Naturalezza | Simplicité - Natürlichkeit im Musiktheater 9783839438619

Art predicts what nature is: This book discusses the »natural simplicity« as a mental figure and fantasy that has put it

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German Pages 310 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Naturalezza/Simplicité
Das Bild der Unschuld als Wunschbild ‚unschuldiger‘ Darstellung. Zur Genese und Ausgestaltung des Phantasmas des Natürlichen in der bürgerlichen Schauspielkunst
Stimmen der Unschuld. Kastratengesang im Kontext von Kindheit und Pädagogik
Seelenvolle Maschine. Natur und Technik im Gesangsdiskurs
Natürlichkeit oder Artifizialität. Zur Theaterästhetik Goldonis, Gozzis und Diderots
‚Rückkehr zur Natur‘ – wohin, nochmals gefragt? Die Rezeption des Natürlichkeitskonzepts im 19. Jahrhundert
Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Second Nature. Rhetorical actio and the art of feeling in the singer-actor tradition of the late eighteenth century
Actio, actio, actio. A director’s point of view on naturalism and naturalistic staging of the early opera repertoire
„Les Amours de Bastien et Bastienne“. Ein Opernprojekt der Anton Bruckner Privatuniversität
„Gl’effetti della natura tua maestra“ Zu den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Natürlichkeit‘ in der bildenden Kunst und Kunsttheorie vor 1800
Autorinnen und Autoren
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Naturalezza | Simplicité - Natürlichkeit im Musiktheater
 9783839438619

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Vera Grund, Claire Genewein, Hans Georg Nicklaus (Hg.) Naturalezza | Simplicité – Natürlichkeit im Musiktheater

Theater  | Band 96

Vera Grund ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold. Claire Genewein ist Dozentin für historische Aufführungspraxis und Traversflöte an der Anton Bruckner-Universität Linz und an der Zürcher Hochschule der Künste. Hans Georg Nicklaus ist Dozent für Musik- und Kulturgeschichte an der Anton Bruckner-Universität Linz und Musikredakteur bei Radio Ö1 (ORF).

Vera Grund, Claire Genewein, Hans Georg Nicklaus (Hg.)

Naturalezza | Simplicité – Natürlichkeit im Musiktheater

Mit freundlicher Unterstützung der Anton Bruckner Privatuniversität.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Daniel Chodowiecki, Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens, Radierung 1779, bpk 20001994 und 20002538 Korrektorat: Martina Hochreiter und Christian Lutz Satz: Gabriel Wurzer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3861-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3861-9 https://doi.org/10.14361/9783839438619 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Naturalezza/Simplicité

Vera Grund | 7

Das Bild der Unschuld als Wunschbild ‚unschuldiger‘ Darstellung. Zur Genese und Ausgestaltung des Phantasmas des Natürlichen in der bürgerlichen Schauspielkunst

Günther Heeg | 31

Stimmen der Unschuld. Kastratengesang im Kontext von Kindheit und Pädagogik

Hans Georg Nicklaus | 47

Seelenvolle Maschine. Natur und Technik im Gesangsdiskurs

Rebecca Grotjahn | 81

Natürlichkeit oder Artifizialität. Zur Theaterästhetik Goldonis, Gozzis und Diderots

Susanne Winter | 109

‚Rückkehr zur Natur‘ – wohin, nochmals gefragt? Die Rezeption des Natürlichkeitskonzepts im 19. Jahrhundert

Vera Grund | 125

Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Claudia Jeschke | 139

Second Nature. Rhetorical actio and the art of feeling in the singer-actor tradition of the late eighteenth century

João Luís Paixão | 153

Actio, actio, actio. A director’s point of view on naturalism and naturalistic staging of the early opera repertoire

Deda Cristina Colonna | 173

„Les Amours de Bastien et Bastienne“. Ein Opernprojekt der Anton Bruckner Privatuniversität

Claire Genewein, Peter Schmid | 189

„Gl’effetti della natura tua maestra“. Zu den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Natürlichkeit‘ in der bildenden Kunst und Kunsttheorie vor 1800

Heiner Krellig | 223

Autorinnen und Autoren | 305

Naturalezza/Simplicité V ERA G RUND „[…] dass die Einfachheit, die Wahrheit und die Natürlichkeit die großen Prinzipien des Schönen in allen Werken der Kunst sind.“ CHRISTOPH WILLIBALD GLUCK UND RANIERI CALZABIGI

1

„[…] und hoffe Sie bald wieder in einem ketzerischen Lande zu sehen, in welchem die Oper selbst dazu dienen kann, die Sitten zu verbessern und den Aberglauben zu vernichten.“ FRIEDRICH II. AN FRANCESCO ALGAROTTI 2

In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden zeitgleich in Philosophie, Religion, Wissenschaft und Kunst verstärkt Naturnähe und Natürlichkeit verhandelt; das Thema wurde dadurch auch für die Theatertheorie und -praxis relevant. Debatten um das Verhältnis zwischen der Darstellung des Wunderbaren (merveilleux) und damit Übernatürlichen und der Imitation der Natur hatten in der Kunst eine weitaus längere Tradition, sie kulminierten jedoch zu diesem Zeitpunkt angeregt

1

Calzabigi, Ranieri und Gluck, Christoph Willibald: Vorwort zum Partiturdruck zu Alceste (Wien: Trattner 1768), zitiert nach: Croll, Gerhard (Hg.), Vorwort zu Alceste, Gluck-Gesamtausgabe Band I/3a, übers. von Renate Croll, Kassel u.a.: Bärenreiter 2005, S. X.

2

Brief Friedrich II. an Francesco Algarotti (ohne Datum und Ort), zitiert nach: Algarotti, Francesco: Briefwechsel mit Friedrich II., hg. von Wieland Giebel, Berlin: Berlin-Story-Verlag 2008, S. 112.

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auch durch Philosophie und Religion. 3 Die komplexen Zusammenhänge der verschiedenen Diskurse, die sich bedingten, befruchteten, aber auch widersprachen, werden im Folgenden anhand einiger Beispiele skizziert, bevor die Beiträge dieses Bandes aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachrichtungen – Musik-, Tanz- und Theaterwissenschaft – sowie aus künstlerischem Blickwinkel einzelne Themengebiete vertiefen. Selbstverständlich kann und will der Band keine Gesamtdarstellung leisten, jedoch verschiedene Sachverhalte, in denen Natur und/oder Natürlichkeit, „naturalezza“ oder „simplicité“ eine Rolle spielten, aufzeigen, analysieren und dadurch definieren.

1. N ATURZUSTAND Frankreich hatte als kulturelles Zentrum des 18. Jahrhunderts großen Einfluss auf das Natürlichkeits-Ideal; bereits als Resultat vorausgegangener Debatten erschien hier 1732 das pädagogische Naturlexikon Spectacle de la nature (Paris: Veuve Estienne 1732–1750), herausgegeben vom Jansenisten Abbé NoëlAntoine Pluche. Das Werk kam in Frankreich in mehreren Auflagen heraus, wurde im Ausland in mehrere Sprachen übersetzt und erreichte damit eine Leserschaft in Höhe eines Bestsellers. 4 Pluche zielte mit seiner Publikation explizit auf die Jugend ab. 5 In fiktiven Dialogen – dem Stil „le plus naturel, & celui qui s’éloigne le moins de la façon de penser des jeunes Lecteurs“ 6 – erläutern zwei

3

Vgl. hierzu z. B. Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München: Fink 2000; zum Theater v.a. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld Verlag 2000.

4

Gevrey, Françoise (Hg.): Écrire la nature au XVIIIe siècle. Autour de l’abbé Pluche, Toulouse 2016.

5

„Si ces amusemens ou études de vacances avoient le bonheur de plaire à la jeunesse, & surtout à notre jeune noblesse, que se trouvant fréquemment à la campagne, est plus à portée des curiosités naturelles, nous pourrions renouer une autrefois les mêmes conversations & travailler de plus en plus selon notre portée, à substituer le gout de la belle nature & l’amour du vrai, aux faux merveilleux des fables & des romans qui se remontrent sous cent formes nouvelles, malgré le décri où le bon gout du dernier siècle les avoit fait tomber.“ Pluche, Noël-Antoine: Spectacle de la nature ou entretiens sur les particularités de l’histoire naturelle, Paris: Estinnes 21754, S. XVII.

6

„[… ] wie es am natürlichsten ist und am wenigsten von der Art zu Denken der jungen Leser abweicht […]“ Pluche: Spectacle de la nature, S. XI.

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Erwachsene einem adeligen Stadtkind beim Spaziergang auf dem Land die Natur – „comme il étoit naturel“. 7 Bereits zu Beginn stellt Pluche Natur und Kultur als Antonyme auf; dem städtischen Gepränge Paris’, dessen man schnell überdrüssig werde, sei die Schönheit und Vielfalt der Natur überlegen: „Monsieur, elle est mille fois plus belle que Paris avec son faste & ses dorures. On se lasse bientôt de voir toûjours la même chose. Ici c’est une variété étonnante: on y vois, je pense, tout ce qui vient dans les quatre parties du monde.“ 8

Die Kultur/Natur-Dialektik hatten bereits Thomas Hobbes und John Locke in Zusammenhang mit der Denkfigur des Naturzustandes des Menschen entwickelt. Diskutiert wurde dabei die Konstitution des menschlichen Charakters. In seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen nahm Jean-Jacques Rousseau den Gedanken erneut auf. 9 Im Gegensatz zum von Hobbes als aggressiv definierten Grundzustand des Menschen galt Rousseau die Fähigkeit zum Mitleid als die entscheidende Charaktereigenschaft des Menschen im Naturzustand, des „homme sauvage“, wohingegen den durch

7

Pluche: Spectacle de la nature, S. XIV.

8

„Sie [die Natur] ist tausend Mal schöner als Paris mit seinem Gepränge und seinen Vergoldungen. Man wird es bald überdrüssig, immer die gleichen Dinge zu sehen. Hier gibt es eine erstaunliche Vielfalt: man sieht, denke ich, alles was aus den vier Teilen der Welt stammt.“ Ebd., S. 2. (Übersetzungen wenn nicht anders angegeben: VG).

9

„Hobbes hat sehr gut den Fehler aller modernen Definitionen des Naturrechts gesehen; aber die Folgerungen, die er aus seiner Definition zieht, zeigen, daß er sie in einem Sinn versteht, der nicht weniger falsch ist. Beim Nachdenken über die Prinzipien, die er festlegt, hätte dieser Autor sagen müssen, daß der Naturzustand, insofern er derjenige Zustand ist, in dem die Sorge um unsere Erhaltung am wenigsten die anderer beeinträchtig, folglich dem Frieden am zuträglichsten und dem Menschengeschlecht am angemessensten ist. Er aber sagt genau das Gegenteil, weil er in die Sorge des wilden Menschen um seine Erhaltung unpassenderweise das Bedürfnis hineingelegt hat, eine Menge von Leidenschaften zu befriedigen, die das Werk der Gesellschaft sind und die die Gesetzt nötig gemacht haben. Der Böse, sagt er, ist ein kräftiges Kind.“ Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit unter den Menschen, [Amsterdam: Rey 1760], übers. und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1998, S. 60. Originalausgabe unter dem Titel Discours sur l’origine et les fondements de l’inegalité parmi les hommes, Amsterdam: Rey 1755.

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die Zivilisation geprägten „homme civil“ Selbstliebe und Egoismus leiten. 10 Das Leben auf dem Lande als Annäherung an den Naturzustand erklärte er so zum Ideal, das Leben im Überfluss, in den Städten fern von der Natur dagegen als degenerierend. 11 Dementsprechend gestaltete Rousseau die Handlung seines Intermèdes Le Devin du village, mit dem er eine Vermischung von italienischem und französischem Opernstil ausprobierte: 12 Das Glück des Schäferpaars Colin und Colette wird durch eine adelige Nebenbuhlerin aus der Stadt bedroht. Die Analogien zu Rousseaus Abhandlung lassen sich vor allem anhand der psychologischen Disposition des Paares nachvollziehen: Colette, unverdorben durch die Zivilisation, bedarf der Unterweisung des „Devin“, um die Regeln der Liebesränke zu erlernen, mittels derer sie den untreuen Colin zurückerobert; Kenntnisse, die laut Rousseau die Damen der Stadt souverän beherrschen, handle es sich bei der Liebe selbst doch um eine Erfindung der durch die Zivilisation verdorbenen Frauen. Durch diese Fähigkeiten bestehe die Gefahr, dass das Geschlechterverhältnis umgekehrt werde, wie Rousseau in seiner Abhandlung beschreibt: „Nun ist aber leicht zu sehen, daß das Geistig-Seelische der Liebe ein künstliches Gefühl ist, das aus der Gewohnheit in der Gesellschaft entsprungen ist und von den Frauen mit viel Geschick und Sorgfalt feierlich gepflegt wird, um solcherart ihre Herrschaft zu errichten und dasjenige Geschlecht zum regierenden zu machen, das gehorchen sollte.“ 13

10 „In der Tat wird doch das Mitleid um so heftiger sein, je inniger sich das zusehende Tier mit dem leidenden Tier identifiziert. Nun ist aber offenkundig, daß diese Identifikation unendlich viel enger im Naturzustand gewesen sein muß als im Zustand des Vernunftgebrauchs. Die Vernunft erzeugt die Eigenliebe, und die Reflexion macht sie stark; sie läßt den Menschen sich auf sich selbst zurückziehen; sie schneidet ihn von allem ab, was ihn stört und ihn betrübt.“ Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit, S. 63. 11 Den Naturzustand habe es jedoch nie gegeben, da Gott den Menschen mit Denkvermögen und Geboten ausgestattet habe. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit, S. 33. 12 Charlton, David: Opera in the Age of Rousseau, Cambridge: Cambridge University Press 2013, S. 203f.; zuletzt auch Grund, Vera: Christoph „Willibald Gluck und Paris: Musikdrama, ‚Tragédie à la Grecque‘ und die Revolution der Oper“, in: Gluck und das Musiktheater im Wandel, hg. von der Gluck-Forschungsstelle Salzburg, München: epodium 2015, S. 183f. 13 Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit, S. 66.

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Colettes mangelnde Erfahrung enthebt sie des Verdachts des Umstürzlerischen; ebenso handelt Colin in Liebesdingen gemäß Rousseaus Definition des unschuldigen „Wilden“, indem er der Verführung der städtischen Verehrerin nachgibt, obwohl diese der Dorfweise als „plus adroite & moins belle“ 14 beschreibt. Analog referiert Rousseau in seiner Abhandlung über die Wirkung von Attraktivität und Schönheit auf Naturvölker: „Insofern dieses Gefühl auf bestimmten Begriffen des Verdienstes oder der Schönheit beruht, die zu haben ein Wilder gar nicht imstande ist, und auf Vergleiche, die er gar nicht ziehen kann, muß es für ihn beinah nichtig sein. Da nämlich sein Geist sich keine abstrakten Begriffe von Regelmäßigkeit und Proportion zu bilden vermochte, ist auch sein Herz nicht zu den Gefühlen von Bewunderung und Liebe fähig, die, sogar ohne daß man es bemerkt, aus der Anwendung dieser Begriffe hervorgehen. Er gehorcht allein dem Temperament, das er von der Natur erhalten hat, und nicht dem Geschmack, den er gar nicht erwerben konnte; und jede Frau ist ihm recht.“

15

Colin handelt analog zu Colette instinktiv ohne „Geschmack“, aber ebenso ohne Berechnung. Die Furcht Rousseaus vor der umstürzlerischen Macht der Verführung und der Instrumentalisierung männlichen Begehrens, deren er besonders Schauspielerinnen verdächtigte, stellt Günther Heeg in seinem Artikel „Das Bild der Unschuld als Wunschbild ‚unschuldiger Darstellung“ dar. 16 Die Erotik der Unschuld, die mit dem Kindlichen in Verbindung gebracht wurde, thematisiert Hans Georg Nicklaus in „Stimmen der Unschuld: Kastratengesang im Kontext von Kindheit und Pädagogik“. 17 Eine konsequente Weiterführung von Rousseaus Auseinandersetzung mit der Kultur/Natur-Thematik auf der Opernbühne vollzogen Justine Favart und Harny de Guerville mit ihrer im Jahr 1753 am Pariser Théâtre italien aufgeführten Opéra comique Les Amours de Bastien et Bastienne, einer Parodie auf Rousseaus Le Devin du village. Justine Favart, die nicht nur für die Gestaltung der Opéra comique verantwortlich war, sondern auch die weibliche Hauptrolle gab, hatte einen vielbeachteten Auftritt in einem der Tracht der Landbevölkerung nach-

14 Rousseau, Jean-Jacques: Textbuch zu Le Devin du village (Paris 1753), Scene II, in: Collection complète des oeuvres, Genève, 1780–1789, vol. 8, zitiert nach http://www. rousseauonline.ch/Text/le-devin-du-village.php (abgerufen am 8.8.18). 15 Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlange der Ungleichheit, S. 66. 16 S. 31–46. 17 S. 47–80.

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empfundenen Kostüm (Abb.1), was als Konventionsbruch gewertet zum Sensationserfolg des Werks beitrug und zugleich den Trend „Landleben“ beförderte. 18 Über die Rekonstruktion des Werks für die Bühnenpraxis berichtet der Artikel „Les Amours de Bastien et Bastienne“ von Claire Genewein und Peter Schmid im vorliegenden Band. 19 Abbildung 1: Carle Vanloos Porträt von Justine Favart als Bastienne, 1754, Stich.

Quelle: Bibliothèque national de France, RESERVE QB-201 (107)-FOL.

18 Andreas Münzmay, „Ländliche Pärchen und musikästhetischer Diskurs. Zur Konzeption des Bühnenliedrepertoires von Justine Favart“, in: Katharina Hottmann (Hg.), Liedersingen. Studien zur Aufführungsgeschichte des Liedes, (Jahrbuch Musik und Gender 6) Hildesheim u.a.: Georg Olms 2013, S. 85–89. 19 S. 189–222.

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Die endgültige Etablierung und Höhepunkt des Trends bedeutete es, als sich selbst die französische Königin Marie Antoinette mit silbernen Rechen und porzellanen Eimern in ihrem „Hameau de la reine“ im Schlosspark von Versailles verlustierte. 20 Natürlichkeit als weibliche Tugend überdauerte ihre Regentschaft. So heißt es in der Anstandslehre für das weibliche Geschlecht noch 1814: „Es kleidet Jeden und erweckt das Wohlgefallen Anderer, wenn man sich in seinem ganzen Wesen treu an die Natur hält. […] Aber die Natürlichkeit, die ich Naivität nennen möchte, ist nicht rohe, ungebildete Natur, wie wir sie bey den schlichten, ununterrichteten, ungehobelten Naturmenschen finden, wo sie uns in ihren Äußerungen fast thierisch, nicht menschlich, widrig und abschreckend erscheint. Die Natürlichkeit, welche ich meine, ist das Product des Unterrichts, der sittlichen Disciplin, des Umgangs der Kenntnis und richtigen Anwendung der Regel des Anstandes.“ 21

Die neue Version der zwar unverdorbenen, aber eingelernten Natürlichkeit als einem darüber hinaus kulturellen Transferprozess zeigen die 1779 und 1780 im Göttinger Taschenkalender erschienenen Folgen von Kupferstichen Daniel Chodowieckis „Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens“. Wie Günter Heeg in seinem Artikel beschreibt, diente die Darstellung der Affektion als Abgrenzung von der französischen höfischen Kultur, die Darstellung der Natürlichkeit zur Apologetik der deutschen bürgerlichen Kultur. 22

2. „N ATUREL “ UND „ SURNATUREL “ Rousseau ging es musiktheaterästhetisch in seinem Intermède darum, italienische komische Oper mit der französischen Theaterpraxis zu verbinden. Auch in anderen europäischen Ländern etablierte sich der Trend zu Zivilisationskritik und Natürlichkeitsideal parallel mit den Versuchen, italienische und französische Operntradition zu vereinen. Vorreiter waren Höfe wie in Berlin oder Wien, an

20 Martin, Meredith: Diairy queens: The politics of pastoral architecture from Catherine de’Medici to Marie Antoinette, Cambridge/Mass. u.a.: Harvard University Press 2011, S. 158ff. 21 Wallenburg, Amalie Gräfin von: Anstandslehre für das weibliche Geschlecht. Oder mütterlicher Rath für meine Julie über den sittlichen und körperlichen Anstand, Linz 1824, S. 61ff. 22 Heeg, Das Bild der Unschuld als Wunschbild ‚unschuldiger Darstellung‘, S. 29; siehe hier die Abbildungen 6–11.

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denen die französische Kultur in besonderem Maße rezipiert wurde. Die italienische Oper, die die nicht-französischen Theaterbühnen beherrschte, sollte an die Charakteristika der französischen Oper angepasst werden. Neben einer Gesamtdramaturgie, die die verschiedenen Teile Drama, Musik, Tanz und Szenerie einschloss, sowie die Verwendung typischer Elemente der französischen Oper, wie mythologische Stoffe, in die Handlung integrierte Ballette oder bewegte Chöre, war es vor allem die Forderung nach mehr Natürlichkeit – auch mit dem Verweis auf die „Unwahrscheinlichkeit“ gesungener Dialoge 23 –, Thema der Debatten um das Musiktheater. 24 Versuche, die Musiktheatertheorie dergestalt in die Praxis umzusetzen, unternahm der besonders an den Ideen der französischen Aufklärung interessierte preußische König Friedrich II. mit seinem Theater in Berlin. Ähnlich wie Rousseau arbeitete er an einer Verschmelzung der verschiedenen Stilelemente, nahm sich dafür jedoch die Opera seria vor, indem er französische Dramentexte zu Libretti umarbeitete. 25 Einen vollständigen und neuen französischen Text verfasste er auf den Montezuma-Stoff, den sein Hofdichter Giampietro Tagliazucchi für Carl Heinrich Grauns Vertonung ins Italienische übersetzte. 26 Den offensichtlichen Zusammenhang zum zivilisationskritischen Natürlichkeitsideal stellte

23 Vgl. Grimm, Melchior: Artikel „Poëme lyrique“, in: Diderot, Denis/d’Alembert, JeanBaptiste le Rond (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 10, S. 824. 24 Vgl. z. B. Grund, Vera: „Reform der italienischen Oper?“, in: Gluck und das Musiktheater im Wandel, S. 125–181. 25 Vgl. dazu: Maehder, Jürgen: „Die Librettisten des Königs. Das Musiktheater Frierichs des Großen als theatralische wie linguistische Italien-Rezeption“, in: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, hg. von Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert, Göttingen: Wallstein Verlag 1999, S. 263–304; Henzel, Christoph: „Zu den Aufführungen der großen Oper Friedrichs II. von Preußen 1740–1756“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1997, Stuttgart und Weimar: Metzler 1997 und Calella, Michele: „Metastasios Dramenkonzeption und die Ästhetik der friderizianischen Oper“, in: Metastasio im Deutschland der Aufklärung, hg. von Laurenz Lütteken und Gerhard Splitt, Tübingen: De Gruyter 2002, S. 101–123. 26 Terne, Claudia: „‚Der beste Text, der Graun je zur Verfügung stand‘– Zur zeitgenössischen und zeitgeschichtlichen Wahrnehmung und Diskussion von Oper und Operntext der Friderizianischen Tragedia per musica Montezuma“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2013, Mainz: Schott 2014, S. 111–130.

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Friedrich durch das Motiv des „edlen Wilden“ her, verkörpert durch die Hauptfigur, den Azteken-Führer Montezuma. 27 Jedoch setzte er auch auf naturalistische Elemente, indem er die brutale Eroberung seines Reichs durch die spanischen Konquistadoren bei der Eroberung Mexikos ungewöhnlich realistisch darstellen ließ. Während der gewalttätige spanische Anführer Cortez den von der Zivilisation korrumpierten Menschen verkörperte, entsprach Montezuma Rousseaus „homme sauvage“, der für Tugendhaftigkeit und Reinheit im Einklang mit der Natur und den Elementen stand, wie es Montezuma vor seiner Hinrichtung selbst formulierte: „Senza tema un’alma pura rendo al sen della natura; rendo il corpo agli elementi, onde il nascere sorti.“ 28 Die Faktur des Werks orientierte sich an der Einheit der französischen Oper, indem Chor und Ballett in die Gesamtdramaturgie eingebaut wurden – besonders ungewöhnlich in der Schlussszene, in der das Grauen der Szenerie durch den Tanz dargestellt wird. Wie Friedrich II. selbst seinem Vertrauten Francesco Algarotti nach Venedig mitteilte, ging es ihm dabei nicht nur darum, theatertheoretische Fragen in der Praxis zu behandeln, sondern Kritik an der katholischen Religion zu üben: „Wenn Ihre Opern schlecht sind, so werden Sie hier eine neue finden, die jene nicht übertreffen wird. Sie heißt Montezuma. Ich habe diesen Stoff gewählt und bearbeite ihn jetzt. Sie können denken, daß ich mich für Montezuma interessire, daß Cortes der Tyrann sein wird und daß man demnach selbst in der Musik einige Raketen wider die Barbarei der kath. Religion werfen kann. Doch ich vergesse, daß Sie sich in einem Lande der Inquisition befinden, ich mache Ihnen deshalb meine Entschuldigung und hoffe Sie bald wieder in einem ketzerischen Lande zu sehen, in welchem die Oper selbst dazu dienen kann, die Sitten zu verbessern und den Aberglauben zu vernichten.“ 29

27 Die Vorstellung des edlen Wilden verankerte der einschlägige Reisebericht Voyage autour du monde (Paris: Saillant & Nyos 1771) des französischen Seefahrers LouisAntoine de Bougainville in der Gedankenwelt der Spätaufklärung. 28 „Furchtlos schick ich meine Seele heim zum Busen der Natur, geb’ den Leib der Erde wieder, wie er einst aus Erde kam […].“ Arie des Montezuma „Si, corona i tuoi trofei“, Akt III, Szene 5, italienischer Text und Übersetzung zitiert nach Carl Heinrich Graun, Montezuma (= Denkmäler der Deutschen Tonkunst, Band 15), hg. von Albert Mayer-Reinach, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1904, S. 211. 29 Brief Friedrich II. an Francesco Algarotti (ohne Datum und Ort), zitiert nach: Algarotti, Francesco: Briefwechsel mit Friedrich II., hg. von Wieland Giebel, Berlin: Berlin-Story-Verlag 2008, S. 112.

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Friedrichs Auseinandersetzung mit der Kultur/Natur-Thematik zielte somit auf den Konflikt zwischen protestantischer und katholischer Kirche ab und stand mit seiner Absage an den Aberglauben zugleich im Kontext der Definition von Natürlichkeit der französischen Aufklärung. Denn auch in der Encyclopédie wurde das „surnaturel ou miraculeux“ als Gegenbegriff zum „naturel“ dargestellt: „L’impression de vérité commune qui se trouve manifestement dans le plus grand nombre des hommes sensés et habiles, est la règle infaillible pour discerner le surnaturel d’avec le naturel: c’est la règle même que l’Auteur de la nature a mise dans tous les hommes; et il se serait démenti lui-même s’il leur avait fait juger vrai ce qui est faux, et miraculeux ce qui n’est que naturel.“ 30

Die theologische Deutung der Bedeutung des „auteur de la nature“ war Inhalt eines bereits im 17. Jahrhundert schwelenden und besonders in Frankreich wirksamen innerkatholischen Konflikts zwischen Molinisten und Jansenisten. Wie später Rousseau ging der Molinismus vom Grundzustand eines guten menschlichen Charakters aus; der Mythos vom „guten Wilden“ knüpfte an die Lehre des Jesuiten Luis de Molinos an. 31 Die Lehre Cornelius Jansens fokussierte dagegen

30 „Der Eindruck der allgemeinen Wahrheit, die in der größeren Anzahl vernünftiger und gewandter Männer Ausdruck findet, ist die unfehlbare Regel, um das Übernatürliche vom Natürlichen zu unterscheiden. Es ist die Regel selbst, die der Schöpfer der Natur in allen Menschen anlegte; und er hätte sich selbst widerlegt, wenn er hätte für wahr halten lassen, was falsch ist und für wunderbar, was natürlich ist.“ O. A., Artikel „Naturel (Métaphysique)“, in: Diderot, Denis/d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 11, S. 44f. 31 „Ist es möglich, daß der Mensch zugleich außerhalb der Sünde und ohne Berufung zum ewigen Heil existieren konnte? Die Molinisten gestanden eine solche Möglichkeit zu, an die der Mythos vom guten Wilden anknüpfen sollte, doch Jansenius wandte sich entschieden dagegen. Im dritten Band behandelt er die Heilung der menschlichen Natur [von der Erbsünde] und ihre Wiederherstellung durch die Gnade Christi, des Erlösers. Jansenius erinnert an die fundamentale Verdorbenheit der Natur seit der Ursünde Adams. Der sündige Mensch wird vom Bösen angezogen, unfähig das Gute ohne die Hilfe der Gnade zu erkennen. Um den wunderbaren Plan Gottes zu erfüllen, muß der Mensch durch die ‚spirituelle Freude‘ erobert werden, und dies offenbar um den Preis einer ständigen Anspannung, einer Askese jeden Augenblicks. Die Theorie der beiden konkurrierenden Freuden, Begierde oder Liebe, steht im Mittelpunkt des

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die fundamentale Verdorbenheit der Natur des Menschen seit der Ursünde Adams, die nur durch Askese und ein von den Freuden der Welt abgewandtes Leben im Einklang mit der Natur überwunden werden könne. Der bereits unter Ludwig XIII. verfolgte, sich streng auf die Lehren Augustinus berufende Jansenismus hatte sich zunächst zu einer religiösen Bewegung der opponierenden adeligen Frondisten entwickelt. Im 18. Jahrhundert wurde er, durch die kontinuierliche Verfolgung geschwächt, zu einer Volksreligion der niederen Stände, die nun auf Wundergläubigkeit und Kasteiung setzte. Die Encyclopedisten und andere führende Denker betrachteten ihn vor allem deswegen als anti-aufklärerisch. 32 Ein fundamentaler Unterschied zum Molinismus bestand in der Interpretation des Schöpfungsgedankens und des Verhältnisses von Gott und Natur. Zwar beinhaltete der Gedanke der Askese ein Leben im Einklang mit der Natur als Schöpfung, vor spiritueller Erfahrung durch Naturnähe wurde jedoch ausdrücklich gewarnt. Louis de Jaucourt paraphrasiert in seinem Artikel „Nature“ in der Encyclopédie die Schrift des Janseniten Nicolas Malebranches Traité de la nature et de la grace (Amsterdam: Daniel Elsevier 1680): „Le P. Mallebranche prétend que tout ce qu’on dit dans les écoles sur la nature, est capable de nous conduire à l’idolâtrie, attendu que par ces mots les anciens payens entendoient quelque chose qui sans être Dieu agissoit continuellement dans l’univers. Ainsi l’idole nature devait être selon eux un principe actuel qui était en concurrence avec Dieu, la cause seconde et immédiate de tous les changements qui arrivent à la matière. Ce qui parait rentrer dans le sentiment de ceux qui admettaient l’anima mundi, regardant la nature comme un substitut de la divinité, une cause collatérale, une espèce d’être moyen entre Dieu et les créatures.“ 33

jansenischen Denkens. Das Heil kann nur aus der unverdienten Prädestination Gottes kommen, doch fordert es von den Menschen einen Heroismus, der der Zeit der Propheten und Märtyrer würdig ist. Es gibt weder Ruhe noch Frieden für den Christen: Die Bekehrung ereignet sich stetig.“ Cottret, Monique: „Der Jansenistenstreit“, in: Die Geschichte des Christentums, Band 9 (= Das Zeitalter der Vernunft 1620/30–1750), Freiburg u.a.: Herder 1998, S. 354. 32 Vgl. ebd., S. 372 und Vogel, Christine: „Von Voltaire zu Le Paige – Die französische Aufklärung und der Jansenismus, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 77–100. 33 „Mallebranche behauptet, dass alles das, was man in den Schulen über Natur sagt, dazu fähig ist, uns zum Götzendienst zu führen, wohingegen die Alten darunter etwas verstanden, was ohne Gott zu sein, allzeit im Universum wirkte. Daher müsse ihnen gemäß, das Abbild der Natur als ein mit Gott konkurrierendes Prinzip gelten, die

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Die Definition von Natur als Ordnung der Dinge, die Gesetze der Bewegung durch den Schöpfergott einführt und regelt, wurde in der Aufklärung zur Argumentationskette, mit der zuvor als übernatürlich definierte Phänomene durch die Naturwissenschaft erklärt werden konnten, ohne dadurch die Existenz Gottes in Frage zu stellen. In diesem Zusammenhang steht auch der Diskurs um Körper, Natur und (Gesangs-)Technik, wie ihn Rebecca Grotjahn in ihrem Artikel „Seelenvolle Maschinen: Natur und Technik im Gesangsdiskurs“ im vorliegenden Band beschreibt. 34 Eine Maßnahme zum Schutz vor der drohenden „idolâtrie“ war die Bilderfeindlichkeit, die den Jansenismus auszeichnete und vor allem von den Jesuiten abhob. Als der Jansenismus ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich neu erstarkte, gelang es ihm auch in Rom und anschließend in anderen Teilen Europas einflussreich zu werden. Auch am Hof Maria Theresias konnte er sich durchsetzen; zugleich wurde in Wien eine Politik der Annäherung und Aussöhnung mit dem Erbfeind Frankreich betrieben, die in besonderem Maße über die ästhetische Ausrichtung der höfischen Kultur nach dem französischen Vorbild sichtbar gemacht wurde. Unter dem Habsburger Staatskanzler Graf Wenzel Anton Kaunitz-Rietberg wurde ein Theater aufgebaut, in dem französische Dramen, Opéras comiques und am französischen Stil orientierte Ballette zum Repertoire gehörten. 35 Zu Feierlichkeiten der kaiserlichen Familie wurden italienische Opern aufgeführt, wobei die Vereinigung von französischen und italienischen Stilelementen ebenso bedeutsam wurde wie die Orientierung am NatürlichkeitsIdeal. Als Mitarbeiter für die Theater stand Kaunitz an erster Stelle der Theaterdirektor Giacomo Durazzo zur Seite; federführend wirkte jedoch Ranieri Calzabigi, den der Staatskanzler Kaunitz als Wirtschaftsbeamten nach Wien gerufen hatte, wo er sich zugleich als ‚Ghostwriter‘ und Streiter für ein erneuertes Theater betätigte. In seinem gemeinsam mit dem Komponisten Christoph Willi-

zweite und unmittelbare Ursache aller Veränderungen der Materie. Was in das Empfinden derer, die eine anima mundi annahmen, einzugehen schien, indem sie die Natur wie ein Surrogat des Göttlichen, eine nebengeordnete Ursache, eine Seinsweise zwischen Gott und Kreatur betrachteten.“ D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond, Artikel „Nature (Philosophie)“, in: Diderot, Denis/d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 11, S. 44f. 34 Vgl. S. 81–108. 35 Vgl. Brown, Bruce: Gluck and the French Theatre in Vienna, Oxford: Oxford University Press 1991, v.a. das Kapitel „Cultural Politics“, S. 32–64.

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bald Gluck verfassten Vorwort zum Partiturdruck von Alceste, deren Libretto außerdem aus seiner Feder stammte, verschrieb er sich ganz der Natürlichkeit: „Das sind also meine Prinzipien. Zum Glück eignete sich für mein Vorhaben das Libretto wunderbar, in welchem der berühmte Autor [Calzabigi], indem er eine neue Idee für das Dramatische konzipierte, die blumenreichen Beschreibungen, die überflüssigen Gleichnisse und die sentenziösen und kühlen Moralitäten durch die Sprache des Herzens, starke Leidenschaften, fesselnde Situationen und ein stets abwechslungsreiches Schauspiel ersetzt hatte. Der Erfolg hat meine Grundsätze gerechtfertigt, und die allgemeine Billigung in einer so aufgeklärten Stadt hat klar erkennen lassen, dass die Einfachheit, die Wahrheit und die Natürlichkeit die großen Prinzipien des Schönen in allen Werken der Kunst sind.“ 36

Mit den Ideen, die gereift im Vorwort zu Alceste formuliert wurden, hatten Calzabigi und Gluck bereits für Orfeo ed Euridice (1762) experimentiert: Das Werk setzte auf eine Reduktion des Dramas, indem anstelle von ‚Metastasianische Nebenhandlungen‘ ein einziger Erzählstrang – das Schicksal Orfeos – verfolgt wurde. Im Zentrum des Geschehens stand der „zärtliche Ehemann“, wie es in einem vermutlich durch den Wiener Theaterkreis lancierten Aufführungsbericht im Wienerischen Diarium lautete, in dem es über das Bühnenbild weiter hieß: „Die Erfindung der Höhle, durch welche Orpheus seine Euridice der Oberwelt zuführet, ist zwar schöne; wir können uns aber doch nicht bereden, daß der Pinsel des Mahlers die wahre Absicht des Erfinders erreichet habe […].“ 37 Als im Jahr 1773 in München Orfeo ed Euridice in der Version von Antonio Tozzi aufgeführt wurde, galt das Bühnenbild von Giovanni Paolo Gaspari dagegen als vorbildhaft. Anders als für die barocke Theaterikonographie üblich gestaltete Gaspari seine Unterwelt als eine schlichte Naturlandschaft mit Höhleneingang (vgl. Abb. 3). In barocken Aufführungen war die Unterwelt dagegen durch Übernatürliches, Teufelsgestalten oder andere monströse Wesen, Feuer ohne Brandherd etc. als mythologischer Ort dargestellt worden (vgl. Abb. 2). Anzunehmen ist, dass ein Zusammenhang zwischen der Veränderung des Kräfteverhältnisses in der katholischen Kirche sich auch auf das Bildprogramm der

36 Calzabigi, Ranieri und Gluck, Christoph Willibald: Vorwort zum Partiturdruck zu Alceste (Wien: Trattner 1768), zitiert nach: Croll, Gerhard (Hg.), Vorwort zu Alceste, Gluck-Gesamtausgabe Band I/3a, übers. von Renate Croll, Kassel u.a.: Bärenreiter 2005, S. X. 37 Wienerisches Diarium, 13.10.1762, Mittwochsbeilage [o.S.].

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Theater auswirkte. Die theologischen Debatten hatten inhärent das Gottesgnadentum, Fundament des Absolutismus, zum Thema: Die Konflikte um den Jansenismus wurden mehrfach dadurch angefacht, dass er einer kritischen Haltung gegenüber dem Gottesgnadentum verdächtigt wurde. 38 Vermutet werden kann, dass die neue Symbolik auf den Musiktheaterbühnen, die besonders der Repräsentation weltlicher Macht dienten, die neue ‚Aufgeklärtheit‘ der Herrscherhäuser demonstrieren sollte. Die Inszenierung herrschaftlicher Macht als göttlich, z. B. als „Sonnengott“, als der sich Louis XIV noch überzeugend legitimieren konnte, geriet dagegen in die Sphäre des „surnaturel“; an die Stelle des Mythos trat die göttliche Ordnung der Natur, wobei die Standpunkte zwischen der Forderung nach Naturnähe und der Dämonisierung eines pantheistischen Naturbegriffs oszillierten. 39 Abbildung 2: Jean Bérain, Entwurf des Bühnenbildes zum letzten Akt von Jean Baptiste Lullys Armide für eine Aufführung im Jahr 1686, Federzeichnung.

Quelle: Victoria and Albert Museum London, E.1028-1921.

38 Cottret: „Der Jansenistenstreit“, S. 373ff. 39 Vgl. ebd., S. 372.

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Abbildung 3: Giovanni Paolo Gaspari, Eingang zur Unterwelt und Höllenfluss Cocytus als Bühnenbildentwurf zur Aufführung von Glucks Orfeo ed Euridice in München im Jahr 1773, Aquarelle.

Quelle: Staatliche Graphische Sammlung München, 30593 Z.

3. S IMPLICITÉ Im von Gluck unterzeichneten Vorwort zu Alceste wurde in Bezug auf die Natürlichkeit außerdem ein Gemeinplatz der Kritik an der Bühneninterpretation formuliert: „Altezza Reale! Quando presi a far la Musica dell’Alceste mi proposi di spogliarla affatto di tutti quegli abusi, che introdotti o dalla mal intesa vanità de Cantanti, o dalla troppa compiacenza de’Maestri, da tanto tempo sfigurano l’Opera Italiana, e del più pomposo, e più bello di tutti gli spettacoli, ne fanno il più ridicolo, e il più nojoso.“ 40

40 „Königliche Hoheit! Als ich mich entschied, die Musik der Alceste zu machen, nahm ich mir vor, sie vollständig von all jenen Missbräuchen zu befreien, die entweder durch die missverstandene Eitelkeit der Sänger oder durch die zu große Gefälligkeit

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Bereits in der höchst erfolgreichen Theatersatire des venezianischen Patrizier Benedetto Marcello war besonders Sängerinnen und Sängern der Vorwurf gemacht worden, sich eitel zu produzieren, statt nach einer angemessenen Interpretation zu streben. 41 In ähnlicher Weise argumentierte Francesco Algarotti in seinem 35 Jahre später ebenfalls in Venedig publizierten, nicht minder einflussreichen Saggio sopra l’opera in musica (Venedig: Pasquali 1755). Algarotti forderte von den Komponisten, statt sich dem Diktat der „sehr mittelmäßigen“ Ausführenden zu unterwerfen, die Imitation der Natur anzustreben: „E ciò forse dal non potere quivi i maestri essendone mediocrissimi i cantanti, dispiegare a loro talento tutti i secreti dell’arte, tutti i tesori della scienza; onde loro malgrado sono costretti ad attenersi al semplice, e a secondar la natura. Da qualunque causa ciò venga, a cagione appunto della verità che in se contiene, ha la voga e trionfa un tal genere di musica, benchè riputata plebea.“ 42

der maestri eingeführt, seit langer Zeit die italienische Oper verunstalten und aus dem prächtigsten und schönsten aller Schauspiele das lächerlichste und langweiligste machen.“ Calzabigi/Gluck: Vorwort zu Alceste, a.a.O., S. X. 41 „Farà l’azione a capriccio, imperciocchè non dovendo il virtuoso moderno intender punto il sentimento delle parole non deve formalizzarsi veruna attitudine, o movimento, ed entrerà sempre per la parte, ch’entra la prima donna, o verso il palchetto de musici.“ Benedetto Marcello, Il teatro alla moda, hg. von Michele Geremia, Padua 2015, S. 31. 42 Algarotti, Francesco: Saggio sopra l’opera in musica, zitiert nach Frieder von Ammon, Jörg Krämer und Florian Mehltretter (Hg.), Oper der Aufklärung – Aufklärung der Oper. Francesco Algarottis ‚Saggio sopra l’opera in musica‘ im Kontext, Berlin, Boston: De Gruyter 2017, S. 268: „Sie finden sich zum Beispiel besonders in den Intermezzen und Buffo-Operetten, wo die Haupteigenschaft der Musik, der Ausdruck, sich weit mehr durchsetzt als in jeder anderen Komposition, vielleicht weil darin die Meister wegen der Mittelmäßigkeit der Sänger nicht alle Geheimnisse ihrer Kunst und alle Schätze der Wissenschaft ausbreiten können. So sind sie wider Willen gezwungen, sich ans Einfache zu halten und die Natur zu unterstützen. Welche Gründe das auch haben mag, dank der Wahrheit, die sie in sich birgt, ist eine solche Musik populär und triumphiert, obwohl man sie für plebejisch hält.“ – Übersetzung zitiert nach ders.: Schriften zur Kunst, hg. und übers. von Hans W. Schumacher, http://www. algarotti.de/wp-content/uploads/2018/09/Francesco-Algarotti_Schriften-zur-Kunst. pdf, (13.09.2018), S. 127.

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Seinen Saggio sopra l’opera in musica publizierte er jedoch unter dem Eindruck der lebendigen Musiktheaterszene seiner Heimatstadt Venedig, in der das Verhältnis von Realismus im Theater und den Umgang mit neuen Formen der Commedia dell’arte ausgehandelt wurde, wie Susanne Winter in ihrem Artikel „Natürlichkeit oder Artifizialität – Zur Theaterästhetik Goldonis, Gozzis und Diderots“ beschreibt. 43 An mehreren Stellen äußerte Algarotti seine Sympathie für das ‚populäre‘ Theater. So beschrieb er die Arien der Opera buffa als Ausdruck von „semplicità“ im Gegensatz zu den der Eitelkeit verdächtigten virtuosen Da Capo Arien der Opera seria: „Vana riesce essa pure; e dopo aver forse riscosso un qualche passaggero applauso, è lasciata dall’un de’ lati, per quanto artifizio siasi posto nella scelta delle combinazioni musicali, e condannata a un eterno silenzio ed obblio. Laddove si rimangono soltanto scolpite nella memoria dell’universale quelle arie, che dipingono o esprimono, che chiamansi parlanti, che hanno in se più di naturalezza: E la bella semplicità, che sola può imitare la natura, viene poi sempre preferita a tutte le più ricercate conditure dell’arte.“ 44

Als Modell für die „Imitation der Natur“ auf der Bühne wurde die Antike benannt: Algarotti beschrieb sie ebenso in Zusammenhang mit dem Tanz als vorbildhaft für die pantomimische Choreographie. 45 Der Choreograph und Tänzer

43 S. 109–124. 44 Algarotti: Saggio sopra l’opera in musica, a.a.O., S. 268. „Sie bleibt leer [auch: eitel] und bedeutungslos, und mag sie auch einen vorübergehenden Beifall erhalten haben, so läßt man sie doch bald liegen, trotz aller daran verschwendeten Kunst der musikalischen Kombination, und verdammt sie zu ewigem Schweigen und Vergessen. Dagegen bleiben jene Arien jedermann im Gedächtnis, die etwas beschreiben und ausdrücken, die man redend nennt und die natürlicher sind. Die schöne Einfalt, die allein die Natur nachahmen kann, wird immer den gewähltesten Zierformen der Kunst vorgezogen.“ Übersetzung zitiert nach ders.: Schriften zur Kunst, hg. und übers. von Hans W. Schumacher, http://www.algarotti.de/wp-content/uploads/2018/09/Francesco -Algarotti_Schriften-zur-Kunst.pdf, (13.09.2018), S. 133. 45 „Chiunque, in ciò che si spetta alla danza, se ne sta alle valentìe di cotesta nostra, e non va col pensiero più là, ha da tenere senz’altro per fole di romanzi molte cose, che pur sono fondate in sul vero. Quei racconti per esempio – che si leggono appresso gli scrittori, degli tragicissimi effetti, che operò in Atene il ballo delle Eumenidi, di ciò che operava l’arte di Pilade, e di Batillo, l’uno de’ quali moveva col ballo a Misericordia e a terrore, l’altro a giocondità e a riso; e che a’ tempi di Augusto diverso

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Gasparo Angiolini gab im Programmheft zu seinem 1761 in Wien aufgeführten Don Juan ou Le Festin de Pierre an, diese im Sinne einer „Pantomime nach dem Geschmack der Alten“ geschaffen zu haben, bei der es sich um die erhabenste Kunstform handle. 46 Ebenso bezogen sich bereits Schauspieltheorien des frühen 18. Jahrhunderts wie Franz Langs Dissertatio De Actione Scenica (Monachii: De La Haye 1727) auf das Vorbild der Antike, insbesondere auf die Rhetorik Quintilians. Die Bedeutung der Natur-Imitation in der szenischen Darstellung im Ballett, die durch die Evokation von Gefühl und somit als eine Verbindung von Körper und Geist hergestellt werden sollte, beschreibt Claudia Jeschke in ihrem Artikel „Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ für den Tanz; 47 João Luís Paixão beleuchtet die Thematik anhand von Schauspiel- bzw. Gesangstheorie in „Second Nature: Rhetorical actio and the art of feeling in the singer-actor tradition of the late eighteenth century“. 48 Als besondere Qualität der Naturnachahmung nach dem antiken Vorbild wurde deren „simplicité“ benannt; Louis Jaucourt beschrieb sie in der Encyclopédie als der „Grandeur“ oder dem „Sublim“ ebenbürtig: „La simplicité noble est d’aussi bonne maison que la grandeur même; […] Mais si cette simplicité noble retrace de grandes images, elle ne diffère pas du sublime; Homère et Virgile sont des modèles de cette dernière simplicité.“ 49

in parti una Roma. Egli avviene ben di rado, che ne’ nostri ballerini si trovi congiunta con la grazia la forza della persona, la mollezza delle braccia con l’agilità de’ piedi, ed apparisca quella facilità nei movimenti, senza la quali il ballo è di fatica a quelli ancora che stanno a vedere.“ Algarotti: Saggio sopra l’opera in musica, a.a.O., S. 284. 46 Gasparo Angiolini, Textbuch zu Le Festin de pierre, Wien 1761, zitiert nach Engländer, Richard (Hg.), Vorwort zu Don Juan/Semiramis, Gluck-Gesamtausgabe Band II/1, Kassel u.a.: Bärenreiter 1966, S. XXIV. 47 S. 139–152. 48 S. 153–172. 49 Jaucourt, Louis: Artikel „Simplicité (oratoire)“, in: Diderot, Denis/d’Alembert, JeanBaptiste le Rond (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 15, S. 205. „Die edle Schlichtheit ist aus ebenso gutem Hause wie die Grandeur selbst; […] Aber wenn diese edle Schlichtheit große Bilder nachvollzieht, unterscheidet sie sich nicht vom Sublimen; Homer und Vergil sind die Vorbilder dieser letztgenannten simplicité.“

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Der Bezug auf die Antike und besonders auf die Ästhetik der simplicité bedeuteten einen Ausweg aus dem Dilemma der Anmaßung bzw. Eitelkeit, das im christlich theologischen Sinne die künstlerische Nachahmung der Schöpfung bedeutete. Theatralität, sonst als Täuschung und Makel verstanden, konnte so durch das antike Vorbild bzw. die simplicité aus der Sphäre der Vanitas enthoben werden. 50 Als moralische Qualität verstanden diente die simplicité schließlich auch als Mittel der Künstlerapologetik. Besonders nahe lag das für Gluck, von dem es seit seiner Iphigénie en Tauride (1779) hieß, er habe die „Tragédie à la Grecque“ erfunden und damit das „Geheimnis der Alten“ perfektioniert. 51 Olivier de Corancez, Herausgeber des Journal de Paris würdigte dem Komponisten in Jahr 1788 mit einer Schilderung seiner Persönlichkeit, die ganz im Zeichen von Einfachheit und Natürlichkeit stand: Gluck zeichne sich gegenüber „mittelmäßigen“ Komponisten nicht zuletzt dadurch aus, dass er auf Corancez Fragen stets mit bewundernswerter „Schlichtheit und Wahrheit“ zu antworten pflege. 52

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UND

N ORM

Natürlichkeit, Schlichtheit und Einfachheit hatten, wie gezeigt wurde, einen starken moralischen Impetus, der sich aus dem Zusammenhang mit den theologischen Hintergründen erklären lässt. Daraus resultierte das positive Verständnis von Natürlichkeit und deren beinahe ausschließliche Affirmation im mittleren 18. Jahrhundert. Eine eindeutige Definition anhand von deutlichen Parametern gab es nicht; vielmehr diente der Begriff als Behälter, der dem jeweiligen Dis-

50 Vgl. Spohr, Matthias: „Das Paradigma des Performativen und die Vanitas“, in: Kati Rötger (Hg.in), Welt – Bild – Theater: Bildästhetik im Bühnenraum, Tübingen 2012, S. 134: „Reichtum darf dargestellt werden mit Hinweis auf seine Nichtigkeit. Täuschung darf geschehen, wenn sie vor Täuschung warnt. Kunst darf sich entfalten, wenn sie ihr unabwendbares Scheitern zugibt. So wie das Bild nur täuschen kann, so täuscht auch der Schauspieler von Berufswegen. Beide werden den Makel ihrer Theatralität nicht los.“ 51 „L’opéra a été fort applaudi, il est dans un genre neuf. C’est proprement une tragédie, déclamée plus savamment qu’au théâtre françois, une tragédie à la grecque. […] On ne peut qu’applaudir au chevalier Gluck d’avoir trouvé ce secret des anciens, qu’il perfectionnera sans doute.“ Mémoires secrets, 21. Mai 1779, XIV, S. 58. 52 Corancesz, Olivier de: Lettre sur le Chevalier Gluck, in: Journal de Paris, 21. August 1788, S. 1010.

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kurs entsprechend mit Bedeutung gefüllt werden konnte. Als natürlich galt, was einer veränderlichen Norm entsprach, wie Louis Jaucourt scharfsinnig in der Encyclopédie beschrieb: „Les mots de nature & naturellement se trouvent souvent employés dans l’Ecriture, ainsi que dans les auteurs grecs & latins, par opposition à la voie de l’instruction, qui nous fait connoître certaines choses. C’est ainsi que saint Paul parlant d’une coutume établie de son tems, dit: ‚La nature elle-même ne nous enseigne-t-elle pas que si un homme porte des cheveux longs cela lui est honteux, au lieu qu’une longue chevelure est honorable à une femme, &c.’ C’est qu’il suffit de voir des choses qui se pratiquent tous les jours, pour les regarder enfin comme des choses naturelles.‘“ 53

Beim dem Konzept Natürlichkeit handelt es sich Jaucourt zufolge also um eine an Normen orientierte Konstruktion, weswegen zeitlich oder geographisch bedingte kulturelle Unterschiede oder Wandel unweigerlich die Veränderung dessen, was als natürlich betrachtet wird, mit sich bringen muss. Der Artikel „Die Rezeption des Natürlichkeitskonzepts im Historismus“ behandelt dementsprechend die veränderte Bewertung des Ideals des 18. Jahrhunderts im Historismus des Fin de Siècle; in ihrem persönlichen Statement „Actio, actio, actio: a director’s point of view on naturalism and naturalistic staging of the early opera repertoire“ beschreibt Deda Cristina Colonna, in welchem Sinne Natürlichkeit und Naturalismus in der Gegenwart und für ihre praktische Arbeit als Regisseurin und Choreographin Bedeutung hat. 54 In einem umfassenden Überblick stellt Heiner Krellig im Artikel „Zu den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Natürlichkeit‘ in der Bildenden Kunst und Kunsttheorie vor 1800“ abschließend die Tradition der

53 Jaucourt, Louis: Artikel „Nature (Critique sacrée)“, in: Diderot, Denis/d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 11, S. 42. „Die Wörter Natur und natürlich finden sich häufig im Schrifttum, sowohl bei den griechischen wie lateinischen Autoren, im Gegensatz zur direkten Unterweisung, die uns bestimmte Dinge erkennen lässt. Daher sagte der heilige Paulus, als er von einem seinerzeit eigeführten Brauch sprach: ‚Die Natur selbst lehrt uns nicht, dass ein Mann, der lange Haare trägt, schändlich ist, während langes Haar für eine Frau ehrenvoll ist. Denn es genügt, Dinge täglich praktiziert zu sehen, um sie schließlich für natürlich zu halten.‘“ 54 S. 173–188.

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Imitationsdebatten in der bildenden Kunst und deren Bezüge zu den Musiktheaterdiskursen im 18. Jahrhundert her. 55

D ANKSAGUNGEN Die Beiträge des vorliegenden Bandes entstanden im Rahmen des Symposions „Ja, natürlich… Natur und Natürlichkeit auf der (Musik)Theaterbühne“, das im Jahr 2016 an der Anton Bruckner-Privatuniversität Linz veranstaltet wurde. Unser Dank gilt der Bruckner-Universität für die Unterstützung und Übernahme der Druckkosten. Besonderer Dank gebührt außerdem Martina Hochreiter für Lektorat und Korrektorat, Christoph Poschenrieder für das Lektorat der englischsprachigen Texte, Gabriel Wurzer für den Satz des Bandes und Christian Lutz für die Erstellung der Bibliographien. Außerdem bedanken sich die HerausgeberInnen bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge zu diesem Band.

L ITERATUR Algarotti, Francesco: „Saggio sopra l’opera in musica“, in: Frieder von Ammon/Jörg Krämer/Florian Mehltretter (Hg.), Oper der Aufklärung – Aufklärung der Oper. Francesco Algarottis ‚Saggio sopra l’opera in musica‘ im Kontext, Berlin/Boston: De Gruyter 2017. Algarotti, Francesco: Briefwechsel mit Friedrich II., hg. von Wieland Giebel, Berlin: Berlin-Story-Verlag 2008. Algarotti, Francesco: Schriften zur Kunst, hg. und übers. von Hans W. Schumacher, http://www.algarotti.de/wp-content/uploads/2018/09/France sco-Algarotti_Schriften-zur-Kunst.pdf vom 13.09.2018. Angiolini, Gasparo, Textbuch zu Le Festin de pierre, Wien 1761, zitiert nach: Richard Engländer (Hg.), Vorwort zu Don Juan/Semiramis, GluckGesamtausgabe Band II/1, Kassel u.a.: Bärenreiter 1966. Bougainville, Louis-Antoine de: Voyage autour du monde, Paris: Saillant & Nyos 1771. Brown, Bruce: Gluck and the French Theatre in Vienna, Oxford: Oxford University Press 1991.

55 S. 223–306.

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Calella, Michele: „Metastasios Dramenkonzeption und die Ästhetik der friderizianischen Oper“, in: Laurenz Lütteken/Gerhard Splitt (Hg.), Metastasio im Deutschland der Aufklärung, Tübingen: De Gruyter 2002. Calzabigi, Ranieri/Gluck, Christoph Willibald: „Vorwort zum Partiturdruck zu Alceste“ (Wien: Trattner 1768), zitiert nach: Croll, Gerhard (Hg.), Vorwort zu Alceste, Gluck-Gesamtausgabe Band I/3a, übers. von Renate Croll, Kassel u.a.: Bärenreiter 2005. Charlton, David: Opera in the Age of Rousseau, Cambridge: Cambridge University Press 2013. Corancesz, Olivier de: „Lettre sur le Chevalier Gluck“ in: Journal de Paris, 21. August 1788, S. 1010. Cottret, Monique: „Der Jansenistenstreit“, in: Die Geschichte des Christentums, Band 9 (= Das Zeitalter der Vernunft 1620/30–1750), Freiburg u.a.: Herder 1998. D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond: „Nature (Philosophie)“, in: Denis Diderot/Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 11. Gevrey, Françoise (Hg.): Écrire la nature au XVIIIe siècle. Autour de l’abbé Pluche, Toulouse 2016. Grimm, Melchior: „Poëme lyrique“, in: Denis Diderot /Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 10. Grund, Vera: „Christoph Willibald Gluck und Paris: Musikdrama, ‚Tragédie à la Grecque‘ und die Revolution der Oper“, in: Gluck-Forschungsstelle Salzburg (Hg.), Gluck und das Musiktheater im Wandel, München: epodium 2015. Grund, Vera: „Reform der italienischen Oper?“, in: Gluck-Forschungsstelle Salzburg (Hg.), Gluck und das Musiktheater im Wandel, München: epodium 2015. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld Verlag 2000. Heinrich Graun, Carl: Montezuma (= Denkmäler der Deutschen Tonkunst, Band 15), hg. von Albert Mayer-Reinach, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1904. Henzel, Christoph: „Zu den Aufführungen der großen Oper Friedrichs II. von Preußen 1740–1756“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1997, Stuttgart und Weimar: Metzler 1997.

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Jaucourt, Louis: „Nature (Critique sacrée)“, in: Denis Diderot/Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 11. Jaucourt, Louis: „Simplicité (oratoire)“, in: Denis Diderot/Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 15. Maehder, Jürgen: „Die Librettisten des Königs. Das Musiktheater Friedrichs des Großen als theatralische wie linguistische Italien-Rezeption“, in: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert (Hg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein Verlag 1999. Marcello, Benedetto, Il teatro alla moda, hg. von Michele Geremia, Padua 2015. Martin, Meredith: Diairy queens: The politics of pastoral architecture from Catherine de’Medici to Marie Antoinette, Cambridge/Mass. u.a.: Harvard University Press 2011. Mémoires secrets, 21. Mai 1779, Reprint Gregg International, Westmead 1970, Bd. 15/16. Münzmay, Andreas: „Ländliche Pärchen und musikästhetischer Diskurs. Zur Konzeption des Bühnenliedrepertoires von Justine Favart“, in: Katharina Hottmann (Hg.), Liedersingen. Studien zur Aufführungsgeschichte des Liedes, (Jahrbuch Musik und Gender 6) Hildesheim u.a.: Georg Olms 2013. O. A.: „Naturel (Métaphysique)“, in: Denis Diderot /Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1765, Band 11. Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München: Fink 2000. Pluche, Noël-Antoine: Spectacle de la nature ou entretiens sur les particularités de l’histoire naturelle, Paris: Estinnes 21754. Rousseau, Jean-Jacques: „Textbuch zu Le Devin du village (Paris 1753), Scene II“, in: Collection complète des oeuvres, Genève, 1780–1789, vol. 8, zitiert nach: http://www.rousseauonline.ch/Text/le-devin-du-village.php vom 08. 08. 2018. Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit unter den Menschen, Amsterdam: Rey 1760, übers. und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1998. Originalausgabe unter dem Titel Discours sur

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l’origine et les fondements de l’inegalité parmi les hommes, Amsterdam: Rey 1755. Spohr, Matthias: „Das Paradigma des Performativen und die Vanitas“, in: Kati Rötger (Hg.), Welt – Bild – Theater: Bildästhetik im Bühnenraum, Tübingen: Narr Francke Attempto 2012. Terne, Claudia: „‚Der beste Text, der Graun je zur Verfügung stand‘– Zur zeitgenössischen und zeitgeschichtlichen Wahrnehmung und Diskussion von Oper und Operntext der Friderizianischen Tragedia per musica Montezuma“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2013, Mainz: Schott 2014. Vogel, Christine: „Von Voltaire zu Le Paige – Die französische Aufklärung und der Jansenismus“, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. Wallenburg, Amalie Gräfin von: Anstandslehre für das weibliche Geschlecht. Oder mütterlicher Rath für meine Julie über den sittlichen und körperlichen Anstand, Linz: 1824.

Das Bild der Unschuld als Wunschbild ‚unschuldiger‘ Darstellung Zur Genese und Ausgestaltung des Phantasmas des Natürlichen in der bürgerlichen Schauspielkunst 1 G ÜNTHER H EEG

Ich möchte mich im Folgenden nicht so sehr auf eine bestimmte Kunstgattung konzentrieren, sondern der Frage nachgehen, was die Triebgründe sind für den Siegeszug des Natürlichen im 18. Jahrhundert. Dabei wende ich mich verschiedenen Künsten und Gattungen zu, zunächst einer halb wissenschaftlichen, halb literarischen Abhandlung, einem Pamphlet, dann der Malerei und ihr verwandten Künsten und ‚natürlich‘ auch dem Theater. Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: 1. Das Privattheater der Scham, 2. Die Erotik der Unschuld, 3. Der natürliche Ausdruck.

1. D AS P RIVATTHEATER DER S CHAM 1757 fordert d’Alembert im Artikel „Genève“ der Encyclopédie die Einrichtung eines Theaters in der Stadt Calvins: 2 Genf brauche ein Theater, weil das Theater besonders geeignet sei, zur Verbesserung der Sitten und Verfeinerung der Emp-

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Der Beitrag beruht auf meinem Buch Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Stroemfeld Verlag 2000.

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Jean-Baptiste le Ronde d’Alembert, Artikel „Genève“, in: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, […], hg. von Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert, Band 7, Paris: Briason u.a. 1757, S. 578.

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findungen beizutragen. An dieser aufklärerisch-empfindsamen Konzeption des Theaters hat Rousseau ein Jahr später in der Lettre à d’Alembert sur les spectacles heftige Kritik geübt. Genf, so Rousseau, wäre ruiniert, sollte die Stadt ein Theater erhalten. Keine dreißig Jahre würden die Schauspieler benötigen, um – mit „ein wenig Kunst und Geschicklichkeit“ – „die Schiedsrichter des Staates zu werden“: „Man wird sehen, wie die Anwärter für ein Amt um ihre Gunst buhlen, um Stimmen zu erhalten. Die Wahlen werden sich in den Garderoben der Schauspielerinnen entscheiden, und die Führer eines freien Volkes werden zu Kreaturen einer Bande von Gauklern.“ 3

Wäre die Lettre nur eines jener Traktate gegen die sittenverderbende Macht des Theaters, wie sie von kirchlicher Seite im 17. und 18. Jahrhundert gang und gäbe sind, bräuchte sie heute nicht mehr zu interessieren. Dass sie ihre Anziehungskraft nicht verloren hat, liegt an ihrem eigentümlichem „Verfallen Sein“ an den bekämpften Gegenstand. Rousseau erfährt im Theater die Macht des Begehrens, dem er sich nicht entziehen kann. „Es ist schon unglaublich“, so ereifert er sich über eine zeitgenössische Komödie (von Jean François Regnard), „daß man mitten in Paris mit Erlaubnis der Polizei eine Komödie öffentlich aufführt, in der sich der Neffe in der Wohnung des Onkels, den er gerade hat sterben sehen, zusammen mit seinem noblen Gefolge mit Dingen befaßt, die das Gesetz mit dem Strick belohnt“.

Aber das Schlimmste ist: „Wer von uns ist seiner selbst so sicher, daß er die Aufführung einer solchen Komödie mitansehen kann, ohne halbwegs an den Streichen, die dort gespielt werden, teilzunehmen? Wer ärgert sich nicht ein wenig, wenn der Spitzbube zufällig erwischt wird oder wenn sein Anschlag nicht gelingt? Wer wird nicht wenigstens für einen Augenblick selber Spitzbube, wenn er an ihm Anteil nimmt?“ 4

3

Jean-Jacques Rousseau: Brief an d’Alembert, in: Jean-Jacques Rousseau. Schriften, hg. von Henning Ritter, 2 Bände, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995, Band 1, S. 459f.

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Rousseau: Brief an d’Alembert, S. 379f.

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Das ist verwirrend: Die Macht des Begehrens bringt die ethischen Gebote ins Wanken, schwächt den moralischen Willen zum Guten und stellt generell die Fähigkeit des Subjekts zum autonomen, moralischen und vernünftigen Handeln in Frage. Um wieder Herr im eigenen Haus zu sein, entwirft Rousseau ein Szenario der Geschlechter, an dessen Ende die Geburt der reinen, der natürlichen, der unschuldigen Darstellung steht. Es ist die Frau, die die Schuld des Begehrens auf sich ziehen muss. Es ist die Schauspielerin oder präziser: Die Frau als Schauspielerin. „Wie kann ein Stand, dessen einzige Beschäftigung es ist, sich öffentlich und, was noch schlimmer ist, gegen Geld zu zeigen, sich für ehrbare Frauen schicken und sich mit ihrer Bescheidenheit und ihren guten Sitten vertragen? [...] (W)ie unwahrscheinlich (ist es), daß eine Frau, die sich für Geld zur Schau stellt, sich nicht auch bald für Geld zur Verfügung stellt und sich nicht versuchen läßt, das Verlangen, das sie mit soviel Mühe erregt, auch zu befriedigen?“ 5

Durch ihre Zurschaustellung weckt die Schauspielerin das Begehren der anderen. Dass sie es ohne Scham tut, macht sie zur Herrin des Begehrens. Sie beherrscht das Spiel der simulatio und dissimulatio perfekt, mit dem sie die andern täuschen, fixieren und unterwerfen kann. Besondere Radikalität erhält dieses Angst- und Wunschszenario Rousseaus, weil es sich nicht auf das Berufsbild der Schauspielerin beschränkt, sondern die Frau an sich als Schauspielerin darstellt. Einen Eindruck von der Angst des männlichen Subjekts vor der Macht der Frau als Schauspielerin vermittelt die Abbildung einer der gefeiertsten Schauspielerinnen der Zeit, Madames Dumesnil, in der Rolle der Phädra (Abb. 1). Rousseaus Polemik gegen die Schauspielerin und die Schauspielkünste der Frauen gilt einer besonderen Darstellungsweise: der rhetorischen Beredsamkeit des Leibes oder der eloquentia corporis. In ihr sind die Kunst der Selbstrepräsentation und die Repräsentation der Affekte voneinander getrennt. Affekte werden nicht verkörpert, sondern zeichenhaft dargestellt, z. B. der Affekt starker Trauer (Abb. 2) durch ein Heben der Hände über die Körpermitte hinaus. Neben dieser rhetorischen Affektdarstellung steht die Selbstrepräsentation des Schauspielers, der sich in der gegenstrebigen Figur des Kontrapost, einer belebten Statue gleich, dem Zuschauer präsentiert (Abb. 3).

5

Rousseau: Brief an d’Alembert, S. 425f.

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Abbildung 1: Marie Dumesnil in Jean Racines Phèdre et Hippolyte, 1770 bis 1780, Gouache.

Quelle: © P. Lorette, coll. Comédie-Française.

Abbildung 2: Starke Trauer, Figura VII.

Quelle: Franz Lang: Dissertatio De Actione Scenica, Monachii: De La Haye 1727.

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Abbildung 3: Kontrapost, Figura III.

Quelle: Franz Lang: Dissertatio De Actione Scenica, a.a.O.

In der Lücke, die sich zwischen der Selbstrepräsentation und der zeichenhaften Affektdarstellung auftut, lauert das Nichtwissen darüber, wer die Person eigentlich ist und was sie will. Ihr entspringt das Spiel des Entdeckens und Verbergens, das Spiel des Begehrens, das Rousseau um den Verstand bringt. Gegen den Schrecken der Frau als Schauspielerin bringt Rousseau deshalb eine Figur ins Spiel, die die ungefährliche Annäherung an das Begehren gestattet. Es ist die Imago der Unschuld. Ihr Modell findet er in der Schamhaftigkeit des jungen Mädchens, das von der Natur für diesen Zweck wie geschaffen scheint: „Ist es nicht die Natur, die die jungen Mädchen mit jenen lieblichen Zügen schmückt, die ein wenig Scham noch rührender macht? Ist sie es nicht, die ihren Augen jenen scheuen und zarten Blick verleiht, dem man nur mit soviel Mühe widersteht? Ist sie es nicht, die ihrem Aussehen mehr Glanz und ihrer Haut mehr Zartheit gibt, damit ein bescheidenes Erröten leichter sichtbar wird?“ 6

Weil die Schamhaftigkeit des jungen Mädchens keine simulatio, sondern – so scheint es – „echt“ ist, hat der Betrachter nichts von ihr zu befürchten. Im Unterschied zur Schauspielerin kalkuliert die „Unschuld“ ihre Wirkung nicht. Was sie

6

Rousseau: Brief an d’Alembert, S. 421.

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tut, ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern privat. Sie rechnet nicht damit, gesehen zu werden, um sich darauf ein- und entsprechend darzustellen, auch nicht von und gegenüber ihrem Verehrer. Dieser kann sicher sein, dass er der einzige Zuschauer in diesem Privattheater der Scham ist, dass er selbst nicht beobachtet und eingeschätzt wird und dass die schamhaften Avancen der „Unschuld“ ausschließlich ihm gelten. In der Figur der Unschuld hat das Begehren seinen Schrecken verloren. Zugleich legt Rousseau mit der Beziehung zwischen einer natürlichen Darstellerin, die anscheinend ganz ohne Darstellung auskommt, und ihrem wissenden Betrachter die Grundlage für das Wunsch- und Trugbild des Natürlichen im bürgerlichen Theater des 18. Jahrhunderts. Das Bild von Unschuld und Natur nämlich entspringt allein der Projektion des Betrachters. Das hält Rousseaus 1770 aufgeführtes Melodrama Pygmalion fest, wenn an dessen Ende die zum Leben erwachte Statue der Galathée erst sich berührt und „C’est moi“ sagt, um danach ihren Schöpfer und Betrachter zu berühren mit den Worten: „Ah, encore moi!“ – „Nochmals ich!“ 7

2. D IE E ROTIK DER U NSCHULD Es ist bekannt, dass Diderots Entwurf eines bürgerlichen Theaters sich am Vorbild der Malerei orientiert. Der Malerei entnimmt Diderot das Bild der Unschuld, das auch bei ihm, trotz seines Zerwürfnisses mit Rousseau, zur Grundfigur natürlicher Darstellung und des bürgerlichen Theaters werden soll. Diderot bezieht sich dabei vor allem auf die Genremalerei der Jahrhundertmitte. Ohne die Rhetorik der Historienmalerei zeigt sie alltägliche (bürgerliche und kleinbürgerliche) Personen in häuslicher Umgebung bei alltäglichen Beschäftigungen und Verrichtungen und vermittelt schon allein durch den Einzug der historischen und sozialen Distanz das Gefühl von Nähe und Intimität ihres Sujets. Jean-Baptiste Greuze ist der Meister dieser Einblicke in das häusliche Leben. Unter seinen Arbeiten finden vor allem die Mädchenbilder, allesamt Darstellungen des „Mädchens von nebenan“, bei den Zeitgenossen Anklang und – als Stiche – reißenden Absatz. 8 Das bekannteste, Junges Mädchen das um ihren toten Vogel weint (Abb. 4), hat Greuze im Salon von 1765 ausgestellt. Es zeigt

7

Rousseau: Pygmalion, in: ders.: Œuvres complètes, hg. von Bernard Gagnebin und

8

Zur vorübergehend eminenten Wirkung von Greuze im 18. Jahrhundert siehe

Marcel Ramond, Paris: Gallimard 1959–1995, Band 2 (1964), S. 1224–1231. Brookner, Anita: Greuze. The Rise and Fall of an Eighteenth-Century Phenomenon, London: Greenwich 1972.

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ein junges Mädchen, das – die eine Gesichtshälfte in die Hand gestützt, durch das fast geschlossene Lid des rechten Auges nur einen Schatten von Blick auf ein totes Vögelchen werfend – ganz in Trauer versunken ist, und so dem Betrachter die Möglichkeit gibt, mit seinen Blicken in Ruhe von Dekolleté, Hals, Gesicht, Arm und Hand der Schönen Besitz zu ergreifen. Abbildung 4: Jean-Baptiste Greuze, Junges Mädchen, das um ihren toten Vogel weint, 1765, Öl auf Leinwand.

Quelle: Musée du Louvre, Paris, NG 435;4985.

Diderot hat das ausgiebig getan und ist – in seiner Beschreibung des Bildes im „Salon von 1765“ – hingerissen vom Eindruck des lebendigen Fleischs: „Oh, die schöne Hand, die wirklich schöne Hand, und der schöne Arm! Sehen Sie die Wahrheit der Details an diesen Fingern, und dieses Grübchen, und diese Weichheit, und diese Rötung, die der Druck des Kopfes auf den zarten Fingerspitzen hervorgerufen hat, und den Zauber des Ganzen! Man möchte sich dieser Hand nähern, um sie zu küssen, müßte man nicht Rücksicht auf den Schmerz der Kleinen nehmen.“ 9

So täuschend echt ist der Eindruck des weichen, fleischlichen Arms des abgebildeten Mädchens, dass Diderot wie Pygmalion versucht ist, ihr die Hand zu küssen. Nicht das Bewusstsein der Täuschung, sondern – erneute Steigerung der Illusion – der Respekt vor diesem Kind in seinem Schmerz hält ihn davon ab. Mit dem ganzen Reiz des Körperlichen ausgestattet, ist dieses Mädchen für den Betrachter dennoch (im doppelten Sinne) unberührbar.

9

Diderot, Denis: Aus dem „Salon von 1765“, Nr. 110, in: Ästhetische Schriften (im folgenden Ä.S.), hg. von Friedrich Bassenge, Band I, Berlin: Das europäische Buch 1984, S. 566.

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Michael Fried hat die Beziehung zwischen Bild und Betrachter untersucht, die der Imago der Unschuld zu Grunde liegt. 10 Dabei hat er auf den Zustand der absorption, des in sich Vertieftseins als Grundzug vieler dargestellter Personen (vor allem) in den Genrebildern Mitte des 18. Jahrhunderts aufmerksam gemacht. Das Charakteristikum dieser Darstellung ist es zu malen, als rechne die abgebildete Gestalt, vollkommen mit sich selbst beschäftigt, nicht im Geringsten damit, dass sie selbst gesehen wird. Das Bild gibt vor, auf die Dimension der Repräsentation zu verzichten. Mehr noch als die Wahl des Sujets ist der Modus ‚darstellungsloser Darstellung‘ für den Eindruck des absolut Privaten verantwortlich, der von der Genremalerei ausgeht. Unmittelbar vor den Augen des Betrachters sich befindend, ohne ihn wahrzunehmen, scheint ihm das abgebildete Subjekt willen- und hilflos ausgeliefert zu sein. Die Konstellation fesselt den Betrachter ans Bild, das nichts ‚ausstellt‘, ihn nicht ‚anspricht‘ und nicht zu beachten scheint. Gerade die vom Maler geschaffene Blindheit der Abgebildeten, die Fiktion ihrer Aufrichtigkeit, macht sie für den Außenstehenden begehrenswert. Ihre Naivität, das Nichtwissen um die eigene sinnliche Wirkung, erlaubt dem gebannten Voyeur die ungestörte Vertiefung in ihre ‚Unschuld‘. Ungefährdet bleibt sie nur, weil und solange sie nicht Bescheid weiß über das, was dem Blick des andern stets gegenwärtig ist: die ‚natürliche‘ Schönheit und Gefälligkeit ihrer Gestalt. Das Mädchen auf dem Bild von Greuze macht das Angebot fleischlicher Präsenz absichtslos; seine ‚unschuldige‘, d. h. ‚natürliche‘ Gestalt ist ein glänzender Fetisch, der nur für andere da zu sein verspricht. Das macht sie, die ‚Erotik der Unschuld‘ aus, die die Wirkungästhetik bürgerlicher Darstellungsformen im 18. Jahrhundert maßgeblich bestimmt. Zur Erotik der Unschuld gehört, dass die Unschuld der absorption stets von der theatricality bedroht ist: dem Argwohn, die Person sei nicht so naiv, wie sie scheint, ihre ‚natürliche‘ Erscheinung sei berechnende Darstellung. Als nicht abschüttelbarer Schatten begleitet die dargestellte Unschuld der Verdacht der Koketterie, der sie zur verführenden Unschuld macht, die es am Ende nicht anders gewollt hat. Der Vorwurf, das Modell fordere den Betrachter insgeheim heraus, wird vom Maler provoziert. Ganz sicher ist es nämlich nicht, so malt es jedenfalls Greuze, ob das Mädchen nicht doch weiß, dass sie gesehen wird. Blickt sie durchs fast geschlossene Augenlid nicht doch den Betrachter an? Dann wäre ihre Haltung nicht mehr unschuldig, sondern kokett. Ein Verdacht, der hier gleich wieder zurückgenommen werden soll, ‚natürlich‘ ist sie ‚unschuldig‘ – und doch bleibt eine heimliche Zweideutigkeit. Greuze hat diese Zweideutigkeit im Laufe seines Schaffens im-

10 Fried, Michael: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago: University of California Press 1980, passim.

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mer stärker bedient. Im Salon von 1800 stellt er noch einmal ein Bild aus mit dem Motiv des Mädchens, das um seinen toten Vogel trauert (Abb. 5). Abbildung 5: Jean-Baptiste Greuze, Der tote Vogel, um 1800, Öl auf Holz.

Quelle: Musée du Louvre, Paris, RF1523. Ist das Mädchen hier unzweifelhaft jünger als das Modell auf dem Bild von 1765, eigentlich noch ein Kind, so wirkt es durch die nackte Schulter doch deutlich mehr entblößt. Vor allem aber verraten die Gesten, dass es sehr wohl um diese Wirkung weiß. Schon das Spiel der Finger, die den toten Vogel sozusagen aufblättern, wirkt äußerst preziös. Vor allem aber ist es die abwehrend erhobene linke Hand, die dem Betrachter – und nur für ihn kann sie gedacht sein – ein deutliches „Noli me tangere“ zu bedeuten scheint und damit den Wunsch erst evoziert, den die Geste verneint. Greuzes späte Bilder ‚unschuldiger‘ Mädchen sind obszön. In ihnen ist die Unschuld des Nichtwissens zur Maske der Schamlosigkeit geworden.

3. D ER NATÜRLICHE A USDRUCK 1779 und 1780 erscheinen in Lichtenbergs Göttinger Taschenkalender zwei „Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens“ betitelte Folgen von Kupferstichen Daniel Chodowieckis, von Lichtenberg selbst kommentiert. An ihnen

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Abbildung 6/7: Daniel Chodowiecki, Der Unterricht, 1778, Radierung.

Quelle: „Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens“ (zwölf Blätter), publiziert in: Göttinger Taschenkalender 1779, © bpk.

lässt sich ein weiterer Grundzug natürlicher, unschuldiger Darstellung beobachten: die Reduktion der körperlichen Artikulation zu Gunsten der Grundhaltung des Ausdrucks eines Inneren. Wie der Titel bereits andeutet, stellen die Autoren je zwei Ausführungen einer eingespielten sozialen Interaktion („Der Unterricht“, „Die Unterredung“, „Empfindung“ etc.) einander gegenüber (Abb. 6–11). Stets zeigt die „affektierte“ Version zwei Kleiderpuppen, deren Körper durch die Mode (Reifrock) und den Tanzmeister in weit ausladende, gebogene und sich biegende Formen gebracht wurden. Sie reden zumeist mit Händen und Füßen, oft bis in die Fingerspitzen und die Krümmung des Zehs. Demgegenüber wirken die Figuren der „natürlichen“ Handlungen zwar in ihrem Aktionsradius deutlich eingeschränkt, aber in sich stimmig, ‚mit sich im Reinen‘. Lieber mehr sein als scheinen, das dürfte ihr Motto sein. In der Haltung dominiert die gerade Linie, die Arme liegen in der Regel eng am Körper an bzw. züchtig im Schoß. Auch Beine und Füße beanspruchen wenig Raum, kommt es doch einmal zum Gehen, dann nur in kleinen Schritten, damit nichts die Konzentration stört. Denn das ist der vorherrschende Eindruck: Die geschlossene und

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selbstbeherrschte Haltung dient ganz der Konzentration auf das, was eindringlich gesagt und gehört werden soll: „Überdachte und längst bewährt gefundene Lehre, mit sanft eindringendem Ernst und fast väterlichem Ansehen von der einen Seite gegeben, und von der andern mit Aufmerksamkeit, Respekt und Liebe angenommen“ 11,

so beginnt Lichtenberg seinen Kommentar zur „natürlichen“ Version des Kupferstich „Unterricht“. Angesichts der stillgestellten, gesammelten Körper wirkt die extrem sparsame, fast zurückgehaltene Geste der einen Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger überraschend dominant. An ihr hängen die Blicke, und doch unterstreicht sie nur das Gesagte, weist ihm den Weg, auf dem es eindringen soll in die Körper, die so auf die Anweisung vorbereitet sind, bereits „Haltung angenommen haben“. Chodowieckis Kupferstich, der sicher nicht ohne Absicht an erster Stelle der Sammlung steht, unterstreicht den autoritativen Anspruch des Sinns. Die „natürliche“ Haltung wird diesem Anspruch zum Nutz und Frommen vernünftiger Selbstbeherrschung gerecht. Jede Geste, die sich dem nicht beugt und sozusagen selbstvergessen und selbstversessen für die Galerie spielt, gefährdet den Erfolg des Unternehmens „Sinntransfer“. Dem „natürlichen“ Ausdruck geht die Verinnerlichung von Welt voraus. Das zeigt die Gegenüberstellung der „modischen Empfindsamkeit“ 12 und des „ruhigen Gefühl[s]“ 13 auf den beiden der „Empfindung“ gewidmeten Blättern. Sie zeigen ein Paar bei der Betrachtung eines Sonnenuntergangs. Das erste Paar scheint völlig exaltiert mit weit ausgebreiteten Armen „dem Himmel zu[zu]fliegen“ 14 (Abb. 10/11). Das Paar auf dem zweiten Blatt steht dagegen demütig, fast in sich versunken, am Rande des Geschehens. Hier ist die Minimalisierung der körperlichen Äußerung ins Extrem gesteigert. Lichtenberg: „Nicht leicht wird ein Künstler in Figuren, die das Gesicht fast abwenden, und bei denen alles unterstützt ist und ruht, mehr Empfindung ausdrücken können, als hier aus dem un-

11 Chodowiecki, Daniel, Lichtenberg, Georg Christoph: Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens, in: dies.: Der Fortgang der Tugend und des Lasters, hg. von Ingrid Sommer, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1975, S. 33. 12 Ebd., S. 64. 13 Ebd., S. 63. 14 Ebd., S. 65.

42 | G ÜNTHER H EEG schuldig gefühlvoll starren des Mädchens und aus der Kopfhaltung der Mannsperson hervorleuchtet.“ 15

Die Teilnahme am „große[n] Schauspiel der Natur“, das „die ganze Seele endlich füllt“ 16, ist die an einem säkularisierten Gottesdienst, bei dem es um die andächtige, quasireligiöse An- und Hinnahme einer gewaltigen und verzehrenden Kraft geht, deren Abglanz noch aus der „Kopfhaltung der Mannsperson hervorleuchtet“. Die Verinnerlichung dieses Sinns geht einher mit der Verinnerlichung der Gewalt, die ihn ins Werk setzt und trägt. Sie zeigt sich notgedrungen in der Randständigkeit der Teilnahme, der Einschränkung des Handlungsraums und den beschränkten Artikulationsmöglichkeiten. Die Adjektive „unschuldig“, „gefühlvoll“ und „starr“, mit denen die Haltung der jungen Frau charakterisiert wird, entsprechen dem Ineinander von schockartiger Überwältigung und Hingabe im Vorgang der Verinnerlichung. Abbildung 8/9: Daniel Chodowiecki, Die Unterredung, 1778, Radierung.

Quelle: „Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens“ (zwölf Blätter), publiziert in: Göttinger Taschenkalender 1779, © bpk.

15 Ebd., S. 62. 16 Ebd., S. 63.

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Abbildung 10/11: Daniel Chodowiecki, Die Empfindung, 1778, Radierung.

Quelle: „Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens“ (zwölf Blätter), publiziert in: Göttinger Taschenkalender 1779, © bpk.

Wolfgang Kemp hat die unterschiedlichen Darstellungs- und Kommunikationsmodi jeweils Adel und Bürgertum zugeordnet. 17 Dem ist aus historischsoziologischer Sicht zuzustimmen. Nur dass die Zeitgenossen diesen Konflikt auf einem anderen Terrain austrugen. „Natürlich“ oder „affektiert“, das ist für Chodowiecki und Lichtenberg der Unterschied zwischen „deutsch“ und „französisch“. Lapidar heißt Lichtenbergs Unterschrift zur vorbildlichen „Unterredung“: „Dieses sind Deutsche, sprechen deutsch, sehen sich und verstehen sich.“ 18

‚Natürliche Gestalt‘ und ‚natürlicher Ausdruck‘, einander sehen und verstehen sind eins. Hier das Ideal unverstellter, unmittelbarer Kommunikation, dort die zeichenhafte, die die eloquentia corporis Verständigung verfehlt und nur der narzisstischen Selbstrepräsentation dient: „Ein dialogisches Selbstgespräch, oder wenn man lieber will, ein Selbstgespräch zwischen zwei Personen. [...] Daß von diesen beiden sich jedes nur selbst sieht, selbst hört und nur mit sich selbst spricht, ist, dünkt mich, kaum zu übersehen. Die Dame ganz in der rühren-

17 Ebd. 18 Ebd., S. 38.

44 | G ÜNTHER H EEG den Stellung einer Didone abbandonata, die mit der einen Hand ihre Zärtlichkeit in ein Rezitativ spinnt und mit der andern über Liebe klagt, als wäre Liebe Seitenstich, fühlt und sieht sich ganz und allein hier, so gut wie vor dem Spiegel, aus dem sie dieses alles gelernt hat. Ebenso vergnügt ist der männliche Geck, der ihr gegenübersteht, mit sich selbst.“ 19

Lichtenbergs Kommentar ist indirekt auf das Theater bezogen. Er zeigt, dass das ‚Natürliche‘ in erster Linie durch die Arbeit der Reduktion entsteht: Sie ächtet die ‚bloß‘ rhetorische ‚Beredsamkeit des Leibes‘, verbietet die Gestikulation und bricht den Eigensinn der körperlichen Zeichen durch die Beschneidung ihrer Motilität und Unterwerfung unter die Bedeutung. Die Zurücknahme der Gestik in die Haltung wird zur Voraussetzung für die Verinnerlichung des Sinns. Das Konzept der Verkörperung des Sinns beruht auf der Verinnerlichung der gewaltsamen Reduktion. ,Natürliche‘ Haltung und ‚natürlicher‘ Ausdruck, die Lichtenbergs und Chodowieckis Blätter vorführen, formen in nuce die ‚natürliche Gestalt‘, als die der bürgerliche Schauspieler im 18. Jahrhundert auf der Bühne erscheint. Dass die verinnerlichte Gewalt des Sinns im Körper nicht sichtbar wird, sondern als natürlicher Selbstausdruck der körperlichen Gestalt erscheint, dass diese überdies durch das Begehren der Unschuld erotisch aufgeladen ist, macht diese Gestalt der natürlichen Darstellung zum Phantasma. Lichtenbergs Kommentar und Chodowieckis Blätter, wiewohl nur auf die natürliche ‚Aufführung‘ im Leben bezogen, halten den Geburtsakt der ‚natürlichen Gestalt‘ der bürgerlichen Schauspielkunst fest.

L ITERATUR Brookner, Anita: Greuze. The Rise and Fall of an Eighteenth-Century Phenomenon, London: Greenwich 1972. Chodowiecki, Daniel/Lichtenberg, Georg Christoph: „Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens“, in: dies., Der Fortgang der Tugend und des Lasters, hg. von Ingrid Sommer, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1975.

19 Ebd., S. 36. Damit ganz klar wird, wessen Umgangsformen hier sklavisch nachgeahmt werden, schließt Lichtenberg den Kommentar: „In dem Schnitt der Hecke dieses Paradieses hat uns der Künstler eben dieselbe schöne Natur dargestellt, die dessen Bewohner belebt, sprächen sie nun noch über das ein gebrochenes Französisch, so wäre die Szene vollkommen modern.“ Ebd., S. 37.

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D’Alembert, Jean-Baptiste le Ronde: „Genève“, in: Denis Diderot/Jean le Rond d’Alembert (Hg.), Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, […], Band 7, Paris: Briason u.a. 1757. Diderot, Denis: Aus dem „Salon von 1765“, Nr. 110, in: Friedrich Bassenge (Hg.), Ästhetische Schriften, Band I, Berlin: Das europäische Buch 1984. Fried, Michael: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago: University of California Press 1980. Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Stroemfeld Verlag 2000. Rousseau, Jean-Jacques: „Brief an d’Alembert“, in: Jean-Jacques Rousseau. Schriften, hg. von Henning Ritter, 2 Bände, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995. Rousseau, Jean-Jacques: „Pygmalion“, in: ders., Œuvres complètes, hg. von Bernard Gagnebin/Marcel Ramond, Paris: Gallimard 1959–1995, Band 2 (1964).

Stimmen der Unschuld Kastratengesang im Kontext von Kindheit und Pädagogik H ANS G EORG N ICKLAUS

Am 18. Oktober 1770 schreibt Charles Burney in Neapel in sein berühmtes, viel zitiertes Tagebuch: „In Ansehung der vorläufigen Proben der Stimme glaube ich, dass diese grausame Operation nur zu oft ohne Probe oder wenigstens ohne hinlängliche Beweise geschieht, dass die Stimme dadurch besser werden könne; sonst würde man gewiss nicht in jeder italienischen Stadt eine solche Menge Verschnittener finden, die gar keine Stimme oder doch keine so gute haben, die einen solchen Verlust ersetzen könnte.“ 1

Der englische Musikhistoriker und Komponist bringt hier auf den Punkt, was auch etliche andere Quellen aus dem Italien des 18. Jahrhunderts nahe legen: sein Besuch der berühmten Konservatorien Neapels lässt in ihm die Vermutung aufkommen, dass sich die Praxis des Kastrierens junger Knaben im Dienste einer Kultivierung des Gesangs von der vorgeblichen und möglicherweise auch ursprünglichen Absicht einer Erhaltung hoher, begabter Knabenstimmen verselbständigt hatte. Es wurde kastriert, ohne die Stimme des betroffenen Knaben vorher auch nur geprüft zu haben! Franz Haböck zitiert aus Johann Jacob Volkmanns Historische-kritische Nachrichten aus Italien (1777/78) eine Passage, die ähnlichen Zweifel an der Effektivität der Kastration zum Ausdruck bringt: „Man

1

Burney, Charles: Tagebuch einer musikalischen Reise, Wilhelmshafen: Florian Noetzel Verlag 1980, S. 166 (Nachdruck der Ausgabe Hamburg: Bode 1772, aus dem Englischen von C. D. Ebeling).

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behauptet, daß von hundert kaum einer geräth, und eine recht schöne Stimme bekommt.“ 2 Dieser bemerkenswerte Umstand wirft die Frage auf, ob die Gründe des Kastrierens ‚im Diensteʻ der hohen Knabenstimme wirklich allein musikästhetischer Natur waren. Waren die Motive hier allein praktischer Natur, zum Erhalt der hohen Stimme und Verwirklichung eines Klangideals? Die Musik der Kastraten ist eng verbunden mit den so genannten Konservatorien (ehemals Waisenhäuser, später und schon zur Zeit Burneys Musikschulen bzw. -internate) und dadurch mit einer pädagogischen Dimension, die den Umgang mit Kindheit, Jugend, Männlichkeit und Fruchtbarkeit intensiv betrifft. Die Praxis der ‚Gesangskastrationʻ wurde allseits geleugnet oder verschwiegen, weil sie verboten war. Berühmt und viel zitiert sind jene Passagen aus Burneys Tagebuch, in denen er sich nach dem Ort, an dem die Knaben kastriert würden, erkundigt: „Neapel, 18. Oktober: [...] „Zu Mailand sagte man mir, es geschehe zu Bologna; zu Bologna leugnete man es und wies mich nach Florenz, von Florenz nach Rom und von da nach Neapel.“ 3 Verbot, Verleugnung, Praxis und später Verurteilung des Kastrierens zum Zwecke des Erhalts der hohen Knabenstimme ist in der musikwissenschaftlichen Literatur, vor allem in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ausführlich dargelegt worden. Einer der ersten, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, war der oben bereits erwähnte Franz Haböck, Musikpädagoge und Professor für Gesang an der Wiener Musik-Akademie Anfang des 20. Jahrhunderts. Viele spätere Veröffentlichungen nutzen die zahlreichen Quellen und Informationen in seinem Buch Die Kastraten und ihre Gesangskunst aus dem Jahr 1927. Dass die Kastration im Rahmen der Gesangsausbildung kein genuin kirchengeschichtliches Phänomen und ‚Problemʻ ist, sondern stark in musik- und klangästhetischen Idealen verwurzelt ist, haben vor allem die neueren Publikationen zum Thema Kastraten herausgearbeitet, am umfangreichsten Corinna Herrs Gesang gegen die ‚Ordnung der Naturʻ? Kastraten und Falsettisten in der Musikgeschichte (2. rev. Auflage 2013). Obwohl das Phänomen der Gesangs-Kastraten gerade in den vergangenen Jahren ausführlich erforscht und besprochen wurde, ist die pädagogische Dimension dieses Themas, sein Zusammenhang mit der Geschichte der Kindheitsideale

2

Haböck, Franz: Die Kastraten und ihre Gesangskunst, Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1927, S. 240. Haböck verweist auf den 3. Band aus Volkmanns „Nachrichten“ (= Johann Jacob Volkmann: Historische-kritischen Nachrichten von Italien, Leipzig: Caspar Fritsch 1777–78, Reprint Hildesheim: Olms 2011), S. 168.

3

Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise, S. 165.

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und Kindererziehung bisher nur wenig beleuchtet worden. Es waren nicht nur Klangideale, die im Kastraten verwirklicht sein sollten, sondern ebenso Ideale von Kindheit oder Kindsein. Neben das Ideal von der hohen virtuosen Stimme gesellte sich das des unschuldigen Kindes. Dieser These scheinen zwar die unzähligen Anekdoten über Kastraten als potente Liebhaber zu widersprechen, bei genauerer Betrachtung jedoch werden sich die Widersprüche auflösen. Im folgenden soll gezeigt werden, dass neben den Regeln der Kirchenmusik und den Idealen der Klangästhetik auch die Geschichte der Pädagogik ideologischen und tatkräftigen Anteil am Kastratenwesen hat, dass sogar ohne sie jenes (aus heutiger und teilweise auch damaliger Sicht) unrühmliche Kapitel der Musikgeschichte nicht hätte geschrieben werden können.

I. S OPRANO

NATURALE VERSUS

F ALSETT

Zunächst seien die für unsere These wichtigen historischen Fakten bzw. Indizien und Schlussfolgerungen zusammengefasst, unter Verwendung einiger Quellentexte und der Darlegungen aus der neueren Sekundärliteratur. Für den kirchlichen Kontext scheint die Notwendigkeit hoher Knabenstimmen leicht erklärbar: Frauen war die Teilnahme am Kirchengesang bekanntlich untersagt, der Lobpreis Gottes durfte nur von Knaben oder Falsettisten bzw. später Kastraten ausgeführt werden (was vor allem für die päpstliche Kapelle im 16. Jahrhundert belegt ist), da dieser Lobpreis im Gesang mit dem der Engel gleichgesetzt wurde, deren Stimmen als ‚hellʻ und geschlechtslos beschrieben wurden. Corinna Herr zitiert den 1602 verstorbenen Bendiktiner Robertus Sayrus (nach einem Dokument aus Köln 1620), der ausdrücklich darlegt: „Um die Stimme schöner zu machen, ist es notwendig, die Männlichkeit auszulöschen [supprimer la virilité ...]. Die Soprani sind absolut notwendig, um den Lob Gottes zu singen [...].“ 4

4

Herr, Corinna: Gesang gegen die ‚Ordnung der Naturʻ? Kastraten und Falsettisten in der Musikgeschichte, 2. Auflage, Kassel: Bärenreiter 2013, S. 49. Zitiert nach Barbier, Patrick: „Über die Männlichkeit der Kastraten“, in: Martin Dinges (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten: zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 123–152.

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Auch noch Papst Benedikt XVI. formuliert 2012: „Die Tradition überliefert uns seit jeher, dass die Engel gesungen haben und dass es ein Gesang von himmlischer Schönheit war, der die Herrlichkeit des Himmels enthüllt. Die Tradition ist außerdem davon überzeugt, dass die Stimme der Knabenchöre den Engelsgesang widerhallen lassen.“ 5

Warum aber wurde die religiös-musikalische Forderung nach hohen Männerstimmen nicht durch den Einsatz von Falsettisten befriedigt? Eine virtuose Ausbildung der männlichen Falsettstimme hatte es bereits gegeben, als ab dem späten 16. und im Verlauf des 17. Jahrhunderts in den Kirchen Italiens Falsettisten immer mehr durch Kastraten ersetzt wurden. Was war ‚falschʻ am ‚Falsettʻ? Für die Karriere der Kastraten und des Kastratentums sind zunächst zwei entscheidende Dinge festzuhalten: die Abwertung des Falsett einerseits und die Aufwertung der hohen Stimme andererseits. Letztere wurde nicht nur im kirchlichen Kontext als Stellvertreterin der hohen Engelsstimme gefordert, sondern ab dem späten 16. Jahrhundert auch als virtuoses Instrument im weltlichen Kontext, also im Rahmen von (fürstlichen) Konzerten und bald schon in der Oper. Franz Haböck berichtet von der immer wiederkehrenden Not eines Mangels an Sängerknaben in den kirchlichen Chören schon des fünften nachchristlichen Jahrhunderts. Dieses alte Problem wurde aber – trotz bestehenden Frauenverbots in den Kirchenchören – nicht durch die Kastration junger Knaben gelöst, sondern durch den Einsatz „männlicher Fistulanten“, also Falsettisten. 6 „Bis gegen das Ende des 16. Jahrhunderts hatte die päpstliche Kapelle ihren Bedarf an Sopranen vorwiegend mit spanischen Falsettisten gedeckt.“ 7

Um 1600 waren in der Capella papale Kastraten etabliert und sangen neben Falsettisten und Knaben. Ab wann Falsettisten mit Kastraten vermischt wurden, bleibt ungewiss, ebenso die Anzahl und vor allem der Grund ihres Einsatzes. 8 Denn die Fähigkeiten der Falsettisten, virtuos dieselbe Stimmhöhe zu erreichen, belegen nicht nur Falsettisten des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, sondern auch schon historische Dokumente. Allerdings wurde auffällig häufig betont,

5

Zitiert nach Herr: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur’?, S. 71.

6

Vgl. Haböck: Die Kastraten und ihre Gesangskunst, S. 144–146.

7

Ebd. S. 159.

8

Herr: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur’?, S. 51f. und 57.

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dass das Timbre der Kastraten ein anderes sei. Corinna Herr zeichnet ausführlich die Diskussionen nach, die um 1600 vor allem bei Geistlichen und Kirchenmusikern zu finden sind und die Unterschiede zwischen ‚Falsettʻ, Knabensopran und Kastrat eingehend erörtern. So etwa der Franziskaner Ludovico Viadana, Chorleiter an verschiedenen Kathedralen in Norditalien, der 1602 von Falsettisten und von Knabensopranen als so genannten „soprani naturali“ berichtet, oder der Gelehrte und Forschungsreisende Pietro della Valle, der ab 1626 in Rom das Musikleben beeinflusst, und sich in einer Schrift von 1640 klar für die Überlegenheit der Kastraten gegenüber den Falsettisten äußerst. Bemerkenswert ist seine Bezeichnung der Kastratenstimmen als „soprani naturali“ gegenüber den „falsetti“ und sein Verweis auf die große Menge von Kastratensopranen, die es inzwischen gäbe: „[...] per dire un poco de’ soprani, che sono il maggiore ornamento della musica, V. S. vuol paragonare i falsetti dei quei tempi co’ i soprani naturali de’ castrati che ora abbiamo in tanta abbondanza [...]. I soprani di oggi, persone di giudizio, di età, di sentimento e di perizia nell’arte esquisita cantano le loro cose con grazia, con gusto, con vero garbo; vestendosi degli affetti rapiscono a sentirli.“ 9

Mit „Anmut, gutem Geschmack und einer bezaubernden Kunst der Affekte“ seien diese Kastraten ausgestattet, die überdies „Personen mit Verständnis, Reife und Sachverstand“ seien. Mit letzterem scheint Pietro wohl die Überlegenheit der Kastraten gegenüber den Knaben besiegeln zu wollen. Ähnliches findet sich auch gut hundert Jahre später bei Matteo Fornari, einem der ersten Autoren über die Geschichte der Päpstlichen Kapelle, deren Mitglied er selbst war. 10 Fornari lässt seine Leser in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwar fälschlicherweise in dem Glauben, dass die päpstliche Kapelle ihre hohen Stimmen ausschließlich mit Falsettisten besetzt hätte, bis 1598 Papst Sixtus V. die Verwendung von Kastraten ausdrücklich erlaubte, äußert sich aber ebenfalls positiv über die Kastratenstimmen, die gegenüber dem Falsett „natürlicher und echter“ („piu naturale, e sincera“) seien. 11 Zu bedenken ist hierbei, dass Fornari, Freund und Schüler Corellis,

9

Pietro della Valle: Della musica dell’età nostra [...] (1640). Zitiert nach ebd., S. 44.

10 Narrazione istorica [...] della Pontificia Cappella [...] formato da Matteo Fornari ... 1749. Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cappella Sistina 606. Abdruck in: Celani, Enrico: I Cantori della Capella Pontificia ne secoli XVI–XVIII, in: Rivista Musicale Italiana XIV, 1907, S. 83–90. 11 Herr: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur’?, S. 53. Herr entnimmt diese Passage Helmut Hucke: Die Besetzung von Sopran und Alt in der sixtinischen Kapelle, in:

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in einer Zeit lebte, in der die Kastraten bereits seit hundert Jahren auf den Opernbühnen glanzvolle Karrieren feierten, sein Urteil daher also nicht mehr nur auf den oben erwähnten Engelsgesang in den Kirchen bezogen war. Über den Klang der Kastratenstimmen im Unterschied zum Klang der Falsettisten oder Knabenstimmen gibt es sehr unterschiedliche Meinungen, wobei methodisch hier zu bedenken ist, dass jede Meinungsäußerung, die als schriftliches Dokument überliefert ist, immer vor dem Hintergrund einer eigentlich verbotenen oder zumindest verpönten Praxis geschieht. Der Zweck einer öffentlichen oder schriftlich dokumentierten Stellungnahme zum Kastratengesang ist also möglicherweise auch Rechtfertigung oder Anklage. Eine Mischung aus beidem ist wohl das Beispiel eines englischen Reisenden namens Thomas Coryat, den Corinna Herr anführt 12, und der 1610 in Venedig die hohe Stimme eines Sängers bewundert, die so „supernaturall“ gewesen sei, mit derartig süßem Klang, ohne dabei aber angestrengt zu wirken, dass er dachte einen Eunuchen zu hören. Dass es aber kein Kastrat, sondern ein Mann mittleren Alters mit hoher Stimme war, das – so betont Coryat – errege in ihm größte Bewunderung, denn gewöhnlich verfügen nur Kastraten über eine solche Stimme. „I alwaies thought that he was an Eunuch, which if he had beene, it had taken away some part of my admiration, because they do most comonly sing most passing wel; but he was not, therefore it was much the more admirable.“ 13

Das Dokument belegt einerseits die Existenz von virtuosen Falsettisten bis ins 17. Jahrhundert hinein (etliche andere wären zu nennen 14), andererseits liefert es indirekt eine klangästhetische Rechtfertigung der Kastraten, denn Coryat suggeriert, dass bei Kastraten eine solche Qualität der Stimme ganz normal bzw. nichts bewundernswertes sei. Doch Dokumente dieser Art müssen mit Rücksicht auf den Kontext ihres Erscheinens und die Position des Verfassers gelesen werden. Die Reiseberichte von Coryat (oder auch Coryate) aus ganz Europa und später auch Asien waren in seiner Heimat äußerst populär. Coryat schreibt für

Miscelánea en homenaje a Monseñor Higinio Anglés, Band I, Barcelona 1958–61, S. 388, Anm. 38. 12 Ebd. S. 54. 13 Coryatʼs Crudities: Hastily Gobbled up in Five Months Travells in France, Savoy, Italy…, London: W. Standby 1611, S. 252.(https://archive.org/details/coryats crudities00cory_0 / 28.5.2018) 14 Zu Falsettisten und Altisten im 17. Jahrhundert vgl. Herr: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur’?, S. 53–60.

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eine englische Leserschaft, einer von kolonialistischer Neugier geprägten höheren Bildungsschicht, für die singende Eunuchen eine exotische Kuriosität gewesen sein müssen, weit interessanter als falsettierende Männer. Die bekannte Neugier der englischen höheren Gesellschaft an importierter Exotik sollte sich Händel hundert Jahre später zunutze machen, mit dem Import der italienischen Opera seria inclusive der berühmtesten Kastraten an das Londoner King’s Theatre. Coryates Leserschaft hat den Klang einer Kastratenstimme nicht gekannt. Aber die Faszination gegenüber dieser angeblich so kräftigen hohen Männerstimme hat Coryate als Diskurs, als Thema ästhetischer Reflexion, vorzeitig in seine Heimat importiert – noch bevor der Klang der Kastratenstimmen von einem breiten Publikum gehört werden konnte. Was aber entfachte diese Faszination an der hohen Männerstimme, auch wenn sie „nur“ aus der Kehle eines Falsettisten kommt? Die Fachdiskurse um die Ästhetik der hohen Männerstimme beziehen sich sehr häufig auf das Problem des Registerwechsels. Vor allem in Frankreich – was hier nur erwähnt sei – entspinnt sich um 1700 eine rege Diskussion um den Haute-contre, den französischen hohen Tenor, im Unterschied zum Falsettisten und Kastraten. Die Diskussion ist äußerst vielschichtig und komplex, da die Konkurrenz und Polemik zwischen italienischer und französischer Musik hier hinein spielt und zudem der Begriff ‚Falsettʻ unterschiedlich verwendet wird. Nach Meinung mancher Autoren würden Sanftheit, Flexibilität und Höhe der Stimmen vom Haute-contre besser erreicht als von Kastraten, vor allem dann, wenn sie die Rolle des Liebhabers darzustellen haben. 15 Der Registerwechsel von Brust- zur Kopfstimme wird ebenfalls unterschiedlich bewertet: für die einen ein Problem, dass es gesangstechnisch auszugleichen gilt, für die anderen (vor allem französische Autoren) ein willkommener und „natürlicher“ Wechsel der Klangfarbe bzw. eine Mannigfaltigkeit des Stimmenklangs. Halten wir an dieser Stelle aus den Diskussionen in Frankreich nur fest, dass neben dem selbstverständlichen Einsatz hoher Männerstimmen durch den Haute-contre oder Falsettisten 16, sowie im kirchlichen Bereich auch durch Kastraten, nicht nur moralisch, sondern gesangsästhetisch die Kastratenstimmen äußerst umstritten waren. Aber Frankreich war auch nicht das Land, in dem das Kastrieren zum Erhalt der hohen Stimme verbreitet war, sondern Italien. Hier finden sich in Pier Francesco Tosis berühmten Opinioni de’ cantori [...] (erschienen erstmals in Bologna 1723), die Johann Friedrich Agricola 1757 als Anleitung zur Singkunst ins Deutsche übersetzt und mit ausführlichen Kommentaren herausgegeben hat, interes-

15 Vgl. ebd. S. 247. 16 Ebd. 234f.

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sante Bemerkungen zum Registerwechsel bzw. zum Falsettieren der Männerstimme. Zunächst sei angemerkt, dass der Kastrat Tosi in seinem gesamten Werk nicht ein einziges Mal das Wort „Kastrat“ verwendet, geschweige denn sich dem Problem der Erhaltung der Sopranstimme bei Knaben widmet. Er spricht jedoch ganz selbstverständlich von Sopranen bzw. der Sopranlage und meint damit die männliche Stimme 17, bei der das Falsett auszubilden sei. Insofern Tosi ausdrücklich von den Methoden des „Sangmeisters“ gegenüber seinem „Schüler“ spricht, ist davon auszugehen, dass hier stets der Sopran eines Knaben gemeint ist, der – so stellt Tosi fest – ohne Ausbildung der Kopfstimme für die Höhe des „Falsetts“ nur einen sehr eingeschränkten, „engen Umfange“ habe: „Viele Meister lassen ihre Schüler den Alt singen, weil sie bey ihnen das Falsett nicht zu finden wissen, oder die Mühe scheuen es zu suchen. Ein fleißiger Unterweiser, weil er weis, daß ein Sopran, ohne Falsett, genöthiget ist in dem engen Umfange nur wenige Töne zu singen; so suchet er nicht allein ihm das Falsett zu verschaffen, sondern er lässt auch nichts unversuchet, damit dasselbe mit der natürlichen Stimme auf eine solche Art vereiniget werde, dass man eins vom andern nicht unterscheiden könne. Denn wenn diese Vereinigung nicht vollkommen ist: so hat die Stimme [...] verschiedene Register, und verliert folglich ihre Schönheit.“ 18

Offensichtlich verwendet Tosi den Begriff „Falsett“, um die Fähigkeit einer Knabenstimme zu beschreiben, durch den Gebrauch der Kopfstimme eine Sopranlage zu erreichen. Demnach verwenden auch Kastraten das Falsett. Auch Tosis Unterweisungen beantworten also nicht die Frage nach der Notwendigkeit der „Gesangskastration“. Einerseits werden die Knaben im Falsett ausgebildet – eine Fähigkeit, die ihnen ja nach dem Stimmbruch nicht abhanden kommt und sie weiterhin befähigt, in hoher Stimmlage zu singen –, andererseits mag der als unschön gebrandmarkte Registerwechsel zwischen Brust- und Kopfstimme oder Alt/Tenor und Sopran beim Kastraten klanglich homogener gelingen. Eine solche immer wieder behauptete Fähigkeit von Kastraten wird in Tosis Gesangsschule – die wie gesagt generell das Thema „Kastraten“ verschweigt – nirgends erwähnt.

17 Herr bemerkt: „Frauenstimmen werden bei Tosi immer gesondert und eher als Ausnahmen behandelt.“ Ebd., S. 119. 18 Tosi, Pier Francesco: Opinioni de’ cantori antichi e moderni o sieno Osservazioni sopra il canto figurato, Bologna 1723; deutsche Ausgabe, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Johann Friedrich Agricola: Anleitung zur Singkunst, Berlin: George Ludewig Winter 1757, Neudruck Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1994, S. 21.

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Blickt man ausschließlich auf gesangsästhetische Gründe, erscheint die Menge der verschnittenen jungen Knaben rätselhaft. Sollte der bedenkenlosere Umgang mit dem Körper eines Kindes, mit dem – nicht zuletzt aus Profitgier der Eltern – leichtfertig und willkürlich verfahren und experimentiert wurde, des Rätsels Lösung liefern? Das wirft allerdings die Frage auf, welche Auffassung von Kindheit, welches Bild vom Kind und Kindskörper, vor allem bezogen auf Geschlechtsteile und -reife, das wahllose Kastrieren junger Knaben ermöglichte und rechtfertigte.

II. K ONSERVATORIEN Hohe Stimmen kamen an den Höfen Norditaliens Ende des 17. Jahrhunderts in Mode. Zunächst waren es hohe Frauenstimmen. 1580 bereits entstanden am Hof von Ferrara die ‚concerti delle donneʻ, ein Zyklus von Konzerten, den man heute vermutlich ‚Konzertreiheʻ nennen würde: Herzog Alfonso d’Este ließ für seine im Jahr zuvor geheiratete Frau Margharita Gonzaga, die Schwester des Herzogs von Mantua, allabendliche Konzerte in kleinem höfischen Kreise veranstalten, bei denen mehrstimmige Frauengesänge, begleitet von Laute oder Cembalo, aufgeführt wurden. Die Sängerinnen waren gut ausgebildete Expertinnen für den hohen Gesang: Laura Peperara, Livia d’Arco, Anna Guarini und Tarquinia Molza. Der mit Ferrara nun verwandtschaftlich verbundene Hof der Gonzaga in Mantua kopierte diese neue Mode der Frauenkonzerte und gründete ein ‚Konkurrenzensembleʻ. So entstand am Ende des 16. Jahrhunderts für ca. 20 Jahre zwischen diesen beiden Höfen ein Wettbewerb des kunstvollen, mehrstimmigen Frauengesangs. Man schwärmte von der Virtuosität der hohen Frauenstimmen ebenso, wie wenig später vom Gesang der Kastraten. „Die Damen von Mantua und Ferrara waren überaus gewandt und suchten sich nicht nur im Hinblick auf Klangfarbe und Schulung der Stimme gegenseitig zu übertreffen, sondern auch in der Gestaltung herrlicher Verzierungen, die sie an den geeigneten Stellen, doch ohne Übertreibung, zum Vortrag brachten. Des weiteren ließen sie ihre Stimmen an- und abschwellen, ließen sie laut oder leise, dunkel oder hell werden, gerade so, wie es das Stück, das sie sangen, verlangte; [...]“ 19

19 Giustiniani, Vincenzo: „Il discorso sopra la musica“ (1628), in: Musicological Studies and Documents 9, übers. von Carol MacClintock, American Institute of Musicology, Rom 1962; zitiert hier aus einem Vortragstext von Susan McClary (s. Fußnote 21). Zu

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Die Nachricht von den Konzerten in Ferrara und Mantua und die Euphorie, die durch die Virtuosität der hohen Frauenstimmen ausgelöst wurde, verbreitete sich in ganz Italien. Der Musikhistoriker Lorenzo Bianconi spricht gar vom „Nec plus ultra des höfischen Lebensstils im Italien des 16. Jahrhunderts“. 20 Die US-amerikanische Musikwissenschaftlerin Susan McClary hat die ‚Concerti delle donneʻ als Beleg für ein Verlangen nach hohen Stimmen („appetite for high voices“) in dieser Phase der italienischen Musikgeschichte geltend gemacht – ein Verlangen, das in der Folge den Kastratengesang initiiert hätte. 21 Entscheidend für McClarys Argumentation ist, dass mit dieser Ästhetik der hohen Stimme eine Abtrennung der Stimme vom männlichen oder weiblichen Körper stattfindet. Als „Fetischisierung der Stimme“ benennt sie jenen Prozess, der zum Kastratengesang geführt hat und verweist damit auf den Umstand, dass die Stimme hier nicht im Hinblick auf ihren Sitz in einem männlichen oder weiblichen Körper ästhetisiert werde. Sie wird nach McClary überhaupt nicht als Körperteil, in dem sich ein ‚Körperganzesʻ reflektiert (als Mann, Frau, Mensch, Lebewesen oder dergleichen) begriffen, sondern – entsprechend dem Vorgang einer Fetischisierung – abgetrennt. „‚La Voceʻ wurde zum größten Fetischobjekt“, insofern die Stimme der Knaben wie ein „Rohstoff“ behandelt wurde, „Kieselsteine, die zu Diamanten geschliffen werden sollten“. 22 McClary versteht Fetischisierung im Sinne einer Verdinglichung, d. h. einer Abtrennung der Stimme als Ware am Markt des Opern- und Kirchengesangs. Diese Abtrennung sei nötig, um der Virtuosität der hohen Kastratenstimmen männliche Kraft zuzuschreiben (jenes Element des „vir“, das im Wort „Virtuosität“ steckt). Somit war die Verstümmlung des Körpers der Kastraten kein Widerspruch zu ihrem Einsatz auf den Opernbühnen als potente Könige und Feldherren.

den ‚Concerti delle donne‘ vgl. auch: Newcomb, Anthony: The Madrigal at Ferrara, 1579–1597, 2 Bände, Princeton University Press 1980. 20 Bianconi, Lorenzo: Kommentar im Booklet zur CD ‚concerto delle dameʻ, Harmonia Mundi HMC 1901136, 1984. 21 McClary, Susan: „Fetisch Stimme: Professionelle Sänger im Italien der frühen Neuzeit“, in: Friedrich Kittler / Thomas Macho / Sigrid Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Medien- und Kulturgeschichte der Stimme, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 199–214. – Der Text ist die überarbeitete und ins Deutsche übersetzte Fassung eines Vortrags von Susan McClary, den sie 1999 am Einstein Forum in Potsdam im Rahmen des Symposions „Zur Medien- und Kulturgeschichte der Stimme“ mit dem Titel „Fetishizing the Voice: Professional Singers in Early Modern Italy“ gehalten hat. 22 Ebd. S. 214.

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McClary möchte ausdrücklich die Gesangskastration von der symbolischen Bedeutung einer „Entmannung“ oder (wie im Freud’schen Sinne) einer Schwächung des Ichs trennen, um eine „kulturelle Praxis“ 23 besser zu verstehen. Dennoch bleibt auch bei diesen ästhetikgeschichtlichen Erörterungen die Frage ungeklärt, warum nicht ausschließlich Falsettisten oder Frauen für hohe Gesangspartien eingesetzt wurden, da das Kastrieren damals bereits verurteilt wurde und gerade die von McClary geltend gemachte Fetischisierung der Stimme (ihre vom Gesamtkörper abgetrennte Wahrnehmung) diese Möglichkeit nahe legen würde. Tatsächlich finden wir ja auch alle möglichen Varianten des Einsatzes von hohen Stimmen durch männliche oder weibliche Körper, durch Falsettisten, Kastraten oder den Haute-Contre. Die große Anzahl verschnittener Knaben wird gerade vor dem Hintergrund der Fetischisierung der Stimme fragwürdig. Auch Susan McClary gelingt mit der bewussten Ausklammerung einer auf Geschlecht und Sexualität abzielenden Erklärung keine hinreichende Erklärung für diese „kulturelle Praxis“. Sie erklärt das Verlangen nach hohen Stimmen, aber nicht das Verlangen nach Kastraten. Zurecht möchte sie ein voreiliges und historisch uninformiertes Verständnis der Kastraten als Travestie, als Lust an der Vertauschung von Männerrollen und Frauenkörper bzw. als Spiel sexueller Zuschreibungen zurückweisen. Möglicherweise übersieht sie dabei aber eine ganz andere, auch in sexueller Hinsicht bedeutsame Wurzel des Kastratenwesens. Eher beiläufig erwähnt sie die pädagogische Dimension des Kastratengesangs: „Obwohl wir keine operativen Eingriffe mehr vornehmen, um die Stimme, die wir uns wünschen, hervorzubringen, leiten sich unsere Modelle der Musikpädagogik doch von dem sorgfältigen Training weitgehend passiver Sänger durch tonangebende Lehrer am Hof von Ferrara her und von Konservatorien, eingerichtet für die Massenproduktion von Kastratensängern.“ 24

Charles Burney wundert sich auf seiner Reise durch Italien immer wieder über die durchschnittlich schlechte Qualität der Sänger und Chöre, trotz der berühmten italienischen Gesangsschulen, Pädagogen und Konservatorien. In den Neapolitanischen Konservatorien – die ältesten dieser Gattung – findet Burney 1770 chaotische Zustände vor. Die Konservatorien Neapels, ursprünglich Waisenhäu-

23 „Wenn man fortfährt, den Kastraten in Freudschen Begriffen zu lesen, verhindert man jegliches Verständnis einer kulturellen Praxis, die in der europäischen Musik fast zweihundert Jahre vorherrschte.“ Ebd., S. 210. 24 Ebd., S. 214.

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ser, hatten sich inzwischen zu Musikinternaten entwickelt. Für das Konservatorium Santo Onofrio schätzt Burney die Zahl der Schüler auf 90, darunter sechzehn Kastraten, die – „aus Furcht sich zu erkälten“ – in den wärmeren, oberen Zimmern untergebracht sind. 25 Burneys Schilderungen fallen allerdings schon in die Zeit des Niedergangs des Kastratengesangs und vor allem der großen Polemik gegen die hohen Männerstimmen. Ein Blick zu den Anfängen jener Konservatorien, in denen die Ausbildung der Kastraten stattfand, verrät mehr über den pädagogischen ‚Wertʻ dieser Knaben. Franz Haböck stellt in seinem Grundlagenwerk zur Geschichte der Kastraten bereits fest: „Die Musikschulen, die den Namen Konservatorien dadurch erhielten, daß sie anfänglich mit Hospizien und Waisenhäusern verbunden waren, wo man Kinder ‚aufbewahrteʻ (= conservare), wurden zumeist durch private Spenden und fromme Stiftungen begründet und unterhalten; musikalisch begabte Zöglinge erhielten in ihnen sowohl Unterhalt als auch Ausbildung, und zwar gab es Anstalten sowohl für Knaben als auch für Mädchen.“ 26

Die ‚eingesammeltenʻ Waisenkinder wurden zunächst alle in Musik, Religion und Italienisch unterrichtet. Es finden sich also zunächst alle möglichen und keinesfalls nur musikalisch begabte Kinder in den Konservatorien, in denen sich erst später musikalische Abteilungen bildeten, bis sie dann regelrechte Musikinternate wurden. 1869 publizierte Francesco Florimo in Neapel seinen Cenno storico sulla scuola musicale di Napoli, der zunächst in zwei Bänden, 1880 dann etwas erweitert in drei Bänden mit dem Zusatz e i suoi conservatorii erschien. Für die hier aufgeworfene Frage nach der pädagogikgeschichtlichen Dimension des Kastratentums liefert Florimos Darstellung die ausführlichsten Informationen. 27 Der Autor war im frühen 19. Jahrhundert selbst mit bereits 15 Jahren Mit-

25 Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise, S. 178. 26 Franz Haböck: Die Kastraten und ihre Gesangskunst, S. 315. 27 Zitate aus Florimos Werk stammen im Folgenden aus der ersten Ausgabe von 1869, die in der Beschreibung der Konservatorien, ihrer gesangspädagogischen Methoden und ihrer berühmten Kastraten, mit der späteren Ausgabe übereinstimmt. Francesco Florimo: Cenno storico sulla scuola musicale di Napoli, 2 Bände, Neapel: Lorenzo Rocco 1869. – La scuola musicale di Napoli e i suoi conservatori. 4 Bände, Neapel 1880–82. Online: https://archive.org/details/bub_gb_mhM4pqc0GPYC. Als weitere Grundlagenwerke zu den neapolitanischen Konservatorien seien erwähnt: Giacomo, Salvatore di: I quattro antichi conservatorii musicali di Napoli, 2 Bände., Milan: Remo Sandron 1924–1928; Hucke, Helmut: „Verfassung und Entwicklung der alten neapoli-

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glied des Conservatorio di San Pietro a Majella, das 1808 als Zusammenlegung der traditionellen Konservatorien Neapels gegründet wurde. Er war später dort als Archivar, Lehrer für Gesangstechnik und Leiter der Vokalkonzerte beschäftigt. Florimo – der sich in seinem Werk mehrmals als glühender Verehrer der alten Pädagogik, wie sie in den Konservatorien Neapels einmal praktiziert wurde, zu erkennen gibt – zählt minutiös sämtliche Lehrer sowie berühmte Schüler dieser Waisenhäuser und späteren Musikschulen auf. Bei den Lebensläufen der großen Kastraten wird die Kastration als grausamer Eingriff erwähnt, den meistens die Eltern verfügt hätten und der später dem heranwachsenden Jüngling als Folge eines Unfalls oder einer Krankheit erklärt worden wäre. Vier solcher Konservatorien wurden bereits im 16. Jahrhundert in Neapel gegründet. Die Umstände ihrer Gründung weisen neben karitativen vor allem sozialpolitische Motive auf. Überdies waren es – wie Florimo informiert – keine kirchlichen Institutionen, gleichwohl sie teilweise von Geistlichen geleitet wurden. Zur Übersicht: 1.

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das Conservatorio di Santa Maria di Loreto, das 1535 von einem Handwerker unbekannter Herkunft namens Francesco gegründet wurde. Ihm schloss sich der spanische Priester Giovanni Tapia an; 28 das Conservatorio di Santo Onofrio a Capuana, dessen Gründungsjahr laut Florimo unbekannt ist, das jedoch das zweitälteste Konservatorium Neapels gewesen sein soll; 29 das Conservatorio deʼ Poveri di Gesù Cristo, das 1589 vom Franziskaner Marcello Foscataro gegründet wurde. 1744 löste es der Erzbischof von Neapel, Kardinal Giuseppe Spinelli dei marchesi di Fuscaldo wieder auf. Die Schüler wurden auf die anderen Konservatorien aufgeteilt; 30 das gegen Ende des 16. Jahrhunderts gegründete Conservatorio della Pietà dei Turchini. 31

tanischen Konservatorien“, in: Lothar Hoffmann-Erbrecht/Helmut Hucke (Hg.), Festschrift Helmuth Osthoff zum 65. Geburtstag, Tutzing: Schneider 1961, S. 139–154. 28 Florimo: Cenno storico sulla scuola musicale di Napoli, Band I, Kap. 3, S. 36ff. 29 Ebd., Kap. 2, S. 31ff. 30 Ebd. Kap. 1, S. 24ff. 31 Ebd. Kap. 4, S. 43ff.

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Sieben- bis elfjährige Kinder wurden im Conservatorio deʼ Poveri di Gesù Cristo von Marcello Foscataro aufgenommen. Zwei Lehrer unterrichteten bis zu hundert Schüler – der eine in Italienisch, der andere in Musik. „Die Mittel dafür wurden durch private Wohltätigkeit aufgebracht“, betont Florimo, der insgesamt für die vier Konservatorien Neapels feststellt, dass sie „mit Hilfe der Wohltätigkeit der Bürger eingerichtete Stätten waren, die einzig und allein dem Zweck der Aufnahme von verwaisten Straßenkindern dienten“. 32 Um sich die soziale und pädagogische Situation vorzustellen, ist die folgende Bemerkung Florimos nützlich: „Aufgrund der unabänderlichen Bestimmung der obengenannten Konservatorien, nach der Waisenkinder von der Straße und Kinder aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen ohne Rücksicht auf ihr Talent, ihre Musikbegabung und ihr Betragen aufgenommen werden mussten, um dem Zweck ihrer Gründung Genüge zu leisten, hatte man es ständig mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Individuen zu tun, die großteils guter Erziehung, ausreichenden Talents und des nötigen Kunstverständnisses entbehrten.“ 33

Schon in ihrer Gründungszeit erfuhr das musikalische Studium in diesen Konservatorien eine ausgefeilte pädagogische Methodik, wie sie davor allenfalls in den klösterlichen Gesangsschulen zu finden war. Nach den Darstellungen Florimos und unter Berücksichtigung der Entwicklung dieser Konservatorien zu angesehenen Musikschulen kann man davon ausgehen, dass die pädagogischen Ambitionen dieser Konservatorien im Laufe der Zeit mehr und mehr dem Musikunterricht galten bzw. hier besonders erfolgreich waren und nicht zuletzt auch ökonomisch lukrative ‚Früchteʻ trugen. Florimo schwärmt von den Lehrmethoden, insbesondere von dem „mutuo insegnamento“, dem gegenseitigen Unterrichten der Schüler untereinander. „Jene, die ihre Ausbildung beendet hatten, blieben, um die kleineren Schüler zu unterrichten, sie mussten jedoch die Vorschriften des Instituts nicht mehr befolgen. Darin besteht

32 Ebd. Kap 8, S. 102 33 „Stante lʼinalterabile costituzione dei sopraddetti Conservatorii, per la quale dovevano ammettersi, onde allontanarsi dallo scopo della loro fondazione, gli orfanelli che andavano vagando per la strada ed altri di consimile calibro, senza aversi riguardo al loro talento, allʼinclinazione di ciascheduno alla musica, ed alla loro morale, si veniva a produrre costantemente unʼaccozzaglia dʼindividui per la maggior parte sforniti dʼogni buona educazione, di sufficienti talenti, della necessaria disposizione allʼarte.“ Ebd. Kap. 8, S. 105. (Ins Deutsche übersetzt von Catharina Salas).

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das Prinzip des mutuo insegnamento (gegenseitigen Unterrichts), ein sehr altes System, das in den zwischen 1535 und 1589 gegründeten, obengenannten Konservatorien angewandt wurde und auf das man immer noch zurückgreift, weil es sich für die Kunst als sehr fruchtbringend erwiesen und in hohem Maße dazu beigetragen hat, großartige Lehrer und hochberühmte Professoren hervorzubringen, die seit jeher den Ruhm unseres Landes ausmachen.“ 34

Aus diesen Zeilen wird die pädagogische Begeisterung Florimos und der Ethos jener Konservatorien als pädagogische Anstalten deutlich sichtbar: Es waren keine Waisenhäuser, die lediglich der Versorgung obdachloser Kinder dienten, sondern einem christlich-humanistischen Bildungsideal folgten, dass zwar nur umrisshaft überliefert ist, aber doch dem Unterrichten, mithin der Bildung der Kinder großen Wert beizumessen schien, wobei Sprache und Musik ein wesentliche Rolle spielten. Auch im 18. Jahrhundert, als die Konservatorien mehr und mehr zu Musikschulen oder Musikinternaten geworden waren, für die man eine beträchtliche Gebühr zahlen musste, gab es noch kastrierte Knaben, die hier als Sänger ausgebildet wurden. Das belegt nicht nur Burneys oben zitierter Bericht über das Konservatorium Santo Onofrio, sondern auch die Sitzungsprotokolle des Leiters des Konservatoriums Santa Maria di Loreto in Neapel, die Michael F. Robinson 1972 in The Governor’s Minutes of the Conservatory S. Maria di Loreto ausführlich untersucht und dokumentiert hat. Aus diesen Protokollen geht hervor, dass die „Eunuchen“ besonders sorgsam „bewacht wurden“: essen und schlafen außerhalb des Konservatoriums war ihnen untersagt, ein Verlassen des Hauses nur mit Begleitung einer Aufsichtsperson erlaubt. In der finanziellen Krise des Konservatoriums in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde verfügt, dass keine Schüler aufgenommen werden, die nicht zahlen, mit Ausnahme der Kastraten. Bei der Verfügung 1731, die besagte, dass keiner der Buben vor seiner Entlassung zum Priester geweiht werden darf, wird festgehalten, dass, sofern dies dennoch geschieht, er sofort zu entlassen sei; dies gälte auch für die Eunuchen, auch wenn sie nützlich für das Konservatorium waren („although he was

34 „Quelli que avevano finito il tempo, vi rimanevano ancora per insegnare ai più piccoli, e venivano dispensati dall’osservare le regole dell’instituto: ed ecco il principio del mutuo insegnamento, sistema antichissimo che si praticava nei sopraddetti Conservatorii fondati dal 1535 al 1589, che si pratica tuttavia perché si è sperimentato tanto profittevole per l’arte, e che ha grandemente contribuito a dare sommi maestri e professori chiarissimi che sono stati e sono la gloria del nostro paese.“ Ebd., Band I, Kap. 8, S. 109.

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usefull for the conservatory“). 35 Kastraten waren nicht nur ein wertvolles Gut, es gab offensichtlich auch eine Konkurrenz oder einen Konflikt zwischen Konservatorien und Kirche. Die Bemerkung zur Priesterweihe lässt vermuten, dass die Kirche die Knaben durch die Priesterweihe „abwarben“, jedenfalls der ökonomische Nutzen der kleinen Kastraten für das Konservatorium damit entzogen war. John Roselli betont 1988 in einer sozialgeschichtlichen Studie zu den Kastraten und Konservatorien in Italien um 1700 die ungeheure Menge von Knaben, die nicht nur in Neapel, sondern auch in andere Zentren Italiens, wie Rom und Bologna, ausgebildet wurden. Neben den Konservatorien wurden auch in Chorschulen von Klöstern und Kirchen oder privaten Lehrern zahlreiche Kastraten unterwiesen. „Recent research has shown that castrati were trained in many other institutions, far more than have yet been fully studied (typically orphanages or choir schools attached to important churches, monasteries, or seminaries); many studied privately with individual teachers. Certain cities were important teaching centres – Rome and Bologna as well as Naples – but enough castrati emerged from other parts of Italy to suggest a country-wide practice.“ 36

Die aus dem Boden schießenden Gesangschulen, damals bereits kritisiert wegen ihrer „Kastratenpflege“, bevorzugten und behüteten sorgsam ihre engelsstimmigen Knaben: sie wurden aufgenommen, obwohl sie keine Waisen waren, manchmal wurde gar ihre Aufnahmegebühr reduziert. Sie waren eine so wichtige Einnahmequelle, dass sich bereits Mitte des 17. Jahrhunderts zwei Schulen in Bologna um Kastraten gestritten und Bestechungsgelder an die Kathedralschule gezahlt haben, um Kastraten abzuwerben. „The grounds for this favourable treatment were never explicitly stated, perhaps because they were too obvious. Castrati were deemed essential to the religious functions on which the conservatorii came increasingly to rely as a source of income. But they were also valued for themselves: thus in the mid seventeenth century two other famous schools, this time in Bologna, competed for them, with the cathedral school trying to poach ‚putti soprani‘ from San Petronio by offering them bribes.“ 37

35 Robinson, Michael F.: „The Governor’s Minutes of the Conservatory S. Maria di Loreto, Naples“, in: R.M.A. Research Chronicle, Nr. 10, 1972, S. 57. 36 Rosselli, John: The Castrati as a Professional Group and a Social Phenomenon, 1550–1850, in: Acta Musicologica, Band 60, Mai – Aug. 1988, S. 156. 37 Ebd., S. 161.

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Robinson und Roselli betonen den finanziellen Wert, den die Knaben für Eltern und Schulen hatten. Der mögliche Profit wog die moralischen Bedenken und Anklangen auf. Warum aber – so die erneute Frage – wurden die Stimmen der Falsettisten so gering geschätzt gegenüber jenen der Kastraten? War es wirklich der – für manchen Laien kaum wahrnehmbare – Unterschied im Timbre, Volumen und Registerwechsel, der ihren ‚Wertʻ so erhöhte? Die Frage erscheint um so dringlicher, als im Unterschied zur Ausbildung eines Falsettisten bei der Kastration der Erhalt der hohen Stimme nicht garantiert war. Die Investitionen in die Kastraten glichen eher einer Lotterie als unternehmerischem Kalkül. Auch Florimo gesteht in seiner Verehrung der glorreichen Tradition der neapolitanischen Konservatorien bzw. Gesangsschulen, dass das Kastrieren manchmal den Stimmbruch nicht verhindert, wohl aber die Opfer ihrer „Manneskraft“ beraubt habe. 38 Wie oben bereits erwähnt zitiert Franz Haböck eine Passage aus Johann Jacob Volkmanns Historische-kritischen Nachrichten von Italien (erstmals erschienen 1770/71), die sowohl den unsicheren Effekt als auch die Häufigkeit der Kastration beschreibt – und mehr noch: sie deutet am Ende an, dass die Kastraten in ihrer Fülle weniger der Musik dienlich waren, als vielmehr einen symbolischen Eigenwert hatten, gewissermaßen „Imageträger“ für die hohe Kunst des Gesangs waren: „Man behauptet, daß von hundert kaum einer geräth, und eine recht schöne Stimme bekommt. Es scheint, daß man in Rom dieses barbarische Verfahren dadurch billigt, daß es diesen elenden Geschöpfen, wenn es mit der Stimme fehl schlägt, erlaubt wird, den Priesterstand zu wählen. [...] Dieses Verfahren ist der Stadt Neapel weniger nachtheilig als einem andern Orte. Es raubt dem Staate zwar viele Unterthanen, der Verlust wird aber bei dem Mangel an Arbeit, und der großen Menge Müßiggänger nicht gemerkt, und darum bekümmert sich die Regierung vermuthlich nicht so sehr darum. Die Stadt gewinnt auf der andern Seite wieder dadurch, daß sie die Pflanzschule der Musik ist, und viele Menschen nach Neapel zieht.“ 39

Die Kastratenmode mit ihrem skrupellosen Verschneiden junger Knaben könnte man also nun als Resultat von Geldgier, bei manchen Eltern gar dem Traum von Reichtum begründen. Was die Kastraten beim Publikum gegenüber den Falsettisten so attraktiv machte, ist damit nicht geklärt. Dass Eltern und Pädagogen sich so leicht zu einem teilweise verbotenen, zumindest aber verpönten Eingriff verführen ließen, allein aus der sehr unsicheren Möglichkeit späteren Ruhmes

38 Florimo: Cenno storico sulla scuola musicale di Napoli, Band II, S. 2049. 39 Haböck: Die Kastraten und ihre Gesangskunst, S. 240f.

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bzw. eines späteren finanziellen Ertrages, wäre nur dann überzeugend, wenn der ‚Wertʻ eines Kindes und seiner Lebensqualität derartig nichtig gewesen wäre, dass der Schaden, wird der Knabe kein ‚großerʻ Sänger, als unerheblich angesehen wurde. Aber gerade in jenen Jahrhunderten der Gesangskastraten erleben Kinder und Kindheit als Lebensalter eine wesentliche Aufwertung. Die Pädagogen beschäftigen sich – grob gesprochen – zunehmend mit den Eigenheiten des Kindseins. Freilich wurden Kinder noch nicht wie in den teils aufgeklärten, teils auch religiös argumentierenden Diskursen des 18. Jahrhunderts als Vorbilder glorifiziert. Aber sie wurden – folgt man den Darstellungen Philippe Ariès’ – zunehmend Gegenstand philosophisch-moralischer Betrachtung, waren keine bloß unfertigen Menschen mehr, sondern erhielten einen Eigenwert als schützenswertes Gut, dessen (auch moralische) Ausbildung zunehmend als Verantwortung der Pädagogen angesehen wurde. Nach der nicht unumstrittenen Darstellung Philippe Ariès’ war das 17. Jahrhundert die Zeit der Entdeckung einer bemerkenswerten und schätzenswerten Eigentümlichkeit des Kindseins: der kindlichen Unschuld.

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Ariès diagnostiziert für das 17. Jahrhundert das Aufkommen der Idee von der kindlichen Unschuld. 40 Seine Beispiele einer Freizügigkeit im Umgang der Erwachsenen mit Kindern als Wesen, denen Sexualität und Scham noch fremd seien, sind von vielen (u.a. von Hans Peter Duerr 41) kritisiert worden. Ariès’ Beispiele suggerieren eine reale Permissivität im Umgang mit Kindern anhand von Beispielen, die schwerlich als repräsentativ gelten können (etwa die Berichte des Leibarztes Ludwig XIII.). Zudem sind – wie Duerr zurecht bemängelt – die Interpretationen in Bezug auf eine später verloren gehende Freizügigkeit fragwürdig, da die Beispiele Ariès’ oftmals auch andere Deutungen zulassen. Für die hier aufgeworfene Frage ist diese Kontroverse aber wenig bedeutsam, da die Dokumente, die Ariès anführt, um eine gesteigerte Aufmerksamkeit vor allem der Pädagogen gegenüber der (sexuellen) Unschuld der Kinder ab dem 16. Jahrhundert zu belegen, im Folgenden lediglich als Merkmale einer Diskursge-

40 Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit, Erster Teil, München: DTV 1975, S. 175–208 (= Kap. 5 „Von der Schamlosigkeit zur Unschuld“). Frz. Original: L’Enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris: Plon 1960. 41 Vgl. Duerr, Hans Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Band 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.

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schichte genutzt werden. Die fast hysterische Vorsicht der Pädagogen, die Kinder vor „schmutzigen“, unsittlichen Handlungen, Andeutungen oder Fantasien zu schützen, sind durch Dokumente belegt, die einen neu aufkommenden Diskurs belegen, nicht aber unbedingt einen veränderten Umgang mit Kindern. Ähnlich argumentiert Gerold Scholz, der Ariès gegen seine Kritiker verteidigt mit dem Hinweis, der Autor habe nicht die Pflege der Kinder oder Liebe zum Kind historisiert, sondern: „Ariès Argumentation bezieht sich allein auf die Konzeption eines zu erziehenden Kindes.“ 42 In diesem Sinne legt Ariès dar, dass sich erst im Laufe des 16. Jahrhunderts der Topos von der kindlichen Unschuld, die bewahrt und geschützt werden muss, entwickelt habe. Plötzlich präparieren die Pädagogen die klassische Literatur für den Unterricht, indem sie alle Obszönitäten herausstreichen. Dies gilt – wie Ariès ausführt – für die Jesuitenkollegs ebenso wie für die protestantischen Schulen in Frankreich und England. 43 Die Empfänglichkeit der Kinder für Schamlosigkeiten aller Art, wurde nun nicht mehr als ein Mangel an Sittlichkeit ausgelegt, sondern als Reinheit und Unverdorbenheit, die den Erwachsenen ein Vorbild sein sollte. Ariès liefert dazu einen Stich eines gewissen F. Guérard aus dem 17. Jahrhundert (siehe Abb. 1), dem ein bemerkenswerter Text angefügt ist. „Betrachten wir beispielsweise die Legende eines Stichs von F. Guérard, der Kinderspiele (mit Puppen, mit einer Trommel) darstellt: „Seht hier das Alter der Unschuld / In das wir alle zurückkehren müssen / Um künftige Wonnen zu genießen / Auf die wir unsere Hoffnung setzen: / Es ist das Alter, in dem man alles verzeiht / Das Alter, das den Hass noch nicht kennt, / In dem nichts uns betrüben kann; / Das goldene Zeitalter des menschlichen Lebens / Das Alter, das der Hölle trotzt / Das Alter, in dem das Leben noch wenig mühselig ist / Das Alter, in dem Tod wenig Erschreckendes hat / Und dem die Himmel offen stehen / Diesen jungen Sprösslingen der Kirche / Denen man zärtlich seine Achtung erweist / Der Himmel straft die mit seinem Zorn / Der sie schimpflich behandelt.“ 44

Ein wunderbares Beispiel für das Wunschbild „Kindheit“ (so der Titel des Stichs), in dem aller Schrecken des Lebens: Schuld, Hass, Hölle, Mühsal, Tod, wie eine Antithese zum Leid der Erwachsenen außer Kraft gesetzt sind.

42 Scholz, Gerold: Die Konstruktion des Kindes, Berlin: Springer Verlag 1994, S. 21. 43 Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 186. 44 Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 187f.

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Abbildung 1: „L’Enfance“, de F. Guérard, 18. Jahrhundert.

Quelle: Département des Estampes et de la Photographie de la Bibliothèque nationale de France, directement issu du Cabinet des estampes de la Bibliothèque royale. EE 3 a, pet. info.

Ein Blick in die protestantisch-calvinistische Pädagogik jener Zeit lässt ein ähnliches Bild von Kindheit erkennen. Sarah Hoke hat ausgehend von Fritz von Uhdes Gemälde Kinderstube die Kindheitsentwürfe in den protestantischen Niederlanden, in denen vor allem die Ansichten Johannes Calvins galten, untersucht.

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Hier gilt für die Kinder nicht die behauptete Unschuld, dennoch sind sie sittliche Vorbilder für die Erwachsenen: „Nach Calvin sind bereits die Neugeborenen von der Verderbtheit betroffen und die Taufe kann lediglich ein Symbol für die Verbundenheit mit Gott sein, nicht aber die Korruptheit des Menschen korrigieren. Denn die Sündhaftigkeit endet für ihn erst mit dem Tod [...]. Je jünger das Kind, desto weniger zeigen sich die Auswirkungen der Erbsünde in bösartigem Verhalten. Mit zunehmendem Alter und der Reife jedoch wächst das Bewusstsein für schlechte Taten. Gleichzeitig begegnet Calvin den Kindern aber nicht uneingeschränkt negativ und sieht sie vielmehr als Geschenke Gottes und Vorbilder für die Erwachsenen.“ 45

Bleibt für unseren Zusammenhang zu ergänzen, dass die „zunehmende Reife“ wohl auch die Geschlechtsreife meint, die das Potenzial von „schlechten Taten“ drastisch erhöht. Auch wenn die Ansichten zur Erbsünde differieren, die moralische Aufwertung des Kindes lässt sich mit fast identischen Beschreibungen und Argumenten sowohl in den protestantischen wie auch den von Ariès angeführten katholisch-jesuitischen Quellen nachweisen. Zusammenfassend stellt Ariès feststellt: „Es bildet sich also eine moralische Auffassung von der Kindheit heraus, die eher ihre Schwäche hervorhebt als ihre ‚Großartigkeitʻ [...], diese Schwäche jedoch mit ihrer Unschuld als dem wahren Widerschein göttlicher Reinheit verbindet und der Erziehung den ersten Rang unter den Verpflichtungen gegenüber dem Kind einräumt.“ 46

Es scheint als habe die Pädagogik nun eine moralische, ja theologische Virulenz erhalten, die sie vormals nicht hatte: Sie muss dafür sorgen, die Kinder vor den schmutzigen Erscheinungen des Lebens zu bewahren, insbesondere jenen der Sexualität; sie muss ihre Unschuld möglichst erhalten und sie gleichzeitig aus dem Zustand der Vernunftlosigkeit behutsam befreien. Der Hinweis auf die Unvernunft der Kinder findet sich bei vielen Autoren. Aber Ariès interpretiert sogar jene Dokumente, die sich über die Unvollkommenheit der Kinder mokieren, ihren Mangel an Vernunft beklagen (wie etwa Baltasar Gracián in seinem „El

45 Hoke, Sarah: Fritz von Uhdes „Kinderstube“: die Darstellung des Kindes in seinem Spiel- und Wohnmilieu, Göttingen: Universitätsverlag 2011, S. 79. 46 Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 192.

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Discreto“ von 1646 47) als Teil eines grassierenden pädagogischen Interesses am Kind. Noch nie sei das Kind so sehr Gegenstand eines analytischen Interesses gewesen, welches sich einerseits auf seine Unvollkommenheit, andererseits auf seine bewunderns- bzw. schützenswerte Unschuld richte. Mit John Lockes Erziehungstraktat Some Thoughts Concerning Education (1693) lässt sich der von Ariès behauptete Reigen analytisch-systematischer Versuche, Kinder zu verstehen und (nach Locke „wie Wachs“) zu formen, noch erweitern. Man habe in all diesen Schriften – so Ariès – nichts als den Versuch „[...] eines ernsthaften und authentischen Verständnisses für die Kindheit zu sehen. Denn schließlich ist es nicht angebracht, sich der Unbekümmertheit der Kindheit einfach nur anzupassen: das wäre der alte Irrtum. Um sie in die richtigen Bahnen lenken zu können, muss man sie zunächst einmal besser kennen lernen, und die Texte vom Ende des 16. und des 17. Jahrhunderts strotzen von kinderpsychologischen Bemerkungen.“ 48

Die eingehende Beschäftigung mit der Mentalität des Kindes war durch zweierlei motiviert: einerseits ein sittliches Ideal zu schaffen (im Falle des leidenschaftlichen Textes zu Guérards Stich sogar ein Ideal menschlichen Glücks, in Unschuld und Sorgenlosigkeit), andererseits den lenkenden Zugriff, mithin die Macht auf die Entwicklung der ‚Kleinenʻ zu erhöhen. Darum betont John Locke im erwähnten Traktat auch, wie wichtig die Verinnerlichung der Regeln und Gebote durch das Kind ist, indem man es nicht durch Schläge, sondern durch Achtung (esteem) und Schande (disgrace) züchtigt. 49 Nur so wird auch ihre „innerliche“ Entwicklung, ihr Charakter und ihre Gesinnung, zu Wachs in den Händen des Pädagogen oder zur Pflanze im Garten eines Züchters. Fast gleichlautend zu Lockes Empfehlungen sind die im selben Jahr 1693 erscheinenden Ausführungen des Abbé Goussault, Parlamentsrat in Paris, in seinem „Portrait d’une honnête femme“: „Man sollte mit seinen Kindern oft vertraulich umgehen, sie über alles sprechen lassen, sie wie vernünftige Menschen behandeln und sie durch Milde zu gewinnen versuchen. Ein

47 Ariès zitiert Gracián: „Nur die Zeit kann von der Kindheit und der Jugend heilen, die wahrhaftig in jeder Hinsicht die Altersstufen der Unvollkommenheit sind.“ Ebd., S. 216. 48 Ebd., S. 216 49 Locke, John: Gedanken über Erziehung, übers. von Heinz Wohlers, Stuttgart: Reclam 1970, Abs. 56, S. 52.

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unfehlbares Mittel, um mit ihnen machen zu können, was man will. Sie sind wie junge Pflanzen, denen man viel Pflege angedeihen lassen und die man oft gießen muss.“ 50

Die angeführten pädagogischen Debatten und Abhandlungen über die Aufwertung, Glorifizierung und pädagogische Kontrolle des Kindes, fällt genau in jene Zeit, in der das Kastrieren junger Knaben zur Erhaltung der Stimme in Italien um sich greift. Die Quellen stammen zwar großteils nicht aus Italien, die Faszination des Kastratengesangs ist allerdings auch keine rein italienische Angelegenheit. Mit Ausnahme Frankreichs erfreuten sich Kastraten an deutschen, österreichischen und spanischen Höfen, in St. Petersburg ebenso wie ganz besonders in London größter Beliebtheit. Dass es fast immer Italiener waren, die als Kastraten in Erscheinung traten, hat sicherlich mehrere Gründe: die Rechtslage, Tradition, vielleicht auch die Exotik des ‚Importsʻ aus einem (relativ) fernen Land mögen Gründe dafür sein. Noch im späten 19. Jahrhundert gaben sich Sänger und Sängerinnen auf den Opernbühnen in London italienische Namen, um eine Herkunft aus dem ‚Land des Operngesangsʻ zu simulieren. 51 Dass umgekehrt Italien von den Diskursen um Kindheit, dem grassierenden Interesse der Pädagogen am Kind und dem Ideal von Sittlichkeit und Unschuld unberührt geblieben wäre, ist äußerst unwahrscheinlich. Die seltsame Eigendynamik der Verehrung und des Verlangens nach Kastraten wird vor dem Hintergrund der beschriebenen Veränderungen aus der (Diskurs-)Geschichte der Kindheit besser verständlich. Für den kirchlichen Bereich ist es naheliegend, den Gesang der Engel als Vorbild des Kirchengesangs jenen Wesen anzuvertrauen, die als Verkörperung unschuldiger Reinheit angesehen werden: da Frauen, mithin auch junge Mädchen, dem männlichen Geschlecht (auch sittlich) untergeordnet und vom Kirchengesang weitgehend ausgeschlossen waren 52, blieben für diese Rolle nur mehr Knaben und jene männlichen Wesen, deren Stimme nicht den Makel der Geschlechtsreife trägt. Aber bekanntlich auch und gerade die Opernbühne war der Ort, an dem die Kastraten glänzten. Dabei hatten sie keine spezifischen Rollen, etwa besonders unschuldige Ge-

50 Zitiert nach Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 216f. 51 Zechner, Ingeborg: „… And the English buy it“: Londons Opernwesen am Beispiel von Benjamin Lumley und Her Majesty’s Theatre, Saarbrücken: Akademikerverlag 2013. 52 Das viel zitierte und diskutierte „Mulieres in ecclesiis taceant“ (oder auch „Mulier taceat in ecclesia“) aus 1. Korinther 14,34 sei hier nicht thematisiert, da einzig der Effekt bzw. die Praxis, nicht aber die Bedeutung oder Bedeutungsvielfalt dieser BibelPassage für unsere Fragestellung relevant ist.

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schöpfe oder kindliche Typen. Corinna Herr weist sogar ausdrücklich darauf hin, dass es die ‚typische Kastratenrolleʻ in der Oper des 17. Jahrhunderts nicht gegeben habe. 53 Der Darsteller war hier nicht mit dem Dargestellten identifiziert. Dennoch entwickelte sich im Zuge der zunehmenden Popularität der Kastraten immer mehr neben der Wahrnehmung der dargestellten Figur auch eine des Kastraten als solchen, d. h. als Privatperson und professionellen Sänger. Spätestens als die Kastraten zu großen Stars geworden waren, deren Namen man kannte, hatte sie in den öffentlichen Diskursen und Meinungen schnell eine ‚eigeneʻ Identität: als ideale Gesangsvirtuosen, launische Stars oder gar Frauenhelden. Die Kastratenstimme auf der Bühne faszinierte als solche und nicht nur in ihrer Rolle als engelhafte Verkündigung biblischer Worte oder in der Rolle bestimmter Bühnenhelden. Sie hatte den Zauber des unschuldigen Kindes und war in diesem metaphorischen Sinne doch nicht abgetrennt (wie Susan McClary behauptete) vom Körper, der ihn trägt, welches der Körper eines Kastrierten war, eines männlichen Körpers, dem zumindest ein Teil der körperlichen Geschlechtsreife genommen war. Hätte man bei einer vollständigen Abstraktion, d. h. abgetrennten, separaten Wahrnehmung der hohen Stimme vom Körper, aus dem sie kommt, nicht den Falsettisten die gleiche engelhafte Reinheit zuschreiben müssen? Hätte ihre Stimme nicht ebenso als Gesangsideal reüssieren können? Das Insistieren aber auf den „natürlichen“ Sopran (Soprano naturale) gegenüber dem falschen Falsetto, machte die Kastraten zum Bestandteil eines großen erzieherischen Projekts, dem es weniger (oder nicht nur) um ein Klangideal als um ein Menschenideal ging. Das oftmals schon von den Zeitgenossen beklagte großzügige, um nicht zu sagen wahllose Kastrieren junger Knaben wird dadurch möglicherweise verständlicher. Etwas zugespitzt formuliert: das Klangideal der hohen Stimme war ein geeigneter Vorwand, um das sittlich-pädagogische Ideal vom ewigen Knaben operativ zu realisieren. Wie sehr das Kastratenwesen von diesem pädagogischen Wunsch besetzt war, belegt die Tatsache, dass sogar der berühmte und erfolgreiche Farinelli landesweit kurz „il ragazzo“ („der Knabe“) genannt wurde.54 Dass die Knaben nach der Kastration zwar ihre Zeugungsfähigkeit, oftmals aber nicht ihre Libido, ihr sexuelles Verlangen, jene Schuld oder „Verderbtheit“, die es auszuschalten galt, verloren, war ein Streich der Biologie, den die Päda-

53 Herr: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur’?, S. 162. 54 „Schon in den frühen Jahren seines Lebens ward er durch ganz Italien vorzüglicherweise ‚der Knabe’ genannt.“ Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise, S. 121 (Bologna, 25.08.1772).

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gogen – getrieben von der Fantasie, durch Kastration den Geschlechtstrieb zu bändigen – wahrscheinlich zunächst nicht absehen konnten; ein Umstand, den sie tunlichst verschwiegen und der später (im Laufe des 18. Jahrhunderts) Gegenstand vieler Anekdoten, Tratsch-, Hohn- und Spottgeschichten wurde. Natürlich muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass ein so weitreichendes Phänomen wie der Kastratengesang nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden kann, und der hier unterstrichene, von einem Kindheits- und Menschenideal geprägte pädagogische Aspekt nur einer der vielen Faktoren ist, die dieses Phänomen befördert haben. Allerdings ein bisher unterschätzter Faktor, der zu verstehen hilft, wie es zu einer so weitreichenden, breiten Faszination des Kastratengesangs kommen konnte sowie zu einer unkontrollierten Eigendynamik des Kastrierens weit über die sängerischen Fähigkeiten und Möglichkeiten hinaus. Trotz klanglich relativ geringer Unterschiede zu gut ausgebildeten Falsettisten und trotz einer gleichzeitigen moralischen Verurteilung, teilweise sogar eines ausdrücklichen Verbots der Kastration junger Knaben, war der Erfolg der Kastratenstimme nicht zu bremsen. Der pädagogische Kontext macht deutlich, dass beim Erhalt der hohen Stimme vor allem im weltlichen Kontext auch die Konzeption eines ‚idealen Menschenʻ ein entscheidender Faktor und gleichsam Motor der Kastration war – eines Menschen, der die oben beschriebene Unvollkommenheit der Kindseins überwunden, aber seine Unschuld bewahrt hat: unschuldig wie ein Kind, vernünftig (klug, gebildet) wie ein Mann.

IV. V ERINNERLICHTES K ASTRATENTUM ? Die Praxis des Kastrierens junger Knaben zur Erhaltung der Stimme wurde im Laufe des späten 18. Jahrhunderts mehr und mehr verurteilt, verhöhnt und schließlich (wenn auch zögerlich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts) abgeschafft. 55 Das Ideal vom unschuldigen Kind, dem nun – ganz besonders bei Rousseau – der Mangel an Vernunft eher als Überlegenheit denn als Unvollkommenheit ausgelegt wird, bleibt erhalten. Ariès führt eine Quelle aus dem Jahr

55 Die Sekundärliteratur hat diesen Prozess ausführlich beschrieben; vgl. neben den genannten Publikationen von Haböck und Herr auch Gerold Gruber: Der Niedergang des Kastratentums. Eine Untersuchung zur bürgerlichen Kritik an der höfischen Musikkultur im 18. Jahrhundert, aufgezeigt am Beispiel der Kritik am Kastratentum – mit einem Versuch einer objektiven Klassifikation der Kastratenstimme, Diss. Geisteswiss. Fak. der Universität Wien, März 1982.

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1721 an, in dem bereits die Unschuld der Kinder auch als „Einfalt“ verstanden und positiv gedeutet wird. Jacqueline Pascal (die Schwester von Blaise Pascal) gibt im Réglement für die Pensionsmädchen von Port-Royal (einem Frauenkloster des Zisterzienserordens) 1721 folgendes Gebet den Kindern vor: „Seid wie neugeborene Kinder. [...] Herr, macht, dass wir Kraft der Einfalt und der Unschuld stets Kinder bleiben, wie die Weltleute Kinder sind aufgrund ihrer Dummheit oder Schwächen. Schenke uns eine heilige Kindheit, die die Jahre uns nicht rauben möge [...]“ 56

Ariès deutet diese Passage als Beleg für die bekannte Einstellung zum Kind, dessen Unschuld erhalten, dessen Dummheit aber beseitigt werden soll. Im Zitat ist allerdings von der „Kraft der Einfalt“ und der „Dummheit“ und den „Schwächen“ der Kinder die Rede, die uns möglichst lange erhalten bleiben solle, was der Deutung von Ariès widerspricht. Das Zitat weist eher in die Zukunft und ist Beleg einer Tendenz, die mit Rousseaus Absage an die „erwachsene“ Vernunft in seinem Émile ihren „lautesten“ Höhepunkt erreichen wird: „Die Kindheit hat eine eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen, und nichts ist unvernünftiger als ihr unsere Art unterschieben zu wollen. […] Wozu soll ihm wohl die Vernunft in diesem Alter dienen? Sie bremst die Kraft und das Kind braucht diese Bremse nicht.“ 57

Auch als Musiktheoretiker mit einem eigenen Dictionnaire de musique und vielen weiteren Publikationen zur Musik hatte Rousseau maßgeblichen Einfluss auf die Musikdebatten und Musikästhetik seiner Zeit. Zudem hatte er als Komponist einen enormen Erfolg mit seiner Oper Le Devin du village (1752). Es verwundert wenig, dass er das Kastratenwesen verurteilt: „[...] lasst, wo immer es geht, die Stimme der Entrüstung und der Menschlichkeit erschallen, die sich laut erheben möge gegen diesen schändlichen Brauch.“ 58

56 Zitiert nach Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 201. 57 Rousseau, Jean Jacques: Emil oder Über die Erziehung (Émile ou de l’éducation, Den Haag: Néaulme 1762), 12. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 1995, S. 69. 58 Rousseau, Jean Jacques: Wörterbuch der Musik (Dictionnaire de musique, Paris: Veuve Duchesne 1767 u. 1768; Neudruck: Claude Dauphin (Hg.): Le Dictionnaire de musique de Jean-Jacques Rousseau: une édition critique, Bern: Lang 2008), Stichwort ‚castratoʻ, in: ders., Musik und Sprache, Leipzig: Reclam 1989, S. 232.

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So tönt Rousseau in seinem Dictionnaire de musique im Artikel „Castrato“. Bei seinen Ausführungen zum Stichwort „Stimme“/„Voix“, die im entsprechenden Artikel zu „Voix“ in Diderots und d’Alemberts Encyclopédie noch einmal erscheinen 59, geht Rousseau noch ausführlicher auf das Phänomen des Kastratengesangs ein: „Erwachsene Männer haben für gewöhnlich tiefe, Frauen hohe Stimmen. Kastraten und Kinder verfügen in etwa über den gleichen Stimmumfang wie Frauen, Männer können sich dieser Stimmlage annähern, wenn sie Falsett singen. Zweifelsohne kommt jedoch unter allen hohen Stimmen – trotzdem Italien die Kastraten hervorgebracht hat – keine jener der Frauen gleich, weder im Stimmumfang noch in der Schönheit des Timbres. Bei Kinderstimmen fehlen die tiefen Töne und sie haben wenig Volumen, Kastratenstimmen wiederum können sich nur in hohen Stimmlagen entfalten; das Falsett ist das unangenehmste aller Timbres der menschlichen Stimme. Um sich davon zu überzeugen, muss man lediglich in Paris den Chören der Kirchenmusik lauschen und sie mit jenen der Oper vergleichen.“ 60

Kaum jemand hatte zuvor die Stimme der Frauen als einzig „natürliche“ und darum als die schönste der hohen Stimmen geadelt. Fast zwei Jahrhunderte hatte man um die Ästhetik der hohen Stimme völlig unabhängig vom „natürlichen“ Geschlecht des Körpers, der sie entstammt, diskutiert: mal brillierte eine Sopranistin, dann ein Haute-contre, dann ein Kastrat. Für Rousseau aber ist eindeutig das schönste „Instrument“ der hohen Stimme jene der Frauen. Am Ende desselben Artikels zum Begriff „Voix“ schwärmt er allerdings von der Stimme des Baldassare Ferri, eines berühmten Kastraten der Vergangenheit, 1610 in Perugia geboren, 1680 gestorben, 32 Jahre vor dem Geburtsjahr Rousseaus. Wenn auch Rousseau im Bereich der Musikästhetik den Kastratengesang moralisch und ästhetisch (gegenüber der hohen Frauenstimme) abwertet, so verrät er in seinem viel diskutierten Émile eine eigentümliche Faszination an der Unschuld und Geschlechtslosigkeit des Kindlichen. Er plädiert für ein möglichst

59 Diderot, Denis / d’Alembert, Jean Baptiste le Rond (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Paris 1751–1780. Ebenso erscheint auch Rousseaus Wörterbuch-Artikel zu ‚castratoʻ in einem SupplementBand der ‚Encyclopédie ...‘, Amsterdam 1776. 60 Rousseau, Jean-Jacques: Dictionnaire de musique, Traité sur la musique, 3 Bände, Genf: Edition Dupeyrou 1781, Band 2, S. 393f. (ins Deutsche übersetzt von Catharina Salas).

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langes Hinauszögern der geschlechtlichen Aufklärung und Reife des Kindes. Die Erziehung solle hier verzögernd wirken. Wie in vielen seiner Schriften sind es für ihn auch hier die schlechten gesellschaftlichen, kulturellen und zivilisatorischen Einflüsse, welche die geschlechtliche Frühreife hervorbringen würde; die Natur ließe sich diesbezüglich Zeit, was an den einfachen, unzivilisierten Völkern zu beobachten sei. In seinem Émile führt Rousseau aus, dass „die Pubertät und die geschlechtliche Reife bei gebildeten und zivilisierten Völkern früher eintritt, als bei unwissenden und barbarischen“. An dieser Stelle fügt Rousseau eine Fußnote ein, die für unseren Zusammenhang äußerst wichtig ist, da sie tatsächlich auf die Sopranstimme der jungen Burschen Bezug nimmt. Er weist die Meinung eines gewissen Buffon zurück (gemeint ist vermutlich Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon), der die geschlechtliche Reife der Kinder mit der Qualität ihrer Ernährung erklärt, die auf dem Land schlechter sei, weshalb die geschlechtliche Reife hier später eintrete. Rousseau widerspricht: „Die Beobachtung ist richtig, aber nicht die Erklärung, da in Gegenden, wo sich die Dörfler gut und reichlich nähren [...], die Pubertät ebenso spät einsetzt [...]. Man findet in diesen Gebirgen [...] Burschen, groß und stark wie Männer, mit Sopranstimmen und das Kinn ohne Bart, und große und entwickelte Mädchen, jedoch ohne Zeichen einer Periode. Dieser Unterschied scheint mir daher zu kommen, dass bei der Einfachheit ihrer Sitten ihre Phantasie ruhig und friedlich bleibt, ihr Blut später in Wallung kommt und ihr Temperament weniger frühreif ist.“ 61

Unmissverständlich erklärt Rousseau seine Sympathie mit den einfachen Völkern auch in dieser Sphäre einer geschlechtlichen ‚Spätreifeʻ der Kinder. Explizit spricht er von einer Verlängerung der kindlichen Unschuld: „Man muss neben derben und einfachen Völkern gelebt haben, um zu erkennen, bis zu welchem Alter eine glückliche Unwissenheit die Unschuld der Kinder verlängern kann. Es ist ein rührendes und belustigendes Schauspiel zugleich, dort die beiden Geschlechter zu beobachten, die der Sorglosigkeit ihrer Herzen überlassen sind und die die naiven Spiele ihrer Kinder bis in die Blüte des Alters und der Schönheit fortsetzen und die Reinheit ihrer Vergnügungen durch ihre Vertrautheit beweisen.“ 62

61 Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, S. 215. 62 Ebd., S. 215f.

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Es ist Rousseau zu danken, wie überdeutlich und ungeschminkt er hier eine pädagogische Tendenz, die schon mit der Pflege der kindlichen Unschuld seit über einem Jahrhundert begonnen hatte, auf die Spitze treibt: „Wenn das Alter, in dem der Mensch geschlechtsbewußt wird, infolge seiner Erziehung und der Natur schwankt, so folgt daraus, dass man es durch die Erziehungsart beschleunigen oder verzögern kann. Wenn der Körper je nach dem Maß der Beschleunigung oder der Verzögerung, an Kraft verliert oder gewinnt, so folgt, dass ein Jüngling um so stärker und kräftiger wird, je mehr man es verzögert. Ich spreche hier nur von den physischen Wirkungen. Man wird bald sehen, dass es nicht die einzigen sind.“ 63

Müsste Rousseau nicht eigentlich vom reinen knabenhaften Gesang der italienischen Kastraten begeistert sein? Aber auch wenn Rousseau von der Stimme des Kastraten Ferri tatsächlich schwärmt, der soprano naturale kann für ihn aus anderen ideologisch-philosophischen Gründen nicht mehr als ästhetisches Ideal gelten: denn die kindliche Unschuld ist hier durch einen „künstlichen Eingriff“ von außen erzwungen und nicht aus der Natur des Kindes heraus entwickelt. Ähnlich verhält es sich mit der durch Training und Technik erreichten artifiziellen Höhe des Falsettgesangs, die Rousseau ebenfalls ablehnt. „Lasst die Kindheit im Kinde reifen!“ und „[...] erlaubt seinem Charakterkeim sich frei zu zeigen [...]. Die Natur will, dass Kinder Kinder sind, ehe sie Männer werden“ 64 – und dergleichen Äußerungen aus Rousseaus Émile verfolgen das Ideal einer Entwicklung, deren Prinzip und Richtung den natürlichen Anlagen des Kindes immanent sind und jeden Eingriff als Störung abqualifiziert. Dass es andererseits der Erziehung bedarf, die sich um die Entwicklung dieser Anlagen kümmert, sie fördert und pflegt, wie der Gärtner seine Blumen, ist für Rousseau kein Widerspruch. Warum die Natur nicht stark genug ist, sich zu realisieren, sich (ohne pädagogische Hilfe) durchzusetzen, ihr in ihrer Vollkommenheit also ein Mangel immanent zu sein scheint, wurde (von Cassirer bis Derrida) viel diskutiert. 65 Auf die hier erörterte Frage nach der Gesangskastration und kindlichen Unschuld übertragen, zeigt sich dieser Widerspruch in dem Um-

63 Ebd., S. 216. 64 Ebd., S. 69 und 73. 65 Vgl. Cassirer, Ernst: „Das Problem Jean-Jacques Rousseau“, in: Ernst Cassirer, Über Rousseau, hg. von Guido Kreis, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 7–90. – Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 334–394. – Nicklaus, Hans Georg: Weltsprache Musik. Rousseau und der Triumph der Melodie über die Harmonie, Paderborn: Wilhelm Fink 2015.

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stand, dass die menschliche Natur es erlaubt, dass ihre Geschöpfe mir dem Erwachsenwerden ihre kindliche Unschuld verlieren, so wie die Buben ihre hohe Stimme. Eine Folge dieser Unschärfe ist einerseits Rousseaus Ablehnung der Kastratenkunst (weil nicht „natürlich“) und andererseits seine Faszination gegenüber einer geschlechtslosen Unschuld des Kindlichen, die es möglichst zu erhalten gilt und die als moralisches wie ästhetisches Ideal von ihm und schon lange vor ihm beschworen wird. Wie ernst es Rousseau mit diesem „Kind“ als Menschenideal ist, zeigt sich kaum irgendwo so deutlich wie in seinem Intermède Le Devin du Village, jener kleinen Oper, die er nach dem Vorbild der italienischen Intermezzi gestaltet und in der er pastorale Idylle und Schäferliebe der Falschheit und Dekadenz „der Stadt“ gegenüberstellt. Der Erfolg des Intermède überstieg wohl selbst Rousseaus eigene Erwartungen: Nach der Uraufführung in Fontainebleau vor dem König 1752 und einer Aufführung in der Pariser Académie royale de musique 1753 blieb sie ebendort bis 1829 im Repertoire. Der als Literat und Philosoph geschätzte, als Komponist bisher aber wenig erfolgreiche Rousseau hatte einen Nerv beim höfischen Pariser Publikum getroffen, einen Topos etabliert, der durch die Revolutionsjahre, das Napoleonische Frankreich bis in die Restaurationszeit auf der Bühne beliebt bleiben sollte. Auch in Lyon, Strassbourg und Grènoble stand Rousseaus, als „Intermède“ bezeichnete kleines Werk (eigentlich der Gattung Opera comique) auf dem Spielplan. Bemerkenswert ist eine ausgedehnte Pantomime, mit der Rousseau seinen Devin du village beschließt, und die ca. ein Drittel der Gesamtlänge der Oper umfasst. In dieser Schlusspantomime lässt Rousseau, die Wiedervereinigung von Colette und Colin, dem Hirtenpaar, das Verführung und Eifersucht erfolgreich überwunden hat, durch üppige Chöre und Arien feiern. Der gesungene Text wirkt wie die eindringliche Bekräftigung der Botschaft, ja Beschwörung der Moral und des Menschenideals, das Rousseau vorschwebt. Seinen Devin, den Wahrsager des Dorfes, lässt er am Ende resümieren: „... die Liebe kann ohne Kunst bezaubern / In der Stadt ist man liebenswürdiger / im Dorf hingegen kann man besser lieben (A la ville on est plus aimable, / Au village on sait mieux aimer) / Ah! Für einfache Menschen weiß die Liebe wirklich nicht, was sie erlaubt und was sie verbietet; / sie ist ein Kind / sie bleibt ein Kind (C’est un enfant, c’est un enfant).“

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Und der Chor skandiert immer wieder: „C’est un enfant, c’est un enfant.“ Colin wiederholt die letzten Verse des Wahrsagers. Darauf Colette, ebenfalls wiederholend und ergänzend: „Die Liebe folgt der schlichten / der einfachen Natur (Ici de la simple Nature, / L’amour suit la naiveté) / An anderen Orten sucht sie den falschen Glanz des Reichtums / Ah! Für einfache Menschen weiß die Liebe wirklich nicht, was sie erlaubt und was sie verbietet. Sie ist ein Kind / sie bleibt ein Kind.“ 66

Immer und immer wieder lässt Rousseau diese Verse vom Chor und den einzelnen Darstellern wiederholen, immer wieder ertönt beschwörend: „Die Liebe folgt der schlichten, der einfachen Natur […]. Sie ist ein Kind, sie bleibt ein Kind.“ In der vorgestellten Hirtenliebe liegt also eine kindliche Qualität. Auf diese abschließende Quintessenz lässt Rousseau seine Oper zulaufen: die kindliche Liebe ist eine keusche Leidenschaft, die der städtischen unkeuschen Lust gegenüber gestellt wird. Das Idealbild des kindlichen Kastraten erscheint in neuem Gewand: die keusche Liebe des Kindes, die wahre, unverdorbene Liebe, ist wie eine verinnerlichte Kastration, wie jene Engelsstimmen, deren Gesang Generationen entzückte: leidenschaftlich, aber keusch – sinnlich, aber unschuldig.

L ITERATUR Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit, Erster Teil, München: DTV 1975, S. 175–208 (= Kap. 5 „Von der Schamlosigkeit zur Unschuld“). Frz. Original: L’Enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris: Plon 1960. Barbier, Patrick: „Über die Männlichkeit der Kastraten“, in: Martin Dinges (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten: zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 123–152. Bianconi, Lorenzo: Kommentar im Booklet zur CD ‚concerto delle dameʻ, Harmonia Mundi HMC 1901136, 1984. Booklet zur Aufnahme des cantus firmus consort, geleitet von Andreas Reize, Co-Produktion CPO/Radio DRS 2, CPO 777 260-2, 2007. (o.A.)

66 Zitiert nach dem Booklet zur Aufnahme des cantus firmus consort, geleitet von Andreas Reize, Co-Produktion CPO/Radio DRS 2, CPO 777 260-2, 2007. [Hervorh. von mir, HGN].

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Seelenvolle Maschine Natur und Technik im Gesangsdiskurs R EBECCA G ROTJAHN

Die Stimme wird im Körper produziert. Wer singt, ist daher ausschließlich auf das angewiesen, was sie oder er 1 von der Natur mitbekommen hat. Man kann die Stimme nicht austauschen, wenn sie nicht mehr schön ist oder wenn stilbedingt ein anderer Klang benötigt wird. Anders als beispielsweise eine Geigerin oder ein Flötist verwendet der Sänger stets dasselbe ‚Instrument‘, ob er nun in einer Wagner-Oper auftritt, ein Schubert-Lied singt oder ein Concerto von Schütz vorträgt. Das mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen, denn unsere Körper und unsere Stimmorgane sind dieselben wie die der Menschen vor hundert, zweihundert oder vierhundert Jahren. Indessen ist der Körper nicht durch seine ‚objektive‘ Materialität definiert. Unsere Muskeln, Knochen, Nerven, Haut und Sinnesorgane werden erst dadurch zum Körper, dass wir sie als Zusammenhang fühlen, denken und beschreiben – und dies tun wir nicht jede(r) individuell für uns, sondern innerhalb eines durch Wissen, Sprache und Verhaltensnormen bestimmten kulturellen Rahmens. Als ein solcher Rahmen fungiert die Biologie. Naturwissenschaftlich abgestütztes Körperwissen definiert nicht den Körper ‚des‘ Menschen, sondern bietet Modelle, ihn zu konstruieren. 2 Dies gilt aber ebenso für das Körperwissen anderer Epochen und Kulturen. Die Vorstellung, dass Krankheiten durch Dämonen verursacht werden, war für die empfundene und gelebte körperliche Realität der Menschen des Mittelalters nicht weniger ‚wahr‘ und relevant

1

Mit den in diesem Beitrag verwendeten Personenbezeichnungen sind stets Personen sämtlicher Geschlechter gemeint, unabhängig vom grammatikalischen Genus.

2

Vgl. hierzu einführend Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte (= Historische Einführungen, Band 4), Tübingen: Edition Diskord 2000, bes. S. 9–32.

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als für mitteleuropäische Menschen des 21. Jahrhunderts die Überzeugung, dass Stoffwechsel- oder Sexualfunktionen durch Hormone gesteuert werden. Ein historisches Konstrukt ist auch die Singstimme. Wer singt, tut dies auf der Basis von Vorstellungen, die durch die Ausbildung und das tägliche Üben tief in den Körper eingedrungen sind – so tief, dass es vielen Fachleuten, ob Sängern oder Stimmwissenschaftlerinnen, schwer fällt, die historische Bedingtheit des Singens überhaupt zu erkennen. Dies zeigt sich beispielsweise an der Selbstverständlichkeit, mit der der Begriff „Gesangstechnik“ verwendet wird – als vermeintlich unverfänglicher Terminus für das, was der Körper beim Singen tut. Wie zu zeigen sein wird, handelt es sich hierbei um einen historisch geprägten Begriff. Er steht für ein Körperkonzept, das erst im 19. Jahrhundert entstanden ist: die Vorstellung, der Körper sei eine Art Rohmaterial, das von ihrem ‚Besitzer‘ zu bearbeiten ist – im Unterschied zu dem frühneuzeitlichen Konzept, das den Körper als ‚Gabe‘ der Natur bzw. Gottes betrachtet hatte. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Diskursen um das Singen auf der Grundlage von diversen Gesangslehrschriften aus der Zeit vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. Am Thema Singen ist zu zeigen, wie sich die Vorstellungen von Körper und Natur im Laufe dieser Zeit gewandelt haben und in welchen körpergeschichtlichen Kontext die heute üblichen Vorstellungen von ‚Gesangstechnik‘ gehören. Das Quellenkorpus umfassend vorzustellen und systematisch zu analysieren, würde den Rahmen sprengen; präsentiert werden lediglich erste ‚Probebohrungen‘ anhand einer durchaus willkürlichen Auswahl aus der unübersehbaren Anzahl der in den vergangenen 400 Jahren zu dem Thema publizierten Schriften. Nach deren Relevanz für das tatsächliche Singen zu fragen, wäre durchaus berechtigt. Als Antwort könnte ich es mit dem Hinweis darauf bewenden lassen, dass es in diesem Beitrag um den Diskurs und nicht um die Praxis des Singens geht. Es wäre freilich eine eigene Untersuchung wert, die Wechselwirkungen von Gesangslehrbüchern und sängerischer Praxis in den Blick zu nehmen – was auch die Frage beinhalten würde, welchen Sinn solche Schriften denn überhaupt hatten bzw. haben, denn zweifellos hat wohl nie jemand das Singen nur aus Büchern erlernt. Dennoch dürften Gesangslehrbücher und -praxis nicht zwei völlig unabhängig voneinander bestehende Systeme sein. Wenn auch kaum eine Gesangslehrerin konsequent einem einzigen gesangspädagogischen Ansatz folgt, wird Gesangsunterricht doch oft von Rede- und Denkweisen aus der Literatur beeinflusst – oft in wilder Mischung diverser Terminologien und Systeme. Mir persönlich jedenfalls erschienen viele Begriffe und Vorstellungen, denen ich bei der Lektüre begegnet bin, aus dem Unterricht bei verschiedenen Lehrer/-innen, aus Gesprächen mit Sänger/-innen und aus chorischer Stimmbil-

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dung sehr vertraut, auch wenn ich die betreffende Publikation vorher nie in der Hand gehalten hatte.

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Singen wird heute oft als Körperarbeit aufgefasst. Im Gesangsunterricht, aber auch in Chören nehmen Übungen zur Haltung, Bewegung und Atmung einen großen Raum ein. Probleme bei der Ausführung schwieriger Stellen werden auf Fehlhaltungen, Verspannungen oder Verkrampfungen im Körper zurückgeführt. Um hohe Töne zu erreichen, stelle man sich eine Bewegung nach unten vor, so lautet eine probate Anweisung, hinter der Körperwissen steht: Wird das Zwerchfell nach unten geführt, bleibt auch der indirekt mit ihm verbundene Kehlkopf in einer entspannten, tiefen Stellung, anstatt aufzusteigen und eng zu werden – und so bleiben die hohen Töne ‚locker‘. Körperarbeit ist aber nicht nur zur Überwindung von vokalen Schwierigkeiten wichtig, sondern gilt als Bedingung, um überhaupt „die eigene Stimme [zu] finden“. 3 Anleitung zum Aufschließen der Singstimme 4 lautet der Titel eines einflussreichen Gesangslehrwerks aus den 1960er Jahren. Er könnte programmatisch für einen Großteil auch der heutigen gesangspädagogischen Ansätze stehen: Die Singstimme, so legt es die Formulierung nahe, steht nicht einfach zur Verfügung, sondern der Zugang zu ihr ist – aus welchen Gründen auch immer – problematisch; daher muss sie erst einmal „aufgeschlossen“ werden. Die Gesangsmethodik – die „Anleitung“ – beinhaltet also nicht den korrekten Gebrauch der vorhandenen Singstimme, sondern macht diese erst verfügbar. Damit unterscheidet sich die heutige Gesangspädagogik fundamental von der des 17. Jahrhunderts, die Sven Schwannberger systematisch untersucht hat. 5 In

3

Jacoby, Peter: Die eigene Stimme finden. Stimmbildung durch organisches Lernen. Perspektiven der systemischen Biologie, der Neuropsychologie und FeldenkraisMethode für den Umgang mit der menschlichen Stimme (= Detmolder Hochschulschriften, Band 2), Essen: Die Blaue Eule 2000.

4

Husler, Frederick/Rodd-Marling, Yvonne: Singen. Die physische Natur des Stimmorgans. Anleitung zum Aufschließen der Singstimme, Mainz: Schott 1965. Seit der 11. Auflage (Mainz 2003) ist der Titel leicht abgeändert: aus dem „Aufschließen“ wurde die „Ausbildung“ der Singstimme.

5

Schwannberger, Sven: Studio et amore: Die Gesangskunst des 17. Jahrhunderts in italienischen und deutschen Quellen, Diss. Universität Paderborn (i. V.). Hier zit. nach der Fassung des Manuskripts.

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den Lehrschriften jener Zeit wird die gute oder schöne Stimme grundsätzlich als gegeben betrachtet: „Es findet sich nirgends auch nur eine Andeutung, dass die Stimme in der Ausbildung ‚gut gemacht‘ wird, sie ist einfach da“. 6 Für dieses Vorhandensein der schönen Stimme – wie auch anderer Organe und Eigenschaften des Körpers – verwenden die Autoren des 17. Jahrhunderts den Begriff „natura“. Dieser bezieht sich nicht, wie man aus moderner Perspektive annehmen könnte, auf die Unterscheidung von göttlichem und natürlichem Ursprung, sondern steht grundsätzlich für das Gegebene, im Unterschied zur „ars“, also dem, was der Mensch aus eigenen Kräften erwirbt oder erzeugt. Typisch ist die Formulierung Johann Crügers (1660), der von Sängern als solchen Menschen spricht, „welche von GOtt und der Natur / mit einer sonderbaren lieblichen schwebenden oder bebenden Stimm / auch einem runden Hals und Gurgel zum diminuiren begabet seyn“. 7 Schwannberger folgert: „Natura in der Stimme wäre also das, was ohne bewusstes, ars-mäßiges Eingreifen in den Prozess des Klangseins der Stimme und ohne explizite physische Anstrengung von einem Menschen erzeugt werden kann“, und betont, wie weit entfernt diese Vorstellung „von einer modernen Idee von ‚Stimm-Bildung‘“ ist: 8 Die im Sinne der „natura“ gegebenen Anlagen wurden genommen, wie sie waren. Entsprechend sparsam sind in den Gesangs-Lehrschriften dieser Zeit die körperlichen Aspekte des Singens bedacht. Die wenigen Hinweise dazu zielen auf das Vermeiden von Anstrengung und auf die Kontrolle des Stimmgebrauchs ausschließlich im Hals; die Beteiligung anderer Körperteile war nicht vorgesehen. 9 Zu den Gegenständen der Gesangsausbildung zählten Kenntnisse im Notenlesen und im Kontrapunkt, aber vor allem das, was Schwannberger – den Begriff der „Gesangstechnik“ bewusst vermeidend – als „Stimmgebrauch“ bezeichnet. Damit ist vor allem die „Manier“ gemeint: das Wissen um den korrekten und geschmackvollen Gebrauch von Verzierungen und Veränderungen. 10

6

Schwannberger: Studio et amore, S. 223.

7

Crüger, Johann: Musicae Practicae. Praecepta brevia, & exercitia pro Tyronibus varia. Der Rechte Weg zur Singekunst, Berlin: Selbstverlag 1660, S. 19 (Hervorhebung: RG). Vgl. Schwannberger: Studio et amore, S. 224.

8

Schwannberger: Studio et amore, S. 218.

9

Vgl. ebd., S. 284.

10 Schwannberger definiert Manier als „ein komplexes und umfassendes musikalisches Darstellungskonzept“, das „in der Veränderung des Notentextes oder stimmlichinstrumentaler Realisierungsmodalitäten beim Aufführen von Musik, frei gefasst nach den Regeln des für den jeweiligen Stil gültigen, in der jeweiligen Entstehungszeit definierten guten Geschmacks“ besteht. Ebd., S. 93.

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Dieses Konzept bleibt im Prinzip noch im 18. Jahrhundert gültig. Es lässt sich etwa in der 1723 erschienen Schrift Opinioni de’ cantori antichi e moderni von Pierfrancesco Tosi erkennen, die 1757 von Johann Friedrich Agricola ins Deutsche übersetzt und kommentiert wurde. 11 Wie die Gesangstheoretiker des 17. Jahrhunderts hält Tosi an der Unterscheidung von Natura und Ars, Natur und Kunst, fest. Wenn die Stimme vollkommen ist, so sei das eine Gabe der Natur; ihr Gebrauch jedoch eine Kunst, in der Vervollkommnung durch Mühe erworben wird; und Anerkennung verdiene der Sänger für die erworbene Kunst, aber nicht für die von der Natur gleichsam gratis erhaltene Stimme: „Wenn man aber bedenket, daß die Vollkommenheit in der Stimme eine freye Naturgabe, in der Kunst aber, ein mit vieler Mühe erworbenes Gut ist; so erfolgt der Ausspruch, daß die Kunst der Natur, sowohl in Ansehung des Verdiensts, als des Lobes, vorgehe.“ 12 Dabei können beide Aspekte – die Stimme und die Kunst, sie zu gebrauchen – in Konflikt miteinander geraten: „Sehr viel studieren, und doch die Stimme in ihrer völligen Schönheit beybehalten, sind zwo Sachen, die beynahe gar nicht in Verbindung mit einander stehen können“. 13 Auch Tosi legt den Schwerpunkt seiner Schrift auf die Verzierungslehre, was bereits an den Kapitelüberschriften deutlich wird: Fünf der zehn Kapitel befassen sich mit Vorschlägen, Trillern, „Passagien“, „Cadenzen“ und „willkührlichen Veränderungen“. In seinem ersten Kapitel jedoch, „Anmerkungen zum Gebrauche des Sangmeisters“, gibt es einen Hinweis darauf, dass in ganz besonderen Fällen auch die Stimme selbst zum Gegenstand der Ausbildung wird, nämlich bei Problemen mit der Höhe: „Ein fleißiger Unterweiser, weil er weis, daß ein Sopran, ohne Falsett, genöthiget ist in dem engen Umfange nur weniger Töne zu singen; so suchet er nicht allein ihm das Falsett zu verschaffen; sondern er läßt auch nichts unversuchet, damit dasselbe mit der natürlichen Stimme auf eine solche Art vereiniget werde, daß man eins vom andern nicht unterscheiden könne.“ 14

11 Agricola, Johann Friedrich: Anleitung zur Singkunst (1757). Zusammen mit dem italienischen Original von Pier Francesco Tosi: Opinioni de’cantori antichi e moderni, o sieno Osservazioni sopra il canto figurato ([Bologna] 1723) neu herausgegeben, mit einem Vorwort und einem Anhang von Erwin R. Jacobi, Celle: Hermann Moeck Verlag 1966. Ich zitiere auch Tosis Originaltext in diesem Beitrag nach der – sehr genauen – Übersetzung von Agricola. 12 Tosi/Agricola: Anleitung zur Singkunst, S. 169. 13 Ebd., S. 169. 14 Ebd., S. 21.

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In diesem Punkt steht er im Widerspruch zu den Autoren des 17. Jahrhunderts, die das Falsett genau aus dem Grunde ablehnten, dass sie es für ‚falsch‘, für eine Manipulation der von der natura gegebenen Stimme und ihres Umfangs hielten – genau dies ist ja bekanntlich der Ursprung des Begriffs „Falsett“. 15 Es ist bezeichnend, dass die ersten Anzeichen zur Überwindung der natura bei Tosi durch das Anliegen motiviert sind, den Stimmumfang nach der Höhe zu erweitern. Die bei Tosi kaum zwei Seiten umfassenden Bemerkungen zur Stimme und zum Falsettproblem werden für seinen Übersetzer Agricola zum Anlass eines über 20 Seiten langen Kommentars, durch den die Übersetzung zum Dokument für das im Zeitalter der Aufklärung zunehmende Interesse an den körperlichen Aspekten der Stimme wird. Allerdings beschränkt sich dieses nach wie vor fast ausschließlich auf den Kehlkopf: Ausführlich referiert Agricola die zu seiner Zeit hochaktuellen Forschungsergebnisse, die der französische Anatom Antoine Ferrein anhand von Untersuchungen an Kehlköpfen toter Tiere und Menschen gewonnen hatte, und versucht, mit ihnen Besonderheiten des Singens zu erklären, unter anderem auch die Unterschiede zwischen Frauen- und Männerstimmen. 16 Andere Körperteile als der Hals kommen sowohl bei Tosi als auch bei Agricola nur am Rande zur Sprache. Tosi fordert den Schüler auf, stehend zu singen, „damit die Stimme völlige Freyheit habe sich zu bilden“, 17 er vermeide das Grimassieren und halte den Mund in Lächelstellung. 18 Erst Agricola bringt diese beiden Aspekte, das Stehen und die Mundstellung, in Zusammenhang mit der Atmung und spricht damit das Thema an, das für spätere Konzepte des Singens von so großer Bedeutung werden sollte: Ob man stehend oder sitzend singe, habe Auswirkungen auf den Luftverbrauch, und „wenn der Mund mehr in die Breite eröffnet ist, [findet] die Luft, und folglich die Stimme, einen noch freyern Ausgang“. 19 Mehr Bemerkungen zu Atmung und Körperhaltung gibt es jedoch auch bei Agricola nicht.

15 Das Falsett, die „voce falsa“ – falsche Stimme –, wurde der „voce naturale“ gegenüber gestellt, bei der die entsprechend hohen Töne Teil des normalen Stimmumfangs sind. Aus diesem Grunde galt auch der hohe Gesang von Kastraten als „voce naturale“. Vgl. hierzu Herr, Corinna: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur‘? Kastraten und Falsettisten in der Musikgeschichte, Kassel: Bärenreiter 2013, S. 16ff. et passim. 16 Vgl. Tosi/Agricola: Anleitung zur Singkunst, S. 37–42. 17 Ebd., S. 43. 18 Vgl. ebd., S. 44. 19 Ebd., S. 44.

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Rund hundert Jahre später erscheint der Traité complet de l’art du chant 20 von Manuel Garcia d. J., den man bei oberflächlicher Betrachtung als Weiterentwicklung der mit Agricola bzw. Ferrein einsetzenden wissenschaftlichen fundierten Stimmforschung betrachten könnte. Berühmt ist Garcia heute vor allem für die Erfindung der Laryngoskopie, mit der er die Bewegungen der von Ferrein entdeckten Stimmlippen erstmals sichtbar machte. Betrachtet man jedoch Garcias Traité näher, wird deutlich, dass das Innovative seiner Überlegungen auf einem anderen Gebiet liegt. Er ordnet das Singen in ein neues körpergeschichtliches Konzept ein: das des Körpers als einer von ihrem Besitzer bedienten Maschine. 21 Dies zeigt sich bereits an seiner Definition des Stimmorgans. Sie ist für ihn ein „Werkzeug“, bestehend „aus drei Theilen, wovon jeder seine besondere, eigene Verrichtung hat, nämlich: Eine Art von Balg oder Windröhre, (die Lungen und Luftröhre); Ein Schwinger (Vibrateur der Kehlkopf, und Ein Ton- oder Klangbestimmer, (Modificateur) der Pharynx; (Schlund, und die Mund- und Nasenhöhlungen.) Der Sänger muss, um die materiellen Schwierigkeiten seiner Kunst zu beherrschen, den Mechanismus aller dieser Theile, je nach Bedürfnis, einzeln, so wie in ihrer Gesammtwirkung besitzen“. 22

Hier ist deutlich ein mechanistisches Körperbild zu erkennen. Es zeigt sich nicht nur darin, dass der Körper aus ineinandergreifenden Einzelteilen bestehend gedacht wird. Entscheidend ist, dass die Einheit von Leib und Seele aufgebrochen ist. Der Mensch ist nicht mit seinem Leib identisch, sondern er muss seinen Körper „besitzen“. Anke Charton spricht von der „Vorstellung eines Körpers als eines Instruments, das man hat und beherrscht“ 23 – eine Formulierung, die sich in der zitierten Garcia-Übersetzung (und im französischen Original) nahezu

20 Zitiert wird im Folgenden aus der deutschen Übersetzung der zweisprachigen Erstausgabe: Garcia, Manuel: École de Garcia. Traité complet de l’art du chant / Garcias Schule oder Die Kunst des Gesanges. In allen ihren Theilen vollständig abgehandelt. Der deutsche Text von C. Wirth. 1. Theil, Mainz: Schott o. J. [1841]. Die eigenwillige Orthographie wird aus dieser Ausgabe übernommen. 21 Vgl. zu diesem Konzept die wegweisende Studie von Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 22 Garcia: École de Garcia, S. XXV. 23 Charton, Anke: prima donna, primo uomo, musico. Körper und Stimme: Geschlechterbilder in der Oper (= Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung, Band 4), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 26.

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wörtlich wiederfindet: die Stimme als „Werkzeug“ („instrument“), das der Sänger „beherrschen“ („dominer“) und „besitzen“ („posseder“) soll. Auch Garcia geht davon aus, dass der Sänger bestimmte „physische Anlagen“ („dispositions physiques“) benötigt. Hier ist noch das Konzept der „natura“ zu erkennen, allerdings in einer gegenüber der Frühen Neuzeit grundlegend veränderten Wertung. Das natürlich Gegebene ist für Garcia zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das kunstvolle Singen: Es bedarf der Arbeit, um die Stimme benutzbar zu machen: „Die glücklichsten Anlagen müssen gepflegt, gebildet und ausgebildet werden, was man nur durch anhaltende Arbeit und eine vernunftgemässe Richtung derselben bewerkstelligen kann.“ 24 Im „natürlichen Zustande“ hingegen sei die Stimme ein ungestaltetes Rohmaterial, und Gegenstand der Ausbildung ist nicht der Gebrauch der vorhandenen Stimme, sondern die Bearbeitung des Materials, um die Stimme erst herzustellen – eine Tendenz, die der deutsche Übersetzer von Garcias Traktat verstärkt, indem er einen Begriff aus der Holz- oder Steinbearbeitung verwendet: das Schleifen. „Die Stimmen im natürlichen Zustande sind fast alle hart, ungleich, selbst meckernd, endlich schwerfällig oder träge und von geringem Umfange. Ausdauernde, gute Uebung, gründliche Studien allein, führen zu einem sichern Angeben der Töne, d. h. zu einer reinen Intonation. Durch die Uebung werden Rauhigkeit und Härte abgeschliffen, das Ungleiche, Unzusammenhängende der Register verschwindet, die Stimme gewinnt bedeutend an Umfang, die Töne werden klangvoller, reiner, veredelter […].“ 25

Hier erscheint der Mensch als Beherrscher der Natur und zugleich als Zuchtmeister, der den widerspenstigen Naturkörper – immerhin seine eigene Stimme! – streng disziplinieren muss: „Nicht nur hartnäckige, rebellische Organe müssen sich strengen Übungen unterwerfen, sondern auch solche, welche durch eine gefährliche Leichtigkeit hingerissen sich nicht beherrschen können.“ 26 Für Garcias Vorstellung vom Singen als einer vom Besitzer des „Stimmapparates“ gesteuerten Körpermechanik ist der Begriff „Gesangstechnik“, den Schwannberger für die frühneuzeitlichen Konzepte von Singen zu Recht

24 Garcia: École de Garcia, S. 1. 25 Ebd., S. 2. Im französischen Original beginnt der dritte hier zitierte Satz: „Par l’étude, on nivelle les aspérités […]“ 26 Ebd., S. 2.

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verwirft, ein treffender Terminus. 27 Wenn der Begriff indessen heute oft verwendet wird, sobald es um das Wie des Singens (gleich in welcher Epoche) geht, so zeugt dies davon, in welchem Maße das dahinter verborgene Konzept des Körpers als eines maschinenartigen Mechanismus noch immer wirksam ist. Damit sei beileibe nicht gesagt, dass das Körperbild im heutigen Gesangsdiskurs noch vollständig dasselbe wäre wie bei Garcia. Bereits ein oberflächlicher Blick in ausgewählte Gesangslehrschriften zeigt eine gegenüber Garcia veränderte Tendenz. Der Aspekt der Disziplinierung des Körpers tritt immer mehr zurück zugunsten einer prinzipiell körperfreundlichen Grundhaltung, die Funktionalität und Wohlgefühl miteinander verbindet: Was sich gut ‚anfühlt‘, ist auch im technischen oder funktionalen Sinne ‚richtig‘. Diese Haltung, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen und später etwa Frederick Alexander oder Moshé Feldenkrais bzw. die ihnen verpflichteten Schulen vertreten, ist oft mit einer pathologistischen Argumentation verbunden: Viele Schriften zur Gesangslehre beginnen mit der Diagnose, dass sich der Mensch von seiner Natur entfernt und den gesunden Gebrauch des Körpers verlernt habe, weshalb er nun die richtige Atmung und Körperhaltung erst wieder lernen müsse. Dieses Motiv findet sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Schlaffhorst und Andersen. Sie machen das „stundenlange Sitzen“ in der Schule als wie die „allgemein zunehmende Degeneration“ für die von ihnen diagnostizierten schlechten Körperzustände von Kindern verantwortlich und fordern, die Atemschulung in den Fächerkanon des allgemeinen Schulunterrichts zu übernehmen. 28 Ganz ähnlich konstatiert fast 80 Jahre später Cathrine Sadolin: „Die Stimme arbeitet in der Regel perfekt, bis sie durch Spannungen daran gehindert wird, die sich während der Kindheit einstellen. Gesangstechnik dient hauptsächlich dazu, diese Spannungen zu beseitigen, sodass die Stimme ungehindert arbeiten kann. Dies bedeutet, dass jeder Mensch singen kann, wenn die Stimme nicht in ihrer natürlichen Funktion behindert wird.“ 29

27 Der Begriff „Gesangstechnik“ wird im späten 19. Jahrhundert erstmals verwendet. Das früheste mir bekannte Beispiel ist Stockhausen, Julius: Gesangstechnik und Stimmbildung, Leipzig: Edition Peters 1886. 28 Schlaffhorst, Clara/Andersen, Hedwig: „Entwicklung der gestaltenden Kräfte aus dem Rhythmus der Atmung (1926)“, in: Dies.: Atmung und Stimme. Neu hrsg. von Wilhelm Menzel, Wolfenbüttel: Möseler 1928, S. 57–71. 29 Sadolin, Cathrine: Komplette Gesangstechnik. Deutsche Version, Kopenhagen: Shout Publishing 2009, S. 6.

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Nicht selten wird diese Diagnose auf die gesamte Menschheit ausgeweitet, wie etwa bei Husler und Rodd-Marling: „Singenkönnen gehört einfach zur Gattung Mensch, er ist so beschaffen. Aber man kann annehmen: allein schon durch den generellen Nichtgebrauch des Gesangsmechanismus […], d. h. weil sie seit geraumen Zeiten nicht mehr ganz allgemein singt, leidet die gesamte Menschheit an einer chronischen, schon normal gewordenen, leichteren oder schwereren Phonasthenie (d. i. Stimmschwäche, chronisch in sich zusammengefallener Mechanismus).“ 30

Anders als bei Garcia ist das Ziel der Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts zumeist nicht, die ‚natürlichen‘ Leistungsgrenzen zu überschreiten und im Hinblick auf Umfang und Volumen über das eigentlich ‚Normale‘ hinaus zu gelangen. Stattdessen geht es darum, die verloren gegangenen Fähigkeiten zurück zu gewinnen. „Singen ist eine natürliche Fähigkeit, die schon Babies bei der Geburt mitbringen“, stellt etwa Karin Wettig fest; 31 die Stimmausbildung ziele darauf, die durch Erziehung und moderne Lebensweise verlorene natürliche Singfähigkeit wieder herzustellen: „Eine menschliche Stimme von blockierten Emotionen, falscher Muskelanspannung und Zurückhaltung zu befreien, ist ebenso wunderbar, wie wenn man ein Tier aus einem Käfig in die Freiheit entlässt.“ 32 Insofern von natürlichen Gaben ausgegangen wird, könnte man darin eine Rückwendung zum frühneuzeitlichen Natura-Begriff sehen. Allerdings stehen diese Gaben hier eben nicht wie ein Geschenk zur Benutzung bereit, sondern es gilt, frei nach Goethe, die Maxime „Erwirb sie, um sie zu besitzen“. Die gegenwärtige Gesangspädagogik ist, noch viel mehr als zur Zeit Garcias, in dessen Lehrwerk Übungsbeispiele zum Erlernen des Ziergesangs noch immer einen großen Raum einnehmen, in erster Linie Körper-Arbeit. Dieses Konzept hat sich, so scheint es, fast flächendeckend durchgesetzt, und zwar im Hinblick auf beide Aspekte des Kompositums: Wissen um den Körper und seine Mechanismen bilden den Ausgangspunkt sängerischer Ausbildung, und es ist Arbeit, ihn den Anforderungen entsprechend auszubilden. Dies schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, dass für das Singen Begriffe und Praktiken aus dem Sport verwendet werden: Man beginnt das tägliche Üben mit dem „Aufwärmen“ der Stimme, fährt mit „Übungen“ für die Atmung und die Muskulatur fort, „lockert“ die Stimme

30 Husler/Rodd-Marling: Singen, S. 15f. 31 Wettig, Karin: Belcanto in Theorie & Praxis. Gesang, Stimme, Körper, Atem. Handbuch für Gesang & Bühne, München: PersonalityStyling 2013, S. 86. 32 Wettig: Belcanto in Theorie & Praxis, S. 87.

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zwischendurch und „trainiert“ täglich, um die „Leistung“ und die „Kondition“ der Stimme zu verbessern. Schon 1861 wählte der Gesangspädagoge Oskar Guttmann für seine Lehrschrift den Titel Die Gymnastik der Stimme. 33 Heute nennt sich eine einflussreiche Schule der Stimmausbildung „funktionales Stimmtraining“, und es ist bezeichnend, dass die grundlegenden Schriften dazu in einer Schriftenreihe zur Arbeitswissenschaft erschienen sind. 34

D AS P RIMAT

DER

ATMUNG

Auch Garcias Vorstellung, das Stimmorgan sei ein komplexer Zusammenhang diverser Elemente, ist noch heute aktuell. Der Hals oder Kehlkopf hat seine Rolle als das eigentliche Gesangs-Organ, die ihm noch bei Agricola zugeschrieben wurde, bislang nicht wieder erlangt. Er gilt als ein bloßer Teil des „Stimmapparats“ – ein Terminus, der auf Garcias Begriff „l’appareil vocal“ 35 zurückgehen dürfte. Dass der Kehlkopf nicht isoliert verwendet werden kann, sondern sich in Abhängigkeit von den Organen um ihn herum befindet, ist heute allgemein akzeptiert. Selbstverständlich ist es nicht Ziel dieses Beitrags, die entsprechenden Erkenntnisse der Stimmphysiologie anzuzweifeln, die sich im Modell und mittlerweile auch mit bildgebenden Verfahren nachweisen lassen. Dessen ungeachtet können sie im Kontext des Körperdiskurses analysiert werden. Ein weiterer Aspekt kennzeichnet das moderne Bild des Sängerkörpers: die zentrale Bedeutung der Atmung. Befassen sich die Quellen der Frühen Neuzeit, wie oben ausgeführt, noch kaum mit dem Thema, so nimmt es bei Garcia bereits breiten Raum ein, wenn auch vor allem im theoretischen Teil und weniger in Gestalt praktischer Atemübungen. Garcia betont den Zusammenhang von Stimm- vom Atemapparat: „Die Stimmwerkzeuge hängen unmittelbar von den Athemwerkzeugen ab, und beide Verrichtungen, Athem und Stimme, denselben gemeinschaftlichen Organen angehörend, sind innig verbunden.“ 36 Allerdings

33 Guttmann, Oskar: Die Gymnastik der Stimme, gestützt auf physiologische Gesetze. Eine Anweisung zum Selbstunterricht in der Übung und dem richtigen Gebrauche der Sprach- und Gesangsorgane, Leipzig: Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber 1861. 34 Rohmert, Walter (Hg.): Grundzüge des funktionalen Stimmtrainings (= Dokumentation Arbeitswissenschaft, Band 12), Köln: O. Schmidt 1984; Rohmert, Gisela: Der Sänger auf dem Weg zum Klang. Lichtenberger musikpädagogische Vorlesungen (= Dokumentation Arbeitswissenschaft, Band 28), Köln: O. Schmidt 1991. 35 Garcia, École de Garcia, S. X. 36 Ebd., S. X.

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verortet er die Atmung noch ausschließlich im Brustraum, der nach unten hin durch das Zwerchfell abgeschlossen werde. Die heute gängigen Vorstellungen wie Bauch- oder Flankenatmung kennt Garcia noch nicht; er empfiehlt lediglich, das Zwerchfell beim Einatmen nach unten zu wölben, damit der Sänger möglichst viel Luft bekommt. Im Vergleich dazu fallen in jüngeren Schriften – bis heute – vier Punkte auf. Erstens wächst die Bedeutung der Atmung noch weiter an; sie wird oft als der primäre Ausgangspunkt des Singens behandelt. Besonders einflussreich waren hier die Werke von Schlaffhorst und Andersen (die sich ihrerseits auf die um 1890 erschienene Kunst des Atmens von Leo Kofler beziehen 37), allerdings behandeln schon ältere Lehrwerke die Atmung an prominenter Stelle – etwa jene von Oskar Guttmann, 38 Ferdinand Sieber 39 oder Lilli Lehmann, die formuliert: „Den Atem zu regulieren, ihm die passende Form zu bereiten, in der er laufen, kreisen, sich entfalten und seine ihm nötigen Resonanzräume erreichen kann, muss unsere Hauptaufgabe sein.“ 40 Viele einschlägige Schriften des späten 20. und des 21. Jahrhunderts beginnen ihre Lehrgänge mit einem ausführlichen Kapitel über die Atmung. 41 Bisweilen scheint es, als sei das Singen nur ein Mittel, um den Atem zu ‚befreien‘, wie etwa in Karl Adameks Singen als Lebenshilfe. 42

37 Kofler, Leo: Die Kunst des Atmens als Grundlage der Tonerzeugung für Sänger, Schauspieler, Redner, Lehrer sowie zur Verhütung und Bekämpfung aller durch mangelhafte Atmung entstandenen Krankheiten. Aus dem Englischen übersetzt von Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1897. (Original u. d. T. The Art of Breathing as the Basis of Tone-Production. A Book Indispensable to Singers, Elocutionists, Educators, Lawyers, Preachers, and to All Others Desirous of Having a Pleasant Voice and Good Health, London: J. Curwen & Sons 1897 [1. Auflage ca. 1890]). 38 Oskar Guttmann: Die Gymnastik der Stimme, Leipzig: Weber Verlag 1902. 39 Sieber, Ferdinand: Katechismus der Gesangskunst, Leipzig: Weber Verlag 51894, S. 22. 40 Lehmann, Lilli: Meine Gesangskunst, Berlin: Verlag der Zukunft 1902, S. 5. 41 Z. B.: P. Jacoby: Die eigene Stimme finden; G. Rohmert: Der Sänger auf dem Weg zum Klang; Brünner, Richard: Gesangstechnik, Regensburg: Feuchtinger & Gleichauf (11985) 21993; Haefliger, Ernst: Die Singstimme, Bern: Hallwag 1983; Pinksterboer, Hugo: Schott Praxis-Guide Singing Voice. Das komplette Know-how für die Singstimme. Aus dem Englischen von Hermann Martlreiter und Heike Bruhl, Mainz: Schott 2009; Sadolin, Cathrine: Komplette Gesangstechnik; auch Werke von Stimmwissenschaftlern betonen das Primat der Atmung, z. B. Richter, Bernhard: Die Stimme. Grundlagen. Künstlerische Praxis. Gesunderhaltung. Mit Beiträgen von Matthias

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Die Bedeutung der Atmung geht – zweitens – auf Kosten des eigentlichen Singens. Zuweilen wird regelrecht damit kokettiert, dass Singen vor allem Atmen sei. So schreibt Maria Höller-Zangenfeind: „Dass der Atem für die Stimme wichtig ist, ‚stimmt‘ nicht ganz. Die Stimme ist der Atem, und zwar der Ausatem. Was wir als Stimme hören, ist bewegte Luft, die der Körper entlässt. Der Kehlkopf besitzt dabei die Funktion eines Ventils.“ 43 Am Anfang ihres Lehrgangs stehen Atem- und Körperübungen, die bei Füßen und Beinen beginnen und über die Körpermitte bis zu „Hals und Kopf“ aufsteigen. Dabei ist der Hals als „Ort des Durchgangs“ definiert, der vor allem frei sein muss, denn sonst werden der „freie Durchfluss des Blutes“ und die „aufsteigende Atemluft“ beeinträchtigt. 44 Konsequenterweise betreffen die wenigen Übungen für den Hals ausschließlich die Haltung der Halswirbelsäule, sodass die folgende Feststellung fast überflüssig erscheint: „Stimme ist mehr als die Funktion der Kehle“ 45 – denn die Kehle selbst ist im ganzen Buch praktisch kein Thema. Auch der Mediziner und Stimmforscher Bernhard Richter spielt die Bedeutung des Singens zugunsten der Atmung herunter, indem er mehrfach betont, dass die Stimme nur ein „Nebenprodukt“ der Atmung sei: „Die komplexen Funktionsabläufe und der vielschichtige Aufbau dienen der primären Funktion des Kehlkopfes, die Atmung bei gleichzeitigem Schutz der unteren Atemwege sicherzustellen. […] Die Stimmgebung hat sich sozusagen als ‚Nebenprodukt‘ dieses komplexen Verschlussmechanismus herausgebildet.“ 46

Drittens wird der Atem immer tiefer im Körper verortet. Noch bei Garcia schloss, wie gesehen, das Zwerchfell den für die Atmung bestimmten Raum nach unten ab; Vorstellungen wie Bauch- oder Flankenatmung kennt er noch

Echternach et al., Leipzig: Henschel 2013; oder Seidner, Wolfram/Wendler, Jürgen: Die Sängerstimme. Phoniatrische Grundlagen der Gesangsausbildung, Berlin: Henschel 31997. 42 Adamek, Karl: Singen als Lebenshilfe. Zu Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Plädoyer für eine „Erneuerte Kultur der Singens“, Münster/New York: Waxmann 1996. 43 Höller-Zangenfeind, Maria: Stimme von Fuß bis Kopf. Ein Lehr- und Übungsbuch für Atmung und Stimme nach der Methode Atem–Tonus–Ton, Innsbruck: Studienverlag (12004) 22007, S. 26. 44 Vgl. M. Höller-Zangenfeind, Stimme von Fuß bis Kopf, S. 160. 45 Ebd., S. 174. 46 Richter: Die Stimme, S. 57; ähnlich ebd., S. 51f.

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nicht. Lilli Lehmann schildert, dass sie zunächst die Hochatmung erlernt habe: „Bauch und Zwerchfell einziehen, die Brust heben, den Atem in derselben mit Hilfe der Rippen festzuhalten. Beim Ausströmen des Atems den Leib allmählich langsam freizugeben, die Brust langsam sinken zu lassen.“ 47 Im Laufe ihrer Karriere gelangte sie zu einer anderen Atemtechnik, die zwar noch immer im Brustraum verortet ist, jedoch das Heben der Brust vermeidet: „Das Zwerchfell ziehe ich bewusst kaum ein, den Bauch niemals, fühle den Atem sich in den Lungen blähen, die oberen Rippen sich dehnen. Ohne die Brust besonders zu heben, treibe ich den Atem gegen die Brust und halte ihn hier fest.“ 48 Das Heben der Brust beim Atmen – auch als „Schulter-“ oder „Schlüsselbeinatmung“ bezeichnet – ist in jüngeren Gesangsschulen geradezu tabu; 49 typisch ist etwa der Selbsttest, den man laut Brünner durchführen soll: „Hat aber Ihre Überprüfung ergeben, dass beim Einatmen nicht die Leibesmitte, sondern Ihre Brust herausgekommen ist, wobei der Bauch hineinging, dann stimmt Ihre Atmung nicht.“ 50 Was die bessere Alternative ist und was der passende Begriff dafür, dazu gehen die Meinungen allerdings auseinander; im Angebot sind z. B. Bauchatmung, Zwerchfellatmung, Abdominalatmung, Flankenatmung oder Rückenatmung, zuweilen auch in Kombination mit der Weitung des Brustraums (Costo-Abdominalatmung). Propagiert wird zuweilen auch das Atmen in den Beckenboden hinein, wenn nicht gar in die Beine oder die Füße. 51 Das Argument für die möglichst tief in der Körpermitte verortete Atmung ist – neben der Effizienz oder Ökonomie 52 – vor allem der mittelbare Zusammenhang zwischen Zwerchfell und Kehlkopfposition, ein vierter charakteristischer Aspekt moderner Gesangslehren. Ernst Haefliger etwa propagiert eine „Zwerchfell-Bauch-Atmung“, weil „dadurch der Kehlkopf in seinem Aufhängesystem durch die Muskeln, die an der oberen Brustkorböffnung ziehen und bei Hebung des Brustkobes angespannt werden, in eine mittlere Tiefstellung gebracht“ wer-

47 Lehmann, Meine Gesangskunst, S. 5. 48 Ebd. 49 Bereits bei Noë, Oskar/Moser, Hans-Joachim: Technik der deutschen Gesangskunst, Leipzig: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. 1912, S. 54f. 50 R. Brünner: Gesangstechnik, S. 10. 51 So die Erfahrungen der Autorin aus eigenem Unterricht oder ‚Einsingübungen‘ im Chor. 52 Siehe zusammenfassend Vormann-Sauer, Martina: Die Singstimme der Frau. Anatomie und Physiologie – Technik und Strategien klassischen Singens (= Forum Musikpädagogik, Bd. 137), Augsburg: Wißner Verlag 2017, S. 38f.

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de, die für die „ausgeglichene Klangbildung im Kehlkopf“ wichtig sei. 53 Der komplizierte Satzbau Haefligers ist bezeichnend für die Art und Weise, wie über diesen Zusammenhang in vielen Gesangslehrschriften gesprochen wird. Oft unterstützt durch Grafiken, entwerfen sie den „Vokalapparat“ oder „Vokaltrakt“ als überaus komplexen Mechanismus, in dem die Kehle nur ein Element von vielen ist, das mit zahlreichen anderen in Verbindung steht und in seinen Bewegungen von diesen abhängig ist. Ein Beispiel dafür ist die Schrift von Husler und RoddMarling, die ausführlich den aus Hunderten von Muskeln bestehenden „Einhängemechanismus“ erläutert, in dem sich der Kehlkopf befinde, 54 ein anderes Gisela Rohmerts Konstrukt der „Diaphragmenkette“. 55 Bei allen Differenzen im Detail dienen diese Vorstellungen der – mehr oder weniger wissenschaftlichen – Begründung der Tiefatmung: Sie zu erreichen (und durch die ‚Stütze‘ beizubehalten) ist notwendig, damit der Kehlkopf in tiefer Position verharrt bzw. dabei unterstützt wird, nicht in einen unerwünschten Hochstand zu geraten: „Wenn gute Sänger einatmen, weiten sich Bauch und Flanken“, stellt Hugo Pinksterboer fest, 56 während die „flache Brust- und Hochatmung“ nicht genug Luft liefere – „[a]ußerdem können sich der Kehlkopf und andere Teile der Stimme verspannen“. 57 Bis auf wenige Ausnahmen ist Common sense: „Gutes Singen ist […] in der Regel mit einer ziemlich tiefen Kehlkopfstellung verbunden […] Eine tiefe Kehlkopfstellung ermöglicht eine optimale Benutzung der Stimmlippenmuskeln und schafft die akustischen Bedingungen für die Verstärkung der stimmlichen Brillanz direkt oberhalb der Stimmlippen.“ 58

D IE M ARGINALISIERUNG DES K EHLKOPFS Dass in modernen Gesangsschulen zwar nicht dem Kehlkopf selbst, aber seiner Position so große Aufmerksamkeit geschenkt wird, geht ebenfalls auf Garcia zurück. Zu den Kernpunkten seiner Theorie gehört, das „Klanggepräge“ (Timbre 59)

53 E. Haefliger: Die Singstimme, S. 63. 54 Vgl. Husler/Rodd-Marling: Singen, passim. 55 Vgl. Rohmert: Der Sänger auf dem Weg zum Klang, S. 32–37. 56 Pinksterboer: Schott Praxis-Guide Singing Voice, S. 18. 57 Pinksterboer: Schott Praxis-Guide Singing Voice, S. 41. 58 Jacoby: Die eigene Stimme finden, S. 133. 59 Im französischen Original verwendet Garcia den Begriff „timbre“, der damals offenbar noch einer deutschen Übersetzung bedurfte, sich jedoch heute im Deutschen als Terminus durchgesetzt hat.

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der Stimme mit der Kehlkopfstellung in Verbindung zu bringen: „Die geringste Modification im Klanggepräge bringt unfehlbar eine Veränderung in der Stellung des Kehlkopfes mit sich.“ 60 Die Kehlkopfstellung wiederum stehe mit den Bewegungen der Pharynx (Schlund) in Abhängigkeit, deren Form ihrerseits von den Bewegungen des Gaumens und der Zunge abhängig sei – daher „muss die Aufmerksamkeit des Sängers hauptsächlich auf die Bewegungen dieser zwei Organe gerichtet sein“. 61 Wie helles oder dunkles Timbre hergestellt werden, wird dann breit ausgeführt, ebenso, welche fehlerhaften Bewegungen oder Einstellungen einen schlechten Klang – Gurgelton, Nasenton, rauer hohler Ton usw. – zur Folge haben. Der Kehlkopf wird hier also als passives Organ definiert: Er bewegt sich nicht selbst, sondern wird bewegt – in Abhängigkeit von anderen Organen, deren Bewegungen der oder die Singende entsprechend seiner oder ihrer klanglichen Vorstellung steuert. Nicht der Kehlkopf – wie er der Sängerin gegeben ist – ist also maßgeblich für den Klang der Stimme, sondern die Sängerin selbst. Diese Tendenz verstärkt sich in Lehrschriften des 20. und 21. Jahrhunderts. Obwohl die meisten von ihnen detailreich Anatomie und Physiologie des Kehlkopfes beschreiben, betonen viele Autoren und Autorinnen quasi im selben Atemzug, dass das Singen eben nicht (oder nicht nur) in der Kehle stattfinde. Oft wird davor gewarnt, der Kehle zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Noë und Moser etwa betonen: „[S]obald der Schüler an den Kehlkopf ‚denkt‘, will er ihn auch ‚fühlen‘. Das Muskelgefühl stellt sich aber nur ein, wenn die betreffenden Muskeln innerviert werden – ‚denkt‘ der Schüler an seinen Kehlkopf, so heißt das, er macht unnötige Muskelanspannungen, und das gerade ist diesem empfindlichen Organ gegenüber das Allerschädlichste.“ 62 Brünner zitiert zustimmend den legendären Gesangspädagogen Johannes Messchaert: „Beim Singen sollte man im Kehlkopf nicht mehr spüren als im Auge beim Sehen,“ um zu folgern: „Es ist auch wirklich besser, im Unterricht möglichst wenig vom Kehlkopf und den Stimmbändern zu reden, sondern nur das Notwendigste in einer praxisnahen Erklärung zu bringen.“ 63 Hugo Pinksterboers Lehrbuch behandelt zunächst Atmung, Atemstütze und Körperhaltung und klärt erst danach, „[w]as du mit dem Hals (nicht) tun solltest“. 64 Franziska Martienßen bringt den Hals fast zum Verschwinden: „Der ganze Hals ringsherum bis auf [die] Nackenmuskeln

60 Garcia: École de Garcia, S. XX. 61 Ebd., S. XXI. 62 Noë/H.-J. Moser: Technik der deutschen Gesangskunst, S. 34f. 63 Brünner: Gesangstechnik, S. 29. 64 Pinksterboer: Schott Praxis-Guide Singing Voice, S. 39.

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ist völlig entspannt zu denken, ist Luft, ist einfach nicht vorhanden.“ 65 In ihrem Kapitel über „Räumliche und bildhafte Vorstellungen im Gesange“ widmet sie sich dem scheinbaren Widerspruch zwischen zwei von ihr propagierten Vorstellungen: zum einen, „daß der gute Ton z. B. im Kopf sitzt statt im Halse“, zum anderen, „den Ton ‚vom Unterleib‘ aus anzusetzen“. 66 Ausführlich legt sie dar, wie sich diese Vorstellungen vertragen – aber eines ist dabei stets klar: Im Hals wird der Ton nicht produziert. Hier zeigt sich erneut die große Entfernung von den frühneuzeitlichen Traktaten, die die Stimme mit Selbstverständlichkeit im Hals verorten: „Die Knaben sollen vom anfange alßbald gewehnet werden / die Stimmen fein natürlich / und wo müglich fein zitternd oder bebend / und schwebend / in gutture, in der Kehlen oder im Halse zu singen.“ 67 Deutlich wird hier auch, in welchem Maße die Körperkonstruktion mit der Frage verbunden ist, wer als Urheber der Stimme – und damit auch des Körpers selbst – angesehen wird. Im frühneuzeitlichen Konzept ist der Kehlkopf alleiniger Sitz der Singstimme, dort wurde sie vom Schöpfer platziert. Das moderne, bürgerliche Konzept, in dem die Stimme von ihrem ‚Besitzer‘ durch Körperarbeit erst gebildet bzw. erschlossen wird, geht hingegen mit einer Marginalisierung der Kehle zugunsten der umgebenden ‚StimmMaschine‘ einher. Der Kehlkopf ist mithin auch ein Körpersymbol für das gewandelte Verständnis der „Natur“.

D AS V ERSCHWINDEN DES K OLORATURGESANGS UND DIE B ESEELUNG DES ATEMS In dem Maße, in dem sich die Vorstellung des Singens als Körperarbeit durchsetzt, büßt die Verzierungslehre ihre zentrale Rolle unter den Gegenständen der Gesangsausbildung ein. Bei einer vergleichenden Durchsicht von GesangsLehrschriften seit dem 17. Jahrhundert ist dies schon äußerlich daran erkennbar, dass die Anzahl der als Notenbeispiele notierten Übungen immer mehr sinkt. Man mag einen ersten Vorboten dieser Entwicklung in der bereits stark

65 Martienßen, Franziska: Das bewusste Singen. Grundlegung des Gesangstudiums, Leipzig: C. F. Kahnt Nachfolger 1923, S. 25. 66 Ebd., S. 99. 67 Friderici, Daniel: Musica Figuralis, Rostock: Johann Hallervordt 1638, S. 41, zit. n. S. Schwannberger, Studio et amore, S. 287; dort weitere Beispiele.

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theoretisch ausgerichteten Schrift von Tosi erkennen. 68 Dennoch bestehen bis ins 19. Jahrhundert hinein Gesangsschulen überwiegend aus Notenbeispielen, und noch in Garcias Traité finden sich im Anschluss an die ausführliche Darstellung der Stimmphysiologie Hunderte von Übungen für „Skalen, Läufe, Rouladen“, Tonwiederholungen, Vorschläge, Triller und zahlreiche andere Aspekte des Koloraturgesangs. Allein die heute fast vergessene terminologische Differenzierung der verschiedenen Arten des Trillers – sprungweiser Triller, geschleifter Triller, Mordenttriller, chromatischer Triller etc. – gibt einen Eindruck vom Niveau der virtuosen Gesangskunst der Zeit Garcias. Im 20. Jahrhundert sinkt die Bedeutung der Koloraturübungen kontinuierlich. Lilli Lehmann etwa gibt in ihrer 1902 erschienenen Schrift Meine Gesangskunst auf nur zweieinhalb Seiten allgemeine Hinweise und wenige Übungen dazu. Gleichwohl betont sie den Stellenwert des Koloraturgesangs für die Gesangskunst: „Sänger und Sängerinnen, denen Triller und Geläufigkeit fehlen, kommen mir vor wie Pferde ohne Schwänze. Beides gehört zur Gesangskunst und ist von ihr unzertrennlich. Ob der Sänger sie anzuwenden hat, oder nicht, ist ganz gleichgültig, er muss beides können.“ 69 Im Vergleich dazu fällt in der ein halbes Jahrhundert jüngeren Schrift von Husler und Rodd-Marling auf, dass dort Koloratur gerade nicht als Kunst verstanden wird: „Über das Singen von Koloraturen herrscht heute meist die Vorstellung, es handle sich damit [!] um etwas Künstliches oder doch Kunstvolles, um das ‚Technische‘ schlechthin. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. […] Ist das Stimmorgan geweckt, gut innerviert, ist seine rhythmische Geladenheit frei gemacht, dann ist jedenfalls die Geläufigkeit von allen Dingen, um die es geht, die einfachste Leistung für das Organ.“ 70

Der Begriff ‚Kunst‘ indessen wird in diesem Zusammenhang nur noch mit distanzgebenden Anführungszeichen verwendet: „In guten Schulen werden Koloraturen […] nicht geübt, um eine ‚Kunst‘ zu erringen, sondern um das Organ zu verlebendigen, um seine wahre Natur zu erwecken.“ 71 Hier verkehren sich im Vergleich zu früheren Schulen Ursache und Wirkung: Koloraturfähigkeit ist nicht mehr Zweck der Ausbildung, sondern zu einem bloßen Mittel abgesunken, das dazu dient, der Stimme ihr ‚natürliches‘ Potenzial zu erschließen. Konse-

68 So auch Seedorf, Thomas: „Einführung“, in: Agricola, Johann Friedrich: Anleitung zur Singkunst. Reprint der Ausgabe Berlin 1757. Hrsg. und kommentiert von Thomas Seedorf, Kassel: Bärenreiter 2002, S. VII–XXIX, hier S. XI. 69 Lehmann: Meine Gesangskunst, S. 37. 70 Husler/Rodd-Marling: Singen, S. 115. 71 Ebd., S. 115.

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quenterweise widmen Husler und Rodd-Marling der Koloratur und dem Triller jeweils nur wenige Zeilen. Das ist allerdings immer noch mehr als in vielen jüngeren Schriften, in denen die Koloratur nur noch ganz am Rande oder überhaupt nicht mehr vorkommt. 72 Das gilt sogar für Werke, die sich explizit auf die Tradition des klassischen Belcanto beziehen, für den der Ziergesang ja essenziell war, 73 wie Karin Wettigs Belcanto in Theorie & Praxis. 74 Nicht nur am Fehlen jeglicher Koloraturübungen ist erkennbar, dass sie eindeutig der modernen Vorstellung vom Singen als Körpertraining verpflichtet ist: „Singen gehört zu den Sportarten, die in jedem Alter ausgeübt werden können und die Gesundheit durch bessere Atmung, aufrechte Körperhaltung und bessere Muskelfunktionen stärken.“ 75 Dieses Bild spiegelt, wie sehr sich die Vorstellungen von sängerischer Kompetenz geändert haben. Die Beherrschung des Koloraturgesangs, jahrhundertelang selbstverständliche Bedingung für eine Sänger/-innen-Karriere 76, ist an den Rand gerückt – eine Entwicklung, die zweifellos mit der Herausbildung der so genannten dramatischen Stimmfächer in der Grand Opéra und vor allem dem Wagner-Gesang zu tun hat. 77 Der Koloraturgesang wird zugleich immer mehr zu einem Spezialfach, dessen künstlerischer Anspruch in Frage gestellt wird und dessen Vertreterinnen nicht selten als eitle Selbstdarstellerinnen betrachtet wer-

72 Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Schrift von Ernst Haefliger, der im Kapitel „Umfang, Volumen, Geläufigkeit und Virtuosität“ (E. Haefliger: Die Singstimme: Hallwag, S. 129ff.) viele Übungen präsentiert, die er teilweise von Garcia übernimmt; auch eine kurze Lehre historischer Verzierungen findet sich bei ihm. 73 Vgl. Celletti, Rodolfo: Geschichte des Belcanto. Deutsch von Federica Pauli, Kassel: Bärenreiter 1989, bes. S. 7–20. 74 Wie Fußnote 31. 75 Ebd., S. 36. 76 Vgl. Seedorf, Thomas: „Singen. B. Historische Aspekte“, in: Seedorf, Thomas (Hg.), Gesang, Kassel: Bärenreiter 2001 (MGG prisma), S. 31–86, hier S. 66 und S. 70. 77 Dass man Wagner unrecht tut, wenn man seine Vorstellungen vom Singen in den Gegensatz zum Belcanto stellt, hat bereits Thomas Seedorf gezeigt: „‚Deklamation‘ und ‚Gesangswohllaut‘ – Richard Wagner und der ‚deutsche Bel Canto‘“, in: Christa Jost (Hg.), „Mit mehr Bewußtsein zu spielen“. Vierzehn Beiträge (nicht nur) über Richard Wagner (= Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für Musik und Theater München, Band 4), Tutzing: Verlag Hans Schneider 2006, S. 181–206; dieses Unrecht ist indessen kein historiografisches, sondern eines, das in der sängerischen Praxis nach Wagner vollzogen wurde.

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den. 78 Es würde zu weit führen, diese Geschichte hier auch nur andeutungsweise zu erzählen – es wäre dann auch über Geschlechterbilder, über den Virtuositätsdiskurs, den Diskurs über die musikalische Autorschaft und nicht zuletzt über nationalistische Debatten zu sprechen. Exemplarisch sei an dieser Stelle lediglich eine berühmte Aussage Richard Wagners über die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient zitiert, die alle diese Aspekte in sich vereint: „Im Betreff dieser Künstlerin wurde immer wieder die Frage an mich gerichtet, ob denn, da wir sie als Sängerin rühmten, ihre Stimme wirklich so bedeutend gewesen wäre, – worunter denn alles verstanden zu werden schien, worauf es in diesem Falle überhaupt ankomme. Wirklich verdroß es mich stets, diese Frage zu beantworten, weil es mich empörte, die große Tragödin mit jenen weiblichen Kastraten unserer Oper in eine Rangordnung geworfen zu wissen. Wer mich noch jetzt fragen sollte, dem würde ich heute ungefähr Folgendes antworten: – Nein! Sie hatte gar keine ‚Stimme‘: aber sie wußte so schön mit dem Atem umzugehen und eine wahrhaftige weibliche Seele durch ihn so wundervoll tönend ausströmen zu lassen, daß man dabei weder an Singen noch an Stimme dachte!“ 79

Das irritierende Bild des „weiblichen Kastraten“ verweist auf Wagners Ablehnung des der italienischen Oper zugeschriebenen Koloraturgesangs, indirekt aber auch auf den Konflikt zwischen Sänger/-innen und Komponisten um die Autorität in der Frage, was in einer Aufführung gesungen wird: das, was der Komponist geschrieben hat oder das, was ‚Kastrat‘ bzw. Sängerin möchten. 80 Für den im vorliegenden Beitrag diskutierten Kontext aufschlussreich ist jedoch vor al-

78 Vgl. Grotjahn, Rebecca: „Stimmbesitzer und Sängerdarsteller. Die Inszenierung des Singens auf der Musiktheater-Bühne“, in: Frankfurter Zeitschrift für Musikwissenschaft 14 (2011), S. 1–25. 79 Wagner, Richard: „Über Schauspieler und Sänger“ (1872), in: Richard Wagner. Dichtungen und Schriften, hg. von Dieter Borchmeyer, Band 9, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1983, S. 183–263, hier: S. 253f. (Hervorhebung original). Zur Deutung dieses Zitats vgl. auch Grotjahn, Rebecca: „Gar keine Stimme? Wilhelmine Schröder-Devrient, Wagner und das Singen“, in: Nicole K. Strohmann/Antje Tumat (Hg.), Bühnenrollen und Identitätskonzepte – Karrierestrategien von Künstlerinnen im Theater des 19. Jahrhunderts (Beiträge aus dem Forschungszentrum Musik und Gender, Band 5), Hannover: Wehrhahn Verlag 2016, S. 25–43. bes. S. 37–41. 80 Vgl. Grotjahn, Rebecca: „Die Teufelinn und ihr Obrister. Primadonnen, Komponisten und die Autorschaft in der Musik“, in: Marion Gerards/Rebecca Grotjahn (Hg.), Musik und Emanzipation. Festschrift für Freia Hoffmann zum 65. Geburtstag, Oldenburg: BIS Verlag 2010, S. 131–140.

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lem die aus den vorstehenden Ausführungen bekannte Vorstellung, es werde nicht mit der Stimme, sondern mit dem Atem gesungen. Der – gleich zweimal mit distanzierenden Auszeichnungen versehene – Begriff ‚Stimme‘ symbolisiert bei Wagner die mit der italienischen Oper verbundene Kunst des Koloraturgesangs, die hier bereits dieselbe Marginalisierung erfährt wie in den analysierten Gesangs-Lehrschriften des 20. und 21. Jahrhunderts. Ihr gegenüber steht der „Atem“, durch den die (weibliche) Seele ausströmt. Mit diesem Bild greift Wagner auf ein damals bereits eingeführtes Motiv der Musikkritik zurück, demzufolge „mit der Seele statt mit der Kehle“ zu singen sei. 81 Gleichzeitig findet jedoch auch eine Aufladung mit religiösen Bildern statt: Das Ineinssetzen von Atem und Seele verweist auf die in vielen Kulturen und Religionen vorhandene Verbindung von Atem, Leben und Seele, die in der westlichen Kultur vor allem aus der Schöpfungsgeschichte bekannt ist: „Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen,“ 82 wie es die Lutherbibel 2017 übersetzt – ohne mit der Formulierung „lebendiges Wesen“ allen Facetten des hebräischen Begriffs „nefesch“ gerecht werden zu können, auf die z. B. das Glossar zur Bibel in gerechter Sprache hinweist: „Die Worte nefesch und psyche bezeichnen in Leib und Leben eines Menschen den Bereich, das Organ, in dem Gemüt, Leidenschaften, Vitalität verortet sind.“ 83 Wagners Aussage über Wilhelmine Schröder-Devrient ist ein frühes Beispiel dafür, wie die religiöse Aufladung des Atems in den Diskurs über das Singen eingeht. Sie findet sich in zahlreichen modernen Schriften wieder – das oben beschriebene Primat der Atmung geht oft mit einer religiösen oder esoterischen Begründung einher. Für Karin Wettig etwa ist der „Atem – tönendes Leben und die tonlose Stimme“. 84 Richard Brünners Buch – mit dem nüchternen Titel Gesangstechnik versehen – beginnt mit Zitaten von Buddha, Lao-Tse und Goethe, um die Aussage zu unterstreichen: „Mit dem Atmen beginnt und endet unser Le-

81 Vgl. Grotjahn, Rebecca: „Mit der Seele statt mit der Kehle: Wilhelmine SchröderDevrient, Robert Schumann und der poetische Liedgesang“, in: Stephan Mösch (Hg.), Komponieren für Stimme. Von Monteverdi bis Rihm. Ein Handbuch, Kassel: Bärenreiter 2017, S. 282–300. 82 Genesis 2, 7, in: Lutherbibel, Bibeltext in der revidierten Fassung von 2017, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2016. 83 Bibel in gerechter Sprache 2006. Glossar (https://www.bibel-in-gerechter-sprache. de/die-bibel/glossar/?nefesch, Abruf: 17.03.2018). 84 Wettig: Belcanto in Theorie & Praxis, Kapitelüberschrift, S. 218.

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ben; genauer gesagt jeweils mit dem Ausatmen.“ 85 Und selbst in dem sehr sachlichen, auf fundierter medizinischer Forschung basierenden Werk von Bernhard Richter beginnt die Darstellung der „Grundlagen des Singens“ (in dem das Thema Atmung an erster Stelle steht) mit dem oben wiedergegeben Bibelzitat. 86 Indessen scheint es nur so, als schrieben sich die Autoren von Wagner bis Richter in die bis auf die Genesis rückführbare Tradition ein. In Wirklichkeit hat sich im modernen Gesangsdiskurs der Sitz des ‚Lebensatems‘ oder der ‚Atemseele‘ deutlich verschoben. Körperlich ist die biblische „nefesch“ in der Kehle angesiedelt: „In leiblicher Verortung ist nefesch die Kehle. Sie hat Hunger und Durst (Mi 7,1), durch sie geht der den Menschen belebende Atem (Gen 2,7), sie kann singen und so Gott segnen (Ps 104,1.35).“ 87 Dem gegenüber konnte die Analyse der Lehrschriften des 20. und 21. Jahrhunderts zeigen, dass der Atem immer tiefer im Körper verortet und der Kehlkopf immer mehr zugunsten der Atmung marginalisiert wird. Würde man die hier konstruierten Körperbilder grafisch darstellen, so ergäbe dies einen grob verzerrten Sänger/-innenkörper, der von der Form her einer russischen Matrjoschka-Puppe ähnelte: mit riesigem unteren Bauch, relativ flacher Brust und dem Kopf direkt darüber – ohne Hals dazwischen: „Der ganze Hals […] ist Luft, ist einfach nicht vorhanden.“ 88

S EELENVOLLE M ASCHINEN Die Verlagerung des Singens von der Kehle in den religiös aufgeladenen Atem könnte als Entkörperlichung des Singens angesehen werden, so wie dies in dem Gedicht Franz Grillparzers auf die schwedische Sängerin Jenny Lind zum Ausdruck kommt: „Und spenden sie des Beifalls Lohn / Den Wundern deiner Kehle, / hier ist nicht Körper, ist nicht Ton, / Ich höre deine Seele.“ 89 Aber steht dies

85 Brünner: Gesangstechnik, S. 9. 86 Richter: Die Stimme, S. 29. 87 Bibel in gerechter Sprache 2006. Glossar (https://www.bibel-in-gerechter-sprache. de/die-bibel/glossar/?nefesch, Abruf: 17.03.2018). 88 Martienßen: Das bewusste Singen, S. 25. 89 So der Wortlaut in der autographen Erstfassung des Gedichts in Jenny Linds Nachlass, zit. nach Holland, Henry Scott/Rockstro, William Smith: Memoir of Madame Jenny Lind-Goldschmidt: Her early art-life and dramatic career, 1820–1851, 2. Bde., London: Cambridge Univ. Press 1891, Band 1, S. 406. In der 1847 publizierten Version ist die dritte Zeile abgeschwächt zu „Hier ist nicht Körper, kaum auch Ton“. [Franz] Grillparzer: „Jenny Lind“, in: Austria oder Österreichischer Universal-Kalender für

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nicht im Widerspruch zu der oben getroffenen Feststellung, dass – gerade durch die Einbeziehung von Atem- und Körperübungen – das Singen immer mehr zum Körpertraining wurde und dass dahinter die Vorstellung des Körpers als ein maschinenartiger Mechanismus steht? Maschinen pflegen wir doch eher nicht mit der Seele und dem Leben in Verbindung zu bringen. Um die Verwirrung noch ein wenig zu vergrößern, mag man sich daran erinnern, dass die Protagonistin des Grillparzer-Gedichts, Jenny Lind, Schülerin von Manuel Garcia d. J. war, also des einflussreichsten Vertreters eines mechanistischen Bildes vom Singen: Nachdem Lind ihre Stimme bereits zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere nahezu ruiniert hatte, sei es Garcia gelungen, ihr die perfekte Gesangstechnik zu vermitteln und ihr so die vollständige Kontrolle über ihre Stimme zurück zu geben. 90 Womöglich ist es genau das doppelte Potenzial des Atems, das das Konzept von „Gesangstechnik“ so erfolgreich gemacht hat. Es bedient einerseits die moderne Vorstellung vom Körper als einer Maschine, die es unmöglich gemacht hat, die Stimme als „natura“ zu denken – im Sinne der ‚Gabe‘, deren angemessenen Gebrauch der beschenkte Mensch als „Ars“ erlernt. Stattdessen wird der Stimmapparat – wie der gesamte Körper – als Maschine konzipiert, mit deren Hilfe sich die Besitzerin die Natur – eben ihren Körper 91 – unterwirft und verfügbar macht. Für die Herstellung, Wartung und Bedienung dieser Maschine ist ihr ‚Besitzer‘ selbst verantwortlich; das Singen ist (Körper-)Arbeit am eigenen Besitz. Innerhalb dieses Konzepts dient der Atem als Antrieb der anderen Funk-

das gemeine Jahr 1847, Wien [1846], S. 243 (https://books.google.de/books? id= h4UAAAAAcAAJ&printsec= frontcover&hl= de#v= onepage&q&f= false, Abruf: 17.03.2018). 90 Holland und Rockstro formulieren das Ergebnis der Ausbildung bei Garcia so: „Her voice was now completely under command […]. All the technical perfection that could be attained by unlimited perseverance, under the guidance of an enlightened teacher, she had gained since her arrival in Paris; the rest she had always possessed, for it was part of herself.“ (Holland/Rockstro: Memoir of Madame Jenny LindGoldschmidt, Band 1, S. 129.) 91 Zum Doppelsinn des Körpers als beherrschter Natur und Instrument der Naturbeherrschung vgl. Pircher, Wolfgang: „Beseelte Maschinen. Über ein mögliches Wechselspiel von Technik und Seele“, in: Gerd Jüttemann/Michael Sonntag/Christoph Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim: Psychologie Verlags Union (Parkland) 1991, S. 477–492. Die Ähnlichkeit meines Aufsatztitels mit dem von Pircher ist Zufall.

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tionen; er steht am Anfang, er ist die Basis des Singens, ist er korrekt ‚eingestellt‘, so funktionieren auch die anderen Teile des Mechanismus. Zugleich aber hat die Vorstellung des Atems als Quelle des Lebens oder des ‚Seelischen‘ den Wandel der Körperkonzepte überlebt. Seine Position hat sich von der Kehle in den Bauch verschoben, aber von dort sorgt er nicht nur für das Funktionieren der Stimm-Maschine, sondern auch dafür, dass ihr Seele und Leben eingehaucht werden. Auch hierfür ist der Mensch verantwortlich, als Besitzer der Natur wie der Maschine, mit der sie beherrscht wird.

L ITERATUR Adamek, Karl: Singen als Lebenshilfe. Zu Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Plädoyer für eine „Erneuerte Kultur der Singens“, Münster/New York: Waxmann 1996. Agricola, Johann Friedrich: Anleitung zur Singkunst (1757). Zusammen mit dem italienischen Original von Pier Francesco Tosi: Opinioni de’cantori antichi e moderni, o sieno Osservazioni sopra il canto figurato ([Bologna] 1723) neu herausgegeben, mit einem Vorwort und einem Anhang von Erwin R. Jacobi, Celle: Hermann Moeck Verlag 1966. Bibel in gerechter Sprache 2006. Glossar. https://www.bibel-in-gerechtersprache.de/die-bibel/glossar/?nefesch, vom 17.03.2018. Brünner, Richard: Gesangstechnik, Regensburg: Feuchtinger & Gleichauf (11985) 21993. Celletti, Rodolfo: Geschichte des Belcanto. Deutsch von Federica Pauli, Kassel: Bärenreiter 1989. Charton, Anke: prima donna, primo uomo, musico. Körper und Stimme: Geschlechterbilder in der Oper (= Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung, Band 4), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012. Crüger, Johann: Musicae Practicae. Praecepta brevia, & exercitia pro Tyronibus varia. Der Rechte Weg zur Singekunst, Berlin: Selbstverlag 1660. Friderici, Daniel: Musica Figuralis, Rostock: Johann Hallervordt 1638, zitiert nach: Sven Schwannberger: Studio et amore: Die Gesangskunst des 17. Jahrhunderts in italienischen und deutschen Quellen, Dissertation, Paderborn (i. V.). Garcia, Manuel: École de Garcia. Traité complet de l’art du chant / Garcias Schule oder Die Kunst des Gesanges. In allen ihren Theilen vollständig abgehandelt. Der deutsche Text von C. Wirth. 1. Theil, Mainz: Schott o. J. [1841].

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Genesis 2, 7, in: Lutherbibel, Bibeltext in der revidierten Fassung von 2017, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2016. Grotjahn, Rebecca: „Die Teufelinn und ihr Obrister. Primadonnen, Komponisten und die Autorschaft in der Musik“, in: Marion Gerards/Rebecca Grotjahn (Hg.), Musik und Emanzipation. Festschrift für Freia Hoffmann zum 65. Geburtstag, Oldenburg: BIS Verlag 2010, S. 131–140. Grotjahn, Rebecca: „Gar keine Stimme? Wilhelmine Schröder-Devrient, Wagner und das Singen“, in: Nicole K. Strohmann/Antje Tumat (Hg.), Bühnenrollen und Identitätskonzepte – Karrierestrategien von Künstlerinnen im Theater des 19. Jahrhunderts (Beiträge aus dem Forschungszentrum Musik und Gender, Band 5), Hannover: Wehrhahn Verlag 2016, S. 25–43. Grotjahn, Rebecca: „Mit der Seele statt mit der Kehle: Wilhelmine Schröder-Devrient, Robert Schumann und der poetische Liedgesang“, in: Stephan Mösch (Hg.), Komponieren für Stimme. Von Monteverdi bis Rihm. Ein Handbuch, Kassel: Bärenreiter 2017, S. 282–300. Grotjahn, Rebecca: „Stimmbesitzer und Sängerdarsteller. Die Inszenierung des Singens auf der Musiktheater-Bühne“, in: Frankfurter Zeitschrift für Musikwissenschaft 14 (2011), S. 1–25. Guttmann, Oskar: Die Gymnastik der Stimme, gestützt auf physiologische Gesetze. Eine Anweisung zum Selbstunterricht in der Übung und dem richtigen Gebrauche der Sprach- und Gesangsorgane, Leipzig: Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber 1861. Haefliger, Ernst: Die Singstimme, Bern: Hallwag 1983. Herr, Corinna: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur‘? Kastraten und Falsettisten in der Musikgeschichte, Kassel: Bärenreiter 2013. Holland, Henry Scott/Rockstro, William Smith: Memoir of Madame Jenny Lind-Goldschmidt: Her early art-life and dramatic career, 1820–1851, 2. Bde., London: Cambridge Univ. Press 1891, Band 1, S. 406. Höller-Zangenfeind, Maria: Stimme von Fuß bis Kopf. Ein Lehr- und Übungsbuch für Atmung und Stimme nach der Methode Atem–Tonus–Ton, Innsbruck: Studienverlag (12004) 22007. Husler, Frederick/Rodd-Marling, Yvonne: Singen. Die physische Natur des Stimmorgans. Anleitung zum Aufschließen der Singstimme, Mainz: Schott 1965. Jacoby, Peter: Die eigene Stimme finden. Stimmbildung durch organisches Lernen. Perspektiven der systemischen Biologie, der Neuropsychologie und Feldenkrais-Methode für den Umgang mit der menschlichen Stimme (= Detmolder Hochschulschriften, Band 2), Essen: Die Blaue Eule 2000.

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Kofler, Leo: Die Kunst des Atmens als Grundlage der Tonerzeugung für Sänger, Schauspieler, Redner, Lehrer sowie zur Verhütung und Bekämpfung aller durch mangelhafte Atmung entstandenen Krankheiten, übers. von Clara Schlaffhorst/Hedwig Andersen, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1897. Lehmann, Lilli: Meine Gesangskunst, Berlin: Verlag der Zukunft 1902. Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte (= Historische Einführungen, Band 4), Tübingen: Edition Diskord 2000. Martienßen, Franziska: Das bewusste Singen. Grundlegung des Gesangstudiums, Leipzig: C. F. Kahnt Nachfolger 1923. Noë, Oskar/Moser, Hans-Joachim: Technik der deutschen Gesangskunst, Leipzig: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. 1912. Oskar Guttmann: Die Gymnastik der Stimme, Leipzig: Weber Verlag 1902. Pinksterboer, Hugo: Schott Praxis-Guide Singing Voice. Das komplette Know-how für die Singstimme. Aus dem Englischen von Hermann Martlreiter und Heike Bruhl, Mainz: Schott 2009. Pircher, Wolfgang: „Beseelte Maschinen. Über ein mögliches Wechselspiel von Technik und Seele“, in: Gerd Jüttemann/Michael Sonntag/Christoph Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim: Psychologie Verlags Union (Parkland) 1991, S. 477–492. Richter, Bernhard: Die Stimme. Grundlagen. Künstlerische Praxis. Gesunderhaltung. Mit Beiträgen von Matthias Echternach et al., Leipzig: Henschel 2013. Rohmert, Gisela: Der Sänger auf dem Weg zum Klang. Lichtenberger musikpädagogische Vorlesungen (= Dokumentation Arbeitswissenschaft, Band 28), Köln: O. Schmidt 1991. Rohmert, Walter (Hg.): Grundzüge des funktionalen Stimmtrainings (= Dokumentation Arbeitswissenschaft, Band 12), Köln: O. Schmidt 1984. Sadolin, Cathrine: Komplette Gesangstechnik. Deutsche Version, Kopenhagen: Shout Publishing 2009. Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Schlaffhorst, Clara/Andersen, Hedwig: „Entwicklung der gestaltenden Kräfte aus dem Rhythmus der Atmung (1926)“, in: dies.: Atmung und Stimme, neu hrsg. von Wilhelm Menzel, Wolfenbüttel: Möseler 1928, S. 57–71. Schwannberger, Sven: Studio et amore: Die Gesangskunst des 17. Jahrhunderts in italienischen und deutschen Quellen, Dissertation, Paderborn (i. V.). Seedorf, Thomas: „‚Deklamation‘ und ‚Gesangswohllaut‘ – Richard Wagner und der ‚deutsche Bel Canto‘“, in: Christa Jost (Hg.), „Mit mehr Bewußtsein zu

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spielen“. Vierzehn Beiträge (nicht nur) über Richard Wagner (= Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für Musik und Theater München, Band 4), Tutzing: Verlag Hans Schneider 2006, S. 181–206. Seedorf, Thomas: „Einführung“, in: Johann Friedrich Agricola, Anleitung zur Singkunst. Reprint der Ausgabe Berlin 1757. Hrsg. und kommentiert von Thomas Seedorf, Kassel: Bärenreiter 2002, S. VII–XXIX. Seedorf, Thomas: „Singen. B. Historische Aspekte“, in: ders. (Hg.), Gesang, Kassel: Bärenreiter 2001 (MGG prisma), S. 31–86. Seidner, Wolfram/Wendler, Jürgen: Die Sängerstimme. Phoniatrische Grundlagen der Gesangsausbildung, Berlin: Henschel 31997. Sieber, Ferdinand: Katechismus der Gesangskunst, Leipzig: Weber Verlag 51894. Stockhausen, Julius: Gesangstechnik und Stimmbildung, Leipzig: Edition Peters 1886. Vormann-Sauer, Martina: Die Singstimme der Frau. Anatomie und Physiologie – Technik und Strategien klassischen Singens (= Forum Musikpädagogik, Bd. 137), Augsburg: Wißner Verlag 2017. Wagner, Richard: „Über Schauspieler und Sänger“ (1872), in: ders., Dichtungen und Schriften, hg. von Dieter Borchmeyer, Band 9, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1983, S. 183–263. Wettig, Karin: Belcanto in Theorie & Praxis. Gesang, Stimme, Körper, Atem. Handbuch für Gesang & Bühne, München: PersonalityStyling 2013.

Natürlichkeit oder Artifizialität Zur Theaterästhetik Goldonis, Gozzis und Diderots S USANNE W INTER

Carlo Goldoni, Carlo Gozzi und Denis Diderot sind die Namen dreier Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts, die ganz unterschiedliche Konzeptionen von Theater vertreten und damit auch divergente Positionen im Hinblick auf naturalezza und simplicité. Diese beiden Begriffe – nämlich im Falle Goldonis und Gozzis Italien, genauer Venedig, im Falle Diderots Frankreich –, die den geographischen Fokus des vorliegenden Bandes anzeigen, korrespondieren in der Tat mit den Wirkungsstätten der drei Autoren, nämlich Italien, genauer Venedig, im Falle Goldonis und Gozzis und Frankreich, genauer Paris, im Falle Diderots. 1 Dies heißt jedoch nicht, dass der Begriff naturalezza den Italienern Goldoni und Gozzi, simplicité dagegen Diderot vorbehalten bliebe, was angesichts der Komplexität und Heterogenität der Konzepte der Natürlichkeit wie auch der Einfachheit sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht nicht überrascht. Neben Goldonis, Gozzis und Diderots Positionen gäbe es viele andere, sowohl in Italien als auch und vor allem in Frankreich, die das Bild differenzierter, aber zugleich unübersichtlicher erscheinen ließen. Die Auswahl dieser drei Autoren als Repräsentanten unterschiedlicher ästhetischer Standpunkte liegt auch darin begründet, dass es direkte Bezüge persönlicher und intertextueller Art zwischen ihnen gibt, die manchen Aspekt ihrer Konzeption von Natürlichkeit beziehungsweise Artifizialität deutlicher hervortreten lassen. Drei Konstellationen

1

Carlo Goldoni (1707–1793) lebte als Theaterautor und Librettist in engem Kontakt mit Schauspielensembles vor allem in Venedig und in den letzten 30 Jahren in Paris. Carlo Gozzi (1720–1806), ebenfalls als Theaterautor bekannt, prägte die venezianische Theaterlandschaft nach Goldonis Weggang maßgeblich. Denis Diderot (1713– 1784), Philosoph und Schriftsteller, verbrachte sein Leben überwiegend in Paris.

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seien vorab beispielhaft genannt: zum einen stehen sich Goldoni und Gozzi als Antagonisten im Theaterleben Venedigs gegenüber, zum anderen vertreten sowohl Goldoni als auch Diderot ein Konzept der Natürlichkeit, während Gozzi die Artifizialität in den Vordergrund rückt, und drittens sieht sich Diderot mit seinem Drama Le Fils naturel mit dem Vorwurf des Plagiats von Goldonis Il vero amico konfrontiert und so herausgefordert, sein Stück und seine Konzeption gegenüber Goldoni abzugrenzen. In vergleichender Perspektive, mit einem Schwerpunkt auf Goldoni und Gozzi, soll im Folgenden skizziert werden, in welchem Kontext die Begriffsfelder der Natürlichkeit und der Einfachheit jeweils verwendet werden und was die Autoren darunter verstehen. Mit Goldoni und Gozzi treffen in Venedig zwei Theaterkonzeptionen aufeinander, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Diese artikulieren sich allerdings nicht systematisch in theoretischen Traktaten, Essays oder Dialogen wie etwa bei Diderot, sondern vor allem in den Theaterstücken selbst sowie in den Paratexten und – insbesondere bei Gozzi – in bewusst polemisch gehaltenen Schriften und Pamphleten, so dass die Überlegungen und Vorstellungen Goldonis und Gozzis einen eher sporadischen Charakter aufweisen, da sie häufig anlassgebunden entstehen. Goldoni und Gozzi sind keine reflektierenden Philosophen oder Theoretiker, sondern Theaterpraktiker, während für Diderot wohl das Gegenteil konstatiert werden kann.

N ATÜRLICHKEIT

BEI

G OLDONI

Goldonis allseits bekannte sogenannte Komödienreform und Gozzis Opposition gegen Goldonis Reformprojekt sind in einer spezifisch italienischen Konstellation verortet, die das Sprechtheater im 17. sowie Anfang des 18. Jahrhunderts prägte und durch die Diskrepanz zwischen dem sehr erfolgreichen Theater der Commedia dell’Arte und der sogenannten commedia erudita, dem aus der Antike überkommenen, ausgeschriebenen Theater, gekennzeichnet ist. Während die Commedia dell’Arte-Aufführungen in einem professionellen, öffentlichkommerziellen Rahmen stattfanden und sich eines großen Publikumszuspruchs erfreuten, jedoch im literarisch-kulturellen Wertekanon nicht verankert waren, da es keinen ausgeschriebenen Text gibt, war die commedia erudita, das gelehrte Theater, das sich seit der Renaissance in Italien an römischen und griechischen Modellen orientierte, in diesem Wertekanon zwar hoch angesehen, aufführungspraktisch aber kaum relevant, da es sich überwiegend in geschlossenen Räumen und Kreisen – an Höfen, Akademien und höheren Bildungsinstitutionen – abspielte, von Dilettanten, das heißt nicht professionellen Schauspielern, aufgeführt

N ATÜRLICHKEIT

ODER

A RTIFIZIALITÄT

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wurde und das breitere Publikum nicht ansprach. Goldonis Reformprojekt zielte nun, pauschal gesagt, auf eine Verknüpfung der Publikumswirksamkeit der Commedia dell’Arte mit dem literarischen Prestige der commedia erudita, die der Komödie wie auch dem Komödienautor und den Schauspielern zu Ansehen verhelfen sollte. Daraus ergaben sich zwei grundlegende Forderungen an die neue – oder wie Goldoni sie auch nennt, „gute“ – Komödie („la buona commedia“ 2), nämlich einerseits eine Reduktion der Elemente der Commedia dell’Arte, die bei Gelehrten und Literaten in der Kritik standen, und andererseits, vonseiten der gelehrten Komödie, eine Annäherung an die Alltagswelt der Zuschauer. In zwei 1750 entstanden Texten, dem Vorwort zur ersten Ausgabe seiner Komödien bei Bettinelli und dem Theaterstück Il teatro comico, macht Goldoni seine Vorstellungen von der neuen Komödie, der Charakterkomödie, deutlich. Auf der Basis des gängigen Topos der Dekadenz des italienischen Theaters formuliert er im Vorwort zur Bettinelli-Ausgabe sein Reformvorhaben, das er nach und nach umsetzen will, um Publikum wie Schauspieler nicht zu brüskieren. Die teleologisch modellierte Darstellung stellt die Überzeugung an den Anfang, dass im menschlichen Herzen das Einfache und das Natürliche über das Wunderbare siegen. 3 Damit stehen sich das Wunderbare, in weiterem Sinn das Unwahrscheinliche, und das Einfache, Natürliche gegenüber. Diese Erkenntnis, so Goldoni weiter, brachte ihn von der Lektüre gelehrter Bücher und vorgängiger modellhafter Stücke ab und führte ihn stattdessen zum Studium der beiden Bücher mondo und teatro, das er durch esperienza und osservazione, also Erfahrung und Beobachtung, ergänzt. 4 Bewusst distanziert Goldoni sich von der literarischen Tradition und den gelehrten Abhandlungen und legt den Akzent auf die Unmittelbarkeit der Erfahrung und der Beobachtung, sei es in der Welt, sei es im Theater, aus denen sich seine Komödien speisen. Interessanterweise taucht die zum Schlagwort für Goldonis Theater gewordene Formel mondo e teatro im Vorwort

2

Goldoni: „Prefazione dell’edizione Pasquali“, t. XIII, in: Ders., Tutte le opere, hg. von Giuseppe Ortonlani, Band I, Milano: Mondadori 1935, S. 716: „[...] ma la buona Commedia non erasi ancora introdotta né in Venezia, né in alcun altro paese d’Italia.“ Im Folgenden wird diese Goldoni-Ausgabe in 14 Bänden nur noch unter Angabe des Bandes zitiert.

3

Goldoni: Prefazione alla prima raccolta delle commedie, in: ebd., S. 767: „[...] ma più di tutto m’accertai che, sopra del meraviglioso, la vince nel cuor dell’uomo il semplice e il naturale.“

4

Ebd., S. 769: „[...] contuttociò i due libri su’ quali ho più meditato, e di cui non mi pentirò mai di essermi servito, furono il Mondo e il Teatro.“

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zuerst in der Variante natura und mondo auf. 5 In diesem Zusammenhang erwähnt Goldoni den Erfolg seiner ersten dramatischen Versuche mit Intrigenkomödien nach spanischem Vorbild, den er damit begründet, dass diese sich von den üblichen Stücken durch etwas Methodisches und Geregeltes und einen gewissen Anschein von Natürlichkeit abheben würden. 6 Offensichtlich widersprechen sich das Methodisch-Geregelte und das Natürliche nicht, wie man annehmen könnte, sondern weisen im Verbund den Weg zur reformierten Komödie, die im Umkehrschluss also alles Unregelmäßige, Übertriebene, Unwahrscheinliche und Künstliche – wodurch sich in der damaligen communis opinio sowohl die commedie dell’arte als auch das spanische Theater auszeichneten – hinter sich lässt. Worin das Methodische, Geregelte, Natürliche besteht, erläutert Goldoni nicht, doch schildert er die nächsten Schritte, die er auf dem Weg vom improvisierten Theater zur Charakterkomödie unternommen hat und wirft damit ein Licht auf die konkreten dramaturgischen Veränderungen. Hatte er sich, seinen eigenen Angaben zufolge, zunächst auf die Protagonistenrolle konzentriert und diese im Hinblick auf die Charakterkomödie geformt sowie mit einem ausgeschriebenen Text versehen, während die anderen Rollen weitgehend traditionellen Commedia dell’Arte-Traditionen folgten, weitet er dieses Verfahren nun auf die anderen Figuren aus, deren Rollen er ebenfalls ausschreibt und ihnen verschiedene Charaktereigenschaften gibt, so dass alle „nach der Natur gedrechselt und dem Geschmack des Ortes angepasst sind, an dem die Stücke aufgeführt werden“. 7 Daraus ergibt sich, dass Goldoni zunächst auf der Basis des vorhandenen Repertoires Umarbeitungen und Umformungen vornimmt, die „naturnäher“ wirken, und zweitens, dass diese Transformation handwerklichen Charakter hat 8 und die Faktoren Natur und Geschmack berücksichtigt. Wenige Sätze später ändert sich allerdings die Vorgehensweise, wenn Goldoni die Funktion der für ihn wesentlichen Bücher mondo und teatro beschreibt: „Il primo [i.e. il Mondo]

5

Ebd., S. 767: „Quando si studia sul libro della Natura e del Mondo, e su quello della

6

Ebd.: „[...] ebbero qualche insolita buona riuscita per un certoché di metodico e di re-

sperienza, non si può per verità divenire Maestro tutto d’un colpo [...].“ golato, che le distingueva dalle ordinarie, e una cert’aria di naturalezza, che in esse scoprivasi.“ 7

Ebd., S. 768: „Pensai, dico, che agevolmente si avrebbe potuto render la commedia migliore, più sicura e di ancor più felice riuscita, scrivendo la parte di tutti i Personaggi introducendovi vari caratteri, e tutti lavorandoli al tornio della Natura, e sul gusto del Paese nel quale dovean recitarsi le mie Commedie.“ Das erste ganz ausgeschriebene Stück Goldonis ist die 1743 aufgeführte Komödie La donna di garbo.

8

Das italienische „tornio“ bedeutet „Drechselbank“.

N ATÜRLICHKEIT

ODER

A RTIFIZIALITÄT

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mi mostra tanti e poi tanti vari caratteri di persone, me li dipinge così al naturale, che paion fatti apposta per somministrarmi abbondantissimi argomenti di graziose ed istruttive Commedie: mi rappresenta i segni, la forza, gli effetti di tutte le umane passioni“. 9 Nun ist es die Welt, die dem Theaterautor das Material für seine Stücke bietet, wobei diese Welt selbst eine Darstellung zu sein scheint – das legen die Verben „mostra“, „dipinge“ und „rappresenta“ wie auch die Buchmetapher nahe –, die auf dem Prinzip des Natürlichen beruht und sich förmlich als Modell für die Komödien aufdrängt. Das Buch des Theaters hingegen lehrt nicht nur, was aus der Fülle des Materials auszuwählen und unter welcher Perspektive es im Hinblick auf die Wirkungsabsicht des Autors anzuordnen ist, sondern macht auch deutlich, was dem nationalen Geschmack entgegenkommt. 10 Das Natürliche und die Natürlichkeit sind also der Welt eigen und werden, wenn sich der Theaterautor des Materials der Welt bedient, gewissermaßen automatisch auch auf der Bühne manifest. Diese offene, produktionsästhetisch ausgerichtete Position Goldonis erhält jedoch durch ein nachfolgendes Zitat aus René Rapins Réflexions sur la poétique, einem poetologischen Text der französischen Klassik von 1674, eine überraschende Wendung und Präzisierung: „Quanto si rappresenta sul Teatro [...] non deve essere se non la copia di quanto accade nel Mondo. La Commedia [...] allora è quale esser deve, quando ci pare di essere in una compagnia del vicinato, o in una familiar conversazione, allorché siamo realmente al Teatro, e quando non vi si vede se non se ciò che si vede

9

Ebd., S. 769: „Das erste zeigt mir so viele verschiedene Charaktere von Personen, malt sie mir so natürlich, dass es scheint, als seien sie gerade dazu geschaffen, mir unendlich viel Material für anmutige und lehrreiche Komödien zu liefern.“ (Übersetzung SW; so auch im Folgenden)

10 Ebd., S. 770: „Il secondo poi, cioè il libro del Teatro, mentre io lo vo maneggiando, mi fa conoscere con quali colori si debban rappresentar sulle Scene i caratteri, le passioni, gli avvenimenti, che nel libro del Mondo si leggono [...] Imparo in somma dal teatro a distinguere ciò ch’è più atto a far impressione sugli animi, a destar la maraviglia, o il riso, o quel tal dilettevole solletico nell’uman cuore, che nasce principalmente dal trovar nella commedia che ascoltasi, effigiati al naturale, e posti con buon garbo nel loro punto di vista, i difetti e ’l ridicolo che trovasi in chi continuamente si pratica, in modo però che non urti troppo offendendo. Ho appreso pur dal Teatro, e lo apprendo all’occasione delle mie stesse Commedie, il gusto particolare della nostra Nazione [...].“

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tutto giorno nel Mondo.“ 11 Dieses Zitat, das im Übrigen wenig typisch für die Poetik der französischen Klassik erscheint, engt durch den Terminus „copia“, Kopie, den in Goldonis Darstellung bislang wenig dogmatischen Umgang des Theaterautors mit der Welt beträchtlich ein und reduziert seine Aufgabe auf die bloße, exakte Wiedergabe, die den Unterschied zwischen Welt und Theater derart verwischt, dass sich der Zuschauer dessen nicht einmal mehr bewusst wird. Erklären lässt sich diese Inkonsistenz, wenn man das Rapin-Zitat weniger als Produktionsanleitung für den Komödienautor denn als indirekten Frontalangriff auf die Commedia dell’Arte mit ihren Masken versteht, die dem Publikum die Distanz zwischen theatraler und nicht-theatraler Welt überdeutlich vor Augen führt. Tatsächlich kehrt Goldoni wenig später zu Formulierungen zurück, die einen großen Interpretationsspielraum lassen: der Stil der neuen Komödien soll „semplice, naturale, non accademico od elevato“ (einfach, natürlich, nicht akademisch oder gehoben) sein, die Gefühle „veri, naturali, non ricercati“ (wahr, natürlich, nicht gesucht), die Ausdrucksweise „a portata di tutti“ 12 (für alle verständlich) und damit sowohl wirklichkeitsnäher als die auf Typen und Stereotype festgelegte Commedia dell’Arte, als auch wirklichkeitsnäher als die rhetorisch und stilistisch gehobenen Texte des gelehrten Theaters. Dass es nicht genügt, allein die Texte am Kriterium der Natürlichkeit auszurichten, macht Il teatro comico deutlich, ein metatheatralisches Stück, von dem Goldoni selbst sagt, es sei mehr ein Vorwort zu seinen Komödien als selbst Komödie. Dort werden die konkreten Schwierigkeiten hinsichtlich der Deklamation, der Gestik und der Mimik thematisiert, vor denen die an das Improvisationstheater gewöhnten Schauspieler bei der Umsetzung der ausgeschriebenen Reformkomödie stehen. 13 Zusammenfassend stellt der Capocomico Orazio, der

11 Ebd., S. 771. „Was auf dem Theater dargestellt wird, muß die Kopie dessen sein, was in der Welt passiert. Die Komödie ist dann so wie sie sein muss, wenn es uns scheint, als ob wir in nachbarlicher Gesellschaft oder bei einem vertraulichen Gespräch seien, während wir tatsächlich im Theater sind, und wenn man nichts sieht, was man nicht jeden Tag in der Welt sieht.“ 12 Ebd., S. 773: „Lo stile poi l’ho voluto qual si conviene alla Commedia, vale a dir semplice, naturale, non accademico od elevato. Questa à la grand’Arte del Comico Poeta, di attaccarsi in tutto alla Natura, e non iscostarsene giammai. I sentimenti debbon esser veri, naturali, non ricercati, e le espressioni a portata di tutti.“ 13 An die Stelle der Improvisation in der Commedia dell’Arte tritt nun das Auswendiglernen eines vorgegebenen Textes. Darüber hinaus sollen die Deklamation wie auch die Gestik nicht mehr schwülstig und übertrieben, sondern natürlich sein. Goldoni: Il

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Leiter der Schauspieltruppe, fest: „essendo la commedia una imitazione della natura, si deve fare tutto quello che è verisimile“ 14. Natur und Wahrscheinlichkeit sind damit aufs engste miteinander verbunden, gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille: was Autor und Schauspieler natürlich darstellen, wird von den Zuschauern als wahrscheinlich wahrgenommen. 15 Dieser Automatismus funktioniert allerdings nur, und darauf weist Goldoni wiederholt hin, innerhalb bestimmter kultureller Kontexte, weshalb das Buch des Theaters als Ergänzung unentbehrlich ist, da es über die tatsächliche Wirkung der Stücke und damit auch über den Geschmack des Publikums Auskunft gibt. Auf diesen einzuwirken und ihn von der verschrieenen Commedia dell’Arte auf die gute, neue Komödie zu lenken, ist eine der Absichten, die Goldoni mit seinem Reformprojekt verbindet; eine andere gehorcht dem Nützlichkeitsaspekt und zielt auf die Belehrung des Publikums. Dass diese auf der Basis von Natürlichkeit und Alltagsnähe besser gelingt als mit gelehrten Tragödien oder – so der Topos, dessen Goldoni sich bedient – mit obszönen Commedia dell’Arte-Aufführungen, gilt ihm als selbstverständlich.

ARTIFIZIALITÄT BEI G OZZI GEGEN G OLDONIS N ATÜRLICHKEIT Während Goldoni also für eine Komödienreform auf der Basis einer, wenn auch nicht näher bestimmten, Natürlichkeit und Einfachheit plädiert, wird gegen Ende der 1750er Jahre in Venedig eine Stimme laut, die sich gegen dieses Projekt wendet und es polemisch dekonstruiert. Carlo Gozzi stellt nicht nur die Prämissen in Frage, auf denen Goldonis Argumentation beruht, sondern zeigt sich vor

teatro comico, Band II, S. 1095: „recitate naturalmente, come se parlaste“, „Circa al gesto, anche questo deve essere naturale.“ (III, 3). Als Theaterpraktiker legt Goldoni dem Capocomico Orazio noch die Aufforderung an die Schauspieler in den Mund, unbedingt auf die Kohärenz ihrer Äußerungen zu achten, da andernfalls der Souffleur eingreifen müsse und sie dann unnatürlich sprächen. 14 Ebd., „da die Komödie eine Imitation/Nachahmung der Natur ist, muss man das machen, was wahrscheinlich ist“. 15 Eine Differenzierung zwischen „wahr“ und „wahrscheinlich“ nimmt Goldoni, im Gegensatz z. B. zu Diderot, nicht vor. Er hat vor allem die konkrete Aufführungssituation vor Augen, die dem Kriterium der Natürlichkeit und damit auch der Wahrscheinlichkeit genügen soll, sowohl, was den Inhalt des Dargestellten als auch, was die schauspielerische Darstellungsweise betrifft.

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allem skeptisch gegenüber Goldonis Anspruch, sein Theater auf die eigene Erfahrung und Beobachtung zu gründen und es möglichst nah an der Alltagswirklichkeit zu halten. Gegen die seit dem 17. Jahrhundert erhobenen, topisch gewordenen Vorwürfe der Niedrigkeit, Verkommenheit und Obszönität der Commedia dell’Arte betont Gozzi die lange Tradition, ihre Wandlungsfähigkeit, ihren ungebrochenen Erfolg – auch als Exportprodukt in andere Länder, allen voran Frankreich, und bei allen Publikumsschichten – und nicht zuletzt ihre ökonomische Nützlichkeit für die Theatertruppen, die, nebenbei gesagt, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts anhielt. Gozzis Kritik entzündete sich zum einen am Anspruch Goldonis, die Komödie reformiert, das heißt besser – nämlich zur buona commedia – gemacht zu haben, und der darin begründeten Behauptung, sie sei nun geeignet, das Publikum in moralischer Hinsicht zu erziehen und zu belehren, zum anderen an der Ausrichtung der Komödien an der Wirklichkeit und zum dritten an der Verquickung dieser beiden Aspekte. Wie sich Goldonis Verständnis von Natürlichkeit und Alltagsnähe in seinen Stücken niederschlägt, wird besonders deutlich an der Komödie Le baruffe chiozzotte (1761/62), in der die Figuren Venezianisch und den Dialekt von Chioggia, einer kleinen Fischerstadt in der Nähe Venedigs, sprechen. Den Gebrauch des Dialekts – zweifelsohne ein Element der Wirklichkeitsnähe – rechtfertigt Goldoni im Vorwort mit der exakten Nachahmung der Natur, „credo e sostengo, che sia un merito della Commedia l’esatta imitazione della natura“ 16, und entgegnet seinen Kritikern: „Diranno forse taluni, che gli Autori Comici devono bensì imitar la natura; ma la bella natura, e non la bassa e la difettosa. Io dico all’incontro, che tutto è suscettibile di commedia, fuorché i difetti che rattristano, ed i vizi che offendono.“ 17 Eine Beschränkung der Imitation auf die schöne Natur kommt für Goldoni also nicht in Frage, und zwar sowohl hinsichtlich der Sprache als auch des Inhalts und der Thematik, denn er ist überzeugt, dass „tutto quello che è vero, ha il diritto di piacere, e tutto quello ch’è piacevole, ha

16 Vorwort zu Le baruffe chiozzotte, Goldoni, Band VIII, S. 128. „[...] ich glaube und behaupte, dass die exakte Imitation/Nachahmung der Natur ein Verdienst der Komödie ist.“ Siehe dazu auch Winter, Susanne: Von illusionärer Wirklichkeit und wahrer Illusion. Zu Carlo Gozzis Fiabe teatrali, Heidelberg: Winter 2007, S. 252–255. 17 Ebd., S. 129. „Manche werden sagen, dass die Komödienautoren wohl die Natur nachahmen müssen, aber die schöne Natur und nicht die niedrige und mangelhafte. Ich dagegen sage, dass alles komödienwürdig ist, außer den Fehlern, die traurig machen und den Lastern, die anstößig wirken.“

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il diritto di far ridere.“ 18 In seiner Haltung gerechtfertigt sieht sich Goldoni im Übrigen durch den Publikumserfolg der sogenannten commedie popolari. 19 Die Formulierung „esatta imitazione della natura“ (genaue Nachahmung der Natur) hat Goldoni bereits zehn Jahre zuvor im Vorwort zur Komödie La putta onorata (1748/49) durch den Begriff „ricopiare“ (kopieren) präzisiert, der ja auch im Rapin-Zitat des Bettinelli-Vorworts auftaucht. Im Vorwort zu La putta onorata heisst es „i Gondolieri di Venezia, [...] furono da me nella presente Commedia imitati con tanta attenzione che più volte mi posi ad ascoltarli, quando quistionavano, sollazzavansi o altre funzioni facevano, per poterli ricopiare nella mia commedia naturalmente“ 20. Gegen eine solche Auffassung von Natürlichkeit und Wirklichkeitsnähe im Theater, die sich in einer bloßen Kopie der Welt zu erschöpfen scheint, ergreift Gozzi vehement Partei, da sie in seinen Augen einem Schriftsteller nicht angemessen ist, lässt sie doch die eigentliche schriftstellerische Leistung vermissen, die Gozzi in der Auswahl und der Gestaltung des Materials sieht. In einem satirischen Pamphlet brandmarkt Gozzi Goldonis – wie ihm scheint – primitiven Naturalismus und seine Berufung auf die Bücher der Welt und des Theaters. Satirisch beschreibt er nun seinerseits 21, wie Goldoni als Spion am offenen Fenster sitzend die Unterhaltungen und das Gezänk seiner Nachbarinnen belauscht und alles sofort haargenau niederschreibt, um daraus den ersten Akt seiner Komödie La bona muger (1749/50) zu machen. Keine Mühe scheuend, kopiert er die banalsten Dinge und erfreut sich an der „poesia naturale“ 22 der Bänke, Stühle und Tische einer Osteria, die er unmittelbar in sein Stück aufnimmt. Diesem Studium des Buches der Welt folgt das des Theaters, das Goldoni dazu veranlasst, die Niederschriften in Akte und Szenen einzuteilen, sie zu einer Handlung zusammenzufügen und auf die 17 Schauspieler der Truppe am Theater Sant’Angelo zu

18 Ebd., S. 130. „[...] dass alles, was wahr ist, das Recht hat zu gefallen, und alles, was gefällt, das Recht hat, Lachen hervorzurufen.“ 19 Zu den commedie popolari zählen u.a. auch I pettegolezzi delle donne und Il campiello. Diese Komödien, so meint Goldoni, böten dem Volk einen gewissen Ersatz für den Verlust des Arlecchino, das heißt für die Elimination der Masken. 20 Vorwort zu La putta onorata, Goldoni, Band II, S. 421. „Die Gondolieri von Venedig [...] wurden von mir in der vorliegenden Komödie so sorgfältig imitiert, dass ich mich mehrmals hinstellte und ihnen zuhörte, wenn sie sich zankten, sich unterhielten oder anderes machten, um sie in meiner Komödie naturgetreu kopieren zu können.“ 21 Gozzi: Il teatro comico all’Osteria del Pellegrino (1760), in: ders., Opere edite e inedite non teatrali, Band 1, Venezia: Zanardi 1805. 22 Ebd., S. 210.

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verteilen. Damit, so das Ende der polemischen Darstellung, hat Goldoni ein Kleinod geschaffen, vor dem er andächtig ausruft: „Oh divina commedia mia!“ 23 Es ist aber nicht nur die Banalität, das Zufällige und Disparate der Sprache, der Dialoge, der Figuren und der Handlung in einer derartigen Kopie der Wirklichkeit, die Gozzis Widerspruch herausfordern, sondern auch der moralische Anspruch, den Goldoni damit verbindet, soll doch die Wirklichkeitsnähe eine Erziehung des Publikums zum guten Geschmack bewirken. Diesen Anspruch dekonstruiert Gozzi mit der Frage, wie denn die Darstellung der niederen, ungeschönten Wirklichkeit auf der Bühne das Publikum belehren solle, wenn die Anschauung derselben Wirklichkeit im Alltag ja auch nicht erzieherisch wirke. Alltagsrealität, Wirklichkeitsnähe und Einfachheit sind also in Gozzis Augen als Grundlagen für die Schaffung einer Bühnenwelt, das heißt einer theatralen Wirklichkeit, weder in ästhetischer noch in moralischer Hinsicht geeignet, da er das Theater als Wirklichkeit sui generis versteht, die nicht auf der Basis einer Abbildung oder Kopie der nicht-theatralen Wirklichkeit entsteht, sondern auf deren Transposition beruht, die eigenen Gesetzen gehorcht und auf eine ästhetische Distanz zwischen Alltagswirklichkeit und Bühnenwirklichkeit zielt. In bewusstem Gegensatz zu den zeitgenössischen Bestrebungen nach Natürlichkeit wählt er für seine zehn Fiabe teatrali (Märchenstücke), die innerhalb von fünf Jahren, zwischen 1761 und 1765, entstanden, die Masken der Commedia dell’Arte und das Märchen als dezidiert wirklichkeitsferne Grundkonstituenten, die er miteinander kombiniert. Das Handlungsgerüst der Märchenstücke beruht auf den meist orientalischen Märchen, die Protagonisten sind theatralisierte Märchenfiguren, Prinzessinnen, Prinzen, Könige, Feen, während die vier Masken der Commedia dell’Arte, Brighella, Truffaldino, Pantalone und Tartaglia, jeweils eine Rolle als Figur im Märchenkontext einnehmen. Die Auswahl, Akzentuierung und Kombination von Elementen aus den bestehenden Formen der Commedia dell’Arte und des Märchens geschieht auf der Basis von Kontraststrukturen, die sich aus dem Gegensatz von Commedia dell’Arte und Märchen ergeben. Das äußere Erscheinungsbild der Figuren auf der Bühne, mit und ohne Masken, mit typischen und mit individuellen Kostümen, ihre Sprache, bei den Masken Prosa, teils Dialekt, bei den Märchenfiguren Hochsprache in rhetorisch ausgefeilten Versen, ihr Spiel, improvisiert oder vorgegeben, komisch oder pathetisch unterstreichen den Kontrast und verweisen auf die Artifizialität der dargestellten Welt, die nur in indirekter Weise auf die Wirklichkeit Bezug nimmt. Nicht nur die dramatische Struktur, sondern auch die Wirkungsintention basiert auf dem

23 Ebd., S. 218. Siehe dazu ausführlicher in Winter: Von illusionärer Wirklichkeit, S. 58–61.

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Kontrast zwischen Märchen- und Maskenfiguren, sollen die einen doch das Publikum durch ihr illusionierendes Spiel zum Weinen bringen, die anderen durch ihre reflektierenden, komischen, illusionsbrechenden Äußerungen zum Lachen. Diese Konstruktion der theatralen Wirklichkeit in einer Art ars combinatoria schafft eine Autonomie des Theaters, indem sie dem Zuschauer die Andersartigkeit der Bühnenwelt unmittelbar vor Augen stellt und ihm eine durchgängige Illusion verwehrt. Der Bezug zur Wirklichkeit wird dabei nicht sinnlich in der Anschauung deutlich, sondern muss reflektierend hergestellt werden.

V ARIANTEN DER N ATÜRLICHKEIT BEI D IDEROT UND G OLDONI Während am Beispiel von Goldoni und Gozzi deutlich wird, dass zur selben Zeit am selben Ort zwei völlig unterschiedliche Konzeptionen von Theater koexistieren und miteinander konkurrieren – eine, die sich auf Natürlichkeit und Alltagswirklichkeit beruft, und eine andere, die auf Artifizialität und Fiktionalität basiert –, wirft ein Vergleich von Goldoni mit Diderot ein Licht auf die Unterschiedlichkeit der Vorstellungen von Natürlichkeit und Alltäglichkeit in Bezug auf das Theater in verschiedenen Kontexten. Goldoni reagiert mit seiner Komödienreform auf eine spezifisch italienische Situation, die durch die Diskrepanz zwischen der Commedia dell’Arte und der commedia erudita gekennzeichnet ist. Da einerseits im Bereich der Commedia dell’Arte das Konzept der Nachahmung keine Rolle spielte, andererseits im Bereich der commedia erudita und ihrer Poetik die imitatio vorwiegend als imitatio auctorum verstanden wurde und sich Goldoni zudem als erfolgreicher, wenn auch nicht unwidersprochener Theaterautor und nicht als Gelehrter äußerte, sind seine Bemerkungen zur Nachahmung der Natur und der Alltagswelt im Theater weniger ästhetisch-theoretischen Überlegungen als vielmehr pragmatischpraktischen entsprungen. Dagegen steht Diderot in Frankreich zum einen im Kontext einer langen und ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Theater, die seit dem 17. Jahrhundert insbesondere hinsichtlich der Etablierung der sogenannten doctrine classique das Theater und seine Poetik prägte, zum anderen unterscheidet sich die Theaterlandschaft in Paris grundlegend von der venezianischen, gibt es doch seit Molière eine französische Komödie, die Modellcharakter hat. Während Goldoni in Italien eine solche modellhafte Komödie um die Jahrhundertmitte erst zu schaffen versuchte, entstand kaum später in Frankreich bereits eine neue, mittlere dramatische Gattung zwischen Komödie und Tragödie, das genre sérieux, dessen

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Konzeption Diderot 1757 mit der Veröffentlichung seines ersten Theaterstücks Le Fils naturel zusammen mit drei Dialogen, den Entretiens, vorstellte. Da der Begriff der Nachahmung bereits im Kontext der doctrine classique mit den Prinzipien des Natürlichen und des Vernünftigen in Verbindung gebracht worden war, liegt das Neue in Diderots Ausführungen nicht etwa in der Begrifflichkeit selbst, sondern in seinem spezifischen Verständnis von Natürlichkeit und Wahrheit auf der Bühne. 24 Dies sei in aller Kürze skizziert und insbesondere im Hinblick auf Parallelen und Kontraste zu Goldoni dargestellt. 25 In Diderots Roman Les Bijoux indiscrets (1748) wird erstmals deutlich, wie Diderot den klassischen Begriff der imitatio naturae neu fasst. Dort sagt eine Figur in überraschender Ähnlichkeit zu Formulierungen bei Goldoni: „Je n’entends point les règles, continua la favorite, et moins encore les mots savants dans lesquels on les a conçues; mais je sais qu’il n’y a que le vrai qui plaise et qui touche. Je sais encore que la perfection d’un spectacle consiste dans l’imitation si exacte d’une action, que le spectateur, trompé, sans interruption, s’imagine assister à l’action même.“ 26 Diderots „vrai“ scheint Goldonis „semplice e naturale“ zu entsprechen, die „imitation exacte d’une action“ der „esatta imitazione della natura“, und die Täuschung der Bühnenillusion, die als Wirklichkeit wahrgenommen wird, findet sich bei Goldoni im Zitat aus Rapins Poetik. 27 Wie bei

24 Vgl. Dieckmann, Herbert: Die Wandlung des Nachahmungsbegriffes in der französischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Jauß, Hans Robert (Hg.), Nachahmung und Illusion, München: Fink 1969, S. 29–59, hier S. 32. 25 Direkte intertextuelle Bezüge bestehen bekanntlich zwischen Diderots Le Fils naturel (1757) und Goldonis Il vero amico (1750/51) sowie dem Père de famille (1758) und Il padre di famiglia (1749/50). 26 Diderot, Denis: Les Bijoux indiscrets, in: ders., Œuvres, hg. von André Billy, Paris: Gallimard 1951, S. 142. „Ich verstehe nichts von den Regeln, fuhr die Favoritin fort, und noch weniger von den gelehrten Worten, in die man sie gefasst hat; aber ich weiß, dass nur das Wahre gefällt und berührt. Ich weiß auch, dass die Vollkommenheit eines Theaterstücks in der so genauen Nachahmung einer Handlung besteht, dass der Zuschauer, getäuscht, ohne Unterbrechung, meint, er wohne der Handlung selbst bei.“ 27 Lautet die Formulierung bei Goldoni „mi accertai che, sopra del maraviglioso, la vince nel cuor dell’uomo il semplice e il naturale“ (s. Anm. 3), ist es bei Diderot zunächst das Wahre, das in der Wirksamkeit alles andere übertrifft. Dieses Wahre wird durch die exakte Nachahmung in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Natürlichen gebracht, wobei die Verfahrensweise durch die Beschreibung der Wirkung auf den

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Goldoni wird der Bereich der nachahmenswürdigen Wirklichkeit gegenüber dem traditionellen Verständnis der imitatio naturae erweitert. 28 Es ist nicht mehr die bella natura oder die nature ennoblie, die dem Zuschauer auf der Bühne vorgeführt wird, sondern es sind Ereignisse und Charaktere, die ihm aus der täglichen Erfahrung (bei Diderot: „expérience journalière“ 29) vertraut sind, die er aus dem wirklichen Leben kennt. So weit die Übereinstimmungen in der Diktion auch reichen, in der Bedeutung und Konsequenz für die Bühne bestehen beträchtliche Unterschiede. 30 Während bei Diderot das Wahre der realen Welt auf der Bühne so wiederzugeben ist, dass es auch in der Wirklichkeit nicht anders erschiene und damit aus wirkungsästhetischer Perspektive die ästhetische Distanz des Zuschauers aufgehoben wird, besteht dieser Anspruch bei Goldoni nicht, da sich sein Verständnis von Natürlichkeit auf den schönen Schein der theatralischen Fiktion bezieht, die als das Andere der Welt sich dieser zwar annähert, aber eigenständig bleibt. Dagegen strebt Diderot beim Zuschauer eine möglichst vollständige und vollkommene Illusion der Wirklichkeit an, so dass der Unterschied zwischen Kunstwahrem und Naturwahrem eingeebnet scheint. Das Wahre und das Natürliche, die für Diderot untrennbar zusammengehören, 31 finden sich allerdings nicht in jeder Art von Alltäglichkeit, sondern vielmehr in einer allgemeinen Ordnung der Din-

Zuschauer verdeutlicht wird und wie bei Goldoni explizit auf die Exaktheit der Nachahmung hingewiesen wird („credo e sostengo, che sia un merito della Commedia l’esatta imitazione della natura“; Vorwort zu Baruffe chiozzotte, s.o., Anm. 16). 28 Siehe dazu ausführlich Dieckmann: Nachahmung, v.a. S. 34–37, und Jauß, Hans Robert: Diderots Paradox über das Schauspiel, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 11, 1961, S. 380–413. 29 Diderot: Entretiens sur Le Fils naturel, in: ders., Œuvres, op. cit., S. 1206. 30 Es sind gerade die Übereinstimmungen in der Diktion, die eine besondere Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Konzeptionen erfordern, so dass die Vielfalt und Heterogenität des Konzepts der Natürlichkeit deutlich wird. Herbert Dieckmann stellt dies bereits im Hinblick auf die französische Klassik und Diderot fest: „Das Erstaunliche ist, dass die neuen Werte, die Diderot verkündet, im Begrifflichen genau mit denen der doctrine classique übereinstimmen.“ (Dieckmann: Nachahmung, S. 33) 31 Vgl. z. B. Diderot: Entretiens, S. 1232–1233: „Mais dans l’art, ainsi que dans la nature, tout est enchaîné; si l’on se rapproche d’un côté de ce qui est vrai, on s’en rapprochera de beaucoup d’autre. C’est alors que nous verrons sur la scène des situations naturelles [...]. Je ne me lasserai point de crier à nos Français: La Vérité! la Nature! Les Anciens!“

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ge 32, der „le vrai, le bon et le beau“ 33, das Wahre, das Gute und das Schöne, innewohnen. Dies verdeutlicht, dass Diderots Begriff vom Naturwahren ein idealistischer ist, 34 während sich Goldonis Konzeption durch eine naturalistische Tendenz auszeichnet. 35 Dass Diderots Nachahmung des Natürlichen und Wahren nicht eine unmittelbare Transposition der Wirklichkeit auf die Bühne, also eine Kopie, meint, wird in seinem exemplarischen Stück Le Fils naturel sichtbar, in dem er sich selbstverständlich gewisser Theaterkonventionen wie etwa der Einheiten der Handlung, des Ortes und der Zeit bedient und diese in den Entretiens im Hinblick auf die dramaturgische Wahrscheinlichkeit für unentbehrlich erklärt. Dagegen scheinen ihm andere Traditionen wie zum Beispiel die für die Komödie typischen kontrastierenden Charaktere die Illusion zu zerstören 36, während Goldoni diese explizit für angebracht hält, da sich so der tugendhafte Charakter umso mehr vom schlechten abhebt. Was für Goldoni in der Gattung der Komödie als „natürlich“ erscheinen mag, ordnet Diderot in seiner Verteidigung gegen den Plagiatsvorwurf als „farce“ ein. 37 Für ein Theaterstück des genre sérieux kommen nach Diderot hauptsächlich die mittleren Charaktere und die „instants particuliers de la vie réelle“ 38, die besonderen Augenblicke des wirklichen Lebens in Frage, die sich, wie seine Ausführungen zeigen, vor allem in Extremsituationen und pathetischen Szenen manifestieren, so zum Beispiel, wenn sich die um das Totenbett des Vaters versammelten Kinder die Haare raufen, eine Mutter

32 Diderot: Entretiens, S. 1263: „Chacun de ces arts en particulier a pour but l’imitation de la nature [...]. Et qu’a de commun avec la métamorphose ou le sortilège l’ordre universel des choses, qui doit toujours servir de base à la raison poétique?“ 33 Diderot: Discours sur la poésie dramatique, in: ders., Œuvres esthétiques, hg. von Paul Vernière, Paris: Garnier 1959, z. B. S. 283. 34 Jauß: Diderots Paradox, S. 411. 35 Dies unterstreicht Gozzi, wie oben dargelegt, durch seine polemische Darstellung von Goldonis Arbeitsweise. 36 In den Entretiens betont Diderot die Wichtigkeit der „vérité des caractères“ (S. 1209). Zur Schaffung mittlerer Charaktere bei Diderot siehe Jauß: Diderots Paradox, S. 390. Im Discours de la poésie dramatique schreibt Diderot: „Mais un moyen sûr de gâter un drame et de le rendre insoutenable à tout homme de goût, ce seroit d’y multiplier les contrastes. [...] Une des parties les plus importantes dans l’art dramatique et une des plus difficiles n’est-ce pas de cacher l’art? Or qu’est-ce qui en montre plus que le contraste?“ (S. 235). 37 Diderot: Discours, S. 222. 38 Diderot: Entretiens, S. 1206.

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verzweifelt vor ihrem Sohn die Brust entblößt oder ein Freund seine Haare abschneidet, um sie auf dem Leichnam seines Freundes zu verstreuen. 39 In derartigen Szenen kommt in den Augen Diderots ein Naturwahres zum Ausdruck, dass das Persönliche zum Allgemeinen hin übersteigt. Es geht Diderot also nicht um einen naiven Realismus oder gar Naturalismus, sondern um die Darstellung eines Wahren, das in der „vie réelle“, im wirklichen Leben, in der Natur enthalten ist und auf der Bühne idealiter zum Ausdruck und zur Anschauung gebracht wird. Wenn Diderot auch die „vie réelle“ oder den „monde réel“ 40 als Gegenstand der Nachahmung nennt und damit den Gegenstandsbereich in Bezug auf die doctrine classique erweitert, so ist damit doch nicht die ganze Wirklichkeit gemeint. Während das Natürliche des genre sérieux im mittleren Charakter und im familiären und gesellschaftlichen Umfeld verortet ist, ermöglicht die Gattung der Komödie Goldoni, der einen derartigen Wahrheitsanspruch nicht stellt, auch die Darstellung der „gemeinen“ Wirklichkeit, der geifernden Hausfrauen, der venezianischen Gondolieri und der streitenden Fischer von Chioggia. Welch divergente Konzepte die Theaterlandschaft des 18. Jahrhunderts prägten, vermag diese skizzenhafte Darstellung der Positionen Goldonis, Gozzis und Diderots nur anzudeuten. Inwieweit diese tatsächlich das Repertoire und die Darstellungsweise bestimmten, wäre eine eigene Untersuchung wert. Fest steht allerdings, dass in ihrer Zeit nur Goldoni und Gozzi erfolgreiche Theaterautoren waren, während Diderot nicht als solcher, sondern als Philosoph und Denker in die Literatur- und Theatergeschichte eingegangen ist.

L ITERATUR Diderot, Denis: „Discours sur la poésie dramatique“, in: ders., Œuvres esthétiques, hg. von Paul Vernière, Paris: Garnier 1959. Diderot, Denis: „Entretiens sur Le Fils naturel“, in: ders., Œuvres esthétiques, hg. von Paul Vernière, Paris: Garnier 1959. Diderot, Denis: „Les Bijoux indiscrets“, in: ders., Œuvres, hg. von André Billy, Paris: Gallimard 1951, S. 142. Dieckmann, Herbert: „Die Wandlung des Nachahmungsbegriffes in der französischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts“, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion, München: Fink 1969, S. 29–59.

39 Diderot: Discours, S. 260. 40 Diderot: Entretiens, S. 1228.

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Goldoni Carlo: „Prefazione alla prima raccolta delle commedie“, in: ders., Tutte le opere, hg. von Giuseppe Ortonlani, Band I, Milano: Mondadori 1935. Goldoni, Carlo: „Il teatro comico“, in: ders., Tutte le opere, hg. von Giuseppe Ortonlani, Band II, Milano: Mondadori 1935. Goldoni, Carlo: „Prefazione dell’edizione Pasquali“, t. XIII, in: ders., Tutte le opere, hg. von Giuseppe Ortonlani, Band I, Milano: Mondadori 1935. Goldoni, Carlo: „Vorwort zu La putta onorata“, in: ders., Tutte le opere, hg. von Giuseppe Ortonlani, Band II, Milano: Mondadori 1935. Goldoni, Carlo: „Vorwort zu Le baruffe chiozzotte“, in: ders., Tutte le opere, hg. von Giuseppe Ortonlani, Band VIII, Milano: Mondadori 1935. Gozzi, Carlo: „Il teatro comico all’Osteria del Pellegrino (1760)“, in: ders., Opere edite e inedite non teatrali, Band 1, Venezia: Zanardi 1805. Jauß, Hans Robert: „Diderots Paradox über das Schauspiel“, in: GermanischRomanische Monatsschrift 11, 1961, S. 380–413. Winter, Susanne: Von illusionärer Wirklichkeit und wahrer Illusion. Zu Carlo Gozzis Fiabe teatrali, Heidelberg: Winter 2007.

‚Rückkehr zur Natur‘ – wohin, nochmals gefragt? Die Rezeption des Natürlichkeitskonzepts im 19. Jahrhundert V ERA G RUND

1. Hector Berlioz war bekanntlich einer der großen Streiter für die Werke Glucks. Begeistert rezipierte er die Aufführungen mit Adolph Nourrit in den 1820er Jahren, kommentierte sie als junger Musikkritiker und regte in den 1850er Jahren eine Renaissance der sogenannten Reformwerke auf den französischen Bühnen an. 1 Mit seiner Fassung von Glucks Orfeo ed Euridice (1762) bzw. Orphée et Euridice (1774) mit der Sängerin Pauline Viardot in der Hauptrolle, die 1859 im Théâtre lyrique aufgeführt wurde, gelang ihm ein kolossaler Triumph. Berlioz rekurrierte auf das Bild Glucks als Opernreformer, der heroisch über das überkommene italienische Musiktheater triumphierte, und falscher Virtuosität und Sängereitelkeit entgegenwirkte: „Jamais il ne sacrifia ni aux caprices des chanteurs, ni aux exigences de la mode, ni aux habitudes invétérées qu’il eut à combattre en arrivant en France, encore fatigué de la lutte qu’il venait de soutenir contre celles des théâtres d’Italie. Sans doute cette guerre avec

1

Vgl. Buschmeier, Gabriele: „‚Le Jupiter de notre Olympe, l’Hercule de la musique‘. Aspekte zu Berlioz’ Gluck-Rezeption“, in: Gluck und seine Zeit, hg. von Irene Brandenburg, Laaber: Laaber 2010, S. 301–314. Zur Rezeption Glucks als Opernreformer vgl. Grund, Vera: „‚Cette musique vraiment dramatique’ – Die Gluck-Rezeption in Paris“, in: Gluck und das Musiktheater im Wandel, hg. von der Gluck-Forschungsstelle Salzburg, München 2015, S. 212–220.

126 | V ERA G RUND les dilettanti de Milan, de Naples et de Parme, au lieu de l’affaiblir, avait doublé ses forces en lui en révélant l’étendue; car en dépit du fanatisme qui était alors dans nos mœurs françaises en matière d’art, ce fut presque en se jouant qu’il brisa et foula aux pieds les misérables entraves qu’on lui opposait. […] la vérité d’expression, qui entraîne avec elle la pureté du style et la grandeur des formes, est de tous les temps; les belles pages de Gluck resteront toujours belles.“ 2

Wahrheit und Schlichtheit definierte Berlioz als Charakteristika der Werke Glucks, womit er sich, wie er patriotisch motiviert argumentierte, von den Vertretern der italienischen Opern abhob. Insbesondere die schon zu Zeiten der Uraufführung vielbeachtete Unterweltsszene in Glucks Orphée et Euridice bewertete er entsprechend dieser Kategorien: „Quant à l’acte des enfers d’Orphée, voici ce que nous pouvons en dire: Cette musique n’est ni vieille ni jeune, elle est de tous les temps, elle est vraie, naturelle, grande, sublime!“ 3

Die Konzeption der Szene, die die schreckliche Natur zum Inhalt macht, hatte der Librettist und Wortführer der Wiener Bewegung um ein erneuertes Musiktheater, Ranieri Calzabigi, für sich reklamiert. Bereits in seiner Argumentation hob er auf die Orientierung an der Natur ab:

2

„Nie opferte er, weder den Launen der Sänger noch den Anforderungen der Mode oder den festgesetzten Gewohnheiten, die er zu bekämpfen hatte, als er in Frankreich ankam, erschöpft vom Kampf, den er gegen jene des italienischen Theaters auszutragen hatte. Ohne Zweifel hat dieser Krieg mit den dilettanti von Mailand, Neapel und Parma, statt ihn zu schwächen, seine Kräfte verdoppelt, indem er ihm seine Machtfülle darüber aufzeigte; denn ungeachtet des Fanatismus, der bereits in unseren französischen Sitten auf dem Gebiet der Kunst vorhanden war, zerschlug er die erbärmlichen Hindernisse fast spielerisch, die man ihm in den Weg stellte, und trat sie mit Füßen. […] die Wahrheit des Ausdrucks, die die Reinheit des Stils und die Größe der Formen nach sich zieht, gilt alle Zeit. Die schönen Seiten Glucks bleiben immer schön.“ Berlioz, Héctor: Mémoires de Héctor Berlioz comprenant ses voyages en Italie, en Allemagne, en Russie et en Angleterre, 1803–1865, hg. von Michel Austin, Paris: Sandre 2010, S. 325ff. (Übersetzung, wenn nicht anders angegeben, VG).

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Berlioz, Héctor: Théâtre de l’opéra, in: Revue et gazette musical de Paris, Nr. 13 (01.04.1838), S. 141.

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„La cosa è affatto diversa nel nuovo piano di drammi da me, se non inventato, almeno il primo eseguito in Orfeo, poi in Alceste, e dal Sig. Coltellini continuato. Qui tutto è natura, tutto è passione; non vi son sentenze, non v’è filosofia, ne politica, non paragoni, non descrizioni, non amplificazioni che sono le sfuggi difficoltà, e che s’incontrano in tutti i libri.“ 4

Von ihrer Wirkung überzeugt, verwendete Calzabigi in beinahe all seinen Werken Unterweltszenen (Orfeo ed Euridice 1762, Alceste 1767, die Ballette Don Juan 1761, Semiramis 1764/64), 5 so dass der Zeitgenosse Karl Graf von Zinzendorf spottete, seit dem Erfolg von Don Juan im französischen Theater Wiens seien Furienszenen „höchst beliebt im französischen Theater von Wien“. 6 In das ‚Opernreformprogramm‘ des Wiener Kreises um Calzabigi und Gluck passten die Szenen insofern, als sie nun insbesondere die Darstellung von Schrecken auf der Bühne realisierten und sich um eine Verbindung von Mythologie und Realismus bemühten. 7 Intendiert war eine szenische Umsetzung, die durch bewegten Chor, handlungsimmanentes Ballett, Kostüm und Bühnenbild das Konzept einer Gesamtdramaturgie realisiert. Musikalisch setzte Gluck das Unterweltszenario durch chromatische Linien, stark kontrastierende Dynamik, die Instrumentation mit Hörnern und Trompeten und die Verwendung von Molltonarten um. Orfeos Versuch, die Furien zu besänftigen, instrumentierte er mit Harfe; als außerge-

4

„Das ist vollständig anders in dem neuen Konzept der Dramen, das ich, wenn nicht erfunden, so doch als erster in Orfeo, dann in Alceste durchgeführt habe und das Coltellini fortgesetzt hat; hier ist alles Natur, ist alles Leidenschaft; da gibt es keine weisen Lehren, weder Philosophie noch Politik, keine Gleichnisse, Beschreibungen und Abschweifungen, die nur dazu dienen, Schwierigkeiten zu umgehen, die man in allen Libretti findet.“ Brief von Ranieri Calzabigi an Wenzel Anton Kaunitz vom 6.3.1767, abgedruckt in Croll, Gerhard: Vorwort zu Alceste, Gluck-Gesamtausgabe Band I/3a, übers. von Renate Croll, Kassel u.a.: Bärenreiter 2005, S. XII.

5

Auch Glucks für die Pariser Bühne komponierte Iphigénie en Tauride (1779) und Armide (1777) beinhalten Unterweltszenen.

6

„Il y a un grand nombre de choeurs, le songe de la mère d’Oreste est représenté naturellement et cela amène les furies qui depuis le ballet de Don Juan sont fort aimés au théâtre français de Vienne.“ Tagebucheintrag Zinzendorfs vom 5.10.1762, in: Zinzendorf, Karl: Aus den Jugendtagebüchern 1747, 1752 bis 1763, hg. von Maria Breunlich und Marieluise Mader, Wien u.a: Böhlau, S. 377.

7

Siehe dazu auch Grund, Vera: „Reform der italienischen Oper?“, in: Gluck und das Musiktheater im Wandel, hg. von der Gluck-Forschungsstelle Salzburg, München: epodium 2015, S. 124–181, v.a. S. 152–181.

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wöhnlich wurde die Personifizierung der Furien bewertet, die dialogisch mit Orfeo agierten und ihm mit einem „No“ den Zutritt verweigerten, was als Einbindung der transzendentalen Wesen in das Natürlichkeitskonzept verstanden wurde (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Christoph Willibald Gluck, Orfeo ed Euridice, Akt 2, Szene 1, Solo e coro „Deh placatevi con me“.

Quelle: Gluck-Gesamtausgabe, Band I/1, hg. von Anna Amalia Abert und Ludwig Finscher, Kassel usw.: Bärenreiter 1963, S. 72. Mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter Verlags.

Im Wienerischen Diarium, in dem eine zweiseitige Besprechung der Aufführung erschien, wurde Glucks Kompositionsweise als gelungen bewertet: „Die Musik ist von unserm berühmten Hrn. Cav. Christoph Gluck; der sich darin gleichsam selbst übertroffen hat. Es herrschet in selbiger durchgängig eine vollkommene Har-

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monie: die Charaktere sowohl, als die Leidenschaften sind deutlich und fühlbar ausgedrückt; die Empfindung der Zuhörer wird durch eine vernünftige Abwechslung des Zeitmaßes und durch eine gute Wahl und Veränderung der Instrumenten beständig unterhalten.“ 8

Das Konzept ‚naturalezza‘, die ungeschönte Darstellung der ‚schrecklichen Natur‘, war hier als Provokation, als Herausforderung an das „konservative“ Publikum gedacht; so betonte der vermutlich aus dem Umfeld des Wiener Theaterkreises stammende Autor ironisch, das Lieto fine des Werks sei Konzession an den Publikumsgeschmack. 9 Die starke Wirkung der Unterweltsszene des auch auf den deutschen Bühnen des 19. Jahrhunderts häufig aufgeführten Gluck’schen Orfeo bemerkte auch der Gluck-Aficionado E.T.A. Hoffmann. In seiner Novelle Ritter Gluck von 1809 diente sie ihm als Metapher für die Expressivität und somit für die Qualität der Musik Glucks: „Als ich im Reich der Träume war, folterten mich tausend Schmerzen und Ängste! Nacht war’s, und mich schreckten die grinsenden Larven der Ungeheuer, welche auf mich einstürmten und mich bald in den Abgrund des Meeres versenkten, bald hoch in die Lüfte emporhoben. Da fuhren Lichtstrahlen durch die Nacht, und die Lichtstrahlen waren Töne, welche mich umfingen mit lieblicher Klarheit. […]. – Nacht wurde es wieder, da traten zwei Kolosse in glänzenden Harnischen auf mich zu: Grundton und Quinte! sie rissen mich empor, aber das Auge lächelte: ‚Ich weiß, was deine Brust mit Sehnsucht erfüllt; der sanfte, weiche Jüngling Terz wird unter die Kolosse treten; du wirst seine süße Stimme hören, mich wieder sehen, und meine Melodien werden dein sein.‘“ 10

Hofmann hatte einerseits eine Vorliebe für die Ästhetik der Werke Glucks, die er mit Einfachheit und Natürlichkeit verband; andrerseits aber auch für Carlo Gozzi, dessen fantastische Märchen- und Zauberwerke laut Katherine Syer „in der Aufklärung […] der Nüchternheit weichen“ 11 mussten, in der Romantik jedoch eine Renaissance erlebten. Hofmann empfahl in seinem Dialog über die romanti-

8

Wienerisches Diarium, 13.10.1762, Mittwochsbeilage [o.S.].

9

„Alle Zuschauer die sonst von Mitleiden betrübt nach Hause gegangen seyn würden, sind ihm für diese glückliche Veränderung sehr verbunden“. Ebd.

10 Hofmann, E. T. A.: „Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahr 1809“, in: E.T.A. Hofmann. Poetische Werke in 6 Bänden, Berlin: Aufbau 1963, Band 1, S. 69. 11 Syer, Kathrine: „Wagner und das Erbe Carlo Gozzis“, in: Wagner und Italien 1, hg. von Udo Bermbach, Würzburg: Könighausen und Neumann 2010, S. 51.

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sche Oper „Der Dichter und der Komponist“ von 1819 dessen Il corvo als Opernstoff. 12 Der junge Richard Wagner wurde so auf die Werke von Carlo Gozzi aufmerksam und machte sich an die Bearbeitung von dessen La donna serpente, die ihm als Textvorlage für seine Oper Die Feen diente. Wagner selbst betonte die Personenkonstellation – das „ideale Liebespaar“ sowie ein „derb komisches, welches natürlich in das Knappen- und Zofenfach fiel“ 13 –, womit er auf die Einbindung der Commedia dell’Arte-Figuren in das Märchendrama anspielte. Der Inhalt des Werks ähnelt der Handlung von Orfeo ed Euridice: König Arindal verliert seine Ehefrau, die Fee Ada, als er vor Ablauf einer Frist von acht Jahren nach ihrer Herkunft fragt. Wie Orfeo wird Arindal auf die Probe gestellt, die er nicht besteht. Während Wagner von kleinen Änderungen abgesehen der Dramaturgie Gozzis in den ersten beiden Akten folgte, nahm er im dritten einen entscheidenden Eingriff vor: Anstelle einer Rätsel- fügte er eine Unterweltszene ein, in der Arindal als Prüfung auferlegt wird, die „Erdgeister mit scheußlichen Larven“ zu bezwingen. Eine musikalische Gemeinsamkeit zu Glucks Orfeo besteht in den dialogischen Einwürfen der Erdgeister (siehe Abb. 2). Wagner selbst kam immer wieder auf Gluck zu sprechen, dessen Stellung in der Musikgeschichte er gemäß der Beurteilung Berlioz’ als Erfinder des Musikdramas und Reformer der Oper verstand. 14 Anzunehmen wäre also, dass seine Entscheidung von Gozzis Textvorlage abzuweichen und eine Unterweltsszene in Die Feen einzubauen, von den positiven Urteilen Berlioz’ und vor allem E.T.A. Hofmanns zu Orfeo ed Euridice beeinflusst war. Vom Besuch einer Wiener Vorstellung von Glucks Iphigénie en Tauride im Jahr 1832 – als Wagner also bereits an der Komposition der Feen arbeitete – berichtete er jedoch hämisch: „Mit Stolz führte ein junger Freund mich in die Aufführung von Glucks Iphigenia in Tauris, welche durch die vorzüglichen Leistungen des berühmten Wild, Staudigls und Binders besonders empfehlenswert war: nur muß ich aufrichtig gestehen, daß ich im ganzen durch das Werk mich gelangweilt fühlte, was mir um so peinlicher war, da ich es nicht auszusprechen wagte. Auch Gluck war mir namentlich durch das bekannte Hoffmannsche Phantasiestück unwillkürlich zu einer dämonischen Riesengröße geworden: ich vermutete

12 Hofmann, E.T.A.; „Der Dichter und der Komponist“, in: E.T.A. Hofmann. Poetische Werke in 6 Bänden, Berlin: Aufbau 1963, Band 3 (Die Serapionsbrüder), S. 107. 13 Wagner, Richard: Mein Leben 1813–1868, hg. v. Martin Gregor-Dellin, München, Leipzig: List 1994, S. 81. 14 Vgl. Krämer, Jörg: „‚Dieses ganze ist und bleibt aber todt‘ – Richard Wagners Umgang mit Gluck“, in: Österreichische Musikzeitschrift, 69 (2), S. 30. Krämer zeigt in dem Artikel deutlich Wagners widersprüchliche Gluck-Rezeption auf.

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in ihm, dessen Werke ich noch nicht studiert hatte, ein hinreißendes dramatisches Feuer und legte an alles, was ich mir von einer ersten Vorführung seines berühmtesten Werkes erwarten sollte, den Maßstab an, welchen ich an jenem unvergeßlichen Abend der Darstellung des Fidelio durch die Schröder-Devrient entnommen hatte. Mit Mühe gelang es mir, in der großen Szene des Orestes mit den Furien mich in eine halbwegs Ähnliche Ekstase zu versetzen. Der Eindruck alles übrigen blieb feierlich spannend auf eine Wirkung, zu welcher es nie kam.“ 15

Abbildung 2: Richard Wagner, Die Feen, Akt 3, Finale.

Quelle: Richard Wagners musikalische Werke, hg. von Michael Balling, Leipzig: Breitkopf und Härtel, o.J., [1912]

15 Wagner: Mein Leben, S. 70f, auch zitiert bei Krämer, „‚Dieses ganze ist und bleibt aber todt‘“, S. 31f.

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Wagner opponierte also gegen Berlioz’ und E.T.A. Hofmanns Urteile über Gluck und hob dabei besonders auf dessen Umsetzung der Unterweltszene in Iphigenie en Tauride ab. Bewusst oder unbewusst positionierte er sich damit gegen die Natürlichkeitsästhetik des 18. Jahrhunderts, nicht nur indem er gegen Glucks Kompositionsweise argumentierte, sondern auch da er mit der Textvorlage von Gozzi das Gegenkonzept zu Goldonis Natürlichkeits- bzw. Realitätsästhetik wählte. 16 Wagner distanzierte sich später von seiner ersten vollendeten Opernkomposition, die zu seinen Lebzeiten nie auf die Bühne kam. Auch E.T.A. Hofmann gegenüber ging er später deutlich auf Distanz, indem die Auseinandersetzung mit dessen Werk zur ‚Jugendsünde‘ deklarierte: „Leidenschaftlich unterhielt man sich oft über die Hoffmannschen Erzählungen, welche damals noch ziemlich neu und von großem Eindruck waren. Ich erhielt von hier an durch mein erstes, zunächst nur oberflächliches Bekanntwerden mit diesem Phantastiker eine Anregung, welche sich längere Jahre hindurch bis zur exzentrischen Aufgeregtheit steigerte und mich durch die sonderbarste Anschauungsweise der Welt beherrschte.“ 17

Ebenso verfuhr er mit Die Feen, die trotz mehrfacher Anfragen zu seinen Lebzeiten nicht auf die Bühne kam; Teile daraus verwendete er jedoch in Siegfried und Parsifal wieder. Erst nach seinem Tod wurde das Werk im Jahr 1888 in München aufgeführt. 18 Während Berlioz und Hofmann den bereits im 18. Jahrhundert vielgerühmten Naturalismus Glucks als Qualitätskriterium nachvollzogen, grenzte sich Wagner, für den das 18. Jahrhunderts bereits historische Vergangenheit geworden war, dagegen ab.

2. Alfred Duru und Henri Chivot schufen für Jacques Offenbach ein Libretto, das die Schauspielerin und Sängerin Justine Favart in den Mittelpunkt stellte. Favart hatte gemeinsam mit Harny de Guerville im Jahr 1753 die Opéra comique Les

16 Vgl. den Winter, Susanne: „Natürlichkeit oder Artifizialität. Zur Theaterästhetik Goldonis, Gozzis und Diderots“, im vorliegenden Band. 17 Wagner: Mein Leben, S. 16. 18 Vgl. Jost, Peter: Vorwort zu Die Feen (= Richard Wagner. Sämtliche Werke, Band 1/I) hg. von dems., S. VIIIf.

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Amours de Bastin et Bastinne auf die Bühne gebracht, bei der es sich um eine Parodie auf Rousseaus Intermède Le Devin du village handelte. Favarts Auftritt war vor allem auch wegen ihres Kostüms, das der Tracht der Landbevölkerung nachempfunden war, als Konventionsbruch gewertet worden und stand daher im Kontext des Diskurses um Realismus und Natürlichkeit auf der Bühne. 19 Die Operette Madame Favart wurde erstmals am 28. Dezember 1878 im Théâtre des Folies dramatiques gezeigt; Arnold Mortier widmete ihr eine ausführliche Besprechung im Soir parisienne: „Justine Favart l’héroïne de MM. [Henri] Chivot et [Alfred] Duru, a […] attaché son nom à une réforme […]. C’est elle qui osa la première jouer des rôles de paysannes avec des simples jupons sans porter de paniers. En cherchant dans Bachaumont des anecdotes sur la vraie Mme Favart, j’ai vu que l’auteur des Mémoire secrets ne faisait que fort peu de cas de son talent. En général, dit-il, elle est médiocre, elle a la voix maigre, manque de noblesse et substitue la finesse à la naïveté, les grimaces à l’enjouement, enfin l’art à la nature.” 20

Mit der Operette sollte an den Erfolg von Charles Lecoqs La Camargo um die Tänzerin Marie Camargo (1710–1770) angeknüpft werden. Die Camargo war für ihre Bühnenkunst, aber auch für ihre neuartigen Kostüme berühmt. 21 Ebenso spielte das Kostüm für die Inszenierung von Madame Favart eine entscheidende Rolle. Laut Mortier habe der Kostümbildner Juliette Girard, die erste Madame Favart, mit zwei Kostümen ausgestattet, die dem berühmten Stich von Van Loo, nachempfunden wurden (Abb. 3/4; vgl. außerdem Abb. 1, im Vorwort zum vorliegenden Band, S. 12). 22

19 Vgl. auch das Vorwort, S. 7 20 „Justine Favart, Heldin der Herren Chivot und Duru, hat ihren Namen mit einer Reform verbunden. Sie war es, die es sich als erste traute, die Rollen als Bäuerin in einfachen Röcken ohne Reif zu spielen. Als ich bei Bachaumont Anekdoten über die wahre Mme. Favart suchte, sah ich, dass der Autor der Mémoire secrets nicht viel von ihrem Talent hielt. Im allgemeinen, sagt er, ist sie mittelmäßig, hat eine dünne Stimme, es fehlt ihr an Noblesse und sie ersetzt Finesse mit Naivität, die Affektiertheit durch Unbeschwertheit, letztlich die Kunst durch die Natur.“ Mortier, Arnold: „Madame Favart“, in: Le Soir parisienne, 29.12.1878, S. 465f. 21 Ebd., S. 465. 22 „Ce deux costumes sont historiques et ont été copies, l’un et l’autre, sur des tableaux du peintre Vanloo. C’est Luco, le dessinateur ordinaire de M. Cantin [Louis Cantin, Direktor des Théâtre des Follies dramatiques], qui après de longues recherches, a fini

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Abbildung 3/4: Kostümfigurinen für die Rolle der Justine Favart.

Quelle: Ausschnitt aus: „Costumes desinées de M. Luco: Madame Favart“, abgedruckt in: Théâtre des folies dramatiques, 28. Dezember 1878.

Die Handlung des Werks hat keinen Zusammenhang zu Les Amours de Bastien et Bastienne, in der Justine Favart sich als listige Bastienne mit der besseren Pariser Gesellschaft einlässt, um so den Schäfer Bastien auf die Probe zu stellen. Als listige Vermittlerin des Liebespaares Suzanne und Hector de Bosipréau handelt es sich bei der Rolle der Madame Favart vielmehr um eine typische Soubretten-Rolle. Im Stück befindet sich Madame Favart auf der Flucht vor dem Marechal de Saxe, der Favart als seine Geliebte einfordert. Ironisch verarbeiten die Autoren im Libretto zu Madame Favart damit die historische Figur Graf Moritz von Sachsen, der für sein Verhältnis mit der berühmtesten Schauspielerin in Paris, Adrienne Lecouvreur, bekannt war. 23 In einer Verkleidungsszene tritt Madame Favart im Kostüm der Vielleuse, der Leierspielerin auf. Für die Komposition der Szene verwendete Offenbach historisches Material, indem er Madame Favart das Chanson „Elle aime à rire, elle aime à boire“ aus Gabriel-Charles de Lattaignants Opéra comique Fanchon

par déterrer à la bibliothèque de Versailles une gravure reproduisant le tableau dans lequel le peintre a représenté Mme Favart, dans son rôle de Nicette de la Chercheuse d’esprit.“ Ebd. Mortier verwechselt in seiner Beschreibung das auf dem Stich dargestellte Werk und die Rolle Justine Favarts. 23 Treffer, Gerd: Artikel „Moritz Graf von Sachsen“, in: Sächsische Biografie, hg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., http://saebi.isgv.de/biografie/ Moritz_Graf_von_Sachsen_(1696–1750) (09.09.2018).

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la vielleuse (1757) sowie das Vaudeville „Dans les gardes-françaises“ zum Besten geben ließ. 24 Abbildung 5/6: Jacques Offenbach, Madame Favart, Akt 1, Nr. 4, Chœur et scène „Allons vite à table“.

Quelle: Klavierauszug, Paris: Choudons [1879], S. 29/30.

Bei einem späteren Auftritt, ebenfalls einer Verkleidungsszene, tritt Madame Favart jodelnd und schuhplattelnd als „tyrolienne de naissance“ 25 auf. Die Operette überzeichnete damit ironisch die revolutionäre Volkstümlichkeit, für die die echte Justine Favart berühmt war. Während die Volkstümlichkeit in Les Amours de Bastien et Bastienne auf Rousseau bezugnehmend Natürlichkeit bedeutete, wurde sie in Madame Favart zur Satire. Dramaturgisch als Verkleidungsszene in die Operette eingebaut, in der Madame Favart ihre Verfolger hinters Licht führt,

24 Beide Liedtexte handeln vom Schicksal gefallener Mädchen. 25 Offenbach, Jacques: Madame Favart, Akt 3, Nr. 19, Chœur et tyrolienne „Allons sans plus attendre“, Klavierauszug, Paris: Choudons [1879], S. 190ff.

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verwandelte sich die Natürlichkeit Rousseaus zur Täuschung, wurde Mittel zum Zweck und damit zur Koketterie. Dass darin Skepsis gegenüber dem Rousseau’schen Konzept des Naturmenschen mitschwingt, legt die RousseauRezeption nahe, die zum Ende des Fin de Siècle nachdrücklich und kritisch stattfand. Nietzsche polemisierte auf die Französische Revolution bezugnehmend: „Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille in einer Person; der die moralische ‚Würde‘ nötig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. ‚Rückkehr zur Natur‘ – wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück? – Ich hasse Rousseau noch in der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und Kanaille.“ 26

Auch Charles Baudelaire drückte Kritik am Natürlichkeitskonzept der vergangenen Epoche aus: „Die meisten Irrtümer über das Schöne entstammen der falschen Auffassung des achtzehnten Jahrhunderts über die Moral. Die Natur ward in jener Zeit als Grundlage, Quelle und Typus jedes möglichen Guten und Schönen angenommen. […] Diese unfehlbare Natur ist es, die den Verwandtenmord und die Menschenfresserei schuf und tausend andere Abscheulichkeiten, die aufzuzählen Scham- und Feingefühl uns verbieten.“ 27

Im Historismus des Fin de Siècle fand zwar eine Auseinandersetzung mit der vergangenen Epoche statt, die in den Künsten ihren Ausdruck fand; die Vorstellung eines Naturzustandes als Ideal wurde dagegen in Frage gestellt. Die Französische Revolution und die darauffolgenden Jahre des Terreur bewerteten die beiden Autoren als eine Folge aus der Vorstellung des Naturzustandes, wie sie Rousseau stark gemacht hatte. Natürlichkeit im Sinne von Orientierung an Normen war zwar nach wie vor ein Ideal, das jedoch nicht mehr „zurück zur Natur“ bedeutete. Mit der Industrialisierung und Technisierung waren der Fortschrittsgedanke und ein teleologisches Weltbild an die Stelle des Natürlichkeitsideals gerückt.

26 Nietzsche, Friedrich: „Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert“, in: Friedrich Nitezsche, Werke in drei Bänden, München: Holzinger 1954, Band 2, S. 1023. 27 Baudelaire, Charles: „Der Maler des moderne Lebens“, in: ders.; Der Künstler und das moderne Leben. Essays, ‚Salons‘, Intime Tagebücher, hg. v. Henry Schumann, Leipzig 1990, S. 312f.

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L ITERATUR Baudelaire, Charles: „Der Maler des moderne Lebens“, in: ders.: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, ‚Salons‘, Intime Tagebücher, hg. von Henry Schumann, Leipzig 1990. Berlioz, Héctor: Mémoires de Héctor Berlioz comprenant ses voyages en Italie, en Allemagne, en Russie et en Angleterre, 1803–1865, hg. von Michel Austin, Paris: Sandre 2010. Berlioz, Héctor: Théâtre de l’opéra, in: Revue et gazette musical de Paris, Nr. 13 (01.04.1838), S. 141. Buschmeier, Gabriele: „‚Le Jupiter de notre Olympe, l’Hercule de la musique‘. Aspekte zu Berlioz’ Gluck-Rezeption“, in: Irene Brandenburg (Hg.), Gluck und seine Zeit, Laaber: Laaber 2010, S. 301–314. Croll, Gerhard: „Vorwort zu Alceste“, in: Gluck-Gesamtausgabe Band I/3a, übers. von Renate Croll, Kassel u.a.: Bärenreiter 2005. Grund, Vera: „‚Cette musique vraiment dramatique’ – Die Gluck-Rezeption in Paris“, in: Gluck-Forschungsstelle Salzburg (Hg.), Gluck und das Musiktheater im Wandel, München: epodium 2015, S. 212–220. Grund, Vera: „Reform der italienischen Oper?“, in: Gluck-Forschungsstelle Salzburg (Hg.), Gluck und das Musiktheater im Wandel, München: epodium 2015, S. 124–181. Hofmann, E. T. A.: „Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahr 1809“, in: E.T.A. Hofmann. Poetische Werke in 6 Bänden, Berlin: Aufbau 1963, Band 1. Hofmann, E.T.A.; „Der Dichter und der Komponist“, in: E.T.A. Hofmann. Poetische Werke in 6 Bänden, Berlin: Aufbau 1963, Band 3. Jost, Peter: Vorwort zu Die Feen (= Richard Wagner. Sämtliche Werke, Band 1/I) hg. von dems., Mainz 2010. Krämer, Jörg: „‚Dieses ganze ist und bleibt aber todt‘ – Richard Wagners Umgang mit Gluck“, in: Österreichische Musikzeitschrift, 69 (2), S. 30–38. Mortier, Arnold: „Madame Favart“, in: Le Soir parisienne, 29.12.1878, S. 465f. Nietzsche, Friedrich: „Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert“, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München: Holzinger 1954, Band 2. Offenbach, Jacques: Madame Favart, Akt 3, Nr. 19, Chœur et tyrolienne „Allons sans plus attendre“, Klavierauszug, Paris: Choudons 1879. Syer, Kathrine: „Wagner und das Erbe Carlo Gozzis“, in: Udo Bermbach (Hg.), Wagner und Italien 1, Würzburg: Könighausen und Neumann 2010.

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Treffer, Gerd: „Moritz Graf von Sachsen“, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V (Hg.), Sächsische Biografie, http://saebi.isgv.de/ biografie/Moritz_Graf_von_Sachsen_(1696–1750) vom 09.09.2018. Wagner, Richard: Mein Leben 1813–1868, hg. von Martin Gregor-Dellin, München, Leipzig: List 1994. Wienerisches Diarium, 13.10.1762, Mittwochsbeilage [o.S.]. Winter, Susanne: „Natürlichkeit oder Artifizialität. Zur Theaterästhetik Goldonis“, Gozzis und Diderots“, im vorliegenden Band. Zinzendorf, Karl: Aus den Jugendtagebüchern 1747, 1752 bis 1763, hg. von Maria Breunlich und Marieluise Mader, Wien u.a: Böhlau.

Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 1 C LAUDIA J ESCHKE

Unbestritten sind Naturalezza und Simplicité wesentliche Kategorien der künstlerischen Ästhetik im 18. Jahrhundert – Kategorien, die sich sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der verschiedenen Kunstsparten herausbilden. Ich werde mich im Folgenden auf den Tanz konzentrieren und hier vor allem zwei tanztheoretische Angänge in den Blick nehmen, nämlich die Texte (Briefe, Programme) von Jean Georges Noverre und Gasparo Angiolini. Aber auch eine umfassende Diskussion dieser Textauswahl wäre zu komplex für den folgenden Aufsatz; deshalb greife ich einen Aspekt heraus, nämlich die Choreographie in der doppelten Bedeutung des Wortes: Choreo-Graphie, das Notieren von Bewegung, befaßt sich wie die Schriften selbst mit der Vermittlung durch den Akt des Schreibens; und Choreographie bezeichnet in der heute und damals gültigen Interpretation auch das ‚componereʻ, das Zusammenstellen von Bewegung in Schau- und Gesellschaftstänzen, d. h. es hat eine theatral-praktische, körperliche Komponente. Mir geht es also vor allem um die Choreographie in ihrer eigentümlichen Verbindung von praktischer Strategie und theoretischem, in verbalisierten und zeichenhaften Dokumenten verschriftetem Diskurs. Dieser Darstellung schliesse

1

Dieser Beitrag ist Teil eines ‚work in progressʻ der vor allem auf die seit 2006 gemeinsam mit Sibylle Dahms und dem Tänzer Rainer Krenstetter durchgeführten tanzpraktischen Arbeiten zum Handlungsballett des 18. Jahrhunderts basiert sowie die Ausführungen des folgenden Artikels aufgreift: Jeschke, Claudia: „Anmerkungen zur Choreografie“, in: Irene Brandenburg/Nicole Haitzinger/Claudia Jeschke (Hg,), Tanz und Archiv: Forschungsreisen. Geste und Affekt im 18. Jahrhundert, Heft 4, München: epodium 2013, S. 50–57.

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ich eine Coda zu Geschichte und Konzept der Ausdrucksbewegung an. Mit der Zusammenschau von Choreographie und Ausdrucksgestaltung hoffe ich, einen tanz- und bewegungsspezifischen Beitrag zu der Naturalezza- und SimplicitéDiskussion zu leisten. Über die Bedeutung von Choreographie äußert sich Gerald Siegmund folgendermaßen: „Die Bedeutung des Wortes ‚Choreographieʻ, das Schreiben (griechisch ‚grapheinʻ) des Tanzes oder Reigens (griechisch ‚chorosʻ), wird heute in der Regel mit ‚künstlerischer Gestaltung und Festlegung der Bewegungen und Schritte eines Ballettsʻ wiedergegeben. Es ist aber die, laut Duden, frühere Bedeutung des Wortes, nämlich ‚graphische Darstellung von Tanzbewegungen und -haltungenʻ, die eine deutlichere Sprache spricht. Choreographie stellt dem älteren Gebrauch gemäß ein Verfahren der Verschriftlichung, des Aufschreibens von Tanzbewegung dar. Die ‚graphische Darstellungʻ bindet den tanzenden Körper an die (Schrift-)Zeichen, die ihm regulierend vorschreiben, was er tun muss, um ein guter Tänzer zu sein. Choreographie ist mithin das Gesetz des sich bewegenden tanzenden Körpers.“ 2

In seinem Aufsatz Choreographie und Gesetz. Zur Notwendigkeit des Widerstandsaktualisiert Gerald Siegmund auf eindrückliche Weise die komplexe Verbindung zweier Schreibakte: Er verweist auf das Schreiben von Bewegung und die damit verbundenen regulierenden ‚Vorschriftenʻ und das Schreiben mit Bewegung als (tänzerische) Aktion. Beide Akte sind also körperlich, und sie benötigen die Rezeption durch die Zuschauer, die ebenso eigenes körperliches Tun erinnern oder imaginieren. In unterschiedlichen Gewichtungen konstituieren und systematisieren Vorschriften und Aktionen das jeweilige Verständnis von Choreographie. „Das Schreiben mit der Bewegung braucht […] immer einen Körper, der seinerseits nie mit der Schrift, die er generiert, identisch sein kann. Tanzen und Choreographie sind zweierlei. […] Der tanzende Körper, der eine Flut von flüchtigen Bewegungen generiert, ist das, was sich prinzipiell der Verschriftlichung zur Choreographie entzieht. Gleichzeitig aber muss sich diese Choreographie auf die Bewegung beziehen, weil sie dem Strom von Bewegung eine Struktur gibt. Auf der anderen Seite gibt es den tanzenden Körper als be-

2

Siegmund, Gerald: „Choreographie und Gesetz. Zur Notwendigkeit des Widerstands“, in: Nicole Haitzinger/Karin Fenböck (Hg.), Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden, München: epodium 2010, S. 118–129, hier S. 122.

Z UR T HEORIE DER K ÖRPERBEWEGUNG

IN DER ZWEITEN

H ÄLFTE DES 18. J H .

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stimmten tanzenden Körper nur, weil er sich als strukturierter Körper in der Choreographie vor Zuschauern zu erkennen gibt. Choreographie stellt einen gesellschaftlichen Körper her, weil sie die einzelnen Körper aufnimmt und in eine allgemeine Struktur einschreibt, die im Theaterraum vor und mit Zuschauern geteilt wird. Im Akt der Einschreibung entsteht die Individualität allererst, die wir landläufig immer schon voraussetzen.“ 3

Für meine Diskussion eines bestimmten Moments in der Tanzgeschichte, der Streit, die berühmte ‚Querelleʻ zwischen Jean Georges Noverre und Gasparo Angiolini aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, möchte ich Siegmunds systemische Definition der Choreographie um einen mir wesentlich erscheinenden Aspekt erweitern. Ich schlage vor, das von ihm profilierte komplexe Handlungsgefüge von ‚Schreiben von Bewegungʻ und von ‚Schreiben mit Bewegungʻ zu erweitern – und zwar durch die Modifizierung des ersten Schreibakts: Da das Schreiben von Bewegung immer durch den körperlichen Transfer in grafische Zeichen erfolgt, plädiere ich dafür, hier nicht nur das Schreiben mit der Sprachschrift (das üblicherweise einen theoretischen Text produziert) zu betrachten, wie Siegmund das tut. Vielmehr möchte ich anregen, auch die Bewegungs- beziehungsweise Tanzschriften zu inkludieren, die, wenn überhaupt, dann nur selektiv mit den Zeichen des Alphabets und der Semantik der Sprache operieren. Dies erscheint mir deshalb sinnvoll, weil diese Bewegungsschriften fast immer von ‚Tanzexpertenʻ verfasst werden – von Menschen also, die ein (regulierend wie produktiv) hohes Maß an bewegungsorientierter, tänzerischer Kompetenz aufweisen. In Siegmunds Terminologie hieße das, dass ein tanzender Körper seinen Tanz an die jeweils verwendeten Tanz-Schrift-Zeichen bindet. Obwohl beide, Schreiben und Tanzen, Choreographie-begründende Aktionen sind, ist ihr Verhältnis von Eigensinn geprägt, das heißt, Tanzen leistet der Schrift gestalterischen und kreativen Widerstand, wie Siegmund feststellt; 4 umgekehrt leistet auch die Schrift dem Tanzen gestalterischen und kreativen Widerstand, wie ich am Beispiel von Noverre und Angiolini zeigen möchte. Ihre Auseinandersetzung mit Choreographie findet im diskursiven Raum zwischen Schrift, Tanznotation und tänzerischer Praxis statt und exemplifiziert die spezifischen Strategien von De-Kodifizierung wie Kodifizierung, die das ‚widerständigeʻ Zusammenspiel von ‚gesellschaftlichem Körperʻ und ‚Individualitätʻ im Verlauf des 18. Jahr-

3

Ebd., S. 124.

4

Der Gedanke der „Widerständigkeit des Körperlichen“ findet sich auch in Brandstetter, Gabriele: „Tanzen Zeigen. Lecture performance im Tanz seit den 1990er Jahren“, in: Margrit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld: transcript 2010, S. 45–61, hier S. 55.

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hunderts gestalten, und sich so auch dem Problem von Naturalezza und Simplicité stellen. Die Historiografie, die sich der Tanz-Entwicklungen im 17. und 18. Jahrhundert annimmt, ist sich einig über die Bedeutung der Chorégraphie, der von Pierre Beauchamps erdachten und von Raoul Auger Feuillet 1700 publizierten Tanzschrift. 5 Das mit ihr vermittelte choreografische Verfahren ist definiert durch die (im Barock vorherrschende) Bedeutung der Komposition beziehungsweise Re-Komposition von versatzstückhaft gebrauchten Schritten und Gesten – als normative Entsprechung von Gedächtnis-Arbeit, Schreiben und Ausführen. Susan Foster resümiert die von der Chorégraphie geregelte Beziehung von gesellschaftlichem und individuellem Körper so: „Elsewhere, I have argued that the notation transformed dancing into a collection of discrete positions and steps, giving movement a new kind of materiality, setting new criteria for virtuosity, and confirming the notion of authorship in dance. It also stipulated underlying principles – rising, sinking, turning, and so forth – according to which all dancers could be compared and evaluated. The assertion of these principles had the effect of removing dances from their local and specific situation and placing them uniformly on the blank plane of the notated page.“ 6

1760 veröffentlicht Jean Georges Noverre seine Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette. Im dreizehnten Brief äußert er sich kritisch über die Chorégraphie: Er hält deren normative Aufzeichnungen für nutzlose, überholte Dokumente, was ihr Potenzial für die Weiterentwicklung der Tanzkunst betrifft. Außerdem fördere die Chorégraphie die Schaffung von Tanzwerken am Schreibtisch, wohingegen sich eine künstlerische Befassung mit Tanz nur auf der Probe realisieren lasse. Und besonders die notwendige Verschriftung von Pantomime, so Noverre weiter, bewege sich außerhalb der Kapazität und Kompetenz der Chorégraphie. „[…] ich bemerke bloß Spuren und Überreste von einer Aktion in den Füßen, welche weder von den Stellungen des Körpers, noch den Lagen der Arme, noch dem Ausdrucke des Kopfes begleitet werden; kurz, sie zeigen mir nichts, als den unvollkommenen Schatten

5

Feuillet, Raoul Auger: Chorégraphie, ou L’Art de décrire la dance par caractères, figures et signes démonstratifs, Paris: Brunet 1700.

6

Foster, Susan Leigh: „Chorography and Choreography“, in: Nicole Haitzinger/Karin Fenböck (Hg.), Denkfiguren, S. 68–75, hier S. 71.

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vorzüglicher Verdienste, und eine frostige, stumme Copie von unnachahmlichen Originalen.“ 7

Noverres Äußerungen gegen die Chorégraphie sind jedoch nicht nur als Kritik an der Tanzschrift zu lesen; vielmehr richten sie sich gegen die Ästhetik, Pädagogik und Institutionalisierung des Tanzes allgemein, wie sie die im Jahr 1661 gegründete Académie Royale de la Danse in Paris vertritt. Gasparo Angiolini antwortet auf diese Kritik detailliert, jedoch quasi aus geografischer Distanz: Er veröffentlicht seine Lettere di Gasparo Angiolini a Monsieur Noverre sopra i balli pantomimi 1773 in Mailand. Im Vergleich zu den provokanten, eher strukturpolitisch begründeten Meinungen Noverres erscheint Angiolini als Geschichts-bewusster und Diskurs-begabter Theoretiker und kontextualisierender Visionär. Er verweist auf die Gedächtnisarbeit im Umgang mit einer Tradition, deren Spuren und Sedimente sich in der Chorégraphie auffinden lassen. Er betont die Bedeutung von Zeichenschriften generell, ihre für die Produktion und Tradierung eines Kunstwerks unabdingbaren analytischen Qualitäten. 8 Als Antwort auf Noverres oben zitierte Kritik an der beschränkten Leistungsfähigkeit der Chorégraphie bemerkt Angiolini: „Soll also eine Erfindung, die die Festigung einer Kunst anstrebt, die versucht, ihre Schönheiten zu fixieren, die Schöpfungen der großen Genies zu verewigen, für nutzlos erklärt werden, weil sie nicht von Beginn an vollkommen ist und weil sie es auch vielleicht niemals sein kann? […] Wie steht es denn mit den Zeichenschriften, und ich denke hier an die, die die Menschheit noch dringender braucht, und um deren Perfektion die größten Genies seit Jahrhunderten ringen: Es ist dies, wie ich meine, die Zeichenschrift, die, wenn man sie auch als vollständig bezeichnen kann, dennoch wegen mangelnder Begrifflichkeit Missdeutungen verursacht! Der Ton der Stimme, der lebhafte Ausdruck, das Empfinden von Affekten, das Feuer der Leidenschaften und so viele andere Gegenstände, die alle für die Kommunikation notwendig sind und große Bedeutung haben, sind sie etwa in irgendeiner Schrift irgendeiner modernen oder alten Sprache festgehalten? Betrachten Sie die Ergänzungen, die Korrekturen, die die Zeichenschrift, und nun meine ich die Musiknoten, seit ihrem Erfinder Guido von Arezzo durchlaufen haben, und sagen Sie mir, ob man trotz dieser Verbesserungen die Anmut, den Ausdruck, das Chiaroscuro der Musik notieren

7

Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, Hamburg

8

Pointiert formuliert: Während Noverre der Überzeugung ist, dass die Chorégraphie

und Bremen: Cramer 1769, S. 274. nicht der Tanz sei, geht Angiolini davon aus, dass die Chorégraphie nicht der Tanz sei.

144 | CLAUDIA J ESCHKE kann, die Intention, den Geist, die wahre Einheit aller Teile, die der Komponist im Sinne hatte, die Generi, die guten, die mittelmäßigen oder schlechten Manieren zu singen oder zu spielen? Also entsprechend Ihrer Art zu argumentieren, müsste man die Zeichenschriften dieser göttlichen Künste, weil sie nicht jetzt, noch künftig vollkommen sein werden, als untauglich betrachten und verwerfen, um nicht unnütz Zeit damit zu vergeuden. Jede Zeichenschrift, jedes Wort, jedes Zeichen kann sogar als perfekt bezeichnet werden, wenn es imstande ist, uns einen bestimmten Gegenstand, von dem die Rede ist, ins Gedächtnis zu rufen.“ 9

Die Chorégraphie hat also theoretischen Wert – als prinzipielle künstlerische Strategie, sie hat jedoch auch praktischen Wert – das heißt als Dokumentation eines bestimmten Teils des Bühnengeschehens, nämlich des „technischen Tanzes“. Sie sollte aber ergänzt werden – ich zitiere Angiolini: „[…] stellen wir ehrlich fest, dass der Tanz – und insbesondere der pantomimische Tanz – immer in den Kinderschuhen steckenbleiben wird, trotz der Anstrengungen und der Talente aller, die sich jetzt und in Zukunft damit befassen. Sagen wir, dass aller Fortschritt im Tanz mit dem jeweiligen Erfinder verlorengehen wird, solange man nicht Mittel gefunden hat, ihn aufzuschreiben. Diese Fakten auf den einfachsten Nenner gebracht – so einfach es in Bezug auf eine so komplizierte Kunst wie die unsere möglich ist – werden sich meines Erachtens auf zwei Punkte reduzieren: auf eine Zeichenschrift, um den technischen Tanz zu beschreiben, und auf wenige Zeichen, um die pantomimische Handlung anzudeuten.“ 10

Bei der Ergänzung der Chorégraphie geht es Angiolini um die Realisierung einer „abstrakten Idee“ 11, an deren Skizzierung er – mit für ihn noch unbefriedigendem Ergebnis – arbeitet. Möglicherweise lassen sich Ansätze von Angiolinis Entwürfen in der Technik der annotierten Partituren entdecken, wie sie in den Aufführungsskripten seines Balletts Don Juan 12 oder auch von Noverres Aga-

9

Angiolini, Gasparo: Lettere di Gasparo Angiolini a Monsieur Noverre sopra i balli pantomimi, Mailand: Giovanni Battista Bianchi 1773, S. 58–60. Übersetzung: Sibylle Dahms, die mir dankenswerter Weise den bislang noch unveröffentlichten deutschen Text zur Verfügung gestellt hat.

10 Angiolini: Lettere a Monsieur Noverre, S. 60f. 11 Ebd., S. 62. 12 Handschriftliche Partitur mit der Musik Christoph Willibald Glucks in Regensburg, Staatliche Bibliothek, 4° Art. 25. Vgl. hierzu Dahms, Sibylle: „Kritischer Bericht“, in: Christoph Willibald Gluck: Don Juan (Wien 1761) und Les Amours d’Alexandre et de

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memnon vengé 13 überliefert sind: In den musikalischen Partituren wird durch verbalisierte Angaben auf für die Handlung signifikante Stellen verwiesen. Die Mischung verschiedener Verschriftungen, hier der Notenschrift und des Alphabets, macht die Partitur zu einem choreografischen Text, und das umso mehr, wenn sich die musikalische Komposition rhetorisch gebärdet und bestimmte Aktionen suggeriert. Ich fasse zusammen: Noverre und Angiolini fordern eine dem ballet en action entsprechende Art, mit tänzerisch begründetem Schreiben (Notation im engeren Sinn) wie auch mit dem diskursiven Schreiben über Tanz umzugehen: Beide Ballettmeister sehen die Notwendigkeit der Verschriftung von komplexen theatralen Vorgängen und beide schreiben darüber in ihren Traktaten. Uneinig aber sind sie sich in der Behandlung von Notation innerhalb des formativen Prozesses des Tanzens selbst. Während Noverre nicht daran glaubt, dass die Komplexität tanztheatralen Bühnengeschehens mit der damals in Gebrauch befindlichen Tanzschrift, der Chorégraphie, zu leisten sei, will Angiolini die Herausforderung annehmen und visioniert eine Art Regiebuch. Im 19. Jahrhundert werden die ‚livrets de mise en scèneʻ zu einem häufig gebrauchten Mittel, Ballettaufführungen zu konzipieren. Diese Arbeitsbücher enthalten verbale Schrittbeschreibungen ebenso wie Handlungsanweisungen und vor allem Abbildungen von Körperhaltungen und Bewegungen, in denen aufgrund der Hybridität der Informationen „diesseits der fixierten Choreographie ein Raum [entsteht], in dem Beziehungen zur Choreographie körperlich, im Tanzen oder im Bewegen ausgehandelt werden“ 14. In der Auseinandersetzung zwischen Noverre und Angiolini erweist sich der Umgang mit Tanzschrift auf der Ebene des diskursiven Schreibens als Spiegel ihrer jeweiligen choreografischen Konzepte und Realisierungen. Auf der Ebene eines – in beiden Fällen fiktiven – tänzerisch begründeten Schreibens beinhaltet er jedoch auch Friktionen zwischen Theorie und Praxis. Die Abstinenz von einer

Roxane (Wien 1764). Ballets pantomimes. Choreographie Gasparo Angiolini, hg. v. Sibylle Dahms/Irene Brandenburg, Kassel: Bärenreiter 2010 (Christoph Willibald Gluck: Sämtliche Werke, Band II/2), S. [99]–106, hier S. 101. 13 Handschriftlicher Klavierauszug mit der Musik Franz Aspelmayrs in Prag, Národní muzeum, České muzeum hudby, XLI.B.275. 14 Siegmund: Choreographie und Gesetz, S. 125; vgl. auch Huschka, Sabine: „Bewegung auf-lesen – Blicke ordnen. Wahrnehmungs- und Erinnerungsräume schaffen“, in: Isa Wortelkamp (Hg.), Bewegung Lesen. Bewegung Schreiben, Berlin: Revolver Verlag 2012, S. 79–99.

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präfixierten Tanzschrift, wie sie Noverre verlangt, impliziert den Widerstand gegen einen Kodex; in der praxeologischen Verneinung der Chorégraphie ist aber gleichermaßen die (gewendete) Forderung von – auch als Notation – regelbaren und geregelten Ausdrucksbewegungen enthalten. Noverres Suche nach tänzerischer Individualität erweist sich in ihrer am vermeintlichen ‚Gesetzʻ der Chorégraphie orientierten Argumentation als Anti-Chorégraphie, ist also weiterhin norm- und regelverhaftet. Angiolini hingegen gibt Raum für die individuelle, flexibilisierte Hervorbringung von Widerstand und deren praktische Umsetzung. Sein Vorschlag einer hybriden Tanz-Schreibung lässt sich nicht mehr auf das bis dato gültige ‚Gesetzʻ des Tanzens ein, sondern öffnet sich verschiedenen variablen Gesetzen. Noverres Verhandlung von Tanzschrift erscheint trotz widerständiger Inhalte ‚gesetzestreuʻ, während Angiolinis diskursives Schreiben integrativ wirkt und der Choreograf mit diesem integrativen Verfahren das Potenzial kreativer Widerständigkeit und neuer Notationsweisen aufzeigt und erprobt. Zwischenspiel: Kollision und Kollusion im Umgang mit tänzerischer wie choreographischer Tradition und Innovation war auch das Thema einer tanzpraktischen Arbeit, mit der Sibylle Dahms, Rainer Krenstetter und ich am Beispiel der Chaconne aus Mozarts Oper Idomeneo dem damaligen Zeitgeist nachgespürt haben. Vor allem im vierten Teil dieser Chaconne existieren die verschiedenen musikalischen, tänzerischen, choreographischen Konzepte und Umsetzungsweisen ebenso nebeneinander wie sie sich miteinander verbinden. Es handelt sich um eine historisch informierte Annäherung und Reflexion von Strategien und Ästhetiken am Ende des 18. Jahrhunderts und nicht um eine Rekonstruktion. Coda: Die Auseinandersetzung mit der Choreographie ist, wie gesagt, nur eines von vielen möglichen Beispielen für die Verhandlung von zeitrelevanten Fragen zur Theatralisierung der Körperbewegungen im ballet en action und deren tanzaffinen Kontextualisierung in der Naturalezza/Simplicité-Debatte. Erlauben Sie mir einen kurzen historischen Rückblick ins ausgehende 17. Jahrhundert, in dem sich die Diskussion über Termini wie ‚Ausdrucksbewegungʻ und ‚Aktionʻ anbahnte. In dieser Zeit nämlich vermehrt die Veränderung des Intentionalitätscharakters der Rhetorik von der Affirmation zur Propaganda die theatralische Bedeutung der Bewegung im allgemeinen und der Affektdarstellung im besonderen. Die Anweisungen der Rhetoriklehrer zur Ausführung dieser Bewegungen lassen vermuten, dass die Entwicklung von Tanztheorie und –praxis die Wandlung des Bewegungsverständnisses ausgelöst, zumindest aber einen Beitrag zur Verände-

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rung des Verhältnisses von Gefühl und Form geleistet hat: die bis dato vergegenständlichte Darstellungsweise, in der Inhalt und Form noch eins sind und die als das erscheint, was sie ist, bricht auseinander in einen inhaltlichen und einen mechanischen Teil; sie wird dynamischer. Die Folgen sind: inhaltlicher Wandel vom Sein zur Bedeutung, allmähliche Isolierung und Instrumentalisierung der Darstellungsmittel. Für den Tanz bedeutet die veränderte Bewegungssicht zum einen die Vervollkommnung von Technik und Stil, zum anderen die Beschäftigung mit der dramatischen Bewegung und – in Folge davon – die Auseinandersetzung mit der Handlung. Die Forderung nach dem linearen Handlungsverlauf, der in sich geschlossenen Form, bedingt nun die Reflektion des Verhältnisses von Mechanik und Ausdruck. Durch die Beschäftigung mit Ausdruck rückt der in der Rhetorik etablierte Zusammenhang zwischen innerer Ursache und äußerer Wirkung in den Mittelpunkt des Interesses. Der bislang formalisiert-konventionalisierte Gebrauch der Affektdarstellungen, die ihnen eigene Isolation innerhalb des Spektakels, weicht langsam der synthetisierenden Verwendung innerhalb eines größeren dramatischen Zusammenhangs; die enge Verbindung zwischen Inhalt und Form, wie etwa in den Affektdarstellungen der Allegorien, ordnet sich immer mehr in eine äußere Dynamik ein: Die Auseinandersetzung mit einem äußeren Ablauf bedingt so die Konfrontation mit der inneren Haltung in ihrem Verhältnis zum Außen. Noverre und Angiolinis Äußerungen zum Thema Ausdruck/Aktion, also zur Verkörperung des dramatischen Inhalts, ähneln den unterschiedlichen Positionen, die die beiden Ballettmeister und Autoren zum Problem der Tanzschrift vertreten: reformerisch-konservativ der eine, Noverre, beziehungsweise kreativwiderständig der andere, Angiolini. Für Noverre sind Alltagsbewegungen und (in noch grundsätzlicherem Sinne) die Natur, die Vorbilder für die Ausdrucksbewegungen – eine Natur, die es in manchen Fällen zu verbessern gilt: „Die Natur gewährt uns nicht immer vollkommene Muster, man muß also die Kunst verstehen, sie zu verbessern, sie in angenehme Gegenstellungen, in ein vortheilhaftes Licht, in glückliche Situationen zu setzen, welche dem Auge ihre mangelhafte Seite entziehen und ihnen diejenigen Reitze ertheilen, die sie noch haben müßten, wenn sie durchaus schön seyn sollten.“ 15

15 Noverre: Briefe, 6. Brief, S. 70.

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Noverre zählt eine Reihe von Ausdrucksqualitäten auf, mit denen er sowohl die Ausführung der reinen Tanzbewegungen als auch die der Ausdrucksbewegungen umschreibt – dazu gehören u.a. Harmonie, Bonne Grace (ein Synonym für Natürlichkeit), Freiheit und Willigkeit, Anmut und Würde (sie werden häufig mit Stärke oder Leichtigkeit verbunden), Zierlichkeit, Licht und Schatten, Feuer, Leidenschaft, Wahrheit u.a. Allerdings verwendet Noverre diese Ausdrucksqualitäten nicht definitiv, trennt nicht zwischen inhaltlichen und formalen Aspekten des Tanzens. Das bedeutet, dass er die Wahrnehmung der inneren, also inhaltlichen Vorstellung lediglich benennt oder andeutet, jedoch ihr Verhältnis zur Bewegungsäußerung nicht konkretisiert. Ähnlich vage verhandelt er die Verwendung der Ausdrucksbewegung in der Aktion. Auch hier verweist er zwar auf die analoge Verbindung von Seele, Körper, Geist 16, untersucht aber weder den Vorgang der Vermittlung zwischen innen und außen, noch konfrontiert er Tanzbewegung und Ausdrucksbewegung: ihr Verhältnis, ihr Zusammenwirken auf der Bühne bleibt trotz empathischer Beteuerungen ihres Zusammenhangs ungewiss. 17 Die Rolle des Tänzers und seine Beteiligung an der dramatischen Darstellung werden nicht geklärt. Sehr viel eindeutiger äußert sich Angiolini zum Modus der dramatischen Darstellung und damit der Gestaltung der tänzerischen Aktion; er definiert diesen Modus als einen dem Tänzer-Darsteller bewußten und damit von ihm gestaltbaren Vorgang: „Der pantomimische Tänzer muss […] alle Leidenschaften und alle Seelenregungen ausdrücken können. Es ist nötig, dass er selbst aufs Äußerste von dem berührt ist, was er dar-

16 Ebd., S. 208. 17 Und dieses Verhältnis von innen und außen erscheint kaum kompatibel mit Noverres Verständnis der ‚schönenʻ, d. h. verbesserungswürdigen Natur: „Sind wir einmal mit den Grundprinzipien unserer Kunst vertraut, so lasst uns den Regungen unserer Seele folgen. Sie kann uns nicht in die Irre führen, wenn sie lebhaft empfindet, und wenn sie in solchen Momenten unsere Arme zu dieser oder jener Geste hinzieht, so ist diese immer so treffend wie vollkommen richtig gezeichnet, und die Wirkung ist ihr gewiss. Die Leidenschaften sind die Triebkräfte, die die Maschine ins Spiel setzen. Wie auch immer die Bewegungen sein mögen, die daraus entstehen, sie können nicht anders als wahrhaftig sein. Man muss daraus schließen, dass die sterilen Regeln der Schulweisheit in der ‚Danse en actionʻ zu gelten aufhören, um dem Gefühl Platz zu machen.“ Noverre, zit. nach Dahms, Sibylle: Der konservative Revolutionär. Jean Georges Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts, München: epodium, 2010, S. 92.

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stellen will, dass er schließlich empfindet und die Zuschauer diese inneren Erschütterungen fühlen lässt, die die Sprache ausmachen, mit der das Grauen, das Mitleid und der Schrecken in uns sprechen und die uns bis zu dem Punkt aufrütteln, dass wir erbleichen, stöhnen, erbeben und Tränen vergießen. Dennoch müssen wir dabei überzeugt sein, dass das, was wir so fühlbar machen, nichts anderes ist als etwas Kunstvolles, eine Nachahmung ohne jene Kraft und jene beredte Wahrheit, die die Natur in ihren realen Schauspielen verwendet.“ 18

Zwischenspiel: Um diese Bewusstheit und gleichzeitig Kunstfertigkeit ging es uns u.a. in einer weiteren Performance, die sich mit zwei pantomimischen Szenen aus Glucks Don Juan beschäftigte. Zu diesem Ballett hat Sibylle Dahms annotierte Partituren entdeckt, die nicht unbedingt als die von Angiolini geforderte neue Tanzschrift gelten, jedoch als Experimente des Bewegung-Schreibens gewertet werden können: Es sind Dokumente der damaligen Aufführungspraxis, der wir uns wiederum anzunähern versuchten (Abb. 1). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehen Form und Inhalt von Bewegung neue Bezüge ein; die Bewegungsidee erfaßt nicht mehr vorrangig Zustände von Körper und Bewegung, beschäftigt sich vielmehr mit dem Thema des inneren und äußeren Bewegungsverlaufs. Für die Tanztheorie (wie übrigens auch für die Schauspieltheorie) sind Gefühl und Seele Argumente, die die rationale Erkenntnis des Darstellungsprozesses fördern: Körper und Geist erweisen sich nicht als Gegensätze, sondern sind zwei gleichwertige Faktoren des Mediums Bewegung, die sich endlich auf der Ebene des intendierten Ausdrucks, der Aussage treffen. Wie die Auseinandersetzung mit der Choreographie, dem Schreiben von Tanz, exemplifiziert, diskutieren die Tanztheorien ein produktives, agentiales Verhältnis von abstrakter Kodifizierung und innerem Erleben. Auch wenn sich Noverre und Angiolini nicht einig sind, auf welche Weise sich das realisieren lässt, akzeptieren sie Körper und Bewegung aufgrund ihrer realen, materialen Qualität als Objekte des Denkens und Handelns.

18 Zit. nach Dahms: Der konservative Revolutionär, S. 94.

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Abbildung 1:Partiturseite aus rekonstruierten ‚Originalfassung‘ von Don Juan.

Quelle: Sibylle Dahms und Irene Brandenburg (Hg.), Christoph Willibald Gluck: Sämtliche Werke, Band II/2, S. 28. Kassel: Bärenreiter 2010.

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L ITERATUR Angiolini, Gasparo: Lettere di Gasparo Angiolini a Monsieur Noverre sopra i balli pantomimi, Mailand: Giovanni Battista Bianchi 1773 (deutsche Übersetzung von Sibylle Dahms). Brandstetter, Gabriele: „Tanzen Zeigen. Lecture performance im Tanz seit den 1990er Jahren“, in: Margrit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld: transcript 2010, S. 45–61. Dahms, Sibylle: „Kritischer Bericht“, in: Christoph Willibald Gluck: Don Juan (Wien 1761) und Les Amours d’Alexandre et de Roxane (Wien 1764). Ballets pantomimes. Choreographie Gasparo Angiolini, hg. von Sibylle Dahms/Irene Brandenburg, Kassel: Bärenreiter 2010 (Christoph Willibald Gluck: Sämtliche Werke, Band II/2), S. [99]–106. Dahms, Sibylle: Der konservative Revolutionär. Jean Georges Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts, München: epodium, 2010. Feuillet, Raoul Auger: Chorégraphie, ou L’Art de décrire la dance par caractères, figures et signes démonstratifs, Paris: Brunet 1700. Foster, Susan Leigh: „Chorography and Choreography“, in: Nicole Haitzinger/Karin Fenböck (Hg.), Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden, München: epodium 2010, S. 68–75. Huschka, Sabine: „Bewegung auf-lesen – Blicke ordnen. Wahrnehmungs- und Erinnerungsräume schaffen“, in: Isa Wortelkamp (Hg.), Bewegung Lesen. Bewegung Schreiben, Berlin: Revolver Verlag 2012, S. 79–99. Jeschke, Claudia: „Anmerkungen zur Choreografie“, in: Irene Brandenburg/Nicole Haitzinger/Claudia Jeschke (Hg,), Tanz und Archiv: Forschungsreisen. Geste und Affekt im 18. Jahrhundert, Heft 4, München: epodium 2013, S. 50–57. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, Hamburg und Bremen: Cramer 1769. Siegmund, Gerald: „Choreographie und Gesetz. Zur Notwendigkeit des Widerstands“, in: Nicole Haitzinger/Karin Fenböck (Hg.), Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden, München: epodium 2010, S. 118–129.

Second Nature Rhetorical actio and the art of feeling in the singer-actor tradition of the late eighteenth century J OÃO L UÍS P AIXÃO

“There may possibly be nations whose livelier feelings incline them more to gesticulation than is common among us, as there are also countries in which plants of excellent use to man grow spontaneously; these, by care and culture, are found to thrive also in colder countries, and by a little study we shall equal the most favoured nations.” GILBERT AUSTIN 1

A common analogy used by pedagogues throughout the eighteenth century connected the process of education with that of farming. The selection of a certain species, the planting of the seed, the watering of the tree or the grooming of its branches were all images ripe with meaning for the educator, who saw in them a powerful vector pointed at the unquestionable importance of a good harvest. By exemplifying an activity so directly connected to the natural world, the pedagogue managed to present Nature and Man in a dynamic relationship while at the same time dispelling any doubts as to its need: a farmer cultivates apples because he wants apples, not wheat, and therefore he will employ the proper means to obtain only apples. At the core of this analogy rested a stark distinction between 1

Austin, Gilbert: Chironomia or, a Treatise on Rhetorical Delivery, London: T. Cadell and W. Davies, 1806, pp. 11–12.

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“means” and “ends”: without a clear end in mind, the choice of means would prove pointless; while conversely, a poor choice of means would jeopardize any end. On the wake of an enlightened era, the stress laid on rational conscious choice as a means to emancipate Man from Nature’s unpredictability is not surprising. From the tense opposites civilization/barbarism, city/countryside, bareNature/Nature-dressed, late eighteenth-century debates collected a phenomenal momentum, which, as shown during the Symposium Naturalezza/Simplicité, has not yet dissipated. In the process of investigating early actor-singer techniques, analogies such as the one above are as much a fundamental tool as the precepts and rules found in treatises. From their constant mirroring, one might avoid both Charybdis and Scylla and hopefully return from the far past unscathed. In the specific case of late eighteenth-century theater, the polarity Nature/Art can be safely established as an essential aesthetic frame: Mlle. Dumesnil’s spontaneous inspiration and Mlle. Clairon’s clockwork passion represented the two sides of a discussion involving professionals and amateurs alike. 2 But the reason to use Gilbert Austin’s quote as a starting point to this discussion has to do with a specific issue, which proves to be time and again a source of confusion and controversy. This issue is “inhibition”, or, as Austin puts it, “care and culture”. In The Player’s Passion, Joseph Roach pointed out that “alumni of modern-day acting classes have a difficult time grasping this essential fact, though all the best evidence we have points toward it: the actor/orator of the seventeenth century sought to acquire inhibitions.” 3 A performer myself, nurtured in the ranks of Early Music Singing, I have come to embrace Roach’s statement not only as it relates to seventeenth century actio, but also in a wider context which might include late eighteenthcentury acting-singing traditions and the revival thereof in our present day. As I hope will be clearer by the end of this article, “inhibition” is a key element in researching early stage techniques and experiences. Nonetheless, this element is only accessible through physical, as much as intellectual, dedication to long forgotten, and often unfashionable, methods, and becomes useful to research only insofar as inhibition reaches the comfort of a “second nature”. This written contribution is inspired by a lecture demonstration presented in Linz, 2016, during the Symposium Naturalezza/Simplicité. At the time, I relied on the directness of performance in order to convey my hypothesis. Having developed my research through practice, demonstration remains the most eloquent

2

Roach, Joseph R.: The Player’s Passion, Studies in the Science of Acting, Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1993, pp. 109–10.

3

Ibid., 52.

S ECOND N ATURE

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medium of backing some of my assertions, and in such a sensitive subject as “second nature”, it was fundamental to deliver examples that would show both the glories and the hazards brought about by late eighteenth-century acting. Deprived of such tools in the elaboration of this article, I decided to narrow the scope of the investigation to two sources which have proven invaluable to my research. The first source is reverend Gilbert Austin’s Chironomia, an admirable scholarly work wherein a new system of gesture notation is proposed; the second is the actor François Boisquet’s L’Art du Comédien Chanteur 4, a largely overlooked source with precious information regarding singing and acting in France at the turn of the century. 5 In the following paragraphs, I will draw a great amount of information from my own experience, complemented by often lengthy quotations from either Austin’s or Boisquet’s treatises. I shall firstly introduce some of the relevant bonds between rhetorical actio and eighteenth century acting practices, after which I will concentrate on the concept of “second nature”. Finally, I will put forward a hypothesis which draws a direct line between “second nature” and the emergence in the late eighteenth century of “the art of feeling”. “To instruct, to please, and to move the passions” 6 was, according to Cicero, the ultimate goal of the public speaker: the public’s mind, senses and soul were all that concerned the orator. A common trope during the seventeenth and eighteenth centuries, this premise defined a clear “end” to public speaking, naturally prioritizing the means and techniques conducive to it. Such as the work of the farmer, cultivating his plot according to the seasons, public speaking was contained both in space and in time, and was intrinsically functional. In order to convey a precise message to a specific public, the orator should use a concise set of skills, carefully chosen from a vast pool of resources. This process of “inhibition” was not only desirable, but indispensable to the discharging of an orator’s functions. Simply put, Nature had to be cultivated.

4

Boisquet, François: Essais sur l’Art du Comédien Chanteur, Paris: Longchamps, 1812.

5

As I hope will be seen, it is not entirely fruitless to analyze side by side the present two treatises, though their origins be far removed. The profusion of French sources in Chironomia and the aesthetic sympathy it shares with the Essais make such a comparative study as enriching a process as it is necessary.

6

Cicero, Marcus Tullius: Brutus, seu De claris oratoribus, c. 80. Quoted by Austin, Chironomia, 89.

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The very same principles applied by orators to the taming of Nature were also applied by actors and singers throughout Europe. The period 1650–1750 saw actors gradually appropriating terms belonging to oratory. 7 A convergence of factors, from the appearance of rhetoric manuals in the vernacular to the actor’s struggle for artistic status, led to a blurring of the line between rhetorical actio and acting proper. Oratory’s vocabulary as well as the philosophical frame it belonged to became thus the backbone of acting treatises well into the nineteenth century. Boisquet had no difficulty articulating oratory, acting and music in one sole statement: “Quand l’acteur concevra bien la pantomime et les passions, il se rendra facilement compte des effets de la voix correspondante [sic] aux caractères; l’art oratoire étant basé sur eux, et la bonne musique sur l’art oratoire.” 8

Similarly, Austin admits that “the powers, the acquisitions and the taste of the man [who represents justly the manners and the feelings of a hero], must be rare and admirable, and he is classed next to the great orators.” 9 In theory, if not in practice, actor and orator shared a common study of Nature, its causes and manifestations: “Étudiez donc les hommes et la nature; car, quel que soit le fantôme que créera votre imagination, toutes les qualités dont vous l’aurez composé ne seront qu’une réminiscence des qualités déjà connues. Vous ne créez que l’assemblage. Faites donc agir ce fantôme d’après le résultat naturel des qualités que vous lui attribuez.” 10

7

For further reading: Chaouche, Sabine, ed.: Sept Traités sur le jeu du comédien et autres textes: de l’action oratoire à l’art dramatique (1657–1750), Paris: Honoré Champion, 2001.

8

“When the actor rightly conceives both the pantomime and the passions, he will easily calculate those vocal effects that correspond to the characters; the oratorical art being based on these, and good music on the oratorical art.” (this and the following excerpts translated by LP) Boisquet: Essais, p. 196.

9

Austin: Chironomia, p. 242.

10 “Study, therefore, men and nature; for, whatever the phantom might be that your imagination will create, all the qualities from which you will have composed it will be but a reminiscence of qualities already known. You only create the combination. Make that phantom act, then, according to the natural result of the qualities you ascribe to it.” Boisquet: Essais, p. 113.

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From both Austin’s art of oratory and Boisquet’s art of acting, we can collect a great amount of reflections on art and nature, but also, and most importantly, detailed exercises and practical guidelines which further enlighten the authors’ aesthetic goals. It seems clear that neither condones total abandonment to Nature nor blind obedience to rules. These “rules, even if perfect, cannot be expected to bestow genius where nature has denied it” 11. Still, “nothing can arrive at perfection, unless when nature is assisted by careful cultivation” 12. For Austin, the balance lies somewhere between Nature and cultivation. Boisquet is of the same opinion, while criticizing those who place their trust on innate talent alone: “Cet article paraîtra systématique à beaucoup de personnes, parce qu’on aime mieux accorder aux poëtes l’influence céleste sur leur génie, que de convenir de sa propre faiblesse, en avouant que leurs immenses richesses se trouvent dans leurs immenses observations.” 13

The first step towards an understanding of Nature seems to be observation. Leonardo da Vinci instructed the artist to copy the expressions he saw about him in the streets, and it is said Charles Le Brun drew from life the Marquise de Brinvilliers on her way to execution. 14 Boisquet betrays the use of a similar approach when he describes in detail the expression of despair: “Qu’on dise à un homme votre maison est brûlée, votre femme est morte: il ne crie pas d’abord, mais sa figure, ses gestes peignent l’abattement, le désespoir, la douleur la plus violente, l’égarement; et, ce premier mouvement passé, il crie, il pleure, il se désespère.” 15

11 Austin: Chironomia, p. X. 12 Austin: Chironomia, p. 163. 13 “This article will seem systematic to many people, because one prefers to attribute the genius of poets to celestial influence, rather than to accept one’s own shortcomings by admitting that their immense riches lie in their immense observations.” Boisquet: Essais, p. 200. 14 Montagu, Jennifer: The Expression of the Passions: The Origin and Influence of Charles Le Brun’s Conférence sur l’expression générale et particulière, New Haven: Yale University Press, 1994. 15 “Let a man be told ‘your house has burned down, your wife is dead’: at first he does not cry out, but his figure, his gestures paint dejection, desperation, the most violent suffering, distraction; and once this first emotional state has passed, he cries out, he weeps, he despairs.” Boisquet: Essais, p. 187.

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Such observation, as can be seen, is not meant to capture isolated images and sounds, but a complex succession of effects, of which the observer is supposed to recognize, or at least investigate, the cause. Without grasping the origin of Nature’s manifestations, the artist is reduced to a mere copyist, a prospect Boisquet does not relish: “Si vous cultivez un art, n’allez point voir un homme d’une grande réputation pour imiter ses manières, ou son ton de voix: son talent n’est point là, il est dans son enthousiasme et dans le rapport que son génie a avec la nature. Cherchez alors quels sont les moyens par lesquels il enchante; rapprochez-les des principes de l’art, combinez-les ensuite avec votre force et votre talent, et vous parviendrez à être original et à servir bientôt de modèle.” 16

To be original, then, is to connect one’s genius with Nature by following a systematic path: from the observation of Nature’s effects, one arrives at its affects or causes, which through art must be combined with one’s own strength and talent. This same path is advocated throughout Chironomia, which is unequivocally based on the assumption that: “There is no emotion of the mind, which nature does not make an effort to manifest by some of those signs (tones, looks, and gestures), and therefore a total suppression of those signs is of all other states apparently the most unnatural.” 17

As inquiry into nature’s inner workings begins with the observation of its outer manifestations, so the understanding of an actor’s ends must depart from the analysis of the means therefore employed. In developing a hypothetical acting method with which to tackle eighteenth-century repertoire, my collaborators and I have found three general principles to be particularly relevant. In turn, they have helped clarify the practical links between nature and art, as well as the specific issue of naturalness in acting. The first principle could be named the “hier-

16 “If you cultivate an art, do not go and watch a man of high reputation in order to imitate his mannerisms, or his tone of voice: his talent does not at all lie therein, but in his inspiration and in the correlation his genius has with nature. Therefore seek out the means by which he enchants; connect these with the principles of the art, then combine them with your vigor and your talent, and you will become original and soon serve as a model.” Boisquet: Essais, p. 36. 17 Sheridan, Thomas: A Course of Lectures on Elocution, London: W. Strahan, 1762, Lecture VII, p. 133. Quoted by Austin: Chironomia, pp. 6–7.

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archy of expression”, and it is based on the notion that information should be delivered in an organized fashion to the public. Austin puts it thus: “The order in succession of the gestures of the different parts is, first, the eyes and countenance, second, the head, hand, and body, and last the feet.” 18

To bring this into evidence is precisely the goal of the notational system laid out in Chironomia, which attaches a number of letter-codes above specific syllables of the spoken text. Boisquet manifests a similar organization of these rhetorical means, when he claims that: “Pendant que l’acteur, sans sortir de la pose, exprime les passions par la physionomie, le corps et la voix se reposent; y joint-il des gestes, l’effet augmente; y ajoute-t-il encore la voix, toutes les forces sont jointes.” 19

18 Austin: Chironomia, 362. Further in the treatise, Austin clarifies the physical process behind this hierarchy of expression: “the thought which arises in his mind will instantly be seen in his countenance, and first in his eyes, which it will brighten or suffuse, then suitable gestures follow, and last the words find utterance. The countenance and gesture are the language of nature, words are derived from art, and are more tardy in their expression; sometimes in high passion they cannot at all find their way, till the voice first breaks out into those tones and interjections, which appear to be the only language of nature belonging to the voice.” (381) Aaron Hill - one of Austin’s mentioned sources – presents this succession of events in a strikingly similar manner fifty years earlier: “1st, The imagination must conceive a strong idea of the passion. 2dly, But that idea cannot strongly be conceived, without impressing its own form upon the muscles of the face. 3dly, Nor can the look be muscularly stamp’d, without communicating, instantly, the same impression, to the muscles of the body. 4thly, The muscles of the body (brac’d, or slack, as the idea was an active or a passive one) must, in their natural, and not to be avoided consequence, by impelling or retarding the flow of the animal spirits, transmit their own conceiv’d sensation, to the sound of the voice, and to the disposition of the gesture.” Hill, Aaron: “An Essay on the Art of Acting” in: ibid. The Works of the Late Aaron Hill, Esq; 4 volumes, London: without publisher, 1753, vol. IV, pp. 353–419, here p. 356. 19 “When the actor, without breaking his pose, expresses the passions through physiognomy, the body and the voice are at rest; if he adds gestures, the effect increases; if he also adds the voice, all the powers are united.” Boisquet: Essais, p. 167.

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The second principle is the “system of the passions”, by which a mapping of the passions can be established pertaining their cause and their expression. Fundamental to this system is the idea that passions occur only under specific conditions, and that, therefore, there is an underlying order in the way they may be perceived and anticipated by the spectator. For example, Desire is only felt when an object appears pleasing to the subject; if an obstacle arises between the subject and the desired object, Fear is to be expected; Fear can turn into Hope, if prospects of a future union with the object arise; if, finally, those prospects are confirmed, Hope gives place to Confidence. This “system of the passions”, of which a great example can be found in John Walker’s Elements of Elocution – one of Austin’s often cited sources – is presented by Boisquet as being “le système moderne”. 20 The importance of consciously chosen and thoroughly trained passions in eighteenth-century acting cannot be overstated. The custom of assigning a nuance of passion to each verse in a poem is well attested in Boisquet’s detailed analysis of Alceste’s aria “Je n’ai jamais chérie la vie”, where also pantomimic descriptions are suggested to be executed during the ritournelles. 21 Austin proposes the same method, “to note in the margin the general sentiment or passion”, following the example of Thomas Sheridan’s Art of Reading. 22 The third and final principle is “characterization”, and it is associated to the dynamic interaction between the actor’s physiognomy and pathognomy. If the latter is related to the meaningful reading of the actor’s pantomime, the former confers its significance to the actor’s body at rest. In constructing a character, the actor should assemble a number of striking features, easily recognizable by the spectator at any point of the play. Whereas, during lonely monologues, character can be blurred by passion, during ensemble scenes it should be well marked: “Plus il y a de parties, moins l’acteur se doit permettre de licence, plus il doit se conformer aux lois établies: la difference des caractères fait un des plus grands charmes des morceaux d’ensemble.” 23

20 Boisquet: Essais, p. 164. 21 Boisquet: Essais, p. 234. 22 Austin: Chironomia, p. 362. 23 “The more parts there are, the fewer liberties the actor may allow himself, the more he must conform to the established laws; the difference between characters is one of the greatest charms of ensemble pieces.” Boisquet: Essais, pp. 217–18.

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The referred “lois établies” are defined by Boisquet as belonging to five categories – “Destination naturelle, Qualités physiques, Éducation, Passions Dominantes” and “État” 24 – establishing a dynamic relationship between nature, passion and habit, from which character is to be inferred. Austin goes even further, by blaming habitual passions as responsible for characteristic traits in one’s face. These, in turn, can be indicative of one’s character inasmuch as they make evident the propensity for concrete dominant passions: “Every bad habit defaces the soft beauty of the mouth, and leaves indelible on it the traces of their injury. The stains of intemperance discolour it, ill nature wrinkles it, envy deforms, and voluptuousness bloats it. The impressions of sorrow upon it are easily traced, the injuries which it suffers from ill health are manifest, and accident may often deform its symmetry. It is sweetened by benevolence, confirmed by wisdom, chizzeled by taste, and composed by discretion: and these traces if habitually fixed last unaltered in its soft forms, throughout every varying stage of life.” 25

Character then, can be drawn as a compound of factors, among which the indelible marks left by the dominant passions through life. These three principles do not function separately. They are to the actor what line, color and composition are to the painter. They exist at their best when unseen: when art is concealed by art. Even the dominant passions, though systematically approached, need to be considered solely as primary colors; a handful of ingredients from which an infinity of effects can be achieved. The actor’s end, verisimilitude, is thus served by a set of means designed to create the illusion of the natural. But unlike the painter, who projects verisimilitude onto a canvas, the actor is himself the canvas through which a constantly shifting illusion is weaved. As I myself have experienced throughout the last five years of performing Chironomia’s monologues, once a gesture or expression is regularly exercised, it too becomes “natural”: assimilated to one’s nature, and therefore as persuasive as Nature herself. 26 This poses a challenge to the twenty-first-century researcher of

24 Natural purpose, Physical qualities, Education, Predominant passions, and State. Boisquet: Essais, p. 115. 25 Austin: Chironomia, pp. 122–23. 26 Marmontel is of the opinion that “rien n’est persuasif que ce qui paroit naturel” (“nothing is persuasive but that which seems natural”). Marmontel, François: Eléments de Littérature, vol. V, in ibid: Oeuvres Complettes de M. Marmontel, Paris: Née de la Rochelle, 1787, vol. IX, art. Orateur, p. 146. Quoted by Austin, Chironomia,

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historical performance: if art can appear natural through habit, then we are forced to equate the term “natural” to the Ciceronian “freedom and grace” 27, more than to the misleading “real”. Boisquet seems to agree that a great deal of time, rules, attention and work is needed for Art to access Nature. 28 We should not, therefore, be too quick to deduce from the previously cited quote on inhibition the idea of seventeenth- and eighteenth-century acting as necessarily stifled. According to Austin and Boisquet, inhibition seems to be a privileged process by

p. 225. “Paroit”, in this context, is a pertinent word. Marmontel is careful to differentiate the charms of art from those of reality: he equates the pleasure one experiences from observing bare Nature on stage to the excitement of witnessing a gladiatorial combat; fruit of accident, the delivery is thereby subjected to the whims of Nature. Defending that the imitation be “quelque chose de ressemblant & non pas de semblable” (“something resembling, and not similar”), Marmontel concludes by praising the paradoxical experience of imitative art: “Alternativement savoir & oublier que l’imitation est un artifice; sentir à chaque instant le mérite de l’art en le prenant pour la nature; jouir par sentiment des apparences de la vérité, & par réflexion des charmes du mensonge, voilà le composé reel, quoiqu’ineffable, du plaisir que nous font les arts d’imitation.” (“To know and forget by turns that imitation is an artifice; to feel at every moment art’s merit, by taking it to be nature; to enjoy the semblance of truth through feeling, and the charms of deceit through reflection, this is the real, albeit ineffable, compound of pleasure that the imitative arts give us.”) Marmontel: Eléments, vol. VI, in ibid: Œuvres, Paris: Née de la Rochelle, 1787, vol. X, art. “Récitatif”, pp. 2f. 27 “For it is of little consequence that you prepare what is to be spoken, unless you are able to deliver your speech with freedom and grace.” Cicero: Brutus, c. 29, 30. Quoted by Austin: Chironomia, p. 141. 28 “Combien d’art, dit Labruyère, pour rentrer dans la nature! Combien de temps, de règles, d’attention et de travail, pour danser avec la même liberté et la même grace que l’on sait marcher; pour chanter comme l’on parle, parler et s’exprimer comme l’on pense; jeter autant de force, de vivacité, de passions, de persuasion dans un discours étudié, et que l’on prononce en public, qu’on en a quelquefois naturellement et sans préparation dans les entretiens les plus familiers.” (“How much art, says Labruyère, in order to return to nature! How many rules, how much time, attention and work, in order to dance with the same freedom and grace with which one can walk; in order to sing as one speaks, to speak and to express oneself as one thinks; in order to throw the same power, liveliness, passions and persuasion into a studied speech that one declaims in public, as one has, sometimes naturally and without preparation, used in the most familiar conversation.”) Boisquet: Essais, p. 150.

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which Art can resemble Nature. The blame for artificiality or affectation in acting should then fall on the actor’s discomfort or over-compensation when applying some principles, but not on the principles themselves. If I were to look back and analyze my progress in tackling the principle “hierarchy of expression” described above, I could divide it into three more or less defined stages. When I first approached a monologue annotated by Austin, the detail of gestural information and the unfamiliarity with both the notation and the acting style turned any attempt to recite two verses into a painstaking two hours of experimentation and confrontation with the source. The first public performances of such material, even after weeks of practice, were undoubtedly mechanical and estranged. 29 My attention being split between impulse and execution, the quality of the delivery remained beneath the habitual level. This awkwardness characterized the first stage, and had I not insisted in practicing the very same works for several months more, I might have been left with the erroneous impression that my discomfort at performing them was Chironomia’s fault! But time softened the harshness of the gesture and sped up the succession eye-face-limbs-voice. The second stage brought ease to the performance of the same monologues, no doubt due to a shift of attention from basic to complex tasks. While before, every single movement demanded particular attention, which resulted in choppy action, now, greater units could be handled and a continuous flow united all thoughts. However, veering away from the prescribed set of gestures still proved dangerous, and an alert mind was still needed to manage the demands of Austin’s delivery. At this point, two projects took place which greatly contributed to my familiarization with the three acting principles described above. One was Friedrich Wilhelm Gotter and Georg Anton Benda’s melodrama Medea (1775), presented in September 2014 at the Oudemuziek Festival Utrecht, the other Jean-Jacques Rousseau and Horace Coignet’s scène lyrique Pygmalion (1770), performed in June 2015 at the historical theater of Český Krumlov. 30 It is not within the scope of this article to describe all the exciting possibilities unveiled by these two experiments. Suffice it to say that they provided ample opportunity for the creation and performance of original “gesture scores” and for the writing of new “gesture literature” using Gilbert Austin’s

29 I performed Austin’s version of Shakespeare’s “Brutus speech on the death of Caesar” in March 2013, during a lecture at Brooks University, Oxford; and Gray’s long “Elegy written in a Country Church Yard” in February 2014, during an Early Music workshop at the Hochschule für Musik Karlsruhe. 30 Both projects were coached and supervised by Dr. Jed Wentz, whose relentless work has forwarded this research field significantly.

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language. Above all, they offered a safe research environment to expand the use of facial expression, declamation and pantomime ex tempore. When, after Pygmalion, I performed Chironomia’s monologues in public once more, something had changed. The gestural score was now a pliable instrument, ready to bend to the needs of the moment; facial expression could now slide from anger to fear to sorrow in an instant of nuance; gestures themselves became easily interchangeable with others within the same rhetorical category: all in all it was as if time itself had stretched between every word and every thought to make space for the actor’s art. This third stage seems to depend then on the creation of a second nature, a total incorporation of stylized expression through habit. Austin presents, in a footnote, a wonderful description of this same process, taken from a French translation of Johann Jacob Engel’s Ideen zu einer Mimik. Due to its incisive reflection on the central theme of this article, I will quote the passage at large: “Tant que la règle est presente au souvenir du disciple; tant que sa mémoire la lui rapelle sans cesse, et que timide et incertain dans l’application qu’il doit en faire, il craint toujours de commettre des fautes; aussi long-temps sans doute l’exécution restera très-imparfaite, et même au-dessous de ce quelle seroit, s’il ne suivoit que l’impulsion d’un heureux instinct. Aussi l’habilité de l’exécution s’acquiert-elle plus tard par l’étude et la connoissance approfondie des règles, que par le tact que donnent les idées confuses du sentiment; cependant on y parviendra-toujours: la règle qui s’offroit d’abord avec clarté à l’esprit, se transformera d’elle-même en idée, et se confondra avec le sentiment qui au besoin se présentera avec plus de promptitude et de facilité. L’âme par l’attention qu’elle doit donner à la règle, ne perdra plus rien de sa force, parce-que cette attention ne sera plus nécessaire; l’exécution deviendra aussi facile, elle aura autant de vivacité et de souplesse que celle du simple élève de la nature; mais il y aura plus de fermeté, plus d’effet, et plus d’adresse à surmonter les obstacles […]; avantage auquel l’homme guidé seulement par son instinct naturel, ne pourra jamais prétendre.” 31

31 “As long as the rule is present in the pupil’s mind; as long as his memory constantly reminds him of it, and, shy and uncertain of its proper application, he constantly fears making mistakes, his execution undoubtedly will remain very imperfect, and even beneath what it would be if he only followed the impulse of a happy instinct. Also, skill in execution is acquired later through the study and deepened knowledge of the rules, more than by the judgment provided by the confused ideas of feeling; nonetheless, one will always arrive at it: the rule which at first offered itself to the mind with clarity, will transform itself into an idea, and fuse itself with the feeling which, when needed, will present itself with greater ease and promptitude. The soul will no longer lose its power in the attention it must pay to the rule because that attention will no

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Second nature, according to Engel, grants the trained actor an advantage over the “mere pupil of nature”, the instinctive actor. Though their ends be the same, they differ as to the number and appropriateness of their means, which rest on the assimilation of rules through physical habituation. Such as Austin and Boisquet, Engel placed great emphasis on this point. He seemed to advise the student to practice according to the rules even before he/she understood them. Later, the execution is to be improved by their study and deep knowledge, in what appears to be a lengthy process of practice and observation. This idea of pre-established rules as a valid didactic tool to aid the student’s progress is particularly relevant when attempting to revive early acting techniques. For Austin, the rule affords “the necessary support, and supply the necessary confidence to the dissident and reserved” 32 man. Rather than stifling one’s freedom, it provides a safe environment of limited choice: a game with defined rules, as it were, where one’s acumen at performing specific tasks can be freely exercised. 33 Thus, rules are presented to the student as precious shortcuts to highly complex skills, 34 to second natures akin to those of great actors and orators of the past. By practicing and assimilating the rule, the student attains a degree of dexterity which will ultimately inform his reading of nature’s principles.

longer be necessary; the execution will also become easy, it will possess as much vivacity and flexibility as that of the mere pupil of nature; but it will have greater firmness, greater effect, and a greater deftness in overcoming obstacles […]; an advantage the man guided only by his natural instinct can never lay claim to.” Engel, Johann Jacob: Ideen zu einer Mimik, Berlin: Mylius 1785–86; translated by H. Jensen as: Idées sur le Geste et L’Action Théatrale, 2 vols. Paris: Barrois l’aîné, et al. 1788–89, vol. 1, pp. 17–19. Quoted by Austin: Chironomia, pp. 282–283. 32 Austin: Chironomia, p. X. 33 “To leave the pupil to choose for himself in this variety would but distract him, and instead of giving him freedom and grace would deprive him of both.” Austin: Chironomia, p. 282. 34 “Sans la connaissance des règles, il aurait trop de travail et d’observations à faire; il serait sujet à dévier, à attribuer à un caractère ce qui appartient à un autre, et à mettre souvent le personnage énoncé en contradiction avec lui-même.” (“Without knowledge of the rules, he will have too much work and too many observations to carry out; he will be prone to deviate, to assign to one character that which belongs to another, and frequently to put a given personage in contradiction with itself.”); Boisquet: Essais, pp. 274–75.

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There is yet another insightful reflection to be found in the quote above. Engel described how, through its exercise, rule becomes idea fused to feeling. 35 This is an intriguing transformation, by which a foreign abstract precept becomes in the end an involuntary movement, indistinguishable from any other somatic response. What was being argued, I believe, is that one’s very emotions could be directly accessed via distinct muscular tensions and physical postures. This bold hypothesis has been partially confirmed by my own field experiments and corroborated by several sources, the most fundamental being Aaron Hill’s An Essay on the Art of Acting (1753), also mentioned in Chironomia. In it we read that, in case of need, the actor should help the inner feeling by bracing or slacking the specific muscles respective to the passion, in order, so to say, to excite the imagination from the outside in. 36 Hill accompanied this suggestion with a brief methodological approach to the expression of ten dominant passions, along with some of their possible combinations. To be sure, Hill was peremptory in his defense of a strong idea of the passion before any action would be attempted. 37 But by advocating that no such idea could strongly be conceived without impressing its effects on the muscles, he voiced an interactive dualism which characterizes a great deal of the acting theory between 1750 and 1800. At the dawn of the nineteenth century, Austin would reiterate this point in his chapter Of gesture in general, borrowing from Edmund Burke: “I have often observed that on mimicking the looks and gestures, of angry or placid, or frightened or daring men, I have involuntarily found my mind turned to that passion whose appearance I have endeavored to imitate; nay, I am convinced it is hard to avoid it; though one strove to separate the passion from its corresponding gestures. Our minds

35 In the original: “die sonst deutlich gedachte Regel wird selbst zur Empfindungsidee werden”. Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, p. 21. It is likely Gilbert Austin knew only the French translation of this work. 36 “But, because difficulties wou’d arise, in the practice of so strong a conception, before fancy is become ductile enough, to assume such impressions, at will, […] the actor taking the shorter road, […] may help his defective idea, in a moment, by annexing, at once, the look to the idea, in the very instant, while he is bracing his nerves into springiness: for so, the image, the look, and the muscles, all concurring, at once, to the purpose, their effect will be the same, as if each had succeeded another, progressively.” Hill: “An Essay”, in ibid.: The Works, London: without publisher, 1753, vol. IV, pp. 353–419, here pp. 361f. 37 See footnote 18.

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and bodies are so closely, and intimately connected, that one is incapable of pain or pleasure without the other.” 38

In my recent experiments, I have taken Aaron Hill’s advice seriously, particularly in combination with Austin’s and Boisquet’s. This proved to be a happy arrangement during the preparation for a production of Brandes/Benda’s Ariadne auf Naxos earlier this year. 39 Due to the melodrama’s inner structure, with its constant alternation between declamation and music, the physical tension in the actor’s body quickly became the most effective means of sustaining the expression of the passion from one orchestral intervention to the next. Unsurprisingly, late eighteenth-century precepts on passionate acting were found to be exquisite counterparts to the Empfindsamer Stil of Georg Benda. Not only were our actors capable of elaborating on specific sentiments suggested by the music, but also the orchestra became increasingly reactive to the quality of the queues given them by the actors. The seamless result thus obtained can be largely attributed to an “inhibition” of the actor’s art equivalent to that imposed on the musician. If the orchestra, by virtue of the composer, cannot but express passion through a concise language and style, why should we assume the actor to be in any different position? In other words, if the musician prepares beforehand every part of his/her speech, down to the smallest detail, what would prevent the actor from carrying out onstage the very same tones, looks and gestures previously rehearsed? Boisquet answers this question thus: “La teinte de la pièce, sa force, sa véhémence, sa majesté, sa gaieté, vous donneront l’extension ou la modification qui conviendra au caractère que vous aurez à peindre. Il ne s’agit plus alors que de le jouer et de le chanter comme vous l’avez calculé.” 40

38 Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful London: R. and J. Dodsley, 1757, pp. 124–25. Quoted by Austin, Chironomia, p. 183. 39 The performance took place at the Koninklijk Schouwburg in The Hague, on February 2017, with Michal Bitan in the title role, and ensemble Musica Poëtica performing the string orchestra version. 40 “The tone of the piece, its power, its vehemence, its majesty, its gaiety, will give you the extension or the modulation that suits the character you are to paint. There is nothing more to do now than to play it and sing it as you calculated it.” Boisquet: Essais, p. 188.

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This is not to be misunderstood for a curtailing of the actor’s freedom and a consequent pallor of expression. It is only meant, in my view, as a reminder that the actor’s art was expected to provide renewed and original transitions between striking and otherwise conventional poses and movements. If I may be allowed to make an analogy with language, we could understand poses and attitudes as “words” with a commonly accepted meaning, and transitions as original and circumstantial ways to deliver such “words”. This creative explanation might indeed be derived from my subjective experience, but the conflation of the terms “language” and “passion” is not in any way a novelty. On the chapter Of the Significancy of Gesture, Austin quotes Lord Kames thus: “The natural signs of emotions, voluntary and involuntary, being nearly the same in all men, form an universal language which no distance of place, no difference of tribe, no diversity of tongue, can darken.” 41

To talk of a language of the passions is to ascribe specific physical expressions to their respective inner motion, in a systematic and non interchangeable manner: “Les passions et les caractères tiennent à l’essence de l’homme, et la nature a lié tel son, ou telle combinaison de sons, à telle passion ou à tel sentiment déterminé.” 42

This brings us back to the eighteenth-century debate surrounding art and nature. On the one hand, passion is universally univocal and immanent from nature’s foundation. Irrespective of subject or context, passion pervades the natural world and unites all men under its reign. On the other hand, this sway seems to be articulated as a language, a rationally accessible system of significant actions. Nature, then, possesses an eloquence of its own: the expression of its universal signs is irresistible and the empathic understanding of such signs inevitable. Such reasoning seems to limit passions’ reach to first nature alone. However, as previously observed by Burke, passion felt and passion expressed are so interdependent that it is often impossible to assert, at a practical level, which comes

41 Home, Henry (Lord Kames): Elements of Criticism, 3 vol., Edinburgh: A. Kincaid & J. Bell, et al. 1762, vol. II, Chapter XV, p. 127. Quoted in Austin: Chironomia, p. 472. 42 “The passions and their characteristics belong to the essence of man, and nature has connected a particular sound, or a particular combination of sounds, to a particular passion or a particular specific feeling.”; Boisquet: Essais, p. 249.

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first. On the side of actors and public speakers, this interactive dualism was thoroughly analyzed. John Walker’s Elements of Elocution, mentioned previously, contains the following passage: “When the voice, therefore, assumes that tone which a musician would produce in order to express certain passions or sentiments in a song, the speaker, like the performer on a musical instrument, is wrought upon by the sound he creates; and, though active at the beginning, at length becomes passive, by the sound of his own voice on himself. Hence it is, that though we frequently begin to read or speak, without feeling any of the passion we wish to express, we often end in full possession of it. This may serve to show the necessity of studying and imitating those tones, looks, and gestures, that accompany the passions, that we may dispose ourselves to feel them mechanically, and improve our expression of them when we feel them spontaneously; for by the imitation of the passion, we meet it, as it were, half way.” 43

I have thus far presented, to the best of my knowledge and ability, a comprehensive view of “second nature” as I understand it to be articulated by Gilbert Austin and François Boisquet. As a performer, I am repeatedly confronted with “natural” limitations, be they innate talent or self-inflicted automatism. As a practice-based researcher of historical performance, however, I am challenged to question those same limitations, by placing them in different contexts. What might constitute a technical disadvantage under a given cultural environment may well have been found advantageous in a different time and place. By prioritizing different ends, one is often forced to discard old means. But what I hope has also become clear is that, when it comes to long lasting traditions, such as the oratorical-acting compound flourishing by the end of the eighteenth century, the means themselves reshape the ends and transform the very men and women onstage. However humble my proficiency in early acting techniques may be, some of its effects have been surprisingly deep, not only on my performance, but also on my pathetic responses. By repeatedly accessing certain emotions, they have begun to resurface more promptly; by expressing them methodically, they have become increasingly identified with concrete muscular configurations and patterns. This I have experienced while observing some of my collaborators’ passionate delivery. What once would have left me untouched fills me now with heartfelt sympathy, as if my very muscles feel an affinity to someone else’s pathetic state.

43 Walker, John: Elements of Elocution, London: T. Cadell, et al. 1781, vol. II, pp. 279–80.

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Passions dear to me are more easily identified when seen on another actor than passions which I have experienced less, and overall I feel as if indeed I have been learning to feel. I would have hesitated to pay heed to such thought, had I not come across explicit references to it in Chironomia and the Essais. Boisquet points out how his treatise is meant to teach, among other things, to feel, 44 and Austin advances his proposal for an “art of feeling” in a passage which pretty much sweeps the whole extent of this article: “The art of feeling, which is best learned from nature and from habit, is the true art which leads to just theatric expression. This is well expressed by the ingenious author of the Actor: The play’r’s profession, . . . . . . . . Lies not in trick or attitude, or start, Nature’s true knowledge is the only art, The strongfelt passion bolts into his face, The mind untouch’d, what is it but grimace! To this one standard make your just appeal, Here lies the golden secret, learn to FEEL.” 45

It is tempting to see in these passages the authors’ yearning for a higher form of art, one that would inform the painter and the sculptor as well as the actor and the musician. 46 If it were to exist, this art would have to be based on the very elements common to all and pursued by all, and I would like to believe a language of the passions to have been one such element. But, as far as can be seen and experimented through the narrow scope of these two sources, this hypothesis has still much room for improvement. Let us hope future research on these, and other, sources will shed additional light on it.

44 “[…] indiquer les moyens à l’aide desquels on apprend à connaître, à sentir, à penser et à exprimer.” (“to point out the means by which one learns to know, to feel, to think, and to express”); Boisquet: Essais, p. 38. 45 Austin: Chironomia, p. 98. The poem The Actor (1760) is by Robert Lloyd. 46 “Je l’ai dit, je le répète: peinture, poésie, musique puisent toutes à la même source. [...] Toutes les trois peignent les effets naturels, les caractères, les passions, par des moyens différents.” (“I have said it, I will repeat it: painting, poetry, music all draw from the same source. […] All three paint the natural effects, the characters, the passions, by different means.”); Boisquet: Essais, p. 38.

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R EFERENCES Austin, Gilbert: Chironomia or, a Treatise on Rhetorical Delivery, London: T. Cadell/W. Davies, 1806. Boisquet, François: Essais sur l’Art du Comédien Chanteur, Paris: Longchamps, 1812. Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful London: R. and J. Dodsley, 1757, pp. 124–25. Chaouche, Sabine, ed.: Sept Traités sur le jeu du comédien et autres textes: de l’action oratoire à l’art dramatique (1657–1750), Paris: Honoré Champion, 2001. Cicero, Marcus Tullius: Brutus, seu De claris oratoribus, c. 80. Quoted by Austin, Gilbert: Chironomia or, a Treatise on Rhetorical Delivery, London: T. Cadell/W. Davies, 1806. Engel, Johann Jacob: Ideen zu einer Mimik, Berlin: Mylius 1785–86; translated by H. Jensen as: Idées sur le Geste et L’Action Théatrale, 2 vols. Paris: Barrois l’aîné, et al. 1788–89. Hill, Aaron: “An Essay on the Art of Acting” in: ibid. The Works of the Late Aaron Hill, Esq; 4 volumes, London: without publisher, 1753, vol. IV, pp. 353–419. Home, Henry (Lord Kames): Elements of Criticism, 3 vol., Edinburgh: A. Kincaid & J. Bell, et al. 1762. Marmontel, François: “Eléments de Littérature, vol. V”, in ibid: Oeuvres Complettes de M. Marmontel, Paris: Née de la Rochelle, 1787, vol. IX, art. Orateur, p. 146. Marmontel: “Eléments, vol. VI”, in ibid: Œuvres, Paris: Née de la Rochelle, 1787, vol. X, art. “Récitatif”, pp. 2f. Montagu, Jennifer: The Expression of the Passions: The Origin and Influence of Charles Le Brun’s Conférence sur l’expression générale et particulière, New Haven: Yale University Press, 1994. Roach, Joseph R.: The Player’s Passion, Studies in the Science of Acting, Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1993. Sheridan, Thomas: A Course of Lectures on Elocution, London: W. Strahan, 1762. Walker, John: Elements of Elocution, London: T. Cadell, et al. 1781.

Actio, actio, actio A director’s point of view on naturalism and naturalistic staging of the early opera repertoire D EDA C RISTINA C OLONNA

“Ma sopra tutto, ancorchè il recitativo sia detto coi necessarj cangiamenti di voce, pause e punti, egli sarà però sempre languido e fiacco, se non verrà accompagnato da una convenevole azione. Questa è quella, che dà la forza, la espressione e la vivacità al discorso. Il gesto è quello, che a meraviglia

esprime

il

carattere

di

quel

personaggio, che vuolsi rappresentare. L’azione finalmente è quella, che forma un vero attore; quindi Tullio stesso disse, che tutto il grande ed il bello d’un attore consiste nell’azione: actio, actio, actio.” GIAMBATTISTA MANCINI 1

1

“But above all, even if recitative be said with all the necessary changes in the voice, pauses and dotted notes, it will always be languid and weak, unless it is accompanied by a suitable action. This is what gives your speech strength, expression and vividness. Gesture wonderfully expresses the character you are trying to represent. Action is what ultimately shapes a true actor; even Tullius said, that the greatness and the beauty of an actor consists in action: actio, actio, actio.” Mancini, Giambattista: Riflessioni Pratiche sul Canto Figurato, Milano: Giuseppe Galeazzi Regio 1777, p. 241. (Translation like the followings by DCC)

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I. ARTISTIC APPROACH I am an opera director and choreographer; I have come to my profession mainly through the practical experience of a performing career on stage, as a baroque dancer and actress. I have staged nearly thirty operas so far and my repertoire comprises opera and drama of the 17th and 18th centuries. I am going to try to explain how, when staging works of the late 18th century, various ways of reflecting upon the concept of ‘naturalezza’ come to influence my work, also taking into account how the staging is influenced by the producer’s requests and expectations. I was formed technically and artistically in Paris in the 1980s, between the School of Philological Early Dance Reconstruction led by Francine Lancelot at the Sorbonne University, the Advanced Technical Ballet Pedagogy at Ecole Supérieure d’Etudes Chorégraphiques, and at the same time, as a spectator, the new, amazing, breath-taking Tanztheater performances of Pina Bausch that left us all speechless. Thirty years later, it seems to me that these two opposites have come back to meet again in my work. A sort of philological passion and the need to express myself through my work have fought a long battle to conquer supremacy of my interests, but with the so-called “maturity” – whatever that may be – I have acquired the certainty that for me, philological research is one tool among many and not a mission in itself. My further training at the Acting School of Teatro Stabile di Genova in the years immediately following my time in Paris, together with the chance I had of acting internationally in productions – ranging from Shakespeare to Cechov, Genet and German contemporary theatre – have certainly influenced the development of my ‘method’, in search of what I feel I can express when working with the early opera repertoire. For me, the process allowing the development of an idea that brings a text from the page to the stage is, after all, a mutual revelation of the inner, intimate ‘nature’ of the piece itself and of the personality of the interpreter. A purely philological approach (an approach that has the reconstruction of an original form as its primary goal) is the first, precious ingredient in this process. But by itself it does not necessarily lead to what I research, i.e. an artistic creation that bears the sign of the past, vivified by the attribution of meaning that happens through re-creation in our present times. My aim is to rediscover and reevaluate historical practices with the express intention of reaching today’s audi-

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ences, rather than a literal reconstruction of historically documented performances. I think that this requires interpretation rather than modernisation. On one hand, the early opera repertoire is often modernised in contemporary stagings that, with the pretext of making the work relevant for contemporary audiences, overlook the actual contents of the piece. On the other hand, some stagings attempt to reconstruct the original, without taking the contemporary audience’s taste into account. I suggest instead that historical knowledge gathered through a philological approach can be used to devise an informed interpretation of the piece, which is more likely to reveal its original contents alongside the contemporary director’s view, thus excluding reconstruction a priori, but keeping the contemporary audience in the picture. I work for the stage; I consider philological reflection a key step in a process that ends in the fertile zone in which artistic creation dwells. I am not interested in reconstruction per se, as a final result; I actually find it a futile effort to copy art forms from the past; what fascinates me instead is to look at a piece so thoroughly and deeply, that through the knowledge of it and of the relevant sources I will also end up learning something about myself. I.1 Historically Informed Practice versus naturalistic staging In particular, I have come to profoundly dislike the terms ‘baroque gesturing’, or ‘gesture acting’, that are so commonly associated with the historically informed staging of works of the baroque and classical repertoire. In general, when Artistic Directors ask me whether or not I will use ‘baroque gesturing’, or ‘baroque dance’, they are in fact enquiring whether or not my characters will be acting according to the widespread, sometimes stereotyped, modern aesthetics that have originated in the field known today as ‘Historically Informed Practice’, within which there are as many personal takes and ‘styles’ as there are directors. I’d rather say that I have developed my own, ‘naturalistic’ approach to the early opera stage. It seems to me that when we aim to reconstruct a dance from a score, or when we read an opera libretto or a play and prepare a proposal for a staging, rather than seeking its original form encrypted in the text, our task is to decipher and integrate it with a parallel reading, in order to rebuild a context within which we can identify a subjective layer in meaning. Without a context, there can be no meaning in a message, and no freedom in our expression as artists. Technical proficiency is the practical tool that allows theoretical and historical evidence to be applied to stage material today. I think that both narrow-minded intellectual-

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isms and practical stage habits that are not illuminated by historical knowledge are just as likely to keep the performer or the director away from the inner value of the piece, at a distance that makes the staged result sterile, and after all, in my view more historically ‘deformed’ than ‘informed’. I.2 Actio: Naturalistic characters For me, staging characters who dance, sing, or speak, corresponds to finding the actio that informs the text, rather than putting into practice performance rules to be found in the sources what applied to each individual step, or to the focus of a single verse, or the shape of the individual gesture. Information is stratified, encrypted and accessible at various levels in the text. A stage-orientated analysis of the text requires that we look for action and that we stage that action with the help of historically informed practice. The text tells us what the character says, and it is our job to figure out what the character means, therefore does, so that we can find a way in which such action and words are connected and expressed in a logical and effective way, mirroring the outer and inner circumstances in which the character finds itself, within the context of the play. My words unsurprisingly echo Stanislavskij’s notion of “subtext” 2, which also implies a logical correspondence between meaning, action and circumstances. It is not directly applicable to 18th century acting for evident historical reasons; however, in 1755 Bérard writes about that same correspondence: “Le caractère des personnes & les circonstances où elles se trouvent doivent encore décider la nature des gestes dont on doit faire usage.” 3

2

“Il sottotesto comprende tutte le innumerevoli linee interiori della parte e del dramma, tracciate dai ‘se’ magici e non magici, dalle finzioni dell’immaginazione, dalle circostanze date, dall’attenzione interiore, dagli oggetti dell’attenzione, dal vero, dagli adeguamenti e da tutti gli altri elementi. Il sottotesto è ciò che ci costringe a dire le parole della parte.” (“Subtext comprises the innumerable inner lines of the role and of the piece, traced by the magical and non-magical ‘if’s’, by the fictions of imagination, given circumstances, inner attention, objects of attention, the truth, adjustments and all other elements. Subtext is that which compels us to say the words of our part.” Stanislavskij, Konstantin S.: Il lavoro dell’attore, ed. Gerardo Guerrieri, trad. Elena Povoledo, Bari: Biblioteca universale Laterza: Universale 1988, p. 465.

3

“The character of the people and the circumstances in which they find themselves, must also decide the nature of the gestures that are going to be used.” Bérard, Jean-

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I.3 Historical works and modern perfomers Once the historical information is collected, it is time for the modern interpreter to ‘close the books’ and begin a creative process, without claiming to find the historical data in the final product in a quantifiable form. Once the equation behind the chosen scene, dance or work is understood, the responsibility of the interpreter is to show his/her vision with courage, possibly right next to the motivations that inspired the original composer. Once aware of the available historical evidence, we have to trust our instincts and choose the solution that best addresses the needs of our expressive gesture. So, for me, the naturalistic precept of ‘staying true’ on the stage, thus revealing one’s inner nature and possibly the nature of the piece expands and encompasses the role of the director, a function that was created after all in very recent times. It corresponds also to an inspiring criterion in the shaping of the actual staging itself; in other words, I try to practice naturalezza when I tackle the libretto or the score using the historical knowledge I have gathered in order to nourish my sensitivity and allow it to hopefully suggest something not too far from what would have been the original aim of the piece. This may result in shapes that, seen from the outside, are more or less reminiscent of the relevant iconography; this of course challenges the idea of those who define ‘historicity’ in shapes, rather than in method. When instructing modern performers on or for the stage, and once I have found a ‘concept’ for the staging or choreography, the practical, creative process consists in ‘bringing it before the eyes’ of the spectators, by means of the bodies and sensitivities of the performers. As a director/choreographer working mostly in early music festivals or in opera houses, I am usually confronted with singers, actors and dancers who have varying degrees of awareness of the issues relating to different styles, or aesthetics, or even techniques in connection with the specificities of any given century. I have often experienced that, even if artistic and stylistic matters are settled in the director’s mind and have helped shaping a philologically acceptable concept, the instrument through which the concept comes to a practical realisation is ultimately the relationship that the director is able to establish with the actors, singers and dancers – and even before with the conductor and the set-, costumeand light designers.

Antoine: L’Art du chant, dédié à Madame de Pompadour, Paris: Dessaint et Saillant 1755, p. 148. (Translation DCC)

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Modern opera singers and professional dancers receive very technicallyorientated training. Singing and dancing have taken on an athletic side that privileges the display of virtuosity along lines that do not always run parallel to the criteria of stage proficiency in the 17th and 18th century. As a consequence, the instruments through which the artistic plans are carried out often need a sort of re-tuning, as if the canons of what is beautiful, expressive, acceptable, of good taste, needed to be re-established before a constructive rehearsal period can begin. One could say that this is a form of re-education, which over time leads to a re-building of intuition. Performers that are not trained in the subtleties of physical expression often find distinctions such as the ones between comical/ugly/grotesque, sad/pathetic, furious/angry, ugly/terrifying/awe-inspiring, as well as a developed interest for parameters such as decorum, taste, gracefulness, elegance, finesse, intelligence and naturalness pointless and uselessly academic. Therefore, in order to tackle directly the issue of how to achieve a ‘naturalistic acting’, I often have to reestablish the relationship of the interpreter to the text, which in turn generates a natural tendency in the performer to reacting as a character. Once that reaction naturally arises, I can shape it, polish it and give it the ‘stylistic touch’, stimulating the performer’s acquired awareness. The main lines that shape my ‘method’ in view of a practical approach to naturalistic acting are: •



• •

helping the performers metabolise the poetic language of libretti, borrowing exercises from theatre practice, in order to foster immediacy in a language that is often foreign and anyway distant; promoting awareness of the plot as a network of relationships among characters, in view of unveiling the actio and in order to determine direction in acting (as opposed to concentrating only on each single character); training the performers in awareness of shape, timing and coordination in gestures as expressive tools; promoting a sense of ‘ownership’ or ‘authorship’ and encouraging the performers to gain assurance and guide my work as director through improvisation exercises. How can the respective roles of singer and director actually be understood when approaching works that were originally staged without the help of a director in the modern sense?

My experience has shown me that, much like the spoken or sung word, learned gestures and actions must be ‘owned’ by the performer in order to acquire their

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full meaning and importance; when the staging is suggested and even demonstrated by the director, it is the performer’s responsibility to manage his/her relationship with the director in order to foster this process of appropriation and instigate active collaboration with the director.

II. W ORKS

IN MY WORK DEALING WITH NATURE AND NATURALISM

II.1 Naturalism as theme TETRAKTYS, OVVERO LA PRIMA ETÀ DEL MONDO Balletto, liberamante ispirato a La Dispute di Pierre Carnet de Chamblain de Marivaux (1688–1763) Musica di GEORG FRIEDRICH HAENDEL (1685–1759) Teatro Lirico Giuseppe Verdi, Trieste 2008/2009 Project by Deda Cristina Colonna, Massimiliano Toni Staging and choreography: Deda Cristina Colonna Set design: Pier Paolo Bisleri Costume design: Chiara Barichello Conductor: Paolo Longo Solo dancers: Massimo Arbarello, Danilo Palmieri, Silvia Casadio, Alice Serra Giuseppina Bridelli, mezzosoprano Orchestra and Corps de Ballet of Teatro Lirico Giuseppe Verdi, Trieste In this case, naturalism was a matter of choice in the theme for this new piece. The piece was commissioned by the theatre, with no specific requirement as to the staging techniques (baroque dance, singing, musical practice); rather, the deal was making an instructive performance for an audience of students on the theme of the birth of society. ‘Tetraktys’ is the representation of the number 10 by Pythagoras: sum of the first four figures (1+2+3+4= 10). It is the image of totality in movement and a symbol of universal creation. In this ballet, the language of dance intersects with

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song and drama; the texts are freely inspired by the play La Dispute, by Pierre de Marivaux (1688–1763). The plot brings the four protagonists, first alone, towards the formation of a small group, and then of a larger community, in which human instincts and impulses manifest: aggregation, marginalization of the “different”, fear of the unknown, struggle for supremacy, factionalism, war and death. Tetraktys depicts the stages of self-discovery and discovery of the other, the birth of seduction, relations and rivalry, the disappointment of betrayal and jealousy (figure 1). Figure 1: ‘Tetraktys’, Teatro Lirico Giuseppe Verdi, Trieste 2008/2009.

Source: Fabio Parenzan, Trieste.

None of the performers (dancers, singer, orchestra) had any knowledge of historical performance practice. The final result was a modern piece, inspired by the authors’ (myself and Massimiliano Toni, musician and composer) artistic background and sensitivity; the performance was well received by the young audience, who was exposed to a thought-provoking experience, that also showed how art can be a way to reflect upon human nature. II.2 Naturalistic Reading IL MATRIMONIO SEGRETO by Domenico Cimarosa (1792) Drottningholm Slottsteater 2013 Staging: Deda Cristina Colonna Set- and costume designer: Ann-Margret Fyregård Conductor: Mark Tatlow Il Signor Geronimo: Jens Persson

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Elisetta: Anna Hybiner Carolina: Sofie Asplund Fidalma: Frida Josefin Oesterberg Il Conte Robinson: Richard Hamrin Paolino: William Baker Drottningholmsteaterns Orkester In this case, I would say that a certain understanding of naturalism inspired the reading of the libretto and the general theme of the staging. The theatre made no special request, other than the staging should reflect my vision of historically informed practice, and that I should use the existing painted sets at Drottningholm. No money was budgeted for the construction of a new set, and I soon realised that none of the existing sets had the four doors that are mentioned in the libretto and are therefore necessary to stage the piece faithfully. Whilst reading the libretto, I was struck by the frequent references to the modifications of body functions, according to the situation, and to the feelings involved. Organs are very often mentioned in relation to feelings, and references to temperaments are made in order to describe people, especially in critical moments or negative aspects. The theory of the humours was used in order to investigate the functions of the body; however, in the 18th century it was rather referred to as a means of categorising characters and personality types. The 18th century also witnessed a growing interest in anatomy and in the study of the body as a mechanism; doctors were dissecting bodies in order to see the true nature and function of the organs. This inspired the costume design by AnnMargret Fyregård, in which representations of parts of the inside of the body are used as ornaments on the costumes. By the same token, the sets at Drottningholm were reversed, in order to show their inside, which also solved the problem of not having an adequate set in stock. In this case, the orchestra was skilled in historical practice. The singers were not, a priori; but the generous time allowance for the rehearsals fostered a truly experimental rehearsal process, in which the singers became acquainted with my understanding of 18th century acting. Spontaneous, ‘natural’ gesture – in the sense of gestures that come spontaneously to the singer when performing, as a nonverbal complement to the expression of the text in a given circumstance – was identified and studied in relation to words and music, and also used in some choreographed ensemble pieces as a way to reveal the inner relationships in the structure of music.

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Figure 2: ‘Il matrimonio segreto’, Drottningholm Slottsteater 2013.

Source: Mats Bäcker.

The selected photographs in figure 2 show intense facial expressions, gestures and actions that came ‘naturally’ to the singers. This level of ‘naturalezza’ was achieved by building a historically informed acting practice, rather than by copying the graphic representations of expressions and postures that can be found in acting manuals of the late 18th century. II.3 Naturalistic Acting ACI, GALATEA E POLIFEMO by Georg Friedrich Haendel (1708) Copenhagen Opera Festival 2013 Staging: Deda Cristina Colonna Set- and costume design: Karin Gille Light design: Martin Braad Pedersen Conductor: Alfredo Bernardini Aci: Deborah York

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Galatea: Sonia Prina Polifemo: João Fernandes Actor: Joseph MacRae Ballantyne Concerto Copenhagen Figure 3: ‘Aci, Galatea e Polifemo’, Copenhagen Opera Festival 2013.

Source: Mathias Boiesen.

In this case, the Festival’s input and requests were: • • • • •

an ‘urban’ baroque opera: a staging that would connect baroque opera to the city staging the orchestra Concerto Copenhagen a pre-performance event in the bar using ‘Pakhus 11’, a post-industrial location (an old warehouse) no specific request concerning the style of the staging, but a certain, negative preconceived idea about historically informed performance.

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In the pre-performance event, an actor recited Polyphemus’ song to Galatea, taken from Ovid’s Metamorphoses; the same actor was used at the end of the performance, in the staging of the metamorphosis of Aci into a river, for which we used a reference to classical iconography. The set design was conceived in order to match the selected location, therefore using ‘urban’ materials (pallets, beer crates, some of the existing machinery). The orchestra, a numerous ensemble very well known in Copenhagen, was staged as part of the general landscape. They wore workers’ overalls and blended better in this way with the surrounding architecture than if they had been wearing their usual musicians’ outfits. Historically informed practice was proposed to the singers, who initially had stereotyped ideas about what that meant, but ended up letting themselves be lead by the director. In this case, naturalistic acting was intended as paradigm for the acting method (figure 3). OTTONE IN VILLA by Antonio Vivaldi (1713) Copenhagen Opera Festival, 2014: Staging: Deda Cristina Colonna Set- and costume designer: Karin Gille Conductor: Lars Ulrik Mortensen Concerto Copenhagen Ottone: Sonia Prina Cleonilla: Sine Bundgaard Tullia: Deborah York Caio: Sophie Junker Decio: Leif Aruhn-Solén Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, 2010: Staging: Deda Cristina Colonna Set designer: Pier Paolo Bisleri, Costume designer: Monica Iacuzzo Conductor: Giovanni Antonini Orchestra Il Giardino Armonico

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Ottone: Sonia Prina Cleonilla: Veronica Cangemi Tullia: Sunhae Im Caio: Lucia Cirillo Decio: Krystian Adam I staged this piece twice; the first time in Austria, at the Innsbrucker Festwochen der Alten Musik in 2010 (figure 4), and for the Copenhagen Opera Festival in 2014 (figure 5). This staging was nominated for the Reumert Awards for ‘Best Opera Production in Denmark 2014’. This experience allowed me to witness the development of my directing skills over a period of four years and it was a great satisfaction to stage it the second time, with the advantage of the experience that I had accumulated in the meantime. Figure 4: ‘Ottone in villa’, Innsbrucker Festwochen der Alten Musik 2010.

Source: Innsbrucker Festwochen der Alten Musik.

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The first ‘Ottone’ was set in a more ‘literary’ way (figure 4): Ottone’s garden was in fact represented as a garden, and even Roma appeared quite reassuringly in a drawing of the Appia Antica by Piranesi, that we projected whenever needed. I think that with this production I came to the end of the first period of my directing career. Developing and ultimately exploiting the performer’s expressive means advanced my project. I proposed each and every movement, expression and gesture, thinking that it would be easier for the cast to just copy me, and that the staging would be more ‘historical’. The performance was well received, but some critics misunderstood my playfulness for derision of the characters. For me it marked the end of a whole professional era. Figure 5: ‘Ottone in villa’, Copenhagen Opera Festival 2014.

Source: Soren Meisner.

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The second Ottone in Villa was staged in a modern theatre in Copenhagen, and this time I ventured into a more daring type of staging (figure 5). For the first time, I dared to change the original context. The plot was staged in the tent of a travelling circus, instead of a garden in the Roman countryside. My reading of the network of relationships connecting the characters in the plot suggested the idea of a circus, seen as a closed, structured society in which each character has a specific position, determined by his/her ability or speciality. Understanding the Emperor as a clown, his counsellor Decio as a fortune teller, or his lover Cleonilla as an acrobat clarified the relationships, therefore the singers’ acting became more ‘natural’ and better expressed the original content of the text, even if the setting was far from the original. Unsurprisingly, giving the performers a clearer idea of how special Ottone’s ‘villa’ was, inspired them immensely and we came a lot further on the path of what I consider the right style of acting for a piece like this, actually an opera buffa, at times in serious disguise. Ottone in Villa has a serious plot and its characters are serious. However, the relationships connecting the characters show a ‘buffo’ nature of the piece. I was very flattered and thought that I had scored a good point, when the critic Gregers Dirckinck-Holmfeld wrote “It is all put together like a game […], similar to the football challenges between Messi and Ronaldo. Applauded, admired, adored.” 4 I take naturalistic acting very seriously, be it in a comedy or in an opera seria. Its strength lies in the intimate relationship between the word (intended both as meaning and as sound), the music and the gesture that shapes the action. I would like to finish quoting Riccoboni’s Dell’Arte Rappresentativa (1728), who in this passage summarises the whole sense of acting: “La principale, e necessaria parte Dell Comico è di far chiaro vedere Che da Verità non si diparte. Così facendo, quasi persuadere Potrai che non sia falso quel che è finto. E se fin là non vai non puoi piacere.

4

Dirckinck-Holmfeld, Gregers: ‘Ottone In Villa’ Cop. Opera Festival I Teater Republique, 30th July 2014, http://gregersdh.dk/ottone-in-villa-teater-republique-30-72014-anm/ [accessed 20th June 2017].

188 | DEDA CRISTINA COLONNA Per seguitare il naturale istinto, E moversi senz’Arte or che s’ha a fare? Scordare i quattro membri, e forse il quinto, Che è la Testa; ma sì ben cercare Di sentire la cosa, che ci esponi Che si creda esser tuo l'altrui affare.” 5

R EFERENCES Bérard, Jean-Antoine: L’Art du chant, dédié à Madame de Pompadour, Paris: Dessaint et Saillant 1755. Dirckinck-Holmfeld, Gregers: ‘Ottone In Villa’ Cop. Opera Festival I Teater Republique, 30th July 2014, http://gregersdh.dk/ottone-in-villa-teater-republi que-30-7-2014-anm/ [accessed 20th June 2017]. Mancini, Giambattista: Riflessioni Pratiche sul Canto Figurato, Milano: Giuseppe Galeazzi Regio 1777. Riccoboni, Luigi: Dell’arte rappresentativa. Capitoli sei, London: s.n. 1728. Stanislavskij, Konstantin S.: Il lavoro dell’attore, ed. Gerardo Guerrieri, trad. Elena Povoledo, Bari: Biblioteca universale Laterza: Universale 1988.

5

Riccoboni, Luigi: Dell’arte rappresentativa. Capitoli sei, London: s.n. 1728, p. 17. “The main, and most necessary part of the actor’s profession is to show clearly that he does not step away from the truth. In doing so, you can almost persuade that what is fake is not false, and if you don’t reach this point you can’t please [the audience]. What shall then one do, in order to follow the natural instinct and not move artificially? Forget the four limbs, and maybe the fifth one too, which is the head; but endeavour to feel what you are presenting so deeply, that one would believe the business is in fact your own.” (Translation DCC)

„Les Amours de Bastien et Bastienne“ Ein Opernprojekt der Anton Bruckner Privatuniversität C LAIRE G ENEWEIN , P ETER S CHMID

E INLEITUNG Thematischer Ausgangspunkt des Projekts „Ja natürlich – Naturalezza – Simplicité: Natur und Natürlichkeit auf der (Musik-)Theaterbühne“ war die Natürlichkeit als künstlerisches Ideal, das im ausgehenden 18. Jahrhundert in unterschiedlichen Ausprägungen die Debatten um das Musiktheater beherrschte. Dabei verfolgten wir von Anfang an zwei gleichwertige Zugangsweisen zu diesem Thema: die theoretisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung sowie die künstlerischpraktische Umsetzung. Ausgezeichnete Voraussetzungen sich dem Thema zu nähern, bot das Singspiel Les Amours de Bastien et Bastienne von Marie Favart und Harny de Guerville, das im Jahr 1753 an der Pariser Comédie italienne seine Premiere hatte. Im Rahmen eines Opernprojekts erarbeiteten wir es mit Studierenden des Instituts Gesang und des Instituts für Alte Musik an der Anton Bruckner Privatuniversität und brachten es am 16. Juni 2016 zur Aufführung. Das Werk war keine Neuschöpfung, sondern eine Parodie auf Jean-Jacques Rousseaus Singspiel Le Devin du village, das 1752 höchst erfolgreich uraufgeführt worden war. 1 Rousseau stand auch in seiner Kunstästhetik für Naturnähe ein. Mit seinem Le Devin du village wollte er ein Werk mit einer Gesamtdramaturgie schaffen, das durch eingeschobene Ballette und Ensembleszenen glaubhafter und daher natürlicher wirkte, auch wenn es in französischer Sprache und

1

Blank, Hugo: J. J. Rousseaus Devin du village und sein Weg über Favart zu Mozarts Bastien und Bastienne, Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft Nr. 18 1998, S. 11–122.

190 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID

mit typischen Stilmitteln der französischen Oper komponiert war. Vor allem aber war es das von Rousseau gewählte Sujet, das ganz der Prämisse der „simplicité“ entsprach: Die Handlung um die Hauptpersonen, das Schäferpaar Colette und Colin und den Dorfwahrsager, gibt eine ländliche Idylle wieder, in der die Liebe des „natürlichen“ Paars durch eine reiche, adelige Nebenbuhlerin aus der Stadt bedroht wird. Mit Hilfe des Dorfwahrsagers Colas und einem Trick gelingt es jedoch, Colin zur Räson zu bringen – schließlich ist seine Liebe zu Colette „natürlich“ prädisponiert, nicht zuletzt da Colette aufgrund ihrer Natürlichkeit der adeligen Städterin an Schönheit und Anmut überlegen ist. 2 Die Uraufführung fand ausgerechnet auf Schloss Fontainebleau, dem ländlichen Repräsentationssitz Ludwigs XIV. statt und wurde vom höfischen Publikum begeistert aufgenommen. Der Erfolg riss auch nicht ab, als das Werk auf die Bühne der Académie royale de musique transferiert wurde, auf deren Spielplan es sich die nächsten Jahre ohne Unterbrechung hielt. Vor diesem Hintergrund bot sich das Werk als Vorlage für eine Parodie geradezu an. In Marie Favarts Les Amours de Bastien et Bastienne sprechen die Hauptpersonen – nun als Bastienne, Bastien und Colas bezeichnet – Dialekt; anstelle auskomponierter Nummern werden dem Text, wie in der Opéra comique üblich, bekannte Melodien, sogenannte Vaudevilles, unterlegt. Ein weiterer Clou der Aufführung war, dass Marie Favart als Colette in einem Kostüm auftrat, das entgegen der Theaterkonvention ländlicher Tracht nachempfunden war. 3 Über Charles Simon Favart, Ehemann von Marie Favart und einer der erfolgreichsten französischen Librettisten seiner Zeit, der mit dem Wiener Theaterdirektor Giacomo Durazzo in Kontakt stand, kam das Werk nach Wien. Zwar standen in Wien traditionell italienische Opern auf dem Programm; Teil der Kulturpolitik des kaiserlichen Staatskanzlers Wenzel Anton Kaunitz, der eine Allianz mit dem ehemaligen Erbfeind Frankreich anstrebte, war es jedoch, französische Kultur nach Wien zu bringen. Nachdem das französische Sprechtheater beim Wiener Publikum wenig Anklang gefunden hatte, wurden französische Opéras comiques gezeigt. Für den Werktransfer waren Durazzo und Favart zuständig. Als eines der frühen Werke kam so Les Amours de Bastien et Bastienne in einer speziell auf die Wiener Verhältnisse zugeschnittenen Fassung auf die Bühne. 4 Zwar ist von der Uraufführung des Werks am 26. September 1755 in Schloss Laxenburg kein Aufführungsbericht erhalten, wohl aber ein Particell,

2

Vgl. das Vorwort von Vera Grund im vorliegenden Band.

3

Tyler, Linda: Bastien und Bastienne: The Libretto, Its Derivation, and Mozart‘s Text-

4

Brown, Bruce A.: Gluck and the French Theatre in Vienna, Oxford 1991, S. 196–200.

Setting, Journal of Musicology, VIII (4) 1990, S. 520–552.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

| 191

welches jedoch nur Text und Singstimme der musikalischen Nummern enthält. Vom Erfolg des Werks in Wien zeugt Karl Graf von Zinzendorf, der mehrfach davon berichtete, dass die Melodien aus Les Amours de Bastien et Bastienne zur musikalischen Unterhaltung bei „Freiluft-Gesellschaften“ gesungen wurden. 5 Ausserdem wurde das Werk in das deutsche Repertoire übernommen, mit dem Joseph II. ein Nationaltheater etablieren wollte. Mit der Übersetzung wurde Friedrich Wilhelm Weiskern beauftragt, der seine Version mit dem schlichten Titel Bastienne auf die weibliche Hauptperson fokussierte.

R EKONSTRUKTION

UND

B EARBEITUNG

Für die Inszenierung von Marie Favarts Les Amours de Bastien et Bastienne im Rahmen des Naturalezza-Projekts der Anton Bruckner Privatuniversität mussten zunächst einige grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden. Aus aufführungspraktischen Überlegungen zugunsten der Textverständlichkeit entschieden wir uns dafür, die deutschen Dialoge von Weiskerns Bastienne zu verwenden – ebenso verfuhr später Mozart für sein Singspiel Bastien und Bastienne. Wir handelten also ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts, in dem aufführungspraktische Überlegungen zugunsten der Unterhaltung des Publikums immer vor Werktreue standen. Einen „natürlichen“ Umgang mit dem Werk pflegten wir auch, indem wir fehlende Teile des Werks aus Rousseaus parodiertem Le Devin du village übernahmen. Da weder eine vollständige Partitur noch Stimmenmaterial der ursprünglichen Fassung von Marie Favart erhalten sind, mussten passende ergänzende musikalische Elemente aus anderen Werken übernommen werden. Die als musikalische Grundlage dienende handschriftliche Partitur ist lückenhaft: sie enthält lediglich Teile der Rezitative, Arien und instrumentale Zwischenspiele sowie vereinzelte Hinweise auf die Instrumentierung; insbesondere fehlt eine Ouvertüre. Hingegen sind die Libretti vollständig erhalten, sowohl in französischer als auch in deutscher Sprache. Für die deutsche Fassung ergab sich als zusätzliches Problem die Textunterlegung zu den ursprünglich französischen Airs.

5

Karl Graf von Zinzendorf, Aus den Jugendtagebüchern 1747, 1752 bis 1763 (Hrsg. M. Breunilch und M. Mader), Böhlau Verlag Wien 1997.

192 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID

Unter Verwendung der verfügbaren Quellen wurde nach folgenden Kriterien bearbeitet: •



Für wesentliche fehlende instrumentale Teile wurde auf entsprechende Sätze aus Rousseaus Le Devin du village zurückgegriffen; verwendet wurden die Ouverture sowie als Ballettmusik eine Pastorelle pour les villageois und eine Forlane pour les villageois. Über weite Strecken konnte der deutsche Text des Weiskern’schen Librettos unverändert unterlegt werden; offensichtlich wurde zu derselben Musik gesungen. Als Herausforderung erwiesen sich Texte, die in Betonung und Rhythmus nicht zur Musik passten. Dieses Problem wurde auf zweierlei Art gelöst: Texte wurden entweder gesprochen, oder der Weiskern’sche Text wurde in passender freier Übertragung gesungen. Am Ende der Partitur sind mehrere Gigue-artige Couplets wiedergegeben, zu denen rhythmisch die am Schluss des Weiskern’schen Librettos stehenden Texte passen und die entsprechend unterlegt werden konnten.

Im Anhang sind die beiden vollständigen Libretti in Gegenüberstellung wiedergegeben, wo die Anpassungen und Eingriffe nachvollzogen werden können. Hervorgehoben sind • • • • • •

in der Partitur vertonte (französische) Texte, deutscher Text, welcher in Rhythmus und Betonung zur französisch unterlegten Musik passt, deutscher Text, welcher rhythmisch nicht zur französisch unterlegten Musik passt und entsprechend umgearbeitet werden musste, gesprochener (deutscher) Text, deutscher Text, zu welchem die französische Entsprechung in Libretto und Partitur fehlt, Textpassagen, welche zu den nicht textunterlegten Couplets am Ende der Partitur passen.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

| 193

Tabelle 1: Quellen Quelle Marie Favart, (geb. Marie Justine Benoîte Duronceray), Harny de Guerville, Charles Simon Favart, Les Amours de Bastien et Bastienne. 6

Marie-Justine-Benoîte Favart & Harny de Guerville, Air de parodie [de] Les Amours de Bastienne et Bastien „Non infidèle, cours à ta belle“ 7 Les Amours de Bastien et Bastiene, Opera Comique representé à Vienne 1755 8,9 J.J. Rousseau, Le Devin du village, Paris, [1753] (ohne Verlagsangabe) 10 Les Amours de Bastien et Bastiene, Parodie du Devin de village, Paris 1754 (ohne Verlagsangabe) 11 Bastienne, Eine Französische Operacomique, Auf Befehl in einer freyen Übersetzung nachgeahmet von Friedrich Wilhelm Weiskern, Wien 1764 (ohne Verlagsangabe) 12

6

Beschreibung handschriftliche Partitur (Abb. 1) mit instrumentalen Sätzen sowie Angaben zur Instrumentierung. Sie ist jedoch lückenhaft; Vollständig sind lediglich der 1. und 5. Auftritt; der 3. und 7. und letzte Auftritt fehlt ganz (vgl. Libretto im Anhang). handschriftlicher Auszug (Duett Bastienne/Bastien aus dem 6. Auftritt)

handschriftliches Particell mit Text und Singstimme der musikalischen Nummern. Dieses Particell existiert in zwei ähnlichen Abschriften. vollständige Partitur (Druck) französisches Libretto (Druck)

deutsches Libretto (Druck)

Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 220 Mus. Hdschr.

7

Universitätsbibliothek Basel, kr IV 415:60.

8

Österreichische Nationalbibliothek Wien, Mus.Hs. 1040.

9

Sächsische

Landesbibliothek

Dresden,

Mus.

2-F-19,

http://digital.slub-

dresden.de/werkansicht/dlf/113125/1/. 10 Erstdruck, Paris 1753, RISM A/I: 2899, RR 2899. 11 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Wt 71. 12 Österreichische Nationalbibliothek Wien: (II.8) 641.433 – A.M.S. (73A7b).

194 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID

S CHLUSSBEMERKUNG Für das Projekt „Ja, natürlich … Naturalezza/Simplicité“ hatten wir uns zur Aufgabe gestellt, die Bedeutung des Natürlichkeits-Ideals des 18. Jahrhunderts für die aktuelle Bühnenpraxis zu untersuchen und praktisch umzusetzen. Am Ende des künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsprojekts stand mit der Aufführung der Neufassung von Les Amours de Bastien et Bastienne der am stärksten mit der künstlerischen Praxis verbundene Teil. Mit dem Einstudieren und der Aufführung von Bastienne, dieser „natürlichsten aller Opern“, waren die Regisseurin Verena Koch, die musikalische Leiterin Anne Marie Dragosits, die Choreographin Annette Lopez Leal und Astrid Leher für die Ausstattung betraut. In der Aufführung traten Julia Wiszniewski als Bastienne, Nicole Lubinger als Bastien und Valentina Jerenec als Colas sowie die Tänzerinnen Natalia Gabrielczyk, Natalia Kladziwa und Angela Wörgartner und das Barockorchester des Instituts für Alte Musik auf.

ANHANG Marie Favart Marie (geb. Justine Benoîte Duronceray) Harny de Guerville Charles Simon Favart

Les Amours de Bastien et Bastienne Libretto Französisch / Deutsch Partitur: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 220 Mus. Hdschr.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

Französisches Libretto (Titelseite)

Deutsches Libretto (Titelseite)

Les Amours de Bastien et Bastiene,

Bastienne,

Parodie du Devin de Village.

Eine französische Operacomique.

Par Madame Favart, & Monsieur Harny.

Auf Befehl in einer freyen Übersetzung

Paris, 1754

nachgeahmet von Friedrich Wilhelm Weiskern

| 195

Wien, 1764 Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel,

Österreichische Nationalbibliothek,

Wt 71

641.433-A.2,8 Mus

Randmarkierung des Textes: textunterlegte Musik in der Partitur vorhanden

deutscher Text kann unverändert unterlegt werden

Musik fehlt in der Partitur

deutscher Text kann Tanzsätzen unterlegt werden, welche in der Partitur nicht unterlegt sind

196 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID ACTEURS.

Personen

BASTIEN.

Mr. Rochard.

BASTIENNE, eine Schäferin

BASTIENE.

Mme. Favart

BASTIEN, ihr Geliebter

COLAS.

r

M . Chanville.

PAYSANS, PAYSANNES.

COLAS, ein vermeinter Zauberer Einige SCHÄFER und SCHÄFERINNEN Bei den Liederchen, wo der französische Text angemerket ist, hat man die französischen Melodeyen beybehalten; zu den übrigen Arien aber ist die Musik neu. Die mit „ gezeichneten Worte sind vom Herrn Johann Müller.

SCENE PREMIERE.

Erster Auftritt.

Le Théâtre représente un Hameau avec un fond

Die Schaubühne ist ein Dorf mit der Aussicht ins

de Paysage.

Feld.

BASTIENE, seule.

BASTIENNE. (allein)

Air: Noté No. 1. J’ai perdu mon âne.

[Text zur Unterlegung anzupassen]

J’ONS pardu mon ami,

Mein liebster Freund hat mich verlassen,

Depis c’tems-là j’nons point dormi,

Mit ihm ist Schlaf und Ruhe dahin;

Je n’vivons pus qu’à d’mi.

Ich weiß vor Leid mich nicht zu fassen;

J’ons pardu mon ami,

Der Kummer schwächt mir Aug und Sinn.

J’en ons le cœur tout transi,

Vor Gram und Schmerz

Je m’meurs de souci.

erstarrt das Herz, Und diese Noth Bringt mir den Tod.

Air: Noté No. 2, Lucas, tu t’en vas.

[Text zur Unterlegung anzupassen]

Hélas!

Du fliehest vor mir Bastien? Du verlässest

Tu t’en vas,

deine Geliebte? O, das ist keine Art. Deine

Tu quittes ta maîtresse,

Treue gehöret mir. Ich habe dein Wort; und du

J’en mourrai Bastien: hélas!

vergisst dein Versprechen? Mein Bastien

Tu t’en vas!

verlässt mich? Ich rufe ihn ohne Unterlass; aber

Bastien, ça ne se fait pas.

vergebens. So oft ich an ihn denke, muss ich

Ta foi

weinen; und ich denke an nichts, als an ihn. Der

Est à moi,

Treulose! Um eines hübschern Gesichtes willen

J’aviens ta promesse,

kehrt er mir den Rücken? O Schmerz! arme

Pour rien,

Liebe … gute Nacht!

Mon Bastien, Maugré ça me délaisse. Je l’appelle à toute heure,

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

Quand j’y pensons je pleure, Et j’y pensons toujours. Pour eune plus jolie, Le perfide m’oublie, Adieu mes amours. Hélas, &c. Air: Eh! coussi, coussa.

Air: Chaque jour dans la Prairie

Chaqu’jour dans la Prairie,

Ich geh jetzt auf die Weide

J’allons nonchalament

Betäubt, und ganz Gedanken leer,

A présent,

Denn ich seh dort, zur Freude

J’y vois pour compagnie

Nichts, als mein Lämmerheer.

Mon troupiau seulement,

Ach! Ganz allein

Eh! ouida, aga,

Voller Pein

Qu’est qu’cest qu’ça?

Stäts zu seyn,

Aga, l’biau plaisier que vla!

Ist kein Spaß

Même Air.

Im grünen Gras

Le soir après l’ouvrage

Kehr ich bei dunkeln Schatten

Je n’pouvons pus chanter,

Ins Dorf, so wird die Zeit mir lang,

Ni sauter.

Denn ich find keinen Gatten

De retour au Village,

Zum Tanz, und zum Gesang.

Que faire? … rester là.

Ach! Ganz allein

Eh! ouida, aga,

Voller Pein

Qu’est qu’cest qu’ça?

Stäts zu seyn,

Aga, l’biau plaisir que vla!

Bringt der Brust Sehr schlechte Lust. [Text zur Unterlegung anzupassen]

Plus matin que l’aurore,

Bereits im Morgengrauen

dans nos vallons j’étois.

geh ich im Tal spaziern.

bien après l’ soir encore

Und wenn die Sonne versinket

dans nos vallons j’ restois.

bin ich noch immer dort.

le travail et la peine,

Die Arbeit und die Mühe,

tout ça n’ me faisoit rien;

das macht mir gar nichts aus

hélas, c’est que Bastienne

wenn ich bei dem Spazieren

étoit avec Bastien.

auf meinen Liebsten schau.

Drès que le jour se lève,

Von Anbeginn des Tages

je voudrois qu’il fut soir,

wünsch ich den Abend her.

et drès que le jour s’achève

Und wenn der Tag sich endet

au matin j’voudrois m’ voir.

möchte ich den Morgen sehn.

| 197

198 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID d’où vient c' que tout m’ chagrainne,

Woher kommt all mein Kummer

et que j’nons cœur à rien?

und dass mich nichts erfreut.

hélas, c’est que Bastienne

Ach, nur weil ich den Liebsten

n’ voit plus son cher Bastien.

heut Nacht nicht sehen kann

Ce changement de c’ volage devroit bien m’ dégager, mais j’ n’en ons pas l’ courage, et je n’ scais qu’ m’ affliger. d’un ingrat quand on s’ vange, c’est se dédomager. mais hélas; Bastien change, et je n’ scauvois changer. SCENE II

Zweiter Auftritt.

BASTIENE, COLAS.

BASTIENNE, COLAS.

Colas, descend d’une colline, en chantant &

Colas kömmt von einem Hügel, und spielet auf

s’accompagnant de sa cornemuse.

dem Dudelsacke.

Air: Noté No. 3

Air: Quand un tendron vient

Quand un tendron viant dans ces lieux,

Befraget mich ein zartes Kind

Consulter ma science,

Um das zukünftge Glücke,

Tout mon grimoire est dans ses yeux,

Les ich das Schicksal ihm geschwind

J’y lisons ce qu’all’ pense,

Aus dem verliebten Blicke;

Je d’vinons tout nettement,

Ich seh, das bloß des Liebsten Gunst

Que pour un Amant

Kann zum Vergnügen taugen;

Alle en tient là, la la,

Und so steckt meine Zauberkunst

Oh, oh, ah, ah, ah, ah,

In zwei entflammten Augen.

N’faut pas êtr’ gran sorcier pour ça, la, la. Même air. Lise à Piarrot s’en vad’mandant,

Lisett schaut Petern seufzend an,

Pourquoi qu’alle soupire?

Und klagt, dass ihr was fehlet;

Le gros benêt en la r’gardant,

Er lacht und schweigt; der Tumrian

Rit & n’fait que le dire.

Erräth nicht, was sie quälet.

J’linstruisis dans un instant,

Ich sag ihm gleich: Du kannst als Mann

Et d’un air content,

Vom Seufzen sie befreyen;

All’ me r’mercia, la, la,

Sie dankt, der Handel ist gethan

Oh, oh! ah, ah, ah, ah,

Ohn alle Hexereyen.

N’faut pas êtr’ grand sorcier pour ça, la, la.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

BASTIENE.

| 199

BASTIENNE. [spricht]

Air: Ah mon mal ne vient que d’aimer. Colas vouláis-vous me sarvir?

Guten Morgen, Herr Colas! Wolltest du mir wohl einen Gefallen erweisen?

COLAS.

COLAS. [spricht]

Ouida, ma Reine, avec plaisir.

Ja, mit Freuden, mein Herzchen.

Voyons, qu’exigeais vous de moi?

Lass hören was verlangst du von mir?

BASTIENE. Au chagrin qui m’ possede, En lui faisant une grande révérence. Comm’ sorcier, vous pouvais, je crois, Apporter queuqu’ remede. Colas.

BASTIENNE. [spricht] Ich wünsche ein Mittel wider den Verdruss, der mich naget. Du, Als ein Zauberer, kannst mir dasselbe ohnfehlbar ertheilen. COLAS. [spricht]

Air: La bonne aventure. Vous vous adressais au mieux

Ja, ganz gewiss. Du hättest dich an keinen

Je vous en assure:

besseren wenden können. O potz Stern! Ich be

J’ons des secrets marveilleux

sitze wunderbare Geheimnisse, zwei schönen

Pour apprendre à deux biaux yeux

Augen gutes Glück zu prophezeyen.

La bonne aventure, O gué, La bonne aventure. BASTIENE.

BASTIENNE. [spricht]

Air: M. le Prevôt des Marchands. Monsieu Colas, j’nons point d’argent,

Aber, Herr Colas, Ich habe kein Geld. Du

Mais d’ces blouques j’vous frons présent;

musst Dich schon mit diesen Ohrbuckeln

All’ sont d’or fin.

befriedigen, die ich dir schenke. Sie sind von klarem Golde.

COLAS. Non, non, ma fille. BASTIENE. Quoi, vous voulais me refuser? COLAS. Mon enfant, quand on est gentille, Je tiens quitte pour un baiser.

COLAS. [spricht] Geh, meine Tochter, mit deinen Ohrbuckeln. BASTIENNE. [spricht] Wie? Du willst sie verschmähen? COLAS. [spricht] Bey einem so hübschen Kinde, wie du bist, nehme ich mit ein Paar Busserln für lieb.

Il veut l’embrasser.

Er will sie umarmen.

BASTIENE.

BASTIENNE. [spricht]

Air: Hélas maman c’est bien dommage. Non, non, Colas, n’en faites rin:

Nicht, nicht, Herr Colas! Alle meine Busserln

Tous mes baisers sont à Bastien,

sind für den Bastien aufgehoben. Sey so gut,

200 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID Et je les gard’ pour not’ mariage;

und erlaube, dass ich von meiner Heurath mit

Mais souffrais que j’vous consultions;

dir rede. Was rathest du mir? Soll ich sterben?

Dites, faut-il que je mourions? COLAS.

COLAS. [spricht]

Mourir si jeune, ah queu dommage!

Sterben, so jung? Ey bei Leibe nicht; das wäre ewig Schade.

BASTIENE.

BASTIENNE. [spricht]

Air: De tous les Capucins du monde. On dit partout qu’il m’a quittée.

Aber alle Leute sagen, dass mich Bastien verlassen hat.

COLAS.

COLAS. [spricht]

Rassurais vot’ ame agitée. BASTIENE.

Eh, mach dir deswegen keinen Kummer. BASTIENNE. [spricht]

Se pourroit-il? ah! queu bonheur! …

Sollte es möglich seyn? O Glück! So hält er

Est-c’ qu’i’ m’trouveroit encore belle?

mich noch für schön?

COLAS.

COLAS. [spricht]

Il vous aime de tout son cœur. BASTIENE.

Und liebt dich vom Grunde der Seele. BASTIENNE. [spricht]

Et pourtant il est infidèle. COLAS.

Und doch ist er mir ungetreu? COLAS. [spricht]

Air: Pourvû que Colin me voyez-vous? Vôt’ Bastien n’est qu’un peu coquet;

Dein Bastien ist nur ein wenig flatterhaft. Sey

N’en ayais point d’ombrage.

ohne Sorgen mein liebes Kind! Deine

Ma chere enfant, qu’est qu’ça vous fait?

Schönheit hält ihn fest.

Votre biauté l’engage. BASTIENE.

BASTIENNE. [spricht]

Mais s’il duit être mon Epoux,

Aber, wenn er einmal mein Mann werden

Dam’, je n’veux point d’partage,

sollte? O, zum Geyer, so will ich mit keiner

Voyais-vous?

anderen theilen; weißt du das?

COLAS.

COLAS. [spricht]

Ce cher Amant n’est point un parjure Mais il aim’ la parure. BASTIENE.

Sey ruhig! Dein geliebter Gegenstand ist gar nicht ungetreu. Er liebt nur den Aufputz. BASTIENNE. Den Aufputz? Hat ihn wohl jemand besser ausstaffieret als ich?

o

Air: Noté de Titon N . 4. Ce ruisseau qui dans la

Air: Autrefois à sa Maitresse

Pleine. Autrefois à sa Maîtresse

Wenn mein Bastien im Scherze

Quand il voloit une fleur,

Mir ein Blümchen sonst entwandt,

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

Il marquoit tant d’allégresse,

Drang mir selbst die Luft durchs Herze,

Qu’alle passoit dans mon cœur.

Die er bey dem Raub empfand.

Pourquoi reçoit-il ce gage

Warum wird er von Geschenken

D’eune autre Amante aujourd’hui?

Einer andern jetzt geblendt?

Avions-je dans le Village

Alles, was nur zu erdenken

Queuq’ chos’ qui ne fût à lui?

Ward ihm ja von mir gegönnt.

Mes troupiaux & mon laîtage,

Mayereyen, Feld, und Heerden

A mon Bastien, tout étoit:

Both ich ihm mit Freuden an;

Faut-il qu’eune autre l’engage,

Jetzt soll ich verachtet werden,

Après tout ce que j’ai fait?

Da ich ihm so viel gethan?

| 201

‖: Faut-il qu’eune autre l’engage, Après tout ce que j’ai fait?:‖ Même Air. Pour qu’il eut tout l’avantage

Hat jemals am Kirchweihfeste

A la Fête du Hamiau,

Jemand so, wie er gestutzt?

De ribans à tout étage

Sein Hut ward von mir aufs beste

J’ons embelli son chapiau;

Mit viel Maschen aufgeputzt;

D’eune gentille rosette

Nie wird mich die Mühe reuen,

J’ons orné son flageolet:

Denn ich bin noch jetzt ihm hold.

C’ n’est pas que je la regrette:

Seine Flöten und Schalmeyen

Malgré moi l’ingrat me plaît;

Zierten Bänder voller Gold;

Mais pour parer ce volage,

Ja, den Falschen recht zu schmücken,

J’ons défait mon biau corset.

Ward mein Mieder nicht geschont;

Faut-il qu’eune autre l’engage,

Und jetzt darf er mich berücken,

Après tout ce que j’ai fait?

Da ich ihn so wohl belohnt?

‖: Faut-il qu’eune autre l’engage, Après tout ce que j’ai fait?:‖ COLAS.

COLAS. [spricht]

Air: Pierrot se plaint que sa femme. La Dame de ce Village

O, die Edelfrau vom Schlosse, weiss ihn noch

L’oblige bian autrement:

besser zu verpflichten. Um ihn an sich zu

Pour attirer son hommage,

ziehen, erwiedert sie seine Höflichkeiten mit

All’ paye assez richement

den köstlichsten Geschenken. Kann es uns

Sa complaisance.

wohl an Liebhabern fehlen, wenn man die

Manque t’on jamais d’Amant,

Gewogenheiten bezahlt?

Quand on finance? BASTIENE.

BASTIENNE.

Air: A notre bonheur l’Amour préside.

Air: Si je voulois être un tantot coquette

Si j’voulions être un tantet coquette,

Würd ich auch, wie manche Buhlerinnen

202 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID Et prêter l’oreille aux favoris,

Fremder Schmeicheleyen niemals satt,

Que je ferions aisément emplette

Wollt ich mir ganz leicht das Herz gewinnen

Des plus galans Monsieux de Paris!

Von den schönsten Herren aus der Stadt;

Mais Bastien est l’seul qui peut nous plaire,

Doch, nur Bastien reitzt meine Triebe,

Et j’ons sans mistere,

Und mit Liebe

Toujours répondu:

Wird ein andrer nie belohnt;

Laisses-nous, Messieux, je somm’ trop sage,

Geht! Sag ich, und lernt von meiner Jugend:

Sachez qu’au Village

Dass die Tugend

J’ons de la vartu.

Noch in Schäferhütten wohnt.

Même Air. Au déclin du jour, près d’un bocage,

Gegen Abend, nächst gieng bey dem Holze

Un jeune Monsieu des plus gentis

Ein vornehmer Junker auf mich loß,

Vouloit dans un brillant équipage

Und verhieß: mit größtem Pracht und Stolze

Nous mener, s’ dit-il, jusqu’à Paris:

Mich sogleich zu führen in sein Schloß.

Il vouloit m’ donner ribans, dentelle;

Er versprach mir Gold, und viele Thaler;

Mais toujours fidele,

Doch dem Prahler

J’y avons répondu:

Ward sein Wünschen schlecht belohnt;

Laissez-nous, Monsieu, je somm’ trop sage,

Geht! Sagt ich, und lern von meiner Jugend:

Sachez qu’au Village

Daß die Tugend

J’ons de la vartu.

Noch in Schäferhütten wohnt.

Même Air. En honneur, je vous trouvons charmante,

Schönstes Kind, ihr seyd recht zum Charmiren!

Me dit un jour un petit Colet,

Schwur mir ein geschmückter Herzensdieb,

Venez, vous serez ma gouvarnante,

Kommt mit mir! Ihr sollt mein Haus regieren,

Cheux moi vous vous plairez tout à fait.

Ich hab euch mehr als mich selbsten lieb.

Tout ces biaux discours n’étions qu’ finesse,

Aber ich erkannte gleich den Schmeichler,

J’ons connu l’adresse,

Und den Heuchler

Et j’ons répondu:

Ward sein Hoffen nicht belohnt;

Laissez-nous, Monsieu, je somm’ trop sage,

Geht! Sagt ich, und lernt von meiner Jugend:

Sachez qu’au Village

Daß die Tugend

J’ons de la vartu.

Noch in Schäferhütten wohnt.

COLAS.

COLAS.

Air Noté: No. 5. Buveur fidele. De ce volage Colas répond.

Dieser Flatterhafte – Colas verlangt: [spricht]

Je veux qu’il se rengage;

Gieb dich zufrieden! Ich bin Bürge für deinen

Mais prenez un autre ton;

Wetterhahn. Er wird zurückekehren, ich stehe

Devenez un peu fine,

dir dafür. Aber du mußt dir eine andre Art

Légère & badine;

angewöhnen. Du mußt ein wenig arglistig,

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

| 203

Car c’est en badinant,

spaßhaft, und leichtsinnig werden. Ein

En folâtrant,

Liebhaber wird zur Beständigkeit nicht leichter,

Qu’on rend

als durch Scherz und Fopperey gebracht.

L’Amant Constant, Qu’on rend l’Amant constant. BASTIENE.

BASTIENNE. [spricht] o

Air Noté: N . 6. Quand je le vois,

Das wird schwer halten. Wenn ich ihn sehe,

Je pards la voix …, …

verliere ich gleich Sprache und Stimme. Ich

Mais je r’gard’ si mes manches

schau nur ob meine Aermel weiß sind, ob das

Sont blanches,

Krösel recht in die Falten gelegt, und das

Si ma collerette

Mieder gerad eingeschnüret ist, ob mein Rock

Est bien faite,

sich wohl ausbreitet, und ob Schuh und

Si j’ai lassé drêt

Strümpfe sauber sind.

Mon corset, Si mon jupon Fait bian le rond, Et si mes sabiots Sont biaux. COLAS.

COLAS. [spricht]

Air: Javote enfin vous grandissez. Pour ramener un inconstant,

Das taugt nichts, mein Kind. Einen

Il faut paroître un peu coquette,

Unbeständigen zu rechte zu bringen, muß man

Et fair’ semblant de fuir l’Amant

selbst ein wenig flatterhaft scheinen. Man muß

Que d’bonne amiquié l’on souhaite;

sich stellen vor dem Liebsten zu fliehen, wenn

Car c’est ainsi, car c’est comme ça,

man sich gleich herzliche nach ihm sehnt.

(La leçon est utile,)

Schau, das ist die rechte Art; so machen es die

Que sont lonla, farla rira,

Damen in der Stadt.

Les Dames de la Ville.

Auf den Rath, den ich gegeben, Sey mein Kind mit Fleiß bedacht.

BASTIENE.

BASTIENNE. [spricht]

Air: Des Corsaires. Je sis contente

Ja, ich werde mich bestreben,

La leçon m’ servira.

Daß man ihn zu Nutzen macht.

COLAS. S’rais-vous réconnoissante? Bastiene en lui faisant une révérence. Autant qu’il vous plaira.

COLAS. [spricht] Wirst du mir auch dankbar leben? BASTIENNE. [spricht] Ja, mein Herr, bey Tag und Nacht.

204 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID

COLAS à part.

COLAS. [spricht]

Ah! Qu’elle est innocente!

(O die Unschuld!) Dir zum Glücke,

à Bastiene. R’pernais vot’ belle himeur,

Meide jetzt die finstern Blicke!

Ma pauv’ petite,

Nimm ein muntres Wesen an!

Vous en serais quitte Pour la peur. BASTIENE. Adieu, Monsieur.

BASTIENNE. [spricht] Gut, ich thu so viel ich kann.

SCENE III.

Dritter Auftritt

Colas, seul.

COLAS (allein) [spricht]

Air: De France & de Navarre. Par ma foi ce couple d’Amans

Dieses Liebhaberpaar ist wahrlich ein rechtes

Paroît une marveille;

Wunderwerk. Der gleichen Unschuld wird man

On ne sauroit trouver qu’au champs

schwerlich anderswo, als auf dem Lande

Innocence pareille.

finden. In der Stadt ist man schon im

L’esprit en tout autre pays

Weisbändel witziger, und die Tochter weiß oft

Brille dès la lisiere;

mehr als die Mutter.

Fillete à cet âge, à Paris, En revend à sa mere. Air: Je vous apperçus l’autre jour. Mais j’apperçois venir ici

Doch, da kömmt unser Liebhaber; dieser

Notre Amant débonnaire:

angenehme Gegenstand, welchen man den

Eh v’la pourtant l’mignon joli,

Junkern vorziehet. Ihr eingebildeten

Qu’aux Messieux on préfère!

Herzensbezwinger! Ihr gespreitzten

Ferluquets, si fiars, si pinpans,

Jungfernknechte! Das ist ein treffliche Lection

Cette leçon est bonne;

für euch. Eure Schönen laufen den Bauern

Cheux vos bell’ on voit des manans,

nach, da man euch, gnädige Herren, kaum über

Quand pour vous gnia personne.

die Achsel anschauet.

SCENE IV.

Vierter Auftritt

BASTIEN, COLAS.

COLAS, BASTIEN.

BASTIEN.

BASTIEN.

Air: Si le Roi m’avoit donné.

Air de m’avoir instruit de mon bien.

D’ M’avoir instruit de mon bian,

Großen Dank dir abzustatten,

Je vous remarcie.

Herr Colas, ist meine Pflicht;

Non, sans Bastiene, il n’est rian

Du zertheilst des Zweifels Schatten

De biau dans la vie:

Durch den weisen Unterricht;

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

Tout cet or qu’on me promet,

| 205

Ja, ich wählte die zum Gatten,

J’vous l’envoye au barniquet:

Die des Lebens Glück verspricht.

J’aime mieux ma mie,

In den angebothnen Schätzen

O gué!

Ist für mich kein wahr Ergetzen;

J’aime mieux ma mie.

Bastiennens Lieblichkeit Macht mich mehr, als Gold, erfreut.

COLAS.

COLAS. [spricht]

Air: Adieu paniers Vendanges sont faites. Las d’aller conter des fleurettes,

Es freuet mich, daß du endlich zu dir selber

Vous vous rendais à mes avis;

kömmst; daß du der leeren Schmeicheleyen satt

Trop tard vous les avais suivis,

bist, und mein Zureden einmal statt finden

Adieu paniers, Vendanges sont faites.

lässest. Doch du folgest meinem Rathe zu spät; das Weinlesen ist schon vorbey.

BASTIEN.

BASTIEN. [spricht]

Air: Je n’ lui je n’ lui donne pas. Comment donc on a vendangé?

Wie? Das Weinlesen ist vorbey?

Que voulais-vous me dire?

Was will das sagen?

COLAS. Que l’on te donne ton congé. BASTIEN.

COLAS. [spricht] Man hat dir den Abschied gegeben. BASTIEN. [spricht]

Allais, vous voulais rire.

Geh! Du hast Lust mich zu foppen. Meine

Pour m’ôter son p’tit cœur, hélas!

Bastienne sollte mir ihr kleines liebes Herz

Ma Bastiene est trop tendre:

entziehen? Nein, dazu ist sie zu zärtlich. Sie

A d’auter all’ ne l’ donn’ra pas. COLAS. Mais le laissera prendre.

giebt es gewiß keinem andern. COLAS. [spricht] Wenn sie es nicht giebt, so läßt sie sichs doch nehmen.

BASTIEN.

BASTIEN.

Air: A table je suis Grégoire & Tyrcis sur

Air: bon, bon, vous me contes une fable.

le gazon. Bon, bon, vous m’ contais eune Fable:

Geh! Du sagst mir eine Fabel;

Si Bastiene aime, c’est moi;

Bastienne trieget nicht.

Pour me fiare un tour semblable,

Nein, sie ist kein falscher Schnabel,

Alle est de trop bonne foi.

Welcher anders denkt, als spricht.

Quand je la trouvons gentille,

Wenn mein Mund sie herzig nennet,

A m’trouve itout biau garçcon,

hält sie mich gewiß für schön,

Et Bastiene n’est pas fille

Und wenn sie vor Liebe brennet,

A dire un oui pour un non.

Muß die Glut von mir entstehn.

206 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID Même Air. Si j’allons dans la Prairie,

Ihre Gunst mir zu entdecken,

All’ me guet’ venir de loin;

Spart sie keine Näckerey;

Pour me fair’ queuqu’ tricherie,

Schließt bald hinter Zaun und Häcken;

All’ se gliss’ darrier’ el foin;

Schreckt mich dann durch ihr Geschrey;

All’ me jette de la tarre;

Oder wirft mit kleinen Steinen;

Et queuq’aut’fois aussi, da,

Oder stößt mich in den Teich;

All’ me pousse dans la marre:

Oder zwickt mich bey den Beinen.

Ce sont des preuves que ça.

Sag! Ist das kein Liebesstreich?

Même Air. Pis ce jour qu’à la main chaude,

Wenn wir manchmal Plumpsack spielen,

On jouoit sur le gazon,

klopft sie keinen so, wie mich;

Moi qui ne sis pas un glaude,

Bald muß ich Haarrüpfel fühlen;

Je m’y boutis sans façon;

Bald trifft mich ein Nadelstich;

All’ toujours folle & maleine,

Bald stielt sie mir Kramp und Hacke;

Pour me divartir un brin,

Bald erwischt sie mich beym Ohr;

Courut tôt prendre eune épine,

Leucht aus so viel Schabernacke

Et m’en tapit dans la main. COLAS.

Nicht die helle Liebe vor? COLAS. [spricht]

Air: Oh, oh, oh, oh. Mon ami, ta Maîtresse,

Das kann seyn; aber genug, daß deine Geliebte

A fait un autre Amant;

einen andern Anbether hat. Er ist höflich, artig,

Il est plein d’gentillesse,

reich, und liebenswürdig.

Il est poli, charmant. BASTIEN.

BASTIEN. [spricht]

Oh, oh, ah, ah.

Ey der Henker!

Et d’où vient donc? Comment cela?

Wie sollte das zugegangen seyn?

Air: Etes-vous de Chantilli. Mais d’où sçavez-vous ceci? COLAS. De mon art. BASTIEN. De votre art?

Und woher weißt du das? COLAS. [spricht] Aus meiner Kunst. BASTIEN. [spricht] Aus deiner Kunst?

Oh, oh, ah, ah. Et d’où vient donc? Comment cela? COLAS. Oui. BASTIEN. En c’ cas la je d’ vons vous croire.

COLAS. [spricht] Freylich. BASTIEN. [spricht] Soll ich es glauben? Ist das wahr?

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

COLAS. Vrament mon Compere voire, Vrament mon Compere oui. BASTIEN.

| 207

COLAS. [spricht] Leider! Es ist nur allzuwahr. Armer Nachbar! Du wirst es schon erfahren. BASTIEN. [spricht]

Air: Vla c’que c’est qu’ d’aller au bois. Ah jarnigué! Qu’ j’avons d’ guignon. COLAS.

O Potztausend! wie bin ich so unglücklich! COLAS. [spricht]

Vla c’ que c’est qu’’ d’êt’ biau garçon.

Da siehest du, daß es nicht allzeit gut ist, ein

On veut avoir tout à foison,

schöner Knabe zu seyn. Man will Liebsten, und

Nombre de Mîtresses,

Reichthümer, alles im Überflusse haben; und

Biaucoup de richesses;

ein einziger guter Tag, ziehet oft hundert böse

Mais un biau jour tout fait faux bon,

nach sich.

Eh vla c’ que c’est qu’ d’êt’ biau garçon. BASTIEN.

BASTIEN. [spricht]

Air: Que de bi, que de bariolets. L’aventure est cruelle!

Der Zufall ist schrecklich für mich. Ich bin

J’en demeuer tout stupéfait.

darüber aus mir selbst – Liebster Herr Colas!

Pour ravoir cette belle,

Weißt du kein Geheimniß, meine geliebte

Saurais-vous un secret!

Bastienne wieder zu bekommen?

COLAS.

COLAS. [spricht]

Air: J’ai rencontré ma mie. Ah, mes pauvres enfans

Arme Kinder! ihr dauert mich. Ich sehe nichts

J’ vous plains fort;

lieber, als wenn die Leute miteinander

Car j’aime que les gens

verstanden sind. Warte einen Augenblick! Ich

Soient d’accord.

will mich in meinem Zauberbuche nach deinem

Tout d’abord,

Schicksal erkundigen.

Dedans ce grimoire, Je sçaurai ton fort. Il tire de sa besace un livre de la Bibliothéque

Er ziehet aus seinem Schnappsacke ein Buch her-

bleüe, & fait en lisant plusieurs contorsions qui

vor, und machet im währenden Lesen allerhand

font enfuir Bastien.

Gaukeleyen, worüber Bastien in Furch geräth.

Manche,

Tätzel, Brätzel,

Planche,

Schober, Kober,

Salme,

Indig, Windig,

Palme,

Kuffer, Puffer,

Vendre,

Firfar, Kirkar!

Cendre,

Hosper, Hiper, ho, hi, to!

D’jo

Mirlar Vistan li, la, lo!

Lo,

Darlar Bußlan quid pro quo.

208 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID Mecre, Necre, mir lar lun brunto Tar la vistan voire, Tar lata qui plo. BASTIEN.

BASTIEN (furchtsam) [spricht]

Air: Ton himeur est Catherine. C’est-i-fait minon minette? COLAS.

Ist die Hexerey zu Ende? COLAS. [spricht]

Oui, oui, tu peux t’approcher;

Ja, tritt nur näher! Tröste dich! du wirst deine

Tu va voir ta Bergerette.

Schäferinn wieder sehen.

BASTIEN. Mais pourons-je la toucher? COLAS.

BASTIEN. [spricht] Aber darf ich sie auch anrühren? COLAS. [spricht]

Qui si tu n’ fais pas la bête,

Ohne Zweifel, wenn du kein Hackstock bist.

Si tu prends un air galant,

Geh! und nimm dein wahres Glück besser in

Et si dans le tête à tête

Acht, als bisher.

Tu n’est pas un ignorant. Air: Ah! Maman, que je l’echapai belle. L’amour veut que l’on soit téméraire, Il faut lutiner, Papilloner Près d’ sa Bargere. Quoiqu’ souvent on fass’ tant la sévére, Morguene, un tendron Veut qu’un garçon soit sans façon. Quand on trouve sa belle au bocage, N’ faut pas fair’ lesot Ni le magot, Faut du langage. La Fillette rougit, c’est l’usage; Fille qui rougit Tout bas approuve ce qu’on dit. Du discours on passe au badinage, La belle tout net Donne un souflet, Car c’est l’usage; A prendre un baiser ça vous engage; Petit à petit

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

| 209

L’Amour ainsi fait son profit. SCENE V.

Fünfter Auftritt.

BASTIEN, seul.

BASTIEN (allein)

Air: Et j’y pris bian du plaisir.

Air: Je vais donc, de ma Brunette.

J’Allons donc de ma Brunette

„Meiner Liebste schöne Wangen

Voir encor les doux appas?

Will ich froh aufs neue sehn;

J’aimons bian mieux c’te poulette

Bloß ihr Reitz stillt mein Verlangen,

Que tous les plus biaux ducats,

Gold kann ich um sie verschmähn.

Adieu grandeur & richesse

Weg mit Hoheit! weg mit Schätzen!

D’ vot’ éclat j’ pardons l’ souv’nir,

Eure Pracht wirkt nichts bey mir;

Sans vous, près d’ ma cher’ maîtresse,

Nur mein Mädchen kann ergötzen

J’ons cent fois bian pus d’plaisir.

Hundertmal noch mehr als ihr.

Même air. Ces Messieurs de la finance

„Wuchrer, die, bey stolzen Trieben,

Qui sont envieux de tout,

Bloß das Seltne sonst entzückt,

Aimions tant son innocence,

Würden ihre Unschuld lieben,

Qu’ils voulions l’avoir itou:

Schätzten sich durch die beglückt;

Sarviteur à leu puissance,

Doch umsonst! Hier sind die Gränzen,

Ailleurs ils pourront choisir;

Sie ist nur für mich gemacht;

Ils n’auront qu’eun’ réverence,

Und mit kalten Reverenzen

Et nous, j’ aurons tout l’plaisir.

Wird der Reichthum hier verlacht.

SCENE VI.

Sechster Auftritt

BASTIEN, BASTIENE.

BASTIEN, BASTIENNE.

BASTIEN.

BASTIEN.

Air Noté: No. 7 Du Devin de Village. LA voici… tôt décampons…

Da ist sie … Soll ich ihre Blicke fliehen?

Si j’fuyons, je la pardons.

… Nein, wenn ich davonlaufe, verliere ich sie ganz und gar.

BASTIENE. Il me voit l’ingrat. Ah! le cœur me bat. BASTIEN. Pargué je n’savons Ce que je f’rons. BASTIENE.

BASTIENNE. Der Undankbare! Er hat mich gesehen. Ach! Wie klopft mir das Herz. BASTIEN. Potz tausend! Ich weiß nicht was ich thun oder lassen soll. BASTIENNE.

Sans le faire exprès,

O weh! ohne dran zu denken, komme ich ihm

Me voilà tout près.

auf den Hals.

210 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID BASTIEN.

BASTIEN.

Parlons l’y tout net,

Es sey gewagt! Ich will frey mit ihr reden. …

Risquons le paquet:

Sieh da, bist du zugegen? Schau, ich bin auch

Ah! c’est vous! vous vla!

da … Aber wie? Warum so beduft, Was fehlt

Dam’, itou me vla, da.

dir? Was machst du für Gesichter?

Air: Que fais tu là bas. Bastiene vous rèvais, Et qu’est c’ qu’ ous avais; Est-c’que vous m’fait’ la meine. BASTIENE. Je n’vous r’connois pas,

BASTIENNE. [spricht] Wer bist du? Geh! Ich kenne dich nicht.

Non, Bastien. BASTIEN.

BASTIEN. [spricht]

Hélas!

Was sagst du! Ach, Bastienne, betrachte mich

R’gardais moi donc Bastiene.

doch! Kennest du denn deinen Bastien nicht mehr? BASTIENNE. [spricht] Du, wärest mein Bastien? O nein, der bist du nimmer.

BASTIENE.

BASTIENNE.

Air: Les Vendangeuses.

[singt; Regie unterlegt deutschen Text]

Fidele,

„Er war mir sonst treu und ergeben,

Sans moi, mon cher Bastien,

Mich liebte Bastien allein,

N’aimoit rien;

Mein Herz war einzig sein Bestreben,

Mon cœur étoit tout son bien

Nur ich, sonst nahm ihn niemand ein.

I’ m’trouvoit si belle!

Das schönste Bild entzückt, ihn nicht,

I’ m’trouvoit si belle!

Sein Blick war bloß auf mich gericht,

Et les plus brillans appas

Ich konnt vor andern allen

Ne le touchoient pas,

Ihn reitzen, ihm gefallen.

Me plaire,

Auch Damen wurden nicht geschätzt,

C’étoit sa seule affaire,

Die oft sein Blick in Glut gesetzt;

Dans tous ses discours

Wenn sie Geschenke gaben,

I’ n’ parloit que d’ ses chers amours,

So mußt ich solche haben.

Toujours.

Mich liebte Bastien allein;

Tredame!

Doch nun will er sich andern weihn.

Pour attendrir son ame,

Vergebens ist jetzt meine Liebe;

Si queuque grand’ Dame

Mein Liebster, der sich mir entreißt,

Pour lui plein’ de flâme,

Verbittert sie sonst süssen Triebe,

Lui f’ fait un présent,

Und wird ein Flattergeist.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

| 211

I’ m’loffroit à l’instant. Fidele, Sans moi, mon cher Bastien N’aimoit rien; Mon cœur étoit tout son bien. Envain je l’appelle, Envain je l’appelle, Je ne’vois au lieu d’mon amant Qu’un inconstant. BASTIEN.

Bastien. [spricht]

Air: C’est une excuse. J’ voyons bian c’qui peut vous fâcher,

O, ich sehe schon, was dich verdrießt. Du

C’est qu’vous croyais qu’jons pus changer,

glaubtest, ich habe mich verändert; allein du

T’nez c’est c’qui vous abuse:

irrest. Es war ein kleiner Hexenschuß von

C’étoit un sor de queuque esprit;

einem gewissen Poltergeiste; aber der wackere

Mais le bon Colas la détruit.

Colas hat ihn schon vertrieben.

BASTIENE. Mauvaise excuse.

BASTIENNE. [spricht] Leere Entschuldigung!

Air: Je suis malade d’amour. Si vous aviais un sort, eh bien,

Wenn du verhext warest, so bin ich verzaubert;

Pareil malheur m’obsede;

und bey mir ist alle Kunst des guten Colas

Mais le bon Colas n’y peut rien,

vergebens. Ja, Bastien, für ein Uebel wie das

Et tout son art y céde;

meinige, ist gar kein Mittel.

Bastien, pour un sort comme le mien Il n’est point de remede. BASTIEN.

BASTIEN. [spricht]

Air: Mon Papa tout la nuit. Mariais, mariais, mariais vous,

Heurathe! Der Ehestand heilet alle Zaubereyen.

Ça garit les sorcileges,

Das beste Mittel ist ein Mann.

Mariais, mariais, mariais vous Rian n’est si bon qu’un Epou. BASTIENE.

BASTIENNE. [spricht]

Air Noté: No. 8. J’ai trouvé l’Allouete. On n’a dans le mariage

Ein trefflicher Rath! Der Ehestand für sich

Que du souci,

selbst macht schon lauter Sorgen. Kömmt

Quand on prend un volage

vollends ein treuloser Mann dazu, so werden

Pour son mari,

Noth und Kummer unerträglich. Und das sollte

C’est un trouble ménage,

ein Heilungsmittel seyn? O pfuy!

212 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID Oh, oh! Est-ce l’moyen d’ êt’ sage, Oh que nani. BASTIEN. [spricht] Gut; weil zu so eigensinnig bist, so thue, was du willst. BASTIEN.

BASTIEN.

Air: Raisonnez ma musette.

[singt; Text anzupassen]

Puisqu’ous êt’ si sauvage,

„Geh hin! Dein Trotz soll mich nicht

A la Dam’ du village

schrecken;

J’nous allons drès ce jour

Ich lauf aufs Schloß, das schwör ich dir,

Rendre amour pour amour.

Und will der Edelfrau entdecken: Mein Herz gehöre gänzlich ihr. Läßt sie, wie sonst, sich zärtlich finden, will ich mich gleich mit ihr verbinden.

BASTIENE.

BASTIENNE.

Même air. Moi j’courons à la Ville;

Ich will mich in die Stadt begeben,

C’est-là qu’i’ m’ s’ra facile.

Anbether treff ich da leicht an;

D’avoir cent favoris,

Wie eine Dam will ich dort leben,

Comme’ les Dam’ de Paris.

Die hundert Herren fesseln kann; Und kann ich einen Schönen finden, Will ich mich gleich mit ihm verbinden.

BASTIEN.

BASTIEN.

Même air. J’ na j’rons dans l’opulence,

Ich werd in Gold und Silber prahlen;

E un’ maîtress’ d’importance

Und eine Liebste, voller Pracht,

Au gré de mes désirs,

Wird die Gewogenheit bezahlen,

Va payer mes plaisirs.

Wodurch mein Blick sie glücklich macht. Mir ihre Schätze zu verbinden, Soll sie mich gar nicht spröde finden. Den Schönen sind die Kostbarkeiten In Städten zu erwerben leicht; Es braucht, um selbe zu erbeuten, Nichts, als daß man sich freundlich neigt. Mir reiche Herren zu verbinden, Soll man mich stäts sehr höflich finden. Beyde thun, als wollten sie fortgehen, kommen aber immer zurück.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

| 213

BASTIENE. Même air. A Paris la richesse S’ prodigue à la jeunesse, Et pour en ramasser, Tien, l’on n’a qu’qu’à s’baisser. Ils font semblant de s’en aller & se rencontrent comme ils reviennent. BASTIENE.

BASTIENNE.

Air: Dans un détour. Quoi, vous voila!

Siehe da! Bist du noch hier? Ich dachte du

Mais j’vous croyois bien loin déjà.

wärest schon über alle Berge.

BASTIEN.

BASTIEN.

Vraiment, l’on s’en va,

Ich bin eben im Begriffe, meinen Abmarsch zu

J’nous apprêtons pour cela,

nehmen.

La. BASTIENE.

BASTIENNE.

Vous n’aurais sûrement

Vermuthlich kostet es die wenig Mühe, mich zu

Nulle peine a me fuir, inconstant.

fliehen, Treuloser!

BASTIEN. Je vous f’rons du plaisir Drès que j’nous dispos’rons à partir. BASTIENE.

BASTIEN. Vermuthlich bist du sehr vergnügt, daß ich gefaßt bin, fortzugehen? BASTIENNE.

Vous agirais,

Allerdings, mein Herr! Sie können nach ihrem

Monsieur, ainsi, comm’ vous voudrais.

Belieben handeln.

BASTIEN. Parlais vous tout d’ bon? Dois-je rester ici? BASTIENE. Oui… Non. BASTIEN.

BASTIEN. Ist das dein Ernst? … Geh! Sag! Soll ich bleiben? BASTIENNE. Ja … Nein, nein. BASTIEN. [spricht]

Air Noté: No. 9. Un brave gentiz-homme. Ma peine vous rend fiere;

Dein Trotz, vermehrt sich durch mein Leiden?

Mais tout de c’pas,

Wohlan! den Augenblick

J’ m’en vas,

Hol ich, zu deinen Freuden,

Morgué, j’ m’en vas

Mir Messer, Dolch und Strick …

214 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID Me j’ter dans la riviere; Vous n’ me retenais donc pas? BASTIENE. Ah! Je n’ m’en souci’ guere.

BASTIENNE. [spricht] Viel Glück! BASTIEN. [spricht] Ich geh mich zu erhenken … BASTIENNE. [spricht] Viel Glück. BASTIEN. [spricht] Ich lauf, ohn alle Gnad, Im Bach mich zu ertränken … BASTIENNE. [spricht] Viel Glück zum kalten Baad!

Bastien, à part.

BASTIEN. (für sich) [spricht]

Air: L’Amour me fait lon lan la. J’ serions pourtant trop bête

Und sollte ich wohl ein solcher Narr sein,

D’aller là nous plonger.

mich ins Wasser zu stürzen?

Bastiene. Qu’est-c’ donc qui vous arrête? Bastien. Je n’ scavons pas nâger,

BASTIENNE. [spricht] Was ists? Was hält dich denn auf? BASTIEN. [spricht] Nichts. Ich überlege nur, daß ich ein schlechter

Et pis avant d’être mort,

Schwimmer bin; und dann, daß ich vor meinem

J’ veux vous parler encor.

Ende noch mit dir reden muß. BASTIENNE. Mit mir reden? Nein, ich höre dich nicht mehr.

BASTIENE.

BASTIENNE.

Air Noté: No. 10. Les Niais de Sologne.

Air: Non infidele, cours à ta belle.

Non, infidele,

Geh, Herz von Flandern!

Cours à ta belle

Such nur bey andern

Soins superflus,

Zärtlich verliebt Gehör!

Non, Bastien, je n’ vous aime plus.

Denn dich lieb ich nicht mehr.

BASTIEN.

BASTIEN.

A la bonne heure,

Wohl ich will sterben;

Tu veux que je meure,

Denn zum Verderben

Eh bian, je vais…

Zeigt mir dein Haß die Spur:

Du Hamiau sortir pour jamais. BASTIENE. L’ingrat me quitte! BASTIEN.

Drum laß ich Dorf und Flur. BASTIENNE. Falscher! du fliehest? BASTIEN.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

Oui, tout de suite;

Ja, wie du siehest.

Voudrois tu donc

Weil dich ein andrer nimmt,

Que j’allions comm’ ça sans façon,

Ist schon mein Tod bestimmt.

Etre de ton joli Monsieur,

Ich bin, mir selbst zur Quaal,

Le sarviteur? BASTIENE. Bastien, Bastien. BASTIEN. Vous m’appellais? BASTIENE.

kein Knecht von dem Rival. BASTIENNE. Bastien! Bastien! BASTIEN. Wie? Ruffst du mich? BASTIENNE.

Vous vous trompais.

Du irrest dich.

Quand j’ te plaisois,

In deinem Blick

Dam’, tu m’ plaisois.

Wird nun mein Glück Nicht mehr gefunden.

BASTIEN.

BASTIEN.

La belle’ merveille!

Wo ist die süße Zeit,

Quand tu maimois,

Da dich mein Scherz erfreut?

Moi, j’ taimois. ENSEMBLE. Tu me fuis, va, je te rends la pareille.

BEYDE. Sie ist anjetzt verschwunden.

Deviens volage,

Geh! Falsche Seele!

Je me dégage;

Fort! Ich erwähle

D’un autre amour,

Für meine zarte Hand

J’ prétendons tâter à mon tour:

Ein andres Eheband.

Nouviau ménage

Wechsel im Lieben

N’est qu’avantage,

Tilgt das Betrüben,

Et chacun m’ dit

Und reitzet, wie man sieht,

Que ça réveille l’appétit. BASTIEN. Quoique l’on prise… BASTIENE. Quoique l’on dise. BASTIEN. Ces grand’ Maîtresses. BASTIENE. Des grand’ richesses. BASTIEN. Si tu voulois… BASTIENE.

Zur Lust den Appetit. BASTIEN. Doch, wenn du wolltest … BASTIENNE. Doch wenn du solltest … BASTIEN. Schatz mich noch nennen … BASTIENNE Dies Herz erkennen …

| 215

216 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID Si tu voulois… ENSEMBLE.

BEYDE. (Text anzupassen)

Renouer nos amours,

Wär meine Zärtlichkeit

Je te pourois…

Aufs neue dir geweiht.

BASTIEN. Toujours aimer. BASTIENE. Aimer toujours. BASTIEN.

BASTIEN. (Text anzupassen) Ich bliebe dein allein, BASTIENNE. (Text anzupassen) Ich würde dein auf ewig seyn. BASTIEN.

Rends moi ton cœur,

Gieb mir, zu meinem Glück,

Fais mon bonheur;

Dein Herz zurück!

viens dans mes bras.

Umarme mich! Nur dich lieb ich.

BASTIENE.

BASTIENNE.

Hélas!

O Lust

Qu’il est charmant

Für die entflammte Brust!

De faire un heureux dénouement. ENSEMBLE.

BEYDE.

Va je m’ rengage,

Komm! Nimm aufs neue

Et sans partage:

Neigung und Treue!

Tian, vla ma foi.

Ich schwör dem Wechsel ab, Und lieb dich bis ins Grab. Wir sind versöhnet. Die Liebe krönet. Uns, nach dem bangen Streit, Durch treue Zärtlichkeit.

BASTIEN. Ton cher Bastien est tout à toi. BASTIENE. Ta chere Bastiene est toute à toi. Plus de langage, De varbiage, A nos dépens Ne faisons pas rire les gens.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

SCENE VII.

Siebenter Auftritt.

BASTIEN, BASTIENE, COLAS.

COLAS, BASTIENNE, BASTIEN. SCHÄFER und SCHÄFERINNEN.

COLAS.

COLAS.

Air Noté: No. 11.

Air: mes Enfans, apres la pluye

Mes Enfans, après la pluie,

Kinder! Sehr nach Sturm und Regen

On va toujours v’ nir l’ biau tems;

Wird ein schöner Tag gebracht;

Rendais grace à ma Magie,

Euer Glück soll nichts bewegen,

A la fin vous vla contens:

Dankt dies meiner Zaubermacht!

Allons, mariais-vous,

Auf! auf! Gebt euch die Hand!

Votre nôce est déjà prête;

Knüpft die Seelen und die Herzen!

Allons, mariais-vous,

Auf! auf! gebt euch die Hand!

De la Fête

Nichts von Schmerzen

Je s’ rons tous.

Werd euch [je] bekannt.

On danse. Ein Schäfer und eine Schäferinn. Nachbarn! Kommt, das Fest zu feyern, Wünscht dem Brautpaar Heil und Glück! Bringt bey Dudelsack und Leyern Händ und Füsse ins Geschick! Auf! auf! Holet den Kranz! Laßt uns jauchzen, laßt uns springen! Auf! auf! holet den Kranz! Nach dem Singen Erfolget der Tanz. COLAS, BASTIEN, BASTIENE.

BASTIENNE, BASTIEN.

Même air. Allons gai gens de Village,

Lustig! Preist die Zaubereyen

Chantais les Epoux nouviaux;

Von Colas, dem weisen Mann!

Pour fête not’/leur Mariage,

Uns vom Kummer zu befreyen

Faisons/Faites claquer nos/vos sabiots.

Hat er Wunder heut gethan.

Sautons, faisons/Sautez, faites fracas;

Auf! auf! stimmt sein Lob an!

Chantais Bastien & Bastiene;

O zum Geyer,

L’Hymen, grace à Colas,

Welch trefflicher Mann!

Nous/Les enchaine Dans ses las.

| 217

218 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID LE CHŒUR.

ALLE.

Sautons, faisons fracas,

Auf! auf! stimmt sein Lob an.

Chantons Bastien & Bastiene;

Er stift diese Hochzeitsfeyer;

L’Hymen, grace à Colas,

Auf! auf! stimmt sein Lob an!

Les enchaîne

O zum Geyer,

Dans ses las.

Welch trefflicher Mann.

BASTIEN, BASTIENE. Même air. Vive la Sorcellerie Du fameux Sorcier Colas; Il Falloit tout’ sa Magie Pour nous tirer d’embarras. BASTIENE. Il viant d’ rapatrier Bastien avec sa Bastiene. BASTIEN. Il viant d’ nous marier; Jarniguene, Queu Sorcier! LE CHŒUR. Il viant d’ rapatrier Bastien avec sa Bastiene; Il viant d’ les marier, Jarniguene, Queu Sorcier! FIN.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

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Illustrationen Abbildung 1: Erste Seite der handschriftlichen Partitur.

Quelle: Cod. Guelf. 220 Mus. Hdschr., mit freundlicher Genehmigung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.

220 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID

Abbildung 2: Szenen aus der Oper Les Amours de Bastien et Bastienne mit Studierenden der Anton Bruckner Privatuniversität Linz.

Quelle: Fotos von Claire Pottinger-Schmidt.

„L ES A MOURS DE B ASTIEN ET B ASTIENNE“

Abbildung 3: Szenen aus der Oper Les Amours de Bastien et Bastienne mit Studierenden der Anton Bruckner Privatuniversität Linz.

Quelle: Fotos von Claire Pottinger-Schmidt.

| 221

222 | CLAIRE G ENEWEIN, P ETER SCHMID

L ITERATUR Blank, Hugo: „J. J. Rousseaus Devin du village und sein Weg über Favart zu Mozarts Bastien und Bastienne“, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft Nr. 18 1998, S. 11–122. Brown, Bruce A.: Gluck and the French Theatre in Vienna, Oxford: Clarendon Press 1991. Tyler, Linda: „Bastien und Bastienne: The Libretto, Its Derivation, and Mozart’s Text Setting“, in: Journal of Musicology, VIII (4) 1990, S. 520–552. Zinzendorf, Karl Graf von: Aus den Jugendtagebüchern 1747, 1752 bis 1763, hg. von M. Breunilch/M. Mader, Wien: Böhlau 1997.

„Gl’effetti della natura tua maestra“

Zu den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Natürlichkeit‘ in der bildenden Kunst und Kunsttheorie vor 1800 1 H EINER K RELLIG

Die Beschäftigung mit den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Natürlichkeit‘ in der Bildenden Kunst und Kunsttheorie vor 1800 bringt Erstaunlichkeiten zu Tage. Zunächst ist zu konstatieren, dass der Begriff ‚Natürlichkeit‘ – im Sinne einer „Unverbildetheit“, „Ungezwungenheit“ 2 oder „Naivetät“, wie Goethe es nennt, 3

1

Es ist mir ein aufrichtiges Bedürfnis, den OrganisatorInnen des Internationalen Symposiums „Naturalezza/Simplicité: Natur und Natürlichkeit im 18. Jahrhundert und auf der Musiktheaterbühne der heutigen Zeit“, Anton Bruckner Privatuniversität, Linz, 20./21.04.2016 dafür zu danken, dass sie mich auf dieses Thema gestoßen haben. Ohne die fortschreitende Digitalisierung der Quellentexte durch Institutionen wie das Münchener Digitalisierungszentrum und The Getty Research Institute, ohne Eighteenth Century Collections Online, Europeana Collections , Gallica der Bibliothèque nationale de France , die Architektur und Gartenkunst – digital der Universitätsbibliothek der Universität Heidelberg und ohne Suchmaschinen wie die von und wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

2

Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Redaktion: Dr. Alexander Geyken, Dr. Lothar Lemnitzer, o. J., (Aufrufdatum: 22.03.2017) mit Link auf Belegstellen.

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dem das „Künstliche […] gerade entgegengesetzt“ ist 4 – in den Quellentexten der Kunstliteratur vor 1800 praktisch absent ist. Das Erstaunlichste aber wohl ist, dass in verschiedenen modernen Kunstlexika Lemmata nicht nur zum Begriff ‚Natürlichkeit‘, sondern zu dem der ‚Natur‘ selbst ganz fehlen – gleichsam, als sei er vollständig aus sich verständlich und nicht der weiteren Reflektion bedürftig –, 5 obwohl der Begriff der Natur, die es nachzuahmen gilt, eines der zentralen Konzepte und eine der ersten Aufgaben der europäischen Kunst berührt: „The art of seeing Nature is the greatest object of painting, and the point to which all our studies are directed“, so formulierte es Sir Joshua Reynolds. 6 Der Begriff der ‚Natürlichkeit‘, so er sich denn überhaupt findet, aber ist von dem der ‚Natur‘, in dem in der historischen Kunstliteratur wiederum die Bedeutungsrichtung von ‚Natur-Studium‘ und ‚Natur-Nachahmung‘ ständig mitschwingt, nicht abtrennbar. Berührt wird immer auch das Verhältnis von Natur und Kunst. Francesco Algarotti, als eine derjenigen Persönlichkeiten im 18. Jahrhundert, die idealtypisch die Kulturen des Theaters und der Bildenden Künste verbinden,

3

Nach: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm auf CD-ROM und im Internet, 2017, (Aufrufdatum: 22.03.2017), Textbeispiel 2).

4

Meyers Konversations-Lexikon, 4. gänzlich umgearb. Aufl., neuer Abdr., Leipzig/Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts 1885–1890/1892, S. 8, Digitalisat in: retro|bib. Die Retro-Bibliothek|Nachschlagewerke zum Ende des 19. Jahrhunderts, 2001–17, (Aufrufdatum: 21.03.2017).

5

Die konsultierten Lexika sind: Enciclopedia universale dell’arte, Venedig: Fondazione Giorgio Cini. Istituto per la Collaborazione Culturale, 1958–67/78 (Suppl.); Jane Turner (Hg.in): The Dictionary of Art, 34 Bände, New York, NY/London: Grove/Macmillan 1996; Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft: Ideen, Methoden, Begriffe. 2., erw. u. aktual. Aufl., Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2011; Das Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, 7 Bände, Neubearb., Leipzig: E. A. Seemann, 1987–94 weist ebenfalls kein Stichwort „Natürlichkeit“ auf, schafft es aber gar, durch die Verbindung „Natur und Kunst“ das Lemma hinter demjenigen des „Naturalismus“ unterzubringen. Der Eintrag, Band 5, S. 108–10 definiert den Begriff folglich auch gänzlich nach einem modernen, nicht in den historischen Quellen fundierten Naturverständnis, das die Ergebnisse menschlichen Tuns dem „Ursprünglichen“ der Natur entgegensetzt.

6

Zit. nach Hussey, Christopher: The Picturesque. Studies in a Point of View, London: Frank Cass & Co. 1967, S. 52.

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benutzt die Begriffe ‚Natürlichkeit‘ und ‚Einfachheit‘ in engem Zusammenhang; 7 nicht aber dort, wo er über Bildende Kunst spricht. In seinen Schriften zur Bildenden Kunst ist sein Verständnis des ‚Natürlichen‘ weitgehend einer der Kunsttheorie geläufigen Begriffsverwendung im Sinne der Naturähnlichkeit verhaftet. Die Genese dieses Begriffes von ‚Natürlichkeit‘ und die Vielschichtigkeit des Begriffs von ‚Natur‘ strikt anhand der historischen Textquellen aufzuzeigen, soll wesentliches Ziel dieses Aufsatzes sein. Der Versuch, absolute Vollständigkeit zu erlangen und die gesamte kunsthistorische Sekundärliteratur zum Konzept der ‚mimesis‘ zu berücksichtigen, hätte diesen Aufsatz wohl auf das Maß einer Habilitationsschrift anschwellen lassen. Ebensowenig geleistet werden konnte eine – wohl dringend notwendige – Einordnung des kunsttheoretischen Gebrauchs des Begriffs ‚Natur‘ in die allgemeine Ideengeschichte.

L EXIKALISCHE D EFINITIONEN Definitionen des Begriffes ‚Natur‘ und Beispiele seines Gebrauches in der Literatur finden sich zunächst in Wörterbüchern. Unter ‚Natur‘ wird nach dem ab 1612 erschienen Vocabolario degli Accademici della Crusca sowohl die äußere Erscheinung als auch das hinter ihr liegende, formende Prinzip verstanden. 8 Erst in der dritten, vierbändigen Ausgabe von 1692 erscheint auch eine voce „Naturalezza“ (‚Natürlichkeit‘), die aber den Begriff nicht definiert. 9 Das erste Wörterbuch des Wortschatzes der Künste in Italien, Filippo Baldinuccis Vocabolario toscano dell'arte del disegno von 1681 setzt die Kenntnis dessen, was ‚Natur‘ ist, voraus und beschreibt als ‚natürlich‘ schlicht das, was der Natur

7

Algarotti, Francesco: „Saggio sopra l’opera in musica“, in: ders.: Opere. Ed.

8

Vocabolario degli Accademici della Crusca, Venedig: Giouanni Alberti 1612, S. 550f;

novissima, Venedig: Palese, Band 3, 1791, S. 346f. Il Vocabolario degli Accademici della Crusca. Edizione elettronica, hg. von Accademia della Crusca – Scuola Normale Superiore di Pisa, o. J. , Suchworte: „Natura“ u. „Naturale“ (Aufrufdatum: 30.03.2016). 9

Vocabolario degli Accademici della Crusca, in questa terza impressione nuouamente corretto, e copiosamente accresciuto [...], Florenz: Accademia della Crusca 1691, Band 3, S. 1077; s. die digitale Edition: Lessicografia della Crusca in Rete, hg. von L’Accademia della Crusca, 2000–2004, , Suchwort: „Naturalezza“ (Aufrufdatum: 23.03.2017).

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entspricht, 10 nach der Natur gemacht ist, um dann eine Nebenbedeutung des Begriffs ‚naturale‘, als das ‚Natürliche‘ aufzuweisen, die wiederum mit allen heutigen Wortbedeutungen wenig gemein zu haben scheint, aber ihre innere Logik hat: Das Substantiv „il naturale“ bezeichnete im künstlerischen Sprachgebrauch demnach auch das Modell, das dem Künstler zur Verfügung steht. 11 Aus beidem zusammen erschliesst sich, was seit Zeiten die Hauptbedeutung des kunsttheoretischen Begriffes ist: die Naturnachahmung und die Naturgleichheit, bzw. -ähnlichkeit des Kunstwerkes. Zu sagen, etwas sei ‚fatto dal naturale‘, bedeutet demnach schlicht nach der Natur, d. h. der äußeren Wirklichkeit angefertigt, gezeichnet, geformt und ‚al naturale‘ dieser Wirklichkeit entsprechend und der Natur der dargestellten Sache weitgehend ähnelnd. 12 Da es aber keine spezifisch künstlerisch-kunsttheoretisch fixierte Definition der Begriffe ‚Natur‘ und ‚Natürlichkeit‘ gibt, soll im Folgenden versucht werden, ihrem historischen Gebrauch in für Künstler und die Bildende Kunst relevanten Quellentexten nachzuspüren und daraus rückzuschließen auf das Bedeutungsspektrum, das diese Begriffe umfassten. Die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert unterteilt den Begriff ‚Natur‘ in verschiedene Unterbegriffe, darunter „Nature, (Philos.)“, „Nature, lois de la“ – beide verfasst von Jean-Baptiste le Rond d’Alembert –, und besonders: „Nature, la, (Poésie.)“ sowie „Nature belle, la, (beaux Arts.)” – beide von Louis de Jaucourt. 13 Mit ausdrücklichem Bezug auf Aristoteles und den Naturphilosophen Robert Boyle, der schon früh die vielen Bedeutungsebenen betont, welche die

10 Baldinucci, Filippo: Vocabolario toscano dell’arte del disegno […], Florenz: Franchi 1681, S. 105/6; digitale Edition: Hg.: CRIBeCu-Scuola Normale Superiore, 1691/© 2003, : „Naturale add. Di natura, secondo natura. Lat. Naturalis.“ (Aufrufdatum: 29.03.2016). 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Diderot, Denis/d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Neufchastel: Samuel Faulche & Compagnie 1751–80, Band 11, 1765, S. 40–44, Nachdruck Stuttgart/Bad Cannstadt: Friedrich Frommann Verlag (Günther Holsboog) 1966/67; Robert Morrissey (General Editor)/Glenn Roe (Assoc. Editor): The ARTFL Encyclopédie (Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Denis Diderot & Jean le Rond d’Alembert), hg. von der University of Chicago, Department of Romance Languages and Literatures, (Aufrufdatum: 31.03.2016).

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Benutzung des Terminus erschweren, 14 fasst sie unter diesen Stichwörtern alle Wortbedeutungen zusammen, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten in die kunsttheoretischen Diskussion im Europa der Zeit einfließen. Diese sind: •



• •



das System („Système“) der Welt, d. h. die Gesamtheit aller erschaffenen Dinge, nach Boyle besser beschrieben mit dem Teminus Welt oder Universum, die einzelnen, geschaffenen oder nicht geschaffenen, körperhaften oder geistigen Dinge der Welt, das Sein („Etre“) – man könnte auch sagen: die Dinge der äusseren Wirklichkeit, das Wesen der Dinge oder eines einzelnen Dings in der Welt („Essence“), die Ordnung und der Lauf der Dinge, sowie das dahinterliegende Prinzip, die Bewegungskraft und ihr Grund (nach Aristoteles: „principium & causa motus & esus“) sowie die Möglichkeiten und Eigenschaften eines Körpers. 15

In der historischen Kunstliteratur scheinen alle diese Begriffsbedeutungen mehr oder weniger ungeklärt, unreflektiert und undefiniert zusammenzuspielen. Besonders von Bedeutung aber sind dort: die äußere Erscheinung der Dinge in der Welt, die es nachzuahmen gilt, und der Charakter, die Essenz einer Sache, einer Person, eines Künstlers, auch: eines Affekts. Darüberhinaus häufig auch die natürliche Anlage und Begabung, die Talente und Möglichkeiten einer Person, einer Sache oder eines Ortes. Die umfassendste Definition dessen, was Natur für die Bildende Künste bedeutete, aber gibt in der Encyclopédie der Artikel „Nature, la, (Poésie.)“. Er unterscheidet ausdrücklich drei Welten, aus denen der Dichter – und entsprechend der Bildende Künstler – wählen und seine poetische Wirklichkeit schaffen könne: 1. 2. 3.

die einfache Wirklichkeit des derzeit in der Welt Existierenden die Geschichte, die gewesene, überlieferte Wirklichkeit, die auch die der Fabeln und der älteren Poesie umfasst, und Alles, was nach Möglichkeit existieren könnte, aber vielleicht nie existieren wird 16 – „le monde possible“, die mögliche Welt, die – so ist hinzuzufügen – in letzter Konsequenz auch die Utopie in sich birgt.

14 Boyle, Robert: A Free Enquiry into the Vulgarly Receiv’d Notion of Natur, made in an essay, address’d to a friend, London: John Taylor 1686. 15 Diderot/d’Alembert (Hg.), Encyclopédie, S. 40f: „Nature, (Philos.)“; dort auch das Zitat nach Aristoteles.

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Aufgabe aller Künste ist es, die Natur verschönt und perfektioniert nachzuahmen („imite[r] la belle nature“), oder, wie im heutigen Deutsch treffender gesagt werden kann: darzustellen. 17 In diesem Sinne überhebt sich die Kunst über die Natur, 18 sieht gleichsam von Aussen auf sie. Dabei besteht kein Zweifel, dass die Dinge der Natur, die es für den Bildenden Künstler nachzuahmen gilt, aus allen drei Sphären der wirklichen, der historischen und der möglichen Welten entnommen sein können, die – ganz im Sinne eines ‚ut pictura poësis‘ – auch der Poesie ihre Themen geben: in den Gattungen des Porträts, der Vedute und des Stilllebens die wirklich in der Welt existierenden Dinge; in der von Vielen lange Zeit als die höchste Gattung der Malerei angesehenen Historienmalerei, das in der Natur Gewesene, die antike, die christliche und die moderne Geschichte; und letztlich, etwa im Capriccio, auch das nicht wirklich in der Welt Seiende, jene phantastische Welt der Dinge, die möglich sind, aber nie existiert haben und nie existieren werden. Der Mensch ist dabei, ohne dass dies ausdrücklich zu betonen sei, sowohl Teil der geschaffenen, als auch der selbst schaffenden Natur („natura naturata“, „natura naturans“). 19

ARCHITEKTUR - UND M ALEREITRAKTATE DER R ENAISSANCE Diese Natur nachzuahmen, ist Hauptziel der Künste. Das ist die Binsenwahrheit aller Kunsttheorie: Schon für Leon Battista Alberti, den grundlegenden Kunsttheoretiker der frühen italienischen Renaissance, ist Kunst Naturnachahmung, und das gilt für ihn selbst für die Architektur. In seinen in lateinischer Sprache verfassten, erstmals 1482 gedruckten, aber schon vorher in Abschriften zirkulierenden Zehn Büchern über die Architektur (Abb. 1) ist die Nachahmung der Prinzipien der Natur vornehmlich kategorial gefasst, in dem Sinne, dass nicht einzelne Formen, sondern Prinzipien der Natur nachzuahmen sind (während sie bei seinem bedeutendsten architekturtheoretischen Nachfolger Andrea Palladio –

16 Ebd., S. 41f. 17 Ebd., S. 42. 18 Ebd., S. 43. 19 Ebd., S. 40. Die Vorstellung einer schaffenden Natur geht zurück bis auf Aristoteles, vgl. Joachim Ritter/ Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe & Co. 1971–2007, Band 6: Mo–O, 1984, Stichwort: „Natura naturans/naturata“, Sp. 504–509.

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Abbildung 1: Schmucktitel einer Ausgabe von Leonbattista Albertis „Zehn Büchern der Architektur“, Florenz 1550.

Quelle: Università degli Studi di Roma, Europeana , DMG LIB , Lizenz s. , Aufrufdatum: 22.01.2018.

wie zu zeigen sein wird – viel stärker abbildhaft verstanden ist). 20 Wie die Glieder eines Tieres müssen die Teile eines Gebäudes vernunftmäßig zusammengesetzt sein. 21 Ein Gebäude soll folglich in Nachahmung dieser Prinzipien der Na-

20 Hier nach der ersten italienischsprachigen Ausgabe: Alberti, Leon Battista: I Dieci Libri De L’Architettvra [...] La commodità, l’utilità, la neceßità, e la dignità di tale opera, e parimente la cagione, da la quale é stato mosso à scriuerla. Nouamente de la Latina ne la Volgar Lingua con molta diligenza tradotti, Venedig: Vincenzo Vavgris 1546. Beispiele dafür sind neben der paarweisen Anordnung (Symmetrie) der Glieder (S. 18v) die ursprüngliche Rundheit der Säule (S. 20), wie auch die Rundheit („rotondità“) der Dinge überhaupt (S. 143v), der Fakt, dass die Säule in der Architektur der Antike oben dünner sind als unten (S. 148), der Aufbau des Mauerwerks, der dem Aufbau lebender Körper mit Knochen, Fleisch und Nerven gleiche (S. 67), das Amphitheater als Nach- bzw. Abbildung des im Grunde bereits übernatürlich gedachten Himmels (S. 189). 21 Ebd., libro I., S. 18v.

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tur eine unteilbare Einheit sein wie ein Tier 22: wollte man einen Teil wegnehmen, vergrößern, verkleinern oder verschieben, ginge seine Schönheit insgesamt verloren. 23 Schönheit ist für Alberti gemäß einem vielzitierten Satz: „eine bestimmte Übereinstimmung aller Teile, [...] die darin besteht, daß man weder etwas hinzufügen noch hinwegnehmen oder verändern könnte, ohne sie weniger gefällig zu machen“ – eine unveränderbare Einheit im Ganzen also. 24 Schönheit des Kunstwerk, hier: des Gebäudes liege darin, dass es seinen natürlichen Charakter, einen unmittelbar spürbaren eigenen ‚Geist‘ habe, der der Perfektion der Natur nahekomme. 25 Natur ist demnach für Alberti vor allem die schaffende Natur, die Gestalterin aller äußeren Dinge, „ottimo Artefice di tutte le forme“ 26 – ausdrücklich benennt er die von ihr produzierten Gegenstände („corpi da la natura prodotti“) 27 –, die eine ihr eigene, nicht imitierbare ‚Naturschönheit‘ produziert, wie sie in der Maserung einiger Marmorarten zu entdecken ist, 28 und die dazu bewusst ihre Formmittel wählt. 29 Sie ist, so sagt Alberti mit Pythagoras, immer und in Allem sich selbst ähnlich – immer nur sich selbst ähnlich, wird man unterstreichen müssen. 30 Auch wenn die ‚Produkte der Natur‘ an sich für mehr oder weniger schön, oder gar hässlich gehalten werden können, 31 ist ihr Bestreben, ihre eigene Schönheit zu zeigen. 32 Sie strebt nach Vollkommenheit, das Mittel, dessen sie sich dazu bedient, ist die „conuenienza“ (Angemessen-

22 Ebd., S. 202. 23 Ebd., S. 202v. 24 Ebd., S. 118; die deutsche Übersetzung nach der Ausgabe: Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst. Unveränd. reprographischer Nachdr. der 1. Aufl., übers. und hg. von Max Theuer, Wien/Leipzig: [Hugo Heller & Co.] 1912, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft [Abt. Verl.] 1991, S. 293. 25 Alberti: I Dieci Libri, S. 202v. 26 Ebd., S. 203. 27 Ebd., S. 202. 28 Ebd., S. 44. 29 So geht die Rundheit der Dinge zurück auf eine bewusste Entscheidung, die sie einsetzt, wann immer es ihr gefällt, denn es gebe in der Natur ja auch sechseckige Dinge, wie etwa die Bienenwabe (S. 143v). 30 Ebd., S. 204/v. 31 Ebd., S. 202. 32 Ebd.

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heit). 33 Diese wiederum bestimmt die Natur der Dinge, wie auch die Lebensumstände des Menschen. 34 An der Schönheit der Natur hätten sich die Künste und der schöpferische Geist abzuarbeiten, doch: „[...] sogar der Natur ist es selten vergönnt, etwas hervorzubringen, das absolut und in allen Teilen vollkommen ist [...].“ 35 Sie ist aber auch eine Natur, die beliebt mit „diletto“ (Vergnügen, Ergötzen) zu scherzen, wie man beim Abmalen von Blumen leicht erkennen würde. 36 Die Alten, deren Vorbild Alberti und mit ihm seine Zeit nachstreben – und gemeint ist damit selbstverständlich Vitruv, aber auch die erhaltenen antiken Architekturen, deren Schönheit man zur Zeit Albertis wiederentdeckte –, suchten in der nachzubildenden, schaffenden Natur nach den ihr innewohnenden Gesetzen, die sie auf die Baukunst übertrugen. 37 So die Natur nachahmend 38 haben die Griechen die Architektur, wie auch die anderen Künste aus ihr extrahiert. 39 Die in der antiken Architektur aufgefundene Nachahmung grundlegender Prinzipien der Natur, ist nach Alberti vor allem eine der Anzahl und der Anordnung der Teile, der Symmetrie und der Proportion der Maße. Sein erstes Beispiel dafür sind die Säulenordnungen, wo die Säulen wie die Knochen der Lebewesen immer in gerader Zahl einander gegenüber gesetzt und die Fenster wie Augen, Ohren, Nasenlöcher in gerader Zahl angeordnet seien, die Eingänge aber in ungerader und größer, wie der Mund in der Mitte des Gesichts, was insgesamt eine ungerade Zahl von Öffnungen ergibt. 40 Die bestimmende Wirkung der proportionalen Übereinstimmung der Maßverhältnisse wird abgeleitet aus einer nochmaligen Definition der Schönheit, nach der diese eine Übereinstimmung im Zusammenspiel der einzelnen Teile in Zahl, Form und Ort ist, wie es die Angemessenheit erfordert. 41 Aus der Harmonie der Maßverhältnissen leitet sich dann eine Theorie der Übereinstimmung architektonischer Proportionen zu der mathematisch-musikalischen Harmonie – wie im Akkord der Stimmen („accordo di

33 Ebd., S. 203; Theuer übersetzt „conuenienza“ vereinfachend mit: „Ebenmäßigkeit“ (S. 492), aber auch mit „Übereinstimmung“ (S. 118), besser aber im Sinne des späteren Gebrauchs des Begriffs in der Kunstliteratur ‚Angemessenheit‘. 34 Ebd., 202vf. 35 Ebd., S. 118; dt. nach der Übersetzung von Theuer, S. 293. 36 Ebd., S. 117v. 37 Ebd., S. 203. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 119v. 40 Ebd., S. 201vff. 41 Ebd., S. 203.

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uoci“) – ab, 42 die ihre Nachwirkung bis weit in die Naturtheorie eines Isaac Newton und seiner bedeutendsten Anhänger (Voltaire und Algarotti) gehabt hat. Für Andrea Palladio – den vor allem im 18. Jahrhundert mit seinem NeoPalladianismus meistrezipierten Architekturtheoretiker der italienischen Renaissance – hingegen ist die schaffende Natur zunächst eine, aus der man sich bedient und die man benutzt. Ihre Produkte, die Steine vor allem und unausgesprochen auch die Hölzer, sind die Materialien für den Bau, deren Lieferant sie ist; 43 der Bauplatz, auf dessen Auswahl – besonders bei der Villa – große Sorgfalt zu legen ist, wird nach seiner Nützlichkeit und seiner ästhetischen Qualität (dem Blickfang, der Ansicht und Aussicht, den/die das Gebäude bietet) ausgewählt; 44 selbst die Fundamente des zu bauenden Hauses können direkt von der Natur zur Verfügung gestellt werden. 45 Doch versteht auch Palladio, der die Vorrede zu seinem Architekturtraktat mit dem Hinweis auf seine „Natvrale inclinatione […] allo studio dell’Architettura“ beginnen lässt, 46 die Architektur als eine naturnachahmende Kunst, wie er in seinem Kapitel „De gli abusi.“ ausdrücklich sagt. 47 Naturnachahmung aber ist bei ihm sehr viel stärker abbildhaft-sprechend aufgefasst als bei Alberti: Die Säule wird abgeleitet vom Baum, der eine erste Stütze geliefert hat, deshalb müsse sie oben dünner sein als unten; ihre Basis hingegen müsse wie gequetscht wirken durch Gewicht der auf ihr aufstehenden Last 48 – wofür es in der schaffenden Natur selbst freilich kein direktes Vorbild gibt, das abzubilden wäre. Einer der echten „abusi“, ein Missbrauch, ein Vergehen gegen die Prinzipien der Natur hingegen, so heisst es in der berühmten Textstelle, sei der gespreizte Giebel, der in der konkurrierenden, Florentiner Archi-

42 Ebd., S. 204/v. 43 Palladio, Andrea: I Qvattro Libri Dell’Architettvra Di Andrea Palladio. Ne’quali, dopo un breue trattato de’ cinque ordini, & di quelli auertimenti, che sono piu necessarij nel fabricare; Si Tratta Delle Case Private, delle Vie, de i Ponti, delle Piazze, de i Xisti, et de’ Tempij, Venedig: Dominico de’ Franceschi, 1570, 1. Buch, Kap. 2 und 3, S. 7f, bes. S. 7. 44 Vgl. ebd., 2. Buch, Kap. 12. 45 Ebd., Kap. 7, S. 7. 46 Ebd., S. 1. Dieser sehr häufig auftretende Wortgebrauch einer ‚natürlichen Begabung‘ des Künstlers ist in diesem Aufsatz, wie der im Sinne von der ‚Natur einer Sache‘, bewusst ausgeblendet, auch wenn eine Reflektion auf diese Bedeutungsvielfalt der Betrachtung weitere, unerwartete Anstöße hätte geben können. 47 Ebd., 1. Buch, Kap. 20, S. 47. 48 Ebd.; gerade dieses Beispiel macht deutlich, wie sehr sich Palladio von der Nachahmung der Prinzipien der Natur Albertis entfernt hat.

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tekturschule in der Zeit des Erscheinens von Palladios Quattro libri erstmals seine Verwendung gefunden hatte (Abb. 2): Giebelformen über Fenstern und Türen, auch wenn sie reine, reliefhafte Schmuckformen sind, müssen demnach aussehen, als könnten sie ihrer ursprünglichen Funktion gemäß Regenwasser abweisen. Die Giebelform zu öffnen, oder sie nach Außen laufen zu lassen, sei deshalb entgegen der natürlichen Vernunft, weil Giebel – auch wenn sie als Schmuckformen über der Tür oder über Fenstern stehen – zumindest so aussehen sollen, als könnten sie ihrer ursprünglichen Funktion entsprechen. 49 Damit wird, über den Umweg der fehlgeleiteten Nachahmung, der Natur in ihrem Schaffen eine Funktionalität zugesprochen, die Palladio selbst in seinem Traktat – die drei vitruvianischen Kategorien der „firmitas“ (Festigkeit), „utilitas“ (Nützlichkeit) und „venustas“ (Schönheit) wieder aufnehmend – einfordert. Abbildung 2: Bernardo Buontalentis Gesprengter Giebel über der „Porta delle Suppliche“, Uffizien, Florenz.

Quelle: Wikimedia Commons, the free media repository, File:Porta delle suppliche di bernardo

buontalenti

(1580

ca.)

02

timpano

spezzato.JPG,

, Supported_by_Wikimedia_CH, Aufrufdatum: 10.01.2018.

49 Ebd., S. 48.

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Naturnachahmend sind – das ist für Alberti und Palladio selbstverständlich – auch die anderen Künste. Das gilt besonders und vor allem für die Malerei (und weniger explizit auch für die Skulptur). Leon Battista Alberti macht es gar zum Programm seiner 1651 zusammen mit Erstveröffentlichung von Leonardos Trattato della pittura wiederveröffentlichten und daher auch für spätere Autoren noch wirkmächtigen Schrift über die Malerei, diese aus den Prinzipien der Natur erklären zu wollen. 50 Nachdem er im ersten Buch die Theorie und Anwendung der Zentralperspektive erläutert hat, entwickelt er im zweiten seine These, dass die drei fundamentalen Prinzipien, auf denen für ihn die Malerei beruht, – „circonscrittione“, die Umrisszeichnung der einzelnen Formen, „compositione“, das Ins-Verhältnis-Setzen dieser Formen zueinander, „& riceuere de i lumi“, die Aufnahme von Licht und damit die Farbgestaltung der Binnenformen –, naturgegeben seien. Diese für die Kunsttheorie der folgenden Jahrhunderte so folgenreiche Aufteilung der Malerei sei dem natürlichen Sehprozess entsprechend und damit der Natur abgeschaut: das Sehen funktioniere so, dass wir zuerst die Einzeldinge, die einen je ihnen zugehörigen Raum einnehmen, wahrnehmen würden, dann die Verbindungen zwischen diesen Dingen (welche die Komposition eines Bildes und die Darstellung der Historie ergeben) und erst zuletzt die Modulation und Farbgebung der Binnenflächen der Körper. 51 In derselben Form und Reihenfolge der drei Phasen des Sehens hätte der Malprozess selbst zu verlaufen. Höchstes Ziel jeder Komposition aber sei, „gratia, & bellezza“ zu suchen. 52 Dahin gelangt man nach seiner Beobachtung nur durch ausdauerndes und genaues Studium der Zusammensetzung der Werke der schaffenden Natur. 53 Wenn die Schönheit der Architektur im Wesentlichen auf der Nachahmung der Dreiheit von Anzahl, Anordnung der Teile, sowie deren Symmetrie und Proportion in der Natur beruht, gilt das analog auch für die Malerei. 54 So groß sei die Kraft der Naturnachahmung, dass schon ein einziges, wiedererkennbares Porträt einer bekannten Persönlichkeit mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen könne, als andere Dinge von größerer Kunstfertigkeit. 55 Da aber Naturähnlichkeit allein nicht genüge und der Künstler immer nach Schönheit streben solle, ist Komposi-

50 Auch hier zit. nach der ersten Ausgabe in italienischer Sprache: Alberti, Leon Battista: La pittura [...] tradotta per M. Lodovico Domenichi, Venedig: Gabriel Giolito de Ferrari 1547, Primo libro, S. 4. 51 Ebd., S. 21v/f. 52 Ebd., S. 25v. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 25v und 26/26v. 55 Ebd., S. 40v.

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tion immer Auswahl und selektive Nachahmung, ein Zusammensetzen von der Natur nachgeahmten Teilen. 56 Dieses Verfahren wird seit Zeiten illustriert durch die häufig rezipierte Zeuxis-Anekdote, nach der der antike Maler die schönsten Mädchen der Stadt Kroton suchen lassen habe, um für ein Bildnis der Helena aus deren Schönheiten eine ideale, diese übertreffende Schönheit ableiten zu können. 57 Interessant ist, dass schon für Alberti das, was die spätere Kunstliteratur gewöhnlich als Ausdruck der Leidenschaften beschreiben wird – die Spiegelung der inneren Bewegung auf den Äußerlichkeiten des Körpers –, auf der Nachahmung der Natur beruhen soll, wobei eine Vielfalt der Bewegungen und „una certa uaghezza“ zu beachten sind, ohne dass der Zusammenhang zu der darzustellenden Handlung verloren geht. 58 Sei es doch von der Natur so angelegt, dass wir bei der Betrachtung von Gefühlen dieselben mitempfinden. 59 Natur also ist in der Renaissance nachzuahmendes Vorbild, sie wird dazu beobachtet, studiert, vermessen, analysiert, verwissenschaftlicht, und fragmentarisiert und in neuer Zusammenstellung nachgeahmt. Nie aber beschränkt sich der Begriff auf die außermenschliche Umgebung, er umfasst immer auch das menschliche Sein und Handeln. Das gilt auch für Leonardo da Vinci, den wohl entschiedendsten Befürworter des Naturstudiums, der in den Notizen, die 1651 erstmals als Trattato della pittura veröffentlicht wurden, auffallend häufig die Adjektivform „naturale“ benutzt. 60 Während Raphael in einem berühmten Brief an Baldassare Castiglione erstmals in der neueren Kunstgeschichte die künstlerische Idee, „una certa Idea“, der er sich bediene, als treibende Kraft des künstlerischen Schaffens definiert (Abb. 3), 61 verweist Leonardo den Künstler immer

56 Ebd., S. 25; sowie ausführlich: S. 39vff. 57 Die antiken Quellen dazu bei: Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen. Gesammelt von J. Overbeck, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1868, S. 316, Nr. 1667–69 (= Plinius: Nat. Hist. XXXV, 64; Cicero: De Invent., II, 1, 1 („ex partibus perfectum natura expolivit“); Dionysos Halic.: de priscis script, cens. I). 58 Alberti: La pittura, S. 29–30v. 59 Ebd., S. 29v. 60 Da Vinci, Leonardo: Trattato della pittvra [...] Nouamente dato in luce, con la vita dell’istesso autore, scritta da Rafaelle dv Fresne, Paris: Giacomo Langlois 1651, vgl. etwa S. 82, Abs. 186 oder: S. 5, Abs. 25 etc., wo die hier substantivierte Adjektivform „naturale“ offensichtlich im Sinne des von Baldinucci zitierten Gebrauchs als Bezeichnung für das Modell benutzt wird. 61 Dolce, Lodovico (Hg.), Lettere di diverse eccellentiss.[imi] hvomini, raccolte da diversi libri: tra le quali se ne leggono molte, non più stampate, Venedig: Gabriel

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wieder zurück an die Natur: Ein Gemälde soll aussehen wie eine natürliche Sache, die man im Spiegel sieht, 62 eine Spiegelung der Wirklichkeit/Natur im weitesten Sinne, die natürlich auch die historische und die poetische Wirklichkeit nicht ausschliesst. Die in der Erinnerung verblassende Deutlichkeit der Natur(-beobachtung) sei immer wieder an dieser selbst (zu) kontrollieren, denn Abbildung 3: Raffaello Sanzio da Urbino, gen. Raphael: „Triumph der Galatea“, um 1513/14, Fresko, 95x225 cm, Rom, Villa Farnesina.

Quelle: Bildarchiv Foto Marburg.

Giolito de Ferrari et fratelli 1554, S. 227f; später auch in: Bottari, Giovanni Maria/Ticozzi, Stefano (Hg.), Raccolta di lettere sulla pittura scultura ed architettura scritte da’ più celebri personaggi che in dette arti fiorirono dal sec. XV. al XVII., Rom: Niccolò e Marco Pagliarini 1757–73, Band 1, S. 83f. Zur Entwicklung des Konzepts der künstlerischen Idee und ihrer Vorgeschichte vgl. die klassische Studie von Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin: Bruno Hessling 1960. 62 Vinci, Leonardo da: Trattato della pittvra, S. 79, Abs. 275, vgl. dazu S. 80, Abs. 277.

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über alle Natureindrücke könne man sich leicht täuschen, da das Erinnerungsvermögen nicht ausreiche, sie zu behalten: „pero ogni cosa vedrai dal naturale“ – allein, Alles ist der Natur anzusehen. 63 Die Natur ist die erste und letztlich einzige Lehrmeisterin der Kunst, deren Effekte – „gl’effetti della natura tua maestra“ – es nachzuahmen gilt. 64 Das findet seinen Ausdruck auch darin, dass er drei Absätze dem gleichsam wissenschaftlichen Studium des von ihm zuerst beobachteten Naturphänomens der Luft- und Farbperspektive mit der Verbläuung des Hintergrundes in der Landschaft widmet. 65 So wie es wichtig ist, die Lichter im Bild zu setzen, wie sie natürlich an dem Ort erscheinen würden, wo sich die Bildhandlung abspielt, 66 so sind für Leonardo auch die menschlichen Emotionen und Aktionen, die sogenannten Leidenschaften immer etwas, das in der so gefassten Natur zu studieren sei. 67 Dabei ist es für ihn unablässig, die Emotion im Moment ihres tatsächlichen Auftretens zu studieren, und nicht eine, die zum Zweck des Kopierens eigens zur Schau vorgeführt wird. 68

V ASARIS V ITENSCHREIBUNG UND IHRE F OLGEN Auch für den Begründer der Kunstgeschichtsschreibung Giorgio Vasari steht die Gewissheit darüber, dass Kunst Naturnachahmung sei, außer Zweifel. 69 Doch erweitert er das Konzept im Sinne seiner eigenen kunstideologischen Auffassung, nach der die Zeichnung, der „Disegno“ die höchste Basis aller Kunstausübung ist. Die Zeichnung, d. h. ganz besonders der Umriss 70 gibt demnach die Grundform, die „Idea“ aller Erscheinungen der Natur wieder: in einer verstandesmäßigen Leistung werde ein allgemeines Urteil („giudizio vniuersale“) aus der Natur herausgezogen, das „einer Form oder einer Idee aller Dinge der Natur“

63 Ebd., S. 4, Abs. 20. 64 Ebd., S. 81, Abs. 282. 65 Ebd., S. 45, Abs. 164. 66 Ebd., S. 80, Abs. 279. 67 Ebd., S. 24f, Abs. 95 und S. 64, Abs. 218. 68 Ebd., S. 64, Abs. 218. 69 Seine 1550 erstmals erschienen Lebensbeschreibungen, hier nach der 2. erw. Aufl.: Vasari, Giorgio: Le vite de’ piv eccellenti pittori, scvltori, et architettori scritte, & di nuouo ampliate [...] Co’ ritratti loro. Et con le nuoue vite dal 1550 insino al 1567. Con tauole copiosissime de’ nomi, dell’opere, e de’ luoghi ou’ elle sono, Florenz: Givnti 1568, Band 1 ( I. und II. parte), „Proemio delle vite“, S. 71. 70 Ebd., Kap. 15, S. 44.

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gleicht, und dann im manuellen Akt in die Zeichnung umgesetzt wird („poi espressa con le mani si chiama disegno“). 71 Wer lerne zu zeichnen, beginne mit der Abbildung unbelebter Dinge, dann erst wende er sich dem Zeichnen nach der belebten Natur zu. 72 Diesen Ausbildungsphasen des einzelnen Künstlers entsprechend ist Naturnähe auch historisches Kriterium innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Kunst, besonders der Malerei, die Vasari mit seinen Viten vorlegt. Giotto im Besonderen steht innerhalb der Theorie der drei Phasen der Perfektionierung der Künste bis zu seiner Zeit, die der Autor in der Einleitung zum zweiten Teil seines Werks entwirft, für die Erneuerung der Malerei durch Naturnachahmung um 1300. 73 Schon in seiner Ausbildung bei Cimabue habe er dessen Manier übertroffen und sei zum Meister der Nachahmung der Natur geworden, wobei ihm diese selbst eine Hilfe gewesen sei. 74 Belegt wird die Qualität seiner Nachahmung mit der Anekdote, nach der der junge Schüler eine Fliege auf die Nase eines vom Meister Porträtierten gemalt habe, die dieser von der Leinwand wegzujagen versucht habe. 75 Die Treue der Naturnachahmung bleibt für Vasari auch in der Folge seiner Entwicklungsgeschichte ein positiv besetzter Begriff. So lobt er etwa die bronzene Statue des David von Donatello 76 und besonders Leonardo, der für ihn am Beginn der dritten Entwicklungsphase, dem Anfang der „moderni“ steht. 77 Dieser habe sich darin gefallen, bizzarre, unrasierte Gestalten – „uomini naturali“ – mit ungekämmtem Haar zu beobachten und sie dann aus dem Gedächtnis zu porträtieren. 78 Eine Wende aber tritt in der „Vita“ Michelangelos ein, der für den Autor der Höhepunkt der Kunstentwicklung der Vergangenheit und gleichzeitig sein eigenes Vorbild ist: Mit ihm wird Naturnachahmung zu einem Übertreffen der Natur durch Kunst. Michelangelo habe nicht nur die Kunst der Natur gleichgestellt, sondern diese dadurch übertroffen, dass er

71 Ebd., S. 43. 72 Ebd., S. 44; die scheinbare Unterscheidung zwischen belebter Natur und toten Dingen, die hier mitschwingt, wird im Gesamttext nicht durchgehalten. 73 Ebd., S. 244f. 74 Ebd., S. 119. 75 Ebd., S. 132. 76 Höhe 158 cm, um 1440 geschaffen, 1469 im Hof des Palazzo Medici, heute im Museo Nazionale del Bargello, Florenz, Inventario Bargello Sculture, n. 445; zitiert nach Vasari: Le vite, Band 1, S. 330f. 77 Ebd., Band 2, (Primo volume della terza parte), S. 2. 78 Ebd., S. 5.

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ihre Schönheit schöner dargestellt habe, als sie von sich aus sei, wie es in einem ihm, Vasari selbst, von dem großen Künstlers übersandten Sonett heisst: „Habt mit den Farben und mit Eurem Stift Ihr in der Kunst schon die Natur erreicht Ja, fast so sehr, daß diese weicht, Weil Euer Schönes ihres übertrifft [...]“ 79

Doch hat der Begriff ‚Disegno‘ für Vasari eine weitere, tiefer gehende Bedeutung, die über das als intellektuell-manuellen Prozess aufgefasste Zeichnen hinausgeht: es ist der ursprüngliche, fehlerfreie Plan Gottes bei der Erschaffung der Welt, das aller Natur zugrunde liegende Prinzip. 80 Der Perfektion dieser ursprünglichen, vollkommenen Grundidee nahezukommen und die Unvollkommenheit der Natur zu überwinden, begründet letztlich die Gottgleichheit eines Künstlers wie Michelangelo. In einer schönen, doppelten Wendung nimmt der die Vitenschreibung Vasaris fortsetzende und zugleich korrigierende Carlo Ridolfi 1648 die Idee der Übertreffung der Natur durch Kunst auf und wendet sie zugleich gegen Vasari und dessen Mystifizierung des ‚Disegno‘-Begriffs, der bei ihm wie selbstverständlich für die nach seiner Auffassung überragende Florentiner Kunsttradition steht. Für Ridolfi, der die Lebensbeschreibungen der bei Vasari unterrepräsentierten venezianischen Maler schreibt, gilt das höchste Lob nicht mehr, wie bei Vasari, denen, die in der Zeichnung, sondern jenen die in der Farbe, dem Kolorit die Natur übertreffen. Grundsätzlich aber wird die sich schon von selbst verstehende Bestätigung des alten Satzes, dass nicht jede Erscheinung der Natur nachzuahmen, sondern eine Auswahl nach Schönheit und Perfektion zu treffen sei, mit ausdrücklichem Bezug auf die historischen Texte und Vorbilder von Apelles, Dürer, Alberti und Lomazzo wiederholt. 81 Des allerhöchsten Lobes würdig aber sind für Ridolfi nicht mehr die äußere Form und damit die Komposition eines Gemäldes, sondern das Inkarnat Giorgiones 82 und die ungekannte Farbvielfalt

79 Ebd., S. 755, deutsche Übersetzung nach dem Band: Das Leben des Michelangelo, hg. von Alessandro Nova, Berlin: Wagenbach 2009, in der Edition Giorgio Vasari, S. 149. 80 Vasari: Le vite, Band 1, S. 67. 81 Ridolfi, Carlo: Le maraviglie dell’arte ouero le vite de gl’illvstri pittori veneti, e dello stato. Oue sono raccolte le opere insigne, i costumi, i ritratti loro. Con la narratione delle historie, delle fauole, e delle moralità da quelli dipinte [...], Venedig: Gio: Battista Sgaua 1648, Band 1, S. 89. 82 Ebd., S. 78.

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und -modulation Tizians. Mit der neuen Art des Kolorierens, die der BelliniSchüler Giorgio da Castelfranco, genannt Giorgione entwickelt hat, vermischen sich demnach Natur und Kunst, werden ununterscheidbar und verwechselbar; der Künstler wird gleichwie Teilhaber der Natur, Kunst wird zu einer neuen, zweiten Natur und die Natur selbst scheint die Kunst nachzuahmen, nicht umgekehrt. In der Folge wird Natur von Kunst herausgefordert, 83 sie selbst wird zur Betrachterin der Werke der Kunst, 84 und letztlich wird das Verhältnis von Kunst und Natur zu einem Wettkampf, in der sich Natur von der Kunst geschlagen geben muss und von Malern wie Pordenone und schließlich Tizian besiegt wird. 85 Tizian, der als ein besonderer Beobachter der Natur bezeichnet wird und der die Schwierigkeiten ausgeräumt habe, welche zwischen seinem Lehrer Giovanni Bellini und der Natur gestanden hätten, sei gar in der Angst gestorben, dass die NaAbbildung 4: Tiziano Vecellio: „Maria Magdalena“, um 1533, Holztafel, 85x68 cm, signiert: „TITIANVS“, Florenz, Palazzo Pitti. Galleria Palatina.

Quelle: Bildarchiv Foto Marburg.

83 Ebd., S. 119ff. 84 Ebd., S. 123. 85 Ebd., S. 113 und 135ff.

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tur sich durch seine Kunst besiegt gefühlt habe. 86 Ridolfis Lob der Farbe geht einher mit dem Lob der Vielfalt, der „Varietà“, nicht nur der Formen, sondern auch der Farben der Natur, sowie der Gottgleichheit des Künstlers. Begabung wird nun nicht mehr nur als eine Gabe der Natur verstanden, wie bei Alberti, Vasari und anderen, sondern sie gilt als übernatürlich. 87 Es ist Gott, der durch die Hand des Künstlers Tizian die Wunderwerke – das Wort „meraviglie“, das auch im Titel des Buches steht, wird hier benutzt – der Kunst erschafft, 88 oder: Gott hat dem Künstler dieselbe Einsicht in alle Dinge der Welt („le Idee delle cose tutte dell’ Vniuerso“) gegeben wie der Natur. 89 Ebenso wie die Begabung der Künstler nicht mehr nur natürlich ist, können auch Kunstwerke übernatürlichen Charakter, übernatürliche Schönheit annehmen, wie die Büßende Maria Magdalena Tizians (Abb. 4), 90 zu der es heisst: „Ma ceda la Natura, e ceda il vero A quel, che dotto Artefice ne finse: [...].“ 91

Mit der Gleichsetzung von Natur und Wahrheit – „ceda la Natura, e ceda il vero“ – kommt der für die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts dann so zentrale Begriff der ‚Verosimiglianza‘, auch ‚Verisimiglianza‘, ins Spiel, der in der Regel im Deutschen nur unzureichend übersetzt wird mit Wahrscheinlichkeit; die Bedeutung des italienischen Terminus treffender wiederzugeben, wäre: Wahrheitsbzw. Wirklichkeitsähnlichkeit, und damit Naturähnlichkeit. Auch diese wird nach Ridolfi erreicht durch die richtige Verwendung und Mischung der Farben. 92 Zweimal fällt dabei ausdrücklich das Wort „naturalezza“ und beide Male meint

86 Ebd., S. 181. Nach Angabe der Ridolfi-Ausgabe von Detlef Freiherrn von Hadeln (Hg.), Berlin: Grote 1914/24, Band 1, S. 200 ist die Quelle: La galeria del caualier Marino. Distinta in pitture & sculture, Venedig: Ciotti 1620; s. auch ebd., S. 137 und zu seinem Aufenthalt in Haus und Werkstatt Giovanni Bellinis, S. 136. 87 Ebd., S. 97. 88 Ebd., S. 187. 89 Ebd., Band 2, S. 271. 90 Holztafel, 85x68 cm, um 1533, sign.: „TITIANVS“, Florenz, Palazzo Pitti. Galleria Palatina. 91 Nach Ridolfi: Le maraviglie dell’arte, Band 1, S. 171. In meiner, freien Übersetzung: „Doch steht zurück die Natur und die Wahrheit hinter dem, was der fähige Künstler vorgibt von ihnen.“ 92 Ebd., S. 151.

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es, dass mythologische Themen bzw. religiöse Historie mit einer so großen Wirklichkeitsähnlichkeit dargestellt sind, dass das Bild so sehr der Natur ähnele, dass der Betrachter es für ‚wirklich‘ halten könne. 93 Das Lob, das Ridolfi der Vielfalt der Farben der Natur zollt, wie auch seine Neubewertung Giorgiones und dann Tizians als Triumph der Farbe gegenüber der Umrisszeichnung gehen zurück auf Formulierungen der Zeitgenossen und Mitglieder des intellektuellen Kreises um Tizian Pietro Aretino und Lodovico Dolce. Ihr Tizian-Lob steht in bewusstem Kontrast zu Vasaris MichelangeloVerehrung, der gleichwohl auch hier im fingierten Gespräch göttlich genannt wird. 94 Schon hier wird der Gedanke formuliert, dass der Künstler die Natur nicht nachzuahmen, sondern zumindest teilweise zu überbieten habe (wobei das „teilweise“ besonders betont wird, denn die Natur an sich sei wunderbar und unerreichbar). 95 Tizian, der von der Natur zum Maler gemacht worden ist, da er schon mit neun Jahren zu malen angefangen habe, und von ihr selbst dann zu auch höherer Größe gedrängt worden ist, 96 geht mit der Natur selbst auf derselben Höhe: Seine Malerei sei so naturnah, dass sie wirkliches Leben sei, seine Figuren tatsächlich Leben haben. Seine Figuren sind nicht nur Kunst, sie sind durch Farben selbst lebendig. 97 Dieser Topos vom Kunstwerk als lebendiger Natur ist von Pietro Aretino, der das Vorbild für den Tizians Kunst verteidigenden Gesprächspartner in Dolces Dialogo della pittvra, intitolato l’Aretino ist, in seinen Briefen an Tizian und andere Korrespondenten selbst geprägt worden. Demnach habe die Natur Tizian selbst bestätigt, dass in seinem Werk Kunst zu Natur geworden sei. Letztlich habe sie zugestehen müssen, dass das Werk des Malers einen höheren Wert habe als das ihre (die wirkliche, porträtierte Person), da dieses sterblich ist, während das seine unvergänglich und damit göttlich ist. 98 Darü-

93 Ebd., S. 87 zu Amor und Psyche von Giorgione, ähnlich S. 384 zu Giacomo Bassano und ebenso der Wortgebrauch bezüglich der Augentäuschung der illusionistischen Deckenmalerei in den Gemälden von Pordenone im Dom von Cremona. 94 Dolce, Lodovico: Dialogo della pittvra [...], intitolato l’Aretino. Nel quale si ragiona della dignità di essa pittura, e di tutte le parti necessarie, che a perfetto pittore si acconuengono: con esempi di pittori antichi, & moderni: e nel fine si fa mentione delle uirtù e delle opere del diuin Titiano, Venedig: Gabriel Giolito de’ Ferrari 1557, S. 5v. 95 Ebd., S. 29. 96 Ebd., S. 54vf. 97 Ebd., S. 54v. 98 Die Textstellen sind, nach der Ausgabe: Aretino, Pietro: Lettere, hg. von Paolo Procaccioli, Roma: Salerno Ed. 1997–2002, Band 1. „Libro I“, Nr. 222, S. 314f (Are-

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berhinaus ist es nach Dolce vor allem die Vielfalt, „la uarietà“, die als das eigentliche Wunder der Natur gilt und die ungesucht, wie zufällig nachzuahmen ist. 99 Es sollte nicht vergessen werden, dass Vielfalt eines der Kriterien war, das bereits Alberti an die Kunst anlegte. 100 Hier aber wird die Vielfalt an sich als Qualität der Natur erkannt, die nachzuahmen ist. Das Kolorit der Natur, das nach Dolce im Frühjahr den höchste Prunk und die größte Vielfalt entwickele, und die Abbildung 5: Tiziano Vecellio: „Bildnis der Clarissa Strozzi im Alter von 2 Jahren“, Leinwand, 121,7 x 104,6 cm, Gemäldegalerie SMB PK, Kat.Nr.

160A.

Quelle: Berlin, Gemäldegalerie. Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SMB - PK) / Christoph Schmidt.

tino anlässlich der Übersendung eines Gedichts über ein von Tizian gemaltes Porträt an Veronica Gambara, 7. 11. 1537) und Band 2. „Libro II“, Nr. 395, S. 398 (ders. an Tizian über ein Porträt der „bambina del Sig. Roberto Strozzi“ (Bildnis der Clarissa Strozzi im Alter von zwei Jahren, Leinwand, 121,7 x 104,6 cm, Berlin, Gemäldegalerie SMB PK, Kat.Nr. 160A, Abb. 5), 06.07.1542; sowie Band 6 „Libro IV“, Nr. 291, S. 272 (zur Übersendung eines Sonetts auf ein Porträt Francesco Vargas, Oktober 1553). 99

Dolce: Dialogo della pittvra, S. 35/35v.

100 Alberti: La Pittura, S. 28.

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Vielfalt der Formen und Farben werden als das angesehen, was in der Malerei nachgeahmt und übertroffen werden soll. 101 Ridolfi erhebt den Satz von der Überwindung der Natur zum Topos, zur gleichen Zeit aber wird der Vorwurf der bloßen, übertriebenen Naturtreue zum Terminus der Beschreibung einer bestimmten, nicht immer positiv bewerteten Art von Kunst: der Malerei Caravaggios und der Caravaggisten, die schon in der älteren Kunstliteratur mit dem Begriff ‚Naturalismus‘ beschrieben wird. In Rom, wo um 1600 der Streit der Gegner und Befürworter Caravaggios getobt hatte, schrieb Giovanni Baglione in seinen Vite De’ Pittori, Scvltori Et Architetti 1642 eine der ersten Biographien Caravaggios. Er benutzt den Begriff der ‚Natürlichkeit‘ immer öfter in Bezug auf die im Zeitalter Claude Lorrains, Poussins, der Carracci und Salvatore Rosas an Verbreitung gewinnende Gattung der Landschaftsmalerei; besonders auch für die nordischen Landschaftsmaler, wie etwa Paul Bril. 102 Zu Caravaggio erwähnt er, am Beginn seiner Karriere, nachdem er nach Rom gekommen war, 103 sei seine Ausmalung der Capella Contarelli in San Luigi dei Francesi, Rom wegen „alcune pitture del naturale“ aufsehenerregend gewesen und bekannt geworden 104 (angespielt sein dürfte hier auf die Landsknecht-artig gekleideten Teilnehmer der Tischgesellschaft in der Berufung des Heiligen Johannes der linken Seitentafel 105). Und schließlich habe „vna Madonna di Loreto ritratta dal naturale“ von ihm (die Madonna dei Pellegrini, mit den schmutzigen Füßen des Pilgers, der sie anbetet, im Vordergrund, Abb. 6 106) wegen „alcune pitture del naturale“ bei den römischen „popolani“ Aufsehen erregt. 107 Gemeint ist hier natürlich nicht, dass Caravaggio die Madonna nach der Natur gemalt habe, sondern das Modell, das ihm zur Verfügung stand, – es han-

101 Dolce, Lodovico: Dialogo di [...] nel qvale si ragiona delle qualità, diversità, e proprietà de i colori, Venedig: Gio. Battista, Marchio Sessa, et fratelli 1565, S. 6v und S. 32v. 102 Baglione, Giovanni: Le Vite de’ pittori, scvltori et architetti dal pontificato di Gregorio XIII. del 1572 in fino a’ tempi di Papa Vrbano Ottauo nel 1642, Rom: Andrea Fei 1642, etwa in der „Vita di Fabritio Parmigiano”, S. 92 oder in der „Vita di Adamo [Elsheimer] Tedesco, Pittore”, S. 101 und schließlich in: „Vita di Paolo Brillo Pittore”, S. 297, sowie S. 335. 103 Hier und im Folgenden nach der „Vita di Michelagnolo da Caravaggio, Pittore“, ebd., S. 136–38. 104 Ebd., S. 136f. 105 1599/1600, Leinwand, 322x340 cm, Rom, Kirche S. Luigi dei Francesi. 106 1603–1606, Leinwand, 260x150 cm, Rom, Kirche Sant’Agostino. 107 Baglione: Le Vite de’ pittori, scvltori et architetti, S. 137.

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Abbildung 6: Michelangelo Merisi da Caravaggio: „Madonna dei Pellegrini“, auch genannt „Madonna von Loreto“, 1603-1606, Leinwand, 260x150 cm, Rom, Kirche Sant’Agostino.

Quelle: Wikimedia Commons, the free media repository, File: Madonna di LoretoCaravaggio

(c.1604-6).jpg,

, Aufrufdatum: 16.03.2017

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delt sich um eine gewisse Lena aus armer, aber ehrlicher Familie, der man ungerechtfertigterweise vorwarf, sich dadurch prostituiert zu haben 108– zu volksnah und zu ungeschönt abgebildet habe. Ab hier nun wird zu große Naturnähe in der Kunst so etwas wie ein kunstkritischer Kampfbegriff: Die Kritik ging soweit, dass man Caravaggio den Vorwurf machte, er habe durch seine zu große Nähe zur Natur und das Fehlen idealisierender Schönheit, die über die bloße Natur hinausgeht, die Malerei selbst ruiniert. Denn die jungen Künstler, die seinem Vorbild folgten und nur nach der Natur malten, würden (ganz im Sinne Vasaris) den ‚disegno‘ und die Tiefe der Kunst vernachlässigen und sich nur der Farbe hingeben 109 (was offensichtlich jeder Basis entbehrt – ist doch Caravaggios Malerei, vorurteilsfrei betrachtet, gerade auch in der ‚inventione‘ hochgradig innovativ!). Baglione zumindest benutzt nach der Vita Caravaggios die Charakterisierung „naturale“ folgerichtig nur noch mit einer negativen Konnotation, und insbesondere in Zusammenhang mit jenen Künstlern, die als Caravaggisten galten. 110 Hält man sich diesen weiteren Kontext vor Augen, kann es nicht mehr verwundern, wenn die Bilder des ausgemergelten Heiligen Hieronymus und die Köpfe von alten Männer und Frauen eines Jusepe de Ribera als „opere veramente di rara naturalezza“ beschrieben werden (Abb. 7). 111 Seine Figuren,

108 Zu dem Fall s. Hess, Jacob: „Nuovo contributo alla vita del Caravaggio”, in: Bollettino d’arte, Juli 1932/33 , S. 42–44 u. ders.: „Modelle e modelli del Caravaggio“, in: Commentari, 5, 1954, S. 271–89, beide auch in: ders.: Kunstgeschichtliche Studien zu Renaissance und Barock, 2 Bände, Rom: Ed. di storia e letteratura 1967, Nr. 4, S. 77–79 u. 25, S. 275–88. 109 Baglione: Le Vite de’ pittori, scvltori et architetti, S. 138. 110 So in der „Vita“ von Bartholomeo Manfredi, ebd., S. 159; der von Antiveduto Grammatica, ebd., S. 293; mit besonderer Deutlichkeit in derjenigen des tessiner Malers Giovanni Serodine, ebd., S. 312; sowie der von Valentin de Boulogne („Vita di Valentino Francese, Pittore”), ebd., S. 337. 111 Scanelli, Francesco: Il microcosmo della pittura, Cesena 1657, Nachdruck Milano: Guido Giubbini 1966, zit. nach Lange, Justus: „Opere veramente di rara naturalezza“. Studien zum Frühwerk Jusepe de Riberas mit Katalog der Gemälde bis 1626, zugl.: Diss. Univ. Würzburg 2001, Würzburg: Ergon-Verlag 2003, S. 83 u. Dok.Nr. 27, S. 271. In den Inventaren der Sammlung Giustiniani sind 13 Werke Riberas vermerkt, s. Danesi Squarzina, Silvia: Kat. D21, S. 330f, in dies. (Hg.in): Caravaggio in Preussen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie, Ausst.kat.: Università degli Studi di Roma La Sapienza, Soprintendenza per i Beni Artistici e Storici di Roma und Gemäldegalerie SMB PK, Berlin/Mailand: SMB

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ebenso wie die gemalten Charakterköpfe im Allgemeinen – von den ‚tronjes‘ der Niederländer bis hin zu der Mode der ‚teste‘, die in der italienischen Malerei bis weit ins 18. Jahrhundert reicht und auf die oben zitierte Gewohnheit Leonardos zurückzuführen zu sein scheint – werden in Kunstliteratur und Sammlungsinventaren regelmäßig mit ähnlichen Worten beschrieben. Was an Caravaggio und seinen Nachfolgern kritisiert wurde, ist ganz offensichtlich nicht die Nachahmung der Natur an sich, sondern nur einer ganz spezifischen Form von Natur: die hässliche, die unharmonische, die ungeschliffene, rohe Natur, für die auch Abbildung 7: Jusepe de Ribera (zugeschr.): „Heiliger Franziskus“, um 1614/15, Leinwand 137x86,5 cm, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (SPSG),

GK I 5439.

Quelle: Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (SPSG) / Roland Handrick.

PK/Electa 2001; eines davon ist der hier abgebildete „Heilige Franziskus“, Leinwand 137x86,5 cm, Potsdam, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (SPSG), GK I 5439, den Danesi Squarzina als ein Werk von einem „Künstler im Umkreis von Jusepe Ribera oder Dirck von Baburen“ bezeichnet; Papi, Gianni: Ribera a Roma, Soncino: Edizioni dei Soncino 2007, Nr. 1, S. 128 hält dieses Bild für ein Frühwerk Riberas; andere Autoren sind dieser Zuschreibung bewusst nicht gefolgt, so führt es Spinosa, Nicola: Ribera. L’opera completa, Napoli: Electa 2003 mit Reserve unter Nr. A6, S. 258; bei J. Lange: „Opere“ ist es nicht aufgeführt.

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der Name von Ribera steht, der von den Vitenschreibern mit Caravaggio in Beziehung gesetzt wird. 112 Auch Giovann Pietro Bellori ist, obwohl er die umfangreichste frühe Biographie Caravaggios schrieb, diese Art der Verurteilung Caravaggios nicht fremd. 113 Seine Verdammung gilt sowohl denjenigen, die die „Maniera“ ihres Lehrers replizieren, als auch den sogenannten „Naturalisti“, die ohne künstlerische Idee bloß die Natur kopierten und für die er – nach ihrer eigenen Selbstdefinition, wie er sagt, – tatsächlich diesen Terminus benutzt.114 Wenn Bellori von dem „Temperament“ spricht, das in den Augen sichtbar sei, und der „Natürlichkeit“ der Augenbrauen 115 – so als würden die Gefühlsregungen gerade durch die Augenbrauen unverstellt ausgedrückt – scheint nun doch einmal in der älteren Kunstliteratur – in Bezug auf die glaubhafte und richtige Darstellung der Gemütsbewegungen – das Konzept eines unverstellten, nicht durch Künstlichkeit verdeckten, ‚natürlichen‘ Ausdrucks der Affekte durchzuschimmern. Für Bellori ist das Konzept einer Übertreffung der Natur durch Auswahl und Kombination natürlicher Schönheiten, die nachgeahmt werden, so zentral, dass er in dem seinem Vitenbuch voranstehenden kleinen theoretischen Text L’idea del pittore, dello scvltore e dell’architetto die seiner Auffassung nach über dem Prinzip der Naturnachahmung stehende künstlerische Idee eng an diese anbindet. 116 Mit seiner Theoretisierung der künstlerischen Idee konnte Bellori an Gedanken des Florentiners Federico Zuccari anknüpfen, der in seinem Werk L’idea de’ pittori, scultori et architetti von 1607 der Natur Göttlichkeit zugeschrieben hat und die Frage aufgeworfen hatte, wie es denn überhaupt möglich sei, dass Kunst Natur nachahme. 117 Doch kann Belloris Schrift auf den ersten Seiten auch

112 Bellori, Giovanni Pietro: Le vite de’ pittori, scvltori ed architetti moderni, scritte da [...], Rom: Success. al Mascardi 1672 (Ausg. 1976), S. 235, zit. nach Lange: „Opere veramente di rara naturalezza“, S. 10 und Dok. Nr. 86, S. 294 und S. 50, nach: Bernardo De Dominici: Vite de’ pittori, scultori ed architetti napoletani, 3 Bände, Napoli: Stamperia Ricciardi 1742–45 (Reprint: Bologna: Forni 1979, Band 3, S. 3). 113 Bellori: Le vite, S. 5. 114 Ebd., S. 10. 115 Ebd. s.P.: „Filostrato il Giovine Nel Proemio delle Immagini“. 116 „L’Idea del pittore, dello scvltore e dell’architetto scelta dalle bellezze naturali superiore alla natura discorso [...] detto nell’Accademia romana di San Luca la terza domenica di maggio M. DC. LXIV.”, in: ebd. , S. 3–13 (Hervorhebung HK). 117 Mit dem Konzept der künstlerischen Idee des wohl wegen seines theologischen Impetus wenig rezipierten Zuccari hat sich E. Panofsky: Idea, S. 49f intensiv auseinandergesetzt; in seiner Paraphrasierung heisst es dort: „‚Der Grund dafür [...] daß die

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als ein erstes Traktat über die Nachahmung der Natur gelesen werden, in dem der Autor ein neues, von den vorhergehenden Autoren abweichendes Konzept der Natur entwickelt. Während bei Vasari der ‚Disegno‘ schlicht die Idee der Dinge wiedergeben sollte und während für Zuccari die künstlerische Idee, die seinem ‚Disegno‘-Begriff praktisch identisch ist, selbst gottgegeben ist, sind es für Bellori nun die in der Schöpfungsgeschichte ersten, göttlichen Formen, die Ideen genannt werden. Sie haben sich unverändert erhalten in den Himmelskörper (und ihrer Harmonie), während die irdischen Formen, die der Veränderung unterliegen, Objekte der Hässlichkeit geworden sind. Deshalb müsse sich der Künstler eine Idee formen, die die Perfektion und Schönheit der ursprünglichen Idee wiedereinholt und die dann als göttliche Schönheit (wörtlich: „deità della belezza“, Göttin der Schönheit) in die künstlerischen Materialien einfliesst, in sie materialisert wird. 118 Daraus ergibt sich die bemerkenswerte Umkehrung, dass nun nicht mehr die künstlerische Nachahmung der Wirklichkeit ähnelt, sondern die in der Wirklichkeit der un-perfekten Natur existierende Dinge der künstlerischen Idee. 119 Diese Überlegenheit der Verwirklichung des künstlerischen Ideals über die Natur wird wortreich an vielen Textbeispielen antiker und neuerer kunsttheoretischer Autoren belegt – bis hin zu der These, dass nicht Helena selbst, sondern ihre Statue der Grund für den Krieg um Troja gewesen sei. 120 Tatsächlich aber sei die Idee von Schönheit nicht eine einzige und in sich einheitlich, sondern (wie die Natur selbst) vielfältig in ihren Formen und Eigenschaften, großartig, verspielt und zart, von jedem Alter und jedem Geschlecht, also materiell existent in allen Erscheinungsformen der Natur. 121 Und auch die Überhöhung der Natur sei nicht beliebig, sondern habe ihre Angemessenheit

Kunst die Natur nachahmt, besteht darin, daß die innere künstlerische Vorstellung, und daher die Kunst bei der Hervorbringung der künstlichen Dinge in eben derselben Weise vorgeht, wie die Natur selbst. Und wenn wir nachweisen wollen, warum die Natur nachahmbar sei, so ist es deshalb, weil sie von einem intellektiven Prinzip zu ihrem Ziel und ihren Verfahrensweisen angeleitet wird [...] und da die Kunst, vor allem mit Hilfe der genannten (inneren) Vorstellung, bei ihrem Vorgehen genau dasselbe beobachtet, so kann die Natur von der Kunst nachgeahmt werden und die Kunst die Natur nachahmen.“ Die entsprechenden Originalstellen Zuccaris sind dort zit. in den Anm. 205, S. 108 und 210, S. 109. Bei Panofsky ist zudem der Text von Belloris „L’idea“ vollständig abgedruckt. 118 Bellori: „L’idea del pittore“, in; ders.: Le vite, S. 3f. 119 Ebd., S. 4. 120 Ebd., S. 6f. 121 Ebd., S. 8.

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gemäß der ‚Natur‘, dem Wesen der jeweiligen Dinge. 122 In jedem Falle aber ist es für Bellori, wenn er den Satz „Ma ceda la Natura, e ceda il vero“ wiederholt, nun nicht mehr die Überhöhung der Natur an sich, die ein Werk wie Tizians Maria Magdalena (s. Abb. 4) über alles Andere heraushebt, sondern die Idee des Künstlers, die dahinter steht. 123 Denn nur diejenigen, die über das Gewöhnliche erhaben sind, seien in der Lage, die Göttlichkeit der Idee des Schönen zu erkennen, während das gemeine Volk nur dem Auge folge und Wirklichkeitsähnlichkeit als solche für lobenswert befinde, nur dem Neuen nachlaufe, die Vernunft verachte und sich damit von der Wahrheit der Kunst entferne. 124 Die Wahrheit der Kunst ist damit nun nicht mehr an die Treue der Naturnachahmung gebunden, sondern an die Idee, die hinter ihr steht. Die Phantasie des Künstlers ist die gegenüber der Nachahmung höhere Qualifikation, denn letztere wiederhole nur das Gesehene, während die Phantasie auch nichtsichtbare Dinge in ihrer Beziehung zu den sichtbaren zeigen könne. Es ist die Phantasie des Künstlers, die es ermöglicht, in der Kunst auch die Themen der poetischen Natur wirklichkeitsähnlich darzustellen. Nur durch sie habe sich Venus/Aphrodite, sowie die Grazien und Amoretten dazu bewegen lassen, den Garten Idalions und die Strände von Cythera zu verlassen und in der Härte des Marmors und im Hell und Dunkel (besser: den Farben) der Malerei heimisch zu werden. 125

AKADEMISCHE

UND NICHT - AKADEMISCHE KUNSTTHEORETISCHE D ISKURSE

Auch im späten 17. und 18. Jahrhundert, als die bedeutenden Impulse der Kunsttheorie nicht mehr von Italien, sondern von Frankreich ausgingen – nicht aber unbedingt die innovativen künstlerischen Strömungen, wie der Triumph der Vedute, der sich in Italien geradezu zu einem Boom auf dem international geprägten Kunstmarkt der Reisenden der Grand Tour ausgewachsen hat –, bleibt der Gedanke, dass Kunst in ihrem tiefsten Wesen Nachahmung der Natur ist, Grundlage jeder Diskussion. Je mehr aber die französische, von der Académie Royale de Peinture et de Sculpture dominierte Kunstliteratur der Vitenschreibung entwächst und sich ein wirklicher kunsttheoretischer Diskurs entwickelt, werden die Themen, die in der akademischen Literatur mit der Ut pictura poësis-Debatte,

122 Ebd., S. 9. 123 Ebd., S. 8. 124 Ebd., S. 11. 125 Ebd., S. 6 und 13.

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der Querelle des anciens et des modernes, dem Streit der Rubenisten und Poussinisten sowie der Debatte um den Ausdruck der Leidenschaften (expression des passions) diskutiert werden, 126 spezifischer. Der Begriff der Natur selbst steht damit weitgehend außer Frage. André Félibien, der Architekt, der den Titel „Historiographe du roi“ trug, und ab 1671 Sekretär der Académie Royale war und als Begründer der Kunsttheorie im Frankreich des 17. Jahrhunderts gilt, gibt in seinem Dictionnaire, das seinem theoretischen Grundlagenwerk Principes anhängt, kein Stichwort zum Thema Natur; der weniger als eine Seite lange Beitrag in Pernetys späterem Dictionnaire portatif ist konventionell, der in dem spät im 18. Jahrhundert erschienenen Dictionnaire von Watelet und Levesque kompiliert im Wesentliche ältere Auffassungen. 127 Félibien ordnet Naturtreue dem Begriff des Geschmacks, des ‚Gout‘ zu, der im kommenden Jahrhundert mit der Etablierung von persönlicher Kennerschaft bei Sammlern und Auftraggebern zum Zentralbegriff der Bildung zum Kunstkenner werden wird: Was das Schöne der Natur widergibt, ist guten Geschmacks, was nicht der Idee des Schönen in der Natur

126 Zentraler Quellentext für die ‚Ut pictura poësis‘-Debatte ist: Du Bos, Jean-Baptiste: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. Ut pictura poesis, Paris: Jean Mariette 1719; zur ‚Querelle des anciens et des modernes‘ siehe Perrault, Charles: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences [...] Mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauss und kunstgeschichtlichen Exkursen von M. Imdahl, München: Eidos Verlag 1964 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. Texte und Abhandlungen, Band 2), Erstausg. des Textes: 1688; zum von Roger de Piles ausgelösten Streit der Rubenisten und Poussinisten: Teyssèdre, Bernard: Roger de Piles et les débats sur le coloris au siècle de Louis XIV. Ouvrage publié avec le Concours de la Fondation Wildenstein et du Centre National de la Recherche Scientifique, Paris: La Bibliotheque des Arts 1957; und: Kirchner, Thomas: L’Expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz: Verlag Philipp von Zabern 1991 (Berliner Schriften zur Kunst, 1). 127 Pernety, Antoine-Joseph: Dictionnaire portatif de peinture, sculpture et gravure; avec traité practique des differentes maniers de peindre, dont la théorie est dévelopée dans les articles qui en sont susceptibles. Ouvrage utile aux artistes, aux eleves & aux amateurs, Paris: Bauche 1757, S. 416f; Watelet, Claude-Henri/Lévesque, Charles: Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure [...], Paris: Prault 1792, Band 3, S. 576–82.

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folgt, wie sie von älteren, vorbildhaften Künstlern vorgegeben ist, nicht. 128 Folgenreicher ist die Position von Roger de Piles, der im Gegensatz zu Félibien eher die Position des unabhängigen Sammler-‚Connoisseurs‘ vertritt: bei ihm wird – offensichtlich auf Belloris Idea aufbauend – Naturtreue mit dem Begriff der Wahrheit verbunden, allerdings in einem Sinne, der über die bloße Richtigkeit der Abbildhaftigkeit hinausgeht. Kunst, besonders die Malerei, übt immer noch barocke Augentäuschung aus, 129 doch gilt diese nun als die erste, niedere Form des Kunstverständnisses. 130 Wahrheit bzw. ‚das Wahre‘ ist für de Piles der Grund und die Basis aller menschlicher Bemühungen, der Wissenschaften, wie auch der Künste. 131 Für jede Kunst aber gäbe es eine spezifische Wahrheit. 132 Für die Malerei unterscheidet er drei Formen der Wahrheit: die ersten beiden sind die ‚einfache Wahrheit‘, die wirklichkeitsgetreue Abbildung der einzelnen Dinge und der Bewegungsformen der Natur im Bild, und die ‚ideale Wahrheit‘, die Auswahl verschiedener perfekter Schönheiten in ihrer ihnen eigenen Unterschiedlichkeit, die aber (nach dem Zeuxis-Modell) nie in einem einzigen Modell der Natur zu finden sind. 133 Vorbilder für die ‚ideale Wahrheit‘ finden sich in der Regel in der Antike. 134 Während die erste für sich allein stehen kann, ist die zweite immer auf die Verwirklichung durch die souverän ausgeübte Naturtreue, die ‚einfache‘ Wahrheit angewiesen. 135 Die dritte Art der Wahrheit, die zusammengesetzte, ‚komposite‘ Wahrheit, die nichts Anderes ist als das ausgewogene Verfügen über die beiden vorhergehenden, wird als die perfekte, absolute Wahrheit angesehen, weil nur sie die ideale Abbildung der schönen Natur ermögliche. 136 Diese Wahrheit kann deshalb wahrer scheinen als die Wahrheit der Natur selbst. 137 Roger de Piles aber ist auch der erste und wohl einflussreichste Theore-

128 Félibien, André: Des principes de l’architecture, de la sculpture, de la peinture, et autres arts qui en dependant. Avec un dictionnaire des termes propres à chacun de ces arts, Paris: Jean-Baptiste Coignard 1676, S. 609. 129 Piles, Roger de: Cours de peinture par principes [...], Paris: Jacques Estiennes 1708, S. 3 und 12. 130 Vgl. seine Einleitung „L' Idée de la peintvre, pour servir de preface a ce livre“, ebd. S. 3–5. 131 Ebd., S. 29. 132 Ebd., S. 30. 133 Ebd. S. 30f. 134 Ebd. S. 32. 135 Ebd., S. 32–34. 136 Ebd., S. 34. 137 Ebd.

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tiker der sich verbreitenden, weitgehend Sujet-unabhängigen Landschaftsmalerei, die freilich immer noch eine in höchsten Maße konstruierte und komponierte, und kaum eine reine Naturabbildung war. Ihr widmet er einen umgreifenden, 60-seitigen Abschnitt, der sich über weite Teile wie ein Lob der Vielfalt der landschaftlichen Natur liest. 138 Vielfalt, Abwechslung in der Darstellung ist gefordert, u. a. für die Auswahl der Örtlichkeiten („les Sites“), die Formationen der Wolken und die Farbspiele der Himmel, die Wiesen- („Gazon“) und Erdflächen, die Felsen, die Vielfalt der Gewässer, und, nicht zuletzt die Verschiedenheit der Wipfelformen der Bäume in der Landschaft. 139 Auch hier ist immer nach dem Prinzip der Auswahl des Schönsten und Angemessensten zu verfahren. 140 Vielfalt der Natur wird von de Piles nicht nur als deren höchste Schönheit angesehen, sondern auch als ein Hindernis für den Künstler, eine zusätzliche Schwierigkeit, die durch das Vorbild der Antike korrigiert werden muss, um das wahre Ideal der echten Wahrheit zu erreichen. 141 Die entschiedene (Rück-)Bindung der Naturnachahmung an die Wahrheit der Kunst (oder umgekehrt), die de Piles Bellori folgend vollzogen hatte, sollte weitreichende Folgen haben, unter anderem auch für die berühmten Salon-Kritiken Denis Diderots, in denen sich die Kunst der Kritik zur literarischen Überhöhung der Kunst – von einfachen, quasi technischen Notationen bis zu den berühmten, bereits Literatur gewordenen Beschreibungen von 1767 – entwickelt. In einer frühen Textstelle zu der im Salon de 1761 ausgestellten Flusslandschaft mit Schäferszene 142 von François Boucher (Abb. 8) wirft er dem Maler in seinen typischen Ausrufen, die immer wieder das Wahre der Kunst evozieren, 143 vor, alles zu haben, was ein Gemälde brauche: Vielfalt, Reichtum der Farben und Ideen, d. h. ganz im akademischen Sinne auch: Invention, nur keine Wahrheit. 144 Gemeint ist damit zunächst nichts Anderes als einfache Wirklichkeitstreue, oder

138 Ebd., S. 200–59; s. auch S. 404f. 139 Ebd., S. 207, 210f, 217 und 219f, 218f, 223–25, 231–37. 140 Ebd., S. 245f, vgl. auch S. 201. 141 Ebd., S. 101, sowie S. 129f. 142 Leinwand, 58,5 × 72 cm, Colección Carmen Thyssen-Bornemisza en depósito en el Museo Thyssen-Bornemisza, Accession number CTB.1997.4.1. 143 Diderot, Denis: „Essais sur la peinture pour faire suite au Salon de 1765“, in: ders., Œuvres completes, Band 14 (= Beaux-Arts I.), hg. von Else Marie Bukdahl, Annette Lorenceau und Gita May, Paris: Hermann 1984, S. 367. 144 Diderot, Denis: Salons, hg. von Jean Seznec und Jean Adhémar, Oxford: Clarendon 1957–67, Band 1, S. 112.

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Abbildung 8: François Boucher: Flusslandschaft mit Schäferszene, 1762, Leinwand, 58,5 × 72 cm, Madrid, Colección Carmen Thyssen-Bornemisza en

depósito en el Museo Thyssen-Bornemisza, Accession number CTB.1997.4.1.

Quelle: © Colección Carmen Thyssen-Bornemisza en depósito en el Museo ThyssenBornemisza, Madrid.

zumindest -nähe in der Invention der Bildszene, doch ist das Verhältnis von Natur und Kunst bei Diderot – wie auch das Verhältnis von Kunst und Wahrheit – nie eindimensional gedacht. Seine Essais sur la peinture beginnt er mit der Feststellung, dass die Natur (d. h. die schaffende Natur) an sich fehlerfrei ist, 145 um dann – quasi in einem Atemzug – vor dem Despotismus der Natur zu warnen, 146 dem es auszuweichen gilt. Ein Makel eines Wesens oder eines Dings in der Natur ist ein Makel nach menschlichen Maßstäben, nicht aber nach den höheren der Natur. 147 Diderot, der ja nicht nur Kunst, sondern auch über Naturphilosophie geschrieben hat, stellt damit implizit die in der älteren Kunstliteratur behauptete Fähigkeit der Kunst in Frage, Natur zu verschönern und damit zu überhöhen. Erst eine vollständige Imitation der Formen der Natur nach den ihr eigenen

145 Diderot: „Essais sur la peinture“, S. 343. 146 Ebd., S. 345. 147 Ebd., S. 344.

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Gründen (in die wir nur beschränkte Einsicht haben), würde eine befriedigende Naturnachahmung ermöglichen 148 und das Verfallen in die Manier verhindern. 149 In diesem komplizierten Spannungsverhältnis ist auch sein emphatisches Lob von Joseph Vernet als Vertreter der wirklichkeitsabbildenden Vedute und von Jean Siméon Chardin als Meister der Genremalerei zu sehen, das in den berühmten Beschreibungen der Gemälde Vernets von 1767 gipfelt, wo das im Bild Gezeigte wie Wirklichkeit geschildert wird, bis zu dem Punkt, dass in der Vermischung der beschriebenen Bildszene und des fingierten Gesprächs die Schatten der Landschaft im Bild länger werden... ‚Wahrʻ ist für Diderot vor allen anderen die Malerei von „Vernet et Chardin“, die er selbst mit einander in Verbindung setzt. 150 Nur sie seien in der Lage, die Farben der Natur in allen ihren Nuancen 151 wiederzugeben: „Chardin est si vrai, si vrai, si harmonieux [...]“. 152 Und auch an Vernet, dessen Ports de France-Gemälde 153 in jenen Jahren sukzessive in den Salons ausgestellt wurden (Abb. 9), lobt der Autor neben der Vielfalt („varieté“) der Darstellung vor allem seine Wahrhaftigkeit („vérité“). 154 In der Natur gäbe es ein Gesetz der inneren Notwendigkeit, 155 und es ist Joseph Vernet, der darin Einsicht hat, wie kein Anderer. In diesem Sinne ist Natur dem Geschmack entgegengesetzt, der das Gefällige fordert. 156 Ein Bild von Vernet aber ist wie aus der Natur, der Landschaft ausgeschnitten. 157 Andererseits operiert der Autor in seinen kunsttheoretischen Texten wiederholt mit einem Schöpfervergleich: Der Maler, Vernet, agiert wie die Natur, deren Geheimnisse er mit ihr teilt, indem er die Menschen in Aktion bringt, Nebel auf- und abziehen lässt, den Himmel öffnet und die Sonne und den Mond in den Himmel setzt; er der Künstler schafft die Stille des Waldes, er kann Seestürme aufkommen lassen und beruhigen. Die an sich wie ein Chaos erscheinende Natur wird durch ihn zu etwas Verzaubern-

148 Ebd., S. 344. 149 Ebd., S. 350. 150 Diderot: Salons, Band 2, „Salon de 1765”, S. 111 und 121. 151 Ebd., S. 356. 152 Ebd., S. 111. 153 Vgl. Manœuvre, Laurent/Rieth, Eric: Joseph Vernet 1714–1789. Les Ports de France, Arcueil: Ed. Anthèse 1994. 154 Diderot: Salons, Band 2, „Salon de 1765”, S. 120 ff. und z. B.: Band 4, „Salon de 1769“, S. 87f. 155 Ebd., Band 3, „Salon de 1767”, S. 132. 156 Ebd., S. 153. 157 Ebd., Band 2, „Salon de 1765“, S. 120f.

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dem und gewinnt durch ihn ihren Charme zurück. 158 Doch ist das, was er macht, nicht mehr nur Natur, es ist Vernet, 159 denn seine Schöpfung, komme nicht direkt aus der Natur, sondern sei seine ‚Imagination‘. 160 Vernet lehre, die Natur neu zu sehen, bzw. in ihr etwas zu sehen, was wir vorher nicht gesehen haben. 161 Kunst ist nicht mehr nur „vraisemblable“ oder „verosimile“, 162 ‚wirklichkeitsähnlich‘; sie soll eine ihr eigene, der von vornherein uneinholbaren Natur 163 nicht gleichende Wahrheit haben. Was Diderot fordert, ist in erster Linie das, Abbildung 9: Claude-Joseph Vernet: „Der Hafen von Dieppe“, aus der Serie der „Ports de France“, Leinwand, 165,5 x 26 cm, signiert und datiert: „Joseph Vernet / f. 1765“, Paris, Musée national de la Marine, INV: 8307; eines der 1765 von Diderot besprochenen Gemälde und als das meistbewunderte des Salons bezeichnet.

Quelle: Ingersoll-Smousse, Florence: Joseph Vernet. Peintre de marine 1714-1789. Etude critique suivi d’ un catalogue raisonné de son oeuvre peint avec 357 reprod., Paris 1926.

158 Ebd., Band 1, „Salon de 1763“, S. 227–29. 159 Ebd., Band 3, „Salon de 1767“, S. 159. 160 Ebd., S. 160. 161 Ebd., Band 3, „Salon de 1767“, S. 131. 162 Im Französischen heisst es bezeichnenderweiser „vraisemblance“, ‚wirklich scheinend‘, während es im Italienischen heisst „verosimile“, ‚wirklichkeitsähnlich‘! 163 Vgl. auch Diderot, Denis: „Pensées sur l’interprétation de la nature“, in: ders.: Œuvres complètes, Band 9, S. 64f.

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was bis heute jede künstlerische Produktion auszeichnet: eine Kunst ohne jede Art von Routine, 164 besonders der akademischen. Denn: Wahrheit ist bei Diderot auch ein Begriff, der sich gegen die Académie und ihre Versuche richtet, die Künste in theoretische Regelung zu zwingen. 165 Im Venedig derselben Zeit, wo mit der Malerei von Giovanni Antonio Canal, international schon zu seinen Lebzeiten besser gekannt als Canaletto, die wirklichkeitsabbildende Kunst der Vedute, die Diderot in Vernet so hoch gelobt hat, ihre erste und höchste Blüte in Italien erlebt hatte, fehlt sowohl die akademischkunsttheoretische Diskussion, die die französischen Kunstdiskurse des späten 17. und 18. Jahrhunderts bestimmte, als auch eine sich schriftlich artikulierende Kunstkritik weitgehend. Um sich einer kunsttheoretischen Begründung der Kunst der venezianischen Vedute von Canaletto und seiner Nachfolge anzunähern, die in tausendfacher Wiederholung und Variation zu einer europaweiten Verbreitung in den Kunstsammlungen und Galerien der Zeit gelangen sollte, ist es deshalb notwendig auf die Texte kunstfremder Autoren zurückgreifen. In einer Sammlung posthum veröffentlichter Texte des Dichters und Gelehrten Antonio Conti ist ein Fragment zur Theorie der Wirklichkeitsähnlichkeit (das „verisimile“) in den Künsten, besonders der Poesie wiedergegeben, in dem ausdrücklich die Parallele zur Bildenden Kunst gezogen wird. Dabei wird die Malerei Canalettos, ohne die (und ohne die Paninis in Rom) Vernet nicht denkbar gewesen wäre, explizit als Beispiel für das Ähnlichkeitsverhältnis von Kunstwerk und Wirklichkeit angeführt. Auch hier steht die Annahme einer von vornherein uneinholbaren Wirklichkeit/Natur im Vordergrund: Kunst könne nie mehr als nur einen Teil der Natur abbilden („il vero“, das nachgeahmt werden soll, steht hier deckungsgleich für die Wirklichkeit, die traditionell mit dem Naturbegriff bezeichnet wird). Der ‚weise‘ Canaletto – und es scheint, der Autor bezieht sich hier direkt auf des Malers Vorgänger und Konkurrenten – könne mehr Elemente („punti“) der Wirklichkeit ins Bild bannen als andere, nie aber die ganze Natur, selbst wenn er sich für seine augentäuschende Malerei der neuen Technik der Camera obscura bediene, deren Gebrauch für die Vedutisten historisch nachgewiesen ist. Denn das Ähnliche ist nie Dasselbe. Die Unmöglichkeit, alle Facetten der Natur wiederzugeben, begründe, dass Kunst nur Ähnlichkeit, aber nie Gleichheit mit der Natur erreichen könne. Da es aber Ziel der Kunst sei, dieselbe Empfindung hervorzurufen, wie das nachgeahmte Sujet sie hervorgerufen hat, müsse der Künstler eben diese Punkte auswählen, die diese Empfindung hervor-

164 Diderot: Salons, Band 4, „Salon de 1769“, S. 88. 165 Vgl. ders.: „Essais sur la peinture“, S. 388.

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rufen. 166 Nur leicht verschoben in Richtung der der Natur eigenen Qualitäten findet sich der Hinweis auf die unendliche Vielfalt der Natur und ihre unterschiedlichen Qualitäten auch in dem Lob wieder, das der literarische Mitstreiter Carlo Goldonis, Gasparo Gozzi, der Genremalerei von Pietro und Alessandro Longhi (Abb. 10), die auch Goldoni selbst als Schwesterkunst seiner bürgerlichen Dialektkomödien akzeptierte, 167 zollte. Auf ältere Konzepte der Kunstliteratur („se ne forma uno special disegno in sua mente“) rekurrierend und gleichzeitig die geltenden Genrehierarchien in der Malerei negierend, erkennt er in der graziösen Genremalerei Pietro Longhis und der monumentalen (Historien-)Malerei eines Tiepolo unterschiedliche, doch gleichwertige Arten („generi“[!]) der Nachahmung, die jeweils ihre eigene Schönheit haben. Dabei sei nicht die eine ‚perfekter‘ als die andere, denn beide Qualitäten seien in der Natur zu finden, sowohl die Großartigkeit des einen als auch die Grazie des anderen. 168 Für den Newtonianer Algarotti, der den ‚Damen‘ seiner Epoche die neuen Theorien zur Natur des Lichtes und der Farben nahe gebracht hat, gleicht die Vedute den Bildern, die die Natur selbst auf die Retina zeichnet. 169 Dasselbe geschehe in der Camera obscura, die er selbst „Camera ottica“ nennt und deren sich die Vedutenmaler, wie vielleicht auch schon die niederländischen Feinmaler bedienten. 170 Natur ist hier – wieder und wieder – die alte, schaffende Natur, nur dass sie nun auch Bilder malt. Doch dass damit noch keine gute Kunst geschaffen ist, wusste im 18. Jahrhundert nicht nur Canaletto selbst (und Algarotti kann es nicht entgangen sein!). Denn genau das ist gemeint, wenn Anton Maria Zanetti in seiner Biographie des unübertroffenen Meisters der Vedute bemerkt, dass er es gewesen sei, der „durch das Beispiel den wahren Gebrauch der Camera obscura

166 Conti, Antonio: Prose, e poesie del signor [...], Venedig: presso Giambattista Pasquali 1739/56, Bd, 2 (posthum erschienen): „§. X. Dissertazione sopra la ragion poetica del Gravina“, S. 247–66, zit.: 250. 167 Die Ode Carlo Goldonis „Del sig. Dottor Carlo Goldoni fra Gli Arcadi Polisseno Fegejo Al Signor Pietro Longhi veneziano Celebre pittore“, in: ders: Tutte le opere, hg. von Giuseppe Ortolani, Mailand: Mondadori 1950–56, Band 13, S. 187/88 wurde 1750 anläßlich der Hochzeit Giovanni Grimanis mit Caterina Contarini verfasst; sie ist abgedruckt u. a. bei Terisio Pignatti: Pietro Longhi, Venedig: Alfieri 1968 (Profili e saggi d’Arte veneta), S. 70. 168 Gozzi, Gasparo: o. T. [zu einem „Ritratto d’un Locandiere Veneziano, fatto dal Signor Abate Alessandro Longhi“], in: Gazzetta Veneta, 55, 13. August 1760. 169 Algarotti, Francesco: „Saggio sopra la Pittura“, in: ders.: Opere, Band 3, S. 121. 170 Ebd., S. 125.

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gelehrt habe und, wie man die Fehler erkennt, die sich ergeben, wenn man sich ganz auf die Perspektive verlässt, die man in ihr sieht.“ 171 Abbildung 10: Pietro Longhi: „Die Tanzstunde“, oder: „Der Tanzmeister“, Leinwand, 60 × 49 cm, ca. 1741, Venedig, Gallerie dell’Accademia, cat. n. 465.

Quelle: aus: Moschini, Vittorio: Pietro Longhi, Mailand: Aldo Martelli Editore, 1956 [I sommi dell’arte italiana].

171 Zanetti, Anton Maria: Della Pittura veneziana e delle opere pubbliche de’ veneziani maestri libri V., Venedig: Giambattista Albrizzi 1771 (Nachdruck: Venedig: Filippi Editore 1972), Stichwort „Antonio Canal“”, S. 463; Übersetzung HK. Zu Canalettos Gebrauch der mit der Camera angefertigten Zeichnungen vgl. zuletzt: Liebsch, Thomas: „Canalettos Veduten und die Camera obscura“, in: Canaletto. Ansichten vom Canal Grande in Venedig. Kabinettausstellung anlässlich der Restaurierung zweier Gemälde von Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto, hg. von Andreas Henning, Axel Börner u. Andreas Dehmer, Dresden: Michael Sandstein Verlag und Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2008 (= Das restaurierte Meisterwerk, 5), S. 39–43, sowie: Perissa Torrini, Annalisa (Hg.in): Canaletto. Il quaderno veneziano. Edizione anastatica, Ausst.-kat. Museo di Palazzo Grimani, Venedig: Marsilio 2012.

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T HEORIE UND P RAXIS DER G ARTEN - UND L ANDSCHAFTSKUNST ‚Natürlichkeit‘ ist natürlich auch ein Begriff der Gartenkunst. Wir denken dabei unwillkürlich an Anlagen wie Stourhead, Wiltshire (Abb. 11), 172 den ausgeprägten Englischen Landschaftsgarten. Horace Walpole kontrastiert die Gärten von William Kent, der Architekt und in Italien ausgebildeter Landschaftsmaler war und berühmte, frühe ‚Englische‘ Landschaftgärten wie Rousham (Oxfordshire), Chiswick, Stowe (Buckinghamshire) und Claremont (Surrey) gestaltet hat, den symmetrischen Gärten des Barockzeitalters mit ihren Heckenparterres und den geraden, von geschnittenen Bäumen gesäumten Alleen, die er ausdrücklich ‚unnatürlich‘ nennt. Die moderne Gegenposition der Gärten Kents, wäre demnach als ‚natürlich‘ zu bezeichnen. 173 Diese Art der Benutzung des Begriffs ‚Natürlichkeit‘ dient – wie häufig in der darauf folgenden Zeit – auch der Ab- oder Ausgrenzung, wobei die Eigenschaft, ‚natürlich‘ zu sein, nun durchgehend als Abbildung 11: Der Park von Stourhead, Wiltshire, The National Trust. Blick über den aufgestauten River Stour mit der „Roman Bridge“ zum „Pantheon“.

Quelle: © National Trust Images / Arnhel de Serra, Image No.1060425.

172 Geo-Daten: 51°06’18.4"N 2°19’04.5"W. 173 Ebd., S. 59–67; der Begriff der Natur wird hier häufig richtigerweise ersetzt durch den der ‚Landschaft’, die durch Kent bereinigt (und damit verbessert, aber nicht im Sinne barocker Gärten umgestaltet) worden ist, vgl. S. 59.

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etwas Positives, Auszeichnendes angesehen wird. Je mehr jedoch im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Gartenkunst die Architektur und Malerei als Leitkunst ablöst, ergibt sich zwangsläufig eine fundamentale Neufassung im Naturbegriff der Kunsttheorie und dem mit ihm verbundenen Konzept ihrer Nachahmung. Die Bedeutung, unter der der Begriff ‚Natur‘ in der Gartentheorie benutzt wird, verschiebt sich von der Bezeichnung der äußeren (tatsächlichen, historischen oder poetischen) Wirklichkeit, die nachgeahmt wird, hin zu einem Naturbegriff, der zunehmend die äußere Umgebung (in der Regel nicht-städtischer Art), die Landschaft bezeichnet. Im Praktischen ist das die Kulturlandschaft der englischen ‚countryside‘, noch nicht aber notwendigerweise eine ‚unberührte‘ Natur im heutigen, allgemein verstandenen Sinn. Daraus folgt: Natur wird nicht mehr wie in Malerei, Poesie, Architektur und Skulptur nachgeahmt (ihre „vastness“ ist für die Kunst ohnehin uneinholbar), sondern an sich selbst verbessert. Und das gilt selbst dort, wo etwa wilde Felsen in Nachahmung einer rauen, ‚wilden‘ Natur angelegt werden – auch sie werden eingefügt zur Verbesserung der bestehenden Landschaft/Natur, um diese interessanter zu gestalten. Deutlicher: in der Gartenkunst geht es nicht mehr darum, die Natur in der Nachahmung verschönert darzustellen, sondern direkt in diese einzugreifen, um sie selbst besser, schöner werden zu lassen. Denn, während das Gemälde durch seinen Rahmen sagt, hier ist ein Anderes, ein abgesondertes Stück nachgeahmter Natur, ist jeder Garten ein Eingriff in die bestehende Natur, durch den Kunst Realität wird. „Improvement“ wird nun das neue Schlagwort, das die avancierteste Kunstform des Jahrhunderts bestimmt: „nature has been improved to the best advantage“, formuliert der Architekt und Gestalter von Kew Gardens William Chambers: die Natur wird zu ihrem eigenen Vorteil verbessert! 174 Und Humphry Repton, der berühmte Gartendesigner, beginnt seine Sketches and Hints on landscape gardening mit den Worten „To improve the scenary of a Country [...]“. 175 Der Ausdruck „the art of improving“ (the landscape, und damit die Natur) wird zum Terminus, der die moderne Gartenkunst insgesamt bezeichnen kann. „Faire céder l’art à la nature“, dieser Satz steht erstmals in der zweiten Auflage von Antoine Joseph Dezallier d’Argenvilles vielrezipiertem und häufig neu

174 Chambers, William: A Dissertation on Oriental Gardening, London: W. Griffin 1772, S. v. 175 Repton, Humphry: „Introduction”, in: ders., Sketches and Hints on Landscape Gardening. Collected from Designs and Observations now in the Possession of the Different Noblemen and Gentlemen, for Whose Use they Were Originally Made. The Whole Tending to Establish Fixed Principles in the Art of Laying out Ground, London: W. Bulmer and Co. 1794, S. xiii.

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aufgelegtem, barocken Gartenbuch La Théorie et pratique du jardinage von 1713. 176 Das hört sich nach einer radikalen Neufassung des Verhältnisses von Kunst und Natur an, nachdem die Kunstliteratur über Jahrhunderte die Verschönerung der Natur in der Nachahmung gepredigt hatte. In der fast zwanzig Jahre später entstandenen deutschen Übersetzung des Buches, wo es heisst, „daß die Kunst der Natur weiche“, 177 scheint der Satz unmissverständlich zu meinen, die Kunst habe im künstlerisch gestalteten, repräsentativen Garten (und von diesem handelt er) keine Rolle mehr zu spielen, oder, was richtiger ist: sie solle sich verstecken, nicht zu sehen sein. 178 Das Kunstwerk solle schlicht ‚natürlich‘ erscheinen, wie es der Landschaftsgarten tut. Doch sind die Dinge auch hier komplizierter als es auf den ersten Blick erscheint: Der Satz greift zunächst eine Formulierung Félibiens auf, die dem Autor, der mit der grundlegenden Kunstliteratur selbstverständlich vertraut gewesen ist, nicht entgangen sein kann und in der eine andere Konnotation des französischen Verbs „ceder“ deutlich wird. Sie steht in Zusammenhang mit der Kunst der Malerei, ihren Gegenstand schöner darzustellen, als er ist, wenn er an sich nicht besonders anziehend erscheint. Vor einem „beau naturel“ aber, einem schönen Modell, müsse die Kunst hinter der Natur wie der Schüler gegenüber seinem Meister und wie die Kopie hinter dem Original ‚zurückstehen‘ (wie man wohl besser übersetzen muss, denn mit Si-

176 Wimmer, Clemens Alexander: Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 135 konstatiert: „Die ‚Theorie et Pratique‘ war das in Europa vor dem Sieg des Landschaftsgarten verbreiteste Gartenbuch, die ‚Gartenbibel‘.“ Das Textzitat aus Antoine Joseph Dézallier d’Argenville: La Theorie et la pratique du jardinage, ou l’on traite a fond des beaux jardins apellés communément les jardins de plaisance et de propreté [...] Contenant plusieurs plans et dispositions générales de jardins ... Avec la manière de dresser un terrain, d’inventer des desseins selon le lieu, & de les y tracer & executer [...]. Paris: Jean Mariette 1713, S. 18. 177 le Blond, Alexandre, fälschlich für: d’Argenville, Antoine Joseph Dézallier: Die Gärtnerey sowohl in ihrer Theorie oder Betrachtung als Praxis oder Übung. Aus dem Frantzösischen ins Teutsche übersetzt durch Frantz Anton Danreitter, Neudruck der Ausgabe Augsburg: Pfeffel 1731, mit einem Nachwort von Harri Günther, Leipzig: Edition Leipzig 1986 (= Bibliotheca hortensis, 1), S. 23. 178 Ein anderes das frühes Beispiel für die Rede von einer Kunst, die die Natur beherrscht, sich aber nicht zeigen soll, ist das von Stephen Switzer aufgegriffene Zitat von Alexander Pope: „First follow Nature [...] / That Art is best which most resembles her, / And still presides, yet never does appear.“, zit. nach Wimmer: Geschichte der Gartentheorie, S. 158.

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cherheit muss ja nicht der Schüler dem Meister, die Kopie dem Original weichen!). 179 Zudem darf man nicht übersehen, dass sich Dezallier d’Argenville noch 1745 in seinen Bemerkungen zur Malerei einem Natur(nachahmungs)begriff verhaftet zeigt, der zum großen Teil die Formulierungen der älteren Malereitraktate wiederholt. 180 Glücklicherweise aber gibt Dézallier d’Argenville selbst Anwendungs-Beispiele dafür an, was er für „hors du naturel“ („gezwungen und gar nicht natürlich“) hält. Er kritisiert alles, was nur wegen des vielen zur Verfügung stehenden Geldes zur Repräsentation angelegt worden ist: zu hohe Terrassenmauern, große Steintreppen, „allzu viel gezierte Spring-Brunnen“, die zu große Zahl von Gebäuden und Gartenarchitekturen, die mit Skulpturen und Vasen geschmückt sind, etc. 181 Stattdessen ruft er zu einer größeren Sparsamkeit in der Dekoration auf. Ohne vom Konzept der Verschönerung abzugehen, empfiehlt er, dass die Pflanzungen des Gartens so aussehen sollen, als seien sie von der Natur als Autorin (der schaffenden Natur!) selbst dort hingesetzt worden. In der deutschen Übersetzung fällt hier – vielleicht zum ersten Mal in der Kunsttheorie – auch das Wort von „der edlen Einfalt“, der der große Prunk zu weichen habe. 182 Die Illustrationen aber, die seinem Werk beigegeben sind, zeigen wenig, was mit einer heutigen Vorstellung einer neuen ‚Natürlichkeit‘ in der Gartenkunst in Einklang gebracht werden könnte. Es handelt sich um eine sehr bedingte Hinwendung zu einem höheren Grad von ‚Natürlichkeit‘; von einer Neuformulierung des Naturbegriffs, nach dem die Kunst hinter der Natur zurückstehen müsse, ist darin nichts zu spüren. 183 Dies gilt ähnlich auch für einen Autor wie Batty Langley, der in seinen New Principles of Gardening von 1728 die Kritik des Barockgartens ebenfalls verbal an höhere Naturnähe bindet: immensen Ausgaben seien die Schönheiten der Natur geopfert worden, um ebene

179 Félibien: Entretiens, Band 3, S. 4. 180 d’Argenville, Antoine Joseph Dézallier: Abregé de la vie des plus fameux peintres, Paris: de Bure l’Aîné 1745/52, Band 1 „Avertissement“, S. i–iii. 181 Die Negativbeispiele bei Dézallier d’Argenville: La Theorie et la pratique, S. 18f; die deutsche Übersetzung nach ders.: Die Gärtnerey, S. 23f. 182 Ebd., S. 19. 183 Lauterbach, Iris: „‚Faire céder l’art à la nature‘. Natürlichkeit in der französischen Gartenkunst des frühen 18. Jahrhunderts“, in: Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit, hg. von Christoph Kampmann, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2012 hat den Versuch gemacht, konkrete Elemente der Gartengestaltung aufzuzeigen, in denen diese neue Hinwendung zur Naturnähe nachvollziehbar ist.

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Abbildung 12: Batty Langley: Vorschlag für die Anlage eines Gartens, aus dem Buch New Principles of Gardening, 1728, „Plate XIV“.

Quelle: Langley, Batty: New Principles of Gardening, London: A. Bettesworth und J. Batley et al. 1728.

Flächen und Regelmäßigkeit zu erzeugen. 184 Stattdessen fordert er Entwürfe, die groß und edel sind, „after Nature’s own Manner“, in der Art der Natur selbst. 185 Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Beschreibungen zu seinen Gestaltungsvorschlägen. So werden im Begleittext zu dem hier abgebildeten Gartenplan (Abb. 12) die Schlängelwege der Insel links des Rundplatzes, von dem die Achsen ausgehen, als ländlich bezeichnet und auch andere Gartenbereiche seien nach den Regeln, die der Natur eigen sind, verschönert, wie auf den ersten Blick erkennbar sei 186 – eine Aussage, die sich dem heutigen Auge allenfalls in den als waldartig gekennzeichneten Bereichen jenseits der die Gestaltung bestimmenden großen Alleen erschließt. Was bei Dézallier d’Argenville und Batty Langley angesprochen ist, ist ganz offensichtlich noch im klassischen Sinne Naturdarstellung: Ein Stück scheinbar ungeregelte Natur wird als künstlerisches

184 Langley, Batty: New Principles of Gardening, London: A. Bettesworth und J. Batley et al. 1728, S. x [eigentlich: v]. 185 Ebd., S. vii. 186 Ebd., S. xiv, zu „Plate XIV“, S. ix. zu „Plate IV“ u. S. xiii, zu „Plate X and XI“.

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Spiel wie in einem Bild innerhalb des Rahmens des abgeschlossenen, symmetrisch angelegten Gartens nachgeahmt. 187 Die Theorie ist in der Verwendung des Begriffs der ‚Natürlichkeit‘ der Wirklichkeit des gestalteten Landschaftsgartens also weit voraus. Bis zu der Einheit eines neu geschaffenen, doch ‚natürlich‘ wirkenden künstlichen Paradieses, wie Stourhead es ist, ist es von hier aus – nicht zeitlich, aber konzeptuell – noch weit. Der Entstehung des Landschaftsgartens geht eine allgemeine Veränderung der Naturanschauung in der europäischen Kultur voran; das ist unbestritten und Ansätze dafür finden sich schon früh auch in der Kunstliteratur: Schon Félibien stellt an einer Stelle seiner Entretiens die Frage, ob nicht der sich im gegenwärtigen Moment ausbreitende ‚Natur‘-Ausblick von den Gärten der Tuilerien über die Seine-Landschaft jede Malerei überbiete. 188 Autoren wie Shaftesbury, der einen holistischen Naturbegriff verfolgte und vom Barockgarten sagte, „Fürstliche Laune hat all das erfunden und höfische Sklaverei und Abhängigkeit hält es am Leben“, selbst aber noch dem formal gestalteten Garten anhing, 189 und besonders Joseph Addison geben einem neuen Naturgefühl Ausdruck, das seine Wirkung bis zu Diderot und Voltaire und auf die gesamte Theorie des Landschaftsgarten hat. Der Sinn für ‚Natürlichkeit‘ in der Gartenkunst erwächst zumindest gedanklich auch aus der Kritik des höfischen Barocks und des formalen Gartens. Addison, der schon 1712 in einem Satz in seiner unter dem Titel On the pleasure of imagination bekannt gewordenen Aufsatzfolge im Spectator die ‚improved

187 Vgl. auch Buttlar, Adrian von: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik (= DuMont Dokumente), Köln: DuMont Buchverlag 1989, S. 9: „Noch in Joseph Furttenbachs Architekturtraktat ‚Architectura Civilis’ (Augsburg 1628) ist ein Stück Wildnis, die als Tiergarten dienen sollte, in der strengen Ordnung der Gesamtanlage gleichsam ‚ausgestellt‘ (Abb. 4 [S. 11]).“ 188 Félibien: Entretiens, Band 3, S. 2/3, zit. S. 3. 189 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper 3rd Earl of: „Miscellaneous Reflections“, in: Characteristics of Men, Manners, Opinion, Times, The fourth edition, London: John Darby 1727, Band 3, Misc. 3., Chap. 2., S. 173; Standard Edition, I, 2, S. 212; Übersetzung hier nach: Buttlar: Der Landschaftsgarten, S. 12. Nach Leatherbarrow, David: „Character, Geometry and Perspective: The Third Earl of Shaftesbury’s principles of Garden Design“, in: Journal of Garden History, 4, 1984, S. 332–58, der dessen Anweisungen zur Pflege seines Gartens, der wiederum eine kleine „wilderness“ enthalten hat, ausgewertet hat, löst sich der scheinbare Widerspruch zwischen der Forderung nach größerer Natürlichkeit und dem eigenen Festhalten an formal zugeschnittenen Hecken und Bäumen dadurch auf, dass sein holistischer Naturbegriff auch die gestaltete Natur miteinbezieht.

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landscape‘ der ‚ornamented farm‘ literarisch imaginiert, die mit dem Englischen Garten erst noch entstehen sollte, 190 erkennt die unendliche Weite („vastness and immensity“) als die zentrale Qualität der Natur, die von der Kunst nicht nachgeahmt werden kann und damit die Natur über jede Kunst erhebt. 191 Nicht mehr vom Künstler und der Kunst her argumentierend, sondern vom Betrachter, dem „Eye of the Beholder“ und den Gefühlen, die ihm Natur eingibt, postuliert er die drei Kategorien ‚Größe’, ‚Neuheit’ bzw. die Charakteristik, ‚ungewöhnlich’ zu sein (die Kategorien „new or uncommon“ sind austauschbar eingesetzt), sowie ‚Schönheit’. Durch sie beeinflussen die Objekte der äußeren Welt die Einbildungskraft. Der Begriff der ‚Größe’, wie ihn Addison benutzt, lässt bereits etwas von demjenigen Gefühl erahnen, dass Edmund Burke um die Jahrhundertmitte des 18. Jahrhunderts unter dem Begriff des ‚Erhabenen‘ („sublime“) theoretisieren wird. 192 Andererseits sieht Addison klar, dass die Natur mit den Augen betrachtet wird, die an der Betrachtung eines Kunstwerks geschult sind: Der Anblick der Werke der Natur werde als angenehmer empfunden je stärker er einem Werk der Kunst gleiche und umgekehrt gewinnen Kunstwerke durch hohe Naturähnlichkeit Vorteile. 193 Alexander Pope, der mit seinem heute weitgehend verlorenen Garten in Twickenham einen der ersten ‚landschaftlich‘ gestalteten Gärten angelegt hat, nimmt die Kritik der barocken Hofkultur und ihrer künstlerischen Repräsentation im formal gestalteten Garten in seiner Epistle to Lord Burlington auf. 194 Doch

190 Addison, Joseph: „o. T. [On the pleasure of imagination]“, in: The Spectator, 411– 21 (21.06.–03.07.1712), hier Nr. 414, zit. nach der Online-Ausg. der Rutgers University Libraries, hg. von Joseph Chaves (General Editor): Spectator Complete. The Morley

edition

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the

Spectator

[…]

complete

in

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format,

, Band 2, S. 725 (Aufrufdatum: 28.08.2017). 191 Ebd., S. 723–25. 192 Ebd., Nr. 412, S. 716f. 193 Ebd., Nr. 414, S. 724. Dieser Gedanke wird später auch von Diderot aufgegriffen: „Essais sur la peinture”, S. 359, u. ders.: Salons, Band 2, „Salon de 1765”, S. 135. 194 Pope, Alexander: Of Taste. An Epistle to the Right Honourable Richard Earl of Burlington. Occasion’d by his publishing Palladio’s Designs of the Baths. Arches, Theatres, &c. of Ancient Rome, London: L. Gilliver 1731, S. 10. In diesem Sinne ist auch der Satz „Der größte Mißbrauch, den man von der Kunst gemacht, war gewiß der, da sie Gegenstände der Natur unter gewisse Regeln zwingen wollte, die sich am wenigsten auf sie anwenden lassen.“, in Hirschfeld, Christian Cay Laurenz: Anmer-

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sollte man nicht vergessen, dass auch in Frankreich in der Epoche der Regence, fast zur selben Zeit, in der Shaftesbury und Addison ihre Hofkritik anhand des Gartens formulierten, ein Künstler einem sich verändernden Gefühl von Landschaft Ausdruck verleiht: Antoine Watteau, der mit dem Erfolg seiner als ‚Fêtes galantes’ bezeichneten Landschaftsgemälde die strengen Genrehierarchien der Académie Royal unterläuft und dem Naturgefühl einer höfischen Gesellschaft, die sich der Fesseln der Symmetrie des Barocks entledigt, Ausdruck verleiht. In der Bildunterschrift seines von Boucher gestochenen Porträts wird er mit einem Topos gelobt, den man ähnlich auch schon zu Tizian gehört hat: die Natur sei ihm dankbar gewesen, da niemand vor ihm sie schöner dargestellt habe als er! 195 Wenn seine Kunst und die seines Nachfolger Boucher schon bald einer sehr radikalen Kritik durch Diderot anheimfallen sollte, die ihr fehlende Wahrheit vorwirft, 196 zielt diese auch auf etwas Anderes. In den Vorwurf der Wahrheitslosigkeit mischt sich die Ablehnung der immer nur allzu schönen Natur. 197 Man beginnt immer mehr, andere Qualitäten der Natur zu entdecken als ihre Schönheit: ihre Wildheit, ihre Hässlichkeit, ihre Erstaunlichkeit. In der Natur nicht nur Schönes sehen zu wollen, ist eine der großen Errungenschaften des Zeitalters der Aufklärung. Tatsächlich wirken die von Addison formulierten, neuen Kategorien der Naturverehrung weit in das veränderte Naturgefühl des 18. Jahrhunderts hinein; „vastness“ schwingt mit, wenn Richard Payne Knight in seinem „didactic poem“ The Landscape den schweifenden Blick über weite Felder den Namen der großen Landschaftsmaler entgegengesetzt. Raum gilt ihm mehr als Schönheit. 198 Denis Diderot wiederum sieht Größe, Macht und Majestät in der Natur („la

kungen über die Landhäuser und die Gartenkunst, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1773, S. 36, zu verstehen. 195 Stich nach einem Selbstporträt, 1727, bez. u. l.: „Watteau pinx.“ u. u. r.: „Boucher Sculp.“, untertitelt in separatem Schriftfeld mit den Versen von Moraine: „Watteau par la Nature, orné d’heureux talents [...]“, s.: Bilder vom irdischen Glück. Giorgione – Tizian – Rubens – Watteau – Fragonard, hg. von den Freunden der preußischen Schlösser und Gärten e. V., Berlin: Verlag Frölich & Kaufmann 1983, Frontispiz; zu der Tradition der arkadisch geprägten Landschaft in der Malerei vgl.: Norbert Miller: „Der Spiegel von Arkadien“, in: ebd., S. 40–47. 196 Vgl. oben, S. 253. 197 Diderot: „Essais sur la peinture“, S. 388. 198 Knight, Richard Payne: The Landscape. A Didactic Poem in Three Books Addressed to Uvedale Price, London: W. Bulmer and Co […] 1795, S. 17, Ze. 247–252.

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grandeur, la puissance, la majesté de Nature“), 199 und ruft angesichts einer Wasserfall-Szene von Vernet aus: „Oh Natur, wie bist Du groß, eindrucksvoll, majestätisch und schön!“ 200 Alle Zustände der Natur, die Misere der Menschen, wie Schlachten und Hungersnöte, Überschwemmungen und Seestürme, die beseelte, die unbelebte und die Natur in ihren Konvulsionen seien vom Künstler zu studieren. 201 Edmund Burke theoretisiert das Gefühl, das das Erhabene der Natur im Betrachter hervorruft, 202 und Voltaire bekennt in seiner Èpitre an den Kronprinzen Friedrich, den späteren, ‚der Große‘ genannten preußischen König, der ein begeisterter Sammler der Gemälde Watteaus und seiner Schule war, die ‚freie‘, ‚einfache und schöne‘ Natur der weiten Wälder höfischen Gärten vorzuziehen. 203 In diesem Sinne kann William Chambers von der Rauheit der vernachlässigten Natur („the rudeness of neglected nature“) sprechen. 204 Wo es aber eine ‚vernachlässigte‘ Natur gibt, muss es auch das Gegenteil, die gepflegte Natur geben; und tatsächlich ist die Englische Gartenkunst des 18. Jahrhunderts, wo sie sich auf das auf Shaftesburys zurückgehende Motto vom „Genius of the place“ beruft, 205 geprägt von einem Naturbegriff, der eine immer schon ökonomischkulturell überformte Natur, die kultivierte Landschaft der britischen ‚Country Side‘ meint, wo sich die meisten der bedeutenden, neugeschaffenen oder im neuen Stil umgestalteten Gärten befanden. Sie zu verbessern galt es, und nicht die Felsenklippen und Wildnisse von „Salvator [Rosa]’s wildness“ (s. u.), der vernachlässigten, oder wie wir heute gewohnt sind zu sagen: der ‚unberührten‘

199 Diderot: Salons, Band 2, „Salon de 1765“, S. 160. 200 Ebd., „Salon de 1767“, S. 151. 201 Diderot: „Essais sur la peinture“, S. 375. 202 O. A. [Burke, Edmund]: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, London: R. and J. Dodsley 1757. 203 Voltaire, François Marie Arouet de: „Èpitre LIV. Au Prince Royal de Prusse“, in: Œuvres complètes de Voltaire, Band 10, 1877, S. 306–8. 204 Chambers: A Dissertation on Oriental Gardening, S. ii. 205 Der vielzitierte Ausdruck, der zum Titel einer wichtigen Quellenpublikation zur Gartengeschichte geworden ist, geht zurück auf: Shaftesbury, Anthony, in: Characteristics of Men, Manners, Opinion, Times, III, II: „The MORALISTS. A R H A P S O D Y ”, Part 3, Sect. 2., Ausg. 1727, Band 2, S. 393f; Standard Edition, Band II, 1, S. 316; dt.: Standard Edition, Band II, 3, S. 305. Der Terminus wird aufgegriffen von Pope: Of Taste, S. 7; eine deutsche Übersetzung der Verse in Buttlar: Der Landschaftsgarten, S. 29.

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Natur. Zugelassen ist dabei allenfalls eine kunstvolle Wildheit („artful Wildness“), wie Pope es formuliert. 206 Paradoxerweise ist für die Theorie der Kunst, die ‚am natürlichsten‘ zu sein scheint, ‚Natürlichkeit‘ keineswegs das unbestrittene Vorbild und Ziel. Das Geschäft des (Landschafts-)Gärtners 207 ist es nach Thomas Whately, die Vorteile des Ortes herauszuarbeiten, an dem er arbeitet, seine Schönheit zu verbessern und die Fehler und Unzulänglichkeiten zu korrigieren. 208 Die Materialien, derer er sich bedient, sind die der Natur, die in ihrer ewigen Einfachheit nur über vier Elemente verfügt, mit denen sie gestaltet: Boden, Holz (richtiger: Pflanzen), Wasser und Felsen (wobei letztere genaugenommen nichts anderes sind als ein aufgrund seines hart geformten Aggregatzustandes unbepflanzbarer Boden). 209 „Improvement“ ist letztlich nicht nur Verbesserung der vorgefundenen Natur, sondern Vervollkommnung und Fertigstellung ihrer Werke. 210 Damit steht die grundsätzliche Verbesserungswürdigkeit der Natur außer Frage. Es ist wenig verwunderlich, dass Natur selbst nun in der Kunst- und Gartentheorie nicht weiter als solche hinterfragt zu werden braucht. Edmund Burke bemerkt 1757, dass Naturschönheit anderen Regeln folgt als denen der Proportion: das beste Beispiel dafür ist die Schönheit einer Pflanze, einer schönen Blume; Hirschfeld übernimmt dieses sinnreiche Bonmot, das die Natur der Bewertung durch das Regelbedürfnis der Renaissance enthebt. 211 Zwar gilt Natur nun als asymmetrisch, irregulär: Architektur benötige Symmetrie, die Dinge der Natur hingegen Freiheit, fordert Whately 212 und beschreibt damit in knapper, aber idealtypischer Form die Situation wie sie das neo-palladianische Landhaus im

206 S. Anm. 194. 207 Der Begriff des „Landscape Gardeners“ ist umfänglich diskutiert in der Kontroverse zwischen Uvedale Price und Humphry Repton, s. hier Anm. 228. 208 Whately, Thomas: Observations on Modern Gardening Illustrated by Descriptions, London: T. Payne 1770, S. 2. 209 Ebd., S. 3; durch „cultivation of nature“ fügen sich demnach nur noch die Gebäude, die aus bearbeiteten Materialien bestehen, hinzu. Ähnlich: Chambers: A Dissertation on Oriental Gardening, S. 14. 210 Die anonyme Poesie „The Rise and Progress of the Present Taste in Planting Parks, Pleasure Grounds, Gardens, etc.,“ 1767, zit. nach Hussey: The Picturesque, S. 135 über Capability Brown. 211 Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas, S. 74; Ch. C. L. Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, 5 Bände, Leipzig: M. G. Weidmann Erben und Reich, 1779–85, Band 1, S. 166. 212 Whately: Observations on Modern Gardening, S. 137.

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Landschaftsgarten verkörpert (Abb. 13). Im günstigen Fall mag die Linienführung der geschwungene Form der „line of Beauty“, die Hogarth gefordert hat, folgen 213, doch ist einerseits diese im höchsten Maße kunstvoll, andererseits ist sie gerade für einen Autor wie Whately, der um 1770, in einer ersten Phase der Kritik der frühen Landschaftsgärten, in der Nähe des Hauses wieder Regelmäßigkeit zulassen will, keineswegs die einzige Lösung. Sir William Chambers, der weitgereiste Gartenarchitekt von Kew, erhebt zur selben Zeit die alte Vorhaltung, der Natur allzu sehr gefolgt zu sein, die Walpole Kent – trotz seines anfänglichen Lobes – in neuem Zusammenhang macht, 214 zu einem generellen Vorwurf gegen den damaligen Zustand der Englischen Gartenkunst. 215 Gleichzeitig erinnert er, der in seiner Dissertation on Oriental Gardening unter dem literarischen Vorwurf, einen originären chinesischen Gartenstil zu propagieren, nichts anders tut, als wieder mehr Kunsthaftigkeit für die Gartengestaltung einAbbildung 13: Francesco Zuccarelli und Antonio Visentini: „Ansicht von Mereworth in einer idealen Landschaft“, Leinwand, 83,8 x 128,9 cm, signiert und datiert: „Visentini et Zuccarelli / Fecerunt Venetiis 1746“, The Royal Collection, RCIN 400687.

Quelle: Royal Collection Trust / © Her Majesty Queen Elizabeth II 2018.

213 Ebd., S. 72 wird der Hogart’schen Terminus in Verbindung mit der Führung von Gewässern benutzt. 214 Walpole: „Essay on Modern Gardening“, S. 67. 215 Chambers: A Dissertation on Oriental Gardening, S. v.

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zufordern, daran, dass im Grunde nichts in unserer menschlichen Umgebung als ‚natürlich‘ gelten kann; und er stellt die Frage, warum ‚Natürlichkeit‘ ausgerechnet für die Gartenkunst gefordert werden soll. 216 Einfache, ‚leblos, maskenartige‘ Natur, wie er sagt: ‚vulgäre‘, d. h. unverbesserte Natur sei zu wenig; gefragt sei ein poetisches Handeln, das sich von dieser abhebt wie ein heroisches Epos von dem trockenen Tatsachenbericht. 217 In diesem Sinne sollen Gartenanlagen ‚übernatürliche Szenerien‘ bieten – wie diejenigen seiner angeblichen chinesischen Gärtner. 218 Erst in einem höheren Sinne wären Gärten ‚natürlich‘, ohne der einfachen, ‚vulgären‘ Natur zu ähneln. 219 Theoretisch reflektiert werden in der Diskussion des ‚Englischen Landschaftsgarten‘ zwei Qualitäten der Natur, die von dem Naturschönen der älteren Kunstliteratur unterschieden werden: Das Erhabene und das Pittoreske. Unbestritten ist die Qualität des Erhabenen. Damit werden auch die Effekte des Erschreckens vor ihrer Größe und ihrer Unberechenbarkeit gesucht und beachtenswert empfunden. Denn es gibt ja auch eine unbeherrschbare, gefährliche Natur, die Angst macht – das Erdbeben von Lissabon 1755 hat das der aufgeklärten Welt nur zu unmissverständlich vor Augen geführt! Roger de Piles zitiert Aristoteles’ Poetik (Kap. 4) mit dem Satz, dass Malerei deshalb eine große Befriedigung auslöse, weil man in ihr diejenigen Dinge der Natur, die in uns Angst auslösen, mit großem Vergnügen ansehen kann. 220 Die Malerei des Erhabenen findet ihren höchsten Ausdruck in den Seesturm-Bildern von Vernet und Hubert Robert, die die Hauptvertreter dieser Malerei im französischen 18. Jahrhundert sind, doch ist die Tradition – auch als Allegorie und Historie – viel älter. 221 Edmund Burke reflekiert um die Jahrhundertmitte des 18. Jahrhunderts in seiner Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful

216 Ebd., S. 18. 217 Ebd., S. 19. 218 Ebd., S. 38. 219 Ebd., S. 94. 220 De Piles: Cours de peinture par principes, S. 425. 221 Das vielleicht älteste gemalte Beispiel ist die von Paolo Veneziano gemalte Szene der Überführung des Leichnams des Heiligen Markus auf der Werktagsseite der Pala d’oro am Hauptaltar von San Marco in Venedig (Holztafel, 56 x 42,5 cm); zu einem grandiosen, monumentalen Seestück ausgemalt wurde der gleiche historische Vorwurf von Jacopo Palma il Vecchio in seinem Seesturm-Bild für den Zyklus der Scuola Grande di San Marco, ebenfalls in Venedig, das später von Paris Bordon stark überarbeitet wurde (Leinwand, 360 x 406 cm, heute: Venedig, Gallerie dell’ Accademia, inv. N. 37, cat. N. 516).

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erstmals die verschiedenen Eindrücke und die Empfindungen, die Natur und Kunst in uns auslösen. 222 Das heisst aber nicht, dass das Erhabene einzig unter dem Vorzeichen der Gefühle, die es auslöst, definierbar ist. Uvedale Price stellt es ausdrücklich als zweiten Hauptcharakter der Natur gleichwertig neben das Naturschöne. 223 Weit schwieriger zu fassen war – der scheinbar einfachen Definition zum Trotz 224 – die Qualität des ‚Pittoresken‘, das keineswegs mit dem landläufigen Verständnis des ‚Malerischen‘ gleichzusetzen ist. Seine Einführung in die Diskussion zwingt die Gartenkunst, ihr Verhältnis zur Landschaftsmalerei neu zu reflektieren. Schon früh werden die Gartenanlagen in dem neuen Stil mit den Gemälden der ‚klassischen‘ Landschaftsmaler des vorangegangenen Jahrhunderts verglichen 225 – und der Park von Stourhead mit dem Blick über den zu einem See aufgestauten Fluss Stour, seiner ‚Palladian Bridge‘, dem Rundtempel auf der Anhöhe und dem höchst artifiziellen Schein, von der Natur gemacht zu sein (s. Abb. 11), ist der Literatur seit jeher das Paradebeispiel dafür gewesen. Dieses Verhältnis ist aber nie eindimensional gewesen, denn „Gardening“ ist, wie Whately formuliert, der Landschaftsmalerei so überlegen wie die Wirklichkeit ihrer Repräsentation. 226 Der ausgereifte Landschaftsgarten definiert sein Verhältnis zur Malerei ebenso selbstbewusst wie dasjenige zur Natur. Natur hat ihre Unbegrenztheit gegenüber dem Rahmen des Gemäldes, in dem diese ‚naturbedingt‘ nie eingeholt werden kann; und: Im Gemälde ist Natur unveränderlich gebannt und nicht mehr den Jahreszeiten und dem Wachsen und Vergehen unterworfen. Während die ältere Landschaftsmalerei von Claude Lorrain, Gaspar Dughet, Nicolas Poussin, Salvatore Rosa bis zu den international erfolgreichen Zeitgenossen Francesco Zucarelli und der Vedute Canalettos diesen Fakt weit-

222 Burke: A Philosophical Enquiry into the origin. 223 Price, Uvedale: An Essay On The Picturesque, as compared with the sublime and the beautiful; and, on the use of studying pictures, for the purpose of improving real landscape, London: J. Robson 1794, S. 39. 224 Ebd, S. 34. Auch Gilpin, der mit seinen Schriften die Diskussion um das Pittoreske entfacht hat, definiert das Pittoreske nicht grundsätzlich anders, wobei für ihn – anders als für Price – das Schöne und das Erhabene Qualitäten sind, die jenes konstituieren, s.: Gilpin, William: Essays on Picturesque Beauty; &c. &c &c. Three essays: on picturesque beauty; on picturesque travel; and on sketching landscape: to which is added a poem, on landscape painting […], London: R. Blamire 1792, S. 42. 225 Anonymus:„The Rise and Progress of the Present Taste in Planting“, zit. nach Hussey: The Picturesque, 1967, S. 138f. 226 Whately: Observations on Modern Gardening, S. 2 und 147.

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gehend ignoriert und fast ausschließlich eine ‚Schönwetter-Natur‘ darstellt, ist sich die Gartenkunst dessen selbstverständlich schon immer bewusst, auch wenn sie im barocken, formalen Garten versucht hat, ihn dem jahreszeitlichen Wechsel durch ständigen Austausch des Blumenschmuck in den Parterres und Formgebung durch Schnitt zu entziehen. Im Landschaftsgarten wird diese Veränderlichkeit nicht mehr bekämpft, sondern gewünscht. 227 Am Ende des Jahrhunderts wird in Folge der Veröffentlichungen von William Gilpin zur ‚pittoresken Schönheit‘ und durch die Knight-Price-ReptonKontroverse diese Vorbildfunktion der Landschaftsmalerei für die Gartenkunst noch einmal explizit diskutiert. 228 Auch hier meint ‚Natur‘ als unstrittiges Faktum nichts anderes als die Landschaft, die es zu verbessern gilt und in die sich der Garten oder Park, den man anlegt, einfügt. William Gilpin, ein Geistlicher, Schulleiter und Schriftsteller aus der englischen Provinz Cumberland, hatte eine „essential difference between the beautiful, and the picturesque“ in der Natur diagnostiziert. 229 Für Uvedale Price sind diese, das ‚Schöne‘ und das ‚Pittoreske‘, die Qualitäten der Natur, die es nachzuahmen und zu erreichen gelte, da das ‚Erhabene‘ („sublime“) zu erschaffen jenseits unserer Möglichkeiten läge. 230 Dafür empfiehlt er das Studium der Landschaftsmalerei als Standard, der durch die großen Künstler der Vergangenheit, die die Natur studiert und abgebildet haben, gesetzt worden ist, ohne dies verabsolutieren zu wollen. 231 Dem widerspricht der praktisch arbeitende Gartenkünstler Humphry Repton mit dem Hinweis auf die Vielfalt der Natur, die nicht in jeder ihrer Erscheinungen geeignet ist, im Gemälde dargestellt zu werden, 232 und indem er eine klassische Mittelwegs-Theorie einschlägt, nach der die Englische Gartenkunst die rechte Mitte zwischen der ‚Wildheit‘ der Natur und der ‚Steifheit‘ der Kunst (gemeint ist wohl: des formal

227 So Walpole: „Essay on Modern Gardening“, in der Ausg.: Essai sur l’art des jardins modernes, S. 87 über Brown. 228 Neben Gilpin: Essays on Picturesque Beauty und Knight: The Landscape, sind die wesentlichen Texte im Folgenden zit. nach den Ausgaben: Price: An Essay On The Picturesque, 1794 und ders.: A letter to H. Repton, Esq. on the application of the practice as well as the principles of landscape-painting to landscape-gardening: intended as a supplement to the Essay on the picturesque […] To which is prefixed, Mr. Repton’s letter to Mr. Price, London: J. Robson 1795. 229 Gilpin: Essays on Picturesque Beauty, S. 26. 230 Price: An Essay On The Picturesque, S. 90ff.. 231 Ebd., S. 2f. 232 Repton: „A letter to Uvedale Price, Esq.“, in: Price: A letter to H. Repton, 1795, S. 6.

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gestalteten Gartens) erreicht habe. 233 Aus seinem Widerspruch entwickelt sich ein ausdrücklicher Disput darüber, was ‚wilde‘ Landschaft sei und welche Rolle sie für die Formation des Landschaftskünstlers habe. Price interpretiert den von Repton benutzten Ausdruck ‚wilde‘ Natur ausdrücklich als diejenige, die nicht von der Kunst berührt, d. h. ungestaltet ist. 234 Für ihn sind es „accident and neclect“, Zufall und Vernachlässigung (in der an sich schon überformten Natur) und nicht mehr die bewusst gestaltende ‚natura naturans‘, die Schönheit schafft und die jene glückliche Kombinationen in der Natur hervorbringen, die die Landschaftsmaler bereits lange studiert hätten. Das zufällig Entstandene ersetzt die Gestaltungskraft der Natur und das beste Beispiel dafür ist der „clumb“, die freistehende Baumgruppe. Weil die großen Maler diese Fügungen studiert und schon künstlerisch verarbeitet haben, könne der Gartenkünstler aus ihren Werken Nutzen ziehen. 235 Es ist nicht so – wie es vielleicht erscheinen mag –, dass durch diese Diskussion dem künstlerisch gestalteten Garten mit der Nachahmung von gemalten Landschaftsszenen in der Wirklichkeit der gestalteten Landschaft ein zweiter, höherer Grad von Künstlichkeit zugesprochen würde. Dazu ist sich die Gartenkunst ihrer überlegenen Realität viel zu bewusst. Stattdessen wird die Künstlichkeit des gerahmten Bildausschnitts in die Unendlichkeit der (gestalteten und gestaltenden) Natur aufgehoben. Im Grunde wird hier, wie in der Malerei und Skulptur, einzig diskutiert, ob die Natur selbst das zu studierende Vorbild ist, oder ob die künstlerische Bildung vermittelt wird durch das Exempel vorbildgebender, älterer Kunstwerke – der Skulpturen der Antike einerseits, der Landschaftsmalerei andererseits. 236

V OM L OB DER SCHÖNEN E INFACHHEIT ZUM B EGRIFF DER M ODE - UND S ITTENKRITIK Von denjenigen Autoren, von denen seit André Félibien und Roger de Piles immer häufiger die Kunst der griechischen Antiken zum überragenden Vorbild aller Kunst erklärt wird, werden der Naturnachahmung nur noch Restbereiche in der künstlerischen Gestaltung zugewiesen. Félibien als einer der einflussreichsten akademischen Theoretiker Frankreichs fordert in seiner Vorbemerkung zu Charles Le Bruns Besprechung von Poussins Mannalese (Abb. 14): „Der Aus-

233 Ebd., S. 9. 234 Price: A letter to H. Repton, S. 84f. 235 Ebd., S. 35f u. 46f. 236 Repton: A letter to Price, S. 4, Price zitierend.

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druck der einzelnen Figuren, von denen die Hauptfigur nur begleitet wird, muß [...] einfach, natürlich und sinnvoll sein.“ 237 Nur die Nebenfiguren in der Komposition eines Gemäldes müssten also demnach naturgemäß sein. Abbildung 14: Nicolas Poussin: „Die Mannalese“, Leinwand, 149 x 200 cm, 1637-39, Paris, Musée du Louvre, Inv. 7275.

Quelle: Blunt, Anthony: Nicolas Poussin. The A. W. Mellon Lectures in the Fine Arts. 1958. National Galley of Art, Washington, London: Phaidon Press / New York: Bollingen Series, 1967.

Im Besonderen aber ist es für diese Autoren immer wieder der Bereich der Farbgebung, für die weiter eine strikte Nachahmung des Vorbildes ‚Natur‘ gefordert wird. Denn für diese konnte die antike Skulptur kein Vorbild geben, glaube man

237 Bei Gaehtgens, Thomas W.: Historienmalerei, Berlin: Reimer 1996 (= Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, 1; auch als CDRom: Berlin: Directmedia Publishing, 2007 (Digitale Bibliothek, 158)), S. 157 und 160 zit. nach der Ausg. von Félibien: Entretiens, Farnborough 1967 [Nachdruck der Ausg.: Trévoux 1725], Band V, S. 290–466, hier 315ff.; das Bild: Nicolas Poussin: Die Mannalese, Leinwand, 149 x 200 cm, 1637–39, Paris, Musée du Louvre, Inv. 7275.

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sie doch ungefasst. So konstatiert Félibiens Zeitgenosse Charles-Alphonse Dufresnoy, nach dem die Kunst der Griechen einen Grad der Perfektion erreicht habe, der die Natur übertrifft, 238 und die Natur – in Umkehrung des Nachahmungsprinzips – dort schön ist, wo sie den Antiken ähnelt, 239 bezüglich der Farbbenutzung einen Gegensatz zwischen „Naturelle“ und „Artificielle“. Mit ‚natürlicher‘ Farbgebung ist einzig die der Natur nachempfundene gemeint, als ‚künstlich‘ gilt jede erfundene, nicht an der Naturbeobachtung orientierte. 240 Auch Claude-Henri Watelet sieht noch fast ein Jahrhundert später den Bereich, in der Natur am engsten nachgeahmt werden soll, in der Farbe, und dies mache selbst dem besten Koloristen Angst. 241 Ein Satz, den ein Tizian, von dem es geheissen hat, er sei in der Furcht gestorben, dass die Natur ihm zürne, weil er sie mit seinem Kolorit übertroffen habe, oder – um bei den Zeitgenossen Watelets zu bleiben – ein François Boucher oder ein Giambattista Tiepolo wohl kaum unterstrichen hätten. Zusätzlich nennt Dufresnoy in seinem 1668 von Roger de Piles übersetzten, herausgegebenen und kommentierten Poem über die Kunst der Malerei, den Bereich der Gewänder („Draperies“), in der auf Naturnähe zu achten sei. 242 Dass dabei ausgerechnet im Bereich des Faltenwurfs der Stoffe die Forderung nach ‚Einfachheit‘ und ‚Natürlichkeit‘ in unauflöslicher Verbindung erhoben wird, 243 ist nicht unmittelbar einsichtig, müsste doch in diesem Bereich der Malerei eigentlich, wie nirgend anderswo das allgemeingültige Gesetz der historischen Angemessenheit des Kostüms angewendet werden. Für den deutschen Begründer des auf der Nachahmung der griechischen Antike beruhenden Klassizismus Johann Joachim Winckelmann ist das gefältelte, griechische Gewand mit seinem „sanften Schwung“ und einer „edlen Freiheit und sanften Harmonie des Ganzen, ohne den schönen Kontur des Nackenden zu verstecken“, offensichtlich nicht nur Stilmerkmal der nach seiner Diktat einzig

238 Dufresnoy, Charles-Alphonse: L’Art de peinture, [...], traduit en françois, avec des remarques necessaires & tres-amples [par Roger de Piles], Paris: Nicolas L’Anglois 1668, S. 12. 239 Ebd., S. 68. 240 Ebd., S. 122; an anderer Stelle ist bei ihm der Begriff der Farbe, die den Gegenständen ‚natürlich‘ ist, gemeint im Sinne der Lokalfarben der Körper. 241 Watelet, Claude-Henri: L’Art de peindre. Poëme. Avec des réflexions sur les différentes parties de la peinture [...], Paris: H. L. Guerin & L. F. Delatour 1760, S. 113. 242 Dufresnoy: L’Art de peinture,, S. 23; und ebenso de Piles in seinem Kommentar zu Dufresnoy, Nr. 210, S. 106. 243 Ebd.

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und allein vorbildhaften griechischen Skulptur, sondern auch ein Charaktermerkmal der von ihm unterstellten moralischen Überlegenheit der Antike. Nur die Naturtreue gegenüber den Kleidungsgewohnheiten der „neuern Zeiten“ erlaube dem Künstler seiner Epoche die Abweichung davon. 244 Gemäß der berühmten Textpassage zu der spätantiken Laokoon-Gruppe in den vatikanischen Museen (Abb. 15) 245, in der Winckelmann, nach dem diese Figurengruppe Abbildung 15: Die antike „Laokoon-Gruppe“ (römische Kopie des griechischen Originals von 140 v. Chr.), Höhe: 184 cm, Rom, Musei Vaticani – Museo PioClementino, Inv.-Nr.: 1064.

Quelle: Photo von Jeannine Le Brun, Bildarchiv Foto Marburg.

244 Winckelmann, Johann Joachim: „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“, in: Johann Winckelmanns sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe; dabei Porträt, Facsimile und ausführliche Biographie des Autors […], Osnabrück: Zeller 1965 [12 Bände, Neudruck der Ausg.: Donaueschingen: Verlag deutscher Classiker 1825–35], Band 1, §§ 73–75, S. 28f. 245 Die antike Figurengruppe, Höhe: 184 cm, Rom, Musei Vaticani – Museo PioClementino, Inv.-Nr.: 1064, heute als römische Kopie des griechischen Originals von 140 v. Chr. erkannt.

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„den Künstlern im alten Rom [...] eine vollkommene Regel der Kunst“ war und auch den seiner Zeit Gegenwärtigen sein soll, 246 die Forderung nach „edler Einfalt und stiller Größe“ erhebt, sind diese „edle Einfalt und stille Größe“ zunächst Eigenschaften des Dargestellten, nicht der Darstellung(sweise). 247 Der hinter seinem Konzept der Nachahmung der Antike stehende Naturbegriff aber ist vor dem Hintergrund der Nachahmungstheorie der älteren Kunstliteratur konventionell: Natur ist in der Kunst in überhöhter Schönheit darzustellen. 248 Das ist das Credo der Theorie der Malerei seit je her, nur sind die künstlerischen Vorbilder nun benannt in der Kunst der griechischen Antike, deren ideale Vorbilder nachzuahmen und zu studieren seien. In ihnen sei jene „idealische Schönheit“ zu finden, die über die Natur hinausgehe. 249 Der Begriff der „idealischen Schönheit“, den Winckelmann in diesem Zusammenhang benutzt, mag neu sein, das Konzept der Überhöhung ist es nicht. In einem kleinen Text mit dem Titel Von der Gratie in den Werken der Kunst konkretisiert Winckelmann das ästhetische Ideal, dass sich auf die Darstellung, wie das Leben selbst bezieht, weiter. Es ist die Grazie, die durch vernunftmäßige Kontrolle des Körpers und der Affekte, diesen selbst überhöhen und dadurch selbst wieder zur Natur werden soll: „§ 1. Die Gratie ist das vernünftig Gefällige. [...] Sie bildet sich durch Erziehung und Überlegung, und kan zur Natur werden, welche dazu geschaffen ist. [...] es erfordert Aufmerksamkeit und Fleiß, die Natur in allen Handlungen, wo sie sich nach eines jeden Talent zu zeigen hat, auf den rechten Grad der Leichtigkeit zu erheben.“ 250

Es scheint, dass hier mit dem „zur Natur werden“ mehr gemeint ist als nur ‚wirklich‘ werden, sondern dass tatsächlich eine zweite, höhere Natur aus der Kultivierung des Körpers entwachsen soll. Die geforderte „Grazie“ und „Leichtigkeit“ auf jeden Fall sind für Winckelmann keineswegs einfach ‚naturgegebene‘ Eigenschaften, sondern durch Kontrolle und Training ausbildbare – eine Überhöhung der Natur in der Wirklichkeit, wie in der Kunst. Naturgegebenes „Geschenk des Himmels“ ist nur die Anlage, diese auszubilden. 251

246 Winckelmann: „Gedanken über die Nachahmung“, § 9, S. 9. 247 Ebd., § 79/80, S. 30/31. 248 So Winckelmann selbst, ebd., S. 18, § 37. 249 Ebd., S. 19, § 38 und S. 10, § 11. 250 Winckelmann, Johann Joachim: „Von der Gratie in Werken der Kunst“, in: Johann Winckelmanns sämtliche Werke, Band 1, S. 217. 251 Ebd.

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Francesco Algarotti, der zwischen Rokoko und Aufklärung stehende Klassizist, ist vielleicht der letzte bedeutende Kunsttheoretiker des 18. Jahrhunderts, für den der Naturbegriff noch frei ist von moralischem Impetus und dem Diktat eines Kunstideals. 252 Er greift im selben Jahr 1755 wie Winckelmann in seinen Gedanken den Begriff der ‚schönen Einfachheit‘ auf und verbindet ihn mit dem der ‚Natur‘ und der ‚Natürlichkeit‘ („naturalezza“) – eine Verbindung, die bei jenem noch nicht angelegt gewesen ist. Zunächst gilt Algarottis Forderung nach ‚Einfachheit‘ der Ausdruckskraft von Opernarien, und es ist einzig die ‚schöne Einfachheit‘, die in der Lage ist, die Natur nachzuahmen. 253 In einer allgemeineren Formulierung besteht das Schöne gar buchstäblich innerhalb der Grenzen des ‚Natürlichen‘ und des ‚Einfachen‘. 254 Damit wird einerseits offensichtlich der Natur selbst Einfachheit unterstellt, andererseits der Gegensatz zu einem Anderen, das ‚Künstlichkeit‘, ‚Gekünsteltheit‘ sein mag, evoziert. Dieser Gegenbegriff zum ‚Natürlichen‘ wird von Algarotti an anderer Stelle konkret als das ‚Theatralische‘ benannt. 255 Häufig Älteres, wie auch Neueres in schöne, prägnante und ebenso häufig überraschende Formulierungen bringend, und den Versuch machend, scheinbar unüberwindlich gegensätzliche Positionen zusammenzubringen, ist Algarotti in seiner erfrischend unideologischen Art wohl der einzige Kunstschriftsteller, der der Natur selbst auch Widersprüchlichkeit zugestehen kann: Harmonie in den – wie er sie nennt – ‚guten‘ Künsten könne nicht ohne ‚widersprüchliche Einträchtigkeit‘ als ein ‚glückliches Gemisch von Gegensätzen‘ entstehen und das beste Vorbild dafür sei jenes größte aller Kunstwerke, das Gesamtkunstwerk der schaffenden Natur, das Universum. 256 Insgesamt aber scheint sein Natürlichkeitsbegriff zunächst vollkommen

252 So kann für ihn in der Malerei neben Tizian, Raffael, Parmigianino, Michelangelo ohne Frage auch Caravaggio bestehen. 253 Algarotti, Francesco: „Saggio sopra l’opera in musica“, in ders.: Opere, Band 3, 1791, S. 346f; Hans W. Schumacher in seiner Werkausgabe Francesco Algarotti in deutscher Übersetzung, online Ausgabe (pdf-Dokumente), hg. und übers. von Prof. em. Hans W. Schumacher 2011 (Aufrufdatum: 18.05.2011), Schriften zur Kunst. „Versuch über die musikalische Oper“, S. 62 übersetzt hier, wie ich meine, ohne Grund in Winckelmann’schem Duktus: „Die schöne Einfalt“. 254 Brief Algarottis an Giampietro Zanotti, Venedig, 10. 5. 1756, in: Algarotti, Opere, Band 8, „Lettere sopra la Pittura“, S. 44. 255 In seiner Position zum Vorbild der Taubstummen in der Nachahmung der Affekte, F. Algarotti, „Saggio sopra la Pittura“, S. 183. 256 Algarotti, „Pensieri diversi“, in: ders.: Opere, Band 7, S. 9 (Übersetzung der Termini im Text HK).

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dem alten Nachahmungs-Ideal verhaftet zu sein: Malerei, obwohl im umfassenden Sinne Teil der Natur, ist für ihn, den eklektisch denkenden Autoren per se, zur Perfektion gebrachte Natur, 257 teilweise benutzt er den Begriff gar in seinem ältesten, künstlerischen Gebrauch als Synonym für das zu zeichnende Modell. 258 Obwohl auch er das Studium der Antike empfiehlt, bleibt doch – in dem typischen Versuch, die unterschiedlichen Positionen in Übereinkunft zu bringen – das Naturstudium unerlässlich 259. So kann die Natur für ihn weiterhin die Mutter und souveräne Meisterin der Künste bleiben, 260 deren Erscheinungen zu studieren sind, 261 die Quelle alles Schönen. 262 Doch erreicht sie ihre Perfektion nicht in jedem der Individuen, es sind die ‚Archetypen‘ der Natur, nach denen sich der Künstler zu orientieren hat. 263 Zwei Maler sind es vor allem, denen er höchste „naturalezza“ (perfekte Naturnachahmung) zuspricht: Tizian und – wie auch Winckelmann und andere vor ihm – Raphael; der eine für die venezianische und der andere für die toskanisch-römische Schule der Malerei stehend. Tizian, und vor ihm Giorgione, sind auch für Algarotti – der venezianischen kunstliterarischen Tradition folgend – diejenigen, die in der Malerei das Höchstmaß der Hinwendung zur Natur im Kolorit erreicht haben. 264 Tizian habe gar in allem, was er nachahmte, seiner eigenen ‚Natürlichkeit‘ Ausdruck verleihen können. 265 Algarottis Tizian-Lob mündet schließlich in der erstaunlichen Aussage, die Energie der Natur zeige sich im Kleinsten und im Kleinsten liege auch die Exzellenz der Kunst. 266 Bei Raffael, der von den Griechen gelernt habe 267 und dem Winckelmann „edle Einfalt und stille Größe“ in seinen Werken sowie eine „schöne Seele in einem schönen Körper“ zuschreibt, 268 sind es andere Eigen-

257 Algarotti, „Saggio sopra la Pittura“, S. 143, mit Bezug auf Alexander Popes Essay on Criticism. 258 Ebd., S. 68. 259 Ebd. S. 105, 107 und 108. 260 Algarotti, Francesco: „Saggio sopra l’Architettura“ in: ders. Opere, Band 3, 1791, S. 25f. 261 Algarotti, „Saggio sopra la Pittura“, S. 89 und 119, hier in Verbindung mit dem Begriff des „Wahren“. 262 Ebd., S. 238. 263 Ebd., S. 98f. 264 Ebd., S. 115 (im Kap. „Del colorito“) und 214. 265 Ebd., S. 226. 266 Ebd., S. 110. 267 Ebd., S. 148. 268 Winckelmann: „Gedanken über die Nachahmung“, S. 34f, § 88 und 89.

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schaften die der Italiener zur Begründung von dessen ‚eleganter Natürlichkeit‘ anführt: Zunächst seine ‚Symmetrie‘, wohl richtiger: ‚Ausgeglichenheit‘ 269 und – wiederum – seine edle ‚Grazie‘ („graziosa nobiltà“ 270). ‚Grazie‘ überhaupt sei die Eigenschaft, die der Malerei jenes nicht definierbare Besondere gebe, das sie überzeugend mache, ohne die Grazien (in Personifizierung) bliebe das Licht der Malerei dunkel. 271 Doch leider sind die Eigenschaften, die Raphaels Kunst ausmachen: „Natürlichkeit, Grazie, Unbefangenheit und Lebhaftigkeit“ („naturalezza grazia disinvoltura e vivacità“) – Eigenschaften, die dem darstellenden Künstler, wie dem Dargestellten zugeordnet werden können – nicht erlernbar, wie das Beispiel Poussins zeige. 272 Charakteristisch für Algarottis Zusammenbringen der Begriffe verbindet er an anderer Stelle das „pittoresco“ mit Natürlichkeit, Wirklichkeitsähnlichkeit, Angemessenheit (im Sinne des ‚Decorum’) und einem spezifischen Eingehen, auf das was das Bildthema aus sich heraus erfordert (jenseits von Regelbefolgung), 273 wobei das Malerisch-Pittoreske hier wohl im älteren venezianischen Sinne einer typisch tizianesken Auffassung von Pinselführung und Einsatz des Malmaterials gemeint ist, 274 und ‚Natürlichkeit‘ sich aus der Tizianverehrung als Naturtreue zu erkennen gibt. Doch gibt es noch eine weitere Facette in der Bedeutungsgeschichte. Algarotti spricht an einer Stelle von ‚höherer Natürlichkeit in den Gefühlen und einem höheren Gefühl‘ („maggior naturalezza nei sentimenti, e maggiore affetto“). 275 Damit ist ‚Natürlichkeit‘ auf die Ebene des Sentimentalismus gebracht und wird wie Winckelmanns „edle Einfalt“ eine Kategorie der Charakterbeschreibung.

269 In einem publizierten Brief, adressiert an Gaspero Patriarchi, datiert Bologna, 7. April 1761, zit. in F. Algarotti: „Saggio sopra la Pittura“, S. 293/94, in dem er, einem älteren Gedicht „Sonetto di Agostino Caracci, riferito nella vita di Nicolò dell’Abate Parte II. della Felsina pittrice del Malvasia“ folgend, all jene Eigenschaften lobt, die den perfekten Maler ausmachen. 270 Algarotti: „Saggio sopra la Pittura“, S. 148. 271 Ebd., S. 222. 272 Ebd., S. 235f; die Übersetzung der Termini hier nach „Versuch über die Malerei“ in der Online-Werkausgabe von Schumacher, S. 53. 273 Ebd., S. 176. 274 Vgl. Sohm, Philip: Pittoresco. Marco Boschini, his critics and their critiques of painterly brushwork in Seventeenth and Eighteenth Century Italy, Cambridge usw.: Cambridge University Press 1991 (=Cambridge Studies in the History of Art). 275 Algarotti: Opere, Band 7 „Pensieri diversi“, S. 77, in Zusammenhang mit Bembo.

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Sir Joshua Reynolds, Maler und erster Direktor der Royal Academy of Arts kontrastiert ‚Natürlichkeit‘ mit „fashion“ und nennt die Natur selbst nun unmissverständlich ‚einfach‘, ‚unberührt, und keusch‘. Spätestens hiermit ist – ohne Reynolds kritisieren zu wollen – der Weg eingeschlagen zu einem Gebrauch des Begriffs im Sinne der allgemeinen Kultur- und Sittenkritik. In seinem Versuch, die Kunst noch einmal an die Naturnachahmung anzubinden, lässt Reynolds zwar die Antike und die ältere Kunst als Vorbild gelten, möchte aber – wie auch Algarotti – nicht davon abgehen, den angehenden Künstlern das Studium und die Nachahmung der Natur anzuempfehlen. 276 ‚Einfachheit‘ wird zu einer ihrer Haupteigenschaften erhoben. In einer Rede zur Verleihung der Akademie-Preise am 14. Dezember 1770 postuliert er, der Künstler müsse die Natur zuerst auf eine abstrakte Idee reduzieren und sich eine klare Vorstellung von Schönheit und Ebenmaß bilden, dann müsse er die ‚einfache‘ Natur von den Überformungen befreien, mit denen sie durch moderne Erziehung belastet sei. 277 ‚Eitelkeit‘ und ‚Laune‘ seien es, die die ‚menschliche Form verunstaltet‘ hätten, und die Methoden, mit denen Natur verkleidet würde, sind den Tanzmeistern, Schneidern und Haarschneidern zuzuschreiben. Während die mechanischen Künste und die Ornamentik der Mode huldigen mögen, hätte sie in der Kunst der Malerei nichts zu suchen. 278 Ziel müsse es sein, zu ‚wirklicher‘ und ‚wahrer‘ Einfachheit der Natur zu kommen. 279 Durch bloßes Naturstudium sei diese ‚echte Einfachheit‘ nicht zu erlangen, und: Es dürfe – im Gegensatz zu der beginnenden Tendenz, die alte Kunst zu sammeln – Einfachheit nicht verwechselt werden mit der Einfachheit der Meister am Beginn der Entstehungsgeschichte der Malerei, denn diese sei aus Notwendigkeit geboren und deshalb zu einfach und unkünstlerisch. 280 Erreichbar sei das hohe Ziel der ‚echten Einfachheit‘, wenn der Künstler eine Kenntnis der ‚unverfälschten Gewohnheiten der Natur‘ gewonnen habe; erst dies

276 Reynolds, Sir Joshua: The Works of Sir Joshua Reynolds, Knt. late president of the Royal Academy: Containing his Discourses, Idlers, a Journey to Flanders and Holland (now first published), and his Commentary on Du Fresnoy’s Art of painting, printed from his revised copies (with his last corrections and additions) [...], London: Cadell jun. and W. Davies 1797, z. B.: „Discourse III“, S. 108 und „Discourse XIV“, S. 293. 277 Ebd., „Discourse III“, S. 43f. 278 Ebd., S. 44f. Diese Modekritik wird auch – wie später die Kritik am Korsett – naturwissenschaftlich begründet (vgl. S. 44). 279 Ebd., S. 45. 280 Ebd., „Discourse VIII”, S. 175.

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ermögliche ihm, zu Einfachheit zu gelangen. 281 Die Kunst, die Natur (richtig) zu sehen und ihre Vorbilder (richtig) als Modell zu benutzen, sei das wirkliche Ziel aller Studien des Künstlers. 282 So ist es notwendig zu einer ‚Generalidee‘ von der Natur („the general idea of nature“) vorzudringen, denn Deformation ist nicht Natur an sich, sondern eine zufällige Abweichung von dem Gewöhnlichen; tatsächlich sei es einzig diese ‚Generalidee‘, die richtigerweise und mit Recht ‚Natur‘ genannt werden kann. 283 An anderer Stelle unterscheidet er eine engere, beschränktere und eine ‚weitere, freiere Idee von der Natur‘; 284 der Natur selbst werden ‚Wahrheit, Einfachheit und Einheitlichkeit‘ zugesprochen. 285 Naturschönheit liege in der Art, jeder Art, nicht im (botanisch gesprochen:) Individuum, wie er im Idler erläuterte; deshalb oder trotzdem empfiehlt er dem Maler auch von der allgemeinen Regel abzuweichen und Zufälligkeiten aufzunehmen und seine Leinwände gleichwie mit den Deformationen der nicht immer regelhaften Bildung des Einzelnen zu infizieren. 286 Zur ‚wahren Einfachheit der Natur‘ zu gelangen, aber sei schwer, da wir zu sehr an die Moden, die Gewohnheiten und Sitten gewöhnt seien, die richtigerweise eine ‚zweite Natur‘ genannt würden und die es uns schwer machten zu unterscheiden zwischen dem, was ‚natürlich‘ und dem, was Resultat unserer Erziehung sei. 287 All dies – Mode, Sitten, Erziehung – so der befreierisch, emphatisch erscheinende Impetus, den es über Jahrhunderte in der kunstgeschichtlichen Benutzung des Wortes ‚Natur‘ nicht gegeben hatte, liege über der ‚wahren Natur der Dinge‘ wie ein Schleier, der weggeräumt werden müsse. 288 ‚Einfachheit‘ dagegen ist eine Eigenschaft, die nicht beschrieben oder definiert werden könne, nur negativ beschreibbar, denn Schönheit der Natur ist aufzeigbar nur im Kontrast zu ihrer Deformierung, die aus der Vernachlässigung erwächst. 289 Dabei ist von sich aus klar, dass Kunst nie nur ‚Natur‘ und ‚natürlich‘ sein kann, selbst im Garten nicht, wenn er denn als ein Kunstwerk anzusehen ist. 290

281 Ebd., „Discourse III“, S. 46. 282 Ebd., „Discourse XII“, S. 264. 283 Ebd., „Discourse VII “, S. 136f. 284 Ebd., „Discourse XV“, S. 319f. 285 Ebd., „Discourse XI“, S. 236. 286 Ebd., Texte aus „The Idler“, am Ende eines Passus zur Naturimitation, S. 361f. 287 Ebd., „Discourse III“, S. 45. 288 Ebd., S. 46. 289 Ebd., „Discourse XIII.“, S. 171. 290 Ebd., S. 284; vgl. auch, mit einer weit schärferen Konnotation, zur „unnaturalness in theatrical representations“, S. 283.

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Die bei Reynolds angelegte Kritik an der Überformung der Natur durch Sitte, Mode und Erziehung wird in Johann Georg Sulzers ab 1771 erschienen, im deutschsprachigen Raum ungemein einflussreichen Nachschlagewerk Allgemeine Theorie der Schönen Künste in den eng beieinanderliegenden Lemmata „Nachahmung. (Schöne Künste)“, „Natur. (Schöne Künste)“, „Natürlich. (Schöne Künste)“ und „Naiv“ zum ideologischen Konzept erhoben. Sulzers erste Definition des Begriffs ‚Natur‘ folgt einem Naturbegriff, der der allgemeinsten Art ist: „das ganze System der in der Welt vorhandenen Dinge“ und wesentlich der Encyclopédie entnommen scheint. 291 Ausgenommen aus der so definierten Natur aber sind Dinge, die hervorgerufen worden sind „durch Kräfte, die nicht ursprünglich darin [in der Welt] vorhanden sind“; zu jenen gehören „Wunderwerke, auch Werke der menschlichen Kunst“. 292 Der Natur und ihren Hervorbringungen werden Eigenschaften wie Einfachheit, Zweckmäßigkeit und ‚Ungezwungenheit‘ zugesprochen; in diesem Sinne können Kunstwerke ‚natürlich‘ genannt werden, wenn sie diesen Eigenschaften entsprechen, „wenn darin alles vollkommen, ungezwungen und auf das Beste zusammenhängend ist“ 293 bzw. wenn sie als kunstlos, sprichwörtlich wie ‚von der Natur gemacht‘ erscheinen.294 In einer Nebenbedeutung wird dies auch zu einer rein formalen Kategorie, 295 und andererseits wiederum zu einer Kategorie der Beschreibung der charakterlichen Hervorgehobenheit, die offenbar zuallererst darin besteht, dass sie die Gefühle ohne jegliche Kontrolle frei auslebt: „Auch außer der Kunst nennet man das natürlich, was keinen Zwang verräth, was nicht nach Regeln, die man durch die That entdeken kann, abgepaßt, sondern so da ist, oder so geschieht, daß es das gerade, einfache Verfahren der Natur zu erkennen giebt. So nennet man den Menschen natürlich, der sich in seinen Reden, Gebehrden, Bewegungen, mit

291 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt (Online-Ausgabe),

Düsseldorf:

Universitäts-

und

Landesbibliothek,

(nach

2010, der

Ausg. Leipzig: Weidmann und Reich 1773–75), Band 2 (1775), Stichwort: „Natur. (Schöne Künste)“ (Aufrufdatum: 30.03.2016), S. [316] 302; noch ganz der älteren Kunstliteratur folgend, ebd., S. [316f] 302f. 292 Ebd., S. [316] 302. 293 Ebd. 294 Ebd., S. [320] 306, Stichwort: „Natürlich. (Schöne Künste)“. 295 Ebd.

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vollkommener Einfalt, ohne alle Nebenabsichten, ganz seinem Gefühl überläßt, ohne daran zu denken, daß er auf eine gewisse gelernte Weise handeln müsse.“ 296

Unmittelbar vor dem Artikel „Natur“ steht bei Sulzer der erstaunlich lange Eintrag „Naiv“; und ‚naiv‘ ist in weiten Teilen identisch mit dem, was er selbst auch als „natürlich“ beschreibt: „Es scheinet überhaupt, daß das Naive eine besondere Art des natürlich Einfältigen sey, und daß dieses alsdenn naiv genennt werde, wenn es gegen das Verfeinerte und Ueberlegte, das einmal schon wie zur Regel angenommen worden, merklich absticht. Ein Mensch der fern von der größern gesellschaftlichen Welt erzogen worden, der von den feineren Lebensregeln, von der raffinirten, aber zur Gewohnheit gewordenen Höflichkeit und dem ganzen Ceremonialgesez der feineren Welt nichts weiß, der nur auf sich selbst, und nicht auf das, was andere von ihm denken mögen, acht hat; ein solcher Mensch wird in den meisten Gesellschaften [...] naiv genennt werden.“ 297

Beispiel dafür kann eine Person sein mit „den richtigen Vorstellungen und natürlich edeln Empfindungen ihres eigenen Charakters [...], welche nichts von dem Modegepräg dessen, was bey ähnlichen Veranlassungen die feinere Welt zu äussern pflegte, an sich hatten.“ Demnach habe „das Naive seinen Ursprung in einer mit richtigem Gefühl begabten, von Kunst, Verstellung, Zwang und Eitelkeit unverdorbenen Seele. [...] Die Einfalt und Offenherzigkeit im Denken, Handeln und Reden, die mit der Natur übereinstimmt, und auf welche nichts willkührliches, oder gelerntes von außenher den geringsten Einflus hat, in so fern sie gegen das feinere, überlegtere [...] abgepaßte, absticht, scheinet das Wesen des Naiven auszumachen.“ 298 Das ‚Naive‘ ist, „wo blos Unschuld und edle Einfalt ist“, und es wird beschrieben mit Sätzen wie „Das Naive im Ausdruk besteht in Worten, die geradezu die Gedanken, oder die Gesinnungen der Unschuld ausdrüken,“ und „Empfindungen und deren Aeußerung in Sitten und Manieren sind naiv, wenn sie der unverdorbenen Natur gemäß, [...]“. Lob der Einfachheit, Huldigung der angeblich ‚unverdorbenen‘ Natur und Kritik an der Verstellung dieser ‚Einfachheit‘ und ‚Natürlichkeit‘ – bei Winckelmann, Algarotti und Reynolds angedacht und vorgebildet – werden zu einem hohen charakterlichen Ideal erhoben und noch dazu an den nicht unproblematischen Begriff der „Unschuld“ angebunden. Da-

296 Ebd. 297 Hier wie im Folgenden, Stichwort: „Naiv“, ebd., S. [308] 294–[315] 301. 298 Ebd., S. [308f] 294f.

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mit einhergehend stellt sich auch eine entwicklungsgeschichtliche Distinktion ein, die zunächst historisch gedacht auch eine kulturell-kolonialistische Nuance enthält, wo eine – positive oder negative – Diskriminierung zeitgleicher, ‚anderer‘ Kulturen mitspielt (Verfeinerung ist hier ja in einem gegen die RokokoKultur gerichteten Impuls durchaus negativ belegt...): „In sittlichen Gegenständen giebt es eine rohere und eine feinere Natur; jene herrscht unter Völkern bey denen die Vernunft sich noch wenig entwikelt hat; diese zeiget sich in sehr verschiedenen Graden nach dem Maaße nach welchem die Künste, Wissenschaften, die Lebensart und die Sitten, den Einfluß einer langen Bearbeitung erfahren haben.“ 299

Von hier aus kann eine Geschichte beginnen, die in die abwertende Verehrung des ‚Edlen Wilden‘ und der Kunst der sogenannten ‚Primitiven‘ im frühen 20. Jahrhundert mündet. Abbildung 16 a + b (abgedruckt auf S. 42): Kupferstiche aus Daniel Chodowiecki: Illustrationen zum Thema Natur und Affektation in den verschiedenen Auftritten des menschlichen Lebens, für den Göttinger Taschen Calender, 1779: „Die Unterredung / La conversation“. In dem größeren Zusammenhang von Ideen, wie sie Sulzer formuliert hat, wird man auch das Entstehen von Daniel Chodowieckis zweiteilige Illustrationsfolge für Georg Christoph Lichtenbergs Göttinger Taschen Calender von 1779 und 1780 sehen müssen. Lichtenberg hatte Chodowiecki das allgemeine Thema „Natur und Affektation in den verschiedenen Auftritten des menschlichen Lebens“ vorgegeben, ihm aber die Auslegung der jeweils paarweise zueinandergeordneten Monatsblätter im Einzelnen ganz überlassen und sie dann wiederum mit Kommentaren versehen. 300 Chodowiecki stellt jeweils in klarer Bildpolemik „al-

299 Nochmals Stichwort: „Natürlich. (Schöne Künste)“, ebd., S. [322] 308. 300 Der Titel des Textes zu der zweiteiligen Illustrationsfolge lautet „Etwas zur Illumination der Kupferstiche zu diesem Calender“, 4, 1779, S. 116–27 und 5, 1780, S. 127–41. Die einzelnen Blätter sind je für sich untertitelt, haben aber keinen Gesamttitel; der hier gegebene, heute gebräuchliche entstammt den Kommentaren Lichtenbergs, in denen er zu Beginn seinen Themenvorschlag an Chodowiecki mit diesen Worten beschreibt. Konsultierte Ausgabe nach dem Original der Herzogin Anna Amalia Bibliothek/Stiftung Weimarer Klassik, Sign.: Ff,1:63: (Aufrufdatum: 31.03.2017).

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te“, höfische Kultur des 18. Jahrhunderts mit nun als ‚affektiert‘ diffamierter Gestik einem neuen, als ‚bürgerlich‘ geltenden Ideal der Sentimentalkultur, 301 die als ‚natürlich‘ gelten sollte, entgegen. Weniger als das gleichwie als Titelkupfer fungierende, aber erst in der zweiten Folge erschienene Blätterpaar „Natur“ und „Afection“, das ein händehaltendes, Adam und Eva-gleiches Paar in griechisch inspirierter Tracht den höchsten Auswüchsen der höfischen Mode des 18. Jahrhunderts entgegenstellt, können die beiden Bilder mit dem gemeinsamen Titel „Die Unterredung/La conversation“ im ersten Teil (vgl. Heeg, „Das Bild der Unschuld als Wunschbild unschuldiger Darstellung“, Abb. 8/9, S. 42 im vorliegenden Band) emblematisch dafür stehen, wie Illustrator und Kommentator ihre Sicht von der ‚Natur‘ entsprechendem Verhalten definieren. Lichtenberg erkennt in dem vor der in überzogenen, barocken Zierformen geschnittenen Hecke stehenden, in regem Gespräch verbundenen Paar auf dem der „Afection“-Seite zugehörigen, dritten Blatt – und er mag damit durchaus die Intention des Künstlers wiedergegeben – keineswegs ein Gespräch gleicher Partner, sondern ein „dialogisches Selbstgespräch, ein Selbstgespräch zwischen zwey Personen“: „Daß von diesen beyden sich jedes nur selbst sieht, selbst hört, und nur mit sich selbst spricht, ist, dünkt mich, kaum zu übersehen. […] sprächen sie nun noch überdas ein gebrochenes Französisch, so wäre die Scene vollkommen modern.“ 302

301 ‚Bürgerlichkeit‘ als Erklärungsmuster einer hinter künstlerischen Produktionen stehenden Gefühlskultur ist in letzter Zeit wieder verstärkt in Zweifel gestellt worden: Meyer-Sickendiek, Burkhard: Zärtlichkeit. Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, „Einleitung“, argumentiert gegen die Auffassung von Empfindsamkeit als „spezifisch bürgerliche Tendenz“; auf S. 14 im Besonderen bezeichnet er eine diesbezügliche Anmerkung von Michelsen, Peter: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, S. 34, die sich gegen die „Behauptung Sauders, ‚daß die Empfindsamkeit eine spezifisch bürgerliche Tendenz [habe] und im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu sehen sei‘“, ausdrücklich als „eine der wichtigsten Fußnoten in der Forschungsgeschichte der Aufklärung“ und erwähnt dann, S. 26 die „Selbstkorrektur Sauders“ (mit Bezug auf: Sauder, Gerhard: „‚Bürgerliche Empfindsamkeit‘?“, in: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Wolfenbütteler Symposion, 6, 1978, Heidelberg: Schneider 1981 [Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 7], S. 159). 302 Ebd., S. 120ff.

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Dagegen steht zu dem Gegenstück (Abb. 16 b) der lapidare Kommentar „Diese sind Deutsche, sprechen deutsch, sehen sich und verstehen sich.“ 303 Ausgehend von der Hofkritik, die auch der Entstehung des Landschaftsgartens zugrunde liegt, geht in Deutschland die zunächst auf eine Stärkung der nationalen Einheit und der nationalen Kultur gerichtete Kritik schon hier mit einem ins Chauvinistische weisenden Impuls einher, wie Gerhard Sauder schon früh bemerkte: „In die Abwehrstrategie gegen das Unechte, Unnatürliche, Künstliche und nur Erdachte mischten sich frühzeitig antifranzösische Affekte.“ 304 Es spricht für sich, dass der jungen Frau in diesem Bild die Rolle zugesprochen ist, mit gefalteten Händen und gesenktem Blick den Ausführungen ihres in Rückenansicht gegebenen, männlichen Gegenüber zuzuhören. Symptomatisch scheint zudem zu sein, dass die deutsche Untertitelung, im Gegensatz zum französischen „La Conversation“, „Die Unterredung“ (und nicht etwa „Das Gespräch“) lautet. Zunächst gegen die Kultur der Französisch sprechenden, nach dem Vorbild von Ludwig XIV. Versailles geformten, höfischen Gesellschaft gerichtet, wird höfisches Leben gleichgesetzt mit französischer Kultur, und die zunächst auf die Konzentration auf das Eigene zielende Kritik bekommt einen anti-ausländischen, antifranzösischen 305 – und letztlich auch: antijüdischen Einschlag. 306 Dass das Alles zu einem ‚natürlich Gegebenen‘ erklärt wird, geht deutlich aus der Erklärung der Monats=Kupfer zum zweiten Teil der Serie 1780 hervor: „Es giebt [...] nur eine Mode der Natur, der Mensch schaft sich ihrer unzählige [...]“, heisst es da, und weiter: „Es sind gemeinglich nur wenige, deren Bekanntschaft mit den Regeln, denen die Natur in allen ihren Werken folgt, so innig ist, daß ihnen nichts Vergnügen macht, was damit streitet [...]“ Daraus ergibt sich, dass es sich auch um einen „Geschmack der wenigen Auserwählten“ handelt. 307 Der Kampf gegen die barocke, höfische Dominanz in der Kultur und für ein Eigenes, nationales Selbstbewusstsein wird am Vorabend der Französischen Re-

303 Ebd., S. 122. 304 Sauder, Gerhard: Empfindsamkeit, Band 1: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart: J. B. Metzler 1974, S. 162. 305 Der zunächst auf neutral-befreierische Art nationaldeutsche Impuls, der sich kritisch gegenüber den der französischen und dann der englischen Mode nachhängenden eigenen Gewohnheiten äußert, findet seinen Ausdruck auch im Kommentar von Lichtenbergs zu Tafel 7 und 8, vgl. „Etwas zur Illumination“, S. 124. 306 Lichtenberg, Georg Christoph: „Erklärung der Monats= Kupfer“, in: Göttinger Taschen Calender, Göttingen: Joh. Chr. Dieterich, 5, 1780, zu Tafel 6, S. 136f: „der Portugiesische Juden=Stutzer“ und „der Juden-Stutzer, der zu betrügen hofft“. 307 Ebd., S. 127f.

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volution ausgetragen bis hin in die Modekritik. In der September-Ausgabe des Journal des Luxus und der Moden von 1787 findet sich ein Poem über die „Entbehrlichkeit des Putzes“, verfasst „nach dem Properz, mit Veränderung der Moden und Mythologie“. 308An seinem Anfang steht die Frage nach überflüssigem Schmuck, dessen die eigentliche Schönheit nicht bedürfe – und der wiederum als französisch assoziiert wird: „Warum o Liebchen hüllt in gallische Domeusen Dein Haupt sich [...]?“

Cupido, der kleine Gott des Begehrens, in seiner nackten und damit ‚natürlichen‘ Schönheit dagegen habe andere Vorlieben, so heisst es: „Cupid ist nackt, und haßt erkünstelte Gestalt.“ Als Idealbild von nicht-„erkünstelte[r] Gestalt“ führt der Verfasser des Gedichtes die biblische Figur „Rachel“, oder „Rahel“ an; ihr einziger Schmuck beruhe auf ‚natürlicher‘ Wirkung und ihre Anziehungskraft kann direkt auf die Natur selbst zurückgeführt werden: „Natur war ihr Geschmeid’, ihr größter Reiz war Zucht.“ Lichtenberg wiederum hatte in seinen Kommentaren zu Chodowieckys Stichwerken den Verzicht auf unnötigen Schmuck schon vorher zurückgebunden an ‚Einfachheit‘, an die vorgebliche natürliche „Einfalt“: „[...] je mehr sich Schönheit und Grazie von Putz unabhängig macht, destomehr habt Rücksicht auf die Einfalt der Natur [...]“, so seine Forderung. 309 Wir erinnern uns daran, dass andere gerade die Vielfalt der Natur als deren herausragende Eigenschaft erkannt hatten. Offenbar dienen die als ‚natürlich‘ erklärte Einfachheit und der Rückverweis auf die dann doch in „Zucht“ zu haltende, eben nicht ungezügelte Natur dazu, das durch den Verzicht auf übermäßigen Schmuck entstehende Vakuum zu füllen und die berechtigte Kritik an den Auswüchsen der höfisch bestimmten Kultur ideologisch zu unterfüttern. Wie weit diese neue Sehnsucht nach einer neuen ‚Natürlichkeit‘ in Mode, Leben und Kunst tatsächlich einer sich verstärkenden Entfremdung von der Natur im Zeitalter der beginnenden Merkantilisierung, Kommerzialisierung und Industrialisierung entspringt – oder ob die Unterstellung einer solchen nicht wiederum einer Fortsetzung genau dieser falschen Überhöhung einer angeblichen „Einfalt“ der Natur entspricht, muss der genauen Reflektion anderer Forschungsdisziplinen überlassen sein. Für die Bildende Kunst aber kann als sicher

308 Alxinger, Johann Baptist von: „Entbehrlichkeit des Putzes“, in: Journal des Luxus und der Moden, 2, 09.09.1787, S. 287f. 309 Lichtenberg: „Erklärung der Monats=Kupfer“, S. 130.

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gelten, dass alle künstlerische Produktion des späten 18. Jahrhunderts nicht weniger weit entfernt war von einer ungezügelten (nicht „vernachlässigten“), ‚reinen‘ Natur als die des Barockgartens. Nur hat letztere das nicht als eine Entfremdung, sondern als eine Form der Beherrschung, Gestaltung und Überhöhung der Natur durch Kunst empfunden.

S CHLUSSBEMERKUNG Wenn schon im 17. Jahrhundert von Robert Boyle die Unbrauchbarkeit des Begriffes ‚Natur‘ betont worden ist und dies selbst in der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts aufgegriffen worden ist, wenn beides, Symmetrie und Regelmäßigkeit, Vielfalt und Einfalt, wie auch Unregelmäßigkeit und Freiheit in der Geschichte des Naturbegriffs durch Naturnachahmung begründet werden können, wenn noch dazu das Kriterium der ‚Natürlichkeit‘ selbst im Naturschutz in Frage gestellt, indem dort heute von „Naturnähe-Konzepten“ gesprochen wird und Termini wie „Hemerobie“ (Kultivierungsgrad) bevorzugt werden, 310 ist es nur allzu berechtigt, die Frage zu stellen, wie der schon früh ideologisch verbrämte Begriff der ‚Natürlichkeit‘ für die Kunstgeschichte überhaupt wissenschaftlich fundiert nutzbar gemacht werden kann. Dies gilt besonders in einer Zeit, in der wir wissen, dass die geschichtlichen Phasen, die sich eine vermeintliche Rückkehr zu ‚Natürlichkeit‘ auf die Fahnen geschrieben hatten (die Epoche um 1800, dann die der Reform um 1900, die Hippie-Zeit des 20. Jahrhunderts) auch immer nur vorübergehende Moden waren, und in der noch dazu der Begriff der ‚Natürlichkeit‘ wiederum als politischer Kampfbegriff in politischen Diskus-

310 Kowarik, Ingo: „Natürlichkeit, Naturnähe und Hemerobie als Bewertungskriterien“, in: Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege. Kompendium zu Schutz und Entwicklung von Lebensräumen und Landschaften mit 5. Ergänzungslieferung, Werner Konold, Reinhard Böcker u. Ulrich Hampicke (Hg.), Landsberg am Lech: ecomed verlagsgesellschaft 1999–2001, V–2.1, S. 1–18 [Erstpublikation als Teil der Loseblattsammlung; online veröffentlicht: 31.01.2014, , DOI: 10.1002/9783527678471]; auch in: Handbuch der Umweltwissenschaften. Grundlagen und Anwendungen der Ökosystemforschung, hg. von Otto Fränzle, Felix Müller u. Winfried Schröder, Weinheim: Wiley-VCH, 2006, VI-3.12, S. 1–18 [Erstpublikation als Teil der Loseblattausgabe; online veröffentlicht: 28.02.2014, , DOI: 10.1002/9783527678525.hbuw2006004].

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sionen zur Begründung von ‚Natürlichkeit‘ der Zeugung und des Geschlechts eingebracht wird. 311 Man wird nicht umhin können, den Begriff der ‚Natur‘ historisch im Sinne der Kunst- und Naturphilosophie als „le grand tout“, wie Voltaire es formuliert, 312 zu benutzen. Wissenschaftlich begründet aber kann ‚Natürlichkeit‘ keinesfalls dazu herhalten, wiederum im Sinne eines national und chauvinistisch verbrämten ‚Natürlichkeits‘-, ‚Unverfälschtheits‘-, ‚Ungekünsteltheits‘- und ‚Naivetäts‘-Diskurses instrumentalisiert zu werden. Hier wäre zudem ein postkolonialer Blickwinkel auf die im 18. Jahrhundert aufkeimende Idee des ‚Edlen Wilden‘ und der späteren Verehrung von deren ‚primitiver‘ Kunst mit zu berücksichtigen. Ansonsten wäre es wohl angemessen, den Begriff der ‚Natürlichkeit‘ – etwa in einer Theorie der Landschaftsmalerei, der Vedute, des Porträts, der Gartenkunst, aber auch, die ‚poetische Natur‘ einbegreifend, in großen Bereichen der Historienmalerei – nach dem Vorbild der neueren Diskussion im Naturschutz durch eine streng zu definierende und zu erläuternde Nähe an Zustände in der abgebildeten oder anders nachgeahmten Wirklichkeit zu ersetzen. Als ‚naturähnlich‘ wären dann nur solche künstlerischen Produkte zu bezeichnen, die einen hohen Grad von Nähe an den nachgebildeten Gegenstand haben. Statt bloß Naturnachahmung zu konstatieren wären demnach wie im Naturschutz „Grade von Naturnähe“ in der künstlerischen Nachahmung zu definieren und auf die jeweilig spezifische künstlerische Verarbeitung des Vorbildes zu reflektieren, um damit wieder verstärkt auf das je Eigene des Künstlerischen zu rekurrieren.

L ITERATUR Addison, Joseph: „o. T. [On the pleasure of immagination]“, in: The Spectator, 411-21 (21. 6. – 3. 7. 1712), zit. nach der Online-Ausg. der Rutgers University Libraries, hgg. von Joseph Chaves (General Editor): Spectator Complete. The Morley edition of the Spectator … complete in DJVU format,

311 Eine umfassende Diskussion zu den Fragen von ‚Natürlichkeit‘ und ‚Künstlichkeit‘ der Zeugung, die auch einen weiteren Horizont aufmacht: Birnbacher, Dieter: Natürlichkeit, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2006, (= Grundthemen Philosophie); zur angeblichen Naturgegebenheit des Geschlechts: Voß, Heinz-Jürgen: Geschlecht: wider die Natürlichkeit, Stuttgart: Schmetterling Verlag 2011. 312 Voltaire, François Marie Arouet de: „Nature. Dialogue entre le philosophe et la nature“, in: Œuvres complètes de Voltaire, Band 42B (2012), S. 287.

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, Bd. 2, S. 716–32 u. 3, S. 1–17. Alberti, Leon Battista: De re aedificatoria. Epistola ad Laurentium Medicem, Florenz: 1485 [Nachdruck München: Prestel, 1975]. Alberti, Leon Battista: I Dieci Libri De L’Architettvra di [...]. La commodità, l’utilità, la neceßità, e la dignità di tale opera, e parimente la cagione, da la quale é stato mosso à scriuerla. Nouamente de la Latina ne la Volgar Lingua con molta diligenza tradotti, Venedig: Vavgris 1546. Alberti, Leon Battista: La pittura de Leonbattista Alberti tradotta per M. Lodovico Domenichi, Venedig: de Ferrari MDXLVII [1547]. Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst. Unveränd. reprographischer Nachdr. der 1. Aufl., übers. und hgg. v. Max Theuer, Wien / Leipzig, [Hugo Heller & Co.] 1912, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft [Abt. Verl.], 1991. Algarotti, Francesco: Opere. Ed. novissima, Venedig: Palese, 1791–94. Algarotti, Francesco: Saggio sopra l’opera in musica, Vededig: Pasquali, 1755. Algarotti, Francesco: Werkausgabe Francesco Algarotti in deutscher Übersetzung, online Ausgabe (.pdf-Dokumente), hg. u. übers. v. Prof. em. Hans W. Schumacher, 2011 . Alxinger, Johann Baptist von: „Entbehrlichkeit des Putzes“, in: Journal des Luxus und der Moden, 2, 9, Sept. 1787, S. 287/88. Aretino, Pietro: Lettere a cura di Paolo Procaccioli, Rom: Salerno Ed. 1997–2002. Baglione, Giovanni: Le Vite de’ pittori, scvltori et architetti dal pontificato di Gregorio XIII. del 1572 in fino a’tempi di Papa Vrbano Ottauo nel 1642, Rom: Fei 1642. Baldinucci, Filippo: Vocabolario toscano dell’arte del disegno nel qvale si esplicano i propri termini e voci, non solo della pittura, scvltvra & architettvra, ma ancora di altre arti a quelle subordinate, e che abbiano per fondamento il disegno, …, Florenz: Santi Franchi, 1681. Baldinucci, Filippo: Vocabolario toscano dell’arte del disegno opera di Filippo Baldinucci, Hg.: CRIBeCu – Scuola Normale Superiore, 1691/© 2003, . Bellori, Giovanni Pietro: „L’ Idea del pittore, dello scvltore e dell’ architetto scelta dalle bellezze naturali superiore alla natura discorso... detto nell’Accademia romana di San Luca la terza domenica di maggio M. DC. LXIV.“, in: ders.: Le vite de’ pittori, scvltori ed architetti moderni, ..., Rom: Mascardi, 1672, S. 3–13.

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Dolce, Lodovico: Dialogo della pittvra di m. Lodovico Dolce, intitolato l’Aretino. Nel quale si ragiona della dignita à di essa pittura, e di tutte le parti necessarie, che a perfetto pittore si acconuengono: con esempi di pittori antichi, & moderni: e nel fine si fa mentione delle uirtù e delle opere del diuin Titiano, Venedig: Ferrari 1557. Du Bos, Jean-Baptiste. Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. Ut pictura poesis, Paris: Mariette 1719. Dufresnoy, Charles-Alphonse: L’art de peinture, …, traduit en françois, avec des remarques necessaires & tres-amples [par Roger de Piles], Paris: L’Anglois 1668. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Neuwied / Berlin: Luchterhand, 1969 [Soziologische Texte, 54]. Enciclopedia universale dell’arte, Venedig: Fondazione Giorgio Cini. Istituto per la Collaborazione Culturale, 15 Bde. + Suppl. 1958–67/78. Félibien, André (anonym ersch.): Des principes de l’architecture, de la sculpture, de la peinture, et autres arts qui en dependant. Avec vn dictionnaire des termes propres à chacun de ces arts, Paris: Coignard 1676. Félibien, André: Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes, Paris: LePetit (u. versch. andere Verleger) 1666–88 [5 Bde.]. Furttenbach Joseph: Architectura Civilis. Das ist: Eigentliche Beschreibung wie ma[n] nach bester Form, vnd gerechter Regul, Fürs Erste: Palläst, mit dero Lust: vnd Thiergarten, darbey auch Grotten: So dann Gemeine Bewohnungen: Zum Andern, Kirchen, Capellen, Altär, Gotshäuser: Drittens Spitäler, Lazareten vnd Gotsäcker aufführen vnnd erbawen soll. Alles auß vielfaltiger Erfahrnuß zusammen getragen, beschrieben, vnd mit 40. Kupfferstucken für Augen gestellt, Durch Josephum Furttenbach, Ulm: Saurn 1628. Gaehtgens, Thomas W. (Hg.): Historienmalerei, Berlin: Reimer 1996 [Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, 1; auch als CD-Rom: Berlin: Directmedia Publishing, 2007 (Digitale Bibliothek, 158)]. Gilpin, William: Essays on Picturesque Beauty; &c. &c &c. / Three essays: on picturesque beauty; on picturesque travel; and on sketching landscape: to which is added a poem, on landscape painting…, London: Blamire 1792. Goldoni, Carlo: „Del sig. Dottor Carlo Goldoni fra Gli Arcadi Polisseno Fegejo Al Signor Pietro Longhi veneziano Celebre pittore“, in: Tutte le opere, hg.

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von Giuseppe Ortolani, Mailand: 14 Bde., [benutzte Aufl.: Bd. 1–8: 1954/55², Bd. 9–14: 1950–56], Bd. 13, S. 187/88. Gozzi, Gasparo: „o. T. [zu einem ‚Ritratto d’ un Locandiere Veneziano, fatto dal Signor Abate Alessandro Longhi‘]“ in: Gazzetta Veneta, 55, 13. 8. 1760. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M: Stroemfeld/Nexus 2000. Hess, Jacob: „Modelle e modelli del Caravaggio“, in: Commentari, 5, 1954, S. 271–89. Hess, Jacob: „Nuovo contributo alla vita del Caravaggio“, in: Bollettino d’arte, Juli 1932/33 , S. 42–44. Hess, Jacob: Kunstgeschichtliche Studien zu Renaissance und Barock, 2 Bde., Rom: Ed. di storia e letteratura 1967. Hirschfeld, Christian Cay Laurenz: Anmerkungen über die Landhäuser und die Gartenkunst, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1773. Hirschfeld, Christian Cay Laurenz: Theorie der Gartenkunst, 5 Bde., Leipzig: M. Weidmanns Erben und Reich, 1779–85. Hunt, John Dixon and Peter Wills, ed. The Genius of the place. The English Landscape Garden, 1620–1820, London: Elek Books, 1975 [Nachdruck ed. Cambridge, Mass./London: The MIT Press, 1988]. Hussey, Christopher: The picturesque. Studies in a point of view. New impression. With a new preface by the author, London: Frank Cass & Co. 1967. Kirchner, Thomas: L’Expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz: Zabern, 1991 [Berliner Schriften zur Kunst, 1]. Knight, Richard Payne: The Landscape. A didactic poem in three books addressed to Uvedale, London: Bulmer and Co... 1795. Kowarik, Ingo: „Natürlichkeit, Naturnähe und Hemerobie als Bewertungskriterien“, in: Handbuch der Umweltwissenschaften. Grundlagen und Anwendungen der Ökosystemforschung, hgg. v. Otto Fränzle, Felix Müller u. Winfried Schröder, Weinheim: Wiley-VCH 2006, VI-3.12, S. 1–18 [Erstpublikation als Teil der Loseblattausgabe; online veröffentlicht: 28.2.2014, , DOI: 10.1002/9783527678525.hbuw20060 04]. Kowarik, Ingo: „Natürlichkeit, Naturnähe und Hemerobie als Bewertungskriterien“, in: Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege. Kompendium zu Schutz und Entwicklung von Lebensräumen und Landschaften mit 5. Ergänzungslieferung, hgg. v. Werner Konold, Reinhard Böcker u. Ulrich

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Hampicke, Landsberg am Lech: ecomed verlagsgesellschaft 1999–2001, V-2.1, S. 1–18 [Erstpublikation als Teil der Loseblattsammlung; online veröffentlicht: 31.1.2014, , DOI: 10.1002/9783 527678471]. Lange, Justus: „Opere veramente di rara naturalezza“. Studien zum Frühwerk Jusepe de Riberas mit Katalog der Gemälde bis 1626, zugl.: Diss. Univ. Würzburg 2001, Würzburg: Ergon-Verlag 2003. Langley, Batty: New Principles of Gardening: Or, the laying out and planting parterres, groves, wildernesses, labyrinths, avenues, parks, &c. After a more grand and rural manner, than has been done before with experimental directions for raising the several kinds of fruit-trees, forest-trees, ever-greens and flowering-shrubs with which gardens are adorn’d. To which is added, the various names, descriptions, temperatures, medicinal virtues, uses and cultivations of several roots, pulse, herbs, &c. of the kitchen and physick gardens, that are absolutely necessary for the service of families in general. Illustrated with great variety of grand designs, curiously engraven on twenty eight folio plates, by the best hands, London: Bettesworth, Batley et al. 1728. Lauterbach, Iris: „‚Faire céder l’art à la nature’. Natürlichkeit in der französischen Gartenkunst des frühen 18. Jahrhunderts“, in: Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit, hg. v. Christoph Kampmann, Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2012. Leatherbarrow, David: „Character, Geometry and Perspective: The Third Earl of Shaftesbury’s principles of Garden Design“, in: Journal of Garden History, 4, 1984, S. 332–58. Leonardo da Vinci: Trattato della pittvra di Lionardo da Vinci. Nouamente dato in luce, con la vita dell’istesso autore, scritta da Raffaello dv Fresne. Si sono giunti i tre libri della pittura, & il trattato della statua di Leon Battista Alberti, con la vita del medesimo, Paris: Langlois 1651. Lessicografia della Crusca in Rete, Hg.: L’Accademia della Crusca, 2000-4 . Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5-2: Werke 1766–1769, hg. von Wilfried Barner, Cambridge / Ann Arbor, Mich.: ProQuest Information and Learning 2004 [Digitale Bibliothek deutscher Klassiker im WWW, nach der Print-Ausg.: Werke 1766–1769. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990. 1216 p. (Bibliothek deutscher Klassiker; 57)], , S. 13–208.

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Vasari, Giorgio: Edition Giorgio Vasari, hg. von Alessandro Nova zus. mit Matteo Burioni, Katja Burzer, Sabine Feser, Hana Gründler u. Fabian Jonietz, 45 Bde. + Supplementband, Berlin: Wagenbach 2004–15. Vasari, Giorgio: Le vite de’ piv eccellenti pittori, scvltori, et architettori scritte, & di nuouo ampliate da m. Giorgio Vasari pit. et archit. aretino. Co’ ritratti loro. Et con le nuoue vite dal 1550. insino al 1567. Con tauole copiosissime de’nomi, dell’opere, e de’luoghi ou’ elle sono, 2. erw. Aufl., 3 Bde., Florenz: Givnti 1568. Vocabolario degli Accademici della Crusca, con tre indici delle voci, locuzioni, e prouerbi latini, e greci, posti per entro l’opera. Con priuilegio del sommo pontefice, del re cattolico, della serenissima Repubblica di Venezia, e degli altri principi, e potentati d’Italia, e fuor d’Italia, della maestà cesarea, del re cristianissimo, e del sereniss. arciduca Alberto, Venedig: Alberti 1612. Vocabolario degli Accademici della Crusca, in questa terza impressione nuouamente corretto, e copiosamente accresciuto ..., 4 Bde., Florenz: Accademia della Crusca 1691. Vocabolario degli Accademici della Crusca. Edizione elettronica, Hg.: Accademia della Crusca – Scuola Normale Superiore di Pisa, o. J. . Voltaire, François Marie Arouet de: „Èpitre LIV. Au Prince Royal de Prusse“, in: Œuvres complètes de Voltaire, avec notices, préfaces, variantes, table analytique, les notes de tous les commentateurs et des notes nouvelles conforme pour le texte à l’édition de Beuchot enrichie des découvertes les plus récentes et mise au courant des travaux qui ont paru jusqu’à ce jour, hg. von Louis E. Moland, Paris: Garnier 1967 [Repr. d. Ausg. Paris: Garnier 1877–85], Bd. 10: Contes en vers, S. 306–8. Voltaire, François Marie Arouet de: „Nature. Dialogue entre le philosophe et la nature“, in: Œuvres complètes de Voltaire, hg. von Theodore Besterman, Bd. 42B: Questions sur l’Encyclopédie, par des amateurs, Genève: Institut et Musée Voltaire u. a. 2012, S. 286–290. Voß, Heinz-Jürgen: Geschlecht: wider die Natürlichkeit, Stuttgart: Schmetterling Verlag 2011. Walpole, Horace: „The history of the Modern Taste in Gardening“, in: Anecdotes of Painting in England; with some Account of the principal Artists; and incidental Notes on other Arts; collected by the late Mr. George Vertue; and now digested and published from his original MSS. By Mr. Horace Walpole, …, Bd. 4, Strawberry-Hill [Twickenham]: Kirgate 1771, S. 117–51.

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Walpole, Horace: Essai sur l’art des jardins modernes, par M. Horace Walpole, traduit en Francois [sic] par M. le Duc de Nivernois, en MDCCLXXXIV, Imprimé à Strawberry-Hill [Twickenham]: Kirgate 1784 (enthält: „Essay on Modern Gardening“). Walpole, Horace: The History of the Modern Taste in Gardening. Introduction by John Dixon Hunt, New York: Ursus Press 1995. Watelet, Claude-Henri / Lévesque, Charles: Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure. Par M. Watelet et M. Lévesque, 5 Bde., Paris: Prault 1792 [Réimpr. de l’éd. de Paris 1792: Genève: Minkoff 1972]. Watelet, Claude-Henri: L’ art de peindre. Poëme. Avec des réflexions sur les différentes parties de la peinture..., Paris: Guerin & Delatour 1760. Whately, Thomas: Observations on Modern Gardening Illustrated by Descriptions, London: Payne 1770. Wimmer, Clemens Alexander: Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989. Winckelmann, Johann Joachim: „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“, in: Johann Winckelmanns sämtliche Werke, Osnabrück: Zeller 1965, Bd. 1, S. 1–56. Winckelmann, Johann Joachim: Johann Winckelmanns sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe; dabei Porträt, Facsimile und ausführliche Biographie des Autors; unter dem Texte die frühern und viele neuen Citate und Noten; die allerwärts gesammelten Briefe nach der Zeitordnung, Fragmente, Abbildungen und vierfacher Index von Joseph Eiselein, 12 Bde., Osnabrück: Zeller 1965 [Neudruck der Ausg.: Donauöschingen: im Verlage deutscher Classiker 1825–35]. Winckelmann, Johann Joachim: „Von der Gratie in Werken der Kunst“, in: Johann Winckelmanns sämtliche Werke, Osnabrück: Zeller 1965, Bd. 1, S. 217–25. Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken ueber die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, 2., verm. Aufl., Dresden & Leipzig: Im Verlag der Waltherischen Handlung 1756 [Nachdruck als: Kunsttheoretische Schriften, 1 / Studien zur deutschen Kunstgeschichte, 330, Baden-Baden: Heitz 1962]. Zanetti, Anton Maria: Della Pittura veneziana e delle opere pubbliche de’ veneziani maestri libri V., Venedig: Albrizzi 1771 (Nachdruck: Venedig: Filippi 1972). Zuccari, Federico: L’idea de’pittori, scultori et architetti [...] Divisa in due libri, Turin: Disserolio 1607.

Autorinnen und Autoren

Deda Cristina Colonna studierte Ballett am Civico Istituto Musicale Brera (Novara) und an der Ecole Supérieure d’Etudes Chorégraphiques (Paris). An der Sorbonne graduierte sie im Fach Renaissance- und Barocktanz, erwarb danach ein Schauspieldiplom vom Teatro Stabile di Genova. Nach zahlreichen internationalen Tanz- und Schauspielaufführungen widmete sie sich der Inszenierung bzw. Choreographie von Opern. In dieser Rolle führte sie über 25 Werke auf, unter anderem Ottone in Villa von A. Vivaldi (Kopenhagener Opernfestspiele: Nominierung für den Reumert Preis in der Kategorie beste Operninszenierung, 2014), Il Giasone von F. Cavalli and Il matrimonio segreto von D. Cimarosa (Schlosstheater Drottningholm bei Stockholm), Gesualdo-Shadows von Bo Holten (Königliche Oper Kopenhagen / Takkelloftet), Armide von J.B. Lully (Innsbruck Festwochen der Alten Musik / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci), Didone abbandonata von L. Vinci (Opernfestival Maggio Musicale Fiorentino). Seit über 25 Jahren lehrt sie Barocktanz und -schauspiel bei verschiedenen internationalen Institutionen. 2014 war sie zudem Gastprofessorin an der Universität Stockholm im Fach „Vormoderne Aufführungspraxis“. Claire Genewein ist Dozentin für historische Aufführungspraxis und Traversflöte an der Anton Bruckner-Universität Linz und an der Zürcher Hochschule der Künste. Rebecca Grotjahn studierte Musik und Deutsch auf Lehramt, Gesang und Musikwissenschaft in Hannover und promovierte 1998 an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Nach ihrer Habilitation (2004 an der Universität Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) wurde sie 2006 Professorin für Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Genderforschung am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold.

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Dort leitet sie seit 2016 das DFG-Projekt Technologien des Singens (gem. mit Malte Kob und Karin Martensen). Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Singens und der Sänge*innen, Lied und Liedgesang, Robert und Clara Schumann, Johann Sebastian Bach, Mediengeschichte, Alltagsgeschichte, Musik und Materielle Kultur. Jüngste Publikation: Das Geschlecht musikalischer Dinge, hrsg. von Rebecca Grotjahn, Sarah Schauberger, Johanna Imm und Nina Jaeschke (= Jahrbuch Musik und Gender 11 [2018]), Hildesheim 2018. Vera Grund studierte und promovierte an der Universität Mozarteum Salzburg. Sie war Mitarbeiterin der Neuen Mozart-Ausgabe sowie der GluckGesamtausgabe, Post-doc-Jahresstipendiatin des Deutschen Studienzentrums in Venedig, Lehrbeauftragte der Universität Salzburg und der Bruckner Universität Linz sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Musikwissenschaftlichen Seminars Detmold/Paderborn. Gemeinsam mit Claire Genewein leitete sie das fächerübergreifende künstlerisch-wissenschaftliche Projekt „Naturalezza/Simplicité“ an der Bruckner Universität Linz. Günther Heeg ist emeritierter Professor am Leipziger Institut für Theaterwissenschaft und Direktor des Centre of Competence for Theatre (CCT). Zahlreiche Publikationen zum Theater des 18. Jahrhunderts, zu Bertolt Brecht, Heiner Müller sowie zur Transkulturalität und Transmedialität des internationalen Gegenwartstheaters. Publikationen u.a. Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts (Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld Verlag 2000), Reenacting History. Theater & Geschichte (Hg., Berlin: Theater der Zeit 2014), Das transkulturelle Theater (Berlin: Theater der Zeit 2017). Claudia Jeschke – Tanzwissenschaftlerin, Historio-Choreographin, Kuratorin, Universitäts-Professorin i.R. Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in München. 1979 Promotion. Von 1980 bis 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft an der Universität in München, 1994 Professorin am Institut für Theaterwissenschaft in Leipzig, dort Habilitation. 2000 Professorin für Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik in Köln. Zwischen 2004 und 2015 Professorin für Tanzwissenschaft an der Universität Salzburg. Gastprofessuren an europäischen, amerikanischen, asiatischen und südamerikanischen Universitäten. Claudia Jeschke arbeitet(e) zudem als Dramaturgin, Choreografin, Ausstellungsmacherin und Autorin von Fernsehsendungen zum Tanz. Autorin und Herausgeberin zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen, in denen sie als ausge-

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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bildete Tänzerin die Tanzgeschichte vor allem unter bewegungsanalytischen und praxisorientierten Gesichtspunkten beleuchtet. Die Verbindung von Historie, Theorie und Praxis dokumentiert sich außerdem in Re-Konstruktionen und Lecture Performances zu Tanzphänomenen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Seit ihrer Pensionierung unterrichtet sie als Dozentin an der Anton-BrucknerPrivatuniversität in Linz und der Wydział Teatru Tańca PWST Krakow/Bytom (Poland). Heiner Krellig, Kunsthistoriker, lebt und arbeitet in Berlin und Venedig. Studium an der Technischen Universität Berlin, Promotion zum Thema „Menschen in der Stadt. Darstellungen städtischen Lebens auf venezianischen Veduten“. Lehrtätigkeit beim LetteVerein – Fachschule für Mode- Foto-, Grafikdesign. Wissenschaftliches Volontariat bei der SPSG. Diverse Stipendien am Deutschen Studienzentrum in Venedig. Researcher beim National Inventory Research Project, Glasgow University. Volontariat bei und Projektzusammenarbeiten in verschiedenen Positionen mit der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten BerlinBrandenburg (SPSG), sowie unter anderen der Gemäldegalerie der Staatliche zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SMB PK), der Gemäldegalerie Alte Meister Dresden, dem Museo Ebraico di Venezia / Venice beyond the Ghetto in Venedig. Lehre an der Universität Bamberg und im GasthörerCard-Programm der Freien Universität Berlin. Hans Georg Nicklaus studierte Violine (Konzertfach) sowie Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft. Nach seiner Dissertation an der Universität Wien war er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin (Lehrstuhl für Kulturgeschichte). Hier habilitierte er sich 2001/2 mit einer interdisziplinären musik- und kulturwissenschaftlichen Arbeit zu Musikdiskursen des 18. Jahrhunderts. Er schrieb zahlreiche Publikationen zu Themen der Musikgeschichte und Musikästhetik sowie zu Grenzbereichen zwischen Musik- und Kulturgeschichte; u.a. Weltsprache Musik: Rousseau und der Triumph der Melodie über die Harmonie (Fink Verlag 2015). Seit 2004 ist er Dozent an der Anton Bruckner Privatuniversität für die Fächer Musik- und Kulturgeschichte sowie Musikvermittlung. Seit 1993 ist Hans Georg Nicklaus als Musikjournalist und Moderator tätig: Er gestaltet und moderiert wöchentlich Musiksendungen im Radioprogramm von Ö1 (ORF) und hält regelmäßig Konzerteinführungen.

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Zwei Mal wurde Hans Georg Nicklaus mit dem „Radiopreis der Erwachsenenbildung“ ausgezeichnet (2014 Sparte „interaktive und experimentelle Produktion“ und 2016 Sparte „Kultur“). João Luís Paixão ist Bariton und Wissenschaftler. Er beschäftigt sich mit der Rekonstruktion von Gesangs- und Schauspieltechnik des 17. bis 19. Jahrhunderts, mit besonderem Augenmerk auf die Überschneidung von Deklamation und Musik. 2014 begleitete er eine halbszenische Rekonstruktion von Gotters Medea am Utrecht Oudemuziek Festival sowohl als Schauspieler wie auch als künstlerischer Berater. Im darauffolgenden Jahr inszenierte und spielte er eine Rekonstruktion von Rousseaus Pygmalion am historischen Theater Český Krumlov, in Zusammenarbeit mit dem Projekt „Performing pre-modernity“ der Universität Stockholm. An seinem derzeitigen Wohnort Den Haag ist er aktiv in die Künstlerszene eingebunden bzw. arbeitet er eng mit Projektträgern wie der Koninklijk Schouwburg oder dem Ensemble Musica Poëtica zusammen. Gemeinsam mit letzterem Ensemble brachte er jüngst Brandes Ariadne auf Naxos an zahlreiche niederländische Bühnen. Seit 2017 ist João Luís Paixão zudem Doktorand an der Universität Amsterdam. Peter Schmid, vormals in der Umweltforschung aktiver analytischer Chemiker, führt zusammen mit Dr. Claire Genewein den 2012 in Zürich gegründeten Musikverlag Schmid & Genewein. Susanne Winter ist Professorin für französische und italienische Literaturwissenschaft am Fachbereich Romanistik der Universität Salzburg. Sie hat in Tübingen und Lyon Germanistik, Romanistik und Musikwissenschaft studiert, war ein Jahr Deutsch-Lektorin an Bryn Mawr College (USA) und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für italienische Philologie der LMU München. Von 2000-2005 war sie Direktorin des Deutschen Studienzentrums in Venedig. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen des italienischen und französischen Theaters sowie der Poetik und Ästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) Februar 2019, 280 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5

Manfred Brauneck

Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart., Klebebindung 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7

Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

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Theater- und Tanzwissenschaft Adam Czirak, Sophie Nikoleit, Friederike Oberkrome, Verena Straub, Robert Walter-Jochum, Michael Wetzels (Hg.)

Performance zwischen den Zeiten Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft Februar 2019, 296 S., kart., Klebebindung, 31 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4602-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4602-7

Ingrid Hentschel (Hg.)

Die Kunst der Gabe Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis Januar 2019, 310 S., kart., Klebebindung, 6 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4021-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4021-6

Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund (Hg.)

Theater als Kritik Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung 2018, 578 S., kart., Klebebindung, 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4452-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4452-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de