ernsthaft an der Zukunft Haitis zweifeln? Zweieinhalb Jahre später meldete sich Lepelletier de Saint-Rémy in der Revue des Deux Mondes wieder zu Wort 127 , mit dem Artikel "Saint-Domingue et les nouveaux intérêts maritimes de l'Espagne", der seine alten Thesen, angereichert durch die Erfahrung des haitianischen Kaiserreichs, aufgreift: Oppression et impuissance, tel est le rôle de la démocratie noire à Haiti; libéralisme et impuissance, tel est celui de l'oligarchie mulâtre. (S. 655) 126 Siehe Edmond Paul, Bd. II, S. 3, zitiert bei Nicholls, S. 107. 127 Zwischen 1844 (siehe III. 1.3.1) und 1861 veröffentlichte er in derselben Zeitschrift 1858 die Bestandsaufnahme "Les colonies françaises depuis l'abolition de l'esclavage". In diesem Artikel pries er die Abschaffung der Sklaverei als human und kostengünstig an, erörterte die Vorund Nachteile des Cooli-Systems und forderte den freien Handel für die Kolonien.

205 In der Dominikanischen Republik stelle sich die Situation nicht besser dar: wohin man komme, fände man Brachland und Elend. Santana habe das einzig Richtige getan und Spanien um Hilfe gebeten. Denn das gegenwärtige Spanien sei nicht mehr mit dem zu vergleichen, gegen das Bolivar gekämpft hat. Seine Kolonialpolitik sei inzwischen fast so liberal wie die Englands, und da es in der Dominikanischen Republik die Sklaverei nicht wieder eingeführt habe, bleibe zu hoffen, daß sie auch in Cuba und Puerto-Rico abgeschafft werde 128 . Trotz günstigerer Ausgangsbedingungen habe Haiti seine Aufgabe nicht erfüllt, es solle daher dem Beispiel des Ostteils der Insel folgen und das ehemalige Mutterland Frankreich als Schutzmacht anerkennen. Allerdings müsse Frankreich seinen Kolonien ebensoviel Freiheit lassen wie England Kanada und Australien. Die durch den Sezessionskrieg ausgelöste augenblickliche Schwäche der Vereinigten Staaten solle dahingehend genutzt werden, Spanien wieder einen Platz als liberale Großmacht in Mittel- und Südamerika zu sichern und Frankreich zur Liberalisierung seines Kolonialsystems zu bewegen. Damit wäre ein sicheres Bollwerk gegen den nordamerikanischen Imperialismus geschaffen. Gegen Lepelletier veröffentlichte ein Redakteur der Presse, Charolais 129 , eine Broschüre, in der er zunächst eine verheerende Bilanz der Regierung Soulouques zieht, um dann deutlich zu machen, daß auf der Ebene des politischen Systems zwar kein Vergleich zu Frankreich möglich sei, wohl aber hinsichtlich der Sozialstruktur: En 1848, il n'y avait pas plus de noirs en France qu'il n'y en a aujourd'hui; mais on trouvait des gens qui rêvaient un nivellement impossible et contraire à l'ordre naturel des choses. Il n'y a rien de plus à Haïti. Les jaunes et les noirs y vivent bien ensembles et n'ont entre eux de différences que celles que créent l'éducation, la fortune et les positions sociales. (S. 27) In solch zivilisierten Klassenverhältnissen mausert sich Charolais' Soulouque zum raffgierigen Diktator, der nicht mehr als typischer Vertreter einer Rasse oder Klasse vorgeführt werden kann, Geffrard erweist sich dementsprechend als adäquater Repräsentant eines Staates bildungsbeflissener Bürger, deren größtes Ziel darin bestehe, sich in Frankreich mit der europäischen Situation vertraut zu machen (S. 26/27). Im Ostteil der Insel habe Santana den gebildeten Präsidenten Baez verjagt und die Finanzen der Republik derart heruntergewirtschaftet, daß die zurückkehrenden Spanier einen Berg Schulden übernähmen, der eigentlich nur durch Sklavenarbeit abzutragen sei. die Wiedereinführung letzterer wurde aber explizit im Annektionsvertrag ausgeschlossen. Sollten sich die alte und neue Metropole an die Abmachung halten, so dürfte dies Aufstände in Cuba und Puerto-Rico nach sich ziehen. Überdies könne es kaum Frankreichs Plänen entsprechen, Spanien die Bucht von Samana zu 128 An Lepelletiers Ablehnung der Sklaverei kann kein Zweifel bestehen. In einer Rezension des Abolitions-Pamphletes von A. Cochin listet de Fonvielle in der Revue du Monde Colonial die jüngsten Ausführungen Lepelletiers gegen Sklavereibefürworter auf. 129 Hinter dem Pseudonym "Charolais" soll sich der haitianische Autor Demesvar Delorme verbergen, siehe Duvivier, S. 231, Anm 1.

206 überlassen, da dies dann den Zugang zum Isthmus von Panama gänzlich kontrolliere. Dieser Zustand würde notwendig einen Krieg mit den Vereinigten Staaten provozieren, der die Zerstörung des gesamten spanischen Imperiums in der Karibik zur Folge hätte. Frankreichs Interesse könne nur in der Wiederherstellung des Status quo in der Region liegen. Zivilisatorische Aufgaben böten sich in anderen Erdteilen: in Algerien und insbesondere in Madagaskar, das ihm seit Richelieu zustehe, und wo Gemetzel an französischen Matrosen und Menschenopfer die Absetzung der grausamen Regierung zum Gebot humanitären Handelns machten. Charolais' Eintreten für das von Napoleon III. im Falle Italiens so erfolgreich umgesetzte Nationalitätenprinzip bedeutet nicht nur eine Absage an Annexionspläne gegenüber Haiti, sondern verweigert sich implizit einer Logik, die den zentralamerikanischen Raum zum Austragungsort eines angeblichen Kampfes zwischen Angelsachsen und Lateinern stilisieren will. Frankreich soll weiterhin die dominierende Großmacht im "mare nostrum" bleiben und, wenn man unbedingt einer barbarischen Konflikt-Figur, etwa die Königin von Madagaskar, bedarf, die schon aufgrund ihres Geschlechts ungleich schwerer für innenpolitische Analogieschlüsse zu instrumentalisieren ist, dann findet sich diese in einem weniger konfliktreichen Raum. Die größte Veränderung bewirken die Machtübernahme Geffrards und die spanische Rekolonisierung bei Alexandre Bonneau. In seinem 1862 veröffentlichten Buch Haiti, ses progrès, son avenir ersteht die schwarze Republik zum Fanal für alle Sklavenhaltemationen in der Karibik: ... nous élevons la voix pour défendre un peuple si obstinément calomnié par les ennemis de la race africaine et de l'émancipation des Noirs. (S. 8 / 9 ) Frankreich werde ein solches Volk nicht zurückerobern, sondern gegen dessen Bedrohung durch die spanischen Sklavenhalter im Osten protestieren. Bonneau gibt sogar zu, was kaum ein Franzose vor ihm erkennen wollte, daß nämlich das größte Entwicklungshindernis Haitis in der Rückzahlung der vom Mutterland aufgezwungenen Schulden für die Unabhängigkeitsentschädigung bestehe (S. 69). Selbst der berühmte Artikel 7 der Verfassung, der Weißen Bodenbesitz in Haiti verbietet, lasse sich als großherziger Akt der Mulatten im Hinblick auf die schwarzen Massen erklären, die ihre Selbstbestimmung angesichts der weißen Sklavenhalter in ihrer unmittelbaren Umgebung gewahrt sehen wollten (S. 80-88). Da nun die französischen Siedler ausblieben, die überdies lieber nach New York, Buenos Aires und Montevideo auswanderten, beziehungsweise auf die Kolonisierung Madagaskars warteten, greift Bonneau wiederum auf das bewährte Modell der Erziehung der schwarzen Mehrheit zurück, allerdings mit der neuen Variante, daß die wichtigste Aufgabe einer fortschrittlichen Politik in der Mädchenerziehung liege. Geffrard habe der Erkenntnis bereits Rechnung getragen, daß es die Mütter seien, die den Kindern die moralische Unterweisung gäben, und aus diesem Grunde Mädchenschulen gegründet. Bonneau ist hier offensichtlich von seinem früheren Lehrer Mi-

207 chelet beeinflußt, ohne dessen Vorüberlegungen nachzuvollziehen, die zwischen Rassen- und Perfektibilitätstheorie unentschieden oszillieren: Ce fut un bonheur pour moi d'apprendre qu'en Haïti, par la liberté, le bien-être, la culture intelligente, la négresse disparaît, sans mélange même. Elle devient la vraie noire, au nez fin, aux lèvres minces; même les cheveux se modifient... L'Afrique n'eut que l'Isis rouge; l'Amérique aura l'Isis noire, un brûlant génie femelle, et pour féconder la nature, et pour raviver les races épuisées ... Mille voeux pour la France noire! j'appelle ainsi Haïti, ... C'est par tes charmantes femmes, si bonnes et si intelligentes, que tu dois te cultiver, organiser tes écoles. Elles sont de si tendres mères qu'elles deviendront, ..., d'admirables éducatrices. Une forte école normale pour former des institutrices et des maîtresses d'école (par les méthodes surtout, si aimables, de Froebel), est la première institution que je voudrais en Haïti. 130

Zwar übernimmt Bonneau nicht wörtlich diese Theorie von der nach deutschen Pädagogenvorstellungen geformten schwarzen Isis, die die müden amerikanischen Rassen regenerieren soll, doch ist er sichtlich bemüht, Haiti als friedlichen, stabilisierenden und zivilisatorischen Faktor, als gleichsam natürlichen Alliierten Frankreichs in der Karibik zu stilisieren. Berücksichtigt man außerdem die von ihm genannten favorisierten Auswanderungsziele der Franzosen, dann fällt auf, daß Mexiko nicht genannt wird. Der radikale Schwenk der Bonneauschen Argumentation erklärt sich daher einerseits aus der impliziten Distanzierung von der Mexiko-Expedition, andererseits folgt er der Strategie, die schon d'Alaux und Charolais verfolgt haben, Soulouque als groteskes singuläres Phänomen in die Vergessenheit abzudrängen und damit auch seine innenpolitische Funktion. Konsequenterweise greift Bonneau wieder auf die Rassenkategorie zurück, um nunmehr die Gleichheit aller Rassen zu betonen. In den 50er Jahren diente die Betonung der Rassendifferenz dazu, jeden Vergleich zwischen Frankreich und Haiti auf der Ebene des politischen Systems zu verhindern, nach Soulouques Sturz führt das Argument der Gleichheit der Rassen zur Isolierung eines barbarischen Bonapartismus. Daß der Export dieses Systems auch in Mexiko zu barbarischen Exzessen führt, das deuten Charolais und Bonneau nur an.

130 Siehe Michelet: La femme, S. 136, 138, 141/42; siehe auch Antoine, S.280. Michelet selbst beschreibt vor der letzten zitierten Passage die Begegnung mit einer "demoiselle" im Haus eines "Haïtien éminent, qui a marqué dans les lettres autant que dans les affaires" (S. 141), die ihn scheinbar - im wörtlichen Sinne - verstummen ließ. Es handelte sich wohl um Mlle. Ardouin. Er notiert am 4.3.1859 in seinem Journal: "Non trouvé M.Ardouin; Mlle, jolie." Die von Bonneau erwähnte Mädchenschule war bereits unter Soulouque eröffnet worden. Madiou teilte Michelet in einem Brief vom 10.4.1858 mit, daß eine französische Direktorin für das Mädchenpensionat in Port-au-Prince eingetroffen sei, siehe Michelet, Correspondance, Bd. 35, liasse A 4909 (11).

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4.3 Die Rückkehr des Voudou Das 1860 zwischen Haiti und dem Vatikan abgeschlossene Konkordat erntete in Frankreich viel Lob, selbst wenn der Papst als Hindernis bei der Einigung Italiens keine gute Presse hatte und linke Bonapartisten, wie Bonneau, weiterhin den Katholizismus als das ungeeignete Mittel ansahen, den Voudou wirksam zu bekämpfen 131 . Aber erst der Prozeß wegen des rituellen Kinderopfers, das der in VoudouRiten initiierten Jeanne Pellé zur Last gelegt wurde 132 , trübte das Bild einer auf dem Wege des Fortschritts voranschreitenden haitianischen Gesellschaft, das die Mehrheit der Pariser Meinungsmacher zeichnete. Es ist auffällig, daß die französische Tagespresse in diesem Fall keine etwa mit der Regierungszeit Soulouques vergleichbare politische Brisanz erkannte. So übernahm zum Beispiel das Journal des Débats (4.4.1864) das haitianische Gerichtsprotokoll kommentarlos, während Charivari und Siècle den Prozeß überhaupt nicht erwähnen. Der erste, der die Jeanne-Pellé-Affâre für die typische Mischung aus seriöser und grotesker Informations-Aufarbeitung nutzte, war Paul Dhormoys, der 1864 mit einem neuen fiktiven Reisebericht Sous les tropiques133 auf den Markt kam. Der Autor wiederholt nicht nur wörtlich die Kinderopferszenen aus Une visite chez Soulouque, er gibt sie nunmehr als authentisch aus und fügt als Beleg die in der Presse veröffentlichten Dokumente über den Jeanne-Pellé-Prozess bei. Der Voudou ist bei ihm aber kein haitianisches Phänomen, sondern ein karibisches, da er aus Martinique eine ähnliche Geschichte zu erzählen weiß. Die weißen Pflanzer sollen als unsichere Vertreter der Zivilisation erscheinen, da sie einerseits Kreol sprechen und sich Mulattinnen als Zweitfrauen halten - selbstverständlich verbiete es sich für die weiße Frau, auf die farbige Konkubine eifersüchtig zu sein - , andererseits seien ihre Rassenvorurteile 131 Siehe Bonneau, 1856, S. 154 und 1862, S. 27. Siehe auch Duval: "... quoique les concordats aient perdu de leur crédit dans l'opinion du libéralisme moderne, les Haïtiens ont accueilli avec satisfaction un acte qui, ..., assurait mieux que par le passé l'éducation religieuse des populations..." (S. 331). 132 Hurbon (S. 91/92) schreibt den Namen "Pelée", was nicht den in Frankreich wiedergegebenen Gerichtsakten entspricht. Er fragt sich zu Recht, ob die Geständnisse der Angeklagten nicht erzwungen wurden; das Sitzungsprotokoll weist einige Unstimmigkeiten auf. Dieser Frage soll nicht nachgegangen werden, vielmehr sind hier die französischen Anspielungen von Interesse, die für die Inszenierung gleicher oder ähnlicher Voudou-Szenen in den stark fiktional geprägten Texten in der Metropole herangezogen werden. 133 Nach dem Sturz Soulouques hatte Berlioz d'Auriac 1862 die Revolution von Saint-Domingue zum Gegenstand seines Abenteuerromans La guerre noire gemacht - ein Buch, das allerdings nur beweist, daß man völlig beliebig mit dem Stoff umgehen konnte: Dessalines wird zum Mulatten, Rigaud zersägt Weiße und Castaing jagt Känguruhs. Selbst die Kritik schien, um mit Dhormoys zu sprechen, Haiti nicht von Tahiti unterscheiden zu können. Jules Gourdault lobte zum Beispiel in der Revue de l'instruction publique (22.2.1863, S. 760/61) vor allem die "habile couleur locale" des Romans, um zugleich eine neue abenteuerliche Behauptung in die Welt zu setzen: Bonaparte habe sich nach dem 18. Brumaire gegen Rigaud und für die Schwarzen entschieden, ihm verdankten sie die Freiheit.

209 derart ausgeprägt, daß selbst Alexandre Dumas fils von ihnen nicht akzeptiert würde. Nur noch die Bewohner der Dominikanischen Republik überböten die weißen Kolonisten an Indolenz ("ce mélange singulier de paresse nègre et d'orgueil espagnol", S. 211). Es folgen die ebenfalls schon bekannten Angriffe auf die barbarische Politik Santanas. Vielleicht gelänge es den Spaniern, ihn unter Kontrolle zu halten. Für Frankreich bestehe jedenfalls kein Grund zu einem Rekolonisierungsversuch, es täte besser daran, in den verbleibenden Karibikkolonien Ordnung zu schaffen. Wenn Dhormoys auch nicht der Versuchung widerstehen kann, sein bereits publiziertes Material mit neuem vermischt noch einmal herauszubringen, so nutzt er den neuen Voudou-Fall nicht, um die haitianische Regierung oder Soulouque rückwirkend zu diskreditieren. Ohne direkten Akutalitätsbezug porträtiert Melvil-Bloncourt 1864 in der Revue du Monde Colonial Makandal 134 , den er als "précurseur avorté de Dessalines, cet autre fléau de Dieu, ..." (S. 448), aber auch als "supérieur, sous plus d'un rapport, à la majeure partie des possesseurs d'esclaves" (S. 449) charakterisierte. Seine aus dem "marronage" Ende der 1750er Jahre organisierten Vergiftungsanschläge gegen die Sklavenhalter interpretiert der farbige Journalist aus Guadeloupe nach dem bekannten Muster der "lutte inégale que ce barbare, ce sauvage, ce nègre, soutenait depuis si longtemps contre toute une société de civilisés,.." (S. 450). Gesteht man dem Autor zu, hier teilweise den Pflanzerdiskurs zu zitieren, so kann diese Studie als Erinnerung an die authentisch barbarische Tradition der haitianischen Revolution gelesen werden, deren Substrat in Haiti fortlebt und entgegen allen liberalen Hoffnungen nicht zu unterdrücken ist. Mit deutlichem Bezug zum politischen Tagesgeschehen machte sich dagegen im Economiste français ein gewisser Duval angesichts der Attentat-Serie gegen den Präsidenten seine Gedanken über die soziale Lage Haitis: Devant un pouvoir fort, juste, libéral, démocratique, intelligent, généreux la haine et l'envie devraient, ce semble, désarmer plus complètement, si elles n'étaient entretenues par quelque cause intime et secrète qui la fomente.135 Das Übernatürliche hält also wieder seinen Einzug in die Haiti-Berichterstattung 136 . Dieser Rekurs soll aber nur verschleiern, was unter Soulouque für den französischen 134 Zwei Jahre zuvor hatte Dénoncé das Kinderbuch Makandal ou le noir marron veröffentlicht. Es handelt von einem Schwarzen, der in der Karibik als Sklave verkauft wird und sich nach allerlei Abenteuern schließlich in London zum Christentum bekehrt. Der Name spielt natürlich auf die Figur aus der haitianischen Geschichte an, hat aber sonst nicht viel mit ihr gemein, außer dem Leben als "marron". Lucas (S. 172) erkennt in der Geschichte viele Elemente aus Uncle Tom's Cabin wieder, es ist aber ebenso möglich, in diesem Makandal einen späten Nachfahren Atar Gulls zu sehen, wobei hier die Scheinkonversion korrigiert worden ist und damit wieder ein Philanthropismus gepredigt wird, den Sue mit Atar Gull so treffend parodiert hatte. 135 Siehe Duval, S. 331. 136 Auf das Voudou-Motiv spielt auch die Figur der Schwarzen, Coucou-Blanc, in Daudets Roman Le Petit Chose an (ein Vorabdruck erschien im November 1866 im Moniteur). Die häßli-

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Leser wesentliche Triebkräfte des Kaiserreichs waren: die Bereicherung und der Sozialneid. Würde man offen eine Kontinuität postulieren, brächte der Autor sich um den Effekt, die Werte, für die die republikanische Regierung Geffrard angeblich steht, der heimischen als Spiegel vorzuhalten. 1866 beschreibt ein Docteur Ricque rückblickend seinen Haiti-Aufenthalt zur Zeit des "ordnungsliebenden" Soulouque. Damals habe er sich im Landhaus des französischen Konsuls Raybaud von einer Krankheit erholt. In der dörflichen Umgebung habe er heimlich einer Voudou-Zeremonie beigewohnt und sei selbst Zeuge der grausamen Riten geworden. Wenn sogar in der unmittelbaren Nachbarschaft des einzigen Ordnungsgaranten, den d'Alaux auf der Insel ausgemacht hatte, der Aberglaube herrscht, dann ergibt sich daraus der Schluß, daß kein Vertreter des Fortschritts gleich welcher politischer Couleur - das barbarische Substrat unterdrücken kann, daß zumindest in der Karibik alle Zivilisationskonzepte versagen. Den Bezug zur französischen Aktualität hingegen sucht Gustave Aimard in einem Abenteuer-Roman, Les Voudoux (1867), der das Menschenopfer- und das Attentatsmotiv zusammenfaßt. Der Autor erweitert die Jeanne Pellé-Affäre um eine Liebesgeschichte zwischen dem weißen Sohn eines ehemaligen Pflanzers aus Saint-Domingue, Louis de Birague, und Angèle, der bleichen Schwester des hellhäutigen Mulatten Joseph Colette, auf dessen Plantage de Birague zu Gast ist. Die dem Schlangenkult huldigenden "Voudoux" sind Anhänger Soulouques, die, um die liberale Regierung Geffrard zu stürzen, die ganze Insel mit einem Verschwörungsnetz überzogen haben und eine "démagogie sanguinaire" (S. 54) errichten wollen. Hinzu kommt, daß auch de Birague von den "Voudoux" getötet werden soll, da er sich als Weißer durch Heirat wieder das Recht auf Landbesitz 137 erschleichen und angeblich die Sklaverei wieder einführen werde. Der Autor betont gleichzeitig, daß die Franzosen selbstverständlich die Sklaverei ablehnten. che Schwarze wurde von der Kreolin, Irma Borei, aus Le Cap als Zofe nach Paris mitgenommen. Ihre einzige Habe besteht aus einer Strohmatte, einem Hufeisen und einer Schnapsflasche. Bei ihren abendlichen Riten murmelt sie: "Tolocototignan" ("... quelque chose comme notre Ion, lan la; les Pierre Dupont en ébène mettent de ça dans toutes leurs chansons.", S. 125). Diese Formel befördert den lauschenden Ich-Erzähler in die Vergangenenheit seiner unbürgerlichen Künstlerphantasien. Zwar weist der Autor darauf hin, daß die Volksweisheiten aus dem Munde Coucou-Blancs die eigentliche Stimme der Vernunft in jener Scheinwelt der Bohème sei, doch bleibt diese Figur neben dem Kakadu stets ein exotisches Requisit. Es ist daher nicht erstaunlich, daß der Ich-Erzähler bei seinem endgültigen Eintritt ins bürgerliche Leben seinem zukünftigen Schwiegervater und Kompagnon die Erlaubnis gibt, seine mißglückten Verse, La Comédie pastorale, nach Madagaskar zur Königin "Rana-Volo" zu schicken. Die Welt der Schwarzen ist in diesem Roman der Ort des Verdrängten. Anatole France wird sich dieses Motivs wesentlich satirischer und ebenfalls mit Bezug zur Künstlerboheme der 1860er Jahre in Le Chat Maigre (1879) annehmen. Die Seitenzahl wie die Informationen sind Alphonse Daudet: Oeuvres I entnommen. 137 Offene Kritik an der Beibehaltung des Artikels 7 der haitianischen Verfassung, der den Weißen auch unter der Regierung Geffrard Bodenbesitz verbietet, äußerte Helen Douck in einem Brief, den die Revue Coloniale (14, Jan. - März 1865, S. 208 ff.) veröffentlichte.

211 Aimard kombiniert in seinem Roman die beiden Hauptmotive der Haiti-Berichterstattung des Second-Empire: die Angst vor den Massen und den Wunsch nach französischer Direktinvestition. Im Gegensatz zu d'Alaux und den bonapartistischen Apologeten Soulouques besetzt er die "schwarzen Barbaren" mit den Attributen der "neuen Barbaren", ohne den expliziten Vergleich zu ziehen. Stattdessen werden die Riten der Schwarzen als deren genuine Rassenmerkmale ausgegeben. Unter Berufung auf Bonneaus Studie über den Voudou in den Annales de Voyage läßt Aimard nur die Analogie zwischen dem Voudou und der germanischen Feme zu, während er den ebenfalls von Bonneau stammenden Verweis auf die römischen Taurobolien und Creabolien gewissen Philanthropen zuschreibt, die mit den Mitteln der Wissenschaft alles zu entschuldigen suchten 138 . Warum werden Bonneaus kulturübergreifende Bezüge zur europäischen Vergangenheit von Aimard auf ein haitianisch-germanisches Phänomen reduziert? Da 1867 Frankreich und Preußen wegen der Luxemburg-Frage kurz vor einem Krieg stehen, erscheint es dem Autor wohl sinnvoll, Bismarcks diplomatisches Verwirrspiel in die Tradition der menschenmordenden Praktiken seiner Vorfahren zu stellen, während die "Lateiner" von diesem Vorwurf reingewaschen werden müssen. Deren Nachfahren stellen die eigentlich humane Gesellschaft, auch wenn Geffrard am Schluß des Romans die Voudou-Verschwörung aufgedeckt und die Ordnung wieder hergestellt hat. De Birague und Angèle zieht es dennoch mit folgender Begründung nach Frankreich: Là, ..., il n'y a ni noirs, ni blancs, ni rouges; on ne trouve que des hommes, des frères. 1 3 9

Der Hinweis auf die Abwesenheit der Roten ist insofern interessant, da Frankreich trotz des Glanzes der Weltausstellung zum damaligen Zeitpunkt von schweren Streiks erschüttert wird und der Zar in Paris beinahe einem Attentat zum Opfer fällt. Der Leser hat also allen Grund, in seiner eigenen Umgebung die unterschwelligen Kräfte zu fürchten, die den Soulouque- und Voudou-Anhängern in Haiti untergeschoben werden. Aimard betreibt somit eine Art Exorzismus, mit dem die durch Streiks und Attentat geweckten Ängste rassentheoretisch abgesichert, auf Haiti projiziert und entsprechend von der Heimat ferngehalten werden sollen. Hier wird der literarische Versuch unternommen, zu bannen, was - trotz unterschiedlicher politischer Intention Dhormoys, Melvil-Bloncourt, Duval und Ricque als universales Phänomen ansehen: die Bedrohung der Ordnung durch die Kräfte des Irrationalen. 138 Siehe Aimard, S. 105/06 und Bonneau, 1858, S. 96 und S. 100. Bonneau verbreitet in diesem Aufsatz nicht annähernd so rassistische Thesen wie 1856. 139 Siehe Aimard S. 370. Im Vergleich zu Aimards Sicht der französischen Gesellschaft macht Berlioz d'Aurillac 1862 in La guerre noire das Böse noch bei allen Rassen aus: Castaing erscheint als perfider Pflanzer, Sonthonax als blutrünstiger Jakobiner, die Engländer sind allesamt Verräter. Positive Werte vertritt nur die rassisch bunt zusammengewürfelte Abenteurerclique. Vielleicht visiert der Roman eine jüngere Leserschaft an, der noch die individuelle Charakterbildung als Wert vermittelt werden soll.

212

5 Zusammenfassung Seit der Juli-Monarchie bestimmt ein Grundkonsens sowohl die französischen als auch die haitianischen Analysen der jüngsten Entwicklungen auf der Insel: Alle Autoren setzen auf wirtschaftliche Modernisierung nach dem europäischen Vorbild und lehnen die afrikanischen Traditionen, insbesondere die Subsistenzwirtschaft der breiten Masse der Bevölkerung als rückständig und handelsfeindlich ab. Die Konflikte ergeben sich auf der Ebene des geeigneten politischen Systems, das den Fortschritt garantieren soll. Häufig wird diese Debatte durch den Rassen- beziehungsweise Klassen-Antagonismus zwischen Mulatten und Schwarzen verschleiert. Die Herrschaft Soulouques verschärfte dieses Wahrnehmungsmuster eher, wobei die politische Schwächung der Mulatten ein ideales Projektionsfeld für den ebenfalls als Schwächung des liberalen Bürgertums geweiteten Staatsstreich Louis-Napoleons bot. Die spezifische Note der "seriösen" französischen Soulouque-Berichterstattung liegt darin, daß alle Texte, sei es nun implizit oder explizit, auf die schon weitverbreitete Soulouque-Satire reagieren. D'Alaux und Dhormoys, die bekanntesten dieser Autoren, bedienen sich sogar zum Teil satirischer Verfahren. Die Machtübernahme Geffrards wird wegen der politischen und außenwirtschaftlichen Liberalisierung in Frankreich nicht so sehr als Sieg des Republikanismus, sondern eher als Befreiung der unternehmerischen Kräfte gefeiert, was bei Bonneau sogar zur Erkenntnis der zivilisationshemmenden Außenabhängigkeit Haitis durch die Schuldenlast führt. Der anwachsende innenpolitische Widerstand gegen Geffrard läßt in Frankreich auch die Fortschrittseuphorie wieder abklingen, eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber den zur Verfügung stehenden Zivilisationsmodellen zeichnet sich ab. Die von Edmond Paul vorgeschlagene Herrschaft der Technokraten wird von den Pariser Kommentatoren nicht aufgenommen, der Primat der Außen- und Innenpolitik ist stärker. Die Ernüchterung läßt das Augenmerk wieder auf andere Themenfelder richten, insbesondere den Voudou. Die sich hauptsächlich mit der Sklavenbefreiung beschäftigenden Kommentatoren der Juli-Monarchie nahmen sich dieses Phänomens kaum an; es erscheint erst mit der Kaiserproklamation Soulouques. Die dem schwarzen Herrscher nachgesagten Sympathien zur Religion der agrarischen Bevölkerung rufen in Paris Szenarien hervor, die - neben einer gehörigen Dosis Komik - die VoudouAnhänger mit den Sozialisten und/oder den lumpenproletarischen Schlägertrupps Louis-Napoleons in Verbindung bringen. Das Lächerliche soll hier nur die Brisanz der Barbarei beiderseits des Atlantik entschärfen. Die zunehmende zeitliche Distanz zum Pariser Staatsstreich entfernt auch Soulouque vom Voudou-Kaiser-Vorwurf. In den 60er Jahren weckt die Affäre um Jeanne Pelle wieder das französische Interesse am Voudou; er erfüllt nunmehr die Funktion, in einer Phase politischer Instabilität die Ängste vor zivilisationsfeindlichen Kräften nach außen, in exotische Bereiche zu projizieren.

213 Im Hinblick auf die Einschätzung der Politik sind die bonapartistischen Apologeten Soulouques der haitianischen Realität wohl am ehesten gerecht geworden. Selbst wenn sie Soulouque mit Napoleon III. nicht gleichstellten, hoben sie doch die Analogie der beiden politischen Systeme hervor. Die Texte von Guérin und Dhormoys greifen eine Position auf, die im Pariser Außenministerium zwar schon sehr früh, aber nicht von den Konsuln vertreten wurde, daß nämlich Soulouque ein stabilisierender Faktor der augenblicklichen haitianischen Gesellschaft sei, den man angesichts der nordamerikanischen Bedrohung nicht fallen lassen dürfe, zumal er als erster Staatsmann die regelmäßige Zahlung der Unabhängigkeitsschulden durchgesetzt hatte. Ein Faktum, das den wenigsten Kommentatoren in Paris aufgefallen war. In erster Linie ist aber die Beliebigkeit festzuhalten, mit der - je nach innen- und außenpolitischer Interessenlage - die Bilder über Haiti und auch die Schriften der Haitianer ausgewertet und variiert worden sind. So gelangt man zu dem paradoxen Ergebnis, daß die französische Hintergrundberichterstattung wohl eine Fülle von Fakten über die Karibikinsel zusammengetragen hat, die bis heute benutzt werden, daß aber die Aufbereitung der Informationen den Anforderungen an jene Redakteure gerecht wird, die einen "style fortement coloré" und/oder "cheveux crépus" besaßen. Während der Diktatur Soulouques haben weder die Haitianer im Land noch die Exilierten die Parallelen zwischen europäischem und karibischem Bonapartismus thematisiert. Später, nach seinem Sturz, fällt dieser Vergleich zwischen beiden Kaisern - je nach Adressaten - unterschiedlich aus. So verteidigt Janvier 1884 in Paris Haiti gegen die rassistischen Artikel eines Edgar La Selve und Victor Cochinat und nutzt dabei die republikanischen Aversionen gegen den überwundenen Bonapartismus: Le sang qui macula le manteau de Soulouque - si tant est qu'il ait été souillé - fut du sang de combattants; celui dont fut taché le manteau de Napoléon III fut du sang d'inoffensifs. (Victor Hugo, Histoire d'un crime)140 Einige Jahre zuvor hatte Frédéric Marcelin, der wie Janvier die Regierung des früheren Finanzministers von Soulouque, Salomon, unterstützen sollte, rückblickend über die "politique de doublure", die Einsetzung von ungebildeten schwarzen Präsidenten, angemerkt: Certes, nous ne voulons établir entre ces deux hommes aucune comparaison et après Victor Hugo, comparer le Soulouque blanc au Soulouque noir. L'homme dans Napoléon III, nous le pensons, ne fut pas ordinaire.141 Im Vergleich zur damaligen innenpolitischen Situation Haitis erscheint Napoleon III. Marcelin als der Modernisierer seines Landes; die Tatsache, daß auch er sich wie Soulouque skrupellos bereichert hatte, tritt hinter der positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs zurück. 140 Siehe Janvier, S. 473. 141 Siehe Marcelin, S. 21

214 Erst das 1984 von Michel Soukar verfaßte Drama Fin d'uri Empire paien, das den Sturz Soulouques mit größter historischer Genauigkeit nachzeichnet, verdeutlicht, daß der Vorwurf der hemmungslosen Bereicherung beziehungsweise das Lob für die Modernisierung in Haiti nur relative Bedeutung haben, je nach dem Grad der Verteilung des nationalen Reichtums auf die Eliten, den die jeweilige Regierung gewährte. Die Mehrheit des Volkes ging immer leer aus. Soukar hat mit seinem historischen Lehrstück die Vorgänge nach dem Sturz Baby Docs antizipiert. Ähnlich gingen auch die Satiriker des Charivari in der Zweiten Republik vor, wenn sie im Rückgriff auf Soulouque konsequent die Herrschaft Napoleon I. der Lächerlichkeit preisgaben und vor dem Putsch Napoleons III. warnten.

V Soulouque in der satirischen Presse des Second Empire Mit dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 sicherte sich der Putschist zwar die totale Kontrolle über die Presse, unterdrückte aber nicht gänzlich die oppositionellen Stimmen. So durften nach einem kurzem Verbot am 10.12.1851 sowohl das Siècle als auch der Charivari wieder erscheinen, ebenso einige legitimistische und orleanistische Blätter. Der anfangs exilierte Emile de Girardin kehrte 1852 aus Belgien zurück und nahm den Betrieb der Presse wieder auf. Einige Satireblätter hatten schon zuvor ihr Erscheinen einstellen müssen, die noch überlebenden Tintamarre und Journal pour Rire enthielten sich fortan jeglicher politischer Äußerung. Einzig der Charivari hielt am politischen Kommentar fest und mußte daher auch weiterhin die Stempelsteuer entrichten. Der eigentliche Schlag gegen die Medien wurde mit dem Gesetz vom 17. Februar 1852 geführt. Dieses verpflichtete alle Publikationsorgane, innenpolitische Kommentare zu unterlassen, Senatsdebatten durften nur den offiziellen Verlautbarungen entsprechend wiedergegeben werden. Erlaubt waren lediglich Kommentare zu außenpolitischen Ereignissen sowie Berichte über kulturelle Aktivitäten und über "faits divers". Um eine umfassende Kontrolle zu gewährleisten, bediente sich die Regierung eines außergewöhnlich effizienten Mittels: Man vermied spektakuläre Konfiszierungen, statt dessen erteilte die Aufsichtsbehörde den Zeitungen Warnungen ("avertissements"), nach zwei "avertissements" drohte eine zeitweilige Einstellung oder gar ein gänzliches Verbot. Damit war die Vorzensur in den Redaktionen garantiert. Für die Karikaturisten dagegen hatte sich nichts geändert, da ihre Produkte wie bisher den "Dépôt légal"-Stempel vor der Drucklegung benötigten. Die republikanische Presse konnte sich unter den neuen verschärften Bedingungen durchaus behaupten. So verzeichnete das Siècle bereits 1858 mit 36886 Exemplaren die höchste Auflagenzahl aller in Paris erscheinenden Zeitungen - und das im Jahr des Orsini-Attentats, dem eine starke innenpolitische Repression folgte; der Charivari hielt seine tägliche Auflage von 2000 Stück 1 . Die erfolgreiche Marktbehauptung republikanischer Blätter signalisiert nicht allein die gestiegene Nachfrage nach oppositioneller Meinung, sondern auch ein vorsichtiges Umgehen der Redaktion mit der Zensur. Welche Auswirkungen hat diese Situation nun für den Umgang mit dem Phänomen Soulouque? In der Zweiten Republik

1

Siehe Bellanger u.a., S. 249-259; Goldstein, S. 178 ff.

216 hatte der schwarze Monarch ja, insbesondere in der Satire, die Funktion vor dem zu warnen, was inzwischen in Paris eingetreten war, beziehungsweise das zu parodieren, was dort nunmehr erfolgreich imitiert wurde. Es ist anzunehmen, daß die innenpolitischen Bezüge dieses Satiregeschöpfs kaum mehr offen angesprochen werden durften. Daher ist von besonderem Interesse, in welcher Weise der Charivari anläßlich der Neuigkeiten aus Haiti den Kaiser in Szene setzt, welche Kontinuitäten und Brüche gegenüber der Zweiten Republik, aber auch während des Second Empire zu erkennen sind. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch am Beispiel Ferdinand von Neapel oder des Zaren2 nachzeichnen, wobei die Besonderheit Soulouques darin besteht, daß seine Repräsentation tendenziell - besonders unter scharfer Kontrolle - immer in rassistische Bilder abzugleiten droht. Ob man im Charivari dieser Gefahr entgegensteuerte oder sie gar nicht als solche ansah, sollen die folgenden Analysen zeigen. Daß Soulouque sich bei den Satirikern des Second Empire auch weiterhin bis zu seinem Tod einer hohen "Popularität" erfreute, belegt die Tatsache, daß kein anderer schwarzer Monarch - bis auf das jeweils kurzfristige Auftauchen der Königinnen von Madagaskar, Ranavalona und Rasoherina, - so häufig lächerlich gemacht wurde. Dies bedeutet aber nicht, daß nicht andere Schwarze in Paris noch bekannter waren, als er. Das galt besonders für eine Figur, die typischerweise in der von der Zensur schwer zu kontrollierenden Grauzone zwischen Literatur und Politik anzusiedeln war: Onkel Tom3. In den frühen 1860er Jahren bevölkerten zahlreiche Schwarze Chams Bildkommentare zum amerikanischen Bürgerkrieg. Ebenso wie die Bildparodien auf Beecher Stowes Bestseller stellen diese Karikaturen nicht die Verbindung zu Soulouque her, sie knüpfen eher an die Tradition der Sklaverei-Parodie der 1840er Jahre an4. Während Haiti ja auch im Second Empire von der Hintergrundberichterstattung immer wieder mit der Sklaverei-Frage in Verbindung gebracht wurde, scheint die Satire in ihrer Rollenaufteilung dem schwarzen Kaiser andere Funktionen zuzuschreiben, die in den folgenden Abschnitten chronologisch fortschreitend im ständigen Rückbezug auf die übrige aktuelle Tagespresse herausgearbeitet werden sollen.

2

Zu den Neapel-Karikaturen, siehe besonders die Kommentare von R. Rütten: "Roma, ma qualcosa finisce", in: A. Stoll, 1987, S. 151-153, 168-177; zu Rußland, siehe M. Mosoia/A. Stoll: "Faßnacht und Aschermittwoch der Masken des Despotismus", in A. Stoll, 1985, S. 171 ff.

3

Zur Rezeption von Uncle Tom's Cabin siehe die gut dokumentierte Studie von Lucas, die leider nicht die Karikaturen zu dem Riesenerfolg thematisiert. Childs weist auf Chams Karikaturen und deren Tendenz in dem Aufsatz "Exotismus in den Lithographien Daumiers", in: A. Stoll, 1985, S. 88, hin. Keine der Karikaturen stellte eine Verbindung zwischen Onkel Tom und Soulouque her. In den Kritiken mußte zwar Haiti als negatives Gegenbeispiel herhalten, doch wurde auch hier nicht an den zeitgenössischen Kaiser erinnert, sondern an die Grausamkeit der Revolutionshelden Toussaint Louverture und Dessalines, siehe den besonders rassistischen Kommentar von Théophile Gautier im Feuilleton der Presse (24.1.1853), gegen den die Annales d'Afrique in der Ausgabe vom 5.5.1853 protestierten, oder den Pitre-Chevaliers im Musée des Familles (Mai 1853), S. 255.

4

Die Funktion dieser Karikaturen wird kurz bei Childs, a.a.O., erörtert.

217

1 "Seriöse" Bilder über das Kaiserreich Haiti Einleitend sei kurz das spärliche, nicht karikaturale Bildmaterial über die Vorgänge im karibischen Kaiserreich vorgestellt, das während der Regierungszeit Soulouques in Paris verbreitet wurde.

1.1

Illustrierte Distanzierungen gegenüber dem Staatsstreich

1.1.1 Das Musée des

Familles

Unmittelbar nach dem Staatsstreich montierte das Musée des Familles die kaiserlichen Insignien aus Haiti an ungewöhnlicher Stelle in eine Abbildung. Die DezemberAusgabe 1851 zeigte einen illustrierten Jahresrückblick (Abb. 111), der das entscheidende Ereignis des Jahres, den Staatsstreich, zensurbedingt ausklammert. In der Mitte des Bildarrangements erhalten die Krone Soulouques und sein Wappen eine zentrale Position. Den haitianischen Herrschaftssymbolen sind auf beiden Seiten jeweils in den unteren Ecken das Schloß von Claremont, das Exil der orleanistischen Prätendenten, und das Schloß von Frohsdorf, das Exil des Grafen von Chambord, als Gegenpole zugeordnet. Dazwischen befinden sich die Großprojekte des französischen Präsidenten/Prätendenten, wobei die optische Mitte dem Londoner Cristal-Palace vorbehalten ist. Ohne jegliche rassistische Anspielung verwandelt die Zeitschrift den Ruf der Straße: "A bas Soulouque!" in eine scheinbar positive Würdigung des überseeischen Kaiserreichs und zeigt aus royalistischer Perspektive, daß in Frankreich legitime Herrschaftsansprüche durch den Staatsstreich an den Rand gedrängt worden sind, um der Diktatur der Barbarei Platz zu machen. Die Pariser Sonnenfinsternis in der oberen rechten Vignette könnte somit als implizite Leseanweisung verstanden werden: Der Glanz des Bonapartismus und des industriellen Fortschritts erscheint unnatürlich, da sich die Sonne der monarchistischen Zivilisation verdunkelt hat. 1.1.2 Die

Illustration

Die Illustration greift nicht zu so raffinierten und zugleich doch eindeutigen Mitteln. Zur Einordnung dessen, was sie am 21.2.1852 - in der ersten Nummer nach dem Inkrafttreten des neuen Zensurgesetz - über Haiti berichtete, muß man einen kurzen Blick auf ihre bisherige Bildproduktion seit dem zwei Monate zurückliegenden Staatstreich werfen. Auffallend ist, daß die Illustrierte bis zum 20.3.1852 keine größere Abbildung Louis-Napoleons brachte - sieht man einmal von der Reproduktion des neuen 5-Franc-Stücks ab. Man findet also keineswegs das, was die bonapartistische Imagerie d'Epinal verbreitete: ganzseitige Abbildungen des Ordnungshelden vom 2. Dezember (Abb. 112). Statt dessen wurden Bild-Reportagen des "Te Deums" vom 1. Januar in Notre-Dame geliefert. Auf keiner Zeichnung ist der Präsident jedoch ein-

218 deutig zu erkennen. Am interessantesten erweist sich die Darstellung seiner Rückfahrt: Die Kutsche wird von Reitern mit gezogenen Säbeln eskortiert, die Straßenränder sind von Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten gesäumt, nirgends ein Zivilist (Abb. 113). Die folgende Nummer führt die mit napoleonischen Insignien geschmückte Kathedrale einschließlich der in ihr versammelten Würdenträger (Abb. 114) vor. Wie in dieser auf "High-life" spezialisierten Illustrierten üblich, bleibt das Volk auch in dieser Szene ausgeschlossen. In der Ausgabe vom 21.2.52 war - wenige Seiten vor den Bildern über Haiti - die Dekoration des Balles beim Kriegsminister abgebildet (Abb. 115): festlich vereint tanzen Bürger und Militärs unter bonapartistischen Symbolen, Kriegsutensilien aus der Ritterzeit und Kanonen, als ob diese nicht noch vor kurzem auf den Boulevards gerade die bürgerlichen Passanten bedroht hätten. Die Omnipräsenz des Militärs in Paris ist aber kaum zu übersehen. Die gleiche Ausgabe führt dem Betrachter in drei Bildern (Abb. 116-118) die Feierlichkeiten nach Soulouques Rückkehr von einer Expedition in die Provinz vor. Der begleitende Brief eines gewissen Pigeard stellt klar, daß Engländer und Franzosen den Kaiser von einem Eroberungszug gegen die Dominikanische Republik abhalten konnten. Im Bild dagegen bereitet die Bevölkerung dem Feldherrn und seinen Truppen einen triumphalen Empfang. Während der Text auf den desolaten Zustand der Armee hinweist, wird dies in den Abbildungen nicht deutlich. Am offensichtlichsten manifestiert sich der Gegensatz zur Situation in Paris (Louis-Napoleons Abfahrt, Abb. 113) im oberen Bild (Abb. 117). Der Triumphbogen - solche wurden tatsächlich errichtet - scheint seinem Pariser Vorbild nachempfunden und steht somit in der militärisch-bonapartistischen Tradition. Der kaiserliche Feldherr reitet ganz in der Tradition des ersten Napoleon an den jubelnden Untertanen vorbei - einer berührt sogar seinen Stiefel. Die Soldaten marschieren zwar nicht in der Pariser Ordnung, dafür sind aber auch die Grenzen zu den Zivilisten aufgehoben: Im Gegensatz zum Imitator in der Metropole wird der karibische Monarch als Kaiser "zum Anfassen" vorgestellt. Statt der Bälle wird die haitianische Variante der Volksbelustigung, eine VoudouZeremonie, vorgeführt. Auch hier entspricht die Beschreibung wieder den traditionellen französischen Stereotypen, die eine solche Veranstaltung in die Nähe eines Hexensabbats rücken. Das Bild aber zeigt eine Tänzerin, die - verglichen mit den alljährlichen Abbildungen der Tänzerinnen auf den Karnevalsbällen (Abb. 119) nicht sehr extravagant wirkt. Um die tanzende Orantin versammelt sich eine Gruppe von Hounsis, das sind weibliche Initiierte, in Andachtshaltung und einige nicht sonderlich ekstatisch wirkende Trommler, während sich im Hintergrund Männer mit Zylindern und ein Offizier aufhalten, der "papaloi" (Hougan oder Zeremonienleiter) ist nicht zu erkennen 5 . 5

Bei dieser Abbildung scheint es sich um die erste Darstellung einer Voudou-Zeremonie zu handeln. Ob die Zeichnung von Pigeard stammt, ob dieser nun Haitianer oder Franzose war - letzteres ist aufgrund der Kommentare wahrscheinlicher - oder ob die Zeichnung doch von Guilliod de Leogane stammt, was Dr. Lerebours mir in einem Gespräch mitteilte, ist nicht eindeutig

219 Die Bedeutung dieses illustrierten Artikels ist ambivalent. Der Text suggeriert, daß es sich um eine der angeblich auf Haiti üblichen absurden Jubelfeiern für einen nicht errungenen Sieg in der Tradition der Kaiserproklamation handelt, während die Abbildungen die Volksnähe suggerieren, die die Illustration dem Prätendenten in Paris nicht zugesteht. Auch sind die Vergnügungen, mit denen das haitianische Regime seine Untertanen abzulenken pflegt, keineswegs die unterstellten ekstatischen Tieropfer, sie sind nicht einmal so aufreizend wie die Tänze der Frauen während des Pariser Karnevals. Den Vignetten nach zu urteilen, verwandelt sich das als barbarisch beschriebene Haiti in das positive Gegenbild zum augenblicklichen Paris. Wenige Monate später erschien ein Brief von Guilliod de Léogane, der - statt der offiziellen Kaiserkrönung in Port-au-Prince am 11.4.1852 - von der am selben Tag in Ennery zelebrierten Enthüllung einer vom Kaiser in Auftrag gegebenen Statue Toussaint Louvertures berichtet. Es bleibt ungeklärt, ob die Person des haitianischen Künstlers nicht sowieso eine Erfindung der Pariser Redaktion ist oder ob diese einen realen Bericht vom Krönungstag manipuliert hat, entscheidend ist, daß Text und Bilder genau der augenblicklichen Informationspolitik entsprechen. Die Krönung von Port-au-Prince zu dokumentieren, mußte wegen der gleichzeitigen Kampagne LouisNapoleons für das Second Empire und Soulouques Orientierung am napoleonischen Modell als subversiv angesehen werden, daher wird sie nur im Text erwähnt. Statt dessen folgt ein Bildarrangement (Abb. 120), das auf die republikanischen Ursprünge des Bonapartismus anspielt, aber nicht die Gesichtszüge der Schwarzen ins Tierische verzerrt, wie etwa während der Zweiten Republik der Caricaturiste (Abb. 25). Auch die Tatsache, daß die Illustration die Korrespondenz mit Guilliod de Léogane wiederaufnahm, von dem sie sich zeitweilig distanziert hatte 6 , spricht dafür, das nunmehr ein positives Haiti-Bild präsentiert werden sollte. Die Redaktion schreibt im Vorspann zu dem Brief: Nous sommes heureux de rencontrer ici un représentant de la France à l'étranger, se faisant, au nom de la liberté humaine, le défenseur d'un opprimé, que l'intelligence, le coeur et le talent rendent d'ailleurs l'égal de tous, et le supérieur de ceux qui le persécutaient, comme il dit, à cause de son épiderme noir.7

festzustellen. Sicher ist dagegen, daß der Zeichner, entweder durch Lektüre oder durch Anschauung, gut informiert war, da zum Beispiel der im Text nicht erwähnte Poteau Mitan mit den Vévés (Voudoufahnen mit Götteremblemen) im Hintergrund zu sehen ist. 6

Es handelt sich um den Artikel mit den Illustrationen zur Dominikanischen Republik (siehe IV.2.1.1), in dem ein gewisser Duparc über die bisherigen Zeichnungen zum haitianischen Kaiserreich schreibt: "Ces communications, faites par un homme de couleur, M. Jaymé Guilliod de Léogane, nous les avons acceptées sous toutes réserves et en signalant leur origine intéressée.", siehe Duparc: "Saint-Domingue et Haïti", in: L'Illustration, 28.8.1851, S. 133. Von erwähnten "Einschränkungen" konnte in den vorhergehenden Artikeln keine Rede sein, dort feierte man noch Guilliod als Beispiel für die künstlerischen Fähigkeiten der Farbigen.

7

Siehe "Inauguration de la statue de Toussaint-Louverture à Haïti", in: L'Illustration, 19.6.1852, S. 412.

19,

220 Die Qualifikation Toussaints als moralisch höherwertiges Opfer des französischen Bonapartismus ist offensichtlich. Der Text unterstützt also die antibonapartistische Lektüre der im oberen Seitenteil abgebildeten Statue, deren Modell angeblich in Soulouques Büro stehe8. Diese verkörpert Toussaint als kettensprengenden neuen Spartacus - in dieser Rolle wurde er zuletzt zwei Jahre zuvor in Lamartines Theaterstück vorgeführt. Damit dürfte diese Graphik die einzige positive Reminiszenz in der Illustration 1852 sein, die an den radikalen Diskurs der großen Revolution erinnert, zu einer Zeit, da die meisten Revolutionäre von 1848 in Ketten lagen, beziehungsweise längst ins Exil verdrängt worden waren. Wenn auch auf die revolutionäre Tradition des haitianischen Kaiserreichs angespielt wird, so sind doch unter das Bild des historischen Helden die Konterfeis zweier zeitgenössischer Würdenträger montiert, womit wohl signalisiert werden soll, daß Kirche und Militär inzwischen vor revolutionären Exzessen stehen. Die von Toussaint eingeleitete Befreiung hat zu einem Wohlstand geführt, den zumindest die neue Elite, wenn auch exotisch, in der Person der Kaiserinnen-Tante zur Schau stellt. Die bildliche Erinnerung an das Raynalsche Spartacus-Konzept scheint deshalb gerechtfertigt, weil nach dieser Lesart die Gewalt als Befreiungsakt von einem menschenverachtenden Repressionssystem aus humanitären Gründen notwendig war. Das augenblickliche haitianische Kaiserreich knüpft demnach scheinbar bruchlos an die republikanische Tradition an, während in Paris diese erst noch zerstört werden mußte, um dem Kaiserreich den Weg zu bereiten. Es geht der Illustration wohl weniger darum, den Republikanismus zu rehabilitieren, als - im Rückgriff auf den Verrat des "premier des blancs" an dem "premier des noirs" - die vormals barbarisch dargestellten Inselbewohner gegenüber der Barbarei in Paris, über die nicht berichtet werden darf, aufzuwerten und diese damit zu verurteilen. 1852 stilisieren die Illustrierten folglich Haiti zum positiven Gegenbild der französischen Zustände, die zensurbedingt nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen durften.

1.2 Englische und französische Bilder Faustins I. Die eigentliche Kaiserkrönung Soulouques wurde in französischen Illustrierten nicht gezeigt, obwohl ein in New York arbeitender Franzose namens Lacombe zwölf 8

Angesichts der im letzten Kapitel vorgestellten ideologischen Besetzung der Figur Toussaints in Haiti ist es erstaunlich, daß Soulouque ihm soviel öffentliche Ehre habe zukommen lassen. Guillod de Leogane folgt keineswegs der Linie der Mulatten, wenn er Toussaint in der Tradition des Spartacus darstellt. Schoelcher hatte ja bereits auf die allgemeine Ablehnung des "premier des noirs" hingewiesen. Für die Behauptung von d'Alaux, die Mulatten hätten sich mit den Massen auf Dessalines als schwarzen Helden Haitis geeinigt, spricht die ideologische Wahrscheinlichkeit. Schon allein aufgrund der imperialen Tradition hätte Dessalines von Soulouque favorisiert werden müssen.

221 Zeichnungen der Zeremonie, die von einem gewissen A. Hartmann photographiert festgehalten worden war, unter dem Titel Empire d'Haiti - L'Album du sacre in New York herausgebracht hatte. Die diesem Album entstammende Darstellung des Kaiserpaares wurde von der Illustrated London News (Abb. 121) erst vier Jahre später mit einem sehr abwertenden Kommentar über das Kaiserreich in dem Moment verbreitet, als der Monarch seine härteste Niederlage gegen die Dominikanische Republik hatte hinnehmen müssen. Dieses seiner Meinung nach negative Konterfei des Herrschers veranlaßte Guerin, seiner Studie ein wesentlich jugendlicheres Porträt desselben 9 voranzustellen (Abb. 122). Bis auf das Alter entspricht es aber durchaus den positiven Beschreibungen von dessen Physiognomie, die selbst der Text der Illustrated London News übernommen hatte. Die bei Guerin abgebildete Zeichnung legt durch die verdeckte Hand den Vergleich mit Napoleon I. nahe, läßt aber den Haitianer nicht als Karikatur des Pariser Imitatoren erscheinen. Diese textliche und bildliche Abgrenzung von der englischen Illustrierten dürfte zugleich die Frage nach der Abwesenheit der haitianischen Krönungszeremonie in den französischen Medien beantworten: Sie verbot sich gerade wegen der offensichtlichen Vergleichbarkeit der beiden, den Atlantik übergreifenden Imitationen des selben Vorbilds.

1.3 Haiti zur Unterhaltung der Kinder Nach der anfänglichen Opposition gegen den Staatsstreich kehrten beide Pariser Illustrierten bald wieder zu Darstellungen der Größe Frankreichs und seiner Regierung zurück, für Haiti bestand fortan kaum noch Interesse. Die Illustration brachte noch drei haitianische Alltagsszenen (Abb. 123), die Ähnlichkeiten mit einer Image d'Epinal aus den 1850er Jahren (Abb. 124) aufweisen. Der Kommentar eines gewissen Lecrivain stilisiert die Bilder im Sinne der d'Alaux-Artikel zu Karikaturen: Das allgemein verbreitete Gleichheitsideal veranlasse die Kinder, die Pute und ihre Küken an ihrem Mittagessen partizipieren zu lassen; die Mulattinnen und die Quarteronnes, die peinlich genau auf die Farbunterschiede achteten, kleideten sich in blütenweiße Kleider aus Frankreich, dieses Bedürfnis nach Eleganz wirke dagegen durch die grellen Farben der Kopftücher und den Straßendreck lächerlich; in einer Hinsicht seien allerdings weltweit die Frauen gleich: in ihrer Tratschsucht. Das Verfahren ist offensichtlich: Elemente aus den Vignetten werden - entgegen der Intention des Zeichners - antisozialistsch, chauvinistisch und rassistisch besetzt. Dieses Beispiel belegt Kunzles These, daß die Illustration eine literate und illiterate Leserschaft anvi-

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Diese Zeichnung weist große Ähnlichkeiten mit dem von Bemard Wah restaurierten Porträt Faustin Soulouques auf, das der Baron Colbert Lochard für die Freimaurerloge von Petit-Goäve in Öl gemalt hatte. Leider war das Gesicht auf dem Gemälde vollständig zerstört - vielleicht die Folge einer "damnatio memoriae"? - , so daß wohl nur über den schemenhaft sichtbaren Körper die Analogie herzustellen war, siehe Lerebours, Bd.l, S. 129.

222 sierte10. Der Text ist als kurzweilig abwertende Beschreibung für die Eltern gedacht, während er den Kindern qua Anschauung andere Nachrichten vermittelt. Zuerst wird ihnen oben auf der Seite vor Augen geführt, daß weltweit in Natur und Gesellschaft Kinder von weiblichen Wesen versorgt werden. Die beiden unteren Bilder bekräftigen die Universalität der Klassengegensätze: den Farbschattierungen entspricht die Kleiderordnung. Die Kinder schauen respektvoll zur bürgerlichen Frau auf, wollen ihr vielleicht sogar eine Ananas verkaufen, während die Frauen aus dem Volk zu den Kindern in direktem Kontakt stehen. Diese Trennung erscheint auch in dem populären Bilderbogen (Abb. 124), nur hält dort die Schwarze die Ananas hoch, die in der Illustration die Kinder anbieten beziehungsweise verbergen. Im Gegensatz zu den Artikeln in der Revue des Deux Mondes oder ähnlichen Schriften wird hier nicht die Banane, sondern die Ananas 11 gezeigt. Diese Frucht ist nicht für das Volk bestimmt im oberen Bild fehlt sie - , vielmehr für den Konsum der oberen Schichten oder der Metropole; deswegen versucht ein Kind, die Frucht für sich zu behalten und zu verstecken. Anders als im Text stellen die Bilder frauenspezifische Klassenunterschiede in den Vordergrund. Die emblematische Frucht wird als begehrte Exportware zur exotischen Verzierung der bürgerlichen Tafel kenntlich gemacht. Haiti und Soulouque schienen häufiger Bestandteil der Kinderwelt oder des reichhaltigen Arsenals exotisierender Alltagsrequisiten gewesen zu sein (siehe zum Beispiel die Likörflaschen-Etiketten, V.4.2), als man heute vermuten möchte. Aus einem angeblichen Photo Soulouques (Abb. 125), das offensichtlich einen schwarz geschminkten Weißen mit einem überladenen Federbuschhut zeigt, wurde ein Puzzle gemacht12. Der Photograph hat die Karikaturen (siehe V.3.2.3) in der Vielfalt der Federn noch überboten. Aufgrund der spärlichen Informationen über das letztgenannte Bildmaterial läßt sich die Verbreitung dieses exotisierenden Soulouque-Bildes nicht eindeutig quantifizieren, doch ist wohl davon auszugehen, daß diese seit den Jahresendrevuen von 1849 beliebte Art der Darstellung häufig anzutreffen war. Für die zwei Illustrierten ergibt sich der Befund, daß sie 1852 zumindest im Bild kurzfristig Haiti aus einer wesentlich positiveren Perspektive vorstellen, als etwa d'Alaux in seinen zeitgleichen Artikeln über die haitianische Literatur. Danach verschwindet das haitianische Kaiserreich aus dem Repertoire der Bildreportagen oder es wird in den Bereich der Exotik verbannt. Der Wechsel vom zaghaften chiffrierten Unterlaufen der Zensur zur politischen Marginalisierung der karibischen Gegenwelt 10 Siehe Kunzle, 1980, S. 13 und 19. 11 Köllmann/Wirth, S.l 166, belegen in ihrer Auswertung der Erdteil-Allegorien, daß die Ananas ausschließlich ein Produkt Amerikas ist. Demnach deutet die Ananas hier auch darauf hin, daß Haiti als Land zwischen Afrika und Amerika anzusiedeln ist. 12 Diese Reproduktion wurde mir freundlicherweise von Dr. Chatillon zur Verfügung gestellt, dem ich auch die Information über das Puzzle verdanke, das im Herbst 1990 im Katalog des Auktionshauses Drouot abgebildet war und dort auch versteigert wurde.

223 kann als Indikator für das Arangement dieses Segments der Pariser Presse mit dem heimischen Regime - zumindest bis 1859 - gewertet werden.

2 Der karibische Gesslerscherz und die französische Despotenkritik Infolge der verschärften Pressezensur berichtete der Charivari fortan nur noch dann über Soulouque, wenn Haiti wieder in die Schlagzeilen geriet 13 . Die Autoren und Karikaturisten standen nunmehr vor der Aufgabe, die haitianische Aktualität mit der französischen in Verbindung zu bringen - vorausgesetzt, der karibische Despot sollte auch weiterhin gemäß der während der Zweiten Republik erprobten Strategie für die innenpolitische Kritik funktionalisiert werden. Man hätte sich ja ebenso gut auf unverfängliche "faits divers" oder eine dem Haiti-Bild der Illustrierten nachempfundene Sittenkarikatur verlegen können. Der Häufigkeit der Artikel und Karikaturen nach zu urteilen, beschränkte sich die Berichterstattung über das karibische Kaiserreich vornehmlich auf die Zeiträume der jeweils von dort kolportierten politischen Ereignisse: den Herbst 1855, das Frühjahr 1856 und das Frühjahr 185914. Vor der Erläuterung der aktuellen politischen Lage in Haiti, soll kurz in Erinnerung gerufen werden, was die französische Presse im Herbst 1855 vor allem beschäftigte. Seit Mai zelebrierte eine wahre Bilderflut die moderne Industrieproduktion, deren fortschrittlichste Errungenschaften auf der ersten Pariser Weltausstellung zu bewundem waren. Anläßlich dieser Selbstinszenierung der Zivilisation besuchte die Repräsentantin des liberalen England, Königin Victoria, Paris, was wiederum Napoleon III. zu einem Gegenbesuch veranlaßte. So wurde auf höchster persönlicher Ebene eine Allianz besiegelt, die nach dreijährigem gemeinsamen Kampf am 10. September mit der Einnahme Sebastopols den entscheidenden Sieg gegen das zaristische Rußland feiern konnte. Die französisch-englische Besuchsdiplomatie wurde von wütenden Protesten im Ausland, insbesonders der im englischen Exil lebenden Franzosen begleitet, was unter anderem im Oktober zur zwangsweisen Übersiedlung Victor Hugos

13 Die einzige Ausnahme besteht in der ersten Erwähnung Soulouques nach dem Staatsstreich im Charivari, siehe Taxile Delord: "L'Institut d'Haïti", 4.6.1852. Hier lag wahrscheinlich eine Aktualität aus der französischen Kulturpolitik vor. Dieser Artikel blieb aber isoliert. Bemerkenswert ist vor allem, daß der Charivari (im Gegensatz zur Illustration) die Kaiserkrönung in Haiti nicht aufgegriffen hat. 14 Zu diesen Karikaturen siehe auch Middelanis: "Das schwarze Gesicht des weißen Kaisers", in: Stoll, 1985, S. 104-125.

224 von der Insel Jersey nach Guernsey führte, wo die Kontrolle seitens der englischen Behörden besser gewährleistet war 15 . Anfang Oktober 1855 brachten die französischen Zeitungen eine Neuigkeit, die alle mehr oder weniger authentischen Grotesken über Soulouque bestätigte: Der Kaiser hatte die diplomatischen Beziehungen zu Spanien abgebrochen, weil ein spanischer Botschaftsangehöriger vor dem Regierungsgebäude nicht, wie vorgeschrieben, den Hut gezogen hatte. Ohne die Absurdität dieses Vorfalls rechtfertigen zu wollen, lohnt es sich dennoch, einen genaueren Blick auf das Geschehene zu werfen. Bereits am 8. August 1855 hatte sich der französische Generalkonsul in einer ähnlichen Angelegenheit an seinen Außenminister gewandt 16 . Wegen Bauarbeiten im Regierungspalast war der Regierungssitz seit März in ein Haus in einer Durchgangsstraße verlegt worden. Um dennoch dem Ort die angemessene Aura zu verleihen, war jeder Reiter gehalten, dort vom Pferd zu steigen, jeder Fußgänger mußte sein Haupt entblößen. Während der Kaiser in seiner Landresidenz weilte, wurden drei französische Marinesoldaten festgenommen, weil sie nicht dem leeren Gebäude die Referenz erwiesen hatten. Die Tatsache, daß der Generalkonsul es nicht versäumte, auf die Abwesenheit Soulouques zu verweisen, belegt, daß die Franzosen der kaiserlichen Verordnung bisher nachgekommen waren. Erst nach diesem Vorfall wurde allen Botschaftsangehörigen nahegelegt, um das Gebäude einen Bogen zu machen, bis diesbezügliche Anweisungen aus dem Pariser Außenministerium vorlägen. Wenige Tage später, als der Kaiser wieder in seinem Regierungsgebäude weilte, vergaß nun der spanische Konsul, dort den Hut zu ziehen. Soulouque selbst soll den Vorgang vom Fenster aus verfolgt und mit unflätigen Beschimpfungen kommentiert haben 17 . Im selben Brief weist Wiet aber darauf hin, daß der spanische Diplomat zuvor eine Audienz beim Kaiser erbeten hatte, um von diesem Auskünfte über Gerüchte zu erhalten, denen zufolge das englische Handelshaus Lloyd versucht haben sollte, die Regierung der Dominikanischen Republik dahin zu bewegen, die gesamte Insel unter haitianische Herrschaft zu stellen. Genau diese Lösung des Dauerkonfliktes auf der Insel bekämpften vor allem die Franzosen und Spanier. Es ist also wahrscheinlich, daß Soulouque die Gelegenheit nutzte, um eine Einmischung der ehemaligen Kolonialmacht in die Verhandlungen mit dem spanischsprachigen Teil zu verhindern. Da überdies das Verhalten des Spaniers nach dem Vorfall um die französischen Marinesoldaten als bewußte Provokation erscheinen mußte, konnte sich der Kaiser breiter Zustimmung in der Bevölkerung sicher sein, hatte er doch den Repräsentanten einer Sklavenhalternation gedemütigt. Die Reaktion des französischen Außenministeriums spricht dafür, daß die haitianische und die französische Regierung innenpolitisch wohl die gleichen Ziele verfolgten. So wünschte die Pariser Diplomatie zwar, daß die 15 Eine ausführliche kritische Positionsbestimmung Hugos um 1855 findet sich bei Fietkau, S. 445 ff. 16 Siehe Wiet an das Außenministerium, 8.8.1855, in A A E C P Haiti, Bd. 21. 17 Ders., 20.8.1855, ebd.

225 Verordnung Soulouques aufgehoben werde oder doch wenigstens nicht für Ausländer gelten solle, ansonsten möge die französische Gesandtschaft jedoch wie gehabt verfahren: ... vous parlerez surtout au nom du désir que nous éprouvons de lui voir maintenir, en même temps que l'ordre intérieur, ses bons rapports actuels avec toutes les puissances qui l'ont reconnu.18 Diese Passage gelangte selbstverständlich nicht in die französische Presse. Was diese dennoch hätte herausarbeiten können, war der Umstand, daß ja offensichtlich alle anderen Ausländer, außer dem Spanier, sich an Soulouques Direktive hielten. Tatsächlich reichlich Stoff für eine Satire!

2.1 Despoten im Schatten Sebastopols Den haitianischen Diplomatie-Eklat kommentierte zuerst Taxile Delord im "Bulletin du jour" 19 . Scheinbar erkannte der republikanischste unter den Charivari- Autoren die ambivalente Rolle der Franzosen in der Konsulats-Affäre, da er alle Europäer zu von "Faustin I er , empereur de toutes les Soulouquies" Angegriffenen erklärt. Der Gipfel der Dreistigkeit stünde noch aus, daß nämlich Soulouque seinen eigenen Hut aufpflanzte, und sich alle vor diesem verbeugen müßten. Ein solcher Affront lasse sich nur durch ein geheimes Abkommen des haitianischen Kaisers mit dem russischen Zaren erklären. Soulouque folge der Politik Ferdinands von Neapel, der den alliierten Truppen auf der Krim die Lebensmittelversorgung verweigere. In Neapel und in Haiti habe die Bevölkerung die Anweisung erhalten, Freudenbekundungen wegen der Einnahme Sebastopols durch die Alliierten zu unterlassen. Delord läßt jene Monster auferstehen, die in der Karikatur der Zweiten Republik dem französischen "Soulouque" ihre Aufwartung machten (Abb. 67), doch inzwischen Feinde Frankreichs sind. Die innenpolitische Rechnung von Napoleon III. war somit aufgegangen: unter dem Eindruck des Sieges von Sebastopol konnte die republikanische Opposition kaum mehr den französischen Imperator mit den traditionellen Despoten gleichsetzen. Das siegreiche Frankreich gehörte scheinbar nicht mehr zu den "Soulouquies". Caraguel griff zwei Tage später nochmals die Erneuerung des haitianisch/neapolitanischen Freundschaftspaktes in Form eines fiktiven Briefwechsels auf 20 , damit nicht der Eindruck entstehe, daß man jetzt den karibischen Exoten Wiederaufleben lasse, um gewisse Prädispositionen für schwarze Themen zu befriedigen. Ferdinand bedauert darin, daß man dem "nègre" Soulouque zu wenig Aufmerksamkeit schenke: 18 Außenministerium an Wiet, 15.10.1855, ebd. 19 Siehe T. Delord: "Bulletin du jour", in: Le Charivari,

5.10.1855.

20 Siehe C. Caraguel: "Le roi de Naples à Faustin Ier" in: Le Charivari,

7.10.1855.

226 Les négrophiles sont encore sous l'impression de l'Oncle Tom, ... ils chercheront à vous excuser, tandis que les personnes qui nourrissent encore des préjugés contre la race noire diront: -Bah, c'est un singe ce Soulouque! Tous les jours on voit les singes du Jardin des Plantes se signaler publiquement par des incongruités et l'on ne fait qu'en rire. Pourquoi se montrer plus sévère pour Soulouque que pour ses pareils du Muséum?

Im Falle Soulouques lenkten also Philanthropen und Rassisten gleichermaßen von seinen eigentlichen Qualitäten ab: Vous faites mieux que de bâtonner ceux de vos sujets qui vous déplaisent, vous les plongez dans des caves de poix bouillante, c'est plus joli.

Da diese Stelle eindeutig auf die Daumier-Karikatur von 1850 (Abb. 69) anspielt, kann man zunächst mit Recht vermuten, daß die frühere Funktion Soulouques in der Satire reaktiviert werden soll. Doch dann schlägt Ferdinand dem Unterdrückerkollegen vor, sich auf seine Seite zu schlagen und ebenfalls die Alliierten durch einen Exportstopp - keine Ananas auf die Krim - zu schädigen. Soulouque geht in seinem fiktiven Antwortschreiben auf den Vorschlag ein, dankt in petit-nègre, für die ihm zuteil gewordene Anerkennung und erkundigt sich, wo eigentlich Byzanz liege, das ihm der Zar versprochen habe. Delord und Caraguel betreiben aus einer nationalistisch liberalen Position die Verteufelung der Autokraten. Auf diese Weise wird der Typ "Soulouque" seiner wesentlichen Funktion beraubt, die er bisher in der französischen Satire erfüllte: den Transfer zum französischen Bonapartismus zu leisten. Trotz der Ablehnung rassistischer Positionen schrumpft er zu einem exotisierenden Beiwerk der Despotenkritik.

2.2 Daumier setzt eindeutige Zeichen Im Gegensatz zur Zweiten Republik, als er über ein halbes Jahr bis zu seiner ersten Soulouque-Karikatur (Abb. 69) verstreichen ließ, reagierte Daumier im Oktober 1855 sofort auf die Nachricht aus Haiti und auf die Artikel seiner schreibenden Kollegen. Cham sollte auf die Karikaturen Daumiers erst später antworten. Auch für letzteren schien festzustehen daß die aktuelle Nachricht aus Haiti in einen europäischen Kontext gestellt werden mußte, daran läßt schon die Reihenfolge der drei völlig unterschiedlichen Bildfeldern zugehörenden Zeichnungen (Abb. 127, 130, 135) keinerlei Zweifel: Die erste und dritte präsentieren Soulouque mit den europäischen Despoten, nur die mittlere illustriert den eigentlichen Auslöser für das wiedererwachte Interesse am karibischen Kaiser.

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2.2.1 Ein Monarch kann einen anderen verdecken Es hat den Anschein, als habe Caraguels Artikel Daumier nicht nur aus einem kompositorischen Dilemma befreit. Bereits am 2. Oktober war nach einer Reihe von Karikaturen gegen die neapolitanischen Bastonaden (z.B. Abb. 131) ein Blatt erschienen, das nicht mehr den Despoten und seine Schergen bei ihren heimatlichen Gebräuchen vorstellte, sondern diesen und den englischen Lord Palmerston in das ambivalente Szenario des neapolitanisch-französischen Guignol 21 (Abb. 126) setzte. Palmerston und Ferdinand sind durch das bonapartistische Requisit des Knüppels vereint, aber dessen Opfer sind nur vor dem Bourbonen zu sehen, während der Engländer, in der Robe des Anwalts, den Knüppel scheinbar zu Recht schwingt. Die am 19. Oktober veröffentlichte Zeichnung (Abb. 127) stellt mit Soulouque und seinen Opfern die Symmetrie wieder her. Gleichzeitig schließt der Schwarze den Kreis einer ikonischen Korrektur Daumiers an Chams Guignol-Gebrauch. Dieser hatte ja - wie erwähnt (III.3.3.2.3) - Soulouque als Zuschauer vor beziehungsweise als Akteur hinter die Kulissen des Kasperletheaters (Abb. 51/52) plaziert. Woraufhin Daumier wiederum den realen Ort des Guignol, die Champs-Elysées, mit Ratapoil/Bonaparte als zentralem Protagonisten inszeniert hatte (Abb. 128). Vier Jahre später betritt der einstige Doppelgänger Louis-Napoleons - nunmehr der politischen Veränderung folgend mit Galauniform und Panache neukostümiert (Abb. 127) - genau jene Bühne, vor und hinter der er nach Meinung des Künstlers in der Zweiten Republik nichts zu suchen hatte. Da die Symmetrie in der Horizontale wie in der Vertikale unterstreicht, daß Schwarze und Weiße nicht nur als Täter sondern auch als Opfer wirklich gleich sind, setzt Daumier in dieser Szene auf adäquate Weise die Despotenkritik der bereits erwähnten Artikel Delords und Caraguels bildlich um. In der Analyse des vorangehenden Blattes (Abb. 126) hat Rütten 22 , unter Bezug auf Marx, die auf Paris verweisenden Zeichen aus folgender historischer Konstellation erklärt: Palmerston, der Vertreter der kriegstreibenden Fraktion im englischen Parlament, brandmarkte bei seiner Argumentation gegen die Liberalen Ferdinand als italienischen Despoten, während er gleichzeitig die französische und österreichische Präsenz auf der Halbinsel verteidigte. Tatsächlich garantierte Napoleon III. mit seinen römischen Besatzungstruppen indirekt Ferdinands "Narren"-Freiheit in Neapel - so sahen es jedenfalls die Republikaner 1849. Auch war nicht vergessen, daß der "Staatsstreichheld" im Dezember 1851 auf den Boulevards mit dem "Re Bomba" verglichen worden war 23 , aus diesem Grund kostümiert der Zeichner die neapolitanische Figur zum ersten Mal nun auch noch mit den weißen Panache Louis-Napoleons. Als "neuer Pulcinell" erscheint daher 21 Zum Bezug zwischen Bastonaden- und Guignol-Karikatur siehe die Kommentare von Rütten und Stoll: "Roma, ma qualcosa finisce", in: Stoll, 1987, S. 172-177. 22 Ebd., S. 176. 23 Siehe V. Hugo: Napoléon-le-Petit, S. 466, und ders.: Les Châtiments, Buch III, VIII (4) sowie A. de Tocquevilles Brief an einen englischen Freund vom Januar 1852, in: Oeuvres Complètes,

vni.

228 nicht nur Palmerston, der überdies gerade die Ausweisung Hugos betrieb, sondern das doppelte Gesicht des augenblicklichen französischen Bonapartismus mit seiner "englisch" rechtsstaatlichen und seiner "neapolitanisch" despotischen Schminke. An den Guignol-Figuren, Ferdinand und Soulouque (Abb. 127) sind einige Veränderungen vorgenommen worden: Diesmal trägt Soulouque den weißen Panache24, während Ferdinand auf wunderbare Weise ein bisher in keiner von Daumiers "Re Bomba"-Karikaturen benutzter Zwirbelbart gewachsen ist. Zwischen dem 2. und dem 19. Oktober hatte Daumier offensichtlich nicht nur den Charivari gelesen, sondern auch den Charivari belge und den Moniteur. Das SatireBlatt der im belgischen Exil lebenden Franzosen berichtete nämlich25, daß Napoleon III. die Kritik am neapolitanischen Bastonade-Regime ausnutzen wolle, um, wie zuvor schon sein Onkel, den Bourbonen zu stürzen und statt seiner Lucien Murat, den Sohn des früheren bonapartistischen Königs von Neapel, Joachim Murat, auf den Thron zu setzen. Die neapolitanischen Muratisten hatten im September 1855 in Paris eine Broschüre in Umlauf gebracht, in der sie eine liberalere Regierungsform propagierten, um so einer drohenden republikanischen Revolution zuvorzukommen26. Diese Pläne wurden offiziell vom Moniteur dementiert, was aber dem belgischen Blatt als umso stichhaltigerer Beweis für seine Befürchtungen genügte, schließlich habe Napoleon III. immer das Gegenteil von dem getan, was er angekündigt habe, man sehe ja auf der Krim, was aus dem "L'Empire c'est la paix" geworden sei27. Für Daumier kann also nicht von einer Koalition "Haiti-Neapel-Rußland" die Rede sein, sondern von einer sich anbahnenden "Napoléon III-Murat", die sich über die "Soulouque-Ferdinand" schiebt. Aufgrund der sprichwörtlich bombastischen Ausmaße Lucien Murats (Abb. 129) sind der noch im Amt befindliche Herrscher von Neapel und sein potentieller Nachfolger leicht zur Deckung zu bringen. Um die Verwechslung perfekt zu machen, erhält die neapolitanische Figur den Zwirbelbart des Bonapartisten. Die augenblickliche Medienwirksamkeit Soulouques ermöglicht es Daumier also, einen weiteren Pariser Imitationsversuch des Premier Empire zu denunzieren: Nicht Soulouque ist aktuell, sondern die Wiederaufnahme einer französischen Außenpolitik, die schon einmal die Bourbonen aus Neapel verjagte, um der autochthonen republikanische Bewegung den Boden zu entziehen. Während die in Paris verbliebenen Republikaner in ihrer Sebastopol-Euphorie sowohl den Sieg über die zaristische 24 Beim genauen Hinsehen erkennt man, daß Daumier "Ferdinand" zunächst die runden Federn auf den Hut setzen wollte; er hat sich dann aber für die langen schwarzen Generalsfedem entschieden, die man bereits von den Rußlandkarikaturen kennt, siehe Daumier, D 2491, abgebildet und kommentiert von Mosoia/Stoll: "Fastnacht und Aschermittwoch der Masken des Despotismus" in: Stoll, 1985, S. 199. 25 Siehe Le Charivari beige, 1.10., 6.10.1855. 26 Siehe Bartocini, Kap. IV. 27 Siehe Le Moniteur Universell 7.10.1855 und Le Charivari beige, 9.10.1855.

229 Despotie als auch die Revanche für das nationale Trauma von 1812/1815 feierten, ergriff Daumier die Gelegenheit, mit dieser Neapel-Karikatur daran zu erinnern, daß die derzeitigen Versuche, die napoleonische Gloire in Europa wiederherzustellen, notwendigerweise antirepublikanische Konsequenzen zeitigen würden. Auch unter den Bedingungen der Zensur kann Daumier nicht akzeptieren, daß die Erinnerung an "Ferdinand" und "Soulouque" als antibonapartistische Protestfiguren zur Zeit der Zweiten Republik aufgegeben wird, umso mehr als der ehemalige Louis-Napoleon seine damalige Politik fortsetzt: Die traditionellen Masken "Soulouque" und "Ferdinand" verdecken kaum die ungleich brisantere Verschleierungsstrategie Napoleons III. und Lucien Murats. Auf dem neapolitanischen Kasperletheater haben schon mehrere "Pulcinelli" mit ihrem jeweils schlagkräftigen politischen System den Republikanern ihre Träume ausgetrieben 28 .

2.2.2 Hut ab, M. Prudhomme! Wenn Taxile Delord in Haiti eine Gessler-Szene heraufbeschwört, dann vollzieht Soulouque genau das, was schon Hugo am Ende von Napoléon-le-Petit über LouisNapoleon behauptet hat: Il fait couronner et haranguer son buste dans les marchés comme le bailli de Gessler faisait saluer son bonnet.29 Daumier übernimmt dieses Motiv (Abb. 130). Auch zeichnet er keinen Spanier, was der Karikatur eher eine antikoloniale beziehungsweise abolitionistische Note gegeben hätte. Es tritt stattdessen ein Pariser Bürger auf, der erschreckt einen barfüßig hüpfenden schwarzen Soldaten anstarrt. Der Kontrast zwischen beiden Figuren könnte nicht größer sein: Dem steifen, weißen Zylinder steht die eingedrückte, schwarze Mütze gegenüber, dem Frack ein mit Epauletten besetzter Soldatenrock, den bürgerlichen, weißen Beinkleidern die ausgefransten, halblangen Sklavenhosen, dem geraden Spazierstock die krumme Linie des Bajonetts. Allerdings entspricht dem Spazierstock in der perspektivischen Vergrößerung auch der Pfahl mit dem Hut, der einzige senkrechte Gegenstand im "haitianischen" Raum, welcher sich hinter dem Soldaten öffnet. Die Dominanz der gewundenen Linie in dem größeren Bildsegment links des Bürgers läßt vermuten, daß es sich um die "naturgetreue" Darstellung der nicht-kartesianischen Barbarei handelt. Die haitianischen Zustände sind dem Klischee entsprechend erfaßt, in diesem Ambiente verliert die Zivilisation ihren Zylinder. Aber diese "Krönung" des bürgerlichen Hauptes saß bei Daumier noch nie besonders fest. Sie zu lüften, bedurfte es nicht immer direkter Gewalt, wie etwa zu Ratapoils Zeiten (Abb. 107), dessen Zylinder wohl als das fehlende Element zwischen der Solda28 Siehe Ausstellungskatalog: Istituto Italiano per gli Studi Filosofici: Die Republik Neapel 1799, hrsg. von M. Bosse u.a., Bielefeld 1989.

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29 Siehe V. Hugo: Napoléon-le-Petit, S. 527, ähnlich in Les Châtiments: "Peuples, gloire à Gessler! meure Guillaume Tell!", Buch I, V "Cette nuit-là".

230 tenmütze und der weißen Manneszier gelten kann. Auch trügt der erste Eindruck, daß der bürgerliche Hut nach dem Staatsstreich nur noch außerhalb Frankreichs gefährdet sei, zum Beispiel durch die Schergen Ferdinands (Abb. 131); Soulouques Soldat kann sich genauso wenig wie sie Schuhe leisten. Bezeichnenderweise inszeniert Daumier die erste Gessler-Szene nach dem Putsch als reinen Mieter-Vermieter-Konflikt in Paris, das heißt ohne irgendeinen Repräsentanten der Staatsmacht. Die Karikatur vom 13.3.1854 (Abb. 132) zeigt nicht, wie die Bildunterschrift glauben machen will, Vermieter und Hauswart, sondern einen Hauswart, der den bürgerlichen Mieter auf die aufgepflanzte Rentier-Haube des Vermieters hinweist30. Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, zeichnet der Karikaturist kurz darauf einen Bürger mit gezogenem Zylinder vor dem geringschätzig dreinblickenden Vermieter (Abb. 133). Der Hauswart schielt mit gezogener Mütze auf den Bürger herab, denn er hält den Besen in der Hand, um dem sozial über ihm Stehenden im Falle der Insubordination den "coup de balai" zu versetzen. Dieses Blatt wurde dann folgerichtig vor der eigentlichen Gessler-Neuauflage am 10.3.1854 veröffentlicht. Das neue Regime hat zwar nicht die Fortsetzung des Massakers an den Bürgern auf dem Boulevard Montmartre gebracht, wohl aber die Boden- und Mietspekulation in Paris und mit ihr die bourgeoise Gruppe der Rentiers. In einem kurz vor dem haitianischen Gessler-Scherz gezeichneten Konflikt um knappe Dienstleistungen (Abb. 134) verliert ein Bürger seinen Zylinder, als er mit einem anderen um einen Platz in der Kutsche kämpft; der lachende Dritte ist in diesem Fall der fast bürgerlich gekleidete Kutscher, dessen Bart allein den "unfeinen" Unterschied markiert. Im Notfall wird die Peitsche die Kämpfenden zur Raison bringen, sprich die Konditionen desjenigen durchsetzen, der die unbürgerliche Arbeit verrichtet. Denn wenn auch das kapitalistische System die alte Ständeordnung, die noch die Kleidung bestimmt, gesprengt hat, muß die neue Hierarchie nicht unbedingt der Polarisierung zwischen Bourgeoisie und Proletariat entsprechen. Daumiers Interesse gilt, insbesondere nach den Erfahrungen mit der "société du dix décembre" der Zweiten Republik, jenen unterbürgerlichen Schichten, die ihren Klassenhaß durch Kollaboration mit Fraktionen der Bourgeoisie, Rentiers, Kutschenbesitzern oder Konzessionsnehmern, ausleben, ohne dabei ihren ökonomischen Status zu verbessern. In diesem Kontext steht die Haiti-Karikatur (Abb. 130). Der Bürger, der weder willens noch in der Lage ist, sein Schlaginstrument, den Spazierstock oder Regenschirm, gegen die alten oder neuen Barbaren einzusetzen, hat einer anderen Herrschaft die Möglichkeit gegeben, sich aufzupflanzen; ihr militärischer Arm hat spätestens seit dem 2. Dezember den aus der Ständegesellschaft übernommenen Ehrenkodex fallengelassen. In dem Augenblick, da die französische Armee an ihre auch von Hugo 30 Caraguel scheint diese Karikatur noch in Erinnerung zu haben, als Soulouque drei Monate nach dem Erscheinen der haitianischen Gessler-Szene in einem Artikel ausruft: "... j'exige que l'on salue en passant mon bonnet de coton.", siehe "M. de Falloux et Fabius" in: Le Charivari, 21.1.1856.

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hochgejubelte große Vergangenheit anzuknüpfen glaubt, hält ihr Daumier die Erinnerung an die Aufrichtung des Federbuschhutes vor Augen, unter dessen Schatten das Militär zu lumpenproletarischen Schlägertrupps beziehungsweise zu reinen Barbaren mutierte. 2.2.3 Der neue Kaiser des "Bas-Empire" Hatte Daumier es bisher auch vermieden, der Strategie seiner schreibenden Kollegen, Delord und Caraguel, folgend, Soulouque und Ferdinand im Dienste des Zaren darzustellen, so zeigt doch die letzte seiner drei Soulouque-Karikaturen, den Exoten beim Empfang seiner Belohnung (Abb. 135). Die tänzelnde Haltung, die bloßen Füße und die Sklavenhose unterscheiden den Herrscher kaum von seinem Soldaten, so daß hier Hugos "prince de la pègre" und der "singe d'un nègre"31 in einer Person aufzutreten scheinen. Er ist hocherfreut, seinen Federbuschhut durch eine Traditionskrone zu ersetzen, die ihm der Zar auf weißen Handschuhen anbietet. Dies ist umso erstaunlicher, als dem russischen Herrscher ein Zacken in seiner Krone fehlt, den, im Hintergrund, ein Engländer und ein Türke forttragen. Offensichtlich haben die beiden ihr Ziel erreicht; mit dem Zacken kann demnach nur die Einnahme Sebastopols gemeint sein. Da die russische Flotte nun nicht mehr das Schwarze Meer dominieren kann, ist für England die Freiheit der Schiffahrt garantiert, der türkische Sultan seinerseits kann unbehelligt in Istanbul, dem einstigen Byzanz, bleiben. Die seit Jahrhunderten wertlose byzantinische Krone befindet sich nicht von ungefähr in den Händen des Zaren. Sie symbolisiert den von der russischen Orthodoxie propagierten Mythos, Moskau sei als die legitime Erbin der Hauptstadt der Spätantike anzusehen, als das dritte Rom. Aus republikanischer Perspektive bedeutet das, daß der Zar folglich der legitime Nachfolger der spätantiken Despoten ist. Noch steht er aufrecht mit den entsprechenden Requisiten, der Galauniform, dem Schleppsäbel und vor allem dem Knut, der über sein Gesäß herabhängt. Aber die russische Despotie ist beschädigt, was schon Cham in seiner Karikatur vom 8. Oktober (Abb. 136) aufzeigte. Gerade zu diesem Zeitpunkt, dürfte Daumier die Zaren-Szene entworfen haben. Bei Cham zieht der Untertan zwar noch seinen Hut, wagt aber zugleich in unbotmäßiger Weise auf die Lücke zu zeigen. Die Botschaft ist eindeutig, nach der Niederlage in Sebastopol ist die russische Despotie am Ende. Man fragt sich, warum Daumier ein herrschaftskritisches Motiv von Cham variiert, da er offensichtlich doch dessen Meinung teilt, daß die Souveränität des russischen Zaren nunmehr eingeschränkt ist. Die Antwort ist bei dem fehlenden dritten Alliierten zu suchen: "Soulouque" nimmt hier kaum verhüllt - den Platz Napoleons III. ein. Gegen Ende des Krimkrieges erinnert man sich noch einmal an die Kriegsgründe. Cham teilt die Auffassung der liberalen und republikanischen Befürworter des Feld31 "Aujourd'hui, dans Paris, un prince de la pègre, / Un pied plat, copiant Faustin, singe d'un nègre,", in: V. Hugo: Les Châtiments, Buch IV, XI..

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zuges, die in ihm einen Kampf gegen die russische Despotie sahen: In Sebastopol hat die französische Armee die Liberalisierung Rußlands vorangetrieben. Daumier sieht das anders: Den einzigen Gewinn trägt nicht Frankreich, sondern allein der Kaiser des Second Empire davon, der sich auf Kosten Tausender toter Soldaten in den Kreis der gekrönten Häupter hat schießen lassen, da der exponierteste Hüter der Legitimität ihn nicht mehr ignorieren kann32. Der reale Besatzer des westlichen, katholischen Roms erhält nun auch die Krone des östlichen, despotischen Roms, womit Daumier auf den von Hugo abgelehnten republikanischen Spottnamen für das Second Empire, "Bas-Empire"33, anspielt. Tatsächlich tanzt "Soulouque" aus den Kulissen, das heißt aus den von der Zensur verdrängten Ursprüngen des Empire hervor, um damit sowohl den Parvenü-Charakter des französischen Kaisers als auch seine "antiken" Legitimationstrategien zu denunzieren. Ausgehend von zwei Artikeln konfrontiert der Karikaturist - in scheinbarer Anlehnung an die Argumentation Delords und Caraguels - , die Maske "Soulouque" beziehungsweise die "haitianischen" Zustände mit den zeitgenössischen europäischen Figuren. Allerdings verweist Daumiers Zeichensystem immer wieder auf die analogen barbarischen Elemente der Pariser Zustände. "Soulouque" erinnert nicht nur an die Ursprünge des augenblicklichen französischen Regimes, sondern es werden auch die tatsächlichen Gemeinsamkeiten der karibischen und metropolitanen Aktualität auf chiffrierte Weise denunziert. Delord und Caraguel haben den Ursprung der Soulouque-Satire nicht vergessen, sie wollen aber die jüngsten karibischen Ereignisse nur noch dem Muster der augenblicklichen Feinde Frankreichs zuordnen. Auch eine Verwendung der "Soulouque"-Figur nach dem Vorbild von Hugos Beschimpfungen würde - trotz aller impliziten Verweise etwa auf die Châtiments - ihre Bedeutungsvielfalt reduzieren. Daumier nimmt die Herausforderung der Zensur an, die den politischen Kommentar auf die außenpolitische Aktualität verpflichtet, und spürt durch ständige Variationen in der Verknüpfung von Elementen aus dem bonapartistischen Symbolsystem mit dem klischeehaften Bild über die Barbaren den repressiven Charakter der eigenen, der Despotie scheinbar überlegenen Gesellschaft in seinen unterschiedlichen Manifestationen auf.

32 In seiner Vorliebe für Anekdoten berichtet Herre, S. 143, daß eines der Ergebnisse des Sieges von Sebastopol darin bestand, daß der französische Kaiser vom Zaren mit dem bis dato verweigerten "mon frère" angeschrieben wurde. 33 Hugo verwahrt sich in der Zusammenfassung von Napoléon-le-Petit, S. 535, gegen dieses Schimpfwort; schließlich habe Frankreich bereits die Fortschritte der Aufklärung und der Revolution errungen, das könne nicht verloren sein. In den Châtiments dagegen, Buch VI, XI "Le parti du Crime", kann es sich Hugo nicht verkneifen, die byzantinische Despotie für seine Beschimpfungen Napoleons III. nutzbar zu machen. Noch 1866 veröffentlicht Jean Pierre Bonhomme in New York eine Spottliedersammlung auf Napoleon III. mit dem Titel: Chansons du Bas-Empire. Fietkau, S. 428, hat darauf hingewiesen, daß Hugo nicht bereit war, den Nexus zwischen Fortschritt und politischer Barbarei zu erkennen.

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2.3 Chams Reaktionen In Chams wöchentlich erscheinenden "Croquis" tauchte Soulouque in den ersten drei Wochen nach Bekanntwerden der Botschafts-Affare nicht auf. Dann jedoch ließ es sich der Wochen-Chronist des Charivari nicht nehmen, Daumiers Maskerade zu korrigieren. Zwei Vignetten vom 28. Oktober (Abb. 137 / 138) nehmen direkt auf den Botschafts-Vorfall Bezug und fügen der Textsatire neue Elemente hinzu: Ein Bild inszeniert den Kampf zwischen Soulouque und einem Bürger um den Zylinder. Die Bildunterschrift erläutert, daß der Kaiser das bürgerliche Statussymbol an seinen Tressen-Händler zu verkaufen gedenkt. Auch Cham stellt die Devalorisierung des Bürgertums durch die Despotie sowohl ins Text- als auch ins Bild-Zentrum, allerdings mit zwei Differenzen zu Daumier (Abb. 130): zum einen die Verlagerung der Palmen auf die Seite des Bürgers, zum anderen die Ersetzung des Soldaten durch den Kaiser selbst. Der Sinn dieser Konfrontation bleibt ambivalent. Da die Kaiserfigur vor dem leeren Raum agiert, kann sie durchaus in ihrer früheren Doppelbedeutung "Soulouque/Napoleon III" gelesen werden. Die Palmen hinter dem Zylinderträger signalisieren demnach, daß die bürgerlichen Untertanen Opfer der kaiserlichen Raffgier werden, das Empire also ein "haitianisches" ist. Umgekehrt ist aber auch folgende Lesart möglich, daß nämlich die bürgerliche Zivilisation im haitianischen Kontext vor der Prunksucht eines Soulouque weichen muß. In beiden Fällen personalisiert Cham einen Konfliktgegner, während Daumier seine Herrschaftskritik mit der Denunziation eines dem System zugrundeliegenden Klassenkonfliktes verbindet. Die zweite Vignette (Abb. 138) verdeutlicht die chauvinistische Perspektive des Zeichners: Wegen seines undiplomatischen Verhaltens wird der karibische Despot von einem Expeditionscorps bedroht. Damit ist die neokoloniale Weltordnung wiederhergestellt. Es verwundert aber immerhin, daß die Strafexpedition Soulouque nicht auf der Palme ausmachen kann - vermutet doch der rassistische Diskurs europäischer Imperialisten den schwarzen Barbaren tendenziell immer auf den Palmen bei den Affen. Weitere Variationen über die Tarnfunktion des Federbusch-Hutes im tropischen Kontext wird Daumier im März des folgenden Jahres vorstellen (siehe Abb. 160-162). Eine Woche später setzte eine weitere Vignette34 Chams die eigentlichen Palmenbewohner ins Bild und verstärkt damit die rassistische Konnotation: Soulouque bietet dem geschlagenen Zaren seine Affen als die besseren Soldaten an, wahrscheinlich, weil die Bären in der russischen Armee versagt haben. Es muß unentschieden bleiben, ob damit die Despotie als Produkt einer dem Tierreich nahestehenden Rasse verstanden werden soll oder ob die karibische und osteuropäische Variante ihre Untertanen auf ein tierisches Niveau reduziert. Gleichzeitig meinte der Zeichner, den Bilder34 Siehe Cham: "Croquis", in: Le Charivari, 4.11.1855. Im Gegensatz zur Abb. 139, die auf der gleichen "Cr^

Abb. 2 2 / 2 3 Cham: Soulouque et sa cour. Lithographie in: Cham: Soulouque et sa cour, Paris 1850, S. 4 Fabrizius: Grande revue. Holzschnitt in: La Silhouette, 25.9.1849, S. 6

SOI I.III III i: ET SA COUR CARICATURES PAR

CHAM.

— All,nlion, (¡rcnadicis, du liant ilr co.s coroliers quarante »¡n«os voua nonteinplenl !

PARIS

AU BUREAU D U JOURNAL LE CHARIVARI, 16, RUE DU CROISSANT. INKIMEtlR LANGE LÉVV KT COMP., i| 110 les noires de la veille, débarbouille tous ses sujets pour découvrir les ni-yrca du lcmt;:ni»in.

Abb. 2 6 / 2 7 Cham: Soulouque et sa cour. Lithographien in: Cham: Soulouque et sa cour, Paris 1850, S.l 1 / 3

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Au lover du ride m, le» lions ntercs HC Jivrcul ù la rotido tlu l»;u ;U onner r c ré v ol u tio n n ai re.

Abb. 99 Cham: Toussaint sale figure. Holzschnitt in: Le Punch ä Paris, Mai 1850, S. 65

Ad rie» ne se ili-snlc s u r 1c l'éparl du jeun'*. Louverlurc, son amant, qui cal parli pour l'aris. « S'il n le malheur d'aller ù ¡Habille, j e 6uis oubliûc, » a'écric-l-ellc dans sa douleur.

Abb. 100 /101 Cham: Toussaint sale figure. Holzschnitt in: Le Punch à Paris, Mai 1850, S. 65 ders.: Lamartine. Holzschnitt in: Cham / Lireux: L'assemblée nationale comique, Paris 1849, S. 84

— SiiprrloUe! (»'eerie cii vitb Ic general Dcssalilic), uuvenieineiil liaïtiun. à Port-au-Prince.

Abb. 166 Morin: Arrivée de Geffrard. Holzschnitt in: Le Monde Illustré, 5.3.1859

Toul eil periu !. fois 1* caisse

Abb. 167 Daumier: Actualités. Lithographie in: Le Charivari, 7.3.1848, D 1744

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Abb. 168 Daumier: Actualités. Lithographie in: Le Charivari, 28.2.1859, D 3149

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Abb. 169 Daumier: Actualités. Lithographie in: Le Charivari, 10.5.1859, D 3174

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Abb. 170 Anonym: Demain, même spectacle. Ltihographie in: Le Charivari belge, 25.3.1859

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