Natur und Industrie im Sozialismus: Eine Umweltgeschichte der DDR 9783666317170, 9783647317175, 9783525317174


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German Pages [472] Year 2015

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Natur und Industrie im Sozialismus: Eine Umweltgeschichte der DDR
 9783666317170, 9783647317175, 9783525317174

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Umwelt und Gesellschaft

Herausgegeben von Christof Mauch und Helmuth Trischler

Band 13

Vandenhoeck & Ruprecht

Tobias Huff

Natur und Industrie im Sozialismus Eine Umweltgeschichte der DDR

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung Rachel Carson Center for Environment and Society, München. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor. Mit 9 Abbildungen, 4 Karten und 1 Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-31717-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Braunkohlewerk Espenhain 1990 © picture alliance / zb Zugl.: Universität Freiburg, Dissertation »Hinter vorgehaltener Hand. Debatten über Wald und Umwelt in der DDR« (2012).

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Die 1950er Jahre – zwei Pioniere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.1 Reinhold Lingner – ein Visionär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1.1.1 Der Sozialismus und die Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.1.2 Ein erster Ansatz: Die Landschaftsdiagnose . . . . . . . . . . 44 1.2 Erich Zieger – ein früher Netzwerker . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1.2.1 Geschichte der Rauchschadenforschung in Tharandt . . . . 67 1.2.2 Erich Zieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1.2.3 Die Großraumdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Die 1960er Jahre – im Windschatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.1 Die Rauchschadenforschung in den 1960er Jahren . . . . . . . . . 106 2.1.1 Streit um die Großraumdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.1.2 Einfluss und Ohnmacht der Rauchschadenforschung . . . . 125 2.2 Entwicklungstendenzen in Wald und Gesellschaft . . . . . . . . . 151 2.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Die 1970er Jahre – Aufbruch und Stagnation . . . . . . . . . . . . . . . 166 3.1 (K)ein Weg nach Stockholm – Die DDR als Vorreiter der europäischen Umweltgesetzgebung? . . . . . . . . . . . . . . . 167 3.1.1 Durch die Hintertür zum Ziel: Die SED entdeckt die Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3.1.2 Das Landeskulturgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3.1.3 Mit Macht nach Stockholm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.1.4 Hans Reichelt und das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.1.5 Exkurs: Ministerrat und Politbüro . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.1.6 Ende der »Goldenen Jahre« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3.1.7 Reinhaltung der Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3.2 Die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« . . . . . . . . . . 187 3.2.1 Der VIII. Parteitag der SED und die Umwelt . . . . . . . . . 187 3.2.2 Die Herausforderung der westlichen Umweltdebatte . . . . . 200 3.2.3 Stellenwert der Forstwirtschaft als Wirtschaftszweig . . . . 209

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Inhalt

3.3 Stagnation und Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3.3.1 Wachsende Unzufriedenheit im Erzgebirge . . . . . . . . . . 220 3.3.2 Ein sperriger Freund: Verhandlungen mit der ČSSR . . . . . 225 3.3.3 Hinhaltendes Taktieren: Die DDR und die Luftreinhaltekonvention . . . . . . . . . . 235 3.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 4. Die 1980er Jahre – Importüberschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4.1 Waldschäden und Luftreinhaltepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 255 4.1.1 Das Umweltministerium und sein Kampf um Entlastung . . . 258 4.1.2 Die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte . . . . . . . . . . . 274 4.1.3 Waldschäden im Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 4.1.4 »Waldsterben« in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 4.2 Kirche und Umweltbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 4.2.1 Die theologischen und theoretischen Wurzeln . . . . . . . . 314 4.2.2 Die Friedensbewegung in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . 316 4.2.3 Hans-Peter Gensichen und das Forschungsheim Wittenberg . 322 4.3 Kampf um die Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 4.3.1 Gruppen und Aktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 4.3.2 Offener Protest, Kirchenpresse und Samisdat . . . . . . . . . 354 4.3.3 Waldschutz über die Mauer hinweg . . . . . . . . . . . . . . . 376 4.3.4 Gegenbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 4.4 Ökonomischer und Ökologischer Bankrott des Regimes . . . . . . 397 4.4.1 Smog-Alarme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 4.4.2 »Eine Mark für Espenhain« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 4.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Verzeichnis der verwendeten Quellen und der Literatur . . . . . . . . . . 433 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466

Einleitung

Am 31. August 1985 bricht der Künstler Eberhard Göschel, begleitet von seiner Familie und einigen Freunden aus den Niederlanden, auf zu einer Kunstaktion. Vom Ferienhaus des Künstlers zieht die Gruppe in einen abgelegenen Talkessel, um dort zwei Tage lang abgestorbene Bäume wieder aufzurichten und türkis-grün anzustreichen. Nahezu zeitgleich findet in Heidelberg eine Ausstellung unter dem Titel Der Baum1 statt, an der sich rund hundert Kunstschaffende beteiligen.2 Während allerdings die Heidelberger Schau staatlich alimentiert wird und im SPIEGEL Erwähnung findet, erhält der Dresdner Eberhard Göschel eine Vorladung der Volkspolizei. Es folgt eine Reihe von Verhören durch die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit und die Verbrennung der Installation durch den zuständigen Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb, der Göschel dafür eine Rechnung über 430,44 M schickt; Betreff: die »Wiederherstellung der Ordnungsmäßigkeit im Waldteil Fürstenau«.3 Die angeführte Episode könnte als Substrat der bisherigen deutsch-deutschen Umweltgeschichte dienen. In der Bundesrepublik erreichte die kollektive Sorge um die Gesundheit der Wälder, als Chiffre für den Erhalt der Umwelt, eine bisher unbekannte gesellschaftliche Breite und Tiefe. Sie brachte Menschenmassen auf die Straße, Schulklassen auf Waldlehrpfade und Tempo 100-Aufkleber auf Kofferraumdeckel und Stoßstangen. Die Innenpolitik der 1980er Jahre mit ihren vielfältigen umweltgesetzlichen Vorhaben zur Emissionsreduzierung ist ohne die Waldsterbensdebatte nicht zu denken, und Nils Freytag sieht das »Wald­ sterben«  – neben der Ölkrise  – als die prägende Umweltdebatte der Bundes­ republik an.4 In der DDR hingegen ging die Staatsmacht gegen die Tat eines Einzelnen vor, setzte den exekutiven Apparat in Gang, um den devianten Künstler zu disziplinieren, und vernichtete alle Hinweise auf sein Tun. Vier Monate später, im Januar 1986, führte der SED-Generalsekretär Erich Honecker in einem Interview mit der Zeit aus, dass es in der DDR keine »sterbende[n] Wälder« 1 ›Einfache‹ Anführungszeichen werden in der vorliegenden Arbeit bei vereinfachenden, umgangssprachlichen Begriffen sowie bei zeitgenössischen Begriffen verwendet, die keinem bestimmten Zitat entstammen. »Doppelte« Anführungszeichen kennzeichnen im Folgenden Zitate. Kursiv werden im Fließtext fremdsprachige Wortgruppen sowie Titel von Publikationen, Zeitschriften oder Veranstaltungen gesetzt. 2 Künstler gegen Baumsterben, in: Spiegel 40, 1985, 307. 3 Vgl. zum Vorgang S. 347. 4 Nils Freytag, Deutsche Umweltgeschichte  – Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: Historische Zeitschrift 283, 2006, 383–407, 385.

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Einleitung

gebe.5 Der Westen erlebte ein Jahrzehnt der ökologischen Sensibilisierung, während im Osten Vertuschung und Ignoranz vorherrschten. Eines der großen Narrative des vereinigten Deutschlands ist es, die alte Bundesrepublik als umweltpolitische Erfolgsgeschichte zu interpretieren und gleichzeitig das ökologische Versagen der DDR herauszustellen. Es ist sicher richtig, dass der ›Saure Regen‹, der in der Bundesrepublik für die Waldschäden verantwortlich gemacht wurde, und die Luftverschmutzung nicht an der innerdeutschen Grenze haltgemacht haben. Ebenso trifft es zu, dass es der Bundesrepublik gelungen ist, die Emissionen von Schwefeldioxid eindrucksvoll zu senken, während die DDR bei ihrem Zusammenbruch 1989 eine lokal desaströse Umweltsituation hinterließ, die sich in Form von qualmenden Chemiefabriken, Restlöchern und Abraumhalden des Braunkohletagebaus und entwaldeten Hängen im Erzgebirge ins ikonographische Gedächtnis eingebrannt hat. Es sei jedoch hier als eine erste Hypothese formuliert, dass die Wahrnehmung und Interpretation des Untergangs der DDR von der Projektion westdeutscher Ängste und von zutiefst zeitgebundenen ökologischen Deutungsmustern überlagert ist, die seit 1989 unhinterfragt reproduziert werden. Die Ende der 1980er Jahre in der Bundesrepublik verbreitete Überzeugung, dass Umweltkatastrophen wie das Waldsterben und das Reaktorunglück in Tschernobyl Ausdruck eines tief gestörten Mensch-Umwelt-Verhältnisses seien, das letztlich in den Zusammenbruch aller menschlicher Zivilisation münde, fand mit dem Ende der DDR eine beeindruckende Bestätigung.6 Der Untergang der DDR wird mit Elementen des von Jared Diamond beschriebenen »Ökozids« versetzt7 und widersetzt sich hartnäckig einer nüchternen Aufarbeitung.8 5 Erich Honecker, Wir sind für den Frieden auf der Erde und im Kosmos. Interview des Chefredakteurs der BRD-Wochenzeitung »Die Zeit«, Dr. Theo Sommer 24. Januar 1986, in: Erich Honecker (Hrsg.), Reden und Aufsätze. Berlin 1987, 219–248, 224. 6 ­Uekötter sieht die Beschäftigung mit ökologischen Themen geradezu als ein »Element der bundesdeutschen Identität« an, und die Vorstellung, dass der Begriff ›Umwelt‹ die »festgefügten Mauern der kommunistischen Herrschaft in Ostmitteleuropa unterminieren half«, ist eine sehr deutsche. Frank U ­ ekötter, Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert. Frankfurt 2011, 15 und Martin Sabrow, Pathosformeln des 20. Jahrhunderts. Kommentar zu Christian Geulen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 7, 2010, 1. 7 Vgl. Horst Förster, Julia Herzberg, Martin Zückert, Umweltgeschichte(n) Ostmitteleuropas. Eine Einführung, in: Horst Förster, Julia Herzberg, Martin Zückert (Hrsg.), Umweltgeschichte(n). Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 4. bis 7. November 2010. Göttingen 2013, 1–5, 2. Diamond selbst sah den Zusammenbruch der DDR als ökonomisch begründet an, auch wenn die DDR ihre Ressourcen teilweise erheblich strapaziert habe und es lokal zu dramatischen Verschmutzungserscheinungen gekommen sei. Jared Diamond, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt 2006, 18–19. 8 Zu einer ähnlichen Einschätzung kam auch Astrid M. Eckert, die schrieb, dass »der politische Kontext der frühen 1990er Jahre […] als ein Hindernis« zu werten sei, »dem Thema

Einleitung

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An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an. Das Ziel ist es, die bestehenden Deutungen vom ökologischen Musterstaat auf der einen Seite und der ignoranten, vertuschenden DDR auf der anderen Seite aufzubrechen. Die zugrunde liegende Fragestellung kann daher nicht lauten, in welchem ›tatsächlichen‹ Zustand die ost- und westdeutschen Wälder denn nun waren, ob die eine Partei stark über- oder die andere erheblich untertrieben habe, und wer mit seinen Interpretationen des Waldzustandes denn nun ›Recht‹ hatte. Vielversprechender scheint es, an den Ausgang aller Überlegungen die Frage zu stellen, warum in dem einen deutschen Staat Waldschäden eine so ungeheure gesellschaftliche Bedeutung gewannen, während sie im anderen auf den ersten Blick kaum eine besondere Rolle zu spielen schienen, zumal den Deutschen im Allgemeinen ein besonderes Verhältnis zum Wald nachgesagt wird.9 Eine naheliegende Antwort, dass unter den Bedingungen der SED-Diktatur eben keine solch intensive Debatte möglich war – wie es auch das einleitende Beispiel suggeriert –, ist so trivial wie unbefriedigend. Im Subtext dieser Feststellung schwingt die Annahme mit, dass die Bevölkerung der DDR eine ebenso breite Debatte über Waldschäden gewünscht habe. Die Interessen, Einstellungen und Überzeugungen der Westdeutschen werden im Zuge dieser Annahme normativ auf die DDR-Bürger übertragen, die allerdings das Risiko scheuten, das im zweiten deutschen Staat mit missliebigem Verhalten einhergehen konnte. Dieses simple Modell ist zurückzuweisen, denn diese Studie ist an einer autonomen DDR-Umweltgeschichte interessiert. Diese Geschichte kann angesichts des gewählten Zugangs nicht ohne den Fluchtpunkt der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte auskommen. Allerdings wird die Entwicklung in der Bundes­ republik nicht als Norm verstanden, an der sich die Ereignisse in der DDR zu messen haben. Stattdessen wird die Debatte über immissionsbedingte Waldschäden als Ausgangspunkt für eine Kombination zweier Begriffe genutzt, die sich nach dem ersten Empfinden gegenseitig ausschließen: DDR und Umweltpolitik. Die DDR wird dabei als eigenständiger Staat mit eigener Chronologie verstanden, dessen Akteure eigenständige Debatten prägten. Die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte, als deren Beginn in der Forschung eine SPIEGELSerie im November 1981 gilt, wird somit Teil eines ostdeutschen Diskurses und nicht dessen Auftakt. Sie ist damit auch ein Teil der speziellen deutschen Verflechtungsgeschichte, wobei der konkrete Fall sich weniger asymmetrisch ausnimmt. Denn ohne den intensiven Blick nach Osten, ohne die Bilder aus dem gerecht zu werden«. Astrid M. Eckert, Geteilt, aber nicht unverbunden. Grenz­gewässer als deutsch-deutsches Umweltproblem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62, 2014, 69–99, 69. 9 Ursula Breymayer, Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald; [Ausstellungshalle Deutsches Historisches Museum Berlin 2. Dezember 2011 bis 4. März 2012]. Dresden 2011; Albrecht Lehmann, Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999 und Albrecht Lehmann, Der deutsche Wald, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte Bd. III. München 2001, 187–200.

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Einleitung

Erzgebirge hätte die Debatte im Westen vielleicht nicht die gesellschaftliche Wucht erreichen können, um im nächsten Schritt wieder mobilisierend und die jungen Umweltgruppen schützend in die DDR zurückwirken zu können.10 Das gesteckte Ziel ist nur zu erreichen, wenn die Umweltpolitik der DDR in einem ersten Schritt einer ausgedehnten vertikalen und horizontalen Analyse unterzogen wird. In der Geschichtswissenschaft wird die DDR in einem starken Maße – dem Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus folgend  – von ihrer Führungsspitze und von ihrem zeitlichen Ende her erfasst. Diese Sichtweise erschwert den analytischen Blick darauf, auf welcher Grundlage das ›Oben‹ seine Entscheidungen traf. Für ein differenziertes Urteil müssen daher neue Ebenen erschlossen und nach weiteren Akteuren in der DDRUmweltgeschichte gesucht werden. Die gesamte DDR auf das Politbüro oder das Zentralkomitee zu reduzieren, ist diesem Ansatz tendenziell hinderlich. Das ZK der SED gliederte sich in Sekretariate und Abteilungen, die Bezirksebenen kamen dazu. Daneben stand die staatliche Ebene mit Ministerien und der nachgeordneten Verwaltung. Hinzu kamen die gesellschaftlichen Kräfte – etwa die Gesellschaft für Natur und Umwelt – und die Wissenschaftler an den Akademien und Universitäten. Der zweite Schritt besteht in einer Ausdehnung des Untersuchungs­zeitraums. Die ökologische Abschlussbilanz der DDR wurde bereits mehrfach erfasst und beschrieben.11 Doch um die Frage, wie es soweit kommen konnte, fundiert beantworten zu können, ist es nicht ausreichend, allein die umweltpolitischen Entscheidungen des Waldsterbensjahrzehnts der 1980er Jahre zu untersuchen. Welche umweltpolitischen Überlegungen gab es etwa 1969 in der DDR, als das Wort ›Umweltschutz‹ in den deutschen Sprachschatz einging und welche ökolo­ gischen Maßstäbe legte die SED-Führung unter Ulbricht 1949 an, als sie sich an den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes machte? Das geschilderte Herangehen und die aufgeworfenen Fragen dienen auch dem Schutz, nicht in die Teleologie-Falle der DDR-Geschichtsschreibung zu laufen. Das Ende der DDR soll und kann damit nicht ausgeblendet werden, doch sollen die im zweiten 10 Siehe zum Konzept der »asymmetrischen Verflechtungsgeschichte« Christoph Kleßmann, Spaltung und Verflechtung. Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte, in: Christoph Kleßmann, Peter Lautzas (Hrsg.), Teilung und Integration. Schwalbach/Ts. 2006, 20–36. 11 Siehe etwa Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Eckwerte der ökologischen Sanierung und Entwicklung in den neuen Ländern. Bonn 1990; Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Informationen zur Entwicklung der Umweltbedingungen in der DDR und weitere Maßnahmen. Basisjahr 1988. Material zur Vorlage am Runden Tisch. Berlin 1990; Institut für Umweltschutz, Umweltbericht der DDR. Information zur Analyse der Umweltbedingungen in der DDR und zu weiteren Maßnahmen. Berlin 1990 oder Ulrich Petschow, Jürgen Meyerhoff, Claus Thomasberger, Umweltreport DDR. Bilanz der Zerstörung, Kosten der Sanierung, Strategien für den ökologischen Umbau. Frankfurt 1990.

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deutschen Staat entwickelten umweltpolitischen Konzepte und Überlegungen nicht mit einem bereits auf 1989 schielenden Auge bewertet und damit tendenziell abgewertet werden. Das umweltpolitische Programm der DDR wird stattdessen als Lösungsansatz für erkannte Probleme ernst genommen und die politischen Entscheidungen im jeweiligen Kontext analysiert. Was für die Staats- und Parteiebene der DDR gilt, gilt für die zumeist kirchlich gebundenen Basis- und Ökologiegruppen in noch größerem Maße: Das historische Narrativ ist im Falle der Gruppen noch stärker auf das Ende der DDR ausgerichtet. Damit sei die zweite Hypothese konturiert. Es gehört zu den  – hier unbestrittenen – Ergebnissen der Forschung, dass sich auch in der DDR ab Ende der 1970er Jahre zunehmend mehr Menschen für ökologische Fragestellung interessierten und sich abseits der sanktionierten gesellschaftlichen Organisationen in Gruppen unter dem Dach der Kirche zusammenschlossen. Doch der unausgesprochene Konsens, die Aktivitäten der Basisgruppen, ihre Entstehung, ihr Wirken, ihre Ziele und ihre Kommunikation untereinander und mit der Gesamtgesellschaft auf eine teleologische Deutung zu beschränken und auf den Herbst 1989 auszurichten, wird hier kritisch hinterfragt. Die Debatte um immissionsbedingte Waldschäden dient damit in letzter Konsequenz der schärferen Konturierung der Umweltpolitik des zweiten deutschen Staates. Der Anspruch ist es, aus dem ökologischen Bereich heraus, die DDR-Geschichte mit einer größeren Tiefenschärfe zu versehen, die DDR als Staat und Gesellschaft plastischer erscheinen zu lassen und ihre spezifischen Entscheidungslogiken verständlicher zu machen.12

Forschungsstand Die beispielhaft angeführten Studien sind ein Indiz dafür, dass die beiden BRDHistoriker Norbert Frei und Ulrich Herbert mit ihrer 2012 vertretenen Auf­ fassung, die DDR sei sehr gut erforscht und es gebe eigentlich nicht mehr viel zu tun, nicht ganz richtig lagen. Sie stellten eine gewisse Langeweile bei der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte fest, die sie an der »Staatsdoktrin« in 12 Die Zahl der Detailstudien mit einem ähnlichen Anspruch hat in den Jahren nach dem zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls zugenommen. Siehe etwa Katrin Bobsin, Das Presseamt der DDR. Staatliche Öffentlichkeitsarbeit für die SED. Köln u. a. 2013; Alexander Bruce Burdumy, Sozialpolitik und Repression in der DDR. Ost-Berlin 1971–1989. Essen 2013; Elise Catrain, Hochschule im Überwachungsstaat. Struktur und Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit an der Karl Marx-Universität Leipzig (1968/69–1981). Leipzig 2013; Anke Fiedler, Medienlenkung in der DDR. Köln u. a. 2014; Matthias Lienert, Zwischen Widerstand und Repression. Studenten der TU Dresden 1946–1989. Köln 2010; Michael Meyen, Anke Fiedler (Hrsg.), Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin 2011 oder Andrew I. Port, Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin 2010.

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Einleitung

allen »offiziellen Schriften« festmachten.13 Das DDR-Archivgut besteht allerdings nicht allein aus offiziellen Schriften, sondern auch aus internen Mitteilungen aus dem Staats- und Parteiapparat. Wenn etwa die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt »eine beängstigende Absterbequote« in den Wäldern nach Berlin meldet14 oder der Landwirtschaftsminister Bruno Kiesler von einem »katastrophale[n] Ausmaß« sprach15, dann sind das keine abgedroschenen Phrasen, sondern interessante, neue Befunde, die einer historiographischen Aufarbeiten bedürfen. Das Urteil von Frei und Herbert trifft auf Teilaspekte der DDR-Geschichte sicher zu, etwa die politische Ereignisgeschichte. Für die Umweltgeschichte besteht jedoch noch ein erheblicher Forschungsbedarf, denn die einschlägigen Überblicksdarstellungen haben sich bisher weitgehend an HansUlrich Wehlers Diktum von der »Fußnote« gehalten.16 So nimmt in den Arbeiten der führenden deutschen Umwelthistoriker die DDR keinen bis wenig Raum ein, und es besteht die Neigung, Deutschland nach 1945 mit der Bundesrepublik gleichzusetzen. In der Mehrzahl der Arbeiten liegt der inhaltliche Schwerpunkt mit großen Disproportionen auf der Bundesrepublik.17 Jedoch deutet sich aktuell ein Wandel an, denn die ökologische Situation der DDR findet zunehmend 13 Franziska Augstein, Der stumme Gast. Wie schreibt man deutsche Zeitgeschichte? Die Historiker Norbert Frei und Ulrich Herbert diskutieren in München, in: Süddeutsche Zeitung, 27.1.2012, 13. 14 BStU BV KMSt. 2928 Ministerium für Staatssicherheit, Umweltbelastung- und Umweltschutz im Bezirk Karl-Marx-Stadt 1977–1986, Schreiben vom 12.6.1981. 15 SAPMO DY 30/1739 Bruno Kiesler, Komplexe Analyse zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR. 10.11.1981, pag. 2. 16 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band. Bundesrepublik und DDR 1949–1990. München 2008, 361. 17 David Blackbourn, The Conquest of Nature. Water Landscape and the Making of Modern Germany. 2. Aufl. London 2006; Franz-Josef Brüggemeier, Natur, Gesundheit, Eigentum. Zur Entwicklung des Umweltbewußtseins in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Schübe des Umweltbewußtseins und der Umweltrechtsentwicklung. Bonn 1995, 1–17; Franz-Josef Brüggemeier, Tschernobyl, 26.  April 1986  – die ökologische Herausforderung. 2.  Aufl. München 1999; Franz-Josef Brüggemeier, Umweltgeschichte. Erfahrungen, Ergebnisse, Erwartungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 43, 2003, 1–18; Franz-Josef Brüggemeier, Jens Ivo Engels, Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt, New York 2005; Raymond H.  Dominick, The Environmental Movement in Germany. Prophets & Pioneers 1871–1971. Bloomington (Indiana) 1992; Kai F. Hünemörder, Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973). Stuttgart 2004; Michael Kloepfer, Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts. Berlin 1994; Michael Kloepfer, Umweltrechtsentwicklung in Deutschland nach 1945, in: Kloepfer, Schübe, 91–131; Christof Mauch, David Blackbourn (Hrsg.), Nature in German History. New York 2004; Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2002; Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011; Frank ­Uekötter, Von der Rauchplage zur ökolo­ gischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970. Essen 2003 sowie U ­ ekötter, Ende.

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in Publikationen Beachtung.18 Differenzierter als für die Umweltgeschichte im Allgemeinen ist die historische Aufarbeitung des Naturschutzwesens in der DDR zu beurteilen. Neben zahlreichen Publikationen zum Thema ist vor allem die Arbeit des Studienarchivs Umweltgeschichte des Institutes für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung an der Hochschule Neubrandenburg um Hermann Behrens zu nennen.19 Für den Bereich der Umweltgeschichte sieht Kai Hünemörder eine Ursache des Ungleichgewichts in der schlechten Quellenlage. Für die Bundesrepublik könne der Historiker auf tausende von Zeitungsartikeln, Hörfunkmanuskripten und Umfragen zurückgreifen, um den »geistesgeschichtlichen Sinneswandel« nachzuzeichnen, den die aktuelle Forschung um das Jahr 1970 datiert.20 Für die DDR existiere ein solches Quellenkonvolut nicht. Zudem sei es die Tendenz der Forschung, einen ähnlichen Sinneswandel für die DDR abzulehnen. Ähnlich der zeitgenössischen Forschung21 und der 18 Siehe etwa Eckert, Geteilt; Hermann Behrens, Die Umweltbewegung in der DDR. Begriffsbestimmung und Versuch einer umwelthistorischen Einordnung, in: Förster, Herzberg, Zückert, Umweltgeschichte(n), 317–341 und Andreas Thüsing, Ökologie in der DDR. Staatlicher Umweltschutz in der Ära Honecker, in: Historisch-Politische Mitteilungen 20, 2013, 147–170. 19 Das Studienarchiv hat mehrere zehntausend Einzelausgaben von etwa tausend Zeitschriften mit überwiegend naturschützerischer Ausrichtung zusammengetragen. An Publi­ kationen zum Naturschutz in der DDR siehe Markus Rösler, Elisabeth Schwab, Markus Lambrecht, Naturschutz in der DDR. Bonn 1990; Hermann Behrens, Ulrike Benkert, Jürgen Hopfmann, Uwe Maechler, Wurzeln der Umweltbewegung. Die »Gesellschaft für Natur und Umwelt« (GNU) im Kulturbund der DDR. Marburg 1993; Regine Auster, Landschaftstage. Kooperative Planungsentwicklung in der Landschaftsentwicklung: Erfahrungen aus der DDR. Marburg 1996; Hermann Behrens, Naturschutz und Landeskultur in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. Ein historischer Überblick, in: Günter Bayerl, Torsten Meyer (Hrsg.), Die Veränderung der Kulturlandschaft. Nutzungen, Sichtweisen, Planungen. Münster, New York 2003, 213–271; Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Naturschutz in den neuen Bundesländern – ein Rückblick. Marburg 1998; Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Umweltschutz in der DDR. Band 1: Politische und umweltrechtliche Rahmenbedingungen. München 2007; Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Umweltschutz in der DDR. Band 2: Mediale und Sektorale Aspekte. München 2007; Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Umweltschutz in der DDR. Band 3: Beruflicher, ehrenamtlicher und freiwilliger Umweltschutz. München 2007 und Hermann Behrens, Naturschutzgeschichte und Naturschutzbeauftragte in Berlin und Brandenburg. Friedland 2010. 20 Kai F. Hünemörder, 1972 – Epochenschwelle der Umweltgeschichte?, in: Brüggemeier, Engels, Natur- und Umweltschutz, 124–144. 21 Christiane Busch-Lüty, Zur Umweltproblematik in sozialistischen Systemen. Ideologie und Realität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1981, 18–46; Doris Cornelsen, Umweltprobleme und Umweltbewußtsein in der DDR, in: Gegenwartskunde  – Zeitschrift für Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Bildung 37, 1989, 47–56; Josef Füllenbach, Umweltschutz zwischen Ost und West. Umweltpolitik in Osteuropa und gesamteuropäische Zusammenarbeit. Bonn 1977; Hans-Hermann Höhmann, Gertraud Seidenstecher, Thomas Vajna, Umweltschutz und ökonomisches System in Osteuropa. Drei Beispiele: Sowjetunion DDR Ungarn. Stuttgart u. a. 1973; Hans-Hermann Höhmann, Umweltschutzpolitik, in: Klaus­

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unmittelbar nach der Wende erschienenen, ersten Aufarbeitungen22 bescheinigt auch die aktuelle Forschung der DDR, eine moderne und fortschrittliche Umweltgesetzgebung hervorgebracht zu haben. Allerdings habe diese unter einem massiven Vollzugsdefizit gelitten, ja sie sei wie die Gründung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft 1971 primär ein Instrument der Außenpolitik gewesen. Radkau betont, dass sich die DDR im Vorfeld der Stockholmer Umweltkonferenz mit ihrem Umweltministerium habe profilieren wollen. Er schränkt seine Aussage allerdings dahingehend ein, dass es über »dessen Aktivität […] bis heute nur spärliche Informationen« gebe.23 Als Grund für das Vollzugsdefizit gilt das mangelnde Interesse der politischen Führung an ökologischen Fragestellungen, vor allem in der Gestalt des Wirtschaftssekretärs des ZK der SED Günter Mittag. Die sich unmittelbar aufdrängende Frage, warum dieses Interesse fehlte, beantworten sowohl die bereits angeführten Arbeiten als auch die wenigen DDR-umwelthistorischen Arbeiten unterschiedlich.24 Zum einen wird immer wieder auf die ideologische ­Basis des Marxismus verwiesen, dessen Arbeitswertlehre eine effiziente Nutzung natürlicher Ressourcen verhindert habe. Zum anderen wird die besondere weltpolitische Situation der DDR betont, in der Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik die wirtschaftliche Potenz der Planwirtschaft zu beweisen. Dieses Metaargument bedeutet auf die Ebene der DDR heruntergebrochen, dass sich die SED-Führung spätestens ab 1971 auf einen Konsumwettlauf mit der BRD einließ, der die ökonomische Leistungsfähigkeit überstieg. Hubertus Knabe, Cord Schwartau und Gerhard Timm wiesen zudem darauf hin, dass das man-

Ziemer (Hrsg.), Sozialistische Systeme. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. München u. a. 1986, 506–513 oder Ilka Nohara-Schnabel, Zur Entwicklung der Umweltpolitik in der DDR, in: Deutschland Archiv 9, 1976, 809–829. 22 Arnim Bechmann, Umweltpolitik in der DDR. Dokumente des Umbruchs. Berlin 1991; Michael Kloepfer, Instrumente des Umweltrechts der früheren DDR. Berlin u. a. 1991; Peter Pichl, Uwe Schmidt, Economic Development and Ecological Crisis in the Former GDR. Opportunities Offered by Change, in: Markus Jachtenfuchs, Michael Strübel (Hrsg.), Environmental Policy in Europe. Assessment, Challenges and Perspectives. Baden-Baden 1992, 133–153 und Helmut Schieferdecker, Konzepte, Erfolge und Defizite bisheriger Umweltpolitik in der DDR, in: Bechmann, Umweltpolitik, 25–34. 23 Radkau, Ära, 139. 24 Hansjörg F. Buck, Umweltpolitik und Umweltbelastung. Das Ausmaß der Umweltbelastung und Umweltzerstörung beim Untergang der DDR 1989/90, in: Eberhard Kuhrt (Hrsg.), Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren. Opladen 1996, 223–266; Hubertus Knabe, Umweltkonflikte im Sozialismus. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Problemartikulation in sozialistischen Systemen; eine vergleichende Analyse der Umweltdiskussion in der DDR und Ungarn. Köln 1993; Arvid Nelson, Cold War Ecology. Forests Farms and People in the East German Landscape 1945–1989. New Haven u. a. 2005; Jörg Roesler, Umweltprobleme und Umweltpolitik in der DDR. Erfurt 2006 und Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Umweltschutz Bd. 1.

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gelnde Interesse an Umweltthemen nicht nur ein Kennzeichen der SED-Führung war, sondern auf weite Teile der DDR-Bevölkerung zutraf.25 Die wirtschaftshistorischen Arbeiten, die sich auch mit der ökologischen Situation der DDR befassten, identifizieren dabei im wesentlichen zwei markante Wendepunkte. Die von Honecker eingeführte »Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik« habe ab 1972 den Spielraum für Investitionen beschnitten und die Auslandsverschuldung erhöht. Nach 1981 musste die DDR ihre massive Verschuldung abbauen, was nur unter einer weiteren Einengung der Investitionsausgaben zu erreichen gewesen sei. Damit hätten der DDR-Wirtschaft sowohl die Innovativkraft, Umweltschutztechnik zu entwickeln, als auch die finanziellen Möglichkeiten gefehlt, entsprechende Technik im Westen zu besorgen.26 Bemühungen, ähnlich der bundesdeutschen Umweltgeschichte, eine ökologische Chronologie aufzustellen, bzw. – wie es Jens Ivo Engels vorgeschlagen hat27  – aus der Umweltgeschichte heraus ein neues Periodisierungsangebot vorzulegen, existieren für die DDR nur in ersten Ansätzen. Jörg Roesler nimmt eine Vierteilung vor, deren Eckpunkte allerdings mit bekannten Daten der DDR-Chronologie identisch sind.28 Der Franzose Michel Dupuy hat sich intensiv mit der Frage der Rauchschadenforschung in der DDR beschäftigt und daraus allgemeine Schlüsse für deren Umweltpolitik abgeleitet. Er unterscheidet dabei drei unterschiedliche Perioden.29 Während zur westdeutschen Wald 25 Cord Schwartau, Die Entwicklung der Umwelt in der DDR. Neue Probleme durch Renaissance der Braunkohle, in: Redaktion Deutschland-Archiv (Hrsg.), Umweltprobleme und Umweltbewußtsein in der DDR. Köln 1985, 9–38; Gerhard Timm, Die offizielle Ökologiedebatte in der DDR, in: Redaktion Deutschland-Archiv, Umweltprobleme, 117–149 und Knabe, Umweltkonflikte. 26 André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Bonn 2007; André Steiner, Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, in: Helga Schultz, HansJürgen Wagener (Hrsg.), Die DDR im Rückblick. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur. Berlin 2007, 135–154; Manfred G. Schmidt, Der Wohlfahrts- und Arbeitsstaat – die Sozialpolitik, in: André Steiner (Hrsg.), Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte? Berlin 2006, 127–143; Kuhrt, Situation und Eberhard Kuhrt, Die Endzeit der DDR-Wirtschaft. Analysen zur Wirtschafts- Sozial- und Umweltpolitik. Opladen 1999. 27 Jens Ivo Engels, Umweltgeschichte als Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2006, 32–38. 28 1945–1960: Zeit des umweltpolitischen Desinteresses; 1961–1970: Erste Impulse; 1971– 1975: Die kurze Zeit des Aufbruchs; 1976–1989: Die lange Zeit der Stagnation. Roesler, Umweltprobleme, 3. 29 1949–1962:Wissenschaftler weisen auf die Gefahr der Umweltverschmutzung hin und finden in der Politik teilweise Gehör; 1962–1974: Politik und Wirtschaft beschließen Maßnahmen gegen die Umweltbelastung; 1974–1989: Die politische Führung maskiert ihre ökologische Bilanz und nimmt Wissenschaftlern die Publikationsmöglichkeiten. Michel ­Dupuy, Les scientifiques et le politique. L’exemple de la question de la pollution atmosphérique en RDA (1949–1989), in: Natures Sciences Sociétés 12, 2004, 327–336, 327 und Michel Dupuy, Histoire de la pollution atmosphérique en Europe et en RDA au XXe siècle. Paris 2003, 82.

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sterbensdebatte, deren Vorgeschichte und Wertung bereits einige Arbeiten vorliegen,30 haben Dupuys Untersuchungen zu den ostdeutschen Waldschäden in der deutschen Forschungslandschaft kein Gegenüber. Dupuy lässt sich in seiner Thesenbildung stark von den Ereignissen an der Forstfakultät Tharandt leiten. Dem stehen mit einer Beschreibung der Geschichte der Tharandter Immissionsforschung von 1850 bis 2002 und der Geschichte des Chemischen Instituts in Tharandt zwei lexikalisch geprägte Nachschlagewerke zur Seite, die auf die Überprüfung ihrer Befunde durch andere Archivbestände oder Literatur verzichten.31 Leider verzichtet auch Dupuy auf eine Einordnung seiner Befunde in die DDR-Geschichte, etwa die Entnazifizierung der Universitäten, Rekrutierungsmechanismen der Wissenschaftler nach 1945 oder das zunehmende Disziplinierungspotential der SED, das diese mittels dreier Hochschulreformen ausbauen konnte.32 Vgl. auch Michel Dupuy, Des »Rauchschäden« (dommages par les fumées) au »Waldsterben« (dépérissement des forets) en Allemagne de 1880 à nos jours, in: Allemagne d’aujourd’hui. Politique, Économie, Société, Culture, 1999, 85–106; Michel Dupuy, Industries, forêts et pollution atmosphérique en RDA. 1949–1974, in: Histoire, économie et société 21, 2002, 571–582 und Michel Dupuy, Les cheminements de l’écologie en Europe. Une histoire de la diffusion de l’écologie au miroir de la forêt 1880–1980. Paris 2004. 30 Rudi Holzberger, Das sogenannte Waldsterben. Zur Karriere eines Klischees: das Thema Wald im journalistischen Diskurs. Bergatreute 1995; Kenneth Anders, Frank U ­ ekötter, Viel Lärm ums stille Sterben. Die Debatte über das Waldsterben in Deutschland, in: Frank­ Uekötter, Jens Hohensee (Hrsg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Stuttgart 2004, 112–138; Martin Bemmann, Beschädigte Vegetation und sterbender Wald. Zur Entstehung eines Umweltproblems in Deutschland 1893–1970. Göttingen 2012; Martin Bemmann, Birgit Metzger, Roland Schäfer, Und ewig sterben die Wälder. Das deutsche Waldsterben als historisches Phänomen, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 39, 2007, 417–430; Roland Schäfer, »Lamettasyndrom« und »Säuresteppe«. Das Waldsterben und die Forstwissenschaften 1979–2007. Freiburg 2012; Jens Ivo Engels, »Inkorporierung« und »Normalisierung« einer Protestbewegung am Beispiel der westdeutschen Umweltproteste in den 1980er Jahren, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 40, 2008, 81–100; Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff, Gerüchte machen Geschichte. Folgenreiche Falschmeldungen im 20.  Jahrhundert. Berlin 2006; Birgit Metzger, »Erst stirbt der Wald, dann du!«. Das Waldsterben als westdeutsches Politikum (1978–1986). Frankfurt 2014. 31 Svetlozar Rajanov, Geschichte der Tharandter Immissionsforschung 1850–2002. Tharandt 2002 und Heiner Hegewald, Pflanzenchemie, Holzchemie, Immissionsforschung, Agriculturchemie. Das Tharandter Chemische Institut.  – Geschichte und Gegenwart –. Dresden 2010. 32 Vgl. zu den angesprochenen Themen John Connelly, Stalinistische Vielfalt. Hochschulpolitik im östlichen Mitteleuropa 1945–1955, in: Dieter Hoffmann (Hrsg.), Natur­ wissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, 89–104; John Connelly, Humboldt im Staatsdienst. Ostdeutsche Universitäten 1945–1989, in: Mitchell G. Ash (Hrsg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten. Wien 1999, 80–104; John Connelly, Captive university. The Sovietization of East German, Czech and Polish­ higher education, 1945–1956. Chapel Hill 2000; Ralph Jessen, Zwischen Diktatorischer Kontrolle und Kollaboration. Die Universitäten in der SBZ/DDR, in: John Connelly, Michael

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Generell ist die Gründungsphase der DDR intensiver aufgearbeitet als die beiden mittleren Jahrzehnte der DDR, von Einzelereignissen wie dem Mauerbau oder dem Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker abgesehen. Eine Auseinandersetzung mit umweltpolitischen Ansätzen in der Regierungszeit Ulbrichts fehlt jedoch bisher fast vollständig. Eine höhere Dichte erreicht die Forschungsliteratur zum Zusammenbruch der DDR, die durch das 20-jährige Jubiläum des Mauerfalls 2009 einen erneuten Schub erhielt.33 Allerdings spielen auch hier spezifische umwelthistorische Fragestellungen meist nur eine Nebenrolle. Von einiger Relevanz und durchaus unterschiedlich beurteilt ist Grüttner (Hrsg.), Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Paderborn 2003, 229–263; Hans-Werner Fuchs, Bildung und Wissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1989. Hamburg 1997; Aleksandr Haritonow, Sowjetische Hochschulpolitik in Sachsen 1945–1949. Weimar 1995; Jens Niederhut, Wissenschaftsaustausch im Kalten Krieg. Die ostdeutschen Naturwissenschaftler und der Westen. Köln u. a. 2007; Michael Parak, Hochschule und Wissenschaft in zwei deutschen Diktaturen. Elitenaustausch an sächsischen Hochschulen 1933–1952. Köln u. a. 2004; Ilko-Sascha Kowalczuk, Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. Berlin 2003; Dmitrij N. Filippovich, Die Entnazifizierung der Universitäten der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Manfred Heinemann (Hrsg.), Hochschuloffiziere und der Wiederaufbau des Hochschulwesens in Deutschland 1945–1949. Die sowjetische Besatzungszone. Berlin 2000, 35–52; Ralph Jessen, Vom Ordinarius zum sozialistischen Professor. Die Neukonstruktion des Hochschullehrerberufs in der SBZ/DDR 1945–1969, in: Richard Bessel (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, ­76–107; Ralph Jessen, Zwischen Bildungspathos und Spezialistentum. Werthaltungen und Identitäts­konstruktionen der Hochschullehrer in West- und Ostdeutschland nach 1945, in: Peter ­Hübner (Hrsg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR. Köln u. a. 1999, 361–380; Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära. Göttingen 1999 und Peer Pasternack, Wissenschaft und Politik in der DDR. Eine Kontrastbetrachtung im Vergleich zur Bundes­ republik, in: Deutschland Archiv 41, 2008, 510–519. 33 Als Beispiele für die unüberschaubare Fülle siehe Eberhard Kuhrt, Gesellschaft und Alltag im SED-Staat. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren. Wiesbaden 2009; Armin Fuhrer, Von Diktatur keine Spur? Mythen und Fakten über die DDR. München 2009; Christian Führer, Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution die aus der Kirche kam; [der Pfarrer der Nikolaikirche erzählt sein Leben]. 2. Aufl. Berlin 2009; Leonore Ansorg (Hrsg.), »Das Land ist still – noch!«. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989). Köln u. a. 2009; Jan Schönfelder (Hrsg.), Das Wunder der Friedlichen Revolution. Prominente Stimmen zum Herbst 1989; [Gunther Emmerlich  … Wolfgang Thierse]. Leipzig 2009; Fred Taylor, Die Mauer. 13.  August 1961 bis 9.  November 1989. München 2009; Christian Halbrock, Stasi-Stadt  – die MfS-Zentrale in BerlinLichtenberg. Ein historischer Rundgang um das ehemalige Hauptquartier des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Mit einem Vorwort von Marianne Birthler. Berlin 2009; Martin Hermann (Hrsg.), Zwanzig Jahre friedliche Revolution. Warschau, Leipzig, Berlin, Jena. Jena 2010; Andreas Malycha, Peter Jochen Winters, Die SED. Geschichte einer deutschen Partei. Orig.-Ausg.. München 2009; Andreas H. Apelt, Die Opposition in der DDR und die deutsche Frage 1989/90. Berlin 2009; Hedwig Richter, Die DDR. Stuttgart 2009; Michael Lausberg, DDR 1946–1961. Marburg 2009 oder Eckart Conze (Hrsg.), Die demokratische Revolution 1989 in der DDR. Köln u. a. 2009.

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die Frage nach dem Einfluss der Basisgruppen im Vorfeld und während der Wende.34 Je nach Standpunkt der Verfasser fällt dabei der Beitrag der Umweltgruppen größer oder kleiner aus. Stephan Bickhardt, Martin Gutzeit und Ehrhart Neubert teilen nicht nur ihre Abwertung dieser Gruppen, sondern auch ihre Erinnerung als DDR-Theologen in der Friedensbewegung.35 Der Politikwissenschaftler Detlef Pollack sieht jedoch ebenfalls nur einen schwachen Zusammenhang zwischen dem Wirken der oppositionellen Basisgruppen und den Wende­ereignissen.36 Dem steht die Sichtweise entgegen, nach der die Umweltbewegung die Friedensbewegung ab 1985 als wichtigste Oppositionsorganisation abgelöst habe.37

Problem- und Fragestellung Die Ausgangsfrage, warum die Waldschäden in den beiden deutschen Staaten eine extrem unterschiedliche politische und gesellschaftliche Resonanz erzeugten, eröffnete den Blick auf die Umweltgeschichte der DDR in ihrer Gesamtheit. Wie eingangs beschrieben, erfolgt die Operationalisierung des umfangreichen Vorhabens in zwei Schritten – der Suche nach Akteuren und der zeitlichen Ausdehnung – anhand zweier Hypothesen. Am Anfang des Problemaufrisses wer 34 Kowalczuks Feststellung, dass die Forschung in diesem Bereich von ehemaligen Oppositionellen betrieben wird, trifft auch heute noch weitgehend zu. Ilko-Sascha Kowalczuk, Gegenkräfte: Opposition und Widerstand in der DDR. Begriffliche und methodische Probleme, in: Eberhard Kuhrt (Hrsg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, 47–75. 35 Stephan Bickhardt, Die Entwicklung der DDR-Opposition in den achtziger Jahren, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Bd.  VII/1. Baden-Baden 1995, 450–503; Stephan Bickhardt, Vernetzungsversuche, in: Kuhrt, Opposition, 331–348; Martin Gutzeit, Widerstand und Opposition in den achtziger Jahren. Von der Formierung der Opposition bis zum Sturz der SED-Diktatur, in: Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission, ­235–245; Markus Meckel, Martin Gutzeit, Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit  – kommentierte Quellentexte. Köln 1994 und Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Bonn 1997. 36 Detlef Pollack, Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR. Opladen 2000, 8. 37 Hubertus Knabe, Der lange Weg zur Opposition. Unabhängige politische Bestrebungen 1983 bis 1988, in: Kuhrt, Opposition, 139–163 und Nathan Stoltzfus, Public Space and the Dynamics of Environmental Action. Green Protest in the German Democratic Republic, in: Archiv für Sozialgeschichte 43, 2003, 385–403. Es bleibt die Frage offen, ob eine derart strikte Trennung der Gruppen nach inhaltlicher Stoßrichtung für die DDR überhaupt sinnvoll ist, da viele Basisgruppen beide Ziele gleichzeitig verfolgten. Stoltzfus betont jedoch, dass die Umweltgruppen mit ihren Forderungen am schnellsten und am deutlichsten die Grenzen der Reformfähigkeit des Systems gespürt und relativ gesehen den größten Erfolg darin gehabt hätten, Öffentlichkeit für ihre Anliegen herzustellen. Ebd., 386.

Problem- und Fragestellung  

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den die beiden Hypothesen aufgefächert, um das Forschungsprogramm deutlicher umreißen zu können. Ökologisches Deutungsmuster Am 25. März 1985 hielt Hans Reichelt, Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, eine Rede vor Studenten und Dozenten der Pädagogischen Hochschule »N. K. Krupskaja« in Halle, in der er die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte als »Manipulierung der Masse durch Presse, Rundfunk und Fernsehen« abqualifizierte.38 Sie erzeuge »Hysterie und Ängste«. Im gleichen Jahr beantworteten 53 Prozent aller Bundesbürger die Frage »Wenn es so weitergeht wie bisher, werden im Jahr 2000 alle Wälder abgestorben sein?« mit »Ja«.39 Die absolute Mehrheit der Westdeutschen teilte eine Zukunftsvision, die vom heutigen Standpunkt irrational und befremdlich anmutet. Diese beiden Äußerungen spiegeln die Ambivalenz der Waldsterbensdebatte wider. Während die Debatte zunehmend dekonstruiert und historisiert und dabei teilweise als markantes Beispiel eines ›Ökoalarmismus‹ disqualifiziert wird40, bleibt eine ihrer Facetten davon bisher weitgehend unberührt. Unabhängig davon, ob die Waldschäden nun ›real‹ gewesen seien oder nicht, wertet Roderich von Detten die Waldsterbensdebatte als Katalysator einer »ökologischen Modernisierung«.41 Die Debatte verschaffte, überspitzt und thesenhaft formuliert, der Bundesrepublik in den 1980er Jahren die umweltmoralische Lufthoheit gegenüber der DDR. Das Waldsterben wirkte als Aufbruch in ein neues ökologisches Zeitalter, als Absolution, und alle Geschehnisse ante quem wurden bedeutungslos. Die latente Unsicherheit im westlichen Lager, ob der Sozialismus nicht vielleicht doch die besseren Lösungen im Umgang mit der Umwelt habe, verlor sich im Laufe der Waldsterbensdebatte. Wäre die DDR 1980/81 im Zuge der Polnischen Krise über ihren Finanzproblemen zusammengebrochen, niemand im Westen hätte ihr ökologisches Versagen vorgeworfen. Anfang der 1980er Jahre fand die ostdeutsche Umweltdebatte im Gegenteil noch ein wohlwohlendes Urteil in bundesdeutschen Analysen. 38 BArch DK 5/5644 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Reden und Vorträge des Ministers, Rede vor Studenten und Dozenten der Pädagogischen Hochschule »N. K. Krupskaja« in Halle vom 25.3.1985. 39 Internationales Institut für Umwelt und Gesellschaft, Waldsterben: Urteilsgewohnheiten und Kommunikationsprozesse. Ein Erfahrungsbericht. Berlin 1986, 9. 40 Vgl. dazu Franz-Josef Brüggemeier, Waldsterben. The Construction an Deconstruc­ tion of an Environmental Problem, in: Mauch, Blackbourn, Nature, 119–131. 41 Roderich von Detten, Umweltpolitik und Unsicherheit. Zum Zusammenspiel von Wissen­schaft und Umweltpolitik in der Debatte um das Waldsterben der 1980er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2010, 217–269, 267–268 und Metzger, Waldsterben als Politikum.

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Reichelts Rede steht dabei als Beispiel für eine DDR-Führungsriege, die aus ihrem Machtkalkül heraus an einer alle ökologischen Belange ignorierenden Wirtschaftspolitik festhielt und in ihrem Kassensturz einen vom Braunkohle­ tagebau zerwühlten Boden, vielfach verschmutzte Wasserläufe, giftige Schlammgruben und Halden der Chemieindustrie, eine von Staub und Schwefeldioxid belastete Luft und an Immissionen leidende Wälder hinterließ. Kurzum, ein ökologisches Horrorszenario. Die vorliegende Arbeit hat nicht das Ziel, eine ökologische Ehrenrettung der DDR und ihres politischen Spitzenpersonals anzustreben. Nach Eckart Jesse allerdings wird ein gescheitertes System – wie die DDR eines war – wesentlich kritischer wahrgenommen.42 Dieser auf das politische System bezogene Befund lässt sich auf die ökologische Bilanz übertragen. Da niemand weit und breit zu finden war, der die Umweltpolitik eines untergehenden Staates verteidigen wollte oder glaubwürdig verteidigen konnte, erschien die eigene – sprich die bundesdeutsche – Politik in einem helleren Licht. Eine zentrale Aufgabe der vorliegenden Untersuchung wird es darum sein, die Umweltpolitik der DDR von dieser einengenden Deutung zu befreien und ihr mehr Breite und Tiefe zu geben. In den 40 Jahren zwischen 1949 und 1989 sollen Akteure identifiziert werden, die die Umweltpolitik der DDR entscheidend prägten. Dabei rücken solche Akteure in den Fokus der Untersuchung, die anhand ihrer Schlüsselpositionen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft die Umweltpolitik bzw. umweltpolitische Vorstellungen beeinflussen konnten. An ihnen sollen die strukturellen Gegebenheiten der DDR-Umweltpolitik deutlich gemacht und Handlungsspielräume definiert werden. Dieses Programm für sämtliche unter Umweltpolitik subsumierten Aspekte (Gewässerschutz, Klimaschutz, Artenschutz, Entsorgung, usw.) auszudeklinieren, würde den Umfang des Vorhabens sprengen. Am Beispiel der immissionsbedingten Waldschäden werden die formulierten Ziele ausdifferenziert. Bei der Verfeuerung fossiler Brennstoffe entsteht Schwefeldioxid, das ab einer bestimmten Konzentration toxisch auf Lebewesen wirkt. Im Gegensatz zu anderen Abgas-Emissionen, die im relativ engen Umkreis der Quelle niedergehen, ist Schwefeldioxid sehr weittragend und kann noch nach tausenden von Kilometern als schädliche Immission auf die pflanzliche und tierische Umwelt einwirken. Dieses Feld bietet sich aus mehreren Gründen für eine Eingrenzung an. Erstens besaß die DDR mit der Forstfakultät Tharandt ein seit Mitte des 19. Jahrhunderts international anerkanntes Forschungszentrum. Hier hatte die Rauchschadenforschung einen ihrer Anfänge. Zweitens drängte das Problem grenzüberschreitender Schwefeldioxidemissionen ab Ende der 1960er Jahre in die nordatlantische Diplomatie. Die Hinweise skandinavischer Staaten, dass 42 Eckhard Jesse, War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40, 1994, 12–23, 12.

Problem- und Fragestellung  

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kontinentaleuropäische und britische SO₂-Emissionen zu einer Versauerung ihrer Seen geführt hätten, setzte einen Verhandlungsprozess in Gang, an dessen Ende 1979 das Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung stand. Umweltpolitik wurde damit zur Außenpolitik. Mit dem gewählten Ansatzpunkt der Waldsterbensdebatte geht ein gewisser Westzentrismus der gesamten Untersuchung einher. Der Blick wird sich allerdings auch immer wieder nach Osten richten. Der Handlungsspielraum der DDR war in Umweltfragen durch die politische und wirtschaftliche Einbindung in den Ostblock eingeengt und Polen und die Tschechoslowakei sahen sich vor ähnliche Probleme gestellt. Seit den späten 1950er Jahren gab es gemeinsame Forschungsprojekte im Bereich Waldschäden und Luftverschmutzung und bereits seit den 1960er Jahren versuchte die DDR auf politischem Wege, die ČSSR zu einer Senkung der Schwefeldioxidemissionen im nordböhmischen Industriegebiet zu bewegen. Ein dritter Aspekt ist der Zusammenhang zwischen Realpolitik und Ideologie. Die DDR ruhte ideologisch auf einem marxistischen Fundament, also musste auch ihre Umweltpolitik marxistisch sein. Wie eine marxistische Umweltpolitik aussehen kann, welche Elemente ihr konstitutiv sind, welches Verhältnis zwischen Umwelt und Gesellschaft sich aus ihr ableiten lässt, welche Möglichkeiten sie eröffnete bzw. versperrte, wird Gegenstand dieser Untersuchung sein. Ein Kernelement des Marxismus war die geplante Wirtschaft, die je nach Ausgestaltung dem Umweltschutz günstige oder weniger günstige Möglichkei­ ten eröffnen kann. In der Literatur dominiert der Aspekt des Versagens der Planwirtschaft, das unmittelbar für den Zusammenbruch nicht nur der DDR, sondern aller sozialistischer Staaten Osteuropas, verantwortlich war. Umweltschutz erfordert Investitionen, die je nach Leistungsfähigkeit der Wirtschaft einfacher oder schwieriger zu stemmen sind. Über die Verteilung der Investitionsmittel entschied der ›Plan‹, dessen Ausgestaltung Günter Mittag wesentlich mitbestimmte. Diese Untersuchung kann und wird darum nicht die Führungsebene der SED ausblenden, sondern versuchen, die in der Forschungsliteratur verbreitete Erklärung von der umweltpolitischen Ignoranz mit Inhalt zu füllen und zu hinterfragen sowie das Zu­ sammenspiel zwischen den verschiedenen Leitungsebenen zu analysieren. Die Herrschaft der SED stützte sich nicht auf demokratische Prinzipien, sondern auf die militärische Macht der sowjetischen Besatzungstruppen. Die Partei versuchte beständig, dieses Legitimationsdefizit zu verringern, um die Akzeptanz ihrer Herrschaft unter den Regierten zu erhöhen und um eine gewisse Art der volonté générale über die Bajonette hinaus herzustellen. Ein Versprechen, das die SED-Führung den Menschen in der DDR zu diesem Zwecke gab, war, für ein harmonisches Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt zu sorgen. Die Nutzbarmachung der Umwelt als Legitimationsquelle für ihr diktatorisches Regime war tagespolitischen Schwankungen unterworfen.

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Einleitung

Teleologisches Deutungsmuster Im Jahr 2009 war auf dem Berliner Alexanderplatz eine Open-Air-Ausstellung mit dem Titel »Friedliche Revolution 1989/90« aufgebaut.43 Auf 300 Metern Stellwänden informierte sie über die Wende im Herbst 1989 und die Wiedervereinigung Deutschlands. Es war der Anspruch des Kurators, auch die Vorgeschichte des Umschwungs darzustellen. Darum setzte die Ausstellung in den frühen 1980er Jahren an und versuchte, die verschiedenen Fäden zum Kulminationspunkt 1989 zusammenzuführen. Ein Segment befasste sich mit der Umweltsituation in der DDR. Neben der Abbildung einer Protestpostkarte, die auf den bedenklichen Zustand der Wälder im Erzgebirge hinwies, stand folgender Text: Plakat der systemkritischen Umweltbewegung. Anfang der 1980er-Jahre nimmt das Waldsterben in den Mittelgebirgen katastrophale Ausmaße an. Die SED-Führung unterdrückt eine öffentliche Diskussion über dieses Thema.

Ilko-Sascha Kowalczuk sah in der »oppositionelle[n] Umweltschutzbewegung« den »Sargnagel des Regimes«.44 Den Tenor der Berliner Ausstellung treffend schrieb er, »Umweltbewegung« bedeute, »Gesellschaftsveränderung anzustreben«.45 In seiner großen Verfallsgeschichte der DDR versieht er dabei die Gruppen mit einer retrospektiven Sinngebung, die durch die Zeitereignisse unzu­ reichend gedeckt ist. Die Umweltgruppen erhalten darin den Charakter einer ›Fünften Kolonne‹, die das Umweltthema aus dem Westen gezielt importierten, um den Herrschaftsanspruch der SED zu unterminieren. Diese teleologische Ausrichtung auf den Herbst 1989 verstellt einen unvoreingenommenen Blick auf die Menschen, die sich ab Ende der 1970er Jahre dafür einsetzten, die DDR als lebenswerten Ort zu erhalten. Es führt zu keiner höheren Erkenntnis, dieses Wirken in einen Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der DDR zu stellen oder diesen Zusammenhang zu konstruieren. Ja, es verhindert eine höhere Erkenntnis geradezu, denn für diese Menschen lag ein Zusammenbruch des Systems weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft.46 43 Die Ausstellung wurde von der Robert-Havemann-Gesellschaft zusammengetragen und war bis zum 3. Oktober 2010 aufgebaut. Nach einer Mitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 24. März 2014 wird die Ausstellung ab 2015 auf dem Gelände des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße wieder aufgebaut werden. Der Autor hat die Ausstellung selbst besucht. 44 Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durch­ gesehene Auflage. München 2009, 126–127. 45 Ebd., 238. 46 Eine Einsicht, die auch von westdeutschen Kommunismusforschern geteilt wurde. Glaeßner schrieb dazu 1986: »Da die Emanzipation der Gesellschaft gegenüber der Partei und ihren Apparaturen ausgeschlossen ist, kann jede strukturelle Differenzierung, jede Diversifikation von Beratung, Kontrolle und Information nur im Rahmen und unter den

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Ziel der vorliegenden Arbeit ist es darum, die Umweltgruppen in der DDR von ihren teleologischen Deutungen zu befreien und sie als Akteure in die DDRGeschichte zurückzuführen. Davon unberührt bleibt ihre Bedeutung für die Rezeption der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte in der DDR. Zahlreiche Gruppen gründeten sich als Reaktion auf die Waldschäden bzw. sie erlebten die intensive Debatte als mobilisierend. Aber für nahezu jede gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik lassen sich auch in der DDR Beispiele finden. Das Problem liegt in der Differenzierung: Waren dies die ›Leuchttürme‹ einer kosmopolitischen Klasse, die auch unter den Verhältnissen des abgeschotteten Landes immer Anschluss an weltweite Strömungen halten konnten, oder waren es die Triebe einer breiten gesellschaftlichen Regung? Anhand der aufgestellten Hypothesen und den dazugehörigen Ausführungen seien schließlich sechs Fragekomplexe aufgeworfen: 1. Wie arbeitete der Umweltschutzapparat der DDR in seiner Gesamtheit? War das in der Literatur für Mittag beschriebene Desinteresse an ökologischen Fragestellungen ein Strukturmerkmal aller staatlichen, parteilichen, gesellschaftlichen und akademischen Ebenen? 2. Wer beschäftigte sich in der DDR wann und warum mit der Frage der immissionsbedingten Waldschäden? Diese allem zugrunde liegende Frage erlaubt noch keine ausreichende Eindringtiefe, denn für die Forstwissenschaftler an der TU Dresden fiele die Antwort recht knapp aus: Sie taten es 40 Jahre lang, weil es ihr Beruf war. Aber konnten sie dies 40 Jahre lang mit der gleichen Inten­ sität tun und hatten sie die gesamte Zeit über den gleichen Zugang zu Publikationsmöglichkeiten? Wo sind die Brüche zu verorten? Welche gesellschaftliche Gruppe brachte neue Elemente in die Diskussion hinein und wie reagierten die anderen Akteure darauf? 3. Welchen Handlungsspielraum schließlich besaßen einzelne Personen, die sich in der DDR mit dem Thema Umwelt befassen wollten? Welche Wünsche und Vorstellungen hatten die einzelnen Akteure und was konnten sie davon umsetzen? 4. Welche Argumente wurden von den Akteuren hervorgebracht, um umweltpolitische Maßnahmen durchzusetzen oder zu verhindern? Welche politischen und wirtschaftlichen Ziele erwiesen sich dabei als anschlussfähig? 5. Wie nutzte die stets um ihre internationale Akzeptanz ringende DDR-Führung die Umweltpolitik, um ihre Reputation zu steigern? 6. 1989 war das von der SED gegebene Versprechen vom harmonischen Miteinander von Umwelt und Gesellschaft eine Farce. Trifft dies für die gesamten 40 Jahre der SED-Diktatur zu? Sind die Gründung des Ministeriums für Be­dingungen der bestehenden Strukturprinzipien und Regelungsmechanismen erfolgen.« Gert-Joachim Glaeßner, Reformierbarkeit sozialistischer Systeme, in: Ziemer, Sozialistische Systeme, 366–372, 367.

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Umweltschutz und Wasserwirtschaft, die umweltpolitischen Programme der späten 1960er Jahre und die Aufklärungskampagnen der frühen 1970er Jahre als ernsthaftes Bemühen nach einer »ökologischen Zähmung der Wirtschaft« anzusehen?47 Mit der Beantwortung der Fragen ergibt sich ein differenzierteres Bild der DDR-Umweltpolitik, die sich eigenen Themen zuwandte und für diese eigene Problemlösungsstrategien entwickelte. Dabei agierten die maßgeblichen Akteure nicht in einem luftleeren Raum, sondern zeigten sich auch für von außen kommende Debatten verarbeitungsbereit, etwa die in den 1970er Jahre beginnende Auseinandersetzung um die Grenzen des Wachstums oder die Wald­ sterbensdebatte der 1980er Jahre.

Ansatz, Methode und Quellen Die Frage, warum Gesellschaften sich für den Zustand ihrer Umwelt zu interessieren beginnen, ist ein umstrittener Gegenstand der Umweltgeschichte. Dabei greift sie auf soziologische Erklärungsansätze wie Ronald Ingleharts postmaterialistischen Wertewandel oder Ulrich Becks reflexive Modernisierung zurück.48 Im Kern geht es dabei um die Frage, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen vorhanden sein müssen, damit ein bestimmter Umweltzustand als ›Problem‹ verstanden wird. Für die DDR erscheint die Anwendung solcher Konzepte schwierig. Inglehart entwickelte sein Konzept, um Veränderungen in der westlichen Gesellschaft erklären zu können. Eine Übertragung auf staatssozialistische Gesellschaften scheitert zum einen an den nur lückenhaft vorhandenen empirischen Daten – etwa Umfragen – und zum anderen an der – formalen – Gültigkeit der marxistisch-leninistischen Lehre, die eigene Erklärungen für gesellschaftlichen Wandel fand. Ein Vergleich der Wirtschaftsstruktur ergibt allerdings den Befund, dass die DDR die um 1970 einsetzende Veränderung zur ›Dienstleistungsgesellschaft‹ nur sehr verzögert vollzog und hier einen time-lag von etwa zehn Jahren aufwies. Der Anspruch von Beck hingegen lässt sich als universell bezeichnen. Umweltbewusstsein ist bei ihm die Folge eines gestiegenen Risikos. Beck diagnostizierte eine absolute Gefährdungszunahme, die damit auch für die DDR gelten müsste. Allerdings spielten in Becks Überlegungen die Wissenschaftler 47 Hans-Ulrich Wehler, Diktaturvergleich, Totalitarismustheorie und DDR-Geschichte, in: Arnd Bauerkämper, Martin Sabrow, Bernd Stöver (Hrsg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945–1990. Christoph Kleßmann zum 60. Geburtstag. Bonn 1998, 346–352, 349–350. 48 Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics. Princeton 1977 und Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Erstausg., [Nachdr.] Frankfurt 2007.

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eine entscheidende Rolle. Die Gefahren der reflexiven Moderne seien mit den menschlichen Sinnen nicht mehr wahrnehmbar, sondern bedürften einer Übersetzungsleistung bzw. Sichtbarmachung durch die Wissenschaft. Das Waldsterben war in diesem Denkmodell die Manifestation der unsichtbaren Bedrohung Luftverschmutzung. Eine Frage ist, ob eine ähnliche Übersetzungsleistung in der DDR nötig bzw. überhaupt möglich war. Während im Westen in den 1980er Jahren die mittelbaren ökologischen Belastungen überwogen, sah der DDRUmweltaktivist Carlo Jordan den Osten mit der lokalen Zerstörung ganzer Landschaften konfrontiert.49 Im Unterschied zu Beck, dessen Überlegungen der Idee der Problemdruckthese50 grundsätzlich verbunden blieben, entwickelte der Politikwissenschaftler Volker von Prittwitz mit der Kapazitätenthese einen anderen Ansatz.51 Prittwitz bemerkte einen zeitlichen Abstand zwischen dem Maximum der Belastung und dem Einsetzen der politischen Bearbeitung. Daraus zog er den Schluss, dass Systeme nur Probleme thematisieren, »die sie bewältigen können«. Für eben diese Bewältigung sah er das Vorhandensein von Kapazitäten im Sinne von ökonomischen, technischen, soziokulturellen und institutionellen Voraussetzung als notwendig an.52 Dieser Ansatz besitzt aus zwei Gründen einen gewissen Charme. Erstens müssen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft gleichzeitig Kapazitäten vorhanden sein, damit es zu einer Reaktion kommt. Es reicht nicht aus, dass etwa Wissenschaftler ein bestimmtes Problem umschreiben, wenn gleichzeitig in der Gesellschaft die notwendigen soziokulturellen Voraussetzungen für eine Behandlung fehlen. Damit knüpfte Prittwitz auch an die Wertewandelthese Ingleharts an, die den notwendigen Resonanzboden für Umweltbewusstsein geschaffen habe. Zweitens erklärte Prittwitz das Ausbleiben einer politischen Bearbeitung bei noch nicht vorhandenen Kapazitäten mit der Theorie der kognitiven Dissonanz. Aus Gründen der psychischen Stabilität würden Probleme so lange ignoriert, bis entsprechende Lösungen zur Verfügung stünden.53 Der letzte Punkt drängt sich für eine Übertragung auf die DDR-Geschichte auf, da eine große Lücke zwischen Erfolgspropaganda und tatsächlichem Zustand ein Kennzeichen des Systems war. Damit wird nicht etwa die gängige Geheimhaltungs- und Verschleierungspraxis angesprochen, 49 Carlo Jordan, Im Wandel. Ökologiebewegung und Grüne im Osten, in: Gerda Haufe, Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Die Bürgerbewegungen in der DDR und in den ostdeutschen Bundesländern. Opladen 1993, 240–260, 241. 50 Nach der Problemdruckthese ist das gesellschaftliche Umweltbewusstsein eine einfache Funktion, die sich aus schwerwiegenden ökologischen Problemen ergibt. 51 Volker von Prittwitz, Das Katastrophenparadox. Elemente einer Theorie der Umweltpolitik. Opladen 1990 und Volker von Prittwitz, Katastrophenparadox und Handlungskapazität. Theoretische Orientierung der Politikanalyse, in: Adrienne Windhoff-Héritier (Hrsg.), Policy-Analyse. Opladen 1993, 328–355. 52 Ebd., 346. 53 Ebd., 338–339.

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sondern die unüberbrückbare Differenz zwischen Verheißungen und Lebensrealität. Die offizielle Propaganda deutete die herrschenden Zustände um, um sie mit der Theorie ›kompatibel‹ zu machen. In jüngster Zeit wurde die Übernahme soziologischer Modelle von Zeithistorikern kritisiert, da sie die Ergebnisse der Soziologie reproduziere. Stattdessen solle eine Historisierung eben dieser Modelle angestrebt und »eine inhaltlich wie zeitlich breite, historisch-genetisch vorgehende und kontextualisierende Analyse« erreicht werden.54 Frank ­Uekötter belegte allerdings jüngst, wie soziologische Konzepte, vorsichtig und reflektierend eingesetzt, für die Umweltgeschichte nutzbar gemacht werden können.55 Die von Graf und Priemel geforderte Kontextualisierung wird für die vorliegende Arbeit als zentraler methodischer Zugang gewählt. Am Beispiel der immissionsbedingten Waldschäden werden dabei allgemeingültige Merkmale der Umweltpolitik der Deutschen Demokratischen Republik herausgearbeitet. Die Begriffe ›Umweltschutz‹ bzw. ›Umweltpolitik‹ im heutigen Verständnis sind Wortschöpfungen der späten 1960er Jahre. Allerdings werden auch zeitlich davor liegende Überlegungen, gesetzliche Regelungen und Programme, die eine entsprechende inhaltliche Ausrichtung erkennen lassen, unter den beiden Begriffen subsumiert. Denn der Forschungszeitraum erstreckt sich über das gesamte Bestehen der DDR. Innerhalb dieser 40 Jahre wird nach »Knotenpunkten« gesucht, an denen sich die Entwicklung aus den unterschiedlichsten Feldern und Subsystemen bündelten.56 Konkret bedeutet dies, die Umweltgeschichte mit den markanten Punkten der DDR-Chronologie – etwa dem 17. Juni 1953 oder dem 13. August 1961 – zu koppeln, bzw. neue, bisher nicht beachtete Punkte zu identifizieren. Im Fokus der Untersuchung stehen die Akteure, die an den Knotenpunkten neue Aspekte und Elemente in die Diskussion einbrachten. Insofern bietet sich ein chronologisches Vorgehen an. Anhand von in die DDR-Geschichte eingebetteten Auseinandersetzungen werden die Argumente der einzelnen Akteure entwickelt und die Antworten der übrigen Akteure vorgestellt. In den 1950er und 1960er Jahren verliefen die Debatten dabei einerseits unter Wissenschaftlern bzw. zwischen Wissenschaftlern und politischen Funktionsträgern. In den 1970er Jahren – nach der Gründung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft  – verlagerten sich die Konfliktlinien in das politische System hinein. In den 1980er Jahren kam mit den kirchlichen Umweltgruppen eine 54 Rüdiger Graf, Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59, 2011, 479–508, 482 und 506. Vgl. dazu ebenfalls Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 2., ergänzte Auflage. Göttingen 2010, 76. 55 ­Uekötter, Ende. 56 Doering-Manteuffel, Raphael, Boom, 109–110.

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neue Akteursgruppe hinzu, die sowohl mit der Wissenschaft als auch mit der Politik ins Gespräch kommen wollte und dabei eine für die DDR ungewöhnliche Konfliktfähigkeit entwickelte. Gesellschaft, Öffentlichkeit und Mediensystem Um die Interaktion der verschiedenen Akteure schlüssig darstellen zu können, ist die Konzeptualisierung zweier ›großer‹ Begriffe sinnvoll: Gesellschaft und Öffentlichkeit. Die Deutungen der DDR-Gesellschaft weisen eine kaum noch zu überschauende Vielfalt auf. Je nachdem, ob von einer »sozialistischen Ständegesellschaft«, verschiedenen Variationen der »Arbeitsgesellschaft«, einer »Organisationsgesellschaft« oder einer »Gegengesellschaft« gesprochen wird, geschah dies aus den  – oft  – ideologisch bestimmten Analysekategorien der Forscher heraus.57 Eine Grundkonstante ist dabei die Frage, wie sich der umfassende Steuerungsanspruch der SED und der ›wirkliche‹ gesellschaftliche Zustand miteinander vertrugen. Nach der Logik des Totalitarismus bestimmt allein die Partei über Aufbau und Verfassung der Gesellschaft.58 Diese Idee hat etwas Verführerisches und traf scheinbar auf die Verhältnisse in der DDR zu. Die SED, im Besitz aller Machtmittel, schuf sich ein System ihr ergebener Massenorganisationen, entwarf einen ihr genehmen Staatsapparat, gestaltete das Wissenschaftssystem nach ihren Vorstellungen um und verbot jede davon unabhängige gesellschaftliche Selbstorganisation. Diese Position vertrat etwa Sigrid Meuschel in den 1990er Jahren im in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft ausgetragenen Disput mit Detlef Pollack über den Charakter der DDR-Gesellschaft. Nach Meuschel hatte die SED einen totalitären Anspruch, da sie darauf zielte, »die gesamte gesellschaftliche Entwicklung in allen ihren Aspekten zu planen und zu steuern«.59 Da die SED im Besitz aller politischen, ökonomischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Ressourcen gewesen sei, sei es ihr gelungen, die Gesellschaft in einem hohen Maße zu entdifferenzieren und zu homogenisieren.60 Pollack hat den Thesen Meuschels heftig widersprochen. Er bemängelte grund 57 Vgl. Arnd Bauerkämper, Die Sozialgeschichte der DDR. München 2005. 58 Carl Joachim Friedrich, Zbigniew Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Bonn 1996, 225–236, 226 und 230–231. 59 Sigrid Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19, 1993, 5–15, 5. 60 Siehe Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989. Frankfurt 1992, 41–59 und Sigrid Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschafts- und Sozialgeschichte der DDR, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR. Göttingen 1993, 5–14.

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sätzlich, dass in ihrem Konzept ein endogener Erosionsprozess der SED-Herrschaft ausgeschlossen sei. Er sah die »Verstaatlichung der Gesellschaft« als nicht geglückt an. Zwar habe die SED stets den Anspruch aufrechterhalten, jedoch sei die DDR-Gesellschaft bereits in einem solch hohen Maße differenziert gewesen, dass trotz des starken Steuerungsanspruches der SED stets eine gesellschaftliche Eigendynamik vorhanden gewesen sei, die sich jedem Steuerungsversuch entzogen habe.61 Die große Schwäche des totalitären Ansatzes ist der stark normative, Abweichungen ausschließende Charakter. Vor Pollack haben etwa Jürgen Kocka und Günter Gaus, der ehemalige ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, modifizierte Konzepte vorgestellt. Gaus unterteilte in seiner »Nischen­ gesellschaft« die Gesellschaft  – jede Gesellschaft  – in einen öffentlichen und einen privaten Bereich. Während es der SED im Falle der DDR gelungen sei, den öffentlichen Teil  ihrer Kontrolle zu unterwerfen, seien die »privaten Lebensräume […] Freiräume von der herrschenden Lehre«.62 Kocka sah im Rahmen der »durchherrschten Gesellschaft« die gesellschaftliche Entwicklung und die staatlich-parteiliche Herrschaft als untrennbar miteinander verbunden an.63 Daneben existierten allerdings »informelle Strukturen, inoffizielle Beziehungsgeflechte und Problemlösungsmuster« sowie »Funktionsdefizite«, die der Durchherrschung im Alltag Grenzen setzten. Nach dieser Vorstellung besaßen die von der SED geschaffenen Institutionen bzw. die Akteure darin ein gewisses Maß an Selbstständigkeit. Die Themensetzung geschah demnach nicht ausschließlich in einem »Top-down-Prozess«, da die unterschiedlichen Ebenen in engen Grenzen in der Lage sind, eigenständig zu agieren. Jarausch schließlich lehnte den totalitären Ansatz ab, weil er die Gesellschaft nicht zu einem »Objekt der SED-Politik degradiert« sehen wollte.64 Für die Jahre nach 1961 – in der »erfolgreichen Mittelphase der DDR-Geschichte« – erkannte er jedoch eine »hochgradig politisch determinierte Gesellschaft«, die er mit dem Attribut »stillgelegt« beschrieb.65 Dies lässt den Schluss zu, dass die Gesellschaft ihre Fähigkeit zu eigendynamischer Entwicklung nicht verloren hatte, sondern nur auf Zeit keinen Gebrauch davon machen wollte. Als Synthese lässt sich für das weitere Vorgehen festhalten, dass für jedes gesellschaftliche Bedürfnis, von dem die SED annahm, es bestehe – sei es Sport, Kultur oder Naturschutz  –, die Partei eine gesellschaftliche Organisation zu 61 Detlef Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDRGesellschaft homogen?, in: Geschichte und Gesellschaft 24, 1997, 110–131. 62 Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung. Hamburg 1983. 63 Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, 547–553. 64 Konrad Hugo Jarausch, Die gescheiterte Gegengesellschaft. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der DDR, in: Archiv für Sozialgeschichte 39, 1999, 1–17, 2. 65 Ebd., 9.

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dessen Befriedigung bereitstellte. So wenig erfolgreich die Planwirtschaft war, so wenig erfolgreich war auch die Plangesellschaft. In dem Moment, wo ein Bedürfnis entstand, das nicht mehr über die sanktionierten gesellschaftlichen Organisationen befriedigt werden konnte, musste die Partei reagieren, um die Gesellschaft weiterhin im Zustand des Stillhaltens zu bewahren – sei es durch die Schaffung eines neuen Angebotes oder durch Repressionen. Im Sinne der Fragestellung ist das Interesse an Umweltschutz als ein solches neues Bedürfnis zu sehen. Dabei ist die Frage, ob dieses Bedürfnis endogen aus der DDR heraus erwachsen war oder von außen in die DDR hineingetragen wurde, zunächst zweitrangig. Auf jeden Fall erhielt es ab 1981 durch die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte starke Impulse. Wichtiger ist die Frage, wie breit dieses neue Bedürfnis in der Gesellschaft verankert war und wie unter DDRBedingungen darüber geredet wurde bzw. geredet werden konnte. Denn alle, die strikte Totalitarismustheorie ablehnenden Ansätze sind sich in dem Punkte einig, dass die SED das öffentliche Forum besetzte. Eine Kommunikation abseits der informellen Strukturen oder über die Nischen hinweg, war nur nach den Spielregeln der SED möglich. Das Anlegen des Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriffes auf die Verhältnisse in der DDR ist wenig ergiebig.66 Vielversprechender ist das von Gerhards und Neidhardt entwickelte »Arena-Modell«. Darin ist Öffentlichkeit ein stark positiv besetzter Begriff. Sie wird als eine Legitimationsinstanz definiert, die es zu gewinnen gilt.67 Für die ständig nach Legitimationsquellen suchende SED war die inszenierte Öffentlichkeit eine Möglichkeit, die Legitimität ihrer Herrschaft herauszustellen. Diese »Scheinöffentlichkeit« kann aber nicht mehr  – oder nur sehr eingeschränkt – die Aufgabe erfüllen, die ihr in einer funktional differenzierten Gesellschaft zukommt: die Produktion der öffentlichen Meinung.68 Das »Arena-Modell« teilt die Öffentlichkeit in drei Arenen auf, die sich in der Verteilung von Bühne und Publikum, Arena und Galerie unterscheiden: Encounteröffentlichkeit, Versammlungsöffentlichkeit und massenmediale Öffentlichkeit. Das Konzept der Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann soll das Arena-Modell ergänzen. Es besagt, dass sich niemand gerne zu etwas bekennt oder äußert, das nicht gesellschaftlich sanktioniert ist. Dadurch erscheint 66 Simone Barck, Martina Langermann, Jörg Requate, Kommunikative Strukturen, Medien und Öffentlichkeit in der DDR. Initial, in: Berliner Debatte Initial, 1995, 25–38, 25. 67 Jürgen Gerhards, Friedhelm Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, in: Stefan Müller-Doohm, Klaus Neumann-Braun (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie. Oldenburg 1991, 31–89, 31. 68 Arthur Strum, Öffentlichkeit von der Moderne zur Postmoderne 1960–1999, in: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.), Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs. Stuttgart u. a. 2000, 115.

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die Mehrheitsmeinung noch dominanter und die Bereitschaft, sich gegen diese Mehrheitsmeinung zu stellen, nimmt weiter ab.69 Die Encounteröffentlichkeit ist mit geschichtswissenschaftlichen Methoden nur schwer zu erfassen. Dazu ist diese Ebene der persönlichen Kommunikation zu vielschichtig, umfangreich und flüchtig. Erschwerend kommt für den Fall der DDR hinzu, dass Personen, die sich mit oppositionellem Gedankengut auseinandersetzten und sich darüber austauschten, konspirativ vorgingen. Schriftliche Überreste sind hier kaum vorhanden. Auch die Berichte des MfS über die Stimmung in der Bevölkerung sind kein adäquater Ersatz, da sie einem doppelten »Bias« unterliegen.70 Dieses Segment ist allenfalls auf einer ›Metaebene‹ zu fassen. Und zwar dergestalt, dass es in der Bevölkerung Hemmungen gab, sich allzu frei auch im kleinen Kreis über heikle Themen auszutauschen. Gerhards und Neidhardt bezeichnen dieses gezielte Aussuchen der Gesprächspartner auf der Encounterebene mit dem Begriff der »Halböffentlichkeit«. Eine legale Form von Versammlungsöffentlichkeit außerhalb der von der SED sanktionierten Organisationen war nicht möglich. Eine legale Zusammenkunft ohne ihre Erlaubnis, Mitwirkung, Gestaltung und Leitung konnte es in der DDR nicht geben. Die Ausnahme bildete der kirchliche Bereich. Hier waren nach der Veranstaltungsverordnung von 1970 Veranstaltungen mit gottesdienstlichem Charakter genehmigungsfrei. Die ab den 1970er Jahren zunehmenden und in den Augen der SED illegalen Treffen und Veranstaltungen von Künstlern, Friedens- und Umweltgruppen versuchte die SED über das Ministerium für Staatssicherheit zu überwachen, in ihrer Arbeit zu behindern, zu ›zersetzen‹, auf jeden Fall aber ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit einzuschränken. Offiziell gab es in der DDR keine Zensur. Die SED bediente sich zur Steuerung der Massenmedien eines fein gegliederten Systems, das mit der Auswahl der Journalistik-Studenten begann und mit dem direkten Diktat von Artikeln Honeckers endete. Die Konstruktion der Massenmedien sei hier etwas ausführlicher dargestellt, weil sie sehr stark im Kontrast zur Organisation der westlichen Medien steht. Für die westdeutsche Waldsterbensdebatte war das Zusammenspiel von Wissenschaftlern und Medien ein entscheidender Faktor, der so für die DDR entfiel.71 69 Elisabeth Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Frankfurt, Berlin 1989. 70 Der Bias besteht darin, dass die Menschen ihre Äußerungen im öffentlichen Raum filterten. Die Berichterstatter des MfS gaben diese Befunde dann noch einmal gefiltert weiter. Christiane Reinecke hat dieses Problem für Umfragen in der DDR thematisiert. Christiane Reinecke, Fragen an die sozialistische Lebensweise. Empirische Sozialforschung und soziales Wissen in der SED »Fürsorgediktatur«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2010, 311–334, 327. 71 Vgl. zur Rolle der Forstwissenschaftler in der westdeutschen Waldsterbensdebatte Schäfer, Lamettasyndrom.

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Eine Delegierung zum Studium nach Leipzig erhielten nur diejenigen, die sich durch eine besondere Linientreue ausgezeichnet hatten. Das Wörterbuch des Journalismus definierte sie als »Funktionär der Arbeiterklasse«, die Lenins Forderung umsetzen sollten, die Medien zur schärfsten »Waffe der Partei [zu] machen«. Nach dem Studium fanden sich die Journalisten entweder in einer der SED-Zeitungen, einer Zeitung der Blockpresse oder dem ADN, dem Nachrichtendienst der DDR, wieder.72 Im Fall der SED-Presse erfolgte die Anleitung durch den Sekretär für Agitation und Propaganda des ZK der SED. Dienstags nach der Politbürositzung kamen einige SED-Spitzenjournalisten aus Printmedien, Hörfunk und Fernsehen in der Agitationskommission zusammen. Der ZK-Sekretär erläuterte hier die Beschlüsse des Politbüros und gab ›Empfehlungen‹. Zudem stellte das Neue Deutschland seine redaktionelle Planung für die Woche vor, die für die anderen Medien als Leitfaden zu dienen hatte.73 Donnerstags traf sich die ZK-Abteilung Agitation zu den sogenannten »Donnerstags-Argus«. 60 bis 80 Ost-Berliner SED-Journalisten und Medienfunktionäre kamen dort zusammen und erhielten Hintergrundinformationen, die aber nicht veröffentlicht werden durften.74 Gleichzeitig wurde ›empfohlen‹, über welche Themen besser nicht berichtet werden sollte. Ein Hinweis vom Oktober 1982 lautete etwa: »Zurückhaltung bei Umweltschutzthemen und auch keine Leserbriefe wenn diese Zustände in absehbarer Zeit nicht verändert werden können.«75 Das 1953 gegründete »Presseamt beim Ministerpräsidenten der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik« wirkte als Transmissionsriemen und übernahm die Anleitung der Blockpresse sowie die Vorzensur der Kirchen­ zeitungen. Es überwachte zudem den Import westlicher Presseerzeugnisse. Die rund 50 Mitarbeiter durften keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen, 72 Peter Hoff, »Vertrauensmann des Volkes«. Das Berufsbild des »sozialistischen Journalisten« und die »Kaderforderungen« des Fernsehens der DDR. Anmerkungen zum politischen und professionellen Selbstverständnis von »Medienarbeitern« während der ­Honecker-Zeit, in: Rundfunk und Fernsehen 38, 1990, 385–399, 386 und Gunter Holzweißig, Die schärfste Waffe der Partei. Eine Mediengeschichte der DDR. Köln u. a. 2002, 43. 73 Karl Heinz Arnold, Otfrid Arnold, Herrschaft über die Medien. Die Gleichschaltung von Presse, Rundfunk und Fernsehen durch die SED, in: Hans Modrow, Karl Heinz Arnold (Hrsg.), Das große Haus. Insider berichten aus dem ZK der SED. Berlin 1995, 97–115, 98–99 und Gunter Holzweißig, Medienlenkung in der SBZ/DDR. Zur Tätigkeit der ZK-Abteilung Agitation und der Agitationskommission beim Politbüro der SED, in: Publizistik 39, 1994, 58–72. 74 Angelika Holtermann, Rotes Kloster, Argu und die Individuen. Journalistinnen und Journalisten in der DDR, in: Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.), Zwischen »Mosaik« und »Einheit«. Zeitschriften in der DDR. Berlin 1999, 584–591. 75 Zitiert nach Gunter Holzweißig, Zensur ohne Zensor. Die SED-Informationsdiktatur. Bonn 1997, 40.

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selbst eine Meldung über die Einführung der Sommerzeit musste mit dem verantwortlichen Ministerium und der Agitationsbürokratie abgestimmt werden.76 Gunter Holzweißig, der profundeste Kenner des DDR-Mediensystems, hat mehrfach betont, dass es für die Journalisten keine Spielräume in der Themenwahl und Gestaltung gab. Journalisten, die gegen die Vorgaben verstießen, wurden zu einer Betriebszeitung strafversetzt oder mussten sich in der »Produktion bewähren«.77 Dies führte zu einer ›Schere im Kopf‹, also zu dem Umstand, dass die Journalisten noch vorsichtiger formulierten, als sie eigentlich gemusst hätten. Dieses am Beispiel des Pressewesens vorgestellte System führte nicht nur zu einer ausgesprochenen Eintönigkeit und Langeweile, sondern es ließ auch keinen Raum für der SED-Führung nicht genehme Meldungen. Die hier spannende Frage lautet mithin, inwiefern in einem derart gestalteten Rahmen die Problematisierung von Befunden möglich war, die den Interessen der SED-Führung zuwiderliefen. Während Akteure aus dem Bereich der Wissenschaft und der Politik Teil des von der SED geschaffenen Institutionengefüges waren und sich an die Normen der Kommunikation halten mussten, falls sie nicht aus ihm herausfallen wollten, waren die Umweltgruppen der 1980er Jahre die ersten Akteure, die außerhalb davon auftraten. Sie mussten sich darum erst eigene Kommunikationsmöglichkeiten schaffen, eine ›Gegenöffentlichkeit‹ herstellen. Ziel der Arbeit ist es, die Binnenlogiken der DDR-Umweltgeschichte offenzulegen und dem bisher im deutsch-deutschen Vergleich dominierenden Schwarz-Weiß-Denken Grautöne hinzuzufügen. Dies betrifft auch die gesellschaftliche Verortung der Umweltgruppen, die noch sehr stark dichotom gesehen wird. Während Kowalczuk die Gruppen und den Samisdat78 als Sprachrohr der schweigenden Mehrheit interpretiert, sieht Pollack die Gruppen in einer »Frontstellung« zur an kleinbürgerlicher Ordnung interessierten Masse der Bevölkerung.79 Damit eng verbunden ist die Frage, welche Stoßrichtung die Umwelt­gruppen hatten. Hubertus Knabe war der Erste, der das Konzept der »Neuen sozialen Bewegungen« auf die DDR übertrug. Er erkannte einen Wertewandel in der DDR, 76 Holzweißig, Schärfste Waffe, 23. 77 Holzweißig, Zensur ohne Zensor. Die SED-Informationsdiktatur, 31. 78 Der Begriff Samisdat stammt aus der russischen Sprache, bedeutet übersetzt etwa Selbstverlag und bezeichnet »alle per Hand, Schreibmaschine, Abzugsgerät oder auch per Fotokopie inoffiziell vervielfältigten, nicht genehmigten Materialien«. In der einfachsten Form des Samisdat konnten mit dem Durchschlags-und Kohlepapier der DDR auf einer Schreibmaschine etwa acht Exemplare einer Schrift angefertigt werden. Vgl. Hubertus Knabe, »Samisdat«. Gegenöffentlichkeit in den 80er Jahren, in: Kuhrt, Opposition, 299–320, 300. 79 Ilko-Sascha Kowalczuk, Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989; eine Dokumentation. Berlin 2002, 16 und Pollack, Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR, 63.

Ansatz, Methode und Quellen  

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weshalb sich der Protest der Basis- und Oppositionsgruppen primär gegen die industrielle Lebensweise der DDR und deren Auswirkungen auf die Umwelt richtete.80 Dem steht die Auffassung gegenüber, die Mehrzahl der Gruppen habe sich an den genuinen Problemen der sozialistischen Gesellschaft abgearbeitet, wie das Sozialisations- und Kommunikationsdefizit der DDRGesellschaft, das Streben nach Autonomie und Emanzipation von den diktatorischen Herrschaftsstrukturen und die Enttäuschung über das Bild des real existierenden Sozialismus. Gerd Poppe sah in der Opposition den »öffentlich bekundeten, politisch begründeten und mit der Mobilisierung Gleichgesinnter verbundenen Versuch, sich der totalitären Macht zu widersetzen«.81 Quellen Eine solche differenzierte Untersuchung bedarf einer soliden empirischen Basis. Wie im Abschnitt zuvor ausgeführt, ist eine Auswertung der offiziösen Medien für das skizzierte Forschungsdesign wenig hilfreich. Ergiebiger ist die Analyse von unveröffentlichten Dokumenten aus Archiven. Um die Arbeit der Forstwissenschaftler nachzuzeichnen, erwies sich dabei das Archiv der TU Dresden als unersetzliche Quelle, das die Überlieferungen der Fakultät bzw. Sektion für Forstwissenschaft Tharandt bewahrt. Hierbei handelt es sich um Forschungsberichte, Personalakten, Denkschriften und Korrespondenzen mit staatlichen Stellen und anderen Wissenschaftlern. Als Gegenpart auf staatlicher Seite fungieren hier die Bestände des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft (­später Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft), des Ministeriums für Wissenschaft und Technik, der Staatlichen Plankommission sowie der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, die im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde aufbewahrt werden. Zusätzlich wurden die Ausgaben 80 Hubertus Knabe, Neue Soziale Bewegungen im Sozialismus. Zur Genesis alternativer politischer Orientierungen in der DDR, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial­ psychologie 40, 1988, 551–569. Ebenfalls in diese Richtung argumentierten Burghard Brinksmeier, Die Gruppen und die Kirche, in: Jürgen Israel (Hrsg.), Zur Freiheit berufen. Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition 1981–1989. Berlin 1991, 46–60; Gareth Dale,­ Popular Protest in East Germany, 1945–1989. London, New York 2005; Lothar Probst, Bürgerbewegung, politische Kultur und Zivilgesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 19, 1991, 30–35 und Peter Wensierski, Beton ist Beton. Zivilisationskritik aus der DDR. Hattingen 1981. 81 Gerd Poppe, Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, in: Kuhrt, Opposition, 349–377, 350. Vgl. auch Sung-Wan Choi, Von der Dissidenz zur Opposition. Die politisch alternativen Gruppen in der DDR von 1978 bis 1989. Köln 1999, 188–191 und KarlWerner Brand, »Neue soziale Bewegungen« auch in der DDR? Zur Erklärungskraft eines Konzepts, in: Detlef Pollack, Dieter Rink (Hrsg.), Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt 1997, 235–251.

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Einleitung

der forstlichen Fachzeitschriften Sozialistische Forstwirtschaft82 und Archiv für Forstwesen83 sowie die Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden84 ausgewertet. Hinzu kommen die Gespräche mit Wissenschaftlern, die ab den 1950er Jahren mit der Erforschung immissionsbedingter Waldschäden befasst waren. Die Debatte innerhalb von Staats- und Parteiapparat wird nahezu ausschließlich aus Beständen des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde und dem SAPMO-Archiv am gleichen Ort rekonstruiert. Als Archivalien liegen hier Verwaltungsakten, Hausmitteilungen, Stellungnahmen, Sachstandberichte, Denkschriften, Vorlagen für Beschlüsse, Politbüro- und Ministerratsbeschlüsse, Tageskopien, Redemanuskripte und Gesprächsnotizen vor. Ergiebig im Sinne der in dieser Arbeit gestellten Fragen waren die Bestände des MUW, des Ministeriums für Gesundheitswesen, die Abteilungen Grundstoffindustrie und Landwirtschaft im ZK der SED sowie die Büros Mittag und Felfe. Hilfreich war ein Gespräch mit Hans Reichelt, der 1953/54 sowie von 1955 bis 1963 Minister für Land- und Forstwirtschaft und zwischen 1971 und 1990 Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft war. Für die Aufarbeitung der 1980er Jahre kam ein wichtiges Quellenkorpus hinzu: die Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit, die von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) verwahrt werden. Hier erwiesen sich die Bestände XVIII (Volkswirtschaft), XX (Staatsapparat, Kirche, Kunst, Kultur und Opposition) und der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) als aufschlussreich. Um die Geschichte der Umweltgruppen nicht ausschließlich auf Grundlagen von MfS-Berichten schreiben zu müssen, wurden zahlreiche in den Gruppen Aktive zu ihren Erfahrungen befragt. Hinzu kam eine Auswertung von Samisdat-Publikationen, die außer im Fall der Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, der Arche Nova und der Umweltblätter nur stichpunktartig erfolgen konnte. Eine wichtige atmosphärische Ergänzung stellte der Fotobestand des Robert-Havemann-Archivs dar.

82 1947–1951: Forstwirtschaft-Holzwirtschaft; 1951–1953: Der Wald; 1953–1961: Forst und Jagd; 1962–1978: Die Sozialistische Forstwirtschaft; 1978–1989: Sozialistische Forstwirtschaft. 83 Erschien zwischen 1952 und 1972. Das Presseamt beim Ministerrat entzog die Lizenz. 84 Bis 1961 Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden.

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Aufbau der Arbeit  

Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich neben Einleitung und Fazit in vier Kapitel, die sich jeweils mit einem Jahrzehnt der DDR-Geschichte befassen. Die naheliegende Frage, ob sich diese strenge chronologische Gliederung inhaltlich begründen lässt, kann mit guten Gründen bejaht werden. Zum einen geht es nicht darum, ein Datum oder ein Ereignis sklavisch einem Jahrzehnt zuzuordnen, sondern die markanten Entwicklungsmerkmale einer Dekade herauszustellen. Zum anderen hilft der historische Zufall. Erich Zieger, der bedeutendste Rauchschadenforscher der DDR in den 1950er Jahren stirbt 1960, die Mauer wird 1961 errichtet, der Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker erfolgt 1971, ein Jahr später wird das Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft gegründet, und die SPIEGEL-Serie, die in der Bundesrepublik die Waldsterbensdebatte anstieß, erschien 1981. Die beiden Wissenschaftler Reinhold Lingner und Erich Zieger stehen dabei in den 1950er Jahren im Mittelpunkt. Beide, der eine überzeugter Kommunist, der andere bürgerlicher Herkunft, trafen mehrmals aufeinander, tauschten sich aus und konnten so ihre umweltpolitischen Konzepte weiterentwickeln. Während Lingner die lähmenden Auswirkungen des 17. Juni 1953 zu spüren bekam, sah sich Zieger einem zunehmenden Einfluss der SED auf die Hochschullandschaft gegenüber. Noch stärker erfuhr dies Hans-Günther Däßler, die zentrale Figur des 1960er Jahre-Kapitels. Der Pflanzenchemiker und Rauchschadenforscher offenbart dabei die ganze Ambivalenz dieses Jahrzehnts. Zum einen verschloss der Mauer­ bau die ›Exitoption‹ für Wissenschaftler, und mit der Implementierung der 3.  Hochschulreform sicherte die SED ihre Anleitung der Universitäten weitestgehend ab. Zum anderen ermöglichte die von Ulbricht angestrebte Modernisierung  – manifestiert in der Wirtschaftsreform NÖSPL  – eine in der DDR-Geschichte einmalige Einbeziehung von Wissenschaftlern in politische Entscheidungsprozesse. Erich Honecker drängte nach seinem Machtantritt den Einfluss der Wissenschaftler im Politikbetrieb zurück. Im Zentrum der Analyse steht in den 1970er Jahren die neugeschaffene Umweltbürokratie mit dem MUW und Hans Reichelt an der Spitze. Die von Joachim Radkau aufgeworfene Frage nach den »Akti­v itäten« des Ministeriums wird hier ebenso behandelt wie die Handlungsmöglichkeiten des Nicht-SED-Mitglieds Reichelt im Zusammenspiel mit dem Apparat des Zentralsekretariats. Gegen Ende des Jahrzehnts weitet sich der Blick über die DDR hinaus, wenn die DDR in internationale Aushandelsprozesse zu Fragen der Immissionsbelastung und Luftreinhaltung einbezogen wird. Als Unterhändler fungierte hier ebenfalls Hans Reichelt.

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Einleitung

Das Kapitel über die Ereignisse in den 1980er Jahren ist das umfangreichste. Für diese Dekade liegt das meiste Material in den Archiven, deren Angaben mit den Ergebnissen von Zeitzeugeninterviews ergänzt, verknüpft und vertieft werden können. Mit den kirchlichen Umweltgruppen kommt zudem eine neue Akteursgruppe hinzu, die eine starke Binnendifferenzierung aufweist. Als zentrale Person steht dabei zunächst Hans-Peter Gensichen im Fokus. Der Leiter des Kirchlichen Forschungsheimes in Wittenberg beschäftigte sich seit Mitte der 1970er Jahre mit konzeptionellen Fragen des Umweltschutzes und gab zeitgleich mit dem Beginn der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte erste staatlich nicht sanktionierte Publikationen zu Umweltfragen heraus. Die Vernetzungsbestrebungen der verschiedenen Gruppen zu einer ›Gegenöffentlichkeit‹ sowie die verschiedenen Gegenstrategien des Regimes  – Überwachung und Zersetzung, Beteiligungsmöglichkeiten sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Umweltsituation  – werden zentrale Themen dieses Kapitels sein. Mit der Radikalisierung und Politisierung der Gruppen, ihrer Emanzipation über ihren ursprünglichen engen Themenkanon hinaus und hin zu einer grundsätzlichen Infragestellung der bestehenden politischen Ordnung schließt diese Untersuchung ab. Der Überfall des MfS auf die Umweltbibliothek in OstBerlin im November 1987 war eine entscheidende Wegmarke auf diesem Entwicklungsweg. Die 1988 gestartete Unterschriftenaktion »Eine Mark für Espenhain« setzt dieser Arbeit dann das zeitliche Ende. Da die für die Untersuchung zentralen Institutionen bisher in der Forschung nur ungenügend aufgearbeitet sind, wird diese Arbeit immer auch – im nötigen Umfang, um die Hintergründe und Spielräume der einzelnen Akteure aus­ reichend darstellen zu können – Institutionengeschichte sein.

1. Die 1950er Jahre – zwei Pioniere

Wie sollte der Staat aussehen, der nach 1945 aus Ruinen auferstand? Diese Frage stellte sich nicht nur in einem abstrakten gesellschaftlichen oder politischen Sinne, sondern angesichts der Kriegszerstörungen und Reparationen unter realen, physischen Aspekten. In konkretere Formen gefasst, musste darüber entschieden werden, wo Städte entstehen, Bäume gepflanzt, Straßen angelegt oder Industriereviere platziert werden sollten. Am 1.  Juni 1953 beriet das Zentral­ komitee der SED über den »Plan für die Durchführung der ›Umgestaltung der Natur in Deutschland‹«, der Antworten auf diese Frage geben konnte. Im Februar 1954 erging die Aufforderung an die Plankommission, einen Plan über Umfang und Zeitpunkt aller Maßnahmen dieses Plans auszuarbeiten. Der Kopf dahinter war der Landschaftsarchitekt Reinhold Lingner. Er war einer der wenigen Landschaftsplaner, kommunistisch und der SED loyal, der nicht mit dem Regime der Nationalsozialisten verstrickt gewesen war. Nach 1945 erkannte er, welche Möglichkeiten sich ihm boten, beim Wieder- und Neuaufbau des Landes nach sozialistischen Gesichtspunkten mitzuwirken. Lingner hatte sich intensiv mit dem Natur- und Umweltverständnis der marxistischen Ideologie auseinandergesetzt und entwickelte die auf seinen Überlegungen fußende ›Landschaftsdiagnose‹. Die Entwicklung, Ausführung und Auswirkungen dieses Plans bilden den Schwerpunkt des ersten Teils dieses Kapitels. Dieser Plan, wie die Fragen der Landschaftsplanung allgemein, stand in einem engen Zusammenhang mit Waldschäden. Die Emissionen von Verkehr, Siedlungen und Industrieanlagen waren zu einem großen Teil verantwortlich für Luftverunreinigungen. Deren Verteilung wurde damit zu einem entscheidenden Faktor für den gesundheitlichen Zustand der Wälder und auf die Fragen der Verteilung hatten eben jene Pläne einen großen Einfluss. Darauf aufbauend führt der zweite Teil  des Kapitels näher zum eigentlichen Objekt  – dem Wald  – und legt den Schwerpunkt auf den Forstwissenschaftler Erich Zieger. Zieger, Professor an der Forstfakultät in Tharandt, lernte Lingner auf einer Tagung 1955 kennen. Wenig später begann Zieger mit den Vorbereitungen zu einem Forschungsprojekt mit dem Titel ›Großraumdiagnose‹. Hier lag mehr vor als nur eine etymologische Gemeinsamkeit zu den Arbeiten Lingners. Zieger orientierte sich bei seinen Forschungsvorhaben an den progressiven Ansätzen der Landschaftsdiagnose. Dies schmälert seinen Ruhm, nach dem Zweiten Weltkrieg die lange Tradition der Tharandter Rauchschadenforschung wiederbelebt zu haben, in keiner Weise. Es betont vielmehr sowohl die Tragfähigkeit von Lingners Plänen als auch Ziegers Urteilsvermögen.

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Die 1950er Jahre – zwei Pioniere

Beide Vorhaben standen auch für die in den 1950er Jahren in Politik und Wissenschaft vorhandene Überzeugung, mittels Großplanung die Entwicklung der Gesellschaft effektiv steuern zu können. In dieser Ost und West überspannenden Entwicklung müssen Lingners und Ziegers Arbeiten verortet werden. Abschließend geht es auch um die damit verbundene Frage, welche Chance auf Umsetzung Konzepte hatten, die in wesentlichen Punkten von den akzeptierten Meinungen in der Führungsriege der SED abwichen. Dies umfasst den Aspekt, wie weit der Arm der SED in den 1950er Jahren in die akademische Welt reichte, welchen Spielraum sie lassen musste und wie stark sie disziplinieren konnte.

1.1 Reinhold Lingner – ein Visionär In einer der wenigen Monographien zur Umweltgeschichte der DDR schrieb Hubertus Knabe 1993, dass die Forschungen an einer Landschaftsdiagnose der DDR von »großer Bedeutung für die Frühphase des Umweltengagements« waren.1 Diesem Befund ist ohne Weiteres zuzustimmen. Knabe verzichtete in seinem breit angelegten Buch auf eine detaillierte Analyse und führte nicht weiter aus, was Inhalt dieser Diagnose war, wer sie angestoßen hatte oder daran beteiligt war oder welche Ergebnisse sie brachte. In ähnlich kursorischer Weise gingen auch andere, im weiteren Sinne historische Arbeiten über die Landschaftsdiagnose hinweg.2 Erst bei Michel Dupuy3 und Willi Oberkrome4 fanden sich erläuternde Angaben, die den Umfang des Forschungsvorhabens Landschaftsdiagnose erkennen ließen. Die beiden Autoren stützten sich bei ihren Arbeiten auf die Ergebnisse einer reichen und lebendigen Forschungstradition aufseiten der Landschafts- und Umweltplaner, die Leben und Wirken bedeutender Protagonisten dieses Fachgebiets beschrieb und auswertete. Dieses Fachgebiet zeichnet sich jedoch durch eine starke gestalterische Komponente aus, weshalb Fragen der Ästhetik und ihrer Entwicklung in Aufarbeitungen mehr Beachtung geschenkt wurde als spezifisch historischen Fragestellungen.5 Diese 1 Knabe, Umweltkonflikte, 205. 2 Vgl. Roesler, Umweltprobleme, 12; Gerhard Würth, Umweltschutz und Umwelt­ zerstörung in der DDR. Frankfurt u. a. 1985, 23 oder Blackbourn, Conquest, 407. 3 Dupuy, Les scientifiques, 327–328. 4 Willi Oberkrome, »Deutsche Heimat«. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900–1960). Paderborn u. a. 2004, 340–343. 5 Die Arbeiten von Hermann Behrens sowie von Nikola Knoth und Kerstin Nowak sind hier als gelungene Beispiele einer differenzierten, historischen Herangehensweise zu nennen. Hermann Behrens, Das gesellschaftliche Umfeld der Landschaftsdiagnose und ihre Bedeutung aus der Sicht angrenzender Fachgebiete, in: Hiller, Landschaftsdiagnose, 51–72 oder Nikola Knoth, Kerstin Nowak, Eine grüne SED? Aus dem Protokoll einer ZK-Sekretariats­ sitzung, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 35, 1993, 72–79.

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Basis wird auch im folgenden Kapitel eine Rolle spielen, wobei eine stärkere Kontextualisierung angestrebt wird. Die Konzeption der Landschaftsdiagnose und der Lebensweg ihres Entwicklers  – Reinhold Lingner  – sind untrennbar mit dem Aufbau des ostdeutschen Staates verbunden. Lingner versuchte seine Landschaftsplanung im Dialog mit der marxistischen Theorie zu entwickeln. Er orientierte sich dabei an Vorstellungen zum Verhältnis Mensch-Umwelt, die er aus den Schriften von Marx und Engels herausgelesen hatte. Nicht nur aus dieser Warte heraus ist zunächst eine Annäherung an grundlegende Natur- und Umweltkonzepte im Kommunismus sinnvoll. Dies dient auch der Beantwortung der Frage, welche Formen das von Knabe aufgeworfene Umweltengagement in marxistischen Bahnen annehmen konnte.

1.1.1 Der Sozialismus und die Umwelt In den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels gab es weder eine Theorie noch ein geschlossenes Modell vom Umgang mit der Natur. Es fanden sich verstreut, Christiane Busch-Lüty nannte es »Spurenelemente«6, einzelne Ausführungen zur Thematik, die aber kein einheitliches Bild ergaben und sich zum Teil auch widersprachen. Für Karl Marx war der Mensch ein Teil der Natur, die Arbeitskraft des Menschen eine Naturkraft. »Der Mensch lebt von der Natur.«7 Um sein Überleben zu sichern, sei der Mensch gezwungen, in einen beständigen Stoffaustausch mit der Natur zu treten. Diese »Aneignung der Natur« erfolge mittels des Produktionsprozesses.8 Stoffaustausch, Aneignung und Produktionsprozess beschwüren allerdings einen Konflikt mit der Natur herauf.9 Ziel der menschlichen Gesellschaft müsse es sein, diesen Konflikt zu überwinden. Vornehmlich sei die kapitalistische Produktionsweise schuld an der fortschreitenden Zerstörung der Natur. Marx bemerkte dazu, dass die Kultur überall dort, wo sie nicht bewusst beherrscht werde, Wüsten hinter sich zurücklasse.10 6 Busch-Lüty, Umweltproblematik, 20. 7 »Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.« Karl Marx, Ökonomischphilosophische Manuskripte. Berlin (Ost) 1973, 516. 8 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Berlin (Ost) 1961, 619. Vgl. auch Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. I. Band. Berlin (Ost) 1962, 192. 9 Alfred Kosing, Mensch-Gesellschaft-Umwelt, in: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus, 1976, 790–801, 791. 10 Karl Marx, Briefe. Januar 1868 bis Mitte Juli 1870. Berlin (Ost) 1965, 53. Vgl. auch Werner Titel, Umweltschutz in der DDR dient dem Wohl des Menschen, in: Marxistische Blätter 10, 1972, 49–53, 49.

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Diese Wüsten seien die Folgen einer destruktiven Produktionsweise, die nur auf den »unmittelbarsten Nutzeffekt der Arbeit«11 ausgelegt sei. Langfristige Folgen dieses »Raubbaus mit den Gütern der Natur« fänden im Kapitalismus keine Beachtung. Schon 1845 hatte Engels sich mit den sozialen Folgen einer derartigen Wirtschaftsweise auseinandergesetzt und sie als Mord qualifiziert.12 Marx beschrieb dazu die Gefahr, dass die Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Kapitalismus die Arbeiterschaft der Natur entfremdeten. Die Lebensbedingungen in den Arbeitervierteln machten es unmöglich, sich als Teil der Natur zu begreifen.13 Ganz anders dagegen sollte sich die Grundlage der Produktion im Kommu­ nismus gestalten. Für Marx und Engels war der Stoffwechsel mit der Natur nicht mit dem Produktionsprozess abgeschlossen, sondern erst, wenn die Stoffe nach dem Konsum wieder der Natur zurückgegeben worden seien und zur Grundlage zukünftiger wirtschaftlicher Tätigkeit würden.14 Dadurch sollte eine »menschliche Gesellschaft« ermöglicht werden, deren Wesensmerkmal die als notwendig erachtete »Versöhnung des Menschen mit der Natur und mit sich selbst« sei.15 Im Kommunismus sei schließlich ein Zustand der »wahrhafte[n] Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur« erreicht16 und von einer »Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen zum ersten Mal die Rede«.17 Harmonie implizierte im Marx’schen und Engel’schen Sinne immer auch Herrschaft. Diese Herrschaft und Harmonie werde erlangt und begründet mit 11 Friedrich Engels, Dialektik der Natur. Berlin (Ost) 1962, 454. 12 »Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel […], so ist das ebensogut Mord, wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber Mord bleibt Mord.« Friedrich Engels, Lage der Arbeitenden Klassen in England. Berlin (Ost) 1972, 324–325. 13 »Der Schmutz, die Versumpfung, Verfaulung des Menschen, der Gossenablauf der Zivilisation wird ihm ein Lebenselement. Die völlig unnatürliche Verwahrlosung, die verfaulte Natur, wird zu seinem Lebenselement.« Marx, Ökonomisch-philiosophische Manuskripte, 548. Vgl. dazu auch Reimar Gilsenbach, Karl Marx über die Ethik des menschlichen Verhaltens zur Natur. Vortrag auf dem Karl-Marx-Kolloquium der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR am 23. März 1983 in Karl-Marx-Stadt, 4, enthalten im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft GHG/KFH 52. 14 Vgl. ebd., 7. 15 Friedrich Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. Berlin (Ost) 1976, 505. 16 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 536. 17 Friedrich Engels, Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft. (Anti-­ Dühring). Berlin (Ost) 1962, 107.

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Wissen über Zusammenhänge und Prozesse in der natürlichen Umwelt.18 Mit der Akkumulation von Wissen gelinge es dem Menschen, das »Reich der Notwendigkeit« zu verlassen, d. h. den anfangs skizzierten, mit äußerem Zwang verbundenen Stoffaustausch mit der Natur auf einem niedrigen Niveau mit dem Ziel, das eigene Überleben zu sichern. Die auf Erkenntnis gestützte Herrschaft erlaube den Übertritt in das »Reich der Freiheit«.19 Hier vollziehe sich die Interaktion mit der Natur nicht mehr untergeordnet unter eine »blinde Macht«, sondern nach rationalen Vorgaben. Bereits diese kurzen Ausführungen erlauben zwei Schlüsse. Erstens wird deutlich, welchen Stellenwert der wissenschaftlich-technische Fortschritt in der sozialistischen Ideologie einnahm. Er war der Schlüssel, die Herrschaft und Umgestaltung der Natur überhaupt ausüben und ausführen zu können. Zweitens ging es Marx und Engels nicht um eine Bewahrung der Natur in einem bestimmten Zustand. Für sie war es selbstverständlich, dass der Mensch gestaltend in seine natürliche Umwelt eingriff. Die »sinnliche Welt« sei nichts für die Ewigkeit Gottgegebenes, sondern der Mensch modifiziere die Umwelt entsprechend seiner veränderten Bedürfnisse und den Notwendigkeiten der sozialen Ordnung. Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist eindeutig als Herrschaftsverhältnis ausdefiniert, eine Umgestaltung der natürlichen Gegebenheiten ist erlaubt und sinnvoll.20 Die beiden Vordenker des Sozialismus haben keine in sich stimmige, konsistente Naturtheorie formuliert.21 Die angeführten Einlassungen zur Natur mussten aus dem umfangreichen Werk herausgefiltert werden. Warum ein solches Modell bei Marx und Engels fehlte, hat zwei Gründe. Erstens sah Marx die »Reproduktionsfähigkeit der Natur« als unbegrenzt, unendlich und unzerstörbar an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die »Einwirkungskraft« des Menschen auf die Natur einmal ein solches Maß annehmen könne, das ausreiche, eben diese Reproduktionsfähigkeit zu vernichten.22 Zweitens verfassten Marx 18 Vgl. Gilsenbach, Ethik, 2–3. 19 Vgl. Engels, Anti-Dühring, 264 sowie ausführlich zur Konzeption der Reiche der Notwendigkeit und Freiheit Wolfgang Methe, Ökologie und Marxismus. Ein Neuansatz zur Rekonstruktion der politischen Ökonomie unter ökologischen Krisenbedingungen. Hannover 1981, 710–731. 20 Vgl. Siegfried Grundmann, Erwin Stabenow, Beziehungen von Mensch und Umwelt, in: Wirtschaftswissenschaft, 1971, 1774–1784, 1775. Die Natur, hier verstanden als natürliche Umwelt des Menschen, ist »kein ein für allemal gegebener statischer Zustand.« Bernd Bittighöfer, Herbert Edeling, Hans Kulow, Theoretische und politisch-ideologische Fragen der Beziehung von Mensch und Umwelt, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1972, 60–79, 65. Vgl. auch Füllenbach, Umweltschutz, 51. 21 Oberkrome spricht von einem »umwelttheoretischen Vakuum«. Oberkrome, Deutsche Heimat, 338. 22 Vgl. Alfred Leonhardt, Marx’ Antwort auf Umweltfragen, in: IPW-Berichte, 1974, ­39–45, 39–40 und Jürgen Bauerschmidt, Ideologische Grundlagen, in: Rösler, Schwab, Lambrecht, Naturschutz, 72–76, 74.

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und Engels ihre Arbeiten vor dem Hintergrund der Industrialisierung. Die sozialen Umwälzungsprozesse und Problemlagen, die daraus entstanden, waren der Hauptgegenstand ihrer Überlegungen. Hier und nicht bei Umweltfragen lag der Kern der sozialistischen Ideologie. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Begriff der Arbeit. Mit der ›Arbeitswertlehre‹ entwickelte Marx ein Bewertungsmodell von menschlicher Arbeit, welches das fragile Denkgebäude einer marxistischen Naturethik zum Einsturz brachte. Nach der Arbeitswertlehre oder -theorie bemaß sich der Tauschwert eines Gegenstands oder eines Guts, das aus der Produktion hervorging, allein an dem Ausmaß menschlicher Arbeit, das zu seiner Herstellung nötig gewesen war.23 Wurde die Arbeit aber zum alleinigen wertbildenden Faktor, bedeutete dies im Umkehrschluss nichts anderes, als dass natürliche Ressourcen wie Luft, Boden und Wasser dem Produktionsprozess kostenfrei zur Verfügung standen, sie wurden »tauschwertlos«.24 Bereits Marx selbst kritisierte 1875 diese verkürzte Auslegung seiner Arbeitswertlehre durch die Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei und wies darauf hin, dass die Arbeit nicht die »Quelle allen Reichtums« sei. Die Natur sei vielmehr die Quelle aller Gebrauchswerte, und diese seien die Basis des sachlichen Reichtums.25 Die Arbeitswerttheorie wurde allerdings ein mächtiger Teil  und ein Fundament der marxistischen Theorie im Allgemeinen. Damit war ihr jedoch ein »Vorurteil gegen den Umweltschutz« eingebaut, wie der Ökonom und Wachstumskritiker Hans Christoph Binswanger betonte.26 Gegen die in sich ge­ schlossene und stringente Arbeitswerttheorie fand sich in den Werken von Marx und Engels nur ein »moralischer Imperativ kommunistischen Verhal 23 Für Marx hatte die Arbeit einen so hohen Stellenwert, weil er in ihr die Grundlage aller gesellschaftlichen Entwicklung sah. Vgl. zur Arbeitswertlehre ebd., 73, Hansjörg F. Buck, Umweltbelastung durch Müllentsorgung und Industrieabfälle in der DDR, in: Kuhrt, Endzeit, 455–497, 461, Busch-Lüty, Umweltproblematik, 21–22, Günter Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR. Marburg 1998, 294 und Horst Reinhardt, Umwelt. Wirklichkeit und Wert im gesellschaftlichen Dasein des Menschen, in: Horst Reinhardt, Hans-Albrecht Lütke, Ernst Dahlke (Hrsg.), Mensch und Umwelt. Umweltschutz. Leipzig 1972, 6–14, 10. 24 In marktwirtschaftlichen Systemen gibt es die Lehre der »freien Güter«. Der Gegensatz zur marxistischen Auffassung liegt darin, dass bei den »freien Gütern« von einer prin­ zipiellen Unbegrenztheit ausgegangen wird. Sie sind in einem solch großen Maße vorhanden, dass eine Preisbildung, die ja ein Indikator der Knappheit ist, unnötig ist. Jedes Individuum darf von »freien Gütern« soviel konsumieren, bis es seine persönliche Sättigung erreicht hat. Solche Überlegungen spielen im Marxismus keine Rolle. Naturressourcen werden nicht bepreist, weil sie dem Produktionsprozess prinzipiell ohne Arbeitsaufwand zur Verfügung stehen. Vgl. Höhmann, Seidenstecher, Vajna, Umweltschutz, 29 und Kloepfer, Umwelt­ recht, 91. 25 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms. Berlin (Ost) 1968, 15. 26 Hans Christoph Binswanger, Eine umweltkonforme Wirtschaftsordnung, in: Martin P. von Walterskirchen (Hrsg.), Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. München u. a. 1972, 127–141, 128.

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tens der Menschen zur Natur«27 als Einschränkung. Im dritten Teil des Kapitals schrieb Marx: Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (gute Familienväter) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.28

Nach 1945 traf die Theorie auf die Realität im östlichen Teil Deutschlands. Es galt zunächst, die elementarsten Lebensbedingungen wie Wohnraum, Lebensmittel sowie Wasser- und Energieversorgung sicherzustellen.29 Verbunden mit dem raschen Wiederaufbau war das – von der UdSSR vorgegebene – Ziel der SED, eine eigene Schwerindustrie zu errichten. Beides zusammen führte zu einer exzessiven, rohstoffintensiven Produktionsweise. Der Handlungsspielraum der politischen Entscheidungsträger in der SBZ/DDR erscheint angesichts von Kriegszerstörungen, Reparationen und wirtschaftspolitischen Vorgaben der Besatzungsmacht sehr eng und die Möglichkeiten, eine auf theoretischen Überlegungen aufbauende politische Agenda zu entwerfen, sehr begrenzt. Hinzu kam, dass die Sicherung der eigenen politischen Herrschaft nach dem 17. Juni 1953 innerhalb der SED zu einer Ausschaltung kritischer Stimmen und in der Wirtschaftsauffassung zu einer »Konservierung der dogmatischen Position« führte.30 Im Sinne der Arbeitswertlehre wurde in der DDR weitestgehend der Tauschwert die Grundlage für die Preisbildung der Güter. Damit schlug sich die verbrauchte Menge an Naturressourcen nicht im Verbraucherpreis nieder. Es gab aber von Anfang an auch gegenläufige Bestrebungen. Die Planwirtschaft bot die grundsätzliche Möglichkeit, die Bedürfnisse der Gesellschaft umfassend zu planen. Es wurde zu einer politischen Entscheidung, ob ein definiertes Maß an Umweltqualität zu den Bedürfnissen zählte, ob also der Umweltschutz als Ziel in den Plan auf genommen wurde.31 Ein wichtiger Vertreter 27 Horst Kurth, Der Wald im 21. Jahrhundert – eine ökologische Entwicklungsaufgabe im Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, in: Natur und Umwelt, 1986, 5–27, 22. 28 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. III. Band. Berlin (Ost) 1983, 784. 29 Die Überwindung dieses Nach-Kriegszustandes zu geordneten Verhältnissen versuchte Fulbrook mit ihrem »Normalisation«-Ansatz zu fassen. Mary Fulbrook, The Concept of »Normalisation« in the GDR in Comparative Perspective, in: Mary Fulbrook (Hrsg.), Power and Society in the GDR, 1961–1979. Power and Society in the GDR, 1961–1979. The »Normalisation of Rule«? New York 2009, 1–30. 30 Höhmann, Seidenstecher, Vajna, Umweltschutz, 29. 31 Vgl. Joan DeBardeleben, The Environment and Marxism-Leninism. The Soviet and East German Experience. Boulder 1985, 50: »Public ownership of the means of production allows decision-making in the interests of the whole population and central planning permits scientific decision-making which can take environmental factors into account.« Siehe auch Radkau, Natur und Macht, 7.

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dieser Auslegung der Planwirtschaft war Reinhold Lingner. Seine Landschaftsdiagnose erlaubt eine Analyse der geistigen Physiognomie der SED-Spitze in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Er legte den höchsten Parteigremien einen Plan vor, der von marxistischen Positionen aus konkrete Handlungsvorschläge für die Ausgestaltung des Mensch-Natur-Verhältnisses in der DDR machte.

1.1.2 Ein erster Ansatz: Die Landschaftsdiagnose Die DDR war noch nicht gegründet, als sich Reinhold Lingner um Gelder für ein Forschungsprojekt bemühte. Sein Ziel war eine Befundskartierung,32 eine Aufnahme der gravierendsten Landschaftsschäden auf dem Gebiet der sowje­ tischen Besatzungszone. Lingner war bestürzt über den Zustand der Landschaft in Deutschland.33 »Der Gesamtorganismus unserer Landschaft ist krank«, fasste er die Situation zusammen und gab dafür auch eine Begründung: In der jetzt vor dem Abschluss stehenden Epoche planloser Wirtschaft beutete der Mensch die Kräfte und Schätze der Natur aus, als seien sie unerschöpflich. Das Prinzip der bisherigen Gesellschaft erlaubte dem Individuum, sich zum Schaden der Gesamtheit durch Raubbau an der Landschaft zu bereichern. Die Entwicklung der Technik ermöglichte ihm, sogar Naturkräfte aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der Abbau der Bodenschätze, die Gewinnung von Wasserkraft und Nutzung des Bodens wurde ohne Rücksicht auf die Folgen für den Naturhaushalt betrieben. Bedeutende fruchtbarste Landschaftsteile wurden auch in Deutschland bereits ausgeraubt und zerstört.34

Aber Lingner gab sich hoffnungsvoll. In der geschichtlichen Epoche, die jetzt beginne, sei die Menschheit in der Lage, die Folgen dieses gedankenlosen Umgangs mit Natur und Landschaft zu beseitigen. Besonders die Möglichkeiten der Planwirtschaft begeisterten ihn: Der Aufbau einer intensiv bewirtschafteten Kulturlandschaft im Zusammenhang mit der Wirtschaftsplanung erfordert eine gründliche und umfassende Diagnose, bevor an die Heilung gegangen werden kann.35

32 Hoffmann betonte, dass der Begriff ›Landschaftsdiagnose‹ erst 1950 aufkam, vorher sprach Lingner immer von einer Befundskartierung. Ruth Hoffmann, Meine persönlichen Erfahrungen als Mitarbeiterin bei der Landschaftsdiagnose, in: Hiller, Landschaftsdiagnose, 121–128, 122 33 BArch DH 1/5725 Reinhold Lingner, Präambel betreffend die von der Abteilung Landschaft im Rahmen eines Forschungsauftrages im Jahr 1950 vorgesehene Landschaftsbefundkartierung der Ostzone. Berlin. 6.9.1949, pag. 1. 34 Ebd., 1. 35 Ebd.

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Lingner wollte die von der kapitalistischen Wirtschaftsweise herrührenden Landschaftsschäden beheben. Die Heilung müsse dabei unbedingt planhaft ausgestaltet werden und ihr müsse eine umfassende Anamnese vorgeschaltet sein. In seinem Ansatz vereinte Lingner zahlreiche Elemente der Großplanung. Er ging von einer grundsätzlichen »Gestaltbarkeit der Welt« aus, über die die Fehler der Modernisierung ausgemerzt werden sollen.36 Lingners Einstellung ist für die Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht überraschend. Als Sozialist war er einerseits von den Erfolgen der sowjetischen Planwirtschaft überzeugt, andererseits war der Begriff der Planung bedingt durch die Kriegserfolge der UdSSR über den kommunistischen Machtbereich hinaus positiv besetzt.37 Allerdings weisen einige der Ausführungen Lingners einen Konflikt zu zentralen sozialistischen Annahmen auf. Seine Überlegungen, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt die Möglichkeiten zur anthropogenen Umweltbeeinflussung, aber auch das Zerstörungspotential vergrößere, waren im sozialistischen Umfeld in dieser Klarheit bis 1949 noch nicht formuliert worden. Hier wurde die »axiomatische Verknüpfung von Planung und Moderne« brüchig.38 Bemerkenswert war auch, dass Lingner den organischen Charakter der Landschaft betonte. Landschaft sei etwas, das einen Organismus habe, der krank werden, den man aber auch wieder heilen könne. Solche Vorstellungen hatten sich während seines Wirkens bis 1949 schrittweise entwickelt. Der Lebensweg Lingners Reinhold Lingner, 1902 in Berlin geboren und in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, beendete 1927 sein Studium als ›Staatlich geprüfter Gartenbautechniker‹.39 Danach arbeitete er als leitender Gartenarchitekt für die Amtliche Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Belgien.

36 Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung jenseits der politischen Systeme. Planung im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, 398–406, 405 (Zitat) und Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, 305–326, 311. 37 Ebd., 313 und Peter C. Caldwell, Plan als Legitimationsmittel, Planung als Problem. Die DDR als Beispiel staatssozialistischer Modernität, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, 360–374, 363. 38 Doering-Manteuffel, Ordnung, 405. 39 Alle biographischen Angaben sind, wenn nicht gesondert erwähnt, entnommen aus Rüdiger Kirsten, Die sozialistische Entwicklung der Landschaftsarchitektur in der Deutschen Demokratischen Republik. Ideen, Projekte und Personen – unter besonderer Berücksichtigung des Wirkens von Reinhold Lingner. Dissertation A. Weimar 1989, 23–34; Rüdiger Kirsten, Die besondere Stellung Reinhold Lingners im Prozeß der Entwicklung der Landschaftsarchitektur in der DDR, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung,

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Neben seiner Mutter, die Lingner als überzeugte Pazifistin beschrieb, dürfte seine Tätigkeit in Belgien zu seiner eigenen humanistischen und pazifistischen Überzeugung beigetragen haben. Lingner wollte die Friedhöfe als Mahnung gegen den Krieg verstanden wissen. Dies bewies etwa sein Zusammentreffen mit Käthe Kollwitz, deren Sohn in Belgien gefallen und beerdigt worden war.40 Lingner geriet immer heftiger in Konflikt mit dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge, dessen leitende Persönlichkeiten die Friedhöfe zu Heldengedenkstätten ausbauen wollten. Als Lingner 1933 seine Sympathien für den Kommunismus offen zeigte und unter seinen Kollegen in Belgien Sammlungen für die Rote Hilfe Deutschlands durchführte, verschärften sich die Ausein­ andersetzungen mit seinen Vorgesetzten. Nach seiner Heirat mit der Kommunistin Alice Kerling im Oktober 1933 in Berlin wurde Lingner von seiner vorgesetzten Behörde, dem Auswärtigen Amt, fristlos entlassen. Das Paar floh noch 1933, nach Hausdurchsuchungen und Gestapo-Verhören, über Belgien nach Frankreich. Bis 1936 hielten sich Lingner und seine Frau in Südfrankreich auf, mussten dann aber aufgrund der finanziellen Situation nach Deutschland zurückkehren. Wegen seiner »politischen Belastung« fand Lingner zunächst keine Arbeit.41 Zwischen 1937 und 1942 arbeitete er dann als angestellter Gartenarchitekt und wirkte sogar bei den Planungen zur Reichsgartenschau in Essen 1938 mit. Seine Entlassung am 30. April 1942 war Folge der Denunziation durch Josef Pertl, Blutordensträger und Präsident der Gesellschaft für Gartenkunst. 1950 war die Wiederaufnahme Pertls in die Gesellschaft der Grund für Lingner, diese zu verlassen.42 Lingner machte sich 1943 im damaligen Wartheland selbstständig, wo er Aufträge für die Gestaltung von Grünanlagen in kleineren Städten erhielt. Im letzten Kriegsjahr wurde er von der Organisation Todt dienstverpflichtet, um an der Ostfront militärische Tarnpflanzungen vorzunehmen. Unmittelbar nach Kriegsende ging Lingner nach Berlin und leitete ab dem 1. Juni 1945 das Hauptamt für Grünplanung beim Magistrat von Groß-Berlin. Seine Hauptaufgaben bestanden in der Beseitigung des Trümmerschutts sowie der Erfassung ›wilder‹ Soldatenfriedhöfe im Stadtgebiet. 1946 legte er einen Plan für die Umgestaltung des Tiergartens vor, der aufgrund der Berlin-Blockade 1948 nicht umgesetzt werden konnte. Landschaft und Planung in den neuen Bundesländern. Berlin 1999, 131–146, 135–146 und Kerstin Nowak, Reinhold Lingner. Sein Leben und Werk im Kontext der frühen DDR-Geschichte. Hamburg 1995, 9–20, wobei sich Nowak meist auf die Angaben Kirstens stützt. 40 In ihrem Tagebucheintrag vom 23. Juli 1932 erwähnte Kollwitz Lingner ausgesprochen positiv, nachdem er sich vehement für die Aufstellung ihrer Plastik Trauerndes Elternpaar auf dem Friedhof Roggeveld eingesetzt hatte. Kirsten, Stellung, 138. 41 Kirsten, Entwicklung, 27. 42 In einem Brief an die Gesellschaft schrieb Lingner am 14. September 1950 »Mit offenkundigen Verbrechern gibt es keine Gemeinschaft mehr.« Zitiert nach Nowak, Lingner, 16.

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Schon vor Blockade und Spaltung der Stadt hatte Lingner seine persönliche Loyalität mit der SBZ bezeugt. 1946 war er in die SED eingetreten und hatte seinen Wohnsitz von der Siemensstadt ins Ost-Berliner Pankow verlegt. Er war von den kommunistischen Idealen überzeugt und »von der Hoffnung bestimmt, daß Menschen, die ihrer humanistischen Überzeugung wegen ins KZ geworfen oder aus dem Land getrieben worden sind, einen Staat mit menschlichen Zügen aufbauen würden«.43 Er hatte während der Zeit des Dritten Reiches unter Verfolgung, Denunziation und Berufsverbot zu leiden gehabt und bewertete darum die bruchlose Karriere seiner Kollegen in der Bundesrepublik, die dem NS-­Regime als Landschaftsanwälte und Landschaftsplaner gedient hatten, kritisch.44 1950 war Lingner maßgeblich an den Planungen zum Walter-Ulbricht-­ Stadion – später Stadion der Weltjugend – beteiligt. Ab 1951 wirkte er als Leiter der Abteilung Landschaft am Institut für Städtebau und Siedlungswesen der neu gegründeten Deutschen Bauakademie und war in dieser Position an der Gestaltung der Stalin-Allee beteiligt. Ab 1958 arbeitete er an der Konzeption für eine ›Intelligenzsiedlung Wandlitz‹ mit, aus der später die Waldsiedlung wurde, der Wohnsitz der SED-Spitze. Im gleichen Jahr übernahm er die künstlerische Leitung der iga Erfurt, der 1. Internationalen Gartenbauausstellung der sozialistischen Länder. 1961 wurde er zum Direktor des Institutes für Gartengestaltung an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der HU Berlin berufen und damit Professor. Er erhielt 1962 den Nationalpreis III. Klasse und gestaltete die Gräber von Heinrich Mann und Johannes R. Becher. Anlässlich seines 65. Geburtstags organisierte die Deutsche Bauakademie eine Ausstellung seines Lebenswerkes im Foyer der Staatsbibliothek unter dem Titel Garten und Landschaft im Sozialismus. Am 1. Januar 1968 starb Lingner im Regierungskrankenhaus von Ost-Berlin. Ideenwelt und Konzepte Lingner beschäftigte sich fachlich zeit seines Lebens mit Park- und Grünanlagen, Friedhöfen, Erholungsheimen oder städtischer Freiraumplanung.45 Warum er mit der Präambel zur Landschaftsdiagnose ein ganzes Land in den Blick nahm, lässt sich aus den Quellen nicht abschließend rekonstruieren. Nach 43 Ebd., 20. 44 Allerdings erkannte er unabhängig von der politischen Einstellung die fachlichen Leistungen an. So würdigte er etwa während seiner Zeit als Professor an der HU Berlin in Vorlesungen die Leistungen Alwin Seiferts. 1947 verweigerte Lingner hingegen Heinrich Friedrich Wiepking-Jürgensmann eine eidesstattliche Erklärung zu dessen Vergangenheit vor dem niedersächsischen Kultusministerium. Vgl. ebd., 21. 45 Vgl. Nowak, Lingner, 65.

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David Blackbourn hat sich Lingner an den Großprojekten in der UdSSR orientierte, etwa dem ›Plan von der Umgestaltung der Natur in der Sowjetunion‹ oder dem ›Dawidow-Plan‹.46 Dem ist weitgehend zuzustimmen, denn bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hegte er eine große Bewunderung für die Vorhaben in der Sowjetunion und war begeistert von den Möglichkeiten, die die Vergesellschaftung des Eigentums bot.47 Anfang der 1930er Jahre nahm er Russischunterricht und liebäugelte mit einem Umzug nach Moskau.48 Er bezog den Stalin-Plan in sein Konzept der Landschaftsdiagnose mit ein und nannte ihn 1952 einen »Weg zum Fortschritt der Menschheit«.49 Allerdings warnte er auch vor einer blinden Übernahme der sowjetischen Erfahrungen in die DDR, da die Naturräume in beiden Ländern sehr unterschiedlich seien. Von der Aufnahme und Verarbeitung sowjetischer Vorbilder abgesehen, reifte die Motivation Lingners, ein solch umfassendes Projekt wie die Landschaftsdiagnose anzugehen, langsam in ihm heran. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen der Verhaftungen, der Emigration und des Berufsverbotes wollte er in der SBZ/DDR an dem Aufbau einer neuen Gesellschaft in Deutschland mitwirken. Teil dieses Neubeginns sollte eine komplexe Landschaftsgestaltung werden, die »zukunftsweisenden Idealen einer kommunistischen Gesellschaft entsprechen sollte«.50 Er war davon überzeugt, dass eine neu aufgebaute Gesellschaft sich auch eine neue Landschaft schaffen müsse.51 Er entwickelte, von der Ebene der konkreten Raumplanung kommend, zunehmend Ansätze eines »geschichtsphilosophisch untermauerten Entwurf[s] der gesellschaftlichen Zukunft«.52 Auf den von Dirk van Laak umrissenen Ebenen der Planung ist Lingner letztendlich in der Übergangszone der konkreten Planungspolitik anzusiedeln. 1957 sagte Lingner, dass ihm 1948 die ersten Gedanken zu einer umfassenden Erhebung aller Landschaftsschäden in der SBZ gekommen seien.53 Er erlernte das Denken in größeren ökologischen Zusammenhängen Schritt für

46 Zu dem Umfang der einzelnen Vorhaben vgl. Klaus Gestwa, Technik als Kultur der Zukunft. Der Kult um die »Stalinistischen Großbauten des Kommunismus«, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, 37–73, 42–44. 47 Allerdings fehlten bei Lingner, wie weiter unten ausgeführt wird, die vom Osteuropahistoriker Klaus Gestwa herausgearbeiteten »Zerstörungsphantasien« der stalinistischen Großprojekte. Ebd., 45. 48 Nowak, Lingner, 11. 49 Reinhold Lingner, Landschaftsgestaltung. Berlin (Ost) 1952, 64. 50 Kirsten, Stellung, 132. 51 Vgl. dazu die Ausführungen bei Gestwa, Technik, 38. 52 Laak, Planung, 307. 53 Reinhold Lingner, Die Forschungsarbeit Landschaftsdiagnose der DDR, in: Deutsche Bauakademie (Hrsg.), Landschaft und Planung. Vorträge und Diskussionen anläßlich einer Fachtagung der Deutschen Bauakedie am 27. November 1957. Berlin (Ost) 1959, 7–18, 8.

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Schritt, es waren die Anforderungen seiner Ämter, die ihn dazu zwangen. Während seiner Arbeiten am Stadtlandschaftskonzept schrieb er 1948: Veränderungen des Grundwasserhorizontes, Rauchschäden, Klimaveränderungen, landschaftsfremder Abbau von Bodenschätzen, rücksichtslose Eingriffe durch Einschnitt-Bahnen, -Straßen und -Kanäle, Unterbringung von Abraumhalden, »Beseitigung« der städtischen und industriellen Abfälle und Abwässer rufen heute so tiefgreifende Schäden hervor, daß sich ihr Einfluß im Umkreis von vielen Kilometern auswirkt.54

Lingner zog aus dem Gesehenen und Gelernten Konsequenzen. So verhinderte er während seiner Tätigkeit beim Grünamt die Aufschüttung von Trümmer­ bergen im Berliner Urstromtal, da er dramatische Auswirkungen auf das Wasserregime und den Grundwasserspiegel fürchtete.55 1946 war er zudem mit Landwirten in Kontakt gekommen, die ihre Anbaufläche auf Kosten der Flurgehölze erweitern wollten. Es waren die Probleme, mit denen er im Staatsdienst konfrontiert war, die den Rahmen der Landschaftsdiagnose vorgaben. Dabei war für ihn das dahinter stehende Grundproblem offensichtlich. In einer Veröffentlichung von 1947 hat er den »reine[n] Nützlichkeitsstandpunkt« als Ur­ sache des »Raubbaus« herausgearbeitet, der auf »weite Sicht größeren Schaden als Nutzen« bringe.56 Dieses Zitat gibt die Gelegenheit, Lingners Sicht auf den Naturschutzgedanken zu beleuchten. In derselben Schrift sprach er dem Naturschutz einen »ethischen Wert« zu, der mehr sei als lediglich »romantische Spielerei«, auf den »ökonomisch und technisch denkende Menschen« diesen gerne reduzierten. In seiner während der Landschaftsdiagnose erschienenen Hauptschrift zur Landschaftsgestaltung von 1952 hat er seine Gedanken weiter ausgeführt. Für ihn gab es eine »Urlandschaft«, die alle vom Menschen unbeeinflussten Gebiete umfasste. Das Gegenteil zur Urlandschaft bildete die Kulturlandschaft. Dieser Begriff war zunächst wertneutral. Es sei auf den ersten Blick nicht ersichtlich, ob es sich bei einer Kulturlandschaft um eine »gesunde oder zerstörte Landschaft« handele.57 Lingner machte aber deutlich, dass für ihn der ›Gesundheitszustand‹ der Landschaft eng mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen verknüpft sei. Die »Sklavenhaltergesellschaft« des Römischen Reiches habe zwangsläufig eine ausgebeutete, verkarstete Mittelgebirgslandschaft hinterlassen müssen.58 Für Deutschland erkannte Lingner ebenfalls »Symptome 54 Reinhold Lingner, Die Stadtlandschaft, in: Neue Bauwelt, 1948, 83–86, 83. 55 Vgl. Nowak, Lingner, 32. 56 Reinhold Lingner, Aufgaben und Ziele der Grünplanung, in: Der Bauhelfer, 1947, 5–11, 11. 57 Lingner, Landschaftsgestaltung, 8. 58 Ebd., 10–11.

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einer schweren Erkrankung unserer Landschaft«. Verursacht seien diese durch die kapitalistische Wirtschaftsweise, deren sozialhygienischen Folgen er ausführlich beschrieb: Den Industriellen kümmerte es nicht, ob der Rauch seiner Schlote die Häuser schwärzte und die Atemluft verpestete. Ihn störte es nicht – er hatte sein Landhaus am See. Und die mit Gärten durchsetzten Villenvororte der Besitzenden entstanden bei uns vorwiegend im Westen der Städte, weil infolge der vorherrschenden Westwinde hier mit der reinsten Luft zu rechnen war. Die Arbeiterbevölkerung hatte keine Wahl, sie wurde in Mietskasernen mitten in der Industrie oder in ihrem Rauchschatten zusammengepfercht.59

Welche Möglichkeiten die staatliche Planung bot, diese Zustände zu über­ alley­ winden und dauerhaft zu verhindern, führte Lingner an der Tennessee V Authority (TVA) in den USA aus. Zwar lehnte er die, seiner Meinung nach, hinter der TVA stehende Motivation ab – den Rüstungskonzernen die Energie der Wasserkraftwerke des Tennessee-Rivers zu erhalten  –, bewunderte aber die Effizienz, mit der koordiniertes staatliches Eingreifen die weitere Bodenentwertung durch Erosion verhindere, lobte also dieses gelungene Projekt staatlicher Großplanung.60 Lingner ging es in seinen Schriften nicht um ein ›Zurück‹ zur Urlandschaft, er bezeichnete solche Bestrebungen als Unsinn.61 Für ihn schlossen sich Naturschutz und planvolle Umgestaltung der Natur nicht aus. Er sah die Naturnutzung »fern jeglicher Romantisierung«, sondern sprach ihr einen »produktiv aneignenden umgestaltenden Charakter« zu, in dessen »Mittelpunkt der Mensch« stehe.62 Ziel des Sozialismus könne es nicht sein, ein »Gleichgewicht vergangener Daseinszustände« wiederzugewinnen, sondern ein neues zu schaffen, das dem Entwicklungsstand der Gesellschaft entspreche.63 Wie fremd Lingner die Ideen eines konservierenden Naturschutzes waren, die die Debatte in der Bundesrepublik der 1950er Jahre prägten,64 belegte sein Seitenhieb auf den Verein Naturschutzpark. So schrieb er: 59 Ebd., 38. Vgl. dazu das Engels-Zitat auf Seite 347. 60 Hermann Behrens, Landschaft und Planung in der SBZ/DDR bis 1961 unter besonderer Berücksichtigung der »Landschaftsdiagnose der DDR«, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Landschaft und Planung, 57–86, 63 und Lingner, Landschaftsgestaltung, 17–19. 61 Ebd., 8. 62 Kirsten, Entwicklung, 16. 63 Lingner, Landschaftsgestaltung, 46. 64 Engels beschreibt die Fortschritts-, Technik- und Großstadtfeindlichkeit der westdeutschen Naturschutzbewegung in den 1950er Jahren. Dies sind Elemente, die in Lingners Naturschutzverständnis fehlen. Vgl. Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980. Paderborn u. a. 2006, 37.

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Bei uns in Deutschland ist zum Beispiel die Lüneburger Heide aus einem üppigen Laubwald erst durch den Eingriff des Menschen zu dem geworden, was sie heute ist: eine karge Existenzgrundlage für Schafe und Ausflugsziel für Naturschwärmer.65

Auch wenn Lingner einer Umgestaltung der Natur das Wort redete, verstand er darunter nicht, die Landschaft so auszuräumen, dass einer Bestellung des Landes mit Großtechnik keine Hindernisse im Weg standen. Er monierte die Monokulturen und Kahlschlagwirtschaft in der Forstwirtschaft, besonders die ausgedehnten Kiefernwälder waren ihm ein Graus. All dies widersprach seinem Bestreben, ein langfristiges Gleichgewicht der Naturnutzung zu erreichen, mit dem die größtmögliche Wohlfahrtswirkung zu gewinnen sei.66 Für ihn war aber auch unbestreitbar, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise ein solches Gleichgewicht bisher verhindert habe. Der zeitliche Horizont, unter dem unternehmerische Entscheidungen bisher getroffen worden seien, sei viel zu kurz gewesen.67 Zudem seien die Auswirkungen auf die anderen Bereiche der Volkswirtschaft nicht bedacht worden. Erst mit dem Mittel der Planung sei die engstirnige, auf den eigenen Betrieb fixierte Denk- und Handlungsweise aufzubrechen. Lingner vertraute dabei auf die Bewusstseinsbildung aufseiten der Arbeiterschaft. Für das Beispiel des Braunkohletagebaus führte er aus: Aber sie entwickeln sich weiter, es wird der Tag kommen, an dem sie alle be­greifen werden, daß der Acker, den der Bagger greift, um die Kohlen freizulegen, sie ernährte, und daß die Kippe, die zurückbleibt, sie wieder ernähren muß. Es ist notwendig für sie, nicht nur betriebs-, sondern auch volkswirtschaftlich zu denken, d. h. den eigenen Betrieb und dessen Produktion als Teil des Ganzen, der Volkswirtschaft, sehen zu lernen.68

In dem Verhalten, das Lingner hier als vorbildlich umschrieb, erkannte Oberkrome die ersten Ansätze eines nachhaltigen Denkens.69 Lingner sah in der 65 Lingner, Landschaftsgestaltung, 7. 66 Dies bedeutete für Lingner nicht unbedingt ein Mehr an Wald. Er war sogar der Überzeugung, dass man in Deutschland die Waldfläche verringern könnte, eine optimale Verteilung und Bewirtschaftung vorausgesetzt. In gleicher Weise verneinte Lingner auch malthusianische Überlegungen, etwa von William Vogt oder Vannevar Bush. Mit einer optimalen Standortverteilung sei die Landwirtschaft in der Lage, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren, ohne dass es zu einem Rückgang des Lebensstandards käme. Auch in diesem Punkt deckte sich Lingners Überzeugung mit den Vorgaben des Marxismus. Ebd., 46 und 57. 67 20 Jahre später forderte der englische Vertreter auf der UN-Umweltkonferenz in Stockholm ähnliches: »We need to change the time scale of our thinking.« Vgl. Kai F. Hünemörder, Vom Expertennetzwerk zur Umweltpolitik. Frühe Umweltkonferenzen und die Ausweitung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Umweltfragen in Europa (1959–1972), in: Archiv für Sozialgeschichte 43, 2003, 275–296, 293. 68 Lingner, Landschaftsgestaltung, 61. 69 Oberkrome, Deutsche Heimat, 343.

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sozialistischen Planwirtschaft das Mittel, dieses Vorbild zu erreichen, die Interessen von Naturnutzung und Naturschutz zu vereinen und ein nachhaltiges Wirtschaften zu ermöglichen. Dies unterstreicht die zentrale Stelle, die die staatliche Planung für Lingner einnahm: Landschaftsschäden zu diagnostizieren und zu überwinden. Für Lingner war die Landschaft besonders vom Braunkohletagebau und von der Erosion bedroht.70 Die Lösung sah er in einer kleinräumigen, stark unterteilten Landschaft. Er wusste, dass dieses Konzept nicht mit einer weitgehend automatisierten Landwirtschaft harmonierte.71 Darum betonte er, neben der Nachhaltigkeit, den ästhetischen Wert einer so gegliederten Landschaft. Er war davon überzeugt, dass der Sozialismus eine umfassende Entwicklung der Gesellschaft und Natur anstrebe, die nicht von kurzfristigen ökonomischen Überlegungen dominiert werde. Sein Hauptwerk zu den Fragen der Landschaftsgestaltung schloss er darum mit einem optimistischen Ausblick ab: Deutschland kann in einer neugeordneten Landschaft Überfluß an Gütern erzeugen. Es kann mit der Gestaltung seiner Landschaft die glücklichste Einheit von Nutzen und Schönheit erreichen.72

Blackbourn warf Lingner in seinen Planungen »gigantomania« vor, unterstellte ihm die Neigung des »large is beautiful« und belegte dies mit einem Zitat von Georg Bela Pniower.73 Es ist richtig, dass Lingner mit seinem weit reichenden Plan eine umfassende »Ausgestaltung« der Gesellschaft anstrebte.74 Seinem Wirken fehlte aber das für die Großplanung prägende Gegenbild der modernen Zukunft. Stattdessen griff es Elemente traditioneller Wirtschaftsweisen auf.75 Neben Lingner war Pniower der zweite Landschaftsgestalter von Format in der DDR und dessen Vorgänger als Institutsdirektor an der HU Berlin. Und es war eben der Mangel an Gigantomanie, den Pniower der Landschaftsdiagnose vorwarf. Er teilte zwar Lingners Bedenken gegen die Monokulturen in den Wäldern, schimpfte die »Stangenäcker aus Kiefer oder Fichte« eine »Landeskultur des Börsengeistes«, hatte aber in Bezug auf die Landschaftsgestaltung ansonsten illusionslose Vorstellungen. Es sei die Tragik der Deutschen, dass sie sich an der »Süßspeise der Romantik […] den Magen verdorben« hätten.76 70 Diese Erkenntnis war damals weit verbreitet. Vgl. die Denkschrift der HV Land-und Forstwirtschaft vom März 1949, die vor einer »zu weitgehenden Beseitigung« der Flurgehölze warnte. BArch DK 1/8774 Hauptverwaltung für Land- und Forstwirtschaft der DWK, Landschaftsgestaltung und Landespflege in der Sowjetischen Zone. 10.3.1949, pag. 6. 71 Reinhold Lingner, Landschaftsgestaltung, in: Aufbau 8, 1952, 39–54, 49. 72 Lingner, Landschaftsgestaltung, 76. 73 Blackbourn, Conquest, 336. 74 Laak, Planung, 306. 75 Ebd., 323. 76 Georg Pniower, Naturschutz im Spiegel der Landeskultur. Teil 2, in: Natur und Heimat, 1952, 4–8, 4–5.

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Pniower war ein Protagonist des ›Schneller-Höher-Weiter-Denkens‹, ein Befürworter des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft, der naturnahe Gebiete allenfalls auf eng begrenzten Flächen erhalten wollte.77 Deutlich wurden die unterschiedlichen Auffassungen von Pniower und Lingner auf einer Fachtagung 1957, als die Ergebnisse der Landschaftsdiagnose der Fachöffentlichkeit vorgestellt wurden. An der anschließenden Diskussion konnte Pniower nicht mehr teilnehmen, ließ aber mittels seines Mitarbeiters Wilhelm Knabe ausrichten, dass für ihn die Steigerung der Produktivität der Landschaftsräume erstes Ziel sei. Zudem übte Pniower über Knabe Kritik an der medizinischen Metaphorik, die Lingner um die Landschaftsdiagnose aufgebaut habe.78 Ähnlich äußerte sich auch Hanns Lehmann – Leiter einer Abteilung im Forschungsinstitut für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung. Er hatte das Nachwort zum Textband der Landschaftsdiagnose verfasst und darin ebenfalls eine Erhöhung der Produktivität gefordert. Diese sei nur mit »neuzeitlichen landwirtschaftlichen Anbaumethoden« zu erreichen, was verstärkten Maschineneinsatz und große Anbauflächen voraussetze.79 Die Arbeiten an der Landschaftsdiagnose Zusammen mit der Präambel reichte Reinhold Lingner einen Forschungsantrag bei der Hauptabteilung Wissenschaft und Technik des Ministeriums für Planung (MfP) ein. Diese schaltete die Hauptabteilung Landesplanung des Ministe­riums für Aufbau (MfA) ein. Bereits im Herbst 1949 wurden in einem 77 Eine andere Einstellung wertete Pniower als Verbrechen, als gegen die »vitalen Interessen« der Menschheit gerichtet. Wie umfassend Pniower den Herrschaftsanspruch des Menschen gegenüber der Natur auslegte, verdeutlicht folgendes Zitat: »Im übrigen sind freie Landschaften nur solche, für deren ›Zähmung‹, d. h. Urbarmachung die technischen Mittel vorerst nicht ausreichen. Im Großen gesehen betrifft das z. B. die Polargebiete, unzugängliche Hochgebirge und Sumpfwälder, Großwüsten usw. Ihnen kann der Mensch jedoch keine grundsätzliche bzw. dauernde ›Freiheit‹ zugestehen, wenngleich das manchen Menschen heute noch vermessen erscheinen mag.« Damit bewegte sich Pniower durchaus im Rahmen des Zeitgeistes in Ost und West, unterschied sich aber deutlich von Lingner, der in einer naturnahen Nutzung die nachhaltigste und langfristig produktivste Form der Nutzung sah. Ebd., 8. Vgl. auch Andreas Dix, Nach dem Ende der »Tausend Jahre«. Landschaftsplanung in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR, in: Joachim Radkau, Frank ­Uekötter (Hrsg.), Naturschutz und Nationalsozialismus. Frankfurt 2003, 331–362, 352. 78 Vgl. Deutsche Bauakademie, Landschaft und Planung, 72. 79 Hanns Lehmann, Nachwort. Zu einigen Fragen der Auswertung der Landschaftsdiagnose, in: Reinhold Lingner, Frank Erich Carl (Hrsg.), Landschaftsdiagnose der DDR. Berlin (Ost) o. J. [1957], 141–148, 143. Lehmanns Urteil fiel ausgewogener aus, als es dieses Zitat hier ausdrückt. Er bejahte grundsätzlich die Erhebung von Landschaftsschäden und wünschte der Landschaftsdiagnose eine weite Verbreitung. Er zog allerdings andere Schlüsse aus dem Material und warnte vor einer »Mystifizierung« der Landschaft.

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Pilotprojekt in der Gegend von Klettwitz Landschaftsveränderungen durch den Braunkohlebergbau auf Basis älterer und aktueller Messtischblätter erfasst und dem Antrag beigefügt.80 Das MfP bewilligte schließlich dem Institut für Bauwesen der Akademie der Wissenschaften am 14. März 1950 einen Forschungsauftrag über zwei Jahre und stellte Mittel von 300.000 DM bereit. Über 90 Mitarbeiter, aufgeteilt in fünf Landesgruppen, begannen am 10. Mai 1950 mit den Erfassungsarbeiten im Gelände. Von den eingereichten Themen hatte das Ministerium vier in einem bis zum 30.  August 1950 laufenden Grundauftrag bewilligt: I. Von Gehölzschutz entblößte Kulturflächen II. Wasserhaushaltsstörungen III. Veränderung der Kulturlandschaft durch den Bergbau IV. Luftverunreinigungen durch Abgase der Industrie, der Siedlungen und des Verkehrs Weitere Themen wie »Versiegen von Quellen«, »Monokulturen im Wald«, »Schäden am Bauernwald« oder »Nach 1945 notbedingt entstandene Torfstiche« verschob das Ministerium auf einen eventuellen Folgeauftrag.81 Von Anfang an kamen die Kartierer in Konflikt mit örtlichen Sicherheitsorganen und Parteifunktionären. Die mit aktuellen Karten durch das Gelände marschierenden Forscher, vielfach Geographiestudenten, erregten Misstrauen, und mehr als einmal musste Lingner einen seiner Mitarbeiter als ›Spion‹ aus dem Gefängnis ›befreien‹.82 Am 13. Juli 1950 untersagte die Polizei in Thüringen die Kartierungsarbeiten, da die mitgeführten Ausweise nicht gültig seien. Lediglich das Innenministerium sei berechtigt, entsprechende Ausweise auszustellen. In den anderen Ländern konnten die Arbeiten noch weitergeführt werden, bevor am 14.  August 1950 ein genereller Bearbeitungsstopp verhängt wurde. Bauer, Mitarbeiter der HA Wissenschaft und Technik im MfP, hatte in einem Brief vom 14.  August an das Institut für Bauwesen Entsprechendes verfügt.83 Bereits am 11. August 1950 hatte das MfP die Personalunterlagen der Mitarbei 80 Vgl. Lingner, Landschaftsgestaltung, 39 und Reinhold Lingner, Auswertung der »Landschaftsdiagnose«, in: Deutsche Architektur, 1955, 569–570, 569. 81 Vgl. BArch DH 1/45573 Ruth Günther, Bericht Landschaftsdiagnose der DDR. Entwicklung der Arbeiten seit ihrem Beginn. 13.11.1950, pag. 114–118 und BArch DH 1/5725 Reinhold Lingner, Antrag auf Erteilung eines Forschungs-/Entwicklungsauftrages an das Ministerium für Planung, HA Wissenschaft und Technik (AntragsNr. 430232/3290); Anschlußauftrag 15/21810. 20.12.1950, o.p. 82 Vgl. Klaus-Dietrich Gandert, Die Auswirkungen der Landschaftsdiagnose auf die anschließende fachliche Arbeit und Planungsvorhaben, in: Hiller, Landschaftsdiagnose, ­153–155, 155 und Helmut Gelbrich, Landschaftsplanung in der DDR in den 50er Jahren, in: Natur und Landschaft 70, 1995, 539–545, 540. 83 BArch DH 2/21697 Reinhold Lingner, »Landschaftsdiagnose der DDR« Forschungsauftrag Nr. 240401-F2–05 (15/21810) Kurzbericht bei Abschluss der Arbeit. Berlin. 22.1.1953, pag. 3.

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ter angefordert.84 Frank Erich Carl, ein Freund Lingners und dessen engster Mitarbeiter während der Landschaftsdiagnose, musste das bisher entstandene Kartenmaterial einsammeln und dem MfP übergeben. Zu diesem Zeitpunkt waren die Arbeiten am Grundauftrag zu etwa Dreiviertel abgeschlossen.85 Erst am 22. Dezember 1951 konnten die Arbeiten an der Landschaftsdiagnose fortgeführt werden. Die 16 Monate dazwischen ließen den Verwaltungsapparat der jungen DDR in keinem guten Licht erscheinen. Lingner setzte sich die gesamte Zeit über beharrlich für die Weiterführung seiner Arbeit ein, sah sich aber Kompetenz­ rangeleien verschiedener Behörden, Ineffizienz, Unverständnis, Sicherheits­ phobien und beständigem Wechsel der Ansprechpartner gegenüber. Lingner und seine Mitarbeiter traf die Sperrung des Forschungsauftrages völlig unvorbereitet. Er und Carl hatten aber eine Vermutung, aus welcher Richtung die Sperrung angeordnet worden war. Am 12. Dezember 1950 beschwerte sich Lingner bei der Zentralen Kontrollkommission über die Sperre. In seinem Schreiben erhob er schwere Vorwürfe, sprach von volkswirtschaftlichem Schaden, egoistischen Interessen und Karrierismus, Bürokratismus, Angst vor persönlicher Verantwortung und Wirtschaftssabotage.86 Schließlich benannte er das am 8. Februar 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als vermuteten Initiator der Sperrung.87 Die Vermutung wies in die richtige Richtung, war doch das MfS aus dem Innenministerium hervorgegangen.88 Staatssekretär Hans Warnke aus dem Innenministerium hatte bereits am 13. Juli 1950 in einem Brief an das MfP sein Unverständnis für eine solche Arbeit zum Ausdruck gebracht. Neben der Ausweisfrage, die am gleichen Tag zur Polizeiaktion in Thüringen führte, hatte Warnke grundsätzliche Bedenken: Aber von dieser formellen Sache abgesehen bitte ich um Mitteilung, ob solche Untersuchungen überhaupt notwendig sind, denn die genannten Personen bekommen ungeheures Material in die Hände und wer gibt die Garantie, dass das Material wirklich nur für die Zwecke des Aufbaues in unserer Deutschen Demokratischen Republik benutzt wird.89 84 BArch DC1/433 Reinhold Lingner, Daten zur Sperrung des Forschungsauftrages Nr. 15/ 21810 »Landschaftsdiagnose der fünf Länder der DDR«. 12.12.1950, pag. 1. 85 Olaf Hiller, Daten und Fakten zum Ablauf, zur Unterbrechung und Wiederaufnahme des Forschungsauftrages Landschaftsdiagnose der fünf Länder der DDR, in: Hiller, Landschaftsdiagnose, 83–110, 84. 86 Gelbrich betonte dem Mut, den Lingner hier bewies, indem er »Parteikarrieristen« beschuldigte. Vgl. sein Nachwort zu ebd., 110. 87 BArch DC 1/433 Reinhold Lingner, Sperrung des Forschungsauftrages Nr. 15/21819. 12.12.1950, pag. 1–2. 88 Vgl. dazu Gelbrich, Landschaftsplanung, 540–544; Nowak, Lingner, 72 und Hiller, Daten, 93. 89 BArch DC 1/433 Hans Warnke, Forschungsauftrag »Landschaftsdiagnose der DDR«. 13.7.1950, pag. 1.

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Mit den »genannten Personen« waren die einzelnen Landesgruppenleiter angesprochen, deren NSDAP-Mitgliedschaft aufgelistet war. Alle fünf waren Mitglied oder Kandidat gewesen, weshalb sie in der DDR nur freiberuflich arbeiten durften.90 Zu Rudolf Ungewitter fand sich ergänzend die Notiz, dass er 1932/33 in den USA gearbeitet hatte. In die ähnliche Richtung wies eine Aktennotiz aus den Unterlagen der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle, die sich auf den Brief Lingners vom 12. Dezember 1950 hin mit der Landschaftsdiagnose beschäftigt hatte. Die Sachbearbeiterin Gerda Linz stimmte sich mehrfach mit Warnke ab. Ihre abschließende Einschätzung stammte vom 29. März 1951. Linz bemängelte, dass Lingner vor allem freischaffende Architekten angestellt hatte, die wegen ihrer »nazistischen Aktivität« von öffentlichen Ämtern ferngehalten wurden. Dies sei aus Gründen der Sicherheit bedenklich: Dabei handelt es sich in jedem Fall um topographische Karten von militärstrategischem Wert in allen Variationen. In die Karten sind Luft- und Windverhältnisse eingezeichnet, besonders in den Gebieten unserer Industrie.91

Die Notiz von Linz lässt deutlich erkennen, dass es ihr nicht darum ging, die Probleme der Umweltbelastung zu verschleiern. Sie dachte primär in militä­ rischen Kategorien und sah in den Landesgruppenleitern potentielle Verräter, erkannte aber die Arbeit an der Landschaftsdiagnose grundsätzlich als wertvoll an: Es ist selbstverständlich, dass man solche Diagnosen nicht von Jedem erstellen lassen kann. Es ist aber auf der anderen Seite erforderlich, dass man die Landschaftsdiagnosen erstellen muss, für die Planung und Entwicklung der DDR.92

Von den Landesgruppenleitern wurde schließlich nur Rudolf Ungewitter entlassen. Neben der NSDAP-Mitgliedschaft kamen die Tätigkeit als Landschaftsanwalt beim Reichsautobahnbau, freiwillige Aufenthalte in den USA sowie langjährige Kriegsgefangenschaft in England und den USA hinzu. Für die Sicherheitsorgane der DDR war er damit ungeeignet, mit sensiblem Karten­ matrial zu arbeiten.93 Lingner selbst war über die Verhandlungen zwischen Kontrollkommission und Innenministerium nicht informiert. Alle Abstimmungsgespräche auf staat-

90 Dies waren: Werner Bauch (Sachsen) 1933–1945, Otto Rindt (Sachsen-Anhalt) 1937– 1945, Martin Ehlers (Mecklenburg) 1933–1940, Hermann Göritz (Brandenburg) Anwärter 1941–1943 und Rudolf Ungewitter (Thüringen) 1937–1938. 91 BArch DC 1/433 Linz, Forschungsauftrag Nr. 15/21810 »Landschaftsdiagnose der fünf Länder der DDR als Unterlage der Landesplanung«. Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle. 29.3.1951, pag. 1. 92 BArch DC 1/433 Ebd., pag 1. 93 Vgl. Hiller, Daten, 89.

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licher Seite fanden unter Ausschluss von Lingner und Carl als verantwortliche Leiter der Landschaftsdiagnose statt. Er verhandelte stattdessen weiter mit den Ministerien für Planung und Aufbau über die Fortsetzung der Arbeiten. Nachdem das MfA den Forschungsauftrag übernommen hatte, weigerte sich das MfP, die noch ausstehenden Gehaltsforderungen zu begleichen. Darüber, und dass der Leiter der HA Landesplanung Leo Stegmann den Forschungsauftrag von den Landesplanern in den einzelnen Ländern zu Ende führen lassen wollte, kam es zu mehreren Aussprachen zwischen Stegmann und Lingner. Am 8. November 1950 einigten sich beide darauf, den Forschungsauftrag weiterzuführen.94 Am 20. Dezember reichte Lingner daraufhin beim MfP einen Anschlussauftrag ein, der schließlich bei Alois Pisternik landete, Leiter der HA Städtebau und Hochbau des MfA.95 Dieser fragte bei Stegmann nach, ob er den Antrag unterschreiben solle. Er hätte von »Schwierigkeiten« im Umfeld der Landschaftsdiagnose gehört.96 Pisternik und Stegmann einigten sich darauf, dass der Forschungsauftrag erst einmal nicht weitergeführt werden sollte. Sie wollten die Gründung der Deutschen Bauakademie abwarten. Zu Jahresbeginn 1951 wurde das Institut für Bauwesen aus der Akademie der Wissenschaften ausgegliedert und zusammen mit dem Institut für Städtebau des MfA zur Deutschen Bauakademie zusammengeführt. Lingner übernahm die Leitung der Abteilung Grünplanung am Forschungsinstitut für Gebiets-, Städte-, und Dorfplanung. Dieser verwirrende Wechsel in Bezug auf Ansprechpartner und Bezeichnungen von Institutionen war dem sich vollziehenden Aufbau des Staatswesens der DDR geschuldet und betraf auch das MfP, das 1951 in die Staatliche Plan­ kommission (SPK) überführt wurde. Erwähnt sei zudem, dass Lingner gegenüber Stegmann und Pisternik verschärfte Geheimhaltungsrichtlinien anbot, um die Arbeiten fortsetzen zu können. Aber den beiden Abteilungsleitern waren die Hände gebunden. Als sie Lingner im Januar 1951 Geld für den Grundauftrag versprachen, wurden sie von der SPK gemaßregelt.97 Gelder seien erst freizu­geben, wenn die Überprüfung der Mitarbeiter abgeschlossen sei.98

94 BArch DH 1/45573 Günther, Bericht Landschaftsdiagnose. 95 Pisternik war innerhalb des MfA für die Bearbeitung von Forschungsaufträgen des MfP verantwortlich. Vgl. BArch DH 1/5725 Lingner, Antrag, o.p. und BArch DH 1/5725 Leo Stegmann, Forschungsauftrag »Landschaftsdiagnose«, Fortsetzungsauftrag 1951 des Grundauftrg. 6.2.1951, pag. 1. 96 BArch DH 1/5725 Alois Pisternik, Forschungsauftrag »Landschaftsdiagnose der 5 Länder der DDR (Anschluss-Auftrag)«. Ministerium für Aufbau. 30.12.1950, pag. 1. 97 BArch DH 1/5725 Leo Stegmann, Forschungsauftrag »Landschaftsdiagnose«. 16.1.1951, pag. 1. 98 BArch DH 1/5725 W. Lange, Forschungsauftrag Nr. 15/21810 »Landschaftsdiagnose«. 9.2.1951, o.p.

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Am 26. Februar 1951 meldeten Lingner und Stegmann der SPK Vollzug. Die Überprüfung der Mitarbeiter sei abgeschlossen, und Ungewitter werde durch Ruth Günther ersetzt.99 Lingner hoffte auf die baldige Aufhebung der Sperrung vom 14. August 1950, wusste aber nichts von den Korrespondenzen zwischen Innenministerium und Kontrollkommission. Nachdem Linz von der Kontrollkommission am 29. März 1951 ihre grundsätzliche Zustimmung für die Wiederaufnahme der Arbeiten gegeben hatte, erteilte Staatssekretär Warnke die Freigabe erst am 22. Dezember 1951.100 Am 22. Januar 1953 referierte Lingner in einem Kolloqium der Deutschen Bauakademie über die Ergebnisse der Arbeiten,101 am 25.  Januar verfasste er einen 21-seitigen Forschungsbericht.102 Darin schrieb er, dass die Arbeiten am Thema IV »Über die Verteilung der Luftverunreinigungen in ausgewählten Landschaftsgebieten der DDR« vom Forschungsinstitut für Bioklimatologie des Meteorologischen und Hydrolo­ gischen Dienstes der DDR durchgeführt worden waren. Schwerpunkt der Luft­ untersuchungen war das Mitteldeutsche Industriegebiet, genauer Bitterfeld und Wolfen.103 Lingner betonte aber auch die Schäden, die durch Abgase abseits der Industriegebiete und Siedlungskerne in den Wäldern entstünden: Das Absterben von Nadelhölzern ist vielfach auf chemische Einwirkungen von Rauch und Abgasen zurückzuführen. Eine Fülle von Alarmzeichen dieser Art zwingt uns, die Ursachen und Zusammenhänge der Störungen im Naturhaushalt zu erforschen.104

Lingner sah aber, dass unter den gegenwärtigen Voraussetzungen dieses Ziel nicht zu erreichen war. Das Thema IV sei nur sehr mangelhaft und stichpunktartig behandelt worden. Das liege nicht am Bearbeiter E. Flach, sondern an der unbefriedigenden Ausstattung. Lingner forderte den Aufbau eines dauerhaften Messnetzes, das alle Verschmutzungsquellen erfasste und die Werte mit solchen aus Reinluftgebieten verglich. Zudem müsse die Erforschung technischer Möglichkeiten zur Emissionsreduzierung vorangetrieben werden. 99 »Für die Teilaufgabe Thüringen ist die Deutsche Bauakademie, Herr Lingner, angewiesen worden, beschleunigt einen neuen Mitarbeiter, bei welchem die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Voraussetzungen erfüllt sind, heranzuziehen.« BArch DH 1/5725 Leo Stegmann, Fortsetzungsauftrag Nr.  43571 »Landschaftsdiagnose der fünf Länder der DDR« des im Jahre 1950 begonnenen und nicht zu Ende geführten Grundauftrages 15/ 21810. 26.2.1951, pag. 1. 100 BArch DC 1/433 Hans Warnke, Forschungsauftrag Nr. 15/21810 – Landschaftsdiagnose der 5 Länder der DDR als Unterlage zur Landesplanung. 22.12.1951, o.p. 101 BArch DH 2/21697 Lingner, Kurzbericht. 102 BArch DH 2/21697 Reinhold Lingner, Forschungsauftrag Nr. 240401-F2–03 »Landschaftsdiagnose der DDR«. Berlin. 25.1.1953. 103 Die untersuchten Gebiete waren: 1.  Niederlausitzer Braunkohlerevier, 2.  EislebenHettstedt, 3. Bitterfeld-Wolfen, 4. Buna-Leuna-Geiseltal, 5. Dresden-Freital. Leipzig-BöhlenBorna konnte nicht mehr vermessen werden. 104 BArch DH 2/21697 Lingner, Forschungsauftrag, pag. 1.

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Trotz dieser Unzulänglichkeiten und der Erfahrungen, die Lingner während der Landschaftsdiagnose mit den staatlichen Behörden gemacht hatte, endete sein Bericht mit einer optimistischen Einschätzung: Die komplexe Untersuchung der Störungen des Naturhaushalts der Landschaft, die Planung der Sanierung und ihre Durchführung sind erst unter den politischen Verhältnissen der Deutschen Demokratischen Republik möglich geworden. Unter anderem ist auch dies ein überzeugender Beweis für die Richtigkeit unseres politischen Weges zum Sozialismus.105

Die politische Umsetzung der Landschaftsdiagnose Sowohl das Kolloquium als auch der Forschungsbericht von 1953 waren nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Erst 1957 brachte die Deutsche Bauakademie einen Textband mit den wichtigsten Ergebnissen der Landschaftsdiagnose heraus. In den dazwischen liegenden vier Jahren verschwanden die 951 Karten und 1119 Seiten Text, die während der Erfassungsarbeiten entstanden waren, nicht in einer Schublade. Lingner nutzte die Erkenntnisse der Diagnose als Grundlage für ein groß geplantes Sanierungsvorhaben. Am 1. Juni 1953 fand eine Sitzung des Sekretariats des Zentralkomitees der SED statt. Der Tagessordnungspunkt zehn hieß: »Plan für die Durchführung der ›Umgestaltung der Natur in Deutschland‹«. Die 30-seitige Vorlage dafür hatte Albert Schäfer, Leiter der ZK-Abteilung Landwirtschaft, verteilt. Sie bestand aus Beschlussvorlage, Begründung und drei Anlagen. Mit großer Wahrscheinlichkeit war Lingner die gestaltende Hand der Vorlage. Er selbst nahm zumindest an der ZK-Sitzung teil, und der Inhalt der drei Anlagen lässt auf seine Autorenschaft schließen. Anlage I »Programm für die Durchführung der Umgestaltung der Natur in Deutschland« und Anlage II »Zu schaffende Einrichtungen« zielten im Rahmen zweier Fünfjahrpläne auf einen administrativen Auf- und Ausbau der Landschaftsplanung und -gestaltung ab. Es ging um Grundlagenforschung, Musterlandschaften und Schaffung einer Hauptabteilung »Umgestaltung der Natur« innerhalb der Staatlichen Plankommission, aus der später ein Staatssekretariat oder Ministerium sowie Forschungseinrichtungen hervorgehen sollten. Veranschlagt wurden für einen Zeitraum von zehn Jahren 15 Millionen DM. In der Begründung wurden  – neben dem »HitlerFaschismus«  – auch eigene Versäumnisse aufgelistet. Beim Aufbau der Wirtschaft habe man nicht genügend Rücksicht auf den Naturhaushalt genommen – ein Bekenntnis, das in Publikationen vermieden wurde.106 105 Ebd., 20. 106 SAPMO DY 30/IV 2/7/94 Abteilung Landwirtschaft des ZK der SED, Plan für die Durchführung der Umgestaltung der Natur in Deutschland. 24.4.1953, pag. 199.

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Von der ZK-Sitzung ist lediglich ein Beschlussprotokoll überliefert. Der gefasste Beschluss wich allerdings stark von der Vorlage ab. Vermutlich kam es während der Sitzung zu heftigen Diskussionen.107 Exemplarisch seien hier die ersten beiden von insgesamt sechs gefassten Beschlüssen wiedergegeben. Sie verdeutlichen, wie wenig das Sekretariat die ganzheitliche Herangehensweise Lingners verstanden hatte und einer »traditionellen, vordergründig ökono­ mischen Argumentation« folgte.108 1. Es ist eine Verordnung auszuarbeiten über die Wiedergewinnung der Böden in den Bergbaugebieten, in der festgelegt wird, welche mechanischen Mittel dazu notwendig sind und wie die Bepflanzung in den Bergbaugebieten (Kippen) erfolgen soll. 2. Es ist eine Verordnung auszuarbeiten, wie in den Gebieten, in denen der größte Teil des Bodens durch die Produktionsgenossenschaften bearbeitet wird, die Bepflanzung mit Hecken und Waldstreifen erfolgen soll.109

Als die Landschaftsdiagnose vor ihrer politischen Umsetzung stand, erlebte die DDR erst eine ernste Wirtschaftskrise und dann eine existenzielle Krise. Auf die Versorgungskrise des Winters 1952/53 hatte die SED mit Normerhöhungen reagiert, um die Arbeitsproduktivität zu steigern. Schon vor der Bekanntgabe der Erhöhungen am 28. Mai 1953 – drei Tage vor der ZK Sitzung – war es zu ersten Streiks und Protesten gekommen. Als die Erhöhung nicht zurückgenommen wurde, entzündete sich daran der Aufstand des 17. Juni 1953.110 Es ist ein Kennzeichen der Großplanung, dass ihre Eckdaten im Prozess der politischen Debatte und Umsetzung verwässert werden. Im Falle der Landschaftsdiagnose fehlte nach dem 17. Juni nicht mehr nur der politische Wille, sondern auch das Geld.111 Aufseiten der staatlichen Führung bewirkte der Schock des 17. Juni eine ideologische ›Einigelung‹ verbunden mit der Einsicht, die Ernährungslage der Bevölkerung kurzfristig zu verbessern. Großexperimente wie das von ­Lingner – das einen hohen Ertrag erst in einer fernen Zukunft versprach  – mussten den Verheißungen der industrialisierten Landwirtschaft weichen. In der Sache deckte sich vermutlich die Einschätzung der Staatsführung und diejenige der Bevölkerung, waren doch den meisten Menschen um 1953 eine »warme Stube« und ein »voller Magen« näher als die abstrakten Überlegungen einer Land-

107 Vgl. Knoth, Nowak, SED, 73. 108 Ebd., 75. 109 SAPMO DY 30/JIV2/3/384 Sekretariat des ZK der SED, Sitzung des Sekretariats des Zentralkomitees am 1. Juni 1953. 1.6.1953, pag. 4. 110 Vgl. Dierk Hoffmann, Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Gewaltsame Neuordnung und gescheiterte Modernisierung. Zürich 2003, 52–53; Beate Ihme-Tuchel, Die DDR. Darmstadt 2002, 23; Lausberg, DDR 1946–1961, 139–150 und Richter, Die DDR, 17. 111 Vgl. Dix, Ende, 358.

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schaftsdiagnose.112 Behrens sprach davon, dass es zudem in der Führung der SED »mentale Probleme« im Umgang mit der Landschaftsdiagnose gab.113 Es war aber auch Lingners Zugang zu dieser Führung geschuldet, dass seine Vorlage überhaupt den Weg in das ZK der SED fand. Pieck und Grotewohl kannte er persönlich, weil er deren Privatgärten angelegt hatte. Diese persönlichen Seilschaften waren letztendlich nicht ausreichend und verhalfen der Landschaftsdiagnose nicht zur Umsetzung. Im Nachgang der ZK-Sitzung vom 1. Juni 1953 beschloss der Ministerrat am 4. Februar 1954 »Maßnahmen zur weiteren Entwicklung der Landwirtschaft«. Die SPK wurde aufgefordert, »ausgehend von einer wissenschaftlichen Landschaftdiagnose bis zum 1.  September 1954 einen Plan über den Umfang und Zeitpunkt der erforderlichen landeskulturellen Maßnahmen auszuarbeiten«.114 Dieser Aufforderung kam die Plankommission nicht nach, wie sie generell alle Bestrebungen ignorierte, die ihren zentralistischen Planungsansprüchen zuwiderliefen. Für die Plankommission war Standortplanung allein eine Frage der optimalen Verteilung von Produktionsfaktoren.115 Der einzige greifbare Ausfluss der Landschaftsdiagnose in Gesetzesform war die »Verordnung zum Schutz der Feldgehölze und Hecken« vom 29. Oktober 1953.116 Trotz all dieser Rückschläge gab Lingner noch nicht auf. 1955 erschien in der Zeitschrift Deutsche Architektur eine popularisierende Auswertung der Landschaftsdiagnose. Lingner betonte hier noch einmal seine organische Sicht der Landschaft. Die Veränderung eines Elementes ziehe »zwangsläufig Veränderungen anderer Bestandteile nach sich«.117 Er hoffte damals noch auf die »Einsicht führender Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« und schrieb, dass der Ministerrat am 21. April 1955 die Plankommission erneut aufgefordert hatte, bis Jahresende einen Plan zur Behebung der diagnostizierten Schäden vorzulegen. Lingner bezog sich auf den Beschluss des Ministerrates »Wichtigste Aufgaben im Bauwesen«. Dort wurde die Plankommission unter Punkt V.12 angewiesen, bis zum 31. Dezember 1955 »auf der Grundlage der […] aufgestellten Analyse über Landschaftsschäden einen Plan der Maßnahmen für 112 Würth, Umweltschutz, 84. 113 Behrens, Umfeld, 55. Dix sah dies ähnlich, da die SED-Funktionäre mit ihrer Ausbildung als Handwerker und Industriearbeiter kaum die Arbeit der Landschaftsarchitekten beurteilen konnten. Dix, Ende, 355. 114 Behrens, Landschaft, 65. 115 Gelbrich, Landschaftsplanung, 541. Hoffmann beurteilte die Standort- und Strukturpolitik der SED als »unausgewogen«. Das industrielle Gefälle der DDR von Süd nach Nord sei dadurch verstärkt und bis in die Gegenwart konserviert worden. Hoffmann, Deutsche Geschichte, 60. 116 Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Verordnung zum Schutz der Feldgehölze und Hecken, 29.10.1953, in Gbl. DDR 118, 1105. Vgl. auch Kloepfer, Umweltrecht, 92–93. 117 Lingner, Auswertung, 569.

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die Behebung dieser Schäden« auszuarbeiten.118 Die Plankommission versuchte die Aufgabe zu umgehen, indem sie diese an das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft weiterreichte. Hier offenbarte sich das verkürzte Landschaftsverständnis der Plankommission, da sie Landschaft mit Landwirtschaft gleichsetzte. Kurt W. Leucht, Präsident der Deutschen Bauakademie und Vorgesetzter Lingners, schrieb daraufhin am 20.  Juni 1955 an den Vorsitzenden der Plankommission, Bruno Leuschner, um dies zu verhindern: Nach unserer Meinung ist diese Forschungsarbeit, die allein verantwortlich von der Deutschen Bauakademie durchgeführt wurde, zwar auch für die landwirtschaft­liche Produktion von außerordentlicher Bedeutung, sie geht aber in ihrer umfassenden Fragestellung und praktischen Bedeutung weit über den Arbeitsbereich des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft hinaus; so z. B. in Fragen der Planung und des Verkehrs, der Industrie, der Erholungsgebiete, der Wasserwirtschaft sowie aller sonstigen Fragen der Wirtschafts- und Regionalplanung, so daß eine Bearbeitung und Auswertung der gesamten Forschungsarbeit von dort aus nicht möglich sein kann.119

Um seine Ziele zu erreichen, machte Leucht Druck. Walter Ulbricht habe von der Landschaftsdiagnose »persönlich Kenntnis genommen und sich für ihre praktische Auswertung ausgesprochen«. Die Hauptverwaltung Regional­ planung in der Staatlichen Plankommission beugte sich dem zunächst und berief eine »Arbeitsgruppe für Maßnahmen zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden« ein, die am 8.  September 1955 erstmals zusammentrat. Wie die Arbeit der Gruppe ablief, wer ihr angehörte und welche Ergebnisse sie vorlegte, ist Gegenstand des Kapitels 1.2.3. Hier sei nur angemerkt, dass dies offenbar das letzte Mal war, dass sich eine staatliche Stelle mit der Landschaftsdiagnose befasste. 1956 erschien eine Zusammenfassung der Ergebnisse in der westdeutschen Fachzeitschrift Garten und Landschaft.120 1957 hatte Lingner endlich damit Erfolg, die Ergebnisse der Landschaftsdiagnose in der DDR zu veröffentlichen. Zuvor hatte er bei Walter Ulbricht vorgesprochen und die Ergebnisse der Diagnose ausführlich erläutert.121 Seit Beginn der Arbeiten waren acht Jahre vergangen, in denen sich die gesellschaftlichen und politischen Realitäten in der DDR gewandelt hatten. Ling 118 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Bekanntmachung des Beschlusses des Ministerrates über die wichtigsten Aufgaben im Bauwesen, 21.4.1955, in Gbl. DDR 26, 297–312, 310. 119 BArch DE 1/3819 Staatliche Plankommission, Unterlagen zur Arbeitsgruppe für Maßnahmen zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden, Brief von Leucht an Leuschner vom 20.6.1955. 120 Reinhold Lingner, Landschaftsdiagnose der DDR, in: Garten und Landschaft, 1956, 113–114. 121 Knoth, Nowak, SED, 75.

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ners Konzeption war von der faktischen Entwicklung überholt worden, und eine unkommentierte Veröffentlichung erschien nicht ratsam. Der Preis, den Lingner für die Veröffentlichung bezahlen musste, war die ›Einrahmung‹ seiner Erkenntnisse von Beiträgen anderer Wissenschaftler, die die aktuellen Überzeugungen der Parteiführung vertraten. Im Textband übernahm diese Aufgabe Hanns Lehmann, der das Nachwort verfasste, und auf der anlässlich der Fertigstellung organisierten Fachtagung im November 1957 war es Georg Bela­ Pniower, der vor allem Lingners der Medizin entlehnte Sprache kritisierte. Am deutlichsten formulierte allerdings Kurt Wiedemann vom Rat des Bezirkes Dresden seine Kritik. Er lehnte alle »pessimistischen Grundhaltungen« ab, in deren Konsequenz der Mensch zu einem »Parasit[en] der Erde« werde. Aus der romantischen Nachbetrachtung sind in der Gegenwart bestimmte am optischen Erscheinungsbild hauptsächlich vom Menschen unberührter Landschaften orientierte Grundhaltungen verblieben, die in bestimmter einseitiger Wirksamkeit ihre Rücksicht auf unsere moderne, von ökonomischen Hauptimpulsen gesteuerte gesellschaftliche Entwicklung leicht zum Illusionismus führen.122

Damit war die Marschrichtung vorgegeben. Auch wenn Lingner auf der Tagung noch einmal seine Ansicht betonte, dass eine »Mißachtung der Naturgesetze« zu einer »bedeutenden Schwächung der Produktionskraft der Natur« führten, und ihn Kurt Leucht darin unterstützte, der ein Zusammenwirken von ökonomischer und technisch-gestalterischer Planung mit der Landschaftsgestaltung forderte, erkannte Lingner, dass er sich gegen »Ressortdenken« und »Isolierung« nicht durchgesetzt hatte.123 Entsprechend enttäuscht fiel seine Schlussfolgerung aus: Die großen Möglichkeiten, die eine sozialistisch geplante Wirtschaft bietet, wurden also noch nicht ausgenutzt. Es ist unsere Überzeugung, daß diese Aufgabe nicht durch getrennte Behandlung der speziellen Fachprobleme gelöst werden kann. […] Es scheint, daß die früher in Wissenschaft und Praxis vorherrschende Tendenz der Isolierung in Spezialfragen bei vielen Stellen noch nicht überwunden ist.124

Für Lingner bedeutete dies nicht das Ende der Karriere, aber das Ende der Arbeiten an der Landschaftsdiagnose. 1958 übernahm er die künstlerische Leitung der 1.  Internationalen Gartenbauausstellung der sozialistischen Länder in Erfurt. Die Ergebnisse der Landschaftsdiagnose spielten in der Wirtschaftsplanung keine Rolle mehr. Sollte Lingner die Hoffnung gehegt haben, mit dem 122 Kurt Wiedemann, Die Landschaft als Faktor der Planung, in: Deutsche Bauakademie, Landschaft und Planung, 47–67, 47. 123 Vgl. Lingner, Forschungsarbeit, 7 und Kurt W. Leucht, Landschaftsplanung als eine der Grundlagen der Gebietsplanung, in: Deutsche Bauakademie, Landschaft und Planung, 4–6, 4. 124 Lingner, Forschungsarbeit, 17.

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Textband ein breiteres Publikum zu erreichen, um den von ihm gewünschten Bewusstseinswandel anzustoßen, wurde er enttäuscht. Mit der Geheimhaltungsstufe »Nur für den Dienstgebrauch« versehen, landete der Textband nicht in einem der berühmten ›Giftschränke‹, war aber auch nicht über den Buchhandel zu beziehen. Konsequenzen Die Ereignisse rund um die Landschaftsdiagnose können als Indiz dafür dienen, dass in den 1950er Jahren in der DDR bei Fragen der Wirtschafts- und Landesplanung Spielraum bestand und auf Expertenebene ein gewisser ideo­ logischer Austausch möglich war. Lingner entwickelte seine Gedanken zur Landschaftsgestaltung auf der Basis der sozialistischen Ideologie. Sein Motiv war die von Marx geforderte »Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur«.125 War seine Wortwahl und Bildsprache zuweilen etwas unorthodox, wurzelten die grundsätzlichen Überlegungen im Marxismus. Dies war aber auch der zweiten ›Schule‹ von Landschaftsgestaltern der DDR um Pniower zuzusprechen. Beide Seiten unterschieden sich lediglich in der Auslegung der theoretischen Basis, wie sie im vorhergehenden Abschnitt vorgestellt wurde. Lingner war Marxist, betonte allerdings in seiner Argumentation die Elemente einer umfassenden, nicht nur ökonomische Belange beachtenden Planung und Nachhaltigkeit stärker. Sein Verständnis von der angestrebten »Verbesserung« bei Marx wies andere Aspekte auf, als jenes von Pniower. Dass sich beide Konzepte nebeneinander entwickeln und in eine akademische Auseinandersetzung treten konnten und dass es einen großen Spielraum für theoretisch-wissenschaftliche Überlegungen gab, ist ein Beleg für den ›Selbstfindungsprozess‹ der jungen DDR. In dem Moment allerdings, als dieser Prozess zu einem Ende kam, die Herrschaft der SED mit den Ereignissen 1953 gefährdet schien, setzte die SED die ihrer Ansicht nach richtige Einsicht konsequent auf allen Ebenen durch. Betroffen waren davon ebenso ›Fraktionen‹ im Politbüro wie deviante Meinungen in der Landschaftsplanung. Das Pendel neigte sich der Seite Pniowers zu, damit war der Landschaftsdiagnose jeder Realisierungsraum entzogen. Ein Grund allein, der diese Entwicklung erklärt, lässt sich nicht benennen. Auf der einen Seite waren Lingners Konzepte zu wenig anschlussfähig an die wissenschaftlich-technische Fortschrittsgläubigkeit, die in der SED-Führungsebene herrschte. Viele Vertreter dieser Ebene waren während der Zeit des Nationalsozialismus in der Sowjetunion im Exil gewesen und dort mit den ehr­ geizigen Umgestaltungsplänen der Stalin-Ära in Kontakt gekommen. Ihnen 125 Vgl. Seite 40.

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lagen die Konzepte von Pniower und Lehmann näher als das etwas – in ihren Augen – ›angestaubte‹ von Lingner. Dabei war Lingner keineswegs der rückwärtsgewandte, technikfeindliche Naturschwärmer, den die Parteiführung in ihm zu sehen glaubte. Die Bedenken, die westdeutsche Naturschützer etwa gegen den Bau von Wasserkraftwerken hegten, wären bei Lingner auf Unverständnis gestoßen.126 Es fehlte auf der Ebene der Entscheider die Bereitschaft, sich intensiv mit den Lingnerschen Ideen zu beschäftigen. Die Chance auf Umsetzung der Lingnerschen Pläne war von Anfang an gering, nach dem 17. Juni 1953 war sie nicht mehr gegeben. Ob die Entwicklung der DDR eine andere Richtung genommen hätte, ist eine hypothetische Frage. Fest steht aber, dass das ZK der SED am 1. Juni 1953 über eine alternative Entwicklungsmöglichkeit beriet. Der Pfad, den es mit seinen Beschlüssen an diesem Tag einschlug, lag den persönlichen Lebenserfahrungen seiner Mitglieder näher, führte aber in letzter Konsequenz in die bekannte, desaströse Umweltsituation der 1980er Jahre. Aus heutiger Sicht erscheint die ›Option Lingner‹ als die zukunftsfähigere. Beurteilten die SED-Funktionäre der 1950er Jahre die Landschaftsdiagnose als rückwärtsgewandt, wertete Behrens sie als »ihrer Zeit […] weit voraus«.127 Zu dieser Einschätzung kam auch Nowak, die die Landschaftsdiagnose mit »herausragend« oder »Meilenstein in der ökologischen Planungsarbeit« attribuierte;128 Gelbrich bezeichnete sie gar als »prophetisch«,129 Oberkrome als »beispielloses Projekt«.130 Diese besondere Leistung begründete Nowak anhand von fünf Punkten: dem frühen Zeitpunkt der Durchführung, der beträchtlichen Flächenausdehnung, der Komplexität des Gegenstandes, dem methodischen Niveau und der Art und Weise der Organisation der Arbeit. Zu beachten ist die Feststellung Nowaks, dass sie keine Hinweise zu ähnlichen Projekten in einem anderen Staat zu jener Zeit gefunden habe.131 ­ esten Der Bundesrepublik war Lingner zumindest zehn Jahre voraus.132 Im W stieg der Einfluss der Landschaftsplaner erst zu Beginn der 1960er Jahre an, als 126 Vgl. Engels, Naturpolitik, 74. 127 Behrens, Umfeld, 69. 128 Nowak, Lingner, 57 und 81. Diese Einschätzung wurde Lingner auch in der DDR zu Ende zuteil. In seiner 1989 fertiggestellten Dissertation beurteilte Kirsten die Landschaftsdiagnose als »progressiv«. Kirsten, Entwicklung, 19. 129 Gelbrich, Landschaftsplanung, 543. 130 Willi Oberkrome, Sozialistische Heimat. Zum Natur- und Landschaftsschutz in der frühen DDR, in: Katharina Weigand (Hrsg.), Heimat: Konstanten und Wandel im 19./20. Jahrhundert. Vorstellungen und Wirklichkeiten. München 1997, 225–241, 235. 131 Nowak, Lingner, 82. Auch Wübbe betonte die Erstmaligkeit einer solchen Arbeit für Deutschland. Irmela Wübbe, Landschaftsplanung in der DDR, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Landschaft und Planung, 33–56, 34–35. 132 Vgl. Gelbrich, Landschaftsplanung, 543.

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das Interesse an politischer Planung gewachsen war.133 Bemerkenswert ist die in dieser Phase entstandene »Grüne Charta von Mainau« des Deutschen Rates für Landschaftspflege, die eine große Nähe zu Lingners Schriften aufwies. In Artikel III der Charta hieß es: »Die gesunde Landschaft wird in alarmierendem Ausmaß verbraucht.« Nichts anderes hatte Lingner bereits in der Präambel von 1949 geschrieben. Eine praktische Umsetzung erfuhr die Landschaftsdiagnose innerhalb der DDR allenfalls in homöopathischen Dosen. Länger wirksam war ihr inhaltliches und methodisches Erbe. Es war die Idee des in die Nutzung integrierten Naturschutzes, der sich als zählebig erwies, die Vorstellung einer ›landschaftsgerechten‹ Landnutzung.134 Träger und Verbreiter dieses Konzeptes waren die Mitarbeiter der Landschaftsdiagnose. Otto Rindt, Landesgruppenleiter in Sachsen-Anhalt, arbeitete zwischen 1952 und 1958 im Staatlichen Büro für Dorfund Stadtplanung in Halle/Saale. Nach 1958 betreute er die Rekultivierungsarbeiten an den Braunkohlegruben im Bezirk Cottbus.135 Sicher dürfte auch Lingner selbst seine Überzeugungen und während der Landschaftsdiagnose gewonnenen Einsichten in seiner Tätigkeit als Professor an seine Studenten weitergegeben haben. Die aus Sicht dieser Arbeit bedeutendste Konsequenz lag aber in dem Zusammentreffen Lingners mit einem Professor der Fakultät für Forstwissenschaft in Tharandt. Am 20.  September 1955 fand in Leipzig eine Tagung der »Arbeitsgruppe für Maßnahmen zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden« statt, die bei der Staatlichen Plankommission angesiedelt war. An der dritten Sitzung mit dem Titel »Die Landschaft und der Industrierauch« nahm neben Lingner Erich Zieger teil. Es ist das erste dokumentierte Zusammentreffen der beiden Wissenschaftler, die sich in den folgenden Jahren öfter begegneten. Zieger war in Tharandt Professor für Forstnutzung und Forstschutz. Er verfolgte den Gang der Landschaftsdiagnose und leitete daraus ein eigenes Forschungsvorhaben ab, das in Methodik und Konzeption den Vorstellungen Lingners nahe kam.

133 Vgl. Engels, Naturpolitik, 130 und 150–151. 134 Vgl. Behrens, Landschaft, 73. 135 In einer Veröffentlichung von 1975 bezog sich Rindt direkt auf die Landschaftsdiagnose. Otto Rindt, Bergbaufolgelandschaft, in: Karlheinz Lohs (Hrsg.), Im Mittelpunkt der Mensch. Umweltgestaltung – Umweltschutz. Berlin (Ost) 1975, 335–352, 340. Vgl. dazu auch Axel Zutz, Otto Rindt. Landschaftsgestaltung in Sachsen-Anhalt nach 1945, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Landschaft und Planung, 185–220, 211;­ Kirsten, Entwicklung, 61 und Nowak, Lingner, 61. Eine Kurzbiographie Rindts findet sich bei Dix, Ende, 345.

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1.2 Erich Zieger – ein früher Netzwerker Erich Zieger war nach dem Zweiten Weltkrieg der Wiederbegründer der langen Tradition Tharandter Rauchschadenforschung. Das verwundert zunächst, war doch bis dahin die Rauchschadenforschung eine Domäne der akademischen Pflanzenchemie und wurde von studierten Chemikern betrieben. Zieger selbst war Forstmann, kam aus der Forstpraxis und arbeitete viele Jahre als Revierleiter. Erst mit der Enteignung seines Arbeitgebers im Zuge der Bodenreform 1945 schlug er eine akademische Laufbahn ein. Er wurde zu einem Experten der Gerbstoffchemie, einem für die DDR nach dem Krieg bedeutenden Wirtschaftszweig. Mit Fragen des Forstschutzes hatte er sich – abgesehen von der praktischen Tätigkeit im Revier – nicht beschäftigt. Wie konnte er nach seiner Berufung 1952 die Bedeutung für die Rauchschadenforschung erlangen, die ihm heute zugeschrieben wird? Ziel dieses Kapitels ist es, die Vorbilder Ziegers zu identifizieren und sein Wirken mit dem seiner Fachkollegen in der DDR – und auch in der BRD – zu vergleichen und zu bewerten. Von besonderer Bedeutung ist die fachliche Weiterentwicklung Ziegers nach 1952 sowie die inhaltliche Differenzierung seiner Arbeit nach dem Zusammentreffen mit Reinhold Lingner 1955.

1.2.1 Geschichte der Rauchschadenforschung in Tharandt Rauchschadenforschung in Tharandt bis 1950 An der von Johann Heinrich Cotta 1811 in Tharandt gegründeten und 1816 zur Königlich Sächsischen Forstakademie erhobenen Forstschule begann 1849 die deutsche Rauchschadenforschung. In Sachsen war zu dieser Zeit die Industrialisierung bereits weit fortgeschritten und der sächsische Staat sowohl Besitzer rentabler Forstbetriebe als auch Eigentümer von Bergwerken und Hüttenbetrieben. Dass bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe die umgebende Vegetation in Mitleidenschaft gezogen wurde, erkannten die Zeitgenossen. Allein die genaue Ursache war unbekannt. Mit dem Ziel, seine Einnahmen aus Land- und Forstwirtschaft sowie Industrie zu sichern, beauftragte der sächsische Staat den Agrikulturchemiker Julius Adolph Stöckhardt mit der Suche nach Ursachen der Vegetationsschäden und nach eventuellen Gegenmaßnahmen.136 136 Arne Andersen, Historische Technikfolgenabschätzung am Beispiel des Metallhütten­ wesens und der Chemieindustrie 1850–1933. Stuttgart 1996, 38–225; Franz-Josef Brüggemeier, Das unendliche Meer der Lüfte. Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19.  Jahrhundert. Essen 1996, 152–198; Hans-Günther Däßler, Tharandter Immissionsforschung. Von Stöckhardt bis zur Gegenwart, in: TU Dresden – Sektion Forstwirtschaft (Hrsg.), 175 Jahre forstliche Lehre in Tharandt. Dresden 1986, 39–54, 39; Radkau,

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Bereits 1849 identifizierte Stöckhardt Schwefeldioxid als Hauptschadensursache. Weder ihm noch seinem Nachfolger Julius von Schroeder (1883–1895) gelang es jedoch, einen Grenzwert für den Schwefeldioxidgehalt der Luft zu bestimmen, ab dem keine Schädigung eintritt.137 Von Schroeder vermutete eine entscheidende Rolle der Spaltöffnungen an den Assimilationsorganen der Bäume und führte darum Versuche unter verschiedenen Helligkeits-, Feuchteund Temperaturbedingungen durch. 1883 legte er zusammen mit Carl Reuß die erste einschlägige Monographie zur Thematik vor.138 Sein Nachfolger Hans Wislicenus (1896–1935) bestätigte 1914 Schwefeldioxid als spezifisches Assimilationsgift. Möglich geworden war dies durch den Bau eines Rauchversuchhauses in Tharandt 1911, in dem Begasungsexperimente vorgenommen werden konnten.139 Wislicenus arbeitete zudem an der Entwicklung neuer Apparaturen, um den Schwefeldioxidgehalt der Luft exakter bestimmen zu können, und entwarf einen neuen Schornsteintyp, den Dissipatorschornstein, von dem er sich eine bessere Verdünnung der Abgase erhoffte. Das zu seiner Lebzeit aufkommende Verfahren, die Abgase mittels einer Hochesse abzuleiten, um die lokale Schadstoffbelastung zu senken, beurteilte Wislicenus kritisch. Die 1889 fertiggestellte, 140 Meter hohe Halsbrücker Esse – damals der höchste Schornstein der Welt – verringere zwar in Freiberg die Immissionslast, verfrachte aber die Emissionen in den Tharandter Wald. Neben der technischen Frage der Emissionsvermeidung an der Quelle oder ihrer geschickteren Verteilung und Verdünnung gab es immer auch Bestrebungen, den Wald mittels Bestandsänderungen widerstandsfähiger gegen Immissionsbeeinflussung zu machen. In den Wäldern Sachsens dominierten damals Monokulturen aus Fichte, dem ›Brotbaum‹ der Forstwirtschaft. Die Fichte ist allerdings sehr rauchempfindlich. Bemmann hat überzeugend dargelegt, dass die Fichte auch unter Rauchbeeinflussung und verkürzter Umtriebszeit die wirtschaftlich attraktivste Baumart war. Die Kosten für die Begründung neuer Kulturen mit Baumarten, die in den immer wieder aufgestellten ›Resistenz­ reihen‹ eine höhere Widerstandsfähigkeit gegenüber Schwefeldioxid aufwiesen, waren höher als der monetäre Gegenwert der Zuwachsverluste bei der Fichte.140

Natur und Macht, 280; Rajanov, Immissionsforschung, 3 und Otto Wienhaus, Hans-Günther Däßler, 140 Jahre Immissionsforschung am Institut für Pflanzenchemie und Holzchemie in Tharandt, in: Staub – Reinhaltung der Luft 51, 1991, 461–466, 461. 137 Rajanov, Immissionsforschung, 7. 138 Julius von Schroeder, Carl Reuss, Die Beschädigung der Vegetation durch Rauch und die Oberharzer Hüttenrauchschäden. Berlin 1883. 139 Zum wissenschaftlichen Wirken Wislicenus’, speziell zum Bau des Rauchversuchhause vgl. Bemmann, Beschädigte Vegetation und Sterbender Wald, 120–156; Däßler, Immissionsforschung, 41 und Rajanov, Immissionsforschung, 21. 140 Bemmann, Beschädigte Vegetation und Sterbender Wald, 112–113.

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In die Amtszeit von Wislicenus fielen zudem die Erhebung der Akademie zu einer Hochschule 1904 sowie die Angliederung als Forstfakultät an die Technische Hochschule Dresden 1929. Die Fakultät für Forstwirtschaft in der Nachkriegszeit Das Jahr 1945 bedeutete für die Forstfakultät Tharandt, wie für ganz Deutschland, einen tiefen Einschnitt. Die sowjetische Besatzungsmacht und die KPD/ SED betrieben an der Fakultät zunächst eine radikale Entnazifizierungspolitik. Allerdings geriet die soziale Umwälzung der Universitäten schnell an die Grenzen, die auch für andere hochspezialisierte Fächer beschrieben worden sind. Die Besatzungsmacht stand vor der Wahl zwischen einer schnellen Wiederaufnahme des Lehrbetriebs oder einem sozialen Umbau der Professorenschaft. Für eine rasche Wiederaufnahme standen aber als Hochschullehrer nur solche Akademiker zur Verfügung, die während der NS-Herrschaft, der Weimarer Republik oder dem Kaiserreich ihre Laufbahn begonnen hatten und die in ihrer überwiegenden Mehrheit bürgerlich geprägt waren.141 Hinzu kam, dass die Forstwissenschaft einen hohen Anteil an NSDAP-Mitgliedern aufwies, etwa 90 Prozent der Forstbeamten wurden aus diesem Grund entlassen, in Sachsen sogar 99 Prozent.142 Die SED stand vor der schwierigen Aufgabe, sie zu ersetzen, da nur wenige »ausgebildete Kader ohne faschistische Vergangenheit« vorhanden waren, die der »neuen Ordnung gegenüber aufgeschlossen« waren und den Nachwuchs ausbilden konnten.143 Zudem galt die Forstfakultät Tharandt als »Hort der Reaktion«.144 Die Sowjetische Militäradministration Sachsen verfügte, dass bis zum 15. November 1945 alle Mitglieder der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen seien.145 Dies war ein Teil der 1. Hochschulreform, die den Lehrkörper an den Universitäten säubern sollte.146 Von den 63 Professoren der TH Dresden 141 Ralph Jessen, Professoren im Sozialismus. Aspekte des Strukturwandels der Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, in: Kaelble, Kocka, Zwahr, Sozialgeschichte, 217–253, 222. Haritonow hat dieses Dilemma, vor dem die sowjetische Militärverwaltung stand, treffend beschrieben. Haritonow, Hochschulpolitik, 158. 142 Albrecht Milnik, In Verantwortung für den Wald. Die Geschichte der Forstwirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Potsdam 1998, 27. 143 Rudolf Rüthnick, 40 Jahre DDR. 40 Jahre Entwicklung zu einer sozialistischen Forstwirtschaft, in: Sozialistische Forstwirtschaft 39, 1989, 257–259, 258. 144 Rolf Sonnemann, Geschichte der Technischen Universität Dresden. 1828–1978. Berlin (Ost) 1978, 187. Jessen bezeichnete die Forstwirtschaft als Teil eines »braunen Blocks«. Ralph Jessen, Diktatorischer Elitewechsel und universitäre Milieus. Hochschullehrer in der SBZ/DDR (1945–1967), in: Geschichte und Gesellschaft 24, 1998, 24–54, 40. 145 Vgl. UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 156, Personalangelegenheiten, o. p.; Haritonow, Hochschulpolitik, 153 und Parak, Hochschule, 325–328. 146 Fuchs, Bildung, 44.

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im Wintersemester 1944/45 gingen 24 in die Westzonen. Von den übrigen waren 21 Mitglieder der NSDAP, so dass lediglich 18 Professoren für eine Wiederaufnahme des Lehrbetriebs verfügbar waren. In Tharandt waren die Professoren Werner Bavendamm (Botanik), Alfred Wobst (Forsteinrichtung), Johannes Jentsch (Forstverwaltung) und Anton Heger (Ertragskunde und Forstnutzung) von der Entnazifizierung betroffen. Nur drei Professoren nahmen im Wintersemester 1946/47 den Lehrbetrieb wieder auf: Hans Sachße (Jahrgang 1890, Bodenkunde und Standortlehre), Heinrich Prell (Jahrgang 1888, Zoologisches Institut) und Heinrich Wienhaus (Jahrgang 1882, Pflanzenchemie).147 Das relativ hohe Alter der Professoren und ihre politische Gesinnung – einer gehörte der CDU an, die beiden anderen waren parteilos – lassen erkennen, dass dem ›sozialistischen Umbau der Universitäten‹, wie ihn die SED betreiben wollte, an der Forstfakultät Tharandt die personellen Alternativen fehlten.148 Jessen hat das universitäre Milieu als »soziokulturell resistent«149 beschrieben und die Strukturmerkmale herausgearbeitet, die die ›Entbürgerlichung‹ der Universitäten verzögerten. Zum einen war dies der lange Ausbildungsgang mit vertikaler Berufslaufbahn, der einen Quereinstieg erschwerte, und zum anderen die Marktsituation Ende der 1940er Jahre. Die Grenzen zu den Westzonen waren offen, und es herrschte akuter Mangel an Fach- und Lehrkräften, auf deren unentbehrliches Wissen die SED angewiesen war.150 Die Partei musste auf Professoren zurückgreifen, die »wenigstens im bürgerlichen Sinne demokratisch gesinnt waren«.151 Hinzu kam, dass für den Bereich der Forstwissenschaft die absolute Zahl dieser Fachkräfte sehr niedrig war. Neben der Forstfakultät in Tharandt bestand mit der Forstlichen Hochschule Eberswalde, die 1946 der HU Berlin angegliedert wurde, nur noch eine weitere akademische Ausbildungsstätte auf dem Gebiet der SBZ.152 147 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 177, Professorenangelegenheiten, Verzeichnis der Lehrkräfte vom 16.1.1947. 148 Mit einem Durchschnittsalter von über 59 Jahren lagen die Tharandter Professoren noch über dem Schnitt, den Parak für die sächsischen Professoren mit 58 Jahren errechnet hat. Während der Zeit des Nationalsozialismus hatte dieser Wert zwischen 51 und 53 Jahren gelegen. Vgl. Parak, Hochschule, 311. 149 Jessen, Ordinarius, 78–79. 150 Jessen, Elitenwechsel, 43–44. Vgl. auch Jens Thiel, »…daß es jetzt leider noch unmöglich ist, politisch belastete Professoren durch politisch unbelastete Professoren zu ersetzen«. Akademische Karrieren in der SBZ und frühen DDR zwischen antifaschistischem Postulat und Pragmatismus, in: Sabine Schleiermacher, Udo Schagen (Hrsg.), Wissenschaft macht Politik. Stuttgart 2009, 101–123. 151 Filippovich, Entnazifizierung, 37. 152 Eine Statistik weist für 1948 253 Studenten der Forstwirtschaft aus, davon 114 in Eberswalde und 139 in Tharandt. Andrej P. Nikitin, Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland zur Bildung des Lehrkörpers der Hochschulen, in: Heinemann, Hochschuloffiziere, 53–74, 63. Zwischen 1949 und 1955 entließ die Fakultät Tharandt 136 Absolventen. Sonnemann, Geschichte, 229.

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Während also schon 1954 in den Gesellschaftswissenschaften 74 Prozent aller Professoren Mitglied der SED waren, zeigte die Forstwissenschaft ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Es gab schlicht und einfach kaum Forstwissenschaftler, die der Arbeiter- und Bauernschicht entstammten. Nachdem die SMAD die Entnazifizierung im April 1947 für beendet erklärt hatte, konnten politisch inaktive NSDAP-Mitglieder wieder in ihre alten Positionen zurückkehren. Ihnen wurde die Möglichkeit eingeräumt, »am Aufbau eines friedlichen und demokratischen Deutschland« mitzuwirken.153 Anton Heger, der 1950 Professor für Waldbau wurde, war ein Beispiel dafür. 1945 seines Professorensamtes enthoben, wirkte er seit 1947 wieder mit Lehrauf­ trägen in Tharandt. In der Zwischenzeit waren noch Heinrich Schippel (Forsteinrichtung), Alfred Müller (Forstnutzung), Erwin Kienitz (Forstliche Wirtschaftslehre) und Max Moldenhauer (Forstmessung) hinzugekommen.154 1954 wiesen die Fakultäten für Forstwissenschaft, Landwirtschaftswissenschaften und Veterinärmedizin mit 41,2 Prozent nach den medizinischen und technischen Fakultäten den höchsten Anteil an ehemaligen NSDAP-Parteimitgliedern unter den Professoren auf.155 Unter der Losung »Arbeiter an die Hochschulen« drangen die Arbeiter­k inder von unten in die akademische Pyramide ein. Bei der Auswahl der Studenten mussten sich die Universitäten an politische Zielvorgaben der SMAD halten. An der TH Dresden entschied über die Zulassung zum Studium eine Kommission, der Vertreter der Hochschule, der Landesverwaltung, der Parteien, des FDGB, der FDJ und des Bundes demokratischer Studenten angehörten. Der Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder unter den Erstsemestern bei Wiedereröffnung der TH Dresden lag dennoch nur bei 27,2 Prozent.156 Um die Zahl der studierfähigen Werktätigen zu erhöhen, wurden auf Anregung der Deutschen Verwaltung für Volksbildung ab 1946 Vorbereitungskurse eingerichtet, die im Oktober 1947 in Vorstudienanstalten und 1949 in Arbeiter- und Bauernfakultäten (ABF) umbenannt wurden.157 Für die gesamte DDR lag 1954 dann der Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder unter den Dozenten bei 26,6 und unter dem wissenschaftlichen Nachwuchs bei 32,9 Prozent. Für Tharandt liegen keine Zahlen vor. Die Entwicklung dort dürfte die gleiche Richtung aufweisen, wobei sie sich wie in allen naturwissenschaftlich-technischen Fächern langsamer vollzog. Sonnemann gab an, dass 1954/55 der Anteil der Arbeiter- und Bauern­ kinder unter den 217 Studenten bei etwa 50 Prozent lag.158 Mit der Enteignung der großen privaten Waldbesitzer im Zuge der Bodenreform entfiel zudem für 153 Haritonow, Hochschulpolitik, 155. 154 Reiner Pommerin, Geschichte der TU Dresden 1828–2003. Köln u. a. 2003, 242. 155 Jessen, Professoren, 226. 156 Pommerin, Geschichte, 242–243. 157 Vgl. zur Entwicklung der ABF Sonnemann, Geschichte, 175–176. 158 Ebd., 229.

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den Nachwuchs einer von der SED bekämpften gesellschaftlichen Schicht ein Grund für die Aufnahme eines Forststudiums.159 Insgesamt dürfte das Urteil Jessens, dass in den Naturwissenschaften das tradierte universitäre Milieu bis etwa Mitte/Ende der 1950er Jahre erhalten blieb und die reintegrierten, alten Professoren ihre Schüler und Assistenten in Position brachten, auch für die Fakultät in Tharandt gelten. Er sah in diesem Zusammenhang das »Musterbeispiel eines evolutionären Generationenübergangs in einem fast homogenen akademischen Milieu«.160 Mitchell Ash sprach davon, dass die DDR ihren Wissenschaftlern bis zum Mauerbau »etwas bieten« musste und sich diese dadurch »kleine Reiche ›bürgerlicher Wissenschaft‹« erhalten konnten.161 Ein Beispiel dafür war der spätere, auch für diese Arbeit bedeutsame Professor für Pflanzenchemie Hans-Günther Däßler. Er ist am 31. Juli 1950, noch vor seiner Diplomierung bei Heinrich Wienhaus, als »Hilfsassistent« in der Personalstatistik der TH Dresden aufgelistet, ab dem 1. Januar 1951 dann als­ »Assistent«.162 Im gleichen Jahr übernahm Erich Zieger nach der Emeritierung Alfred Müllers die Professur für Forstnutzung.

1.2.2 Erich Zieger Ziegers Weg zum Professor Paul Erich Zieger, ebenso wie Reinhold Lingner Jahrgang 1902, stammte aus Kleinwaltersdorf – heute ein Stadtteil von Freiberg. Er wuchs in einem Handwerkshaushalt auf, der Vater war Schneidermeister. Nach dem Abschluss des Realgymnasiums 1919 begann er eine forstliche Lehre bei der Freiberger Städtischen Forstverwaltung. Zum Sommersemester 1920 nahm er das Studium an der Forstlichen Hochschule Tharandt auf und legte erste Prüfungen ab. 1923 holte er sein Abitur nach und wechselte für ein Jahr an die Universität Leipzig, wo er Vorlesungen über Naturwissenschaften und Volkswirtschaft hörte. 1924 kehrte er nach Tharandt zurück und legte 1926 seine Diplomprüfung ab. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Reinhard Hugershoff am Institut für Forstingenieur- und Luftbildwesen. Bereits 1927 wurde er von der Universität Leipzig mit einer Arbeit zur Luftbildmessung in Wäldern 159 Pommerin, Geschichte, 242. 160 Jessen, Elitenwechsel, 39. 161 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2010, 11–46, 39. 162 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 141, Dekanat Fakultät für Forstwirtschaft, Personalstatistiken, Personallisten vom 31.7.1950 und 12.10.1953.

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zum Dr. phil. promoviert.163 Im gleichen Jahr begann Zieger sein Referendariat im Sächsischen Forsteinrichtungsamt, das er 1929 mit dem Staatsexamen für den höheren Forstdienst abschloss. Danach arbeitete er für kurze Zeit als Forstassessor, bevor er 1930 als Oberförster zur Gräflich Hohenthalschen Hauptverwaltung Püchau in der Nähe von Leipzig ging. Unterbrochen vom Kriegsdienst 1940 bis 1944 blieb er bis zur Enteignung der Hohenthalschen Hauptverwaltung im Zuge der Bodenreform im September 1945 in Püchau und arbeitete danach für das neu entstandene Forstamt Wurzen.164 Auch Zieger war – als ehemaliges NSDAP-Mitglied zwischen Februar 1938 und Juli 1939 – von der Entnazifizierung der sächsischen Forstverwaltung betroffen. Danach arbeitete er für verschiedene sächsische Lederfabrikanten. 1947 wurde er schließlich wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Lederinstitut Freiberg und befasste sich mit der forstlichen Gerbstoffgewinnung. Gleichzeitig übernahm er wissenschaftliche Aufträge des Landesforstamtes in Dresden und des Ministeriums für Planung. 1951 zeichnete sich die Emeritierung Alfred Müllers als Professor für Forstnutzung ab, und das Ministerium für Schwerindustrie suchte einen geeigneten Nachfolger. Im März 1951 hatte die SED die Organisation des Hochschulwesens neu geordnet. Die sechs Universitäten der DDR wurden dem neu gegründeten Staatssekretariat für Hochschulwesen unterstellt. Die TH Dresden, die alleinige Ausbildungsstätte für Industrieingenieure, verblieb bis zum 5. November 1951 unter der Kontrolle des Ministeriums für Schwerindustrie.165 Diese Neuorganisation war Teil der 2. Hochschulreform von 1951. Die Hochschulen wurden nach dem Muster des demokratischen Zentralismus umgebaut, wobei die Sowjetunion als Vorbild diente. Alle Studiengänge wurden mit einer »Einführung in den Marxismus-Leninismus« verbunden, die etwa 20 Prozent des Studienumfangs betrug. Hinzu kamen für die Studenten obligatorischer Russischunterricht und die Mitgliedschaft in einer Studiengruppe, die von der FDJ überwacht wurde.166 Der Vorschlag der Fakultät, Zieger als Nachfolger Müllers zu berufen, schien beim Ministerium kritisch beurteilt worden zu sein.167 Zieger entsprach nicht den Anforderungen, die die SED an einen neuen Professor stellte. In einer Be 163 Erich Zieger, Ermittlung von Bestandsmassen aus Flugbildern mit Hilfe des Hugershoff-Heydeschen Autokartographen. Leipzig 1928. Seine Diplomarbeit von 1926 trug denselben Titel. Ein eigenständiges Promotionsrecht zum Dr. forest. erhielt die Forstliche Hochschule Tharandt erst am 13. Juli 1928. Zuvor liefen die Promotionen formal über die mathematischnaturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. 164 Die Angaben zu Ziegers Lebensweg sind entnommen aus UA der TUD, II/Nr. 4232 Technische Universität Dresden, Personalakte Erich Zieger, Personalbogen vom 28.1.1951 und einem selbsverfassten Lebenslauf im Anhang der Dissertation Zieger, Bestandsmassen, 128. 165 Parak, Hochschule, 140–141. 166 Fuchs, Bildung, 45. 167 Zur Entwicklung des Berufungsverfahrens nach 1945 in Sachsen vgl. Parak, Hochschule, 355–362.

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urteilung, die Erwin Kienitz am 21. Februar 1951 für das Ministerium verfasste, bezeichnete dieser Zieger als fachlich kompetenten und persönlich integren Wissenschaftler. Zudem sei er nur kurze Zeit Mitglied der NSDAP gewesen. Das zugkräftigste Argument brachte Kienitz zuletzt. Zieger sei der einzige, der für die Stelle fachlich in Frage käme, und die Fakultät sei »zur Zeit nicht in der Lage, einen zweiten oder dritten Berufungsvorschlag zu machen«.168 Auch der Direktor des Deutschen Lederinstitutes Freiberg, Fritz Stather, be­urteilte die fachlichen und persönlichen Eigenschaften als ausgezeichnet. Es ist jedoch schwer nachvollziehbar, dass für Zieger vor dem Ministerium eine positive charakterliche Beurteilung durch den ehemaligen Wehrwirtschaftsführer und Reichsbeauftragten für die Lederindustrie hilfreich war.169 Differenzierter dürfte die Beurteilung Kienitz’ aufgenommen worden sein. Er war wie Zieger in den 1930er Jahren Forstmeister bei einem großen adligen Waldbesitzer gewesen, der Freiherr von Dörnbergschen Familienstiftung. Da er kein NSDAP-Mitglied gewesen war, wurde er 1945 Oberforstmeister des Landesforstamtes in Dresden.170 Spätestens hier traf er auf Zieger, der nach dem Krieg einige Forschungsaufträge für das Landesforstamt bearbeitete. Wahrscheinlich kannten sie sich aber schon seit Ende der 1920er Jahre, waren sie doch ein Jahrgang und hatten beide in Tharandt studiert. Nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Forstliche Wirtschaftslehre 1948 wirkte Kienitz zwischen 1949 und 1953 als Dekan der Forstfakultät.171 Trotz der positiven Beurteilungen dürfte die Personalie Zieger dem Ministerium einiges ›Bauchgrimmen‹ bereitet haben. Noch 1954 war in der Kaderakte wenig Schmeichelhaftes über ihn zu lesen: Seine Vorlesungen sind einseitig und bringen wenig Neues. Die Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse kommen darin kaum zum Ausdruck, ebenso berücksichtigt er nicht die Erfolge der sowjetischen Wissenschaft und Technik. Er spricht in seinen Vorlesungen nur von westlichen Errungenschaften der Technik. Prof. Zieger ist ein bürgerlicher Wissenschaftler, der noch wenig Bindung zu unserer neuen Gesellschaftsordnung hat und religiös eingestellt ist.172

168 UA der TUD, II/Nr. 4232 Technische Universität Dresden, Personalakte Erich Zieger, Brief Kienitz’ an das Ministerium für Schwerindustrie vom 21.2.1951. 169 Olaf Kappelt, Braunbuch DDR. Nazis in der DDR. Berlin 1981, 375. 170 Reiner Pommerin (Hrsg.), Die Professoren der TU Dresden 1828–2003. Köln u. a. 2003, 446. 171 Ebd., 446. Zudem wurde Kienitz in der Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum der TU Dresden 1978 für seinen persönlichen Einsatz beim Aufbau der sozialistischen Universität gelobt. Sonnemann, Geschichte, 198. 172 UA der TUD, II/Nr. 4232 Technische Universität Dresden, Personalakte Erich Zieger, Beurteilung der Kaderabteilung vom 15.10.1954.

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Es müssen demnach die gerühmten fachlichen Fähigkeiten gewesen sein, die das Ministerium dazu bewogen, Zieger zu berufen. Auch das erscheint zunächst bemerkenswert, denn sein Lebensweg deutete nicht auf eine akademische Karriere hin. Die kurze Zeit zwischen Diplom und Promotion lässt vermuten, dass er sich damit nicht für eine universitäre Laufbahn positionieren wollte. Die Dissertation war ein 30-seitiger Annex zu seiner Diplomarbeit. Konsequenterweise ging Zieger in die Praxis, wo er 15 Jahre verblieb. Erst der Verlust seines Arbeitgebers im Zuge der Bodenreform und die Entnazifizierung der Forstverwaltung zwangen ihn, sich neu zu orientieren. Nach 1945 entwickelte sich Zieger zu einem Experten für die forstliche Gerbstoffgewinnung. Hier ist der entscheidende Punkt zu sehen, denn Forstnutzung umfasste in der DDR der 1950er Jahre zu einem beachtlichen Teil Gerbstoffgewinnung und war von einiger wirtschaftlicher Relevanz. Bereits 1947 hatte Zieger in der Fachzeitschrift Forstwirtschaft-Holzwirtschaft festgehalten, dass »durch das Fehlen ausländischer Zufuhren die Fichten-Gerbrinden das einzige, in größerem Umfang zur Verfügung stehende Gerbmittel geworden ist«.173 Im »Jahresbericht 1953 des Institutes für Forstnutzung« wurde deutlich, warum er fachlich der geeignete Wissenschaftler war: Die Standardisierung der Rohholzsorten und Gerbrinden ist seit Jahren eine der Hauptaufgaben meines Institutes. Hierbei wurde laufend mit Forstdienststellen und dem Deutschen Lederinstitut Freiberg zusammengearbeitet.174

Die Wahrnehmung der Professur für Forstnutzung durch Zieger seit dem 1. April 1951 und die endgültige Berufung zum Direktor des Tharandter Hochschulinstituts für Forstnutzung und der Sammlung für Jagdkunde am 1. Juni 1952 zeigten, wie gering die Möglichkeiten der SED in den frühen 1950er Jahren waren, Personalentscheidungen in spezialisierten Disziplinen in ihrem Sinne zu lenken. Selbst im Falle eines akademischen Quereinsteigers, wo eine Berücksichtigung gewünschter gesellschaftlicher Merkmale leichter zu bewerkstelligen gewesen wäre, stand mit Erich Zieger lediglich ein Wissenschaftler zur Verfügung, der bestenfalls der neuen gesellschaftlichen Ordnung nicht ablehnend gegenüberstand. In der Patronage Kienitz’ gegenüber Zieger wurde zudem der ›Korpsgeist‹ der Forstwirtschaft greifbar, den die SED als Hindernis für den Aufbau einer sozialistischen Forstwirtschaft ansah und beseitigen wollte.175

173 Erich Zieger, Ein neues Verfahren der Borkenkäferbekämpfung, in: Forstwirtschaft – Holzwirtschaft 1, 1947, 225–228, 225. 174 BArch DF 4/56232 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht 1953 des Institutes für Forstnutzung der Fak. f. Forstwirtschaft der Technischen Hochschule Dresden in Tharandt. 9.1.1954, pag. 3. 175 Vgl. F. Beer, Borkenkäfer, Holzmaden und sonstige Schädlinge, in: Forstwirtschaft – Holzwirtschaft 5, 1951, 129 und Milnik, Verantwortung, 35.

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Die Entwicklung zum Rauchschadenexperten Dupuy schrieb, dass Zieger 1952 die Rauchschadenforschung wieder aufnahm.176 Diese Feststellung überrascht, denn die Berührungspunkte zwischen Forstnutzung und der Rauchschadenfrage sind nicht auf den ersten Blick offensichtlich. Nach seiner Ernennung zum Professor für Forstnutzung im Juni 1952 bekam Zieger jedoch zusätzlich die Professur für Forstschutz übertragen. Mit drei Mitarbeitern und keinen eigenen Räumlichkeiten war es ein eher ›stiefmütterlich‹ behandeltes Institut. Inhaltlich befasste es sich bei der Übernahme durch Zieger mit Waldbrandfragen und dem damals aktuellen Ulmensterben.177 Rauchschäden und ihre Erforschung hatten nach dem Krieg bis 1952 in diesem Institut keine Rolle gespielt.178 Insofern ist auch die Jahreszahl von Dupuy auf 1953 zu korrigieren. Im bereits zitierten Jahresbericht erwähnte Zieger zusätzlich, dass er in seiner Eigenschaft als Professor für Forstschutz mehrfach um Gutachten zu IndustrieRauchschäden gebeten worden war. Es offenbarte sich eine Parallele zu Lingner. Beide wurden durch die Ämter, die sie bekleideten, mit als negativ wahrgenommenen Veränderungen in der Natur konfrontiert. Beide verfügten aufgrund ihrer Ausbildung über das notwendige methodische und fachliche Rüstzeug, die aufgeworfene Problematik zu bearbeiten. Bei Zieger kam die Erfahrung als Oberförster hinzu, lagen doch die gräflich Hohenthalschen Waldungen im Lee des Mitteldeutschen Industriegebietes. Industrie-Rauchschäden an Bäumen dürften Zieger aus seiner praktischen Arbeit im Revier bekannt gewesen sein. Lingner und Zieger einte zudem die Charaktereigenschaft, die erkannte Problemlage zügig anzupacken und umfassende Lösungskonzepte zu präsentieren. Was für Lingner die Landschaftsdiagnose war, war für Zieger ein Artikel, den er in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der TH Dresden veröffentlichte.179 Es war der erste Fachartikel, der in der DDR zu Industrie-Rauchschäden in Wäldern erschien. Er skizzierte bereits alle Aspekte der Thematik, die bis zum Ende der DDR bestehen blieben und an denen sich Zieger in seinen weiteren Veröffentlichungen bis 1960 orientierte. Zieger referierte kurz die Entwicklung der Rauchschadenforschung in­ Tharandt. Dann kam er auf die große Schwierigkeit zu sprechen, vor der die Rauchschadenforschung von Anfang an stand: die Schäden zweifelsfrei nachzuweisen. Die Symptome rauchgeschädigter Bäume ähnelten denen anderer Krankheiten oder Frostschäden. Er sah wie Wislicenus die Lösung in der Luft 176 Dupuy, Les scientifiques, 323. 177 Erich Zieger, Das Ulmensterben, in: Der Wald 2, 1952, 21–26. 178 BArch DF 4/56232 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht 1953, pag. 3. 179 Erich Zieger, Rauchschäden im Walde, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 3, 1953/54, 271–280.

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analyse.180 Hier sei allein das Schwefeldioxid von Bedeutung. Denn während alle anderen Schadstoffe lokale Waldschäden verursachten, habe Schwefeldioxid eine hohe Fernwirkung und verursache chronische Schäden weitab der Emissionsquelle. Diese Schädigungen kämen sowohl über die Luft, also über die Aufnahme über Nadeln und Blätter, als auch über einen entkalkten und langsam versauernden Boden zustande. Ziel und einzige vernünftige Lösung müsse es sein, geeignete technische Möglichkeiten für die Entschwefelung der Rauchgase zu entwickeln, denn genau wie Wislicenus lehnte er die geübte Praxis der Hochessen ab. »Die Hochesse verhütet den Schaden nicht, sondern verlagert ihn nur«, war seine Überzeugung, und er forderte im Gegenteil den Bau niedrigerer Schornsteine, die die »feuerungstechnischen Belange« gerade noch befriedigten, die Wald­schäden aber lokal begrenzten. Diese Sichtweise Ziegers ist unter sozialhygienischen Aspekten bemerkenswert, war doch damit eine gesundheitliche Belastung großer Bevölkerungskreise verbunden. Aufgrund seiner Biographie – Zieger war in Sichtweite der Halsbrücker Esse aufgewachsen – ist anzunehmen, dass er dies wusste. Abhilfe wollte er durch die Schwelung der Braunkohle schaffen. Die so veredelte Braunkohle verbrannte schwefelärmer und senkte die Luftbelastung. Lobend erwähnte er die Braunkohlenschwelerei Espenhain – damals eine moderne Anlage, die in den 1980er Jahren erhebliche Proteste hervorrief.181 Die Möglichkeiten der Forstwirtschaft, auf die Luftbelastung zu reagieren, sah er als beschränkt an. Er gab zu, dass die Fichtenreinbestände besonders anfällig für Schwefeldioxidimmissionen seien und die Forstwirtschaft mit der Anlage von Rauchschutzgürteln aus unempfindlicheren Laubhölzern gegensteuern könne. Der Versauerung der Böden solle mit Kalkungen begegnet werden. Zieger unterstrich aber die Begrenztheit und Langwierigkeit der forstlichen Maßnahmen, die allesamt wirkungslos blieben, sollte sich an der Emissionsquelle nichts ändern, denn »[g]egenüber einer ungeminderten Abgaseinwirkung hat die Forstwirtschaft eben keinerlei therapeutische Mittel zur Verfügung«.182 Zuletzt sprach Zieger die juristische Seite an. 1954 stellte die privatrechtliche Entschädigung nach §§ 903, 905, 906 und 907 BGB (Nachbarschaftsrecht) die einzige Form der juristischen Auseinandersetzung Rauchschäden betreffend dar. Zieger forderte hier eine bessere Lösung. Es waren zusammengefasst fünf Punkte, die Zieger referierte: Schadursache, Diagnose, technische Gegenmaßnahmen, forstliche Gegenmaßnahmen und gesetzliche Regelungen. Diese Punkte waren weder neu, noch waren Ziegers Lösungsvorschläge zu diesem Zeitpunkt besonders innovativ und kreativ. Er bewies allerdings mit seiner neuen Schwerpunktsetzung Weitsicht. Er wusste, dass die Industrie 180 Ebd., 272. 181 Vgl. dazu die Ausführungen zu Espenhain in Kapitel 4.4.1. 182 Zieger, Rauchschäden im Walde, 278.

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Rauchschäden nach der Phase der Nachkriegserholung wieder zunehmen würden. Er kannte den Fünfjahrplan der Regierung und die in diesem enthaltenen Ausbaupläne der Industrie. Zudem gelang es ihm, sich mit diesem Artikel als Experte auf dem Gebiet der Rauchschadenforschung zu etablieren. Zumindest wurde er von anderen Wissenschaftlern des Fachgebiets als solcher wahrgenommen, was Anfragen aus München, Freiburg, Bonn, Prag oder Yale andeuten.183 Ein weiterer Schritt auf diesem Weg war der dies academicus, den Zieger 1954 in Tharandt ausrichtete.184 Unter dem Titel »Wald- und Industrierauchschäden« wurden am 19. November 1954 acht Fachvorträge zur Thematik gehalten, die biologische, zoologische, chemische, technische und juristische Aspekte behandelten. Der dies academicus war eine gemeinsame Veranstaltung mit der Forstfakultät Eberswalde und umfasste neben der forstlichen Öffentlichkeit zumindest Vertreter der Industrie.185 Ob Fachvertreter aus der Bundesrepublik anwesend waren, kann nicht mit Gewissheit angegeben werden. Es ist zu vermuten, da die Fakultät Tharandt zum damaligen Zeitpunkt an einem regen Austausch mit westdeutschen Wissenschaftlern interessiert war, was auch durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Münchner Professor Gustav Krauß im Rahmen des dies academicus dokumentiert wurde.186 In die ähnliche Richtung wies die Begrüßungsansprache von Oberforstmeister Heinz ­König, dem Vertreter der Hauptverwaltung Staatlicher Forstwirtschaftsbetriebe. Wichtiger aber war sein Hinweis auf die international herausgehobene Position der Tharandter Rauchschadenforschung. Die Wiederaufnahme der Forschung durch Zieger bedeute »die Weiterführung einer guten alten Tradition, die den Ruf der Fakultät für Forstwirtschaft Tharandt in der gesamten forstlichen Fachwelt weiterhin festigen wird«.187 Diese Funktion hatte der dies academicus wohl erfüllt. Die Mehrzahl der Professoren an der Fakultät wer 183 Vgl. UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 317, Institut für Forstschutz, Schriftwechsel zur Übermittlung von Druckschriften, o.p. und Rajanov, Immissionsforschung, 42. 184 Aus dem Beitrag von Werner Boie geht eindeutig hervor, dass Zieger der spiritus rector der Veranstaltung war: »Ich begrüße es sehr, daß Herr Prof. Dr. Zieger die Initiative ergriffen hat, das Rauchschädenproblem von neuem angepackt zu haben, das immer ernster und dessen Lösung aber im Interesse der Vegetation und der Menschheit immer dringender geworden ist.« Werner Boie, Probleme der Vermeidung von Rauchschäden aus Feuerungen. Vortrag, gehalten zum dies academicus in Tharandt am 19.  November 1954, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 4, 1954/55, 487–497, 497. 185 Petzold, Dies academicus 1954, in: Forst und Jagd 5, 1955, 124–126, 125. 186 Krauß selbst konnte wegen einer Erkrankung allerdings nicht persönlich nach Tharandt kommen. Ebd., 124. 187 Heinz König, Begrüßungsansprache des Vertreters der Hauptverwaltung Staatlicher Forstwirtschaftsbetriebe. Vortrag, gehalten zum dies academicus in Tharandt am 19.  November 1954, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 4, 1954/55, 445–446, 446.

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tete den dies academicus als Erfolg, was zahlreiche Anfragen aus dem Ausland unterstrichen.188 Der dies academicus war auch ein Erfolg für seinen Organisator Zieger, der die innerfakultäre Zuordnung der Rauchschadenfrage klären konnte. Während Wienhaus einen nur kurzen Vortrag hielt, der aus der Zusammenfassung der Leistungen seiner Amtsvorgänger bestand, referierte Zieger den aktuellen Forschungsstand, wie etwa den Härtelschen Trübungstest, den der Grazer Botani­ ker Otto Härtel 1953 vorgestellt hatte. Wesentliche Unterschiede zu seinem Aufsatz von 1953/54 bestanden in der Frage der Diagnostik. Nun wertete er den Wert von Luftanalysen ab und sah biologische Testverfahren am geeignetsten an, um Rauchbeeinflussung nachzuweisen.189 Innerhalb von zwei Jahren war es dem akademischen Quereinsteiger Zieger gelungen, sich als international anerkannter Experte für Fragen der forstlichen Rauchschäden zu etablieren. Er profitierte dabei von drei Sachverhalten: Erstens von der Entnazifizierung der Universitäten und dem Mangel an forstwirtschaftlichen Fachkräften, die ihm die akademische Laufbahn erst eröffneten. Zweitens von der Reputation, die die Forstliche Fakultät Tharandt in der Rauchschadenforschung besaß. Drittens von dem fehlenden Willen des Instituts für Pflanzenchemie und Holzforschung, sich ihres traditionellen Themas nach 1945 wieder anzunehmen. Als er innerhalb der Fakultät die Rauchschadenforschung im Forstschutz verankert wusste, ging er daran, seinen Wirkungskreis über die Universität hinaus zu vergrößern. Auf dem dies academicus hatte er zum ersten Mal öffentlich die Bildung einer Rauchschadenkommission angeregt, der Vertreter der Forstwirtschaft und involvierter Ministerien angehören sollten.190 Priorität hatte jedoch zunächst eine Ausweitung der Forschungs­ kapazitäten am Institut. Ausbau und Institutionalisierung der Rauchschadenforschung ab 1955 1955 gab Eberhart Pelz seine Diplomarbeit mit dem Titel »Studien über eine individualspezifische Resistenz von Fichte in einem Rauchschadgebiet mit typischen SO₂-Schäden« bei Erich Zieger ab. Es war die erste Diplomarbeit zu Waldrauchschäden nach dem Krieg, und Pelz verstärkte ab September 1955

188 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 312, Protokolle der Fakultätssitzungen, Sitzung vom 12.4.1956. 189 Erich Zieger, Die heutige Bedeutung der Industrie-Rauchschäden für den Wald. Vortrag gehalten zum dies academicus in Tharandt am 19. November 1954, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 4, 1954/55, 499–505, 500–502. 190 Am 28.5.1953 hatte Zieger der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften eine solche Kommission vorgeschlagen, darauf aber keine Rückmeldung erhalten.

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das Institut für Forstschutz als wissenschaftlicher Mitarbeiter.191 Diese Aufstockung um einen Mitarbeiter auf insgesamt vier war der zählbarste Erfolg für die Rauchschadenforschung in personeller Hinsicht bis 1959. Allein die Bruttolohnsummen von 133.500 DM für die Forstnutzung und 18.728 DM für den Forstschutz verrieten, wo der Schwerpunkt der von Zieger geführten Institute lag.192 Seine Versuche, den Mitarbeiterkreis weiter zu erhöhen, scheiterten. In einem »Perspektivplan« von 1959 forderte er erneut eine Ausweitung der Rauchschadenforschung. Von vier Mitarbeitern sollte der Forstschutz bis 1965 auf 17 Mitarbeiter anwachsen. Zieger begründete dies mit der immer weiter anwachsenden Schadfläche.193 Waren die Industrie-Rauchschäden in Wäldern bisher ein lokal begrenztes Übel, Wentzel nannte es für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Problem »enge[r] Gebirgstäler«,194 konstatierte Zieger nun eine Gefahr für den gesamten Wald. Der drängendere Ton lässt sich durch zwei Entwicklungen begründen. Erstens führte Zieger regelmäßig Erhebungen der geschädigten Waldfläche durch, die ihn in ihrer Tendenz beunruhigten. Für 1954 kam Zieger auf 3954 ha, 1956 bereits auf 7691 ha und 1958 schließlich auf 20.000 ha Schadensfläche. Die letzte Zahl versah er mit einer eindringlichen Mahnung an das Ministerium für Wissenschaft und Technik: Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Rauchschäden im Walde ist so gewaltig angestiegen, daß sie heute von keiner Regierungsstelle mehr übersehen werden kann. Die Schadfläche von 20 000 ha in der DDR allein beweist die Schwere dieses Problems.195

Zu dieser quantitativen Bedrohung stieß eine qualitative. Neben den engen Gebirgstälern traten die Rauchschäden traditionell rund um Industriestandorte wie Zwickau, Chemnitz (ab 1953 Karl-Marx-Stadt), Glauchau oder in deren Lee auf. Pelz, der mit dem Forschungsauftrag »Untersuchung über Diagnose und Therapie bei Rauchschäden« beauftragt war, sollte 1956 in den höheren Lagen

191 Insofern ist Bemmann zu widersprechen, der Wentzel als »erste[n] Wissenschaftler in Deutschland« bezeichnete, »der eine Stelle innehatte, die ausschließlich der Untersuchung immissionsbedingter Waldschäden gewidmet war«. Bemmann, Beschädigte Vegetation und Sterbender Wald, 403. 192 BArch DF 4/61314 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht 1958 des Institutes für Forstnutzung der Fakultät für Forstwirtschaft der Technischen Hochschule Dresden in Tharandt. 24.1.1959, pag. 15. 193 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 137, Dekanat, Perspektivplan bis 1965. 1959, o.p. 194 Karl Friedrich Wentzel, Vorwort des Gastschriftleiters. Luftverunreinigung – Gefahr für die belebte Welt, in: Allgemeine Forstzeitschrift 13, 1958, 597–598, 597. 195 BArch DF 4/60258 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht 1957 des Instituts für Forstnutzung der Fak. f. Forstwirtschaft der Technischen Hochschule Dresden in Tharandt. 20.1.1958, pag. 11.

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des Erzgebirges Schäden an Fichten begutachten, die nach strengen Frösten im Raum Königstein aufgetreten waren und sich im nächsten Jahr bis Deutsch­ einsiedeln und Seiffen ausweiteten. Seiffen war erst 1956 zum Kurort erhoben worden und sollte zu einem Erholungszentrum ausgebaut werden.196 Zieger rechnete nicht damit, dass in diesen Lagen Rauchschäden auftraten. Er fragte seinen Mitarbeiter, nachdem dieser seine Ergebnisse vorgetragen hatte, ob er »da oben einen zuviel getrunken hätte. Wo soll das denn herkommen?«197 wollte Zieger von Pelz wissen, denn Pelz hatte die Schäden in den Hoch- und Kammlagen des Erzgebirges als Rauchschäden identifiziert. Damit waren zum ersten Mal in der DDR Rauchschäden aufgetreten, die sich nicht sofort einem Verursacher zuordnen ließen. Pelz hatte bei seiner Begutachtung im Erzgebirge teilweise intensiven »­ Geruch von Kohlengasen« wahrgenommen.198 Bereits 1922 hatte Constantin Gerlach die Rauchbeeinflussung der Hochlagen des Erzgebirges durch die Abgase der nordböhmischen Industrie beschrieben. Im Winter waren die Abgase zu riechen, was die ortsansässige Bevölkerung zu dem Spruch verleitete: »In Böhmen kochen sie Kaffee«.199 Diesen Berichten hatte die Forstfakultät Tharandt allerdings nie eine große Bedeutung beigemessen.200 Am Südrand des Erzgebirges lagerten im nordböhmischen Becken große Braunkohlevorkommen. Hier waren in Oberleutensdorf (Litvínov) und Brüx (Most) die Sudetendeutsche Treibstoffwerke AG aufgebaut worden, später ein Teil der »Hermann-Göring-Werke«, die Winterdiesel für die Wehrmacht herstellten. Nach dem Krieg baute die Tschechoslowakei die Region zu einem Zentrum der Energieerzeugung aus. Bis 1955 entstanden neue Werke in Dux (Duchcov) und Komotau (Chomutov) sowie das Kraftwerk Tusimice I nahe der Stadt Kaaden (Kadan) ab 1963.201 Deren Schwefeldioxid-Emissionen wurden zu einer Belastung für die Hoch- und Kamm 196 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 5494/15, Institut für Pflanzenchemie, Rauchschadenforschung im Osterzgebirge, Brief des Entwurfsbüros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt an das Institut für Pflanzenchemie vom 14.1.1964. 197 Gespräch mit Eberhart Pelz am 28.9.2010. 198 Eberhart Pelz, Einführung in die Rauchschadenprobleme im Erzgebirgsteil der DDR. Vortrag, gehalten anläßlich der III. Internationalen Arbeitstagung forstlicher Rauch­ schadensachverständiger in Tharandt (24. bis 27. Mai 1961), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 643–648, 643. 199 [Constantin] Gerlach, Beitrag zur Rauchschadenfrage, in: Forstliche Wochenschrift Silva, 1922, 61, 61. 200 Gespräch mit Eberhart Pelz am 28.9.2010. 201 Jan Materna, Einführung in die Rauchschadenproblematik im Erzgebirgsteil der CSSR. Vortrag gehalten anläßlich der III. Internationalen Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger in Tharandt (24. bis 27. Mai 1961), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 639–641, 640 und Dietmar Mende, Beiträge zur Forstgeschichte des Besitzes der Herrschaft von Schönberg auf Schloß Purschenstein zu Neuhausen. Olbernhau 2006, 71.

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lagen des Erzgebirges. In den Jahren ab 1957 stellte Pelz mittels Luft­messungen die hohe Schwefelbelastung der Luft bei südlichen Windrichtungen fest. Rauchschäden von einer derartigen Reichweite – die Rauchquellen lagen über 35 Kilometer entfernt  – waren bis dato noch nicht beschrieben und nachgewiesen worden.202 Als Fernwirkung galt bis zu diesem Zeitpunkt die Schädigung des Tharandter Waldes durch die etwa zehn Kilometer vorgelagerte Halsbrücker Esse. Noch wenige Jahre später bezeichnete ein französischer Rauchschadenforscher diese räumliche Ausweitung der Fernwirkung als »récente et toute nouvelle«.203 Zieger und sein Mitarbeiter leisteten damit nicht nur einen entscheidenden Beitrag, die große Fernwirkung des Schwefeldioxids zu belegen, sie festigten damit auch die internationale Reputation der »chercheurs de la Faculté Forestière de Tharandt« als innovatives Zentrum der Rauchschadenforschung. Hier profitierten Zieger und seine Mitarbeiter direkt von den Arbeiten an der Landschaftsdiagnose. Bereits 1955 hatte Gerhard Hentschel, der Leiter des Bioklimatologischen Forschungsinstitutes, einen Forschungsantrag gestellt, in dem er die Verdienste Lingners betonte. Die Landschaftsdiagnose habe nachgewiesen, dass es noch in 50 Kilometern Entfernung der Industriegebiete zu »hohe[n] Verschmutzungsquoten der Luft« komme.204 Dieser Art abgesichert konnten die Tharandter Wissenschaftler die neu entdeckten Schäden im Oberen Erzgebirge den nordböhmischen Emissionsquellen zuordnen. Die Einbeziehung des Auslandes erweiterte die Sachlage um eine politische Dimension. Da die Ursache der Schäden in der Tschechoslowakei lag, war nur eine sensible, langwierige und komplizierte diplomatische Herangehensweise möglich. Da das Deutsche Reich den Grundstock der Anlagen in Böhmen selbst zu Kriegszwecken errichtet hatte, hätte jedes fordernde Auftreten der DDR den Vorwurf des Revanchismus hervorgerufen.205 Zieger befasste sich nach 1956 nicht weiter mit den Schäden im Erzgebirge. Der Grund dafür dürfte in eben jenen diplomatischen Schwierigkeiten gelegen haben. 1957 betonte er in einem Aufsatz erneut, dass die Forstwirtschaft wenig gegen Rauchschäden ausrichten könne. Effektive Abhilfe sei nur an der Emissionsquelle möglich. Da aber noch keine funktionierenden Entschwefelungs­ anlagen existierten, seien die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen.

202 Pelz, Einführung, 644. 203 Jean Bossavy, Les différentes échelles de sensibilité des végétaux aux pollutions atmosphériques, in: Revue forestière française, 1964, 288–233, 233. 204 BArch DE 1/3819 Staatliche Plankommission, Arbeitsgruppe Landschaftsschäden, Antrag zur Genehmigung für die Durchführung laufender lufthygienischer Untersuchungen und Überwachungen der Hauptschwerpunkte industrieller und großstädtischer Abgasverseuchungen der Landschaften im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, sowie von zugehörigen bioklimatologischen Vermessungen. o. J. 205 Dupuy, Industries, 573.

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Er wünschte sich einen gesetzlichen Zwang zum Einbau der Filteranlagen.206 Ein solcher Zwang wäre freilich nicht auf die ČSSR übertragbar gewesen. Zieger konzentrierte sich auf die Möglichkeiten, die er hatte, die Situation in der DDR zu verbessern. Er suchte aber den Kontakt zu tschechischen Forstwissenschaftlern, um gemeinsam an waldbaulichen Mitteln zu arbeiten. Zieger wusste, dass die Entwicklung und Erprobung von Entschwefelungsanlagen Zeit brauchte. Als Zwischenlösung sah er eine »vernünftige Raumplanung« an, die »die Interessen der Forstwirtschaft und der Industrie vereinen« sollte. »Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Forstwirtschaft ihrem Wesen nach sehr unflexibel ist.«207 Im Umkehrschluss bedeutete dies, Zieger sah die Standortentscheidungen der Industrie als flexibel an. Drei Beispiele machen deutlich, dass dies nicht den Gegebenheiten entsprach. Das Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Rudolstadt-Schwarza bestand seit 1936, ging also nicht ursächlich auf eine Standortentscheidung von DDR-Organen zurück, wurde aber nach 1945 ausgebaut. Zieger begleitete die Schadentwicklung in Schwarza seit 1953 mit Gutachten und riet im Juli 1958 vom Bau eines neuen Hochschornsteins ab, da man die Waldschäden damit nur auf ein weiteres Gebiet streuen würde. Die Esse wurde dennoch gebaut. Die Waldflächen am Prallhang östlich des Werkes wurden den privaten Waldbesitzern abgekauft und vom zuständigen Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb in einen Schutzwald umgewandelt. Pelz forschte in diesem Gebiet zur individuellen Rauchresistenz der Kiefer.208 Während seiner Arbeiten vor Ort sagte ihm der Justitiar des Werkes hinter vorgehaltener Hand: »Wissen Sie was? Das, was wir an Schaden zahlen, ist nicht ein Bruchteil von dem, was wir hinein stecken müssten, um diese Abgase an der Quelle zu beseitigen. Da zahlen wir lieber weiter an die Forstwirtschaft.«209 Auf einer Einwohnerversammlung im April 1959 hatte sich der Justitiar diplomatischer ausgedrückt. Eine Absorption würde auf jeden Fall enorme Bauvolumen für Millionen DM erforderlich machen. Es ist auch unser Bestreben, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um dort, wo sich eine Möglichkeit bieten könnte, einzugreifen. Das ist bisher aber noch nicht gelungen.210 206 Erich Zieger, Die gesetzliche Regelung forstlicher Rauchschäden im In- und Ausland, in: Forst und Jagd 7, 1957, 369–371, 371. 207 Erich Zieger, Die Wirkung der Industrie-Rauchschäden auf den Wald, ihre Berücksichtigung bei der Raumplanung und die Notwendigkeit ihrer gesetzlichen Regelung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 6, 1956/57, 777–787, 782. 208 Eberhart Pelz, Beobachtungen zur Rauchhärte der Kiefer, in: Allgemeine Forstzeitschrift 13, 1958, 603–606. 209 Rajanov, Immissionsforschung, 133. 210 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 002, Institut für Waldbau und Forstschutz, Rauchschadensforschung Gebiet Schwarza, Bd. 2, Aussprache mit Gemeindevertretern am 24.4.1959.

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Wie Vertreter der Industrie die Rauchschadenforschung generell bewerteten, erhellt eine Anekdote, die Werner Boie auf der Gedenkfeier zu Ehren Ziegers erzählte. Nach dem dies academicus 1954 habe er zufällig neben einem Industrievertreter gestanden, als dieser das automatische Gasanalysegerät von Wislicenus erblickt und gemurmelte hätte: »Eigentlich müßte man diesen Apparat zertrümmern.«211 Ähnlich lag der Fall bei einer Nickelhütte in St. Egidien am Rande des Erzgebirges. Die Hütte entstand in der Nähe eines großen Waldgebietes. Dennoch war es von Seiten der Standortplanung »zu keiner Erörterung der möglicherweise eintretenden Rauchgefährdung mit den zuständigen forstlichen Stellen gekommen«.212 Der 140 Meter hohe Schornstein war bereits im Bau, als das Institut für Forstschutz hinzugezogen wurde.213 Diesem blieb nichts weiter übrig, als die Wälder, die im Lee des Werkes auf Mündungshöhe des Schornsteins lagen, umzuwandeln. Bis 1998 sollte sich eine geplante, 900.000 DM teure Änderung der Bestockung in rauchhärtere Baumarten hinziehen. Der letzte Fall war der Neubau einer Hütte des VEB Feinzink Freiberg. Zieger fertigte 1958 hierfür ein Gutachten an, in dem er eine modifizierte Anordnung der Schornsteine empfahl. Die drei Schornsteine sollten in Nord-Süd-Richtung aufgebaut werden, damit sich die Abgasfahnen nicht überlagerten. Aus Kostengründen konnte dem nicht entsprochen werden.214 Eine erste Bilanz scheint durchwachsen. Erich Zieger war es bis Ende der 1950er Jahre gelungen, die Rauchschadenforschung wieder auf die akademische Agenda zu setzen. Es war ihm darüber hinaus geglückt, das Thema in den Forstschutz einzugliedern. 1955 wurde am Institut eine Forschungsstelle speziell für Rauchschadenfragen geschaffen. Danach vollzog sich die weitere Entwicklung langsamer und mit Rückschlägen. Effektive Entschwefelungsverfahren waren noch nicht entwickelt, und das Instrument der Raumplanung erwies sich gegen die Industrie als wirkungslos. Zieger musste die Erfahrung machen, dass die Belange der Güterproduktion Priorität hatten. Von Anfang an hatte er auf die Wirkungslosigkeit forstlicher Gegenmaßnahmen hingewiesen. Auf diese sah er sich aber letztendlich zurückgeworfen. Im Jahresbericht 1958 schrieb er, 211 Hermann Pleiß, Rudolf Kleinert, Werner Erteld, Werner Boie, In memoriam Prof. Dr. Erich Zieger, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 145–152, 149–150. 212 Felix Lampadius, Vorbeugung gegen Rauchschäden im Walde. Dargestellt am Beispiel des Rauchschadengebietes St. Egidien am Fuße des Erzgebirges, in: Der Forst- und Holzwirt 15, 1960, 255–259, 255. 213 BArch DF 4/59282 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht 1956 des Institutes für Forstnutzung der Fakultät für Forstwirtschaft der Technischen Hochschule Dresden in Tharandt. 25.1.1957, pag. 9. 214 BArch DF 4/61314 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht Forstnutzung 1958, pag. 7 und Rajanov, Immissionsforschung, 45.

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nachdem die Intervention bei der Nickelhütte St. Egidien gescheitert war, dass ihm einzig waldbauliche Mittel blieben, das »Siechtum des Waldes« so gut es ging zu verhindern.215 Dem stand die Anerkennung gegenüber, die Zieger international zuteil wurde. Besonders intensiv war die deutsch-deutsche Zusammenarbeit mit Karl Friedrich Wentzel. Diesen »Immissionsökologen aus Leidenschaft« bezeichnete Bemmann als »wichtigsten westdeutschen Experten für Waldrauchschäden«.216 Zieger und Wentzel trafen erstmals auf der I. Tagung forstlicher Rauchschadensachverständiger in München im Juni 1957 aufeinander. Es entwickelte sich eine intensive Zusammenarbeit, aus der auch private Freundschaften erwuchsen. Wentzel war regelmäßig in Tharandt zu Gast und besichtigte gemeinsam mit Zieger die rauchgeschädigten Waldgebiete. 1959 nahm Zieger an der von ­Wentzel organisierten II. Tagung forstlicher Rauchschadensachverständiger in Bochum teil. Eine Behinderung dieser Zusammenarbeit seitens staatlicher Stellen der DDR gab es noch nicht. Zwar verstärkte die SED ab 1957 ihre Be­mühungen, die deutsch-deutschen Wissenschaftkontakte zu politisieren, bis zum Mauerbau 1961 blieb die Zahl der Westreisen ostdeutscher Wissenschaftler jedoch hoch.217 Es lag im Sinne der SED, dass Wentzel ostdeutschen Wissenschaftlern in der Bundesrepublik ein Forum bot. Dies geschah etwa durch Beiträge von Pelz in einer von Wentzel herausgegebenen Sondernummer »Wald-Rauchschäden« der Allgemeinen Forstzeitschrift.218 Auch über den Mauerbau und den Tod Ziegers hinaus blieben die Kontakte erhalten. Wentzel und Pelz nutzten in den Jahren nach 1961 Prag als Ort ihrer – nun unerwünschten – Treffen.219 1957 bekam Zieger vom Präsidenten der Sektion 24 (Forstschutz) im Internationalen Verband Forstlicher Forschungsanstalten (IUFRO), Antonio Biraghi (Florenz), den Auftrag, innerhalb der Sektion eine Arbeitsgruppe »Rauchschäden« aufzubauen.220 1959 übernahm Zieger selbst den Vorsitz der Arbeitsgruppe.221 Er versandte Fragebögen an Forstexperten in verschiedenen Ländern, um den Schadensstand zu erheben. Eine Auswertung und Analyse der

215 BArch DF 4/59282 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht Forstnutzung 1956, pag. 38. 216 Bemmann, Beschädigte Vegetation und Sterbender Wald. Über die Rolle Wentzels vgl. 374–401. Hier 374–375. 217 Niederhut, Wissenschaftsaustausch, 30–37. 218 Pelz, Beobachtungen und Eberhart Pelz, Literatur-Übersicht zum Problem der Waldrauchschäden, in: Allgemeine Forstzeitschrift 13, 1958, 614–616. 219 Gespräch mit Eberhart Pelz am 28.9.2010. 220 Pleiß, Kleinert, Erteld, Boie, In memoriam Erich Zieger, 150. 221 BArch DF 4/62408 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht 1959 des Institutes für Forstnutzung der Fakultät für Forstwirtschaft der Technischen Hochschule in Tharandt. 23.1.1960, pag. 7.

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Daten sollte auf der IUFRO-Tagung im September 1961 in Wien erfolgen.222 Dazu kam es nicht mehr, da Zieger unerwartet am 9. Juli 1960 verstarb. Innerhalb des akademischen Milieus der DDR gab es Freiräume, die Zieger nutzte und sich auch selbst schuf. Die Universitäten standen in den 1950er Jahren noch nicht vollständig unter der Kontrolle der SED. In den hochspezialisierten Fachwissenschaften, wie die Forstwirtschaft eine ist, gelang der personelle Umbau nur schrittweise. Ziegers Expertise in der Gerbrindengewinnung verschaffte ihm die Möglichkeit, sich ungehindert mit der Rauchschadenfrage zu beschäftigen. Eine Überführung der gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis fand hingegen nicht statt. Immer, wenn die Belange von Industrie und Forstwirtschaft gegeneinander standen, setzten sich die Interessen der Industrie durch. Unter monetären Gesichtspunkten war dies sinnvoll. Die Zuwachsverluste und Kosten der Bestandsumwandlung waren um ein Vielfaches geringer als die Kosten für eine etwaige Umrüstung der Industriebetriebe. Der Fall Schwarza machte deutlich, dass es für die Betriebe die günstigste Strategie war, den Betrieb wie gehabt weiterlaufen zu lassen und Entschädigungen an die Waldbesitzer zu zahlen. Zieger hatte diese Muster erkannt und versuchte, auf zwei Arten gegen­ zusteuern. Zum einen erhöhte Zieger den Wert des Waldes über den quanti­ fizierbaren Holzwert hinaus. Er sprach von »Wohlfahrtswirkungen« des Waldes und meinte damit etwa den regulierenden Einfluss auf den Wasserhaushalt.223 Konzepte über den Erholungswert des Waldes hat Zieger nicht ausgearbeitet. Er versuchte lediglich, den Fichtelberg im Erzgebirge als potentiell rauchgefährdetes Gebiet zu markieren. Der Fichtelberg war das einzige alpine Skigebiet der DDR, und Zieger hegte die Hoffnung, bei der sportbegeisterten politischen Führung die Aufmerksamkeit auf die Rauchschadenfrage zu lenken.224 Zum anderen setzte Zieger große Hoffnungen in eine gesetzliche Regelung der Rauchschadenfrage. Hier ergab sich 1955 für ihn eine gute Gelegenheit. Die Staatliche Plankommission berief eine »Arbeitsgruppe für Maßnahmen zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden« ein. An dieser sollte ­Zieger als Forstexperte mitwirken. Die Arbeitsgruppe war ein Ergebnis der Landschaftsdiagnose, die Lingner durchgeführt hatte. Bedingt durch die Mitarbeit kam Zieger in Kontakt mit Regierungsorganen und erhielt Anregungen für sein nachhaltigstes Projekt, die Großraumdiagnose.

222 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 308, IUFRO  – Internationaler Verband Forstlicher Forschungsanstalten, Arbeitsgruppe Rauchschäden, o.p. 223 Zieger, Industrie-Rauchschäden, 503. 224 Gespräch mit Eberhart Pelz am 28.9.2010.

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1.2.3 Die Großraumdiagnose Erich Zieger und die Landschaftsdiagnose Bis 1955 arbeitete Erich Zieger allein und unbeeinflusst an dem Problem der Waldrauchschäden. Sein Artikel »Rauchschäden im Walde« stand noch ganz in der Tradition Tharandts, knüpfte im Wesentlichen dort an, wo Hans Wislicenus 1935 aufgehört hatte, und blieb einem primär technizistischen Problemverständnis verhaftet. Dies änderte sich mit einer Einladung, die Zieger im Juli 1955 von der Staatlichen Plankommission (SPK) erhielt. Der Ministerrat hatte die SPK aufgefordert, ihm bis Ende 1955 »Empfehlungen und Begründungen« zuzuleiten, wie den Landschaftsschäden begegnet werden könnte.225 Reinhold Lingner und Vertreter der SPK einigten sich auf die Einberufung einer »Arbeitsgruppe für Maßnahmen zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden«. In vier Sitzungen sollten sich Experten über die einzelnen Aspekte austauschen und Lösungen erarbeiten: – 8. September 1955: Sitzung der Untergruppe »Erosion und Feldgehölze« – 19. September 1955: Sitzung der Untergruppe »Bergbauschäden« – 20. September 1955: Sitzung der Untergruppe »Die Landschaft und der Industrierauch« – 18. Oktober 1955: Sitzung der Untergruppe »Städtische Abfälle« Damit lehnte sich das Arbeitsprogramm stark an den Inhalt der Landschaftsdiagnose an. Lingner und Carl nahmen an allen Sitzungen, Zieger und Wienhaus an der Sitzung am 20. September teil.226 Erich Krüger, vormals Leiter der Forschungsstelle für Rauchschäden an der Bergakademie zu Freiberg, hielt einen einführenden Vortrag. Er bezeichnete ganz Sachsen als ein einziges Rauchschadengebiet. Die Bewältigung dieses Problems könne nicht allein durch Bau immer höherer Schornsteine gelingen, sondern die Industrie habe eine umfassendere Bringschuld.227 Ähnlich wie Zieger riet Krüger der Forstwirtschaft zu Düngung und Bestandsumwandlung, schätzte die Wirksamkeit dieser waldbaulichen Mittel jedoch als gering ein. Der Ablauf der anschließenden Diskussion ist nicht in den Akten über­ liefert. Die Unterlagen lassen allerdings darauf schließen, dass Zieger erneut die Gründung einer Rauchschadenkommission vorgeschlagen haben dürfte. Dar 225 BArch DE 1/3819 Staatliche Plankommission, Arbeitsgruppe Landschaftsschäden, pag. 98–103. 226 BArch DE 1/3819 ebd., pag. 50. 227 Abgedruckt in: Erich Krüger, Die Landschaft und der Industrierauch, orientiert am Beispiel der Industrie Sachsens, in: Lingner, Carl, Landschaftsdiagnose, 134–139, 134.

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auf deutet ein Papier hin, dass der Sekretär Lampe, Stellvertreter des Vorsitzenden der Plankommission für Land- und Forstwirtschaft, einem Kollegen innerhalb der SPK zukommen ließ, wonach die Arbeitsgruppe Landschaftsschäden am 27. Oktober 1955 über die Bildung einer »Zentralen Rauchschadenkommission« beraten werde. Laut Positionspapier hatte die Kommission umfassende Aufgaben und Zuständigkeiten: – Koordinierung aller Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Rauchschäden und Lenkung der Forschungsarbeit. – Ausarbeitung und Empfehlungen zur Verhütung von Rauchschäden nach dem Prinzip, die Entstehung der Rauchschäden an den Quellen selbst zu unterbinden. – Ausarbeitung von Empfehlungen über grundlegende gesetzliche Begrenzungsvorschriften für die Emission von Rauchgasen und Flugaschen unter Beachtung eines wohlabgewogenen Mittels zwischen den Interessen der Industrie und der übrigen Wirtschaft. – Überprüfung bestehender Filteranlagen und gutachterliche Stellungnahme bei der Errichtung neuer Filteranlagen unter weitgehender Berücksichtigung eines gesunden Verhältnisses zwischen dem Aufwand und dem volkswirtschaftlichen Nutzen. – Auswertung der Ergebnisse der lufthygienischen Untersuchungen und Überwachungen des Forschungsinstitutes für Bioklimatologie. – Festlegung von Rauchschadengebieten. – Gutachterliche Stellungnahme in Rauchschadenfällen. – Gutachterliche Stellungnahme zur Industrie- und Städteplanung. – Ausarbeitung von Vorschlägen zur Schaffung einer rauchlosen Zone am Beispiel eines großen Industriebetriebes und einer Stadt.228

Die Liste umfasste alle Punkte, die Zieger bereits 1954 auf dem dies academicus in einer Rauchschadenkommission behandelt wissen wollte.229 Der Punkt der lufthygienischen Untersuchungen ging auf Gerhard Hentschel, Leiter des Bioklimatologischen Instituts in Berlin-Buch, zurück, der ebenfalls an der Sitzung am 20. September 1955 teilgenommen hatte. Die Gründung der Rauchschadenkommission verzögerte sich um weitere zwei Jahre. Die erste Arbeitstagung der Kommission wurde erst am 16. Juli 1957 aktenkundig.230 In der Zwischenzeit waren die Anregungen der Arbeitsgruppe Landschaftsschäden um Lingner im Sande verlaufen. Nach den Treffen der Untergruppen im September und Oktober 1955 fanden zwar weitere redaktionelle Sitzungen statt, auf denen ein »Plan 228 BArch DE 1/4747 Staatliche Plankommission, Entwurf einer Diskussionsgrundlage zum Komplex: Rauchschäden. 19.10.1955, pag. 34–35. 229 Zieger, Industrie-Rauchschäden, 504. 230 BArch DK 1/3758 Ministerium für Land- und Fortswirtschaft, Verordnung über die Errichtung und den Betrieb von Anlagen zur Zurückhaltung von Staub-, Rauch- und Abgasschäden aus gewerblichen und industriellen Abgasen sowie die Diskussion darüber; Unter­ lagen zur Rauchschadenskommission. 1959, pag. 126.

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zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik« ausgearbeitet wurde. Damit sollte die Vorgabe des Ministerrates erfüllt werden, bis zum Jahresende 1955 einen Maßnahmenkatalog vorzulegen. In der Einleitung des Planes wurde die große Bedeutung der »Reinheit der Luft« für eine »intensive und produktive Nutzung der Landschaft« hervorgehoben. Im Abschnitt IV »Rauch- und Staubschäden und Maßnahmen zu ihrer Behebung« wurde die Emissionsverhinderung an der Rauchquelle als die bestmögliche Lösung formuliert. Dazu sei aber noch die Entwicklung der entsprechenden Filtertechnik nötig. Bis zum 31. Mai 1956 solle bei der Kammer der Technik ein Arbeitskreis »Bekämpfung von Rauch- und Staubschäden« gegründet werden. Die zweite Forderung des Plans war ein massiver Ausbau der Luftüberwachung, um die Ausbreitung von Emissionen besser zu verstehen. Zusätzlich wurde das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft beauftragt, bis Ende März 1956 Anbauversuche mit rauchharten Baumarten einzuleiten.231 Zu konkreten gesetzgeberischen Tätigkeiten hat der Plan jedoch nicht geführt. Am 15. März 1956 wies das Präsidium des Ministerrates das Ministerium für Landund Forstwirtschaft (MLF) an, eine »Kommission für Landschaftsgestaltung« zu bilden, die sich primär mit Fragen der Landschaftsschäden befassen sollte.232 Einen Monat später sah die Staatliche Plankommission die Gelegenheit, dieser Kommission den Plan der Arbeitsgruppe Landschaftsschäden zur weiteren Bearbeitung zuzuweisen.233 An diesem Punkt bricht die Aktenüberlieferung ab. Es war jedoch unverkennbar, dass sich Zieger durch das Zusammentreffen mit Lingner und anderen Wissenschaftlern beeinflussen ließ und seine Forschungsansätze weiter entwickelte. Es ist davon auszugehen, dass er im Vorfeld oder während der Sitzung von dem Inhalt, der Absicht und den Ergebnissen der Landschaftsdiagnose erfuhr. In seiner ersten Veröffentlichung nach dem Treffen der Arbeitsgruppe griff er zumindest die Frage der Raumplanung – eines der wichtigsten Instrumente der Landschaftsdiagnose – auf.234 Wenig später sprach er gar der Raumplanung die »größte Bedeutung im Hinblick auf die Verminderung volkswirtschaftlicher Schäden« zu.235 231 BArch DE 1/3818 Staatliche Plankommission, Unterlagen zur Arbeitsgruppe für Maßnahmen zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden  – Nachbereitung, Plan zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik o. J. 232 BArch DC 20-I/4/166 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über die Organisation der Wasserwirtschaft. 15.3.1956, Anlage 3. 233 BArch DE 1/3818 Staatliche Plankommission, Unterlagen zur Arbeitsgruppe Landschaftsschäden, Brief der Staatlichen Plankommission an Hans Reichelt, Minister für Landund Forstwirtschaft vom 26.4.1956. 234 Zieger, Wirkung, 782. 235 BArch DF 4/60258 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht Forstnutzung 1957, pag. 11.

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Eine erste Annäherung an den Duktus der Lingnerschen Landschaftsdiagnose war damit vollzogen. Zieger vertiefte sich noch weiter in die Kategorien der Landschaftsdiagnose und übernahm Elemente ihres Vokabulars. Davor stand ein zweites Zusammentreffen mit Lingner. Im November 1957 fand die von der Deutschen Bauakademie organisierte Fachtagung statt, auf der die Ergebnisse der Landschaftsdiagnose öffentlich vorgestellt wurden. Zieger saß im Auditorium, während Lingner von den bisherigen Mängeln der Luftanalyse sprach. Auch Zieger wusste um die Defizite der bisherigen Verfahren der Luftanalyse, war er doch auf der Suche nach einem verlässlichen Verfahren, die Rauch­ beeinflussung von Waldbeständen nachzuweisen. Lingner führte aus, dass die Probleme des Industrierauchs bisher nur »vereinzelt, nur lokal und zusammenhangslos« wahrgenommen worden seien; die »vorgenommenen Untersuchungen sind nicht geeignet, das Problem in seiner ganzen Bedeutung zu erkennen«.236 Zu Luftverunreinigungen gebe es kaum Forschungsmaterial: Die unter Thema IV [Luftverunreinigung, T. H.] geleistete Arbeit muß als ein Anfang angesehen werden. Eine systematische Erfassung des ganzen Problems erfordert bedeutend größere Mittel und einen größeren Zeitraum, als sie hier zur Ver­fügung standen.237

Größer; umfassender; ganzheitlich; der Versuch, Zusammenhänge herzustellen. Das waren Attribute, die Zieger aufgriff und auf seine Arbeiten übertrug. Seine nächste Veröffentlichung nach der Fachtagung listete zunächst jene Punkte auf, die er schon 1953 formuliert hatte: Schädlichkeit des Schwefeldioxids, Wirkungslosigkeit der waldbaulichen Mittel und darum die Forderung nach Emissionsvermeidung an der Quelle. Hinzu kam zum zweiten Mal die Forderung nach einer »vernünftigen Standortplanung« und zum ersten Mal eine Perspektive, die die Gesamtgesellschaft in den Blick nahm und die Leistungen der Forstwirtschaft darin verortete. Holz sei wichtig für die DDR, da es der bedeutendste nachwachsende Rohstoff sei. Dieser Rohstoff werde aber durch die fortschreitende Industrialisierung bedroht. In jedem Staat vermögen Technik und Industrialisierung auf weite Sicht nur dann Wohlstand und Kultur zu schaffen, wenn sie auf die Grundanforderungen der Landschaft Rücksicht nehmen, in der dieser Staat nun einmal existieren muß.238

Bemerkenswert war der Begriff der »Landschaft«, den Zieger hier zum ersten Mal in einer Veröffentlichung verwendete. Wie sehr er sich nicht nur damit der 236 Lingner, Forschungsarbeit, 15. 237 Ebd., 16. 238 Erich Zieger, Ursachen, Erkennung und Bekämpfung von Industrie-Rauchschäden im Walde, in: Energietechnik 8, 1958, 487–490, 490.

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Konzeption und Ideenwelt der Landschaftsdiagnose angenähert hatte, wird ersichtlich, wenn ein Zitat Lingners gegenübergestellt wird. Die Ausbeutung der Bodenschätze, die Entwicklung der industriellen Anlagen, Großstädte, Wasserwirtschafts- und Verkehrsanlagen haben Eingriffe in die Landschaft bewirkt, die vielfach deren Potenz und Erscheinungsbild empfindlich beeinträch­ tigen. Von einseitigen Interessen bestimmtes Vorgehen bei der Nutzung der Landschaft durch den Menschen – unter Mißachtung der Naturgesetze und der Gesetze der Ökonomie  – führte an vielen Orten zu bedeutender Schwächung der Produk­ tionskraft der Natur.239

Noch in einem weiteren Punkt war die Fachtagung für die weitere Entwicklung Ziegers bedeutsam. Seit 1955 hatte er zunehmend die Bedeutung gesetzlicher Regelungen erkannt und in seinen Publikationen thematisiert.240 In der Diskussionsrunde sprach er den Mangel erneut an und erhielt Antwort von einem Mitarbeiter des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft. Im Ministerium werde bereits an einer gesetzlichen Regelung gearbeitet, erste Thesen seien ausformuliert.241 Rauchschadenkommission und Forschungsgemeinschaft Rauchschäden Im Juli 1957 kam es zur ersten Arbeitstagung der 1955 vorgeschlagenen Rauchschadenkommission. Das MLF war stark an einer Überarbeitung der bisherigen Rechtsgrundlage von Schadenersatzansprüchen interessiert.242 Erich­ Zieger nahm erst ab 1958 als externer Berater an den Arbeitstagungen teil,243 wurde aber bereits im Februar 1958 mit der Leitung einer Arbeitsgruppe betraut, die technische Grundsätze für eine neue Gesetzesverordnung zusammentragen sollte. Die Gruppe sollte die internationale Literatur auswerten, aber keine eigene Forschung betreiben. Im einzelnen hatte die Arbeitsgruppe folgende Aufgaben: Sichtung und Auswertung der ausländischen Regelungen; Feststellung der Schäden in der DDR; technische Möglichkeiten der Bekämpfung der Schäden; Ausarbeitung von Schwellenwerten; technische und ökonomische Möglichkeiten der DDR, die Schäden zu bekämpfen; biologische Möglichkeiten zur Bekämpfung der Schäden und Vorschläge für eine Gesetzes-

239 Lingner, Forschungsarbeit, 7. 240 Zieger, Gesetzliche Regelung. 241 Deutsche Bauakademie, Landschaft und Planung, 68 und 75. 242 In den vorhergehenden Jahren hatten die Schadenersatzforderungen gerade von Imkern und Bauern zugenommen. BArch DK 1/3758 Ministerium für Land- und Fortswirtschaft, Verordnung Rauchschadenkommission, pag. 126. 243 BArch DK 1/3758 ebd., pag. 111.

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norm.244 Zieger machte sich unverzüglich an die Arbeit. Im Jahresbericht 1958 schrieb er: Der Institutsdirektor wurde vom Ministerium für Land- und Forstwirtschaft mit der Leitung einer Kommission zur Erarbeitung gesetzlicher Grundlagen zur Verhütung von Rauch- und Staubschäden beauftragt. Der Entwurf einer Verordnung zur Ver­ hütung von Rauch- und Staubschäden liegt vor, an den zugehörigen Durchführungsbestimmungen wird zur Zeit noch gearbeitet. Neben der koordinierenden Arbeit wurden im Institut besonders ausländische Gesetze und Verordnungen ausgewertet und Erfahrungen über toxische Schwellenwerte zusammengestellt.245

Als Vorbild diente Zieger die britische Gesetzgebung. Allerdings waren ihm die Vorschriften dort zu allgemein gehalten. Er schlug vor, für die DDR in den Durchführungsbestimmungen konkrete technische Normen zu setzen.246 Damit sah er die Möglichkeit, den Beschluss vom 4. Februar 1958 aufzuweichen, keine eigene Forschung zu betreiben. Im April 1958 verfasste er daraufhin eine »Denkschrift über die Entwicklung der Rauchschadenforschung in der Deutschen Demokratischen Republik«, die er an Landwirtschaftsminister Hans­ Reichelt und die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften schickte. In der Denkschrift führte Zieger grundsätzlich aus, dass Industrieschäden auf zwei Emissionsarten beruhten: Abwässer und Abgase.247 Während Abwässer stromgebunden seien, erstreckten »Abgasschäden sich räumlich kaum abgrenzbar über weite Gebiete«. Industrieschäden gebe es seit dem Mittelalter, aber in den vorangegangenen Jahren habe sich die Qualität eindeutig verändert: Die modernen Industrie-Großanlagen mit ihren Großkesselfeuerungen haben eine neue Form der Schäden, die Staub- und Flugascheschäden entstehen lassen, die nunmehr auch in Landwirtschaft und Gartenbau erhebliche Schäden hervorrufen. Die Schadwirkungen haben sich also mehrfach verschoben und heute gibt es kaum noch ein Gebiet des menschlichen Daseins, das nicht von diesen Schäden bedroht wäre.248

Diese Formulierung erinnert an die »Entgrenzung des Risikos«, die Ulrich Beck 30 Jahre später anhand des Waldsterbens beschrieb.249 In die ähnliche Richtung 244 BArch DK 1/3758 ebd., pag. 94–98. 245 BArch DF 4/61314 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht Forstnutzung 1958, pag. 49. 246 BArch DK 1/3758 Ministerium für Land- und Fortswirtschaft, Verordnung Rauchschadenkommission, pag. 75. 247 Die Denkschrift findet sich im UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 300, Professur für Forstwirtschaft und Forstschutz, Organisation der Rauchschadenforschungund im Bundesarchiv Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften, Bildung einer Forschungsgemeinschaft Rauchschäden 1957–1965, BArch DK 107/2674. 248 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 300, Organisation, pag. 2. 249 Beck, Risikogesellschaft, 26.

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wies kurze Zeit später eine Formulierung von Ziegers Mitarbeiter Pelz, der die »Existenz des Waldes« in Gefahr sah.250 Zieger betonte ferner die dringende Notwendigkeit von Forschung und unterteilte den Rauchschadenkomplex in zwei Forschungsrichtungen: Emissionen und Immissionen. Während das erste ein industrielles und technisches Problem sei, betreffe das zweite die Land- und Forstwirtschaft. Zieger formulierte dabei deutlich, dass die Lösung primär aufseiten der Industrie zu suchen sei und empfahl die Gründung eines »Institutes für Industrieschädenforschung und Abfallrückgewinnung«.251 Er schlug Werner Boie vom Institut für Wärmetechnik und Wärmewirtschaft der TH Dresden als dessen Leiter vor. Boie hatte schon in den 1930er Jahren mit Hans Wislicenus zusammengearbeitet.252 Daneben wollte Zieger ein »Institut für forstliche Rauchschadenforschung« einrichten, um die Rauchschadenforschung von der Pflanzenchemie zur Forstwissenschaft und Biologie zu verschieben. Die Denkschrift zeigte die erhoffte Wirkung. Kurz darauf schrieb R ­ eichelt an das Präsidiumsmitglied der Deutschen Akademie der Landwirtschafts­ wissenschaften (DAL) Erwin Plachy, dass er die Denkschrift für zutreffend und richtig halte und dass »wissenschaftliche Arbeiten auf diesem Gebiet aktiviert werden« sollen.253 Die DAL kam auf einer Präsidiumstagung im Juli 1958 zu dem gleichen Schluss und beantragte beim Forschungsrat der DDR eine »Forschungsgemeinschaft Rauchschäden«.254 Der Forschungsrat gab dem Antrag nach, forderte aber eine Präzisierung in Bezug auf Aufgabenstellung sowie die beteiligten Institute und Wissenschaftler.255 Dieser Forderung kam Zieger mit seiner »2. Denkschrift über die Entwicklung der Rauchschadenforschung in der Deutschen Demokratischen Republik« vom 11. September 1958 nach. Für den Bereich der Forstwissenschaften umriss Zieger darin drei Forschungsthemen: Feststellung der Abgasgehalte zur Ermittlung und Abstufung von Immissionsgebieten, Feststellung der phytotoxischen Schwellenwerte für unsere Hauptholzarten und bodenkundliche Untersuchungen über den Einfluss der Emissionen auf den Nährstoffhaushalt und die Gegenwirkung von Düngung. Zehn Wissenschaftler sollten nach Zieger der Forschungsgemeinschaft ständig an­ gehören, darunter auch Reinhold Lingner.256

250 Eberhart Pelz, Eine sowjetische Anlage zur Filterung von Schwefeldioxyd in Rauchgarten, in: Sozialistische Forstwirtschaft, 1961, 82–84, 83. 251 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 300, Organisation, pag. 4. 252 Pleiß, Kleinert, Erteld, Boie, In memoriam Erich Zieger, 149. 253 BArch DK 107/2674 Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften, Forschungsgemeinschaft Rauchschäden, Brief Reichelts an Prof. Dr. Plachy vom 15.5.1958. 254 BArch DK 107/2674 ebd., Brief Prof. Dr. Plachys an Reichelt vom 12.7.1958. 255 BArch DK 107/2674 ebd., Brief des Forschungsrates an Prof. Dr. Plachy vom 25.7.1958. 256 BArch DK 107/2674 ebd., 2. Denkschrift Ziegers vom 11.9.1958.

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Die Vorbereitungen zogen sich bis zum Februar 1960 hin als die Sektion Forstwissenschaften der DAL den Antrag förmlich beim Forschungsrat der DDR einreichte. Man hatte sich auf drei Themen geeinigt: den Bereich der Emissionen (Filter und Technik), der Ausbreitung (Meteorologie) und der Immissionen. Neun Wissenschaftler sollten der Forschungsgemeinschaft angehören, davon vier, die schon 1955 bei der Arbeitsgruppe Landschaftsschäden der SPK mitgearbeitet hatten: Zieger, Boie, Hentschel und Carl.257 Der Antrag schloss mit der eindringlichen Mahnung, eine vorausschauende Raumplanung zu betreiben. Andernfalls werde jede Forschung »ohne praktischen Erfolg bleiben«. Der Antrag ging sogar so weit, eine neue Planungsinstanz zu fordern, die administrativ überministeriell verankert sei und engen Kontakt mit der Forschungsgemeinschaft halten sollte. Die Forschungsergebnisse sollten die »Grundlage der Raumplanung von morgen sein«. Eine derartig konstruierte staatliche Planungseinrichtung hätte den Einfluss von Wissenschaftlern auf konkrete politische Entscheidungen erheblich ausgeweitet. Tatsächlich wurde der Geschäftsführer der Sektion Forstwesen der DAL vom Forschungsrat ein­ geladen, um die Gründung der »Forschungsgemeinschaft Rauchschäden« zu besprechen.258 Mit dem Tod Ziegers am 9. Juli 1960 wurde die Gründung der Forschungsgemeinschaft zunächst hinfällig. Während die Forschungsgemeinschaft bis zum Tode Ziegers auf den Weg gebracht war, stockten die Arbeiten an der ebenfalls von Zieger geleiteten Zen­ tralen Rauchschadenkommission. Die Forschungsgemeinschaft war ein geistiges Kind der Kommission, erdacht, um die Frage der Grenzwerte zu klären. Hier stellt sich die Frage, ob Zieger durch sein Handeln nicht eine frühzeitige gesetzliche Regelung der Rauchschadenfrage verhindert hat. Bereits 1958 übergab die Kommission dem Ministerrat und der SPK einen ersten Entwurf. Minister Reichelt drängte 1959 auf eine schnelle Vorlage für das Gesetz.259 Zieger bremste den Prozess ab, weil es noch keine gesicherten Erkenntnisse gebe, welche Grenz- und Schwellenwerte bezüglich Schwefeldioxid einzuhalten seien. Dafür sei noch umfangreiche Forschung nötig, und er hoffte auf vier bis fünf zusätzliche Stellen für Wissenschaftler am Institut für Forstschutz. Über den Präsidenten der DAL, Hans Stubbe, begründete Zieger seine Wünsche damit, 257 BArch DK 107/2674 ebd., Antrag der Sektion Forstwirtschaft an das Präsidium der AdL vom 12.2.1960. Die übrigen Mitglieder waren Pleiß (Meteorologisches Institut der Fak. für Forstwissenschaft Tharandt), Seidemann (Institut für Meliorationswesen Leipzig), Auersch (Institut für landwirtschaftliche Zoologie und Haustierkunde Halle), Meusel (Institut für Landesforschung und Naturschutz Halle) und Brand (Akademie für Sozialhygiene Berlin Lichtenberg). 258 BArch DK 107/2674 ebd., Brief des Forschungsrates an Dipl.-Ing. Pacher vom 31.5.1960. 259 BArch DK 107/8434 Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften, Rauchschäden 1953–1966, Brief von Zieger an Stubbe vom 21.4.1959.

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dass »die Fertigstellung eines solchen Gesetzentwurfes einer entsprechenden wissenschaftlichen Fundierung unbedingt bedarf«.260 Die Kommission und damit auch Zieger waren sich bewusst, dass eine zu streng gewählte Norm entweder die weitere Entwicklung der Industrie verhindern oder ständig übertreten würde. Eine zu lockere Norm hätte jedoch eine eigenständige Verordnung überflüssig gemacht.261 In den Archivunterlagen der Rauchschadenkommission fand sich bereits 1958 der Vorschlag, die Grenzwerte für Schwefeldioxid auf 0,5 mg pro Kubikmeter Luft für Kurzzeitbelastung und auf 0,15 mg für Dauerbelastung festzulegen.262 Dies wären im internationalen Vergleich strenge Werte gewesen, zumal der erwähnte Antrag an den Forschungsrat vom Februar 1960 noch von einem phytotoxischen Schwellenwert der Fichte von 1,30 mg pro Kubikmeter Luft ausging. Möglicherweise nutzte Zieger die Frage der Grenzwerte, um die Forschungskapazitäten seines Institutes auszuweiten. Sein Vorgehen entspräche dabei Radkaus Feststellung, dass Experten dazu neigen, »Probleme und ihre Lösungen zu komplizieren«, um die Kompetenz darüber zu behalten.263 Der von ihm an­ gestrebten gesetzlichen Regelung tat Zieger damit keinen Gefallen. In der zehnten Vorlage eines Gesetzesentwurfs, der letzte, der von Zieger betreut wurde, standen keine konkreten Grenzwerte mehr. Stattdessen fand sich ein dehnbarer, industriefreundlicher Passus: Gewerbliche und industrielle Betriebe, die im Verlauf ihrer Produktionsprozesse Staub, Rauch- oder Abgase entwickeln, die über die Luft auf Menschen, Tiere, Pflanzen, Böden, Gewässer, bauliche Anlagen usw. aller Art schädigend einwirken können, haben innerhalb angemessener Frist technische Schutzanlagen einzurichten, die solche Schäden verhindern bzw. auf ein für die Volkswirtschaft tragbares Mindestmaß herabsetzen.264

Zieger selbst musste gegenüber Stubbe bezüglich des letzten Abschnittes bekennen: »Mir scheint hier ein Angriffspunkt von Seiten der Industrie vor­ zuliegen.«265 Danach brachen – ebenfalls mit Ziegers Tod – die Bemühungen um eine gesetzliche Regelung ab. Erst 1968 wurden mit der »Anordnung zur Begrenzung 260 BArch DK 107/8434 ebd., Brief von Zieger an Stubbe vom 21.4.1959. 261 Pelz, Sowjetische Anlage, 82. 262 BArch DK 1/3758 Ministerium für Land- und Fortswirtschaft, Verordnung Rauchschadenkommission, pag. 52. 263 Radkau, Natur und Macht, 309. Vgl. die Ausführungen zum »ignorance claim« auf S. 97. 264 BArch DK 1/3758 Ministerium für Land- und Fortswirtschaft, Verordnung Rauchschadenkommisson, pag. 2. 265 BArch DK 107/8434 Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften, Rauchschäden 1953–1966, Brief von Zieger an Stubbe vom 10.6.1959.

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und Ermittlung von Luftverunreinigungen (Immissionen)« jene Grenzwerte festgelegt, die sich bereits im Vorschlag von 1958 fanden.266 Die Großraumdiagnose Die Erfahrungen der Landschaftsdiagnose flossen neben Ziegers administra­ tiven und gesetzgeberischen Bemühen auch ganz konkret in die praktische Forschungsarbeit ein. Es sei noch einmal an Lingners Worte auf der Fachtagung 1957 erinnert, als er »eine systematische Erfassung des ganzen Problems« der Luftbelastung forderte. Nach dem strengen Winter 1955/56 wurde im Mitteldeutschen Industrie­ gebiet ein extremer Leistungsabfall der Kiefer beobachtet, der Begriff ›Kiefernsterben‹ bürgerte sich hierfür ein.267 Es war das Ziel von Zieger, herauszufinden, ob zwischen dem Kiefernsterben und der Rauchbeeinflussung ein Zusammenhang bestand.268 Eine der wichtigsten Motivationen, die dahinter stand, war, die Rauchbeeinflussung zu erkennen, bevor sie offensichtlich wurde, um frühzeitig waldbauliche Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Zudem hoffte Zieger zu diesem Zeitpunkt noch, mit seiner Forschung die Raumplanung beeinflussen zu können.269 Zieger wusste, dass sich die Rauchschadensituation in den vorherigen 20 bis 30 Jahren geändert hatte. Zwar gab es auch Ende der 1950er Jahre noch die einzeln und verstreut liegenden Emissionsquellen, aber die größere Gefahr ging von den sich verdichtenden Industrieräumen und deren Emissionen aus. Dem müsse die Rauchschadenforschung Rechnung tragen und aus dem »bisherigen engräumigen Rahmen heraustreten«.270 Eines dieser Industriegebiete war das Mitteldeutsche Industriegebiet im Dreieck Leipzig-Halle-Bitterfeld, in dessen Lee das Kiefernsterben aufgetreten war. All dem stand das bekannte Problem einer eindeutigen Diagnose im Weg. Zieger war unzufrieden mit den chemischen und biologischen Nachweisverfah-

266 Minister für Gesundheitswesen, Anordnung zur Begrenzung und Ermittlung von Luftverunreinigungen (Immissionen), 28.6.1968, in: Gbl. DDR II 80, 640–642. 267 Herbert Lux, Der Leistungsverfall der Kiefer (»Kiefernsterben«) und seine Bedeutung in industrienahen Gebieten, in: Sozialistische Forstwirtschaft 14, 1964, 19–21. 268 Herbert Lux, Problematik und Methodik der Rauchschaden-Großraumdiagnose. Vortrag gehalten anläßlich der III. Internationalen Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger in Tharandt (24. bis 27. Mai 1961), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 617–622, 617–618. 269 Felix Lampadius, Problematik und Methodik großräumiger Luftuntersuchungen. Vortrag gehalten anläßlich der III. Internationalen Arbeitstagung forstlicher Rauchschaden­ sachverständiger in Tharandt (24. bis 27.  Mai 1961), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 609–616, 610. 270 Ebd., 609.

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ren, da die Ergebnisse zu sehr streuten.271 Auch der Härtelsche Trübungstest, den Zieger 1954 auf dem dies academicus 1954 erwartungsvoll vorgestellt hatte, hatte sich als Absolutmethode als unbrauchbar erwiesen. Die Lösung sah er in der von Lingner geforderten systematischen Erfassung des ganzen Problems und versah sie mit dem Etikett ›Großraumdiagnose‹. Nach Ziegers Tod bezeichnete einer seiner Mitarbeiter die Landschaftsdiagnose explizit als »sehr wichtige Vorarbeit« der Großraumdiagnose.272 Die Großraumdiagnose verband durch »Erfassung der Rauchquellen, Ausbreitungsberechnungen der Emissionen und Nachweis der Immissionen Elemente der Diagnose extensiv mit einem großmaschigen Überblick über die Wirkungen in den Waldbeständen«.273 Was war im Einzelnen darunter zu verstehen? Die Erfassung der Rauchquellen geschah kartographisch. Die Emissionen der Rauchquellen wurden anhand des Kohlendurchsatzes errechnet.274 Der zweite Schritt war eine großräumige Erfassung des Gesundheitszustandes des Waldes. Im Bearbeitungsgebiet lagen die staatlichen Forstwirtschaftsbetriebe (StFB) Torgau, Grimma, Oschatz, Dübener Heide und Roßlau. Je Revier dieser StFB wurden sechs bis zwölf Aufnahmeflächen mit 50 Bäumen angelegt. Anhand von Durchmesser, Mittelhöhe, Kreisfläche und einer Kronenansprache mit Nadellänge, Zahl der Nadeljahrgänge, Benadelungsdichte sowie Wertziffer wurde für jede Aufnahmefläche eine Schadziffer errechnet. Dieses aufwendige Verfahren war notwendig, da es damals noch keinen anerkannten, allgemein gültigen phytotoxischen Schwellenwert für Schwefeldioxid gab.275 Den letzten Schritt, um eine Verbindung zwischen Emissionen und den Schäden im Wald herstellen zu können, bildete die Luftanalyse. Die Erhebung zerfiel selbst wieder in ein zweistufiges Verfahren. Zuerst wurde mittels Liesegang-Methode das großräumige Luftregime erfasst. Die Liesegang-Methode maß den Schwefelgehalt in Milligramm pro 100 Stunden unabhängig vom Luftdurchsatz.276 Das hieß, dass eine Bestimmung des Schwefeldioxidgehalts pro Kubikmeter Luft nicht möglich war.277 Da aber die Messungen an vielen Stellen gleichzeitig erfolgte, konnten Relativwerte gebildet werden, nach dem Muster: Punkt 1 ist bei einer bestimmten Wetterlage stärker von Schwefelemissionen betroffen als etwa Punkt 7. Im zweiten Schritt wurden an einzelnen Punkten

271 BArch DF 4/61314 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht Forstnutzung 1958, 41–49. 272 Lampadius, Luftuntersuchungen, 613. 273 Eberhart Pelz, Wege zur Einstellung betriebswirtschaftlicher Maßnahmen auf Rauchschäden in der Forstwirtschaft unserer Republik, in: Sozialistische Forstwirtschaft 17, 1967, 152–154, 152. 274 Lux, Problematik und Methodik, 620. 275 Ebd., 620–621. 276 Lampadius, Luftuntersuchungen, 611–612. 277 Der SO₂-Gehalt pro Kubikmeter Luft kann nur grob geschätzt werden.

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mittels kontinuierlicher Messungen die Belastungsspitzen erfasst. Mit diesem Verfahren war eine Konzentrationsbestimmung des Schwefeldioxids möglich. Formal gesehen war die Großraumdiagnose eine Vertragsforschung, bei der das Institut für Forstschutz als Auftragnehmer fungierte. Das Ministerium für Forst- und Landwirtschaft stellte hierfür 219.600 DM bereit. Als Vergleich seien die 4500 DM für Waldbrandforschung und 21.200 DM für Rauchschadengrundlagenforschung genannt, mit denen der Forstschutz sonst jährlich operierte.278 Mit der Vertragsforschung war auch die von Zieger gewünschte personelle Aufstockung möglich. Bis Ende 1961 verdreifachte sich die Mitarbeiterzahl auf 11,5 Vollzeitstellen.279 Im August 1959 begannen die Arbeiten an den beiden miteinander verbundenen Forschungsaufträgen »Untersuchungen über Verbreitung und Ursachen des Altkiefernsterbens im Lee des Mitteldeutschen Industriegebiets und Vorschläge zur Therapie« und »Entwicklung einer Großraumdiagnose in forstlichen Rauchschadgebieten«.280 Die Luftmessungen begannen im Februar 1960 im Viereck Leipzig, Altenburg, Colditz und Wurzen. Sie umfassten damit genau jene Gegend, in der Zieger von 1930 bis 1945 als Revierleiter tätig war. Das Areal umschloss 600 bis 700 Quadratkilometer. An drei hintereinanderliegenden Messfronten, fünf bis 20 Kilometer von der gedachten Westgrenze entfernt, wurde an 21 Messpunkten der Schwefelgehalt der Luft gemessen. Die Messungen wurden im April und September 1960 wiederholt, und im Frühjahr 1961 schlossen sich die kontinuierlichen Messungen an.281 Zur gleichen Zeit arbeitete Wentzel in der Bundesrepublik mit einem ähnlichen Verfahren, allerdings war sein Untersuchungsgebiet mit 50 Quadratkilometern wesentlich kleiner.282 Zudem sollten die Messungen 1960 als Probedurchlauf dienen, um das Messverfahren zu testen und gegebenenfalls zu modifizieren. Erklärtes Ziel der Großraumdiagnose war es, das gesamte Mitteldeutsche Industriegebiet in die Erhebung mit einzubeziehen. Insoweit war die Großraumdiagnose ein Hinweis auf das innovative Potential der ostdeutschen Wissenschaft, gerade im Vergleich zur Bundesrepublik. Erste Ergebnisse der Großraumforschung wurden 1961 in Tharandt vorgestellt. Auf der II. Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger 1959 in Bochum hatte sich Zieger dazu bereit erklärt, die Organisation der III. Arbeitstagung zu übernehmen. Sie fiel mit dem dies academicus zu Ehren

278 BArch DF 4/52715 Institut für Forstschutz, Jahresbericht 1961 der Professur für Forstwirtschaft und Forstschutz. 1962, pag. 5. 279 BArch DF 4/52715 ebd., pag. 6. 280 BArch DF 4/62408 Institut für Forstnutzung, Jahresbericht Forstnutzung 1959, pag. 23. 281 Lampadius, Luftuntersuchungen, 615. 282 Lux, Problematik und Methodik, 617.

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Heinrich Cottas im Mai 1961 zusammen. Nach dem Tod Ziegers übernahm sein Mitarbeiter Eberhart Pelz die weiteren Vorbereitungsarbeiten.283 Horst Enderlein, ein Mitarbeiter der Großraumdiagnose, führte aus, dass es teilweise statistisch gesicherte Zusammenhänge zwischen den Schadziffern der untersuchten Bestände und der Belastung der Luft mit Schwefeldioxid gebe.284 Das bedeutendste wissenschaftliche Ergebnis der Großraumdiagnose war hingegen, dass die Schadwirkung industrieller Abgase wesentlich weiter reichte, als bisher vermutet worden war. Diese Erkenntnis sei allein Erich Zieger zu verdanken.285 Enderlein prophezeite den Fichtenbeständen im oberen Erzgebirge ein schweres Schicksal. In Gebirgslagen, so z. B. am Erzgebirgskamm, werden die Rauchschäden durch den mehr frontalen Angriff an den zahlreichen Bestandesrändern der sächsischen Fichten­w irtschaft krasser in Erscheinung treten, so daß sie hier nicht übersehen werden können.286

Die Großraumdiagnose lief nach Ziegers Tod bis 1970 weiter und wurde mehrfach ausgedehnt und modifiziert. In ihrem Kern ging sie aber auf Zieger zurück und begründete seinen Nachruhm.287 Wie ist das Wirken Ziegers abschließend zu werten? In seinen acht Tharandter Jahren hatte er die Rauchschadenforschung zu einem Schwerpunkt seines Instituts für Forstschutz gemacht und sie in Form und Inhalt über seinen Tod hinaus geprägt.288 Zieger hat in seiner Zeit als Revierförster und Wissenschaftler den Übergang von einzelnen, verstreut liegenden Emissionsquellen mit punktförmigen Schadbildern hin zu der Rauchgefährdung größerer Waldgebiete durch verdichtete Industrielandschaften erlebt. Er hat darüber hinaus die weitere potentielle Gefährdung der Wälder antizipiert, die aus der Industriepolitik der DDR erwuchs. Konsequent hat er die Rauchschadenforschung zum inhaltlichen Schwerpunkt seines zweiten Lehrstuhls, der Professur für Forstschutz, ausgebaut. Dabei kam ihm entgegen, dass er 1955 im Verlauf der institutionellen 283 Felix Lampadius, Rückblick auf den Verlauf der III. Internationalen Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger vom 24. bis 27. Mai 1961 in Tharandt, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 539–540, 539. 284 Horst Enderlein, Welchen Einfluß haben die industriellen Emissionen auf das Kiefernsterben im Raum des Bezirkes Leipzig. Ergebnisse der durchgeführten Großraumdiagnose. Vortrag gehalten anläßlich der III. Internationalen Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger in Tharandt (24. bis 27. Mai 1961), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 623–630, 625. 285 Ebd., 630. 286 Ebd., 630. 287 Pleiß, Kleinert, Erteld, Boie, In memoriam Erich Zieger, 150. 288 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 133, Forschungsplanung, o.p.

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Nachbearbeitung der Lingnerschen Landschaftsdiagnose mit Wissenschaftlern in Kontakt kam, die ebenfalls an Teilaspekten des komplexen Themas Luftbelastung durch Schadstoffe arbeiteten. Zieger bekam von diesen Zusammentreffen Impulse für seine eigene wissenschaftliche Arbeit, vor allem der Einfluss der Landschaftsdiagnose kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bei diesen teils zufälligen Begegnungen kann von einem frühen Expertennetzwerk gesprochen werden, wie es Hünemörder für die Bundesrepublik ab 1959 beschrieben hat.289 Zieger hat versucht, die Kontakte im Rahmen der von ihm voran­getriebenen Forschungsgemeinschaft Rauchschäden zu perpetuieren, und es finden sich in ihr alle von Hünemörder beschriebenen Fachrichtungen: Luftreinhaltung, Hygiene­medizin, Vegetationskunde und Naturschutz. Von daher kann das Jahr 1955 als ein Wendepunkt für die Rauchschadenforschung in der DDR ange­sehen werden. Der zweite Schritt, die Anreicherung des Expertennetzwerkes mit besorgten Bürgern, Regierungsexperten und kritischen Fachjournalisten sowie seine internationale Verknüpfung, konnte – wegen Ziegers Tod 1960 und des Mauerbaus 1961 – nicht mehr oder zumindest nur unvollständig vollzogen werden.290 Zieger ging davon aus, und hier stand er ganz in der Tharandter Tradition, dass der Forstwirtschaft nur bescheidene Mittel blieben, Rauchschäden in Wäldern zu begegnen. Die Lösung lag bei den Emissionsquellen, mittelbar also beim Gesetzgeber, der allein die Betriebe zum Einbau von Filtertechnik zwingen konnte. Mit der Forschungsgemeinschaft Rauchschäden wollte Zieger technische Lösungen für die Filterung des Schwefeldioxids entwickeln, und in der Zentralen Rauchschadenkommission arbeitete er an der von ihm geforderten gesetzlichen Grundlage. Beide Vorhaben kamen bis zu seinem Tod zu keinem Abschluss. Vor diesem Hintergrund war seine umfassende Problemsicht, das integrative Denken, Handeln und Forschen wegweisend, aber nicht bahn­brechend. Es ist Zieger nicht gelungen, nachhaltig über die akademische Welt hinaus wirksam zu werden. Dies lag zum Teil an seinem wichtigsten Ansprechpartner auf der politischen Ebene, dem Ministerium für Land- und Forstwirtschaft. Ziegers Expertise war im Ministerium gefragt, aber es war nicht möglich – auch aufgrund der mangelnden Aktenlage  – Entscheidungsvorgänge im MLF zu rekonstruieren, und die Einflussmöglichkeiten des MLF innerhalb des Ministerrates der DDR müssen von der weiteren Forschung präzisiert werden. Bisher kann nur vermutet werden, dass diese gering waren. Aus Gründen des Proporzes besetzte jede Blockpartei mindestens ein Regierungsamt. Für die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) saß Hans Reichelt als Minister für Land- und Forstwirtschaft im Ministerrat. Er war 30 Jahre alt, als er 1955 Minister wurde, und 289 Hünemörder, Expertennetzwerk, 275. 290 Ebd., 276–278.

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ohne Zugang zu den wahren Machtzentren der DDR, dem Zentralkomitee und dem Politbüro der SED, dürfte sein politischer Gestaltungsraum begrenzt ge­ wesen sein. Es ist nicht zu vermuten – und die Erfahrungen bei der Raumplanung stützen diese Annahme –, dass das MLF sich in politischen Fragen gegen die Industrieministerien durchsetzen konnte. Auch hier zeigt sich eine Parallele zur Landschaftsdiagnose. Innerhalb der Universität war es möglich, ›heiße Eisen‹ anzufassen. Die Rauchschadenfrage war ein solches Thema, denn es befasste sich mit den negativen Auswirkungen der Industrialisierungspolitik. Ein Ausbrechen aus dem akademischen Milieu war hingegen kaum möglich. Eine Popularisierung des Themas fand nicht statt, und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Zieger ähnliches anstrebte. Er hoffte auf eine gesetzliche Regelung, aber alle von ihm begleiteten politischen Initiativen verliefen im Sande. Darüber muss Zieger spürbar enttäuscht gewesen sein. In einer von Pelz redigierten, posthumen Veröffentlichung griff er die Industriepolitik der SED scharf an. Sie ist auch ein Beleg dafür, wie er das technizistische Problemverständnis überwunden hatte und Ansätze zu einer ›Zivilisationskritik‹ entwickelte: Die SO₂-Emissionen sind nur ein Teil der Wirkungen, die von der Industriali­sierung und Mechanisierung ausgehen und die in ihren Wirkungen auf die Natur unter dem Begriff der Industrielandschaft zusammengefaßt werden. Was kennzeichnet diese Industrielandschaft? Große Fabriken, rauchende Schornsteine, Bergwerks­halden und Tagebaue, Autobahnen, Straßen und geballte Siedlungen sind nur die äußeren Symptome. Riesige Abgas- und Staubwolken, Grundwasserentzug und Abwasserverschmutzung sind die eigentlichen Wirkungen, die nicht nur die Landschaft, sondern auch den Menschen bedrohen. War früher die Landschaft tragender Grund des menschlichen Daseins, so ist sie heute für den modernen Menschen bestenfalls Hintergrund oder Umrahmung seiner Existenz geworden, wenn ihm nicht die Verbundenheit zur Natur überhaupt verlorengegangen ist. Andererseits kann aber kein Zweifel bestehen, daß der künftige Wohlstand der Völker entscheidend von den Fortschritten der Industrialisierung abhängt. Es muß also eine Synthese gefunden werden zwischen dem Ausbau der Industrie und dem Schutz der Landschaft, und in diesem Bestreben wird die Schaffung bzw. Erhaltung rauchharter Wälder eine besondere Rolle spielen. »Videant consules« möchte man den verantwortlichen Staatsmännern zurufen, denn vielerorts sind die Schäden bereits riesengroß geworden, und, was noch schwerer wiegt, viele von ihnen können irreparabel werden, wenn man ihnen nicht rechtzeitig begegnet. Auch die ertragreichste Industrie vermag einem Volk auf weite Sicht Wohlstand nur dann zu verschaffen, wenn sie der Landschaft angepaßt bleibt, in der das Volk zu leben nun einmal gezwungen ist.291

291 Erich Zieger, Probleme der Diagnose und Therapie von SO₂-Schäden im Walde. Vortrag aus dem Nachlaß von Prof. Dr. phil E. Zieger. Für die Veröffentlichung bearbeitet von Dipl.-Forsting. E.Pelz, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 10, 1961, 547–552, 547.

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Bemmann hat versucht, den Beitrag Karl Friedrich Wentzels für einen Problemsichtwandel in der Bundesrepublik während der 1950er und 1960er Jahre herauszuarbeiten. Dabei betont er einen Wendepunkt in den Formulierungen Wentzels zu Beginn der 1960er Jahre. »Wie kein anderer Autor zuvor betonte Wentzel, dass ›die Gesundheit ganzer Landschaften in Mitleidenschaft‹ ge­ zogen sei, die wiederum zur ›Verkümmerung unseres Lebensraumes‹ führe.«292­ »Videant consules« sei hier noch einmal gerufen und auf das obige Zitat verwiesen. Wentzel stand bis zu Ziegers Tod in engem Austausch mit ihm, bezeichnete ihn als akademisches Vorbild.293 Zudem sah sich Wentzel in der Tradition der­ Tharandter Forschung und orientierte sich auch nach 1945 an den dortigen Prozessen. Möglicherweise entsprang die gleichgerichtete und zeitlich koinzidente Entwicklung von Zieger und Wentzel einem Ost und West überspannenden ›Zeitgeist‹. Wahrscheinlicher ist, dass Wentzel Überlegungen von Zieger aufgriff und weiterentwickelte. In diesem Falle wirkten Vorstellungen und Konzepte der Lingnerschen Landschaftsdiagnose über den Mittler und Kommunikator Zieger auf die Entwicklung in der Bundesrepublik ein.

1.3 Zwischenfazit Das Jahr 1945 war keine ›Stunde Null‹ für die Landschaftsplanung in der Sowjetischen Besatzungszone. Große Teile des Wohnraumes waren zerstört, die Ernährungslage der Bevölkerung war schlecht, Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten mussten versorgt werden, und die sowjetische Besatzungsmacht demontierte große Teil der noch intakten Industrieanlagen und der Infrastruktur. Bestehende Ballungsräume mussten ebenso als gegeben akzeptiert werden wie der von der UdSSR gewünschte Aufbau einer Schwerindustrie. Diese Sachzwänge engten den Handlungsspielraum für einen Neuanfang ein. Unbeeindruckt davon entwarf Reinhold Lingner einen hoffnungsvollen und idealistischen Plan, mit dem er die entstehende sozialistische Gesellschaft in eine neue Art von Landschaft einbetten wollte. Dabei orientierte er sich am dynamischen Umweltbegriff der marxistischen Ideologie. Die Natur und Umwelt sind darin zweitrangig, sie stehen hinter den sozialen Ansprüchen zurück und werden an den Bedürfnissen der Gesellschaft ausgerichtet. Lingner vertrat dabei die Auffassung, dass eine unkoordinierte Entwicklung auch unter sozialistischen Verhältnissen zu einer Überbeanspruchung der natürlichen Ressourcen führen könne. Die Lösung sah er in einem umfassenden politischen Programm, das er aus der Landschaftsdiagnose entwickelt hatte. Kernelement war darin eine weitsichtige Standortplanung. Die hohen finanziellen Mittel, die er 1950 für 292 Bemmann, Beschädigte Vegetation und Sterbender Wald, 400–401. 293 Gespräch mit Karl Friedrich Wentzel am 17.2.2010.

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sein Projekt zur Verfügung gestellt bekam, belegen, dass sich seine Vorstellungen mit denjenigen der politischen Führung weitgehend deckten. Seine Nähe zu Persönlichkeiten aus dem SED-Führungskreis erleichterte Lingner die Durchführung der Landschaftsdiagnose. Die DDR war ein kleines, sich im Aufbau befindendes Land, in dem sich politische Strukturen erst heraus­bildeten. Die Macht lag zwar eindeutig bei der SED-Spitze, war aber in ihrer institutionellen und operativen Ausgestaltung noch stark fluide. Über einen direkten Zugang zum Machtzentrum konnten in einer solchen Umgebung in kurzer Zeit dynamische Prozesse angestoßen werden. Die Umsetzung des Lingnerschen Programms scheiterte im Wesentlichen aus zwei Gründen. Zum einen hatte Georg Bela Pniower ebenfalls von marxistischer Grundlage heraus ein unterschiedliches Modell der Naturnutzung entwickelt, das einen höheren Ertrag in kürzerer Zeit versprach. Angesichts des auf Versorgungsmängel zurückgehenden Aufstands vom 17. Juni 1953 sah sich die SED zum anderen gezwungen, rasch den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen und vor allem die Rationierung der Lebensmittel aufzuheben. Die Zeit, einen Modellstaat nach Lingners Plänen aufzubauen, gab es nicht. Die Diskussion um die Landschaftsdiagnose ist allerdings ein Beleg dafür, dass in der frühen DDR beachtliche akademische Auseinandersetzungen möglich waren und über die Ausrichtung der praktischen Politik gestritten werden konnte. Zwar traf das Politbüro letztendlich die Entscheidung, aber es befasste sich in den 1950er Jahren noch mit alternativen Konzepten, solange der Vorschlag auf der sozialistischen Ideologie beruhte. Erich Zieger griff aus dem umfangreichen Konzept Lingners zwei Punkte heraus: die Standortplanung und die systematische Luftüberwachung. Mit dem Wiederaufbau der Industrie bzw. der Wiederaufnahme der Produktion nach 1945 nahm auch die Belastung der Luft mit Schadstoffen wieder zu. Er ist dabei als ein ›Gewinner‹ der Entnazifizierung und des Elitenaustausches an den Universitäten zu sehen, ohne dass er selbst zu den Anhängern oder Sympathi­santen der kommunistischen Idee zählte. Er ist ein Beispiel für den Typ des unpolitischen, bürgerlichen Wissenschaftlers, den die SED nur solange akzeptieren wollte, bis sie ihren eigenen Nachwuchs ausgebildet hatte. Für den akademischen Bereich der Forstwissenschaft kam dieser Prozess in den 1950er Jahren nicht zu einem Abschluss, so dass er bis zu seinem Tod 1960 weitgehend autonom seine Forschungsinhalte bestimmen konnte. Als Ziegers größte akademische Leistung auf dem Gebiet der forstlichen Rauchschadenforschung ist der Nachweis zu nennen, dass Schwefeldioxidemissionen noch in über 30 Kilometern Entfernung Schäden an der Vegetation hervorrufen können. Gemeinsam mit seinem Assistenten Eberhard Pelz konnte er die Waldschäden auf dem Kamm des Erzgebirges auf die Emissionen im Nordböhmischen Becken zurückführen. Diese Zahl war nach Ziegers Tod bald obsolet und erfuhr eine Potenzierung, aber bis dato galten die Halsbrücker Esse

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und der zehn Kilometer enfernte Tharandter Wald als maximales Beispiel für ›Fernwirkung‹. Neben seiner universitären Tätigkeit versuchte Zieger mit Rückendeckung des MLF eine gesetzliche Regelung der Rauchschadenfrage zu erreichen. Er war sich darüber im Klaren, dass eine technische Lösung – also die Ausfilterung des Schwefeldioxids an der Quelle – noch nicht möglich war. Von den beiden verbleibenden Möglichkeiten, eine Entschwefelung der Brennstoffe oder eine Festlegung von Immissionsgrenzwerten, favorisierte er die letztere. Dazu war allerdings eine Zusammenarbeit mit der Staatlichen Plankommission in der Standortplanung nötig, die diese verweigerte. Die von der SPK verfolgte optimale Verteilung der Produktionsfaktoren führte zu einer weiteren Aufkonzentrierung der Industrie in den Ballungsgebieten. Während sie die Wissenschaftler in Arbeitsgruppen, Komissionen und Ausschüssen diskutieren ließ, nutzte sie die Zeit, um Fakten zu schaffen. Dies war sowohl bei Lingners Landschaftsals auch bei Ziegers Großraumdiagnose der Fall.

2. Die 1960er Jahre – im Windschatten

Die 1960er Jahre sind das am wenigsten erforschte Jahrzehnt der DDR-­ Geschichte.1 Die Ereignisse des 13. August 1961 sind von dieser Aussage ausgenommen. Der Mauerbau machte aus der DDR ein anderes Land und wirkte als zweiter ›Lernschock‹. 1953 hatten die Menschen erfahren müssen, dass das SED-Regime nicht zu stürzen war, nach 1961 konnte man sich ihm selbst nicht mehr länger durch Flucht in den Westen entziehen. Die Machthaber wie auch die Beherrschten mussten neue Wege des Miteinanders finden. Die Bevölkerung war gezwungen, sich mit den Verhältnissen in der DDR zu arrangieren, Lebensund Karrierepläne an den herrschenden Gegebenheiten auszurichten. Die SED versuchte ihrerseits, der Bevölkerung die mentale Eingliederung zu erleichtern, etwa durch eine liberalere Kulturpolitik oder indem sie Formen des offenen Justizterrors zurückführte und durch eine weniger präsente Überwachung durch das MfS ablöste.2 Die innenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 1960er Jahre in der DDR gerieten in den Windschatten weltpolitischer Ereignisse wie der Kubakrise, den Kriegen in Nahost, dem Vietnamkrieg, dem Prager Frühling und den Ereignissen des Jahres 1968. Dies schlägt sich auf die Schwerpunktsetzung der historischen Forschung durch. Arbeiten zur Umweltgeschichte der DDR in diesem Jahrzehnt, oder gar der Rauchschadenforschung, fehlen bisher fast vollständig. Dabei erlauben die Vorgänge an der Forstfakultät Tharandt eine exemplarische Darstellung der strukturellen Veränderungen. Die Berufung eines Nachfolgers für Erich Zieger fiel in die Zeit des Mauerbaus. Der Nachfolger Hans-Günther Däßler musste sich in einem veränderten akademischen und politischen Milieu bewegen, was nicht ohne Auswirkungen auf seine wissenschaftliche Schwerpunktsetzung bleiben konnte. Damit verknüpft ist die Frage, welche Rolle Wissenschaftler generell in diesem innenpolitischen Reformjahrzehnt zugewiesen bekamen. Dieser Fragekomplex gewinnt an Brisanz, weil in diesen Jahren die Verschmutzung der Umweltmedien Luft, Wasser und Boden

1 Vgl. dazu Fulbrook, Normalisation, 12 und Jens Gieseke, Bevölkerungsstimmungen in der geschlossenen Gesellschaft. MfS-Berichte an die DDR-Führung in den 1960er- und 1970er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe 5, 2008, 1–16, 1, aufgerufen am 13.2.2012. 2 Stefan Wolle bezeichnete die 1960er Jahre als das »goldene Zeitalter« der DDR. Dieses Urteil gründet er auf eine wahrgenommene politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität. Vgl. dazu auch Hoffmann, Deutsche Geschichte, 92.

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zunahm.3 Es gilt hier, die Mechanismen und Methoden offenzulegen, mit denen die Tharandter Wissenschaftler – allen voran Däßler – versuchten, dagegen vorzugehen, politisch Gehör zu finden und Gegenmaßnahmen zu initiieren. In der Literatur herrscht Konsens, dass mit der großen Wirtschaftsreform ›Neues ökonomisches System der Planung und Leitung‹ (NÖSPL) die Einflussmöglichkeiten der Wissenschaft auf die Politik stiegen. Diese Möglichkeiten nutzten auch die Forstwissenschaften im Allgemeinen und die Rauchschadenforschung im Speziellen. Dem entgegengesetzt steht eine Analyse der Aus­ wirkungen der 3. Hochschulreform ab 1967. Mithilfe dieser Reform dehnte die SED ihren Einfluss auf die Hochschulen aus. Dies hatte weitreichende Auswirkungen auf die Forstfakultät Tharandt, auf ihr Curriculum, ihre wissenschaftlichen Schwerpunktsetzungen und nicht zuletzt auf ihr Personal. Am Ende des Kapitels weitet sich der Blick über die Akteure und Ereignisse in Tharandt hinaus. Strukturelle Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft ermöglichten und erforderten eine neue Behandlung von Rauchschäden. Zudem entstand mit den Rauchschäden im Oberen Erzgebirge ein Problem, das sich nationalen Regelungsmechanismen entzog. Damit gewinnt die Überschrift »im Windschatten« eine zweite Bedeutung: Die Ursache der Schäden lag auf der Südseite des Gebirges in der Tschechoslowakei. Nach winterlichen Inversionswetterlagen brachten Südostwinde die stark immissionsbelastete Luft über den Kamm des Erzgebirges. Welche Möglichkeiten ergriff die DDR, um gegen diese, außerhalb ihres Territoriums liegenden Emissionsquellen vorzugehen?

2.1 Die Rauchschadenforschung in den 1960er Jahren Erich Zieger war es in den 1950er Jahren gelungen, an die internationale Reputation der Tharandter Rauchschadenforschung anzuknüpfen. Er war gut vernetzt und seine Expertise weltweit gefragt. Gegen Ende seiner Amtszeit hatte er eine Arbeitsgruppe um sich gebildet, die mit dem Forschungsprojekt ›Großraumdiagnose‹ die akademische Diskussion in Europa mitprägte. Auf der politischen Ebene stieß er mit der Rauchschadenkommission ein Gesetzesvorhaben an, auf der universitären Seite wollte er mit der Forschungsgemeinschaft Rauchschäden Grundlagen- und Anwendungsforschung verknüpfen. Beide Vorhaben fanden mit Ziegers plötzlichem Tod 1960 ein jähes Ende. Im Bereich des Forstschutzes gab es niemanden, der Zieger beerben konnte. Sein wichtigster Mitarbeiter Pelz war in den Endzügen der Promotion und wurde durch das Ableben seines Betreuers zurückgeworfen.4 Die Suche nach einem Nachfolger 3 Dupuy, Histoire, 82; Dupuy, Les scientifiques, 327 sowie Roesler, Umweltprobleme. 4 Auch dies ist ein Beispiel, wie lange in der DDR alte Seilschaften der Forstwissenschaft intakt blieben. Die Betreuung von Pelz übernahm Hans Schönbach, Leiter der Abteilung

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erstreckte sich über mehrere Jahre und fiel mit dem Mauerbau zusammen. Es ist hier vor allem auf die Veränderungen in den Berufungsverfahren zu achten und der Frage nachzugehen, welche Auswirkungen dieses weltpolitische Ereignis bis hinab auf die Fakultätsebene in den DDR-Hochschulen hatte. Zudem muss die Frage beantwortet werden, ob es Ziegers Nachfolger gelang, unter den Bedingungen des abgeschotteten Landes die internationalen Kontakte zu pflegen und den Einfluss auf die Politik zu wahren.

2.1.1 Streit um die Großraumdiagnose Im Frühjahr 1961 veranstaltete die Fakultät Tharandt einen Festakt zu Ehren Ziegers. Die Redner betonten seine Leistungen, vor allem auf dem Gebiet der Rauchschadenforschung. Ihm sei es gelungen, den Ruf Tharandts in dieser Disziplin auf- und auszubauen. Sein Ausfall sei umso schmerzlicher, als bisher noch kein adäquater Ersatz gefunden werden konnte.5 Mit diesem Gedenken an Zieger gab sich die Fakultät bedächtigt und ehrwürdig. Hinter den Kulissen stritten sich jedoch mehrere Kandidaten, die Nachfolge anzutreten, um die finanziell gut ausgestattete Rauchschadenforschung übernehmen zu können. Dieser Streit wirkte sich, wie ausgeführt wird, durchaus nachteilig auf den weiteren Fortgang der Forschungen aus. Kampf um das Erbe Ziegers Das Institut für Forstnutzung konnte noch im gleichen Jahr mit Hans-Joachim Mette besetzt werden. Mette gehörte einer Generation um 1925 Geborener an, die mit Beginn der 1960er Jahre die Professorenstellen in Tharandt und auch andernorts zu besetzen begann.6 Er selbst war nach seinem Diplom in Göttingen 1946 in die SBZ zurückgekehrt. Seine Karrierestationen in den Forst­ ministerien von Thüringen und der DDR lassen auf eine der SED genehme politische Gesinnung schließen.7 Die Professur für Forstschutz blieb bis 1963 unbesetzt. Otto Bloßfeld, Mitarbeiter und Vertreter Ziegers in der Forstnutzung, wies den Rat der Fakultät darauf hin, dass eine Neubesetzung des Forstschutzes schwierig werde, da eine Forstpflanzenzüchtung der DAL am Institut für Forstwissenschaft Tharandt und Corps­ bruder von Erich Zieger. Gespräch mit Eberhart Pelz am 28.9.2010. 5 Pleiß, Kleinert, Erteld, Boie, In memoriam Erich Zieger, 145. 6 Wierling identifizierte eine »1929ers«-Generation, die sie als prägend für die gesamte DDR-Geschichte bezeichnete. Dorothee Wierling, How Do the 1929ers and the 1949 Differ?, in: Fulbrook, Power, 204–219, 205–208. 7 Vgl. Pommerin, Professoren, 622–623.

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geeignete Kapazität fehle. Die Arbeiten an der Rauchschadenforschung erlaubten jedoch keinen Aufschub. Hier müsse kurzfristig eine Lösung gefunden werden, etwa durch die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft Rauchschäden, die der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (DAL) angegliedert werden könnte. Beim Forstschutz wären die biotischen Schäden und die Waldbrand­ forschung verblieben.8 Zieger hatte seit 1952 die Rauchschadenforschung in Tharandt aufgebaut und geprägt. Es war ihm gelungen, das Thema aus der Pflanzenchemie herauszu­ lösen und aus einem chemischen Problem ein forstliches zu machen. Diese Zuordnung stand nach 1960 wieder zur Debatte, die Rauchschadenforschung hing in der Luft und die gut dotierte Großraumdiagnose weckte Begehrlichkeiten. Zuerst war es das Institut für Pflanzenchemie, das alte Ansprüche anmeldete. Das Institut für Pflanzenchemie und Holzforschung in Tharandt war in seinen Publikationen stets darum bemüht, eine ununterbrochene Traditionslinie von Stöckhardt über von Schroeder und Wislicenus bis in die Gegenwart zu führen, um die Immissionsforschung als primär chemisches Aufgabengebiet darzustellen. Die acht Jahre Ziegers erscheinen dabei als eine Art ›exotischer Ausflug‹ und fanden – falls überhaupt – knapp Erwähnung. Nur so ist zu erklären, dass Heinrich Wienhaus 1958 an seinen Oberassistenten Hans-Günther Däßler herantrat, ihm die einschlägigen Arbeiten seiner Amtsvorgänger vorlegte und ihn aufforderte, »die Rauchschadenforschung wieder ins Leben zu rufen«.9 Es wird Wienhaus nicht entgangen sein, welche Aktivitäten Zieger zu diesem Zeitpunkt auf dem Gebiet der Rauchschadenforschung bereits entwickelt hatte. Er hatte erlebt, wie Zieger sich auf dem dies academicus 1955 als international anerkannter Experte inszenieren konnte. Er selbst war 1954 emeritiert worden, konnte sich also nicht mehr auf diesem Gebiet profilieren. Als Zieger dann in seiner bereits erwähnten Denkschrift von 1958 die Pflanzenchemie endgültig aus der Rauchschadenforschung drängen wollte, sah Wienhaus sich zum Eingreifen verpflichtet. In Däßler erkannte er einen jungen, fähigen Wissenschaftler, der nach Ziegers Emeritierung um 1965 die Rauchschadenforschung wieder in die Pflanzenchemie hätte zurückholen können. Hans-Günther Däßler, geboren am 1.  April 1925, stammte aus einem gutbürgerlichen, akademischen Elternhaus; der Vater war Tierarzt und die Mutter Apothekerin. Nach seiner Heimkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft nahm er 1946 an der TH Dresden ein Studium der Faserstofftechnik auf, wechselte bald zur Chemie und machte 1951 sein Diplom. 1950 wurde er Mitglied der NDPD und Hilfsassistent bei Heinrich Wienhaus. Diese wenigen Angaben 8 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 224, Umwandlung der Professur für Forstschutz in ein Institut, Brief Bloßfelds an den Rat der Fakultät vom 20.10.1960. 9 Gespräch mit Hans-Günther Däßler am 29.9.2010 und Rajanov, Immissionsforschung, 146.

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lassen klar hervortreten, dass Däßler – ebenso wie Zieger – nicht dem gesellschaftlichen Muster entsprach, mit dem die SED die Hochschulen überziehen wollte. Aber Däßler konnte sich der beständigen Unterstützung und Förderung seines Mentors Wienhaus sicher sein. 1956 schloss er bei ihm seine Promotion über Menthofuran und dessen Autooxidation ab.10 Nebenbei absolvierte er ein Zusatzstudium der Toxikologie. Auch danach beschäftigte sich Däßler – zumindest wenn man seine Publikationen als Maßstab heranzieht – nicht mit Fragen der Rauchschadenforschung. Erst ab 1959 bearbeitete er einen Forschungsauftrag »Untersuchungen über die Einwirkung von SO₂ auf Pflanzeninhaltsstoffe«, dessen Ergebnisse er auf der III. Tagung forstlicher Rauchschadensachverständiger im Mai 1961 in Tharandt vorstellte.11 Hier zeigte sich der Erfolg der Einflussnahme von Wienhaus auf seinen Schützling, aber auch das Handeln von Roland Mayer, der im Juni 1958 die Nachfolge von Wienhaus antrat und Däßler bei seinen Forschungen freie Hand ließ.12 Däßler war noch mit den Arbeiten an seiner Habilitation beschäftigt, als der Fakultätsrat am 28.  September 1960 beschloss, im Forstschutz eine Dozentur »Chemie des Rauchschadens und des Forstschutzes« einzurichten.13 Vor Ziegers Tod hatte Däßler erwogen, in die Industrie zu wechseln und bereits Gespräche mit Böhringer Ingelheim geführt.14 Dies wäre nicht nur ein Wechsel in die Industrie, sondern auch in die Bundesrepublik gewesen. Ende November 1960 stellte die Fakultät beim Senat der TH Dresden den Antrag, Däßler mit der Wahrnehmung der Dozentur im Forstschutz zu beauftragen, da er schon seit zehn Jahren mit der Rauchschadenfrage beschäftigt sei.15 Wie oben gezeigt, war die Begründung der »zehn Jahre« großzügig ausgelegt. Woher diese Zahl stammt, kann nicht rekonstruiert werden. Vielleicht sollten damit Däßlers Chancen auf die Dozentur erhöht werden. Der Senat folgte dem Antrag nicht. Die Fakultät war sich allerdings darüber einig, dass Däßler aufgrund seiner Ausbildung unbedingt an Tharandt gebunden werden müsse.16 Gleichzeitig stand Eberhard Hengst kurz davor, seine Habilitation abzuschließen. Hengst war ein Mitarbeiter von Rudolf Kleinert, der nach dem 10 Hans-Günther Däßler, Über Methofuran und seine Autooxidation, in: Chemische Berichte 91, 1958, 260. 11 Hans-Günther Däßler, Die Einwirkung von Schwefeldioxyd auf verschiedene Pflanzeninhaltsstoffe. Vortrag gehalten anläßlich der III. Internationalen Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger in Tharandt (24. bis 27. Mai 1961), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 567–569. 12 Vgl. Hegewald, Institut, 45. 13 UA der TUD, II013632, Nachlass Prof. H.-G. Däßler, pag. 50. 14 Gespräch mit Hans-Günther Däßler am 29.9.2010. 15 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 196, Vorlagen und Protokolle zu Fakultätsratsitzungen, Sitzung vom 16.2.1961. 16 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 116/1, Dekanat, Protokolle von Fakultäts­ sitzungen, Sitzung vom 1.2.1961.

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Tod Ziegers kommissarisch die Leitung der Professur für Forstschutz übernommen hatte. Kleinert setzte sich innerhalb der Fakultät dafür ein, seinem Assistenten Hengst den Forstschutz zu reservieren. Dem entsprach der Fakultätsrat, aber es war abzusehen, dass das Berufungsverfahren Hengst noch einige Zeit beanspruchen würde. Solange sollte die Rauchschadenforschung nicht ruhen. Auf einer Sondersitzung am 26. April 1961 schlug die Fakultät erneut Däßler für die Rauchschadendozentur vor. Allerdings war diese nicht mehr beim Forstschutz verankert, sondern direkt am Institut für Pflanzenchemie.17 Zwei Wochen später beschlossen schließlich die Fakultät und die DAL auf einer gemeinsamen Sitzung, Däßler ab dem 26. Mai mit der Koordinierung und Leitung der Rauchschadenforschung zu beauftragen sowie ihm die Großraumdiagnose zu überantworten. Damit verbunden war eine Wahrnehmungsdozentur.18 Mittlerweile hatte Däßler seine Habilitation »Über die Einwirkung von Schwefeldioxid auf Terpene und Pflanzenwachse – ein Beitrag zur Chemie der Rauchschäden« abgeschlossen. Unter den verbliebenen Mitarbeitern des Forstschutzes, darunter Eberhart Pelz, regte sich sofort Widerspruch. Ohne die Großraumdiagnose sei der Forstschutz nicht mehr arbeitsfähig, da alle Hilfskräfte über den Forschungsauftrag angestellt seien. Däßler könne die Forschung koordinieren, aber der Auftrag solle im Forstschutz verankert bleiben. Der Fakultätsrat forderte beide Streitparteien auf, bis zum 23. Juni 1961 einen gemeinsamen Lösungsvorschlag auszuarbeiten.19 Däßler nutzte die Zeit, um Fakten zu schaffen. Er ließ die Forschungsunterlagen und Gerätschäften der Großraumdiagnose, darunter teure Westimporte, vom Forstschutz in die Pflanzenchemie transportieren. Zugute kam Däßler dabei, dass Kleinert zu dieser Zeit schwer erkrankt und nicht vor Ort war. Er verteidigte sein Vorgehen gegenüber dem Dekan mit der Ansicht, dass mit der Übernahme des Forschungsauftrages auch die Verwaltung der Geräte auf ihn übergegangen sei.20 Vor diesem Hintergrund fand die III. Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger im Mai 1961 in Tharandt statt. Den Auftrag des Fakultätsrates, einen gemeinsamen Kompromissvorschlag auszuarbeiten, konnten die beiden Konfliktparteien nicht erfüllen. Im Juni 1961 wurden dem Rat zwei Konzepte vorgelegt. Nun entschied der Fakultätsrat, dass Däßler weiterhin die Koordinierung der Rauchschadenforschung übernehmen, die Großraumdiagnose aber von beiden Instituten gemeinsam zu Ende geführt 17 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 196, Vorlagen und Protokolle zu Fakultätsratsitzungen, Sitzung vom 26.4.1961. 18 UA der TUD, II013632, Nachlass Däßler, pag. 50. 19 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 116/1, Protokolle von Fakultätssitzungen, Sitzung vom 14.6.1961. 20 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 224, Umwandlung der Professur für Forstschutz in ein Institut, Schreiben Däßlers an den Dekan vom 7.9.1961.

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werden sollte. Eine endgültige Abgrenzung sollte erst erfolgen, wenn die Professur für Forstschutz neu besetzt sei.21 Wie zerrüttet das Verhältnis war, belegen Briefwechsel zwischen beiden Seiten, in denen es um Ort und Zeit von Arbeitsbesprechungen ging, in die auch der damalige Dekan Gottfried Müller einbezogen wurde. Friedrich Fischer, seit 1961 Professor für Pflanzenchemie und Nachfolger von Roland Mayer, beschuldigte etwa Hengst, die Rauchschadenforschung mit »fruchtlosen Debatten« zu beschädigen und nicht an einer wirklichen Lösung interessiert zu sein.22 Hengst selbst wurde nach Abschluss seines Habilitationsverfahrens von der Fakultät einstimmig am 12.  Oktober 1961 zum Dozenten für Forstwirtschaft und Forstschutz bestimmt. Er erhielt auch von externen Professoren ausgezeichnete fachliche Beurteilungen. Seiner Berufung schien nichts mehr im Wege zu stehen. Am 29. März 1962 kam allerdings eine ernüchternde Nachricht vom Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen. Hengst, Jahrgang 1917, stammte aus einem gutbürgerlichen Elternhaus. Er war Zugführer im Deutschen Jungvolk und Oberleutnant der Reserve gewesen. Nach dem Krieg war er zunächst allen gesellschaftlichen Organisationen fern geblieben und erst 1949 dem FDGB beigetreten. Das Staatssekretariat sah sich außerstande, ihn zum Dozenten für Forstwirtschaft zu berufen, da kein konsequentes »Eintreten für den Sozialismus« zu erkennen und die »Entwicklung neuer sozialistischer Verhältnisse an der Fakultät« nicht gesichert sei.23 Das Beispiel Hengst zeigt, dass nach dem Bau der Mauer eine fachliche Befähigung zum Professorenamt allein nicht mehr ausreichte. Nachdem die innerdeutsche Grenze geschlossen war, konnte die SED immer noch auf die Kompetenz ›bürgerlicher‹ Wissenschaftler zurückgreifen, ohne ihnen an den Universitäten eine Prestige- und Machtposition überlassen zu müssen. Hengst bemühte sich ab 1962, seine Berufungschancen zu verbessern, etwa durch eine »Bewährung in der Forstpraxis«. Entsprechende Anträge wurden aber immer wieder verschleppt. Bis zur Pensionierung kam er nicht über den Status des wissenschaftlichen Assistenten hinaus. Der älteren Generation von Wissenschaftlern, die nach dem Krieg den Universitätsbetrieb in der SBZ/DDR wieder aufbaute, wurde noch eine Trennung von Leistung und politischer Tätigkeit zugestanden.24 Die nachwachsende Wissenschaftlergeneration sollte aber fest mit der Partei verbunden sein. 21 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 116/1, Protokolle von Fakultätssitzungen, Sitzung vom 23.6.1961. 22 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 224, Umwandlung der Professur für Forstschutz in ein Institut, Brief von Fischer an Hengst vom 19.7.1961. 23 UA der TUD, Personalakte Eberhard Hengst, Schreiben des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen vom 29.3.1962. 24 Reinhard Siegmund-Schultze, Der Schatten des Nationalsozialismus. Nachwirkungen auf die DDR-Wissenschaft, in: Hoffmann, Naturwissenschaft, 105–121, 111.

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Formal wurden die Berufungsvoraussetzungen erst 1968 mit der »Hochschul­ lehrerberufungsverordnung« von der Habilitation getrennt.25 Am vorgelegten Beispiel wird deutlich, dass die SED allerdings ab dem Mauerbau gesellschaftlich unerwünschte Berufungen zunehmend politisch verhinderte und ihren Einfluss – und damit verbunden eine disziplinierende Wirkung – auch auf Spezialfächer ausdehnen konnte. Bereits seit der III. Parteikonferenz der SED 1956 und der 3.  Hochschulkonferenz 1958 versuchte das Sekretariat für Hoch- und Fachschulwesen den sozialistischen Umbau der Universitäten zu forcieren.26 Dies sollte allerdings zunächst in den ideologienahen Fächern geschehen, während man in Spezialdisziplinen noch auf eine »Kooperation mit den Spitzenkräften« angewiesen war.27 In diesen Bereichen sei die »Kaderreserve« noch zu dünn, falls überhaupt vorhanden. Wie schon am Beispiel Mette gezeigt, war die Reserve in der Forstwissenschaft bis zu Beginn der 1960er angefüllt worden, und die Liste der Be­ rufenen, die die ›sieben Gramm‹ des Parteiabzeichens am Revers trugen, lässt sich verlängern: Hans-Joachim Fiedler, Jahrgang 1927, Berufung 1959; Frithjof Paul, Jahrgang 1929, Dozent ab 1962, Berufung 1968 oder Martin Schretzenmayr, Jahrgang 1920, Berufung 1960.28 Das Ausscheiden von Hengst verbesserte die Lage von Däßler erheblich. Ziegers Mitarbeiter Pelz mochte vielleicht in Fragen der Rauchschadenforschung zu diesem Zeitpunkt kompetenter gewesen sein, war allerdings beim Tod Ziegers noch mit seiner Dissertation beschäftigt. Für Däßler musste jedoch zunächst noch eine institutionell abgesicherte Stelle gefunden werden, die seinen Ansprüchen entsprach. Die Wahrnehmungsdozentur, die er seit Mai 1961 innehatte, war nach seiner Habilitation im Januar 1962 in eine Dozentur umgewandelt worden. Die Stellung war aber langfristig nicht gesichert, da in der Pflanzenchemie nicht genügend Lehrveranstaltungen gehalten wurden, und es mit Wilhelm Kumichel bereits einen Dozenten gab.29 Fischer betonte allerdings immer wieder, wie wichtig es sei, Däßler an der Fakultät zu halten, und setzte sich für sein Bleiben ein. Einmal diskreditierte er Kumichel beim Dekan als unproduktiven Wissenschaftler, dessen Arbeiten »oft auf halbem Wege 25 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Verordnung über die Berufung und die Stellung der Hochschullehrer an den wissenschaftlichen Hochschulen. HBVO, 6.11.1968, in: Gbl. DDR II 127, 997–1007. 26 Zur 3. Hochschulkonferenz vgl. Ralf Rytlewski, Entwicklung und Struktur des Hochschulwesens in der DDR, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik. Köln 1990, 414–424, 415. 27 Jessen, Elite, 95–96. 28 Pommerin, Professoren, 210, 707–708 und 870. 29 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 116/1, Protokolle von Fakultätssitzungen, Sitzung vom 29.11.1961.

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liegen­geblieben« seien. Zudem verfüge Kumichel noch nicht einmal über eine Habilitation, und es sei an der Zeit, diese Stelle einem jungen, tatkräftigen Wissenschaftler zu übergeben.30 Damit konnte er nur Däßler gemeint haben. Zum anderen schlug Fischer im März 1962 Däßler direkt als Professor für Forstschutz vor, nachdem durchgesickert war, dass Hengst nicht berufen werden würde. Däßler bekam die Professur aus fachlichen Gründen nicht, sondern behielt seine Dozentur für Sondergebiete der Pflanzenchemie bis 1963. Nach dem Ausscheiden von Kumichel und positiven Voten der Kaderabteilung und der Parteiorganisation der SED im November 1963 wurde Däßler schließlich zum Professor mit Lehrauftrag berufen. Die Lebensläufe und Ausbildungswege von Däßler und Hengst unterschieden sich lediglich graduell, beide entsprachen sie nicht dem von der SED gewünschten Professorentypus.31 Wie sind vor diesem Hintergrund die unterschiedlichen Stellungnahmen des Staatssekretariats zu erklären? Beide hatten einen ähnlichen gesellschaftlichen Hintergrund, beide besaßen fachlich einen guten Ruf und beiden wurde von ihren Mentoren eine gute Ausgangsstellung verschafft. Entscheidend schien der Umstand zu sein, dass Däßler seine erste Dozentur am 26. April 1961 erhielt, also kurz vor dem Mauerbau. Hier wirkte noch das Motiv, das Jessen die »›Außennachfrage‹ für Akademiker auf dem doppelten deutschen Arbeitsmarkt« nannte.32 Däßler hatte selbst mit Abwanderung gedroht und bereits entsprechende Kontakte geknüpft. Diese Möglichkeit des karrierefördernden Drohpotentials hatte Hengst nicht mehr. Das Gelegenheitsfenster zwischen »Macht und Markt« war während seines Berufungsvorganges bereits geschlossen.33 Dies erklärt nicht Däßlers weiteren Aufstieg nach 1961. Möglicherweise wurde hier eine Form von Pfadabhängigkeit wirksam, vielleicht erfüllte Däßler die gewünschten gesellschaftlichen Anforderungen eine Nuance besser als Hengst. Däßler war frühzeitiger Mitglied einer Blockpartei geworden, war einigen Massenorganisationen beigetreten und hatte nach der Dissertation in der volkseigenen Industrie gearbeitet. Es war nur ein schmaler Grat, der beide trennte, aber er reichte aus, um zwei ähnlich begonnene akademische Bio­ graphien auseinanderzuführen.

30 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 269, Dekanat, Assistenten A–Z, Brief­ Fischers an Dekan Müller vom 12.4.1962. 31 Däßler war nach eigener Aussage selbst erstaunt, dass er Dozent wurde, da er nicht Mitglied der SED war. Gespräch mit Hans-Günther Däßler am 29.9.2010. 32 Jessen, Elite, 45. 33 Ebd., 42.

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Wieder-Wiederaufbau der Rauchschadenforschung Der Übergang der Rauchschadenforschung vom Forstschutz zur Pflanzen­ chemie bedeutete zunächst einen erheblichen Transfer von Personal, Material und Forschungsmitteln. 1960 waren am Institut für Pflanzenchemie ein Professor (Roland Mayer), eine mit der Wahrnehmung einer Professur beauftragte Lehrkraft (Wilhelm Kumichel), ein Oberassistent (Hans-Günther Däßler), zwei Assistenten sowie Hilfs- und Laborkräfte beschäftigt.34 Im Jahresbericht von 1961 bezeichnete sich das Institut bereits als »wissenschaftl.-techn. Zentrum für Rauchschadenforschung«. Der Personalbestand in Forschung und Entwicklung war von 18 auf 24 gestiegen, darunter die Zahl der Hochschulabsolventen von sechs auf elf.35 Das Forschungsbudget des Institutes betrug 79.300 DM. Hier wirkte sich aus, dass Däßler zwar für Koordination der Rauchschadenforschung zuständig war, die finanziellen Mittel der Großraumdiagnose 1961 aber noch beim Forstschutz verbucht wurden. 1962 listete dann die Pflanzenchemie allein 637.000 DM für die Großraumdiagnose auf.36 Diese Verachtfachung der Forschungsmittel allein belegt die Attraktivität der Rauchschadenforschung. Nach den Selbstbeschreibungen des Institutes für Pflanzenchemie habe es die Tharandter Rauchschadenforschung wieder aufgebaut.37 Am 1. Dezember 1961 rief Däßler in der Pflanzenchemie eine Arbeitsgruppe »Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt« ins Leben, unter deren Namen fortan alle Publikationen zur Rauchschadenfrage erschienen. Däßler selbst machte 1963 den Anfang.38 Im Sinne der Kapazitätenthese von von Prittwitz könnte man hier vom Aufbau einer Forschungskapazität sprechen.39 Am Institut für Pflanzenchemie entstand zu Beginn der 1960er Jahre die wissenschaftliche Infrastruk-

34 BArch DF 4/63732 Institut für Pflanzenchemie und Holzforschung, Jahresbericht des Institutes für Pflanzenchemie und Holzforschung der Fakultät für Forstwirtschaft Tharandt der Technischen Hochschule Dresden. 27.1.1961, pag. 7. 35 BArch DF 4/52769 Institut für Pflanzenchemie und Holzforschung, Jahresbericht 1961 des Institutes für Pflanzenchemie und Holzforschung der Fakultät für Forstwissenschaft Tharandt der Technischen Universität Dresden. 26.1.1962, pag. 8–9. 36 BArch DF 4/51305 Institut für Pflanzenchemie und Holzforschung, Jahresbericht des Institutes für Pflanzenchemie der Fakultät für Forstwirtschaft Tharandt der Technischen Universität Dresden. 5.2.1963, pag. 11. 37 Vgl. Herbert Lux, 20 Jahre Forschungsgruppe Immissionsschadenforschung an der Sektion Forstwirtschaft Tharandt der TU Dresden, in: Sozialistische Forstwirtschaft 32, 1982, 124–125, Herbert Lux, Professor Dr. habil. H.-G. Däßler – 65 Jahre, in: Forstwirtschaft 40, 1990, 188; Wienhaus, Däßler, Immissionsforschung,; Rajanov, Immissionsforschung oder Hegewald, Institut. 38 Hans-Günther Däßler, Probleme der forstlichen Rauchschadenforschung. 1.  Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstlich Rauchschadenforschung Tharandt, in: Biologisches Zentralblatt 82, 1963, 217–228. 39 Prittwitz, Katastrophenparadox und Handlungskapazität, 346.

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tur, die eine notwendige Voraussetzung für eine eventuell später mögliche gesellschaftliche Verhandlung von Rauchschäden in Wäldern war. Diese Interpretation ist kritisch zu würdigen. Es handelte sich bei den Vorgängen genauer um eine Kapazitätsverlagerung, streng genommen sogar um eine Kapazitätsvernichtung. Was die Pflanzenchemie gewann, verlor der Forstschutz. Der Jahresbericht 1962 gab den desolaten Zustand des Forstschutzes wieder. Ein Institutsdirektor fehlte immer noch, und die Übergabe der Vertragsforschung ›Großraumdiagnose‹ führe die von Zieger aufgebaute Arbeit weg von »der forstwirtschaftlich, -wissenschaftlichen Zielsetzung«.40 Allein ­Felix­ Lampadius bearbeitete noch einen bis 1964 laufenden Forschungsauftrag.41 Einen Verlust bedeutete der Weggang von Eberhart Pelz. Er war seit 1955 mit der Rauchschadenforschung befasst. Pelz begleitete Zieger als ›Aktentaschenträger‹ zu allen Sitzungen der verschiedenen Arbeitskreise und Kommissionen und reiste mit ihm 1959 zur Besichtigung einer Rauchgasentschwefelungsanlage nach Moskau. Es war Pelz, der zwischen 1958 und 1960 mittels Luftmessungen im Oberen Erzgebirge nachwies, dass dort die schwadenartig auftretenden Schwefeldioxid-Emissionen aus Nordböhmen eine entscheidende Rolle spielten. Nach Ziegers Tod bereitete er die III. Tagung forstlicher Rauchschadensachverständiger 1961 in Tharandt weiter vor. Nach seiner Dissertation bearbeitete er den Forschungsauftrag »Untersuchungen der meßtechnischen und sonstigen Grundlagen der Rauchschadentherapie«. Für den IUFRO-Kongress 1961 in Wien verfasste er die Auswertung der von Zieger angestoßenen weltweiten Rauchschadenerhebung.42 Zudem hatte er über Wentzel enge Kontakte zur bundesdeutschen Forschung. Sein Weggang 1962 Richtung Prag hing mit dem gespannten Verhältnis zwischen den Instituten zusammen. Pelz blieb allerdings der Rauchschadenforschung erhalten. In der Tschecho­ slowakei forschte er zu den Waldschäden auf der Südseite des Erzgebirges und war dazu mit einem Beitrag auf dem Rauchschadensymposium in Tharandt 1965 vertreten. Danach wandte er sich der Fernerkundung mittels Luftbildauswertung zu und arbeitete zunächst am Institut für Forstwissenschaften Eberswalde und ab 1981 als Dozent für Fotointerpretation an der TU Dresden. Er nahm weiterhin an Treffen der internationalen Arbeitstagungen forstlicher 40 BArch DF 4/51016 Professur für Forstwirtschaft und Forstschutz, Jahresbericht der Professur für Forstwirtschaft und Forstschutz. 4.2.1963, pag. 3. 41 Es handelte sich dabei um »Untersuchungen über die filternde Wirkung des Waldes gegenüber Luftverunreinigungen durch feste und gasförmige Stoffe«. Eine entsprechende Publikation erschien erst 1968; bezeichnenderweise nicht unter dem Schirm der Däßler’schen Arbeitsgruppe. Felix Lampadius, Die Bedeutung der SO₂-Filterung des Waldes im Blickfeld der forstlichen Rauchschadentherapie, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 17, 1968, 503–511. 42 Eberhart Pelz, Umfang und Bedeutung forstlicher Rauchschadenprobleme, in: IUFRO (Hrsg.), 13. Kongress. Wien 1961, 24–19.

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Rauchschadensachverständiger teil und pflegte einen intensiven Austausch mit Wentzel.43 Differenzen auf der persönlichen Ebene verhinderten in den Jahren 1960 bis 1963 die Nutzbarmachung des Wissens von Mitarbeitern aus dem Forstschutz. In dem 1976 zum ersten Mal erschienenen Standardwerk der DDR zu Vegetationsschäden von Däßler findet sich in dem ausführlichen Literaturverzeichnis keine Arbeit von Zieger oder Pelz.44 Auf der anderen Seite konnte Däßler Horst Enderlein zur weiteren Mitarbeit bewegen. Enderlein war 1959 zum Forstschutz gestoßen und hatte in der Arbeitsgruppe Ziegers die Methode zur Großraumdiagnose entwickelt, weshalb diese mit dem Übergang der Verantwortung auf Däßler nahtlos weitergeführt werden konnte. 1963, nach der Ernennung Däßlers zum Professor für Pflanzenchemie, waren in Tharandt die Fronten geklärt. Der Pflanzenchemie war es gelungen, ›ihr‹ Thema Rauchschadenforschung zurück ins Institut zu holen. Der Arbeitskreis Ziegers wurde zerschlagen, ein Teil davon in die Pflanzenchemie integriert; der andere Teil, der der neuen Ausrichtung nicht folgen wollte, verließ Tharandt oder wendete sich von der Rauchschadenforschung ab. In den Jahren zwischen 1960 und 1963 gerieten die von Zieger auf ministerieller- und Landesebene angestoßenen Projekte in Vergessenheit. Kurz vor seinem Tod hatte er gemeinsam mit Pelz eine letzte Denkschrift verfasst, in der er die ersten Ergebnisse der Großraumdiagnose zusammenfasste. Auf die »Denkschrift über das Ausmaß der Rauchschäden infolge industrieller Exhalationen im Lee des mitteldeutschen Industriegebietes« bezog sich Hans Reichelt, Minister für Land- und Forstwirtschaft, in einem Brief vom 15. Oktober 1962 an den Präsidenten der DAL, Hans Stubbe. Für Reichelt waren die Schäden in der Dübener Heide keine Besonderheit, sondern solche Schäden träten nahezu überall in der DDR auf. Er wollte Nägel mit Köpfen machen und für ihn war es »deshalb notwendig, Maßnahmen festzusetzen, die bei Überschreiten eines bestimmten SO₂- und Ascheausstoßes zum Einbau von Filteranlagen verpflichten«.45 Reichelt war der Meinung, dass sich der Einbau von Filtern relativ schnell amortisieren würde. Weitere Mittel für die forstliche Rauchschadenforschung wollte er nicht bewilligen.46 Die Sachlage schien für ihn geklärt, Schwefeldioxid ausreichend als Ursache für die großflächigen Waldschäden bewiesen. Alles Weitere liege nicht mehr in seinem Verantwortungsbereich, sondern in dem der Industrie, die für eine Reduzierung ihrer Emissionen sorgen sollte. 43 Gespräch mit Eberhart Pelz am 28.9.2010. 44 Hans-Günther Däßler, Einfluss von Luftverunreinigungen auf die Vegetation. Ursachen – Wirkungen – Gegenmaßnahmen. Jena 1976. 45 BArch DK 107/8434 Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften, Rauchschäden 1953–1966, Brief von Reichelt an Stubbe vom 15.10.1962. 46 Dies geht aus einem Brief von Friedrich Fischer an Hans Stubbe vom 22.10.1962 hervor. BArch DK 107/8434 ebd.

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Ein derartiges Vorgehen hätte den weiteren Verbleib von Däßler an der Forstfakultät Tharandt gefährdet, da sich seine Dozentur aus Sondermitteln finanzierte. Däßlers Vorgesetzter Fischer wandte sich darum eilig über Hans Stubbe an Minister Reichelt und versuchte, ihn von der Notwendigkeit weiterer Forschung zu überzeugen. Schließlich sei die Rauchschadenforschung »gerade erst auf eine moderne Basis gestellt« worden.47 Das Vorgehen Fischers ähnelt jenem Ziegers drei Jahre zuvor. Die Rauchschadenproblematik sei nicht so eindeutig, wie es dem Laien erscheine, und weitere Forschung sei notwendig, um etwaige Unsicherheiten ausräumen zu können. Damit bemühte Fischer den von Hannigan beschriebenen »ignorance claim«.48 Daraufhin kam es am 6. November 1962 zu einer Aussprache in der HA Forstwirtschaft, an der neben Fischer, Horst Enderlein und der Leiter der Hauptabteilung, Generalforstmeister Horst Heidrich, teilnahmen. Im Endergebnis konnte die Pflanzenchemie ihre Mittel sichern und ausweiten. Die in der Dübener Heide gesammelten Erfahrungen in der Bestandsumwandlung sollten auf die Niederlausitz übertragen werden, wo infolge des Neubaus großer Braunkohlekraftwerke Wald­schäden erwartet wurden. In einem zentralen Anliegen zeichnete sich allerdings keine Lösung ab. Unter Punkt 3 der Aussprache, der »Schaffung von gesetzlichen Grundlagen und Bestimmungen durch die die in Frage kommenden Wirtschaftszweige verpflichtet werden, bestimmte Maßnahmen gegenüber Rauchschäden durchzuführen«, hielt das Protokoll ernüchternd fest: Bei der ehemaligen Staatlichen Plankomission, Abt. Recht, ist der Entwurf einer Rauchschadensverordnung ausgearbeitet worden. Leider ist es nur beim Entwurfs­ stadium geblieben. Hinsichtlich der Zahlungen von Entschädigungskosten für Rauchschäden gibt es ebenfalls noch keine klaren Bestimmungen.49

Hier war der Tod Ziegers schmerzlich zu spüren. Er hatte eine gesetzliche Regelung immer wieder vorangetrieben und dabei darauf gedrungen, die entsprechenden Regelungen nicht im Sinne der Industrie zu sehr aufzuweichen. Mit Zieger begrub die SPK auch die Rauchschadengesetzgebung. Ohne diese gesetzliche Regelung war allerdings Reichelts Absicht hinfällig, die Industrie zur Emissionsreduzierung zu zwingen. 47 BArch DK 107/8434 ebd., Brief von Fischer an Stubbe vom 22.10.1962. 48 »Not only do scientists make knowledge claims but they also routinely construct ›ignorance claims‹. This means that researchers highlight ›gaps‹ in available scientific knowledge in order to make a case for further research funding or, conversely, to retard further policy action on the grounds that not enough hard data exist to justify regulation or legislative activity.« John A. Hannigan, Environmental Sociology. A Social Constructionist Perspective. London, New York 1995, 77. 49 BArch DK 107/8434 Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften, Rauchschäden 1953–1966, Protokoll einer am 6.11.1962 durchgeführten Beratung zu Industrierauchschäden.

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Die Intervention Fischers bei Reichelt zugunsten seines Schützlings Däßler und der Rauchschadenforschung kam gerade noch rechtzeitig. Im Februar 1963 wurde das MLF aufgelöst und Reichelt verlor seinen Ministerposten. Als Element der Dezentralisierung im Rahmen des NÖSPL trat der Landwirtschaftsrat  – ab 1965 erweitert zum Rat für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft – an die Stelle des Ministeriums. Laut Gesetz wurde die Forstwirtschaft »durch die Produktionsleitung des Landwirtschaftsrates der Deutschen Demokratischen Republik zentral geleitet«.50 Mit Wirkung zum 1. Mai 1965 und zur »weiteren Durchsetzung des neuen ökonomischen Systemes der Planung und Leitung der Volkswirtschaft auf dem Gebiet der Forstwirtschaft« bildete der Ministerrat ein Staatliches Komitee für Forstwirtschaft, das dem Rat für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft angeschlossen war.51 Das Komitee hatte 20 Mitglieder, darunter auch Reichelt. Vorsitzender des Rates war der SED-Politiker Georg Ewald, der dominierende Mann allerdings Gerhard Grüneberg.52 Seit Abschluss der Vollkollektivierung der Landwirtschaft 1960 war Grüneberg Sekretär des ZK für Landwirtschaft und blieb es bis zu seinem Tod 1981. Seit 1959 im Kandidatenstatus, rückte er 1966 ins Politbüro auf.53 Grüneberg war ein Verfechter industriemäßiger Produktionsmethoden in der Landwirtschaft. Auf ihn geht die enorme Vergrößerung der LPG sowie die Trennung in pflanzen- oder tiereproduzierende LPG zurück.54 In seiner Position drängte er auch die Forstwirtschaft zu einer Rückkehr zur Kahlschlagwirtschaft. In ihr sah Grüneberg lediglich den Industriezweig der Rohholzerzeugung.55 Das politische Umfeld, in dem sich Däßler bewegte, war ein anderes als jenes, in dem noch Zieger agiert hatte. Die bürgerliche, akademische Welt Ziegers, zu der auch der Präsident der DAL, Hans Stubbe, zu zählen ist, kam durch natürlichen Generationenwechsel und politsche Maßnahmen endgültig zu einem Ende. Mit der Demission Reichelts verlor die Rauchschaden­forschung

50 Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik, Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Planung und Leitung der Volkswirtschaft durch den Ministerrat, 11.2.1963, in Gbl. DDR I 1, 1–4. 51 Anonymus, Staatliches Komitee für Forstwirtschaft gebildet, in: Sozialistische Forstwirtschaft 15, 1965, 161–162. 52 Vgl. dazu Michael Heinz, Gerhard Grüneberg und Georg Ewald – ein ungleiches Führungspaar der SED-Agrarpolitik, in: Detlev Brunner (Hrsg.), Die DDR – eine deutsche Geschichte. Paderborn 2011, 221–240. 53 Nelson, Cold war ecology, 142–143. 54 Nach Heinz war die in der DDR erreichte Radikalität in der Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion weltweit einmalig. Michael Heinz, Die Konzentration und Spezialisierung des Agrarwesens in der DDR sowie ihre Auswirkungen auf Land und Umwelt, in: Förster, Herzberg, Zückert, Umweltgeschichte(n), 229–240, 232. 55 Vgl. dazu Malycha, Winters, SED, 296; Milnik, Verantwortung, 212 sowie Steiner, Plan, 186.

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zudem einen verständigen und fördernden Partner. Eine ähnliche Unterstützung war von Grüneberg nicht zu erwarten. Die von Fischer gegenüber Reichelt angeführte ›moderne Basis‹ lohnt eine genauere Betrachtung. Fischer und Däßler benutzten die Wendung, um sich von den Arbeiten Ziegers abzugrenzen. Damit stuften sie seine Arbeiten als überholt und irrelevant ein, eine befremdliche Sichtweise angesichts der internatio­ nalen Reputation, die Zieger für sein Wirken genoss. Diese damnatio memoriae, die die Vertreter der Pflanzenchemie Zieger zukommen ließ, diente der Verschleierung der Tatsache, dass Zieger weitgehend diese moderne Basis gelegt hatte. Auf dieser Basis musste Däßler aufbauen, denn unter den herrschenden gesellschaftlichen und politischen Umständen war es ihm nicht möglich, vollkommen neue Wege zu beschreiten. Seine erste Veröffentlichung zur Rauchschadenproblematik aus dem Jahr 1963 war eine Bestandsaufnahme, wie sie Zieger zehn Jahre zuvor angestellt hatte. Davon ausgehend entwarf Däßler ein sehr ähnliches Forschungspanorama, ohne jedoch Zieger namentlich zu erwähnen.56 Im Unterschied zu Zieger legte der Chemiker Däßler einen größeren Schwerpunkt auf die Wirkung des Schwefeldioxids in der Pflanze.57 Bemerkenswert ist zudem, dass Däßler gleich in der Einleitung seines Aufsatzes die »bedenkliche Zerstörung an großen Waldflächen der DDR« brandmarkte, deren Ursache der »rasche Aufbau unserer Industrie« sei.58 Solche kritischen Formulierungen sind der Anfangsphase des NÖSPL geschuldet, das zu einer gesteigerten Produktivität und damit auch zu weniger Umweltbelastung führen sollte. Die Großraumdiagnose erwähnte Däßler in dieser Veröffentlichung nicht explizit, sie machte aber einen großen Anteil der Publikationen der Arbeitsgemeinschaft forstliche Rauchschäden aus. Nimmt man diese Publikationen als Indikator der Forschungstätigkeit der 1960er Jahre, zerfallen sie in drei Gruppen. Am Anfang dominieren die Veröffentlichungen der aus dem Forstschutz übernommenen Forstwissenschaftler wie Enderlein und Lux, später noch Gottfried Stein und Horst Ranft, ganz zu Beginn auch Beiträge von Pelz und Lampadius.59 Hier wurden die Teilergebnisse der Großraumdiagnose vorgestellt sowie die ab 1963 begonnenen Mangeldüngungsversuche mit Natrium, Kalium und Magnesium in der Dübener Heide wissenschaftlich begleitet. Die Düngungsversuche bedeuteten einen ersten Schritt weg von der Diagnose hin zur Therapie. Mit fortschreitender Zeit nahmen die Publikationen aus diesem Segment zu. Hier setzte schließlich 56 Däßler, Probleme, 219–225. 57 Nach einer Aussage Wentzels hielt Däßler wenig von der Rauchschadenforschung, wie sie Zieger betrieben hatte. Gespräch mit Karl-Friedrich Wentzel am 17.2.2010. 58 Däßler, Probleme, 217. 59 Pelz letztmalig 1963, Lampadius 1964.

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die Hauptstrategie der forstlichen Seite an: der Umbau der betroffenen Waldbestände mit rauchharten bzw. rauchhärteren Baumarten. Hier tat sich besonders der Biologe Michael Vogl vom Institut für Forstpflanzenzüchtung Graupa, Abteilung Pflanzenphysiologie, hervor. Das Institut Graupa war ein Überbleibsel des 1963 aufgelösten Institutes für Forstwissenschaften Tharandt (IFT). Seit 1952 war die Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften (DAL) für die Koordinierung der forstlichen Forschung zuständig gewesen und hatte zu diesem Zweck zwei Institute für Forstwissenschaft unterhalten, eines in Tharandt und eines in Eberswalde (IFE). 1963 kam es zu einer grundlegenden Neuorganisation der Forschung. Die Fakultät für Forstwissenschaft Eberswalde der HU Berlin wurde geschlossen, dafür wurden die Abteilungen des IFT dem IFE angeschlossen, allein die Forstpflanzenzüchtung verblieb bis 1967 als eigenständiges Institut in Graupa.60 Die Forstfakultäten in Tharandt und Eberswalde waren beides Institute mit einer langen Tradition, aber unter den Bedingungen der deutschen Teilung benötigte die DDR für ihr begrenztes Territorium lediglich eine Ausbildungsstätte. Insofern entsprach die Schließung einer Fakultät der ökonomischen Vernunft. Es entsprach aber auch der Logik des NÖSPL, Anwendungs- und Grundlagenforschung voneinander zu trennen. Während die Universitäten die Grundlagenforschung übernahmen, fand die Anwendungsforschung in Akademieinstituten wie dem IFE statt.61 Für das Institut für Pflanzenchemie bestätigte Däßler selbst, dass der Schwerpunkt der Forschungstätigkeit neben Diagnose und Therapie auf der Grundlagenforschung liege.62 Diese strikte Teilung barg jedoch auch eine Gefahr. Nach 1963 war die Fakultät Tharandt die einzige verbliebene universitäre Einrichtung in der DDR, die forstliche Grundlagenforschung betrieb. Von der Entwicklung in der BRD weitgehend abgeschnitten, fehlte jeder produktive akademische Meinungsstreit. Die Rauchschadenforschung in Tharandt war ab 1963 ohne Korrektiv allein auf sich selbst bezogen. Die wichtigsten westlichen Fachzeitschriften waren zwar vorhanden, aber sie ersetzten nicht den persönlichen Austausch auf Reisen, den Niederhut als elementar für »die Entstehung und Verbreitung von Wissen« ansah.63 Die Auseinanderentwicklung in der Rauchschadenforschung in Ost- und Westdeutschland ab etwa 1965 ist nur ein Beispiel für das Ende der »einen deutschen Wissenschaft«.64 Der von der SED geförderte Aufbau von Forschungskooperationen im Ostblock war nur ein schwacher Ersatz. Lediglich das Institut für Forstwirtschaft und Jagdwesen Strnady in Zbraslav (heute ein Teil Prags) arbeitete auf ähnlichem Niveau an der Rauchschadenfrage. 60 Milnik, Verantwortung, 52–53. 61 Rytlewski, Entwicklung, 419. 62 Hans-Günther Däßler, Friedrich Fischer, Das Institut für Pflanzenchemie, in: Sozialistische Forstwirtschaft 16, 1966, 88–90, 89. 63 Niederhut, Wissenschaftsaustausch, 1. 64 Ebd., 25.

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Die zweite Gruppe befasste sich mit der Ermittlung der exakten Immissionsbelastung und bestand aus dem Meteorologen Günther Flemming und dem Chemiker Günter Herrmann. Da bis Mitte der 1960er Jahre kein Dauermessnetz zur Verfügung stand, waren die Wissenschaftler auf Ausbreitungsrechnungen angewiesen.65 Die Forschungen Flemmings auf diesem Gebiet sind die konsequente Weiterentwicklung der Arbeiten von Flach im Rahmen der Landschaftsdiagnose und von Lampadius in der Anfangsphase der Großraum­ diagnose.66 Die für seine Prognosen nötigen Emissionswerte stellte das Institut für Pflanzenchemie bereit. Die rechnerische Kartierung von SchwefeldioxidRelativwerten ergab für Flemming eine befriedigende Übereinstimmung mit den von den Förstern im Gelände erhobenen Schädigungen der Bestände.67 Gültigkeit hatten diese Berechnungen jedoch nur für die Schadgebiete in flachem Gelände, wie die Dübener Heide oder die Niederlausitz. Für das orographisch zerklüftete Erzgebirge mit zahlreichen Mikroklimata war sie unbrauchbar. Flemming entwickelte daraufhin ein Modell, um die Schäden im Erzgebirge meteorologisch erklären zu können. »Ursache der Rauchschäden in den Kammlagen des Osterzgebirges sind die Emissionen des nordwestböhmischen Braunkohlengebietes«, stellte er gleich zu Anfang seiner Veröffentlichung klar.68 Das Böhmische Becken liegt als Tal zwischen zwei Gebirgen (Erzgebirge und Böhmisches Mittelgebirge) und wird bei bestimmten Wetterlagen zur Kaltluftsenke. Auf diesen geographischen Tatsachen entwickelte er seine Hypothese. Durch die Temperaturinversion entstünde eine Sperrschicht bei 500 bis 1000 Metern, die vom Erzgebirge überragt werde. Bei einem Hochdruckgebiet in Südosteuropa sei diese Lage stabil, falle aber das Hochdruckgebiet zusammen, entleere sich der Kaltluftsee über das Erzgebirge in Richtung Norden. Da die Sperrschicht niedriger liege als die Gipfel, aber höher als Pässe und Sättel, treten dann dort starke und böige Winde auf, die Flemming mit einer »Düsenwirkung« verglich. Diese seien im Erzgebirge als »Böhmische Winde« bekannt. Erschwerend käme hinzu, dass das Emissionsgebiet zur Temperaturinversion neige. Auf dem Kamm des Erzgebirges herrsche klare Luft und Fernsicht, während das Böhmische Be 65 »Langfristige netzmäßige Messungen des SO₂-Gehaltes der Luft sind im erforderlichen Umfang wegen der meßtechnischen und finanziellen Schwierigkeiten bis heute noch nicht möglich.« Günther Flemming, Rechnerische Kartierung von Schwefeldioxyd-Relativwerten im Rauchschadensgebiet Dübener Heide, in: Angewandte Meteorologie 5, 1964, ­4 4–49, 44. 66 E. Flach, Über die Verteilung der Luftverunreinigungen in ausgewählten Landschaftsgebieten der DDR. Verunreinigungen durch Abgase der Industrie, der Siedlungen und des Verkehrs, in: Lingner, Carl, Landschaftsdiagnose, 123–134 und Lampadius, Luftuntersuchungen. 67 Flemming, Kartierung Dübener Heide, 48. 68 Günther Flemming, Meteorologische Überlegungen zum forstlichen Rauchschadengebiet am Erzgebirgskamm. 21.  Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 13, 1964, 1531–1538, 1531.

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cken unter einer wie mit dem Lineal gezogenen Dunstschicht liege. Diese Turbulenzarmut des Böhmischen Beckens fördere die Stabilität der Rauchfahnen in jede Windrichtung. Gerade im Winter seien diese Inversionswetterlagen tagelang stabil. Da die Schornsteine der Industrieanlagen nicht die Sperrschicht durchstießen, könne sich die Luft darunter mit Schadstoffen anreichern.69 Das Immissionsgeschehen im Erzgebirge unterschied sich damit fundamental von jenem im Mitteldeutschen Industriegebiet. Während die Dübener Heide unter einer beständigen Immissionsbelastung zwischen 50 und 200 Mikrogramm Schwefeldioxid per Kubikmeter Luft litt (µg/m³), war der Erzgebirgskamm weite Teile des Jahres immissionsfrei. Lösten sich die Inversionswetterlagen allerdings auf, erreichte die Schwefeldioxidbelastung Werte zwischen 500 und 700 µg/m³.70 Herrmann ergänzte die Arbeiten Flemmings dahingehend, dass er als Chemiker nach verbesserten Methoden zur Luftmessung forschte. Im Rahmen seiner Promotion entwickelte er einen tragbaren Messkoffer, der es erlaubte, in relativ kurzer Zeit die Schwefeldioxidkonzentration in der Luft exakt zu bestimmen. Die untere Messgrenze lag zwar immer noch bei 50 µg/m³, bedeutete aber einen enormen Fortschritt zum bisherigen Gerät »Ionoflux« mit einer Sensibilität von 5000 µg/m3. Nun konnten nicht nur Mittelwerte errechnet, sondern Belastungsspitzen gemessen werden.71 Herrmann war auch entscheidend an der Entwicklung und Konzeption des von Zieger angestoßenen Rauchschadenprüffeldes beteiligt. Hier war in abgeschlossenen Kammern die Begasung von Pflanzen mit einer exakt dosierbaren Schwefeldioxidkonzentration möglich.72 Diese war nötig, um den phytotoxischen Schwellenwert der einzelnen Baumarten annäherungweise bestimmen zu können. 69 Ebd., 1532–1534. 70 Vgl. dazu Gottfried Stein, Hans-Günther Däßler, Die forstliche Rauchschadensgroßraumdiagnose im Erz- und Elbsandsteingebirge 1964/67. 76. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft »Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 17, 1968, 1397–1404, 1403; BArch DF 4/7319 Bereich Pflanzenchemie Sektion Forstwirtschaft, Abschlußbericht zur Forschungsarbeit Forstliche Rauchschadensgroßraumdiagnose im Erzgebirge (Nordabdachung) und Mittelsächsichem Hügelland – Schadgebieterkundung und -abgrenzung. 1.4.1970, Anlage 2, pag. III–IV und BArch DK 5/4347 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Auszug aus dem Bericht 1/83 des Westeuropäischen EMEP-Zentrums (Norwegisches Meteorologisches Institut, Westeuropäisches meteorologisches Synthese-Zentrum im Programm EMEP; Projekt­ koordinator Anton Eliassen). 1.6.1984, o.p. 71 Günter Herrmann, Ein leicht transportables Gerät zur Schnellbestimmung von SO₂Spuren in der Luft auf der Grundlage der Pararosanilin-Methode, in: Chem. Techn. 15, 1963, 342–349. 72 Günter Herrmann, Bestimmung und Herstellung kleiner SO₂-Konzentrationen in Luft. Vortrag gehalten anläßlich der III. Internationalen Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger in Tharandt (24. bis 27. Mai 1961), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 11, 1962, 601–608. Vgl. zu Details des Rauchschadenprüffeldes Wienhaus, Däßler, Immissionsforschung, 463.

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Abb. 1: Kabinenversuch mit Aschegabe

Von dem 1963 in Betrieb gegangenen Rauchschadenprüffeld bei Hartha im Tharandter Wald profitierte die dritte Gruppe, die der Chemiker. Gemeinsam mit der Forstpflanzenzüchtung suchten sie nach SO₂-resistenteren Baumarten. Hier tat sich vor allem Siegfried Börtitz hervor, der nach der Auflösung des Institutes in Graupa 1967 nach Tharandt wechselte.73 Daneben versuchten die Pflanzenchemiker die genaue Wirkweise des Schwefeldioxids in der Pflanze zu klären. Hieran arbeitete Däßler selbst, aber auch Börtitz und Eberhard Ewert.74 73 Vgl. dazu Michael Vogl, Siegfried Börtitz, Physiologische und biochemische Beiträge zur Rauchschadenforschung. 4. Mitteilung zur Frage der physiologisch und physikalisch bedingten SO₂-Resistenz von Coniferen. 23.  Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Flora 155, 1965, 347–352, Hans Polster, Siegfried Börtitz, Michael Vogl, Pflanzenphysiologische Untersuchungen im Dienste der Züchtung von Koniferen auf Rauchresistenz. 40. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Sozialistische Forstwirtschaft 15, 1965, 368–370 oder HansGünther Däßler, Zur Aussagekraft experimenteller Resitenzprüfungen. 62. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Archiv für Forstwesen 16, 1967, 781–785. 74 Vgl. dazu Hans-Günther Däßler, Der Einfluß des Schwefeldioxids auf den Terpengehalt von Fichtennadeln. 14. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Flora 154, 1964, 376–382; Siegfried Börtitz, Physiologische Untersuchungen über die Wirkung von SO₂ auf den Stoffwechsel von Koniferennadeln im Winter.

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Ein Ziel dieser Arbeiten war es, eindeutige chemische Nachweise für eine Rauchbeeinflussung zu finden. Im Unterschied zur Gruppe der Forstwissenschaftler, die mit Methoden der forstlichen Ansprache der Bestände einen Relativbeweis führten, fahndeten die Chemiker im Stoffwechsel der Pflanzen nach einer eindeutigen Diagnosemöglichkeit. Dieses Vorgehen zeigte eindeutig Parallelen zu dem oben vorgestellten Härtelschen Trübungstest auf, führte aber zu keiner verwertbaren Absolutmethode.75 In der Folge beschäftigte sich darum die Rauchschadenforschung mit SO₂-sensiblen Weiserpflanzen wie Flechten und Moosen, die sich aus Waldbeständen zurückzogen, bevor eine Rauchbeeinflussung der Bäume zu bemerken war.76 Diese Ausbreitung der einzelnen Forschungsprojekte erweckt den Eindruck, mit der Übernahme der Rauchschadenforschung durch das Institut für Pflanzenchemie habe diese eine erhebliche personelle Ausweitung und Inter­disziplinarität erfahren.77 Dies trifft in weiten Teilen zu, allerdings fand­ Däßler ein von Zieger wohl bestelltes Haus vor. In einer 1960 noch von Zieger aufgestellten, perspektivischen Forschungsplanung, die bis 1975 reichte, waren alle Schwerpunkte der Rauchschadenforschung bereits formuliert: Weiterführung der Großraumdiagnose, Ermittlung von Schwellenwerten für die Hauptholzarten, Forschungen zu Rauchschadenriegeln sowie Düngungsexperimente an geschädigten Beständen. All dies sollte am Institut für Forstschutz stattfinden. Das Institut für Pflanzenchemie sollte klären, weshalb SO₂ als Schadgas wirksam ist, bzw. wie SO₂ in den Photosynthese-Apparat eingreift.78 In einer modifizierten Variante der Forschungsplanung vom 28. Mai 1963, nun

69. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Biologisches Zentralblatt 87, 1968, 489–509 oder Eberhard Ewert, Hans-Günther Däßler, Schädigung von Pflanzen durch Chlorwasserstoff. 81. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Umschau in Wissenschaft und Technik 25, 1969, 839–841. 75 Vgl. dazu Hans-Günther Däßler, Die Wirkung der Exhalate von Großkraftwerken auf die Vegetation. 65. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Luft- und Kältetechnik 3, 1967, 250–252, Hans-Günther Däßler, Der Fluorgehalt von Pflanzen in immissionsbeeinflußten und immissionsfreien Gebieten. 79. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstlicher Rauchschadenforschung Tharandt, in: Flora 159, 1969, 471–476 oder Eberhard Ewert, Die Einwirkung von Chlorwasserstoff auf Pflanzen im Experiment. 83. Mitteilung der Arbeitsgemeinscht Forstlicher Rauchschadenforschung Tharandt, in: Materiały VI MieÌdzynarodowej Konferencji »Wpływ zanieczyszczeń powietrza na lasy«. Zabrze 1968, 197–208. 76 Vgl. dazu Hans-Günther Däßler, Horst Ranft, Das Verhalten von Flechten und Moosen unter dem Einfluß einer Schwefeldioxidbegasung. 78. Mitteilung der Arbeitsgruppe Forstlicher Rauchschadenforschung in Tharandt, in: Flora 158, 1969, 454–461. 77 Vgl. Rajanov, Immissionsforschung, 50 und 57. 78 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 133, Forschungsplanung, o. pag.

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von Däßler, hatte sich inhaltlich wenig geändert, formal stand aber die Pflanzenchemie wieder im Mittelpunkt und koordinierte die Arbeiten.

2.1.2 Einfluss und Ohnmacht der Rauchschadenforschung In den ersten Jahren folgte Däßler der von Zieger vorgegebenen Agenda. Er versuchte allerdings früh, eigene Akzente zu setzten. Seinem fachlichen Herkommen war die Ausweitung der chemischen Grundlagenforschung geschuldet. Und während sich Zieger auf die Waldschäden im Mitteldeutschen Industriegebiet konzentriert und seinem Mitarbeiter Pelz das Erzgebirge überlassen hatte, wandte sich Däßler ab 1963 diesem Problem zu. Die Entwicklung im Erzgebirge Das Erzgebirge bedeutete eine völlig neue Art von Schadgebiet. Dabei ging es nicht mehr um Waldschäden am Fuße des Gebirges oder in engen Tälern um Industrie- und Hüttenanlagen herum wie etwa in Aue, sondern um die Schäden an den Waldbeständen in den Hoch- und Kammlagen. Die Rauchschäden drangen in eine Region ein, die für Erholung, Ruhe und saubere Luft stand. Damit war eine neue Qualität der Schädigung erreicht. Am 18. Oktober 1963 traf sich Däßler mit Vertretern des IFE, des Landwirtschaftsrates und der Forsteinrichtung in Seiffen, um über die Schäden in den Revieren Deutscheinsiedeln, Seiffen und Oberlochmühle zu beraten. Vorangegangen war ein Winter mit späten, schweren Frostperioden. Die drei Reviere lagen im Einfallstor des ›Böhmischen Windes‹, dem Einsiedler Sattel. Nach der zu dieser Zeit üblichen Einteilung in drei Schadstufen, wobei Stufe III mit mehr als 60 Prozent abgestorbener Bäume die höchste war, zählten bereits 33,9 Prozent der Waldfläche in den genannten Revieren zu dieser Schadstufe.79 Aus diesem Grund schaltete sich auch erstmals das Institut für Landschaftsforschung und Naturschutz (ILN) in die Verhandlungen ein. Das ILN war eine 1953 auf Anregung des MLF in Halle/Saale gegründete Einrichtung der DAL. Seit der Gründung leitete der Biologe Hermann M ­ eusel das Institut, den Zieger in seine Arbeitsgemeinschaft Rauchschäden einbeziehen wollte. Die Aufgaben des ILN lagen in der Schulung von Naturschutz­ beauftragten, Forschungen auf dem Gebiet der Landschaftsentwicklung und -nutzung und des Naturschutzes sowie in der wissenschaftlichen Beratung von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen auf dem Gebiet des Natur 79 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 5494/15, Rauchschadenforschung im Osterzgebirge, Beratung am 18.10.1963 in Seiffen.

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schutzes.80 Eine der bedeutendsten Außenstellen des ILN lag in Dölzig und begleitete die Rekultivierung von Bergbaufolgelandschaften. Am 14.  Januar 1964 schickte das ILN einen Brief an Däßler, in dem es zu den Schäden im Erzgebirge Stellung nahm. Es müsse alles versucht werden, um den Wald mit seinen vielfältigen Aufgaben zu erhalten. Das ILN vertrat also ein fundamental anderes Waldbild als Grüneberg. Zwar hieß es in dem Brief am Ende: »Das Wertvollste jeder Landschaft ist der Mensch. Seine Gesundheit und seinen Lebensraum gilt es zu schützen und zu erhalten.« Ein gewisser, dem Sozialismus inhärenter Anthropozentrismus ist auch hier deutlich erkennbar, aber der Mensch sehnt sich nicht nur nach Rohholz, sondern auch nach Erholung und Entspannung. Das ILN wies dem Wald sozialhygienische Funktionen zu, für deren Erhaltung auch Geld in die Hand genommen werden sollte. Das ILN forderte eine Minderung der Emissionen durch »wirkungsvolle Maßnahmen«.81 Am selben Tag erreichte Tharandt ein Brief des Entwurfsbüros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. Darin schrieb das Büro, dass das 1956 zum Kurort erhobene Seiffen seit 1960 »offensiv« zu einem Fremdenverkehrsort ausgebaut wurde, in der Raumplanung des Bezirkes also eine wichtige Erholungsfunktion wahrnahm.82 Der Tourismus bot sich als der Haken an, die Rauchschadenproblematik politisch höher aufzuhängen. Bereits Zieger hatte versucht, mit der Rauch­ bedrohung des Fichtelberges bei der SED-Führung Aufmerksamkeit zu erregen. Däßler erinnerte sich auch des Mittels Ziegers, mit dem dieser seine Anliegen in den politischen Apparat eingebracht hatte, der Denkschrift. Am 12. Februar 1964 versandte Däßler eine »Denkschrift zur Situation im Osterzgebirge« an verschiedene Ministerien, das ZK der SED, das Amt für Wasserwirtschaft und die Staatliche Plankommission, der er aussagekräftige Fotoaufnahmen beilegte (Abb. 2).83 »In den letzten Jahren ist im Osterzgebirge ein neues Rauchschadensgebiet entstanden. Sein Zentrum diesseits der deutschtschechischen Grenze liegt im Raum Deutscheinsiedel, Seiffen, Oberlochmühle.« Zum Zeitpunkt der Abfassung waren die Schäden noch auf das Gebiet um Deutsch­einsiedel beschränkt. Däßler ging aber davon aus, dass dies nicht so bleiben würde.

80 Jürgen Bauerschmidt, Eva-Maria Dyanat, Grundlagenforschung des Naturschutzes am Institut für Landschaftsforschung und Naturschutz (ILN), in: Rösler, Schwab, Lambrecht, Naturschutz, 109–117, 109–111. 81 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 5494/15, Rauchschadenforschung im Osterzgebirge, Brief des ILN an das Institut für Pflanzenchemie vom 14.1.1964. 82 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 5494/15, ebd., Brief des Entwurfsbüros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt an das Institut für Pflanzenchemie vom 14.1.1964. 83 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 5494/15, ebd., Entwurf einer Denkschrift.

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Abb. 2: Staubbelastung im Erzgebirge

In der Denkschrift rechnete er bis 1967 mit einer »holzleeren Fläche« in den Kammlagen von ca. 300 ha, bis 1970 dann 400 ha. Im Anschluss referierte er die Erkenntnisse von Flemming und Pelz: Die Emissionsquellen im Böhmischen Becken konzentrieren sich auf das Gebiet Dux, Brüx, Komotau. Bei süd/südöstlichen Luftströmungen fließen die Gas- und Feinstaubschwaden, zu stabilen Nebeln verdichtet, regelmäßig vormittags über den sogenannten Einsiedler Sattel in deutsches Gebiet ein, wo sie stundenlang in den Tälern der Schweinitz und Flöha und deren Nebentälern lagern. Sie sind sowohl visuell als auch dem Geruch nach wahrnehmbar.

Dies habe nicht nur eine schädliche Wirkung auf die dortigen Waldbestände, sondern auch fatale Folgen für die Erholungsfunktion des Oberen Erzgebirges: Ebensowenig wird die Landschaft um Seiffen, Deutschneudorf, Deutscheinsiedel und Neuhausen, in der jährlich über 150 000 Menschen Entspannung und Erholung suchen, weiterhin in der Lage sein, ihre sanitären Funktionen zu erfüllen. Die wesentlichen Merkmale, die 1956 zur Anerkennung Seiffens als Kurort führten, fehlen heute.

Der Verteiler der Denkschrift lässt erkennen, dass Däßler die Entscheider in Staat und Partei erreichen wollte. Naturgemäß ist auf hohen politischen Ebenen die Aufmerksamkeit ein knappes Gut. Um diese zu erregen, betonte Däßler dezidiert den touristischen Wert der Erzgebirgswälder. Möglicherweise war dies die Lehre, die Däßler aus dem letztendlichen Scheitern Ziegers in der Stand-

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ortplanung gezogen hatte. Reduziert auf den Aspekt der Produktion, also der Rohholzerzeugung, gerieten die Bedürfnisse der Forstwirtschaft tendenziell ins Hintertreffen gegenüber der Industrie. Däßler entfaltete vor diesem Hintergrund ein dreistufiges Vorgehen. Am Anfang stand die Denkschrift, es folgte ein Artikel in der Sozialistischen Forstwirtschaft, dessen Überschrift sich vom sonst so biederen Ton forstwirtschaftlicher Fachliteratur abhob: »Die Fichtenwälder im Erzgebirge sind in Gefahr«. Der T ­ itel klang alarmistisch und war vermutlich auch so intendiert.84 Gemeinsam mit Eberhart Pelz, der seit 1963 von Prag aus auf der tschechischen Seite des Erzgebirges forschte und als ehemaliger Mitarbeiter Ziegers seit 1955 an den Waldschäden arbeitete, versuchte Däßler, die forstliche Fachöffentlichkeit für das Problem zu sensibilisieren. Waldschäden seien ein bekanntes Problem, das besonders die deutschen Staaten, Polen und die ČSSR betreffe. Ur­ sache der Schäden im Erzgebirge sei primär die Industrie im Nordböhmischen Becken. Alte lokale Schäden hätten sich durch die Zusammenballung von Industrie in diesem Raum verdichtet. Die besondere topographische Situation wirke schadverschärfend. Mit welchen Folgen auf der deutschen Seite perspektivisch zu rechnen seien, verdeutlichten die Autoren mit Zahlen aus dem tschechischen Forstwirtschaftsbetrieb Janov, der dem StFB Freiberg gegenüber lag. 61 Prozent der Waldfläche seien in diesem Betrieb durch die Industrieimmissionen bereits geschädigt.85 Darauf folgte eine direkte Anklage der Politik. Bisher sei es versäumt worden, konsequent auf dem Feld der Entschwefelung zu forschen. Die DDR und die ČSSR seien die beiden Länder auf der Welt, die einer effektiven Schwefeldioxidfilterung am dringendsten bedürften. Es sei daher nicht sinnvoll, darauf zu hoffen, dass ein anderes Land hier vorangehe. Die Folgen seien  – neben den bekannten Waldschäden im Mitteldeutschen Industriegebiet  – etwa 100 ha Schäden in der Gegend Seiffen-Deutscheinsiedel. Diese Zahl werde sich noch erhöhen, da auf Jahre hinaus keine Lösung der SO₂-Frage zu erwarten sei. Däßler und Pelz konnten den Forstpraktikern darum nur zu Düngung und Bestandsumwandlung raten.86 Der dritte Schritt in dieser Reihe war ein Beitrag in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Urania, der allerdings nicht von Däßler selbst verfasst worden war. Für seinen Artikel ›Bedrohte Wälder‹ hatte der Autor Rudi Wetzel neben Däßler noch andere Experten auf dem Gebiet der Luftreinhaltung befragt.87 84 Hans-Günther Däßler, Eberhart Pelz, Die Fichtenwälder im Erzgebirge sind in Gefahr, in: Sozialistische Forstwirtschaft 14, 1964, 345–347. 85 Ebd., 345. 86 Ebd., 347. 87 Neben Däßler waren dies Gerhard Herzog, Leiter der Abteilung Schwefelsäure des ›wissenschaftlich-technischen Zentrums der chemischen Industrie für Schwefelsäure und Phosphat-Düngemittel beim VEB Chemische Fabrik Heinrichshall‹, die zu dieser Zeit in der

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Abb. 3: Ikonographie Wetzels

Wetzel sprach das Problem der Rauchschäden noch offener und direkter an, als es Däßler in seinen Schriften getan hatte, und formulierte noch eine Nuance schärfer. Gleich zu Beginn griff er die gängigen sozialistischen Erfolgsmeldungen an. Wer hat nicht inden letzten Monaten von dem geplanten Erholungszentrum an der im Bau befindlichen Rauschenbachtalsperre im östlichen Erzgebirge gelesen? Es ist ein bezauberndes stilles Fleckchen Erde oberhalb der kleinen Stadt Neuhausen, un­ mittelbar an der tschechoslowakischen Grenze, wo die Flöha, hier noch mehr ein DDR hauptverantwortlich für das Gebiet der Abgasreinigung war, und Karlwilhelm Horn, der den Lehrstuhl für Allgemeine und Kommunale Hygiene an der HU Berlin innehatte und die Arbeitsgruppe ›Reinhaltung der Luft‹ beim Staatssekretariat für Forschung und Entwicklung leitete.

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Bächlein als ein Fluß, zu einem großen See gestaut werden soll. Ob es jedoch richtig ist, den Strom Erholungssuchender in dieses Gebiet zu lenken, ist fraglich geworden; denn die schönen Fichtenwälder von Deutscheinsiedel bis Seiffen, der alten Spielzeugstadt, sind vom Untergang bedroht. Die schwefeldioxidhaltigen Abgase aus dem nordböhmischen Industriegebiet, die bei südlichen und südöstlichen Luftströmungen am steilen Südabfall des Erzgebirges heraufziehen und, zu stabilen Nebeln verdichtet, über den Einsiedler Sattel und die Täler der Schweinitz und der Flöha einfließen, belästigen die Menschen und bringen die Nadelhölzer der Wälder zum Absterben. 40 % des gesamten Holzbestandes in diesem Gebiet sind bereits tot und müssen geschlagen werden; weitere Bestände sind schwächer geschädigt.88

Die folgende Doppelseite (wiedergegeben in Abb. 3) überrascht in ihrer Ikonographie. Auf der linken Seite ist ein Foto mit rauchenden Fabrikschloten, deren Abgase nach rechts ziehen. Auf der rechten Seite sind auf einem Bild kahle und umgefallene Nadelbäume zu sehen. Die Unterschrift unter dem linken Bild lautete: »2,5 Mio Tonnen Schwefel entweichen jährlich aus den Schornsteinen unserer Republik.« Die rechte Seite war betitelt mit »Durch Einwirkung schwefelhaltiger Abgase abgestorbener Wald bei Seiffen/Erzgebirge.« Kaum deutlicher war der SPIEGEL 17 Jahre später in seinen Versinnbildlichungen der Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Inhaltlich lehnte sich der Artikel sehr stark an die Vorstellungen Däßlers an, immer wieder ist er als Stichwortgeber aus Wetzels Formulierungen herauszulesen. Haupthindernis für die Entwicklung und den Einbau von Filteranlagen seien die hohen Kosten, die eine effektive Entschwefelung verursache. Wetzel verknüpfte zudem in seinem Beitrag die Frage der Waldschäden mit den Gesundheitsschäden der Bevölkerung. Hatte die Gesundheit der Menschen im Denken der Förster bisher nur eine mittelbare Rolle gespielt – der Wald diene den Menschen als Ort der Erholung und Regeneration der Arbeitskraft, Funktionen, die er bei einer etwaigen Schädigung nicht mehr erfüllen könne –, deutete sich hier die Möglichkeit einer Allianz an. Industrieemissionen gefährdeten nicht nur den Wald, sondern auch die Gesundheit der Menschen direkt. Wetzel hob die schwefelhaltigen Abgase hervor, die den »größten Kummer« verursachten.89 Innerhalb kurzer Zeit kommunizierte Däßler die Problematik der Wald­ schäden auf drei Ebenen. Mit der Denkschrift versuchte er, das politische System zu erreichen, über die Sozialistische Forstwirtschaft sprach er die Fachöffentlichkeit an, und Wetzels Beitrag erreichte eine interessierte Laienöffentlichkeit. Es stellt sich die Frage nach dem Erfolg des konzertiert erscheinenden Vorgehens. 1966 formulierte Däßler selbst, er habe das Gefühl, mit Denkschriften bei den 88 Rudi Wetzel, Bedrohte Wälder, in: Urania – Wissen und Leben, Natur und Heimat 27, 1964, 657–661, 657. 89 Ebd., 661.

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Politikern etwas erreicht zu haben.90 Für ihn und sein Institut war Zählbares heraus­gesprungen. Noch 1964 erteilte die DAL dem Institut für Pflanzenchemie den Auftrag, die Großraumdiagnose auf das Erzgebirge auszuweiten.91 Welche herausgehobene Stellung die Rauchschadenforschung um die Mitte der 1960er Jahre einnahm, verdeutlicht ein Forschungsplan von 1965. Im ›Entwurf des Perspektivplanes für den Zeitraum bis 1970 und Prognose für den Zeitraum von 1970 bis 1980‹ betonte das Institut für Pflanzenchemie die internationale Konkurrenzfähigkeit der ostdeutschen Rauchschadenforschung, der »Anschluß an den Welthöchststand« sei wieder erreicht.92 Auf dem Sektor des Monitoring gehe man sogar voran. Die Großraumdiagnosen hätten dazu geführt, »daß die DDR wahrscheinlich das erste Land der Welt ist, das über das Ausmaß der Rauchschäden in ihren Wäldern nach Fläche und Schädigungsgrad orientiert ist«. Dementsprechend gestaltete sich auch die Verteilung der Forschungsgelder. Die Fakultät Tharandt bekam für die Jahre 1966 bis 1970 5,87 Mio. Mark zugeteilt, darauf entfielen allein auf den Punkt 23 ›Rauchschadenforschung‹ 1,48 Mio. Mark, also rund 25 Prozent. Hinzu kamen noch 190.000 Mark für Erforschung landwirtschaftlicher Rauchschäden, die außerhalb des Fakultätslimits lagen. Die fünf in den Plan eingestellten Projekte bedeuteten inhaltlich eine Kontinuität der bisherigen Arbeiten. Drei Projekte bearbeitete die Pflanzenchemie selbst (Fortsetzung der Großraumdiagnosen, Düngungsversuche, Resistenzzüchtungen, chemische Grundlagenforschung, Entwicklung von Messapparaten, Monitoring, u. a.), zwei Projekte wurden an das Institut für Forstschutz und Jagdwesen vergeben. Hier ging es um die Zoozönosen und Insektenkalamitäten in rauchgeschädigten Beständen. Auf personeller Ebene veranschlagte das Institut für Pflanzenchemie für seine Projekte fünf Vollbeschäftigungseinheiten (VbE) und 1,5 VbE für die Projekte im Forstschutz. Damit entfielen etwa zehn Prozent aller VbE der Fakultät auf die Rauchschadenforschung, die – setzt man Personal und Finanzierung in Relation – als kapitalintensiv beurteilt werden muss. Die Ausweitung und Sicherung der Forschungsmittel war ein Ziel, das Däßler mit seinem Auftreten und seinen Schriften erreichen wollte. Darüber hinaus versuchte er, die Ergebnisse der Forschung in die politischen Entscheidungsprozesse einzubinden. Innerhalb der Rauchschadenforschung hatte sich zwischen 1952 und 1965 ein Konsens darüber gebildet, dass Schwefeldioxid eine Bedrohung für die Waldbestände der DDR darstellte. Diese Bedrohung werde in Zukunft zunehmen, und die ersten Ergebnisse der Großraumdiagnose hatten 90 Däßler, Fischer, Institut, 89. 91 BArch DF 4/7319 Sektion Forstwirtschaft, Abschlußbericht, pag. 1. 92 BArch DK 1/13230 Technische Universität Dresden  – Fakultät für Forstwirtschaft Tharandt, Entwurf des Perspektivplanes für den Zeitraum bis 1970 und Prognose für den Zeitraum von 1970 bis 1980. 1965, o. pag.

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gezeigt, dass diese Bedrohung sich nicht mehr auf die Ballungsgebiete konzentrierte. Für den Transfer dieses zentralen wissenschaftlichen Ergebnisses in das politische System musste Däßler es übersetzen. Das komplexe Thema der Immissionsbelastung von Wäldern reduzierte er auf quantitative Daten, die miteinander vergleichbar auf Karten eintragbar waren. Die eine Hälfte dieser Daten bestand aus Zahlen zur großräumigen Schwefeldioxidbelastung. Die Errechnung dieser Werte nach der Methode von Flemming war von Anfang an nur als Zwischenlösung gedacht. Ziel war ein institutseigenes SO₂-Messnetz, dessen Aufbau im Erzgebirge 1965 begann. Erste Messungen bestätigten den schädlichen Einfluss der nordböhmischen Industrieabgase.93 Die andere Hälfte betraf die Umwandlung des amorphen Begriffes Waldschäden in vergleichbare Indizes. Bis Mitte der 1960er Jahre bestand kein standardisiertes Verfahren, wie Schäden angesprochen oder klassifiziert wurden. Eberhart Pelz, 1965 aus Prag zurückgekehrt und bei der VEB Forstprojektierung Potsdam beschäftigt, wandte versuchshalber ein in der ČSSR entwickeltes Schadstufensystem auf die Bestände der StFB Freiberg und Tharandt an. Das tschechische System unterschied fünf Stufen von 0 gesund bis 4 absterbend.94 Angesprochen wurden dabei die Zahl der Nadeljahrgänge, das Auftreten von Absterbeerscheinungen, der prozentuale Anteil der schwer geschädigten Bäume und die Auswirkungen auf das Bestandsgefüge. Für den StFB Freiberg ordnete Pelz 30 Prozent der Waldfläche der höchsten Schadstufe 4 zu. Gemeinsam mit Herbert Lux vom Institut für Pflanzenchemie arbeitete Pelz ein zweistufiges Klassifizierungsverfahren aus.95 Danach bedeutete die Schadstufe die Intensität der Schädigung eines Bestandes zu einem bestimmten Stichtag, wobei die Skala von 0 bis 4 bestehen blieb. Sie ermöglichte einen zeitlichen und räumlichen Vergleich des qualitativen Waldzustandes, hatte allerdings keine Aussagekraft bezüglich der Schadursache. Der Begriff der Schadzonen wurde seit Beginn der Großraumdiagnose verwandt. Auch hier wurde auf Basis von Weiserflächen visuell der Gesundheitszustand erfasst und in eine vierstufige Skala übersetzt (0 abgestorben, 3 gesund). Für jeden Bestand wurde nun der Mittelwert errechnet, der zwischen 1,50 und 3,00 lag. Die Mittelwerte unterteilten sich in fünf Schadzonen. Bestände mit einer Wertziffer unter 2,00 kamen in die Schadzone 1, Bestände mit einer Wertziffer über 2,60 in die Schadzone 5. Anhand des mittleren Schädigungsgrades 93 Hans-Günther Däßler, Gottfried Stein, Luftanalytische Untersuchungen im Erz- und Elbsandsteingebirge mit ständig betriebenen SO₂- und Staubmeßstellen. 75. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft »Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt«, in: Luft- und Kältetechnik, 1968, 315–318, 315. 94 Eberhart Pelz, Die Bestimmung des Grades der Rauchschädigung in Fichtenbeständen, in: Sozialistische Forstwirtschaft 16, 1966, 239–242, 240. 95 Herbert Lux, Eberhart Pelz, Schadzone und Schadstufe als Klassifizierungsbegriffe in rauchgeschädigten Waldgebieten, in: Sozialistische Forstwirtschaft 18, 1968, 245–247.

Karte 1: Karte mit Farben mit KarlMarx-Stadt am mittleren linken

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der Bestände wurden großräumige Schadzonen abgegrenzt. In jeder Schadzone waren dabei alle Schadstufen zu finden, allerdings in einem stark unterschiedlichen Verhältnis. Während die Stufen als Grundlage des kurz- und mittelfristigen Wirtschaftshandelns gedacht waren, sollten die Zonen als »Unterlage für die langfristige waldbauliche Planung« dienen.96 Der Vorteil des Konzepts der Schadzonen war, dass sie lange Zeit stabil blieben, dass sich zwischen ihnen und der Immissionsbelastung ein empirischer Zusammenhang herstellen ließ und dass sie farbig auf Karten eingetragen werden konnten (Karte 1). Sie gaben auch einem Nicht-Forstwissenschaftler einen klaren Überblick über die räumliche Ausdehnung des Rauchschadengebietes. Däßler war bis Mitte der 1960er Jahre erfolgreich darin, der Politik die Notwendigkeit der Rauchschadenforschung zu vermitteln, zumindest lässt sich dies aus der Zuteilung der Forschungsgelder schließen. Ob er deren Ergebnisse aber auch der Politik als Grundlage von Entscheidungsprozessen vermitteln konnte, wird im folgenden Abschnitt thematisiert. Das NÖSPL und die Entschädigungsfrage Auch nach dem Mauerbau 1961 war der wirtschaftliche Abstand der DDR zur »Referenzgesellschaft« in der Bundesrepublik weiter angewachsen.97 Dem wollte die SED-Spitze um Ulbricht mit einer »technokratischen Modernisierung« begegnen.98 Die markanteste Ausdrucksform dieser Modernisierung war das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL), womit die Innovations- und Wachstumsschwäche der Planwirtschaft überwunden werden sollte.99 Das NÖSPL funktionierte nach einem relativ einfachen Prinzip.100 An die Stelle einer strikten, zentral vorgegebenen Mengenplanung trat der Netto­ 96 Lux, Pelz, Schadzone und Schadstufe, 246. 97 Vgl. Steiner, Plan, 10 und Hermann Weber, Die DDR 1945–1990. 4., durchges. Aufl. München 2006, 61. 98 Pasternack, Wissenschaft und Politik, 512. 99 Zu den systemimmanenten Schwächen der Planwirtschaft vgl. Steiner, Plan, 10–12. 100 Zum NÖSPL vgl. Gernot Gutmann, Hansjörg F. Buck, Die Zentralplanwirtschaft der DDR. Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, in: Kuhrt, Situation, 7–51, 23; Hoffmann, Deutsche Geschichte, 100–105; Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung. Köln,Opladen 1968, 63–66; Richter, Die DDR, 42–43; Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei Staat und Gesellschaft; 1949–1990. München u. a. 1998, 178–181; André Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienzund Machtkalkül. Berlin 1999; André Steiner, »Umfassender Aufbau des Sozialismus« oder »Anleihe beim Kapitalismus«? Zur Darstellung des Konzepts der DDR-Wirtschaftsreform, in: Gerald Diesener (Hrsg.), Propaganda in Deutschland. Zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1996, 146–157; Steiner, Plan, 130–131 sowie Weber, DDR 1945–1990, 64–65.

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gewinn als Hauptkennziffer für die Betriebe. Die Staatliche Plankommission (SPK) gab dabei in Abstimmung mit den neugeschaffenen Vereinigungen Volkseigener Betriebe nur Perspektivpläne vor. Die eigentliche Produktionsplanung wurde dezentralisiert, womit die Betriebe mehr Verantwortung bekamen. Ein System aus ›ökonomischen Hebeln‹ (Preise, Abgaben und Gewinne) und ›Hebeln der materiellen Interessiertheit‹ (Entlohnung und Prämien) sollte zu einer effektiveren und bedürfnisorientierten Produktion führen. Zentraler Teil des NÖSPL sollte eine Industriepreisreform vom April 1964 sein. Hiervor schreckte die SED-Führung aber zurück. Sie gab auch die neuen Preise politisch vor und orientierte sich dabei an der Marx’schen Wertlehre.101 Neu war lediglich, dass in den Preis die während der Herstellung eines Produkts anfallenden Arbeitskosten einfließen sollten. Dadurch wurden die Preise allerdings wieder nicht zu einem Knappheitsindikator und machten alle anderen ›Hebel‹ unwirksam.102 Dennoch entfaltete das NÖSPL in der DDR zunächst eine beachtliche Wachstumsdynamik. 1964 und 1965 wuchs die Wirtschaft um je fünf Prozent, ehe sich die Konstruktionsfehler bemerkbar machten. Als dazu Verhandlungen mit der UdSSR über Rohstofflieferungen für die DDR ungünstig ausgingen, erschoss sich Erich Apel, der maßgebliche Entwickler, am 3. Dezember 1965 in seinem Büro.103 In der Folge setzte die SED eine Rezentralisierung der Wirtschaftsplanung in Gang. Der erst 1963 gegründete Volkswirtschaftsrat wurde wieder aufgelöst, die 1958 aufgelösten Industrieministerien entstanden 1965 neu und wurden unmittelbar an den ZK-Apparat angebunden. Dies erleichterte später dem ZK-Sekretär für Wirtschaft, Günter Mittag, die direkte Kontrolle der Wirtschaft.104 Auf dem VII. Parteitag 1967 benannte die SED das modifizierte NÖSPL in ›Ökonomisches System des Sozialismus‹ (ÖSS) um. Als in der Tschechoslowakei wirtschaftliche Reformen auf die Gesellschaft übergriffen und das Machtmonopol der kommunistischen Partei in Frage stellten, ging die SED verstärkt zu einer zentralisierten und administrativen Wirtschaftslenkung über. Nach der Niederschlagung des ›Prager Frühlings‹ und erneuten Versorgungsschwierigkeiten 1970 beendete das Politbüro mit Beschluss vom 9. September 1970 das Reformvorhaben ÖSS.105 Die Rauchschadenforschung und Däßler profitierten von einer grundlegenden strukturellen Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik während des NÖSPL. Bereits Zieger hatte sich früh um eine rechtliche Regelung der Rauchschadenfrage bemüht. Gemeinsam mit Reichelt hatte er dabei die – zunächst geschei 101 Hoffmann, Deutsche Geschichte, 107. 102 Gutmann, Buck, Zentralplanwirtschaft, 23. 103 Hoffmann, Deutsche Geschichte, 105. 104 Schroeder, SED-Staat, 180–181. 105 Ebd., 181.

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terte – Bemühung verfolgt, mittels Grenzwerten die Emissionssituation nachhaltig zu verbessern, um eine mögliche weitere Ausbreitung der Waldschäden zu verhindern. Elemente des Vorsorgeprinzips sind hier erkennbar.106 ­Zieger verfügte zwar über die besseren persönlichen Kontakte, konnte sich aber nicht gegen die herrschenden Schemata der Wirtschafts- und Industriepolitik der 1950er Jahre durchsetzen. Däßler hingegen hatte in Grüneberg einen wenig kooperativen Partner, wusste aber die Reformen der 1960er Jahre für sich zu nutzen. Das große Ziel des NÖSPL war die Intensivierung der Wirtschaft, eine Er­ höhung der Produktivität der eingesetzten Faktoren. Ein Element war das Sichtbarmachen von Zahlungsströmen, denn erst wenn die Betriebe wussten, woher ihr Geld kam und wohin es ging, konnten sie effizient auf die Eigenerwirtschaftung der Mittel hinarbeiten. Das bisherige Wirtschaftssystem hatte wenig Anreize gesetzt, mit den Umweltmedien Luft, Wasser und Boden sparsam umzugehen. Sie wurden auch im NÖSPL nicht unmittelbar bepreist, aber es setzte sich eine mittelbare Bepreisung über Entschädigungszahlungen durch, an deren Zustandekommen das Institut einen großen Anteil hatte. Am 2. März 1965 fällte das Oberste Gericht der DDR das Urteil 2 UZ 15/64.107 Darin wurde ausführlich die zivilrechtliche Situation erörtert. Nach § 906 BGB »Zuführung unwägbarer Stoffe« habe ein Grundstückseigentümer grundsätzlich eine Emissionsbelastung zu dulden, die nur unwesentlich die Benutzung des eigenen Grundstücks einschränke oder die ortsüblich sei. Zur Abwehr intensiverer Belastung dienten die §§ 862 BGB »Anspruch wegen Besitzstörung« und 1004 BGB »Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch«. Beide Paragraphen führten in letzter Konsequenz zu einer Stilllegung störender Anlagen. Dem stünden aber andere Rechtsgüter – etwa der Bestandsschutz einmal genehmigter Anlagen – und wirtschaftliche Erwägungen entgegen. Einzelne Bürger bekämen etwa die Möglichkeit, »unmittelbar störend in den Planablauf der Produktion unserer Volkswirtschaft« einzugreifen. Damit verlören die Bürger aber keinesfalls alle ihre Abwehr- und Ersatzansprüche. Zur Herbeiführung der Übereinstimmung der Interessen einzelner mit der gesamten Gesellschaft in diesen Fällen ist ihm anstelle der in § 906 BGB vorgesehenen, aber im Interesse einer ungestörten volkswirtschaftlichen Entwicklung nicht durchsetzbaren Verbietungsbefugnis ein Entschädigungsanspruch zuzuerkennen. Eine andere Geset 106 Vgl. zum Vorsorgeprinzip Helge Torgersen, Expertise und Politik im Widerstreit? Entscheiden unter dem Vorsorgeprinzip, in: Alexander Bogner, Helge Torgersen (Hrsg.), Wozu Experten? Wiesbaden 2005, 67–85, 68. 107 Das Urteil ist teilweise als Zitat im Urteil des Staatlichen Vertragsgerichtes beim Ministerrat, Az 33-A-43–50/67, überliefert. Als Quelle des Urteils des Staatlichen Vertragsgerichtes dient für diese Arbeit eine Abschrift des Urteils im Bestand des StFB Eibenstock im Staatsarchiv Chemnitz, StAC 33209/623.

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zesauslegung würde eine nicht gerechtfertigte Aufhebung der Rechte einzelner Betriebe oder Bürger bedeuten […].108

Auf diesem Urteil baute der Beschluss »Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft« des Ministerrates vom 8. September 1966 auf. Der Beschluss hatte eine generelle Verbesserung der Luftsituation zum Ziel. Alle Ministerien, die luftverschmutzende Betriebe und Anlagen beaufsichtigten, wurden dazu angehalten, in ihre Pläne Maßnahmen zur Belastungssenkung einzuordnen. Hier findet sich auch eine Legaldefinition des Passus Luftverunreinigungen: »Luftverunreinigungen sind feste, flüssige oder gasförmige luftfremde Stoffe, die in die Atmosphäre abgegeben werden.«109 Bei älteren Anlagen war eine schrittweise Modernisierung vorgesehen, neue Anlagen sollten so konzipiert werden, dass ihre Emissionen die lufthygienischen Grenzwerte nicht überschritten. Dies sollte auch – wie von Zieger ab Mitte der 1950er Jahre gefordert – über die Standortplanung ge­ schehen. Bei der Projektierung neuer Anlagen waren über Gutachten die Auswirkungen auf Land- und Forstwirtschaft abzuschätzen. Das Ministerium für Gesundheitswesen (MfGe) legte 1968 die Grenzwerte fest, wobei es nach Industriegebieten und Wohngebieten, land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen sowie für Kur- und Erholungsgebiete unterschied. Gleichzeitig waren die dem Ministerium unterstellten BezirksHygienekommissionen für die Kontrollen verantwortlich. Die Verankerung der Kompetenzen für Regelsetzung und Überwachung beim Ministerium für Gesundheitswesen lässt die Luftbelastung primär als eine Bedrohung für die Gesundheit der Bevölkerung erscheinen. Entsprechend weit reichten die Kompetenzen der Hygiene-Inspektionen. Bei »unmittelbarer Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Menschen« sollten sie die sofortige Stilllegung von­ Einrichtungen fordern bzw. Auflagen erteilen.110 Einen starken Bezug zu den Belangen der Forstwirtschaft hatten die beiden letzten Punkte des Beschlusses. Der Abschnitt »VII. Schadensersatzleistungen« griff das Urteil des Obersten Gerichtes auf, das für die zukünftige Regelung von Schadensersatzleistungen als »grundsätzliche Anleitung« dienen sollte. Der Ministerrat ergänzte, dass sich bei einer Mehrzahl von emittierenden Betrieben der Geschädigte an einen dieser Betriebe wenden könne. Dieser habe dann den gesamten Schaden zu ersetzen. Die »übergeordneten Organe« regelten den finanziellen Ausgleich unter den schädigenden Betrieben.111 Das Bestreben des 108 StAC 33209/623 Vertragsschiedverfahren StFB Dübener Heide gegen VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld. 8.1.1969, pag. 12. 109 BArch DC 20/I/4/1412 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft – Auszug. Berlin (Ost). 1.10.1966, pag. 196. 110 BArch DC 20/I/4/1412 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, pag. 198. 111 BArch DC 20/I/4/1412 ebd., pag. 199.

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Bundeslandwirtschaftsministeriums, 1971 im Rahmen des Bundesimmissionsschutzgesetzes eine gesamtschuldnerische Haftung einzuführen, werteten An­ ekötter als »unzeitgemäß«. Auf diese Weise würden die Forstbesitders und U zer als treibende Kraft in Richtung verschärfter Luftreinhaltebestimmung über Ausgleichszahlungen ruhiggestellt.112 Die DDR versuchte aber, über Schadensersatzleistungen eine schrittweise Verbesserung der Luftbelastung zu erreichen. Zum einen legte der Ministerrat in Punkt »VIII. Maßnahmen der Land- und Forstwirtschaft zur Verminderung der Schäden« den StFB eine Anpassungspflicht an die »vorhandenen Luftverunreinigungen« auf. Eine immerwährende Zahlung der Betriebe an die Forstwirtschaft sollte so verhindert werden. Zum anderen musste die Industrie die Anpassungskosten übernehmen und weiterhin für solche Schäden aufkommen, die trotz Bestandsumwandlung und Meliorationsmaßnahmen auftraten. Wie stark der Anreiz für die Betriebe war, selbständig gegen die Emissionen vorzugehen, hing entscheidend von der Höhe der Zahlungen ab. Auf jeden Fall setzte die DDR mit ihrem Beschluss von 1966 eine alte Forderung der Waldbesitzer um, die auch in der BRD fünf Jahre später noch erhoben wurde. Es dauerte nicht lange, bis die Vorgaben des Ministerratsbeschlusses vom September 1966 im Rahmen eines Musterprozesses ihre erste praktische Umsetzung erfuhren. Am 14.  Dezember 1966 schickte der StFB Dübener Heide dem VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld (EKB) eine Rechnung über 7.303.010 M für Waldschäden, die in den letzten zehn Jahren entstanden seien.113 Die Zahl hatte das Institut für Pflanzenchemie in einem Gutachten ermittelt. In der Einleitung stellte das Institut klar, dass dieses Gutachten allein dafür erstellt wurde, um Schadensersatzansprüche gegen die Industrie geltend zu machen.114 Der nächste Satz wies dann auf die Bedeutung des NÖSPL hin: Die begründete Forderung einer Schadensersatzleistung zwischen einzelnen Wirtschaftszweigen entspricht dem neuen ökonomischen Prinzip der Planung und Leitung und dient als ökonomischer Hebel im Interesse der Gesamtwirtschaft.115

Der VEB EKB weigerte sich, die geforderte Summe zu zahlen. Daraufhin beantragte der StFB Dübener Heide am 1. Juli 1967 beim Bezirksvertragsgericht Halle, den VEB EKB zur Zahlung der geforderten Summe zu verpflichten. Im September 1967 zog das Staatliche Vertragsgericht »auf Grund der wirtschaftspolitischen Bedeutung für die zukünftige Regelung der Immissionsprobleme« 112 Anders, ­Uekötter, Lärm, 117. 113 StAC 33209/623 Vertragsschiedverfahren StFB Dübener Heide gegen VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld, pag. 4. 114 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 330, Institut für Pflanzenchemie, Gut­ achten über die Schädigung von Kiefernwäldern des Staatlichen Forstwirtschaftsbetriebes Dübener Heide durch Industrieexhalationen. 15.12.1966, pag. IV. 115 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 330, ebd., pag. IV.

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das Verfahren an sich. Es forderte die Streitparteien erneut zu einer eigenständigen Lösung des Problems auf. Der StFB Dübener Heide legte daraufhin dem VEB EKB zwei Vereinbarungsentwürfe vor. Im ersten Schritt forderte der Forstbetrieb für die Jahre 1956 bis 1966 7.303.010 M für Zuwachsverluste und 171.043 M für Hiebsunreife. Auf eine Inrechnungstellung der Mehrkosten bei Arbeitsaufwand und Schadensminderung wollte der StFB verzichten. Im zweiten Schritt machte der StFB Vorschläge für gemeinsame Maßnahmen zur Eindämmung der Immissionsschäden. Auch dieses Angebot des StFB schlug der VEB EBK aus, woraufhin es zur mündlichen Verhandlung im Mai 1968 kam. Die Forderungen des StFB hatten sich nun auf 9.579.322 M erhöht. Darin waren nun auch die Mehrkosten der Jahre 1956 bis 1966 sowie die ab 1967 aufgelaufenen Schäden enthalten. Hinzu kam die erneut vorgetragene Forderung nach einer Vereinbarung, gemeinsam auf eine zukünftige Minderung der Immissionsschäden hinzuarbeiten. Als Zeuge für seine Forderungen gab der StFB das Institut für Pflanzenchemie an.116 Das Kombinat Bitterfeld saß nicht allein auf der Anklagebank. Die Forderungen nach Schadensersatz richteten sich an 13 weitere Betriebe, darunter die VEBs Kraftwerk »Karl Liebknecht« Bitterfeld, Kraftwerk Thierbach, Kraftwerk Muldenstein, Filmfabrik ORWO Wolfen und Farbwerke Wolfen. Während gegen die übrigen Betriebe das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde, beantragten die sechs Hauptemittenten die Abweisung des Antrags. Sie argumentierten dabei auf einer juristischen und einer fachlichen Ebene. Zunächst verpflichte sie die Rechtslage nicht zu Zahlungen, da die Schäden nicht rechtswidrig verursacht worden seien. Hier spielten die Betriebe auf die bestehenden Betriebsgenehmigungen an. Zudem seien die Betriebe nicht für die Höhe der Emissionen verantwortlich, da die Anweisungen zur Energie­ erzeugung von externen Dispatcherzentralen kämen. Des Weiteren zweifelten die Betriebe einen Zusammenhang zwischen ihren Emissionen und den Waldschäden an. Vielmehr seien die Schäden durch Grundwasserentzug des Braunkohletagebaus, die Harzgewinnung, Kraftverkehrsabgase sowie Emissionen der forstbetriebseigenen Traktoren verusacht. Das Gutachten des Institutes für Pflanzenchemie zweifelten sie an und forderten ein Obergutachten.117 Diese Forderung wies das Gericht zurück und unterstrich die fachliche Expertise Tharandts. Es handle sich um ein »einwandfreies« Gutachten, »zumal bekannt ist, daß die DDR mit ihren wissenschaftlichen Einrichtungen der TU Dresden auf dem Gebiete der Rauchschadenforschung im Weltmaßstab mitbestimmend ist«. Allerdings wurden die Betriebe durch das Gutachten auch entlastet. Ein effizient funktionierendes und wirtschaftlich vertretbares Ver­ 116 StAC 33209/623 Vertragsschiedverfahren StFB Dübener Heide gegen VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld, pag. 4–5. 117 StAC 33209/623 ebd., pag. 6.

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fahren zur SO₂-Filterung sei noch kein Stand der Technik. Damit blieb den Betrieben der Einbau teurer Filtertechnik erspart und der StFB musste sich auf eine dauerhafte Immissionsbelastung einstellen.118 Lux, einer der Gutachter, wies in der mündlichen Verhandlung den einzelnen SO₂-emittierenden Betrieben einen prozentualen Anteil an der Schadursache zu. Die rechnerische Kartierung der Immissionsbelastung nach Flemming erlaubte eine isolierte Bestimmung jedes einzelnen Emittenten im Gebiet.119 Danach entfielen auf den VEB EKB 28 Prozent und auf den VEB Kraftwerk Thierbach 40 Prozent der schädlichen SO₂-Immissionen im Gebiet des StFB Dübener Heide. In der Urteilsbegründung des Staatlichen Vertragsgerichtes kam der ganze Optimismus zum Ausdruck, der die Einführung des NÖSPL begleitete. Die Kriegszerstörungen, die Spaltung Deutschlands und der Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft hätten Kräfte gebunden. Nun müsse der Luftreinhaltung größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Das »gewachsene volkswirtschaftliche Potential« solle dazu genutzt werden, »keine weitere Verschlechterung auf diesem Gebiet zuzulassen«. Emissionen seien »Begleiterscheinungen der wissenschaftlich-technischen Revolution«, die noch nicht gänzlich beherrschbar seien, deren Auswirkungen aber auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen reduziert werden müssten. Zudem sei es keinem Betrieb gestattet – und hier wechselt die Begründung vom Philosophischen ins Juristische –, auf Kosten eines anderen Betriebes zu produzieren. Die Frage also, ob die Betriebe rechtswidrig oder unverschuldet gehandelt hätten, sei für die juristische Bewertung des Schadensersatzes unerheblich. Die Betriebsinteressen des StFB seien grundsätzlich genauso hoch einzustufen wie die der VEBs. »Andererseits können die durch Immissionen Geschädigten nicht erwarten, daß sie durch den Emittenten so gestellt werden, als lebten und produzierten sie nicht in einem Immissionsgebiet.« Hier griff das Vertragsgericht die Entscheidung des Obersten Gerichtes auf. Das Gutachten der Pflanzenchemie habe ergeben, dass die Immissionswirkungen auf den StFB so erheblich sind, dass eigentlich ein Abwehranspruch nach § 1004 BGB bestünde. Unter den »Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution und der Volkswirtschaftsplanung« sei dieser Anspruch aber nicht mehr durchsetzbar. Dem StFB stünden darum Schadensersatzansprüche sowie nach der neuen Bodennutzungsverordnung120 ein Ausgleich für Wirtschaftserschwernisse zu. Das Gericht erhoffte sich einen Lerneffekt auf beiden Seiten. Die Forstwirtschaft solle die Mittel nutzen, um ihren Betrieb auf die Immissionsbelastung einzustellen, und die Industriebetriebe

118 StAC 33209/623 ebd., pag. 7. 119 Flemming, Kartierung Dübener Heide, 47. 120 Vgl. dazu Kapitel 2.2.

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sollten für die Zukunft über Forschung und Entwicklung alles daran setzen, die Luftsituation zu verbessern, um weitere Strafzahlungen zu vermeiden.121 Der StFB Dübener Heide musste allerdings eine Kürzung seiner Schadensersatzansprüche auf 1.515.527 M akzeptieren, da die Forderungen der Jahre 1956–1964 gemäß § 852 verjährt seien. Dennoch bedeutete das Urteil einen großen Erfolg. Es zwang nicht nur große Industriebetriebe zu einer erheblichen Schadensersatzleistung, es vereinfachte auch für ähnlich gelagerte Verfahren die Beweisführung der Geschädigten: Als Beweisforderung bei Problemen der Entschädigung auf Grund von Immissionsschäden reicht der Nachweis aus, daß die Produktion durch Immissionen beeinträchtigt wird, daß auf Grund dieser Beeinträchtigung ein Schaden eingetreten ist und daß das Verhalten der in Anspruch genommenen Verursacher für den eingetretenen Schaden kausal ist.122

Das Gericht würdigte dabei die Rolle der Gutachter. Damit kamen Däßler und seine Mitarbeiter in eine durchaus mächtige Position. Die Gutachten aus­ Tharandt waren nicht nur gerichtsfest, sie nahmen bei gleichbleibender Rechtsauslegung das Urteil vorweg. Zum einen bot dies die Möglichkeit einer Ökonomisierung der Gutachtertätigkeit. Konsequent weiterentwickelt bedeutete dies, Gutachten in Zukunft nicht mehr bei den Geschädigten, sondern bei den Schädigern zu erstellen, diesen also Hinweise zu geben, wie sie ihre Emissionen reduzieren könnten – eine Entwicklung, die im Sinne des Vertragsgerichtes lag und zu einer nachhaltigen Minderung der Luftbelastung hätte führen können. Zum anderen eröffnete sich ein gewisser politischer Horizont. Mittels der Gutachten hätte sich leicht der ökonomische Druck auf die Betriebe er­höhen lassen. Dieser Effekt war im NÖSPL durchaus beabsichtigt. Den Mitarbeitern der Pflanzenchemie war vermutlich bewusst, dass sie diese Schraube nicht überdrehen durften. Die Tragfähigkeit der Volkswirtschaft war begrenzt, und unter diesen Umständen musste die Verbesserung in kleinen Schritten erfolgen. Dieser evolutionäre Weg hin zur sauberen Luft brach mit dem Ende des NÖSPL bzw. ÖSS jäh ab. Der Einfluss von Wissenschaftlern auf die Politik ging wieder zurück und sackte mit dem Amtsende Ulbrichts 1971 ab. Im konkreten Fall verlor das Institut für Pflanzenchemie seine strategische Position in der Immissionsfrage. Zwar blieben auch nach 1970 die Entschädigungsregelungen bestehen, aber ohne den Rahmen des NÖSPL führten diese zu keinem Erziehungseffekt bei den Betrieben. Ohne den ökonomischen Hebel Gewinn wurden die Entschädigungszahlungen einfach von Beginn an in den Plan einkalkuliert.

121 StAC 33209/623 Vertragsschiedverfahren StFB Dübener Heide gegen VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld, pag. 9–12. 122 StAC 33209/623 ebd., pag. 14.

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Die 3. Hochschulreform in Tharandt Nicht erst das Ende der Wirtschaftsreformen beschränkte die Rauchschadenforschung in ihren Entfaltungsmöglichkeiten. Bereits während der Verhandlungen vor dem Staatlichen Vertragsgericht befand sich die 3. Hochschulreform in der Umsetzung. Mit Gründung der Sektion Forstwirtschaft am 28.  Oktober 1968 wurde die Pflanzenchemie zu einem Wissenschaftsbereich dieser Sektion.123 Diese strukturelle Neugliederung war das Ende einer langen Kette von Reformmaßnahmen, die darauf zielten, den Universitäten den Status von »relativ autonomen Wissenschaftsrepubliken« zu nehmen und sie zu einem »Teil eines zentralisierten Staatsapparates, der alle Ansprüche auf Wissenschaftsautonomie und Selbstverwaltung verwarf und stattdessen widerspruchslose Unter­ordnung unter die Weisungen der führenden Partei verlangte«, zu machen.124 Mit der 2. Hochschulreform von 1951 hatte die SED bereits weitgehend den Inhalt des Studiums vorgegeben. Ab Mitte der 1950er Jahre gelang es der SED zunehmend, ihren Einfluss innerhalb der Forstfakultät Tharandt auszudehnen. Hinweise dafür sind die Beschwerden älterer Professoren, dass die Zeitschrift Forst und Jagd wissenschaftliche Artikel ohne Begründung ablehne. Auf der Fakultätssitzung vom 17.  November 1955 wurde von »Zensur« gesprochen.125 An eben jenen Fakultätssitzungen nahmen immer mehr Studenten teil, die den ›progressiven‹ gesellschaftlichen Wandel in die Universitäten tragen sollten. Ein prominentes Beispiel dafür war Harald Thomasius. Geboren 1929, begann er 1944 eine Lehre als Waldarbeiter. Er profitierte von den geänderten Verhältnissen, wurde Brigadeleiter und legte 1954 die Sonderreifeprüfung an der Arbeiter- und Bauernfakultät Dresden ab. Er nahm früh als studentischer Vertreter an den Fakultätssitzungen teil, machte 1959 Diplom, wurde 1963 promoviert und 1968 Professor für Waldbau.126 Eine herausgehobene Stellung bekam das SED-Mitglied Thomasius 1980, als er Vorsitzender der neugegründeten Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) im Kulturbund der DDR wurde. Nach dem Mauerbau strebte die SED danach, auch die Struktur der Hochschulen ihrem Staatsverständnis anzupassen. Die traditionelle Universität der Ordinarien, der Fakultäten und Institute mit ihrem auf individuelle Bildung und Forschung ausgelegten Aufbau entsprach nicht den Bedürfnissen der angestrebten »wissenschaftlich-technischen Revolution«, die einer sozialistischen 123 Sonnemann, Geschichte, 352. 124 Jessen, Elite, 430. 125 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 312, Protokolle der Fakultätssitzungen, Sitzung vom 17.11.1955. 126 UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 312, ebd., Sitzungen vom 23.2.1955 und 3.5.1956 und Pommerin, Professoren, 958.

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Massenuniversität bedurfte.127 Zudem sollte die Beseitigung letzter professoraler Machtrefugien den uneingeschränkten Zugriff der SED auf die Universitäten sichern. Auf ihrem VI. Parteitag erklärte die SED 1963, dass das Bildungsprivileg der »bürgerlichen Intelligenz« gebrochen sei. 1965 folgte die Reformierung des Bildungswesens mit dem »Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem«.128 Im März 1966 formulierte das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen die »Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der Deutschen Demokratischen Republik«. Die 4. Hochschulkonferenz bestätigte im Februar 1967 und der VII. Parteitag der SED im April 1967 einstimmig diese Prinzipien. Damit begann eine Reorganisation der internen Hochschulverfassung, eine Konzentration des wissenschaftlichen Personals, eine stärkere Profilierung der einzelnen Hochschulen und eine Studienreform.129 Fakultäten, Institute und Arbeitsgruppen wurden abgeschafft, an ihre Stellen traten Sektionen, die alle an einem Studiengang beteiligten Wissenschaftler zusammenfassten. Die Sektionen gliederten sich nach unten in Wissenschaftsbereiche, über ihnen stand als Leitungsebene nur das Rektorat. Das wahre Machtzentrum lag allerdings beim ersten Sekretär der SED-Hochschulleitung.130 Die SED erhoffte sich zudem von den Sektionen die Freisetzung von Synergien und eine Kostenersparnis.131 Die Strukturreform wurde ihrer Form nach durchaus positiv bewertet.­ Midell wertete sie als modern und internationalen Entwicklungen folgend oder sogar vorangehend132, teilweise wurde sie mit dem amerikanischen Departement-System verglichen und als eine den aktuellen Anforderungen des wissenschaftlichen Betriebes gerechte Modernisierung charakterisiert.133 Dies betraf vor allem den Bereich der Studienorganisation.134 Auf der anderen Seite ermöglichte die neu geschaffene Struktur der SED eine effektivere Kontrolle und Anleitung des Wissenschaftsbetriebes. Wie sehr die 3. Hochschulreform die Anforderungen an die Studierenden in Richtung ideologische Treue verschob, verdeutlicht das abschließende Gesetz: 127 Lausberg, DDR 1946–1961, 225–226. 128 Hier war dann die Rede vom »Bildungsprivileg der Ausbeuterklasse«. Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, 25.2.1965, in: Gbl. DDR I 6, 83–106, 84. 129 Rytlewski, Entwicklung, 416. 130 Connelly, Humboldt, 89. 131 Jessen, Kontrolle und Kollaboration, 257. 132 Matthias Midell, 1968 in der DDR. Das Beispiel Hochschulreform, in: Etienne François (Hrsg.), 1968 – ein europäisches Jahr? Leipzig 1997, 125–146, 136. 133 Julius Schoenemann, Der große Schritt. Die Dritte Hochschulreform in der DDR und ihre Folgen; dargestellt an einem Beispiel aus der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock 1969–1972. Dannenberg 1998, 14–15. 134 Fuchs, Bildung, 110.

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Der Marxismus-Leninismus ist das Fundament für die theoretische und praktische Lösung der Entwicklungsprobleme unserer sozialistischen Gesellschaft. […] Die gesamte Ausbildung der Studenten und das gesellschaftliche Leben an den Hochschulen ist so zu gestalten, daß die sozialistische Ideologie den gesamten Erziehungs- und Ausbildungsprozeß durchdringt.135

Für eine akademische Karriere genügte nach der 3. Hochschulreform die Loyalität zur SED nicht mehr, Voraussetzung dafür wurde nun die Mitgliedschaft in der Staatspartei. Dies sicherten vier, die Hochschulreform begleitende Verordnungen ab. Für die wissenschaftlichen Mitarbeiter wurden alle Arbeitsverträge hinfällig. Jeder einzelne wurde von einer »Kaderkommission« neu bewertet. Die Vorgaben der Evaluierung standen im Gesetz: Voraussetzung der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter sind ein hohes sozialistisches Staatsbewußtsein und die Bereitschaft und Fähigkeit zur sozialistischen Erziehung der Studenten.136

Für alle Überleitungs- und Neuverträge musste eine Stellungnahme der FDJ oder der Gewerkschaft eingeholt werden. Eine Ebene höher fiel die Habilitation weg. An ihre Stelle trat die Promotion B zum »Doktor der Wissenschaften«.137 Sie war aber keine Voraussetzung für die nun »Facultas docendi« genannte Lehrbefähigung. Dies war ein entscheidender Schritt, die Berufung von Professoren von der wissenschaftlichen Qualifikation zu trennen und die akademischen »Elemente der Selbstergänzung« zu zerschlagen.138 Wichtigstes Merkmal wurde die »Fähigkeit zur Festigung und Entwicklung des sozialistischen Staatsbewußtseins der Studenten«, der Hochschullehrer war danach mehr »sozialistischer Erzieher« als fachliche Koryphäe.139 Während 1962 erst 36 Prozent aller Professoren Mitglied der SED gewesen waren, waren dies 1969 bereits 83 Prozent aller neu berufenen Professoren.140 Die zwischen 1967 und 1969 umgesetzte 3. Hochschulreform führte zu einer »Gleichschaltung der Universitäten und Hochschulen auf allen Ebenen«.141 Den 135 Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik, Die Weiterführung der 3. Hochschulreform und die Entwicklung des Hochschulwesens bis 1975, 3.4.1969, in: Gbl. DDR I 3, 5–19, 9. 136 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Verordnung über die wissenschaftlichen Mitarbeiter an den wissenschaftlichen Hochschulen – Mitarbeiterverordnung. MVO, 6.11.1968, in Gbl. DDR II 127, 1007–1013, 1008. 137 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Verordnung über die akade­ mischen Grade, 6.11.1968, in: Gbl. DDR II 127, 1022–1026, 1023. 138 Midell, 1968, 172. 139 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, HBVO, 999. 140 Jessen, Professoren, 230; Jessen, Bildungspathos, 376 und Jessen, Kontrolle und Kollaboration, 258. 141 Fuchs, Bildung, 51.

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Professoren war die Nachwuchsrekrutierung weitgehend entzogen worden. Der Karriereweg Däßlers, die konsequente Förderung durch einen Lehrstuhlinhaber, war nach 1968 nicht mehr gangbar. Der Sektionsdirektor schlug dem Rektor der Universität einen Kandidaten vor, den dieser bestätigen oder ablehnen konnte. Unausweichlich waren die Nachweise politischer und gesellschaftlicher Linientreue.142 Die SED-Gesinnung des wissenschaftlichen Nachwuchses war auf diese Weise gesichert. Für Däßler und seine Arbeitsgruppe bedeutete dies zweierlei. Zum einen war Däßler selbst kein Mitglied der SED, sein Einfluss war innerhalb der alten Fakultät durch diesen Nachteil bereits gering. In der neuen Sektion nahm er weiter ab. Die Hochschulreform wertete die inoffiziellen Verbindungs- und Informationskanäle der SED-Institutionen auf, zu denen Däßler keinen Zugang hatte. Die Zuteilung von Forschungsgeldern und Nachwuchswissenschaftlern verlagerte sich in Gremien, die ihm verschlossen blieben. Einen ersten Hinweis auf den schwindenden Einfluss Däßlers liefert die erstaunliche personelle Kontinuität der Rauchschadenforschung. Bis zum Ende der DDR blieben Däßler, Lux, Liebold, Ranft, Stein und Börtitz die bestimmenden Personen, im Zuge der landwirtschaftlichen Immissionsforschung war noch der Dipl.-Landw. Friedrich Reuter hinzugekommen. Das Fehlen neuer Kräfte in der Rauchschadenforschung muss nicht zwangsläufig nur ein Ausdruck der schwindenden Vernetzung Däßlers sein. Eine mit den 1970er Jahren einsetzende Karriereimmobilität war für die DDR charakteristisch.143 Der Eliten­austausch in der SBZ und frühen DDR hatte in einer großen Breite schnelle Karrieren ermöglicht, auch im akademischen Bereich.144 Da in der DDR auch die akademischen Mitarbeiterstellen zumeist unbefristet waren, besetzten die Angehörigen einer Alterskohorte – der Aufsteigergeneration – die zentralen Positionen. Eine personelle Aufstockung wäre demnach nur unter einer inhaltlichen Ausweitung der Rauchschadenforschung möglich gewesen. Däßler konnte der Politik aber keinen weiteren Forschungsbedarf vermitteln. Dies leitet über zum zweiten Punkt, denn zum anderen befasste sich die Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung mit einem Gegenstand, der der SED zunehmend unbequem wurde. Die Offenheit, mit der Zieger und zunächst auch Däßler die Frage der Waldschäden ansprechen konnten, war auch einer speziellen Sicht der SED auf das Problem geschuldet. Die Belastung der Umwelt – gleich jedweder Art – galt nach der offiziellen Lesart des Sozialismus als ein Übergangsphänomen, als ein Erbe des Kapitalismus. Immissions 142 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, MVO, 1010. 143 Helga A. Welsh, Kaderpolitik auf dem Prüfstand. Die Bezirke und ihre Sekretäre 1952–1989, in: Hübner, Eliten, 107–129, 129. 144 Vgl. Heinz Daniel Danisch, Zur Sozialisation, Siebung und sozialen Kontrolle der akademischen DDR-Studentenschaft in den 70er Jahren. Diss. Berlin: Technische Universität Berlin 1979, 54–55; Jens Gieseke, Oral History und DDR-Geschichte, in: Deutsche Studien 29, 1991/92, 280–289, 285 und Richter, Die DDR, 24.

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bedingte Waldschäden waren elementarer Bestandteil dieses Modells. Bestandteil dieses Modells war allerdings auch, dass der sich entwickelnde Sozialismus die Nachteile der kapitalistischen Produktionsweise überwand. Das Urteil des Staatlichen Vertragsgerichts drückte diesen Zukunftsoptimismus aus. Das Scheitern der Wirtschaftsreform und das weitere Anwachsen der Luftbelastung und damit auch der rauchgeschädigten Waldbestände betraf eine der Legitimationsstützen des Kommunismus und der DDR  – eine harmonische Existenz von Gesellschaft und Natur zu ermöglichen. Wissenschaftler, die beständig auf diesen wunden Punkt hinwiesen, bekamen nicht ihre Arbeit verboten, aber ihre Entfaltungsmöglichkeiten wurden eingegrenzt. Sei es durch die Streichung von Geldmitteln, die Nicht-Genehmigung von Westreisen, die verzögerte Veröffentlichung von Forschungsergebnissen oder gar ein Publikationsverbot bestimmter Inhalte, das Ergebnis wies immer in die gleiche Richtung. Der quantitative Output der Tharandter Rauchschadenforschung ging mit dem Jahr 1970 rapide zurück. Brachte es die Arbeitsgemeinschaft im Zeitraum 1963 bis 1969 auf 13 Veröffentlichungen im Jahr, sank dieser Wert bis 1972 auf unter sieben. Für die Jahre bis 1982 ging er dann auf unter vier zurück (Abb. 4). Der Einbruch zu Beginn der 1970er Jahre hat zahlreiche Ursachen. Zum einen liefen die forstlichen Großraumdiagnosen aus. Zwar gab es vereinzelt Anschlussprojekte, die jedoch nicht mehr den gleichen Umfang erreichten. Hier waren die eben beschriebenen Elemente wirksam. Die SED war nicht gewillt, Forschungen zu finanzieren, die ihr Scheitern offenbarten. Wo dies doch geschah, reagierte sie mit verschärften Geheimhaltungsvorschriften.145 Zum anderen zeigte die neue Parteiführung unter Honecker wesentlich weniger Interesse an einer Beratung durch Wissenschaftler. Die von ihm ausgerufene Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik stärkte die Position der Industriebetriebe gegenüber anderen Wirtschaftsakteuren. Die erst wenige Jahre zuvor vom Zentralen Vertragsgericht festgestellte prinzipielle Gleichrangigkeit der Interessen von StFB und Industrie war damit Makulatur. Däßler war nicht mehr in der Lage, dagegen vorzugehen. Die 3. Hochschulreform entfaltete ihre kontrollierende und disziplinierende Wirkung auch auf die Pflanzenchemie. Däßler darf, von seiner Herkunft und Ausbildung betrachtet, als bürgerlicher Wissenschaftler bezeichnet werden. Diese Art von Wissenschaftler agierte spätestens nach 1968 ohne Habitat. Von Lingner läuft über Zieger zu Däßler eine abschüssige Linie des politischen Einflusses. Lingner pflegte als überzeugter Sozialist persönlichen Umgang mit den Granden seiner Partei. Zieger war gut vernetzt und nutzte die Spielräume, die die Politik seiner Fachrichtung ließ oder noch lassen musste. Sein politischer Einfluss erstreckte sich noch auf das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft unter Reichelt. Däßler

145 Wienhaus, Däßler, Immissionsforschung, 465.

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Abb. 4: Publikationen pro Jahr der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung

hingegen musste sich seine Position in der Rauchschadenforschung erst erstreiten und verlor dann mit dem MLF den wichtigsten Ansprechpartner. Sein unbestritten großer Fachverstand hatte ihm den Aufstieg in verantwortungsvolle Positionen ermöglicht, ohne SED-Mitglied zu sein. Das gesamte gesellschaftliche Leben der DDR war jedoch von einer Doppelstruktur öffentlicher Einrichtungen und Parteiinstitutionen durchzogen – Jessen nannte dies »doppelte Leitungshierarchie«.146 Und diese Leitungshierarchien standen Däßler immer skeptisch gegenüber. Die Grundorganisation der SED an der TU Dresden bewertete in einer Stellungnahme sein »politisch-ideologisches Engagement« als »nicht so ausgeprägt«. Sein Antrag, an einem Luftreinhaltungskongress in Düsseldorf teilzunehmen, sei noch zu überdenken. Fachlich sei er geeignet, aber als Nicht-SED-Mitglied bekäme er so einen »weitreichenden Einblick in alle Maßnahmen wirtschaftspolitischer Art […], die sich im Zusammenhang mit der Rauchschadensproblematik ergeben«.147 Folgt man nun der These, dass die Personen, die in beiden Strukturen verankert waren, mehr Einfluss auf den Lauf der Dinge ausüben konnten, tritt die latente Schwäche von Däßlers Position hervor. Die Chancen, die das NÖSPL bot, versuchte er zu nutzen. Allerdings zeigte sich bereits ab Mitte der 1960er Jahre, dass die Rauchschadenforschung inhaltlich den von Zieger skizzierten Rahmen ausfüllte. Neue Impulse 146 Jessen, Elite, 430. 147 UA der TUD, II013632, Nachlass Däßler, pag. 95.

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und innovative Forschungsansätze kamen aus Tharandt nicht mehr. Däßler verfolgte eine Praxis, die stellvertretend für viele Forscher stand  – den Rückzug in den Elfenbeinturm der Wissenschaft. Die Geheimhaltung eröffnete auch eine Rückzugsmöglichkeit, weiterhin seriöse Forschung betreiben zu können.148 Der Preis dafür war ein schleichender internationaler Bedeutungsverlust. Zwar nahm Däßler in der Nachfolge Ziegers in den 1960er und 1970er Jahren an allen Arbeitstagungen der forstlichen Rauchschadensachverständigen149 teil, referierte dort aber vermehrt über chemische Spezialprobleme der Rauchschadenforschung und über Schwermetallimmissionen.150 Sein Fachwissen auf diesen Gebieten war unbestreitbar. Im Zuge der Überführung der Arbeitstagungen forstlicher Rauchschadensachverständiger in die Organisation der IUFRO in den 1970er Jahren, wirkte er in der Arbeitsgruppe 4 »Physiological Effects« der Untergruppe 2.09 »Air Pollution« mit.151 Ende der 1970er Jahre hatte sich die Aufteilung innerhalb der IUFRO etwas verschoben und Däßler war 1979 stellvertretender Ombudsman der Arbeitgruppen 2.09–7 »Methodology of foliar analysis« und 2.09–9 »Physiological basis of resistance«. Zur gleichen Zeit arbeiteten Wentzel und Pelz gemeinsam in der Gruppe 2.09–6 »Management of forests under pollution stress«. Däßler konnte aber nicht mehr den internationalen Forschungsdiskurs prägen. Das Innovationspotential der Tharandter Rauchschadenforschung war Ende der 1960er Jahre personell und strukturell ausgereizt. Ziegers große wissenschaftliche Leistung war es, das Problem der Rauchschäden vom lokalen Bezug zu trennen und die regionale Bedeutung des Schadgases Schwefeldioxid nachzuweisen. Wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, blieb die Entwicklung nicht stehen. Die internationale Forschergemeinschaft erweiterte ihren Horizont beständig, und als die skandinavischen Staaten in den 1970er Jah 148 Vgl. hierzu Schieferdecker, Konzepte, 28. Ash formulierte für die Zeit des Nationalsozialismus den Rückzug in die Grundlagenforschung als »Resistenzstrategie«. Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressource füreinander, in: Rüdiger vom Bruch, Brigitte­ Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Stuttgart 2002, 32–51, 47. 149 Diese Treffen fanden statt 1964 in Wien, 1966 in Janske Lazne (ČSSR), 1968 in Kattowice (Polen), 1970 in Essen, 1972 in Sopron (Ungarn), 1974 in Marianske Lazne (ČSSR) und 1976 in Ljubljana (Jugoslawien). 150 Vgl. Hans-Günther Däßler, Zur Wirkungsweise der Schadstoffe. Der Einfluß von SO₂ auf Blattfarbstoffe, in: Forstliche Bundesversuchsanstalt in Wien (Hrsg.), Wirkungen von Luftverunreinigungen auf Waldbäume. Bd. 97. Wien 1972, 353–366; Th[eodor] Keller, Bericht über die VIII. Internationale Arbeitstagung Forstlicher Rauchschadensachverständiger. Sopron 9. bis 14. Oktober 1972, in: SZF 124, 1973 oder Hans-Günther Däßler, Zur Wirkung von Quecksilberverbindungen auf die Vegetation, in: Ministerium für Forst- und Wasserwirtschaft der ČSR/Forschungsanstalt für Forstwirtschaft und Jagdwesen Zbraslav-Strnady (Hrsg.), IUFRO. Tagungsbericht. Mariánské Lázne 1974, 69–79. 151 Geleitet wurde die Untergruppe vom Schweizer Theodor Keller. Die Untergruppe 2.09 war Teil der Division 2 »Forest Plans and Forest Protection«.

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ren die Versauerung ihrer Seen meldeten, verursacht durch in Großbritannien und in beiden deutschen Staaten emittiertes SO₂, war die transnationale Komponente der Rauchschadenfrage unübersehbar. In der DDR jedoch verengte sich der Fokus wieder. Neben den Wäldern litten Bienen besonders unter Industrieemissionen. Hier spielte Schwefeldioxid eine nachgeordnete Rolle, schädlicher waren Arsen, Blei und Fluor. Während die Arsenvergiftungen ein lange bekanntes Phänomen waren152, nahmen die Fluorosen aufgrund der Ausweitung der Braunkohle­ verstromung zu. Schwerpunkt der Schäden war das Mitteldeutsche Industrie­ gebiet. Im Gegensatz zu Schwefeldioxid waren diese Arten von Emissionen nicht besonders weittragend und traten nur in engem Umkreis der Betriebe auf. Mit Beginn der 1970er Jahre setzte sich die Entkopplung der Tharandter Rauchschadenforschung von den internationalen Trends fort. Wilhelm Knabe betonte in seinem Bericht der Essener Tagung von 1970 die Bedeutung der Rauchschadenforschung für den Umweltschutz, eine dort verabschiedete Resolution wies den Weg zu verstärkter grenzüberschreitender Zusammenarbeit.153 Das Institut für Pflanzenchemie kehrte hingegen zu einer klassischen Rauchschaden­ forschung zurück. Ein weiterer Aspekt war die zunehmende Bürokratisierung der Forschung. Ab 1970 war die TU Dresden, Sektion Forstwirtschaft, Hauptauftragnehmer der komplexen Staatsplanaufgabe »Reinhaltung der Luft«. Diese strukturbestimmende Querschnittsaufgabe sollte die bisher stark zersplitterte Forschung zusammenführen und doppelte Ansätze vermeiden. Die Leitungsstruktur führte dabei vom Ministerium für Wissenschaft und Technik als zentralem Auftraggeber über das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen und die TU Dresden zum Wissenschaftsbereich Pflanzenchemie. Däßler musste dann für die Arbeitsbereiche medizinische und kommunalhygienische Aspekte der Reinhaltung der Luft, Abgasentschwefelung, Abgasentstaubung, Katalytische Nachverbrennung, Kfz-Abgase, Korrosionsschutz, Meteorologische Aspekte der Reinhaltung der Luft, Meßverfahren und -geräte sowie forstliche und landwirtschaftliche Rauchschadenforschung mehr als 20 Nachauftragnehmer finden und betreuen.154 Die Konstruktion offenbart die Vor- und Nachteile stark zentralisierter Forschung. Auf der einen Seite war es möglich, die vorhan-

152 Vgl. dazu Heinrich Prell, Rauchschäden bei den Tieren des Waldes. Vortrag, gehalten zum dies academicus in Tharandt am 19. November 1954, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 4, 1954/55, 453–462. 153 Wilhelm Knabe, Rauchschadensforschung dient dem Umweltschutz. VII. Internationale Arbeitstagung forstlicher Rauchschadensachverständiger 1970 in Essen, in: Forstarchiv 42, 1971, 99–103. 154 UA der TUD, Sekt 21 291, Sekretariat, Bericht über die Anleitung und Durchführung der Komplexen Staatsplanaufgabe »Reinhaltung der Luft« 1970–1975.12.3.1976, pag. 3.

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denen Kapazitäten effizient einzusetzen, auf der anderen Seite verzögerte der lange Instanzenzug die Aufnahme der Forschungsarbeiten. Einzelne Verträge mit Nachauftragnehmern konnten erst im Januar 1971 geschlossen werden.155 Für die wichtigen Projekte »Primärentschwefelung«, »Bau und Entwicklung von Immissionsmessgeräten« und »Rechtliche und organisatorische Systemregelung« konnten zunächst keine Nachauftragnehmer gefunden werden. Bis 1975 standen im Rahmen der Staatsplanaufgabe knapp 52 Mio. M zur Verfügung. Die Leistungen der Forstwissenschaft listete Däßler gesondert auf: Erfassung der Schadgebiete, ihre Kartierung und Klassifizierung anhand erarbeiteter Bewertungsschlüssel, Grundlagenforschung über den Wirkungsmechanismus von SO₂ in der Pflanze, Ermittlung toxischer Schwellenwerte für Blei und Quecksilber, Arten- und Sortentests für rauchharte Baumarten, Erarbeitung von Bewirtschaftungsrichtlinien für die forstlichen Immissionsgebiete, Resistenzprüfungen von Getreidesorten und -arten sowie Einfluss von Kraftwerksstäuben auf Milchleistung, Weideverluste und Futterproduktion.156 All dies stärkt den Eindruck, Tharandt verwaltete die Rauchschadenforschung mehr, als sie voranzubringen. Die Mitarbeiter – allen voran Lux – verwandten einen großen Teil ihrer Arbeitszeit auf die Erstellung von Gutachten. Däßler selbst wirkte nicht mehr als »persönliches Zentrum frischer Gedanken«.157 1976 erschien zum ersten Mal sein Standardwerk Einfluss von Luftverunreinigungen auf die Vegetation, das bis 1991 viermal aufgelegt und auch auf Englisch publiziert wurde. Es war im besten Sinne Flecks das Handbuch eines renommierten Wissenschaftlers.158 Die Nachauftragnehmer der Staatsplanaufgabe lobten Däßlers Koordinierungsleistung. Er führte alle Beteiligten zu jährlichen Kolloquien zusammen, womit er zumindest auf wissenschaftlicher Ebene einen interdisziplinären Austausch über alle Aspekte der Luftreinhaltung ermöglichte. Es waren dies jedoch die Treffen einer einflusslosen Kaste  – von der Politik mit immer neuen Arbeitsgruppen beschäftigt –, die an den Symptomen laborierte, ohne in der Sache voranzukommen. 1973 hieß es dazu resignierend in einem Forschungsbericht der Sektion: Im Weltmaßstab sind noch keine großtechnisch einsetzbaren und ökonomisch vertretbaren Verfahren der Beseitigung von SO₂ aus Kraftwerksabgasen bekannt, so daß mit einer entscheidenden Senkung der Immissionsraten erst in ca. 50 Jahren, um 2010 2020, nach Auskohlung des Böhmischen Beckens gerechnet werden kann. Auf 155 Rajanov, Immissionsforschung, 68. 156 UA der TUD, Sekt 21 291, Komplexe Staatsplanaufgabe Reinhaltung der Luft, pag. 19–21. 157 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt 1980, 156. 158 Vgl. hierzu ebd., 146–164.

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gabe der Forstwirtschaft ist, dieser Situation mit einem taktisch und technisch klaren System von Anpassungsmaßnahmen zu begegnen.159

Die Vokabeln aus den frühen 1960er Jahre wie ›Bedrohung der‹ oder ›Gefahr für die‹ Wälder hatten ausgedient, der Wissenschaftsbereich Pflanzenchemie begann damit, sich im Wissenschaftsbetrieb der DDR einzurichten. Während in der Bundesrepublik der TÜV 1974 Rauchgasentschwefelungsanlagen zum Stand der Technik erklärte und 1977 die erste kommerzielle Anlage in Betrieb ging160, listete ein Perspektivplan aus der Zeit um 1975 auf, womit sich die Rauchschadenforschung bis 1990 beschäftigen sollte: Resistenzprüfung und -erhöhung, Erfassung der Schadgebiete und Erarbeitung von Bewirtschaftungsmaßnahmen und Rekultivierung/Wiederaufnahme der forstwirtschaftlichen Produktion.161 Ein Motor der internationalen Rauchschadenforschung war man schon lange nicht mehr, mit Beginn der 1970er Jahre schied Tharandt auch als Akteur einer nationalen Waldschadensdebatte aus.

2.2 Entwicklungstendenzen in Wald und Gesellschaft Die 1960er Jahre in der DDR entsprachen dem, was Sigrid Meuschel »Legitimation durch Reform« nannte.162 Nach dem Mauerbau setzte die SED ab 1962 ein umfassendes Reformwerk in Gang, das Gesellschaft, Wirtschaft und teilweise den Staatsaufbau neu strukturierte. Walter Ulbricht strebte eine intensive Industrialisierung an.163 In den Vorstellungen der SED sollte die Wissenschaft wesentlich dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen, das Manko der niedrigen Arbeitsproduktivität zu beheben und einen Beitrag zur »Wohlstandssicherung« leisten.164 Ja, die Wissenschaft sollte gar zu einer »Funktionsbasis der Gesellschaft« und einer systemischen Problemlösungsinstanz werden.165 Mit Hilfe der »Poduktivkraft Wissenschaft« sollten neue Technologien und Produktionsver 159 UA der TUD, Sekt 21 670, Bereich Pflanzenchemie, Abschlußbericht Richtlinien zur Wirtschaftsführung im Rauchschadgebeit Erz- und Elbsandsteingebirge. 15.10.1973, pag. 9. 160 Anders, ­Uekötter, Lärm, 116. 161 UA der TUD, Sekt 21 5, Sekretariat, Wissenschaftliches Profil der Sektion 1969–1973, o. pag. 162 Meuschel, Legitimation, 25–27. 163 Füllenbach, Umweltschutz, 105. 164 Mitchell G. Ash, Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Zur Einführung, in: Mitchel G. Ash, Wissenschaft, Politk und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart. Wien 2002, 19–43, 40. 165 Ulrike Felt, Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Wechselwirkungen und Grenzverschiebungen, in: Ash, Wissenschaft, 47–72, 52–53 und Andreas Malycha, Neue Forschungen zur DDR-Wissenschaftsgeschichte. Aspekte des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik, in: Archiv für Sozialgeschichte 41, 2001, 662–676, 664.

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fahren entwickelt werden, über die der Westen noch nicht verfügte, im J­ argon Ulbrichts eine »vorauseilende Modernisierung«, wobei die größten Hoffnungen auf Fachrichtungen wie Kybernetik, Mathematik, Chemie, Physik und Ökonomie lagen.166 Das dafür notwendige Personal sollte aus dem stark expandierenden Hochschulwesen hervorgehen. Gab es 1939 auf dem Gebiet der späteren DDR 16 Hochschulen, wuchs ihre Zahl bis zu einem Höchststand von 54 an. 1971 war mit 44.000 Neuimmatrikulationen der Höhepunkt erreicht, dies entsprach einer Studienquote von 18,6 Prozent. Nach dem Amtsantritt Honeckers sank diese Quote rasch auf 11,7 Prozent.167 Tatsächlich gelang der DDR »eine Festigung durch wirtschaftliche Erfolge«, sie stieß in den Kreis der zehn größten Industrienationen vor.168 Der Wirtschaftshistoriker André Steiner hat jedoch gezeigt, dass dieser »Erfolg« nicht auf der erhofften Intensivierung ruhte, sondern auf einer massiven quantitativen Ausweitung des industriellen Sektors fußte – eine Entwicklug, die der in den westlichen Ländern entgegenstand. Im Bereich der Landwirtschaft folgte die DDR zwar dem säkularen Trend, verpasste aber den Anschluss an die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft.169 Wirtschaftlicher Strukturwandel und veränderte Lebenswelt Am 28. April 1961 forderte Willy Brandt auf einer Wahlkampfveranstaltung in Bonn einen blauen Himmel über der Ruhr.170 Er verknüpfte seine Forderung nach Maßnahmen zur Luftreinhaltung mit Statistiken zu Lungenkrankeiten. Der SPIEGEL griff das Thema in seiner Ausgabe vom 9. August 1961 auf der Titelseite auf und führte die gesundheitlichen Auswirkungen der Staubbelastung auf Kinder aus.171 Dies waren Elemente eines »neuen Bewußtseins für die Gefahren und Probleme der verunreinigten Luft«, dessen Anfänge ­Uekötter in die 1950er Jahre verlegte.172 Die Medien hätten in dieser Zeit zunehmend kritisch über die möglichen Auswirkungen der Luftbelastung auf die Gesundheit informiert und so ein Problembewusstsein geschaffen. Dem vorausgegangen waren apokalyptische Bücher wie Erich Hornsmanns …sonst Untergang. 166 Schroeder, SED-Staat, 182. 167 Andreas Fischer, Das Bildungssystem der DDR. Entwicklung Umbruch und Neugestaltung seit 1989. Darmstadt 1992, 70–71. 168 Weber, DDR 1945–1990, 75. 169 Steiner, Plan, 152. 170 Vgl. Franz-Josef Brüggemeier, Thomas Rommelspacher, Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840–1990. Essen 1992, 66 und Kloepfer, Umweltrechtsentwicklung in Deutschland, 98. 171 Ruhr. Zu blauen Himmeln, in: Spiegel, 1961, 22–33. 172 ­Uekötter, Rauchplage, 405, 411 oder 448.

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Die Antwort der Erde auf die Mißachtung ihrer Gesetze von 1951 oder Günther Schwabs Der Tanz mit dem Teufel von 1958.173 Die alte Allianz aus rauchenden Schornsteinen, wirtschaftlicher Prosperität und individuellem Wohlstand – wie sie Andersen und Brüggemeier sinnfällig für die Ruhrgebietsbesetzung 1923 aufzeigten – wurde brüchig. Während des Boykotts waren die Bäume ergrünt, und die Hektarerträge von Kartoffeln hatten sich verdreifacht. Die Arbeiter wollten aber auch um den Preis der Luftbelastung in die Fabriken zurückkehren, da ihr Lebensstandard litt.174 Teile der heranwachsenden Mittelschicht waren allerdings nach dem Krieg immer weniger bereit, ein Mehr an Wohlstand und Konsum mit einem Mehr an Verschmutzung und Belastung zu bezahlen. Der wirtschaftliche Strukturwandel ermöglichte und begünstigte diese Entwicklung. Steiner verortet ihn in der Bundesrepublik  – katalysiert durch Wirtschaftskrisen  – in den 1970er Jahren.175 Die 1960er Jahre bilden allerdings den Wendepunkt bzw. die Takeoff-Phase in Richtung Dienstleistungsgesellschaft. Zwischen 1960 und 1969 blieb der Anteil der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe mit 37,5 Prozent stabil. Der Rückgang des Anteils der Beschäftigten im primären Sektor um 4,6 Prozent kam ausschließlich dem tertiären Sektor zugute.176 Die Zahl derjenigen, die ihren Lebensunterhalt außerhalb der Fabriken verdienten und ihre freie Zeit außerhalb der Städte verbrachten, wuchs beständig an. Mit der Parole »Samstags gehört Vati mir!« war es den Gewerkschaften 1957 geglückt, das Wochenende um den Samstag zu verlängern, und die zunehmende Individual­ mobilisierung erweiterte den Aktions- und Erlebnishorizont der Stadtbevölkerung, machte die Natur abseits der Städte sprichwörtlich ›erfahrbar‹. All dies waren Elemente einer Latenzzeit des modernen Umweltschutzes, einer Phase des »Bereits-in-die-Richtung-Gehens«.177 Entscheidend war, dass 173 Erich Hornsmann, …sonst Untergang. Die Antwort der Erde auf die Missachtung ihrer Gesetze. Rheinhausen 1951 und Günther Schwab, Der Tanz mit dem Teufel. Ein abenteuerliches Interview. 11. Aufl. Hannover 1958. Weitere Romane waren etwa Anton Metternich, Die Wüste droht. Die gefährdete Nahrungsgrundlage der menschlichen Gesellschaft. Bremen 1947 oder Reinhard Demoll, Ketten für Prometheus. Gegen die Natur oder mit ihr? München 1954. 174 Arne Andersen, Franz-Josef Brüggemeier, Gase, Rauch und saurer Regen, in: FranzJosef Brüggemeier (Hrsg.), Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert. München 1989, 64–85, 76–77 und Brüggemeier, Rommelspacher, Blauer Himmel, 50–51. 175 André Steiner, Die siebziger Jahre als Kristallisationspunkt des wirtschaftlichen Strukturwandels in West und Ost?, in: Konrad Hugo Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, 29–48, 32. 176 Gerhard Heske, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950–1989. Daten, Methoden, Vergleiche. Köln 2009, 276–277. 177 Frank ­Uekötter, Erfolglosigkeit als Dogma? Revisionistische Bemerkungen zum Umweltschutz zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der »ökologischen Wende«, in: Brüggemeier, Engels, Natur- und Umweltschutz, 105–123, 120.

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die breite Entkopplung des individuellen Wohlstands von qualmenden Schloten das Einschwenken auf einen neuen Pfad der Immissionspolitik ermöglichte. Die bisherige Tradition der deutschen Rechtssetzung, die Produktionsinteressen der Industrie  – und damit die Interessen großer Teile der Arbeitnehmerschaft – höher zu gewichten als die Reinhaltung von Umweltmedien, wurde von einer grenzwertgeleiteten, immer stärker vom Vorsorgeprinzip getragenen Strategie durchbrochen. Auch hier liegen die wegweisenden Entwicklungen in den 1970er Jahren, aber die erste TA Luft von 1964 wies bereits die Richtung, indem sie Grenzwerte definierte.178 Während in der BRD die Bedeutung der Industrie als Arbeitgeber tendenziell abnahm, stieg in der DDR die Bruttowertschöpfung der Industrie in den 1960er Jahren noch von 52 auf 57 Prozent an.179 Ein Beispiel der SED-Strukturpolitik war das große Chemieprogramm von 1958. Die Produktion der chemischen Industrie sollte bis 1965 verdoppelt werden. Zu diesem Zweck wurden landesweit neue Anlagen geplant. 1961 versprach kein SED-Politiker den Menschen in Schwedt, Wolfen oder Bitterfeld einen blauen Himmel. Stattdessen galt die Parole »Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit«. Aber auch in der DDR zeichneten sich subkutan die ersten Veränderungen ab. Die Literatur hatte – wenn auch in einem engen Rahmen – mehr Freiheiten als andere öffentliche Akteure. Dies kam gerade in den Jahren zwischen Mauerbau und ›Kahlschlagplenum‹ 1965 zum Tragen. Kunst kann als »Seismograph von gesamtgesellschaftlichen Problemen und Bewußtseinslagen gelten«.180 Die bestimmende Kunstform der Nachkriegs- und Aufbaujahre war der sozialistische Realismus, der sich durch ideologisch determinierten Ideengehalt, marxistisch-leninistische Parteilichkeit, Vorbildlichkeit, Fortschrittsglauben, Optimismus, Volkstümlichkeit, Verständlichkeit und einen positiven Helden auszeichnete.181 Auch wenn dieses starre Schema langsam aufgebrochen wurde, dauerte es noch bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre, bis in der Literatur das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt problematisiert wurde. Bereits 1964 erschien Erik Neutschs Roman Spur der Steine, der zwar auch ein Entwicklungsroman in Richtung sozialistischer Persönlichkeit war, aber mit einer offenen und überzeugenden Darstellung des Alltags im mitteldeutschen 178 Vgl. Der Bundesminister für Gesundheitswesen, Allgemeine Verwaltungsvorschriften über Genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 16 der Gewerbeordnung (Technische Anleitung Luft), 8.9.1964, in: GMBl. 26, 433. Die TA Luft legte Grenzwerte für Staub, Chlor, Stickstoffdioxid, Schwefelwasserstoff und Schwefeldioxid fest. Die Werte für SO₂ lagen bei 400 µg/m3 bei Dauerbelastung und 750 µg/m3 bei Spitzenbelastung. 179 Steiner, Plan, 152. 180 Hubertus Knabe, Zweifel an der Industriegesellschaft. Ökologische Kritik in der erzählenden DDR-Literatur, in: Redaktion Deutschland-Archiv, Umweltprobleme, 201–250, 202. 181 Lausberg, DDR 1946–1961, 226.

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Industrierevier überraschte.182 Neutsch schilderte darin auch die Probleme der Luftverschmutzung um Leuna und Schkopau. 1966 kam die Filmversion mit Manfred Krug in die Kinos, wurde aber bereits nach drei Tagen wegen »anti­ sozialistischer Tendenzen« wieder abgesetzt. Den Menschen in der DDR fehlte es an Wissen über das Ausmaß der Luftverunreinigungen und über die schädlichen Auswirkungen der Immissionen auf Gesundheit und Natur. Vereinzelte Artikel wie der von Wetzel stellten eine Ausnahme dar, weniger die Regel. Dies lag weniger daran, dass die SED und ihre Organisationen Beiträge in diese Richtung gezielt unterdrückt hätten, sondern an der fehlenden Resonanz. Zum einen blieb die Industrie in der DDR lange der bestimmende Arbeitgeber, die finanzielle Emanzipation der Beschäftigten vom produzierenden Sektor schritt langsamer voran als in der BRD. Noch 1976 schilderte Gunter Preuß in seinem Kinderbuch Julia die Konflikte innerhalb einer Familie.183 Der Vater arbeitet bei einer Brauerei, deren Schornstein die um­ liegenden Wohngebiete belastet. Die Mutter möchte sich – auch zum Wohl ihrer Tochter – an einer Protestaktion beteiligen. Zum anderen setzte in der DDR erst wesentlich später eine Arbeitszeitverkürzung ein. Im April 1966 erklärte die SED jede zweite Woche zur Fünf-Tage-Woche. Erst ab Ende August 1967 gab es die durchgängige Fünf-Tage-Woche. Dafür mussten die Beschäftigten auf die Feiertage Ostermontag, Tag der Befreiung, Himmelfahrt sowie Buß- und Bettag verzichten. Die Wochenarbeitszeit betrug nun 43,75 Stunden bei 8,75 Stunden täglich.184 Die meisten DDR-Bürger verbrachten ihre Freizeit vor dem Fernseher. Bei einer Umfrage gaben aber auch 50 Prozent an, die gewonnene Zeit für Spaziergänge zu nutzen.185 Die Ausweitung des individuellen Verkehrs erschloss ihnen Naturräume, die nicht an das Netz des öffentlichen Nahverkehrs angeschlossen waren.186 Hier bekamen die DDR-Bürger die Möglichkeit, sich mit ihrer natürlichen Umgebung auseinanderzusetzen. Im Bereich des wirtschaftlichen Strukturwandels und den Möglichkeiten der individuellen Freizeitgestaltung offenbart sich allerdings ein ›Time-lag‹ zwischen Ost und West von zehn Jahren.

182 Erik Neutsch, Spur der Steine. Halle (Saale) 1964. 183 Gunter Preuß, Julia. Berlin (Ost) 1976. 184 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Verordnung über die durchgängige 5-Tage-Arbeitswoche und die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit bei gleichzeitiger Neuregelung der Arbeitszeit in einigen Wochen mit Feiertagen, 3.5.1967, in: Gbl. DDR II 38, 237–241. Vgl. dazu auch Roesler, Momente, 131–132. 185 Weber, DDR 1945–1990, 68. 186 Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln 1999, 320.

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Bodennutzungsverordnung und Landeskultur Auf der Ebene der Gesetzgebung ist der zeitliche Abstand zwischen Bundes­ republik und DDR wesentlich geringer. Bereits Zieger hatte Ende der 1950er Jahre Grenzwerte gefordert, um die lufthygienische Situation zu verbessern. Auf die TA Luft von 1964 reagierte die DDR im Juni 1968 mit der »Anordnung zur Begrenzung und Ermittlung von Luftverunreinigungen (Immissionen)«. Hier wurden erstmals verbindliche Grenzwerte für 48 luftverunreinigende Stoffe festgesetzt. Für Schwefeldioxid lagen die Werte bei 0,5 mg/m³ bei Kurzeit­ belastung und bei 0,15 mg/m³ für Dauerbelastung.187 Auch im zweiten deutschen Staat entwickelte sich ein neuer Umgang mit den Umweltmedien Luft, Wasser und Boden. Die DDR befasste sich zuerst mit dem greifbarsten der drei Medien, dem Boden. Bis Mitte der 1960er Jahre mussten die Betriebe für ihre Produktionsareale nichts bezahlen, es erfolgte ein einfacher Rechtsträgerwechsel. Das lud zum einen zu einer großzügigen Projektierung neuer Anlagen ein, zum anderen floss die Qualität des Bodens zu keiner Zeit in die Planung ein. Bereits Lingner und Zieger hatten diese Praxis bemängelt, Standortplanung allein nach Kriterien der optimalen Verteilung von Produktionsfaktoren zu betreiben. Die Bodennutzungsverordnung vom 17. Dezember 1964 trat der Verschwendung entgegen.188 In der Präambel prangerte die Verordnung das Gebaren der VEB an. Die Betriebe, »denen Grund und Boden zur Verfügung gestellt wird, gehen unverantwortlich und leichtfertig mit dem Boden um und beeinträchtigen die land- bzw. forstwirtschaftliche Produktion in einem nicht vertretbaren Umfang«. § 5 regelte, dass primär Ackerböden von schlechter Qualität in der »erforderliche[n] Fläche für neue Baumaßnahmen« herangezogen werden sollten. Den Land- und Forstwirtschaftsbetrieben wurde darüber hinaus in § 6 der Ausgleich von wirtschaftlichen Nachteilen (»Wirtschaftserschwernisse«) durch Entzug oder Einschränkung der Nutzung zugesichert. Die Art des Entzugs bzw. die Gestaltung des Ausgleichs bei Wirtschaftserschwernissen war vertraglich zu fixieren. Die Missachtung der Vorgaben war mit einer Strafzahlung von 500 MDN bewehrt. Die Bodennutzungsverordnung ist ein Beispiel dafür, wie die SED in der Phase des NÖSPL versuchte, die Produktivität zu erhöhen. Konkret ging es hier nicht um den Output pro Stunde, sondern pro Flächeneinheit. Im Sinne des Effizienzdenkens sollte die Produktion gesteigert, der Ressourcenverbrauch aber verringert werden. Allein, die Verordnung schien nicht die erwünschte Wirksamkeit zu erzielen. Der Ministerrat beschloss daher am 15. Juni 1967 die 187 Minister für Gesundheitswesen, Anordnung zur Begrenzung. 188 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Verordnung zum Schutz des land- und forstwirtschaftlichen Grund und Bodens und zur Sicherung der sozialistischen Bodennutzung – Bodennutzungsverordnung –, 17.12.1964, in: Gbl. DDR II 32, 233–238.

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»Verordnung über die Bodennutzungsgebühr«.189 Die Redundanzen in der Präambel zeigen, dass die Bestimmungen der zwei Jahre alten Bodennutzungs­ verordnungen ins Leere gelaufen waren: Die Bodennutzungsgebühr dient der Aufgabe, unter Ausnutzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus alle Zweige der Volkswirtschaft bei voller Sicherung der materiellen Ziele der Investitionen stärker an der optimalen Nutzung des Bodens, der Auswahl des volkswirtschaftlich günstigsten Standortes bei der Durchführung von Investitionsvorhaben und der Einschränkung des Bodenentzuges auf den unbedingt notwendigen Umfang zu interessieren.

Die Bodennutzungsgebühr griff ab 1968 und betrug 60.000 bis 400.000 MDN je Hekter bei Ackerland und 30.000 bis 150.000 MDN bei Forsten und Holzungen. Die Verordnung befreite den Wismut-Bergbau, die NVA und den Eigenheimbau von den Zahlungen. Es hätte den Grundsätzen des Sozialismus widersprochen, wären die Gebühren dem vorherigen Besitzer zugeflossen. Die Gebühr war vielmehr eine Art Transaktionssteuer und floss in einen Sonderfonds des Volkswirtschafts- und Staatshaushaltsplans. Von dort gingen sie in die Neulandgewinnung, Rekul­ tivierung, Melioration, aber auch an Betriebe, deren Betriebsgelände nachweislich zu klein geworden war. Sie mussten belegen, dass eine Flächenausdehnung nicht zu Lasten der Produktivität ging, sondern der Output im Zuge der Betriebserweiterung stieg. Am 28. Mai 1968 erließ der Landwirtschaftsrat die ergänzende »Durchfürhungsbestimmung zur Bodennutzungsverordnung bezüglich der Wirtschafts­ erschwernisse«.190 Die Bestimmung regelte den »Schadenersatz wegen Beschränkung der Nutzung oder Entzug von Bodenflächen […] durch nicht landwirtschaftliche Nutzer« und stand damit in der Tradition des Bodenschutzes. Allerdings konnte damit – und das Staatliche Vertragsgericht hat dies im oben ausgeführten Urteil getan  – auch gegen eine Einschränkung der Nutzung aufgrund von Immissionen vorgegangen werden. § 4 erlegte allerdings den Landwirtschaftsbetrieben eine strenge – »soweit wie möglich« – Anpassungspflicht auf. Eine »Lizenz zum Gelddrucken«, wie U ­ ekötter die gesamtschuldnerische Haftung für die Landwirte nannte, war die Bestimmung also nicht.191 Die StFB konnten nach § 41 die Aufwendungen für Hiebsunreife, Nutzungs­ ausfall und dauerndes Holzleerhalten geltend machen. 189 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Verordnung über die Einführung einer Bodennutzungsgebühr zum Schutz des land- und forstwirtschaftlichen Bodenfonds – Verordnung über Bodennutzungsgebühr –, 15.6.1967, in: Gbl. DDR II 71, 487–493. 190 Der Vorsitzende des Landwirtschaftsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Erste Durchführungsbestimmung zur Bodennutzungsverordnung  – Ausgleich der Wirtschaftserschwernisse –, 28.5.1968, in: Gbl. DDR II 56, 295–305. 191 ­Uekötter, Rauchplage, 239.

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Die Verordnungen zur Bodennutzung waren die ausführlichsten in den 1960er Jahren. Das Beispiel zeigt, dass auch in der DDR die Einsicht reifte, die grundlegenden Umweltmedien effektiver zu schützen. Dabei griff die in der Logik des NÖSPL zu bewertende Bodenutzungsgebühr auf Marktmechanismen zurück: Ein System aus Strafzahlungen sollte Investitionsmaßnahmen anregen. Ein entscheidender Punkt, der in allen besprochenen Gesetzen zwischen den Zeilen mitklingt und die fast schon naiv anmutende Auslassung monetärer Regelungen in der Bodennutzungsverordnung von 1964 erklärt, ist eine damals noch nicht näher benannte Form von Einsicht. Füllenbach bemerkte aber, dass die hier erforderliche Form der Einsicht – er hatte die Vokabel Umweltbewusstsein bereits zur Verfügung – in der DDR nur schwach ausgeprägt war.192 Die Karriere des Begriffs Umwelt und seiner Komposita wird im folgenden Kapitel ausgeführt. Im Sprachgebrauch der DDR existierte der alte, nicht genau abgegrenzte Begriff Landeskultur. Die DAL hatte versucht, ihn zu operationalisieren und definierte ihn 1965 als [e]in System gesellschaftlicher Maßnahmen zur planmäßigen Erschließung, Verbesserung und Mehrung der Naturschätze und natürlichen Produktionsgrundlagen Boden, Wasser, Luft, Pflanzen- und Tierwelt eines Landes mit dem Ziel einer optimalen, standortgerechten und landschaftsgemäßen Dauernutzung der Kulturlandschaft.193

In dieser Definition schwingt eine Einschränkung der von Marx angenommenen unbeschränkten Reproduktionsfähigkeit der Natur mit. Mitte des 20.  Jahrhunderts waren die Einwirkungskräfte des Menschen bereits soweit angewachsen, dass ihnen mit landeskulturellen Maßnahmen begegnet werden musste, um die »Dauernutzung« zu gewährleisten. Die Definition der DAL steht damit auch in einer Linie mit Lingner, der ein langfristiges Gleichgewicht der Naturnutzung mit der größtmöglichen Wohlfahrtswirkung anstrebte. Im Vergleich zur Krisenzeit von 1953 wähnte sich die DDR nun in einer Position der Stärke. Die Urteilsbegründung des Staatlichen Vertragsgerichts gab einen Einblick in die optimistische Stimmung, die in den 1960er Jahren herrschte. Man wähnte die Zeit der kriegs- und nachkriegsbedingten Zwänge vorüber und wollte endlich gestalten. Lingners Pläne hatten auch 1965 keine Chance, umgesetzt zu werden, aber im SED- und Staatsapparat hatte ein Umdenken eingesetzt. Die Regelung von Einzelfällen  – Bodennutzungsverordnung hier, Maßnahmen zur Luftreinhaltung dort – stand im Vordergrund. Eine hinter allen Maßnahmen stehende Koordiniation oder Verknüpfung, eine verbindende Idee, ließ sich noch nicht erkennen.

192 Füllenbach, Umweltschutz, 113. 193 BArch DK 107/2674 Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften, Forschungsgemeinschaft Rauchschäden, Internes Schreiben der DAL vom 9.1.1965.

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Bereits 1958 hielt eine Denkschrift als Kernaufgabe der Landeskultur fest, zu verhindern, dass Eingriffe in die Landschaft zu einer Schädigung der Produktionsgrundlagen führen und sich schädlich »auf die Gesundheit des Menschen auswirken«.194 Hermann Meusel bezeichnete dann auch die Landeskultur als »Sparkasse einer weitsichtigen Wirtschaft«.195 Die Landeskultur spielte für die Forstwirtschaft, dem Produzenten eines der wichtigsten heimischen Rohstoffe, eine immer größere Rolle. 1955 hatte der Leiter der Abteilung Landeskultur und Naturschutz im Amt für Wasserwirtschaft, Henkel, dem Wald in »klimatischer und wasserwirtschaftlicher Hinsicht eine besondere Bedeutung« zuerkannt.196 Diese Aufgabe werde durch die Rauchbeeinflussung beeinträchtigt. Zudem entstehe dadurch ein ungünstiger »Einfluß auf das Leben der Bevölkerung«. Zwei Aufgaben bekam der Wald über die Rohholzbereitstellung zugeschrieben. Die Bedeutung in Bezug auf den Wasserhaushalt war lange bekannt und akzeptiert. Neu war die Betonung des Erholungswertes des Waldes. 1961 prophezeiten die drei Eberswalder Forstwissenschaftler Egon Wagenknecht, Otto Ay und Alexis Scamoni, dass die Bedeutung der landeskulturellen Leistungen der Wälder noch steigen werde, weil das Erholungsbedürfnis der Bevölkerung zunehme.197 Die gleiche Entwicklung untersuchte der Tharandter Forstökonom Gerhard Breithaupt. Er versuchte die landeskulturelle Leistung der Wälder zu monetarisieren. Die Erholungsleistung des Waldes habe eigentlich keinen Wert, aber sie diene der Volksgesundheit und erhöhe die Arbeitsproduktivität. Den durch Luftbelastung angerichteten Schaden fasste er weiter als bisher und zog die in der Vergangenheit angefallenen Kosten für Wegenetz oder Parkplätze in seine Berechnungen mit ein.198 Breithaupts Bemühungen reihen sich ein in die Versuche, den Wert des Waldes über seinen Holzbestand hinaus zu erhöhen. Der Wald wurde zu einem wichtigen Freizeitort und die Frage, ob damit auch eine geänderte Bewirtschaftung erfolgen sollte, wurde in der DDR durchaus un 194 Der Verfasser der Denkschrift steht nicht fest. Sie liegt heute im Bestand der Staatlichen Plankommission. Denkbar ist eine Verfasserschaft der Abteilung Landeskultur und Naturschutz beim Amt für Wasserwirtschaft oder Hermann Meusels. BArch DE 1/3175 Staatliche Plankommission, Aufgaben der Landeskultur im Rahmen der Gebietsplanung und Vorschläge für ihre fachliche Vertretung. 23.1.1958, pag. 1–3. 195 Hermann Meusel, Probleme der Landeskultur im Zeitalter der Technik, in: Berichte und Vorträge der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften zu Berlin 3, 1957, 97. 196 BArch DE 1/3819 Staatliche Plankommission, Arbeitsgruppe Landschaftsschäden, Zusammenstellung der Grundlagen für den Plan zur Behebung der Landschaftsschäden vom 21.4.1955. 197 Anonymus, Das Waldbild der Zukunft, in: Natur und Heimat 10, 1961, 491–497. 198 Gerhard Breithaupt, Die landeskulturellen Leistungen der Forstwirtschaft und die Problematik ihrer Bewertung und ökonomischen Erfassung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 16, 1967, 1585–1589 und UA der TUD, Sekt 21 603, Bereich Forstökonomie, Abschlußbericht, Wertbestimmung landeskultureller Leistungen der Forstwirtschaft. 15.12.1969.

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terschiedlich beantwortet. Pniower hatte sich 1952 über die »Stangenäcker« beschwert, der Generalforstmeister Horst Heidrich sah darin 1969 allerdings kein Problem. Für ihn hatte die Rohholzproduktion Priorität, womit er auf einer Linie mit seinem Amtskollegen im Landwirtschaftsrat, Gerhard Grüneberg, lag. Ein vernünftig gepflegter Wirtschaftswald übernehme automatisch landeskulturelle Aufgaben.199 Seit 1956 gab es in der DDR drei Bewirtschaftungsgruppen: Schutzwälder, Schon- und Sonderforsten sowie Wirtschaftswälder. Die Schutzwälder, die allein nach Maßgaben der Landeskultur und des Naturschutzes betreut wurden, bedeckten nie mehr als ein Prozent der Waldfläche. Den Löwenanteil machten die Wirtschaftswälder mit weit über 85 Prozent aus. Erst Ende der 1980er sank ihr Anteil zugunsten der Schon- und Sonderforsten. Wald war auch in der DDR nicht gleich Wald, er bedurfte abhängig von seiner Zusammensetzung, seinem Standort und seiner Immissionsbeeinflussung unterschiedlicher Aufmerksamkeit und Bewirtschaftung. Deutlich wird dies in einem Vergleich der beiden Rauchschadengebiete Dübener Heide und Oberes Erzgebirge. Neue Schwerpunkte der Rauchschadenforschung 1956 schätzte Zieger die rauchgeschädigte Fläche in der DDR auf 10.000 bis 15.000 ha. Der Schwerpunkt der Schäden lag im Lee des Mitteldeutschen Industriegebiets und des Kraftwerks Zschornewitz und betraf primär das größte zusammenhängende Waldgebiet der Region, die Dübener Heide. Es war also folgerichtig, hier mit der Großraumdiagnose anzusetzen und die entsprechenden Methoden zu entwickelen. Die Charakteristika der Region sind ein flaches Relief und ein überwiegender Kiefernbestand. Die Immissionlast war bei westlichen Windrichtungen beständig, erreichte aber in den 1960er Jahren einen Höhepunkt. Danach kam es im »Größenwachstum der Kraftwerke und der Industrie zu einem gewissen Stillstand«.200 Die Forstwissenschaft begegnete den Schäden durch umfangreiche Düngungsversuche ab 1963.201 Ein Forschungsabschlussbericht von Däßler und Lux aus dem Jahr 1976 bescheinigte der Dün 199 Horst Heidrich, Die Bedeutung des Waldes und die Aufgaben der Forstwirtschaft bei der Lösung der landeskulturellen Aufgaben. Eröffnung der Woche des Waldes und Naturschutzwoche am 11. Mai 1969 in Zwickau durch den Generalforstmeister der Deutschen Demokratischen Republik Genossen Horst Heidrich, in: Sozialistische Forstwirtschaft 19, 1969, 206–208, 207. 200 Günther Flemming, Rechnerische Kartierung von Schwefeldioxyd-Relativwerten im Industriegebiet Niederlausitz. 17. Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt, in: Angewandte Meteorologie 5, 1965, 137–140, 137. 201 BArch DF 4/50206 Institut für Pflanzenchemie und Holzforschung, Jahresbericht des Institutes für Pflanzenchemie der Fakultät für Forstwirtschaft Tharandt der Technischen Universität Dresden. 7.2.1964, pag. 3.

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gung einen bemerkenswerten Erfolg.202 Allerdings fiel diese Bewertung in eine Zeit, da die DDR vermehrt Erdöl und -gas im Mitteldeutschen Industriegebiet verbrannte, um die Immissionsbelastung zu senken. In der Summe bewertete eine Analyse des Zentrums für Umweltgestaltung von 1984 die Düngeversuche ausgesprochen positiv: In der Dübener Heide nördlich von Leipzig und in der Niederlausitz, in denen vor ca. 20 Jahren außerordentlich starke Forstschäden vorhanden waren, ergaben nach der über 20 Jahre durchgeführten Stickstoffdüngung eine Verbesserung des Gesundheitszustandes des Waldes um etwa eine Schadstufe.203

Zwar galten 77 Prozent der Dübener Heide als rauchgeschädigt, davon rund ein Drittel als Schadzone I, aber diese Zahlen waren stabil oder verbesserten sich sogar leicht.204 Ähnlich war die Situation in der Niederlausitz. Das Gebiet um Cottbus war ein traditionelles Braunkohle-Abbaugebiet und spielte in den Planungen der SED eine entscheidende Rolle. Lingner wies im Rahmen der Landschaftsdiagnose darauf hin, dass die Niederlausitz einer der »Schwerpunkte der neuen Industrie- und Städteplanung unserer Republik« sei.205 Eine erste Schadenserhebung 1963 des Institutes für Pflanzenchemie ergab lediglich kleinere lokale Schädigungen. In den Jahren darauf gingen dann eine Reihe von Großkraftwerken in Betrieb oder wurden ausgebaut: Lauchhammer (Kraftwerk des VEB Braunkohleveredlung), Schwarze Pumpe (1959), Vetschau (1964), Lübbenau (1959), Boxberg (1966) und Trattendorf (1955). Das Kraftwerk Hagenwerder (1958) lag zwar in der Lausitz, allerdings direkt an der polnischen Grenze. Es hatte für die Immissionsbelastung in der Niederlausitz nur eine nachrangige Bedeutung. 1976 kam noch das Kraftwerk Jänschwalde hinzu, das 1989 der größte SO₂-Emittent der DDR war. Ab 1966 machten sich dann die ersten Schäden im Umfeld der Großemittenten bemerkbar.206 Die Rauchschadensituation gestaltete sich dennoch wesentlich günstiger als im Mitteldeutschen Industriegebiet. Zum einen enthielt die Lausitzer Braunkohle nur etwa halb soviel Schwefel wie die aus der Leipzi 202 UA der TUD, Sekt 21 640, Bereich Pflanzenchemie, Abschlußbericht, Abschlußbewertung von Düngeversuchen in rauchgeschädigten Kiefern Stangenhölzern der Dübener Heide. 23.7.1976, pag. 1–3. 203 BArch DK 5/1903 Zentrum für Umweltgestaltung, Schwerpunkte der gegenwärtigen Umweltbelastung und Tendenzen. (Thema Prognose 2005). 1. Entwurf. Cottbus. 1984, pag. 10. 204 UA der TUD, Sekt 21 noch nicht erfasst, Bereich Pflanzenchemie, Immissionsschadgebiete der DDR. 31.3.1980, pag. 13. 205 Lingner, Auswertung, 570. 206 W. Ebert, Günter Hoffmann, D. Richter, Stand des Auftretens von Forstschäden im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und Prognose für das Jahr 1967, in: Sozialistische Forstwirtschaft 17, 1967, 213–218, 214.

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ger Tieflandbucht und zum anderen wurden alle Kraftwerke in der Lausitz mit hohen Schornsteinen gebaut, die einen großen Anteil der Emissionen auf polnisches Gebiet verfrachteten. Die SO₂-Belastung in der Lausitz lag mehrheitlich unter 100 µg/m³. Die Tharandter Forstwissenschaftler waren zudem in die Projektierung der Kraftwerke eingebunden. Sie konnten mit den während der ersten Großraumdiagnose gewonnenen Erfahrungen die Schadentwicklung prognostizieren und den ansässigen StFB frühzeitig Bewirtschaftungsratschläge geben. Ein großer Teil der bedrohten Waldflächen wurde ohnehin vom Tagebau überbaggert, und an den jungen Beständen auf den rekultivierten Kippen zeigte sich noch keine Beeinflussung. Die StFB der betroffenen Region forderten eine Großraumdiagnose ähnlich der im Raum Halle-Leipzig, um Schadensersatzansprüche gegenüber den Kraftwerken durchsetzen zu können. Däßler und Lux führten sie durch und legten 1974 den Abschlussbericht vor. Die Überschneidungen mit der Situation im Mitteldeutschen Industriegebiet waren auffällig. In beiden Gebieten gab es einen linearen Zusammenhang zwischen Emissionen und Waldschäden, für beide Regionen galt die Faustregel, je näher ein Waldgebiet am Emittenten lag, desto kränker war es.207 Allerdings bewegte sich das Geschehen insgesamt auf einem niedrigeren Schadniveau. Von den 57.500 Hektar Schadfläche gehörte der größte Teil zur Rauchschadenzone (RSZ) III, nur im direkten Umfeld der Kraftwerke traten die Rauchschadenzonen I und II auf.208 Die Forstwirtschaft hatte die Schäden im Mitteldeutschen Industriegebiet und in der Niederlausitz mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln weitgehend im Griff. Über die Bestandsumwandlung und Düngung konnten die Bestände stabil gehalten oder deren Gesundheitszustand sogar leicht verbessert werden. Die DDR demonstrierte ausländischen Besuchern, darunter auch Mitgliedern des Deutschen Bundestages, gerne die Dübener Heide als Beispiel einer gelungenen Waldbewirtschaftung unter Immissionsbeeinflussung. Auch aus wissenschaftlicher Sicht waren Dübener Heide und Niederlausitz weitgehend ausgereizt. Zum Schwerpunkt der Forschung wurde das Erzgebirge. Die Abbildung 5 zeigt wissenschaftliche Publikationen, die sich eindeutig einem Schadgebiet zuordnen lassen. Die Fokkussierung der Forstwissenschaft auf das Erzgebirge in den Jahren nach 1966 ist deutlich zu erkennen. In den 1960er Jahren hatte sich die Rauchschadenfläche rasant ausgeweitet, von 85.000 ha 1961 auf 200.000 ha 1967. Ein Teil der Fläche entfiel auf die dargestellte Entwicklung in der Lausitz, das dynamischste Schadgebiet lag aber an 207 UA der TUD, Sekt 21 532 Bereich Pflanzenchemie, Forschungsabschlußbericht, Großraumdiagnose Niederlausitz. 28.3.1974, pag. 1. 208 BArch DK 1/25102 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Zusammenarbeit mit der CSSR: Immissionsschäden, Brief der Abteilung Forstwirtschaft des RdB Dresden an das MLFN vom 1.2.1984.

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Entwicklungstendenzen in Wald und Gesellschaft   9

1950–1965 1966–1980

8 7 6 5 4 3 2 1 0

Mitteldt. Gebiet

Lausitz

Erzgebirge

Abb. 5: Zahl der Publikationen mit Bezug zu einem Schadgebieten im zeitlichen Vergleich

der Grenze zur ČSSR. Eine Reihe von Gründen erklärt, warum das Erzgebirge ab 1965 ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Forstwissenschaft und Politik rückte. Der erste Grund war ein wirtschaftlicher, denn eine mit Fichte bestockte Fläche trägt etwa den vierfachen Holzwert eines Kiefernbestandes. Jeder Hektar Schaden im Erzgebirge bedeutete also ein Vielfaches an Schadsumme. Zweitens waren die Methoden und Ergebnisse der Großraumdiagnose nicht auf die Situation im Erzgebirge übertragbar. Die zerklüftete Topographie und die besondere meteorologische Situation erlaubten keine eindeutigen Vorhersagen. Zwar bestand ein Zusammenhang zwischen dem Ausbau der Industrie in Nordböhmen und der Zunahme der Immissionsbelastung, aber die Verbindung war weniger linear und direkt.209 Die hohen SO₂-Werte im Winter deuteten auf eine akute Schädigung hin, wobei man die Assimilation der Forstpflanzen im Winter bisher vernachlässigt hatte. Zudem brachten schwere Frostperioden eine latente Schädigung der Bestände mit einem Schlag zum Vorschein. Die Wiederaufforstung mit neuen, rauchresistenteren Arten war unter den rauen klimatischen Bedingungen des Oberen Erzgebirges ungewiss. Drittens führte einfach die Tatsache dazu, dass sich die Schäden bis 1989 immer weiter ausbreiteten  – vor allem auch an ihrem extremen Ende – zu der starken Fokkusierung auf das Erzgebirge. Zwischen 1969 und 1977 erhöhte sich die Schadfläche im Bezirk Karl 209 Günther Flemming, Herbert Lux, Die SO₂-Kartierung und ihre landeskulturelle Anwendung, in: Sozialistische Forstwirtschaft 23, 1973, 87–88, 87.

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Marx-Stadt von 5400 ha auf 70.000 ha, im gesamten Erzgebirge verzehnfachte sich die Ausdehnung der RSZ I bis 1980 auf 21.000 ha. Die Schäden erreichten in den 1970er Jahren solche Ausmaße, dass die Wissenschaft eine neue Schadstufe einführen musste.210 Für die RSZ I extrem hieß es lapidar: »Der Fichtenanbau entfällt für die nächste Waldgeneration.«211

2.3 Zwischenfazit Dreh- und Angelpunkt der 1960er Jahre war die Wirtschaftsreform des NÖSPL. Der Bau der Mauer eröffnete der SED-Spitze um Ulbricht die Möglichkeit, die Planwirtschaft mit Marktinstrumenten anzureichern. Gleichzeitig bedeutete der Mauerbau das Ende des einheitlichen deutschen Arbeitsmarktes für Akademiker. Das Beispiel der Forstfakultät Tharandt hat gezeigt, wie die SED zunehmend auch die hochspezialisierten Fächer mit einem langen Ausbildungsgang weitestgehend ihrer Kontrolle und Anleitung unterwerfen konnte. Hans-Günther Däßler profitierte dabei von beiden Zuständen. Seine Berufung zum Dozenten erfolgte vor dem 13. August 1961, seinem Konkurrenten in der Auseinandersetzung um die Übernahme der Rauchschadenforschung wurde sie danach mit Hinweis auf seine bürgerliche Herkunft verweigert. Nach dem Tod Erich Ziegers 1960 stritten sich die Institute in Tharandt um den von ihm initiierten lukrativen Forschungsauftrag der Großraumdiagnose. Aus dieser Auseinandersetzung ging das Institut für Pflanzenchemie als Sieger hervor, das bis 1989 die Rauchschadenforschung der DDR dominierte. In der Folge löste sich der Forscherkreis an Ziegers Lehrstuhl teilweise auf und die Rauchschadenforschung musste 1962/63 einen personellen Neuaufbau beginnen. Zieger hatte viele seiner Projekte über persönliche Netzwerke im MLF und in der DAL angestoßen. Däßler besaß keinen Zugang mehr zu diesen Netzwerken. Das MLF wurde 1963 aufgelöst und durch einen von der SED dominierten Landwirtschaftsrat ersetzt. Allerdings profitierte Däßler mit dem 1963 implementierten NÖSPL von einem neuen strukturellen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Walter Ulbricht sah die Wissenschaft als ein wichtiges Instrument an, das bei der angestrebten Modernisierung der DDR helfen sollte. Däßler konnte diese strukturellen Möglichkeiten nutzen und sicherte der Rauchschadenforschung über Denkschriften und Artikel Forschungsgelder. Gleichzeitig gelang es ihm teilweise, die Ergebnisse der Rauchschadenforschung in das politische System einzubringen. Die Politik näherte sich der Thematik unter 210 UA der TUD, Sekt 21 noch nicht erfasst, Immissionsschadgebiete der DDR, pag. 1. 211 Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Richtlinie für die Bewirtschaftung immissionsgeschädigter Fichtengebiete. Hrsg. v. Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. 26.11.1985, 9.

Zwischenfazit  

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dem Gesichtspunkt von Effizienzüberlegungen. Damit war das Eingeständnis verbunden, dass Umweltmedien knapp sind. Allerdings erwies sich gerade die Preisgestaltung des NÖSPL als dessen größte Schwachstelle. Die Marx’sche Wertlehre wurde lediglich modifiziert aber nicht grundsätzlich verworfen. Die Preise der Waren und Rohstoffe spiegelten auch während des NÖSPL nicht deren tatsächliche Knappheit wider. Die Bodennutzungsgebühr war dabei ein erster Versuch, die Nachfrage über ›monetäre Hebel‹ bewusst zu lenken. Die Bodennutzungsverordnungen sind als Teil  einer Intensivierungsstrategie zu werten und noch nicht als Element eines koordinierten Schutzes und Erhaltes der natürlichen Umwelt. Däßler nutzte den Handlungsspielraum, den ihm das NÖSPL bot, geschickt aus. Mit dessen Ende nahm allerdings sein Einfluss ab. Nach 1968 rückte die Wissenschaft tendenziell weiter weg von den politischen Entscheidungszentren, und die Tatsache, dass Däßler kein Mitglied der SED war, trug dazu bei. Die Umsetzung der 3. Hochschulreform im gleichen Jahr verstärkte die ›Verinstanzung‹ der DDR, die auch zu einer Erstarrung führte. Formal stieg die Zahl der Gremien, Arbeitskreise, Kommissionen und umgesetzten Finanz­mittel an. Gleichzeitig nahm die Verwaltungsbelastung der Wissenschaftler zu und die Inhalte gelangten immer langsamer von der Basis in den politischen Apparat. Der steigende Gegensatz zwischen Handlungsnotwendigkeit und eingeengtem Handlungsspielraum ließ in der Rauchschadenfrage am Ende der 1960er Jahre ein Vakuum entstehen. Zu Beginn der 1970er Jahre fielen die Tharandter Wissenschaftler als eigenständige Akteure zunehmend aus. Inhaltlich wandte sich die Rauchschadenforschung in den 1960er Jahren dem Erzgebirge zu, das sich immer mehr zu einem ›hot spot‹ entwickelte. Früher als in anderen Ländern erreichten die Waldschäden in der DDR ein Gebiet, das als idealtypische Urlaubsregion galt. Mit dem Erzgebirge verbanden die Bürger der DDR Ruhe und Erholung. Die alte Gleichung, dass Bewohner von Industriegebieten ihren gutbezahlten Arbeitsplatz mit Luftbelastung ›erkauften‹, galt für das Erzgebirge nicht. Profit und Leid lagen in diesem Fall 30 Kilometer auseinander und waren zudem durch eine Staatsgrenze getrennt. Das Erzgebirge stand auch für die internationale Dimension der Luftverschmutzung, mit der sich die DDR ebenfalls früher als das übrige Europa auseinandersetzen musste. Bereits im Februar 1966 setzte die DDR eine Arbeitsgruppe Rauchschäden im Wirtschaftsausschuss mit der ČSSR durch, in der auch Däßler und Pelz mitarbeiteten. Zur treibenden Kraft wurde allerdings zunehmend der politische Apparat.

3. Die 1970er Jahre – Aufbruch und Stagnation

»Es reich(el)t uns!«, plakatierten Demonstranten im Wendeherbst 1989. Die Losung nahm Bezug auf die als desolat empfundene Umweltsituation und benannte einen Verantwortlichen: Hans Reichelt, den Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Wie kein Zweiter stand er in den Augen der DDR-Bevölkerung für das Versagen der DDR-Umweltpolitik. Warum aber gründete die DDR 1972 – als zweiter Staat in Europa – ein Umweltschutzministerium? Diese Frage spielte in der Literatur bisher nur eine nachgeordnete Rolle. Es dominierte die Erfassung des Scheiterns. Innerhalb weniger Jahre erließ die DDR ein umfangreiches und international fortschrittliches Umweltrecht, dennoch verschlechterte sich die Umweltsituation zusehends. Dieser Umstand wirft zwei Fragen auf. Was trieb die SED erstens dazu, ab etwa 1968 ein Thema zum ›issue‹ – um die Terminologie des Arena-Modells aufzugreifen – zu machen, das vorher in der Öffentlichkeit kaum präsent war? Agierte sie hier oder reagierte sie lediglich, etwa auf die Herausforderung des Berichts Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome? Zweitens interessiert die Stellung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft (MUW). Es müssen hier die Handlungsspielräume und finanziellen Kompetenzen, die das Ministerium besaß, vorgestellt und interpretiert werden. Diese sind vor dem Hintergrund der Machtübernahme Erich Honeckers, speziell seinen Vorstellungen von der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, neu zu bewerten. Tatsächlich waren mit der Implementierung einer DDR-Umweltpolitik zahlreiche, sich auch widersprechende Bestrebungen verbunden. Eines der Ziele dieses Kapitels ist es, die Gründung und die Stellung des Umweltministeriums innerhalb des Institutionengefüges der DDR zu beschreiben und zu analysieren. Dabei rückt die Person Hans Reichelt zunehmend in den Mittelpunkt, die auch als Verbindung zu Forstwirtschaft und Waldschäden dient, denn Reichelt war von 1955 bis 1963 Minister für Landund Forstwirtschaft. Für die westlichen Gesellschaften wird das Jahr 1970 als Epochenschwelle beschrieben und die 1970er Jahre als Geburtsstunde der Umweltbewegung ausgelegt. Die Umweltthematik rückte in diesen Jahren verstärkt auf die internationale Agenda, da die Ursachen von Umweltschäden, wie etwa die Luftverschmutzung, nicht auf Staatsgrenzen achten. Die Stockholmer Umweltkonferenz von 1972 bildete den Auftakt für eine Folge von Verhandlungen, in denen länderübergreifend an verbindlichen Regelungen gearbeitet wurde. Hier ist die Rolle zu klären, die die erst 1973 international anerkannte DDR auf den Konferenzen und während der Verhandlungen einnahm. Besonders die

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intern formulierten Ziele sind von Interesse. Schließlich gilt es die Frage zu beantworten, ob sich auch in der DDR Elemente einer Umweltbewegung erkennen lassen, die vielleicht nicht den Charakter einer Epochenschwelle aufweisen, aber ähnlichen Überlegungen und Überzeugungen folgten. Nachdem in den beiden vorhergehenden Kapiteln der Fokus auf Wissenschaftlern lag, rückt nun das politische System in den Mittelpunkt. Dies hat zwei Gründe. Zum einen war es der SED gelungen, mit den Hochschulreformen die Wissenschaft weitgehend ihrer Anleitung und Kontrolle zu unterwerfen. Damit konnten – zweitens – neue Themensetzungen nur noch sehr bedingt aus der Wissenschaft heraus erfolgen, sondern mussten aus dem Staats- und Parteiapparat kommen. Dabei sind vor allem solche Ansätze von Interesse, die das Themenfeld der immissionsbedingten Waldschäden berühren.

3.1 (K)ein Weg nach Stockholm – Die DDR als Vorreiter der europäischen Umweltgesetzgebung? Die DDR sichtbar machen, das war ein großes Ziel der SED unter Ulbricht. Diesem Ziel dienten nicht nur prestigeträchtige Infrastrukturprojekte wie der Bau des Berliner Fernsehturms von 1965 bis 1969, sondern auch die Demonstration von Modernität und Fortschritt auf einem neuen Politikfeld, das Ende der 1960er Jahre auf die internationale Agenda drängte: die Umweltpolitik. Die bisher in der Forschungsliteratur dominierende Darstellung, die Umweltpolitik der DDR sei ein Hilfsmittel Honeckers gewesen, die internationale Anerkennung des zweiten Deutschen Staates zu erreichen, wird dabei im Folgenden kritisch zur Diskussion gestellt.

3.1.1 Durch die Hintertür zum Ziel: Die SED entdeckt die Umwelt Am 8. April 1968 unterzeichnete Walter Ulbricht die neue Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Deren Artikel 15 hielt in allgemeiner Form die Absicht dessen fest, was wenige Jahre später der Terminus ›Umweltschutz‹ zusammenfasste. 1. Der Boden der Deutschen Demokratischen Republik gehört zu ihren kostbarsten Naturreichtümern. Er muß geschützt und rationell genutzt werden. Land- und forstwirtschaftlich genutzter Boden darf nur mit Zustimmung der verantwortlichen Organe seiner Zweckbestimmung entzogen werden. 2. Im Interesse des Wohlergehens der Bürger sorgen Staat und Gesellschaft für den Schutz der Natur. Die Reinhaltung der Gewässer und der Luft sowie der Schutz

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der Pflanzen- und Tierwelt und der landschaftlichen Schönheit der Heimat sind durch die zuständigen Organe zu gewährleisten und darüber hinaus auch Sache jedes Bürgers.1

Der Artikel stand in der Tradition des Artikels 150 der Weimarer Reichsverfassung, der dem Schutz von Denkmälern der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie der Landschaft Verfassungsrang gab.2 Während die Vorgaben der Weimarer Verfassung keinen Niederschlag in Gesetzen fanden, hatte die in Kapitel 2.2 besprochene Bodennutzungsverordnung der neuen Verfassung bereits vorgegriffen. Der Anspruch der Verfassung von 1968 war zudem umfassender und systemischer. Während 1919 nur einzelne, als besonders schutzwürdig angesehene Objekte angesprochen waren, griff 1968 ein übergeordnetes Prinzip. Absatz 2 des Artikels 15 zielte auf die Funktionserhaltung der einzelnen Elemente eines großen Ganzen. Die neue Verfassung war Bestandteil der Binnenlogik einer auf wirtschaftliche Effizienz zielenden Reformperiode. Insofern waren mit der Verfassung, der Bodennutzungsverordnung oder den Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft von 1966 innenpolitische Ziele angesprochen. Auf der wirtschaftspolitischen Ebene der SED hatte sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Umweltmedien knappe Güter sind, die im Produktionsprozess schonend eingesetzt werden müssen. Die gewünschte Ausweitung der Produktion war nur über eine Erhöhung der Produktivität über das jeweilige Umweltmedium zu gewährleisten. Der Artikel 15 wurzelte in der innenpolitisch ausgerichteten Reformpolitik des NÖSPL mit dem Ziel der ökonomischen Leistungssteigerung. Wenige Wochen nach der Unterzeichnung der Verfassung trat der Economic and Social Council der Vereinten Nationen zu seiner 45. Sitzung zusammen. Am 30. Juli 1968 richtete der Rat in der Resolution 1346 (XLV) an die 23. UNVollversammlung die Forderung, eine Konferenz einzuberufen, auf der die Probleme der menschlichen Umwelt thematisiert werden sollten.3 Die Generalversammlung kam dieser Aufforderung im Dezember nach. Die Resolution 2398 (XXIII) »Problems of the Human Environment« beschloss die Einberufung einer internationalen Umweltkonferenz für 1972.4 Damit gewann die Ulbricht’sche Politik der Ressourcenschonung einen internationalen Horizont. 1 Artikel 15, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6.4.1968. 2 Brüggemeier, Natur, Gesundheit, Eigentum, 9. 3 Economic and Social Council (ECOSOC), 1346 (XLV) Question of convening an international conference on the problems of human environment, 30.7.1968, , aufgerufen am 29.11.2011. 4 General Assembly UNO, 2398 (XXIII). Problems of the human environment, 3.12.1968, , aufgerufen am 29.11.2011.

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Während der 24. Tagung der UN-Vollversammlung im Dezember 1969 erklärte sich die DDR dazu bereit, gleichberechtigt an der Umweltkonferenz teilzunehmen, für die mittlerweile Schweden als Austragungsort bestimmt war.5 Die SED-Spitze hatte also sehr schnell das Potential der UN-Resolution für ihre eigenen außenpolitischen Ziele erkannt. Dementsprechend rasch waren dem Versprechen des Artikels 15 Taten gefolgt. Am 5. Februar 1969 fasste der Ministerrat einen Grundsatzbeschluss zur weiteren Entwicklung der Landeskultur. Konkret ging es um die Ausarbeitung eines Landeskulturgesetzes.6 Eine Regierungskommission unter der Leitung von Werner Titel, in der verschiedene Ministerien, aber auch der Kulturbund und die Arbeitsgemeinschaft Landeskultur beim Ministerrat mitarbeiteten, entwarf eine erste Vorlage. Im November 1969 lag dem Staatsrat ein Entwurf vor.7 Im gleichen Jahr diskutierte die Regierung die erste Analyse der Umweltgefährdung in der DDR. Die Studie »Prognose Industrielle Abprodukte und planmäßige Gestaltung einer sozialistischen Landeskultur in der DDR« war der 13. Teil einer von Ulbricht geforderten Prognose über die Entwicklung in allen Teilen der Gesellschaft.8 Verantwortlich dafür war ebenfalls der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates, Werner Titel. Titel, Jahrgang 1931 und Mitglied in der DBD, war seit 1967 Mitglied der Volkskammer und Mitglied im Ministerrat ohne Geschäftsbereich. Traditionell vertrat ein DBD-Repräsentant als Minister für Forst- und Landwirtschaft die Bauernpartei in der Regierung. Bis zur Auflösung des Ministeriums 1963 hatte Hans Reichelt diese Funktion wahrgenommen, anschließend Paul Scholz als Minister ohne Geschäftsbereich. Titel sollte nun in der Regierung die Aufgaben des Umweltschutzes – ab 1969 auch in der DDR so oder »Schutz der natürlichen Umwelt des Menschen« genannt – koordinieren. In Publikationen trat er erstmals in dieser Position in Erscheinung. In der Sozialistischen Forstwirtschaft betonte er die Verantwortung und die Aufgaben, die aus dem Verfassungsauftrag des Umweltschutzes erwüchsen. Die DDR sei internationale Avantgarde, denn im Sozialismus erreiche das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ein neues Niveau. Es gelte nicht mehr länger die Natur vor dem Menschen, son 5 L. Bader, Umweltschutz  – eine universelle Aufgabe, in: Reinhardt, Lütke, Dahlke, Mensch und Umwelt, 4–5, 4–5. 6 BArch DC 20-I/3/715 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zum Bericht über das Ergebnis der öffentlichen Diskussion des Entwurfes des Landeskulturgesetzes. 15.4.1970. 7 E. Hobusch, E. Kaufmann, Gesetzgebung zum Schutz der natürlichen Umwelt in der DDR, in: Reinhardt, Lütke, Dahlke, Mensch und Umwelt, 32–35, 33. 8 Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010 und BArch DC 20/I/3/715 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über die planmäßige Entwicklung einer sozialistischen Landeskultur in der Deutschen Demokratischen Republik. 5.2.1969, pag. 41– 109. Die Numerierung im Bundesarchiv erfolgte hier nach Doppelseiten.

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dern für den Menschen zu schützen.9 Zumindest rhetorisch hatte Titel damit den Übergang vom konservierenden Naturschutz zum systemischen Umweltschutz vollzogen. In der im September 1968 fertiggestellten Prognose über die planmäßige Entwicklung der sozialistischen Landeskultur leitete Titel eine Arbeitsgruppe aus 21 Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen. Juristen, Naturwissenschaftler, Forstwissenschaftler, Biologen und Geographen aus nahezu allen Ministerien, von Betrieben sowie Universitäten und Forschungseinrichtungen waren ab Oktober 1967 an den Arbeiten beteiligt. Die Studie ist mit 118 Seiten umfangreich und inhaltlich erstaunlich elaboriert. Die Auswirkungen der durch die Abwärme der Kernkraftwerke verringerten Zahl von Eis- und Nebeltagen auf die Fauna der betroffenen Flusstäler wurde ebenso erörtert wie die bekannten Probleme von Luftbelastung auf die Gesundheit der Menschen. Die Prognose überrascht mit einer hohen Eindringtiefe in die Problematik, wobei einzelne Problemfelder nicht separiert betrachtet, sondern immer wieder in ihren Wechselwirkungen miteinander verknüpft wurden. Als Grund für die Erstellung der Studie gaben die Autoren die verbreitete laxe Handhabung der Abprodukteproblematik auf allen Ebenen der Betriebe und des Staates an. Auf Dauer führe dies zu unabwendbaren Schäden an Natur und Wirtschaft. Die volkswirtschaftlichen Verluste durch Schäden, Mehraufwendungen und unterbliebene Wertstoffgewinnung aus Abprodukten erreichen in der DDR die Größenordnung von 2 Mrd. M jährlich. Hinzukommen die nicht wägbaren Schadwirkungen auf das Lebensmilieu der Menschen, eine wesentliche Beeinträchtigung der hygienischen Verhältnisse und der Volkserholung sowie der Verunstaltung der Natur.10

Die Naturressourcen ständen nur begrenzt zur Verfügung, und in den Ballungsgebieten der DDR drohe die Endlichkeit bereits das Wachstum zu beschränken. Titel schlug in der Prognose deshalb die Schaffung einer »Ständigen Arbeitsgruppe für sozialistische Landeskultur beim Ministerrat der DDR« vor, die die zukünftigen Maßnahmen organisatorisch absichern sollte. Der Ministerrat bestätigte diesen Vorschlag und berief Werner Titel zum Leiter dieser Arbeitsgruppe, die außer ihm noch fünf wissenschaftliche Mitarbeiter umfasste. Ein halbes Jahr später, im Herbst 1969, wechselte in der Bundesrepublik die Abteilung »Gewässerschutz, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung« vom Gesundheitsministerium in das von Hans-Dietrich Genscher geleitete Ministe 9 Werner Titel, Sozialistische Landeskultur für unsere Menschen. Auszug aus dem Referat des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrates, Dr. Werner Titel, auf der Eröffnungsveranstaltung zur Woche des Waldes und Naturschutzes 1969 in Zwickau, in: Sozialistische Forstwirtschaft 19, 1969, 209–211, 209. 10 BArch DC 20/I/3/715 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Entwicklung, pag. 45.

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rium des Innern, wo sie unter dem Namen »Abteilung Umweltschutz« firmierte, eine Übersetzung des englischen Begriffs »environmental protection«.11 Die Umwelthistorikerin Ute Hasenöhrl sieht hierin den Anfangspunkt einer neuen Art von Politik, denn Umweltschutz ziele nicht auf den Erhalt einzelner Biotope oder Ökosysteme ab, sondern auf die grundlegenden Medien Wasser, Luft und Boden. Mittels Grenzwerten solle das dauerhafte Funktionieren der Öko­ systeme gesichert werden.12 Dem sei die Definition für sozialistische Landeskultur aus dem Titel-Papier von 1968 gegenübergestellt: Unter sozialistischer Landeskultur wird ein System gesellschaftlicher Maßnahmen zur planmäßigen Erhaltung und Verbesserung der natürlichen Lebens-und Produktionsgrundlagen – Boden, Wasser, Luft, Pflanzen- und Tierwelt – verstanden, das im Interesse der Bürger und der kontinuierlichen Entwicklung der Volkswirtschaft eine optimale Gestaltung des natürlichen Lebensraumes zum Ziele hat.13

Ende der 1960er Jahre gab es in beiden deutschen Staaten, und zwar auf der Ebene der Regierungen, unabhängig voneinander erste Ansätze, die Natur effektiver zu schützen. Diese Ansätze gingen über die klassischen Ziele des Naturschutzes hinaus und nahmen die Metaebene in den Blick, die grundlegende Lebensfähigkeit des Systems zu bewahren. In Westdeutschland liefen diese Bestrebungen unter dem angelsächsischen Lehnwort Umweltschutz, während in Ostdeutschland der etwas sperrigere Ausdruck Landeskultur galt. Inhaltlich waren beide Konzepte allerdings sehr ähnlich. Auffällig ist, dass in beiden Staaten die Notwendigkeit von Umweltschutzmaßnahmen in einem geplanten Topdown-Prozess der Bevölkerung nahegebracht werden sollte. Die DDR war allerdings schneller darin, die Strömungen in Gesetzesform zu fassen.

3.1.2 Das Landeskulturgesetz Am 14. Mai 1970 verabschiedete die Volkskammer das »Gesetz über die planmäßige Gestaltung der sozialistischen Landeskultur in der Deutschen Demokratischen Republik«, kurz Landeskulturgesetz. Das Gesetz fand in der westlichen Welt ein lebhaftes Echo, schließlich war es das zweite seiner Art in Europa. Die Bundesrepublik folgte erst 1976 mit dem Bundesnaturschutz-

11 Zu den Einzelheiten siehe Brüggemeier, Tschernobyl, 208–209 und Hans-Peter Vierhaus, Umweltbewußtsein von oben. Zum Verfassungsgebot demokratischer Willensbildung. Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1994. Berlin 1994, 104–107. Vgl. auch U ­ ekötter, Ende, 91. 12 Ute Hasenöhrl, Zivilgesellschaft und Protest. Eine Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung in Bayern 1945–1980. Göttingen 2011, 36. 13 BArch DC 20/I/3/715 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Entwicklung, pag. 46.

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gesetz.14 Zeitgenössische, westdeutsche Autoren urteilten 1973, dass die Regelungen des Landeskulturgesetzes »zweifellos als sehr fortschrittliche, auf die Bedingungen einer modernen Industriegesellschaft zugeschnittene Rechts­ normen zu bezeichnen [seien], mit denen ein reichhaltiges Instrumentarium zum Schutze der Umwelt vor Schädigungen der verschiedensten Art geschaffen worden ist«.15 Kloepfer resümierte 1994, dass sich die DDR »immerhin als einer der ersten Staaten in Europa ein von seiner Konzeption her umfassendes und von seiner Intention her damals durchaus ökologisch fortschrittliches Umweltgesetz« geschaffen hatte.16 Von seinem Aufbau her war das Landeskulturgesetz ein Rahmengesetz, das in groben Schnitten die Konturen vorgab, die in einzelnen Durchführungs­ verordnungen (DVO) stärker herausgearbeitet wurden. Gemeinsam mit dem Landeskulturgesetz wurden vier DVO in Kraft gesetzt, etwa die 1. DVO »Schutz und Pflege der Pflanzen- und Tierwelt und der landschaftlichen Schönheiten« und die 4. DVO »Schutz vor Lärm«. Die Präambel des Gesetzes führte die grundlegenden Ziele an. Es ging zunächst um die »Schaffung einer der sozialistischen Gesellschaft würdigen Umwelt«, die als »Grundlage zur Sicherung eines kontinuierlichen Wachstums der Volkswirtschaft und zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bürger« dient. Die Motivation des Gesetzes ging über das passive Schützen der Natur hinaus, es setzte sich das planmäßige Gestalten zum Ziel. Erreichbar war dies nur durch das Überschreiten alter Ressortgrenzen. Eine DDRVeröffentlichung von 1970 bekannte, dass enge Zuständigkeitsgrenzen bisher eine »komplexe Systementwicklung« verhindert hätten.17 Damit kam Reinhold Lingner, 13 Jahre nachdem er das »Ressortdenken« für das Scheitern der Landschaftsdiagnose verantwortlich gemacht hatte, zu seinem Recht.18 Dies unterstreicht noch einmal das innovative Potential der Landschaftsdiagnose. Das Gesetz sprach alle Umweltmedien an, wobei allein allgemeine Ansprüche formuliert wurden, ohne Details zu regeln. Allerdings schuf es die Möglichkeit, ökonomische Anreize für den effizienten Einsatz der Umweltressourcen zu setzen. Es berücksichtigte damit die Externalitäten, die aus deren Nutzung enstehen.19 In den §§ 22 und 23 ging es explizit auf den Schutz der Wälder ein. 14 Andreas Dix, Rita Gudermann, Naturschutz in der DDR. Idealisiert, ideologisiert, instrumentalisiert?, in: Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.), Natur und Staat. Bonn-Bad Godesberg 2006, 535–624, 570. 15 Höhmann, Seidenstecher, Vajna, Umweltschutz, 116–117. Auch von Berg beurteilte das DDR-Umweltrecht als »vorbildlich«. Michael von Berg, Zum Umweltschutz in Deutschland, in: Deutschland Archiv 17, 1984, 374–383, 376. 16 Kloepfer, Umweltrecht, 140. 17 Karl-Heinz Christoph, Zur Bedeutung des Landeskulturgesetzes, in: Staat und Recht 19, 1970, 1453– 1468, 1458. 18 Vgl. S. 63. 19 Dix, Gudermann, Naturschutz, 573.

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Sie seien eine »bedeutende Rohstoffquelle und wichtiger landeskultureller Faktor für die Gesunderhaltung und Erholung der Bürger sowie für den Landeshaushalt«. Diese Formulierungen rückten etwas ab von der Auffassung, die Wälder als reine Rohstofflieferanten zu betrachten. Zwar gab es die Vorgabe, den »größtmögliche[n] Zuwachs der Holzvorräte« anzustreben, aber der Gesetzgeber billigte auch anderen Gruppen Anspruchsrechte am Wald zu. Eng verzahnt mit den Fragen des Waldes war Abschnitt VI »Reinhaltung der Luft«. Ebenso wie der Schutz des Waldes diene auch die Reinhaltung der Luft der »Gesunderhaltung der Bürger« und der »Verbesserung ihrer Arbeitsund Lebensbedingungen«. Stärker als in jedem anderen Gesetz der DDR zuvor wurde hier der Zusammenhang von Waldzustand und Gesunderhaltung der Menschen betont. Der Schlüssel zu beiden lag in einer konsequenten Luftreinhaltepolitik. Allerdings war diese 1970 noch nicht umzusetzen, weshalb festgeschrieben wurde, dass die Land- und Forstwirtschaft »durch langfristige Anpassungsmaßnahmen die schädlichen Auswirkungen noch unvermeidlicher Luftverunreinigungen auf die land- und forstwirtschaftliche Produktion zu verringern« hätten. Diese Einschränkung war aus den Urteilen des Staatlichen Vertragsgerichtes und der DB zur Bodennutzungsverordnung von 1968 bereits bekannt und dem Umstand geschuldet, dass die DDR noch über kein Verfahren verfügte, Schwefeldioxid mit vertretbarem Aufwand aus den Rauchgasen zu filtern. Zwei wesentlich größere, weil in der Logik des Landeskulturgesetzes angelegte, Schwachpunkte waren die mangelnde Kompetenzabgrenzung und der Vorrang wirtschaftlicher Interessen. Die Gesetzgebung war zwar vorbildlich, aber es existierte lediglich ein schwacher und stark zersplitterter exekutiver Apparat, der für die Umsetzung, Durchführung, Einhaltung und Kontrolle der Regelungen sorgte.20 Zudem bildete § 3, Absatz 3 das Einfallstor für ein ökonomisches Primat: Der Ministerrat hat in seiner Verantwortung für die zentrale staatliche Planung und Leitung zu gewährleisten, daß bei unterschiedlichen Standpunkten zur Durchführung grundsätzlicher landeskultureller Aufgaben den gesamtgesellschaftlichen Interessen der Vorrang gegeben wird.

Damit verfügte die SED über ein gewichtiges Argument, in jedem Konflikt ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen, sie reservierte sich den ›längeren Hebel‹. Dies war nötig, weil die SED die Verantwortung für den Umweltschutz teilweise aus der Hand gab. Der angeführte Vorwurf der mangelnden Kompetenzabgrenzung im Landeskulturgesetz war eine Konsequenz des Querschnittsgedankens. Es bedurfte einer Institution, die diesen Gedanken mit Leben füllte. Diese Aufgabe sollte das 1972 gegründete Ministerium für Umweltschutz und Wasser 20 Füllenbach, Umweltschutz, 24.

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wirtschaft übernehmen. Explizit als Querschnittministerium gegründet, existierte damit zumindest auf dem Papier ein Ministerium, das die Vorgaben des Landeskulturgesetzes exekutiv ausfüllte. Als Minister war Werner Titel vorgesehen, der kurz nach der Volkskammerwahl am 14.  November 1971  – also noch vor der Gründung des Ministeriums  – zum Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft ernannt wurde. Die strukturellen Handlungsmöglichkeiten des Ministeriums waren anfangs bescheiden. Es entstand aus dem Amt für Wasserwirtschaft und der Arbeitsgruppe Landeskultur beim Ministerrat. Es war eine Art ökologischer ›Thinktank‹ mit bescheidener Regelungskompetenz im Bereich der Flüsse, Seen und Wasserversorgung. Alle Fragen, die den klassischen Naturschutz oder die Gesundheit der Wälder betrafen, verblieben in der HA Forst des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. Diese Zuordnung war historisch gewachsen. Die SED war wenig daran interessiert, den Zugriff auf einen der wichtigsten einheimischen Rohstofflieferanten, den Wald, wieder aus ihrem Zuständigkeitsbereich an die DBD abzutreten. Institutionell bewirkte das Landeskulturgesetz zunächst wenig, außer dass zwei bereits bestehende Abteilungen und Ämter ein neues, fortschrittlich klingendes Etikett bekamen. Mehr war auch zunächst nicht die Absicht, denn das Landeskulturgesetz sollte nicht das Institutionengefüge durcheinander bringen, sondern primär bewusstseinsbildend wirken. § 6, Absatz 2 hielt fest, dass die »Staatsorgane […] die Erziehungs- und Bildungsarbeit auf dem Gebiet der sozialistischen Landeskultur« zu gewährleisten hätten. Auch hier sind die Anleihen bei Lingner eindeutig. Er hatte in den 1950er Jahren gehofft, die Bevölkerung über die Zusammenhänge im Naturkreislauf aufzuklären und so für seine Ziele begeistern zu können. Die Ideen des Umweltschutzes mussten in den Köpfen der Menschen verankert werden. Diese Meinung teilte damals ein Teil der SEDSpitze um Ulbricht. Der politische Raum für Umweltschutz war im Gegensatz zu den späten 1950er Jahren da, die SED hatte ihn selbst geschaffen. Es ging der SED primär darum, die Menschen für den schonenden und sparsamen Umgang mit den Umweltressourcen zu sensibilisieren. Hier witterte sie ein verstecktes Wachstumspotential, denn jeder Rohstoff, der nicht im privaten Bereich unwissentlich verbraucht wurde, stand der Wirtschaft im Produktionsprozess zur Verfügung. Ein Beitrag aus der Sozialistischen Forstwirtschaft verdeutlicht, dass sich die Akteure darüber bewusst waren, dass eine Änderung des Verhaltens der Bevölkerung nur über lange Zeiträume zu erreichen war. Ein Mitarbeiter des Instituts für Landschaftsforschung und Naturschutz in Halle schrieb 1970: Es wird einer langen Arbeit bedürfen, ehe alle Prinzipien, die im Landeskultur­gesetz niedergelegt sind, voll wirksam werden und ihre Auswirkungen zeitigen. Für jeden Bürger unserer Republik, für alle Betriebe, wissenschaftliche Einrichtungen und gesellschaftliche Organisationen ist eine ständige, kontinuierliche Aufklärungs- und

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Erziehungsarbeit unumgänglich notwendig. Diese Aufklärungs- und Erziehungsarbeit muß zu einem allgemeinen Umdenken bei jedem einzelnen führen, um seine Verantwortung bei der Durchsetzung der Aufgaben der sozialistischen Landeskultur zu erkennen.21

Ein Mittel der Wahl, die Bürger zu erreichen und ihnen die für nötig erachteten ökologischen Grundkenntnisse zu vermitteln, waren die »Wochen der sozialistischen Landeskultur«.22 Der Ministerrat sah 1970 in einer solchen Veranstaltung den passenden Rahmen für die »Propagierung der Aufgaben der sozialistischen Landeskultur und zur Entwicklung der Initiative der Betriebe und Bürger«.23 Der Ministerrat legte den Beginn der ersten Woche der Landes­kultur auf den 29. August 1971 fest. Auf landesweiten Veranstaltungen sollten sich die Menschen mit den Erfordernissen der sozialistischen Landeskultur vertraut machen, staatliche Stellen sollten öffentlich Rechenschaft über die planmäßige Verwirklichung landeskultureller Maßnahmen ablegen, und es sollten die neuesten wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Erkenntnisse für die rationelle Lösung landeskultureller Aufgaben vermittelt werden. Das Motto der Woche lautete: »Sozialistische Landeskultur zur Gestaltung unserer natürlichen Umwelt – Gemeinschaftsaufgabe aller«.24 Die Wochen der Landeskultur gehen damit eindeutig in die Amtszeit Ulbrichts zurück. Für die Vorbereitung der Veranstaltung war wiederum Werner Titel verantwortlich. Am 20. Juli 1971 organisierte er eine große Pressekonferenz, auf der er das Programm der Woche vorstellte. Er nutzte diese Bühne, um die unmissverständlichen internationalen Ansprüche der DDR zu untermauern: Ausgehend von den Prinzipien der friedlichen Koexistenz hat auch die Zusammenarbeit im Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen für die Lösung von Umweltproblemen Bedeutung. Die DDR hat wiederholt ihre Bereitschaft erklärt, auf der Basis der völligen Gleichberechtigung an der Arbeit der UNO zum Schutz der Umwelt teilzunehmen und an der Weltkonferenz der Vereinten Nationen über menschliche Umweltbedingungen 1972 in Stockholm konstruktiv mitzuwirken.25 21 E. Weinitschke, Landeskulturgesetz der Deutschen Demokratischen Republik. Verwirklichung eines Verfassungsauftrages, in: Sozialistische Forstwirtschaft 20, 1970, 226–228, 228. 22 Carola Becker, Umweltgruppen in der DDR, in: Barbara Hille, Walter Jaide (Hrsg.), DDR-Jugend. Politisches Bewußtsein und Lebensalltag. Opladen 1990, 216–247, 219. 23 BArch DC 20/I/3/780 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Diskussion, pag. 4. 24 BArch DC 20/I/4/2410 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung der »Woche der sozialis­ tischen Landeskultur« 1971.10.2.1971, pag. 104. 25 Werner Titel, Sozialistische Landeskultur zur Gestaltung unserer natürlichen Umwelt – Gemeinschaftsaufgabe aller. Auszüge aus dem Referat des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrates, Dr. W. Titel, auf der zentralen Pressekonferenz zur Vorbereitung

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3.1.3 Mit Macht nach Stockholm Für die Einladungen zur Stockholmer Umweltkonferenz galt die ›Wiener Formel‹ von 1961, nach der UNO-Mitglieder und Mitglieder deren Sonderorganisationen sowie der internationalen Atomenergieagentur teilnehmen durften.26 Dies führte dazu, dass die Bundesrepublik, als Mitglied der FAO, der WHO und der UNESCO, vollberechtigt an der Konferenz teilnehmen durfte, die DDR aber nur eine Einladung als Beobachterin erhalten hatte. Die UdSSR sah das weltweite Interesse für den Umweltschutz auch als eine Möglichkeit an, in der deutschen Frage weiterzukommen. Ende 1971 stellte sie in der Generalversammlung der UNO die Frage zur Abstimmung, die Umweltkonferenz in Stockholm solange zu verschieben, bis eine einvernehmliche Lösung für die gleichberechtigte Teilnahme beider Staaten ausgehandelt sei. Mit 54 zu 44 Stimmen lehnten die Mitgliedstaaten das Ansinnen ab.27 Eine Teilnahme ›zweiter Klasse‹ kam für Ulbricht und auch für dessen Nachfolger Honecker nicht in Betracht. Die mittlerweile vollzogene Machtübergabe wirkte sich zunächst nicht auf die Umsetzung des Landeskulturgesetzes und die Vorbereitung und Durchführung der Landeskulturwoche aus.28 Am 1. Januar 1972 folgte die bereits erwähnte Gründung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Werner Titel, im Verlauf von vier Jahren in der Öffentlichkeit als Umweltfachmann aufgebaut, erlag am 25. Dezember 1971 einer seltenen Herzkrankheit. Das Ministerium und  – aus Sicht der SED wesentlich schlimmer  – das »Regierungskomitee zur Vorbereitung der DDR auf die Umwelt-Konferenz der UNO« waren führungslos. Dieses Komitee war auf Beschluss des Präsidiums des Ministerrates im November mit dem Ziel gegründet worden, die Teilnahme der DDR zu erreichen.29 Bis zuletzt hoffte die DDR noch, ihre Teilnahme durch eine Boykottandrohung aller osteuropäischen Staaten durchsetzen zu können. Kurz zuvor startete sie einen letzten Versuch, in dem sie in ihrem nationalen Bericht an die Stockholmer Konferenz

und Durchführung der Woche der sozialistischen Landeskultur 1971 in der Deutschen Demokratischen Republik am 20. Juli 1971 in Berlin, in: Sozialistische Forstwirtschaft 21, 1971, 289–293, 293. 26 Hünemörder, Frühgeschichte, 262. 27 Jacob Darwin Hamblin, Environmentalism for the Atlantic Alliance. NATO’s Expe­ riment with the »Challenges of Modern Society«, in: Environmental History 15, 2010, 54–74, 64. 28 Dies deckt sich auf mit den Erfahrungen Hans Reichelts, der beim Übergang von­ Ulbricht auf Honecker zunächst keine Unterschiede bei der Umweltpolitik bemerkt hatte. Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010. 29 BArch DK 5/3401 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, UN-Umweltkonferenz in Stockholm 1972, Arbeitsplan vom Februar 1972.

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erneut auf die Bedeutung der internationalen Kooperation in Umweltfragen hinwies: Die Deutsche Demokratische Republik ist bereit an der Lösung von Umweltproblemen auf der Basis der völligen Gleichberechtigung teilzunehmen. Sie geht dabei von der Erkenntnis aus, daß die Reinhaltung des Wassers und der Luft sowie der Schutz der Landschaft zu weltweiten Problemen geworden sind, die nur durch gleichberechtigte Mitarbeit aller Staaten an komplexen ineinandergreifenden Maßnahmen bewältigt werden können.30

Mit der Eröffnung der Konferenz am 5. Juni 1972 wurde deutlich, dass die DDR ihr Ziel nicht erreicht hatte. Neben der DDR reisten in Erfüllung der Boykottandrohung auch die UdSSR, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Bulgarien, Kuba und die Mongolei nicht nach Schweden.31 Ein interner Bericht kritisierte später den Verlauf der Konferenz. Die westlichen Staaten hätten eine Linie der Entpolitisierung der Umweltprobleme verfolgt und sich stark auf die Fragen von Technik und Standardsetzung konzentriert. Eine derartige Herangehensweise stand der sozialistischen Auffassung diametral gegenüber. Demnach wurzelten die Umweltprobleme der Menschheit in politischen und sozialen Konflikten wie Krieg, Rüstung oder Apartheid.32

3.1.4 Hans Reichelt und das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft Hans Reichelt, der am 9.  März 1972 Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft wurde, hatte seine erste große Aufgabe verfehlt. Reichelt bestätigte 2010 im Gespräch, dass es seine einzige Aufgabe nach Amtsantritt war, die Teilnahme der DDR an der Stockholmer Konferenz zu fördern. Es wurde ihm allerdings nicht zum Verhängnis, dass er die Vorgabe nicht erfüllte. Als Minister überlebte er die Wende 1989 politisch und ging 1990 mit 65 Jahren in Rente.33 Reichelt wurde 1925 in Oberschlesien geboren und wuchs in schwierigen finanziellen Verhältnissen bei seiner alleinerziehenden Mutter, einer Schneiderin, auf. Er kam 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in die SBZ und 30 HStA Düsseldorf NW 4555 717 Kommission für sozialistische Landeskultur beim Ministerrat der DDR, Nationaler Bericht der Deutschen Demokratischen Republik für die UNO-Konferenz über menschliche Umweltbedingungen Stockholm 1972. Berlin (Ost). 1.2.1971, pag. 36. 31 Hünemörder, Frühgeschichte, 267. 32 BArch DK 5/1826 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft/Abteilung Grundstoffindustrie, ZK der SED, Information über die Einschätzung des Verlaufes der UNO-Umweltschutzkonferenz in Stockholm vom 5.–16. Juni 1972.1.10.1972, pag. 1–2. 33 Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010.

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trat 1950 der DBD bei. Hier stieg er schnell zum Hauptabteilungsleiter Organisation im Parteivorstand auf und wurde im Mai 1953 mit 28 Jahren zum ersten Mal kurzzeitig Minister für Land-und Forstwirtschaft. Nach seiner Entlassung im November des gleichen Jahres besuchte er die Zentralschule für Agrarpolitik des ZK der SED in Schwerin und war ab 1955 wieder als Minister tätig. Reichelt entstammt der Aufsteigergeneration der DDR, die zum Teil  mit ›fahrlässiger‹ Ausbildung in verantwortungsvolle Positionen gelangte. Bis zur Auflösung des MLF 1963 blieb Reichelt in seiner Position, in der er sich als bedeutender Förderer der Rauchschadenforschung von Zieger und später auch Däßler zeigte. Ab 1963 wirkte er als stellvertretender Vorsitzender des Landwirtschaftsrates und leitete dort den Staatlichen Rat für Melioration. Die Auflösung des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft zielte nicht nur darauf, Reichelt zu entmachten, sondern war auch eine Vorgabe des NÖSPL. Zudem sah es die SED nach Abschluss der Vollkollektivierung in der Landwirtschaft nicht mehr als notwendig an, das entsprechende Ministerium von einem Vertreter der Bauernpartei führen zu lassen. Dieses beruhigende Signal in Richtung Bauernschaft war nun obsolet. Mit Reichelt verloren mehr als 300 Funktionäre der DBD ihre Ämter in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung auf Bezirks-, Kreis- und Gemeindeebene.34 Damit brachte die SED zwei bedeutende heimische Rohstofflieferanten und Wirtschaftszweige wieder unter ihre direkte Kontrolle. In seiner Funktion als Minister war Reichelt durchaus in der Lage gewesen, eigenständig Forschungsgelder zu verteilen, wovon die Tharander Rauchschadenforscher profitierten. Bei der Wiedergründung des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungs­ güterwirtschaft (MLFN) 1972 bekam denn auch mit Georg Ewald ein SEDMitglied den Ministerposten. Reichelt spielte in den Planungen zunächst keine Rolle. Es ist nicht bekannt, welche Position ihm die SED nach 1972 zudachte. Bis 1989 wirkte kein DBD-Politker mehr als stellvertrender Minister oder Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, die Funktionäre der Bauernpartei agierten in der Landwirtschaftspolitik nur noch im zweiten oder dritten Glied. Der der DBD zustehende Ministerposten sollte mit Werner Titel besetzt werden. Nach dessen Tod benötigte die SED schnell Ersatz, denn die Stockholmer Umweltkonferenz rückte näher. Zudem musste der Kandidat international präsentabel sein, sollte der Plan der SED greifen, mit der Umweltpolitik ihre außenpolitische Reputation zu steigern. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass mit Hans Reichelt erst knapp drei Monate später der Nachfolger ins Amt kam. Dies lässt den Schluss zu, dass die SED mit der Personalie Reichelt nicht ihre Ideallösung gefunden hatte. Es boten sich in der DBD allerdings keine Alternativen. Die beiden übrigen Politiker von Format – Paul Scholz 34 Hans Reichelt, Blockflöte, oder was? Zur Geschichte der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD); 1948 bis 1990. Berlin 1997, 201.

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und der Partei­vorsitzende Ernst Goldenbaum – waren mit über 70 Jahren zu alt, um den innovativen Charakter der DDR-Umweltpolitik glaubhaft nach Außen zu vertreten. Es lag nicht an der fehlenden fachlichen Qualifikation, die die SED bei Reichelt zögern ließ. Nach den Startschwierigkeiten im Amt des Land- und Forstministers hatte sich Reichelt zu einem kompetenten Fachpolitiker entwickelt, der mit wachsendem Selbstvertrauen eigene Schwerpunkte zu setzen versuchte. In den 1950er Jahren war es Praxis, zu den Besprechungen im Politbüro die SED-Staatssekretäre der von Blockparteien geführten Ministerien einzuladen. Damit sicherte die SED den Informationsfluss und Zugriff auf das Ministerium und stellte die entsprechenden Minister ins Abseits. Reichelt beharrte auf einer eigenen Teilnahme an den Besprechungen im Apparat der SED und konnte sich damit durchsetzen.35 Die SED hoffte womöglich, mit Werner Titel einen willfährigeren und weniger konfliktfähigen Minister gefunden zu haben. Die strukturellen Möglichkeiten der beiden Ministerien unterschieden sich allerdings fundamental. Als Minister für Land- und Forstwirtschaft arbeitete Reichelt mit der ZK-Abteilung Landwirtschaft zusammen. Er hatte damit kompetente und bis 1960 – als Gerhard Grüneberg als Sekretär für Landwirtschaft die Leitung der Abteilung übernahm – teils verständige Austauschpartner. Reichelt verfügte also über die Möglichkeiten, seine Vorstellungen und Programme direkt in den Parteiapparat der SED einzubringen. Bei der Gründung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft verzichtete die SED auf den Aufbau einer entsprechenden Abteilung im ZK-Apparat. Die politische Anleitung unterlag dem Sekretär für Wirtschaft – bis September 1973 und ab Oktober 1976 Günter Mittag, dazwischen Werner Krolikowski – und dort der Abteilung für Grundstoffindustrie. Die Abteilung war primär für die Steuerung der Energie und der Ressourcen verantwortlich. Wasser, Luft und Boden wurden im Geflecht einer derartigen institutionellen Zuordnung auf ihre Eigenschaft als Ressource für den Produktionsprozess reduziert. Die Abteilung funktionierte nach ihren eigenen, auf die Bedürfnisse der Industrie abgestimmten Entscheidungslogiken. Reichelt konnte hier mit seinen spezifischen Anliegen kaum durchdringen, zumal von den über einhundert Mitarbeitern der Abteilung nicht einer speziell für die Belange der Umweltpolitik zuständig war. Sollte doch einmal diese Hürde genommen worden sein, stand über dem Abteilungsleiter Horst Wambutt der Sekretär für Wirtschaft, der an seine Entscheidungen keine ökologischen Maßstäbe anlegte.

35 So schilderte es Reichelt selbst in einem Gespräch am 12.4.2010.

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3.1.5 Exkurs: Ministerrat und Politbüro An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs über das Zusammenspiel von Ministerrat und Politbüro eingeschoben, um die beschränkten Möglichkeiten der Ministerialbürokratie auf die Gesetzgebung zu illustrieren. Zunächst erstellten beide Gremien jährlich einen Arbeitsplan. Themen des Ministerrates, die sich nicht mit dem Arbeitsplan des Politbüros deckten, wurden gestrichen oder zurückgestellt. Darum versuchten die meisten Minister, ihre Themen über die Parteibürokratie einzubringen. Es ist leicht ersichtlich, dass die Minister, die Teil der SED-Bürokratie waren oder selbst im ZK oder Politbüro saßen, hier erhebliche Vorteile besaßen.36 Ohne die Mitarbeit der Abteilung Grundstoffindustrie war es Reichelt nicht möglich, eigene Themen auf die politische Agenda zu setzen. Zweitens gab es einen gewichtigen Unterschied, auf welche Weise die übergeordneten Themen in konkrete Form gegossen wurden. Auf dem ersten Weg beschloss das Politbüro etwa eine Vorlage für eine Verordnung des Sekretärs für Wirtschaft. Dieser Vorlage musste der Ministerrat zustimmen, ohne dass er in irgendeiner Weise den Inhalt hätte ändern können. Der zweite Weg hingegen begann im Ministerium. Das MWU entwarf eine Vorlage, die von der Abteilung für Grundstoffindustrie genehmigt werden musste. Danach holte das MUW von allen anderen betroffenen Ministerien, teilweise auch von den Räten der Bezirke, Stellungnahmen ein. Anschließend beriet der Ministerrat über die modifizierte Vorlage und fasste einen Beschluss. Dieser Beschluss war solange wertlos, bis das Politbüro darüber befunden hatte. Es oblag allerdings allein dem Sekretär für Wirtschaft, Ministerratsbeschlüsse bezüglich der Umwelt im Politbüro auf die Tagesordnung zu setzen. Zudem musste der Sekretär die Vorlage im Politbüro inhaltlich vertreten. Der Sekretär für Wirtschaft war damit die Schlüsselfigur im Institutionengefüge. Im Falle eines Gesetzes verlief das Zusammenspiel der Instanzen komplizierter, da formal die Volkskammer beschloss. Einen von CDU und DBD beantragten Ausschuss zu Umweltfragen lehnte Mittag ebenfalls ab. Damit blieben die Umweltangelegenheiten weiter Bestandteil des Ausschusses für Industrie, Bauwesen und Verkehr, der von 1963 bis 1973 und von 1976 bis 1989 von Mittag geleitet wurde.37 In diktatorischen Regimen wirken sich  – aufgrund fehlender Kontrollen  – die persönlichen Fähigkeiten und Einstellungen eines Amtsinhabers in größerem Maße auf die Verhältnisse aus als in demokratisch verfassten Staaten.38 36 Peter Joachim Lapp, Der Ministerrat der DDR. Aufgaben, Arbeitsweise und Struktur der anderen deutschen Regierung. Opladen 1982, 28. 37 Zur Arbeit in den Ausschüssen vgl. Karl Heinz Schulmeister, Ausschussarbeit am Beispiel des Kulturausschusses, in: Werner J. Patzelt (Hrsg.), Die Volkskammer der DDR. Wiesbaden 2002, 215– 226. 38 Vgl. Wehler, Diktaturvergleich, 349.

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Die Einsicht, den Belangen der Umwelt nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, erwuchs Günter Mittag erst nach der Wiedervereinigung.39

3.1.6 Ende der »Goldenen Jahre« Reichelt stand ab dem 9. März 1972 einem zahnlosen Ministerium vor. Schlecht vernetzt und ohne Ansprechpartner war er zur Wirkungslosigkeit verdammt. Honecker versprach auf seiner Antrittsrede während des VIII. Parteitags der SED im Juni 1971, die Umweltpolitik auszubauen. Dies war allerdings primär ein außenpolitisches Signal in Richtung Umweltkonferenz. Schließlich entfiel mit dem Grundlagenvertrag die ursprüngliche raison d’être des MUW. Unter Ulbricht bedeutete die Umweltpolitik eine Verknüpfung von innen- und außenpolitischen Zielen. Für die DDR, knapp an Rohstoffen, mit Braunkohle als einzigem heimischen Primärenergieträger und einem geringen Wasserdargebot, war die Steigerung der Produktivität eine Überlebensfrage. Die DDR verfügte lediglich über etwa ein Zehntel des Wasserdargebots der Bundesrepublik.40 Gleichzeitig musste das vorhandene Wasser aber öfter genutzt werden, da der Produktivitätsrückstand gegenüber der Bundesrepublik zu dieser Zeit etwa 30 Prozent betrug. Dieser Missstand führte ab Ende der 1960er Jahre zu Aktionen, die Bevölkerung zu einem sparsameren Umgang mit Wasser und Strom zu animieren.41 Dass es dabei als Nebenleistung zu einem schonenderen Umgang mit der natürlichen Umwelt kam, war ein willkommener Zusatzeffekt. Gleichzeitig bot sich mit dem anlaufenden globalen Umweltdiskurs eine internationale Bühne. Die Gründung des MUW war in erster Linie eine Propagandaveranstaltung, denn es war lediglich die Zusammenlegung bereits bestehender Institutionen ohne Zuwachs von Handlungsmöglichkeiten. Dennoch sind die Bemühungen nicht gänzlich zu vernachlässigen. Das Landeskulturgesetz zielte auf eine Bewusstseinsbildung aufseiten der Bürger. Jeder Liter Wasser und jede Kilowattstunde Strom, die nicht in Privathaushalten verbraucht wurden, hätten einer Ausweitung der Produktion oder der Entspannung der Umweltsituation zur Verfügung gestanden. »Die Bildung gesellschaftlichen Umweltbewußtseins ist erklärtes Ziel der staatlichen Umweltpolitik gewesen.« Der Umweltrechtler Hans-Peter Vierhaus bezog diesen Satz auf die Anfänge bun 39 Wolfram Bickerich, Dieter Kampe, Steffen Uhlmann, »Es reißt mir das Herz kaputt«. SPIEGEL-Gespräch mit dem ehemaligen DDR-Wirtschaftslenker Günter Mittag über seine Politik und seine Fehler, in: Spiegel 37, 1991, 88–104. Vgl auch Zentraler Runder Tisch der DDR, Information zu den Ursachen der bisherigen Nicht-Umweltpolitik der DDR. Information Nr. 10/8, in: Bechmann, Umweltpolitik, 87–89, 87. 40 Buck, Umweltpolitik, 239. 41 In der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Urania etwa wurden die Bürger auf Informationsseiten aufgeklärt, wieviel Liter Wasser hinter einem Endprodukt standen.

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desdeutscher Umweltpoltik 1970/71.42 Er lässt sich auf die Verhältnisse in der DDR übertragen. Im Umweltprogramm der Bundesregierung vom 14.  Oktober 1971 hieß es »Umweltschutz ist Sache jedes Bürgers«.43 Von der Losung »Gemeinschaftsaufgabe aller«, unter der die erste Woche der sozialistischen Landeskultur 1971 stattfand, ist es nur ein grammatikalisch kleiner Schritt. Mit dem Amtsantritt Honeckers änderte sich formal zunächst nichts an der Linie der SED. Die unter Ulbricht konzipierten »Wochen der sozialistischen Landeskultur« wurden ebenso abgehalten, wie die Umweltberichte veröffentlicht und auf einer Pressekonferenz vorgestellt wurden. Inhaltlich interessierte sich Honecker jedoch lediglich für die außenpolitischen Aspekte der Umweltpolitik. Innenpolitisch hatte er seine eigene Strategie entwickelt, die Produktivität zu steigern. Seine Idee der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik kollidierte zudem zunehmend mit den Anforderungen der Umweltpolitik. Als schließlich die internationale Anerkennung der DDR erreicht war, verlor Honecker das letzte Interesse an ökologischen Fragen. Formal war es Mittag, der nach 1973 die Einstellung der Landeskulturwochen und den Verschluss des Umweltberichtes anordnete, aber Honecker machte keine Anstalten, ihn daran zu hindern. Nach jeder Woche der Landeskultur verfasste das MUW einen Bericht über den Verlauf, die Reaktionen der Bevölkerung und die aus der Sicht des Ministeriums notwendigen Investitionsschwerpunkte. Diesen Bericht empfand Mittag – laut Aussage von Hans Reichelt – als lästig. 1974 führte er, damals stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates, ohne Absprache mit den Parteigremien einen Ministerratsbeschluss herbei, der die Woche der Landeskultur aussetzte, das Berichtswesen darüber strich und den Jahresbericht der Umwelt zur »vertraulichen Verschlusssache« erklärte. Das Politbüro bestätigte wenig später den Beschluss. Damit waren die »Goldenen Jahre« des Umweltschutzes in der DDR vorbei.44 Das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft war aber in der Welt. Es wieder abzuschaffen, hätte internationale Irritationen nach sich ge­ zogen. Gerade den für die Außenpolitik der DDR bedeutenden nordeuropäischen Staaten, die dem Umweltschutz hohe Bedeutung beimaßen, wäre dieser Schritt nicht zu vermitteln gewesen. Die Position Reichelts war durch eine bemerkenswerte Dichotomie gekennzeichnet. Auf der einen Seite versah er ein Amt, das ihn von der Anordnung im Institutionengefüge der DDR und SED her zur Handlungsunfähigkeit verurteilte. Aus den ersten Jahren haben sich denn auch kaum Initiativen des MUW in den Akten niedergeschlagen. Wirksame umweltpolitische Instrumente gab es Anfang der 1970er Jahre nicht. Auf der anderen Seite blieb er ein internationales Aushängeschild, erhielt 42 Vierhaus, Umweltbewußtsein, 139. 43 BT-Drucksache VI/2710, 6. 44 Die Formulierung ist bei Roesler entliehen. Roesler, Umweltprobleme, 33.

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viel Aufmerksamkeit und war laut Landeskulturgesetz verantwortlich für die Luftreinhaltung. Die Forstwissenschaft, die in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR den Diskurs über die immissionsbedingten Waldschäden geprägt hatte, hatte ihre Möglichkeiten weitgehend ausgereizt. Das Schadbild der eng umgrenzten Rauchschäden in der Nähe von Industrie und energieerzeugenden Betrieben gab es zwar weiterhin, das Problem der großflächigen Schäden wurde aber immer akuter und war mit den Mitteln der Forstwirtschaft nicht mehr zu beherrschen, der Wald als Gesamtheit immer weniger zu schützen. Ein effektives Vorgehen gegen Waldschäden war im Wald nicht mehr möglich, sondern bedurfte einer konse­ quenten Emissions- und Immissionskontrolle. Damit stand Reichelt – wie schon während seiner Zeit als Minister für Land- und Forstwirtschaft – der Frage der Waldschäden nahe. Auch wenn die unmittelbare Verantwortung für die Forstwirtschaft weiterhin beim MLFN lag, verlagerte sich doch die Diskussion zunehmend weg von den möglichen Therapiemaßnahmen am geschädigten Objekt und hin zu der Suche nach einer umfassenden Lösung auf dem Gebiet der Luftreinhaltung. Dies ermöglichte die Bildung breiterer Allianzen. Unter mit Schadstoffen belasteter Luft litt nicht nur der Wald, sondern auch Gebäude und vor allem die Gesundheit der Menschen. Hier bot sich Reichelt ein erheblich wirkungsvollerer Ansatzpunkt, als er in den 1950er und 1960er Jahren als Forstminister zur Verfügung hatte. Das Wohl der Menschen zu sichern, ihnen eine uneingeschränkte Entfaltungsmöglichkeit zu bieten und ihre körperliche Unversehrtheit zu garantieren, waren Kernelemente der sozialistischen Idee. Auch wenn Honeckers Politik auf die Gewährleistung elementarer ökonomischer Grundbedürfnisse abzielte, konnte sie per Ideologie andere Bedürfnisse nicht grundlegend in Abrede stellen. Dies war die Schnittstelle, an die das Umweltministerium anknüpfte und im System einen argumentativen Prozess in Gang brachte. Es verfügte nicht über klassische Machtmittel wie Geld oder sanktionsbewehrte Regelungskompetenzen. Zwar traten diese später in geringem Umfang hinzu, die Hauptarbeitsmittel des MUW blieben aber Aufklärung und Überzeugungsarbeit.

3.1.7 Reinhaltung der Luft Am 17.  Januar 1973 beschloss der Ministerrat die »Fünfte Durchführungs­ verordnung zum Landeskulturgesetz – Reinhaltung der Luft – (5. DVO)«. Dem Auftrag des Landeskulturgesetzes folgend, erließ der Ministerrat nach und nach entsprechende Regelungen für die einzelnen Umweltmedien oder störende Umwelteinflüsse. Für den Schutz der Wälder war sie eine der zentralen Rechtsvorschriften. Allerdings stand die Gesundheit des Menschen an erster Stelle.

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Die Reinhaltung der Luft dient dem Ziel, in Übereinstimmung mit der kontinuier­ lichen Entwicklung der Volkswirtschaft die Gesundheit der Bürger zu erhalten, die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern, die Pflanzen und Tiere sowie anderes gesellschaftliches und persönliches Eigentum zu schützen.45

Alle Grenzwerte, in der DDR MIK-Werte genannt, hatten einen medizinischen Hintergrund. Für die Festlegung und Kontrolle dieser Werte war dann auch der Minister für Gesundheitswesen verantwortlich. Nach dem Geist des Gesetzes war die »höchstzulässige Produktion von Schadstoffen […] an den jeweiligen Einwirkungsorten« fixiert, d. h. die Immissionsgrenzwerte hatten einen normativen Charakter, und die Emissionsgrenzwerte wurden an die örtlichen Gegebenheiten angepasst.46 Für die Immissionsmessungen sollten die BezirksHygieneinspektionen ein eigenes Messnetz aufbauen. Die Emissionsmessungen wurde den Betrieben in Eigenverantwortung übertragen. Sie hatten einen Emissionsbeauftragten zu benennen, der für die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und die regelmäßigen Messungen verantwortlich war. Die Betriebe waren gegenüber den Hygiene-Inspektionen voll auskunftspflichtig. Ergänzend führten die Hygiene-Inspektionen Kontrollmessungen durch, um die Angaben zu überprüfen. Basis der Emissionsmessungen waren die neu eingeführten Emissionsgrenzwertbescheide. Diese wurden von den Hygiene-Inspektionen erstellt und von den Räten der Bezirke bestätigt. Die Betriebe waren dann verpflichtet, notwendige Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft in ihre Pläne mit einzubeziehen. Bei Neuanlagen war der Einbau von Reinigungsanlagen »entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen, den wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Möglichkeiten« verbindlich.47 Altanlagen mussten im Rahmen von anstehenden Sanierungsmaßnahmen mit Reinigungstechnik ausgerüstet werden. Als Sanktion führte die DVO in § 18 das Staub- und Abgasgeld ein. Übertrat ein Betrieb seinen Emissionsgrenzwertbescheid, musste er eine Strafe zahlen, die als »nicht planbare und kalkulierbare Selbstkosten« galt, sie betrafen damit allein die betrieblichen Fonds, etwa den Prämienfond der Belegschaft. Die Einnahmen aus dem Staub- und Abgasgeld standen betroffenen Gemeinden und Städten für Anpassungsmaßnahmen zur Verfügung, konnten aber auch für Investitionsmaßnahmen in emittierenden Betrieben verwendet werden. Persönliche Konsequenzen für die Betriebsleiter hatte eine Überschreitung kaum. Es drohte 45 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Fünfte Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz – Reinhaltung der Luft –. 5. DVO, 17.1.1973, in: Gbl. DDR I 18, 157–162, 157. 46 Klaus Gläß, Grenzwerte – ein Rechtsform des Umweltschutzes, in: Staat und Recht, 1974, 1838–1854, 1846–1847. 47 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, 5. DVO, 157.

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im Höchstfall, trotz Vorsatz, eine Ordnungsstrafe von 300 Mark. Bei Wiederholungstätern stieg die Zahlung auf 1000 Mark an. Die Verordnung regelte, dass der Neubau von Industrieanlagen nicht die MIK-Werte im betroffenen Territorium überschreiten dürfe. Dies sollte über das Standortgenehmigungsverfahren erreicht werden. Diese Bestimmung wurde in der 1. Durchführungsbestimmung zur 5. DVO vom 13. April 1973 präzisiert. Danach musste dem örtlichen Rat für jedes Investitionsvorhaben ein Gutachten der zuständigen Hygiene-Inspektion vorgelegt werden.48 Die Inspektion war dann berechtigt, den Bau zu verbieten oder mit Auflagen zu gestatten. Im Bundesarchiv finden sich auch Beispiele dafür, dass die Hygienekommis­ sionen tatsächlich den Neubau von Anlagen verhindert haben.49 § 3, Absatz 3 der 5.  DVO enthielt allerdings eine gewichtige Einschränkung des Standortgenehmigungsverfahrens. Die Räte der Bezirke durften »entsprechend den volkswirtschaftlichen Erfordernissen« Ausnahmeregelungen beschließen. Einmal ausgestellte Ausnahmegenehmigungen dürften dann aber immer wieder verlängert worden sein. Im Oktober 1982 beschwerte sich ein Anwohner des Heizwerkes Kulkwitz bei Leipzig über die fünf- bis zehnfache Überschreitung des SO₂-Grenzwertes. Das Werk arbeitete seit der Freigabe im Dezember 1980 mit zwei 60 Meter hohen Schornsteinen, die Bezirks-Hygienekommission hatte einen 220 Meter hohen Schornstein verlangt. Ein internes Positionspapier verdeutlichte, dass an diesem Zustand nichts geändert würde: »Da die Frage einer evtl. Stillegung des alten Heizwerkes ab 1990 z.Zt. geprüft wird, wäre auch von dieser Warte der Einbau von Reinigungsanlagen nicht vertretbar.«50 Welche Rolle spielten die Wälder und das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft in der Verordnung? § 13 fasste die bisherigen, die Wälder betreffenden Regelungen zusammen. Trotz Einsatz modernster Reinigungstechnik entstünden anderen Betrieben Immissionsschäden, darunter auch de 48 Minister für Gesundheitswesen, Erste Durchführungsbestimmung zur Fünften Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz  – Reinhaltung der Luft  – Begrenzung und Überwachung der Immissionen und Emissionen (Luftverunreinigungen), 13.4.1973, in: Gbl. DDR I 18, 162–172, 163. 49 Der VEB Dampfkesselbau Meerane beantragte im September 1987 bei der Bezirkshygienekommission Karl-Marx-Stadt für sein generalüberholtes Heizwerk eine Ausnahmegenehmigung. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Lothar Fichtner, wollte eine Ausnahmegenehmigung erteilen, weil die lufthygienisch notwendige Erhöhung des Schornsteins von 70 auf 90 Meter nicht möglich war. Der Minister für Gesundheitswesen, Ludwig Mecklinger, und Hans Reichelt wiesen die Genehmigung Fichtners zurück und verfügten im März 1988, dass das Heizwerk des VEB nur mit Rauchgasentschwefelungsanlage angefahren werden dürfe. BArch DQ 1/24326 Ministerium für Gesundheitswesen, Geruchsbelästigung im Erzgebirge, Brief des Ministers für Gesundheitswesen an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt vom 14.3.1988. 50 BArch DK 5/69 Abteilung Umweltschutz Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, Eingabe vom 10.10.1982.

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nen der Land- und Forstwirtschaft. Die betroffenen Betriebe mussten ihrerseits alle Maßnahmen ergreifen, um die Schäden so gering wie möglich zu halten. Absatz 2 des Paragraphen erwähnte allerdings ausdrücklich, dass die Schäden in der Land- und Forstwirtschaft, die trotz Anpassungsmaßnahmen auftraten, von den emittierenden Betrieben zu erstatten seien. Darüber hinaus mussten die Betriebe mit den StFB Verträge bezüglich der langfristigen Anpassungsmaßnahmen schließen. Die Verordnung verwies hier auf die Bodennutzungsverordnung von 1964. Die Betriebe bezahlten den StFB die Anpassungsleistungen, diese mussten aber darüber eine getrennte Buchhaltung führen. Die Betriebe hatten zudem das Recht, jederzeit vor Ort die forstlichen Sanierungsmaßnahmen zu kontrollieren.51 Ein bequemes Einrichten der Forstwirtschaft in Entschädigungszahlungen war dies nicht. Der Gesetzestext trug allerdings auch den Bedürfnissen der Forstwirtschaft Rechnung. Überraschenderweise spielte das Umweltministerium in der 5.  DVO nur eine nachgeordnete Rolle. Normsetzung und Kontrolle waren weitestgehend die Aufgaben des Ministeriums für Gesundheitswesen. Das MUW war für die »volkswirtschaftliche Einordnung der Aufgaben zur Reinhaltung der Luft in die Gesamtentwicklung des Umweltschutzes« verantwortlich. Das bedeutete, das Ministerium musste versuchen, Umweltschutzmaßnahmen in den Jahresplänen unterzubringen. Dies war dem Ministerium – wie oben ausgeführt – nur in Zusammenarbeit mit der Abteilung Grundstoffindustrie möglich. Hier offenbart sich der große Konstruktionsfehler der DDR-Umweltpolitik. Über die Bereitstellung von Geldern für Umweltschutzinvestitionen entschied eine Abteilung, die sich allein den Interessen der Industrie verpflichtet fühlte und die von einem Sekretär geleitet wurde, der Umweltschutz allein als Kostenfaktor ansah. Es ist nicht bekannt, welche Rolle der Umweltschutz und das entsprechende Ministerium in der Konzeption Ulbrichts spielten. Honecker nutzte die von seinem Vorgänger angestoßene Entwicklung, solange sie ihm vorteilhaft erschien. Danach überließ er die Umweltpolitik allein Mittag, der ihm versprach, seine Vorstellungen von Sozialpolitik wirtschaftlich abzusichern. Reichelt hingegen war mit dem Aufkommen der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zunächst seiner innenpolitischen Bewegungsfreiheit beraubt.

51 Bernd Bendix, Dünger aus der Luft. Von der Bemühungen der Forstwirtschaft, die Wälder der Dübener Heide vor den Folgen der Industrie-Emissionen zu schützen, in: Caroline Möhring, Hans Bleymüller (Hrsg.), Phönix auf Asche. Remagen 2009, 42–50, 49.

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3.2 Die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« Erich Honecker rang um eine stärkere Akzeptanz der sozialistischen Herrschaft innerhalb der DDR. Er wusste, dass er in der Machtfrage letztendlich auf die UdSSR angewiesen war. Zusätzlich bemühte er sich um eine Befriedung der Bevölkerung, indem er deren Wunsch nach einer besseren Versorgung mit qualitativ hochwertigen Konsumgütern zu erfüllen suchte. Diese als »Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik« bekannt gewordene Strategie steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Die historische Forschung hat sie in ihren Grundzügen bereits ausreichend beschrieben. Hier soll der Schwerpunkt auf die Verzahnung der Honecker’schen Wirtschaftspolitik mit der Umweltpolitik gelegt werden.

3.2.1 Der VIII. Parteitag der SED und die Umwelt Auf der Suche nach Legitimation Der antifaschistische Konsens bröckelte, der in den Jahren nach dem Krieg quer über alle Schichten hinweg identitätsstiftend gewirkt hatte. Zwar genossen altgediente Kommunisten  – darunter auch Honecker  –, die ihrer authen­ tischen Überzeugung wegen im Dritten Reich verfolgt und eingesperrt worden waren, weiterhin Respekt.52 Die nachwachsende Generation, die die Repressionen des Nazi-Regimes nicht mehr am eigenen Leib erfahren hatte, sah im Antifaschismus zunehmend ein einengendes Herrschaftsinstrument, das allein dazu diente, jede Opposition gegen die SED und ihren Alleinvertretungsanspruch zu delegitimieren, als nazistisch zu ›entlarven‹.53 Ulbricht stellte, dem Moskauer Prozess der Entstalinisierung folgend, dem Antifaschismus die Legitimation durch Reform zur Seite. Träger dieser Reformen waren Technokraten, deren Fach- und Expertenwissen Ulbricht für die Modernisierung der DDR nutzen wollte. Die Herrschaft von Experten ist per se undemokratisch und verhindert politische Aushandelsprozesse.54 ­Honecker sah in ihr zusätzlich eine Bedrohung der SED-Hegemonie, da die Technokraten nicht zwangsläufig überzeugte Sozialisten sein mussten. Das aus dem Ruder gelaufene Experiment des Prager Frühlings und die gescheiterte Wirtschafts 52 Meuschel, Legitimation, 29; Ehrhart Neubert, Was waren Opposition, Widerstand und Dissidenz in der DDR? Zur Kategorisierung politischer Gegnerschaft, in: Kuhrt, Opposition, 17–46, 18 und Richter, Die DDR, 24–25. 53 Ihme-Tuchel, Die DDR, 18–19 und Hermann Weber, Geschichte der DDR. Aktualisierte u. erw. Neuausg., 2. Aufl.. München 2000, 271. 54 Ash, Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, 19 und Meuschel, Legitimation, 129–130.

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reform im eigenen Land vor Augen, drängte er nach seinem Amtsantritt den Einfluss der Technokraten zurück. Die von Ulbricht hofierten und in Parteiämter gebrachten Technokraten verloren ab 1971 in den Gremien an Einfluss und wurden von treuen Apparatschiks Honeckers ersetzt, etwa Werner Felfe, Joachim Herrmann oder Konrad Naumann. Damit hatte Honecker eine strukturelle Bedrohung der SED-Alleinherrschaft beseitigt, aber das Problem mangelnder Legitimation nicht gelöst. Er war kein ›Menschenfischer‹, aber er hatte eine konkrete Vorstellung davon, die DDR-Bürger ein Stück weit mit dem Sozialismus zu versöhnen. Honecker war der Überzeugung, Ulbricht habe mit seiner Industriepolitik die Menschen in der DDR der SED entfremdet. Darum distanzierte er sich deutlich von der Politik seines Vorgängers. Ulbricht »habe ›das Volk […] Opfer für die wissenschaftlich-technische Revolution bringen‹ lassen wollen«.55 Einen weiteren Ausbau der Investitionsgüterindustrie wollte Honecker nicht zulassen. Ihm schwebte die »Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes« vor. Die soziale Lage der Bevölkerung sollte verbessert werden, primär die Ver­ sorgung mit hochwertigen Konsumgütern. Um dieses Ziel zu erreichen, ging er eine riskante Wette auf die Zukunft ein.56 Er holte die eschatologischen Versprechungen des Kommunismus in die Gegenwart. Aus der Ulbricht’schen Losung »So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben«, wurde unter Honecker »Ich leiste was, ich leiste mir was«.57 Er hoffte, über die Befriedung tief sitzender Konsumwünsche der Arbeiterschaft deren Arbeitseinsatz und Produktivität erhöhen zu können, um die sozialen Wohltaten überhaupt erst finanzieren zu können.58 Der Ansatz Ulbrichts, über eine Stärkung der Investitionsgüterindustrie nachgeleitet auch die Konsumgüterindustrie auszubauen, wurde fallengelassen und für die »Disproportionen in der Wirtschaft« verantwortlich gemacht.59 Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zielte darauf, das »strukturelle Legitimationsdefizit« zu überwinden.60 Der Erfolg schien Honecker zunächst recht zu geben. Umfragen bestätigten, dass der Zuspruch zum Sozialismus niemals größer war als in seinen ersten fünf Regierungsjahren.61 Raestrup und Weyer sahen darin gar eine Art »stillschwei 55 Steiner, Wirtschaftsreform, 543. 56 Steiner, Plan, 167. 57 Merkel, Utopie, 41 und 327. 58 Fehr bezeichnete diese Strategie als »sozialistischen Paternalismus«. Helmut Fehr, Unab­hängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Fallstudien über Bürgerbewegungen in Polen und der DDR. Opladen 1996, 56. Vgl. auch Peter Hübner, 1970 und die Folgen. Sozialpolitisches Krisenmanagement im sowjetischen Block, in: Jarausch, Ende, 261–278, 262; Malycha, Winters, SED, 217 sowie Steiner, Möglichkeiten und Grenzen, 152. 59 Schroeder, SED-Staat, 219–220. Vgl. Krause, Wirtschaftstheorie, 194–195. 60 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 392. 61 Walter Friedrich, Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40, 1990, 25–37, 26 und Dale, Protest, 72.

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gendes Übereinkommen« zwischen Parteiführung und Bevölkerung: Befriedigung der Konsumbedürfnisse gegen politische Abstinenz.62 Die industrielle Produktion, das Mindesteinkommen und der Ausstattungsgrad der Privathaushalte mit langlebigen Konsumgütern stiegen bis 1975 an. Die Jahre 1970 bis 1975 waren die einzige Phase, in der die DDR den Abstand des Pro-KopfEinkommens zur Bundesrepublik verringern konnte, was allerdings auch an der Ölpreiskrisen-Rezession im Westen lag. Dieser Erfolg fußte aber nicht auf einer gestiegenen Produktivität, sondern einer Ausweitung der Beschäftigung und auf einer massiven Verschuldung. Die Materialien für das Wohnungsbauprogramm, die Gelder für die sozialen Wohltaten und die für den Konsum bestimmten Güter waren physisch nicht vorhanden und mussten aus dem Ausland bezogen werden. Allein 1971 stieg die Auslandsverschuldung um 43 Prozent an.63 Da das erhofften Produktivitätswachstum ausblieb, ging die Schere zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und den Ausgaben für die Sozialpolitik weiter auseinander. In der Summe wurde in den Jahren 1971 bis 1980 210,5 Mrd. M mehr Sozialprodukt verbraucht, als die eigene Wirtschaft erzeugte. Die Auslandsverschuldung erreichte zu Beginn der 1980er Jahre 13 Mrd. Dollar und zog eine Mrd. Dollar Zinszahlungen nach sich.64 Die Politik der sozialen Wohltaten und der Aufbau eines Subventions­netzes für die Dinge des täglichen Grundbedarfs wie Miete, Verkehr, Nahrungs­mittel und Kultur entsprach der persönlichen Überzeugung Honeckers. Die Zeit der Weimarer Republik blieb für ihn prägend, in der die Existenzangst große Teile der Bevölkerung zu Unterstützern und Wählern der NSDAP werden ließ. Hinzu trat der Schock des 17.  Juni, für den Honecker Versorgungsschwierigkeiten als Ursache ausmachte. Nie wieder dürfe die SED die Bedürfnisse der Arbeiterschaft ignorieren. Dies umschloss freilich allein die wirtschaftlichen Bedürfnisse. Die großen Linien gab allerdings auch hier die KPdSU vor. Auf ihrem XXIV. Parteitag vom 30. März bis 9. April 1971 formulierte sie die Umrisse des Konsumsozialismus, den Honecker auf die DDR übertrug. Diese Entscheidung spiegelte die Überlegungen wider, die in kommunistischen Parteien anfangs der 1970er Jahre angestellt wurden, wie die eigene Herrschaft zu sichern sei. Von den drei möglichen Wegen – Demokratisierung zulassen, Rückkehr zu den Methoden des offenen Terrors oder die Erhöhung des Lebensstandards – waren die ersten beiden nicht gangbar.65 Die große strategische Entscheidung H ­ oneckers war es, das Projekt Kommunismus mit der Befriedigung materieller Bedürf 62 Reiner Raestrup, Thomas Weymar, Schuld ist allein der Kapitalismus. Umweltprobleme und ihre Bewältigung in der DDR, in: Deutschland Archiv 15, 1982, 832–844, 843. 63 Steiner, Plan, 191. 64 Schroeder, SED-Staat, 247. 65 Meuschel, Legitimation, 234.

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nisse zu verknüpfen. Er selbst wählte sich wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit als Legitimitätsgrundlage. Hierin liegt der bedeutsame »lock in«, der für die letzten 19 Jahre der DDR gültig blieb.66 Honecker gab einen bedeutenden Vorteil der kommunistischen Ideologie auf. Eine der im Hintergrund wirksamsten Legitimationsbasen war das Versprechen einer idealen Gesellschaft in der Zukunft. Ulbricht selbst hing dieser Sichtweise bis zu seinem Ende an, Honecker gab dieses Heilsversprechen preis. Auf der 9. Tagung des ZK im Mai 1973 sprach der Chefideologe der SED, Kurt Hager, erstmals vom real existierenden Sozialismus.67 Der Sozialismus war in der Gegenwart angekommen, alle Mängel und Unzulänglichkeiten waren nicht mehr die leidigen Phänomene einer Übergangsepoche, sondern inhärente Probleme des Systems. Dies bedeutete einen Wendepunkt im Umgang mit Kritik. Akzeptierte die SED zuvor in bestimmten Grenzen kritische Äußerungen, die sich ja auf die Zustände in einer Übergangsepoche bezogen, änderte sich dies zu Beginn der 1970er Jahre. Kritik sah die sich selbst als im Besitz exklusiven Wissens sehende SED vermehrt als »unangebrachte Nörgelei« an.68 Dies ist zunächst kein großer Unterschied zur westlichen Gesellschaft, für die Gerhards und Neidhardt ebenfalls das politische System als Problemadressat und Regelungsinstanz identifiziert haben.69 Es waren aber der Allmachtsanspruch der SED, der die Partei zum alleinigen Adressaten von Kritik werden ließ. Die SED hatte Staat und Wirtschaft nahezu vollständig unter Kontrolle, sie dominierte die Gesellschaft. »Die materielle Existenz, das berufliche Fortkommen, der gesellschaftliche Status etc., alles hing weitgehend von der Partei ab.«70 Jeder Mangel und jede Ineffizienz fiel unweigerlich auf die SED zurück. Unter den Vorzeichen der wirtschaftlichen Stagnation Ende der 1970er Jahre geriet nicht nur die Befriedung der unpolitischen Bevölkerungsmehrheit in Gefahr, sondern auch die wichtigste Legitimationsstütze der kommunistischen Herrschaft. Damit trat einer der grundlegenden Konflikte offen hervor, der die DDR ab 1976 bis zu ihrem Ende prägen sollte. Die Entsakralisierung des Sozialismus erfasste nicht nur den Konsum und das soziale Netz, sondern alle Lebensbereiche, also auch das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Zu unseren unmittelbaren Arbeits- und Lebensbedingungen gehört die natürliche Umwelt, gehören Boden und Wasser, die Luft, die Tiere und Pflanzen. Sie im Inter 66 Mit »lock in« bezeichnet die Techniksoziologie die »Verfestigung von Selektionsentscheidungen zu festen Pfaden«. Johannes Weyer, Techniksoziologie. Genese, Gestaltung und Steuerung soziotechnischer Systeme. Weinheim 2008, 171. 67 Ebd., 217. 68 Meuschel, Legitimation, 236. 69 Gerhards, Neidhardt, Strukturen, 37. 70 Schroeder, SED-Staat, 248.

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esse der gesamten Gesellschaft sinnvoll zu nutzen, zu erhalten und zu verbessern ist Inhalt und Ziel des Umweltschutzes im Sozialismus.71

Erhaltung und Verbesserung waren in den Augen der SED nötig. Der Zustand der Umwelt sei ein Erbe des Kapitalismus. Die Folgen des »imperialistischen« Weltkrieges mit seinen Zerstörungen habe auch die DDR zu umweltschädlicher Produktion gezwungen, der aus kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen übernommene Kapitalstock könne nur langsam umgebaut werden. Die SED gab das Marx’sche Ideal des harmonischen und nachhaltigen Stoffaustauschs mit der Natur nicht auf. Das Versprechen des Kommunismus, eine umweltverträglichere Güterproduktion als der Kapitalismus zu ermöglichen, blieb bestehen. Damit eine solche Argumentation als Legitimationsbasis verfängt, müssen in der Bevölkerung Ansätze für das Verständnis von Umweltproblemen vorhanden sein. Knabe attestierte der DDR ein Modernisierungsdefizit bezüglich Macht- und Gesellschaftsstrukturen sowie bei den Einstellungen der Bevölkerung.72 Die SED bewegte sich auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite baute sie das sozialistische Umweltverständnis über Infoveranstaltungen, Broschüren und Veröffentlichungen in der Bevölkerung auf, da es ihr als Legitimationsstütze nützlich erschien. Auf der anderen Seite musste sie verhindern, dass ihr der tatsächliche Umweltzustand als Versagen vorgeworfen werden konnte. Im politischen Handeln schälte sich dabei die Legitimationshierarchie heraus. Umweltschutz sprach bestimmte gesellschaftliche Gruppen an und wirkte unter ihnen herrschaftsstabilisierend. Honecker stufte jedoch das Umsturzpotential einer unzufriedenen Arbeiterschaft höher ein als das besorgter Ortsgruppen der Heimat- und Naturfreunde im Kulturbund der DDR. Entscheidungen, in denen sich beide Kreise konträr gegenüberstanden, fielen damit zwangsläufig zugunsten der Güterproduktion aus. Diese strukturelle Schwäche der Umweltpolitik als Legitimationsquelle war bereits in Honeckers Ausführungen auf dem VIII. Parteitag der SED angelegt. Honecker auf dem VIII. Parteitag Auf seinem Krönungsparteitag umriss Honecker seine Vorstellungen von einer neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Er wollte sie zu einer Einheit zusammenführen. Die in der Industrie anfallenden Gewinne sollten demnach nicht mehr für weitere Investitionsvorhaben genutzt werden, sondern in das soziale Netz fließen, damit die Menschen von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit 71 Hans-Albrecht Lütke, Sache der ganzen Gesellschaft, in: Reinhardt, Lütke, Dahlke, Mensch und Umwelt, 2–3, 2. 72 Knabe, Umweltkonflikte, 157.

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der DDR profitieren konnten. Damit kam Honecker den Forderungen aus der Arbeiterschaft entgegen, die niedrigere Preise forderten. In Berufung auf die Marx’sche Arbeitswertlehre konnte diese nicht verstehen, warum bei steigender Arbeitsproduktivität die Güterpreise nicht sanken.73 Gleichzeitig suchte­ Honecker nach Möglichkeiten, die im internationalen Vergleich niedrige Arbeitsproduktivität und Investitionsquote zu erhöhen.74 Die Lösung sah er in einer radikalen Umkehr des bisherigen sequentiellen Vorgehens. Er war davon überzeugt, dass eine Ausweitung der sozialen Transferleistungen und eine dichtere soziale Sicherung zusammen dauerhaft als Leistungsanreizsystem wirken. Damit ließe sich dann ein Produktivitätsschub erreichen, der wiederum eine­ erneute Ausweitung der staatlichen Gaben ermöglichte. Ziel war die bereits erwähnte »Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes«, in den folgenden Jahren kurz »Hauptaufgabe« genannt. Honecker war von der Richtigkeit seines Ansatzes überzeugt. Er duldete in dieser Frage keinen Widerspruch. Fulbrook bescheinigte ihm dazu ein mangelhaftes wirtschaftliches Geschick. Im Gegensatz zu Ulbricht, der »bereit war, sich auf Diskussionen einzulassen, und die Meinungen von Fachleuten einholte, mochte Honecker weder echte Diskussionen noch schien er bereit zu sein, zunehmend unangenehme wirtschaftliche Tatsachen zu akzeptieren, geschweige denn sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen«.75 Diese Einschätzung teilte auch Hans Reichelt, der im Gespräch den Unterschied zwischen leb­ haften Politbürositzungen unter Ulbricht und ›Abnickveranstaltungen‹ unter­ Honecker betonte.76 Der nötige Sachverstand war in der SED-Spitze vorhanden. Willi Stoph stellte auf dem Parteitag der »Hauptaufgabe« folgende Einschränkung zur Seite: Entsprechend dem Grundsatz, daß die Gesellschaft nur das verbrauchen kann, was vorher produziert ist, können wir auf die Dauer auch nicht mehr Geld- und Kreditfonds verbrauchen, als wir effektiv materiell erwirtschaften.77

In anderen Worten bedeutet dies, die Einheit von Wirtschafts- und Sozial­ politik kann nur das an die Sozialpolitik weiterleiten, was zuvor produziert oder hergestellt worden ist. Der Lebensstandard einer Gesellschaft bleibt – auch 73 Steiner, Wirtschaftsreform, 206 und 215. 74 Peter Skyba, Sozialpolitik als Herrschaftssicherung. Entscheidungsprozesse und Folgen in der DDR der siebziger Jahre, in: Clemens Vollnhals, Jürgen Weber (Hrsg.), Der Schein der Normalität. München 2002, 39–80, 59. 75 Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt 2008, 57. 76 Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010. 77 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Berlin, 15. bis 19. Juni 1971. Bericht zur Direktive des VIII. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1971 bis 1975. Berichterstatter: Genosse Willi Stoph. Berlin. 1972, 32.

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Abb. 6: Fördermenge an Rohbraunkohle in Tausen Tonnen in der DDR

unter veränderten Verteilungsmaximen  – an die Leistungsfähigkeit der eigenen Wirtschaft gekoppelt. Mahnende Stimmen, etwa der Staatlichen Plankommission oder der Präsidentin der Staatsbank, die neue Sozialpolitik sei nicht zu finanzieren, überhörte der neue Erste Sekretär der SED. Das Versprechen der Konsum- und Sozialpolitik erfüllte zunächst seinen Zweck. Die Akzeptanz der Bevölkerung mit dem sozialistischen Gesellschaftssystem erreichte seinen Höhepunkt. Dazu trugen auch die Ölkrisen in den westlichen Ländern bei. Die SED nutzte die Schwächephase der Bundesrepublik aus und sah darin die Überlegenheit der Planwirtschaft bestätigt. Das Neue Deutschland veröffentlichte monatlich die aktuellen Arbeitslosenzahlen aus dem Westen und schilderte erschütternde Einzelschicksale junger Arbeitsloser.78 Während in der BRD 1973 autofreie Sonntage die Ölknappheit versinnbildlichten, konnte die DDR zunehmend Erdöl für die Verstromung einsetzen. Dabei entstand weniger Schwefeldioxid als bei der energetischen Nutzung von Braunkohle. Damit erfüllte die DDR ein weiteres Versprechen, das Honecker auf dem VIII. Parteitag gegeben hatte:

78 Dierk Hoffmann, Ölpreisschock und Utopieverlust. Getrennte Krisenwahrnehmung und -bewältigung, in: Udo Wengst, Hermann Wentker (Hrsg.), Das doppelte Deutschland. Berlin 2008, 213–234, 214.

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Ein weiteres Problem soll nicht unerwähnt bleiben, dessen Bedeutung in den kommenden Jahren zunehmen wird. Gemeint ist der Umweltschutz, der Kampf gegen die Verschmutzung von Luft und Wasser, die Eindämmung des Industrie- und Verkehrslärms. Gewiß ist Geld das eine, was wir brauchen. Gewiß ist, daß wir nur schrittweise vorankommen werden. Aber schon heute könnte vieles praktische verbessert werden, wenn die staatlichen Organe und Wirtschaftsleiter auch in dieser Sache alle Reserven mobilisieren und stets das Wohl der arbeitenden Menschen im Auge haben.79

Zum ersten Mal spielte die Umwelt auf einem SED-Parteitag eine so hervorgehobene Rolle. Honecker wähnte sich in einer Position der Stärke. Günstige Rohstoffimporte aus der UdSSR ermöglichten ihm eine Anhebung des Wohlstandsniveaus und eine Verbesserung der Umweltsituation, konkret der Belastung der Luft mit Schwefeldioxid, gleichzeitig. Die Förderung von Rohbraunkohle (Abb. 6) ging bis Mitte der 1970er Jahre zurück. Der letzte öffentliche Jahresbericht über den Umweltzustand, den das MUW 1973 erstellte, attestierte vorzeigbare »Teilergebnisse auf einigen Gebieten«, aber eine »durchgängige entscheidende qualitative Veränderung in der Belastung der natürlichen Umwelt« sei noch nicht erreicht.80 Der Bericht hob das Ziel der DDR Umweltpolitik hervor, im Rahmen der »Hauptaufgabe« »proportional mit der erfolgreichen gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Entwicklung in der DDR planmäßig solche Umweltbedingungen« zu schaffen, die den »Lebensbedürfnissen der Menschen« gerecht werden. Konkret ging es um die Verminderung der Staub- und Lärmbelastung, die Reinhaltung der Gewässer und die schädlichen Abgase der Industrie.81 Gerade bei letzterem sei die Situation besonders dramatisch. 56 Prozent des Territoriums der DDR seien unzulässig hoch mit SO₂ belastet, davon neun Prozent mit dem Doppelten des Grenzwertes. Die »Wohn- und Arbeitszentren der Arbeiterklasse« litten am stärksten unter der Immissionsbelastung. Der Bericht schätzte, dass eine Senkung der Emissionen um 50 Prozent die Lebenserwartung in den Ballungsgebieten um drei bis vier Jahre heben könne. Der Bericht erwähnte auch die immer größer werdenden rauchgeschädigten Waldflächen. 205.000 ha Wald seien mittlerweile in den Schwerpunktbezirken Halle, Leipzig und Cottbus betroffen.82 Der Bericht benannte auch recht deutlich die Schwachpunkte der herrschenden Umweltpolitik. Zum einen gebe es in der DDR keinen »ausreichenden wissenschaftlichen Vorlauf« bezüglich effektiver Reinigungstechnologien. Zum 79 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 1. bis 3. Beratungstag. Berlin (Ost) 1971, 63. 80 BArch DK 1/23062 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Jahres­ analyse über die Entwicklung der sozialistischen Landeskultur und des Umweltschutzes in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin (Ost). 1973, 2. 81 BArch DK 1/23062 ebd., 1. 82 BArch DK 1/23062 ebd., 4.

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anderen fehle es an Geld, an Planungs- und Baukapazitäten.83 Der letzte Punkt, die Einordnung von Umweltschutzinvestitionen in die Jahrespläne, war die Hauptaufgabe des Umweltministeriums. Welche strukturellen Hindernisse es dabei zu überwinden hatte, wurde bereits ausgeführt. Dazu kam, dass der zu verteilende Kuchen immer kleiner wurde. Die wirtschaftspolitische Gleichung Honeckers, erst Konsum, dann Investitionen, führte zwangsläufig zu einem Rückgang der Investitionen. Während der 1970er Jahre zeigte die mangelnde Erneuerung des Kapitalstocks noch keine gravierenden Auswirkungen.­ Honecker zehrte von Ulbrichts Erbe, oder wie es die Kulturwissenschaftlerin Ina Merkel ausdrückte: »Unter Honecker wurde aufgefressen, was unter Ulbricht akkumuliert worden war.«84 Die Betriebe ihrerseits setzten Investitionen absichtlich zu niedrig an, damit sie in den Plan aufgenommen wurden. Im Zuge der Realisierung forderten sie dann mehr Geld und Personal an, als ursprünglich veranschlagt. Die nötigen Mittel schnitt das Sekretariat für Wirtschaftsfragen aus dem Planteil Umweltschutz heraus. 1972 verwendete die DDR auf diese Weise lediglich 0,6 Prozent ihres Nationaleinkommens für Umweltschutzinvestitionen, den größten Teil davon für Klärwerke.85 Im Bereich der Luftreinhaltung verfolgte das MUW eine Konzentrationsstrategie: Nach dem Volkswirtschaftsplan 1973 werden die Investitionen für die Reinhaltung der Luft im Bereich der Kohle und Energie wesentlich gesteigert und konzentriert in den Schwerpunkten wie Kraftwerke Boxberg, Hagenwerder und Thierbach ein­ gesetzt. Dagegen reichen die bei den übrigen Industriezweigen wie chemische Industrie, Bauwesen und Erzbergbau, Metallurgie und Kali geplanten Rationalisierungsmaßnahmen im Plan 1973 nicht aus, um einen spürbaren Abbau der Belastung zu erzielen.86

1974 begann sich abzuzeichnen, dass Honeckers Strategie ins Leere führte. Die erhoffte Produktivitätssteigerung blieb aus, die Menschen in der DDR hatten sich jedoch an die zusätzlichen sozialen Wohltaten gewöhnt. Sie nahmen die Subventionen als selbstverständlich hin und reagierten empört auf die Rücknahme einzelner Posten bzw. die Erhöhung von Güterpreisen.87 Gleichzeitig geriet die andere Seite der Gleichung, die Wirtschaft, unter Druck. Die SED, die immer behauptet hatte, die Planwirtschaft schütze vor den Wirren des Marktes, musste erkennen, dass sie nicht auf einer Insel der Glückseligen saß. In der 83 BArch DK 1/23062 ebd., 3. 84 Merkel, Utopie, 327. 85 BArch DK 5/1992 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Jahresbericht 1972 über die Ergebnisse der sozialistischen Landeskultur und des Umweltschutzes in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin (Ost). 1973, 11. 86 BArch DK 5/1992 ebd., 28. Hervorhebungen sind im Original unterstrichen. 87 Skyba, Sozialpolitik, 43.

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UdSSR war es zu verheerenden Missernten gekommen, und die Sowjetunion war gezwungen, Lebensmittel auf dem Weltmarkt zuzukaufen. Dafür benötigte sie Geld und war nicht mehr bereit, ihr Erdöl weit unterhalb des Weltmarktpreises zu verkaufen. 1974 handelten die DDR und die Sowjetunion neue Modalitäten für den Erdölbezug aus. Der Preis errechnete sich aus dem Mittel des Weltmarktpreises der letzten fünf Jahre.88 Damit erreichte die Ölkrise  – verspätet und geglättet – auch die DDR. Allein 1975 stieg der Preis für eine Tonne Erdöl von 14 auf 35 Rubel.89 Dies waren immer noch nur rund 50 Prozent des Weltmarktpreises, aber bis 1978 stieg dieser Wert auf 80 Prozent an.90 Die SED war nur in sehr begrenztem Umfang in der Lage, gegenzusteuern. Im Handel versuchte sie, verdeckte Preiserhöhungen durchzusetzten, indem sie günstige Ware aus den Regalen entfernen ließ und durch neue, ›qualitativ hochwertigere‹ ersetzte. Diese Maßnahmen reichten bei Weitem nicht aus, um die Mehrkosten für den Rohstoffimport auszugleichen. Zudem reagierten die Konsumenten sehr preissensibel. Die »Kaffeekrise« von 1977 verdeutlichte der SEDSpitze, wie schnell und heftig die Menschen in der DDR auf eine Einschränkung der Konsummöglichkeiten reagierten.91 Die Balance zwischen den beiden Komponenten der »Hauptaufgabe« – Wirtschaftsleistung und Sozialtransfers  – war endgültig gestört. Die geringen Importmittel der DDR fraß der Erdölimport. Die Wirtschaft der DDR war nur etwa halb so produktiv wie die der BRD, aber der Konsum sollte aus politischen Gründen auf ähnlichem Niveau gehalten werden. Diese Gleichung war nur mit Schulden zu lösen. Pichl verwendete den umfassenderen Ausdruck »Ent­ sparen«, denn Entsparen umfasst nicht nur die Kreditaufnahme im westlichen Ausland, sondern auch den Verschleiß des Maschinenparks aufgrund fehlender Ersatzinvestitionen und den Raubbau an den Naturreichtümern eines Landes.92 Die Gefahr hatten DDR-Ökonomen bereits in den 1970er Jahren erkannt. Sie beurteilten eine Steigerung des Nationaleinkommens, das auf einer gesteigerten Effektivität auf Basis eines erhöhten Naturressourceneinsatzes beruhte,

88 Malycha, Winters, SED, 219. 89 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR ­1971–1989. 2., durchges. Aufl. Bonn 1999, 197. 90 Hoffmann, Ölpreisschock, 229. 91 Aufgrund stark angestiegener Weltmarktpreise für Kaffee schränkte die SED den Import ein. Im Handel waren nur noch die teuren Marken Mona und Rondo zu haben. Die günstige Marke verschwand aus den Regalen. Neu war dagegen ein Mischkaffe, genannt KaffeeMix, der zu großen Teilen aus Gerste und Roggen bestand. Den teuren Kaffee konnten sich nur noch gutverdienende oder Menschen mit Westkontakten leisten. Diesen Schritt erlebten viele Bürger als Rückschritt im Lebensstandard. Fuhrer, Diktatur, 101–102 und HansHermann Hertle, Stefan Wolle, Damals in der DDR. Der Alltag im Arbeiter- und Bauernstaat. München 2004, 195–196. 92 Pichl, Schmidt, Development, 145.

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als »Scheineffektivität«. Die Kosten würden nur in andere Bereiche der Volkswirtschaft verlagert.93 Betroffen davon war die Energieerzeugung, die die teilweise bereits erfolgte Substitution von Braunkohle durch sowjetisches Erdöl wieder rückgängig machen musste.94 Die Filmfabrik in Wolfen beispielsweise besaß drei Kraftwerke, das jüngste davon war 1973 auf Erdöl umgestellt worden. Dadurch sanken die Schwefeldioxid- und Staubemissionen der Fabrik deutlich. 1976 kehrte das Kraftwerk zur Braunkohleverfeuerung zurück. Zwar stiegen die Emissionen nicht mehr auf das Niveau vor 1973 an, weil es alte Kraftwerke ersetzte, aber das relativ niedrige Emissionsniveau der 1970er Jahre wurde in den 1980er Jahren nicht wieder erreicht.95 In Wolfen stand ein neues, effizientes Kraftwerk bereit. In anderen Teilen der Wirtschaft waren die Auswirkungen verheerender. Die Anlagen der karbid­ chemischen Industrie wurden seit Ende der 1960er Jahre – zugunsten der Petrochemie – auf Verschleiß gefahren, darunter auch das Schwelwerk in Espenhain, das 1975 stillgelegt werden sollte.96 Mitte der 1970er Jahre revidierte die SED diesen Beschluss, Espenhain blieb bis 1990 in Betrieb und belastete mit seinen Emissionen 450.000 Menschen.97 Der Rückkehr zur Braunkohleverstromung und Karbidchemie und den damit verbundenen höheren SO₂-Emissionen hätte einer Erhöhung der Umweltschutzinvestitionen bedurft, um die negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen so gering wie möglich zu halten. Das Umweltministerium war zu schwach, um im notwendigen Umfang Investitionsvorhaben in die Jahrespläne einzuordnen. Blieben noch die Betriebe, die eigenverantwortlich Investitionsvorhaben durchführen konnten. Sie waren aber aus ökonomischen Gründen nicht an Umweltschutzinvestitionen interessiert. Die Kosten, die ihnen enstanden, konnten sie nicht über die Produktpreise an die Verbraucher weitergeben.98 Dies verbot das Honecker’sche Diktum der Preis-

93 Krause, Wirtschaftstheorie, 251–252. 94 Vgl. zur projektierte Umstellung von Großfeuerungsanlagen von Braunkohle auf Erdöl Friedrich-Ebert-Stiftung, Die Energiepolitik der DDR. Mängelverwaltung zwischen Kernkraft und Braunkohle. Bonn 1988, 25–30. 95 Rainer Albrecht, Einst streng geheim. Messungen und Beobachtungen zur Luftverunreinigung in Wolfen und Umgebung in den Jahren zwischen 1970 und 1990 – eine Dokumentation, in: Caroline Möhring, Hans Bleymüller (Hrsg.), Phönix auf Asche. Remagen 2009, 30–41, 34–35. 96 Carlo Jordan, Ulrich Neumann, Mathias Voigt, Von einer Reise nach Mölbis, Rötha und Espenhain: Erlebnisse, Fakten und ein Aufruf, in: Arche-Info 1, 1988, 6–9, 7. 97 BArch DC 20/12800 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Gefährdungsanalyse der Betriebe, von denen Belastungen der Luft und der Gewässer ausgehen. Berlin (Ost). Dezember 1984, 13. Siehe zu Espenhain Kapitel 4.4.1. 98 Füllenbach, Umweltschutz, 126.

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stabilität. Damit senkten enstprechende Investitionen den Gewinn des Betriebs und damit auch die Sozialfonds. Dies lag weder im Interesse des Betriebs noch der SED-Spitze, da sie bei Kürzung der Fonds Unruhe unter der Arbeiterschaft befürchtete. Welcher Betrachtungswinkel auch immer gewählt wird, unter einer Politik mit dem Primat der Preisstabilität ist das Verursacherprinzip nicht durchzusetzen. Daran änderten auch die ab 1973 erhobenen Staub- und Abgasgelder nichts. Sie waren zu niedrig bemessen, um einen erzieherischen Effekt auf die Betriebsleitungen auszuüben und verschärften sich bei wiederholter Überschreitung nicht. 1976 waren es in der gesamten DDR 7,5 Mio. Mark.99 Die Zahlungen stiegen von Jahr zu Jahr an und lagen 1986 bei 47,3 Mio. Mark.100 Die Zahlungen erreichten aber nie das Niveau, das dem Einbau von Filteranlagen oder Produktionsunterbrechungen entsprochen hätte: Allein die einstündige Außerbetriebnahme eines Kessels in den Leunawerken wegen Smog-Warnung schlug mit einer Mio. Mark zu Buche.101 Mitte der 1980er Jahre errechnete das dem MUW nachgeordnete Zentrum für Umweltgestaltungen einen jährlichen Investitionsbedarf von 800 Mio. Mark, um allein die Schwefeldioxidemissionen effektiv senken zu können.102 Der Einbau einer Rauchgasentschwefelungsanlage im IKW Leuna war 1987 mit 1,9 Mrd. Mark veranschlagt und hätte die SO₂-Emissionen um 100.000 t pro Jahr reduziert, also um weniger als zwei Prozent der damaligen Gesamtemissionen von 5,56 Mio. t pro Jahr.103 Die Staub- und Abgasgelder waren mithin eine stumpfe Waffe, wenn es darum ging, die Betriebe zum Einbau teurer Filtertechnik zu bewegen. Das Positionspapier »Ökonomische Probleme des Umweltschutzes und ihre staatliche Regelung« aus dem Umfeld der chemischen Industrie erhellt die Einstellung, die unter Betriebsleitern herrschte.104 Zwar begriffen die Chemiekombinate den »Umweltschutz als eine erstrangige politische und humanitäre Aufgabe«, sie lehnten aber die neuen Regelungen des Landeskulturgesetzes ab 99 BArch DQ 1/15159 Ministerium für Gesundheitswesen, Bericht der Abteilung und Hauptinspektion Kommunalhygiene über die Situation auf dem Gebiet der Lufthygiene, der Wasserhygiene, der Bodenhygiene und des kommunalen Lärmschutzes im Jahr 1976. Berlin (Ost). 1977, pag. 48. 100 BArch DK 5/1355 Staatliche Umweltinspektion, Bericht zur Entwicklung der Emission von Luftverunreinigungen in der DDR im Jahre 1986. Berlin (Ost). 1986, pag. 4–5. 101 Günter Streibel, Erfahrungen mit planerischen Instrumenten der Umweltökonomie, in: Bechmann, Umweltpolitik, 35–54, 39. 102 BArch DK 5/1353 Z. MD und IFEK. I. Kooperationsgemeinschaft ZUG, Prognoseund Entscheidungsmodell Umweltschutz (PEMU) am ZKI der AdW. 15.3.1988, pag. 56. 103 BArch DK 5/2126 Werner Krolikowski, Bericht zur Entwicklung der Emissionen von Luftverunreinigungen in der DDR im Jahre 1986.19.8.1987, o. pag. 104 BArch DK 1/23063 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Allgemeiner Schriftverkehr zum Komplex Umweltschutz, Positionspapier der Chemischen Industrie vom 27.12.1973.

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und forderten eine Entlastung. Die Betriebe arbeiteten doch für die Gesellschaft, warum sollten sie dann die Umweltkosten alleine tragen? Der Verfasser des Papiers bemerkte das »Aufkommen einer Schadensersatzideologie« bei den von Immissionen Betroffenen. Das Wohl des Einzelnen werde über das komplexe Allgemeinwohl gestellt. Dabei waren es die Betriebe, die sich weiterhin auf die Praxis verlegten, die der Justitiar des Kunstfaserwerkes Schwarza den Tharandter Rauchschadenforschern bereits in den 1950er Jahren offenbart hatte: die Zahlung von Entschädigungen an die Land- und Forstwirtschaft. Es war nicht die Forstwirtschaft, die es sich in einem System der Entschädigungszahlungen bequem machte, sondern die Industrie. Dafür sprechen die Zahlen, denn 1970 leisteten die Chemiekombinate Leuna, Buna, Wolfen und Bitterfeld 3,6 Mio. Mark Anpassungszahlungen. Dem standen 19,8 Mio. an Investitionen in Luft- und Gewässerreinhaltung gegenüber.105 Das Satire-Magazin Eulenspiegel karikierte diesen Zustand in einem Witz. »Was tust du für den Umweltschutz, Genosse?« wird ein Betriebsleiter gefragt. »Ich zahle jedes Jahr meine Vertragsstrafe«, antwortet dieser.106 Der Entwicklung trug Honecker auf dem IX. Parteitag der SED im Juni 1976 Rechnung. Er versprach der Bevölkerung weitere soziale Wohltaten, zum Umweltschutz hieß es dagegen in der Direktive nur unverbindlich, dass »planmäßige Maßnahmen für die Reinhaltung der Gewässer, die Nutzung und den Schutz des Bodens, für die Reinhaltung der Luft, die Minderung des Lärms sowie die Beseitigung und Verwendung von Siedlungsmüll und industriellen Abprodukten durchzuführen« seien.107 Im Gegensatz zu 1971 vermied es­ Honecker, die Umweltsituation als ›Problem‹ darzustellen. Der umfassende Anspruch hatte sich auf eine Verbesserung der »Umweltbedingungen insbesondere in den Arbeiterzentren und Ballungsgebieten« reduziert.108 Der letzte Abschnitt sticht bei genauer Kenntnis von Becks Risikogesellschaft ins Auge. Dort kritisiert er für die Bundesrepublik im umweltbezogenem Gutachter­wesen die strikte naturwissenschaftliche Ausrichtung, die Ignoranz gegenüber dem Individuum, ja den »Verlust des gesellschaftlichen Denkens«.109 Auch die Behörden der DDR verwendeten in Bezug auf die Verteilung von Schad- und Giftstoffen primär geographische Bezugsräume. Allerdings schienen ihre sozialen Reflexe – zumindest auf dem Papier – noch nicht gänzlich ver-

105 BArch DK 1/23063 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Komplex Umweltschutz, Positionspapier der Chemischen Industrie vom 27.12.1973. 106 Zitiert aus Raestrup, Weymar, Schuld, 839. 107 Zitiert aus Nohara-Schnabel, Entwicklung, 809. 108 BArch DK 5/1961 Institut für Wasserwirtschaft, Die Entwicklung der Schwefeldioxidbelastung und ihre volkswirtschaftlichen Auswirkungen in der DDR. Cottbus. 31.1.1977, pag. 65. 109 Beck, Risikogesellschaft, 33.

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kümmert und sie konnten territoriale Kategorien mit sozialen rückkoppeln. Die Luftbelastung traf die Ballungsgebiete, die aber – wie der zitierte Berichte treffend bemerkte – primär von Arbeitern bewohnt wurden.

3.2.2 Die Herausforderung der westlichen Umweltdebatte In den innenpolitisch vergleichsweise ruhigen Jahren 1971 bis 1976 sah sich die SED, ja die gesamte marxistische Ideologie, einer neuen, von außen kommenden Herausforderung gegenüber. Der 1972 kurz vor der internationalen Umweltkonferenz in Stockholm veröffentlichte Bericht Die Grenzen des Wachstums an den Club of Rome war ein internationales Fanal. Er befeuerte in Teilen der westlichen Welt den Zweifel an der Sinnhaftigkeit wirtschaftlichen Wachstums und technischen Fortschritts.110 Bereits 18 Monate nach Erscheinen hatte sich der Bericht 2,5 Mio. Mal verkauft und war in 25 Sprachen übersetzt worden.111 Er fand in den marktwirtschaftlich organisierten Ländern eine große Ressonanz und half dabei, die Probleme der Ressourcenknappheit und Umweltschäden zu popularisieren und bewusst zu machen. Diese aufkeimende Wachstumsdiskussion barg für die SED ein großes Risiko, bot aber auch propagan­distische Möglichkeiten. Hermann Meusel war Professor für Biologie und seit 1953 Direktor des Institutes für Landesforschung und Naturschutz in Halle. Als Naturschützer konservativer Prägung setzte er sich für den Erhalt einheimischer Pflanzenkulturen und eine Renaturierung der Landschaft ein. Er sah – wie Lingner – die kleinräumigen Strukturen in der Landwirtschaft als ideal an und kämpfte für den Erhalt von kleinen Waldflächen und Feldgehölzen. Daneben stellte er konzeptionelle Überlegungen an, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur im Sozialismus gestaltet werden könnte. Er sah die moderne Gesellschaft an einem Punkt angekommen, ab dem ein weiterer Ausbau der Industrie dem Menschen mehr Schaden als Nutzen brächte.112 Er hing dabei nicht romantisierenden Vorstellungen eines »Zurück-zur-Natur«-Weges an, sondern sah im technischen Fortschritt das Mittel, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Allerdings forderte er gleichzeitig, auf weiteres Wirtschaftswachstum zu verzichten, weil ansonsten die Tragfähigkeit des Naturraums überschritten werde.113

110 Patrick Kupper, »Weltuntergangs-Vision aus dem Computer«. Zur Geschichte der Studie »Die Grenzen des Wachstums« von 1972, in: ­Uekötter, Hohensee, Kassandra, 98–111, 110. 111 Harry Maier, Gibt es Grenzen des ökonomischen Wachstums? Frankfurt 1977, 20. 112 Hermann Meusel, Gegenwartsaufgaben des Naturschutzes. Vortrag, gehalten auf der Naturschutztagung 1956 in Leipzig, in: Natur und Heimat 6, 1957, 22–25, 24. 113 Meusel, Probleme, 97.

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Meusels Forderungen weisen Ähnlichkeiten mit den Null-Wachstums-Überlegungen oder Forderungen nach einem organischen Wachstum der 1970er Jahre auf. Beide Ansätze legten die Axt an eine Wurzel der kommunistischen Ideologie, die ihre Versprechungen nur über hohes Wachstum einlösen konnte: Das historische Ziel der kommunistischen Gesellschaftsformation besteht bekanntlich darin, alle materiellen und geistigen Bedingungen für die freie, allseitige Entwicklung der Persönlichkeit, für die universelle Entfaltung und Bewährung aller Fähigkeiten und Schöpferkräfte der Menschen in einer klassenlosen Gesellschaft zu schaffen.114

Dazu war aber eine »hohe Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit« notwendig. Der Philosoph Alfred Kosing lehnte die Forderung nach einem »orga­ nischen Wachstum« explizit als »utopisch« ab.115 Im Parteiprogramm der SED von 1976 stand, dass nur ein »stabiles Wachstum« die »schrittweise Verbesse­ rung des Lebensniveaus aller Werktätigen« ermöglichen könne.116 Harry Nick, Leiter der Fachrichtung »Ökonomische und soziale Probleme des wissenschaftlich-technischen Fortschritts« an der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, bezeichnete 1979 den Bericht an den Club of Rome als »ernsthaftesten Versuch der bürgerlichen Ideologie, eine ›Strategie des Überlebens‹ der kapitalistischen Ordnung« zu formulieren.117 Bereits einige Jahre zuvor hatte er in ähnlicher Weise argumentiert: »Das laute Geschrei, das den Gedanken an die Methode ›Haltet den Dieb!‹ nahelegt, hat doch vor allem den Zweck, ›den Umweltschutz an die Stelle der sozialistischen Revolution zu setzen‹.«118 In die gleiche Richtung stieß auch Kurt Hager, der Chefideologe der SED.119 Nick urteilte kategorisch: »Verlangsamtes wirtschaftliches Wachstum oder gar wirtschaftliche Stagnation sind auf keinen Fall ein Weg zur Lösung der komplizierten Probleme.«120 Westlichen Forderungen nach einer Einschränkung des privaten Konsums schleuderte er seine Replik entgegen: »Dem Sozialismus und Kommunismus ist jegliche Askese fremd […]. Kommunismus ohne Wachstum wäre nicht ein anderer Kommunismus, sondern überhaupt keiner.«121 114 Kosing, Mensch-Gesellschaft-Umwelt, 799. 115 Ebd., 795–797. 116 Vgl. dazu auch Harry Nick, Wirtschaftswachstum. Seine Perspektiven im Sozia­lismus und seine bornierten Kritiker, in: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus, 1976, 586–596, 591. 117 Harry Nick, Mensch und Umwelt, in: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus, 1979, 702–712, 710. 118 Nick, Wirtschaftswachstum, 594. 119 Horst Paucke, Chancen für Umweltpolitik und Umweltforschung. Zur Situation in der ehemaligen DDR. Marburg 1994, 38. 120 Nick, Mensch und Umwelt, 705. 121 Nick, Wirtschaftswachstum, 595.

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Harry Maier, stellvertretender Direktor des Zentralinstitutes für Wirtschafts­ wissenschaften an der Akademie der Wissenschaften, widmete dem Bericht an den Club of Rome ein eigenes Buch, in dem er vor allem die Konvergenzthese und den Wachstumsverzicht scharf zurückwies.122 Zudem stellten die meinungsführenden Wissenschaftler in der DDR grundsätzlich westliche Umweltprognosen in Frage, da »allein der Marxismus-Leninismus wissenschaftlich begründete Vorstellungen über die Zukunft der Menschheit entwickeln und entsprechende Prognosen aufstellen« könne.123 Da der Verzicht auf Wachstum als Lösungsstrategie ausfiel, mussten die Vordenker in der SED alternative Lösungsvorschläge präsentieren. Immerhin war es weltweiter Konsens, dass ein »gegenwärtig weltweit[er]« Konflikt zwischen dem »technischen Können und der Funktionstüchtigkeit von Territorium, Gesellschaft und Wirtschaft« bestehe.124 DDR-Autoren griffen zudem die Metapher des »Raumschiffs Erde« in ihren Publikationen auf.125 Rolf ­Löther, Direk­ tor der Sektion Philosophie und Wissenschaftstheorie in der Medizin der Akademie für ärztliche Fortbildung, diagnostizierte in den 1960er Jahren eine Reihe von – noch nicht so benannten – Umweltproblemen: Radioaktivität durch Bombenversuche und Kraftwerke, Insektizide und Phosphate in der Landwirtschaft, Aussterben von Tierarten oder die weltweite Bevölkerungszunahme. Die Lösung sah er in einem neuen Verhältnis zur Natur. Die Mahnungen westlicher Wissenschaftler, die zunehmend vor der Technisierung warnten, lehnte er ab. Eine weitere Technisierung und die sozialistische Umgestaltung der Welt seien die besten Voraussetzungen, die Lebensfähigkeit der Welt zu bewahren. An konkreten Maßnahmen forderte er eine Erziehung zum Umweltbewusstsein bereits in der Schule, eine fundierte ökonomische Bewertung von Umweltschutzmaßnahmen und eine intensive Erforschung der ökosystemaren Zusammenhänge.126 In den 1970er Jahren beantwortete das politische und philosophische Personal der DDR die Frage der Umweltschäden ambivalent. Umweltschutz sei ein internationales Anliegen, das alle Staaten, unabhängig ihrer sozialen Ordnung 122 Maier, Gibt es Grenzen. Eine Vielzahl der hier zitierten Publikationen entstanden im Umfeld der DAW/AdW. Edgar Lehmann leitete die am 8. April 1971 gebildete Klasse »Umweltschutz und Umweltgestaltung«, Karlheinz Lohs war deren stellvertretender Leiter. Hans Mottek war seit Juli 1972 Vorsitzender der »Kommission für Umweltforschung«. Herbert Schindler leitete 1974/75 die kurzlebige und auf Geheiß Honeckers aufgelöste »Forschungsstelle Umweltgestaltung«. Vgl. dazu Horst Paucke, Hans Mottek. Ein Initiator der Umweltforschung der DDR, in: Hermann Behrens, Arne Andersen (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte und Umwelt – Hans Mottek zum Gedenken. Marburg 1996, 89–107, 90–95. 123 Paucke, Chancen, 36. 124 Anonymus, Mensch und Umwelt im Sozialismus, in: Spektrum 2, 1971, 18, 18. 125 Karlheinz Lohs, Wolfgang Rolle, Luftverschmutzung und Gesundheit, in: Lohs, Mittelpunkt, 385–402, 402. 126 Würth, Umweltschutz, 138–139.

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anstreben müssten.127 Die dahinter stehenden Motivationen gingen aber deutlich auseinander. Im Sozialismus sei Umweltschutz ein »Mittel zur Gestaltung eines menschenwürdigen Lebens«. »Er schafft die Voraussetzungen für eine gesunde Existenz, für die volle Entfaltung der Schaffenskraft und für ein freud­ volles Dasein.«128 Die westlichen Staaten hingegen würden mit Umwelt primär negative Begriffe wie Verschmutzung, Schäden oder Krise assoziieren und einen »Umwelt-Schock« inszenieren, um von ihren sozialen Problemen abzulenken. Mit Zugeständnissen in Richtung Umweltschutz versuche der Kapitalismus, »seiner eigenen revolutionären Beseitigung entgegenzuwirken«.129 Neben dieser eher grundlegenden Strategie verfolge das »bürgerliche Lager« mit der von ihm erzeugten »Umwelthysterie« handfeste ökonomische Ziele.130 Es gehe um die Durchsetzung des Verursacherprinzips, das nichts anderes sei als eine Abwälzung der Kosten auf die Verbraucher in Form höherer Preise. »Man wälzt die Kosten für den Umweltschutz auf den Verbraucher ab, indem man ihm glaubhaft macht, daß wissenschaftlich-technischer Fortschritt untrennbar mit steigender Umweltbelastung verbunden sei.«131 Alleiniges Ziel der protegierten Umweltbewegung sei es, die »Opfer reif« für den »Raubzug« zu machen, und »die Öffentlichkeit in den kapitalistischen Ländern zu größeren Opfern für die Umweltreproduktion im Interesse der Profitmaximierung zu veranlassen«.132 Die Ursache, warum die kapitalistischen Staaten Geld brauchten, um Umweltschäden zu bekämpfen, liege in ihrem Wirtschaftssystem. Unter »kapitalistischen Eigentumsverhältnissen [sei] auch die natürliche Umwelt des Menschen in erster Linie Ausbeutungsobjekt«.133 Die Jagd nach Profit, das privatkapitalistische Eigentum der Produktionsmittel und die Bodenspekulation wurden als Hauptursache für Umweltschäden angesehen. »In der Klassengesellschaft erfolgt dieser Stoffwechsel des Menschen mit der Natur von der Position des maximalen Nutzens für die Ausbeuterklassen. Unter den Bedingungen des Imperialismus entstehen so mit der wissenschaftlich-technischen Revolution jedes bisherige Maß sprengende und oft irreversible Folgen für das ökologische Gleichgewicht.«134 Nick sprach dem Kapitalismus jede Möglichkeit ab, die Umweltprobleme zu beseitigen. Dies liege daran, dass in der freien Wirtschaft die Gratisgaben der Natur ausgenutzt und die Kosten der Gesellschaft aufgebür 127 Bader, Umweltschutz, 4–5. 128 Hans-Albrecht Lütke, Hoher Einsatz für ein hohes Ziel, in: Urania 48, 1972, 2, 2. 129 Horst Paucke, Adolf Bauer, Umweltprobleme. Herausforderung der Menschheit. Berlin (Ost) 1979, 52. 130 Herbert Schindler, Aspekte und Probleme des Umweltschutzes und der Umweltgestaltung. Hrsg.v. Akademie für Weiterbildung beim Ministerium für Kultur. Berlin (Ost). 1975, 29. 131 Lohs, Mittelpunkt, Vorwort. 132 Titel, Umweltschutz in der DDR, 50 und Maier, Gibt es Grenzen, 48. 133 Wörterbuch der Ökonomie – Sozialismus. Berlin (Ost) 1973, 539–540. 134 Titel, Sozialistische Landeskultur, 290.

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det würden.135 »Das heutige Ausmaß von Umweltgefährdung und -zerstörung ist eine Folge der jahrhundertelangen Herrschaft des Privateigentums an den Produktionsmitteln und vor allem der Praktiken des Monopolkapitals im 20. Jahrhundert.«136 Dem stellten die DDR-Wissenschaftler den schonenden Umgang mit den Naturressourcen im Sozialismus entgegen. Während der 1970er Jahre veränderte sich die grundlegende Argumentation allerdings in die Richtung, dass die SED nun die Umweltgefährdung prinzipiell anerkannte. Der Kapitalismus missbrauche sie aber, um die hausgemachten Probleme zu überdecken.137 Der Mensch beziehe immer größere Teile der Erdoberfläche in den Produktionsprozess mit ein. Aus dieser »neuen Qualität des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur« erwachse die »Aktualität der Mensch-Umwelt-Problematik«.138 Die Lösung dieser Problematik könne allein der Sozialismus bieten, da er die »besseren sozialökonomischen Möglichkeiten« besitze und auf »seiner von Klassenantagonismen freien ökonomischen Basis in der Lage [ist], das Überleben der Menschheit zu sichern«.139 Die »Organisation des gesellschaftlichen Lebensprozesses« folge den »natürlichen Gesetzen der Biosphäre« und ermögliche so die »harmonische Wechselwirkung zwischen Natur und Gesellschaft«.140 Titel brachte bereits 1971 den Anspruch des Sozialismus auf den Punkt: Ein umfassender Schutz der Natur – wie die Lösung vieler anderer großer sozialer Probleme – ist nur im Sozialismus möglich, in einer Gesellschaft, in der der Mensch im Mittelpunkt steht und in der auch die Natur kein Objekt kapitalistischer Ausbeutung mehr ist.141

Der Verbrauch an Rohstoffen werde in den sozialistischen Staaten sinken. Zukünftiges Wachstum werde nicht durch »Einbeziehung neuer natürlicher Ressourcen und Ausweitung des Produktionsfeldes, sondern durch Erhöhung ihres Wirkungsgrades ermöglicht«.142 Dies leitet über zu einem wichtigen Aspekt der Debatte. In der Frage der »Konvergenz« bzw. »Systemneutralität« standen sich Ost und West am pointiertesten gegenüber. Der Bericht Die Grenzen des Wachstums ging von der Annahme aus, dass ähnliche Wirtschafts- und In­ dustriestrukturen zu ähnlichen Umwelt- und Ressourcenproblemen führten. Kapitalistische und sozialistische Länder ständen demnach vor einer gemein 135 Nick, Mensch und Umwelt, 704. 136 Grundmann, Stabenow, Beziehungen, 1778. 137 Paucke, Chancen, 38. 138 Grundmann, Stabenow, Beziehungen, 1776. 139 Adolf Bauer, Horst Paucke, Einheit und Kampf zwischen Natur und Gesellschaft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 27, 1979, 593–602, 602. 140 Kosing, Mensch-Gesellschaft-Umwelt, 799. 141 Titel, Sozialistische Landeskultur, 290. 142 Maier, Gibt es Grenzen, 23.

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samen Herausforderung. Maier sah darin eine »vollständige Verschleierung der realen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, von denen das ökonomische Wachstum im Sozialismus und Kapitalismus getragen wird, und ihres diametral entgegengesetzten sozialökonomischen Inhalts«.143 Nick vermutete einen billigen Trick, um die Wachstumsdynamik der sozialistischen Länder zu torpedieren. Da der Kapitalismus in der Krise sei und nicht mehr wachsen könne, schiebe er die Zerstörung der natürlichen Umwelt, die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und das hohe Bevölkerungswachstum vor, um den Sozialismus von seinem Erfolgsweg abzubringen.144 Die »bewußte und planmäßige Ge­staltung der gesellschaftlichen Prozesse« erlaube allein dem Sozialismus die »rationelle und effektive Nutzung der Naturreichtümer sowie die Zügelung und Regulierung der die Natur zerstörenden Kräfte«.145 Alle Forderungen nach Errichtung einer ökologisch orientierten Gesellschaft »jenseits von Kapitalismus und Sozialismus« wurden scharf abgelehnt.146 »Solche Gedankengänge galten offiziell als sozialismusfeindlich, reaktionär und kapitalismusfreundlich.«147 Die SED stemmte sich gegen eine Entpolitisierung des Umweltproblems. Technischer Fortschritt, Wirtschaftswachstum oder Bevölkerungskonzentration hätten nichts mit den wahren Ursachen der Umweltverschmutzung zu tun.148 Diese wurzelten allein in der Produktionsweise und den sozialen Problemen der westlichen Welt wie Krieg, Rüstung oder Apartheid.149 Ganz »bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse« seien damit die Ursache der Umweltprobleme, keinesfalls seien sie allein die »Folge des Produktionswachstums«.150 Damit kamen die bisher zitierten, sozialistischen Autoren in die Verlegenheit, die Umweltverschmutzung auf ihrem Territorium erklären zu müssen. Hier boten sie vielfältige Rechtfertigungen an. Die beiden Bedeutendsten sind die These von der Übernahme des kapitalistischen Kapitalstocks und die Systemkonkurrenz. »Die sozialistischen Länder haben ja zunächst die auf der kapitalistischen Warenproduktion beruhende Technik übernehmen müssen, die ihrem Wesen nach die Umweltnebenwirkungen nur spontan berücksichtigt.«151 Der Umbau der Produktionsanlagen, ja die »Ökologisierung der Produktion«, 143 Ebd., 21. 144 Nick, Wirtschaftswachstum, 593. 145 Reinhardt, Umwelt, 7. 146 Klaus-Dieter Schäfer, Dominierende Standpunkte bürgerlicher Ideologen zu ökologischen Problemen der Gegenwart, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 27, 1979, 610–617, 611. 147 Paucke, Chancen, 84–85. 148 Höhmann, Seidenstecher, Vajna, Umweltschutz, 91. 149 BArch DK 5/1826 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft/Abteilung Grundstoffindustrie, ZK der SED, Information über Umweltkonferenz, pag. 1–2. 150 Schindler, Aspekte, 33. 151 Hans Mottek, Zu einigen Grundfragen der Mensch-Umwelt-Problematik, in: Wirtschaftswissenschaft 20, 1972, 36–43, 41.

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sei nur in langen Zeiträumen und schrittweise zu bewerkstelligen.152 Der Kapitalismus habe seit Beginn der Industrialisierung die Frage der Umweltbelastung zurückgestellt, weil entsprechende Maßnahmen den Profit geschmälert hätten. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste die DDR zudem ein »trauriges Erbe antreten«.153 In der Zeit des Aufbaus mussten »Aufgaben, wie die Reinigung des Abwassers und der Abgase, zunächst zurückgestellt werden«.154 Doch auch seit der Zeit direkt nach dem Krieg befinde sich die DDR in einem unseligen Wettstreit mit der Bundesrepublik.155 Die imperialistische Politik des Westens zwinge die DDR und die übrigen sozialistischen Staaten zu hohen Rüstungsaufwendungen. Diese binde Produk­ tionsmittel und zerstöre Landschaft.156 Auch auf dem Gebiet der zivilen Güterversorgung wirke sich die Konkurrenz des Kapitalismus negativ aus. Da es in der Marktwirtschaft nicht zu einer Einpreisung der externen Effekte komme, könne der Westen seine Waren auf dem Weltmarkt günstig verkaufen. Der Sozialismus müsse sich diesem »Diktat« beugen, damit seine eigenen Güter auf dem Markt »anbietbar« blieben.157 »Jedes Vorpreschen der DDR« in dieser Frage führe zu einer »Verteuerung der Produktion« und zu einer »verminderten Wettbewerbsfähigkeit«, »woraus sich letzten Endes eine Minderung der später verfügbaren Mittel ergibt«.158 Vereinzelt richteten die Autoren den Blick nach Innen und benannten die systemimmanenten Mechanismen, die einen effektiven Umweltschutz verhinderten. Nick bemerkte, dass die sozialistischen Länder ein hohes extensives Wachstum vorweisen könnten. Das Problem der Intensivierung sei dagegen noch nicht gelöst.159 Paucke stellte dafür eine Begründung bereit, denn »die Tatsache, daß die Naturreichtümer gleichsam kostenlos zur Verfügung stehen, wirkt sich nicht immer günstig auf ihre rationelle Nutzung aus.«160 Auch im Sozialismus bestand das »eigentliche Problem« darin, dass die »gegenwärtige Gestaltung der Planung und wirtschaftlichen Rechnungsführungen« zu einer »häufig vorhandenen Gegenläufigkeit zwischen betrieblicher Produk-

152 Paucke, Bauer, Umweltprobleme, 203–213 und Paucke, Chancen, 85. 153 L. Eremit, Technologien der Abgasreinigung. Möglichkeiten und Projekte, in: Reinhardt, Lütke, Dahlke, Mensch und Umwelt, 36–41, 37. 154 Ebd., 37. 155 Bittighöfer, Edeling, Kulow, Fragen, 74–75. 156 Hans Kulow, Das Verhältnis von Natur und Gesellschaft und der gesellschaftliche Fortschritt in unserer Epoche, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 27, 1979, 603–609, 606. 157 Walter Hollitscher, Umweltprobleme, Technik und Gesellschaftsordnung, in: Marxistische Blätter 10, 1972, 15–20, 17. 158 Grundmann, Stabenow, Beziehungen, 1783. 159 Nick, Wirtschaftswachstum, 590. 160 Paucke, Bauer, Umweltprobleme, 70.

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tivität oder Effektivität und umweltschützenden Maßnahmen« führe.161 Deutlicher konnten die Autoren in der DDR nicht werden, um den Umstand zu beschreiben, dass auf der Ebene der Betriebe auch im Sozialismus marktwirtschaftliche Logiken griffen. Welche Lösungsstrategien boten die DDR-Denker an? Ein auffälliger Unterschied zwischen Ost und West liegt in der grundsätzlich optimistischen Grundstimmung der DDR-Autoren. Im Westen geprägte Bilder wie die des ›Raumschiffs Erde‹ wurden zwar auch im Osten teilweise rezipiert, um auf die Verletzlichkeit der Umwelt hinzuweisen. Es fehlen jedoch alle Metaphern des »Umkippens«. Zu keiner Zeit glaubten – zumindest erscheint dies so in den Publikationen  – die maßgeblichen Akteure in der DDR, dass irreparable Schäden an der Umwelt entstehen. Den ostdeutschen Beiträgen fehlte das Moment der Angst, die Befürchtung, dass die Menschheit mit ihrem Handeln die eigene Existenz bedrohe. Die Überzeugung war, der Sozialismus könne und werde die Probleme lösen. Dazu brauche er aber Wirtschaftswachstum, denn nur so könne ein effektiver Umweltschutz umgesetzt werden.162 Allerdings müsse beim »­gegenwärtig erreichten Entwicklungsstand der Umweltnutzung« zum »intensiven Typ der Umweltreproduktion« übergegangen werden.163 Der Wirtschaftshistoriker Hans Mottek hat auf diesem Gebiet die konsequentesten Überlegungen angestellt. Er forderte den umweltgerechten Umbau der gesamten Produktion. Im Gegensatz zu »früheren Zeiten« sollten bei der Entwicklung neuer Techniken deren »Nebenwirkungen […] entscheidend berücksichtigt werden«. Er fuhr damit fort, den Terminus ›Technischer Fortschritt‹ neu zu definieren: Künftig wird man aber immer mehr dazu übergehen, schon die Grundtechnologien, die Primärapparaturen umweltgerecht zu entwickeln, wofür der elektrische Kraftwagen ein bekanntes Beispiel ist. Damit wird zunächst in qualitativer Hinsicht eine weit größere technische Umwälzung verbunden sein als mit der Automatisierung. Technische Entwicklungen, die in diesem Sinne nicht umweltgerecht, sondern umweltschädlich sind, bei denen der Umweltschaden entweder überhaupt nicht oder nur mit vergleichsweise hohen Kosten beseitigt werden kann, dürften nicht mehr als technischer Fortschritt gelten, die, jedenfalls unter ihnen gemäßen gesellschaftlichen Bedingungen, den Bedürfnissen der Menschen, den Interessen der Gesellschaft dienen.164

Bereits vorhandene Umweltschäden wollte Mottek als Schulden verstanden wissen, zu deren Tilgung man Mittel bereitstellen müsse.165 Bereits 1964 verwandte er den Begriff der »negativen Gebrauchswerte« für Formen der Umweltbelas 161 Gläß, Grenzwerte, 1842. 162 Nick, Wirtschaftswachstum, 595. 163 Maier, Gibt es Grenzen, 53. 164 Mottek, Grundfragen, 38–39. 165 Ebd., 42.

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tung, die die Arbeitsfähigkeit des Menschen minderten.166 Er war sich bewusst, dass Umweltschutz Geld kostete, das an anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung stand. Alle Maßnahmen mussten für die »sozialistischen Länder ökonomisch tragbar sein«. Dies sei dann gegeben, wenn eine Maßnahme »die gegenwärtigen und zukünftigen Lebensbedingungen (direkt und vermittelt) mehr positiv als negativ beeinflusst«. In der Bewertung von positiven Lebensbedingungen kam Mottek zu einem anderen Ergebnis als die SED-Parteiführung. Er kritisierte das Konstrukt des Nationaleinkommens als maßgebliche Zielgröße, da sich darin so »wichtige Faktoren wie das Produktionssortiment und die Qualität der erzeugten Güter […] ebensowenig widerspiegeln wie auch der Umweltzustand«.167 Mottek sah die Erde als »Notgemeinschaft aller Menschen« und geriet wegen seiner Überlegungen und seiner positiven Einstellung zum Bericht Die Grenzen des Wachstums des Öfteren in Konflikt mit der Parteiführung in Gestalt von Kurt Hager.168 Konkrete Vorschläge, wie in der Praxis der Umweltzustand verbessert und wie die Wirtschaft auf die Stufe der intensiven Produktion gebracht werden könnte, machten die Autoren nicht. Dagegen finden sich in den Texten Passagen, die auf bestehende mentale Schwierigkeiten im »Massenbewusstein« der »sozialistischen Gesellschaft« mit dem Umweltschutzgedanken hinweisen:169 Die Gestaltung der Umwelt ist auch und in ganz besonderem Maße eine Frage des Bewußtseins; denn nur dann, wenn sich jeder Bürger, jeder Betriebsleiter, jeder Bürgermeister usw. immer und überall von den Bedürfnissen der ganzen sozialistischen Gesellschaft, den Bedürfnissen der gegenwärtig lebenden Generation und kommender leiten läßt, wird er bereit und fähig sein, den Erfordernissen der Gestaltung sozialistischer Beziehungen von Mensch und Umwelt gemäß zu handeln.170

166 Walter Becker, Wirtschaftsgeschichte und Umwelt. Notgemeinschaft Erde. Erinnerungen an Hans Mottek, in: Behrens, Andersen, Wirtschaftsgeschichte und Umwelt, 74–88, 77 und 82. 167 Hans Mottek, Umweltschutz – ökonomisch betrachtet, in: Lohs, Mittelpunkt, 1–15, 9. 168 Seine Biographie schützte ihn allerdings vor negativen Konsequenzen. Mottek hatte eine antifaschistische Vergangenheit, jüdische Vorfahren, befand sich zwischen 1933 und 1946 im Exil und wurde 1935 Mitglied der KPD. Paucke, Hans Mottek. Ein Initiator der Umweltforschung der DDR, 104. 169 Siegfried Stoof, Fragen des Verhältnisses von sozialistischer Gesellschaft und Natur. Zum V. Philosophie-Kongress der DDR, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 27, 1979, 587–592, 590. 170 Grundmann, Stabenow, Beziehungen, 1784.

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3.2.3 Stellenwert der Forstwirtschaft als Wirtschaftszweig Eine Berufsgruppe, die für sich in Anspruch nimmt, in Generationen zu denken, sind die Forstwirtschaftler. Auch unter sozialistischen Verhältnissen sahen sie sich dem der Forstwirtschaft entsprungenen Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet. Zudem wachten sie über einen der wenigen Rohstoffe, der in der DDR selbst vorhanden war. Der Wald als Holzlieferant litt besonders unter der zunehmenden Schadstoffbelastung der Luft. Die folgenden Ausführungen dienen dem Zweck, die Bedeutung der Forstwirtschaft und holzverarbeitenden Industrie in der DDR kurz zu umreißen und die Entwicklung der geschädigten Waldflächen bis Ende der 1970er Jahre zu charakterisieren. Das Erbe, das die DDR in den Wäldern antrat, war geprägt von Kriegs- und Reparationsschäden. 1947 erreichte der Holzeinschlag mit 21 Mio. Erntefestmetern den absoluten Höchststand. Dies war wesentlich mehr, als jährlich nachwuchs. Ursache für diese starke Übernutzung waren der Brennstoffmangel, die Holzentnahmen zu Reparationszwecken und ein Sturmereignis.171 In den 1950er Jahren sank der Holzvorrat pro Hektar Waldfläche von 110 bis 113 m³ 1950 auf 102 m³ 1957.172 Als Zielkorridor nannte die DDR-Forstwirtschaft einen Wert von 200 bis 230 m³/ha. Dieses Ergebnis wurde zu DDR-Zeiten nicht erreicht, die Entwicklung ging allerdings in diese Richtung.173 Abbildung 7 zeigt, wie der jährliche Holzeinschlag in den 1950er und 1960er Jahren beständig zurückging und 1966 mit 6,2 Mio. Festmetern ein Minimum erreichte. Gleich­ zeitig stieg die Vorratshaltung von 145 m³ 1971 über 167 m³ 1979 und 180 m³ 1985 auf 190 m³ an. Die zentrale Aufgabe der Forstwirtschaft in der DDR war es, die Volkswirtschaft mit Holz und anderen Waldprodukten zu versorgen. Nach eigenen Angaben hatten 17 Prozent aller Industrierohstoffe eine forstwirtschaftliche Herkunft.174 Allerdings gehörte die DDR zu einem der »waldärmsten sozialis-

171 Karl Heinz Großer, Der Wald in der Umweltpolitik, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung (Hrsg.), Umweltschutz in der DDR. Bd. 2. München 2007, 127–142, 127. 172 Kurth, Der Wald im 21. Jahrhundert, 9 und BArch DK 1/28104 VEB Forstprojektierung Potsdam-Institut für Forstwissenschaften Eberswalde Technische Universität Dresden. Sektion Forstwirtschaft Tharandt, Gutachten über die Möglichkeiten der nachhaltigen Rohholzbereitstellung aus dem Inlandaufkommen der DDR 1990.10.2.1989, pag. 2. 173 Horst Kurth, Die Entwicklung der Forstwirtschaft in der DDR, in: Allgemeine Forstzeitschrift 45, 1990, 892–897, 892. 174 BArch DC 20/I/4/4597 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur weiteren Intensivierung und Leistungssteigerung der Forstwirtschaft. 14.8.1980, pag. 34.

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Abb. 7: Rohholzeinschlag in den Wäldern der DDR pro Jahr, 1946–1988

tischen Länder«.175 Von den 10,8 Mio. ha Staatsgebiet entfielen knapp drei Mio. bzw. 27,5 Prozent auf Forsten und Waldungen. Damit kamen 1989 auf einen DDR-Bürger 0,18 ha Waldfläche.176 Die Tschechoslowakei und Polen kamen hier auf Werte von 0,3 und 0,28 ha.177 Die strukturelle Situation war demnach gekennzeichnet von einem hohen Nutzungsdruck bei einer gleichzeitig sehr ungünstigen Altersstruktur. Werner Felfe, ZK-Sekretär für Landwirtschaft, sah noch 1984 die durch »Kriegs- und Nachkriegseinwirkungen empfindlich gestört[e]« Altersstruktur als den »entscheidende[n] und begrenzende[n] Faktor

175 SAPMO DY 30/1739 ZK der SED Abteilung Landwirtschaft, Übersichtsmaterial zur Forstwirtschaft. 1981, pag. 2. 176 Milnik, Verantwortung, 18. 177 BArch DE 1/57247 Staatliche Plankommission, Maßnahmen zur effektiveren Nutzung des Rohstoffes Holz für die Produktion von Spanplatten und anderen Holzwerkstoffen sowie von Zellstoff und Papier auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse durch den gezielten Ausbau und die grundlegende Rekonstruierung der Holzgewinnung und -verarbeitung. Berlin (Ost). 7.3.1979, 42.

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für die Höhe des Rohstoffaufkommens« an.178 Erst 2050 hätte die Altersstruktur die gewünschte Verteilung erreicht.179 Von dem im internationalen Vergleich hohen jährlichen Zuwachs pro Hektar von 6,3 m³ konnte die DDR lediglich 3,6 m³ ernten, da der Anteil junger Bestände sehr hoch war. Allein bei der Kiefer verfehlte die Forstwirtschaft den angestrebten Altholzanteil um 20 Prozent, während er bei den Laubhölzern sehr hoch war. Die Ursachen dafür lagen neben den ›geerbten Schäden‹ in den Unzulänglichkeiten der DDR-Wirtschaft. Die Holzindustrie war nur unzureichend auf die Verarbeitung von Laubholz eingestellt und bevorzugte Fichten- und Kiefernholz.180 Zudem wies die DDR-Forstwirtschaft einen geringen Mechanisierungsgrad auf, der Anteil der Maschinenarbeit lag unter 30 Prozent und der Anteil der manuellen Arbeit sank kaum. Gleichzeitig fehlten 4000 bis 5000 Produktionsarbeiter, was Versäumnisse bei der Jungbestandspflege und der Durchforstung nach sich zog. Die Wirtschaftswege waren schlecht ausgebaut, was zu einer Übernutzung mittelalter, gut erschlossener Bestände führte. Der Ministerrat wollte aus diesen Gründen Anfang der 1980er Jahre den VEB Forsttechnik Waren ausbauen.181 Einen eigenen forstlichen Maschinenbau besaß die DDR nicht, sondern war hier im Rahmen des RGW auf Entwicklungen aus Polen oder der UdSSR angewiesen. Ende der 1970er Jahre stellte die Abteilung Landwirtschaft des ZK der SED eine »prinzipielle Verbesserung des Waldzustandes« fest.182 Nach dem Tiefpunkt in den 1960er Jahren stellte die Forstwirtschaft kontinuierlich mehr Rohholz zur Verfügung, was die Handelsbilanz mit Holz und Holzprodukten aus der Sicht der DDR verbesserte. Zwar konnte sie am Ende nur etwa 64 Prozent ihres Holzverbrauches aus eigenem Aufkommen decken, sie erwirtschaftete dennoch in der Summe einen beachtlichen Handelsüberschuss.183 In den 1980er Jahren stellte die Forstwirtschaft etwa 11 Mio. m³ Rohholz bereit, während der Bedarf bei 18 Mio. m³ lag. Die Lücke von 7 Mio. m³ deckte die DDR mit Alt 178 SAPMO DY 30/1436 Werner Felfe, Information über Probleme und Aufgaben der Reproduktion des Waldfonds der DDR. 18.12.1984, pag. 3. 179 BArch DC 20/I/4/4597 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Intensivierung, pag. 34. 180 BArch DK 1/28104 VEB Forstprojektierung Potsdam-Institut für Forstwissenschaften Eberswalde-Technische Universität Dresden. Sektion Forstwirtschaft Tharandt, Gutachten, pag. 3. 181 BArch DC 20/I/4/4597 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Intensivierung, pag. 18 und 35. 182 SAPMO DY 30/1737 ZK der SED Abteilung Landwirtschaft, Information über die erreichten Ergebnisse bei der Durchsetzung des Beschlusses des Sekretariats des ZK der SED vom 9.2.1977 und des Präsidiums des Ministerrates vom 27.1.1977 zum Schutz der Wälder der DDR (Stand 31.3.1977). 28.4.1977, pag. 3. 183 SAPMO DY 30/1739 Abteilung Landwirtschaft, Übersichtsmaterial Forstwirtschaft, pag. 2.

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und Resthölzern sowie recyceltem Altpapier zu 3 Mio. m³ und Importen aus der UdSSR, die der »Hauptlieferant an Rohholz und Holzwerkstoffen« war.184 Dies führte teilweise zu nachgelagerten Problemen, denn die Zellstoffindustrie verbrauchte den Großteil der sowjetischen Importhölzer, die »aber nicht immer verlässlich« kamen. Dies zwang die DDR-Forstwirtschaft häufig zu spontaner, unplanmäßiger Nutzung des in der Zellstoffindustrie beliebten Fichtenholzes. Dazu mussten auch unbeschädigte oder nur wenig geschädigte Fichtenbestände in den Rauchschadgebieten des Erzgebirges eingeschlagen werden. Das Politbüro strebte – nicht nur aus diesem Grund – an, die Holzimporte zu senken oder ganz abzulösen. Ein Weg führte über eine intensivere Nutzung des Rohholzes, denn aus den bereitgestellten 11 Mio. m³, entstanden nur etwa Produkte im Gegenwert von 7 Mio. m³, was »nicht dem Weltniveau« entsprach.185 Der andere Weg war die Erhöhung des inländischen Rohholzaufkommens. Ein gemeinsames Gutachten des VEB Forstprojektierung Potsdam, des IFE Eberswalde und der Sektion Forstwissenschaft Tharandt erteilte 1989 den Plänen der SED eine Absage, die Produktion auf 14,6 Mio. m³ zu erhöhen, um die Importe aus der UdSSR abzulösen. Die Fichtenalthölzer wären bis 2010 »völlig kahlgeschlagen«. Bereits 1988 bewege sich die DDR mit ihrem Holzeinschlag »am Limit des Leistungsvermögens des Waldes«.186 In der entgegengesetzten Himmelsrichtung war der DDR dagegen die »Störfreimachung der Wirtschaft« geglückt, also Importe aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) weitestgehend zu ersetzen.187 Als Beispiel sei hier die Handelsbilanz des Jahres 1980 ausgeführt. Das Holzaufkommen setzte sich zusammen aus 9,4 Mio. Festmeter Rohholz, wovon 0,3 Mio. Festmeter für den Export bestimmt waren, 0,9 Mio. Festmeter Rohholzimport sowie je 1,6 Mio. Festmeter Altholz und Altpapier. In jenem Jahr exportierte die DDR in das sozialistische Wirtschaftsgebiet Holz- und Kulturwaren sowie Zellstoff, Papier und Verpackungen im Wert von 1609 Mio. Valuta­gegenwert (VGW). Im Wert von 1838 Mio. VGW importierte sie Rohholz, Holz-und Kulturwaren sowie Zellstoff, Papier und Verpackungen, woraus sich ein Saldo von 229 Mio. VGW ergab. Dem stand ein Haben von 472 Mio. Valutamark aus dem Handel mit dem NSW gegenüber, was in der Summe einen Überschuss von 243 Mio. Valutamark (VM) erbrachte. Dabei erzielte die Forstwirtschaft im engeren Sinne einen Handelsverlust von 15 Mio. VM.188 Laut 184 Ebd. 185 Kurth, Die Entwicklung der Forstwirtschaft in der DDR, 893. 186 BArch DK 1/28104 VEB Forstprojektierung PotsdamInstitut für Forstwissenschaften Eberswalde-Technische Universität Dresden. Sektion Forstwirtschaft Tharandt, Gutachten, pag. 4. 187 BArch DC 20/I/4/4597 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Intensivierung, pag. 34. 188 BArch DE 1/57247 Staatliche Plankommission, Maßnahmen, pag. 17 und 34.

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Volkswirtschaftsplan wurde aus dem Verlust bis 1987 ein Gewinn in Höhe von etwa 13 Mio. VM.189 Angesichts des Handelsbilanzdefizits von 2764 Mio. VM im Warenaustausch mit den nichtsozialistischen Staaten 1980, stellten die 472 Mio. bzw. 243 Mio. Überschuss einen bedeutenden Posten im Außenhandel der DDR dar.190 Die Positionen der Forstwirtschaft im engeren Sinne – also der Ver- und Einkauf von Rohholz und die Anschaffung von Düngemitteln, Insektiziden, Forstmaschinen u. ä. – machte davon nur einen kleinen Teil aus. Die Abteilung Landwirtschaft informierte den zuständigen Sekretär Felfe darüber, dass etwa 1986 Rohholz im Wert von 80,3 Mio. VM exportiert worden sei.191 Die direkt damit verbundenen und nachgelagerten Industrie- und Gewerbezweige waren für die Wirtschaft der DDR jedoch ein lukrativer Faktor. Ab Mitte der 1960er Jahre wandelten sich die Ansprüche an den Wirtschaftsfaktor Wald. Neben den »produktive[n] Aufgaben als Rohholzlieferant« mussten zunehmend die »Aufgaben der sozialistischen Landeskultur« berücksichtigt werden, »die Komotativwirkungen des Waldes, seine Auswirkungen auf den Landschaftshaushalt, auf Gesundheit der Bevölkerung und auf das Erholungswesen«.192 Diese veränderte Sicht auf den Wald erscheint am sinnfälligsten in dem Buch In meines Großvaters Kinderwald, das sich 1978 mit den Methoden der industrialisierten Landwirtschaft befasste: Wir wollten alle Sümpfe trockenlegen, alle Wüsten bewässern, oben drüber sollte ein Wunschwetter auf Bestellung stattfinden. […] Es galt schon eine Weile als verpönt und antiquiert, einfach so spazieren zu gehen, Bäume schön zu finden, ohne an Bretter zu denken. Sich von einer Landschaft zu wünschen, daß sie so bleiben soll, wie sie ist.193

Der Wald als Ort der Erholung konnte nicht vollständig identisch sein mit dem Ort der Holzproduktion. Beide Nutzungsansprüche traten nicht direkt in Konkurrenz miteinander, aber eine beiden Bedürfnissen gerechte Produktion führte zu einer veränderten Bewirtschaftung. Der Wissenschaftsbereich Forst­ ökonomie in Tharandt setzte sich mit dem Spannungsfeld auseinander: Ausschließlich auf eine maximale Rohholzproduktion gerichtete Maßnahmen können jedoch die landeskulturellen Leistungen einschränken. Umgekehrt kann die ein 189 DE 1/58962 Staatliche Plankommission, Staatliche Planauflagen des Volkswirtschafts­ planes 1987 für das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. 1.10.1986, o. pag. 190 Deutsche Bundesbank, Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989. Frankfurt 1999, 50. 191 SAPMO DY 30/1441 ZK der SED Abteilung Landwirtschaft, Information für den Genossen Werner Felfe über die Ergebnisse bei der Erfüllung der Aufgaben des Volkswirtschaftsplanes 1986 durch die Wertätigen der Forstwirtschaft. 30.12.1986, pag. 1–2. 192 Weinitschke, Landeskulturgesetz, 228. 193 Claus B. Schröder, In meines Großvaters Kinderwald. Ein Report. Halle, Leipzig 1978, 21.

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seitige Durchsetzung landeskultureller Forderungen zu ungerechtfertigten Mehraufwendungen und Ertragsverlusten bei der Rohholzerzeugung und -bereitstellung führen. Zur Beurteilung des forstlichen Reproduktionsprozesses müssen deshalb beide Aufgabenbereiche herangezogen werden.194

Der große Unterschied zwischen beiden Aspekten war, dass sich die Holz­ produktion »in mannigfaltiger Form in forstwirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Effektivitätskennziffern und ökonomischen Regelungen« bewerten ließ, während die »landeskulturellen Leistungen noch nicht ausreichend« gemessen werden konnten.195 Allerdings stellte eine veränderte Waldbewirtschaftung nicht den Bestand des Waldes als solcher in Frage, sondern hätte nach den Untersuchungen der Tharandter Forstökonomen lediglich den Ertrag etwas reduziert. Kalamitäten Das Aufbauwerk der DDR-Forstwirtschaft geriet in den 1970er Jahren jedoch von anderen Seiten unter Druck. In Abb. 7 sind zwei Spitzen zu erkennen, 1974 eine größere und 1972 eine kleinere. Sie stehen für zwei Naturereignisse, die enorme Schäden in den Wäldern hinterließen. Am 13.  März 1972 kam es im Erzgebirge zu schweren Sturmschäden. Orkanböen fielen aus Süd-Ost in die Rückseite der Schlagreihen ein und richteten besonders in den Altbeständen Schäden an. Das Holzaufkommen sprang in diesem Jahr auf 20 Fm pro Hektar.196 Im Herbst 1972 und Frühjahr 1973 kamen weitere Sturmschäden hinzu. 1974 fiel durch schwere Schneebruchschäden weiteres Wurf- und Bruchholz an, das als Brutstätte für Schadinsekten gefürchtet war. Die Situation in den Wäldern hatte sich derart zugespitzt, dass das Präsidium des Ministerrates am 30. Mai 1974 den »Beschluß über Maßnahmen zum Schutz der Waldbestände der DDR« fasste. Das Gremium beschloss den Import von Holztransport- und Verarbeitemaschinen aus Finnland, um die angefallenen Holzmassen verarbeiten zukönnen. Dem Beschluss lag ein »Bericht über die Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR« bei, der wahrscheinlich in Tharandt verfasst worden war. Der Bericht befasste sich nicht nur mit den akuten Waldschäden, sondern sprach auch die chronische Schwächung des Waldes durch die Luftbelastung an: 194 UA der TUD, Sekt 21 577, Bereich Forstökonomie, Forschungsbericht, Einbeziehung der landeskulturellen Leistungen in die Effektivitätsbestimmungen der Forstwirtschaft. 8.12.1984, pag. 1–2. 195 UA der TUD, Sekt 21 577, ebd., pag. 2. 196 Mende, Forstgeschichte, 56.

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Allein im Rauchschadengebiet des oberen Erzgebirges entwickelte sich die Schadfläche seit 1971 von 30 Tha auf 72 Tha. Die voraussichtliche Entwicklung der Emissionsquote wird den Schadfortschritt in den Folgejahren trotz der eingeleiteten Maßnahmen weiter erhöhen.197

Die angesprochenen Maßnahmen waren die Düngung der geschädigten Bestände und die Ausarbeitung einer Bewirtschaftungsrichtlinie. Der Bericht forderte auch, den in der 5. Durchführungsverordnung des Landeskulturgesetzes angekündigten Ausbau des Messnetzes endlich in die Tat umzusetzen. Zudem müsse die gedüngte Fläche bis 1980 auf 220.000 Hektar verdreifacht werden, um die Bestände einigermaßen zu stabilisieren. Die Forstwirtschaft konnte die Waldschäden im Mitteldeutschen Industriegebiet und der Niederlausitz mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln eindämmen. Die Schadentwicklung im Erzgebirge entzog sich jedoch jedem Therapieversuch. Für 1965 hatten die Forstwissenschaftler für die gesamte DDR eine rauchgeschädigte Fläche von 200.000 ha ermittelt. 1981 lag dieser Wert bei 312.000 ha. Von den 112.000 ha Zuwachs an Schadfläche entfiel allein auf den Bezirk Karl-Marx-Stadt 83.000 ha.198 Auch im Nachbarbezirk Dresden wuchs die Schadfläche im gleichen Zeitraum stark an, von 2000 ha auf über 54.000 ha. Die Forstwissenschaftler wiesen auf die enormen wirtschaftlichen Schäden hin, die durch die Luftbelastung entstanden. Der Massezuwachs sank vom Ausgangswert 6,3 Vorratsfestmeter (Vfm) pro Hektar und Jahr auf 4,7 Vfm in der Schadzone III. In der Schadzone I lag dieser Wert nur noch bei 2,7 Vfm. Zudem war in der Schadzone I ein Verlust von 10 Prozent aller Bäume in 10 Jahren zu erwarten.199 Bei einer Umtriebszeit von 100 Jahren hätten demnach nur ein Drittel der Bäume die Hiebsreife erreicht. Besonders betroffen waren die StFB Marienberg, Schwarzenberg, Tharandt und Königstein, wie auf Karte 2 zu erkennen ist. In einigen Revieren dieser StFB war eine geregelte Bewirtschaftung nicht mehr möglich, im StFB Marienberg lag der Anteil der rauchgeschädigten Fläche bei 99 Prozent, fast ein Viertel entfiel auf die Schadzone I.200 Diese Zahlen dürften dem damaligen Kenntnisstand recht nahe kommen, sie entstammen einer Information des ZK-Sekretärs für Landwirtschaft, Werner 197 BArch DC 20/I/4/3080 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über Maßnahmen zum Schutz der Waldbestände der DDR. 30.5.1974, pag. A1. 198 SAPMO DY 30/118 Werner Felfe, Information über die gegenwärtige Lage im Forstschutz des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. 25.6.1981, o. pag. 199 Herbert Lux, Ergebnisse der Rauchschaden-Großraumdiagnose 1973 in der Niederlausitz. 121. Mitteilung des Arbeitskreises Rauchschadenforschung Tharandt, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 25, 1976, 663–667, 666. 200 SAPMO DY 30/118 Felfe, Gegenwärtige Lage, o. pag.

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Karte 2: Rauchschäden im Erzgebirge

Felfe, an Erich Honecker. Dies ist ein Indiz dafür, dass der Zustand der Wälder ab Mitte der 1970er Jahre zu einem Politikum wurde, das auch auf den hohen Partei- und Regierungsebenen verhandelt wurde. Dem erwähnten Beschluss des Präsidiums des Ministerrates von 1974 folgten in den kommenden Jahren weitere. Ein Grund war auch das Eintreffen der befürchteten Schädlingskalamität nach den Sturm- und Windbrüchen. Mitte der 1970er Jahre litten die Wälder unter einer Borken- und Kiefernprachtkäferplage.201 Diese setzten die immissionsgeschädigten Waldbestände zusätzlich unter Druck. Heimische und tschechische Emissionen hatten die Waldbestände soweit geschwächt, dass sie den Naturgewalten Schnee, Sturm, Frost oder Dürre  – und nun dem Insektenbefall – weniger Widerstandskraft entgegensetzen konnten.202 Ein in diesen Jahren entstandenes Gutachten der Tharandter Rauchschadenforscher um Däßler gab der Regierung wenig Hoffnung, dass sich an dieser Lage etwas ändern werde: 201 SAPMO DY 30/1737 Heinz Kuhrig, Bericht über die Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR. 18.10.1976, Brief an Minister Bruno Kiesler vom 18.10.1976. 202 BArch DK 1/28275 Institut für Forstwissenschaften Eberswalde, Informationen für Leitungskader der Forstwirtschaft. NfD. Hrsg. v. Leitstelle für Information. Eberswalde. 9.1.1978, pag. 4. Vgl. auch Hans-Günther Däßler, Vegetationsschäden als Folge der Luftverschmutzung. Mitteilung Nr. 109 der AG »Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 20, 1971, 1171–1173, 1171.

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217

Düngung oder andere Maßnahmen können die Entwicklung verzögern aber nicht aufhalten. Es gilt, einen Zeitraum von ca. 40 Jahren bis zum wahrscheinlichen Abklingen des starken SO₂-Einflusses im Erzgebirge so zu überbrücken, daß der Wald, bei stark eingeschränkter wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, als Vegetationsform und Grundlage für eine dann wieder mögliche normale Forstwirtschaft erhalten bleibt. […] Die Forstwirtschaft ist unter den derzeitigen und zu erwartenden Immissionsbedingungen nicht mehr in der Lage, in den stark durch Luftverunreinigungen belasteten Gebieten den Waldbestand zu erhalten, bzw. zu reproduzieren. Entscheidende Voraussetzungen für eine Besserung dieser Situation ist eine den phytotoxischen Schwellenwerten angenäherte Verminderung der Luftverunreinigung durch die Industrie. Technische Möglichkeiten dazu sind entsprechend dem Weltstand durchaus gegeben.203

Von der tschechischen Grenze schob sich das Schadgebiet langsam hinunter in das Erzgebirgsvorland (siehe Karte 3). Die wertvollen sächsischen Fichtenbestände drohten als Lieferanten für die holzverarbeitende Industrie der DDR langfristig auszufallen. Die Kosten, über Düngung die Leistungsfähigkeit der Wälder zu erhalten, stiegen immer weiter an. 1977 errechnete der Wissenschaftsbereich Bodenkunde in Tharandt für einen Vfm Mehrzuwachs Kosten von 70 bis 80 Mark.204 Hinzu kamen die nicht quantifizierbaren Schäden im Bereich der landeskulturellen Leistungen, besonders im für die DDR sensiblen Bereich der Wasserwirtschaft. 1978 berichtete schließlich Günter Mittag persönlich an Erich Honecker: Das Schadgebiet hat eine Längserstreckung von etwa 120 km vom Großen Winterberg bis Carlsfeld. Stärkere Schäden treten in 2 bis 5 km, schwächere noch in 15 bis 20 km Entfernung von der Grenze zur ČSSR auf. Die voraussichtliche Dauer der Schadstoffbelastung werde sich entsprechend dem fortschreitenden Abbau der Braunkohlenlager Nordböhmens bis in die Jahre um 2010 bis 2020 erstrecken. Bedingt durch die Inbetriebnahme neuer Kapazitäten im Raum Chomutov und Sokolov nimmt die Belastung im mittleren und westlichen Teil des Erzgebirges in den letzten Jahren zu. Das wirkt sich besonders auf den Fichtelberg-Komplex aus. Seit 1976/77 treten auch zunehmend Schäden im Gebiet des Auersberges und des Aschberges auf.205

Mittag überwand sein Desinteresse an Umweltschäden, weil die DDR – in seiner Sicht – nicht Schuld an der Lage im Oberen Erzgebirge war.

203 BArch DK 1/28724 Hans-Günther Däßler u. a., Gutachten über die Auswirkung industrieller Emissionen auf die Waldbestände der DDR. Tharandt. 17.9.1980, pag. 13 und 17–18. 204 UA der TUD, Sekt 21 451, Bereich Bodenkunde und Standortslehre, Düngungsprojekt Tharandter Wald. 1977. 205 SAPMO DY 30/2835 Günter Mittag, Ergebnisse der Untersuchung über Luftverunreinigung im Erzgebirge. 11.5.1978, pag. 55.

218

Die 1970er Jahre – Aufbruch und Stagnation

Karte 3: Entwicklung der Schadzonen im Erzgebirge

Hauptquellen der Verunreinigungen sind die Kraftwerke, Kohleveredelungsanlagen und Chemiebetriebe im Nordböhmischen Becken. Als Quellgebiete auf dem Territorium der DDR kommen zusätzlich die Industriekonzentrationen im nördlichen Erzgebirgsvorland (Zwickau/Karl-Marx-Stadt/Freiberg) sowie im oberen Elbtal (Dresden/Pirna) in Betracht. Nach langjährigen Beobachtungen der DDR ergibt sich ein Verhältnis der Immissionsanteile DDR:ČSSR von etwa 34: 66 (Anlagen 1 und 2).206

Die sich ab Mitte der 1970er Jahre bemerkbar machende Verlichtung einzelner Bestände – nach Sturmschäden, Windbruch und Insektenbefall – hatte sich noch nicht in Eingaben an Partei- und Staatsorgane niedergeschlagen. 1975 ging jedoch im tschechischen Usti das neue Gaskombinat Sokolov in Betrieb, das eine zusätzliche Belastung für die Bewohner und die Wälder des Oberen Erzgebirges darstellte. Die mit der Inbetriebnahme verbundene massive Zunahme der Beschwerden zwang die SED-Spitze, die Situation an der südlichen Grenze intensiver zu beobachten und darauf zu reagieren.

206 SAPMO DY 30/2835 ebd., pag. 56.

Stagnation und Konflikte  

219

3.3 Stagnation und Konflikte Am 24. Dezember 1979 um 2.30 Uhr nachts erreichte das Ministerium für Gesundheitswesen eine für diese Jahre typische Beschwerde aus dem Erzgebirge: Zu einer ungewöhnlichen Nachtzeit, bin ich wie schon so oft, aus dem Schlaf erwacht. Schuld an meinem Wachsein ist dieser unheimliche Gestank aus der ČSSR, der von dem Werk über unser Erzgebirge zieht. Mir wird unwohl. Angstzustände treiben mich aus dem Bett. Ich wandre von Raum zu Raum. Finde nicht zur Ruhe bis dieser ›Mief‹ wieder abzieht. Wie oft gehe ich deshalb unausgeschlafen zur Arbeit! Diese Belastung empfinden auch andere Bürger. Nicht jeder hat den Mut zu schreiben. Ich habe auch zwei Jahre dazu gebraucht! […]. Ich bin enttäuscht, daß in einem Land wie dem unsrigen, so etwas geduldet wird. Tun Sie bitte was dagegen!207

Das Ministerium für Gesundheitswesen leitete die Eingabe an die Abteilung Umweltschutz des MUW weiter, die für Bearbeitung und Beantwortung dieser Art von Eingaben zuständig war. Die Abb. 8 gibt die Zahl der an die Abteilung Umweltschutz gerichteten Eingaben wieder. Bis zum Ende der DDR blieben sie auf einem geringen absoluten Niveau. Die relativen Veränderungen waren allerdings teilweise erheblich. Auch wenn die großen Sprünge erst in den 1980er Jahren kamen, wiesen die Eingaben der 1970er Jahre bereits den Grundtenor späterer Jahre auf. Ab 1976 verknüpften immer mehr Eingaben den »katzenkot­ artigen Gestank«, der bevorzugt in den Nachtstunden auftrat, mit der generellen Luftbelastung und den immer deutlicher zu erkennenden Waldschäden. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Frage, wie die Verantwortlichen in SED und Regierung auf diese Entwicklung reagierten, welche Maßnahmen sie ergriffen, um den Zustand der Erzgebirgswälder zu verbessern und der Unruhe der ansässigen Bevölkerung zu begegnen. Die innenpolitischen Ereignisse stehen zunächst im Vordergrund, bevor der Fokus auf die außenpolitischen Aktivitäten gerichtet wird. Dabei erscheint die DDR einmal – in den bilateralen Verhandlungen mit der ČSSR  – als treibende Kraft und ein anderes Mal – in den Verhandlungen zur Genfer Konvention von 1979 – als Getriebene. In beiden Fällen trat Hans Reichelt als Verhandlungsführer der DDR auf – eine Entwicklung, die bei der Konstruktion des Umweltministeriums 1971/72 nicht abzusehen war.

207 BArch DK 5/72 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, o. pag.

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900 800 700 600 500 400 300 200 100 0

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Abb. 8: Eingaben an die Abteilung Umweltschutz des MUW

3.3.1 Wachsende Unzufriedenheit im Erzgebirge Reichelts Ministerium beantwortete die oben genannte Eingabe im März 1980. Die Ursache der Emissionen sei das Gaskombinat Sokolov in Böhmen. Die geruchsintensiven Stoffe röchen in geringer Konzentration zwar unangenehm, seien aber nicht gesundheitsschädlich. Dabei hatte das Ministerium keine Gewissheit, um welche Stoffe es sich hier handelte. Der einzige Gasspektrometer der DDR mit schwefelspezifischem Detektor war bei dem VEB Leuna-Werken im Einsatz, und dort waren keine Kapazitäten frei. Erst 1982 konnte das Hygieneinstitut Zwickau mit der notwendigen Analyse der Geruchsbelästigung beginnen.208 Das Institut identifizierte Methylmercaptane, intensive natürliche Aromastoffe, als Ursache. In höherer Konzentration führen sie zu »Übelkeit, Schlaflosigkeit, allgemeiner körperlicher Schwäche, Bronchitis, Laryngitis und Konjuktivitis«.209 Von den Gerüchen betroffen waren etwa 900.000 Menschen auf 4000 km², die sich Ende der 1970er Jahre vermehrt in Eingaben über diese Symptome beschwerten und begannen, den Gestank mit den zunehmenden 208 BArch DQ 1/24326 K.-H. Heft, Gaschromatographische Analyse von schwefelorga­ nischen Geruchsstoffen in einem belasteten Gebiet – Gesundheitsrelevanz. 1.11.1986, pag. 4. 209 BArch DQ 1/24326 ebd., pag. 3.

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221

Waldschäden zu verknüpfen.210 Im Januar 1980 schrieb eine Frau aus Breitenbrunn an das Gesundheitsministerium: Wenn das Wetter umschlägt und der Wind aus SW-Richtung weht, kann man sich im Freien fast nicht mehr aufhalten, da es regelrecht nach Katzendreck riecht. Dieser Geruch ist nicht nur außerordentlich unangenehm, sondern auch gesundheitsschädigend. An diesen Tagen habe ich, wie viele andere Bürger sehr starke Kopfschmerzen und ein Übelgefühl, welches oft zum Brechreiz führt. […] Viele Fichten unserer Wälder sind dadurch auch schon stark in Mitleidenschaft gezogen wurden.211

1977 verfassten die Mitarbeiter der drei VEB Vogtländische Kunstlederfabrik Tannenbergthal, Harmona Klingenthal und Damenmoden Netzschkau eine Sammeleingabe. Die Kollegen, in der Mehrzahl im jugendlichen Alter, brachten zum Ausdruck, daß der katzenkotähnliche Gestank zu starken Kopf- und Halzschmerzen führe und eine eigenartige Hautstraffheit hervorruft. Bei einigen älteren Mitarbeitern führe es zu Atemnot. Eine Kollegin, die aus dem Raum Merseburg aufgrund der dortigen luft­ hygienischen Situation in das Vogtland gezogen sei, stellte fest, daß die Geruchsbelästigung bedeutend über der ihr bekannten im Merseburger Raum liege. […] Herr W[…] stellte zu dieser Problematik die Anfrage, ob das Baumsterben in den Gipfellagen des Vogtlandes von Bad Brambach bis Eibenstock mit auf die Gasimmissionen zurückzuführen sei. (Diesbezügliche Hinweise habe er vom Förster erhalten).212

Allein zwischen 1976 und 1978 brachten 1460 Eingaben »die zunehmende Unruhe der Bevölkerung« zum Ausdruck.213 Eine Verknüpfung zweier Faktoren brachte die SED-Führung dazu, sich intensiver mit den Waldschäden im Oberen Erzgebirge auseinander zu setzen: erstens die Zunahme der Waldschäden, die den Wirtschaftsfaktor Forstwirtschaft bedrohten, und zweitens die Reaktion der Bevölkerung. In den Waldgebieten im Oberen Erzgebirge hatte sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre die Schadfläche rasant ausgedehnt. Im StFB Schwarzenberg stieg sie von 1200 ha 1969 auf 20.800 ha im Jahr 1976. Im StFB Marienberg vergrö 210 UA der TUD, Sekt 21 noch nicht erfasst, Hygiene-Institut Karl-Marx-Stadt, Quantitative Erfassung von Schadstoffen bzw. registrierende Erfassung im Rauchschadengebiet Oberes Erzgebirge sowie Erarbeitung von Vorschlägen für Maßnahmen, die – gegebenenfalls – zur Einhaltung der lufthygienischen Normative führen. 30.12.1978, pag. 12–13. 211 BArch DK 5/72 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingaben der Bevölkerung 1980–1982, o. pag. 212 BArch DK 5/71 Abteilung Umweltschutz Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, o. pag. 213 Diese Zahl ist wesentlich höher als die direkt an die Abteilung Umweltschutz gerichteten Beschwerden, da sie auch an andere Institutionen oder auch Zeitungen gerichtete Beschwerden umfasst. SAPMO DY 30/2835 Mittag, Luftverunreinigung, pag. 61.

222

Die 1970er Jahre – Aufbruch und Stagnation

ßerte sie sich im gleichen Zeitraum von 4128 ha auf 33.000 ha.214 Die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt meldete 1977 an Minister Mielke: »Von Fachleuten wird dazu eingeschätzt, daß das Fichtenschadgebiet im Erzgebirge in seiner Ausdehnung im europäischen Raum ohne Beispiel ist.«215 Dietmar Mende, seit Ende der 1960er Jahre Revierförster in Neuhausen/Erzgebirge, beschrieb, wie der »drohende ökologische Zusammenbruch unserer Waldregionen auf Grund der Immissions- oder Rauchschäden […] immer mehr zum Thema der Öffentlichkeit (wohl noch unter vorgehaltener Hand)« wurde.216 Die Besitzer der meist kleinen Waldflächen waren mit der Bewirtschaftung der immissionsgeschädigten Bestände überfordert. Die Bevölkerung musste zu Arbeitseinsätzen am Abend und am Wochenende herangezogen werden, um die großen Massen Schadholz aus dem Wald zu entfernen. Mende schilderte, wie dabei immer wieder auch Forstarbeiter aus anderen Regionen der DDR ins Erzgebirge delegiert wurden und sich über die Situation entsetzt zeigten.217 Mitglieder der Zwischengenossenschaftlichen Einrichtung Waldwirtschaft gründeten eine »Interessengemeinschaft Seiffen« und unterzeichneten 1975 eine Protestresolution. »Dieses Papier brachte die Sorgen unserer Menschen zum Ausdruck, dass, wenn im nordböhmischen Industriegebiet um Most (ČSSR) nichts getan wird, nicht nur der Wald stirbt, sondern auch der Mensch erhebliche gesundheitliche Schädigungen erleiden wird. Man forderte eine dringende Verbesserung der Situation.«218 Die Abteilung XVIII des MfS registrierte unter »der Bevölkerung in den betreffenden Schadgebieten« eine »verstärkt negative Diskussion«: Dabei wird vor allem zum Ausdruck gebracht, daß wir uns als DDR von der ČSSR alles gefallen lassen. Das hätte absolut nichts mit Freundschaft zwischen sozialistischen Ländern zu tun. […] Es wird vor allem nicht verstanden, daß keine wirksamen Gegenmaßnahmen von der Regierung der DDR eingeleitet werden.219

Diesem Bericht vom Juni 1977 folgte im Juli der Bericht »SO₂-Groß­schäden der Erzgebirgs- und Vogtlandwälder« der Abteilung XX/2. Die Waldschäden seien mittlerweile offensichtlich, aber eine Senkung der Energieerzeugung sei abzulehnen, auch wenn die »SO₂-Schäden der absolute Eingabenschwerpunkt« seien. In einer aufzubauenden »Öffentlichkeitsarbeit« müsse auf die 214 SAPMO DY 30/1738 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Information Rauchschadensituation 1977, pag. 1–2. 215 Ministerium für Staatssicherheit, Zusammenarbeit des Leiteres der BV KMSt. mit dem Minister für Staatssicherheit 1973–1980, BStU BV KMSt. L 121, Bd.1. 216 Mende, Forstgeschichte, 62. 217 Gespräch mit Dietmar Mende am 25.10.2009. 218 Mende, Forstgeschichte, 57. 219 BStU BV KMSt. 2928 Ministerium für Staatssicherheit, Umweltbelastung Bezirk KarlMarx-Stadt, pag. 104–109.

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223

»volks­wirtschaftliche Notwendigkeit der ständigen Steigerung des Energieaufkommens« verwiesen werden. Energie sei das »Blut der Wirtschaft« ohne das »höhere volkwirtschaftliche Effektivität und die Nutzbarmachung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts« nicht möglich seien. Den Bewohnern des Erzgebirges müsse klar gemacht werden, dass auch sie von der Energieerzeugung in der ČSSR profitierten, da diese teilweise in das Verbundnetz »Frieden« eingespeist wurde.220 Das MfS war hier ganz eindeutig der Auffassung, die Bewohner der Schadgebiete würden sich – vor die Wahl zwischen Wohlstand und Fortschritt versus intakter Natur gestellt – für den Fortschritt entscheiden. So einfach war die Gleichung jedoch nicht mehr, vor allem nicht in den oberen Lagen des Erzgebirges. Wie bereits ausgeführt, fielen in dieser Region Nutzen und Schaden eben nicht in einer Person zusammen. Fabrikarbeiter waren selten und das verarbeitende Gewerbe basierte auf dem Rohstoff Holz. Der Tourismus war ein wichtiger Erwerbszweig, viele Familien betrieben zur Eigenversorgung in geringem Umfang Forstwirtschaft. Die ›Profiteure‹ der Luftverschmutzung lebten nicht im Gebirge, sondern im Tal oder schlimmer noch, im Ausland. Von dort drohte dem Wald Gefahr, dem wichtigen Bezugspunkt für das erzgebirgische Heimatgefühl.221 Eine Eingabe an das Forstministerium von 1978 gibt diese Ein­stellung treffend wieder: Warum wird unser schöner Wald so verunstaltet, warum lässt das unsere Regierung zu? Wenn es auch unsere Freunde sind, können sie doch nicht unsere Luft und Wald zerstören. Die ČSSR muß etwas dagegen tun, unsere Regierung muß sie dazu auf­ fordern. Es ist ja unser Wald.222

Der Leiter der HA Forstwirtschaft, Generalforstmeister Rudolf Rüthnick, antwor­ tete auf diese Eingabe sehr ausführlich und überraschend offen. Für die »Pflanzenproduzenten in der Land- und Forstwirtschaft« gebe es »keine Möglichkeit, aktiv gegen diese Schäden vorzugehen«. Es gebe allerdings erste »großtechnische Versuche«, um das Schwefeldioxid an der Quelle abzuscheiden.223 Eingabenschreiber, die den Eindruck erweckten, von echter Sorge um die Heimat oder das sozialistische Aufbauwerk getrieben zu sein, konnten auf eine ausführliche Antwort hoffen. Vor allem wenn die Eingabe erkennen ließ, dass die staatlichen Institutionen der DDR als kompetent und fürsorglich angesehen wurden, fan-

220 BStU BV KMSt. 2928 ebd., pag. 88–91. 221 Vgl. dazu einen Werbefilm der Reichsbahn von 1937, in dem das Erzgebirge als Er­ holungsgebiet und der Erzgebirgler als waldverbunden dargestellt wird. BV KMSt. XX 607 Ministerium für Staatssicherheit, Umweltschutz im Bezirk Karl-Marx-Stadt, pag. 159–161. 222 BArch DK 1/23073 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Eingaben an die HA Forstwirtschaft 1978, Eingabe vom 28.10.1978. 223 BArch DK 1/23073 ebd., Antwort Rühtnicks vom 12.12.1978.

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den sich in den Antwortschreiben durchaus Informationen und Formulierungen, die so kaum an die Öffentlichkeit drangen. Die Institutionen der DDR liefen jedoch immer mehr Gefahr, dieses Vertrauen ihrer Bürger zu verlieren. 1979 wandte sich Jürgen S. aus Berlin direkt an das Umweltministerium und berichtete von seiner Urlaubsreise in der »befreundeten ČSSR«. Er habe als gebürtiger Sachse »naturgemäß eine starke emotionale Bindung an das Erzgebirge«. Er war dann auch sehr erschrocken über den Anblick des »sterbenden, zugrundegehenden Waldes«. Noch erschrockener zeigte er sich aber über den Umstand, dass es in der DDR erst soweit kommen konnte: Ich bin erschüttert und betroffen, daß so etwas wie o. a. bei unserer umfassenden und großzügigen sowie international vorbildlichen Gesetzgebung zum Umwelt- und Landschaftsschutz möglich sein konnte.224

Diese Zitate stehen als Beispiele für eine im Erzgebirge langsam wachsende Unzufriedenheit mit der lufthygienischen Situation und der Handlungsunfähig­ keit der DDR-Institutionen. Die Bevölkerung verknüpfte in zunehmendem Maße die sichtbar werdenden Waldschäden mit der Luftbelastung, wobei die Geruchsemissionen des Gaskombinats Sokolov eindeutig katalytisch wirkten. Zwar herrschte unter den Bewohnern des Erzgebirges der Konsens, dass die Schadquellen auf der Südseite des Gebirges lagen, aber sie begannen an der Lösungskompetenz der SED, ja am Willen dazu, zu zweifeln. Die Partei musste handeln, wollte sie nicht ihre Glaubwürdigkeit gänzlich verlieren. Seit Mitte der 1970er Jahre waren immer mehr staatliche Institutionen in die Frage der Luftbelastung und Waldschäden im Erzgebirge eingebunden gewesen, ohne jedoch Erfolge verzeichnen zu können. Die staatlichen Hygiene-Inspektionen und das übergeordnete Ministerium für Gesundheitswesen wiesen immer wieder auf die gesundheitlichen Aspekte des Problems hin, über die Abteilung Grundstoffindustrie des ZK der SED erreichte die Sachlage den Parteiführer Honecker, das MLFN sorgte sich traditionell über die wichtigen Fichtenbestände in der Region, und das MfS registrierte die wachsende Unruhe der Bevölkerung. Allein das Umweltministerium blieb bis 1977 außen vor. Dies änderte sich, als das MLFN in einem Bericht vom April 1977 bekannte, dass es weder in den Verhandlungen mit der ČSSR vorankam, noch mit den der Forstwirtschaft zur Verfügung stehenden Mittel in der Lage sei, die Waldschäden zu beherrschen.225 224 BArch DK 5/71 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, Eingabe vom 29.5.1979. 225 SAPMO DY 30/1738 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Information Rauchschadensituation 1977, Brief des MLFN an die ZK-Abteilung Landwirtschaft vom 28.4.1977.

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225

Hans Reichelt sollte in seiner Funktion als Umweltminister die ČSSR dazu bringen, die Emissionen an der Quelle zu reduzieren. Der Vorschlag des MLFN überrascht, da zwischen den beiden Ministerien eine latente Rivalität bezüglich Kompetenzen im Naturschutzbereich und Forstwirtschaft herrschte. Auf internationaler Ebene konnte sich das MLFN jedoch nicht als Unterhändler durchsetzen. So schwach das MUW im Institutionengefüge der DDR sonst war, die Frage der grenzüberschreitenden Luftverunreinigungen fiel in das Aufgabengebiet Reichelts. Je präsenter das Thema auf der internationalen Agenda war, desto höher wurde sein Gewicht innerhalb der DDR.

3.3.2 Ein sperriger Freund: Verhandlungen mit der ČSSR Im Oktober 1965 schickte Günter Mittag einen Brief an den Vorsitzenden der tschechoslowakischen Sektion im Wirtschaftsausschuss DDR/ČSSR, Krajčir. Mittag machte auf die immer größer werdenden Waldschäden im Erzgebirge aufmerksam und beschuldigte die ČSSR: Die Forschung nach den Ursachen und die in diesem Zusammenhang durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß die genannten Schäden durch die Rauchentwicklung des nordböhmischen Industriegebietes verursacht werden.226

Die DDR sei alleine nicht in der Lage, das Problem zu lösen. Auch der »bisherige Kontakt und Erfahrungsaustausch zwischen den Forstleuten unserer beiden Länder« sei wenig fruchtbar geblieben. Mittag schlug vor, im Wirtschaftsausschuss eine Expertengruppe zu bilden. Die tschechoslowakische Seite begrüßte den Vorschlag der DDR. Allerdings sei es die ČSSR, die wesentlich stärker unter den Industrieemissionen der DDR leide als umgekehrt. Als Beispiel führte Krajčir das Isergebirge an.227 Gleichzeitig tendierte Krajčir zu einer rein technischen Lösung des Problems über Reinigungsanlagen. Auf seiner VIII. Tagung im Februar 1966 beschloss der Wirtschaftsausschuss die Gründung der Arbeitsgruppe »Reinhaltung der Luft«. Wolfgang Böer, stellvertretender Direktor des Meteorologischen Dienstes der DDR, war der Vorsitzende der deutschen Sektion in der Arbeitsgruppe, die sich einen fünf Punkte umfassenden Arbeitsplan gab: 1. Abscheidung fester Exhalationen 2. Entschwefelung industrieller Abgase 3. Forschungen und technische Projekte für die Forstwirtschaft 226 BArch DE1/54271 Staatliche Plankommission, Zusammenarbeitmitder CSSR, Rauchschäden 1967–1970, Brief Mittags an Krajčir vom 4.10.1965. 227 BArch DE 1/54271 ebd., Brief Krajčirs an Mittag vom 11.1.1966.

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4. Messung der SO2-und Staubemissionen in der Atmosphäre und Ausbreitung der Emission 5. Methoden zur Erfassung der ökonomischen Auswirkungen von Industrieexhalationen228

Die Treffen der Arbeitsgruppe fanden zunächst in kurzer zeitlicher Folge statt, an denen immer wieder der Tharandter Rauchschadenforscher Däßler teilnahm. Nach dem dritten Treffen am 13. Oktober 1967 zog die DDR-Seite ein erstes Resümee. Die Arbeiten konzentrierten sich bis dahin auf die Fragen nach einer einheitlichen Messtechnik und Entstaubungsverfahren. Die anderen Aufgaben trügen einen »langfristigen Charakter«, mit ihrer Lösung sei nicht vor 1970 zu rechnen. Dies betraf besonders die Punkte zwei und fünf.229 Wenige Jahre später schätzte die DDR-Seite die Zusammenarbeit weniger positiv ein. Kurt Storandt, Oberlandforstmeister in der HA Forstwirtschaft des MLFN verfasste 1973 eine »Information zur Arbeit der gemeinsamen Arbeitsgruppe Reinhaltung der Luft des Wirtschaftsausschusses DDR-ČSSR«. Darin bemängelte er den fehlenden Willen der ČSSR zu einer »effektive[n] Zusammenarbeit«. Seit 1972 sollten die gemeinsamen Forschungsprojekte in die Praxis überführt werden, was die ČSSR allerdings verhinderte. Sie ließ besprochene Fristen einfach verstreichen, erschien nicht zu Terminen und beteiligte sich nicht am verabredeten Austausch von Immissionsmessdaten. Laut Storandts Bericht wurde daraufhin im Wirtschaftsausschuss eine Sonderarbeitsgruppe »Rauchschäden« gegründet, die sich mit konkreten forstlichen Anpassungsmaßnahmen und einer effektiven Senkung der Emissionen beschäftigen sollte. Allerdings reagierte die tschechoslowakische Seite nicht auf einen DDR-Bericht über die Situation im Erzgebirge.230 Für die DDR wurde eine Lösung dieser unbequemen Frage immer drängender. In den folgenden Jahren waren es die Hygienekommissionen, die in ihren Berichten immer wieder auf die katastrophalen Auswirkungen der böhmischen Industrieemissionen hinwiesen. 74 Prozent ihrer Elektroenergie erzeugte die ČSSR in Nordböhmen, 40 Prozent der SO₂-Emissionen entwichen auf nur sechs Prozent der Staatsfläche.231 1977 wies das Hygieneinstitut Karl-Marx-Stadt auf 228 BArch DE 1/54271 ebd., Arbeitsprogramm der Arbeitsgruppe Rauchschäden vom Februar 1966. 229 BArch DE 1/54271 Staatliche Plankommission, Zusammenarbeit mit der CSSR, Rauchschäden1967–1970, Bericht über die 3.  Tagung der Leitung der Arbeitsgruppe vom 11.–13.10.1967. 230 BArch DK 1/23063 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Komplex Umweltschutz, Brief vom 11.12.1973. 231 Alfred Kaden, Rauchschäden im Erzgebirge, in: Sächsische Heimatblätter, 2001, 2–15; 77–92, 6 und Jan Materna, Die Beschädigung des Waldes durch Immissionen und die Gegenmaßnahmen in der CSSR, in: Forschungsanstalt für Forstwirtschaft und Jagdwesen­

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die »zunehmende Verschlechterung der Immissionssituation« hin. Während die DDR in den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Dresden 333,4 kt SO₂ jährlich emittiere, seien es in den Grenzgebieten der ČSSR 663,6 kt. Beziehe man nur die Emittenten in den Grenzgebieten der DDR mit ein, liege das Verhältnis für Schwefeldioxid bei 17:1. Die Großkraftwerke Tusimice I und II sowie Prunerov seien die mit Abstand größten Emittenten.232 Bereits 1974 hatte das benachbarte Hygieneinstitut in Dresden die Situation angemahnt. Wichtigstes der von außerbezirklichen Quellen der Luftverunreinigung betroffenen Gebiete ist der grenznahe Raum zur ČSSR von der Westgrenze des Bezirks bis etwa Bad Schandau. Die über den Kamm des Erzgebirges und die Sächsische Schweiz eindringenden Verunreinigungen sind in erster Linie SO₂, aber auch riechende (organische) Stoffe aus dem Raum um Teplice. Tageweise verdichtet sich der Komplex der Luftverunreinigungen zu einem sichtbaren Aerosol mit starkem Geruch. […].233

Davon gehe eine »Gefährdung der Erholungsfunktion durch absterbende Fichtenwälder, Großkahlfächen mit Ebereschen und Graswüsten, Ablösung des Fichtenbergwaldes durch winterkahle Wälder, Entwaldung der Hochmoore mit noch nicht absehbaren Folgeschäden auf Talsperren durch Erosionen und für die Landwirtschaft« aus. Zurzeit könne »kein weiterer Ausbau des Erholungsgebietes« erfolgen. 1977 kam das Ministerium für Gesundheitswesen im »Bericht Lufthygiene« zu ähnlichen Schlüssen.234 Ebenfalls im Jahr 1977, am 28. Juni, folgte ein Brandbrief des Leiters der MfSBezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, Generalmajor Siegfried Gehlert, an Minister Erich Mielke. Gehlert gab seinem Vorgesetzten einen knappen und sachlichen Überblick über die Ursache, Entwicklung und möglichen Auswirkungen der Waldschäden.235 Dabei klingt in den Formulierungen eine eigene Betroffenheit durch, die in der Schlussbitte mündete, er solle »seinen Einfluß geltend« machen, um die Angelegenheit »mit dem notwendigen Ernst einer Klärung« zuzuführen.236 Auch Gehlert sah die ČSSR als Hauptverantwortlichen für die Waldschäden im Erzgebirge. Damit war auch aufseiten des MfS der Grundstein gelegt, das MUW in den Verhandlungen mit der ČSSR zu unterstützen. Jíloviště-Strnady (Hrsg.), XIII. Internationale Arbeitstagung Forstlicher Rauchschadensachverständiger. Most 1984, 25–33, 26. 232 UA der TUD, Sekt 21 noch nicht erfasst, Hygiene-Institut Karl-Marx-Stadt, Quantitative Erfassung von Schadstoffen bzw. registrierende Erfassung im Rauchschadengebiet Oberes Erzgebirge sowie Erarbeitung von Vorschlägen für Maßnahmen, die – gegebenenfalls – zur Einhaltung der lufthygienischen Normative führen. 30.12.1978, pag. 12–13. 233 HStA Dresden 11452/215 Bezirkshygieneinspektion Dresden, Situationsbericht zur Reinhaltung der Luft –1973– Bezirk Dresden. 1974, pag. 14. 234 BArch DQ 1/15159 Ministerium für Gesundheitswesen, Bericht Lufthygiene 1977, pag. 22. 235 BV KMSt. L 121, Bd.1 Ministerium für Staatssicherheit, Zusammenarbeit, pag. 321. 236 BV KMSt. L 121, Bd.1 ebd., pag. 323.

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Am 1. November 1977 traf sich Hans Reichelt erstmals mit dem tschecho­ slowakischen Minister für Technische und Investitionsentwicklung, Ladislav Supka, in Neuhausen. Die beiden Delegationen erörterten die Lage im Erzgebirge, erläuterten die gegenseitigen Standpunkte sowie bereits ergriffene Maß­nahmen und berieten über ein weiteres gemeinsames Vorgehen. Die ČSSR-­Seite legte dar, dass sie bereits den Neubau von Wärmekraftwerken im nordböhmischen Becken verboten habe. Zudem gelte für die Braunkohle ein Schwefelgrenzwert von zwei Prozent. Weitere Treffen sollten im Rahmen des Wirtschaftsausschusses stattfinden.237 Mit der Übernahme der Verhandlungen durch das MUW setzte ein Prozess der Professionalisierung und Koordinierung ein. Neben Reichelt nahmen an dem Treffen auch Generalforstmeister Rudolf Rüthnick, der Leiter Hauptabteilung Hygiene im MfGe, Helmut Theodor, und der Leiter des Hauptamtes für Klimatologie des Meteorologischen Dienstes, Joachim Kolbig, teil. Reichelt selbst hatte sich auf dieses Treffen intensiv vorbereitet. Sofort nach seiner Ernennung zum Delegationsleiter, gab er bei der Sektion Forstwirtschaft in Tharandt ein Gutachten in Auftrag. Anfang Mai lag das von Hans-Joachim Mette verfasste »Gutachten über die Rauchschadsituation in den Forstwirtschaftsbetrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt« vor. Am 12. Mai übernahm das MUW vom Ministerium für Wissenschaft und Technik die Leitung und Koordination der Arbeitsgruppe »Reinhaltung der Luft« im Wirtschaftsausschuss. Ende Juni 1977 gab Reichelt zusätzlich eine weitere Analyse der Situation im Grenzgebiet in Auftrag. Diese »Information über Probleme der Luftverunreinigung in grenznahen Gebieten der Bezirke Karl-Marx-Stadt und Dresden« lag allerdings erst Ende November 1978 vor.238 Eine erneute Überleitung der Verhandlungen in den Wirtschaftsausschuss lag allerdings nicht im Interesse Reichelts und der DDR. Dort war es der ČSSR in den letzten zwölf Jahren gelungen, jeden nennenswerten Fortschritt zu verhindern. Reichelt selbst wollte den plötzlich hinzugewonnenen Handlungs- und Gestaltungsspielraum bewahren. Er muss in dieser Frage erfolgreich auf Mittag eingewirkt haben, anders ist eine vier Punkte umfassende »Information zu Problemen der Luftverunreinigung im Gebiet des Erzgebirges«, die Mittag ­Honecker am 11.  Mai 1978 vorlegte, nicht zu erklären. Mittag selbst schätzte die Situation als bedenklich ein. Die Immissionen bedrohten die »Produktivität der Forstwirtschaft« sowie die »landeskulturellen Leistungen« der Wälder. Als besonders gefährlich sah er jedoch das »Problem der Geruchsbelästigung« an. Hier reagiere die Bevölkerung »sehr sensibel«, und er war sogar bereit, die ČSSR 237 SAPMO DY 30/2835 Hans Reichelt, Gespräch mit Regierungsvertreter der CSSR über Luftverunreinigung. 3.11.1977. 238 BArch DK 5/3395 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Vorbereitung und Durchführung des Umweltschutz-Regierungsabkommens DDR/CSSR, o. pag.

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finanziell zu unterstützen, um die eigene Bevölkerung zu beruhigen. Gleichzeitig müsse die Öffentlichkeitsarbeit verstärkt werden, um der Luftverschmutzung die politische Spitze zu nehmen. Er mahnte an, dass »alle politische Arbeit mit den Bürgern nur Aussicht auf Erfolg hat, wenn zumindest Teilergebnisse im Abbau der Luftschadstoffe sichtbar werden«.239 Mittag schlug Honecker vor, die Regierung der DDR solle in Gestalt von Reichelt erneut an die ČSSR herantreten, was dieser mit seinem Namenskürzel und dem Schriftzug »Einverstanden« quittierte.240 Regierungsabkommen mit der ČSSR Mitte Juli 1978 traf sich Reichelt daraufhin erneut mit seinem Kollegen Supka. Auf dem Treffen in Prag erklärte sich die ČSSR erstmals damit einverstanden, ein Regierungsabkommen zu schließen, das auch konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Luftsituation umfasste. Die DDR-Seite war sich dabei ihrer schwierigen Verhandlungsposition bewusst. Sie konnte aus ihrem Glashaus die ČSSR nur sehr vorsichtig mit Steinen bewerfen. Reichelt verfolgte die Strategie, die Verhandlungen in die Frage der Belastung mit Schwefeldioxid und die Frage der Geruchsbelastung aufzuspalten. In Bezug auf die SO2-Belastung könne man nur sehr wenig Druck auf die ČSSR ausüben. Schadensersatzforderungen würden »nicht unterstützt, da hierbei ungünstige Relationen in einer Gesamtrechnung unserer Volkswirtschaft eintreten würden, da auch Schadensforderungen seitens der VRP [Volksrepublik Polen, T. H.] gegenüber der DDR gestellt werden können«. Das MUW wusste genau, dass die DDR insgesamt mehr Schadstoffe an ihre Nachbarländer abgab, als sie selbst unter Immissionen zu leiden hatte. Anders sah dies bei den geruchsintensiven Stoffen aus. Hier lag die Ursache ganz eindeutig aufseiten der ČSSR. Zudem verfügte die DDR über das notwendige Wissen und die Technik, diese Emissionen zu verhindern. Die ČSSR wiederum war an dieser Technik interessiert, um bei der »Vergasung von Braunkohle weitgehend unabhängig von Importen aus dem kapitalistischen Wirtschaftsgebiet« die Geruchsbelästigungen im Erzgebirge senken zu können, unter der schließlich auch die eigene Bevölkerung litt.241 Die Verhandlungen gestalteten sich jedoch weiterhin sehr zäh. Auf einem dritten Treffen Ende November 1979 in Berlin beschlossen die Delegationen, 239 SAPMO DY 30/2835 Mittag, Luftverunreinigung, pag. 58–62. 240 SAPMO DY 30/2835 ebd., pag. 54. 241 BArch DK 5/3395 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Vorbereitung und Durchführung, Information über Probleme der Luftverunreinigung in grenznahen Gebieten der Bezirke Karl-Marx-Stadt und Dresden vom 28.11.1978.

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bis zum nächsten Treffen einen Entwurf zu einem Regierungsabkommen auszuarbeiten. Im Sommer 1980 entstand im Umfeld des MUW die »Information über die Auswirkungen von Luftverunreinigungen im Gebiet des Oberen Erzgebirges«. Das Papier war für das Sekretariat des ZK der SED verfasst und führte grundsätzlich in die Problematik ein. Die Schwefeldioxidemissionen im nordböhmischen Raum hätten sich zwischen 1970 und 1977 mehr als verdoppelt. Aber auch aus den Industriezentren der DDR würden »bedeutende Mengen von Luftschadstoffen« ins Erzgebirge verfrachtet. Die Lage im Erzgebirge sei dadurch gekennzeichnet, dass der hygienische Grenzwert von 0,15 mg/m³ SO₂ im langjährigen Durchschnitt selten übertroffen werde, es dafür kurzzeitig zu Spitzenbelastungen komme, die »über den Spitzenwerten von Borna liegen und fast doppelt beziehungsweise dreimal so hoch sind wie in den Industriezentren Bitterfeld und Senftenberg«. Die Gesundheit der Bevölkerung leide durch häufige Atemwegserkrankungen, und bei Kindern seien Wachstumsverzögerungen festgestellt worden. Hinzu kämen psychische Erkrankungen.242 In den Nadelwäldern führe die Immissionssituation zu einer »physiologischen Schwächung«. Frost, Dürre, Sturm oder Insektenbefall könnten dann leicht zu einer »Katastrophensituation« führen. Neben den bekannten wirtschaftlichen Auswirkungen machte das Papier auf die »irreversible Schädigung von Naturschutzgebieten« aufmerksam. Die »gesamte Biogeozönose größerer Immissionsgebiete« befinde sich in »einem negativen Wandel«, dessen Auswirkungen »noch nicht abzusehen sind«. Die Belastung werde bis 1990 noch weiter ansteigen, denn die DDR habe »im Zeitraum 1981–1985 keine wirksamen Maßnahmen zur Minderung der Schwefeldioxidbelastung vorgesehen«. Dadurch würden die Schäden in den bereits betroffenen Gebieten verschlimmert und sich auf bisher nicht belastete Gebiete ausdehnen. In Fichtengebieten könne der Schadfortschritt in der »Regel nicht verhindert werden«. Eine großflächige Umwandlung der Waldbestände scheitere an den klimatischen Bedingungen und an dem Mangel entsprechender Setzlinge.243 Das Papier befasste sich zudem ausführlich mit den Verhandlungen mit der ČSSR. Die DDR verfolgte hier drei Kernziele: Senkung der Schwefeldioxidbelastung, Beseitigung der Geruchsbelästigung, Verbesserung der gemeinsamen Arbeit bei forstlichen Anpassungsmaßnahmen. Das Zwischenfazit zeugte jedoch nicht von einem Erfolg: Im Ergebnis der seit 1977 laufenden Verhandlungen der Regierungsdelegationen kann eingeschätzt werden, daß die ČSSR bis 1983 zumindest in einem von zwei Druckgas-

242 BArch DK/3395 ebd., Information über die Auswirkungen von Luftverunreinigung im Oberen Erzgebirge vom September 1980, pag. 2. 243 BArch DK/3395 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Vorbereitung und Durchführung, Auswirkungen, pag. 6–7.

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werken Maßnahmen zur Geruchsminderung anstrebt. Die Realisierung hängt jedoch stark von der Investitionskraft der ČSSR ab. Maßnahmen zur Begrenzung oder gar Minderung der Schwefeldioxidbelastung durch die ČSSR sind bisher nicht abzusehen. Die ČSSR-Seite hat früher erklärte Absichten, im Nordböhmischen Becken keine weiteren Kraftwerkskapazitäten zu errichten, wieder zurückgezogen.244

Das Papier forderte dann dazu auf, in den eigenen Fünfjahresplan 1981–1985 konkrete Maßnahmen zur Rauchgasentschwefelung aufzunehmen, um die Verhandlungsposition gegenüber der ČSSR zu verbessern. Das Papier erfuhr noch einige Veränderungen, bevor Hans Reichelt, Heinz Kuhrig, Horst Wambutt und Bruno Kiesler es am 17. November 1980 als Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED fertig stellten. Die grundsätzliche Forderung blieb jedoch erhalten und tatsächlich beschloss das Sekretariat Ende November 1980 erstmals konkrete Maßnahmen, um die SO₂-Emissionen im Erzgebirgsvorland zu senken. Die Ministerien für Kohle und Energie, für Schwermaschinen- und Anlagenbau sowie die Staatliche Plankommission sollten im Bezirk Karl-Marx-Stadt Heizkraftwerke für das Kalkstein-Additiv-Verfahren auswählen.245 Der Beschluss kam gerade noch rechtzeitig, denn vom 8.–12. Dezember 1980 trafen sich die beiden Regierungsdelegationen, um über den Text des Abkommens und den Maßnahmenplan zu verhandeln. Reichelt berichtete an Willi Stoph, dass die ČSSR erst auf massiven Druck der DDR zu konkreten Maßnahmen bereit gewesen sei.246 Was dabei als Druckmittel diente, erwähnte er nicht. Besonders die Verantwortlichen des Brennstoffkombinates in Vresova  – der Hauptquelle der Geruchsbelästigung – zeigten sich wenig einsichtig. Sie bestritten eine gesundheitliche Gefahr und wollten Methoden der DDR zur Geruchsbekämpfung  – entwickelt am VEB Gaskombinat Schwarzen Pumpe  – nicht annehmen. Sie versprachen aber, in den nächsten fünf Jahren ein eigenes Verfahren zu entwickeln. Damit wurde die für die DDR wichtigste Forderung nicht erfüllt. Das Versprechen der ČSSR, in Nordböhmen keine weiteren Kraftwerke zu bauen bzw. bestehende Kraftwerke nicht zu erweitern, stellte nur den Ausgangszustand von 1977 wieder her. Außer einigen Passagen zur vertieften Forschungskooperation, Übergabe der Messdaten und Übertragungen von gegenseitigen Erfahrungen war das Abkommen das Papier nicht wert, auf dem es stand. Ähnlich beurteilte auch die HA XVIII des MfS im Januar 1981 die Situa 244 BArch DK/3395 ebd., Auswirkungen, pag. 10. 245 BStU BV KMSt. Leiter 115 Bd.1 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zum Bericht über die Luftverunreinigung im Gebiet des oberen Erzgebirges. 9.12.1980, pag. 3–4. 246 SAPMO DY 30/2835 Hans Reichelt, Bericht über die Beratungen der Delegation der Regierungen der DDR und der CSSR zur Minderung der Luftverunreinigung im Gebiet des Erzgebirges in der Zeit vom 8. bis 12.12.1980.17.12.1980, pag. 195.

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tion. Man habe bei den »Verhandlungen keine zufriedenstellenden Ergebnisse erreicht«. Die DDR selbst habe dagegen erstmalig [sic!] Maßnahmen ergriffen, die zu einer »konkreten Veränderung der Situation im Oberen Erzgebirge und insbesondere zu einer Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung im betroffenen Gebiet führen werden«.247 Das Präsidium des Ministerrates gab sich im März 1981 dennoch zuversichtlich, als es dem Vertragstext zustimmte. Im Programm sind die wesentlichen Forderungen der DDR-Seite berücksichtigt, vor allem der Verzicht der ČSSR-Seite auf den Bau weiterer Großkraftwerke im Nordböhmischen Becken, die Errichtung einer Versuchsanlage zur Rauchgasentschwefelung sowie die Durchführung von Maßnahmen zur Beseitigung der Geruchsbelästigung durch die Druckgaswerke Uzin und Vresova.248

Der endgültige Vertragstext legte der ČSSR bis 1985 insgesamt 34 Maßnahmen auf, von denen jedoch nur zwei nennenswerte Auswirkungen auf die Situation im Oberen Erzgebirge hatten: der Einbau einer Rauchgasentschwefelungsanlage im Kraftwerk Tusimice II und der Bau einer Anlage zur Liquidierung penetranter Gerüche im Brennstoffkombinat Usti. Die DDR verpflichtete sich zu 19 Maßnahmen. Die Bedeutendste war der Einsatz des Kalkstein-Additiv-Verfahrens in noch unbestimmten Heizwerken des Bezirkes Karl-Marx-Stadt.249 Nachdem das Sekretariat des ZK der SED dem Vertragstext zugestimmt hatte, konnte ihn Reichelt am 10. November 1981 unterzeichnen. Kurz danach schickte er seinem tschechoslowakischen Kollegen Supka einen Brief, in dem er nochmals auf die Bedeutung der beiden Maßnahmen hinwies: »Diese Maßnahmen werden von der DDR als entscheidend zur Minderung der Belastung des Gebietes entlang der gemeinsamen Staatsgrenze im Bereich des Erzgebirges angesehen.«250

Die Antwort, die Reichelt erhielt, nahm die zukünftige Strategie der ČSSR vorweg. Supka blieb ausweichend, er betrachtete die Arbeit »auf Delegationsebene 247 BStU BV KMSt. Leiter 115 Bd.1 Ministerium für Staatssicherheit, Zusammenarbeit des Leiters der BV KMSt. mit dem Ministerium für Staatssicherheit 1969–1983. 1983–1972, Information zur aktuellen Situation der Luftverunreinigungen im Oberen Erzgebirge vom 30.1.1981. 248 BArch DC 20/I/4/4732 Beschluß zum »Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik über die Zusammenarbeit zur Minderung der Luftverunreinigung und ihrer Auswirkungen« und zum »Programm der Maßnahmen zur Minderung der Luftverunreinigung für den Zeitraum 1981–1985«. 19.3.1981. 249 SAPMO DY 30/J IV 2/3/3291 Sekretariat des ZK der SED, Beschluß zum »Abkommen zwischen der Regierung der DDR und der Regierung der CSSR über die Zusammenarbeit zur Minderung der Luftverunreinigung und ihrer Auswirkungen«. 4.11.1981, pag. 86–96. 250 SAPMO DY 30/J IV 2/3/3291 ebd., pag. 97.

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als beendet«. Über die Beratungen in der tschechoslowakischen Regierung bezüglich des Druckgaswerkes »wird die Seite der Deutschen Demokratischen Republik informiert«. Gleichzeitig machte Supka darauf aufmerksam, dass sich das Problem der grenzüberschreitenden Luftbelastung nicht auf das Erzgebirge beschränke, sondern auch auf das Isergebirge und das Lausitzer Gebirge ausdehne. Hier leide die ČSSR unter den herangewehten DDR-Schadstoffen.251 Über die Umsetzung des Abkommens wachten Bevollmächtige beider Regierungen, die sich im Januar 1983 erstmals trafen. Guido Thoms, stellvertretender Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, leitete die DDR-Delegation. Auf der einen Seite gingen die Verhandlungen ins Detail, man verabredete etwa eine »Untersuchung des Einflusses von Chlorcholonchlorid in Verbindung mit intensiver Stickstoffdüngung auf Fichtensetzlinge und deren Resistenz gegenüber SO₂-Einwirkungen«.252 Auf der anderen Seite stritten beide Seiten weiter darüber, wer an den Schäden im Erzgebirge ursächlich Schuld trage. Unterdessen verschärfte sich die lufthygienische Situation weiter. 1982 wurde der Grenzwert von 150 µg/m³ SO₂ in Zinnwald bereits an 46 Tagen und am Fichtelberg an 19 Tagen überschritten, der Grenzwert für die Schädigung an Fichtenbeständen – 65 µg/m³ – gar an 155 bzw. 52 Tagen.253 Die ČSSR betrachtete diese hohen Jahresmittelwerte als die »Hauptursache«, und dafür trage teilweise die DDR die Verantwortung. Zudem brachte die ČSSR-Seite in den Treffen immer wieder die Forderung auf, den gesamten Grenzverlauf zu beachten. In der Summe leide die ČSSR stärker unter den DDR-Emissionen als umgekehrt. Thoms und die DDR-Delegation vertraten dagegen »in Übereinstimmung mit internationalen wissenschaftlichen Erkenntnissen« den Standpunkt, dass die »kurzzeitig stoßartigen SO₂-Konzentrationen« ursächlich für die Waldschäden im Erzgebirge seien. Und diese würden vom »Territorium der ČSSR« ausgehen.254 Das Abkommen von 1981 blieb eine stumpfe Waffe. Nach der Wende urteilte Reichelt selbst über das Abkommen: »Ein Regierungsabkommen mit der ČSSR über den Schutz des Erzgebirges vor Industrieabgasen von 1980 wurde nicht

251 SAPMO DY 30/J IV 2/3/3291 Sekretariat des ZK der SED, Beschluss zum Abkommen DDR-CSSR, pag. 98–99. 252 BArch DK 1/25102 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Zusammenarbeit mit der CSSR, Protokoll des 2. Treffens der Bevollmächtigten der Regierung der Deutschen Demokratische Republik und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik zur Erfüllung des Abkommens über die Zusammenarbeit zur Minderung der Luft­ verunreinigungen und deren Auswirkung vom 11.11.1983. 253 SAPMO DY 30/2836 Hans Reichelt, Informationen zum Stand der Abgasentlastung. 10.3.1983, pag. 2. 254 BArch DK 5/753 Guido Thoms, Bericht über das zweite Treffen der Regierungs­ bevollmächtigten der DDR und der CSSR zu Fragen der Luftverunreinigung in der Zeit vom 9. bis 11.11.1983 in Berlin, Hauptstadt der DDR. 16.11.1983.

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wirksam.«255 Die Schwefeldioxidbelastung stieg bis 1989  – von beiden Seiten verantwortet – weiter an. Die Geruchsbelästigungen waren noch nach der Wiedervereinigung ein Streitpunkt zwischen der Bundesrepublik und der ČSSR, zumal bereits in den 1980er Jahren Gebiete in Ostbayern ebenfalls unter dem Gestank zu leiden hatten. Die Unfähigkeit der DDR-Regierung, ihre eigene Bevölkerung zu schützen, nagte weiter an ihrer Autorität. Im April 1987 schrieben 53 Mitarbeiterinnen des VEB Kinderbekleidung Sehma eine Eingabe an das Gesundheitsministerium. Sie beschwerten sich nicht nur über die Geruchsbelästigung, sondern auch über die Reaktion des Staates darauf. »Teilen Sie uns bitte baldigst mit, was Sie dagegen zu tun gedenken«, forderte die Belegschaft das Ministerium auf, denn ansonsten »sehen wir uns gezwungen, uns nicht mehr zur Sonderschicht zu verpflichten«.256 Die Aktivitäten, die sich daraufhin im MfGe und MUW entfalteten, erlauben den Schluss, dass die ČSSR die DDR-Seite nicht über etwaige Havarien oder Phasen besonderer Geruchsbelästigungen informierte. Der Belegschaft des VEB Sehma wurde in einer aufwendig gestalteten Aussprache eine ­Havarie des Druckgaswerkes Sokolov als Ursache genannt, sicher waren sich die Verantwortlichen in den beiden Ministerien aber nicht. Ziel war es, die Bevölkerung zu beruhigen, denn diese zeigte sich zunehmend offen enttäuscht darüber, dass das Abkommen von 1981 die Situation nicht verbessert habe. Im Raum Seiffen und Neuhausen sei die Lage sogar bedenklicher als vorher.257 Jedes Bemühen der DDR-Seite scheiterte, Klarheit über die Geruchsbelästigung bzw. ihre Zusammenhänge zu erhalten. Einmal weigerte sich die ČSSR, Informationen zur Verfügung zu stellen, und zum anderen verfügte die DDR nicht über die Mittel, eigenständige Messungen durchzuführen. »Eine erfolgversprechende Untersuchung von Geruchsstoffen« sei »mit der im Bereich des RGW hergestellten Technik nicht möglich«, schlimmer noch, denn »die in unserem Wirtschaftsbereich produzierten Geräte« seien »nicht empfindlich genug […], um bei den sehr niedrigen Konzentrationen von Geruchsstoffimmissionen arbeiten zu können«.258 Auch wenn die Verhandlungen mit der ČSSR zu keinen wirkungsvollen Ergebnissen führten, festigten sie eindeutig die Position des Ministers für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Reichelt gewann durch seine Rolle als Verhand 255 Hans Reichelt, Umweltpolitik nur Alibi für »ökologische Katastrophe«?, in: Hans­ Modrow (Hrsg.), Das Große Haus von außen. Erfahrungen im Umgang mit der Macht­ zentrale in der DDR. Berlin 1996, 137–167, 157. 256 BStU MfS HA XX 7083 ebd., pag. 45. 257 BArch DQ 1/24326 Ministerium für Gesundheitswesen, Geruchsbelästigung, Schreiben des MfGe an Hans Reichelt vom 4.12.1987. 258 BArch DQ1/24326 ebd.,Schreiben des Bezirksarzt des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, OMR Dr. Winkler, an das MfGe vom 13.1.1988.

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lungsführer der DDR-Seite an Wissen und Handlungsfähigkeiten. Er erhielt nicht nur Einblick in die Bemühungen der Forstwissenschaft, die ansonsten dem MLFN unterstanden, sondern bekam auch Zugang zu sensiblen Messdaten des Meteorologischen Dienstes. Das MUW entwickelte sich immer mehr zu jener Schnittstelle im Institutionengefüge, die es dem Geiste des Landeskulturgesetzes entsprechend wahrnehmen sollte. Reichelt konnte keinesfalls eigenständig tätig werden oder Initiativen entwickeln, aber er gewann an Einsicht und Wissen, und mit den Informationen, die über seinen Schreibtisch gingen, kam er zusehends in die Lage, Zusammenhänge zu erkennen. Damit erwuchs kein Hort des Widerstandes, aber das von Reichelt geführte Ministerium stand etwas außerhalb der strikten SED-Parteidisziplin. Die Verhandlungen zwischen der DDR und der ČSSR in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stehen spiegelbildlich für die Entwicklung auf internationaler Ebene. Während sich hier noch nicht einmal zwei Staaten des sozialistischen Lagers auf ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten, sich beständig vertrösteten, sich nicht in die Karten schauen lassen wollten und ihre Besitzstände eifersüchtig verteidigten, standen sich in der Wirtschaftkommission der UN für Europa (ECE), über 30 Regierungen gegenüber.

3.3.3 Hinhaltendes Taktieren: Die DDR und die Luftreinhaltekonvention Das Prinzip 21 der Deklaration der UN-Umweltkonferenz in Stockholm von 1972 legte den Signatarstaaten die Verpflichtung auf, dass »activities within their jurisdiction or control do not cause damage to the environment of o ­ ther States or of areas beyond the limits of national jurisdiction«.259 Die Frage der Umweltschäden, bedingt durch grenzüberschreitende Luftverschmutzung, trieb vor allem die skandinavischen Staaten um. Norwegen und Schweden litten unter saurem Regen, der die dortigen Böden und Seen versauern ließ. Die Ursache sahen die nordischen Länder in den Schwefeldioxidemissionen West­ europas und Großbritanniens. Bereits auf der Konferenz selbst hatten sie auf das Problem aufmerksam gemacht, konnten aber für ihre Initiative keine Unterstützung finden.260 Die Schlussakte von Helsinki enthielt 1975 im sogenannten ›Korb zwei‹ eine kurze Passage zur Bekämpfung der Luftverschmutzung. Die »Entschwefelung 259 Declaration of the United Nations Conference on the Human Environment, 16.6.1972, , aufgerufen am 12.12.2011. 260 Valentin Sokolovsky, Fruits of  a Cold War, in: Johan Sliggers (Hrsg.), Clearing the Air. 25 years of the Convention on Long-range Transboundary Air Pollution New York 2004, 7–15, 8.

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von fossilen Brennstoffen und von Abgasen« galt ebenso als Ziel wie die Beobachtung und Kontrolle der »Verbreitung von luftverschmutzenden Stoffen über weite Entfernungen« hinweg.261 Nach 1975 begann sich die Sowjetunion für diese Frage zu interessieren. 1976 machte sie im Rahmen der UN-Wirtschaftskommission für Europa (ECE) den Vorschlag, eben jene Aufforderung der Schlussakte umzusetzen und eine Umweltkonferenz einzuberufen. Ausgangspunkt war eine Rede Breschnews am Ende der KSZE-Konferenz, in der er eine Folgekonferenz zu den Punkten Energie, Transport und Umwelt forderte.262 Die westlichen Staaten, allen voran die großen Industriestaaten der EG, lehnten den sowjetischen Vorstoß ab. Sie sahen darin lediglich einen Versuch der sozialistischen Länder, von den für sie heiklen Menschenrechtsfragen der Schlussakte abzulenken.263 Die KSZE-Konferenz war ein Produkt bzw. der Höhepunkt der Entspannungspolitik zwischen den Blöcken. Nach Unterzeichnung der Schlussakte suchten beide Seiten nach Möglichkeiten, den Gesprächskanal offen zu halten. Dabei gab es Themen, die je für eine Seite unannehmbar waren. Die Frage der Luftverschmutzung bot sich schließlich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre als ein solcher Kanal an, zum einen, weil er den unverfänglichsten Charakter hatte und zum anderen, weil die Sowjetunion und die skandinavischen Staaten in diesem Punkt zueinander fanden.264 Der Weg zur Genfer Konvention von 1979 Am Anfang stand ein Eklat auf der 32. Sitzung des ECE. Um von der UN die nötigen Finanzmittel für seine Arbeit zu bekommen, musste der ECE einen einstimmig beschlossenen Tätigkeitsbereich an den Wirtschafts- und Sozialrat der UN schicken. Im April 1977 verweigerten die sozialistischen Staaten ihre Zustimmung. Der Fortbestand dieses wichtigen Ost-West-Forums stand damit in Frage. In getrennten Beratungen einigten sich die beiden Blöcke darauf, eine Konferenz auf Ministerebene zu Umweltfragen einzuberufen. Die ebenfalls von der Sowjetunion aufgebrachten Themen Energie und Transport wurden fallengelassen.265 261 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Schlussakte. Helsinki 1975, 38, , aufgerufen am 12.12.2011. 262 Armin Rosencranz, The ECE Convention of 1979 on Long Range Transboundary Air Pollution, in: Zeitschrift für Umweltpolitk 4, 1981, 511–520, 511. 263 Sokolovsky, Fruits, 9. 264 Lars Björkbom, Thoughts About the Dynamics Behind the Process: the Role of Externalities, in: Sliggers, Clearing, 20–24, 21–22 und Rosencranz, ECE Convention, 511. 265 C. Ian Jackson, A Tenth Anniversary Review of the ECE Convention on Long-Range Transboundary Air Pollution, in: International Environmental Affairs 2, 1990, 217–226, 219–220.

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1978 reiste die norwegische Umweltministerin Gro Harlem Brundtland in die UdSSR, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Kurz zuvor hatte das Institut für angewandte Geophysik des Hydro-Meteorologischen Dienstes der UdSSR eine Studie veröffentlicht, nach der der Landwirtschaft im europäischen Teil der Sowjetunion durch weittragende, grenzüberschreitende Luftverunreinigungen jährlich ein Schaden von 150 Mio. US-Dollar entstand.266 In eine ähnliche Richtung wiesen die Daten des EMEP-Programms. Dieses »Programm der Zusammenarbeit zur Überwachung und Einschätzung der weitreichenden Ausbreitung von luftverunreinigenden Stoffen in Europa« hatte seine Wurzeln in einer Studie der OECD zur Erfassung weitreichender Luftverschmutzung von 1972. Da die sozialistischen Länder nicht Mitglied der OECD waren, erhielt das schrittweise aufgebaute Messnetz 1978 einen eigenen institutionellen Status im Rahmen des ECE.267 Während Norwegen die übrigen skandinavischen Staaten überzeugen sollte, übte die Sowjetunion Druck auf die sozialistischen Länder aus. Als sich schließlich das EG-Mitglied Dänemark auf die Seite der nordischen Länder schlug, bröckelte die ablehnende Front der übrigen westlichen Staaten. In den Verhandlungen selbst, die 1977 begannen, forderten wiederum die skandinavischen Staaten konkrete Maßnahmen. Die Großemittenten Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik arbeiteten auf einen möglichst zahnlosen Vertragstext hin. Dem Umweltministerium, das für die DDR mit den Verhandlungen und den Vorbereitungen der Konvention betraut war, waren diese Unstimmigkeiten im westlichen Lager nicht entgangen.268 Diese Gefahr drohte auch dem Ostblock. Die Großemittenten Polen, die Tschecho­slowakei und die DDR hatten andere Interessen als die UdSSR, Bulgarien oder Rumänien. Die Hauptabteilung Hygiene und Staatliche Hygiene-Inspektion im Ministerium für Gesundheitswesen erstellte eine »Prognose der Belastungssituation durch Staub und SO₂«, die für das Gebiet der DDR einen Anstieg der SO₂-Emissionen bis 1990 um zehn bis zwölf Prozent prognostizierte.269 Es war darum das Ziel der DDR, ein völkerrechtlich bindendes Minderungsziel zu verhindern. Im September bestellte die UdSSR die übrigen sozialistischen Staaten zu einer­ 266 Sokolovsky, Fruits, 9. 267 Marc A. Levy, European Acid Rain. The Power of Tote-Board Diplomacy, in: Peter M. Haas (Hrsg.), Institutions for the Earth. Sources of Effective International Environmental Protection. Cambridge/Mass 1995, 75–132, 80 und Toni Schneider, Jürgen Schneider, EMEP. Backbone of the Convention, in: Sliggers, Clearing, 31–44, 31–32. 268 BArch DK 5/3611 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft,Vorbereitung und Durchführung der internationalen Umweltschutzkonferenz 1979 in Genf, Bericht des MUW vom 8.3.1979. 269 BArch DK 5/3611 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Internationale Umweltschutzkonferenz 1979, Prognose der Belastungssituation durch Staub und SO₂ vom 10.8.1979.

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Abstimmungssitzung nach Moskau ein. Hier beschlossen die RGW-Länder, der Konvention zuzustimmen.270 Im Oktober 1979 erhielt Hans Reichelt seine Direktive aus dem Außenministerium, wie er sich auf dem Umweltkongress in Genf zu verhalten habe. Grundlage waren das Abstimmungstreffen der RGW-Länder im September und der Beschluss des Politbüros »Information über den Stand und die Vorbereitung des Gesamteuropäischen Umweltkongresses« vom Februar. Diese zurrte die Position der DDR in fünf Punkten fest: 1. Der Umweltkongress wird als Fortsetzung des Prozesses von Helsinki gesehen. 2. Auf der Konferenz sollen nur solche Dokumente angenommen werden, die den politischen und volkswirtschaftlichen Interessen der DDR entsprechen. 3. Hinsichtlich des Themas »Grenzüberschreitende Ausbreitung von Luftschadstoffen« unterstützt die DDR das Zustandekommen von Regelungen, die die Staaten verpflichten, wissenschaftlich-technische Maßnahmen zur schrittweisen Begrenzung und langfristigen Reduzierung von grenzüberschreitenden Luftverunreinigungen einzuleiten und durchzuführen und die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu fördern. 4. Übergabe von Daten soll nur dann erfolgen, wenn es sich absolut nicht mehr politisch verhindern lässt. Es sollen aber nur aggregierte Daten übergeben werden, keinesfalls Daten zu einzelnen Emissionsquellen. 5. Verpflichtungen zur Regulierung von Schäden, die durch grenzüberschreitende Luftschadstoffe bei anderen Staaten hervorgerufen werden, sind nicht einzugehen.271

Der letzte Punkt war eine Konstante in der Umweltaußenpolitik der DDR. Auf Basis dieser Punkte erhielt Reichelt die Bevollmächtigung »im Namen der DDR die ›Konvention über grenzüberschreitende Luftverschmutzung über weite Entfernungen‹ und die ›Deklaration über abproduktarme und abproduktfreie Technologie sowie Wiederverwendung und Rückführung von Abprodukten‹ zu unterzeichnen«.272 Auf der Konferenz in Genf vom 13. bis 16. November 1979 referierte Reichelt über die Leitlinien der DDR-Umweltpolitik. Das Manuskript hatte er selbst verfasst, Horst Wambutt hatte nur wenige Korrekturen vorgenommen: Die Deutsche Demokratische Republik mißt dem Gesamteuropäischen Umwelt­ kongreß einen hohen Rang bei. Wir sind überzeugt, daß er in Verwirklichung der Empfehlungen der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einen wichtigen Beitrag zur Materialisierung der internationalen Entspan 270 BArch DK 5/3611 ebd., Bericht vom 29.9.1979. 271 BArch DC 20/I/4/4279 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Information über den Stand der Vorbereitungen des gesamteuropäischen Umweltkongresses und das weitere Vorgehen der DDR. 18.2.1979. 272 BArch DK5/3611 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Internationale Umweltschutzkonferenz 1979, Direktive des Außenministeriums vom 19.10.1979.

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nung, der Durchsetzung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz in den internationalen Beziehungen und zur Förderung der Zusammenarbeit bei der Verbesserung der Umweltbedingungen leisten wird.

Zudem sehe die DDR die Friedenspolitik als einen integralen Bestandteil der Umweltpolitik. Reichelt formulierte zudem noch einmal den ›klassischen‹ Stand­ punkt der DDR in Sachen Ökonomie und Umweltschutz: »Die Deutsche Demokratische Republik sieht keinen Widerspruch zwischen Wirtschaftswachstum, Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes und dem Schutz der Umwelt.«273 Bereits am 13. November 1979 hatte Reichelt ein Telegramm mit den wichtigsten Inhalten der Verhandlungen nach Ost-Berlin geschickt. Alle teilnehmenden Staaten außer Zypern, Malta, den USA und Kanada hätten die Konvention unterzeichnet. Auch hier unterstrich er die Kontinuität der Genfer Verhandlungen zum Helsinki-Prozess. Die internationale Umweltpolitik sei ein Stück auf dem Weg der »friedlichen Koexistenz«, das heißt auch, der Existenzsicherung der DDR. Zudem betonte er den für die DDR existentiellen Punkt, dass aus der Konvention keine Schadensersatzansprüche abgeleitet werden könnten.274 Nach seiner Rückkehr verfasste Reichelt einen ausführlichen Bericht, über den das Präsidium des Ministerrates Anfang Dezember beriet. Im Gremium herrschte die Auffassung, dass die Konvention eindeutig als Erfolg zu werten sei. Sie sei auf Initiative der UdSSR zustande gekommen und sei »ein wichtiger Beitrag zur Materialisierung der Empfehlungen der Schlußakte von Helsinki, zur Fortsetzung der Politik der Entspannung und der friedlichen Zusammenarbeit von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung entsprechend den Prinzipien der friedlichen Koexistenz«.275 Die DDR hatte allen Grund zu dieser positiven Einschätzung. Sie war erneut auf einer internationalen Konferenz als gleichberechtigter Partner aufgetreten, ohne allzu große Zugeständnisse machen zu müssen. Die Konvention war in ihrer endgültigen Fassung ein Rahmenvertrag, der weder Fristen noch Sanktionen vorsah. Artikel 2 hielt fest, dass sich die Staaten »bemühen« sollten, die Luftverunreinigung einschließlich der weiträumigen grenzüberschreitenden Luftverunreinigung einzudämmen und so weit wie möglich schrittweise zu ver 273 BArch DK 5/3611 ebd., Erklärung des Leiters der Delegation der Deutschen Demokratischen Republik, des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrates und Ministers für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Dr. Hans Reichelt, auf dem Gesamteuropäischen Umweltkongreß, 13.–16. November 1979 in Genf vom 16.11.1979. 274 BArch DK 5/3611 ebd., Bericht über die Ergebnisse des Gesamteuropäischen Umweltkongresses vom 19.11.1979. 275 BArch DC 20/I/4/4444 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Bericht über die Ergebnisse des Gesamteuropäischen Umweltkongresses in Genf. 6.12.1979, pag. 7.

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ringern und zu verhindern«. Auch in Kombination mit Artikel 6, der die Staaten zum Einsatz der »besten verfügbaren Technologie« anhielt, erwuchs daraus für die DDR keine Notwendigkeit, kurzfristig ihre Energiepolitik zu überdenken.276 Differenzierter muss die Frage des Informationsaustausches gesehen werden. Artikel 9 verpflichtete die Signatarstaaten dem EMEP beizutreten und »es voll anzuwenden«. Dies war ein Widerspruch zu Punkt vier der Direktive Reichelts, einen Datenaustausch weitestgehend zu verhindern. In der Folge fasste das Präsidium des Ministerrates drei Beschlüsse, die teilweise die Vorgaben der Konvention umsetzen sollten. Zum einen sollten verschiedene Ministerien – unter Federführung des MUW – eine langfristige »Konzeption zur Entwicklung der Belastung der Umwelt durch Luftschadstoffe, insbesondere durch SO₂ sowie der Maßnahmen zur ihrer schrittweisen Minderung, insbesondere bei grenzüberschreitenden Luftschadstoffen« erarbeiten. Zum zweiten ordnete das Gremium den Aufbau von Stationen zur Überwachung der Luftschadstoffe an. Der bedeutendste Punkt war jedoch der dritte, nämlich die »Herausgabe einer staatlichen Anordnung zur Sicherung des Schutzes von Daten über die Entwicklung der Umweltbedingungen in der DDR«, für die ebenfalls das MUW verantwortlich war.277 Das Präsidium beschloss am 6. Dezember 1979 der Genfer Konvention teilweise zu entsprechen und gemäß ihrer Intention zu handeln. Dies betraf weniger die effektive Senkung der SO₂-Emissionen. Die Verhandlungen mit der ČSSR haben gezeigt, dass die DDR erst 1980 konkrete Maßnahmen in dieser Richtung ins Auge fasste, und zwar in erster Linie, um die Verhandlungsposition mit dem Nachbarland zu verbessern. Aber die DDR ergriff Maßnahmen, genauer, das Präsidium ordnete sie an, um die Mitarbeit im EMEP-Programm erfüllen zu können. Ein Bericht Joachim Kolbigs, Leiter der Kommission »Reinhaltung der Luft des Forschungsrates der DDR« sowie Leiter des Hauptamtes für Klimatologie des Meteorologischen Dienstes, vom September 1979 verdeutlichte die Notwendigkeit. Das Messwesen in der DDR sei stark zersplittert. Neben dem Meteorologischen Dienst erhoben auch die Hygiene-Inspektionen, die Organe der Landund Forstwirtschaft, Industriebetriebe, die Abgasprüfstelle der DDR und die Zentralstelle für Korrosionsschutz Daten zur Schwefeldioxidbelastung. Jede Institution verwende dabei andere Messverfahren und Messgeräte. Letzteres war dem Umstand geschuldet, dass die DDR nur in kleinem Umfang eigene SO₂Messgeräte herstellen konnte, deren Qualität gering war. 276 – Lesefassung  – Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigungen. Übersetzung ins Deutsche, 2.4.1982, , aufgerufen am 18.1.2012. 277 BArch DC 20/I/4/4444 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Ergebnisse Umweltkonferenz, pag. 11–12.

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In der DDR gebe es nur 26 automatisch arbeitende Messstationen. Die Auswertung der manuell zu bedienenden Stationen scheitere teilweise an den mangelhaften Treibstoffzuteilungen. Die Standorte konnten schlicht und einfach nicht angefahren werden. Die Anforderungen des EMEP-Programs waren mit dem bestehenden Messnetz nicht zu erfüllen. Dies betonte Kolbig am Ende seines Gutachtens eindeutig: Der vorhandene Datenfonds reicht jedoch für die Erarbeitung tragfähiger Entscheidungsgrundlagen für Umweltschutzmaßnahmen und für Bewertungen der Trends in der Immissionssituation nicht aus.278

Diese Einschätzung belegt erneut, wie die DDR in der Frage der Umweltüberwachung eine international führende Position aufgegeben oder verloren hatte. Das EMEP-Programm basierte auf drei Säulen: der Erfassung der jährlichen Emissionen, Messung der Luftqualität und Ausbreitungsrechnungen. Exakt diesen Ansatz hatten Lingner und Zieger in den 1950er Jahren entwickelt, und Däßler hat ihn in den 1960er Jahren in der Großraumdiagnose angewandt. Der schwarze Tag der DDR-Umweltpolitk Wie sich die weitere Mitarbeit der DDR im EMEP-Programm in den kommenden Jahren gestaltete, lässt sich aus den Quellen nicht eindeutig beschreiben. Die Zeit drängte nicht, denn die Konvention trat erst im März 1983 in Kraft. Davor lag mit dem 16. November 1982 der ›Schwarze Tag‹ der DDR-Umweltpolitik. Es war der Tag, an dem das Präsidium des Ministerrates den von Reichelt ausgearbeiteten »Beschluß zur Anordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR« fasste.279 In elf Paragraphen regelte das Präsidium, wer welche Umweltinformationen erheben durfte, wer Zugang zu ihnen hatte, wer sie verwenden und welche veröffentlich werden durften. Kern des Beschlusses war Paragraph zwei, der definierte, was »Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt« waren und wer sie »mit Hilfe physikalischer, chemischer oder bio­logischer Verfahren oder die Berechnung von Konzentrationen von Giften und Schadstoffen in der Luft, im Wasser und im Boden sowie von elektromagnetischen Feldern mittels mathematischer Methoden« erheben durfte. Jeder Kreis der DDR bekam eine Geheimhaltungsstufe 1 bis 3 zugeordnet, die darüber ent 278 BArch DQ 1/24406 Ministerium für Gesundheitswesen, Luft-und Immissionsmessnetz 1971–1989, Niveauanalyse Umweltüberwachung – Medium Luft – Immissionsmeßnetz mit Empfehlungen für Schlußfolgerungen vom September 1979. 279 BArch DC 20/I/4/5063 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Anordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR. 16.11.1982.

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schied, ob die Messwertreihen mehrerer Jahre, die Messwertreihen bis zu einem Jahr oder gar die Einzelmesswerte geheimnispflichtig waren. Im Bezirk KarlMarx-Stadt unterlag jeder Kreis der schärfsten Kategorie 3, im Bezirk Dresden alle Kreise bis auf Großenhain, Riesa und Meißen. Hier durften nicht einmal Einzelwerte erhoben, geschweige denn veröffentlicht werden. Die Geheimhaltungsstufen wurden später noch einmal verschärft.280 Der Hintergrund des Beschlusses kann im bevorstehenden Inkrafttreten der Genfer Konvention gesehen werden. Die DDR wollte sich nicht in die Karten schauen lassen, sie wollte es erschweren, ja unmöglich machen, dass irgendjemand die Emissionsdaten überprüfen konnte, die sie an das EMEP-Programm übermittelte. Reichelt ist für diesen Beschluss von Umweltschützern heftig angegriffen worden; bereits zu Zeiten der DDR und verstärkt nach der Wende. Tatsächlich haftete dem Beschluss noch ein zusätzlich perfides Element an: er war selbst geheim. Das bedeutete, es stand ein Beschluss im Raum, auf den immer wieder verwiesen wurde – etwa im Gespräch mit Wissenschaftlern – dessen exakter Inhalt allerdings nur Wenigen vertraut war. In der Praxis führte dies zu einem extrem vorsichtigen Verhalten aller, die mit der Frage der Luftbelastung beschäftigt waren. Die Ungewissheit, ob man nicht gegen eine Regelung des unbekannten Beschlusses verstieß, besaß ein ungeheures Disziplinierungsvermögen. Dies unterschied sich von den Entwicklungen in der ČSSR und Polen. Marc Levy hat für die beiden Länder herausgefunden, dass die Mitarbeit im EMEP-Programm die Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten für Wissenschaftler verbesserte.281 Nach eigener Aussage empfand Reichelt die Geheimhaltung der Umweltdaten als kontraproduktiv, und er habe die Umsetzung hinauszögern wollen.282 Utopisch wäre es, anzunehmen, er hätte ihn verhindern können. Im Falle eines Rücktritts hätte ein nächster Minister die Vorgabe umgesetzt. Die Genfer Konvention sah ihr Inkrafttreten 90 Tage nach der Ratifizierung des 24. Staates vor. Die DDR selbst hatte im Juni 1982 den Vertrag ratifiziert. Mit der Ratifizierung der Konvention durch Österreich im Dezember 1982 war schließlich die Mindestanzahl erreicht. Im November 1982 war demnach für Reichelt abzusehen, dass er nicht länger mit der Beschlussvorlage warten konnte, ohne gegen frühere Vorgaben zu verstoßen. Im Falle dieser Lesart war Hans Reichelt nicht derjenige, der die Emissionsmessdaten in den Geheimnisschutz zwang, sondern er hat vielmehr deren Verschluss im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten so weit wie möglich herausgezögert. Da er in den 1980er Jahren mehrfach bei Günter Mittag um eine Aufhebung oder Abmilderung des Geheimhaltungsbeschlusses bat, erscheint seine Aussage schlüssig. 280 BArch DC 20/I/4/5063 ebd., pag. 94. 281 Levy, Acid Rain, 115. 282 Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010.

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Zudem belegt ein »Bericht über Probleme des Geheimnisschutzes bei Informationen zum Umweltschutz« der »Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat« vom 25.  Oktober 1982, dass die ›Scharfmacher‹ nicht im Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft saßen, sondern an anderen Stellen des Staatsapparates. Die Arbeitsgruppe ging davon aus, dass »imperialistische Kräfte versuchten, Fragen des Umweltschutzes für ihre Aktivitäten auch gegen die sozialistischen Länder zu mißbrauchen«. Als Belege dienten Artikel aus West-Zeitungen, die über den Umweltzustand in der DDR berichteten. Besonders in der Bundesrepublik würden systematisch »alle Publikationen u. a. Veröffentlichungen der DDR seit Jahren ausgewertet, um sie für politische und ökonomische Zwecke zu mißbrauchen«.283 Dem müsse endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Auch im Inneren zeige sich eine Verschärfung der Lage. Die Bürger könnten »in ihrer Umgebung ohne und zum Teil mit Hilfe konkreter Messungen die Belastung der Umwelt einschließlich ihrer Auswirkungen auf die Menschen und die andere Natur« feststellen. Die Arbeitsgruppe wollte nicht etwa die Umweltsituation verbessern, sondern die Messungen verbieten und durch eine »gezielte und differenzierte Öffentlichkeitsarbeit« ersetzen. Der Arbeitskreis gab dem MUW noch den Hinweis mit auf den Weg, dass »Informationen, die an internationale Organisationen übergeben werden müssen«, an Messstellen zu gewinnen seien, »die für die DDR unproblematisch sind«.284 Die Archivalien erlauben den Schluss, dass die Umsetzung der Geheim­ haltungsrichtline noch einige Zeit in Anspruch nahm. Am 3. Dezember 1982 legte Reichelt einen Maßnahmenplan vor. Er war ohne Zeitangaben versehen.285 Es ist jedoch anzunehmen, dass die Belehrung von Geheimnisträgern, die Schaffung von Nomenklaturen, die Erläuterung der Beschlüsse gegenüber den gesellschaftlichen Organisationen, die Kontrolle der Durchführung des Beschlusses und die Erarbeitung einer gezielten und differenzierten Öffentlichkeitsarbeit mehrere Monate in Anspruch nahm und erst Mitte 1983 voll wirksam wurde. Auch danach war eine völlige Abschottung der Messergebnisse nicht möglich. 1984 bemängelte etwa die Bezirksverwaltung Dresden des MfS bei einer »Überprüfung des Geheimnisschutzes bei Umweltdaten«, dass zweimal wöchentlich Daten zum SO₂- und SO₄-Gehalt der Luft an des EMEP-Zentrum Ost in Moskau übermittelt würden. Für Fachleute bedeute »es keine Schwierig 283 BArch DK 5/1982 Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat, Bericht über Probleme des Geheimnisschutzes bei Informationen zum Umweltschutz. 25.10.1982, pag. 2. 284 BArch DK 5/1982 ebd., pag. 6–10. 285 BArch DK 5/1982 Hans Reichelt, Maßnahmenplan zur Durchführung des Beschlusses des Ministerrates vom 16. November 1982 zur Anordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR. 3.12.1982, pag. 1–3.

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keit, durch Rückberechnung die Emissionen für die einzelnen Gebiete der DDR zu erhalten«.286 Hier finden sich auch Hinweise, dass in Umsetzung des Ministerratsbeschlusses vom 16. November 1982 auch die Ergebnisse der Rauchschadenforschung erfasst wurden. Seit 1983 galten für die »Großraumdiagnose Forstwirtschaft« und für die »Schadzonierung Erzgebirge« die Geheimhaltungsstufe VD  – Vertrauliche Dienstsache. Nach der »Richtlinie zur weiteren Vervollkommnung des Geheimnisschutzes in den Staats-und Wirtschaftsorganen« vom 15. Oktober 1969 war dies die höchste Geheimhaltungsstufe für Dienstgeheimnisse. Darüber standen nur noch die Staatsgeheimnisse.287 Über die Münchner Umweltschutzkonferenz zum 30-Prozent-Ziel Die Genfer Konvention war für die DDR ein bequemes internationales Ab­ kommen. Sie konnte mit minimalen Anpassungsleistungen ihre Reputation stärken. Der Bericht, den Guido Thoms von der 1. Tagung des Exekutivorgans in Genf schickte, deutete jedoch eine für die DDR gefährliche Entwicklung an. Der stellvertretende Minister für Umweltschutz berichtete von den immer noch großen Spannungen zwischen den skandinavischen Staaten und den übrigen Ländern Westeuropas. Während die nordischen Länder weiter auf eine verbindliche Zusage zur Reduzierung der SO₂-Emissionen beharrten, sperrten sich die EG-Staaten dagegen. Neu war allerdings, dass die Bundesrepublik Deutschland die nordischen Länder in dieser Strategie unterstützte. Dazu meinte Thoms: Das Auftreten der BRD-Delegation verfolgte offensichtlich das Ziel, im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den Grünen zu demonstrieren, daß die CDU/CSURegierung sich auch international für die Lösung von Umweltfragen einsetzt.288

Der Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Luftreinhaltepolitik vollzog sich jedoch bereits in den letzten Tagen der sozial-liberalen Koalition. Kurz vor der Stockholmer Konferenz zur Versauerung der Umwelt Ende Juni 1982 überdachte die Bundesregierung ihre bisherige ablehnende Haltung. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte in der von Medien und Wissenschaft vorgebrachten schädlichen Wirkung von SO₂ auf Waldökosysteme liegen. Das »Waldsterben«

286 BStU BV DDn. XVIII 13940 Ministerium für Staatssicherheit, Überprüfung des Geheimnisschutzes bei Umweltdaten 1984. 15.5.1984, pag. 1. 287 Matthias Wagner, Zum Verschlußsachenwesen und zur Geheimhaltung im Staatsapparat der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44, 1996, 41–48, 42–43. 288 BArch DK 5/2121 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Bericht zur 1.  Tagung des Exekutivorgans zur Konvention über weitreichende grenzüberschreitende Luftverunreinigungen, Genf, 7.–10. Juni 1983. 14.6.1983, pag. 4.

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dominierte die Umweltdebatte der frühen 1980er Jahre und zwang die BRD auch auf internationaler Ebene zu einem Politikwechsel.289 Am 18.  November 1983 übermittelte die mittlerweile liberal-konservative Regierung der BRD allen Signatarstaaten der Genfer Konvention ein Memorandum. Darin kündigte sie für den Frühsommer 1984 eine Konferenz auf Ministerebene an, die die Auswirkung der grenzüberschreitenden Luftverschmutzung auf Wälder, Gewässer und Bauwerke beleuchten sollte.290 Von einem Verhinderer wandelte sich die Bundesrepublik zu einem Motor internationaler Luftreinhaltung, eine Entwicklung, die der andere deutsche Staat argwöhnisch verfolgte. Das MUW fragte beim Außenministerium der UdSSR an, wie die Haltung der Sowjetunion zur vorgeschlagenen Konferenz sei.291 Erst Mitte Februar 1984 erhielt das MUW eine Antwort aus Moskau. Die UdSSR werde an der Konferenz teilnehmen, wenn sie im Rahmen des ECE organisiert und das vierseitige Abkommen über Westberlin eingehalten werde.292 Die KPdSU-Zentrale war in dieser Zeit von den häufigen Wechseln der Parteiführer gelähmt. Der bundesdeutsche Vorstoß fiel zeitlich mit dem Tod Juri Andropows und dem Regierungsantritt Konstantin Tschernenkos zusammen, der selbst im März 1985 verstarb. Der Ostblock zeigte sich in dieser Phase träge und führungslos. Die Regierung der DDR sah sich gezwungen, eigenständig und ohne Rückendeckung aus Moskau zu entscheiden. Honecker gab dann schließlich Reichelt die Erlaubnis, an der Vorkonferenz im April 1984 teilzunehmen. Die DDR war damit das einzige Teilnehmerland aus dem RGW-Gebiet, und die eigenmächtige Entscheidung kostete Honecker im September 1984 die Zustimmung der KPdSU zu einem geplanten BRD-Besuch.293 Bereits am 21. März 1984 hatten sich zehn westliche Mitglieder des ECE in Ottawa getroffen und sich dort auf eine Reduzierung der SO₂-Emissionen um 30 Prozent bis 1993 geeinigt. Reichelt sah den Sinn des ›30 Prozent-Clubs‹ darin, Druck auf andere Industriestaaten auszuüben.294 Die DDR wollte sich diesem Druck nicht beugen. Die Direktive, die der Abteilungsleiter Umweltschutz Frank Herrmann für die Vorkonferenz erhielt, sprach eine eindeutige Sprache: 289 Levy, Acid Rain, 93. 290 BArch DK 5/4733 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Unterlagen zur Umweltschutzkonferenz 1984 in München, Memorandum vom 18.11.1983. 291 BArch DK 5/4733 ebd., Anfrage an das Außenministerium der UdSSR vom 16.12.1983. 292 BArch DK 5/4733 ebd., Antwortschreiben der UdSSR vom 16.2.1984. 293 BArch DK 5/4733 ebd., Information über das Vorbereitungstreffen für die ›Multi­ laterale Konferenz über Ursachen und Verhinderung von Wald- und Gewässerschäden durch Luftverschmutzung in Europa‹ vom Mai 1985; Weber, DDR 1945–1990, 101 sowie Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010. 294 BArch DK 5/4733 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Unterlagen zur Umweltschutzkonferenz, Bericht zur Konferenz von Ottawa vom 16.4.1984.

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Für die Sicherung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses der DDR ist die rationelle Nutzung der einheimischen Rohstoffe von hoher Bedeutung. Dies betrifft auch die Deckung des Bedarfes an Primärenergieträgern.

Die DDR war auf die Verfeuerung der heimischen Braunkohle angewiesen. Zudem sah die von Reichelt verfasste Direktive hinter der Umweltpolitik der BRD primär ökonomische Motive: Mit ihrem Eintreten für investitionsintensive Umweltschutzmaßnahmen will die BRD-Regierung nicht zuletzt die Wiederbelebung der Wirtschaft im Anlagenbau und in der Automobilindustrie fördern und den technologisch entwickelten BRDKonzernen dabei internationale Wettbewerbsvorteile sichern.

Die Vorgaben für Herrmann waren darum eindeutig. Er sollte dem 30-ProzentZiel nicht zustimmen und, soweit möglich, eine entsprechende Übereinkunft anderer Staaten verhindern. Er sollte auch gegen eine allzu intensive internationale Zusammenarbeit beim Umweltmonitoring vorgehen.295 Anfang Mai konnte Reichelt dem ZK der SED eine Erfolgsmeldung übermitteln. Es sei auf der Vorkonferenz gelungen, der DDR unangenehme Ziele zu verhindern. Dies betraf das 30-Prozent-Ziel, eine ausgeweitete Emissionskontrolle und die Pflicht zur Einführung von Katalysatoren und bleifreiem Benzin. Beim letzten Punkt erhielt man zudem Unterstützung von Frankreich.296 Die DDR konnte der Münchner Konferenz nun entspannter entgegensehen, zumindest was die Energiepolitik betraf. Reichelt hatte Mittag jedoch darauf hingewiesen, dass sich die DDR mit ihrer Haltung international zu isolieren drohe. Außenpolitisch sei die Zustimmung zum 30-Prozent-Ziel ratsam. Die Haltung des Sekretariats für Wirtschaft änderte sich nicht. Der erste Entwurf einer Direktive für das Auftreten der DDR-Delegation auf der Münchner Konferenz sah vor, »keine bindenden Verpflichtungen zur Reduzierung von Schwefeldioxidemissionen« zu übernehmen.297 Mittlerweile war die UdSSR aus ihrer Lethargie erwacht und bestellte die übrigen RGW-Staaten zu Koordinierungsberatungen nach Moskau ein. Unter den sozialistischen Staaten herrschte große Uneinigkeit. Die Sowjetunion und Bulgarien setzten sich nun energisch für das 30-Prozent-Ziel ein, Polen und

295 BArch DK 5/4733 ebd., Information zur Multilateralen Konferenz über Ursachen und Verhinderung von Wald- und Gewässerschäden durch Luftverschmutzung in Europa, München (BRD), 24. bis 26.6.1984 und Vorschläge für das weitere Vorgehen vom 24.4.1984. 296 BArch DK 5/4733 ebd., Information über das Vorbereitungstreffen für die ›Multilaterale Konferenz über Ursachen und Verhinderung von Wald- und Gewässerschäden durch Luftverschmutzung in Europa‹ vom Mai 1985. 297 BArch DK 5/4733 ebd., Entwurf einer Direktive vom Juni 1984.

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die ČSSR waren dagegen.298 Polen blieb später tatsächlich dem Schwefelprotokoll von 1985 fern, die DDR machte dagegen den Schwenk der östlichen Vormacht mit. Im Umlaufverfahren bestätigte das Politbüro sofort eine Änderung der Direktive: Im Interesse eines konstruktiven Auftretens der DDR-Delegation in Übereinstimmung mit der UdSSR und der Mehrzahl der teilnehmenden Länder wird vorgeschlagen, Genossen Reichelt zu bevollmächtigen zu erklären, daß die DDR für eine entschiedene Senkung der Schwefeldioxidemissionen eintritt und eine Reduzierung um 30 % für eine anzustrebende Mindestzielstellung ansieht.299

Bei Reichelt löste dieser Kursschwenk Verwirrung aus. Laut eigener Aussage hatte er sich bei Mittag von Anfang an für eine Annahme und Umsetzung des 30-Prozent-Zieles ausgesprochen, war jedoch immer auf Ablehnung gestoßen.300 Mit der neuen Direktive war er sich über die Position der SED im Unklaren und bat »nochmals um eine Erläuterung«.301 Über die Motive, die die SED-Spitze in dieser Frage leiteten, liegen keine unmittelbaren Unterlagen vor. Allerdings gibt der Bericht, den Reichelt nach Ende der Konferenz an Honecker, Mittag, Stoph, Axen, Felfe und Herrmann schickte, einige Hinweise. Reichelt hatte in München im Namen der DDR eine Reduzierung der SO₂-Emissionen um 30 Prozent zugesagt. Im Bericht schilderte er dies zwar auch als einen Durchbruch für den Umweltschutz im eigenen Land, wesentlich wichtiger war anscheinend, »dass die Politik der Entspannung im Ergebnis der Schlussakte von Helsinki […] messbare Ergebnisse gebracht hat«. Vor allem die »Konfrontationspolitik« des »US-Imperialismus« konnte so eingezäunt werden. Umweltpolitik erscheint in diesem Dokument primär als Machtund Außenpolitik. Das Einlenken der DDR diente einem »offensiven Auf­ treten« im »Zusammenwirken mit der UdSSR«.302 Etwaige Sachfragen spielten eine sekundäre Rolle. In einigen westlichen Ländern gab es in den Jahren zuvor Vorbehalte. Zum einen zweifelten manche Regierungen einen generellen Zusammenhang zwischen SO₂-Emissionen und Säureschäden in Skandinavien oder generell weit entfernt von der Quelle an. Zum anderen waren die willkürlich gewählten Daten des 30-Prozent-Ziels Ge 298 BArch DK 5/4733 ebd., Information des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten wird über die Koordinierungsberatung der sozialistischen Staaten in Moskau am 4./5.6.1984 vom 12.6.1984. 299 BArch DK 5/4733 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Unterlagen zur Umweltschutzkonferenz, Direktive vom 14.6.1984. 300 Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010. 301 BArch DK 5/4733 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Unterlagen zur Umweltschutzkonferenz, Schreiben Reichelts an Mittag vom 20.6.1984. 302 BArch DK 5/4733 ebd., Bericht über den Verlauf und die Ergebnisse der multilateralen Umweltkonferenz in München, 24. bis 27. Juni 1984 vom 29.6.1984.

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genstand der Kritik. Weder die 30 Prozent selbst noch die Ausgangs- und Endjahre 1980 bzw. 1993 ließen sich wissenschaftlich begründen.303 In der DDR selbst war die Schadwirkung von Schwefeldioxid und saurem Regen wissenschaftlich anerkannt, auch wenn dies in politischen Verlautbarungen gegenteilig klang. Es waren DDR-Forscher, die in den 1950er und 1960er Jahren die großräumige Wirksamkeit von Emissionen nachgewiesen hatten. Und bereits auf dem dies academicus 1961 der Tharandter Forstfakultät hatten Forstwissenschaftler den Niedergang des Fichtenwaldes im Oberen Erzgebirge angezeigt. Dieses Wissen gelangte über Berichte und Gutachten in das MLFN und das MUW, von dort in die Sekretariate des ZK für Landwirtschaft bzw. Wirtschaft und von dort über Mittag bis zu Honecker. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre dürfte die SED-Spitze über den dramatischen Zustand der heimischen Wälder und deren Ursachen informiert gewesen sein. Dieses Wissen war aber nicht der Anstoß, sich in München zum 30-Prozent-Ziel zu bekennen. Hier waren zwei Motive wirksam: die unverbrüchliche Treue zur Sowjetunion und das Streben nach internationaler Reputation. Auf der 3.  Tagung des Exekutivorgans der Konvention über weitreichende grenzüberschreitende Luftverunreinigungen in Helsinki im Juli 1985 unterzeichnete Reichelt für die DDR das sogenannte Schwefelprotokoll. Insgesamt 21 Staaten erklärten sich auf dem Treffen bereit, ihre grenzüberschreitenden SO₂-Emissionen bis 1993 um 30 Prozent zu senken. Vom ursprünglichen Ziel, die Gesamtemissionen verbindlich zu senken, war man abgekommen, da die UdSSR nicht die entsprechend detaillierten Informationen herausgeben wollte.304 Im Gegensatz zur UdSSR oder ČSSR ratifizierte die DDR das Abkommen jedoch niemals. Ausblick Die Entwicklungen der Jahre 1975 bis 1985 waren für die DDR in der Summe ein Desaster. Das selbstgesteckte Ziel, über den Umweltschutz einen unverbindlichen und dennoch tragfähigen Gesprächskanal zum Westen offenzuhalten, schien mit der Genfer Konvention 1979 erreicht. Die dort getroffenen Regelungen belasteten die DDR kaum, sie legten der Energie- und Industriepolitik keine einengenden Fesseln an. Das Beharren der skandinavischen Staaten auf ein Abkommen ›mit Zähnen‹, die Aussicht der UdSSR, die westlichen Staaten in die 303 Jørgen Wettestad, The ECE Convention on Long-Range Transboundary Air Pollution. From Common Cuts to Critical Loads, in: Steinar Andresen, Tora, Skodvin, Aril Underdal, Jørgen Wettestad (Hrsg.), Science and Politics in International Environmental Regimes. Manchester 2000, 95–121, 99. 304 Willem Kakebeeke, The Fifth Perception, in: Sliggers, Clearing, 25–29, 27.

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ser Frage zu spalten sowie die Waldsterbensdiskussion in der Bundes­republik bewirkten gemeinsam das Inganghalten der Diskussion, die schließlich im Schwefelprotokoll von 1985 endete. Die dort getroffenen Regelungen hatten massive Auswirkungen auf die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik  – und damit nach Honeckers Politikentwurf auch auf die Sozialpolitik. Das wussten die ent­sprechenden SED-Politiker ebenso wie der Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft Reichelt, wobei letzterer dennoch eine kontinuierliche Erweiterung seines Wirkungskreises erreichen konnte. Er wandelte sich vom Vorsitzenden eines ›Operettenministeriums‹ zu einem strategischen Spieler. Die Ursachen dafür lagen nicht innerhalb der DDR, sondern allein in der Außenpolitik. Die internationale Karriere des Umweltschutzes ab Mitte der 1970er Jahre erweiterte den Handlungsspielraum Reichelts, allein schon durch den Zugang zu Informationen. Er wollte das 30-Prozent-Ziel, weil er sich dadurch Impulse für die Umweltpolitik im Innern versprach. Während der Münchner Vorkonferenz warnte er Mittag in einem Telefonat davor, dass der DDR die internationale Isolation drohe, sollte sie bei ihrer Haltung bleiben.305 Die von den führenden SEDPolitikern hoch gehandelte internationale Reputation diente dabei als argumentatives Vehikel. Auch wenn es schließlich der Druck der UdSSR war, der die SED-Spitze zu einem Kurswechsel brachte, ist Reichelt als eine treibende Kraft innerhalb der DDR in Richtung 30-Prozent-Ziel zu identifizieren. Tatsächlich beschlossen der Ministerrat und das Sekretariat des ZK der SED Maßnahmen im Fünfjahrplan 1986–1990, die die SO₂-Emissionen massiv gesenkt hätten. Die 30 Prozent wären damit jedoch nicht erreicht worden. Darum beschlossen die Gremien ebenfalls, die an das EMEP weitergereichten Daten massiv zu fälschen. Für das Basisjahr 1980 gab sie 5,0 Mio. Tonnen SO₂-Emissionen an, obwohl der tatsächliche Wert ›nur‹ bei 4,26 Mio. Tonnen lag. Über den höheren Ausgangswert war es einfacher, den Zielkorridor zu erreichen. 1987 meldete die DDR dann 4,99 Mio. Tonnen, obwohl der tatsächliche Wert bei 5,56 Mio. Tonnen lag. Im Politbüro hieß es dazu: Die Differenz aus dem berechneten Wert und dem zur Übergabe vorgeschlagenem Wert für Schwefeldioxid für 1987 in Höhe von 570 kt liegt an der äußersten Grenze der Genauigkeit internationaler Berechnungsmethoden für Schwefeldioxid. Die Fehlergrenze beträgt 10 %.[…] Ein Nachvollziehen der von der DDR angestellten Berechnungen durch Dritte ist ohne genaue Kenntnis der Ausgangsparameter, vor allem der gemessenen Schwefelgehalte der in den Kraftwerken eingesetzten Braunkohle und der Schwefelgehalte der Braunkohle der einzelnen Tagebaue nicht möglich.306 305 Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010 sowie Zentraler Runder Tisch der DDR, Ursachen, 88. 306 BArch DK 5/2115 Politbüro des ZK der SED, Übergabe von Daten und Informationen über Luftverunreinigungen der DDR an die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (ECE) und den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. 28.6.1988, pag. 4–5.

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Die 1970er Jahre – Aufbruch und Stagnation

Diese Ereignisse und das Bemühen des MUW eine effektive Entschwefelungspolitik durchzusetzen, reichen weit in die 1980er Jahre hinein und werden ausführlich in Kapitel 4.1 beschrieben. Im Folgenden wird zudem ausführlich auf die westdeutsche Waldsterbensdebatte eingegangen. Diese ebnete nicht nur den Weg von der Genfer Konvention 1979 zum Schwefelprotokoll 1985, sondern hatte auch unmittelbaren Einfluss auf Diskussionen zu Luftreinhaltung und Waldschutz innerhalb der DDR.

3.4 Zwischenfazit Die frühen 1970er Jahre waren geprägt von einer dreifachen Funktionalisierung der Umweltpolitik: erstens im Bereich der Wirtschaftspolitik, zweitens auf dem Feld der Außenpolitik und drittens als Element der Herrschaftslegitimation. Der erste Punkt wurzelte in der Reformpolitik unter Ulbricht in den 1960er Jahren. Es war sein Ziel, ein langfristiges Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Die erste Analyse der Umweltbedingungen vom September 1968 machte deutlich auf die Begrenztheit der Rohstoffe aufmerksam und unterstrich, dass ein nachhaltiges Wachstum nur bei einem Erhalt der Umweltbedingungen zu erreichen sei. Der Bericht bildete im Wesentlichen die Ausgangsbasis für die Formulierung des Landeskulturgesetztes 1970 und die Gründung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft 1972. Die Analyse fügte sich in eine internationale Entwicklung ein, die einen ihrer Anfangspunkte in New York hatte. Ebenfalls 1968 beschloss die UNO die Einberufung einer Umweltkonferenz für 1972. Damit war die Umweltpolitik bei ihrer zweiten Funktion angekommen, der Außenpolitik. Als Ulbricht die Analyse im Oktober 1967 in Auftrag gab, konnte er die Entwicklung noch nicht vorhersehen, aber die SED-Spitze erkannte schnell die außenpolitischen Möglichkeiten der neuen umweltpolitischen Maßnahmen für die immer noch um ihre internationale Anerkennung ringende DDR. Der Wechsel von Ulbricht auf Honecker an der SED-Spitze im Mai 1971 bedeutete einen großen Umbruch in nahezu allen Politikbereichen und damit auch in der Umweltpolitik. Honecker erkannte, dass ein Strategiewechsel nötig war, um der SED die Legitimation ihrer Herrschaft zu bewahren. Hier liegt die dritte Funktionalisierung der Umweltpolitik, in ihrer Nutzbarmachung als Herrschaftslegitimation. Auf dem VIII. Parteitag hob er die Rolle des Umweltschutzes hervor. Im Unterschied zu Ulbricht ließ Honecker seinen Worten jedoch keine Taten folgen. Die Umweltpolitik war einer wichtigeren Legitimationsquelle unter­ geordnet, der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Er löste sich von den in die Zukunft gerichteten Vorstellungen Ulbrichts und versprach den Menschen in der DDR eine sofortige Verbesserung ihres Lebensstandards in Gestalt des real existierenden Sozialismus. Damit begab sich Honecker in ein zwei­

Zwischenfazit  

251

faches Dilemma. Zum einen fiel die Zukunft als Erklärungsparameter weg, der Sozialimus war ›real‹ und musste sich fortan an seinen eigenen Versprechen messen lassen. Zum anderen tat sich ein Zielkonflikt zwischen schuldenfinanzierter Wirtschafts- und Sozialpolitik und Umweltschutz auf, für den keine Investitionsmittel zur Verfügung standen. Gleichzeitig war die Politik auf ein starkes Wirtschaftswachstum angewiesen, was die scharfen Reaktionen auf wachstumskritische Überlegungen aus dem Westen erklärt. Unter Ulbricht gab es Ansätze zu einer effektiven Umweltpolitik, die teilweise in ihren systemischen Zusammenhängen innovativen Charakter be­saßen. Ob Ulbricht bei einer längeren Amtszeit die institutionelle Anbindung des MUW verbessert hätte, ist denkbar, aber Spekulation. Honecker nahm die Fäden nicht auf und beließ das Ministerium im Stadium eines Torsos. In dem von ihm gesetzten Rahmen der Wirtschaftspolitik blieben auch die mit dem Landeskulturgesetz eingeführten Strafzahlungen in Form des Staub- und Abgasgeldes ohne erzieherischen Effekt. Spätestens ab 1973 hatte damit die Umweltpolitik ihre wirtschaftspolitische Funktion wieder verloren. Mit dem Grundlagenvertrag 1972 und der Aufnahme in die UNO 1973 entfiel der Grund für die außenpolitische Funktionalisierung der Umweltpolitik. Hatte Ulbricht die Umweltpolitik eingesetzt, um der DDR die Teilnahme an der Stockholmer Umweltkonferenz zu ermöglichen, führte Honecker diese Linie zwar zunächst fort. Aber mit der internationalen Anerkennung hatte die Umweltpolitik auf diesem Feld ausgedient. Das Jahr 1974 ist darum als Bruch in der Umweltgeschichte der DDR zu werten. Das noch unter Ulbricht initiierte Berichtswesen in Form der jährlichen, öffentlichen Umweltberichte wurde der Geheimhaltung unterworfen, und die Wochen der sozialistischen Landeskultur wurden wieder abgeschafft – zwei deutliche Hinweise auf die Entfunktionalisierung der Umweltpolitik unter Honecker. Die dritte Funktion blieb allerdings bestehen. Auch unter Honecker galt weiterhin das Versprechen, dass der Sozialismus ein harmonisches Verhältnis zwischen Umwelt und Gesellschaft schaffen könne. Allerdings wurde der Bevölkerung die Überprüfung dieses Versprechens zunehmend erschwert, und Messdaten zum Umweltzustand wurden einer stetig zunehmenden Geheimhaltung unterworfen. Dies betraf auch den Bereich der immissionsgeschädigten Wälder. Der DDR mangelte es an einem technisch einwandfrei funktionierenden Verfahren zur Rauchgasentschwefelung, und darum verbot die SED kurzerhand, darüber zu reden. In den Kategorien von Prittwitz’ Kapazitätentheorie gesprochen, wollte die SED-Führung die Thematisierung eines Problems vermeiden, das sie nicht lösen konnte. Die Partei setzte damit die Bewohner des Erzgebirges einer erheblichen kognitiven Dissonanz aus. Hier waren keine sensiblen Messgeräte nötig, um den Gestank der Kohleindustrie wahrzunehmen. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um die umweltpolitischen Versprechungen der SED zu entlarven. Zu-

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Die 1970er Jahre – Aufbruch und Stagnation

dem gelang es der DDR nicht, in den Verhandlungen mit dem sozialistischen ›Bruderstaat‹ ČSSR eine Entlastung des Erzgebirges zu erreichen. Während sich die beiden Länder darüber stritten, wer eine größere Schuld an den Waldschäden im Erzgebirge trage, begann die Bevölkerung, sich zunehmend über den Zustand zu beschweren. Adressat der Kritik war das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Zwischen 1972 und 1977 spielte der Umweltminister Hans Reichelt in der Innen- und Außenpolitik keine Rolle. Die steigende Sensibilität der Bevölkerung für Umweltbelange und die aufkommende internationale Dimension der Immissionsfrage, die ihren Ausdruck in der Genfer Konvention von 1979 fand, erhöhten dann jedoch die Präsenz Reichelts in der DDR-Politik.

4. Die 1980er Jahre – Importüberschüsse

Honeckers Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik hatte die DDR zu Beginn der 1980er Jahre in eine doppelte Abhängigkeit geführt. Politisch und militärisch hing die DDR seit Bestehen von der Sowjetunion ab; wirtschaftlich war sie zunehmend auf ein gutes Verhältnis mit der Bundesrepublik angewiesen.1 Da mehr Güter konsumiert als produziert wurden, stieg die Auslandsverschuldung kontinuierlich an, bis der DDR 1982 im Zuge der polnischen Krise die Zahlungsunfähigkeit drohte. Die beiden spektakulären Milliardenkredite 1983 und 1984, eingefädelt vom bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, waren Ausdruck dieser neuen Abhängigkeit. Für die SED nahm die Zahl der zu beachtenden Parameter bei der Bestimmung der politischen Linie zu. Je intensiver die ökonomische Verflechtung mit dem Westen wurde, desto weniger konnte sich die DDR den Entwicklungen im Westen entziehen. Die unter Walter ­Ulbricht stark abgeschottete DDR hatte sich in eine Importgesellschaft verwandelt. Die Importüberschüsse betrafen aber nicht nur die materielle Güterproduktion, sondern zunehmend auch Themen und Diskurse. Die im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss in Ost und West erstarkende Friedensbewegung war ein erstes Beispiel dafür, wie Argumente, Parolen, Symbole und Visionen scheinbar mühelos den Eisernen Vorhang überwanden. Das Westfernsehen war nahezu in der gesamten DDR zu empfangen und wirkte zunehmend als agenda setter. Als im November 1981 das Nachrichtenmagazin SPIEGEL titelte »Der Wald stirbt«, dauerte es nicht lange, bis auch einzelne Umweltgruppen der DDR die Thematik aufgiffen. Daran hatten auch die in die Bundesrepublik abgeschobenen oder verkauften Dissidenten ihren Anteil. Sie gliederten sich nicht mehr geräuschlos in die westliche Gesellschaft ein, sondern bezogen sich in ihrem Wirken weiterhin auf die DDR und versorgten die dortige Bevölkerung mit ökologischem Informationsmaterial. Sie stießen mit ihrem Tun in ein Vakuum, denn der Beschluss zur Geheimhaltung der Umweltdaten vom November 1982 lag wie Mehltau auf der staatseigenen Umweltorganisation, der »Gesellschaft für Natur und Umwelt«. Während in der Bundesrepublik die hoch emotio 1 Vgl. dazu Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990. München 2000, 366–370 und Hermann Wentker, Zwischen Unterstützung und Ablehnung der sowjetischen Linie. Die DDR, der Doppelbeschluss und die Nachrüstung, in: Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. München 2011, 137–154, 137–138.

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Die 1980er Jahre – Importüberschüsse

nal geführte Waldsterbensdebatte 1983 ihren massenmedialen Höhepunkt erreichte, fehlten in den offiziellen Medien der DDR Berichte darüber vollständig. Die Staats- und Parteiorgane nahmen die Debatte allerdings sehr ernst und beschäftigten sich intensiver als zuvor mit den Themenfeldern Luftreinhaltung und Waldschäden. Die Frage, die in der ersten Hälfte des Kapitels im Mittelpunkt steht, ist, wie die Waldsterbensdebatte die Forstwissenschaft und die Umweltpolitik der DDR beeinflusste. Damit verbunden ist die Frage, in welchem Zustand die ostdeutschenWälder in den frühen 1980er Jahren waren bzw. exakter gefragt, wie die ostdeutschen Forstwissenschaftler den Zustand bewerteten. Welchen Forschungsfragen gingen die Wissenschaftler in Tharandt nach, als unter ihren westdeutschen Kollegen die Waldsterbensdebatte ihren Höhepunkt erlebte? Davon abgeleitet müssen die Lösungsstrategien analysiert werden, die Wissenschaft und Politik entwarfen bzw. welche Maßnahmen schließlich umgesetzt wurden. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich den Umweltgruppen in der DDR, ihren Entstehensbedingungen sowie ihren maßgeblichen Akteuren und versucht, die Rolle der Waldsterbensdebatte im Rahmen dieses Prozesses zu umreißen. Nach dem Abebben der Friedensbewegung entstanden in der DDR Ökologiekreise, die sich zunehmend miteinander vernetzten und austauschten. Frank U ­ ekötter hat für die Bundesrepublik der 1980er Jahre die Entfaltung eines ökologisch orientierten Lebensstiles mit der dazugehörigen Infrastruktur beschrieben.2 Es soll versucht werden, ähnliche gesellschaftliche Strömungen innerhalb der DDR zu identifizieren. Die Existenz von Ökologiegruppen stellte die SED vor die Herausforderung, inhaltlich auf die gewählte Umweltthematik einzugehen, um weiterhin eine gewisse Kontrolle auf die Gruppen ausüben bzw. um ein staatliches Ersatzangebot bereitstellen zu können. Wie reagierte die Partei auf den zunehmenden Druck, Umweltprobleme konkret zu benennen und anzusprechen, kurzum: Wie gestaltete sich in den 1980er Jahren der ›Kampf um die Öffentlichkeit‹? Damit rückt eine Institution in den Blickpunkt der Forschung, die in der Lite­ratur oft als einzige unabhängige beschrieben wird. Die Evangelische Kirche wandte sich ab Ende der 1970er Jahre ökologischen Themen zu. Der Leiter des Kirchlichen Forschungsheimes Wittenberg, Hans-Peter Gensichen, begriff, dass die Bedrohung der natürlichen Umwelt auch die Menschen in der DDR verunsicherte. Er sah für die Kirche die Chance, die engen Kirchenmauern zu verlassen und wieder stärker in die Gesellschaft hinein zu wirken. Wittenberg wurde so zu einem Zentrum alternativer Umweltvorstellungen und Lebens­ konzepte in der DDR. Der Hegemonieanspruch der SED und die Stabilität der DDR gerieten j­ edoch nicht allein durch die Formierung kleiner opponierender Gruppierungen im

2 ­Uekötter, Ende, 117.

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Inneren in Gefahr, sondern in wesentlich größerem Ausmaße durch internationale Entwicklungen. Wie kein zweiter hat Hans-Ulrich Wehler die DDR als Satrapie der UdSSR beschrieben.3 Die Jahre bis 1985 waren in der Sowjetunion von schnellen Herrschaftswechseln und Richtungskämpfen geprägt. Nach dem Tod Breschnews 1982 war die KPdSU weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Der Handlungsspielraum der kleineren Ostblockländer wuchs, auch wenn diese meist nicht wussten, wie sie diese Freiheit gestalten sollten.Die SED schien davon überfordert, auf die wachsenden innenpolitische Herausforderung ohne Rückendeckung reagieren zu müssen.4 Dieser Zustand verschärfte sich, als im März 1985 Michael Gorbatschow das Amt des Generalsekretärs der KPdSU übernahm. Der von ihm entfesselten und mit den Schlagwörtern Perestroika und Glasnost verbundenen Dynamik waren die übrigen kommunistischen Parteien nicht gewachsen. Die SED Führung zeigte sich wenig bereit, den angebotenen Weg in Richtung einer offeneren und demokratischeren Gesellschaft mitzugehen.5 Mit der Aufgabe der »Breschnew-Doktrin« 1988 ebnete Gorbatschow endgültig den Weg für selbstständige innenpolitische Reformen in den Ostblockstaaten. Sowjetische Soldaten würden nicht mehr die von Moskau verordnete Spielart des Kommunismus in den einzelnen Hauptstädten durchsetzen. Damit war aber auch die Option für jedes Land verbunden, auf Reformen zu verzichten. Diese Wahl traf die SED und führte die DDR damit nicht nur geographisch an den Rand des Ostblocks.

4.1 Waldschäden und Luftreinhaltepolitik Die Belastung der Luft mit Schadstoffen und der Gesundheitszustand der Wälder stehen in einem engen Verhältnis. Je sauberer die Luft, desto gesünder ist zumeist der Wald. Diesen Zusammenhang haben DDR-Wissenschaftler wie Reinhold Lingner, Erich Zieger, Horst Enderlein und Hans-Günther Däßler fundiert dargelegt. Die DDR war einer der größten Schwefeldioxidemittenten der Welt. 1987 emittierte sie 5,4 Mio. Tonnen, nach der UdSSR die zweithöchste Menge in Europa. Bezogen auf die Fläche nahm die DDR mit 49,9 Tonnen pro Quadratkilometer einen einsamen Spitzenplatz ein. Für die BRD lagen die Werte bei 2,8 Mio. t/a und 11,2 t/km².6

3 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 356. 4 Weber, Geschichte der DDR, 333. 5 Ulrich Mählert, Kleine Geschichte der DDR. Orig.-Ausg., 5., überarb. Aufl.. München 2007, 146. 6 BArch DK 5/1786 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Bericht zur Entwicklung der Emissionen von Luftverunreinigungen in der DDR im Jahre 1986. (Kurzfassung). Berlin (Ost). Juli 1987, pag. 2–3.

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Die hohen Werte standen mit der Kürzung der sowjetischen Öllieferungen zu Vorzugspreisen in Verbindung. Ab 1981 erhielt die DDR nur noch 17,1 anstatt 19 Mio. Tonnen Öl jährlich, die zusätzlichen zwei Mio. Tonnen wollte sich die UdSSR in frei konvertierbaren Devisen bezahlen lassen.7 Für die DDR bedeutete diese Kürzung eine Katastrophe. Das sowjetische Öl war Schmierstoff der DDRWirtschaft. Dieses bezog die DDR zu einem Preis, der dem Durchschnitt des Weltmarktpreises der letzten fünf Jahre entsprach.8 Im Angesicht von Ölkrisen und steigenden Weltmarktpreisen hatte die DDR eine Art Transitökonomie aufgebaut. Im Osten wurde günstig Erdöl eingekauft, in der DDR veredelt und für Preise knapp unter dem Weltmarkt in den Westen verkauft. Mit der Kürzung der Lieferungen hatte die DDR nun nicht mehr genug Öl für den Eigenbedarf und den Export petrochemischer Produkte. Die vehement vorgebrachten Einwände Honeckers, die DDR zu destabilisieren, wischte Breschnew mit Verweis auf die eigene Notsituation beiseite. Nach drei Missernten musste die UdSSR Öl auf den Weltmarkt bringen, um Zucker und Getreide importieren zu können.9 Die schwindende Liquidität vor Augen konnte die SED-Spitze den Export von Erdöl-Produkten nicht verringern. Die zwei Mio. Tonnen mussten im Inland eingespart und Öl im großen Stil durch heimische Braunkohle ersetzt werden. Nach Arvid Nelson waren die notwendigen Investitionen in die Umrüstung des ostdeutschen Kraftwerkparkes mit 20,2 Mrd. US-Dollar höher als die Nachrüstung der westdeutschen Kraftwerke mit Schwefeldioxidfiltern, die er auf 17 Mrd. Dollar bezifferte.10 Die Substitution von Öl durch Kohle band einen Großteil der knappen Investitionsmittel in der DDR. Zudem wurde die Förderung der Braunkohle immer aufwendiger, die Kohle war salziger, schwefel- und wasserhaltiger. Immer größere Flächen mussten für die Tagebaue aufgeschlossen werden, wofür vorwiegend Maschinen aus den 1930er Jahren genutzt wurden.11 1981, das Jahr, in dem die westdeutsche Waldsterbensdebatte begann, wurde in der DDR zum Startpunkt für nie dagewesene Emissionen von Schwefeldioxid. In der DDR selbst traten die SO₂-Emissionen sehr konzentriert auf. 62 Prozent fielen in den drei Bezirken Cottbus, Halle und Leipzig an.12 Allein über eine Mio. 7 Steiner, Plan, 194. 8 Benno Eide Siebs, Die Aussenpolitik der DDR 1976–1989. Strategien und Grenzen. Paderborn u. a. 1999, 132. 9 Malycha, Winters, SED, 261–262. 10 Die beiden Werte sind auf das Preisniveau von 2002 bezogen. Nelson, Cold war ecology, 142. 11 Die Förderkosten für eine Tonne Rohbraunkohle stiegen von 7,70 Mark 1980 auf 13,20 Mark 1988. Hoffmann, Ölpreisschock, 230. Siehe auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 97. 12 Cottbus: 1,3 Mio. t, Halle 1,07 Mio. t und Leipzig 0,97 Mio. t. Im Bezirk Karl-MarxStadt betrugen 1986 die Emissionen 0,25 Mio. t und im Bezirk Rostock 0,058 Mio. t. BArch DK 5/1258 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Emissionsbericht 1986. 1987, pag. 1.

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257

Tonnen an Emissionen entfielen auf die beiden Landkreise Borna (687.708 t) und Merseburg (319.248 t).13 Die Industriezentren in Halle und Leipzig waren waldarm, die Emissionen im Bezirk Cottbus entstammten großen Braunkohlekraftwerken, die in den 1960er Jahren gebaut worden waren. Die Waldschäden dort blieben eng umgrenzt, da die Kraftwerke ihre Abgase über hohe Schornsteine ableiteten und über 50 Prozent ihrer Emissionen nach Polen verfrachteten.14 Das problematischste Waldschadensgebiet für die DDR war und blieb das Obere Erzgebirge. In den angrenzenden Gebieten war das Emissionsgeschehen relativ gering, im Gebirge selbst zu vernachlässigen. Von Norden her trafen allerdings die aus Leipzig und Halle herangewehten Schadstoffe auf das Gebirge, von Süden litten die Wälder unter den Emissionen des Böhmischen Beckens. Das Zentrum für Umweltgestaltung ermittelte in Messungen, dass Emissionen aus dem Gebiet der ČSSR zu 77 Prozent für die Überschreitung des Schwellenwertes von 150 µg/m³ SO₂ verantwortlich seien. Für das ›normale‹ Immissionsgeschehen trügen sie einen Anteil von 60 Prozent.15 Im Erzgebirge konzentrierten sich die elementaren Fragestellungen. Die DDR musste endlich mit der Entschwefelungstechnik vorankommen. Über internationale Abkommen versuchte sie, die Belastung aus der ČSSR einzudämmen, und war gleichzeitig mit der Genfer Konvention und dem 30-Prozent-Ziel ebenfalls in der Pflicht. Dies spielte sich vor dem Hintergrund einer immer unzufriedener werdenden Bevölkerung ab, die sich stärker für Umweltbelange interessierte und speziell in der Frage der Waldschäden via Westmedien den Waldsterbensdiskurs verfolgen konnte. Für die Debatte in der Bundesrepublik übernahm das Erzgebirge die Rolle des abschreckenden Beispiels. Die Fernsehbilder von abgestorbenen oder bereits kahlen Waldflächen  – primär von der tschechoslowakischen Seite des Gebirges – sollten den Bundesbürgern die Ernsthaftigkeit der Lage und die Dringlichkeit von politischen Maßnahmen vor Augen führen: Ohne konsequente Luftreinhaltung drohe dem Schwarzwald ein ähnliches Schicksal. Was war das konkret für ein Schicksal? Dieses Kapitel bewertet die Bemühungen von Staats- und Parteiführung, die Gesundheit der Wälder in der DDR zu bewahren. Die Einsicht, dass dies zuerst auf dem Weg der Luftreinhaltung und dann mit forstwirtschaftlichen Mitteln versucht werden müsse, führt zu einem zweiteiligen Vorgehen. Zunächst steht die Frage im Vordergrund, wie in der DDR am Emissionsproblem gearbeitet wurde. Im Anschluss rückt der Wald im Erz 13 BArch DK 5/1258 ebd., pag. 31 und 39. Borna lag im Bezirk Leipzig und beheimatete den VEB Braunkohleveredlung Espenhain. Der Kreis Merseburg war Teil des Bezirks Halle. Die Buna- und Leuna-Werke lagen dort. 14 BArch DK 1/28733 Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Unter­ lagen zur Zusammenarbeit mit Polen und der CSSR 1987–1989, Bericht vom 11.1.1988. 15 BArch DK 5/1903 Zentrum für Umweltgestaltung, Schwerpunkte der gegenwärtigen Umweltbelastung und Tendenzen. (Thema Prognose 2005). 1. Entwurf, pag. 64.

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gebirge in den Fokus. Hier spielt die Frage hinein, ob die Forstwissenschaftler in Tharandt zu einer Neubewertung der Schäden kamen, und wie sich die westdeutsche Waldsterbensdebatte auf die ostdeutsche Forstwissenschaft auswirkte.

4.1.1 Das Umweltministerium und sein Kampf um Entlastung Waldbauliche Mittel waren nur im begrenzten Umfang wirksam, den immissionsbedingten Waldschäden zu begegnen. Düngemaßnahmen, Resistenzzüchtungen, Waldumbauten und besondere Pflegeanleitungen verzögerten im Idealfall den Schadfortschritt, aufhalten konnten sie ihn nicht. Bereits Erich Zieger – und alle Rauchschadenforscher vor und nach ihm – hatte betont, eine wirkliche Lösung setze an der Quelle der Emissionen an. Seit Schwefeldioxid als Hauptursache der Rauchschäden erkannt worden war, rissen die Forderungen der Forstwirtschaft nach Entschwefelung ebensowenig ab, wie die Bemühungen der technischen Forschung, ein entsprechendes Verfahren zu entwickeln. In dieser Frage trennte der Eiserne Vorhang nicht. In den deutschen Staaten auf jeder Seite der Mauer gab es ab den 1950er Jahren vielfältige Bemühungen, die Entschwefelung von Großfeuerungsanlagen zufriedenstellend zu lösen. Früher als in der Bundesrepublik erkannte die DDR jedoch die wirtschaftliche Notwendigkeit der Entschwefelung. Brandts Forderung nach dem »Blauen Himmel« war eine gesundheitspolitische Initiative und zielte auf die Verbesserung der Lebensqualität ab, an den Schutz der Wälder im Ruhrgebiet dürfte Brandt dabei nicht gedacht haben. Die übrigen Waldgebiete galten in der Mehrzahl als gesund. Dagegen litt die DDR 1961 bereits unter großflächigen Schäden und Absterbeerscheinungen auch in den später so bezeichneten Reinluftgebieten. Gleichzeitig forschten die Wissenschaftler in Tharandt an der Fernwirkung von Luftschadstoffen. Mit dem Aufbau der Industrie in der DDR und im nordböhmischen Becken war fast die gesamte südliche DDR zu einem Immissionsgebiet geworden. Da die Wälder für die Volkswirtschaft der DDR eine höhere Bedeutung hatten als in der BRD, lag deren Gesunderhaltung im Interesse des Staates und der SED. Die Suche nach funktionierenden Entschwefelungsverfahren war keine von außen in die DDR getragene Debatte. Neben wirtschaftlichen Überlegungen wurde sie ihr auch von besorgten Bürgern zunehmend aufgezwungen. Sie erfuhr aber von außen zwei wichtige Impulse. Erstens setzte die internationale Diskussion über die grenzüberschreitende Luftverschmutzung ab Mitte der 1970er Jahre die DDR unter Druck, ihre Forschungsbemühungen zu verstärken. Die Waldschäden in der DDR wurden nicht nur immer umfangreicher und drastischer, die DDR galt auch als eine der größten ›Dreckschleudern‹ Europas, ein Image, das die auf internationale Reputation bedachte SED-Führung ablegen wollte.

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Zweitens brachte die erfolgreich durchgesetzte Entschwefelung in West­ europa  – vor allem in der Bundesrepublik ab 1982/83  – die DDR unter Zugzwang. Dieses Kapitel geht der Frage nach, ob und wie in der DDR die Entschwefelungsfrage behandelt wurde, zu welchen Ergebnissen sie kam und wo die Ursachen für Erfolg oder Scheitern zu suchen sind. Erste Entschwefelungsbemühungen Das Institut für Energetik arbeitete im Rahmen der Staatsplanaufgabe »Reinhaltung der Luft« an der Rauchgasentschwefelung. Eine Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit den verschiedenen Verfahren, die Rauchgase aus der Braunkohlenverbrennung zu entschwefeln. 1977 stellte sie ihre Ergebnisse vor. Für die Verhältnisse in der DDR komme allein das Kalkstein-Additiv-Verfahren in Betracht. Es sei »allen anderen Verfahren bei gleichem Umwelteffekt und Vermeidung von Umweltbelastungen ökonomisch überlegen«. International seien damit zwar keine guten Erfahrungen gemacht worden, aber diese Forschungen stützten sich auf Steinkohle- und Ölfeuerung. Zudem sei bei Rohbraunkohle der Zusatz von Kalk »bezüglich seines energetischen Effektes den anderen Verfahren weit überlegen«. Der Nachteil des Verfahrens war, dass lediglich Abscheidequoten von bis zu 40 Prozent erreicht werden konnten. Eine Dauererprobung im Kraftwerk Lübbenau bis 1975 hatte ergeben, dass die Kosten bei etwa 400 M pro zurückgehaltener Tonne SO₂ lagen.16 Das Kalkstein-Additiv-Verfahren zählt zu den trockenen Entschwefelungsverfahren. Der Braunkohle wird vor dem Verbrennen gemahlener und gebrannter Kalk beigefügt. Für die DDR besaß dies einigen Charme, da sie auf ihrem Territorium über genug Kalksteinvorkommen verfügte und die Technik vergleichsweise einfach war. In jede bestehende Anlage ließ sich die Zugabe von gemahlenem Kalkstein integrieren. Ein Problem war jedoch die zusätzliche Staubbelastung, welche die installierten Elektrofilter überlastete, und die Tatsache, dass mit dem Verfahren kein Rohstoff gewonnen werden konnte. Der Kalk und das Schwefeldioxid im Rauchgas reagierten zu Sulfiten, ein Abfallstoff, der im Straßenbau oder zur Verfüllung von Bergwerksstollen eingesetzt werden konnte.17 Schwefel als Rohstoff für die chemische Industrie, den die DDR importieren musste, fiel nicht an.18

16 UA der TUD, Sekt 21 291, Komplexe Staatsplanaufgabe Reinhaltung der Luft, pag. 9–10. 17 Rainer Ruthe, Wirbel um den Rauch. Wie verringern wir die Belastung der Luft mit Schwefeldioxid?, in: Wochenpost 25, 1989, 16–17, 16. 18 BArch DK 5/1961 Institut für Wasserwirtschaft, Entwicklung der Schwefeldioxid­ belastung 1977, pag. 44–45.

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Ab 1978 war die Technik praxisreif.19 Im Mai 1977 setzte sich Mittag bei Honecker für die rasche Umsetzung des Kalkstein-Additiv-Verfahrens ein.20­ Alfred Lütke, SED-Funktionär und später Leiter des Zentrums für Umweltgestaltung, pries 1979 in der Parteizeitung Einheit das Verfahren als großen Erfolg.21 Er konnte es sich sogar erlauben, die Sozialpolitik Honeckers zu kritisieren. Diese belaste die natürlichen Ressourcen der DDR über Gebühr. Dies kann als Indiz gedeutet werden, dass die SED-Führung Ende der 1970er Jahre davon ausging, das Problem der Luftverschmutzung bald zu überwinden. Es dauerte allerdings noch zwei Jahre, bis im März 1981 Pilotanlagen in Betrieb gingen. Block zwölf des Kraftwerks Elbe in Vockerode war die erste Anlage, wenig später folgte das Heizwerk Lindenau.22 Ohne das Umweltabkommen mit der ČSSR vom November 1981 hätte sich der Testbetrieb möglicherweise noch weiter verzögert. Reichelt hatte aber den übrigen Regierungsmitgliedern und SED-Funktionären verdeutlicht, dass er die Verhandlungen mit der ČSSR nur glaubhaft führen könne, wenn sich auch die DDR in der Frage bewege. Letztendlich verpflichtete sich die DDR zur Entlastung des Erzgebirges zum Einbau von drei Anlagen in noch nicht näher benannten Kraftwerken. Im März 1982 befasste sich das Präsidium des Ministerrates mit der Situation in den Wäldern der DDR. Es beauftragte das MUW damit, eine Einsatzkonzeption für das Kalkstein-Additiv-Verfahren in der DDR zu erarbeiten. Damit befand sich die DDR noch auf ›Augenhöhe‹ mit der Bundesrepublik, was die Frage der Rauchgasentschwefelung von Großfeuerungsanlagen betraf. In Bonn beschloss das Kabinett im September 1982, die SO₂-Emissionen umfassend zu senken. Im Anschluss an die Sitzung des Präsidiums stimmte Bruno Lietz, Leiter der ZK-Abteilung Landwirtschaft und ab November 1982 Minister im MLFN, die Linie mit seinem Vorgesetzten Werner Felfe ab. Er sprach sich für eine rasche und konsequente Entschwefelungsstrategie aus: Es muß deshalb mit besonderem Nachdruck verlangt werden, daß das im Kraftwerk Vockerode erprobte Kalkstein-Additivverfahren zur Rauchgasentschwefelung in allen anderen dafür geeigneten Industrieanlagen angewandt wird. Mit diesem Ver­ fahren steht der DDR ein praxisreifes, ökonomisch vertretbares Verfahren zur Ver-

19 BArch DK 5/1927 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik und Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Bericht über die Ergebnisse der Entwicklung des Umweltschutzes in der DDR 1978. Berlin (Ost). 1979, pag. 24. 20 SAPMO DY 30/2835 Mittag, Luftverunreinigung, pag. 60. 21 Hans-Albrecht Lütke, Umweltschutz in der DDR, in: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus 34, 1979, 730–732, 730. 22 BArch DK 5/188 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Öffentlichkeitsarbeit und Maßnahmen zur Verringerung der Umweltschäden, Brief des Ministers für Kohle und Energie, Mitzinger, an Hans Reichelt vom 8.4.1981.

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ringerung der Schwefeldioxydbelastung zur Verfügung. Bei Entschwefelungsgraden bis 40 % können die anfallenden Kosten durch gleichzeitige Wärmegewinnung annähernd gedeckt werden.23

Unterstützung für sein Anliegen bekam Lietz aus der Forschung. Die Ökonomen in Tharandt belegten die Rentabilität des Verfahrens, zumindest aus forstlicher Hinsicht. Sie gingen in den Rauchschadzonen 1 und 2 von einem kumulierten Ertragsverlust von 18.800 bzw. 4800 Mark/ha aus. Die Kosten für das Entschwefelungsverfahren taxierten sie auf 2230 M/ha.24 Lietz griff die von Reichelt ausgearbeitete Konzeption zur Einführung des Verfahrens scharf an. Sie war ihm zu schwach und zu kurz. Anfang 1983 informierte Sekretär Felfe Honecker in einer Hausmitteilung über die »besorgniserregende« Lage der Wälder im Erzgebirge. Eine Lösung sei nur über eine konsequente Entschwefelung zu erreichen. Aber das MUW führe die neue Konzeption »noch nicht zielgerichtet genug« durch. In lediglich drei Kraftwerken plane das Umweltministerium ab 1986 Anlagen. Damit werde eine Absenkung der SO₂-Emissionen um 14.000 Tonnen pro Jahr erreicht, bei 4,4 Mio. Tonnen Gesamtemissionen.25 Es hat lediglich auf den ersten Blick den Anschein, dass das MUW die Entschwefelungsbemühungen ausbremste. Reichelt war in der Frage der Rauchgasentschwefelung besser informiert als sein Kollege Lietz. Zudem schätzte er wohl die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR realistischer ein. Das KalksteinAdditiv-Verfahren war nicht der ›Heilsbringer‹, den man sich erhofft hatte. Als das Präsidium des Ministerrates im März 1983 ausführlich die Konzeption beriet, war deutlich, dass das Entschwefelungsverfahren die Erwartungen nicht erfüllt hatte. Der Betrieb in den beiden Pilotanlagen lief zwar zufriedenstellend, aber es war für den Einsatz in Großkraftwerken nicht geeignet, da es zu große Mengen Kalk verbrauchte. Auf eine Tonne gebundenes Schwefeldioxid kamen sieben Tonnen Kalk. Zum einen gab es in der DDR nicht ausreichende Kapazitäten, genug gebrannten Kalk herzustellen, zum anderen wäre die Reichsbahn mit dem Transport überfordert gewesen.26 Allein im Kraftwerk Boxberg betrug 23 SAPMO DY 30/118 ZK der SED Abteilung Landwirtschaft, Standpunkt für Genossen Felfe zur Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED über den »Beschluß zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR«. 29.3.1982, Standpunkt für Genossen Felfe zur Vorlage für das Sekretariat des ZK derSED über den »Beschluß zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR« vom 29.3.1982. 24 Gesine Ende, Rolf Steffens, Jürgen Stein, Ökonomische Bewertung des Einflusses von SO₂-Immissionen auf die Erholungsleistungen der Waldwirtschaft, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 32, 1983, 219–222, 3. 25 SAPMO DY 30/118 Werner Felfe, Information zu Problemen in der Forstwirtschaft. 13.1.1983, pag. 4. 26 BArch DF 4/22553 Kommission Reinhaltung der Luft, Einschätzung des aktuellen Standes der Forschungsarbeiten zur Rauchgasentschwefelung. 18.12.1985, pag. 4.

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der Bedarf 100.000 Tonnen in zehn Tagen. Das Verfahren eignete sich nur zum Einsatz in kleinen und mittleren Heizkraftwerken. Das Präsidium beschloss, 1986 drei Prototypen in unterschiedlich großen Dampferzeugern einzubauen und die entsprechenden Investitionen in den Volkswirtschaftsplan 1984 einzustellen. Im Heizkraftwerk Karl-Marx-Stadt Nord II (61.300 t/a Schwefeldioxid-Emissionen), im Heizwerk »Max Reimann« Leipzig (87.600 t/a)  und im Heizwerk Schwarzenberg II (4.500 t/a)  sollte für 16,8 Mio. M Investitionskosten der Regelbetrieb getestet werden. In einem zweiten Schritt war geplant, die Technik an weiteren Kesseln einzusetzen, um bis 1990 in der Summe 200.000 t/a einzusparen. Diese Maßnahmen dienten jedoch primär dazu, den auf die menschliche Gesundheit abgestimmten Grenzwert von 150 µg/m³ SO₂ einzuhalten. Für eine weitere Senkung des Schwefeldioxid-Ausstoßes vor allem zur stärkeren Minderung von Forstschäden sind jedoch darüberhinaus Maßnahmen in Großkraft­ werken sowie in anderen Industriebereichen, vor allem in der Chemieindustrie und in der Metallurgie, erforderlich.27

Die Regierung der DDR konzentrierte ihre Entschwefelungsbemühungen auf die dicht besiedelten Gebiete. Die Belange der Forstwirtschaft mussten zurückstehen, eine Haltung, die Forstminister Lietz im Vorfeld massiv angegriffen hatte. Wie üblich war die Beschlussvorlage zirkuliert. Das MLFN hatte einige Kritikpunkte vorgebracht. Es sah die Situation der Forstwirtschaft nicht drastisch genug dargestellt, konnte aber mit seinen Änderungsvorschlägen nicht durchdringen. Kompetenzausbau des MUW Edda Müller hat in ihrer Analyse über die westdeutsche Umweltpolitik die Konkurrenz von Bundesinnenministerium und Bundeslandwirtschaftsministerium klar herausgearbeitet. Zankapfel war die Naturschutz- und Landschaftspflegezuständigkeit. Die Abteilung Umweltschutz des Innenministeriums hätte diese gerne aus dem Landwirtschaftsministerium herausgelöst und bei sich eingegliedert. Eine Umweltpolitik aus ›einem Guss‹ wäre damit vereinfacht worden.28 Ähnliche Kompetenzstreitigkeiten gab es auch in der DDR. Das MLFN verteidigte seine Zuständigkeit für den Naturschutz gegenüber dem MUW. Das 27 BArch DC 20/I/4/5148 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über die Konzeption für den Einsatz des Kalkstein-Additiv-Verfahrens in der DDR. 18.3.1983, pag. 11. 28 Edda Müller, Innenwelt der Umweltpolitik. Sozial-liberale Umweltpolitik  – (Ohn) macht durch Organisation? 2. Aufl. Opladen 1995, 57.

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Umweltministerium hatte damit, von der Wasserwirtschaft abgesehen, keinen Zugriff auf die ›physische‹ Umwelt. Über den Stand und die Entwicklung von Waldschäden war allein das Forstministerium informiert, das MUW auf die Überlassung der Daten angewiesen. Es konzentrierte darum seine Aktivitäten darauf, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Hier profitierte das MUW in den 1980er Jahren von den internationalen Abkommen, die die DDR eingegangen war. Die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1979 legten der DDR die Einrichtung eines funktionierenden Messwesens auf, dessen Daten an das EMEP-Zentrum in Moskau übermittelt werden mussten. Das Messwesen in der DDR war zersplittert, veraltet und konnte die im Abkommen definierten Auflagen nicht erfüllen. Im März 1981 machte das MUW auf den notwendigen Aufbau einer entsprechenden Einrichtung aufmerksam.29 Dies war eine alte Forderung Reichelts. Bereits im Jahresbericht 1973 über die Ergebnisse der sozialistischen Landeskultur hatte er beanstandet, dass »kein einheitlich aufgebautes System der Information und Dokumentation für den Umweltschutz« zur Verfügung stand.30 Erst im Zuge der internationalen Entwicklung bekam er sein Anliegen erfüllt. Das »Zentrum für Umweltgestaltung« (ZUG) entstand 1982 aus dem Bereich Umweltschutz des Institutes für Wasserwirtschaft. Seine 225 Mitarbeiter verteilten sich auf Dienstsitze in Berlin, Cottbus, Wittenberg, Erfurt und Freiberg. Es war dem MUW direkt unterstellt und wurde dessen operative Institution im Bereich Umweltschutz. Kernaufgaben waren die Koordination der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowie die Analyse und Berichterstattung zu Entwicklungen der Umweltbedingungen.31 1980 hatte sich Reichelt bereits die Zuständigkeit für den Meteorologischen Dienst (MD) gesichert.32 Wegen schlechter Hochwasserprognosen war der Minister des Innern unter Druck geraten und hatte das ungeliebte Kind abgegeben. Reichelt hatte sofort die strategische Bedeutung des Dienstes für die Luftreinhaltung erkannt und mit der Rückendeckung internationaler Verpflichtungen zugegriffen.33

29 BAarch DK 5/1826 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Information über Aktivitäten zur Sammlung und Auswertung von Daten der Umweltüberwachung im Rahmen internationaler Organisationen des UNO-Systems und des RGW. 26.3.1981. 30 BArch DC 20/I/3/1178 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zum Jahresbericht 1973 über die Ergebnisse der sozialistischen Landeskultur einschließlich des Umweltschutzes in der DDR. 11.7.1974, pag. 33. 31 BArch DK 5/765 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Fragen der Umweltpolitik der DDR, Geschichte und Aufgaben des Zentrums für Umweltgestaltung vom 6.2.1984. 32 BArch DK 5/1276 Politbüro des ZK der SED, Beschluß über die Veränderung der Zuordnung des Meteorologischen Dienstes der Deutschen Demokratischen Republik. 28.4.1980, pag. 6. 33 Gespräch mit Reichelt am 12.4.2010.

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Am 1. Februar 1982 gab das MUW eine Dienstanweisung heraus, die das Zusammenspiel von MD und ZUG regelte. Danach bekamen MD und ZUG jeden Tag die Emissionsdaten aller Großkraftwerke übermittelt. Der Meteorologische Dienst berechnete daraus die Immissionsbelastung der letzten 24 Stunden sowie die grenzüberschreitenden Ströme und überprüfte die berechneten Werte durch eigene Messungen an zehn Stationen. Alle diese Daten gingen dann an das ZUG und an das Umweltministerium. Auf Basis dieser Daten sowie der Prognose der meteorologischen Situation erstellte der MD täglich Belastungsszenarien und übermittelte diese ebenfalls an das Ministerium. Das MUW gab diese Daten an das Ministerium für Gesundheitswesen weiter und warnte vor Gefährdungssituationen. Das ZUG erstellte ebenfalls Bedrohungsszenarien und gab diese an das Ministerium für Kohle und Energie und das Ministerium für Chemische Industrie weiter. Im Verantwortungsbereich dieser beiden Ministerien lagen die größten Emittenten, die damit rechtzeitig ihre Emissionsgeschehen an die meteorologische Situation anpassen sollten, etwa das Bunkern schwefelärmerer Lausitzer Braunkohle, falls eine Inversionswetterlage drohte. Das ZUG übermittelte ferner zweimal wöchentlich die Informationen zu grenzüberschreitenden Strömen an das EMEP-Datenzentrum in Moskau. Hinzu kamen die Immissionsdaten der Stationen in Arkona, Neuglobsow und Wahnsdorf, die das ZUG direkt nach Oslo meldete. Diese Stationen waren ausgewählt worden, weil sie sich an »gering belasteten Standorten« befanden und »Rückschlüsse auf Emissionen und volkswirtschaftliche Zusammenhänge« ausgeschlossen seien.34 Nach 1982 gab es keine Institution in der DDR, die auch nur annähernd so detailliert über das Emissions- und Immissionsgeschehen in der DDR informiert gewesen wäre wie das ZUG. Neben dem MD erhoben noch die Sektion Forstwirtschaft Tharandt und einzelne Bezirks-Hygieneinspektionen regelmäßig Daten.35 Reichelt wollte sich kurze Zeit später auch den Zugriff auf die Daten der Hygiene-Inspektionen sichern. Im Mai 1984 schlug er Horst ­Wambutt vor, »aus den im Ministerium für Gesundheitswesen in der Staatlichen Hygiene-Inspektion auf dem Gebiet der Reinhaltung der Luft tätigen Mitarbeitern eine Staat 34 BArch DK 5/1826 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Daten der Umweltüberwachung, pag. 3. 35 Die Messstellen Tharandts befanden sich ausschließlich in waldreichen Gebieten im Süden der DDR. Die 18 Messstationen des MD befanden sich in Boltenhagen, Arkona, Neuglobsow, Seehausen, Potsdam, Berlin-Buch, Magdeburg, Cottbus, Halle, Schmücke, Meiningen, Fichtelberg, Zinnwald, Wahnsdorf (Dresden), Görlitz, Leinefelde, Marienberg und Plauen. Die sechs BHI-Stationen lagen in Berlin-Mitte, Frankfurt/Oder, Leipzig/West, Leipzig/Mitte, Erfurt, Zwickau, Karl-Marx-Stadt und Dresden. Hinzu kam eine Messstelle des ZUG in Wittenberg. BArch DK 5/2188 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Bericht über die Belastung des Territoriums der DDR durch Schwefeldioxid und geruchsintensive Stoffe im Winterhalbjahr 1982/83. Berlin (Ost). 22.4.1983, pag. 11.

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liche Inspektion für die Reinhaltung der Luft zu bilden und diese in das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft einzugliedern«.36 Im September 1985 nahm dann die »Staatliche Umweltinspektion« ihre Arbeit auf, die »die exakte Einhaltung der gesetzlichen Regelungen zur Reinhaltung der Luft, der Gewässer und des Bodens« gewährleisten sollte.37 Reichelt hatte sich tatsächlich mit seinen Forderungen durchgesetzt. Die Umweltinspektion erstellte in Zukunft die Emissionsgrenzwertbescheide, war für deren Überwachungen zuständig, erhob die Staub- und Abgasgelder und musste bei Standortentscheidungen gemeinsam mit den jeweiligen Bezirks-Hygieneinspektionen gehört werden.38 Damit lag das Umweltmonitoring – abgesehen von den Waldschäden – in der Hand des Umweltministeriums. Jede Ausweitung der Kompetenzen Reichelts und des MUW fiel zeitlich mit internationalen Umweltabkommen zusammen. Das ZUG entstand im Anschluss an die Genfer Konvention bzw. kurz vor dessen Ratifizierung. Die Gründung der Staatlichen Umweltinspektion folgte auf die Münchner Konferenz von 1984, auf der sich die DDR – in der Person von Reichelt – zum 30-Prozent-Ziel bekannt hatte. Die Aufgaben der Inspektion waren primär darauf ausgerichtet, die Einhaltung dieses Ziels abzusichern. 1984: der erhoffte Durchbruch? Im gesamten politischen Betrieb der DDR gab es niemanden, der in ähnlicher Weise von den internationalen Umweltabkommen profitierte wie Hans Reichelt. Es musste darum in seinem Interesse liegen, den Prozess voranzutreiben oder ihn zumindest nicht aufzuhalten. Das 30-Prozent-Ziel der Münchner Konferenz 1984 erlaubte ihm, seine eigene Entschwefelungskonzeption von 1983 – die zu Widerspruch im MLFN geführt hatte – zu verwerfen. Diese hatte auf kleine und mittlere Emittenten in Großstadtnähe gezielt. Damit wäre die lufthygienische Situation in Ballungszentren leicht verbessert worden, die Belastungssituation der Wälder hingegen wäre nahezu unverändert geblieben. Mit der Münchner Entscheidung im Rücken hingegen bekamen Reichelt und das MUW einen Zugriff auf die Großkraftwerke und eine bessere Verhandlungsposition gegenüber Mittag bezüglich der Finanzierung. Reichelt verbreitete dazu in der Staats- und Parteiführung sein Dossier »Ergebnisse und Probleme im Umweltschutz der DDR«. Darin machte er auf die 36 BArch DK 5/5111 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Ergebnisse und Probleme beim Umweltschutz in der DDR, Schreiben Reichelts an Wambutt vom 7.5.1984. 37 Anonymus, DDR-Umweltinspektion – welche Aufgaben?, in: Was und Wie. Informationen, Argumente, Übersichten für den Agitator, 1985, 16–17, 16. 38 Ralph Jänkel, Instrumente des Immissionsschutzrechts der DDR, in: Kloepfer, Instrumente, 53–61, 57–59.

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Mängel des Kalkstein-Additiv-Verfahrens aufmerksam. Mit diesem könnten die Emissionen »günstigstenfalls auf etwa 4,15 Mio t, das heißt auf den Stand von 1975 reduziert werden«. Damit ist jedoch noch keine spürbare Minderung der Schäden in der Forstwirtschaft möglich. Es kann auch den internationalen Forderungen nach Senkung der Schwefeldioxidemission noch nicht entsprochen werden. Notwendig ist gegenwärtig eine konzentrierte Entwicklung leistungsfähiger Verfahren zur Rauchgasentschwefelung von Braunkohlen-Großkraftwerken, die in der DDR an 13 Standorten etwa 30 Prozent der Schwefeldioxidemissionen verursachen.39

Reichelt hatte die großen Emittenten im Blick. Allein Entschwefelungsmaßnahmen an fünf Kraftwerken in Jänschwalde, Boxberg, Hagenwerder, Lübbenau und Lauchhammer hätten zu einer Entlastung von über einer Mio. Tonnen SO₂ geführt, also etwa 25 Prozent.40 Auch diesmal traf die Regierung eine Entscheidung in seinem Sinne. Am 5. Juli 1984 hob sie zunächst die Konzeption vom März 1983 wieder auf.41 In der gleichen Sitzung beschloss sie »Maßnahmen zur Werkstoffgewinnung und zur Erhöhung der Energieausbeute durch Rauchgasentschwefelung«. Erklärtes Ziel des Beschlusses war es, die Schwefeldioxidemissionen um 30 Prozent zu senken. Dazu sollte das Kalkstein-Additiv-Verfahren auf 34 Objekte ausgedehnt und ein neues, in der DDR entwickeltes Wirbelschicht-Verbrennungsverfahren an zwei Objekten getestet werden. An zwei größeren Kraftwerken – in Leuna und Thierbach – sollten nasse Reinigungsverfahren erprobt werden, wozu eine Anlage aus Großbritannien importiert werden musste. Die vorgeschlagenen Maßnahmen brachten in der Summe eine Ein­ sparung von 630.000 t/a. Um den Zielwert von 30 Prozent zu erreichen, musste die DDR allerdings 1,8 Mio. Tonnen weniger emittieren. Diese Diskrepanz hielt der Beschluss nüchtern fest: Eine Senkung der Schwefeldioxidemission unter den Stand von 1980 entsprechend den volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten (Erhaltung der Forstbestände, Senkung von Verlusten in der Landwirtschaft, von Korrosionsschäden und von Gesundheitsschäden) sowie den internationalen Forderungen wird nicht erreicht.42 39 BArch DK 5/5111 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Ergebnisse und Probleme beim Umweltschutz in der DDR, Dossier »Ergebnisse und Probleme im Umweltschutz der DDR« von 1984. 40 BArch DK 5/1262 Zentrum für Umweltgestaltung, Größte Emittenten von Luftschadstoffen in der DDR 1986. 23.6.1987, o. pag. 41 BArch DK 5/1972 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Die Ziffern 3.1 und 4.2 des Beschlusses des Präsidiums des Ministerrates vom 18. März 1983 über die Konzeption für den Einsatz des Kalkstein-Additiv-Verfahrens in der DDR werden aufgehoben. 5.7.1984, o. pag. 42 BArch DC 20/I/4/5426 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur Werkstoffgewinnung und zur Erhöhung der Energieausbeute durch Rauchgasentschwefelung. 5.7.1984, pag. 48.

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Dennoch würde die Forstwirtschaft teilweise von den Maßnahmen profitieren, denn es »treten spürbare Effekte vor allem in der Dübener Heide sowie im mittleren und westlichen Erzgebirge ein«. In der Vorlage waren zudem die Schäden, welche die Schwefeldioxidemissionen verursachten, mit 4,2 Mrd. M jährlich angegeben. Die beiden größten Posten waren Korrosionsschäden mit zwei Mrd. und die Schäden in der Forstwirtschaft mit einer Mrd. Mark. Das MUW bekam den Auftrag, zusätzlich zu den im Beschluss genannten Objekten Entschwefelungsanlagen in den Fünfjahrplan 1986–90 aufzunehmen, um die Erreichung des 30-Prozent-Ziels bis 1993 sicherzustellen. Das Präsidium des Ministerrates gab Reichelt 1984 freie Hand, ein umfassendes Entschwefelungsprogramm auszuarbeiten. Die Jahre bis 1985 waren die Zeit hoher Erdölpreise. Die DDR verdiente gut an ihrer Transitökonomie und konnte ihre Auslandsverbindlichkeiten senken. Die bundesdeutschen Milliardenkredite hatten zudem die Liquidität sichergestellt und die Refinanzierungskonditionen verbessert. Es bestand zumindest der Spielraum für Investitionen in Umwelttechnik. Die negativen Auswirkungen der von der sowjetischen Kürzung der Öllieferungen 1981 angestoßene Ausweitung der Braunkohleverstromung im Inland sollte so durch Entschwefelung abgemildert werden. Der Beschluss zeigt zudem, dass bei vielen der Staats- und Parteifunktionären die Einsicht bestand, konsequent die Luftqualität zu verbessern. Sie wussten von den umfangreichen Waldschäden und wollten etwas dagegen unternehmen. Das Thema Rauchgasentschwefelung war in den folgenden Jahren beständig Tagungsordnungspunkt auf den Sitzungen des Politbüros, des Sekretariats des ZK oder des Ministerrats und dessen Präsidium. Im Februar 1985 bekräftigte der Ministerrat den Beschluss des Vorjahres. Allerdings reichten die damals projektierten 43 Anlagen nicht aus, da man für 1980 Schwefeldioxidemissionen in Höhe von 4,26 Mio. Tonnen angenommen hatte. Der Zielwert musste damit bei 3,0 Mio. Tonnen liegen, eine Absenkung von mithin 1,26 Tonnen. Allerdings prognostizierte das ZUG bis 1993 einen Anstieg der Emissionen auf 4,9 Mio. Tonnen. Damit wurden Entschwefelungsmaßnahmen im Umfang von 1,9 Mio. Tonnen nötig. Reichelt bekam die Anweisung, weitere Maßnahmen in den Fünfjahrplan aufzunehmen.43 Bereits die beschlossenen Projekte hatten ein Volumen von 7,2 Mrd. Mark. Der Beschluss verdeutlichte allerdings auch, dass die bekannte Kalkstein-Additiv-Technik nicht ausreichte, die Zielmarken zu erreichen. Diesem Umstand war das »Programm bis zum Jahre 1990 zur Sicherung des wissenschaftlich-technischen Vorlaufes auf dem Gebiet der Wertstoffgewinnung aus Rauchgasen und der Vervollkommnung und Neuentwicklung von Verfahren zur Rückhaltung von Schwefelverbindungen 43 BArch DC 20/I/3/2127 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur Wertstoffgewinnung und zur Erhöhung der Energieausbeute durch Rauchgasentschwefelung. 7.2.1985, pag. 12.

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bei Verbrennungs- und chemischen Prozessen einschließlich der Aufgaben zur Erforschung der Ursachen der Waldschäden und Maßnahmen zu ihrer wirksamen Bekämpfung« geschuldet. Auf 18 Seiten waren einzelne Forschungsprojekte aufgelistet, die alle einem Zweck dienten: endlich eine effektive und bezahlbare Methode zur Rauchgasentschwefelung zu finden.44 Zusätzlich rief der Ministerrat eine Arbeitsgruppe zur Rauchgasentschwefelung ins Leben. Diese sollte alle Forschungsmaßnahmen koordinieren und die Regierung regelmäßig informieren. Das Scheitern der Luftreinhaltepolitik Der hoffnungsvollen Entwicklung folgte bald die Ernüchterung. Anfang Juli 1985 beriet das Sekretariat des ZK über die bevorstehende Unterzeichnung des 30 Prozent-Protokolls am 8. Juli in Helsinki. Die DDR solle das Protokoll unterzeichnen, das Sekretariat wusste zu diesem Zeitpunkt aber bereits, dass die DDR die Vorgaben nicht würde einhalten können. Nach dem gegenwärtigen Stand der Arbeit am Fünfjahrplanentwurf 1986–1990 ist bis 1990 der Baubeginn von Maßnahmen zur Senkung der Schwefeldioxidbelastung eingeordnet, die eine Reduzierung um rund 1 Mio. t bewirken würden.45

Das war nicht nur zu wenig, es war auch weniger, als es die Planungen vom Februar 1985 vorgesehen hatten. Die umfassenden Rauchgasentschwefelungsmaßnahmen waren im Fünfjahrplan nicht zuhalten. Es fehlte nicht nur das Geld, es gab auch auf der verfahrenstechnischen Seite keinen Durchbruch. Im Januar 1986 bewilligte das Ministerium für Wissenschaft und Technik die Einstellung von 430 zusätzlichen Forschungskräften46, im Juni mahnte es an, die Umsetzung des Beschlusses vom 7.  Februar 1985 entbehre jeder Grundlage. Im Juli schrieb der stellvertretende Wissenschaftsminister in einer Stellungnahme, die gesetzten Zielvorgaben seien »völlig unreal«.47 44 BArch DC 20/I/3/2127 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur Wertstoffgewinnung und zur Erhöhung der Energieausbeute durch Rauchgasentschwefelung, pag. 28–46. 45 BArch DK 5/1525 Sekretariat des ZK der SED, Beschluß zum Entwurf des Protokolls der ECE über die Reduzierung der Schwefelemissionen oder deren grenzüberschreitender Ströme um mindestens 30 %. 4.7.1985, pag. B6. 46 BArch DF 4/22553 Ministerium für Wissenschaft und Technik, Stand der wissenschaftlichtechnischen Arbeiten zur Wertstoffgewinnung und Erhöhung der Energieausbeute durch Rauchgasentschwefelung entsprechend den Beschlüssen des Politbüros des ZK der SED vom 3.7.1984 und 15.1.1985. 20.1.1986, pag. 4. 47 BArch DF 4/22553 F. Krause, Stellungnahme zur Vorlage von Gen. Dr. Götz »Einordnung der Vorhaben der Rauchgasentschwefelung im Fünfjahrplan 1986–1990«. 9.7.1986, pag. 1.

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Zu den 43 damals beschlossenen Objekten kamen die beiden Versuchsanlagen in Vockerode und Lindenau. Von den insgesamt 45 Anlagen seien drei realisiert, zehn verspätet und 32 nicht in den endgültigen Investitionsplan aufgenommen worden.48 Reichelt berichtete, wie Mittag nach und nach alle Umweltschutzinvestitionen aus dem Fünfjahrplan strich. In den »jährlichen Planabstimmungen wurden die Anzahl der konkreten Objekte verändert und viele Investitionen nicht eingeordnet und verschoben«.49 Mit dem Einbrechen des Erdölpreises ab 1985 verlor die DDR einen ihrer wichtigsten Devisenbringer. Das Entschwefelungsprogramm war zuvor schon ehrgeizig projektiert worden; nun war es unbezahlbar. 1987 waren erst drei Anlagen fertig gestellt. Im HKW Karl-Marx-Stadt Nord II und im HW »Max­ Reimann« Leipzig konnte der Schwefeldioxidgehalt um 45 Prozent gesenkt werden, im HW Wolfen, einem sehr kleinen Kessel, mit einem neuen Verfahren sogar um 80 Prozent.50 Die beiden Anlagen in Leipzig und Karl-Marx-Stadt sind ein Beispiel dafür, wie es der DDR misslang, ihre Ambitionen in die Tat umzusetzen. Die Inbetriebnahme – ursprünglich für 1985 vorgesehen – musste immer wieder verschoben werden. Einmal waren die nötigen Investitionsmittel nicht in den Jahresplan eingeordnet, ein andermal waren die Pläne nicht »untersetzt«, das heißt zwischen Plan und Realität bestand eine Diskrepanz an Beton und anderen Baumaterialien.51 Unter der nicht vorankommenden Entschwefelung litten die Bewohner und Waldgebiete des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. Die Erdölsubstitution traf den Bezirk besonders hart. 1982 hatte das ZUG einen Anstieg der SO₂-Emissionen um 17,5 Prozent bis 1985 berechnet. Zusammen mit den Ferneinträgen aus Halle, Leipzig, Cottbus und der ČSSR prognostizierte das ZUG für 1985 eine Immissionslast im Erzgebirge von 1,01 Mio. Tonnen. 1970 hatte dieser Wert noch bei 0,95 Mio. Tonnen gelegen. Statt Entlastung gelang es der DDR nicht einmal, die Emissionen zu stabilisieren.52 48 BArch DF 4/22553 Ministerium für Wissenschaft und Technik, Information zur Überführung in die Produktion der wissenschaftlich-technischen Ergebnisse in Umsetzung des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED vom 15.1.1985 und des Ministerrates vom 7.2.1985 über Maßnahmen zur Wertstoffgewinnung und Erhöhung der Energieausbeute durch Rauchgasentschwefelung. 1.7.1986, pag. 4. 49 BArch DK 5/1306 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Bericht zur Entwicklung der Emission von Luftverunreinigungen in der DDR im Jahre 1987. 1.6.1988, pag. 3. 50 BArch DK 5/1306 ebd., pag. 3. 51 Vgl. dazu BStU BV KMSt. XX 3640 Ministerium für Staatssicherheit, Schriftverkehr mit anderen Diensteinheiten der BV und des MfS, pag. 96–103. 52 BArch DK 5/1239 Zentrum für Umweltgestaltung, Entwicklung der Umweltbedingungen in der DDR 1986–1990 und in den Grundzügen bis 2000 sowie Entscheidungsvorschläge für eine hohe Effektivität der Volkswirtschaft und der Sicherung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung. Berlin (Ost). 1982, pag. 90.

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Als das Präsidium des Ministerrates am 7. November 1987 über die Ratifizierung des 30 Prozent-Protokolls diskutierte  – die niemals erfolgte  –, war das ganze Dilemma sichtbar. Letztendlich waren lediglich Vorhaben zur Senkung der Schwefeldioxidemission um 0,135 Mio. Tonnen in den Fünfjahrplan 1986– 1990 aufgenommen worden. Die Entschwefelung fand in der DDR lediglich auf dem Papier statt. Das Präsidium beschloss auf der gleichen Sitzung, der ECE massiv gefälschte Daten zu übergeben. Für 1985 übermittelte die DDR einen Wert von 5,0 Mio. Tonnen, die tatsächlichen Emissionen lagen bei etwa 5,3 Mio. Tonnen. Für 1993 versprach die DDR eine Absenkung auf 3,27 Mio. Tonnen, ging aber intern von einem Anstieg auf 5,6 Mio. Tonnen aus.53 Allerdings gab es innerhalb von Regierung und Partei weiterhin Bemühungen, die Belastung der Luft mit SO₂ dauerhaft zu senken. Im August 1987 beriet das Politbüro erneut über das Thema. Das Umweltministerium sollte versuchen, die noch nicht realisierten Entschwefelungsvorhaben von 1985 in den Volkswirtschaftsplan einzuordnen, »einer nochmaligen Prüfung« zu unterziehen. »Entsprechend den von der DDR eingegangenen internationalen Verpflichtungen zur Reduzierung der Schwefeldioxidemissionen«, galt auch weiterhin das 30-Prozent-Ziel als Maxime.54 Die Mehrzahl der Vorhaben wurde nun allerdings in den Fünfjahrplan 1991–1995 verschoben.55 Devisen, mit denen westliche Entschwefelungstechnik hätte gekauft werden können, waren knapp. Die eigene Wissenschaft konnte keine funktionierende Lösung bereitstellen. Der Blick in die übrigen sozialistischen Länder half nicht weiter, da dort ebenfalls keine marktfähigen Verfahren existierten. Das Umweltministerium musste darum versuchen, die verfügbaren Mittel und Kapazitäten möglichst effizient einzusetzen. Ein Lösungsansatz hieß dabei PEMU, das Prognose und Entscheidungsmodell Umweltschutz. Ab 1986 bearbeitete die Akademie der Wissenschaften die »Komplexe Forschungsaufgabe Umweltgestaltung – Umweltschutz«.56 Dafür entwickelte das Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse gemeinsam mit dem ZUG, dem MD, dem IFE Eberswalde und dem ILN in Halle ein »komfortables Softwarepaket für ­Scenarien- und Optimierungsrechnungen« als »Entscheidungshilfe speziell zur Luftreinhaltung«.57 53 BArch DC 20/I/4/5966 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Information über die Ergebnisse der 4. Tagung des Exekutivorgans der Konvention über weitreichende grenzüberschreitende Luftverunreinigungen vom 11.–14. November 1986 in Genf. 7.11.1987, pag. 7. 54 BArch DK 5/1306 Hans Reichelt/Horst Wambutt, Vorlage für das Politbüro des ZK der SED: Bericht zur Entwicklung der Emission von Luftverunreinigungen in der DDR im Jahre 1986. 1987, pag. 3. 55 SAPMO DY 30/J IV 2/2/2235 Politbüro des ZK der SED, Maßnahmen zur Senkung der Luftverunreinigungen. 18.8.1987, pag. 1. 56 Paucke, Chancen, 145 und 151. 57 BArch DK 5/1353 Kooperationsgemeinschaft ZUG, Prognose- und Entscheidungsmodell Umweltschutz, pag. 2.

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Im PEMU wurden die 305 Betriebe der DDR erfasst, die 1986 mehr als 1000 Tonnen Schwefeldioxid im Jahr emittierten, in der Summe 4,09 Mio. Tonnen. Das waren 76 Prozent der Gesamtemissionen. Als Zielvorgaben galten erstens eine möglichst hohe Gesamtabsenkung, zweitens die möglichst effektive Entlastung von Schwerpunktgebieten, drittens die Kosten und viertens die möglichst schnelle Realisierung der Maßnahmen. Dann wurden drei Szenarien durchgespielt. Das erste basierte auf dem beschlossenen Investitionsplan bis 1991, die zweite Variante rechnete mit 3,4 Mrd. M Investitionen und die dritte mit 3,77 Mrd. Investitionsvolumen.58 In allen drei Fällen errechnete die Software eine unterschiedliche ideale Investitionsreihenfolge. Allen gemeinsam war, dass die Höhe der Gesamtemissionen 1995 immer noch höher gelegen hätte als 1980: in der ersten Variante bei 123 Prozent und in der dritten bei 104 Prozent. Beide Werte lagen vom 30-Prozent-Ziel weit entfernt. Das PEMU wurde in der Folge noch mit den Luftschadstoffen Ozon und NOx durchgerechnet. Zu konkreten Maßnahmen führte auch das PEMU nicht.59 Die 1985 gebildete Staatliche Umweltinspektion enttäuschte ebenfalls die an sie gestellten Erwartungen. In der Theorie erstellte die Umweltinspektion den Betrieben individuelle Grenzwertbescheide für SO2 , NOx und Staub. Die Betriebe hatten dann die Bescheide in Eigenkontrolle einzuhalten, wobei es zu Überprüfungen durch die Inspektion kam. Die Grenzwertbescheide bildeten die Ausgangslage für zivil- und strafrechtliche Ansprüche bzw. die Erhebung von Staub- und Abgasgeldern bei Übertretungen. Der erste Schritt musste darum die flächendeckende Verteilung der Grenzwertbescheide sein. Ende 1976 besaßen 1177 berichtspflichtige, luftverunreinigende Anlagen einen Bescheid, 22,3 Prozent aller Anlagen. Da zuerst die größten Emittenten erfasst wurden, waren damit etwa 50 Prozent der Emissionen abgedeckt.60 Zehn Jahre später hatten 3162 Betriebe ihren Grenzwertbescheid erhalten, bei 5068 kontrollpflichtigen Anlagen 1986.61 Der zweite Schritt wäre die Eigenkontrolle gewesen. In jedem Betrieb musste laut 5. DVO zum Landeskulturgesetz ein Emissionsbeauftragter ernannt werden, der das Emissionsgeschehen überwachen sollte.62 Dieses Amt bestand meist nur auf dem Papier, genau wie die Pflicht zur Eigenmessung. Die Betriebe berechneten nämlich die Emissionen überschlaghaft aus durchgesetzten Kohle-

58 BArch DK 5/1353 ebd., pag. 5. 59 BArch DK 5/1353 ebd., pag. 54–56. 60 BArch DQ 1/15159 Ministerium für Gesundheitswesen, Bericht Lufthygiene 1977, pag. 47. 61 BArch DK 5/1355 Staatliche Umweltinspektion, Emissionen von Luftverunreinigungen 1986, pag. 4–5. 62 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, 5. DVO, 160.

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mengen und deren Schwefelgehalt.63 1988 führten nur 150 Betriebe überhaupt Messungen ihrer Emissionen durch, davon lediglich 20 kontinuierlich. Ursache war der Mangel an Messtechnik. Darunter hatten nicht nur die Betriebe zu leiden, sondern auch die kontrollierende Staatliche Umweltinspektion. Sie konnte an lediglich 140 Anlagen Kontrollmessungen durchführen.64 Bei mittlerweile 6158 kontrollpflichtigen Anlagen ergab dies eine Überprüfung alle 44 Jahre. Die Kombination aus geringem Kontrolldruck und niedrigem Strafmaß wirkte auf die Betriebsleitungen kaum disziplinierend. Alle Bemühungen der Umweltinspektion, eine verbesserte Ausrüstung zu bekommen, verliefen im Sande. 1988 verfügte sie über sechs Schwefeldioxid-, 18 Staub- und vier Stickoxidmessgeräte. Ende Mai 1988 beriet das Präsidium des Ministerrates über eine ›Wunschliste‹ des MUW. Es forderte für den Meteorologischen Dienst zehn Stickoxid- und ein Ozonmessgerät. Da die DDR nicht in der Lage war, diese Messgeräte selbst herzustellen, bedeutete dies einen Aufwand von über 600.000 VM. Die Umweltinspektion sollte 70 neue SO₂-Messgeräte vom Typ »Infralyt« und 16 Arbeitsplatzcomputer AC 7150 – beides aus DDR-Produktion  – erhalten. Zusätzlich bekam das Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik den Auftrag, Messtechnik zu entwickeln, um die Westimporte »ablösen« zu können.65 Alle beschriebenen Maßnahmen wurden allerdings im letzten Jahr der DDR nicht mehr ›praxiswirksam‹. 1989 war unübersehbar, dass die DDR daran gescheitert war, die Luftqualität über Emissionsreduzierung zu verbessern. Die Ursachen lagen nicht in einer Ignoranz dem Problem gegenüber, sondern waren vielschichtiger. Auf die strukturelle Schwäche Reichelts und des MUW im Organisationsgefüge wurde bereits eingegangen. Auch wenn Reichelt in den 1980er Jahren seine Kompetenzen weiter ausbauen konnte, in Bezug auf Investitionsmittel war er auf die Abstimmung mit Wirtschaftssekretär Mittag angewiesen. Auch Mittag ignorierte die Entschwefelungsfrage nicht völlig, wie aus Informationen an Honecker hervorging, aber er sah sie als nachrangig an. In der Zeit des sich immer mehr verengenden finanziellen Spielraums nach 1985 hätte Reichelt einer stärkeren Vernetzung in der SED bedurft, um seine Vorstellungen von Umweltpolitik an Mittag vorbei durchzusetzen. Stattdessen diente sein Entschwefelungsprogramm 1986–1990 als ›Steinbruch‹ in den Plandiskussionen.

63 BArch DK 5/1355 Staatliche Umweltinspektion, Emissionen von Luftverunreinigungen 1986, pag. 22–23. 64 BArch DK 5/2176 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Bericht über die Emission von Luftschadstoffen im Jahre 1988. Vorlage für die 36. Tagung des Beirates für Umweltschutz beim Ministerrat. Berlin (Ost). August 1989, pag. 6–7. 65 BArch DK 5/1698 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Information über den Ausbau des Meßnetzes zur Kontrolle von Luftverunreinigungen. 27.5.1988, pag. 7–10.

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Gescheitert ist die DDR zudem an der technischen Lösung. Es gab 1989 kein funktionierendes und effizientes Entschwefelungsverfahren. Sie war hier allerdings auf sich allein gestellt. Wie kein zweites Land hing die DDR energetisch von der Braunkohle ab. Das Interesse der Nachbarländer, Geld in die Braunkohleentschwefelung zu stecken, war dementsprechend geringer bzw. nicht vorhanden. Auch auf die UdSSR konnte die SED nicht mehr bauen. Die Sowjetunion erreichte das 30-Prozent-Ziel, indem sie Kraftwerke auf Erdgasfeuerung umstellte oder ins Landesinnere verlegte; die Lösungsstrategie eines großen Landes. Zudem trug sie mit der Verringerung der Erdöllieferungen an die DDR 1981 eine Mitverantwortung für das desaströse Emissionsgeschehen. In der ersten Hälfte der 1970er konnte die DDR ihre Schwefeldioxidemissionen von 4,45 Mio. auf 4,15 Mio Tonnen senken. Auf diesem Niveau blieben sie bis 1980 stabil.66 Danach kannten sie nur eine Richtung, bis 1987 mit 5,5 Mio. Tonnen der Höhepunkt erreicht war. In den letzten beiden Jahren der DDR sanken die Emissionen leicht auf 5,2 Mio. Tonnen. Dies war allerdings nicht der Effekt von politischen oder technischen Maßnahmen, sondern allein die Folge zweier milder Winter.67 Aus dem bekannten Bonmot, dass der Sozialismus vier Hauptfeinde habe – Frühling, Sommer, Herbst und Winter – müsste letzterer damit gestrichen werden.68 Hinzu kam als dritter Punkt die Unfähigkeit der staatlichen Behörden, die strengen gesetzlichen Vorgaben zu überwachen. Es fehlte der Umweltinspektion an Personal und Material, um eine effektive und beständige Kontrolltätigkeit aufzubauen. Auf betrieblicher Seite führte dies zur Ignorierung der Grenzwertbescheide. Die Frage, ob die mangelhafte Ausstattung der Kontrollorgane mit Messtechnik nicht eine bewusste politische Entscheidung war, muss aufgrund der unzureichenden Quellenlage offen bleiben. Gerichtsverfahren wie gegen den Betriebsleiter des VEB Papierfabrik Tannroda, der fahrlässig ein Fischsterben in der Ilm und einer Forellenmastanlage verursacht hatte, blieben die Ausnahme. Der Prozess hatte den Charakter eines Exempels, er wurde in der Presse begleitet und sollte »die Anstrengungen aller Leiter zur Einhaltung von Ordnung, Sicherheit und störungsfreien Betrieb unterstützen«.69

66 BArch DC 20/I/4/5426 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur Werkstoffgewinnung und zur Erhöhung der Energieausbeute durch Rauchgasentschwefelung, pag. 46. 67 BArch DK 5/2176 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Bericht über die Emission von Luftschadstoffen im Jahre 1988. Vorlage für die 36. Tagung des Beirates für Umweltschutz beim Ministerrat, pag. 3 68 Vgl. Kowalczuk, Endspiel, 113. 69 SAPMO DY 30/2836 Hans Reichelt, Vermerk für Genossen Dr. Mittag zu Gerichts­ verfahren. 1.6.1984, pag. 1.

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4.1.2 Die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte Der Tharandter Forstwissenschaftler Horst Enderlein hatte 1961 den Wäldern im Erzgebirge eine düstere Zukunft vorausgesagt. Er hatte unter Zieger und Däßler an der Großraumdiagnose mitgearbeitet und dabei erfahren, dass Schwefeldioxidemissionen wesentlich weiträumiger und in geringerer Konzentration wirksam waren, als bis dato vermutet worden war. Bereits 1956 hatte Eberhart Pelz die ersten Immissionsschäden im Oberen Erzgebirge diagnostiziert. Aber erst die Erkenntnisse der Großraumdiagnose ließen erkennen, welche Auswirkungen der massive Ausbau der Schwerindustrie und Energiewirtschaft in der DDR und ČSSR auf die Wälder der Region haben könnte.70 In den 1960er Jahren waren die Waldschäden noch eng umgrenzt, das Waldbild weitestgehend intakt. Forstwissenschaftler gaben für 1967 eine rauchgeschädigte Fläche von 45.000 ha im Erz- und Elbsandsteingebirge an.71 Danach explodierten die Zahlen förmlich, besonders in den Jahren nach 1972. Die StFB Marienberg und Schwarzenberg wiesen 1969 eine Schadfläche von 5384 ha aus, 1974 waren es bereits 49.047 und 1976 geschätzte 53.000 ha, mithin eine Verzehnfachung in sieben Jahren.72 Waren die Veränderungen in den ersten Jahren lediglich Forstwissenschaftlern und -praktikern aufgefallen, blieb ab Mitte der 1970er Jahre die Entwicklung den Anwohnern, Besuchern und Urlaubern nicht mehr verborgen. Zuerst schwächten die Immissionen die Bäume nur chronisch, so dass diese äußerlich relativ unbeschadet weiterwuchsen. Kam jedoch ein weiterer Schadfaktor hinzu – Insekten, Schnee, Frost, Hitze oder Trockenheit – wirkte dieser als ›Vollstrecker‹ des Siechtums. Große Flächen gingen auf diese Weise ›plötzlich‹ verloren. Als Schrittmacher wirkten die Windbrüche von 1972 und 1973, der Schneebruch von 1974, die Trockenjahre 1975 und 1976, die Frosteinbrüche am Jahreswechsel 1978/79 sowie die Massenvermehrung rindenbrütender Schadinsekten in den nicht beräumten Waldgebieten.73

70 Vgl. dazu S. 98. 71 Ebert, Hoffmann, Richter, Stand des Auftretens von Forstschäden, 214. 72 SAPMO DY 30/1737 Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Abteilung Forstwirtschaft, Bericht zur Einschätzung des Forstschutzes. 12.10.1976, pag. 9. 73 Vgl. dazu BArch DC 20/I/4/3080 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über Maßnahmen zum Schutz der Waldbestände der DDR, pag. A1; BArch Dk 5/2272 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Ursachen und Verhinderung von Wald- und Wasserschäden durch Luftverschmutzung in der Deutschen Demokratischen Republik. Hrsg.v. Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Berlin (Ost). 1984, pag. 13; BArch DK 5/1903 Zentrum für Umweltgestaltung, Schwerpunkte der gegenwärtigen Umweltbelastung und Tendenzen. (Thema Prognose 2005). 1. Entwurf, pag. 7 oder BArch DC 20/I/4/3713 Präsidium des Ministerrates der Deut-

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Ein weiterer Faktor, der die Waldschäden im Erzgebirge ins Zentrum der Wahrnehmung rückte, war die Ausgabe des westdeutschen Nachrichtenmagazins SPIEGEL vom 16. November 1981. »Der Wald stirbt«, lautete der Fronttitel74 und in einer dreiteiligen Serie berichtete das Nachrichtenmagazin von den bestehenden und noch drohenden Waldschäden, von einer »tickenden Zeitbombe«.75 Im zweiten Teil fiel dabei das Wort »Waldsterben«.76 Diese Berichte gelten mithin als Startschuss der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte.77 Damit begann die Debatte im breiten Kreis der westdeutschen Öffentlichkeit. Abseits davon waren die dahinter stehenden Phänomene und Probleme bereits seit längerem analysiert und diskutiert worden. Martin Bemmann hat den langfristigen Wandel der Problemsicht auf Schäden an Wäldern herausgestellt.78 Eine entscheidende Figur in der Bundesrepublik war dabei Karl Friedrich Wentzel, ein Freund Erich Ziegers. Wentzel warnte 1978 in einer Anhörung vor dem Innenausschuss des Bundestages vor einer ökologischen Katastrophe, falls die SO₂-Emissionen nicht deutlich reduziert würden.79 1977 war in der Bundesrepublik die erste kommerzielle Rauchgasentschwefelungsanlage in Betrieb gegangen. Der TÜV war bereits 1974 zu dem Schluss gekommen, dass die entsprechenden Anlagen dem Stand der Technik entsprächen. Die Betreiber der Kraftwerke scheuten allerdings die hohen Kosten und malten gegenüber der Politik Katastrophenszenarien aus Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Niedergang. Die Gewerkschaften vertraten die gleiche Linie. So besaßen in der BRD 1982 erst sieben von 90 großen Kohlekraftwerken eine Rauchgasentschwefelungsanlage.80 Noch Anfang der 1980er Jahre erhielt das Braunkohlekraftwerk Buschhaus in Niedersachsen eine Betriebsgenehmigung ohne Entschwefelungsanlage. Es hätte allein sechs Prozent der bundesdeutschen SO₂-Emissionen verursacht. Die Projektierung des Kraftwerks verfolgte das MUW mit Sorge, entstand es doch direkt an der deutsch-deutschen Grenze und hätte mit seinen Abgasen die Waldgebiete im Harz belastet.81 schen Demokratischen Republik, Beschluß über Maßnahmen zum Schutz der Waldbestände in der DDR. 27.1.1977, pag. 6. 74 Saurer Regen über Deutschland. Der Wald stirbt, in: Spiegel 47, 1981. 75 Säureregen: »Da liegt was in der Luft«. Schwefelhaltige Niederschläge vergiften Wälder, Atemluft und Nahrung (I), in: Spiegel 47, 1981, 96–110, 26. 76 »Da liegt was in der Luft«. Säureregen vergiftet Wälder, Atemluft und Nahrung (II), in: Spiegel, 1981, 188–200, 188. 77 Anders, U ­ ekötter, Lärm, 112; Brüggemeier, Waldsterben, 120; Detten, Umweltpolitik, 217 und Holzberger, Waldsterben, 70. 78 Bemmann, Beschädigte Vegetation und Sterbender Wald. 79 Roland Schäfer, Birgit Metzger, Was macht eigentlich das Waldsterben?, in: Patrick Masius (Hrsg.), Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Göttingen 2009, 201–227, 203. 80 Anders, ­Uekötter, Lärm, 116. 81 SAPMO DY 30/2836 Hans Reichelt, Zusammenstellung von Material über den Umweltschutz in der DDR. 7.4.1983.

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Als eigentliche Architekten des Waldsterbens können der Göttinger Bodenkundler Bernhard Ulrich und der Münchner Forstwissenschaftler Peter Schütt gelten. Ulrich sprach 1979 erstmals von der Möglichkeit eines raschen, weit­ räumigen Waldsterbens. Er stützte sich dabei auf Forschungsergebnisse, die er in einem Waldgebiet im Solling gewonnen hatte. Der Saure Regen führe zu einer Versauerung des Bodens. Ab einem gewissen Punkt seien die Bäume nicht mehr in der Lage, in diesem Milieu zu existieren. Dies könne sehr schnell gehen, ein einzelner heißer Sommer könne genügen.82 Bereits vor dem besagten SPIEGELBeitrag im November 1981 machten Ulrich und Schütt die Öffentlichkeit auf die drohende Gefahr und die beobachteten Schäden im Wald aufmerksam. Die Resonanz blieb allerdings noch gering.83 Die Ministerial­bürokratie reagierte schneller und lud im Sommer 1981 verschiedene Experten zu Stellungnahmen ins Bundeslandwirtschaftsministerium ein.84 1982 brach die Diskussion endgültig los. Das Waldsterben wurde zu einem medialen Massenphänomen und über Aufklärungsliteratur, Lehrpfade, Kampagnen und den Bundestagswahlkampf 1983 zum »Umweltproblem Nr. 1«. Der erstmalige Einzug der GRÜNEN in den Bundestag fällt in diese Zeit.85 Die Berichterstattung geriet zusehends radikaler und bediente sich Sprachbildern mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg wie »ökologisches Hiroshima« oder »ökologischer Holocaust«.86 1983/84 erreichte die Berichterstattung ihren Höhepunkt, nahezu täglich wurde in Printmedien, Rundfunk oder Fernsehen über das Waldsterben berichtet.87 Und die Bevölkerung schenkte den düsteren Prognosen der Forstwissenschaftler Glauben. 1985 beantworteten in der BRD 53 Prozent aller Befragten die Frage »Wenn es so weitergeht wie bisher, werden im Jahr 2000 alle Wälder abgestorben sein?« mit »ja«.88 Die Waldsterbensfrage einte die Bevölkerung in einem nie dagewesenen Maße. Keine gesellschaftliche Gruppierung oder Lobby bezweifelte die Notwendigkeit von Waldschutzmaßnahmen. Das Waldsterben ermöglichte für kurze Zeit eine breite Bewegung über die gängigen sozialen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg. Konservative und Autonome demonstrierten gemeinsam für die Erhaltung des Waldes und gegen den »Sauren Regen«.89 Das sozial-liberale Kabinett beschloss am 1.  September 1982, die Emission von Schwefeldioxid drastisch zu reduzieren. Nach dem Regierungswech 82 Joachim Thomas, Die »neuartigen Waldschäden« und die »Klimakatastrophe«. Eine Fallstudie über Struktur und Funktion der Umweltforschung. Frankfurt/Main 1992, 71–72. 83 Schäfer, Metzger, Waldsterben, 203. 84 Ebd., 205. 85 Ebd., 201. 86 Wieder Tundra, in: Stern 48, 1983–11–28, 152–153, 152. 87 Schäfer, Lamettasyndrom, 41–46. 88 Internationales Institut für Umwelt und Gesellschaft, Waldsterben, 9. 89 Schäfer, Metzger, Waldsterben, 208–209.

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sel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl legte das neue Kabinett das »Aktionsprogramm Rettet den Wald« auf. Im März 1983 trat die reformierte TA Luft mit niedrigeren Immissionsgrenzwerten in Kraft, und zum 1.  Juli 1983 griff die Großfeuerungsanlagenverordnung, die die SO₂-Emissionen aus eben diesen Anlagen reduzieren sollte. 1985/86 folgten Regelungen für die Einführung von bleifreiem Benzin und Katalysatoren in Fahrzeugen.90 Nahezu alle von der Politik ergriffenen Maßnahmen bezogen sich auf Luftschadstoffe – Schwefeldioxid oder Stickoxide – als Ursache der Waldschäden. Andere Ursachenhypothesen spielten nur in der Wissenschaft eine Rolle. Hier finanzierte die Politik aber eine breite Grundlagenforschung mit über 450 Mio. DM zwischen 1982 und 1992, die in über 850 Projekten mehr als 150 verschiedene Ursachenhypothesen formulierte.91 Nach 1986 ging das mediale Interesse am Waldsterben deutlich zurück. Zum einen blieben die prognostizierten großflächigen Absterbeerscheinungen aus, zum anderen drängte nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im April 1986 die Atomfrage zurück auf die Agenda. Zudem zerfiel die Geschlossenheit der Gesellschaft wieder. Konservative Kreise sahen die beschlossenen politischen Maßnahmen als ausreichend an, verwiesen auf die drastische Senkung der SO₂-Emissionen und distanzierten sich von den radikaleren Protest­formen linker Gruppierungen. Ein Beispiel hierfür war der aus Greenpeace hervorgegangene Verein Robin Wood, der mit Blockadeaktionen und Schornsteinbesteigungen auf sich und das Waldsterben aufmerksam machte.92 Nachdem die Forstwissenschaftler zunächst als Schritt- und Scharfmacher der Waldsterbensdiskussion fungiert hatten, beteiligten sie sich später aktiv an der Deeskalierung und Dekonstruktion. Seit 1983 verwendete die Forstwissenschaft nicht mehr den Terminus Waldsterben, sondern bezeichnete die physikalischen Vorgänge im Wald als »neuartige Waldschäden«, ein Fachbuch von 2007 wählte die noch neutralere Benennung »Schädigung von Wald­ ökosystemen«.93 Inwieweit es sich beim Waldsterben um eine real bestehende Gefährdung oder um ein Konstrukt gehandelt hat, ist mit einem Abstand von 30 Jahren nicht zu klären und Gegenstand forstwissenschaftlicher und umwelthistorischer Diskussionen. Die gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Waldsterbensdebatte der 1980er Jahre war aber durchaus real und bereits Gegenstand von Erklärungsversuchen. Anders und U ­ ekötter sahen in ihr eine stark medial verformte 90 Schäfer, Lamettasyndrom, 133 und Schäfer, Metzger, Waldsterben, 205. 91 Ebd., 204. 92 Ebd., 209. 93 Wolfram Elling, Schädigung von Waldökosystemen. Auswirkungen anthropogener Umweltveränderungen und Schutzmaßnahmen. Heidelberg u. a. 2007. Vgl. dazu Schäfer, Lamettasyndrom, 27.

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Die 1980er Jahre – Importüberschüsse

Diskussion, die aber positiv das Umweltbewusstsein der Bundesbürger beeinflusst habe.94 Der Journalist Rudi Holzberger sah das Waldsterben ausschließlich als Medienkonstrukt, und Brüggemeier ordnete es in einen größeren Zusammenhang in Diskussionen über die Ressource Holz ein, beginnend mit der Holznotdebatte im 18.  Jahrhundert.95 Schäfer und Bemmann haben die Begriffsgeschichte von »Waldsterben« luzide herausgearbeitet.96 Die ersten nachweisbaren Nennungen stammten aus den 1920er Jahren und bezeichneten dort verschiedene Schäden am und im Wald, wobei damit nicht das Verschwinden oder der Tod des Waldes assoziiert waren. Anfang der 1980er Jahre erscheint der Begriff in einer entkernten und neu aufgeladenen Bedeutung. Verweise  – etwa von Holzberger  –, die Waldsterbensdebatte hätte die altbekannten Erkenntnisse der Rauchschadenforschung seit Mitte des 19.  Jahrhunderts ignoriert und die ganze Debatte sei alter Wein in neuen Schläuchen, verkennen die neue Qualität des Begriffs.97 Es verschwanden nicht einfach die Bäume von einer mit Bäumen bestandenen Fläche, sondern es ging ein Lebensraum verloren. Mehr noch, mit dem Wald drohte ein Lebensspender auszusterben. »Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch« transportiert die Überzeugung, dass der Wald unabdingbare Grundlage für die menschliche Existenz ist. Die Vokabel Waldsterben, so wie sie in den 1980er Jahren verstanden wurde, umfasst daher mehr als eine auf Bäume begrenzte Krankheit. Wer 1983 das Wort »Waldsterben« in den Mund nahm, der sprach implizit vom Ende des Ökosystems Wald, vom Aufkommen von Steppen, Karst und Wüsten, von der Unsicherheit der Ursachen, von der ungeahnten Schnelligkeit der Vorgänge, von den dramatischen Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft, die mit ihrem rücksichtslosen Verhalten der Natur gegenüber die Wurzel allen Übels sei.98 Das Waldsterben war mehr als die sachlichen und nüchternen privatrechtlichen Schadensersatzverhandlungen zwischen Industriebetrieben und Waldbesitzern früherer Jahre. Es war die Arena, in der die latente Zukunftsangst eine hochemotionale und teilweise irrationale Verhandlung fand. Die Waldsterbensdebatte kann gar als Blaupause für die bundesdeutsche Gesellschaft der 1980er Jahre dienen.99 Im westlichen Ausland wurde die bundesdeutsche Debatte mit Verwunderung und teilweise Irritation verfolgt.100 Auch im östlichen Deutschland be 94 Anders, ­Uekötter, Lärm, 120–121. 95 Holzberger, Waldsterben und Brüggemeier, Waldsterben. 96 Bemmann, Beschädigte Vegetation und Sterbender Wald, 252 und Schäfer, Lamettasyndrom, 12–13. 97 Holzberger, Waldsterben, 11. 98 Detten, Umweltpolitik, 226 und Schäfer, Lamettasyndrom, 14. 99 Metzger, Waldsterben als Politikum. 100 Für Frankreich vgl. die Dissertation von Laurent Schmit.

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trachteten die Forstwissenschaft und die politischen Entscheidungsträger die Vorgänge in der BRD zunächst mit kritischer Distanz und Unverständnis. Dabei blieb es nicht, denn das westdeutsche Waldsterben sickerte auf vielen Wegen in die DDR ein.

4.1.3 Waldschäden im Osten Die Forstwirtschaft der DDR hatte im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht, auf die seit den 1960er Jahren zunehmenden Waldschäden im Erzgebirge zu reagieren. Unterstützung erhielt sie dabei von der praxisorientierten Forschung der Sektion Forstwirtschaft Tharandt und dem Institut für Forstwirtschaft in Eberswalde. 1973 gab es eine erste Bewirtschaftungsrichtlinie für die Fichtengebiete im Oberen Erzgebirge, dazu kamen Versuche der Bestandsumwandlung mit rauchhärteren Baumarten und Düngungsversuchen. Hier steht die Frage nach dem Umgang der ostdeutschen Forstwirtschaft mit der aufkommenden bundesdeutschen Waldsterbensdebatte im Mittelpunkt. Konkret wird nach dem Zustand der ostdeutschen Wälder im Jahr 1981 gefragt und welchen Einfluss die in diesem Jahr beginnende Debatte auf die Forstwissenschaft, die Politik und deren Wahrnehmung von den Waldschäden im eigenen Land nahm. Der Schwerpunkt liegt dabei auf staatlichen Institutionen. Die Behandlung der Waldsterbensfrage in anderen Arenen schließt sich in den folgenden Kapiteln an. Schlaglicht 1981 1981 gab es in der DDR eine Waldfläche von 2951 Tha. Als geschädigt davon galten 326 Tha, rund elf Prozent.101 Die Tabelle 1 verdeutlicht, dass sich die Waldschäden auf die südlichen Bezirke der DDR konzentrierten. Der Bezirk Leipzig hatte den höchsten relativen Schadanteil, aufgrund seiner geringen Waldfläche war die absolut betroffene Fläche gering. Den Löwenanteil trugen die Bezirke Dresden und Karl-Marx-Stadt. In den beiden Erzgebirgsbezirken lagen 44 Prozent der geschädigten Wälder und sogar 51 Prozent der stark geschädigten Flächen. Schlägt man noch die Bezirke Leipzig, Halle und Cottbus hinzu, sind 89 Prozent der 1981 erfassten Waldschäden abgedeckt.

101 BArch DC 20/I/4/4918 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR. 24.3.1982, pag. 39.

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Tab. 1: Waldschadensfläche 1981 in den einzelnen Bezirken der DDR Bezirk Berlin

Waldfläche Tha

Schadfläche Tha

%

stark geschädigt

geschädigt

7,6

2,6

34



2,6

Cottbus

329,7

57,0

17

6,5

50,5

Dresden

171,6

57,0

33

24,1

32,9

Erfurt

165,0

2,0

1

0,7

1,3

Frankfurt

256,6

6,6

3

1,7

4,9

Gera

147,4

7,3

5

2,0

5,3

Halle

167,2

47,7

29

27,4

20,3

K.-M.-Stadt

183,6

88,7

48

43,4

45,3

66,7

39,7

60

19,9

19,8

Magdeburg

274,8

2,4

1

1,6

0,8

Neubrandenburg

251,3









Potsdam

421,2

0,5

0

0,2

0,3

Rostock

115,2









Schwerin

202,8

2,8

2



2,5

Suhl

190,2

7,4

3

4,0

3,4

DDR

2951,0

326,4

11

131,5

194,9

Leipzig

Quelle: BArch DC 20/I/4/4918 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR, pag. 39.

Die Schäden in den übrigen Bezirken waren in der Mehrzahl eng um eine Emissionsquelle lokalisiert. In den nördlichen Bezirken spielten dabei die Ammoniakemissionen aus der industriellen Tierhaltung die maßgebliche Rolle, stellenweise auch die Abgase der Kaliindustrie und Metallverhüttung.102 Im Erzgebirge selbst konzentrierten sich die Schäden auf vier Staatliche Forstwirtschaftsbetriebe. Bereits die erste Bewirtschaftungsrichtlinie für immissionsgeschädigte Fichtenbestände, die die Rauchschadenforscher um Däßler 1973 verfasst hatten, nahm die Verhältnisse in den StFB Marienberg, Schwarzenberg, Tharandt und Königstein als Maßstab.103 102 BArch DK 1/28724 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Rauchschäden in der Land- und Forstwirtschaft, passim. 103 UA der TUD, Sekt 21 670, Abschlußbericht Wirtschaftsführung Erz- und Elbsandsteingebirge, pag. 7.

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Karte 4: Schadüberlagerung in den Südbezirken der DDR 1981

1981 litt der Wald dieser vier StFB – wie auch anderswo in der DDR – unter verschiedenen Schädlingskalamitäten. Aus der ČSSR war 1979 der Graue Lärchenwickler104 ins Erzgebirge eingewandert und hatte zunächst die StFB Eibenstock und Schwarzenberg befallen. 1981 hatte sich der Befall auch auf Königstein, Tharandt und Marienberg ausgeweitet. In den Immissionsschadgebieten wirkte sich dies besonders verhängnisvoll aus. Normalerweise befällt der Lärchenwickler ältere Nadeljahrgänge. Da diese entweder nicht mehr vorhanden oder durch die Immissionsbelastung chemisch verändert waren, kam es zu einem stellenweisen Totalverlust der Maitriebe.105 Bäume mit nur noch einem oder zwei Nadeljahrgängen konnten diesen Verlust nicht mehr ausgleichen. Zu dem Befall mit nadelfressenden Insekten kam in den StFB Königstein, Tharandt und Marienberg eine Massenvermehrung des rindenbrütenden Buch 104 Der Graue Lärchenwickler befällt auch Fichten. 105 BArch DK 1/28275 Institut für Forstwissenschaften Eberswalde, Jahresbericht 1983 über die wissenschaftlich-technischen Dienstleistungen (WtD) für das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Hauptabteilung Forstwirtschaft, durch die Abteilung Forstschutz des Bereiches Rohholzerzeugung IFE gemäß Arbeitsplan. 15.11.1983.

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druckers, einer Art des Borkenkäfers, der sich im Totholz der Wind- und Schneewürfe und in den immissionsgeschwächten Bäumen ausbreitete.106 Ab 1980 wanderte die Nonne, ein Forstschädling, aus Polen ein. Davon waren primär die Kieferngebiete nördlich der Industriegebiete betroffen.107 Die Karte 4 erlaubt einen Überblick über die komplexe Schadlage im Jahr 1981. Im Erzgebirge konzentrierten sich die verschiedenen Kalamitäten und überbeanspruchten die Leistungsfähigkeit der dortigen Forstwirtschaft. Seit Bestehen der DDR litt ihre Forstwirtschaft unter einem Mangel an Mensch und Material. Die Technik war – falls vorhanden – störanfällig, die Arbeitsbedingungen der Forstarbeiter waren schlecht.108 Die Unterkünfte im Wald waren oft zu klein, nur mangelhaft hygienisch ausgestattet und häufig Gegenstand von Eingaben. Da aber Transportmöglichkeiten fehlten, um die Waldarbeiter jeden Morgen zu ihrem Einsatzort zu fahren, mussten sie die Woche getrennt von ihren Familien dort verbringen. Die Forstwirtschaft war in der DDR einer der Sektoren, der am stärksten unter dem Arbeitskräftemangel litt. Im Landesschnitt waren 5,4 Prozent aller Stellen unbesetzt. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt lag der Wert bei 6,4 Prozent, in Dresden bei 11,3 Prozent. In den beiden Erzgebirgsbezirken fehlten in der Summe 487 Vollbeschäftigungseinheiten.109 Betroffen waren davon alle Arbeitsbereiche, besonders aber die arbeitsintensive Beräumung von Waldstücken. In früheren Jahren hatte das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft (MLFN) Arbeitskräfte aus den nördlichen Bezirken zu Arbeitseinsätzen in den Süden delegiert, um die Sauberkeit der dortigen Waldbestände einigermaßen zu sichern. Mit der Häufung der Schadereignisse Ende der 1970er Jahre kam diese Ausweichlösung an ihre Grenzen, mit dem Nonnenbefall ab 1980 – den das IFE Eberswalde 1983 als »Säkulares Ereignis« bezeichnete110 – konnte der Norden keine Arbeitskräfte mehr entbehren. Herbert Wötzel, in den 1970er Jahren in der Forstabteilung des Rates des Bezirkes Magdeburg beschäftigt und ab 1987 Abteilungsleiter im MLFN, be 106 BArch DK 1/28273 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Forstschutzmaßnahmen 1981–1989, Brief vom 22.12.1981. 107 Zur Nonnenplage siehe Hans-Henry Wieczorek, Umweltschäden in der DDR. Dargestellt an einer Analyse von Bekämpfungsaktionen gegen den Forstschädling Nonne (Lyman­tria monacha L.) in den Jahren 1980 bis 1984. Berlin 1992. 108 Gespräch mit Herbert Wötzel am 12.9.2011. 109 BArch DE 1/57247 Staatliche Plankommission, Bericht über die Durchführung und Wirksamkeit der bisher beschlossenen Maßnahmen zur Versorgung der Volkswirtschaft mit Rohholz im Jahre 1979 sowie Maßnahmen und Entscheidungsvorschläge für die im 2. Halbjahr zu lösenden Aufgaben. 1.6.1979, pag. 13. 110 BArch DK 1/28275 Institut für Forstwissenschaften Eberswalde, Jahresbericht 1983 über die wissenschaftlich-technischen Dienstleistungen (WtD) für das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Hauptabteilung Forstwirtschaft, durch die Abteilung Forstschutz des Bereiches Rohholzerzeugung IFE gemäß Arbeitsplan, pag. 1.

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schrieb einen Arbeitseinsatz im Erzgebirge. Einige der Waldarbeiter aus Magdeburg seien die hohen SO₂-Konzentrationen der Luft nicht gewöhnt gewesen und bei der Arbeit im Wald »umgekippt«.111 Die StFB im Süden der DDR konzentrierten ihre Pflegemaßnahmen auf die noch gesunden Bestände und versuchten, die Übergangsgebiete peinlich sauber zu halten. Für die bereits befallenen Bestände sah das MLFN nur eine Lösung, den Einsatz DDT-haltiger Insektizide. Das umweltverträglichere Mittel Dimilin 25 WP hätte allerdings aus dem Westen bezogen werden müssen.112 Seit 1978 war der Einsatz von DDT nur noch zur Maikäferbekämpfung in der Einzelbaumbehandlung bis zum 30. April eines Jahres erlaubt. Für die Jahre 1981 bis 1984 erließ das Gesundheitsministerium eine Ausnahmegenehmigung. Das Mittel bercema-Aero-super durfte nun hergestellt und bis Ende Juli ausgebracht werden – wie der Name verrät mit Flugzeugen. Das Mittel bestand aus 17 Prozent DDT, 4 Prozent Lindan, 19 Prozent Diesel und 60 Prozent Öl und wurde auf etwa 390.000 ha verteilt.113 Hans-Henry Wieczorek hat in seiner historischen Aufarbeitung der Nonnenplage die Reaktion der Forstwirtschaft in die gängige Kategorie eingeordnet, dass sich in der DDR ökonomische Überlegungen stets gegen ökologische Bedenken durchgesetzt hätten. Für die Situation im Erzgebirge greift diese Erklärung zu kurz. Allein der Anfall mit Borkenkäfern betrug 1981 mehr als das doppelte des Kalamitätsjahres 1976 und »führt regional zur flächenweisen Bestandesauflösung«.114 Mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln war die Forstwirtschaft nicht mehr in der Lage, den Erhalt des Waldes zu sichern. An eine Maximierung der Produktion war am Kamm des Erzgebirges nicht mehr zu denken. Ein Mitarbeiter des VEB Forstprojektierung brachte dies 1982 auf den Punkt. Im StFB Marienberg gehe es darum, die »Vegetationsform Wald mit all ihren landes­ kulturellen Bedeutungen« zu erhalten. Die »Produktion von Holz steht hier erst an zweiter Stelle«.115 Die Behörden informierten die Bevölkerung über den Einsatz von bercemaAero super Anfang Juni 1981 durch die Presse. Fenster sowie Türen sollten geschlossen gehalten werden, und vom Sammeln und Verzehr von Pilzen wurde

111 Gespräch mit Herbert Wötzel am 12.9.2011. 112 Wieczorek, Umweltschäden, 130. 113 Ebd., 170. 114 BArch DK 1/28273 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Forstschutzmaßnahmen 1981–1989, Schreiben der Hauptstelle für Forstpflanzenschutz an das MLFN vom 22.12.1981. 115 BArch DK 1/28267 Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Arbeitsgemeinschaft Rauchschäden 1980–1989, Maßnahmen gegen Waldschäden, Konzeption für ein Projekt zur Umwandlung rauchgeschädigter Fichtenbestockungen im Erzgebirge am Beispiel des StFB Marienberg vom 9.12.1982.

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abgeraten.116 Der Einsatz DDT-haltiger Mittel provozierte einige Eingaben. Da 1981 Wahlen zur Volkskammer anstanden, verschob das MLFN die Bekämpfungsmaßnahmen in den Kreisen Schwarzenberg, Aue und Annaberg auf die Zeit nach der Wahl. Zudem führte es in den Tagen vom 9. bis 11. Juni persönliche Aussprachen mit allen Eingabenschreibern durch, um sie von der Unbedenklichkeit der Maßnahmen zu überzeugen.117 Soviel Rücksicht auf die Bedenken der Bevölkerung nahmen die Behörden nach dem 14. Juni 1981 nicht mehr. Bemerkenswert ist, dass die DDR ihren eigenen Mitteln mehr vertraute als Importen. In den Trinkwasserschutzzonen 2 und 3 verzichtete sie auf DDT-haltige Mittel und wandte ein weniger wirksames an. Ein gleichwertiges Importmittel durfte nur außerhalb der Schutzzonen versprüht werden.118 Insgesamt hatte sich die Lage in den Wäldern der DDR derart zugespitzt, dass sie ab 1981 beständig Gegenstand von Verhandlungen in den höchsten Gremien von Staat und Partei waren. Im Unterschied zur Waldsterbensdebatte in der Bundesrepublik kamen die Fragen der Waldgesundheit und der immissionsbedingten Waldschäden nicht abrupt und überraschend auf die politische Agenda. Wie weiter oben ausgeführt, befassten sich die staatlichen Stellen seit den frühen 1970er Jahren mit der Suche nach einem effektiven Entschwefelungsverfahren. Neben sanitären Motiven spielte dabei die Verhinderung weiterer Waldschäden eine große Rolle. Der kritische Gesundheitszustand großer Waldflächen war der Forstwirtschaft, der Forstwissenschaft sowie dem ministeriellen und Parteiapparat bekannt. Es bedurfte keiner bedrohlichen bis apokalyptischen Zukunftsszenarien, um auf die Immissionsschäden aufmerksam zu machen. Die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte traf in der DDR auf einen eigenen, jahrealten und lebendigen Diskurs. Dennoch intensivierte sich auch in der DDR nach 1981 die Debatte noch einmal. Zum einen lag dies an dem skizzierten Belastungshorizont, zum anderen ›entdeckten‹ westdeutsche Medien, Umweltschützer und Politiker die ostdeutschen Wälder. Die DDR und ihr Umgang mit Waldschäden rückten in die Bereiche internationaler Aufmerksamkeit. In den 1980er Jahren gab es keine Partei im Bundestag, die nicht eine Delegation in die Dübener Heide und das Erzgebirge schickte, und keine Umweltorganisation, die ihre Aktionen nicht auf die DDR auszudehnen versuchte. Die westdeutschen Medien schließlich fanden im Erzgebirge die treffenden Bilder zur heimischen Diskussion.

116 BArch DC 20/I/4/4918 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR, pag. 4–12. 117 SAPMO DY 30/118 Werner Felfe, Information über Bekämpfung von Forstschad­ insekten. 20.8.1981, Brief Kuhrigs an Felfe vom 11.6.1981. 118 SAPMO DY 30/118 Heinz Kuhrig, Bericht über die weiteren Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung der Forstschädlingsbekämpfung im Bezirk Karl-Marx-Stadt. 11.6.1981, pag. 3.

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Vor 1981 hatten die ostdeutschen Waldschäden in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit keine Rolle gespielt, nach 1981 wurden sie nur selektiv wahrgenommen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten fand kaum statt. Die DDR diente in der Waldsterbensdebatte als Manöverfeld westdeutscher politischer Interessen. Erst im Juni 1983 fand auf Wunsch der ständigen Vertretung der BRD ein Gespräch im MLFN statt, auf dem die westdeutschen Teilnehmer fragten, seit wann die DDR unter großflächigen immissionsbedingten Waldschäden leide, wie die Zonierung aussehe und welche Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Erich Honecker selbst hatte sein Einverständnis für eine solche Unterredung gegeben.119 Neue politische Maßnahmen Gerhard Grüneberg, seit 1960 ZK-Sekretär für Landwirtschaft und ein Anhänger industrieller Methoden in Land- und Fortstwirtschaft einschließlich der Kahlschlagwirtschaft, starb am 10. April 1981. Ihm folgte Werner Felfe nach, der weniger starre Vorstellungen hatte und die in der Landwirtschaft unbeliebte Aufspaltung in tier- und pflanzenproduzierende LPGs zurückführte. Unter Felfe intensivierte sich der Kontakt zwischen dem Sekretariat und dem Forstministerium unter Minister Bruno Lietz (1982–1989, als Vorgänger amtierte Heinz Kuhrig 1973–1982), da Lietz zuvor Abteilungsleiter Landwirtschaft unter Felfe gewesen war. Die Kommunikation zwischen dem SED-Minister Lietz und den ZK-Funktionären Semmelmann und Felfe ist ein beredtes Beispiel für die Möglichkeiten, Inhalte auf ›kurzem Wege‹ abzustimmen – eine Möglichkeit, die Hans Reichelt als Umweltminister verschlossen blieb. Am 25. Juni 1981 informierte Felfe Honecker über die Lage in den Wäldern. Dabei skizzierte er die Lage nüchtern und ungeschönt. Die herrschende Insektenplage sei eine Folge der Rauch- und Schneebruchschäden, letztere hingen wiederum mit der chronischen Schwächung der Wälder durch SO₂-Belastung zusammen. Die Schäden würden immer schlimmer und breiteten sich immer weiter aus. Dazu kämen die zunehmenden Beschwerden der ansässigen Bevölkerung. Erstens richteten sich die Eingaben gegen den Niedergang des Waldes, zweitens gegen den Einsatz DDThaltiger Mittel zur Schädlingsbekämpfung. Felfe schlug vor, alle Arbeiten auf die Beseitigung des Totholzes aus den Wäldern zu konzentrieren, um die Insektenplage einzudämmen. Dazu sei man jedoch auch auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen, da die Forstwirtschaft mit 119 SAPMO DY 30/118 Werner Felfe, Information über das Gespräch mit einer Delegation der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR zu Fragen des Schutzes der Wälder in der DDR. 3.6.1983, o. pag.

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dieser Aufgabe überlastet sei. In einem zweiten Schritt müsse endlich die Entschwefelungsfrage gelöst werden.120 Felfe legte Honecker zudem Zahlen zu dem raschen Schadfortschritt in der gesamten DDR und besonders im Erzgebirge vor. Im November 1981 kursierte im Sekretariat eine »Komplexe Analyse zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR«, die das Forstministerium erstellt hatte. Nach den einleitenden Topoi, dass Holz einer der wenigen einheimischen Rohstoffe sei und die SED auf ihrem X. Parteitag beschlossen habe, die Wälder zu schützen, kam der Bericht rasch auf den Punkt. Der Schadumfang, »insbesondere des Erzgebirges«, habe ein »besorgniserregendes, örtlich katastrophales Ausmaß« angenommen.121 Der Schadfortschritt korreliere mit der Entwicklung der SO₂-Emissionen in der DDR und der ČSSR. Seit etwa drei Jahren käme es auch auf der DDR-Seite des Erzgebirges zu großflächigen Absterbeerscheinungen, die so bisher nur von der Südseite bekannt waren. Diese Entwicklung ist auch deshalb so besorgniserregend, da es sich dabei um bedeutende traditionelle Erholungs- und Wintersportgebiete sowie um Trinkwasserschutzgebiete wichtiger Talsperrensysteme handelt.122

Die Forstwirtschaft könne die Schäden nicht aufhalten. Eine »entscheidende Veränderung der Situation« sei nur über Emissionsreduzierung zu erreichen. Der SO₂-Ausstoßes müsse bis 1990 halbiert werden. Das Papier griff auch die Tharandter Rauchschadenforschung an. Diese habe sich zu sehr mit dem Erkennen der Schäden und deren Ausmaß auseinandergesetzt, anstatt Bekämpfungsmechanismen auszuarbeiten. Die Analyse stammt vom 17. September 1981 und ist noch völlig unbeeinflusst vom bundesdeutschen Waldsterbensdiskurs. Das MLFN stellte darin drei Kernforderungen auf: Der Wald müsse als Rohstofflieferant bewahrt, als Trinkwasserspeicher erhalten und als Erholungsort geschützt werden. Das einzig effektive Mittel sei dabei die Entschwefelung. Bruno Kiesler, bis Ende 1981 Leiter der Abteilung Landwirtschaft im ZK der SED und damit Felfe nachgeordnet, griff die Analyse auf, überarbeitete und erweiterte sie. In dieser Form war sie Grundlage des Beschlusses zur »Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR« des Präsidiums des Ministerrates vom 24. März 1982. Dieses nahm die Analyse zur Kenntnis und leitete davon 16 Maßnahmen ab, darunter auch die bereits besprochene Aufforderung an das Umweltministerium, eine Einsatzkonzeption für das Kalkstein-Additiv-Verfahren zu erarbeiten.123 120 SAPMO DY 30/118 Felfe, Gegenwärtige Lage, o. pag. 121 SAPMO DY 30/1739 Kiesler, Komplexe Analyse zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR, pag. 2. 122 SAPMO DY 30/1739 ebd., pag. 3. 123 BArch DC 20/I/4/4918 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR.

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Die ersten drei davon betrafen die aktuellen Schneebruch- und Insektenschäden. 1980 war die FDJ Aktion »Gesunder Wald« ins Leben gerufen worden, um Jugendliche für Beräumungsaktionen im Wald heranziehen zu können. Dieses Engagement sollte ausgeweitet werden. Hier zeigt sich eindeutig, wie sehr die Forstwirtschaft auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen war, da ihre eigenen Kapazitäten nicht mehr ausreichten. Die übrigen Punkte bezogen sich zum Teil  auf die Emissionsreduzierung, in ihrer Mehrheit jedoch auf Gegenmaßnahmen der Forstwirtschaft. So sollten etwa die Gehälter (»Lohnfonds«) in den Rauchschadenzonen erhöht, die Wildbestände abgesenkt und die Erforschung der Stabilität forstlicher Ökosysteme ausgeweitet werden. Um die Bevölkerung im Erzgebirge zu beruhigen, sollte deren medizinische Betreuung ausgeweitet und die Versorgung mit Lebensmitteln – vor allem Obst – verbessert werden. Das Sekretariat des ZK der SED bestätigte den Beschluss Ende März 1982.124 Wenige Tage später informierte Lietz seinen Vorgesetzten Felfe über die Einschätzung der gefassten Maßnahmen. Die Abteilung Landwirtschaft war der Überzeugung, dass der Wald nur erhalten und die Bevölkerung beruhigt werden könne, wenn der Ausstoß von Schadstoffen massiv zurückgehe. Felfe solle darauf drängen, dass erstens das Kalkstein-Additiv-Verfahren flächendeckend eingeführt und zweitens die Voraussetzungen für eine Aufforstung des Erzgebirges geschaffen werden. Die Abteilung ging von einem massenhaften Kahlschlag großer Flächen aus, die schnellstmöglich wieder bestockt werden müssten. Zudem müsse Felfe die Bereitstellung von Insektiziden für das Jahr 1982 sichern, da sonst weiterer Kahlfraß in gesunden und geschädigten Beständen drohe.125 Felfe versorgte Honecker regelmäßig mit Berichten zum Gesundheitszustand der Wälder. Im Januar 1983 wies er den Generalsekretär darauf hin, dass nun auf böhmischer Seite des Erzgebirges nahezu alle Bestände abgestorben seien. Ohne diesen Schutz drohe auch den heimischen Wäldern das gleiche Schicksal. Es werde darum zunehmend wichtig, die nötigen Voraussetzungen für eine rasche Wiederaufforstung zu schaffen, in Form von Arbeitsgeräten und Forstpflanzenschulen. Die bisher in Angriff genommenen Entschwefelungsvorhaben seien nicht ausreichend, die Waldbestände nachhaltig zu schützen.126 Welche Wirkung diese Informationen bei Honecker entfalteten, lässt sich auf Basis der Quellen nicht nachvollziehen. Zumindest verhinderte er keine politischen Beschlüsse in diese Richtung. Einen Monat später befasste sich das Politbüro erneut mit der Frage der Waldschäden und fasste den »Beschluss über weitere Maßnahmen zum Schutz der Wälder der DDR im Jahre 1983/84«.127 Die 124 SAPMO DY 30/J IV 2/3/3353 Sekretariat des ZK der SED, Beschluß zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR. 31.3.1982. 125 SAPMO DY 118 Abteilung Landwirtschaft, Standpunkt für Genossen Felfe, o. pag. 126 SAPMO DY 30/118 Felfe, Information zu Problemen in der Forstwirtschaft, o. pag. 127 SAPMO DY 30/J IV 2/2/1989 Politbüro des ZK der SED, Beschluß über weitere Maßnahmen zum Schutz der Wälder der DDR im Jahre 1983/84. 22.2.1983.

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westdeutsche Tageszeitung Die Welt nannte ihn einen »grünen Beschluß«.128 Inhaltlich war darin wenig Neues enthalten. Erneut wurden die komplexe Schadlage im Erzgebirge beschrieben und die gängigen Rezepte angeführt: Wiederaufforstung mit rauchhärteren Baumarten, besseres Monitoring der Schäden, intensivere Zusammenarbeit mit der ČSSR und Polen, bessere Arbeitsbedingungen für Waldarbeiter in den Schadgebieten, Ausweitung der Düngung und Entschwefelungsmaßnahmen. Mittlerweile ging man von einem jährlichen Kahlflächenanfall von 4000 ha im Erzgebirge aus. Um die »Waldvegetation zu erhalten«, mussten die Voraussetzungen für die Aufzucht von 9 Mio. rauchfesten Sämlingen geschaffen werden.129 Die zwischen Ministerien, Parteigremien und Wissenschaftlern ausgetauschten Stellungnahmen, Beschlüsse, Konzeptionen oder Prognosen betonten die Schwere der Situation, sie wirkten jedoch weder panisch noch hysterisch. Die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte wurde in keiner Weise rezipiert, sondern die seit den 1950er Jahren gewählten Lösungsstrategien wurden weiterverfolgt. Dabei lassen sich zwei weitere Spezifika der Debatte herausstellen. Zum einen überschätzten alle Institutionen, die mit der Waldschadensfrage befasst waren, die Leistungsfähigkeit der nachgeordneten Organe. Zum anderen lassen sich erst ab der Ebene des Politbüros Verbindungen zwischen zwei geschlossenen Diskussionskreisen feststellen. Reichelt brachte die Erkenntnisse der nachgeordneten Umweltverwaltung über Mittag in das Politbüro ein, die Forstverwaltung war über die Kette Lietz-Semmelmann-Felfe mit der oberen Parteibürokratie verbunden. Beide Kreise kamen unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass die bisherigen Bemühungen der DDR nicht ausreichten, die lufthygienische Situation zu verbessern. Bis 1984 kam es aber nicht zu gemeinsamen oder auch nur abgesprochenen Vorstößen in diese Richtung. Die westdeutsche Waldsterbensdebatte weitete sich erst ab Mitte der 1980er Jahre auf die DDR-Forstwissenschaft aus, da zuvor alle entsprechenden Stellen mit den anstehenden Problemen ausgelastet waren. »Die Forstschutzsituation im Jahr 1983« galt als die »schwierigste seit 1947/48«.130 Erst als der Nonnenbefall 1984 weitgehend überwunden und das Totholz der Wind- und Schneebrüche geräumt war, fanden die Abteilung Landwirtschaft und das MLFN die Zeit, sich mit den Entwicklungen im Westen intensiv auseinanderzusetzen. Ein wesentlicher Impuls kam dabei von Reichelt, der 1984 an der Münchner Umweltschutzkonferenz teilgenommen hatte. 128 SAPMO DY 30/119 Helmut Semmelmann, Stellungnahme für den Ministerrat der DDR über »Maßnahmen zum Schutz der Wälder vor Forstschadinsekten, insbesondere der Nonne und dem Fichtenborkenkäfer in den Jahren 1983/84«. 14.9.1983, pag. 2. 129 BArch DK 5/2126 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über weitere Maßnahmen zum Schutz der Wälder der DDR im Jahre 1983/84. 24.2.1983, pag. 6. 130 Wieczorek, Umweltschäden, 134.

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Ein neuer Weg nach 1984 Hans Reichelt vertrat die DDR in umweltpolitischen Belangen nach außen. Auch wenn er über die Details zu den Waldschäden nicht informiert war, trat das Ausland mit Anfragen an ihn heran. Im westlichen Europa wurden die Waldschäden im Komplex mit Schwefeldioxid-Emissionen und »Saurem Regen« als Umweltproblem verstanden, der Umweltminister also als natürliche Ansprechperson angesehen. Reichelt war darum über den Gang der Waldsterbens­debatte besser informiert als seine Kollegen aus der Forstwirtschaft. Im Oktober 1983 reiste er auf Einladung des bayrischen Staatsministers für Landesentwicklung und Umweltfragen, Alfred Dick, in die Bundesrepublik. Alleiniger Reisezweck war das »Waldsterben« – auch in der Quelle des MUW so bezeichnet.131 Während seiner Reise traf er den bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann zu Be­ratungen. Beiden erläuterte er die geplanten Maßnahmen zur Rauchgasentschwefelung: »damit stehen wir in der DDR nicht pessimistisch und hilflos einem ›Waldsterben‹ gegenüber, sondern mobilisieren Kräfte der Forstwirtschaft, Wissenschaftler und auch Spezialisten aus anderen Bereichen der Volkswirtschaft zur aktiven Überwindung der Schäden«.132 Zimmermann gab Reichelt allerdings auch etwas Nachdenkliches mit auf den Heimweg. Die Waldsterbensdebatte hätte zu einer »galoppierenden Bewußtseinszunahme« in der Bevölkerung gegenüber Umweltfragen geführt.133 Im Mai 1984 kam Dick zu einem Gegenbesuch nach Tharandt. Reichelt führte ihm die Forschungseinrichtungen in Tharandt, die Waldsanierungsmaßnahmen in der Dübener Heide und die Entschwefelungsanlage im Kraftwerke Elbe/Vockerode vor. Ins Erzgebirge durfte Dick nicht reisen. Das MfS registrierte die bedrängende Haltung westdeutscher Journalisten auf Dick. Er solle weniger die ostdeutschen Leistungen loben, als verstärkt auf verbindliche Vereinbarungen drängen.134 Im gleichen Jahr kamen auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Volker Hauff, und der nordrhein-westfälische Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, F ­ riedhelm F ­ arthmann, ebenfalls in die DDR. Hans Reichelt war ganz selbstverständlich der Begleiter der hochrangigen, an den Waldschäden interessierten west 131 BStU MfS HA XVIII 17671 Ministerium für Staatssicherheit, Erste Information zum Stand der Vorbereitungen der geplanten Verhandlungen/Gespräche zwischen der DDR und der BRD zu Fragen des Umweltschutzes. 1.9.1983. 132 BStU MfS HA XVIII 19328 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Umweltverschmutzung bei den Betrieben und Kontakte mit der BRD, pag. 108. 133 BStU MfS HA XVIII 19328 ebd., pag. 119. 134 BStU MfS HA XVIII 19328 Ministerium für Staatssicherheit, Information über den Besuch des bayerischen Staatsministers für Landesentwicklung und Umweltfragen, Alfred Dick, in der DDR vom 14.–18.5.1984, 236.

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deutschen Delegationen – und nicht der Forstminister Bruno Lietz. Bereits im vorherigen Abschnitt wurde an den Beispielen des ZUG und der Staatlichen Umweltinspektion deutlich, dass Reichelt es verstand, mit außenpolitischem Rückenwind Kompetenzen an sich zu ziehen und seinen Handlungsspielraum zu erweitern. Die Münchner Umweltschutzkonferenz vom Juni 1984 bot ihm die Gelegenheit, seinen Einfluss auf die Forstwissenschaft weiter auszubauen. Nachdem er auf der Konferenz im Namen der DDR dem 30-Prozent-Ziel zugestimmt hatte, besuchte er das Großforschungszentrum der »Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung« in München-Neuherberg sowie das Kraftwerk Schwandorf, das mit tschechischer Braunkohle befeuert wurde. Reichelt war beeindruckt von der Dynamik, die die bundesdeutsche Waldschadensforschung aufnahm. »Es muß eingeschätzt werden, daß hier in kurzer Zeit die vorhandenen Wissenslücken in der Forstschadforschung der BRD geschlossen […] werden kann.« Es müsse unbedingt eine Kooperation zwischen Tharandt und der bundesdeutschen Forschung aufgebaut werden, sonst drohe die eigene Forschung ins Hintertreffen zu geraten.135 Der Ministerrat griff Reichelts Anregungen bemerkenswert rasch und konsequent auf. Neben den bereits vorgestellten Maßnahmen zur Entschwefelung beschloss die Regierung im Februar 1985, einen zweiten Forschungskomplex aufzubauen, die »Erforschung der Ursachen der Waldschäden und Maßnahmen zu ihrer wirksamen Bekämpfung«.136 Darin waren 21 Forschungsaufga­ ben definiert, die die Waldschadensforschung in der DDR breiter aufstellten. Neben dem Wissenschaftsbereich Pflanzenchemie der Sektion für Forstwirtschaft in Tharandt bekamen alle übrigen Wissenschaftsbereiche Aufgaben zugewiesen. Hinzu kamen als Institutionen das IFE Eberswalde, der Meteorologische Dienst, die AdL, die AdW, das ZUG sowie der VEB Forstprojektierung Potsdam. Eberswalde konnte 91 neue Wissenschaftler einstellen, Tharandt weitere 35. Dazu kamen an beiden Standorten Bauinvestitionen von insgesamt 25,5 Mio. Mark für Laborgebäude und Gewächshäuser. Die 21 Aufgaben gliederten sich in sechs Forschungsrichtungen, denen jeweils ein Wissenschaftler vorstand. Ein Forschungsrat aus 20 Mitgliedern, der sich zweimal im Jahr zu Beratungen traf, überwachte und koordinierte die einzelnen Vorhaben.137

135 BArch DK 5/4733 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Unterlagen zur Umweltschutzkonferenz, Bericht vom 29.6.1984. 136 BArch DC 20/I/3/2127 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur Wertstoffgewinnung und zur Erhöhung der Energieausbeute durch Rauch­ gasentschwefelung, pag. 20. 137 BArch DK 1/28267 Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Arbeitsgemeinschaft Rauchschäden 1980–1989, Maßnahmen gegen Waldschäden, Liste der Mitglieder und Leiter der Forschungsrichtungen in der Forschungskooperationsgemeinschaft »Waldschäden« vom 29.10.1989.

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Das Forschungsdesign orientierte sich nun wesentlich stärker an den Geschehnissen in der Bundesrepublik. Unter dem Punkt »Erarbeitung der wissenschaftlichen Grundlagen für Aufbau, Organisation und Durchführung der Prognose und der Überwachung des Gesundheitszustandes von Waldbeständen beim VEB Forstprojektierung« verbarg sich etwa ein ähnliches Unterfangen wie die Waldschadensberichte. Für die Erfassung kamen schließlich Schweizer Erfassungsbögen zum Einsatz, da eine direkte Übernahme der bundesdeutschen Bögen aus politischen Erwägungen heraus nicht erwünscht war.138 1988 legte die VEB Forstprojektierung eine erste »Ökologische Waldzustandskontrolle« vor.139 Eine größere Rolle nahm die Erfassung des sogenannten »Bodenwegs« ein, die schädliche Wirkung saurer Niederschläge auf den Mineralienhaushalt des Bodens und damit der Bäume. Das Institut für Pflanzenchemie verlor 1985 seine Monopolstellung in der Rauchschadenforschung. Däßler begrüßte zwar die Ausweitung der Forschung, vertrat aber den Standpunkt, dass neuartige Waldschäden und saurer Regen für die DDR keine Rolle spielten. Lokal bänden die alkalischen Stäube die Schwefeldioxidemissionen, ein großes Problem sei allerdings der Ferntransport.140 In der Folge setzte sich in der DDR eine strikte Dichotomie der Schadklassifizierung durch. Auf der einen Seite gab es die klassischen Rauchschäden, auf der anderen die neuartigen Waldschäden. Bereits im Februar 1985 setzte Reichelt Günter Mittag über die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Schadarten in Kenntnis. Neben Ursachen, Inkubationszeit und äußeren Kennzeichen ist der Punkt »langfristige Folgen« bemerkenswert. Hier sei eine »[u]numkehrbare Schädigung nicht nach­ gewiesen«, die »Versauerung des Bodens kein Dauerproblem«. Da in der DDR ausschließlich die klassischen Waldschäden von Bedeutung seien, machte sich Reichelt über eine etwaige Waldlosigkeit in der Zukunft keine Gedanken.141 Damit vertrat die DDR international keine isolierte Sondermeinung. Heinrich Stratmann, Leiter der Landesanstalt für Immissionsschutz in NordrheinWestfalen, schrieb nach einem Besuch in der DDR an das IFE Eberswalde: Die Klärung dieser Frage ist natürlich sehr wichtig für die Beweisführung zur Ozonhypothese als Ursache der neuartigen großflächigen Waldschäden. Auch diesbezüglich war meine DDR-Reise sehr zufriedenstellend, denn ich fand in den besichtigten Schadgebieten »Dübener Heide« und »Erzgebirge/Elbsandsteingebirge« nur Schäden an Forstkulturen vor, die nichts mit den neuartigen Waldschäden zu tun haben und 138 Gespräch mit Herbert Wötzel am 12.9.2011. 139 Dieter Bieberstein, Inventur der Waldschäden und ökologische Waldzustandskontrolle in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Sozialistische Forstwirtschaft 38, 1988, 268–271. 140 Gespräch mit Hans-Günther Däßler am 29.9.2010. 141 SAPMO DY 30/2836 Hans Reichelt, Vergleichende Übersicht von Waldschäden durch Luftschadstoffe. 6.2.1985, o. pag.

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offensichtlich auf SO₂-Einwirkung zurückgeführt werden müssen. Dies steht im Widerspruch zu vielen Meldungen in der BRD (auch von sogenannten Fachleuten), die nicht zwischen den beiden Schadvorgängen differenzieren.142

Als mögliche Ursachen der neuartigen Waldschäden galten in Ost und West Stickoxide, Ozon sowie weitere Photooxidantien. Davon produzierte die DDR relativ gesehen weniger als die Bundesrepublik. Die Schadstoffe entstehen bei hochtemperaturigen Verbrennungsprozessen, etwa der Verstromung von Steinkohle oder in Viertaktmotoren. Hier war die DDR mit ihrer Braunkohle, dem geringeren Individualverkehr und Zweitaktmotoren im ›Vorteil‹.143 Neuartige Waldschäden in der DDR Nach der Lesart der mit Waldschäden befassten Stellen konnte es in der DDR keine neuartigen Waldschäden geben. In der internen Diskussion wurden die riesigen Schadflächen nicht vertuscht, die Dübener Heide und das Erzgebirge galten aber als die Folge verpasster Entschwefelung. Die neuartigen Waldschäden könnten, wenn überhaupt, an der Westgrenze auftreten, wo die entsprechenden Schadstoffe aus der BRD herangeweht würden.144 In der Schadaufnahme 1981 waren die Bezirke Suhl und Erfurt mit vier bzw. einem Prozent immissionsgeschädigter Waldfläche noch nicht aufgefallen. Kurze Zeit später berichteten die örtlichen Forstbehörden des Bezirkes Suhl an die HA Forstwirtschaft im MLFN, sie hätten eine Gelbfärbung von Fichtennadeln auf ca. 5000 ha beobachtet. Das Ministerium ordnete im Januar 1982 die Untersuchung des Phänomens durch Tharandter Wissenschaftler an. Gleichzeitig begann das ZUG, ein Messnetz im Thüringer Wald aufzubauen.145 Im August 1983 lagen erste Ergebnisse vor, nach denen Magnesiummangel für die Gelbfärbung verantwortlich war. Schwefeldioxid schied als Ursache weitgehend aus, da die vom ZUG gemessenen Konzentrationen gering waren. In einer zusammenfassenden Information des Leiters der Abt. Forstwirtschaft beim Rat des Bezirkes Suhl, Purfürst, von 1984 hieß es: Die durch die Schneebruchschäden 1981/82 verursachten Bestandesauflichtungen und Kronendeformierungen sowie die Aufeinanderfolge zweier Trockensommer bewirken besonders in den sonst mit reichlich Niederschlägen versorgten Fichtenwäldern eine Streß-Situation. Permanente Belastungen durch variable Stickoxidverbindungen 142 SAPMO DY 30/2836 H. Stratmann, Brief zu Besuch in der DDR. 27.12.1984. 143 BArch DK 5/1145 Kommission Reinhaltung der Luft, Expertise zur Bedeutung der atmo­sphärischen Stickoxide für die Umwelt. 1985, pag. 5. 144 SAPMO DY 30/2836 Hans Reichelt, Einschätzung der Ursachen für die »neuartigen Forstschäden« und Schlußfolgerungen für das weitere Vorgehen. 6.1.1985, pag. 1–2. 145 BStU BV Suhl Abt. XVIII/2399 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur forstsanitären Situation im Bezirk Suhl 1982–1989, pag. 5–6.

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sowie Ozonbildung in der Luft, die über Ferntransport aus Industriegebieten heran­ geführt wird, können infolge des physiologischen Zustandes der Pflanzen nicht mehr kompensiert werden, so daß Absterbeerscheinungen durch Chlorophyllabbau eintreten.146

1985 gründete sich eine »Sozialistische Arbeitsgemeinschaft Neuartige Schäden Thüringer Wald/Harz/Westerzgebirge«. Der Anstoß dazu war aus der Abteilung Landwirtschaft des ZK gekommen: Diese Schäden treten ausschließlich an den Südwest- und Westhängen der Thüringer Wälder auf und nehmen mit zunehmender Höhe über NN deutlich an Inten­ sität zu. Auch das Schadbild bestätigt, daß es sich nicht um Rauchschäden handelt, die durch SO2-Einwirkungen verursacht werden.[…] Da die Erfahrungen in unseren »traditionellen« Rauchschadensgebieten die neuartigen Fragen nicht ausschließlich beantworten können, halten wir eine Hilfe und Zusammenarbeit der Genossen der Hauptabteilung Forstwirtschaft, des Instituts für Forstwissenschaften Eberswalde und der Sektion Forstwirtschaft Tharandt mit den Suhler Genossen für unbedingt notwendig.147

Für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Schäden war dann allerdings nicht Tharandt verantwortlich, sondern primär das IFE Eberswalde, das eine Außenstelle in Suhl, das »Forschungs- und Überleitungszentrum Thüringer Wald«, unterhielt.148 Auf höchster Regierungsebene spielten die neuartigen Waldschäden erstmals 1985 eine eigenständige Rolle. Der Beschluss zum Schutz der Wälder vom Februar 1983 hatte zwar bereits Schäden an den Fichtenbeständen auf dem Kamm des Thüringer Waldes im Umfang von 5000 ha vermerkt, sie wurden aber noch in die bekannte Rauchschadensproblematik eingeordnet.149 Im »Beschluß über weitere Maßnahmen zum Schutz der Wälder in der DDR in den Jahren 1985/86« vom 20. März 1985 löste der Ministerrat sie aus dem Verbund der klassischen Rauchschäden heraus und widmete ihnen einen eigenen Unterpunkt: »Die bisherigen Untersuchungen deuten darauf hin, daß diese neue Schädigung vor allem durch eine übernatürliche Ozonkonzentration als Leitschadstoff verursacht werden.«150 146 BStU BV Suhl Abt. XVIII/2399 ebd., pag. 23. 147 SAPMO DY 30/1437 ZK der SED Abteilung Landwirtschaft, Information für Genossen Felfe zu Sturmschäden im Raum Suhl. 28.1.1985. 148 BArch DK 1/2814 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Jahresberichte über die Erfüllung der Planaufgaben des IFE Eberswalde 1986–1988, o. pag. 149 BArch DK 5/2126 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über weitere Maßnahmen zum Schutz der Wälder der DDR im Jahre 1983/84, pag. 6. 150 BArch DC 20/I/3/2144 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über weitere Maßnahmen zum Schutz der Wälder in der DDR in den Jahren 1985/86. Berlin (Ost). 20.3.1985, pag. 7.

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Die geschädigte Waldfläche war mittlerweile auf 25.000 ha angewachsen151, 20.000 ha entlang des Rennsteigs im Thüringer Wald sowie kleinere Flächen im Harz und im Westerzgebirge/Vogtland. Die Mehrzahl der beschlossenen Maßnahmen betraf weiterhin das Obere Erzgebirge, die neuen Schäden im Westen sollten aber mittels Luftbilder erfasst werden, da sie sich sehr rasch ausbreiteten. Bereits 1987 hatte sich die geschädigte Fläche auf 69.000 ha ausgebreitet. 29 Prozent des gesamten Thüringer Waldes waren mittlerweile von den neuartigen Waldschäden betroffen.152 Im Vergleich zu den Schäden im Erzgebirge scheinen sie allerdings im politischen Betrieb nachrangig behandelt worden zu sein. Im Juni 1987 organisierte die Sozialistische Arbeitsgemeinschaft einen Arbeitsbesuch Felfes inklusive zehnminütigem Inspektionsflug im Raum Oberhof, dessen »Ziel« es war, »die gegenwärtige besorgniserregende Schadsituation der Waldbestände des Thüringer Waldes zur Kenntnis zu bringen«.153 Die Hauptabteilung Forstwirtschaft im MLFN wollte über Felfe einen eigenen Politbürobeschluss erwirken, der sich allein mit den neuartigen Wald­ schäden im Westen befasste. Der aktuellste Beschluss des Politbüros zum Erhalt und Schutz der Wälder vom Juni 1986 hatte sich primär mit den altbekannten Schäden befasst. Einen entsprechenden Beschluss konnte das MLFN jedoch nicht bewirken. Allerdings bekam das Ministerium 1987 eine neue Abteilung, die sich mit den neuartigen Waldschäden im Thüringer Raum befasste, indem die bestehende Abteilung Produktion aufgespalten wurde. Der Leiter der neuen Abteilung, Herbert Wötzel, bezeichnete sie als »Feigenblatt«.154 Er und drei weitere Mitarbeiter – von denen wiederum einer allein für Harzung verantwortlich war – sicherten die Düngungsmaßnahmen im Thüringer Wald organisatorisch ab. Im Inneren nahm die DDR eine strikte Trennung von klassischen und neuartigen Rauchschäden vor. Letztere spielten im forstwirtschaftlichen und politischen Diskurs der DDR stets eine nachgeordnete Rolle. Auch wenn die Schäden sich stetig vergrößerten, erreichten sie nie den Umfang der Rauchschäden im Erzgebirge und – was wesentlich bedeutsamer ist – nie ihre Intensität. Im Thüringer Wald konzentrierten sich die Schäden auf die armen, sauren Standorte in

151 Alle Angaben zum Schadumfang basieren auf dem in den 1960er Jahren in Tharandt entwickelten Modell der Schadzonenkartierung. Seit 1970 überwachte der VEB Forstprojektierung Potsdam die rauchgeschädigten Waldgebiete nach diesem System. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 2.2.1. 152 SAPMO DY 30/122 Werner Felfe, Information zur gegenwärtigen Situation der durch Immission geschädigten Wälder in der DDR sowie weitere Vorschläge für Maßnahmen zum Schutz und zur Erhaltung der Wälder. 24.6.1987, pag. 1. 153 BStU MfS HA XVIII 12511 Ministerium für Staatssicherheit, Ost-West-Kontakte mit Waldbezug, pag. 25. 154 Gespräch mit Herbert Wötzel am 12.9.2011.

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Hoch- und Kammlagen. Die Schadzone II war die höchste vergebene, während es im Erzgebirge großflächig die Schadzone »I extrem« gab.155 Hier drängt sich die Frage auf, wie tragbar diese Trennung war und ob sie die Phänomene in den Wäldern treffend wiedergab. Zunächst ist es auffällig, dass die Schäden im Thüringer Wald und im Harz gleichzeitig mit dem ›SO₂Knick‹ aufkamen. Mit dem Jahr 1981 und der Kürzung der sowjetischen Öllieferungen stiegen die Emissionen rapide an. Die trockenen Sommer zu Beginn der 1980er Jahre setzten die Widerstandskraft der Fichten herab, so dass diese physiologisch geschwächt waren.156 Auf der anderen Seite waren die SO₂-Konzentrationen im Thüringer Wald auch nach 1981 gering. 1982 lag der durchschnittliche SO₂-Wert an der Station Schmücke in der Nähe von Suhl bei 30 µg/m³. Die damals angenommene fichtenschädigende Konzentration von 65 µg wurde an 45 Tagen überschritten. Die Messstation Zinnwald im Osterzgebirge verzeichnete 155 Übertretungstage bei einem Jahresdurchschnitt von 75 µg/m³ Luft.157 Das Immissionsgeschehen in Bezug auf Schwefeldioxid gestaltete sich durchaus milder als im Erzgebirge. Die Station Zinnwald war allerdings ein Extrembeispiel, sie lag unmittelbar in der Abgasfahne böhmischer Kraftwerke. An der Station Fichtelberg weiter westlich lagen die entsprechenden Werte bei 52 Tagen und 38 µg.158 Ähnlich zeigte sich die Lage bei der Ozonbelastung. Da dem ZUG und dem Meteorologischen Dienst die entsprechenden Messinstrumente fehlten, konnten sie die Belastung nur annäherungsweise berechnen und stichprobenartig überprüfen. Bei den Jahresmittelwerten für den Zeitraum 1981 bis 1983 lagen das Erzgebirge und der Thüringer Wald auf derselben Isolinie, wobei die höchste Konzentration für das Fichtelberggebiet angegeben wurde.159 Allerdings handelt es sich bei allen angegebenen Werten um Mittelwerte, die wenig Rückschlüsse auf extreme Belastungswerte zulassen, bei Schwefeldioxid im Winter, bei Ozon in den Sommermonaten. So lag der Spitzenwert an der Station Zinnwald im Januar 1982 bei 736 µg/m³ Schwefeldioxid. Solch hohe Werte

155 W. Schwanecke, Neuartige Waldschäden im Thüringer Wald. Zur Entwicklung und heutigen Verbreitung neuartiger Waldschäden im Thüringer Wald, in: Der Wald 40, 1990, 359–361, 359. 156 BArch DK 1/28275 Institut für Forstwissenschaften Eberswalde, Jahresbericht 1983 über die wissenschaftlich-technischen Dienstleistungen (WtD) für das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Hauptabteilung Forstwirtschaft, durch die Abteilung Forstschutz des Bereiches Rohholzerzeugung IFE gemäß Arbeitsplan, pag. 1. 157 SAPMO DY 30/2836 Reichelt, Informationen zum Stand der Abgasentlastung, pag. 2. 158 SAPMO DY 30/2836 ebd., pag. Anlage 1. 159 BArch DC 20/I 3/2144 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß über weitere Maßnahmen zum Schutz der Wälder der DDR in den Jahren 1985/86. 20.3.1985, pag. Anlage 5.

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wurden im Thüringer Wald nicht gemessen.160 Im Umgang mit Beschwerden aus der Bevölkerung lässt sich ebenfalls eine klare Trennung zwischen dem Raum an der deutsch-deutschen Grenze und dem Erzgebirge feststellen. Generell scheint die Bevölkerung im Thüringer Wald die Schäden kaum wahrgenommen zu haben. Zumindest in den erhaltenen Eingaben an das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft spielten ausschließlich die Schäden im Erzgebirge eine Rolle, keine einzige Eingabe nahm auf die Waldschäden im Thüringer Wald Bezug. Eine mögliche Erklärung ist, dass nennenswerte Schadgebiete an der Westseite des Brockens lagen. Da dies Sperrgebiet war, traten die Waldschäden dort nicht im gleichen Maße ins Bewusstsein wie im Erzgebirge. Dort waren von der Fernstraße F 170 aus, der wichtigsten Verbindung zwischen Dresden und Prag, großflächig Absterbeprozesse zu beobachten. Herbert Wötzel berichtete jedoch, dass in Thüringen die Verunsicherung unter den Förstern größer gewesen sei, da die Schäden plötzlich aufgetreten seien und sich rasch ausbreiteten. Er sprach dabei auch von »Angst«, die stellenweise unter den Förstern vorhanden gewesen sei. Auch sei es vor Ort zu Diskussionen mit den Bewohnern gekommen. Darauf deutet auch ein Vorschlag des Leiters der Abteilung Landwirtschaft, Helmut Semmelmann, hin, den er seinem Vorgesetzten Felfe im Juni 1985 unterbreitete. Die Revier- und Oberförster im Thüringer Wald sollten geschult werden, damit sie »offensiv« mit Bevölkerung und Urlaubern diskutieren konnten.161 »Offensiv« konnte im Zusammenhang mit Umweltschäden durchaus mit »abstreitend« übersetzt werden, im Fall der neuartigen Waldschäden war der Sachverhalt differenzierter. Mit dem Aufbau eines Stickoxid-Messnetzes sollten die Förster Waldbesichtigungen durchführen, um Interessierte über die Ursachen der Schäden aufzuklären.162 Der Vorschlag Semmelmanns ist charakteristisch für den Umgang der staatlichen und Parteiorgane mit den Schäden im Thüringer Wald. Es galt der offizielle und in den offiziösen Darstellungen verbreitete Konsens, dass die Ursache im Westen lag, weshalb wesentlich freier mit Zahlen und Presseberichten umgegangen wurde. Die DDR sah sich hier als Teil eines Diskurses, der ganz Mitteleuropa erfasste. Es waren nicht die sozialistischen Staaten, die mit ihren ineffizienten Industrien den Kontinent belasteten, sondern eine aus den kapitalistischen Staaten kommende, völlig neuartige Erscheinung. Die im Inneren vorgenommene und strikt durchgehaltene Trennung in klassische und neu-

160 BArch DK 5/4347 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Auszug aus dem Bericht 1/83 des Westeuropäischen EMEP-Zentrums (Norwegisches Meteorologisches Institut, Westeuropäisches meteorologisches Synthese-Zentrum im Programm EMEP; Projektkoordinator Anton Eliassen), o. pag. 161 SAPMO DY 30/120 Helmut Semmelmann, Information für Genossen Felfe zu Lage auf dem Gebiet des Forstschutzes im Bezirk Suhl. 7.6.1985, pag. 6. 162 DY 30/120 ebd., pag. 6.

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artige Waldschäden erlaubte es der SED, sich in Fragen der letzteren als Opfer zu begreifen. Dementsprechend ›liberal‹ gestaltete die Partei in diesem Bereich der Waldschäden die Informationspolitik. Tharandt und die neuartigen Waldschäden Der schnelle Schadfortschritt im Thüringer Wald und das differenzierte Schadbild erinnern an die Beobachtungen in der Bundesrepublik, die sich von den chronischen Rauchschäden unterschieden. Damit erscheint die Dichotomie nicht völlig unplausibel, politisch war sie zumindest gewünscht. Einigkeit darüber herrschte unter den Forstwissenschaftlern der DDR jedoch nicht. Harald Thomasius, Professor für Waldbau in Tharandt, wollte auch im Erzgebirge gezielt nach neuartigen Waldschäden suchen.163 Er war als hoher SED-Funktionär Reisekader und wesentlich besser über die westdeutsche Waldsterbensforschung informiert als Hans-Günther Däßler. Dieser lehnte solche Ansinnen ab, wollte sich an einer Umdeutung der Schäden nicht beteiligen und verfolgte die traditionelle Rauchschadenforschung Tharandter Prägung weiter. Für ihn war das Problem Erzgebirge mit der Entschwefelung gelöst.164 Ähnlich wie Thomasius hatte Reichelt auf seinen Reisen in die Bundesrepublik und im Austausch mit westdeutschen Politikern und Wissenschaftlern verstanden, dass die Waldsterbensdebatte in der BRD eine andere Qualität hatte als die bekannten Rauchschäden. Er nahm die herrschende Unsicherheit wahr und sah, wie die westdeutschen Wissenschaftler komplexen Schadursachen auf der Spur waren und dabei Substanzen in den Blick nahmen, für deren Messung die DDR noch nicht einmal Geräte hatte. Auf internationaler Ebene diente die Tharandter Erfahrung weiter als Ausdruck von Kompetenz. Auf der XIII. Arbeitstagung Forstlicher Rauchschadensachverständiger 1984 in Most führte Joachim Piesnack, Mitarbeiter im MLFN, aus, dass die »Partei- und Staatsführung der DDR« wiederholt »die aktuelle Situation in den Wäldern umfassend analysiert« habe. Dabei könnten sich »die Forstleute der DDR auf 130 Jahre lange Forschungsergebnisse der Rauchschaden­ forschung, besonders der Sektion Forstwissenschaft Tharandt der TU Dresden, stützen«.165 Das Wort Tharandts hatte Gewicht in der internationalen Rauchschadenforschung. Zumindest war dies lange Zeit so gewesen. Bis Mitte der 163 Gespräch mit Harald Thomasius am 13.10.2009. 164 Gespräch mit Hans-Günther Däßler am 29.9.2010. 165 Joachim Piesnack, Die Massnahmen der DDR zur Bewirtschaftung immissionsgeschädigter Wälder, in: Forschungsanstalt für Forstwirtschaft und Jagdwesen JílovištěStrnady (Hrsg.), XIII. Internationale Arbeitstagung Forstlicher Rauchschadensachverständiger. Most 1984, 228–229, 228.

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1960er Jahre bestand ein intensiver fachlicher Austausch zwischen den Rauchschadenforschern in Ost- und Westdeutschland. Die restriktivere Geheimhaltungs- und Publikationspolitik der SED ab den 1970er Jahren kappte diese Verbindungen weitgehend und koppelte die Rauchschadenforschung vom internationalen Forschungsdiskurs ab. Däßler und seine Mitarbeiter befassten sich primär mit methodischen Fragen und den physiologischen Schädigungen innerhalb der Pflanzen durch Schwefeldioxid und Schwermetalle. Sie beteiligten sich zudem immer weniger an der internationalen Zusammenarbeit. Martin Bemmann hat die Internationalen Arbeitstagungen forstlicher Rauch­ schadensachverständiger als einen Ort des »wissenschaftlichen Austausches« und als »internationales Expertennetzwerk« bezeichnet.166 Von diesen Treffen zog sich Däßler ab Mitte der 1970er Jahre immer mehr zurück. Hinzu kam, dass er nicht zu den Treffen im westlichen Ausland fahren durfte. Die beiden Tagungen, die den Beginn der Waldsterbensdebatte in der BRD einrahmten, 1980 in Graz und 1982 im finnischen Oulu, fanden ohne ihn statt. Die DDR-Forstwissenschaft beteiligte sich nicht mehr an den internationalen Expertentreffen und verpasste den Anschluss an aktuelle Forschungsansätze. Ökosystemare Überlegungen, wie etwa die Arbeiten Bernhard Ulrichs im Solling, hatten in der DDR kein Gegenüber. Stattdessen konzentrierte sich die Tharandter Forschung weiterhin auf den linearen Zusammenhang bekannter Schwefeldioxidschäden. Auch wenn die Entfernung zwischen Quelle und Schäden immer weiter, das betroffene Gebiet immer größer und die ermittelte toxische Konzentration immer geringer wurde, bestand aus ihrer Sicht doch stets Gewissheit über den Ort der Emissionen und die toxischen Substanzen. Unter diesen Grundannahmen hatten westliche Befürchtungen vor einem nahen Ende des Lebensraumes Wald keinen Raum. Mit dieser Ausrichtung war die ostdeutsche Rauchschadenforschung in der Bundesrepublik nicht mehr anschlussfähig und wurde nicht mehr wahrgenommen. Daran änderte auch das von Reichelt angestoßene Forschungsprogramm von 1985 nichts. Eine der Ursachen dafür war, dass der DDR die ökonomischen und technischen Mittel fehlten, um zur westdeutschen Forschung aufzuschließen. Ein Beispiel ist die Messstation Oberbärenburg. Die 1983/84 aufgebaute Station diente dazu, den Stofffluss zu ermitteln. Mit der »Intensivmessstation« wollten die Tharandter Wissenschaftler Dauermessungen im Freiland und unter Bestand durchführen, um die Auswirkungen saurer Niederschläge zu beobachten. Das Forschungsdesign erinnert an das Solling-Projekt Ulrichs, das ein Anfangspunkt der Waldsterbensdebatte gewesen war. Kurz nach Inbetriebnahme der Station brach jedoch die Stromversorgung zusammen, so dass sie neun Monate nicht benutzt werden konnte. Im Abschlussbericht 1988 zogen die Forstwissenschaftler eine nüchterne Bilanz: 166 Bemmann, Beschädigte Vegetation und Sterbender Wald, 383 und 385.

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Im internationalen Maßstab ist das Meßnetz durch das Fehlen sicher funktionierender registrierender Meßgeräte absolut veraltet. Des Weiteren fehlen Möglichkeiten zur Erfassung der O₃- und NOx-Belastung sowie anderer Fremdstoffkomponenten.167

In den Laboren fehlten Chemikalien und Auswertungsapparaturen. Ende der 1980er gingen durch Verschleiß mehr SO₂-Messgeräte verloren, als neue gefertigt werden konnten.168 Das MLFN bemühte sich, beim VEB Carl Zeiss Jena einen Atomabsorptionsspektrometer zu besorgen, des Weiteren Spezialmikroskope und Kontrastmittel. Die eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten, vor allem das unzureichende Messnetz, machte alle »analytischen Arbeiten zur Aufklärung der Ursache-Wirkung-Beziehung vor allem bei den neuartigen Waldschäden« unmöglich.169 Damit waren alle Forschungen spezifisch forstlicher Prägung hinfällig. Der VEB Carl Zeiss Jena konnte nicht liefern, da die ganze Produktion für den Export und den »volkswirtschaftlich dringlichsten Bedarf« reserviert war. Daher versuchte das Forstministerium aus Österreich die notwendige Messtechnik sowie benötigte Schwermetalle zu beziehen. Aber auch hier hatte man keinen Erfolg. Als Notlösung gründete das MLFN gemeinsam mit dem Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik eine Arbeitsgruppe »Anforderungen an die Bereitstellung von Meßtechnik zur Überwachung der Umwelt«.170 Erst im Dezember 1987 trafen sich Vertreter aus Forstwissenschaft und Meteorologischem Dienst, um den Aufbau eines Stickoxid-Messnetzes zu besprechen. Die Forstwissenschaftler durften dabei auf die Messwerte des Meteorologischen Dienstes zurückgreifen, die allerdings nicht im Wald bzw. Waldnähe lagen. Zudem sollten zwei weitere NOx-Messstellen in größeren Waldgebieten eingerichtet und ein mobiler Messwagen beschafft werden.171 Vor diesem Hintergrund ist es leicht ersichtlich, dass die ostdeutsche Waldschadensforschung international nicht mehr konkurrenzfähig war. Die Zahl der Mitteilungen der AG »Forstliche Rauchschadenforschung Tharandt« erreichte 1984 einen relativen Höhepunkt, lag absolut aber weiterhin auf niedrigem Niveau.172 Das fehlende Messnetz verschaffte der DDR auch international handfeste Nachteile, da sie sich bekanntlich im Fall der neuartigen Waldschäden als Op 167 UA der TUD, Sekt 21 671, Bereich Pflanzenchemie, Abschlußbericht »Untersuchungen des Fremdstoffgehaltes der Luft sowie des pH und des ionengehaltes von Niederschlägen« Meßnetz Erzgebirge. 6.5.1988, pag. 78. 168 Institut für Soziologie und Sozialpolitik Akademie der Wissenschaften der DDR, Sozialpolitik konkret. Zur Umweltsituation in der DDR. Berlin (Ost). 1990, 14. 169 BArch DK 1/28722 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Außergewöhnliche Immissionssituationen und Beschaffung von Messgeräten, Brief Biebersteins an Rüthnick vom 23.12.1986. 170 BArch DK 1/28722 ebd., Brief vom 2.9.1987. 171 BArch DK 1/28722 ebd., Protokoll vom 1.12.1987. 172 Vgl. dazu Abbildung 4.

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fer westdeutscher Emissionen präsentieren wollte. Es fehlten aber über die reine Propaganda hinaus belastbare Daten, »um beweiskräftig auftreten zu können«.173 Felfe offenbarte damit, dass er genau wusste, dass die DDR-Bemühungen im Westen nicht ernst genommen wurden. Da diese Nachricht für Honecker bestimmt war, musste der Generalsekretär es ebenfalls wissen. Die Sektion Forstwirtschaft Tharandt selbst gab ihre Ratlosigkeit kurz vor der Wende in einem Forschungsbericht zu Protokoll. Am 5.Mai 1989 schrieben die Wissenschaftler: »Der Gesundheitszustand des Waldes wird von einem Faktorkomplex geprägt, der in seinen Wirkungen auch heute noch auf weiten Strecken der wissenschaftlichen Durchdringung widersteht.«174 Die ökologische Waldzustandskontrolle Seit 1970 überwachte der VEB Forstprojektierung Potsdam (FPP) die rauchgeschädigten Waldgebiete nach einem eigenen System, der Schadzonenkartierung, die in den 1960er Jahren in Tharandt entwickelt worden war. Die für 1981 angegebenen Schadflächen basierten ebenfalls auf diesem Erhebungsverfahren.175 1984 führte die BRD erstmals im gesamten Bundesgebiet die Waldschadenserhebung durch. Zeitgleich kam in der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR die Idee auf, einen Forst-Umwelt-Überwachungsdienst einzurichten.176 1985 beauftragte dann der Ministerrat das IFE Eberswalde und den VEB Forstprojektierung, ein neues Erhebungsverfahrung zu entwickeln.177 Im Rahmen der ECE gab es von den westlichen Ländern ab 1985 die Bestrebung, die Erfassung von Waldschäden auf eine einheitliche Basis zu stellen, um die Ergebnisse vergleichen zu können. Für die DDR nahm Gerhard Hofmann aus Eberswalde an der ersten Sitzung der ECE-Arbeitsgruppe »Überwachung und Bewertung von Wirkungen der Luftverunreinigungen auf die Wälder« teil. Wie schon in der Frage der Luftverunreinigungen einigte sich die Arbeits-

173 BArch 30/122 Felfe, Information zur gegenwärtigen Situation der durch Immission geschädigten Wälder in der DDR sowie weitere Vorschläge für Maßnahmen zum Schutz und zur Erhaltung der Wälder, pag. 2. 174 UA der TUD, Sekt 21 497, Bereich Pflanzenchemie, Forschungsbericht, »Testuntersuchungen zur Auswahl geeigneter Stimulantien und Wirkstoffe für die Minderung der Immissionswirkungen in SO₂-beeinflußten Fichtenbeständen durch Kabinentests und Freilandversuche«. 5.5.1989, pag. 6. 175 Lux, Pelz, Schadzone und Schadstufe und Milnik, Verantwortung, 360. 176 SAPMO DY 30/1740 Sektion Forstwissenschaft Akademie der Lanwirtschaftswissenschaften, Einrichtung eines Forst-Umwelt-Überwachungsdienstes. 1.7.1984, pag. 1. 177 BArch DC 20/I/3/2127 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur Wertstoffgewinnung und zur Erhöhung der Energieausbeute durch Rauchgasentschwefelung, pag. 47–54.

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gruppe auf die Gründung zweier Zentren zur »Auswertung und Verdichtung nationaler Daten«. Das Zentrum Ost wurde das Institut für Forstwirtschaft und Jagdwesen in Zbraslav/ČSSR.178 Auf dessen erster Klausurtagung im Februar 1986 erklärte sich die DDR nur zur Mitarbeit bei der Ausarbeitung von methodischen Grundlagen bereit. Auf keinen Fall wollte sie Daten an die ECE-Organe übermitteln.179 Ende Juni 1986 beschloss der Ministerrat den Aufbau einer »ökologischen Waldzustandskontrolle« nach internationalen Kriterien.180 Der VEB Forstprojektierung konnte dabei auf die Vorarbeiten seit 1984 zurückgreifen. Je 1000 ha Waldfläche gab es eine Rasterfläche, in der gesamten DDR 2620. Hier erfolgte eine okulare Ansprache der Bäume. Auf 500 zusätzlichen Basisprobenflächen plante der VEB FPP alle vier Jahre zusätzliche Boden- und Nadelanalysen.181 1986 erfolgte die erste Aufnahme der Hauptbaumarten anhand Schweizer Erfassungsbögen. Kronenbild, Benadelungsgrad, Nadelfärbung und Vitalität wurden nach einem definierten Anspracheschlüssel erfasst.182 Später nahmen Mitarbeiter des VEB FPP in Freiburg/Brsg. an einem Trainingskurs zu methodischen Fragen der Erkennung und Beurteilung von Waldschäden teil. Im Oktober 1987 gab das Politbüro seinen Widerstand auf, die Daten der ökologischen Waldzustandskontrolle an die ECE zu übermitteln. Die Vorlage hatten nominell Reichelt und Lietz verfasst, und beide drängten auf eine partielle Aufhebung der Geheimhaltungsvorschriften für Umweltdaten. Für das MFLN war die Abteilung Neuartige Waldschäden unter Wötzel maßgeblich an der Redaktion beteiligt.183 Die Geheimhaltung habe keinen Sinn mehr, da die westlichen Staaten mittels Fernerkundung bereits sehr detailliert über die Waldschäden informiert seien. Da bereits andere Länder aus dem RGW ihre Daten übermittelt hätten – darunter auch die ČSSR – könne die DDR ihre Haltung nicht länger behaupten, ohne ihr internationales Ansehen zu riskieren.184 178 BArch DK 1/28724 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Rauchschäden in der Land- und Forstwirtschaft, Brief von Lietz an Felfe vom 14.8.1986. 179 BArch DK 1/28724 ebd., Brief von Lietz an Felfe vom 14.8.1986. 180 BArch DK 5/2126 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Aufgaben der Forstwirtschaft zur Sicherung der Produktion von Rohholz, zum Schutz der Waldbestände und zur weiteren Verbesserung der landeskulturellen Leistungen des Waldes  – Erhaltung und Schutz der Wälder –. 26.6.1986, pag. 6. 181 Roland Barth, Aufgaben der Forsteinrichtung bei der Planung und Entscheidungsvorbereitung von Rekonstruktions- und Stabilisierungsmaßnahmen in geschädigten Waldbeständen, in: Sozialistische Forstwirtschaft 18, 1988, 329–331, 330 Barth war der Direktor des VEB FPP. 182 Bieberstein, Inventur der Waldschäden und ökologische Waldzustandskontrolle in der Deutschen Demokratischen Republik, 270–271. 183 Gespräch mit Herbert Wötzel am 12.9.2011. 184 BArch DK 5/1506 Bruno Lietz, Hans Reichelt, Arno Donda, Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED. 20.8.1987, pag. 1.

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Politbüro und Ministerrat stimmten der Vorlage zu.185 Das Forstministerium durfte Ende 1987 die Daten an den ECE übermitteln. Gleichzeitig gestattete die Partei auch im Inneren eine relativ offene Verbreitung der Zahlen. Der Generalforstmeister Rudolf Rüthnick nannte in einem Artikel in der Sozialistischen Forstwirtschaft eine geschädigte Waldfläche von 37 Prozent. Dabei werde der Schadumfang noch weiter zunehmen.186 Gleich in zwei Aspekten bedeutete dies einen Bruch mit der bisherigen Kommunikationspolitik. Zum einen nannte Rüthnick konkrete Zahlen, und zum anderen waren diese Zahlen nicht in das Versprechen eingebunden, das Problem bald zu beheben. Im Mai 1989 legte der VEB Forstprojektierung die erste vollständige ökologische Waldzustandskontrolle zum Stand vom 31. Dezember 1988 vor: »Die Vitalitätsaufnahme im Rasternetz der öWK 1988 weist auf 44,4 % der Waldfläche der Deutschen Demokratische Republik in ihrer Vitalität geschwächte bzw. geschädigte Bestände auf.«187 Am umfassendsten war die Kiefer von Schäden betroffen, 51,6 Prozent der Bestände wiesen Schäden auf. Die schwersten Schäden traten jedoch bei der Fichte auf. Sie war zwar nur auf 40,9 Prozent der Baumartenfläche betroffen, dort jedoch besonders heftig. Am dynamischsten entwickelten sich die Schäden bei den Laubbaumarten. Insgesamt erkannte der VEB FPP einen ähnlichen Schadverlauf wie in der BRD »mit einer Verzögerung von 3 bis 4 Jahren«. Darauf aufbauend rechnete der Bericht mit einer Stagnation und einem Rückgang der Schäden ab 1990.188 Die neuen Erfassungsmethoden hatten zu einer ›Demokratisierung‹ der Schäden geführt. Die relative Reihenfolge der Bezirke blieb auch 1988 weitestgehend gewahrt, aber auch der Bezirk Rostock wies nun auf 29,3 Prozent der Waldfläche Schäden auf. 1981 waren hier noch keine Schäden festgestellt worden. Leipzig blieb mit 72,8 Prozent der am stärksten betroffene Bezirk. In eindeutigem Zusammenhang mit den veränderten Erhebungsverfahren und der ›Entdeckung‹ der neuartigen Waldschäden in der DDR steht der starke Zuwachs in den Bezirken Magdeburg (1981 2,4 Prozent, 1988 42,8 Prozent), Gera (7,3 und 51,1 Prozent) sowie Suhl (7,4 und 46,0 Prozent). Der Bericht wies darauf hin, dass die enormen Zunahmen der Flächen auf dem neuen Erhebungsverfahren beruhten, allerdings höben sich »von dem veränderten Grundniveau 185 BArch DK 5/2126 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Information über die Waldschadensfläche sowie über die Hauptrichtung der forstlichen Maßnahmen in der DDR zur Verminderung der Waldschäden. 5.11.1987. 186 Rudolf Rüthnick, Die Aufgaben der Forstwirtschaft bei der weiteren Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED, in: Sozialistische Forstwirtschaft 38, 1988, 257– 265, 262. 187 BArch DK 5/1717 VEB Forstprojektierung Potsdam, Bericht zur Vitalitätsaufnahme im Rasternetz der ökologischen Waldzustandskontrolle. Aufnahmejahre 1986 bis 1988. Potsdam. 1989, pag. 1. 188 BArch DK 5/1717 ebd., pag. 2.

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der Benadelung/Belaubung […] die bekannten SO₂-Immissionsschadgebiete nach wie vor ab«.189 Zahlen zur Waldschadensfläche standen ab 1988 im Statistischen Jahrbuch der DDR. Für 1987 wurden 37 Prozent und für 1988 44 Prozent angegeben. Die Zahlen gaben damit die Ergebnisse der ökologischen Waldzustandskontrolle wieder. Bei den Schwefeldioxidemissionen schönte die DDR ihre Angaben. Den 4,99 Mio. Tonnen im Statistischen Jahrbuch standen etwa 5,5 Mio. Tonnen gegenüber, die die Emissionskontrollen erfassten.190 Die Preisgabe der Wald­ schadenszahlen bedeutete für die DDR keinen internationalen Gesichtsverlust. Hier war die Geheimhaltung – wie Reichelt und Lietz betont hatten – die größere Gefahr. In der parteieigenen Agitationszeitschrift Was und Wie war dafür auch ein Grund zu lesen. Der Wert von 44 Prozent sei zwar hoch, in der Bundesrepublik lag er aber mit 52,4 Prozent noch höher.191 Die Zahlen waren valide, entsprachen internationalen Kriterien und ließen die DDR in einem vergleichsweise positiven Licht erscheinen. Vollkommen unterschiedlich gestaltete sich die Sachlage bei den Schwefeldioxidemissionen. Es gelang der DDR nicht, das 30-Prozent-Ziel auch nur annäherungsweise zu erreichen. Die erfolgreichen Entschwefelungsmaßnahmen im westlichen Europa verschlimmerten zusätzlich die Transportbilanzen. Ende der 1980er Jahre war die DDR etwa für 7,4 Prozent der Schwefeldepositionen in Norwegen verantwortlich, gerade 0,9 Prozent der eigenen Emissionen führten dazu, dass in Norwegen mehr DDR-Schwefel niederging als norwegischer.192 Ähnlich gestaltete sich die Situation in Schweden. Der MD rechnete damit, dass spätestens 1995 die DDR-Schwefelemissionen einen höheren Anteil an den Schwefeldepositionen gehabt hätten als die schwedischen.193 Die Entschwefelungsmaßnahmen in der Bundesrepublik vergrößerten den Anteil der DDR-Depositionen dort ebenfalls beständig. Für 1995 ging der MD dabei von 22 Prozent aus, trotz der in Mitteleuropa vorherrschenden Wind­ richtung West.194 Diese Zahlen waren außenpolitisch Ballast, weshalb die zu 189 BArch DK 5/1717 ebd., pag. 2. 190 HStA Dresden 11452/216 Ministerium für Gesundheitswesen, Bericht der Staatlichen Hygieneinspektion über die Situation auf dem Gebiet der Lufthygiene 1989. Berlin. 1990, pag.  10 und Statistisches Jahrbuch 1988 der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin (Ost) 1988, 155. 191 Anonymus, Schutz unserer Wälder, in: Was und Wie. Informationen, Argumente, Übersichten für den Agitator, 1989, 18–20, 19. 192 BArch DK 5/4247 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Es geht um die Messung von Luftverunreinigungen und deren Ausbreitung mittels Flugzeugen, die mathematische Modellierung des grenzüberschreitenden Transports, Diskussionen um Schornsteinhöhe. 1978–1990. 193 BArch DK 5/4346 W. Böhme, Schwefel- und Stickstoffbilanz im EMEP-Bereich unter besonderer Berücksichtigung der DDR. 10.4.1989, pag. 6. 194 BArch DK 5/4346 ebd., pag. 6.

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ständigen Stellen in Partei und Staat versuchten, sie konsequent unter Verschluss zu halten.

4.1.4 »Waldsterben« in der DDR Am 24.  Januar 1986 führte Erich Honecker ein Interview mit Theo Sommer, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit. Sommer sprach dabei das Thema Umweltschutz an, Honecker bezog die Frage sofort auf Waldschäden. Er gab Probleme im Bereich Umweltschutz zu, den »Begriff ›sterbende Wälder‹ können wir bei uns allerdings nicht prägen«. Die Wälder in der DDR seien gesund. Honecker machte allerdings eine Ausnahme: »Am Fichtelberg und in dem gesamten Raum zur ČSSR hin« gebe es bedeutende Schäden.195 Der General­ sekretär gab als Referenz den Umweltminister an, der ihm diese Informationen übergeben habe. Tatsächlich entsprach diese Darstellung den Vorstellungen, die das MUW, das MLFN und die Abteilung Landwirtschaft des ZK Ende 1985 von Waldschäden hatten. Das Erzgebirge und die Dübener Heide litten unter Schwefeldioxidimmissionen, ansonsten sei der Wald gesund. In der Bundesrepublik löste das Interview Irritationen aus, galt doch das Erzgebirge als ›Prototyp‹ des Waldsterbens, als das Versagen staatlicher Umweltpolitik. Die westliche Deutung der offiziellen DDR-Verlautbarungen können hier nur am Rande angeschnitten werden. Stattdessen wird hier die Reaktion der staatlichen Institutionen und der SED-Parteiorgane auf die vom Westen in den Osten getragene Waldsterbensdiskussion in den Blick genommen. In einem ersten Schritt werden die offiziellen Darstellungen zum Komplex Luftreinhaltung und Waldschäden betrachtet. Daran schließt sich ein Blick auf den Umgang von staatlicher Seite mit von Einzelpersonen vorgebrachten Beschwerden an. Dies erzwingt eine Auseinandersetzung mit dem für sozialistische Staaten charakteristischen Eingabewesen. Die Reaktion des Staates und der SED auf den Protest sich organisierender Umweltgruppen wird in den sich anschließenden Kapiteln ausführlich thematisiert. Einführend lässt sich festhalten, dass der Umgang der SED mit Kritik sehr volatil war und Konjunkturen folgte. In den 1950er und 1960er Jahren konnte das Problem der Waldschäden sehr offen angesprochen werden, die Publikation von Zahlen war keinen Restriktionen unterworfen. Zum einen handelte es sich hierbei um einen engen Fachdiskurs mit überschaubarer Teilnehmerzahl, zum anderen war das Phänomen für den Großteil der Bevölkerung nicht wahrnehmbar und völlig uninteressant. Mit dem Erstarken der Umweltbewegung Ende der 1960er Jahre in der westlichen Welt und der offensiven Besetzung der Thema 195 Honecker, Wir sind für den Frieden auf der Erde und im Kosmos. Interview des Chefredakteurs der BRD-Wochenzeitung »Die Zeit«, Dr. Theo Sommer 24. Januar 1986, 224.

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tik durch die SED geriet die Partei unter Druck. Verkürzt galt die Formel, dass die Umweltschäden im Westen ein Beweis für die Untauglichkeit des Kapitalismus seien. Allein der Sozialismus könne dauerhaften Wohlstand und eine intakte Umwelt schaffen und erhalten. Je stärker Umweltschutz als Legitimationsgrundlage aufgebaut wurde, desto mehr musste der Blick aus dem eigenen Fenster irritieren, wenn er auf verdorrende Waldbestände fiel. Ulbricht verfolgte die Idee des Umweltschutzes wesentlich konsequenter und stringenter als Honecker, der die Konzepte des Vorgängers der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik opferte. Dies verursachte keine Konflikte, so lange sich niemand im In- und Ausland für den Zustand der Umwelt interessierte. Um ein solches Interesse von Anfang an nicht aufkommen zu lassen, unterdrückte die SED Meldungen und Forschungsberichte. Nach 1972 durften die Forstwissenschaftler in öffentlich zugänglichen Publikationen keine Zahlen mehr zu Luftbelastung sowie Ausdehnung und Schwere der Waldschäden nennen. Alle entsprechenden Hinweise mussten entfernt werden. Als das Institut für Energetik 1980 eine Publikation zu Entschwefelungsverfahren veröffentlichen wollte, strich das MUW den Satz »[z]ur ungefähren Charakterisierung der Relation« mit dazugehöriger Tabelle von Messwerten aus dem Manuskript.196 Mit dem Aufkommen der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte wurde allerdings der Druck auch innerhalb der DDR höher, die eigene Bevölkerung über den Zustand der Wälder zu informieren. Ende März 1983 sandte das Forstministerium einen »Plan der Öffentlichkeitsarbeit zum Schutz der Wälder der DDR« an Felfe. Zuerst berichtete das Ministerium über die aktuelle Entwicklung der Schäden in den Wäldern, im zweiten Teil machte das Ministerium im »Argumentations- und Faktenmaterial für die Öffentlichkeitsarbeit zum Schutz der Wälder der DDR« Vorschläge, was man davon an die Öffentlichkeit weitergeben könnte. Die Einleitung ist dabei im charakteristischen Erfolgston formuliert. »Über 47.000 Forstarbeiterinnen und Forstarbeiter, Forstingenieure und Wissenschaftler« sicherten im Einklang mit der SED und den Beschlüssen vom X. Parteitag die »Versorgung der Volkswirtschaft mit Rohholz und Konsumgütern«, der Volkswirtschaftsplan sei selbstredend »erfüllt und teilweise überboten« worden.197 Allerdings litten die Wälder unter verschiedenen biotischen und abiotischen Schadeinflüssen. In der folgenden Aufzählung quittierte Felfe die Schnee- und Windbruchschäden, die Trockensommer sowie die Waldbrände mit einem Haken als Zeichen seines Einverständnisses. Den Hinweis auf Emissionsschäden durch Schwefeldioxid und Fluor hatte er rot markiert. Im Folgenden ist das Wort »Rauchschäden« jedes Mal angestrichen, der Satz »Auch 196 W. Kluge, Methoden zur Reinhaltung der Luft: Rauchgasentschwefelung. 1980, 5. 197 SAPMO DY 30/118 Bruno Lietz, Argumentations-und Faktenmaterial für die Öffentlichkeitsarbeit zum Schutz der Wälder der DDR. 31.3.1983, pag. 1.

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die Wälder der DDR werden dadurch [SO₂, T. H.] gebietsweise erheblich negativ beeinflusst« in Gänze. Im Endergebnis lehnte er die Vorlage mit dem handschriftlichen Vermerk »geht so nicht« ab.198 Gut drei Jahre später legte Forstminister Bruno Lietz erneut »Fakten- und Argumentationsmaterial für die Öffentlichkeitsarbeit« vor. An der Einleitung hatte sich bis auf die Zahl der Forstarbeiterinnen nichts geändert. Die Hinweise auf die Immissionsschäden konnte Felfe allerdings nicht mehr vollkommen herausstreichen, da dies zu massiv den Erfahrungen der Bevölkerung wider­ sprochen hätte. Das MLFN behalf sich mit einer Verdrehung von Ursache und Wirkung. Die starken Wind- und Schneebrüche hätten die Bestände anfälliger für Luftschadstoffe gemacht, dem »akuten Nährstoffmangel« begegne die Forstwirtschaft mit Düngung. In der DDR gebe es eine »Strategie der Bewirtschaftung immissionsgeschädigter Wälder« sowie »[k]omplexe waldbauliche Maßnahmen«, etwa die Aufforstung mit rauchtoleranteren Baumarten.199 Stärker noch als zwischen den SED-Mitgliedern Felfe und Lietz kam das Machtgefälle innerhalb der doppelten Leitungshierarchie der DDR, also vom SED-Zentralsekretariat zum staatlichen Ministerium, zwischen Günter Mittag, Horst Wambutt und Hans Reichelt zum Ausdruck. Ende der 1980er Jahre wollte der Umweltminister ein grundlegendes Buch zum Umweltschutz in der DDR schreiben. Mittag gab ihm in seiner Eigenschaft als ZK-Sekretär für Wirtschaft die notwendige Erlaubnis. 1987 gab Reichelt das Manuskript Umweltschutz und ökonomische Strategie beim Dietz-Verlag ab, kurze Zeit später war die Druckreife erreicht. Der Druck erfolgte nicht, da der Verlag von Mittag, der alle Publikationen zum Umweltschutz freigeben musste, keine Freigabe erhielt. Reichelt erkundigte sich bei ihm, erhielt aber keine Erklärung. Die Druckfahnen wurden vernichtet und Reichelt erhielt sein Manuskript zurück.200 Nach Reichelts Aussage war Mittag nicht bereit, mit ihm über das Thema Umweltschutz zu diskutieren. In Mittags Denken hätten sich wirtschaftliche Entwicklung und Umweltschutz gegenseitig ausgeschlossen. Mehrmals habe er selbst eine Vorlage zur Aufhebung des Geheimnisbeschlusses von 1981 erarbeitet, aber nur Mittag hätte sie dem Politbüro vorlegen können. Am 2. November 1989, auf der zweiten Sitzung des Ministerrates nach der Demission Mittags, brachte Reichelt die Vorlage erneut ein und erreichte den Beschluss: »Umweltdaten über den Zustand der natürlichen Lebensumwelt der Bürger sind grundsätzlich öffentlich.«201 Am 8. November 1989 stimmte das Sekretariat des 198 SAPMO DY 30/118 Bruno Lietz, Plan der Öffentlichkeitsarbeit zum Schutz der Wälder. 31.3.1983, pag. 1. 199 SAPMO DY 30/121 Bruno Lietz, Argumentations-und Faktenmaterial für die Öffentlichkeitsarbeit zum Schutz der Wälder der DDR. 25.7.1986, o. pag. 200 Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010. 201 BArch DC 20/I/3/2863 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Verordnung über Umweltdaten. 2.11.1989, § 1.

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ZK der SED zu, ein Indiz für die veränderten Machtstrukturen.202 Bemerkenswert war zudem, wie das Umweltministerium die Aufhebung des Geheimnisbeschlusses begründete: In den zurückliegenden drei Jahren wurde die Zurückhaltung bei der Veröffent­ lichung von Umweltdaten jedoch zunehmend zum politischen Hindernis. In den entwickelten Industriestaaten ist die natürliche Umwelt und ihre Erhaltung in­ zwischen Teil  der Lebensqualität der Menschen. Sie werden demzufolge durch die verant­wortlichen Organe laufend und im erforderlichen Umfang über Meß­daten zur Umweltbelastung informiert. Diese Informationen motivieren vielfach zur Wahrnehmung der persönlichen Verantwortung für die Sicherung der Arbeits- und Lebensbedingungen.203

Das Ministerium griff damit eine Entwicklung auf, die es bereits am Anfang des Jahrzehnts bemerkt hatte. In der Auswertung der Eingabentätigkeit vermerkte die Abteilung Umweltschutz schon 1982: Das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft registriert nicht nur eine starke quantitative Zunahme der Eingaben zu diesem Komplex. Bemerkenswert ist vielmehr die zunehmende Eindringlichkeit der Eingaben, das Zunehmen von Kollektiveingaben und Unterschriftensammlungen und die Tatsache, daß sich 1981 mehrere Betriebsbelegschaften mit Anfragen zur Situation im Erzgebirge an die Staatsorgane wandten.204

Das Eingabewesen der DDR war bisher nur am Rande Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. Stefan Wolle bescheinigte ihm »vormoderne Züge«, Felix Mühlberg kam zu einer differenzierteren Betrachtung.205 Das Eingabewesen habe durchaus »plebiszitäre Eigenschaften« besessen, und die Bürger konnten »teilweise massiven Einfluß auf politische Entscheidungen« nehmen. Mühlberg schätzte, dass in den 1980er Jahren die Gesamtzahl der Eingaben pro Jahr bei etwa einer Million lag, wobei mit großem Abstand die Wohnungsfrage den meisten Raum einnahm.206 Dagegen nahmen sich die Eingaben zu Umweltfragen bis zum Ende der DDR bescheiden aus. 1985 zählte die Abteilung Umweltschutz 305 an sie gerichtete 202 SAPMO DY 30/J IV 2/3/4461 Sekretariat des ZK der SED, Beschluß zur Verordnung über Umweltdaten. 8.11.1989. 203 BArch DC 20/I/3/2863 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß zur Verordnung über Umweltdaten, pag. 170. 204 BArch DK 5/75 Abteilung Umweltschutz Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Tageskopien 1981–1982, Eingabenanalyse für 1981. 205 Wolle, Welt, 53 und Felix Mühlberg, Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR. Berlin 2004. 206 Felix Mühlberg, Informelle Konfliktbewältigung. Zur Geschichte der Eingabe in der DDR. Dissertationsschrift. Chemnitz 1999, 36, 225 und 347–348.

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Eingaben, davon betrafen 104 das Problem der Luftreinhaltung. Im gleichen Jahr zählte das MUW in seinem Aufgabenbereich insgesamt 4374 Eingaben, den größten Teil  davon im Sektor Wasserwirtschaft. Lediglich 604 Eingaben befassten sich mit Umweltschutz, wobei das Ministerium hier nicht weiter differenzierte. Allerdings betraf dies auch solche Arten von Eingaben, wenn etwa ein Nachbar sich über einen anderen beschwerte, der an kalten Wintertagen das Auto warmlaufen ließ. Nach einer Erhebung des MfS hatte die Eingabentätigkeit im Erzgebirge 1975/76 einen ersten Höhepunkt erreicht. Dies war die Zeit, als es mit der Inbetriebnahme des Druckgaswerkes in Sokolov zu den ersten katzenkotartigen Geruchsbelästigungen kam. In den Eingaben wurde bereits vereinzelt ein Zusammenhang zwischen dem Gestank und den beginnenden Waldschäden hergestellt. Danach sank die Zahl der Eingaben und stieg bis 1979/80 auf eine neue Spitze an. Jetzt waren es fast ausschließlich die Waldschäden, die angesprochen wurden, häufig in Kombination mit der generell hohen Luftbelastung. Eingabenverfasser waren sowohl Einheimische als auch Urlauber. Im Mai 1979 etwa schrieb ein Berliner an Hans Reichelt: Bei der Rückreise nach einem kürzlichen Aufenthalt in der befreundeten ČSSR über Teplice-Zinnwald-Dresden fiel mir auf, daß der gesamte überschaubare Erzgebirgskamm nicht mehr vom saftigen Maiengrün der zahlreichen Nadelwälder geschmückt war, sondern im Gegenteil alle Anzeichen eines sterbenden, zugrundegehenden Waldes zeigte: braune Färbung, abfallende Nadeln etc.207

Ein Urlauber aus Döbeln schrieb im August 1980 an die Redaktion der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Urania: In unserem Urlaub weilten wir im Juli diesen Jahres in dem Kurort Oberwie­senthal. Als ein Besucher des Fichtelberges bot sich mir ein sehr trauriger Anblick. Alle Bäume, ob Nadel- oder Laubbäume auf dem Kamm des Berges sind abgestorben, tot. Dieses Bäumesterben zieht sich nach meinen Beobachtungen bereits bis in die Täler, so beispielsweise in das Naturschutzgebiet am Zechengrund. […] Winterfolgen können das nicht sein. Einwohner teilten mir in einer Unterhaltung mit, daß dieses Absterben bereits über einen längeren Zeitraum beobachtet wurde. Wir sprechen viel über den Umweltschutz und es wird in unserer Republik auch zweifelsfrei viel dafür getan. Jedoch so etwas dürfte meiner Meinung nach nicht passieren.208

Ein Abgeordneter aus Hammerunterwiesental wandte sich im Juni 1980 an die Redaktion der FDJ-Zeitung Junge Welt: 207 BArch DK 5/71 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, Eingabe vom 29.5.1979. 208 BArch DK 5/72 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingaben der Bevölkerung 1980–1982, Eingabe vom 1.8.1980.

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Wie bekannt ist, haben die Rauchschäden im oberen Erzgebirge durch Emission von SO₂ aus dem Böhmischen Becken ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Alle bisherigen Informationen hierzu scheinen den Tatbestand nicht richtig zu erfassen. Es ist Fakt, daß die Vegetationsschäden in den letzten beiden Jahren erheblich zugenommen haben.209

Und im Oktober 1981 schrieb Christine B. aus dem Erzgebirge direkt an das MUW: Vor ca. acht Jahren erzählte mir ein Förster vom bedrohlichen Zustand unseres Waldes und der Gefahr, daß bereits hektarweise erkrankter Wald vom Aussterben bedroht sei. Damals nahm ich diese Warnung sehr leichtfertig hin. Heute nun sind die Zustände in Wald und Luft selbst für den Laien zu einem Grund echter Besorgnis geworden. Der Anblick der Wälder mit ihren nadellosen Spitzen führt zu Fragen bei Einwohnern und Urlaubern, zu Unverständnis und Unruhen. Wie wird unsere Umgebung in 10 Jahren aussehen?210

Danach setzte die vom Ministerium bemerkte Verschärfung im Ton der Eingaben ein. Im Frühjahr 1982, etwa drei bis vier Monate nach dem SPIEGEL-­ Artikel, tauchte die Vokabel »Waldsterben« in den Eingaben auf, 1983 wurde sie in fast jeder einschlägigen Eingabe verwandt. Hinzu kamen andere aus dem westdeutschen Diskurs entlehnte Begriffe, etwa jener der »Versteppung«. Im Februar 1982 beschwerte sich beispielsweise ein Dresdner Bürger beim Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph: Die Waldgebiete der Oberlausitz, des Elbsandsteingebirges, des Erzgebirges und des Vogtlandes gehörten in der Vergangenheit zu den wichtigsten einheimischen Holzlieferanten und zu den beliebtesten Erholungszentren der DDR. Nun wird dieser Wald systematisch vernichtet! Quadratkilometer um Quadratkilometer diesseits und jenseits der Grenze zur ČSSR werden durch SO₂- und andere Abgase zerstört. Schlaue Maßnahmen örtlicher Behörden, die diesen Vorgang offenbar etwas ver­ zögern sollen, tun ein übriges, um den Artenreichtum und den Reiz dieser Gebiete Vergangenheit werden zu lassen. Eine Fahrt über dem Erzgebirgskamm gleicht einer Gespensterfahrt!211

Diese Eingabe von Klaus S. aus einem Erzgebirgsdorf erreichte den Ministerrat im März 1982: Geht diese Entwicklung gleichlaufend weiter, so wird unser schönes Erzgebirge, von dem unser Volksdichter und Sänger Anton Günther mit Recht singen konnte, daß da 209 BArch DK 5/72 ebd., Eingabe vom 12.6.1980. 210 BArch DK 5/70 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bürger, Eingabe vom 19.10.1981. 211 BArch DK 5/72 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingaben der Bevölkerung 1980–1982, Eingabe vom 3.2.1982.

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die Luft so frisch und rein und das Wasser so klar und kiesig ist, noch in diesem Jahrhundert eine Steppe ohne Lebensmöglichkeit werden.212

Vom März 1983 stammt folgende Eingabe eines Geraer Urlaubers an das MUW: Wir stehen an einem Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. […] Sichtbarstes Zeichen ist das, was landläufig als »Waldsterben« bezeichnet wird. Der Anblick des Kammwaldes des Erzgebirges läßt apokalyptische Visionen aufkommen. […] Die Ursachen sind mit Sicherheit so komplex, daß man schwerlich der hohen SO₂Emission allein die »Schuld« am Waldsterben zuschreiben kann. Aber mit Sicherheit ist sie im Fall des Erzgebirgswaldes, des ersten tödlich verwundeten Waldes in Europa ein ganz entscheidender Faktor gewesen.213

Die Liste ließe sich beliebig verlängern, die herrschende Tendenz wird an den gebrachten Beispielen ausreichend deutlich. Mit Auftreten der für Laien offensichtlichen Waldschäden setzte die Eingabentätigkeit ein, mit Beginn der Waldsterbensdebatte in der Bundesrepublik potenzierte sich die Eingabenzahl, und die Wortwahl und Argumentation erhielt zahlreiche Anregungen. Die Reaktion der staatlichen und Parteiorgane auf die Eingaben war erstaunlich moderat und änderte sich im gesamten Zeitraum nicht. Manchmal gab es eine persönliche Aussprache zwischen Eingabestellern und staatlichen Vertretern, meist ausführliche Antwortschreiben. 1978 antwortete Rüthnick auf eine Eingabe: Vegetationsschäden werden im Erzgebirge seit längerem beobachtet. Ursache dafür ist die Immissionssituation dieses Gebietes, insbesondere die Belastung mit Schwefeldioxid, im Zusammenhang mit der Realisierung des aus gesamtvolkswirtschaftlichen Erfordernissen notwendigen Energieprogramms in der ČSSR und in der DDR. Hinzu kommen in diesen Mittelgebirgslagen noch komplizierte meteorologische Bedingungen, die regional zu diesen Vegetationsschäden führen.214

Neben der direkten Nennung von Schwefeldioxid als Ursache aller Schäden gab er darüber hinaus zu, dass es für »die Pflanzenproduzenten in der Landund Forstwirtschaft […] keine Möglichkeit [gibt], aktiv gegen diese Schäden vorzugehen«.215 Maßgebliche Strategie war es, der Empörung und Entrüstung mittels Sachinformationen die Emotionalität und die Spitze zu nehmen. Davon erhofften 212 BArch DK 5/69 Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, Eingabe vom 16.3.1982. 213 BArch DK 5/4462 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingaben der Bevölkerung 1984, Eingabe vom 8.3.1983. 214 BArch DK 1/23073 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Eingaben an die HA Forstwirtschaft 1978, Antwortschreiben Rüthnicks vom 12.12.1978. 215 BArch DK 1/23073 ebd., Brief Rüthnicks vom 12.12.1978.

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sich die Behörden eine Eindämmung der Kommunikation. In den von Waldschäden betroffenen Gebieten war eine Verleugnung der Probleme zwecklos, auch die Eingaben schreibenden Urlauber erhielten ausführliche Antworten. Darüber hinaus fand das Phänomen in den Massenmedien nicht statt. Niemand, der nicht aus eigener Anschauung oder durch Mund-zu-Mund-Propaganda von den Schäden erfuhr, sollte von staatlicher Seite darauf aufmerksam gemacht werden. Nach Zatlin diente das Eingabenwesen dazu, die Unzufriedenheit der Bürger zu kanalisieren, um die »Entstehung einer Öffentlichkeit« zu unterbinden.216 Auf diese Weise beförderte es die Atomisierung der Gesellschaft, da jedes Problem auf ein persönliches Verhältnis zwischen Betroffenem und Staat reduziert wurde. Der »Zusammenschluß von Menschen mit ähnlichen Anliegen« sollte verhindert werden.217 Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung des Verbands Bildender Künstler im August 1983 im Fernsehturm Berlin. Dort waren unter anderem zwei Fotoserien zum Erzgebirge ausgestellt. »Die Serie Erzgebirge  II stellt auf 4 Bildern ›sterbende Wälder‹ dar, so wie sie in der Propaganda der BRD über die Erzgebirgswälder bekannt sind.« Mitarbeiter des MfS verdeutlichten der Ausstellungsleiterin, dass diese Bilderserien aus der Schau entfernt werden müssten. »Das Ziel muß sein, die Bilder aus der Ausstellung zu entfernen, da auch eine entsprechende pessimistische Aussage auch in Beziehung zwischen Serie I und II sichtbar wird.«218 Das MfS handelte allerdings – zumindest teilweise – zu spät. Am 6. September 1983 ging im MUW die Eingabe eines Berliners ein: In den letzten Jahren ist verstärkt zu hören und zu sehen, daß viele Initiativen und Interessengruppen im westlichen Ausland sich mit dem Problem »sauren Regen« und dem damit verbundenen Baumsterben beschäftigen. Es wird behauptet, daß es keinen ökologisch gesunden Wald in Mitteleuropa mehr gibt. Ein Besuch der letzten Fotoausstellung unter dem Fernsehturm zeigt mir, daß der Wald im Erzgebirge, zumindest Teile von ihm, einer Mondlandschaft glich.219

Die SED war darum bemüht, die Waldschäden in der lokalen Diskussion zu halten und bediente sich dabei des Mittels der Eingabe. An dieser Informa­ tionspolitik änderte sich erst Ende der 1980er Jahre etwas. 1987 bemerkte die westdeutsche Fachzeitschrift Holz-Zentralblatt, dass sich das Waldsterben in der DDR nun auch in den Medien ausbreite.220 Bis dato hatte es lediglich dann 216 Jonathan R. Zatlin, Ausgaben und Eingaben. Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 45, 1997, 902– 917, 903. 217 Ebd., 916. 218 BStU MfS HA XVIII 18635 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Rudolf Rüthnick, pag. 233–234. 219 BArch DK 5/68 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, Eingabe vom 6.9.1983. 220 Anonymus, Waldsterben in der DDR breitet sich jetzt auch in den Medien aus, in: Holz-Zentralblatt 134, 1987, 2046.

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Presseberichte über Luftverschmutzung und Waldschäden gegeben, wenn die DDR ein neues Verfahren zu ihrer Vermeidung bzw. Verhinderung entwickelt hatte.221 1987 begann der Generalforstmeister Rüthnick das Problem offensiver zu kommunizieren, zuerst in Fachzeitschriften mit kleinerer Auflage und begrenztem Leserkreis222, 1988 schließlich im Neuen Deutschland.223 Rüthnick referierte im Interview die Ergebnisse der aktuellen ökologischen Waldzustandskontrolle und gab sie ungeschönt wieder. Als die Journalisten vorsichtig nach den Wäldern »in den Hochlagen unserer Mittelgebirge« fragten, antwortete Rüthnick ausweichend. Er gab Immissionsschäden zu, ordnete diese aber gleichberechtigt in andere Schadfaktoren wie Frost, Dürre, Sturm, Schnee, Insekten und Feuer ein. In Bezug auf die Schäden im Thüringer Wald sprach er von »revitalisiertem Wald«. Im Übrigen könne sich die DDR auf die Er­fahrung der Sektion Forstwissenschaft in Tharandt verlassen, die schon seit »über 100 Jahren« an dem Problem arbeite. Der Kommunikationslinie, Schäden zuzugeben, aber Panik zu vermeiden, folgten alle weiteren Artikel zum Thema.224 Auch in den Bezirkszeitungen fanden die Waldschäden ab 1987 Beachtung. Beliebt waren Berichte von Forsteinsätzen oder Düngungsmaßnahmen.225 Einen Höhepunkt in dieser Richtung stellte ein Doppelartikel in der auflagenstarken Wochenzeitschrift Die Wochenpost vom Mai/Juni 1989 dar. Der Bericht beschrieb detailliert den Entstehungsvorgang des ›Sauren Regens‹ und bekannte, dass die DDR über kein effektives Mittel der Rauchgasentschwefelung verfüge, das Kalkstein-Additiv-Verfahren sei kein probates Mittel. Zudem brächten die hohen Schornsteine keine Entlastung, sondern vergrößerten das Problemgebiet lediglich. Dieser Artikel stellte einen eklatanten Bruch mit den bisherigen Erfolgsmeldungen dar. In einem Punkt blieb der Artikel allerdings alten Kommunikationsmustern verhaftet. 221 Vgl. etwa B. Kahn, F. Grossmann, Erfolgreiche Verfahren zur Rauchgasentschwefelung erprobt und angewandt, in: Neues Deutschland, 14.10.1983, 4. 222 Vgl. Rudolf Rüthnick, Gesellschaft für Natur und Umwelt und Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. Partner für Naturschutz, in: Natur und Umwelt, 1987, 57–62 oder Rudolf Rüthnick, Was geschieht zur Erhaltung unserer Wälder, in: Was und Wie. Informationen, Argumente, Übersichten für den Agitator, 1987, 17–19. 223 Jochen Fischer, Fred Hasselmann, Unser Wald  – Quelle des Lebens. ND-Interview mit Generalforstmeister Rudof Rüthnick, Stellvertreter des Landwirtschaftsministers, in: Neues Deutschland, 15./16.10.1988, 9.  Vgl. auf der gleichen Seite den Bericht über einen Förster im Thüringer Wald. Manfred Martin, Er denkt an kommende Generationen. Förster Hans Schmidt aus dem Thüringer Wald sorgt sich um jeden Baum im Revier, in: Neues Deutschland, 15./16.10.1988, 9. 224 Etwa Friedrich-Karl Helmholz, Adolf Sturzbecher, Wie bei uns Abgeordnete für die Gesunderhaltung des Waldes sorgen, in: Neues Deutschland 44, 19.5.1989, 3 oder Rudolf Rüthnick, Unser Wald in guten Händen. Wie wir ein Stück Verantwortung für heutige und künftige Generationen wahrnehmen, in: Neues Deutschland 44, 23.9.1989, 9. 225 Anonymus, Mi 8-Einsatz zur Düngung von Wäldern. Vorbildliche Arbeit der so­ wjetischen Besatzung, in: Freie Presse, 3.6.1988.

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Die emittierte Schwefeldioxidmenge war mit 4,99 Mio. Tonnen rund 0,6 Mio. Tonnen zu niedrig angegeben. Zudem sollte das Problem durch die Erneuerung alter Kraftwerksblöcke bald energisch angegangen werden.226 Das Eingabewesen war eine der wenigen legalen Formen des Konfliktaustrages in der DDR. Die angeführten Beispiele haben deutlich gemacht, dass diese Form im Falle der Waldschäden im Erzgebirge auch angewandt wurde. Die Zahl der Eingaben an die Abteilung Umweltschutz verneunfachte sich zwischen 1975 von 95 auf 881 im Jahr 1988. Davon betraf nur ein Bruchteil die Lage im Erzgebirge, aber auch deren Zahl nahm zu. Drei Dinge lassen sich aus diesen Zahlen schließen. Zunächst lassen die gestiegenen Zahlen eine gewachsene Sensibilität der DDR-Bevölkerung Umweltfragen gegenüber vermuten. Dabei folgte die Entwicklung häufig den westdeutschen Konjunkturen. Als etwa 1985 in WestBerlin Smog-Alarm gegeben wurde, explodierte die Zahl der Eingaben, warum denn nicht auch in Ost-Berlin Alarm ausgerufen worden war. Zweitens zeigen der Ton und die Adressaten der Eingaben, dass die Schreiber noch weitgehend auf die Regelungskompetenz der DDR-Behörden vertrauten. Drittens ist die geringe absolute Zahl ein Indiz dafür, dass die Strategie der Staats- und Partei­ führung aufging, Umweltprobleme, so weit es möglich war, totzuschweigen bzw. lokal zu begrenzen. Eine Gruppe findet sich allerdings nicht in diesen Zahlen wieder. Wer über den Zustand der Umwelt besorgt war, aber nicht mehr auf die Regelungskompetenz des Staates vertraute, der schrieb auch keine Eingaben mehr. Er suchte sich andere Betätigungsfelder. Mit Beginn der 1980er Jahre wuchs diese Gruppe an, und mangels legaler Handlungsmöglichkeiten fand ein Teil den Weg unter das Dach der Kirchen.

4.2 Kirche und Umweltbewegung In der bereits erwähnten SPIEGEL-Ausgabe vom 16. November 1981 findet sich auch ein Bericht über die Lage der Kirchen in der DDR. Zur dortigen Umweltsituation zitierte das Magazin den Leiter des Kirchlichen Forschungsheimes in Wittenberg, Hans-Peter Gensichen: Man hat als DDR-Bürger also das deutliche Gefühl, hinsichtlich der Umweltproblematik stark unterinformiert zu sein. Die Tagespresse behandelt sie fast nur schweigend, verharmlosend oder durch die wenigen Erfolgsmeldungen, die es auf diesem Gebiet gibt.227

226 Rainer Ruthe, Unsere Kostbare Luft. Wie verringern wir die Belastung durch Schwefel­ dioxid?, in: Wochenpost 22, 1989, 16–17. 227 Kirche in der DDR: »Wie Noah während der Flut«, in: Spiegel 47, 1981, 58–67, 58.

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Gensichen hatte es sich zur Aufgabe gesetzt, die ›Informiertheit‹ seiner Mitbürger zu erhöhen. Dieses Kapitel zeichnet den dabei eingeschlagenen Weg nach, sucht nach den Möglichkeiten und Tätigkeitsfeldern kirchlicher Umweltgruppen und zeigt deren Grenzen auf. Nach Neubert entwickelte sich das Forschungsheim Wittenberg zur verlässlichsten Struktur der oppositionellen Umweltbewegung in der DDR. Hier gab es etwas, was der sonstigen Opposition nicht zur Verfügung stand. Normalerweise mussten für Umweltproteste sowohl die Inhalte als auch die Organisation vorbereitet werden. Mit dem Forschungsheim verfügte man über eine arbeitsfähige Institution mit festen Strukturen. Dies ermöglichte eine qualitative Aufwertung der Umweltbewegung, da eine verstärkte Konzentration auf Inhalte und Themen möglich wurde.228

4.2.1 Die theologischen und theoretischen Wurzeln 1927 gründete der Theologe und Ornithologe Otto Kleinschmidt in Wittenberg das »Heim für Weltanschauungskunde«. Kleinschmidt, der sich anhand von Vögeln intensiv mit der Evolutionstheorie beschäftigt hatte, wollte mit dieser Institution Theologie und Naturwissenschaft ins Gespräch bringen, um an dem gespannten Verhältnis von christlicher Weltsicht und naturwissenschaftlichem Erkenntnisstreben zu arbeiten. Die beiden Planstellen nahmen darum je ein Pfarrer und ein Naturwissenschaftler ein. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten musste der Name in »Kirchliches Forschungsheim Wittenberg« geändert werden. Da auch die deutschen Kommunisten keine kirchliche Konkurrenz bei Weltanschauungsfragen duldeten, blieb es bis 1989 dabei.229 Das Forschungsheim war ein früher Versuch, den jahrhundertelangen Rückzugsprozess der Kirchen aus den Naturwissenschaften aufzuhalten oder gar umzukehren. Auf internationaler Ebene folgten die Kirchen diesem Beispiel erst im Zuge der Diskussion um den Bericht Die Grenzen des Wachstums. Der Ökumenische Rat der Weltkirchen setzte eine Arbeitsgruppe »Kirche und Gesellschaft« ein, die 1974 in Bukarest eine Konferenz unter dem Titel »Die Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die Entwicklung des Menschen« organisierte. Der fundamentalen Frage nach der »Zukunft der wissenschaftlich technischen Welt« gingen dort nicht nur Theologen und Kirchenleute nach, sondern auch Naturwissenschaftler, Techniker, Umweltpolitiker und Wissenschaftstheoretiker.230 228 Neubert, Geschichte der Opposition, 449. 229 Gespräch mit Hans-Peter Gensichen am 9.2.2010. 230 Heino Falcke, Über die Mauer hinweg miteinander unterwegs. Die ökumenische Bewegung und die Kirchen in der DDR, in: Hans-Georg Link (Hrsg.), Hoffnungswege. Wegweisende Impulse des Ökumenischen Rates der Kirchen aus sechs Jahrzehnten. Frankfurt 2008, 88–109, 102–103.

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Die Ergebnisse dieser Konferenz flossen in die 5. Vollversammlung des Weltrates der Kirchen in Nairobi 1975 ein. Damit waren die ökologischen Fragestellungen auf hoher kirchlicher Ebene angekommen. Bereits im Sommer 1973 hatte die ev. Kirchenleitung in Magdeburg das Forschungsheim beauftragt, sich neben der Evolution auch mit Umweltfragen zu beschäftigen, konkret mit der Thematik »Umwelt und Zivili­ sation«.231 Nach 1975 drehte sich die theologische Auseinandersetzung um das Bibelwort »Macht euch die Erde untertan!«232, aus dem eine christliche Urschuld an der Umweltzerstörung abgeleitet wurde. Die Überlegungen mündeten in die Ökumenische Weltkonferenz 1979 in Boston, die unter der Losung »Glaube, Wissenschaft, Zukunft« stand. Hier fand die Definition eines neuen biblischen Auftrages statt, nämlich die »Bewahrung der Schöpfung«.233 Für Christen in der DDR, die sich für Umweltfragen interessierten, bedeutete diese Wendung Rückenwind. Zum einen gewannen sie gewichtiges Argumentationsmaterial in den Auseinandersetzungen mit den eigenen Kirchenleitungen, die teilweise den Fragestellungen der Ökologie neutral bis ablehnend gegenüberstanden.234 Zum anderen diente es dazu, die Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem Staat auszudehnen. Seit dem Spitzengespräch Staat-Kirche am 6. März 1978 zwischen Erich Honecker und dem Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Albrecht Schönherr, hatte das kirchliche Handeln eine vergleichsweise verlässliche Grundlage. Angesichts des KSZEProzesses, der wachsenden innerparteilichen Unruhen und der wirtschaftlichen Stagnation ab Mitte der 1970er Jahre hatte sich die SED darum bemüht, das Verhältnis zur Kirche zu entkrampfen. Die Partei kam ihr entgehen, nicht zuletzt dadurch, dass sie sie endlich als gleichberechtigten Verhandlungspartner ansah. Die SED versprach praktische Dinge wie eine Altersvorsorge für Pfarrer, Pachtzahlungen für Kirchengrund, konfessionelle Kindergärten, Unter­stützung für Kirchenneubauten und monatlich eine Stunde Sendezeit in Fernsehen und Hörfunk.235 Zudem wurden die Druckfahnen der Kirchenzeitungen nun vor dem Drucken zensiert. Damit lag die Verantwortung für missliebige Inhalte – und damit auch das wirtschaftliche Risiko  – nicht mehr bei den Kirchen, sondern beim staatlichen Zensor. Um die ›Schere im Kopf‹ befreit, erweiterte sich der

231 Hans-Peter Gensichen, Die Beiträge des Wittenberger Forschungsheimes für die kritische Umweltbewegung in der DDR, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Umweltschutz Bd. 3, 149–177, 151. 232 Genesis 1, 28. 233 Bernd Eisenfeld, Peter Eisenfeld, Widerständiges Verhalten in der DDR 1976–1982, in: Kuhrt, Opposition, 83–131, 101. 234 Falcke, Ökumenische Bewegung, 104–105. 235 Wolle, Welt, 253.

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Handlungsspielraum kirchlicher Redakteure erheblich.236 Als Gegenleistung wollte die Kirche den christlichen Bürgern helfen, einen Weg in die sozialistische Gesellschaft zu finden.237 Als Gegenleistung für zahlreiche materielle Vergünstigungen sollte sich die Kirche auf ihre seelsorgerischen und theologischen Aufgaben beschränken. Wenn aber die Bewahrung der Schöpfung ein theologischer Auftrag war, dann wurde die Beschäftigung mit Umweltschutzfragen zur Pflicht. Hans-Peter Gensichen, der seit 1975 Leiter des Forschungsheimes in Wittenberg war, erkannte rasch diesen Schluss und setzte ihn radikal um. In einer »Einschätzung der kirchlichen Umweltarbeit« des MfS von 1985 hob ein Mitarbeiter des Ministeriums die Bedeutung der Bostoner Konferenz hervor. Diese habe die Ökologie in der Arbeit der Kirchen verankert.238

4.2.2 Die Friedensbewegung in der DDR Die Friedensbewegung wird an dieser Stelle aus zwei Gründen ausführlich erwähnt. Zum einen speiste sich auch die Friedensbewegung überwiegend aus kirchlichen Quellen und zum anderen lebte sie vieles vor, das die Umweltgruppen später kopierten.239 Die Friedensbewegung verknüpfte die Unzufriedenheit über die bestehenden Verhältnisse im Inneren mit äußeren Anreizen. Die beteiligten Aktivisten entwickelten oder übernahmen aus dem Westen neue Deutungsmuster und Protestformen, die in der DDR bis dahin unbekannt waren.240 Die Friedensbewegung in der DDR war in vielerlei Hinsicht die erste Bewegung, der es gelang, ihre Forderungen und Anliegen vergleichsweise weit in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie bediente sich dazu offiziell sanktionierter Symbole, die sie mit einer eigenen Botschaft versehen konnte. Damit stellte sie die Repressionsorgane vor eine Herausforderung, denn es herrschte aufseiten des Staates zunächst eine gewisse Ratlosigkeit, wie man reagieren sollte. Das Ergebnis waren die für die 1980er Jahre typischen Konfliktmuster. Etwa um das Jahr 1980 kreuzten sich die Lebenswege verschiedener Aktivisten, die bisher getrennt voneinander gewirkt hatten. Im Gespräch zwischen ihnen entstanden neue Ideen und Konzepte, lose Fäden wurden zu einem Strang verknüpft.241 Es ist eine irrige Vorstellung mancher Autoren, die Friedens­ 236 Reinhard Henky, Kirchliche Medienarbeit, in: Horst Dähn (Hrsg.), Die Rolle der Kirchen in der DDR. München 1993, 213–223, 221. 237 Schroeder, SED-Staat, 244. 238 BStU MfS HA XX 1174 Ministerium für Staatssicherheit, Einschätzung der kirchlichen Umweltarbeit 1985, pag. 1. 239 Vgl. dazu Bickhardt, Entwicklung der DDR-Opposition, 476. 240 Detlef Pollack, Zwischen Ost und West, zwischen Staat und Kirche. Die Friedensgruppen in der DDR, in: Gassert, Geiger, Wentker, Zweiter Kalter Krieg, 269–282, 277. 241 Bickhardt, Vernetzungsversuche, 334.

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bewegung sei ein reiner Westimport gewesen.242 Sie war keine müde, staatlich geduldete Kopie der westdeutschen Variante, die im Umfeld des NATO-Doppelbeschlusses zur Massenbewegung herangewachsen war. Die Wurzeln der ostdeutschen Friedensbewegung reichen bis zum Mauerbau 1961 zurück. Nach der Abriegelung der DDR führte die SED am 24. Januar 1962 die allgemeine Wehrpflicht ein. Das entsprechende Gesetz sah einen Wehrersatzdienst vor, auf eine genaue Regelung verzichtete es jedoch.243 Für junge Männer, die den Dienst an der Waffe ablehnten, bestand nur die Möglichkeit der  – strafbaren  – Totalverweigerung. Da viele Studenten der Theologie diesen Weg wählten, setzte sich die evangelische Kirche gegenüber dem Staat für die Schaffung eines waffenlosen Ersatzdienstes ein. Ab September 1964 ermöglichte die SED daraufhin den Dienst in der NVA als Bausoldat. Die Amtskirche zog sich in der Folge von der Diskussion zurück, da sie das Verhältnis zu Staat und Partei nicht belasten wollte.244 Im ersten Jahr machten etwa 230 Wehrpflichtige von der neuen Option Gebrauch, in den kommenden Jahren jeweils etwa ein Prozent der einberufenen jungen Männer.245 Der Dienst als Bausoldat war keine wirkliche Alternative zum Dienst an der Waffe, waren die Bausoldaten doch dem gleichen militä­rischen Drill und Disziplinierungsgedanken unterworfen, der die jungen Männer zu angepassten Untertanen ›erziehen‹ sollte.246 Zudem standen sie in der Hierarchie ganz unten und hatten nach Dienstende mit privaten und beruflichen Konsequenzen zu rechnen. Bernd Eisenfeld, der 1966 als Bausoldat Dienst tat, verlor im Anschluss seine Stelle in der Staatsbank der DDR und bekam Berufsverbot.247 Zudem erhielten Bausoldaten bis 1987/88 keine Zulassung zum Studium.248 Viele Bausoldaten fassten ihren Beschluss aus religiöser Überzeugung, es waren überwiegend kirchlich gebundene Männer. Die ersten Treffen von Bau­ soldaten fanden dann auch zwangsläufig unter dem Dach der Kirche statt. Hier kamen sie zusammen, berichteten sich gegenseitig ihre Erlebnisse und bespra 242 Vgl. aktuell Malycha, Winters, SED, 258. 243 Hoffmann, Deutsche Geschichte, 94. 244 Choi, Dissidenz, 34–35 und Uwe Koch, Gero Neugebauer, Die Evangelische Kirche in der DDR in der Auseinandersetzung mit der Wehrdienstpolitik der SED, in: Dähn, Rolle der Kirchen, 127–140, 138. 245 Wolfgang Rüddenklau, Störenfried. DDR-Opposition 1986–1989; mit Texten aus den »Umweltblättern«. 2., überarb. Aufl. Berlin 1992, 28. 246 Christian Sachse, Nach dem Krieg ist vor dem Sieg. Wehrerziehung in der DDR von 1952 bis 1978, in: Thomas Widera (Hrsg.), Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im Spannungsfeld der SED-Politik 1964–1989. Göttingen 2004, 43–71, 44. 247 Eisenfeld, Eisenfeld, Verhalten. 248 Ilko-Sascha Kowalczuk, Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, in: Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission, 1203–1284, 1262.

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chen Abwehrmechanismen gegen die Schikanen im Kasernenalltag. Aus diesem Kreis persönlich Betroffener entwickelte sich das Rückgrat der späteren kirchlichen Friedensbewegung. In ihrer aktuellen Aufarbeitung der Bausolda­ tenbewegung haben Bernd Eisenfeld und Peter Schicketanz – beide von der Thematik betroffen – die zentrale Stelle ehemaliger Bausoldaten für die Friedensbewegung im Speziellen und die Opposition im Allgemeinen herausgearbeitet. So wie die staatlich unabhängige Friedensbewegung auf die Bewegung der Wehrdienst- und Waffendienstverweigerer zurückging, erwies sich diese Bewegung wiederum als Quelle der meisten späteren oppositionellen Gruppierungen, die wiederum von Wehrdienst und Waffendienstverweigerern fortlaufend gespeist und auch mitgeprägt wurden. Es ist deshalb nicht übertrieben, die Bausoldaten als eine »Keimzelle der friedlichen Revolution« zu sehen.249

Die ehemaligen Bausoldaten organisierten Informationsveranstaltungen, auf denen sich Schüler über die Formalia auf dem Weg zum und über die Realität als Bausoldat berichten lassen konnten. Aus dieser Vernetzung untereinander entstand das Friedensseminar im sächsischen Königswalde, das ab 1972 zweimal jährlich stattfand.250 1977 begann die Sowjetunion mit der Ersetzung der alten SS-4 und SS-5 Rake­ tenbestände in Mitteleuropa durch die moderne Mittelstreckenrakete SS-20. Damit entstand für die Staaten des NATO-Bündnisses eine ungleiche Sicherheitslage, der europäische Teil  des Militärbündnisses sah sich auf einmal politisch erpressbar. Die US-amerikanische strategische Antwort sah vor, die nukleare Hemmschwelle weiter zuheben und die eigene konventionelle Kampfkraft zu steigern, um so ein neues strategisches Gleichgewicht auf ›niedrigerer‹ Ebene zu erreichen, da damit die militärische Bedeutung taktischer Nuklearwaffen in Europa herabgesetzt gewesen wäre.251 Dieser Logik folgte der NATODoppelbeschluss vom 12. Dezember 1979. Darin beschlossen die NATO-Staaten sowohl die weitere Stationierung eigener atomarer Mittelstreckenraketen in Europa – als Nachrüstung bezeichnet – als auch das Angebot weiterer Verhandlungen an die Staaten des Warschauer Paktes. Das primär an Moskau gerichtete Angebot verlief im Sande, da nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in

249 Bernd Eisenfeld, Peter Schicketanz, Bausoldaten in der DDR. Die »Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte« in der NVA. Berlin 2011, 417. 250 Für die Entstehungsgeschichte des Friedensseminars und den Lebensweg seines maßgeblichen Gründers, Hansjörg Weigel, siehe Matthias Kluge, »Bausoldat ist man lebenslänglich«. Hansjörg Weigel und das Friedensseminar in Königswalde, in: Widera, Pazifisten, ­73–113. Vgl. auch Hubertus Knabe, Widerstand und Opposition in den sechziger und siebziger Jahren, in: Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission, 76–88, 78–79. 251 Helga Haftendorn, Das doppelte Mißverständnis. Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41, 1985, 244–287, 245–250.

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Afghanistan nur zwei Wochen später das Ost-West-Verhältnis auf einem Tiefpunkt angekommen war. In der Bundesrepublik waren die Ereignisse im Dezember 1979 der Auftakt für eine vierjährige innenpolitische Auseinandersetzung über die Nachrüstung, die der Bundestag im November 1983 billigte. Im Juni 1981 kam es im Umfeld des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Hamburg zu ersten Großdemonstrationen. Wenig später beschloss das Politbüro der SED, die westdeutsche Friedensbewegung zu unterstützen und die Vernetzung der einzelnen europäischen Gruppen zu fördern. Dahinter stand die Hoffnung, über den Druck der Straße die westlichen Regierungen zu destabilisieren und die Stationierung der Raketen abwenden zu können. Zudem entsprach die dezidierte antiamerikanische Einstellung der westdeutschen Friedensbewegung den eigenen Wertvorstellungen.252 Die DDR gebärdete sich nach außen als Friedensmacht. Aus Gründen der Glaubwürdigkeit musste sie darum auch den Friedensgruppen im Inneren Raum geben. Die Höhepunkte der Friedensbewegung in Ost und West fallen darum zeitlich zusammen, verhandelten allerdings nicht die gleichen Konflikte. Die SED trieb die Militarisierung der DDR-Gesellschaft seit den 1950er Jahren voran, verstärkt seit 1970.253 Gegen die 1978 beschlossene Einführung des obligatorischen Wehrkundeunterrichts für die Schüler der 9. und 10. Klassen erhob sich dann erstmals ein breiter gesellschaftlicher Widerspruch. Noch vor dem Aufkommen der Friedensbewegung in der BRD positionierte sich die Evangelische Kirche entschieden gegen das neue Fach. Sie sah den Friedens­ auftrag jedes einzelnen Christen in Gefahr, und die Konferenz der ev. Kirchenleitungen in der DDR beschloss im Juli 1978 ein Studien- und Aktionsprogramm »Erziehung zum Frieden«; eine klare Gegenbewegung zum staatlichen Wehrkundeunterricht.254 Erstmals wandten sich die Kirche bzw. ihre Vertreter nicht mehr nur mit religiösen oder pädagogischen Argumenten gegen den Staat, sondern auch mit politischen. Die Einführung des Wehrkundeunterrichts wurde »zum Ausgangspunkt der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR«.255 Ohne den massiven Protest in der Bundesrepublik gegen die Nachrüstung zwei Jahre später wären die Beschwerden der Kirche vermutlich eine Glosse ge 252 Schroeder, SED-Staat, 274. 253 Einen Überblick über die einzelnen Maßnahmen siehe Sachse, Wehrerziehung, 45– 61. Vgl. auch Anja Hanisch, Zwischen Militarisierung und abnehmender Systemloyalität. Die ostdeutsche Gesellschaft an der Wende zu den 1980er Jahren, in: Gassert, Geiger, Wentker, Zweiter Kalter Krieg, 155–173, 159–161. 254 Anke Silomon, »Schwerter zu Pflugscharen« und die DDR. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980 bis 1982. Göttingen 1999, 28–29 und Harald Wagner, Kirchen, Staat und politisch alternative Gruppen. Engagement zwischen Evangelium und Reglementierung, in: Dähn, Rolle der Kirchen, 104–114, 104–105. 255 Sachse, Wehrerziehung, 65.

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blieben. So bot sich ihnen jedoch der Raum, ihre Vorstellungen in die DDR-­ Gesellschaft hineinzutragen und über ihre theologischen Wurzeln hinaus gesellschaftliche Positionen zu besetzen. Ihre Argumentation verfing zunehmend außerhalb ihrer Kreise, weil die paramilitärische Früherziehung und die Installation starrer Feindbilder allgemein für Unmut und Widerstand sorgten.256 Hinzu kam, dass der ›friedliebende‹ Sozialismus mit dem Einmarsch in Afghanistan an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte. In diesem Umfeld beging die Kirche im November 1980 ihre erste Friedensdekade. Unter dem Motto »Frieden schaffen ohne Waffen« hatten die Landesjugendpfarrämter dazu eingeladen. Im Rahmen der Dekade wurden erstmals das Bibelzitat aus dem Buch Micha Kapitel 4 Vers 3 und die dazugehörige Grafik »Schwerter zu Pflugscharen« verwendet. Das Symbol war geschickt gewählt, denn es griff eine Skulptur auf, welche die Sowjetunion 1959 der UNO geschenkt hatte.257 Zunächst existierte das Symbol nur in Form von Lesezeichen, kurze Zeit später entstand die wesentlich öffentlichkeitswirksamere Version des Aufnähers. Der Historiker Ehrhart Neubert schätzt, dass bis zu 100.000 Menschen in der DDR zeitweise den Aufnäher auf ihrer Kleidung trugen.258 Dieses massenhafte Auftreten eines nicht staatlich sanktionierten Motivs führte unweigerlich zu Konflikten zwischen ihren Trägern und staatlichen Institutionen. Die Kirche beschloss, die Träger im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu schützen. Hier liegt der Ausgangspunkt für die Schutzdachfunktion der evangelischen Kirche, denn mit Friedensdekade und Aufnäher war es ihr gelungen, Gruppen ohne klare kirchliche Identität in ihrem Umfeld anzusiedeln und damit ihr gesellschaftliches Gewicht zu steigern.259 Die zweite Friedensdekade im November 1981 unter dem Motto »Gerechtigkeit – Abrüstung – Frieden« leitete die Hochphase der ostdeutschen Friedensbewegung ein. Sie stand unter dem Eindruck der Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten, auf der auch das »Schwerter zu Pflugscharen«-Symbol zu sehen war.260 Der Erfurter Probst Heino Falcke hatte dort vor 300.000 Zuhörern gesprochen. Einige Landessynoden versuchten, mit staatlichen Stellen über einen zweijährigen sozialen Friedensdienst zu verhandeln, um die ungeliebte Bausoldaten­ regelung zu überwinden.261 Im Januar 1982 unterzeichneten der bekannte Dissident Robert Havemann und der Pfarrer Rainer Eppelmann den »Berliner 256 Choi, Dissidenz, 42. 257 Sven Felix Kellerhoff, Auch in der Diktatur scheint die Sonne, in: Horst Köhler, Rainer Eppelmann, Robert Grünbaum (Hrsg.), Der aufrechte Gang. Berlin 2009, 20–39, 22. 258 Neubert, Geschichte der Opposition, 497. 259 Choi, Dissidenz, 43. 260 Helge Heidemeyer, NATO-Doppelbeschluss, westdeutsche Friedensbewegung und der Einfluss der DDR, in: Gassert, Geiger, Wentker, Zweiter Kalter Krieg, 247–267, 249. 261 Pollack, Zwischen Ost und West, 272–273.

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Appell«. Unter dem Slogan der westdeutschen Friedensbewegung »Frieden schaffen ohne Waffen« zeichnete sich hier eine für die SED gefährliche Verbindung von marxistischer Intelligenz und Kirche ab.262 Im Februar 1982 zählte schließlich eine unabhängige Gedenkfeier anlässlich der Bombardierung Dresdens 1945 5000 Teilnehmer. Nach einer Podiumsveranstaltung in der Dresdner Kreuzkirche zogen sie zur Ruine der Frauenkirche.263 Eine derart massive Besetzung des öffentlichen Raums forderte die SED zu einer Gegenreaktion heraus. Kurz darauf beschlossen verschiedene Ministerien gemeinsam, das Tragen des Pflugscharen-Aufnähers in der Öffentlichkeit zu verbieten. Die Ordnungskräfte gingen massiv dagegen vor, teilweise mussten die betroffenen Personen den Aufnäher auf Polizeirevieren aus ihrer Kleidung herausschneiden.264 Die FDJ startete eine Gegenkampagne unter dem Titel »Der Frieden muß verteidigt werden – der Frieden muß bewaffnet sein«. Die SED brach die Verhandlungen über den »sozialen Friedensdienst« ab und verfasste ein Gesetz, mit dem notfalls auch Frauen in die NVA einberufen werden konnten. Als Reaktion darauf gründete sich in Ost-Berlin die Gruppierung »Frauen für den Frieden«, in der Bärbel Bohley und Ulrike Poppe aktiv waren. Die neue Politik der SED hatte das Ziel, »der Friedensbewegung den öffentlichen Raum streitig zu machen und die von dieser auf sich gezogene Aufmerksamkeit abzulenken«.265 Je mehr die Friedensbewegung in der Bundesrepublik abebbte und die Stationierung der Raketen dort nicht mehr zu verhindern war, desto mehr legte die SED ihre Zurückhaltung im Inland ab. Es gelang ihr aber nicht, die Uhren vollständig zurückzudrehen. Die Jahre 1978 bis 1983 sind für die DDR ein erster Verdichtungsraum an Aktionsöffentlichkeit und Mobilisierung. Der Friedensbewegung war es gelungen, die »Angst als Barriere für politisches Engagement« zu überwinden.266 Die moralische Diskreditierung und soziale Isolation Andersdenkender durch das Regime wurde brüchig und unwirksamer. Das 1983 gegründete Seminar »Konkret für den Frieden« bestand aus Delegierten vieler DDR-Friedensgruppen, die zum Informationsaustausch und zur Koordinierung zusammenkamen. Mit Veranstaltungen dieser Art gelang es den Gruppen, die Schweigespirale schrittweise zu durchbrechen.267 262 Bickhardt, Entwicklung der DDR-Opposition, 462 und Eisenfeld, Eisenfeld, Verhalten, 97–98. 263 Choi, Dissidenz, 43. 264 Dale, Protest, 102. 265 Patrik von zur Mühlen, Aufbruch und Umbruch in der DDR. Bürgerbewegungen kritische Öffentlichkeit und Niedergang der SED-Herrschaft. Bonn 2000, 86. 266 Fehr, Öffentlichkeit, 209. 267 Die Theorie der Schweigespirale wurde 1974 von Elisabeth Noelle-Neumann formuliert. Danach unterliegt jedes Individuum einer »Isolationsfurcht«. Um nicht in die Isolation zu geraten, beobachtet das Individuum darum beständig die Umwelt. Einmal gibt es die unmittelbare, selbständige Beobachtung im sozialen Kontext und einmal die indirekte, massen-

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Nachdem es der SED gelungen war, auf dem Gebiet der Friedenspolitik ihr Meinungsmonopol im öffentlichen Raum wieder durchzusetzen, zogen sich einige Aktivisten resigniert zurück. Andere waren in den Westen a­ bgeschoben worden und unterstützten von dort aus verschiedenen Gruppen mit Geld, Mate­ rialien und Informationen. Wieder andere suchten sich ein neues Betätigungsfeld und wurden auf dem Umweltsektor fündig. Die Allgemeine Kontrollgruppe des MfS im Bezirk Karl-Marx-Stadt hielt 1983 in einer Information fest, dass nach dem Scheitern der pazifistischen Versuche verstärkt ökologische ­Themen in die Friedensarbeit miteinbezogen würden. Damit versuchten die Gruppen, im Umfeld der Kirchen einen noch größeren Bevölkerungskreis anzusprechen.268 Die Friedensbewegten brachten ihre Erfahrungen und Kontakte in die neuen Umweltgruppen ein und begannen, das grobe Netz der Verknüpfung dichter zu weben. Sie hatten zudem den Vorteil, dass sie mit dem Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg eine Institution in ihrem Rücken hatten, die sich in den 1980er Jahren auf ökologische Fragestellungen spezialisierte.

4.2.3 Hans-Peter Gensichen und das Forschungsheim Wittenberg Hans-Peter Gensichen wurde 1943 in Pritzwalk geboren.269 1965 begann er sein Studium der Theologie an einer kirchlichen Einrichtung und wechselte später an die HU Berlin, einem »von Günstlingen durchwachsenen Haufen«. In seiner Promotion befasste er sich mit dem Gründer des Forschungheimes, dem 1954 verstorbenen Otto Kleinschmidt. Das Heim selbst stand zu dieser Zeit unter der Leitung dessen Sohnes, Hans Kleinschmidt, der der Schwiegervater Gensichens wurde. Ab 1972 arbeitete Gensichen im Forschungsheim und übernahm 1975 endgültig dessen Leitung. Noch vor 1972 war Gensichen bei Hans Mottek zu Gast, da dessen Tochter Gensichens Frau kannte. Mottek war ab Juli 1972 Vor-

medial vermittelte Beobachtung. Jedes Individuum nimmt die Umweltmeinung zu einem bestimmten Thema wahr und vergleicht diese mit der eigenen Meinung zum Thema. Sind die Meinungen konsonant, bestehen keine Isolationsfurcht und eine hohe Redebereitschaft. Sind diese aber dissonant, besteht Isolationsfurcht und es kommt zu geringer Redebereitschaft. So nimmt die Redebereitschaft der Anhänger von Minderheitenmeinungen beständig ab. Vgl. dazu Nina Haferkamp, Die Theorie der Schweigespirale, in: Nicole C. Krämer (Hrsg.), Medienpsychologie. Schlüsselbegriffe und Konzepte. Stuttgart 2008, 274–279. Der Kommunikationswissenschaftler Meyen hat diese Theorie auf die DDR angewandt. Michael Meyen, Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR. Berlin 2003. 268 BStU BV KMSt. AKG 648 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen AKG Karl-Marx-Stadt 1983, pag. 3. 269 Alle Angaben zum Lebensweg Gensichens entstammen einem Zeitzeugengespräch am 9.2.2010.

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sitzender der »Kommission für Umweltforschung« an der AdW und verfasste einige der gehaltreichsten DDR-Publikationen zu Fragen des Umweltschutzes. Dabei entwickelte er dezidiert wachstumskritische Positionen. Gensichen zeigte sich von dem Besuch beeindruckt, vor allem von der Schärfe, mit der Mottek die ökonomische Ausrichtung der DDR kritisierte und ins Lächerliche zog. Als Gensichen 1975 die Leitung des Forschungsheimes übernahm, war er bereits für ökologische Fragestellungen sensibilisiert. Die Debatte über den Club of Rome, die Umweltkonferenz in Stockholm und die Geschehnisse um Rudolf Bahro hatte er in den Westmedien verfolgt. Zudem hatte er in seiner Position ungehinderten Zugriff auf Westliteratur. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR besaß in Berlin einen Kleinbus, der täglich in den Westteil der Stadt fuhr, um dort Medikamente für die Diakonie, Büromaterialien und Literatur zu besorgen. Seine eigentliche Aufgabe sah Gensichen aber darin, das Erbe Kleinschmidts zu pflegen und sich mit den theoretischen Fragen der Evolution zu beschäftigen. Arbeitskreise mit dem Titel »Ethische Fragen der Genetik« fanden in der Bevölkerung jedoch nur begrenzten Widerhall. Das »Thema Umwelt lag einfach in der Luft«, und als Gensichen einen Arbeitskreis ›Naturwissenschaftliche Weltbeherrschung‹ anbot, war die Resonanz ungleich höher und zog Personen an, die die Kirche normalerweise nicht mehr erreichte.270 1976 organisierte das Forschungsheim die erste Pfarrerweiterbildung zum Thema Umwelt.271 Zum Schrittmacher der Arbeit entwickelte sich der naturwissenschaftliche Arbeitskreis, der ab 1977 bestand. Eine der prägenden Figuren war hier Gerhard Pfeiffer. Geboren 1950 und aufgewachsen im Kreis Zerbst, hatte er bis 1973 Biologie mit dem Schwerpunkt Ökologie studiert. Danach betrieb er am Institut für Pflanzenschutzforschung in Kleinmachnow Grundlagenforschung, die ihn immer wieder zu den Kombinaten in Wolfen und Bitterfeld führte. Für die dort ansässige Industrie versuchte er, die Resistenzmechanismen bei Insekten zu entschlüsseln, um die Wirksamkeit von Pflanzenschutzmitteln zu erhöhen.272 Pfeiffer sah für sich keine Perspektive in der staatlichen Forschung. Zum einen wollte er nicht sein Leben lang Laborwissenschaftler bleiben und zum anderen hatte er vor, den Wehrdienst zu verweigern. Als seine Frau 1978 nach Witten­berg versetzt wurde, machte ihn ein Kollege auf das Forschungsheim aufmerksam, das einen Naturwissenschaftler suchte. Direkt nach dem Abschluss seiner Promotion begann er ab Mai 1980 dort zu arbeiten. Er hatte aber bereits seit 1978 den naturwissenschaftlichen Arbeitskreis betreut. Dieser Ar-

270 Gespräch mit Hans-Peter Gensichen am 9.2.2010. 271 Becker, Umweltgruppen in der DDR, 221. 272 Alle Angaben zum Lebensweg Pfeiffers entstammen einem Zeitzeugengespräch am 14.9.2011.

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beitskreis war keine abgeschlossene Gruppe mit einem festen Mitgliederstamm. Zwar kamen zu den Treffen immer wieder auch bekannte Gesichter, aber je nach thematischem Schwerpunkt stießen einige hinzu und andere blieben fern. Gemeinsam war den etwa 20 Teilnehmern, dass sie in der Mehrheit jung waren und ihre Familien zu den drei bis vier Treffen im Jahr mitbrachten. Für diese Form der kirchlichen Arbeit wirkte die Bostoner Weltkonferenz von 1979 mobilisierend. Noch im gleichen Jahr konzipierte das Forschungsheim eine Wanderausstellung unter dem Titel »Mensch und natürliche Umwelt«, die in der gesamten DDR in Kirchen ausgestellt wurde. Bis Mitte 1980 hatten bereits etwa 20.000 Personen die Ausstellung besucht.273 Am 29. April 1980 hielt Gensichen in Dresden einen Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung in der Kreuzkirche. Dies war der Anstoß für die Gründung des »Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke«, der sich bis zum Ende der 1980er Jahre zur größten und aktivsten Umweltgruppe der DDR entwickelte.274 Die Erde ist zu retten Die Ausstellung belastete das Verhältnis zum Staat nicht, wurde sie doch nur innerhalb von Kirchen gezeigt. Der Anspruch Gensichens war es jedoch, die ›Informiertheit‹ größerer Bevölkerungskreise zu erreichen. Ein Schritt in diese Richtung war die 1980 im Arbeitskreis erstellte Schrift Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten. Der Titel suggeriert nicht nur die Möglichkeit, die Erde vor der Katastrophe zu bewahren, sondern auch, dass jeder Einzelne dazu aufgefordert sei. Das Titelbild verdeutlicht plakativ, worin die Schrift das grundlegende Problem sah. Die Erde ist als aufgeschlagenes Ei dargestellt, in der ein großer Löffel steckt. Dazu heißt es: Das heutige Umweltproblem wird in seiner Globalität verursacht durch eine Naturnutzung, die in ihrer Intensität eine völlig neue Dimension erreicht hat. Sie geht zurück auf Wachstumsideologie, Wohlstandsdenken sowie Technikentwicklung und hat ihre geistige Heimat in Europa. Hauptverursacher sind und bleiben daher die kapitalistischen und sozialistischen Industriestaaten der Nordhalbkugel.275

Die Lösung für diese globale Herausforderung könne nur im Verzicht liegen. Die Schrift sah die DDR dafür aber schlecht aufgestellt. Unter ihren Bürgern 273 Choi, Dissidenz, 56. 274 Maria Jacobi, Uta Jelitto (Hrsg.), Das Grüne Kreuz. Die Geschichte des Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke. Dresden 1998, 9. 275 Hans-Peter Gensichen, Kirchliches Forschungsheim Wittenberg, Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten. Wittenberg 1982, 8.

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herrsche eine »erschreckende ›ökologische Unmotiviertheit‹«. Die Zahl der Eingaben oder Umweltaktionen ständen in keinem Verhältnis zum Zustand der Umwelt im Land. Verschiedentlich würde »Umwelt« gar als »Modethema« abgetan. »Verzerrungen dieser Art« seien aber »gefährlicher als bloßes Nichtwissen und müssen überwunden werden«.276 Darum diene diese Schrift dazu, über die Zusammenhänge aufzuklären. Dem hohen Anspruch wurde die Veröffentlichung in Ansätzen gerecht. Sie riss viele Probleme an und gab Hinweise auf weiterführende Literatur. Das Aussterben von Pflanzen- und Tierarten, die Überdüngung der Landwirtschaft, die Zerstörung der Ozonschicht durch Treibmittel, der Einsatz von Insektiziden und DDT sowie die Lärmbelastung wurden ebenso behandelt wie in die Grundlagen der Ökosystemforschung eingeführt und die Ergebnisse des Berichts an den Club of Rome referiert wurde. Die Broschüre enthielt zudem einen Erfahrungsbericht über das Leben im Erzgebirge und berichtete über die dortigen Waldschäden. Dieser Abschnitt war kursorisch gehalten und gab 300.000 ha Waldfläche als durch Luftverschmutzung geschädigt an. Die Zahl stammte aus dem Jahr 1969. Die bloße Existenz einer solchen Informationsschrift war der SED ein Dorn im Auge. Noch stärker stießen ihr aber die Lösungsvorschläge auf. Die Autoren aus dem Umfeld des Forschungsheimes riefen die Leser zu einer Überprüfung ihrer Bedürfnisse auf, sie sollten ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche Güter sie als notwendig und welche sie als verzichtbar ansahen. Hinter dieser Forderung nach Konsumverzicht stand die christliche Überzeugung, dass Glück und Erfülltheit nicht an Besitz gebunden sind. Damit zweifelten die Verfasser an der geltenden marxistischen Ordnung von materiellen und geistig-seelischkulturellen Bedürfnissen. In einem weiteren Punkt stand das Gedankengebäude der Schrift quer zu marxistischen Überzeugungen. Alle sozialistischen Denker, die bis dahin versucht hatten, das Verhältnis von Gesellschaft und Natur zu bestimmen, sahen den Menschen in einer Herrscherrolle. Die Natur diente dazu, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Diese Dienstleisterrolle der Natur findet sich auch bei Lingner. Die Idee von der Bewahrung der Schöpfung kennt solche Hierarchien nicht, die Natur erhält hier eine Eigenrechtlichkeit. In Die Erde ist zu retten wird die »Natur als achtbare Größe« definiert, die mehr sei als ein »Materialreservoir«, nicht allein »Objekt der Nutzung, sondern achtbares Subjekt«.277 Nicht zu Unrecht erkannte Ernst Becker, der 1983 im Auftrag des MfS die Schrift auf seinen westlich-imperialistischen Einfluss analysierte, einen »anti-

276 Ebd., 15. 277 Ebd., 31–32.

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sozialistischen Systemangriff«.278 Den Verdacht der westlichen Einflussnahme konnte Becker jedoch weder anhand der verwendeten Literatur noch der Formulierungen erhärten. Dies machte damit die Schrift zu einem staatlich geprüften Objekt einer authentischen und autochthonen DDR-Umweltbewegung. Auch die Strategie Gensichens, die ›Informiertheit‹ in der DDR zu erhöhen, bemerkte der Analyst: Im Prinzip stellt das gesamte Material eine operative Plattform dar, mit der religiös gebundene wie auch andere Bürger, insbesondere junge Menschen, schrittweise zu antisozialistischen Positionen und Aktionen geführt werden sollen.279

Der erste Schritt dabei sei, breite Bevölkerungsschichten mit auf den ersten Blick unpolitischen Themen wie Umweltschutz anzusprechen. Becker versuchte dazu, die Reichweite der Schrift abzuschätzen, kam hier aber zu keinen brauchbaren Ergebnissen. Die Kirchenblätter und hektographierten Mitteilungen, in denen für die Publikation geworben worden war, erreichten etwa 500.000 Menschen, knapp drei Prozent der Bevölkerung. Wie viele Menschen aber die Schrift tatsächlich gelesen hatten, konnte er nicht abschätzen. Gensichen selbst gab an, dass bis 1988 etwa 5500 Exemplare hergestellt worden waren. Die Zahl der Leser sei allerdings weit höher, weil sie privat weitergereicht und abgeschrieben wurden.280 Aus dem gleichen Jahr wie die Analyse stammt ein »Bericht über kirchliches Forschungsheim Wittenberg der Kirchenprovinz Sachsen und Vorschläge zur Durchführung politischer und politisch-operativer Maßnahmen zur offen­siven Bekämpfung feindlicher Aktivitäten«. Darin wurde eine im Juni 1983 in der Marktkirche Halle stattfindende Ausstellung zur zweiten Ausgabe von Die Erde ist zu retten angesprochen. Auf Druck des MfS wurde die als Wanderausstellung gedachte Schau am 15. Juni abgebrochen.281 Die intensive Beschäftigung des MfS mit dem Forschungsheim war zwar nicht nur eine Folge der Umweltschrift, aber sie bereitete den staatlichen Institutionen einiges Kopfzerbrechen. Bereits 1981 war die Schrift dem ZK-Sekretär für Landwirtschaft, Werner Felfe, negativ aufgestoßen. Am 1. Juni dieses Jahres erreichte das Umweltministerium die Eingabe von Michael W. aus Raschau, 278 BStU MfS HA IX 292 Ernst Becker, Begutachtung des Materials »Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten«. Hrsg. von einem Arbeitskreis am Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg, Juni 1982. 22.2.1983, pag. 37. 279 BStU MfS HA IX 292 ebd., pag. 35. 280 So erwähnte Bastian, dass die Dresdner Umweltgruppe 1983 die 73 Seiten auf eine Blaumatrize tippte und etwa 100 Abzüge herstellte. Uwe Bastian, Zur Genesis ostdeutscher Umweltbewegung unter den Bedingungen eines totalitären Herrschaftssystems, in: Uwe Bastian (Hrsg.), Greenpeace in der DDR. Berlin 1996, 58–94, 84. 281 BStU MfS HA XX/9 2041 Ministerium für Staatssicherheit, Information über Arbeitsweise und Kontakte des KFH Wittenberg, pag. 7.

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in der er sich gegen den Einsatz DDT-haltiger Mittel bei der Schädlingsbekämpfung in den Wäldern wehrte: Dieses Gift wurde, wie Ihnen bekannt sein wird, bereits 1975 von der UNO aufgrund seiner Gefährlichkeit gegenüber allen lebenden Organismen verboten, da es hochgradig krebserregend wirkt. Da unser Wald durch die Abgase des Werkes in der ČSSR in wenigen Jahren ohnehin gänzlich vernichtet sein wird, ist dieses Vorhaben absurd.282

Reichelt unterrichtete Felfe über die Hintergründe der Eingabe, und dieser fasste in einer »Information über die gegenwärtige Lage im Forstschutz des Bezirkes Karl-Marx-Stadt« an Honecker die Situation zusammen. Gegen die Ausbringung von DDT gebe es starken Widerstand christlicher Kreise. Die »Bürger stützen sich dabei auf ein durch das kirchliche Forschungsheim Wittenberg 1980 erarbeitetes Papier für Gemeindeseminare ›Die Erde ist noch zu retten‹ […]«.283 In der gleichen Sache erhielt der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Heinz Kuhrig, am 5. Juni einen Brief aus dem Umweltministerium. Der unbekannte Verfasser machte Kuhrig darauf aufmerksam, dass bei zahlreichen Eingaben »offensichtlich eine Abstimmung der Argumentation erfolgt ist«.284 Die Informationen des Forschungsheimes waren damit an der Basis angekommen und hatten die erhofften Effekte gezeigt. Die »Briefe« Der DDR-Historiker Hubertus Knabe sieht das Forschungsheim in Wittenberg als Ausgangspunkt einer gesellschaftskritischen Öffentlichkeit.285 Damit zielt er allerdings nicht auf Die Erde ist zu retten ab, sondern auf die Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde. Die Briefe waren das erste nicht-staatliche und gesellschaftskritische Periodikum in der DDR und im Januar 1980 erstmals mit einer Auflage von 400 erschienen. Bis 1989 erschien die Zeitschrift halbjährlich, wobei die Auflage schrittweise auf 4000 stieg.286 Die Zahl der Leser muss auch hier höher angesetzt werden. Der Name war ein typischer DDR-Kompromiss. Gensichen hatte schon vor 1980 die Absicht, eine Zeitschrift herauszubringen. Der für das Forschungsheim zuständige Vertreter des Staatssekretariats für Kirchenfragen machte ihn darauf aufmerksam, dass ihm dies nicht zustehe. Gen 282 BArch DK 5/70 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, Eingabe vom 1.6.1981. 283 SAPMO DY 30/118 Felfe, Gegenwärtige Lage, o. pag. 284 BArch DK 5/70 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, Schreiben an Minister Kuhrig vom 5.6.1981. 285 Hubertus Knabe, Nachrichten aus einer anderen DDR. Inoffizielle politische Publizistik in Ostdeutschland in den achtziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1998, 2­ 6–38, 27.  286 Gensichen, Beiträge des Forschungsheimes, 160.

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sichen fragte dann, ob er Briefe an Gemeindemitglieder verschicken dürfe, was der staatliche Vertreter bejahte.287 In den Briefen wurde auch über einzelne Umweltthemen berichtet, generell ging es allerdings, wie der Titel verriet, um grundlegende Fragen im Verhältnis von Mensch und Erde. Die Briefe blieben allerdings nicht lange allein. Bereits im November folgte mit den Streiflichtern in Leipzig eine Samisdatzeitschrift, die einen stärkeren Umweltbezug aufwies. Dahinter stand die »Arbeitsgruppe Umweltschutz« beim Jugendpfarramt in Leipzig. Die Gruppe selbst hatte sich nach einer Aktion des Forschungsheimes anlässlich des Weltumwelttages 1981 gebildet.288 Die Aktion »Mobil ohne Auto« fand erstmals am 30./31. Mai 1981 statt und war ein frühes Beispiel für Aktionsöffentlichkeit in der DDR. In 25 Städten kam es im ersten Jahr zu entsprechenden Veranstaltungen, für den Ökologischen Arbeitskreis (ÖAK) in Dresden war es die erste.289 1982 nahmen bereits mehrere Tausend Menschen an den Radfahrerdemonstrationen teil. 1983 fand dann im Rahmen der Aktion die erste Radsternfahrt nach Potsdam-Hermannswerder statt, wo sich die Teilnehmer zu einem Seminar trafen.290 Nach Unterlagen des MfS nahmen 1984 480 Menschen an dem Seminar »Christliche Verantwortung für die Schöpfung« auf dem Gelände der Hoffbauer-Stiftung teil, wovon 300 mit dem Rad angereist waren.291 Die Fahrraddemonstrationen bewegten sich in einer Grauzone aus staatlicher Duldung und Unterdrückung. Die jeweiligen Organisatoren vor Ort wussten, dass sie in der Darstellung der Situation nicht zu weit gehen konnten. So wurde einmal auf das Tragen von Gasmasken verzichtet, mit denen auf die lufthygienische Situation aufmerksam gemacht werden sollte, um Eskalationen zu vermeiden. Einzelne Demonstrationen wurden von der Polizei aufgelöst, da die Teilnehmer Transparente zeigten, wobei es auch zu Festnahmen kam. Andernorts stoppte die Volkspolizei die Radfahrer. Nachdem diese aber auf den in offiziellen Kalendern der DDR verzeichneten UN-Umwelttag aufmerksam gemacht hatten, ließen die Beamten sie weiterfahren. Wieder an anderer Stelle zeigte sich die Staatsmacht subtiler. Am Tag der Aktion waren plötzlich Radwege zwecks Sanierung gesperrt und umständliche Umleitungen ausgeschildert. Zudem stoppte die Verkehrspolizei die Korsos und unterzog jedes Fahrrad einer ausgedehnten Verkehrstüchtigkeitsprüfung.292 287 Gespräch mit Gensichen am 9.2.2010. 288 Fred Kowasch, Die Entwicklung der Opposition in Leipzig, in: Kuhrt, Opposition, 213–229, 216. 289 Jacobi, Jelitto, Grünes Kreuz, 14. 290 Neubert, Geschichte der Opposition, 450. 291 BStU MfS ZAIG 3383 Ministerium für Staatssicherheit, Information über ein sogenanntes kirchliches Umweltschutztreffen vom 13. bis 15. Juli 1984 in Potsdam-Hermannswerder. 20.7.1984, pag. 1. 292 Vgl. dazu Choi, Dissidenz, 69 und Stoltzfus, Public Space, 394–395.

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Aus den bescheidenen Anfängen entwickelte sich eine immer umfassendere und professionellere Struktur. Um die singuläre Protestaktion des Rad­fahrens entstand ein zunehmend umfangreicheres Rahmenprogramm aus Seminaren und Vorträgen. 1984 warben hochwertige Mail-Art-Postkarten DDR-weit für die Aktion, die anschließend in einer Wanderausstellung präsentiert wurden.293 Ab 1986 firmierte die Aktion dann unter dem umfassenderen Titel »Woche der Schöpfungsverantwortung«.294 Aber bereits im ersten Jahr entstand in Leipzig die Arbeitsgruppe Umweltschutz, die teilweise bis zu 70 Mitglieder hatte. Damit hatte das Forschungsheim die Gründung zweier großer Umweltgruppen angestoßen, die in Zentren der Industrie, und damit auch Brennpunkten der Luftbelastung, wirkten. Gensichen betonte, dass sich kirchliches Umwelthandeln immer auch in der konkreten Tat manifestieren müsse, sah hier aber zuerst die lokalen Umweltgruppen gefordert.295 Das Forschungsheim war in seiner Sicht ein Ideen- und Stichwortgeber, der bei Bedarf die einzelnen Gruppen miteinander in Kontakt brachte und Aktionen koordinierte, aber nicht selbst mit spektakulären Aktionen in den Vordergrund trat. Er wollte so das Forschungsheim aus der Schusslinie des MfS heraushalten, um nicht mit allzu widerspenstigem Verhalten die Schließung des Heimes oder die Einstellung der Briefe zu provozieren. Es war die Praxis der staatlichen Sicherheitsorgane, bei den jeweiligen Kirchenleitungen um die Einhegung querulanter Umweltgruppen auf Gemeindeebene zu bitten. Die Kirchenleitungen kamen damit in die unbequeme Position, den Druck seitens des Staates und den Druck von der Basis auszuhalten und auszutarieren.296 Insofern befand sich das Forschungsheim in einer komfortablen Lage. Es war Diener vieler Herren und unterstand einem Kuratorium, in dem Vertreter der geldgebenden Landeskirchen saßen.297 Da diese »Herren keine Hardliner« waren und sich nie in die operative Arbeit des Heimes ein 293 BStU BV DDn. KD DDn.-Stadt 90791 Ministerium für Staatssicherheit, Bildbericht. Information über öffentlichkeitswirksame Aktivitäten der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens zu Problemen des Umweltschutzes. 1.6.1984, pag. 14–15. 294 Hans-Peter Gensichen, Umweltverantwortung in einer betonierten Gesellschaft. Anmerkungen zur kirchlichen Umweltarbeit in der DDR, in: Franz-Josef Brüggemeier/Jens Ivo Engels (Hrsg.), Naturund Umweltschutz nach 1945. Frankfurt, New York 2005, 287–306, 291. 295 Hans-Peter Gensichen, Kritisches Umweltengagement in den Kirchen, in: Israel, Freiheit, 146–184, 150. 296 Vgl. hierzu Choi, Dissidenz, 125 und 167–169; Knabe, Nachrichten, 34; Ilko-­Sascha Kowalczuk, Von »aktuell« bis »Zwischenruf«. Politischer Samisdat in der DDR, in: Kowal­ czuk, Freiheit und Öffentlichkeit, 21–104, 100; Detlef Pollack, Außenseiter oder Repräsentanten? Zur Rolle der politisch alternativen Gruppen im gesellschaftlichen Umbruchprozeß der DDR, in: Deutschland Archiv 23, 1990, 1216– 1223, 1220 oder Rüddenklau, Störenfried, 27. 297 Dies waren die Kirche der Provinz Sachsen, die Sächsische Landeskirche und die Evangelische Kirche der Union.

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schalteten, konnten Gensichen und Pfeiffer weitgehend selbstständig agieren.298 Vor allem Gensichen gab dem Heim eine konziliante Linie vor, mit der beständig die Grenzen des Möglichen getestet – und auch erweitert – werden sollte, die aber niemals den Bestand gefährdete. Dieser selbstdefinierten Rolle als ›think tank‹ der Umweltbewegung wurde das Heim in den kommenden Jahren weitgehend gerecht.299 Dazu gehörte auch die weitere Absicherung der ökologischen Arbeit innerhalb der Amtskirche. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen im September 1984 fand unter der Losung »Christliche Verantwortung für die Schöpfung« statt.300 Gensichen freute sich darüber, dass das höchste Kirchenparlament in der DDR die Thematik vergleichsweise schnell aufgriff. Er wollte über die Präsenz von Umweltaktivisten und einer Ausstellung die Synodalen beeinflussen. Das MfS war über diese Entwicklung weniger begeistert und schmiedete Pläne, Gensichens Einfluss auf die Synode zu verringern. In Gesprächen mit kirchlichen Amtsträgern wollte man die »staatliche Erwartungshaltung« deutlich darlegen.301 Die Gespräche schienen teilweise die erhoffte Wirkung gezeitigt zu haben. Gensichen war kein Mitglied der Synode, sollte aber einen Vortrag zum Thema »Umweltkrise und christliche Verantwortung für die bedrohte Schöpfung« halten. Das Präsidium hatte ihn zuvor gebeten, den Vortrag so zu gestalten, dass das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nicht un­ nötig belastet werde.302 Direkt nach dem Vortrag kam der Herausgeber der Zeichen der Zeit, eine in der DDR erscheinende Kirchenzeitung, auf Gensichen zu. Er wollte den Vortrag ungekürzt abdrucken. Darüber war Gensichen ein wenig erschrocken, denn dies bedeutete, dass sein Manuskript so »weichgespült« war, dass es ohne Probleme in eine offizielle Zeitschrift kam.303 Innerhalb der Kirche wurde die Greifswalder Synode als »Volkssynode« bezeichnet. Dies war allein dem Umstand geschuldet, dass dies die erste Synode war, auf der mehr Besucher anwesend waren als Synodale.304 ›Umwelt‹ zog mehr Christen an, als andere kirchliche Themen. Von einer Massen- oder Volksbewegung zu sprechen, führte aber in die Irre. In Arbeitskreisen bereitete die Synode ihre einzelnen Beschlüsse vor. Auch hier wirkte Gensichen mit und rang mit SED-treuen Kirchenfunktionären – im 298 Gespräch mit Pfeiffer am 14.9.2011. 299 Pfeiffer selbst wählte den Ausdruck »Propagandaabteilung Ökologie der Kirche«. 300 Choi, Dissidenz, 121. 301 BStU MfS ZAIG 3359 Ministerium für Staatssicherheit, Information über ein Treffen von Vertretern sogenannter Umweltgruppen evangelischer Kirchen in der DDR vom 23. bis 25. März 1984 im Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg/Halle. 10.4.1984, pag. 7. 302 BStU MfS HA XX/4 1252 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen über Vorgänge im kirchlichen Bereich, pag. 114–127. 303 Gespräch mit Gensichen am 9.2.2010. 304 Gensichen, Beiträge des Forschungsheimes, 169.

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MfS-Jargon als »politisch-realistisch« charakterisiert305 – um einzelne Formulierungen. Seinen Vorschlägen wurde durch Abschwächungen wie »gegebenenfalls« oder »im Rahmen der Möglichkeiten« die politische Spitze genommen. Die sehr plastischen Forderungen Gensichens bekamen damit einen phrasenhaften, unverbindlichen Charakter. In eben diese Richtung stieß allerdings auch eine eigene Formulierung Gensichens, die darum von den staatstreuen Vertretern nicht beanstandet wurde.306 Es war dies die Festschreibung der Bewahrung der Schöpfung als umfassender Auftrag: »Aber Verantwortung für die Schöpfung kann nicht nur die Sache besonderer Gemeindegruppen sein. Sie wahrzunehmen ist eine ständige Aufgabe der ganzen Kirche.«307 Die Konsequenz des Synodenbeschlusses war nicht, dass kritisch eingestellte Pfarrer und Amtsträger den Umweltgruppen gegenüber nun wohlwollend oder förderlich auftraten. Aber die Kirche hatte sich offiziell zum Wirken von Umweltgruppen unter ihrem Dach bekannt, was es wesentlich schwieriger machte, sie aus diesem zu vertreiben. Insofern wirkte der Beschluss wie eine Bestandsgarantie. »Wie man in den Wald rußt…« und die Kirchenwälder Nach der doch als erfolgreich zu bezeichnenden Synode intensivierten G ­ ensichen und Pfeiffer wieder ihre Anstrengungen auf inhaltlichem Gebiet. Nach Herausgabe der zweiten, überarbeiteten Auflage der Schrift Die Erde ist zu retten 1982, hatte sich der naturwissenschaftliche Arbeitskreis dem Thema Waldschäden zugewandt. In der 12. Ausgabe der Briefe 1985 wies das Forschungsheim erstmals auf eine neue Publikation zur Thematik hin.308 Mit 32 Seiten war Wie man in den Wald rußt… wesentlich kürzer als die Erde-Schrift.309 Als Einstieg wählten Gensichen und Pfeiffer den Bericht einer Erzgebirgsbewohnerin, Dorothea Kutter, der so auch schon auf dem Kirchentag 1983 in Dresden kursiert war.310 Der Bericht sollte Betroffenheit und Empathie auslösen, bevor die Schrift zu einem betont sachlichen Ton zurückkehrte. Es folgten Informationen zu Schadbildern, Schadverläufen, schadauslösenden Stoffen und deren Wirkungsweise in Luft und Boden. Die Informationen rekurrieren 305 Vgl. BStU MfS HA XX/4 1252, Ministerium für Staatssicherheit, Informationen über Vorgänge im kirchlichen Bereich. 306 Gespräch mit Gensichen am 9.2.2010. 307 Anonymus, Beschluß der Synode des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR vom 25.9.1984, in: Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, 1984, 13–14, 13. 308 Kirchliches Forschungsheim Wittenberg, Ankündigungen, in: Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch -Erde, 1985, 22, 22. 309 Hans-Peter Gensichen, Gerd Pfeiffer, Wie man in den Wald rußt… Wittenberg. 1985. 310 Vgl. S. 343.

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vielfach auf Ergebnisse der bundesdeutschen Waldsterbensforschung. Die Autoren hatten also Zugang zur entsprechenden Literatur und werteten diese aus. Sie unterschieden dabei allerdings scharf zwischen den »klassischen Rauchschäden«, die im Nahbereich der Emittenten aufträten, und den »neuartigen Waldschäden«, die die Fachleute überrascht hätten. Damit folgten die beiden kirchlichen Umweltaktivisten der gleichen Dichotomie in der Klassifizierung, die auch die DDR-Forstwissenschaft in ihren offiziellen Darstellungen benutzte. Die beiden Autoren setzten sich aber – anders als die Forstwissenschaftler – intensiv mit der Vokabel »Waldsterben« auseinander und kamen zu einer positiven Wertung: »Die Bezeichnung ›Waldsterben‹ – auch wenn sie keine wissenschaftliche Vokabel ist – drückt aber sehr gut die Dimension, die neue Qualität dieser Schäden aus.«311 Dabei war es unerheblich, ob es sich bei der neuen Qualität um die großflächige Ausbreitung bekannter Schadmuster handelte oder um neue, unerforschte Schadbilder. Die Schrift erwähnte lediglich, dass »jetzt auch im Südwesten unseres Landes« die aus der BRD bekannten neuartigen Schäden aufträten. Es ist aber nicht zu erkennen, dass Gensichen oder Pfeiffer die »Bestürzung« im Westen teilten, die dort in dem Begriff »Waldsterben« mitschwang und die weiter oben beschrieben wurde.312 Belastbares Zahlenmaterial konnte die Studie nicht liefern. Sie gab wie schon die Erde-Schrift 1982 den Umfang der geschädigten Waldfläche mit 300.000 ha an, eine Zahl aus dem Jahr 1969. Für das Erz- und Elbsandsteingebirge nannte sie 97.700 ha als geschädigt, wobei diese Zahl von 1975 stammt. Das Forschungsheim Wittenberg scheint damit keinen Zugriff auf aktuellere Schätzungen und Forschungsergebnisse aus Tharandt oder Eberswalde gehabt zu haben, ein ›Erfolg‹ der strengen Geheimhaltungspolitik der SED. Diese Schrift erreichte nicht die Verbreitung und den Bekanntheitsgrad wie Die Erde ist zu retten. Sie scheint auch nicht deren Bedeutung für das kirchliche Umweltengagement gehabt zu haben. Während spätere Beiträge des Samisdat immer wieder auf die Erde-Schrift zurückgriffen, fand Wie man in den Wald rußt… kaum Widerhall. Gensichen selbst vergaß sie in seiner Auflistung der wichtigsten kirchlichen Druckschriften.313 Sie führte aber dem Forschungsheim eine völlig neue ›Mitarbeitergruppe‹ zu, die Kirchenförster. Wie man in den Wald rußt… war der Aufhänger für die Gründung eines Arbeitskreises der Kirchenförster, der sich ab 1985 einmal im Jahr in Wittenberg traf.314 Nach Pfeiffer umfasste der Kreis nahezu die Gesamtheit der Kirchenförster. 311 Ebd., 12. 312 Ebd., 11. 313 Gensichen, Umweltverantwortung, 297–298. 314 Gespräch mit Schicketanz am 9.10.2009. Gerd Pfeiffer verließ das KFH Wittenberg 1988. Am 1.4.1989 trat Michael Schicketanz dessen Nachfolge an. Seine Hauptaufgabe lag in der Betreuung des Försterkreises, der heute noch besteht.

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Diese fühlten sich von den übergeordneten Stellen alleingelassen und unterinformiert. Das bestimmende Thema auf den Treffen waren darum die immissionsbedingten Waldschäden. Hier wurde auch der Kontakt zu den Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieben gesucht, um sich mit diesen über ihre Erfahrungen – etwa im Bereich der Wiederaufforstung  – auszutauschen. Vielfach lief dieser Austausch auch auf der privaten Ebene ab, entstammten doch alle Kirchenförster ebenfalls den staatlichen Ausbildungsstätten in Tharandt oder Schwarzburg (für Forstingenieure).315 Im Försterkreis entstand 1986 die Idee, eine eigene Waldschadenserhebung auf Basis der Kirchenwälder durchzuführen. Der Kirchenwald umfasste mit 35.500 ha etwa ein Prozent der gesamten Waldfläche. Ab 1952 hatte die Kirche mit dem Aufbau einer Eigenbeförsterung begonnen, die die zerstückelten und weit verstreuten Waldflächen erfassen sollte. 1980 war dieser Prozess abgeschlossen. Die Kirche verfügte über 56 Forstreviere, die über das ganze Land verteilt waren.316 Damit war es möglich, eine verlässliche und aussagekräftige Schadenserhebung durchzuführen. Aufgrund der begrenzten Kapazitäten der Kirchenförstereien basierte die Erhebung allein auf einer Nadelwertanalyse bei Kiefern und Fichten. Andere Baumarten oder Methoden – etwa eine pH-WertBestimmung des Bodens – wurden nicht beachtet. Allerdings lehnte sich die Erhebung an die Methoden der Staatlichen Forstwirtschaftsbetriebe an, hier war also eine gewisse Vergleichbarkeit gegeben. Die komplette Studie wurde niemals veröffentlicht, sondern kursierte nur innerhalb der entsprechenden kirchlichen Stellen. Pfeiffer fasste allerdings die wichtigsten Ergebnisse in den Briefen zusammen. Nur 19,7 Prozent der Bäume bekamen das Prädikat »gesund«. 17,8 Prozent der Bäume hatten die Schadstufen 3 und 4, »nicht regenerationsfähig« bzw. »sterbend«.317 Die Schadenserhebung durch die Kirchenförster verursachte aufseiten des Staates keine besonderen Aktivitäten. Weder in den Unterlagen des MUW noch des MLFN fanden sich entsprechende Reaktionen. Allein Felfe, ZK-Sekretär für Landwirtschaft, ließ sich 1987 über Aufbau und Struktur der Kirchenwälder berichten.318 Neben den bereits erwähnten Schriften brachte das Forschungsheim Wittenberg noch weitere Ratgeber und Publikationen in Umlauf. Diese zielten primär auf eine Veränderung des individuellen Lebensstiles ab, gaben etwa Hinweise zu ökologischem Gärtnern und befassten sich weniger mit den ›großen‹ The-

315 Gespräch mit Michael Schicketanz am 9.10.2009. 316 Hans-Joachim Bormeister, Kirchenwald in der ehemaligen DDR, in: Allgemeine Forstzeitschrift 52, 1998, 1400–1402, 1400–1401. 317 Gerd Pfeiffer, Zur Einschätzung der Waldschadenssituation in der Kirchenprovinz Sachsen, in: Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, 1988, 19–21, 19–20. 318 SAPMO DY 30/122 ZK der SED Abteilung Landwirtschaft, Information für Genossen Werner Felfe vom 25.8.1987, o. pag.

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men wie Luftverschmutzung, Saurer Regen oder Waldsterben. Zwar hatten entsprechende Berichte immer wieder ihren Platz in den Briefen, der Schwerpunkt lag jedoch eindeutig bei der einfachen Bereitstellung von Informationen sowie Ratschlägen zur persönlichen Lebensführung. Eine Analyse des MfS von 1984 gibt am treffendsten die Ausstrahlung des Heimes wieder, das Mitte der 1980er Jahre im Zenit seiner Wirkmächtigkeit stand: Vom Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg gehen direkte Beteiligungen an Aktionen und Initiativen zur Bildung neuer »Ökologiegruppen« und Entwicklungen und Festigung bestehender aus. Es gibt konzeptionelle Vorstellungen über eine Zentralisierung und Informationsstelle in Wittenberg für alle Ökologiegruppen, für die Ausarbeitung eines Aktionsprogrammes, welches auf die Entwicklung und das Training einer »umweltbewußten Lebensweise«, das Festmachen der »Umweltarbeit« als Kirchenarbeit und ihre Verankerung in der gesamten Gesellschaft orientiert, sowie zur Durchführung von »Umweltdekaden« der evangelischen Kirchen. Zugleich wird auf weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen orientiert.319

Ausgehend von der Information betrieb Gensichen die Kommunikation. Ein wichtiges Element waren dabei die jährlichen Vertretertreffen der Ökologiegruppen in Wittenberg, die ab 1981 stattfanden.320 Jede Gruppe konnte eine oder zwei Personen in das Forschungsheim schicken, die dort von ihren Arbeiten und Aktionen berichteten. Auf diese Weise erfuhren viele Gruppen erstmals von der Existenz anderer Gleichgesinnter und konnten von deren Auftreten und Argumentationen lernen. Gensichen sah sich dabei nicht in der Rolle des Organisators, sondern stellte den Gruppen nur einen Raum für den Austausch zur Verfügung. Einzelne Aktionen und Veranstaltungen mussten die Gruppen selbst absprechen und durchführen. Diese Haltung wurde dem Heim nicht zum Verhängnis, minderte aber den Einfluss auf die DDR-Umweltbewegung ab 1985 erheblich. In den ostdeutschen Großstädten entstanden in dieser Zeit eine Vielzahl neuer Gruppen mit neuen Organisationsformen und gesteigerter Konfliktfähigkeit, allen voran die Umweltbibliothek in Ost-Berlin. Die Ost-Berliner Samaritergemeinde von Pfarrer Rainer Eppelmann etwa hatte am 5.  Juni 1984 eine Müllsammlung veranstaltet. Tags darauf stellte sie den Müllberg auf dem Außengelände der Kirche aus, an dem zusätzlich Parolen angebracht waren: »Umweltschutz statt Umweltschmutz«, »Es gibt keine rauchresistenten Menschen«, »Heute sterben die Bäume  – morgen wir?« oder »Radfahren statt Autofahren«. Eppelmann weigerte sich, den Müllberg zu entfernen, und hinderte mit anderen Gemeinde­

319 BStU BV KMSt. Leiter 61 Ministerium für Staatssicherheit, Zusammenarbeit des Leiters der BV KMSt. mit anderen Diensteinheiten 1982–1984, pag. 79. 320 Neubert, Geschichte der Opposition, 454.

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mitgliedern den VEB Stadtwerke an der Beseitigung des Müllbergs.321 Diese Gruppen wollten nicht länger die konziliante Linie mittragen. Sie schätzten das Forschungsheim als Informationslieferanten, bauten sich aber zunehmend eigene Kontakt- und Informantennetze im Westen auf. In den Ökologiegruppen der Städte, die sich weiterhin unter dem Dach der Kirche trafen, sammelten sich immer mehr junge Menschen, die sich dem Staat und seinen Institutionen entziehen wollten, die in dessen Deutungsangebot nicht mehr fündig wurden und die eigene, individuelle Lebensformen ausprobieren wollten. Dieses Klientel fühlte sich auch von einer durch christliche Ethik geprägten Schöpfungsverantwortung immer weniger angesprochen. Das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg war ab 1975 für zehn Jahre lang die Schnittstelle einer homogenen, vom christlichen Menschenbild inspirierten Umweltbewegung in der DDR. In dieser Rolle hatte es durchaus erfolgreich agiert. Es hatte den Anstoß für die Bildung neuer Gruppen gegeben, hielt diese miteinander im Gespräch und versorgte sie beständig mit Hintergrundinformationen. Nach 1985 verlor das Heim diese herausragende Position, da sich immer mehr Menschen in den Umweltgruppen engagierten, die dessen Wertvorstellungen nicht teilten und die mehr tun wollten, als ihr Verhalten und ihre Konsumgewohnheiten ändern. Den Wunsch nach mehr Vernetzung und nach mehr Aktion wollten und konnten die maßgeblichen Akteure im Forschungsheim nicht erfüllen. Andere Institutionen traten an deren Stelle, die mehr Eskalationswillen besaßen.322 Edda Müller definierte die Jahre 1978 bis 1982 in der Bundesrepublik als eine Phase der »Politisierung des Umweltschutzes«. Modifiziert ließe sich dies auch auf die Ereignisse in der DDR übertragen. Nach Müller trug zur Politisierung die »kritische Berichterstattung der öffentlichen Medien zur Umweltsituation« bei.323 In der DDR waren es nicht die staatskontrollierten Medien, die über die Umweltbelastungen berichteten. Diese Aufgabe übernahm – im wesentlich kleineren Rahmen – der ökologische Samisdat, der ab 1986 eine Ersatzöffentlichkeit herstellte. Insofern ist Knabe zuzustimmen: Das Forschungsheim in Wittenberg war ein Ausgangspunkt für eine gesellschaftskritische Öffentlichkeit. In dem sich anschließenden ›Kampf um die Öffentlichkeit‹ spielte es jedoch nur noch eine Nebenrolle. Dabei wuchs die Verbreitung und Auflage der Briefe immer noch an und blieb als Informationsspender gefragt. Allein 1987 erhielt das Heim über 100.000 Seiten Papier, mehrere tausend Briefumschläge und über 321 BStU MfS HA XX/4 1252 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen über Vorgänge im kirchlichen Bereich, pag. 233–235. 322 Das MfS hielt bereits 1984 fest, dass Gensichen mit seinem Wirken im Bereich des Legalen bleiben und »Umweltarbeit für die DDR in der DDR« machen wolle. BStU MfS ZAIG 3359 Ministerium für Staatssicherheit, Information Vertretertreffen 1984, pag. 6. 323 Müller, Innenwelt, 123.

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32.000 Mark als Spenden von den Briefe-Lesern.324 Es dominierte aber nicht länger monolithisch die ökoorientierte Subkultur. Diese wurde zunehmend bunter und vielfältiger.

4.3 Kampf um die Öffentlichkeit In dem eingangs vorgestellten Modell der Öffentlichkeit von Gerhards und Neidhardt ist die »Öffentlichkeit in der Topographie der Gesellschaft an zentraler Stelle im Vorhof zur Macht platziert«. Darum ist sie »immer auch ein umkämpftes Gebiet«.325 Das Modell ist für die Verhältnisse in westlichen, pluralistischen Gesellschaften formuliert worden. Doch erscheint gerade das Konzept der umkämpften Öffentlichkeit als Schlüssel der Herrschaftsausübung für die Verhältnisse in der DDR als tragfähig.326 Das Kirchliche Forschungsheim hat mit seinen Publikationen und Veranstaltungen versucht, diesen Kampf aufzunehmen. Es war allerdings ein stark formalisierter und akademischer Kampf. Gensichen und seine Mitstreiter rangen innerhalb der Kirche um eine theologische Ab­ sicherung des Umweltschutzgedankens. Darüber hinaus definierte sich das Forschungsheim als Sammler und Spender von Informationen, als Schaffer einer ›Öffentlichkeit der gedruckten Form‹. Für das herrschende Regime stellte das Forschungsheim damit ein kalkulierbares Risiko dar. Dessen Informationen erreichten zum überwiegenden Teil lediglich christliche Kreise, außerhalb derer waren sie weitgehend unsichtbar. Die Versuche Gensichens, dieses selbstreferenzielle System zu durchstoßen, waren nur zaghaft. Zu groß schien ihm die Gefahr, bei einem offensiveren, »öffentlichkeitswirksameren« Auftreten den eigenen Handlungsraum weiter verengt zu bekommen. So war das Heim ein ›Mastermind‹ der systemunabhängigen Umweltbewegung, auf dessen Wissen jeder zugreifen konnte, der nur davon wusste. Neben dieser intellektuellen Annäherung an den Umweltschutz gab es Ende der 1970er Jahre verteilt über das Land den Umweltschutz der Tat. Ein frühes Beispiel ist die Baumpflanzaktion einer kirchlichen Jugendgruppe in Schwerin entlang einer neu gebauten Straßenbahntrasse im November 1979. Der VEB Grünanlagen unterstützte die Aktion mit Pflanzen und Gerät, war doch das Engagement der jungen Menschen dem Ideal des zupackenden sozialistischen Menschen nahe.327 Dahinter stand der einfache 324 Hans-Peter Gensichen, [Impressum], in: Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, 1988. 325 Gerhards, Neidhardt, Strukturen, 40. 326 Stephan Merl ist in seinem Essay der Frage nachgegangen, wie es über das Mittel der Kommunikation gelang, dass in Diktaturen die politische Minderheit eine stabile Herrschaft über eine schweigende Mehrheit ausübte. Stephan Merl, Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich. Göttingen 2012. 327 Vgl. zum »proletarischen Tüchtigkeitsideal« Bauerkämper, Sozialgeschichte, 13.

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Wunsch, die neuen Stadtviertel wohnlicher zu gestalten, die das Honecker’sche Wohnungsbauprogramm überall im Land aus dem Boden gestampft hatte. Für Begrünungsmaßnahmen waren in dem Programm keine Mittel eingeplant, die Bautrupps ließen eine sterile Welt aus Beton und Asphalt hinter sich zurück. Die Schriftstellerin Edith Anderson hat das Bedürfnis des Menschen nach Grün in seiner Umgebung in ihrem Kinderbuch Der Klappwald 1978 zusammengefasst. In einer düsteren Zukunft wohnen die Menschen in verdreckten Städten. Der Versuch einer Familie, sich aus Papier einen grünen Wald zu basteln, scheitert am einsetzenden Smog-Regen.328 Allerdings entwickelte die Aktion eine Eigendynamik, die nicht mehr im Interesse der lokalen Behörden lag. Zum ersten fand sie Nachahmer in zahlreichen anderen DDR-Städten, zum zweiten zog ein zweiter Baumpflanztag in Schwerin im März 1980 über 100 Jugendliche an. Das gebotene Rahmenprogramm war dezidiert christlich gehalten und zielte – im Verbund von Geist und Tat – auf die Schaffung eines umfassenderen Verständnisses von Umweltschutz ab.329 Damit zerschlugen sich die Hoffnungen der Behörden, die Jugendlichen durch die Baumpflanzaktion weitgehend neutralisieren zu können, ihnen das Gefühl zu vermitteln, in der DDR gehe es in Sachen Umweltschutz voran und sie selbst könnten daran mitwirken. In Zukunft kriminalisierte der Staat diese Form des Umweltengagements und organisierte Begrünungsaktionen in eigener Regie, um eine zunehmende Selbstorganisation der Gruppen zu verhindern.330 Eine ähnliche Aktion in Potsdam nannte die lokale Presse das Engagement junger Christen. Die Meldung schreckte höhere SED-Kreise auf. Christlichen Kreisen dürfe man in staatlichen Medien keine Bühne geben und die Bürger mit der Frage zurücklassen, warum staatliche oder gesellschaftliche Institutionen nicht selbst die notwendigen Begrünungen ausführen könnten.331 Die SED wollte vermeiden, dass außerhalb ihrer Kontrolle eine Bewegung entstand, die ökologische Themen besetzte. Die 1980 gegründete Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) hatte die Aufgabe, den Wunsch, etwas für die Umwelt zu tun, zu kanalisieren, und damit den christlichen Umweltgruppen den Großteil des Mitgliederpotentials abzugraben. Im Gemeindezentrum Schwerin-Lankow fand dennoch im Februar 1981 das erste Winterseminar statt, das erste Ökologieseminar in der DDR überhaupt.332 Zwei der maßgeblichen Initiatoren  – Jörn Mothes und Nikolaus Voß – bezeichnete das MfS Mitte der 1980er Jahre als 328 Edith Anderson, Der Klappwald. Berlin (Ost) 1978. 329 Lothar Probst, Opposition und Widerstand in der DDR. Beispiele aus einer regionalgeschichtlichen Untersuchung in Mecklenburg-Vorpommern, in: Pollack, Rink, Verweigerung, 188–207, 196. 330 Stoltzfus, Public Space, 396. 331 Gespräch mit Jes Albert Möller am 28.4.2010. 332 Das Programm ist einzusehen unter http://www.jugendopposition.de/index.php?id =2311. Aufgerufen am 20.11.2011.

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herausragende Persönlichkeiten der Ökologiebewegung.333 Während Mothes in Schwerin blieb und sich aktiv an den Protesten gegen den Ausbau der Autobahn Wismar-Schwerin beteiligte, zog Voß nach Leipzig. Nach seinem Dienst als Bausoldat wirkte er als Leiter der bereits erwähnten Arbeitsgruppe Umweltschutz Leipzig und brachte ab November 1981 die erste ökologische SamisdatZeitschrift Streiflichter mit heraus. Die Vielzahl von Gruppen und einzelne Aktionen, die über eine Kombination aus Aktionsöffentlichkeit und Schrifttum versuchten, über Kirchenkreise hinaus Menschen zu erreichen, stehen im Zentrum dieses Abschnitts. Der Fokus liegt dabei auf solchen Gruppen, die sich der immissionsbedingten Waldschäden und begleitenden Randthemen annahmen. Verbunden damit ist die Frage, wie die SED und die staatlichen Behörden auf die Herausforderung reagierten, in welcher Weise sie den Handlungsspielraum einzuschränken versuchten, eigene Akzente setzten oder Freiräume ließen, um so Kontrolle ausüben zu können.

4.3.1 Gruppen und Aktionen Die Bemühungen der Ministerien für Umweltschutz und Wasserwirtschaft sowie Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft um eine effektive Luftreinhalte­ politik und damit um einen besseren Schutz der Wälder blieben dem größten Teil der DDR-Bevölkerung verborgen. Stattdessen nahmen die Menschen in der DDR eine ständige Verschlechterung der Umweltbedingungen sowie den Verschluss der Umweltdaten ab 1982 wahr  – sofern sie sich dafür interessierten. Der DDR-Umweltaktivist Jes Albert Möller ist der Überzeugung, der Zeitgeist Umweltschutz sei Anfang der 1980er über die Mauer geschwappt.334 Sollte dies der Fall gewesen sein, reagierte die Mehrheit der Bevölkerung nur zaghaft auf das auf sie hereinbrechende westliche Angebot. Möglicherweise nahm sie die verschiedenen Arten der Umweltbelastung verstärkt wahr und hieß sie auch nicht gut, aber räumte der Beseitigung derselben eine niedrige Priorität ein. In den drei Kategorien gesprochen, in die Brüggemeier Umweltbewusstsein unterteilt – grundsätzliche Einstellungen, Einstellung zu einzelnen Fragen sowie die Bereitschaft, gemäß diesen Wertvorstellungen zu handeln335 –, war der dritte Punkt in der DDR nur gering ausgeprägt. 333 BStU MfS HAXX/AKG 5662 Ministerium für Staatssicherheit, Zusammenfassung von Erkenntnissen über die Entwicklung, Pläne, Absichten und Aktivitäten gegnerischer und feindlich-negativer Kräfte zur Schaffung einer sogenannten Ökologie-und Umweltschutzbewegung in der DDR und deren operative Bekämpfung. 2.9.1985, pag. 11. 334 Gespräch mit Jes Albert Möller am 28.4.2010. 335 Brüggemeier, Natur, Gesundheit, Eigentum, 1.

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Dies deckt sich mit den Ergebnissen anderer Autoren, nach denen Umweltbewusstsein kein Privileg reicher Gesellschaften ist, die Bereitschaft, etwas gegen Umweltprobleme zu unternehmen, hingegen schon.336 Die DDR war zwar der reichste Staat im Ostblock, für die Bevölkerung blieb aber immer die Bundesrepublik die Referenzgesellschaft. Und im Vergleich zu dieser fühlten sich viele arm.337 Dies hängt auch damit zusammen, dass die Lebensrealität in der UdSSR den meisten DDR-Bürgern verschlossen blieb. Wer hingegen »in die Sowjetunion reisen durfte, zeigte sich zumeist tief erschüttert« von den dort herrschenden Bedingungen.338 Insofern waren es die christlich geprägten Kreise in der DDR, die die konsequentesten Überlegungen zum Umweltschutz anstellten, die redeten und handelten. In ihrem vom Materialismus unterschiedlichen Erfüllungsversprechen waren Konsum und Umweltverbrauch eben keine Notwendigkeit. Glück und Zufriedenheit waren im Gegenteil auf bewussten Verzicht und Überprüfen der eigenen Bedürfnisse gegründet. Dies bedeutete zum einen einen völlig neuen Zugang zur Umweltthematik, zum anderen aber die ›Selbstkastration der Kirche‹. Die Mehrzahl der DDR-Bürger war nicht bereit, diesen Weg mitzugehen, sondern schaute lieber in den Westen. Die Umweltblätter veröffentlichten eine von der Karl-Marx-Universität Leipzig durchgeführte Umfrage. Danach waren die Fragen des Umweltschutzes in der DDR brisant, aber weniger als die Hälfte der Befragten war bereit, ihre Lebensgewohnheiten zu ändern.339 In der Folge wird anhand von fünf Fallbeispielen den Fragen nachgegangen, wer sich in den Gruppen aktiv engagierte und wo sie – regional und sozial ge­ sehen – herkamen. Wie gingen sie im Einzelnen vor, wie planten sie ihre Aktionen und auf welche Hindernisse stießen sie bei der Umsetzung? Abgestorbene Bäume in Kirchen Jes Albert Möller, Jahrgang 1961, engagierte sich bereits während der Schulzeit in Potsdamer Umweltgruppen. Seinen Wunsch, nach dem Abitur 1981 Biologie zu studieren, verhinderte das MfS. Stattdessen arbeitete er als Gärtner und er 336 Vgl. Andreas Diekmann, Peter Preisendörfer, Umweltsoziologie. Eine Einführung. Reinbek 2001, 97 und Prittwitz, Das Katastrophenparadoxon, 108 f. 337 Vgl. Steiner, Plan, 10. Allerdings sind Konzepte des »environmentalism of the poor« für den deutsch-deutschen Vergleich wenig hilfreich. Zwar war die DDR-Bevölkerung materiell gesehen ›ärmer‹, doch war sie strukturell als Industriegesellschaft organisiert. Die im environmentalism of the poor wirksame Annahme, dass weniger wohlhabende Gesellschaften ein hohes Interesse an Umweltschutz haben, um die Ertragsfähigkeit der Felder, Wälder und Gewässer zu erhalten, die unmittelbar das Überleben sichern, ist für die DDR nicht gegeben. 338 Kowalczuk, Endspiel, 26. 339 Umweltbewußtsein in Leipzig-Grünau, in: Umweltblätter. Infoblatt des Friedens-und Umweltkreises Zionskirchgemeinde, Februar 1988, 22–24.

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fuhr auf dem Treffen kirchlicher Umweltgruppen in Potsdam-Hermannswerder 1983 Details zu den Waldschäden im Erzgebirge.340 Gemeinsam mit zwei anderen Mitgliedern der Umweltgruppe in der Erlöser-Kirchgemeinde in PotsdamWest – Christian Grauer und Frank Ortmann – fasste Möller den Entschluss, das Phänomen in Potsdam stärker bekannt zu machen. Zu Weihnachten 1983 wollten sie in Potsdamer Kirchen abgestorbene Fichten aus dem Erzgebirge aufstellen und mittels einer Wandzeitung über die dahinter liegenden Ursachen informieren. An Weihnachten kamen mehr Menschen als sonst in die Kirchen, mit der Aktion konnte darum eine breitere Öffentlichkeit angesprochen werden. Sechs oder sieben Pastoren sagten schließlich zu, die Bäume in ihren Kirchen aufzustellen. Das Forschungsheim Wittenberg wirkte hier als Koordinierungs- und Anlaufstelle und vermittelte Möller einen Pfarrer im Osterzgebirge in der Nähe von Zinnwald. Dort angekommen, erklärte der Pfarrer der Gruppe die Lage des Kirchenforstes Schellerhau. Beim Schlagen der Fichten – mitten im Wald und weitab jeder Straße – störte ein Volkspolizist die Gruppe. Nachdem diese aber auf die Erlaubnis des Pfarrers verweisen konnte, zog der Polizist wieder ab. Fünf Fichten nahm die Gruppe im Zug mit nach Potsdam. Dort warteten am Bahnsteig bereits Einheiten des MfS. Eine knappe Woche verbrachten Möller, Grauer und Ortmann im Untersuchungsgefängnis der Bezirksverwaltung Potsdam des MfS bei intensiver Befragung und strikter Isolation voneinander. Der relativ glimpfliche Ausgang der Aktion ist dem Einsatz des Generalsuperintendenten Günter Bransch zu verdanken. Am 23. Dezember 1983 drohte er dem Rat des Bezirkes Potsdam damit, in seiner Weihnachtspredigt in der Nikolaikirche das Thema anzusprechen. Damit wäre genau die Öffentlichkeit hergestellt worden, die das MfS mit den Verhaftungen zu verhindern suchte. Das Ergebnis war ein Kompromiss. Bransch verzichtete auf die Predigt, die Umweltgruppe auf die Bäume, dafür erfolgte die Freilassung und die Verhängung einer ge­ringen Geldstrafe in Höhe von 750 Mark wegen »Rowdytums«. Das Geld bekam Möller nach der Wende von der Bundesrepublik im Tauschverhältnis 2:1 zurückerstattet. Die Ereignisse hatten ihn nicht abgeschreckt, und er blieb der kirchlichen Umweltbewegung treu, die sich aber immer stärker politisiert habe. 1986 nahm er ein Theologiestudium auf, wechselte 1990 zu Jura. Nachdem er in Potsdam aktiv an der Gründung der SPD mitgewirkt hatte, saß er von März bis Oktober 1990 als Abgeordneter in der Volkskammer und stimmte dort mit »Genugtuung« für die »Abschaffung der DDR«.

340 Alle Angaben zum Vorfall stammen aus einem Gespräch mit Jes Albert Möller am 28.4.2010.

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Engagement im Erzgebirge Bedeutend tragischer endete das Engagement einer jungen Mutter im Erzgebirge. Der Klarname kann aus Gründen des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung nicht angegeben werden und ist durch das Synonym Anna Hentschel ersetzt. Der Fall ist ein Beispiel für eine erfolgreiche »Zersetzung«, ein Terrormittel, auf das das MfS nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 zurückgriff.341 Grundlage war die MfS-Richtlinie 1/76 »Zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)« von Erich Mielke.342 Diese »weichen Formen der Verfolgung«343 oder »lautlosen Formen der Zerstörung«344 basierten auf sechs grundlegenden Handlungsmustern: Inszenierung des beruflichen Misserfolgs, Verunsicherung und Disziplinierung durch ständige Vorsprache bei Vorgesetzten, Polizei oder MfS, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Diskreditierung des Ansehens, Zerstörung des Privatlebens und Kriminalisierung wegen nicht-politischen Vergehen. Alle Maßnahmen sollten so gestaltet sein, dass sie wie zufällig wirkten und das Opfer keinesfalls das MfS dahinter vermutete. Am Ende sollten die »durch Zersetzung ausgelösten persönlichen Sorgen […] die persönlichen Gegner so beanspruchen, dass ihnen weder Zeit noch Energie für feindliches Handeln blieb«.345 Frau Hentschel zog 1980 mit ihrem Mann, einem Pfarrer, aus Dresden in ein Dorf im Erzgebirge. Das Ehepaar fiel 1981 als Nichtwähler auf und stand von diesem Zeitpunkt an unter loser Beobachtung des MfS. 1983 vermerkte dieses, dass sich das Ehepaar, besonders Frau Hentschel, für Umweltprobleme interessierte: »Schwerpunktmäßig befassen sie sich mit dem Absterben des Waldes im Erzgebirge sowie der Bleihütte Freiberg.«346 Frau Hentschel verfasste einen Bericht über die Situation im Erzgebirge in einer kirchlichen Samisdatzeitschrift, rief einen Umweltkreis in ihrem Wohnort ins Leben und plante Exkursionen in geschädigte Waldgebiete. Das MfS instruierte alle staatlichen Förster im betroffenen Gebiet. Sie sollten eine Zusammenarbeit mit Frau Hentschel ablehnen.347 Zudem suchte das MfS nach einer Mög 341 Ehrhart Neubert, Der KSZE-Prozeß und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, in: Klaus-Dietmar Henke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand und Opposition in der DDR. Köln u. a. 1999, 295–308, 298. 342 David Gill, Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin 1991, 346–401. 343 Hubertus Knabe, »Weiche« Formen der Verfolgung in der DDR. Zum Wandel repressiver Strategien in der Ära Honecker, in: Deutschland Archiv 30, 1997, 709–719. 344 Sandra Pingel-Schliemann, Lautlose Formen der Zerstörung. Zersetzungsmaßnahmen des MfS, in: Deutschland Archiv, 2003, 233–242. 345 Ebd., 235. 346 BStU BV Ddn. AOP 2834/86 Ministerium für Staatssicherheit, Operativer Vorgang zur Familie GESCHWÄRZT in GESCHWÄRZT, pag. 22–23. 347 BStU BV Ddn. AOP 2834/86 ebd., pag. 95.

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lichkeit, die Aktivitäten von Frau Hentschel einzudämmen. Durch das Abhören des Telefons kam das MfS auf die Vermutung, dass sie eine außereheliche Beziehung unterhalte, von der ihr Mann nichts wusste. Unabhängig davon, ob dies den Tatsachen entsprach, fertigte das MfS eine Karikatur an, die Frau H ­ entschel mit ihrem vermeintlichen Liebhaber zeigte, daneben Herrn Hentschel als gehörnten Ehemann. Diese Karikatur wurde an Herrn Hentschel, Bekannte und an kirchliche Stellen verschickt. Das MfS vermerkte zufrieden, dass sich Frau Hentschel nun verstärkt um familiäre Angelegenheiten kümmern musste und weniger Zeit für ihr kirchliches Umweltengagement habe. Nachdem die Ehe 1985 geschieden wurde, hieß es im Abschlussbericht: »Die Zielstellung der Zersetzung des Arbeitskreises […] wurde dadurch operativ erreicht und von der H. gehen keinerlei kirchliche Aktivitäten mehr aus.«348 Knabe schätzte, dass etwa 25.000 Menschen in der DDR von Zersetzungsmaßnahmen betroffen waren. Nicht jeder Einzelfall nahm dabei einen ähnlichen Ausgang wie bei Familie Hentschel, aber Knabe sieht das bewusst eingesetzte Machtmittel der Zersetzung bei der Frage nach dem UnrechtsstaatCharakter der DDR zu wenig beachtet.349 Unter dem Grünen Kreuz Zwischen der massenmedialen und der Encounteröffentlichkeit steht die Versammlungsöffentlichkeit. In der staatssozialistischen Gesellschaft waren die Möglichkeiten für systemkritische Versammlungsöffentlichkeit eng gesteckt. Meist waren es die staatlichen oder gesellschaftlichen Organisationen selbst, die Versammlungen ein Forum boten. Eine wichtige Ausnahme waren die Kirchentage. Hier trat die Kirche als Organisator auf, der zwar Rücksicht auf vom Staat gesetzte Rahmenbedingungen nehmen musste, ansonsten die Inhalte weitgehend frei und selbstbestimmt festlegen konnte. Gerhards und Neidhardt haben allerdings auch festgestellt, dass die Versammlungsöffentlichkeit eine besondere Form der Öffentlichkeit sei, da sie zu großer Homogenität neige. Die Teilnahme an einer Veranstaltung ist in der Regel freiwillig und setzt Interesse voraus. Darum neigt die Versammlungsöffentlichkeit dazu, bereits vorhandene Wertvorstellungen und Einschätzungen beim Teilnehmer zu verfestigen. Im Umkehrschluss erfolgt bei geringem Themeninteresse auch keine Teilnahme.350 Ein Kirchentag war darum wenig geeignet, Menschen außerhalb der Kirchen anzusprechen. Die staatlichen Medien berichteten nicht davon und die Berichte und Ankündigungen in Kirchenzeitun 348 BStU BV Ddn. AOP 2834/86 ebd., pag. 324. 349 Knabe, Verfolgung, 714. 350 Gerhards, Neidhardt, Strukturen, 52.

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gen lasen wiederum primär kirchlich gebundene Kreise. Für diese Kreise waren die Kirchentage ein Forum der Selbstvergewisserung und Selbstbestärkung, ein Ort des Austauschs und gegenseitiger Information. Für das Thema Umwelt nahm dabei der Kirchentag der Sächsischen Landeskirche im Juli 1983 in Dresden eine zentrale Stellung ein. Das Symbol des Kirchentages war ein großes grünes Kreuz, das aus Salatköpfen gefertigt im Mittelschiff der Kreuzkirche hing. Der Dresdner Künstler Eberhard Göschel wollte damit »Erste Hilfe für die Umwelt« ausdrücken. An die Teilnehmer wurden kleine grüne Kreuze aus Ton zum Mitnehmen verteilt. Das MfS urteilte 1985, dass kirchliche Umweltkreise bestrebt seien, das »Grüne Kreuz« als Erkennungszeichen und Symbol zu installieren.351 Der Kirchentag selbst erfüllte seine Rolle als Multiplikator. Auf dem Umwelt-Forum des Kirchentages berichtete ein Anwohner aus Mölbis über die Luftbelastung durch das Schwelwerk Espenhain. Dorothea Kutter aus dem Erzgebirgsdorf Satzung bei Marienberg schilderte plastisch die Lage ihrer Heimat. Ein Spaziergang durch unseren Wald bedeutet also für uns heute nicht mehr Erholung, er weckt Erschrecken, Angst, Bitterkeit. Bei uns riecht es schon lange nicht mehr nach würziger Waldluft, bei uns ist es genauso wie im Leipziger Gebiet. Bei uns stinkt es.

Im Anschluss ging sie auf die Auswirkungen der Luftbelastung auf die Menschen ein: Atemnot, Reizhusten, Kreislaufkomplikationen, allgemeine Schwäche, Konzentrationsunfähigkeit und Herzrasen. Besonders Kinder seien stark betroffen. Nachzulesen war die Passage in den Briefen des Forschungsheimes und im SPIEGEL.352 Innerhalb der DDR verbreiteten sich die Vorträge noch auf andere Weise. Bei einem Treffen der Untergruppe »Ökologie und Frieden« des Pankower Friedenskreises wurde Anfang März 1984 eine Tonbandaufnahme von Kutters Vortrag aus Dresden abgespielt. Dazu zeigte ein »Chemiker der Kirche« Diaaufnahmen aus dem Erzgebirge. Vermutlich stammten diese aus dem Forschungsheim, wo Interessierte eine Diaserie zu Waldschäden ausleihen konnten. Laut Vermerk nahmen an dem Vortrag 80 Jugendliche zwischen 25 und 35 Jahren teil.353 351 BStU MfS HA XX 1174 Ministerium für Staatssicherheit, Einschätzung der kirchlichen Umweltarbeit 1985, pag. 14. 352 Siegfried Rüffert, Dorothea Kutter, Zwei Betroffene berichten. Auf dem Umwelt-­ Forum des Dresdner Kirchentages 1983 berichteten unte randerem SiegfriedRüffert aus 7201 Mölbis und Dorothea Kutter aus 9341 Satzung, in: Briefe, 1984, 4–7 und Anonymus, Angst im Wald, in: Spiegel, 1983, 71–72. Im Spiegel-Beitrag findet sich auf Seite 72 ein Bild des originalen »Grünen Kreuzes«. 353 SAPMO DY 30/2836 Horst Wambutt, Information über ein Treffen des Pankower Friedenskreises. 7.3.1984, pag. 1.

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Der Vortrag Kutters machte die Waldschäden oder zumindest deren dramatische Ausmaße breiter bekannt. Daneben stieß der Vortrag auch ganz konkrete Aktionen an. Während eines Umweltschutzwochenendes der Landeskirche im Oktober 1984 sollte es zu Arbeitseinsätzen in geschädigten Waldgebieten in Marienberg, Zöblitz, Satzung und Kühnhaide kommen.354 Das Dokument aus den MfS-Archiven, das über die Vorbereitungen des Wochenendes berichtet, ist noch aus einem weiteren Grund aufschlussreich. Es lässt Rückschlüsse zu, mit welcher Taktik sich die Umweltgruppen vor staatlicher Verfolgung zu schützen versuchten: Nach internen Informationen wurden von diesem Personenkreis nachstehende »Grundsätze« für die Vorbereitung und Durchführung der Umweltschutzaktion festgelegt: – Jede Konfrontation mit staatlichen Organen vermeiden, damit es nicht zu Verboten kommt – Vorerst gedeckte Vorbereitung, damit staatliche Stellen nicht aufmerksam werden – Arbeitseinsätze im Forst auf unterer Ebene mit einzelnen Förstern organisieren – Meßergebnisse dürfen nicht mit konkreten Zahlen ausgewertet werden – Fragen sind so anzusprechen, daß sie nicht aggressiv wirken. Dazu sollten geeignete Formulierungen vorgetragen werden, wie zum Beispiel: »Ich habe den Eindruck, daß die Luftverschmutzung gesundheitlich nachteilige Wirkungen hat.« – Ziel der Veranstaltung, die in Auswertung des letzten Kirchentages durchgeführt werde, sei es, die Christen wachzurütteln, damit sie umweltbewußter leben. Des weiteren wird darauf orientiert, daß Personen, die sich offener für Umweltschutzfragen einsetzen, möglichst Rentner oder in ›exponierten‹ Stellungen sein sollten, damit für sie keine beruflichen Konsequenzen entstehen.355

Arbeits- und Pflegeeinsätze in Waldgebieten wurden zu einer beliebten Form kirchlichen Umweltengagements. So etwa auch bei der erst 1988 gegründeten Umweltgruppe »Grünes Kreuz« in Annaberg-Buchholz, deren 20 Mitglieder die Patenschaft für ein Waldstück übernahmen und darüber hinaus Eingaben zu ungenügenden staatlichen Umweltschutzmaßnahmen verfassten.356 Beräumungs- und Aufforstungseinsätze waren dabei kein Alleinstellungsmerkmal christlicher Gruppen. Im gesamten Erzgebirge war die Forstwirtschaft auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen.357 Der Unterschied war, dass es die kirchlichen Gruppen nicht beim Einsatz beließen, sondern über die Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten diskutierten. 354 BStU BV KMSt. AKG 651 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen an den Rat des Bezirkes. 1.4.1984, pag. 117–119. 355 BStU BV KMSt. AKG 651 ebd., pag. 117–119. 356 BStU MfS HA XX/AKG 2944 Ministerium für Staatssicherheit, Auskunftsberichte zu personellen Zusammenschlüssen im Bezirk Karl-Marx-Stadt, pag. 49–55. 357 Gespräch mit Dietmar Mende am 25.10.2009.

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Die Namensgebung der Annaberger Gruppe verrät, dass das Grüne Kreuz – zumindest im Süden der DDR – zu einem Erkennungszeichen christlichen Umweltengagements geworden war. Der Ökologische Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke (ÖAK), der größte und bedeutendste Arbeitskreis seiner Art der DDR, verwendete es auf jeder seiner Publikationen, Flyer und Aushänge. Saubere Luft für Ferienkinder Die Abteilung M des Ministeriums für Staatssicherheit war für die Postkontrolle zuständig.358 Der ÖAK Dresden stand seit seiner Gründung beständig unter der Beobachtung des MfS. Zentrale Bearbeitungsstelle war der Operative Vorgang »Kreuz« bei der Bezirksverwaltung Dresden. Ein Zwischenbericht vom 1. August 1984 verdeutlicht, wie das MfS den Ökologiekreis sah: Schwerpunkt und Ziel der Bearbeitung ist es, diesen »Arbeitskreis Ökologie« inoffi­ ziell zu durchdringen, um die Mitglieder aufzuklären und eine operative Einflußnahme zur Verhinderung feindlich-negativer Aktivitäten zu gewährleisten sowie die rechtzeitige Erarbeitung von Informationen, um vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung von feindlich-negativen Aktivitäten einleiten zu können.359

Eine dieser »feindlich-negativen Aktivitäten« ging auf den Vortrag Kutters zurück. Sie hatte berichtet, dass besonders Kinder unter den Immissionsverhältnissen des Erzgebirges litten. Daraufhin gründete sich im ÖAK eine Abteilung »Saubere Luft für Ferienkinder«. Die Idee war, Kinder aus dem Erzgebirge und anderen belasteten Regionen für einige Wochen bei Familien in Gebieten mit sauberer Luft – vornehmlich in Mecklenburg und Vorpommern – unterzubringen. In kirchlichen Mitteilungsblättern rief der ÖAK dazu auf, Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Interesse anzumelden. Er selbst werde die Koordination übernehmen. Die Antworten an den ÖAK hielt die Abteilung M allerdings mehrere Monate zurück. Damit entstand beim ÖAK der Eindruck, sein Engagement finde keine Resonanz, und bei den Interessierten wuchs der Unmut, dass der ÖAK nicht reagierte. Ziel des MfS war es, Zweifel an der Kompetenz des ÖAK zu stärken.360 Gerade einmal 24 Kinder konnten 1984 eine Ferienreise antreten. Dass das Interesse größer war, zeigte sich ein Jahr später, als die Organisation versuchte, den Postweg zu umgehen. 150 Kinder und 51 mitreisende Elternteile 358 Gill, Schröter, Ministerium für Staatssicherheit, 37–48. Vgl. auch Gerd Reinicke, Mitlesen für den Klassenkampf. Postkontrolle der Stasi, in: Siegfried Lokatis (Hrsg.), Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin 2008, 102–110. 359 BStU BV DDn. AOP 451/90 Bd.1 Ministerium für Staatssicherheit, Operativer Vorgang »Kreuz« Ökologischer Arbeitskreis Dresden, Zwischenbericht vom 1.8.1984. 360 Gespräch mit Hannelore Franck am 22.10.2009.

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konnten vermittelt werden. Der Höhepunkt war 1989 erreicht, als 193 Kinder und 82 Elternteile in Richtung Norden reisen konnten.361 Waldsterben und Kunst Eberhard Göschel wurde 1943 in Bayern geboren. Bedingt durch die Wirren zu Kriegsende kam er noch als Kleinkind in die spätere DDR. Nach dem Schulabschluss machte er eine Ausbildung zum Gebrauchswerber, besuchte aber gleichzeitig die Abendschule an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Zwischen 1964 und 1969 studierte er dort und legte sein Diplom im Fach Maler/Grafiker ab. Danach arbeitete er als freiberuflicher Künstler im Raum Dresden. Während des Mauerbaus befand er sich in Westberlin. Er ging aber – in einem Akt der Selbstbestimmung – in die DDR zurück, weil er dort – nach eigener Aussage – mit Kunst mehr bewirken könne als in der Bundesrepublik.362 1976 geriet Göschel zum ersten Mal in den Fokus des MfS, das einen Operativen Vorgang über ihn anlegte.363 1983 entwarf er für den Dresdner Kirchentag das »Grüne Kreuz«, sah sich aber selbst nicht mit der Kirche verbunden. 1984 erschien in der »Obergrabenpresse« Falke über’m Schreckenstein, ein Grafik-Lyrik-Band und frühes Beispiel des künstlerischen Samisdat. 1985 zeigte eine Amsterdamer Galerie Arbeiten von ihm, ohne dass Göschel zuvor die nötige behördliche Genehmigung eingeholt hätte. Zudem forderte er auf Zusammenkünften von Künstlern – etwa auf der Intermedia I im Juni 1985 – dazu auf, mehr Demokratie zu wagen. Zur gleichen Zeit war er mit der Planung eines »künstlerischen Experiments« im Erzgebirge beschäftigt. Göschel besaß in Fürstenau, unweit der Grenze zur ČSSR, ein Ferienhaus. Von dort aus zog er Ende August mit seinen Kindern, seinem Bruder aus München und weiteren Bekannten, darunter auch einige niederländische Staatsbürger, in einen abgelegenen Talkessel. Dort malten sie etwa 30 abgestorbene Bäume türkis-grün an, einzelne Stämme richtete die Gruppe wieder auf.364 Wenig später erhielten einige Teilnehmer der Aktion eine Vorladung der Volkspolizei zur Klärung eines Sachverhaltes und die Bezirksverwaltung Dresden des MfS legte einen »Sachstandsbericht zum Vorkommnis des Anstreichens von emissionsgeschädigten Gehölzen im Kreis Dippoldiswalde« an.365 361 Jacobi, Jelitto, Grünes Kreuz, 24. 362 Alle Angaben zum Vorgang – wenn nicht gesondert angegeben – entstammen einem Gespräch mit Eberhard Göschel am 23.10.2009. 363 BStU MfS HA XXII 933 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen über OVVorgänge im Zeitraum 1980–1985, pag. 48. 364 Eberhard Göschel, Bilder aus den Jahren 1986–1990. Berlin 1990. 365 BStU MfS HA XXII 933 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen über OVVorgänge im Zeitraum 1980–1985, pag. 43–46.

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Sie ermittelte zunächst in Richtung »staatsfeindlicher Aktion«, da westliche Staatsbürger an der Aktion teilgenommen hatten. Dieser Vorwurf wurde fallen gelassen, als Göschel glaubhaft machen konnte, dass es sich nicht »um eine zielgerichtete feindliche Aktivität im Auftrag gegnerischer Kräfte« handelte, sondern um ein plastisches Experiment, das gelungen sei.366 Anhand von ihm vorgelegter Fotoaufnahmen wollte er den »künstlerischen Charakter« des Vorhabens belegen. Ein politisches Ziel habe er mit der Aktion nicht verfolgt und eine Genehmigung habe er nicht beantragt, weil ihm diese sowieso nicht erteilt worden wäre. Das MfS schlug intern vor, lediglich ein Ordnungsstrafverfahren einzuleiten und Göschel Schadensersatz aufzuerlegen. Der StFB Tharandt schickte Göschel daraufhin eine Rechnung über 430,44 M für die »Wiederherstellung der Ordnungsmäßigkeit im Waldteil Fürstenau«. Mitarbeiter hatten die »Plastik« verbrannt und die Asche entsorgt. Göschel selbst konnte einen Teil der Asche auflesen und bewahrt sie heute in seinem Haus auf. Seine Tat schien für ihn keine weiteren Konsequenzen gehabt zu haben. Im Herbst 1985 trat er eine Italienreise an, genehmigt waren acht Tage, er blieb sechs Wochen. Während seiner Abwesenheit brachen Mitarbeiter des MfS in das Ferienhaus ein und verwüsteten es. Als makabere Warnung hinterließen sie eine Holzplastik in Menschengestalt, aufgeknüpft an einem Balken im Treppenaufgang. Der Einbruch war als eine ›Racheaktion‹ von Dorfbewohnern getarnt, da sich überall im Haus Losungen der Art »Stadtgesindel« und »Du nicht!« fanden. Göschel selbst vermutete, dass die Aktion auf die Bezirksverwaltung Dresden zurückging, die sich mit dem milden Ausgang seiner ›Tat‹ auf Weisung der Zentrale in Berlin überfahren fühlte. Er selbst empfand es als große Genugtuung, dass ihm seine DDR-Versicherung den Schaden ersetzte. Der Waldsterbensfilm Günter Lippmann, Jahrgang 1936, übte für DDR-Verhältnisse einen sehr seltenen Beruf aus: Er war freischaffender Regisseur. Nach einer Ausbildung zum Elektrotechnikingenieur kam er über das Arbeitertheater erst zum Fernsehen und dann zur Filmhochschule. Sein Diplomfilm war eine Dokumentation über den Komponisten Hanns Eisler, die er dann aus politischen Gründen nicht zu Ende führen konnte.367 Als freischaffender Künstler erhielt Lippmann erst dann sein Honorar, wenn die Arbeit fertigestellt und abgenommen war. Die erste Abnahme erfolgte im 366 BStU MfS HA XX/9 1717 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu den Opera­ tiven Vorgängen im Bezirk Dresden, pag. 84. 367 Alle Angaben zum Vorgang – wenn nicht gesondert angegeben – entstammen einem Gespräch mit Günter Lippmann am 27.4.2010.

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Studio  – im Falle Lippmanns meist das Dokumentarfilmstudio in Babelsberg – und eine zweite, politische durch die Hauptabteilung Film im Ministerium für Kultur. Im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung gerieten Lippmann und seine Frau auf eine »Schwarze Liste«. »Von oben« gab es die Anweisung, ihn – falls überhaupt – mit »Randstoffen« zu versorgen. Während dieser Jahre bestritt Lippmann sein finanzielles Auskommen mit dem Drechseln von Gardinenstangen. 1981 bekam Lippmann den Auftrag, einen Dokumentarfilm über die Müllfrage zu drehen, in der DDR Abprodukte genannt. Er sollte vor allem die ökonomische Seite des Problems beleuchten, den Müll als Rohstoffquelle darstellen. Während seiner Recherchen machte er sich mit den ökologischen Folgen der Umweltbelastung durch die Müllentsorgung vertraut. Die staatliche Zensur verhinderte aber eine entsprechend ausgewogene Darstellung im Film Gold­gruben. Dergestalt auf Umweltthemen aufmerksam geworden, machte Lippmann 1983 selbst den Vorschlag, einen Film über die Waldschäden im Erzgebirge zu drehen. Als gebürtiger Chemnitzer hatte er seit seiner Kindheit einen engen Bezug zum Erzgebirge. Das Studio in Potsdam war dem Thema gegenüber aufgeschlossen und stellte den Vorschlag jedes Jahr aufs Neue in den Jahresplan ein. Das MLFN erteilte allerdings erst 1987 eine Drehgenehmigung. Jetzt konnte Lippmann mit den Recherchen beginnen und einen Skriptvorschlag machen, der vom Studio begutachtet werden musste. Bei heiklen Themen mussten Gutachten aus den entsprechenden Abteilungen des ZK der SED eingeholt werden. Lippmann bekam zwei Fachberater zur Seite gestellt. Einer davon war Joachim Piesnack aus der HA Forstwirtschaft im MLFN. Ursprünglich in der Sektion Produktion beschäftigt, war er ab 1987 ein Mitarbeiter Wötzels in der neugegründeten Abteilung neuartige Waldschäden. Später, bei den Abnahmen des Films, war Egon Seidel, Leiter des Zentrums für Umweltgestaltung (ZUG), anwesend. Im Februar 1988 begann Lippmann seine Arbeit vor Ort im Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Marienberg. Dort vermerkte der Monatsbericht: »Ein Mitarbeiter des DEFA-Dokumentarfilmstudios wurde in die Problematik Rauchschaden eingewiesen (Genehmigung der HA Forstwirtschaft lag vor).«368 Als Ansprechpartner hatte das MLFN Lippmann den Revierförster Dietmar Mende aus Neuhausen zugeteilt. Die gesamten Arbeiten an einem solch heiklen Projekt standen von Anfang an unter Beobachtung des MfS. Nervös wurde es, als Lippmann anfing, die Neuhausener Umweltgruppe um den Diakon Gert Wolf mit in den Film einzubeziehen. Er wollte das »Grüne Wochenende« der Gruppe im Mai 1988 filmen, Schautafeln aufnehmen und eine Baumpflanzaktion der

368 StAC 30413/152853 Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt/Abteilung Forstwirtschaft, Monatliche Informationsberichte der StFB, Monatsbericht Februar vom 1.3.1988.

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Gruppe in Cämmerswalde dokumentieren. Die HA XX der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt verhinderte dies operativ.369 Lippmann ließ jedoch einzelne Aktionen des »Grünen Wochenendes« nachstellen. Lippmann wollte einen »Dialog auf breiter Ebene« führen, viele gesellschaftliche Gruppen »einbeziehen und nicht ausgrenzen«. Als Argument seinen Auftraggebern gegenüber führte er an, in den übrigen sozialistischen Staaten könnten Umweltfragen wesentlich offener dargestellt werden. Die Argumentation verfing nicht. Im Studio arbeitete Lippmann an acht Fassungen des Films, von denen keine das Plazet der Fachberater erhielt. Kritikpunkte waren zu viele tote Bäume, zu wenig Optimismus, zu positives Kirchenbild. Herbert Wötzel, der eine Version des Films sah, urteilte zwanzig Jahre später, dass Lippmann die Sorgen und Nöte der Menschen im Erzgebirge wahrhaftig und nicht plakativ zum Ausdruck gebracht hatte.370 Eine achte Version des Films, die Aufnahmen der Öko-Gruppe waren mittlerweile vollkommen herausgeschnitten, legte der stellvertretende Minister für Kultur Horst Pehnert dem ZK-Sekretär für Landwirtschaft Werner Krolikowski vor. Das Studio wollte den Film endlich abschließen, er band Mittel und verhinderte die Planerfüllung. Nach der Vorführung in der »Spielstätte Eins« in Wandlitz sagte Krolikowksi den Halbsatz: »Dieser Film niemals in unseren Kinos.« Der Film müsse einen positiven Ton haben, in der Art, dass 50 Prozent der Wälder gesund seien und nicht 50 Prozent krank.371 Einer der Fachberater fügte bei dieser Gelegenheit an: »Der Film wird nicht gezeigt, die Leute, die vor Ort sind, wissen es und die anderen brauchen es nicht zu wissen.« Nach der Wende rekonstruierte Lippmann aus den Schnittmaterialien die Originalversion des Films und ergänzte sie mit einer Dokumentation zu seiner Verhinderung. Am 8.  August 1990 lief sie unter dem Titel »Wer hat dich du schöner Wald« auf DFF 1. Ein Querschnitt Die Beispiele sind ausgewählt aus einer viel größeren Gesamtheit, weil die Aktionen Akten und andere Schriftstücke hinterließen oder die Protagonisten für Gespräche zur Verfügung standen. Sie können nicht repräsentativ für die Umweltbewegung in der DDR stehen. Allerdings lassen sich doch anhand von ihnen grundlegende Entwicklungen und Tendenzen beschreiben. Mit Beginn der 369 BStU BV KMSt. XX 1584 Ministerium für Staatssicherheit, DEFA-Dokumentarfilm über Umweltschäden im Erzgebirge, pag. 7–8. 370 BStU MfS HA XX/9 1717 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu den Operativen Vorgängen im Bezirk Dresden, pag. 84. 371 Gespräch mit Herbert Wötzel am 12.9.2011.

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1980er Jahre erlebte das Umweltbewusstsein in der DDR einen Schub. Diese Entwicklung blieb auch dem MfS nicht verborgen. Im engen Zusammenhang mit dem Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR stehen die Eingaben aus der Bevölkerung zur Luftund Wasserverschmutzung sowie zu Lärmbelästigung. Die Anzahl der Eingaben als auch ihre inhaltliche Schärfe hat im Jahre 1983 gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Vielfach wurde mit dem Missstand gleichzeitig die gesamte Politik von Partei und Regierung angegriffen.372

Ausdruck fand dieses neue Bewusstsein in einer Zunahme der Eingabentätigkeit, aber eben auch in anderen, neuen Formen des Protestes. Diese Form der Aktionsöffentlichkeit war primär im Umfeld der Kirchengemeinden angesiedelt, aber eben nicht nur, wie die Beispiele Göschel und Lippmann herausstellten. Es gibt kein belastbares Zahlenmaterial oder Umfragen darüber, wer genau in den Gruppen aktiv war und welchen sozialen Hintergrund die Aktivisten hatten. Ende der 1980er Jahre und kurz nach der Wende wurde versucht, das westlich geprägte Konzept der »Neuen sozialen Bewegungen« (NSB) auf die DDR zu übertragen. Brinksmeier etwa sah die Basis- und Oppositionsgruppen in der DDR als NSB an, die ihre Wurzeln in der industriellen Lebensweise der DDR hätten und nicht in dem politischen System des Sozialismus.373 Hubertus Knabe, Lothar Probst, Peter Wensierski und Gareth Dale argumentierten in eine ähnliche Richtung.374 Neben Themen- und Organisationskongruenz müssten sich damit auch die Mitglieder der Gruppen aus einem ähnlichen Milieu rekrutieren wie im Falle der NSB in der Bundesrepublik. Im Westen waren diese eine städtische, junge, überdurchschnittlich gebildete und wohlhabende Bewegung. Für die DDR hat bisher allein Sung-Wan Choi eine Auswertung und Einordnung der oppositionellen Gruppen versucht. Sie bewertet die Übertragung des NSB-Konzeptes kritisch, da die Mehrzahl der Gruppen sich an genuinen Problemen der sozialistischen Gesellschaft abarbeitete. Zwar gab es auch in der DDR die individuelle Betroffenheit, dazu kämen allerdings das Sozialisationsund Kommunikationsdefizit der DDR-Gesellschaft, das Streben nach Auto­ nomie und Emanzipation von den diktatorischen Herrschaftsstrukturen und die Enttäuschung über das Bild des realexistierenden Sozialismus.375 Ähnlich urteilt Gerd Poppe, der in der Opposition den »öffentlich bekundeten, politisch

372 BStU BV DDn. XVIII 13940 Ministerium für Staatssicherheit, Überprüfung des Geheimnisschutzes, pag. 3. 373 Brinksmeier, Die Gruppen und die Kirche, 46–47. 374 Knabe, Neue Soziale Bewegungen im Sozialismus. Zur Genesis alternativer politischer Orientierungen in der DDR; Knabe, Umweltkonflikte, 68–69; Probst, Bürgerbewegung; Wensierski, Beton und Dale, Protest, 110. 375 Choi, Dissidenz, 188–191.

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begründeten und mit der Mobilisierung Gleichgesinnter verbundenen Versuch« sieht, »sich der totalitären Macht zu widersetzen«.376 Choi hat versucht, aus den Unterlagen des MfS den Kreis der »Gleichgesinn­ ten« genauer zu beschreiben. Sie schätzt das Maximum in oppositionellen Gruppen organisierter Menschen auf 15.000. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS hatte 2500 Personen erfasst, die 1989 in 160 Gruppen organisiert waren. 600 davon zählte das MfS zum Führungskreis, 60 zum ›harten Kern‹. Die Mehrzahl der Gruppen hatte dabei zwischen sechs und 15 Mitgliedern. Geographisch konzentrierten sich die Gruppen in den südlichen Bezirken und der Hauptstadt Berlin. Nahezu zwei Drittel der vom MfS erfassten Gruppen befanden sich in Städten, es ist darum nicht verfehlt, die Ökologiebewegung auch in der DDR als städtisches Phänomen zu beschreiben. Das MfS hatte diese Entwicklung bereits einige Jahre zuvor bemerkt, den Trend zur Urbanisierung allerdings abweichend gedeutet: Deutlich wird eine Verlagerung der Eingaben zu Fragen der Rauchschäden vom Osterzgebirge in die Bezirksstadt. Diese Tendenz spiegelt u. a. erste Ergebnisse einer beharrlichen und konsequenten Öffentlichkeitsarbeit mit den Bürgern im Raum des Erzgebirges wieder.377

Nach Chois Analyse waren 75 Prozent des Führungskreises zwischen 21 und 40 Jahre alt, den Altersschnitt der übrigen Mitglieder schätzte sie als noch niedriger ein. Damit war die Mehrzahl der in den Umweltgruppen Aktiven in der DDR sozialisiert worden. Chois Befunde spiegeln die aktuellen Ergebnisse der generationengeschichtlichen Forschung. Fulbrook hat die überragende Bedeutung der Aufbaugeneration für die DDR herausgearbeitet und spricht von einer »1929-Anomalie«.378 Gleichzeitig habe die jüngere Generation zur Stabilität der DDR beigetragen. Diese sei in der DDR geboren und aufgewachsen und kannte die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, an die man sich halten musste, um innerhalb des Systems erfolgreich sein zu können.379 Zu einem völlig anderen Ergebnis kommt die Zeithistorikerin Dorothee Wierling. Sie sieht die Angehörigen der »1949er Generation« beruflich frustriert, da sie in Stellungen tätig gewesen seien, die weder ihrer Ausbildung noch ih 376 Poppe, Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, 350. Vgl. auch Brand, »Neue soziale Bewegungen« auch in der DDR? Zur Erklärungskraft eines Konzepts, 243. 377 BStU BV DDn. 14690 Ministerium für Staatssicherheit, Information zur Eingabentätigkeit Umweltschutz 1984. 8.8.1985, pag. 3. 378 Mary Fulbrook, Generationen und Kohorten in der DDR. Protagonisten und Wider­ sacher des DDR-Systems aus der Perspektive biographischer Daten, in: Annegret Schüle (Hrsg.), Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, 113–130, 116. 379 Fulbrook, Generationen, 126–127 und Fulbrook, Normalisation, 27.

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ren Ansprüchen entsprochen hätten.380 Die Blockade der Führungspositionen durch die Aufbaugeneration haben etwa Peer Pasternack für den Wissenschaftsbereich und Helga Welsh für die Bezirkssekretäre der SED beschrieben.381 Das durchschnittliche Alter der 1. Bezirkssekretäre der SED stieg zwischen 1954 und 1989 von 43 auf 63 Jahre an.382 Für die um 1950 Geborenen gab es damit größere Karrierechancen nur im kirchlichen Bereich, in dem es nach dem Zweiten Weltkrieg zu keinem massenhaften Elitenaustausch kam. Daneben sieht Konrad Jarausch das verzweifelte Warten der 30- bis 45-Jährigen auf das Abtreten der Aufbaugeneration als eine Ursachen für die Revolution von 1989.383 Das stabile Arrangement zwischen Beherrschten und Führung während der »erfolgreichen Mittelphase der DDR-Geschichte« sei auch daran zunehmend zerbrochen.384 Hinzu kam, dass die von der SED angestrebte politische Befriedung der Bevölkerung zunehmend konterkariert wurde. Die bundesdeutschen Milliardenkredite verhalfen der DDR zu wirtschaftlich relativ stabilen Jahren 1981–1986. Die strukturellen Mängel blieben darüber bestehen, da die Subventionen für Nahrungsmittel, Wohnraum und Transport hoch bleiben sollten. Während Brot als Viehfutter verschwendend wurde, blieben die Regale für hochwertige und Luxusprodukte leer. Das lag auch daran, dass die Weltmarktfähigkeit der DDR-Produkte stetig abnahm, weshalb die terms of trade für die DDR kontinuierlich schlechter wurden, das bedeutete, sie musste für eine Einheit Importgut beständig mehr inländischen Aufwand investieren.385 Der heranwachsenden 380 Wierling, How Do, 215. 381 Pasternack, Wissenschaft und Politik, 514 und Welsh, Kaderpolitik auf dem Prüfstand. 382 Ebd., 125. 383 Jarausch, Gegengesellschaft, 13. 384 Ebd., 9. Gestwa sieht ähnliche Elemente auch in der Sowjetunion wirksam. Dort habe die »Brežnev-Generation die Erfahrung einer positiven Sozialisation gemacht und sei bis zur Perestrojka an den Schaltstellen von Politik und Wirtschaft verblieben. Gestwa, Technik, 55. Bereits kurz nach der Wiedervereinigung kamen Analysen des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung zu dem Schluss, dass die beruflichen Mobilitätschancen in der DDR in der historischen Kohortenfolge abnahmen. Für die nach 1950 Geborenen bestand zwar auch noch die Möglichkeit der beruflichen Karriere, allerdings war diese in zunehmenden Maße an die Mitgliedschaft der SED geknüpft. Vgl. dazu Johannes Huinink, Heike Solga, Occupational Opportunities in the GDR. A Privilege of the Older Generations?, in: Zeitschrift für Soziologie 23, 1994, 237–253 und Karl Ulrich Mayer, Heike Solga, Mobilität und Legitimität. Zum Vergleich der Chancenstrukturen in der alten DDR und der alten BRD oder: Haben Mobilitätschancen zu Stabilität und Zusammenbruch der DDR beigetragen? Ralf Dahrendorf zum 65. Geburtstag, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46, 1994, 193–208. Mayer und Solga sahen in den versperrten Aufstiegsmöglichkeiten eine endogene Erklärungsvariable der Revolution von 1989, da die Perspektivlosigkeit die Legitimation des Regimes zunehmend untergraben habe. 385 Christoph Buchheim, Die Achillesferse der DDR  – der Außenhandel, in: Steiner, Überholen, 91–103, 99.

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Generation waren nicht nur die beruflichen Aufstiegschancen verwehrt, sie sah sich auch zunehmend hinter ihre Vergleichsgruppe in der »Beziehungsgesellschaft« Bundesrepublik zurückfallen.386 Während die Sättigung an bekannten Elektronikartikel wie Fernseher, Kühlschrank oder Waschmaschine auch in der DDR annähernd 100 Prozent erreichte, gab es die in den 1980er Jahren die westlichen Haushalte erobernden Geräte wie Heimcomputer, Videorecorder oder Mikrowelle in der DDR nicht zu kaufen. Patrick von zur Mühlen und Klaus Schroeder sahen diese Prozesse als einen Teil der »Erosion« der Herrschaftsstrukturen in der DDR.387 Diese Interpretation schielt mit einem teleologischen Auge bereits auf die Ereignisse von 1989, wird allerdings auch von Umfragen in der DDR gestützt. Das Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig bemerkte ab 1985 »starke Zerfallsprozesse der politischen Identifikation«.388 Aus diesen Gründen ist es nicht überraschend, dass auch die Mitglieder der DDR-Umweltgruppen in ihrer Mehrheit nach 1950 geboren waren und sich die Altersstruktur und die Urbanität mit den Entwicklungen in der Bundesrepublik deckten. Ein wesentlicher Unterschied lag jedoch in der beruflichen Verankerung der Mitglieder. Von den 660 von Choi untersuchten Personen waren 206 Angehörige kirchlicher Berufe, entweder als Pfarrer oder Mitarbeiter der Kirchenverwaltung. Diese Zahl war wesentlich höher als im Westen, dafür fehlte in der DDR eine wesentlich Stütze der westdeutschen Umweltgruppen, die Pädagogen. Lediglich drei Lehrer konnte Choi in den Unterlagen der ZAIG ausfindig machen, Anwälte und Landwirte fehlten voll­ständig. Angehörige handwerklicher Berufe waren dagegen wesentlich stärker repräsentiert als in der BRD. Insgesamt lag das Niveau der formalen Bildung bei den Gruppen in der DDR niedriger, was in den Selektionsmechanismen des Bildungssystems und dem Loyalitätsdruck gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften begründet liegt. Ein Beispiel für die kirchlich gebundene Ökologiebewegung war das Forschungsheim Wittenberg, das als Informationsstelle für die dezentral im Land verstreuten Umweltgruppen wirkte. Die »Arbeitsgruppe Umweltschutz« beim Jugendpfarramt in Leipzig oder der Ökologische Arbeitskreis in Dresden sind Entwicklungsschritte auf dem Weg zur Urbanisierung der Ökologiebewegung, ein Schritt weg von alleinigen Betroffenenprotesten hin zu einer breiter organisierten Form von Aktionsöffentlichkeit und Verschriftlichung. Der Drang, die engen kirchlichen Grenzen aus Handelnden und Rezipienten der Handlungen zu überwinden, verlagerte das Zentrum der Ökologiebewegung ab 1985 nach Berlin. Ein Grund dafür war, dass in der Hauptstadt die SED und das MfS vor

386 Mählert, Kleine Geschichte DDR, 133. 387 Mühlen, Aufbruch und Umbruch, 251 und Schroeder, SED-Staat, 274. 388 Friedrich, Mentalitätswandlungen, 26.

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der Kulisse westlicher Diplomaten, Wirtschaftsfunktionären und Journalisten das Repressionssystem nicht in gleicher Weise ausführen konnten wie in der Provinz. Die Ballung von Menschen sowie Bildungs- und Kultureinrichtungen führte den Berliner Gruppen beständig neue Mitglieder zu. Zudem gestaltete sich in Ost-Berlin die Kontaktaufnahme mit westlichen Umweltgruppen, Politikern und Medien am einfachsten.389 Die Umweltbibliothek in Berlin ist das prominenteste Beispiel für eine verstärkt auf Öffentlichkeitswirksamkeit und Konflikt angelegte Ökologiearbeit.

4.3.2 Offener Protest, Kirchenpresse und Samisdat In der DDR waren die klassischen Machtressourcen wie Geld, Sachverstand, Mitgliederzahl, Organisationsgrad, kommunikative Fähigkeiten und Konfliktfähigkeit bei der SED und der von ihr kontrollierten gesellschaftlichen Massenorganisationen konzentriert. Jeder Ansatz gesellschaftlicher Selbstorganisation wurde mittels des Repressionssystems des MfS unterdrückt. Mit den klaren Schemata des Totalitarismus steht auf der einen Seite die Machtkonzentration einer monolithischen Staatspartei, auf der anderen Seite die zerstörte und in Massenorganisationen neuformierte Gesellschaft. Das Individuum wird ein isoliertes Teilchen dieser atomisierten Gesellschaft.390 Die Partei besetzt und beherrscht das öffentliche Forum, und der Einzelne kann sich  – wenn überhaupt – allein in kleinen, strikt voneinander getrennten Nischen entfalten. Eine Kommunikation über die Nischen hinweg ist nur schwer möglich.391 In der Einleitung wurden bereits die verschiedenen Deutungen der DDRGesellschaft thematisiert. Die knappe Skizzierung einer totalitären Gesellschaftsstruktur ist hier jedoch durchaus angebracht, da mit Beginn der 1980er Jahre die kirchliche Umweltbewegung diesen Anspruch der SED endgültig ad absurdum führte. Zunehmend reklamierten diese Gruppen  – mit mehr oder weniger Erfolg  – die Machtressourcen Sachverstand, kommunikative Fähigkeiten und Konfliktfähigkeit auch für sich. Solange das kirchliche Leben in der DDR in einer Nische existierte und die kirchlichen Institutionen mit ihren Deutungs- und Kommunikationsangeboten auf ihr eigenes Umfeld zielten, stellten sie für den Herrschaftsanspruch der SED keine Bedrohung dar. Die Tätigkeit des Kirchlichen Forschungsheims in Wittenberg ist als solches Wirken in der kirchlichen Nische zu charakterisieren. Es stärkte damit die Binnenkommunikation und verschaffte kirchlichem Umwelthandeln eine verlässliche Struktur 389 Kowalczuk, Endspiel, 161–162. 390 Peter Steinbach, Diktaturerfahrung und Widerstand, in: Henke, Steinbach, Tuchel, Widerstand, 57–84, 62–63. 391 Haferkamp, Die Theorie der Schweigespirale, 277.

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und Informationsbasis. Nur hier war ein Grad von Vernetzung zu erreichen, der sonst das Privileg staatlicher Organisationen war. Mitte der 1980er Jahre drängten die ersten Umweltgruppen aus diesem ›Biotop‹ heraus. Sie wollten nicht länger im Verborgenen blühen, sondern in die Mitte der Gesellschaft vorstoßen, der SED das Forum streitig machen. Dieses Ziel war nur gegen Widerstand zu erreichen. Die zentralen Ausführungen in diesem Abschnitt drehen sich darum um die Fragen, welche Strategie die Gruppen wählten, um in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, und wie die SED und das MfS auf das gewachsene Selbstvertrauen der Umweltgruppen reagierten. Die Umweltbibliothek in Berlin 1983 gründete sich in Berlin-Lichtenberg ein Friedens- und Umweltkreis. Seine erste Aktion war ein Vortrag über die Waldschäden im Erzgebirge.392 Als Werbung für den Vortrag entwarf ein Grafiker im Umfeld der Gruppe ein Protestposter, das auch als Postkarte (Abb. 9) zirkulierte. Im Oktober 1983 schickten Mitglieder des Kreises, darunter Carlo Jordan und Christian Halbrock, gemeinsam mit 54 weiteren Bürgern eine Eingabe an das MUW: So schreibt es das Landeskulturgesetz. Um so erschrockener waren wir, als wir Kenntnis über die katstrophalen [sic!] Ausmaße des Waldsterbens im Erzgebirge bekamen. Angst und Sorge ergreifen uns, wenn wir uns diese Bilder vor Augen führen – ist dies das erste Opfer einer vielleicht zu unkonsequent betriebenen Umweltpolitik? Wir glauben, daß besonders in Zeiten ökonomischer Anspannungen und zunehmender Umweltgefährdung diese Problematik öffentlich diskutiert werden muß und die Bevölkerung in vollem Maße informiert werden muß. Wir fordern die Veröffentlichung aller erstellten Studien und die Prüfung des Einsatzes der optimalen Technologien die zur Eindämmung des sauren Regens führen können.393

Die Eingabe zog weite Kreise. Hans Reichelt legte sie Günter Mittag vor und führte selbst die Aussprache mit den Eingabenschreibern. Dabei beantwortete er alle gestellten Fragen, außer solche nach dem Umfang der Forstschadflächen und den medizinischen Auswirkungen auf den Menschen. Als Fazit meldete Reichelt an Mittag: Zusammenfassend ist festzustellen, dass die gestellten Fragen sich in dem Rahmen bewegten, die uns aus ähnlichen Eingaben, die unter Einfluß kirchlicher Kreise, ins 392 Rüddenklau, Störenfried, 49. 393 BArch DK 5/123 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingaben der Bevölkerung, Eingabe vom 12.10.1983.

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Abb. 9: Protestpostkarte des Friedens- und Umweltkreises Berlin-Lichterfelde 1984

besondere des Forschungsheimes der evangelischen Kirche in Wittenberg bzw. deren Veröffentlichungen, bekannt sind. […] Diese Eingabe zeigte das Bemühen, unter dem Einfluß bestimmter kirchlicher Kreise eine breite öffentliche Diskussion zu Umweltschutzfragen zu organisieren.394

Diese Art der Problemdarstellung forderte zwangsläufig staatliche Gegenmaßnahmen heraus. Von der Kirchengemeinde in Lichtenberg bekam die Gruppe keine Unterstützung, weshalb sie 1986 in die Zionsgemeinde nach Berlin-Mitte umzog. Der dortige Pfarrer Hans Simon hatte der Gruppe zwei Kellerräume im Gemeindehaus angeboten. Damit war die Umweltgruppe in der Zionsgemeinde die erste in der DDR, die über eigene Räumlichkeiten verfügte. Am 2. September 1986 eröffnete die Gruppe darin die Berliner Umweltbibliothek.395 Einen Teil der Bücher hatte die dritte maßgebliche Persönlichkeit der Umweltbibliothek  – Wolfgang Rüddenklau  – auf einer Westreise in der Bundesgeschäftsstelle der GRÜNEN besorgt. Roland Jahn, ein 1983 zwangsausgebür 394 SAPMO DY 30/2836 Hans Reichelt, Zusammengefasste Information über die Eingabe von 56 Bürgern zum »Waldsterben im Erzgebirge«. 5.12.1983, pag. 3. 395 Rüddenklau, Störenfried, 68.

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gerter Friedensaktivist aus Jena und in der BRD als Journalist tätig, organisierte den Schmuggel der Bücher nach Ost-Berlin. In kurzer Zeit wurde die Umweltbibliothek zu einem Ort der Information, des Kontakts und der Vernetzung. Neben dem Literaturangebot organisierte sie Vorträge und stellte ihre Räumlichkeiten für Ausstellungen zur Verfügung. Da sich die Umweltbibliothek basisdemokratischen Grundsätzen verschrieben hatte, wirkten ihre Entscheidungsfindungsprozesse auf Außenstehende chaotisch und langwierig. Dieser Umstand verhinderte zunächst eine effektive Organisation von Aktionen.396 Während das Forschungsheim Wittenberg sich 1986 nicht weiter aus seiner Deckung hervorwagen wollte, um seinen Bestand nicht zu gefährden, konnte die Umweltbibliothek bei ihrer Gründung noch keine nennenswerten öffentlichkeitswirksamen Proteste organisieren. Allerdings begann sie noch 1986 damit, ein Mitteilungsblatt zu drucken. Die erste Ausgabe der Umwelt-Bibliothek hatte eine Auflage von 150 Stück und wurde auf einer Ormig-Druckmaschine hergestellt. Bestimmendes Thema war das Reaktorunglück in der Ukraine, »Tschernobyl ist überall« lautete eine Schlagzeile auf der Titelseite der ersten Ausgabe. Rüddenklau hat Tschernobyl als wichtiges Aktivierungserlebnis für die Umweltbewegung in der DDR bezeichnet. Vor 1986 hätten sich die Umweltgruppen nahezu ausschließlich mit lokalen Umweltproblemen wie Gestank oder Wasserverschmutzung beschäftigt. Erst mit der Atomfrage seien größere Zusammenhänge angesprochen worden.397 Der thematische Ursprung der Gruppe, die Waldschäden, spielten in den Ausgaben der Umwelt-Bibliothek zunächst noch keine Rolle. Im April 1987 benannte die Umweltbibliothek ihre Publikation in Umweltblätter um. Ab Mai druckten die Mitarbeiter sie mit Hilfe von Wachsmatrizen, da die Nachfrage immer weiter anstieg. Aus drei gestohlenen Druckmaschinen mit den Baujahren 1900, 1936 und 1953 bauten die Mitarbeiter eine funktionierende zusammen, die umständlich von fünf Mitarbeitern bedient werden musste. Die benötigten Wachsmatrizen, von denen 1000 bis 2000 Abzüge gemacht werden konnten, waren in der DDR schwer zu beschaffen und wurden aus der BRD eingeschmuggelt.398 Der GRÜNEN-Bundestagsabgeordnete Wilhelm Knabe schmuggelte  – geschützt durch seinen Abgeordnetenstatus  – eine modernere Druckmaschine Baujahr 1970 über die Grenze und übergab sie der Umweltbibliothek.399 Bei der Herstellung und Verteilung der Umweltblätter machte sich die Umweltbibliothek eine rechtliche Grauzone in der Druckgenehmigungsordnung von 1959 zu Nutze. Diese erlaubte die Vervielfältigung von Schriftstücken »für den inneren 396 Ebd., 69. 397 Ebd., 61. 398 Ebd., 152. 399 Anonymus, Ein Dunkelgrüner. Wilhelm Knabe, Pionier der Öko-Partei. in: »Erlebte Geschichten«, WDR 5, 5.10.2003.

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Dienstgebrauch« ohne staatliche Genehmigungspflicht.400 1987 kamen die Umweltblätter auf eine Auflage von etwa 1000 Stück – natürlich nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch.401 Daneben gab es noch die Möglichkeit der unlizensierten Vervielfältigung von künstlerischen Werken bis zu einer Auflage von 99 Exemplaren. Voraussetzung dafür war die Mitgliedschaft im Verband der Bildenden Künstler der DDR.402 Der künstlerische Samisdat – der in der DDR weitestgehend getrennt vom politischen existierte – machte sich diese gesetzliche Regelung zu Nutze. Abseits davon gestaltete sich allein die Vervielfältigung von Druckerzeugnissen schwierig. Einem geflügelten Wort folgend, war die DDR ein Land ohne Copyshops. Neben staatlichen, gesellschaftlichen und Bildungseinrichtungen verfügten nur die 7800 Kirchengemeinden über Kopier- oder andere Vervielfältigungsgeräte. Die meisten Exemplare waren dabei in keinem Zustand, der eine Produktion von Samisdat in hoher Auflage erlaubte.403 Das MfS verfolgte die Herstellung und Verbreitung von Samisdat als »politische Untergrundtätigkeit«. Als gesetzliche Grundlage dienten vier Paragraphen des StGB: § 99 »Landesverräterische Verbindungsaufnahme«, § 106 »Staatsfeindliche Hetze«, § 219 »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme« und § 220 »Öffentliche Herabwürdigung«. Das Strafmaß lag dabei bei bis zu zwölf Jahren.404 Während die Umweltblätter in den Grenzen der Druckgenehmigungsordnung von 1959 weitestgehend legal produziert und verteilt werden konnten  – das MfS überwachte die Umweltbibliothek, schritt aber nicht weiter ein –, traf dies für eine andere Form des Samisdat nicht zu. Die »Initiative für Frieden- und Menschenrechte« (IFM) hatte sich 1985 gegründet, maßgeblich an der Gründung beteiligt waren Gerd und Ulrike Poppe, Bärbel Bohley, Wolfgang Templin und Ralf Hirsch. Patrick von zur Mühlen schreibt der Gruppe eine »intellektuelle Pionierrolle« zu, da sie den vorpolitischen Raum eng umgrenzter Themen verließ und umfassende politische Reformen verlangte.405 Aus diesem Grund wollte die Gruppe auch nicht unter dem Schutzdach der Kirche operieren, sondern vollkommen unabhängig die Öffentlichkeit suchen. Die Mitglieder wollten sich nicht dem Druck der Amtskirche aussetzen, den diese auf die Umweltgruppen ausübte, um den Konflikt mit Staat und Partei nicht eskalieren zu lassen.406 400 Thomas Klein, »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln u. a. 2007, 488–490 und Knabe, Samisdat, 302. 401 Bickhardt, Entwicklung der DDR-Opposition, 491. 402 Frithjof Heller, Unbotmäßiges von »Grenzfall« bis »Wendezeit«. Inoffizielle Publizistik in der DDR, in: Deutschland Archiv 21, 1988, 1188–1196, 1191. 403 Kowalczuk, Von »aktuell« bis »Zwischenruf«, 21. 404 Ebd., 22. 405 Mühlen, Aufbruch und Umbruch, 132–141. 406 Zur Gründung und inhaltlichen Ausrichtung der IFM siehe Kowalczuk, Endspiel, 236.

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Ende Juni 1986 veröffentlichte die IFM erstmals ihr Samisdatblatt Grenzfall. Die Qualität des Grenzfall war schlechter, und die Herstellungsbedingungen waren schwieriger als im Falle der Umweltblätter, da die Gruppe nicht auf kirchliche Vervielfältigungsgeräte zurückgreifen konnte. Der Grenzfall hatte einen in der DDR bisher unbekannten harschen Ton, der die Entwicklungen in der DDR und den übrigen sozialistischen Staaten kommentierte.407 Das MfS wollte die IFM sofort zerschlagen, jedoch benötigte die HA XX dafür die Zustimmung der Parteiführung. Diese konnte sich jedoch ein Jahr lang nicht über das Vorgehen einigen.408 Als das MfS den Auftrag bekommen hatte, das Erscheinen des Grenzfall zu unterbinden, wollte es gleichzeitig auch die Umweltblätter schwächen. Die Aktion »Falle« sah vor, dass ein IM in den Reihen der IFM den Vorschlag machen sollte, den Grenzfall auf der Druckmaschine der Umweltbibliothek zu drucken. Wolfgang Rüddenklau stimmte dem zu, wollte allerdings den Druck mit dem Personal der UB ausführen. Die Mitglieder der IFM sollten nicht anwesend sein, um die UB nicht zu gefährden.409 Während die IFM-Mitglieder in einer Kneipe warteten, überzeugte sie der IM, doch in die UB zu fahren. Der Plan des MfS sah vor, die Mitglieder der UB und der IFM beim Drucken des Grenzfall zu überraschen. Allerdings sprang der Trabant nicht an, mit dem das Grenzfall-Redaktionsteam in die UB fahren wollte. Als das MfS dennoch in der Nacht vom 24. auf den 25. November 1987 mit den Worten »Hände hoch, Maschine aus« in die Räume der Umweltbibliothek eindrang – der erste Zugriff des MfS auf kirchliche Räume seit den 1950er Jahren –, war das Personal der UB dabei, die Umweltblätter zu drucken. Da ein 14-jähriger Jugendlicher anwesend war, hatte man den gefährlichen Druck des Grenzfall auf später verschoben. Die Aktion »Falle« war für das MfS ein einziger Fehlschlag, da die Kriminalisierung der Umweltbibliothek nicht gelang.410 Das MfS beschlagnahmte alle Druckmaschinen und verhaftete die sieben anwesenden Mitglieder der UB. Fünf von ihnen kamen am nächsten Tag frei, Wolfgang Rüddenklau und Bert Schlegel blieben in Untersuchungshaft. Sie erfuhren in den nächsten Tagen eine Welle von bisher nicht gekannter Solidarität aus dem In- und Ausland. Im Zivilrecht der DDR exisitierte im Hausrecht der Hausrechtsstreifen, was bedeutete, das Hausrecht reichte bis einen Meter vor

407 Heller, Unbotmäßiges, 1190. 408 Gill, Schröter, Ministerium für Staatssicherheit, 21–22. 409 Rüddenklau, Störenfried, 115–119. 410 Der Überfall des MfS auf die Umweltbibliothek ist in der Literatur häufig wieder­ gegeben worden. Vgl. Michael Beleites, Die unabhänige Umweltbewegung in der DDR, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Umweltschutz Bd. 3, 179– 224, 212; Bickhardt, Vernetzungsversuche, 340; Choi, Dissidenz, 100; Mühlen, Aufbruch und Umbruch, 227–229 oder Neubert, Geschichte der Opposition, 694–696.

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die Gebäudemauer.411 Innerhalb dieses Streifens organisierte die Umweltbibliothek zum ersten Mal in der DDR eine Mahnwache vor einer Kirche. Das in den vorangegangenen Jahren entstandene Netz der Gruppen in der DDR trug. Über Kontakttelefone verbreitete sich die Nachricht, und überall im Land kam es zu Solidaritätsaktionen und Friedensgebeten. Neu war ebenfalls eine starke und bewusste Einbindung der Westmedien. Als um 21.30 Uhr eine Mahnwache vor der Zionskirche festgenommen wurde, erschien im heute-journal des ZDF um 21.45 Uhr darüber eine Meldung.412 In der Folge entstand die groteske Situation, dass sich Mahnwachen und Volkspolizisten direkt gegenüberstanden, jedoch niemand die imaginäre Linie überschritt.413 Der Überfall des MfS machte die Umweltbibliothek und ihre Arbeit in einem bisher nicht dagewesenen Maße in der DDR und der BRD bekannt. Aus dem Westen erreichten die UB Grußadressen von Robin Wood, dem Kirchentagspräsidenten Helmut Simon und den Bundestagsabgeordneten Wilhelm Knabe, Petra Kelly, Gert Bastian, Karitas Hensel und Peter Sellin.414 Am 28. November 1987 setzte das MfS die noch inhaftierten Mitglieder der UB auf freien Fuß, woraufhin sich die Mahnwachen auflösten. Ähnlich wie bei der Friedens­bewegung fünf Jahre zuvor nahm nun die »Angst der Bevölkerung« ab. Das »gestaffelte System der gesellschaftlichen Ausgrenzung«, gespeist aus Einschüchterung, Isolation und moralischer Diskreditierung, verlor seine abschreckende Wirkung«.415 Rüddenklau selbst beschrieb die »tägliche Angst« als den »Preis«, den es in der DDR für oppositionelles Verhalten zu zahlen galt. Diese Angst sei mit dem Überfall auf die Umweltbibliothek zwar nicht verschwunden, aber doch wesentlich kleiner geworden.416 Insofern war es nicht nur zynisch gemeint, dass die UB in der ersten Ausgabe der Umweltblätter 1988 dem MfS dankte: Wir sind vielmehr einmütig der Meinung, dass dieser Staat und diese Behörden einmalig und völlig unersetzlich sind. Besonders gern denken wir in diesem Zusammenhang an die großartige weltweite Gratis-Reklame für die Umwelt-Bibliothek und rufen der DDR-Regierung zum neuen Jahr zu: »Macht weiter so, Jungs!«

411 Hertle, Wolle, Damals, 268 und Rolf Hosfeld, Was war die DDR? Die Geschichte eines anderen Deutschlands. Köln 2008, 272. 412 Ilko-Sascha Kowalczuk, »Wir tun einfach so, als gäbe es Pressefreiheit«. Interview mit Roland Jahn, in: Kowalczuk, Freiheit und Öffentlichkeit, 137–147, 146. 413 Zu Details der Mahnwachen, deren Organisation und Durchführung siehe Kowalczuk, Endspiel, 258– 259. 414 Redaktion Umweltblätter, Die Umwelt-Bibliothek in eigener Sache. Dank für die Solidarität der Öffentlichkeit, in: Umweltblätter. Infoblatt des Friedens-und Umweltkreises Zions­k irchgemeinde, Dezember 1987. 415 Neubert, Geschichte der Opposition, 509. 416 Ebd., 77–78.

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Weniger Erfolg hatte die Initiative Frieden und Menschenrechte. Ihr Grenzfall konnte nach dem Überfall nur noch einmal im Januar 1988 erscheinen. Wolfgang Templin, Ralf Hirsch und Bärbel Bohley wurden am 25. Januar 1988 festgenommen und in die BRD ausgebürgert. Mit dem Überfall im November 1987 verstärkte sich ein Reifeprozess innerhalb der Gruppen, den die IFM 1985 angestoßen hatte. Die verschiedenen Umwelt-, Menschenrechts-, Friedens- oder Dritte-Welt-Gruppen erkannten, dass ihre Ziele im bestehenden System nicht zu verwirklichen waren. Bestand vorher das Ziel, mit der Partei und staatlichen Institutionen in einen kommunikativen Prozess einzutreten, zerstob diese Hoffnung Ende 1987. Um diese Zeit setzte die Politisierung der Umweltgruppen ein, die sich losgelöst von Sachfragen zunehmend als politische Opposition verstanden. Sie erkannten, dass ein »eigenständiges und fundiertes Umweltengagement einen politischen und gesellschaftlichen Wandel, eine Demokratisierung« voraussetzte.417 Inhaltlich entfernten sich die Umweltblätter dabei von den Waldschäden immer weiter. 1987 erschien etwa nur in der DezemberAusgabe ein zusammengefasster Bericht über die Schadenserhebung in den Kirchenwäldern.418 Die Trennlinie zwischen Dissidenz und Opposition ist in der Forschungs­ literatur nicht eindeutig definiert, genausowenig wie die beiden Begriffe an sich. Nach Klokočka und Ziemer sind Dissidenten einzelne Personen oder kleine Gruppen, die ihre regimekritische Haltung offen äußern, in der Gesellschaft aber kaum auf nennenswerte offene Unterstützung treffen. Unter Opposition verstehen sie größere, überregional organisierte Gruppen mit irgendeiner Art von Grundsatzprogramm, die zu aktuellen Problemen Stellung beziehen.419 Die Mehrheit der Bevölkerung hat unter Diktaturverhältnissen ein »Gefühl der Geborgenheit und Klarheit«. Dissidenten, die dieses Gefühl durch eine kompli­ ziertere Sicht der Welt angreifen, werden von der Bevölkerung darum eher als Störer empfunden und abgelehnt.420 Wenn also kleinere Gruppen sich miteinander vernetzen, ihre Positionen aufeinander abstimmen und sich inhaltlich verdichten sowie ihre Forderungen verstärkt in die Öffentlichkeit hineintragen können und dort zunehmend auf positive Resonanz stoßen, transformiert sich Dissidenz in politische Opposition. In diesem Verständnis wirkt der Überfall auf die Umweltbibliothek als ein Schlüsselereignis. Weitere Schritte in diesem Prozess waren der Rosa-Luxemburg-Gedenkmarsch und die »Ossietzky-Affäre« an der Berliner Carl-von 417 Becker, Umweltgruppen in der DDR, 242. 418 Situation der Wälder in Sachsen, in: Umweltblätter. Infoblatt des Friedens-und Umweltkreises Zionskirchgemeinde, Dezember 1987, 27. 419 Vladimír Klokočka, Klaus Ziemer, Opposition, in: Ziemer, Sozialistische Systeme, 305–315, 309. 420 Ray Rühle, Entstehung von politischer Öffentlichkeit in der DDR in den 1980er Jahren am Beispiel von Leipzig. Münster 2003, 75.

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Ossietzky-Oberschule. Im Januar 1988 entfalteten Oppositionelle während des Gedenkmarsches ein Transparent mit dem Luxemburg-Zitat »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden«. Trotz der Anwesenheit westlicher Medienvertreter nahmen Volkspolizei und Einheiten des MfS über 100 Demonstranten fest. Im Februar entließ die DDR die führenden Köpfe der Opposition aus der Haft direkt in die BRD oder andere westliche Staaten.421 Im September 1988 relegierte die Carl-von-Ossietzky-Schule vier ihrer Schüler, da sie sich negativ über Militärparaden und Faschismus in der DDR sowie positiv über die Geschehnisse in Polen geäußert hatten. Vier weitere Schüler erhielten weniger schwere Disziplinarmaßnahmen. Die Relegierung von Schülern war in der DDR kein ungewöhnlicher Vorgang, allerdings war unter ihnen der Sohn der im Februar ausgebürgerten Vera Wollenberger. Daraus speiste sich die politische Brisanz des Vorfalls, da er als Racheaktion des Regimes gewertet wurde. Die strikte Haltung der Schule und des Volksbildungsministeriums entfachte eine Debatte über das Bildungssystem weit über oppositionelle Kreise hinaus.422 Die Umweltblätter schilderten im Dezember 1988 ausführlich den Vorfall und auf Diskussionsveranstaltungen trugen Jugendliche ein T-Shirt mit der Losung »Das Risiko, eine eigene Meinung zu haben … Solidarität mit den bestraften Schülern«. Die Mitarbeiter des Stadtjugendpfarramtes Berlin, darunter Marianne Birthler, berichteten in einem offenen Brief an alle Berliner Kirchengemeinden über die Vorgänge an der Ossietzky-Schule und riefen zu einer Auseinandersetzung mit dem Bildungssystem auf.423 Die Konflikte um die Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen im Mai 1989 knüpften an die vorherigen Ereignisse an und waren gleichzeitig der Auftakt für die grundlegenden politischen Umwälzungen im Herbst 1989. Seit dem Überfall auf die Umweltbibliothek 1987 wagten sich die oppositionellen Gruppen immer weiter aus ihren Nischen hervor und trauten sich, die Reaktionen des Staates immer provozierender zu testen. In dieser grundlegenden systemischen Auseinandersetzung verloren die Diskussionen zu einzelnen Sachfragen an Gewicht. Verstärkt wurde dieser Prozess durch das Hineindrängen von Ausreisewilligen in die oppositionellen Gruppen. Choi hat für die Zeit bis 1987 vier Gründe herausgearbeitet, sich an der Arbeit in den Basisgruppen zu beteiligen: Subjektive Betroffenheit, Sozialisations- und Kommunikationsdefizit der DDR-Gesellschaft, Streben nach Autonomie und Emanzipation von den diktatorischen Herrschaftsstrukturen sowie Enttäuschung über das Bild des real existierenden Sozialismus.424 Danach kam ein weiteres Motiv hinzu, nämlich 421 Weber, Geschichte der DDR, 345. 422 Neubert, Geschichte der Opposition, 774–775. Zu den Vorgängen vergleiche Kowalczuk, Endspiel, 291–297. 423 Rüddenklau, Störenfried, 192. 424 Choi, Dissidenz, 188–191.

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über spektakuläre, öffentlichkeitswirksame Aktionen die eigene Abschiebung zu erzwingen.425 Diese Konstellation führte innerhalb der Gruppen zu erheblichen Spannungen. Ältere Aktivisten, die an inhaltlicher Arbeit und an einer Entwicklung innerhalb der DDR interessiert waren, sahen sich ausgenutzt und instrumentalisiert.426 Auf der anderen Seite gab es auch Gruppen, die sich den Ausreisewilligen bewusst öffneten. Unter ihnen waren häufig nicht-kirchlich gebundene, aber technisch und naturwissenschaftlich gut ausgebildete Personen. Sie verfügten über das nötige Fachwissen, das die Umweltgruppen benötigten, um auf Augenhöhe mit den staatlichen Institutionen über Umweltprobleme diskutieren zu können und der SED die Machtressource Sachverstand streitig zu machen.427 Umwelt in den Kirchenzeitungen Im Jahr 1988 erschienen in der DDR 34 periodische Publikationen von Kirchen und Religionsgemeinschaften mit einer Auflage von insgesamt 376.000. Den größten Anteil daran hatten die fünf evangelischen Kirchenzeitungen.428 Im Vergleich zum staatlichen Pressewesen war dies eine verschwindend geringe Zahl. Etwa neun Millionen betrug die Auflage der täglichen Zeitungen. Hinzu kamen 30 Wochen- und Monatszeitungen mit noch einmal 9,3 Mio. Auflage. Den Löwenanteil machten die SED-Bezirkszeitungen mit 5,4 Mio. aus, die größte Einzelauflage hatte dabei die FDJ-Zeitung Junge Welt mit 1,26 Mio., gefolgt vom Neuen Deutschland mit 1,1 Mio. Größte Publikation einer Blockpartei war die Neue Zeit der CDU mit einer Auflage von 104.000 Exemplaren. Insgesamt kam die Blockpresse auf eine tägliche Auflage von 835.000.429

425 Das legale Ausreiseverfahren konnte sich über Jahre hinziehen und war mit Schikanen im Berufs- und Privatleben verbunden. 1988 lag die Zahl der genehmigten Ausreisen bei etwa 30.000, während allein im April jenes Jahres 112.000 Anträge neu gestellt worden waren. Vgl. dazu Weber, DDR 1945–1990, 105. Die Erfahrungen rund um die Botschaftsbesetzungen im Jahr 1984 hatten den DDR-Bürgern die Erfolgsaussichten von spektakulären Aktionen vor Augen geführt. Über 35.000 Menschen durften damals kurzfristig ausreisen. Neubert, Geschichte der Opposition, 526. Auch in den Jahren bis 1989 kam es immer wieder zu vereinzelten Fällen von Botschaftsbesetzungen, um das eigene Ausreiseverfahren zu beschleunigen. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bot die Mitgliedschaft in einer Umweltgruppe und die Teilnahme an entsprechenden Aktionen eben diese Möglichkeit. 426 Vgl. dazu Wolle, Welt, 289; Choi, Dissidenz, 212–215; Rüddenklau, Störenfried, ­176–177 und Mühlen, Aufbruch und Umbruch, 182–189. 427 Carlo Jordan, Akteure und Aktionen der Arche, in: Carlo Jordan (Hrsg.), Arche Nova. Das »Grünökologische Netzwerk Arche« 1988–90. Berlin 1995, 37–70, 51. 428 Holzweißig, Schärfste Waffe, 142. 429 Meyen, Denver Clan, 104.

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Größte Kirchenzeitung war die katholische Zeitung Tag des Herrn, die 14-tägig in einer Auflage von 100.000 erschien. Generell blieb die katholische Publizistik in der DDR strikt apolitisch.430 Die evangelische Kirche besaß mehr Publikationsorgane, weshalb die Auflagenhöhe im Einzelnen etwas niedriger lag. Die Ost-Berliner Wochenzeitung Die Kirche war dabei mit einer Auflage von 40.000 die größte.431 Die SED sicherte sich ihre beherrschende Stellung über Lizenzen, Papierzuteilungen und die regionale Berichterstattung. Wer sich über sein Umfeld informieren wollte, dem blieb nichts übrig, als die SED-Presse zu kaufen. Kleinanzeigen, Todesfälle, Informationen über Notdienste, Berichte über das unmittelbare Lebensumfeld lieferten nur die SED-Bezirkszeitungen. Zudem waren die subventionierten SED-Zeitungen als günstiges Packpapier beliebt.432 Im Bereich der Kirchenpresse griff in den 1980er Jahren die Vorzensur des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates.433 Dies bedeutete für die Redaktionen eine erhebliche Erleichterung ihrer Arbeit, da der Zensor die politische Verantwortung dafür trug, was letztendlich veröffentlicht wurde. Das Dilemma der Journalisten der staatlichen Zeitungen – wie weit sie in ihrer Berichterstattung gehen konnten, ohne dafür gerügt zu werden – blieb kirchlichen Redakteuren erspart. Sie spürten die »Schere im Kopf« weniger und konnten dem Zensor gewagtere Texte vorlegen. Dieser Umstand und der eng umgrenzte Leserkreis führten dazu, dass die Kirchenpresse Themen ansprechen konnte, die in der staatlichen Presse tabu waren: Freizügigkeit, Reisefreiheit, Friedensdienst und Umweltproblematik. Da die Redaktionen von Informellen Mitarbeitern des MfS durchsetzt waren, kannte das Presseamt den Redaktionsplan der einzelnen Zeitungen bereits im Voraus.434 Da zudem alle Kirchenpublikationen nicht frei verkäuflich und nur über Postzeitungsvertrieb zu bekommen waren, konnte die Deutsche Post kurzfristig den Vertrieb der Zeitungen einstellen. Hinzu kam, dass die Deutsche Post den Verlagen die gesamte Auflage abkaufte. Damit trugen die Verlage zwar kein wirtschaftliches Risiko mehr, sie kannten aber auch nicht die eigenen Abonnenten.435 Die Höhe der Auflage lässt damit keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Nachfrage zu. Die Auflage war staatlich über die Papierzuteilungen vorgegeben 430 Renate Hackel, Katholische Publizistik in der DDR. 1945–1984. Mainz 1987, 94–109. 431 Heller, Unbotmäßiges, 1189. 432 Meyen, Denver Clan, 106–107. 433 Gleichzeitig mit der Abgabe der gedruckten Auflage bei der Deutschen Post mussten Belegexemplare beim Presseamt des Ministerrates abgegeben werden, das diese lektorierte. Thomas Klein, Gegenöffentlichkeit. Oppositionelle Wirkungsformen und staatliche Abwehrstrategien, in: Ansorg, Land, 227–248, 238. 434 Holzweißig, Schärfste Waffe, 142–144. 435 Bernd Klammer, »Früher ging ja alles immer weg«. Der P(OST-)Zeitungsvertrieb, in: Barck, Langermann, Lokatis, Zwischen, 569– 577, 572.

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und wurde als politisches Druckmittel gebraucht. Die kirchliche Jugendzeitschrift Stafette mit einer Auflage von 50.000 wurde etwa während des Kirchenkampfes 1953 mit dem Hinweis auf Papierersparnis eingestellt.436 Ab Mitte der 1980er Jahre schlugen die Kirchenzeitungen in ihrer Berichterstattung einen kritischeren Ton an. Vorreiter war dabei die Mecklenburgische Kirchenzeitung mit einer Auflage von 15.000. Die Zeitung verstand sich nicht länger als Mitteilungsblatt der Kirchenleitung, sondern als »Stimme der Kirche«. Nach protestantischem Verständnis von Kirche bedeutete dies: als Stimme aller. Die Zeitung wollte sich allerdings nicht zum Oppositionsblatt entwickeln, sondern die Vorgänge und Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft durch Informationen durchschaubarer machen, sie wollte »Kritische Loyalität« üben.437 Die Kirchenzeitungen berichteten auch danach nicht über einzelne Umweltprobleme wie Waldschäden, Wasserverschmutzung oder Bergbaufolgeschäden. Sie boten aber Berichten über kirchliche Ökologieseminare Platz oder thematisierten das christliche Umweltverständnis. Am 22. November 1987 etwa berichtete die sächsische Kirchenzeitung Der Sonntag über ein Kernenergie-­Seminar des Ökologischen Arbeitskreises Dresden. Die Kirchenzeitungen spielten eine wichtige Rolle dabei, die am Rande der DDR-Gesellschaft – und oftmals auch am Rande der Kirchengemeinden – stehenden Umweltgruppen stärker in der Institution Kirche zu verankern und auch konservativere Kirchenkreise für Umweltthemen zu sensibilisieren. Beiträge in Kirchenzeitungen besaßen eine höhere Glaubwürdigkeit als Berichte in hektographierten Samisdat-Blättern. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Mecklenburgischen Kirchenzeitung, Gerhard Thomas, war Ende der 1980er Jahre Chefredakteur der Kirche.438 Er schrieb im Dezember 1987 einen Kommentar über die Ereignisse in der Berliner Umweltbibliothek, in dem er sich erleichtert über die Freilassung der Mitarbeiter zeigte, gleichzeitig aber auch zum Abbau von Feindbildern auf beiden Seiten aufrief.439 Der Chefredakteur der thüringischen Kirchenzeitung Glaube und Heimat, Gottfried Müller, wertete das Tun der Umweltbibliothek kritischer. Er provozierte damit eine Replik des Pfarrers der Zionsgemeinde, Hans Simon, der Müller eine zu große Staatsnähe vorwarf. In einer Entgegnung Müllers legte dieser den Finger in die größte Wunde der Umweltbibliothek, die Verlässlichkeit der Informationen in den Umweltblättern: »Nach wie vor ist nicht gewährleistet,

436 Christoph Kleßmann, Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR, in: Kocka, Sozialgeschichte, 29–53, 45. 437 Gerhard Thomas, Kritische Loyalität. Die »Mecklenburgische Kirchenzeitung«: Ziele, Chancen, Grenzen, in: Medium 16, 1986, 44–47. 438 Rüddenklau, Störenfried, 196–197. 439 Die Beiträge der Kirchenzeitungen zum Überfall auf die Umweltbibliothek sind gesammelt in Matthias Hartmann, Zwischen ADN und Eigenständigkeit. DDR-Kirchenpresse über die Durchsuchung der Umweltbibliothek, in: Kirche im Sozialismus, 1988, 2–4.

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daß die Blätter nur gesicherte Informationen verbreiten; neben Gerüchten und Vermutungen verlieren aber auch echte Nachrichten an Glaubwürdigkeit.«440 Im Zuge der innenpolitischen Zuspitzungen in Folge des Überfalls auf die Umweltbibliothek, die Ereignisse um die Rosa-Luxemburg-Demonstration und der Relegierung von Schülern der »Carl von Ossietzky-Schule« erhöhten die staatlichen Behörden den Druck auf die Kirchenzeitungen. Ab Februar 1988 durfte Die Kirche fünfmal nicht erscheinen. Im Anschluss untersagte ihr das Presseamt die Berichterstattung über die Themen Ausbürgerung und Übersiedlung, Umweltschutz, Wehrdienst, Schule und Erziehung sowie Menschenrechte.441 Als Reaktion und Protest darauf erschien Die Kirche am 3. April 1988 mit weißen Flecken und Auslassungen.442 Eine derartige Offenlegung des staatlichen Eingriffs in die Pressefreiheit war ein Novum in der DDR. Das Vorgehen der Redaktion ist ein Beleg für das gewachsene Selbstvertrauen, den Konflikt mit staatlichen Behörden zu suchen. Im Umkehrschluss ist dies ein weiteres Indiz für den Autoritätsverlust des SED-Staates in den späten 1980er Jahren. Dieser Staat war zu keiner argumentativen Aufarbeitung des Problems mehr fähig, und seine einzige Antwort bestand im Verbot der Kirche im Oktober 1988. Insgesamt stellte die Deutsche Post 1988 17 Ausgaben von Kirchenzeitungen nicht zu.443 Im Juni 1989 geriet die CDU-Bezirkszeitung für Dresden und Karl-Marx-Stadt Die Union ins Visier des MfS, da sie am 3. Juni eine Annonce mit dem Programm der »Woche der Verantwortung für Gottes Schöpfung« abgedruckt hatte.444 Der Anspruch des MfS und damit auch der SED, den Informationsgehalt frei zugänglicher, staatlich sanktionierter Presseerzeugnisse zu kontrollieren und nach ihren Vorstellungen zu gestalten, blieb bis zum Herbst 1989 bestehen. Der übrige Samisdat Während der Samisdat in der Sowjetunion eine lange Tradition hatte und in Polen auf hohe Auflagen und weite Verbreitung kam, spielte er in der DDR erst ab Ende der 1970er Jahre eine kleine Rolle. Ursache dafür war der »Tamisdat«. Der Begriff bezeichnet Verlage im Westen, die Schriften aus den sozialistischen 440 Zitiert bei Hartmann, Zwischen ADN und Eigenständigkeit. DDR-Kirchenpresse über die Durchsuchung der Umweltbibliothek, 4. 441 Choi, Dissidenz, 108. 442 Henky, Kirchliche Medienarbeit, 222–223 und Wolle, Welt, 303–304. 443 Eine detaillierte Auflistung aller Zensurmaßnahmen 1988 siehe bei Anonymus, Chronologie der Zensurmaßnahmen. (Stand 7. Nov. 1988), in: Kirche im Sozialismus, 1988, 218. 444 BStU BV DDn. AOP 451/90 Beiakte Ministerium für Staatssicherheit, Beiakte zum OV »Kreuz« – Überwachung des ÖAK Dresden, pag. 288.

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Ländern druckten. Aufgrund der fehlenden Sprachbarriere zwischen BRD und DDR hatte der Tamisdat in Ostdeutschland eine große Bedeutung.445 Bücher waren vergleichsweise einfach in die DDR einzuschmuggeln und wurden dort nach dem Lesen weitergereicht.446 Rudolf Bahros Die Alternative und Monika Marons Roman Flugasche sind Beispiele für den Tamisdat. In der Westberliner Tageszeitung taz gab es ab 1986 alle 14 Tage eine DDR- bzw. Ost-Berlin-Seite, an deren Konzeption Roland Jahn maßgeblich mitwirkte und die u. a. in der Ber­ liner Umweltbibliothek gelesen werden konnte.447 Neben dem gedruckten Tamisdat existierte ab dem 22. Juli 1987 das Radio Glasnost eines Westberliner Privatsenders, das über oppositionelle Aktivitäten in der DDR berichtete.448 Die bekannteste Form des Tamisdat in der DDR war sicherlich das Westfernsehen. 80 bis 90 Prozent der DDR-Bürger sahen regelmäßig ARD und ZDF, wobei Unterhaltungssendungen und Alltagsserien am beliebtesten waren. Daneben waren die Nachrichtenformate von Bedeutung. Michael Meyen hat in seiner Medienanalyse herausgearbeitet, dass die DDRBürger die Tagesschau, heute oder Kennzeichen D nicht als »Wahrheitsinstanz« anerkannten, sondern als zweiten, erweiterten Blick auf einen Sachverhalt.449 Das Westfernsehen war das Einfallstor für Themen und Diskurse. Der Journalist Peter Wensierksi bemerkte 1985 – wie das MfS vor ihm –, dass die wachsende Zahl von Eingaben in Bezug auf Sauren Regen und Waldsterben auf die Berichterstattung in den Westmedien zurückging.450 Wensierski war auch der Autor eines Buches über die DDR-Umweltbewegung, das 1986 in der BRD erschien.451 Die Umweltgruppen selbst waren über das Buch wenig glücklich, stellte es doch in ihren Augen die Zustände zu drastisch und überzeichnet dar. Zudem erschwere es die Arbeit der Gruppen, weil das MfS auf Aktionen aufmerksam wurde, die es zuvor nicht beachtet hatte. Jörn Mothes urteilte 1987 in den Briefen: Mein Eindruck bleibt, daß die DDR-Umweltmisere und die Aktivitäten unserer Ökologiekreise hier in buchhändlerisch günstiger Situation einfach als Bestseller verkauft werden. »Protest in der DDR« macht sich immer gut.452 445 Klein, Gegenöffentlichkeit, 233. 446 Kowalczuk, Von »aktuell« bis »Zwischenruf«, 31 und 36. 447 Ebd., 38. 448 Gunter Holzweißig, Massenmedien in der DDR. 2., völlig überarb. Aufl. Berlin 1989, 71 und Franca Wolff, Glasnost erst kurz vor Sendeschluss. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens (1985–1989/90). Köln 2002, 101. 449 Meyen, Denver Clan, 63–64. 450 Peter Wensierski, »Wir haben Angst um unsere Kinder«. SPIEGEL-Report über die Luftverschmutzung in der DDR (I), in: Der Spiegel 39, 1985, 64–74, 64. 451 Peter Wensierski, Von oben nach unten wächst gar nichts. Umweltzerstörung und Protest in der DDR. Orig.-Ausg.. Frankfurt 1986. 452 Jörn Mothes, Wir haben gelesen. Peter Wensierski: Von oben nach untern wächst gar nichts, in: Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde 1987, 17–18, 18.

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Vor diesem Hintergrund hatte es der Samisdat in der DDR schwer, wahrgenommen zu werden. Seine Herstellung war mit erheblichen persönlichen Risiken verbunden, das Druckbild zumeist wenig ansprechend, und die darin enthaltenen Informationen waren kaum überprüfbar. Im Unterschied zu den übrigen Staaten Osteuropas entwickelte sich der Samisdat nicht zu einem Massenphäno­ men, sondern blieb in der DDR das Sprachrohr einer grün-alternativen Bewegung, das für das in der gleichgeschalteten Medienlandschaft totgeschwiegene Thema der Umweltprobleme eine gewisse Öffentlichkeit schaffen sollte.453 Hubertus Knabe urteilte, dass der politische Samisdat in der DDR ab 1983/84 eine neue Qualität erhielt.454 Zu diesem Zeitpunkt erschienen etwa die Briefe des Forschungsheimes, die Anstöße von der Evangelischer Studentengemeinde und Forschungsheim, aktuell des Friedenskreises der Samaritergemeinde Berlin, das Blattwerk in Halle, die Streiflichter in Leipzig oder der Friedensreader aus dem Umfeld des Jugendpfarramts in Rudolstadt. Bis auf die Briefe bewegten sich alle Publikationen mit ihrer Auflage deutlich unter 1000 Exemplaren. Die Umweltblätter aus der Umweltbibliothek bedeuteten eine entschiedene Weiterentwicklung des Samisdat hinsichtlich Ressourcenausstattung, Inhalt und Aufmachung. Nach dem Überfall auf die Umweltbibliothek explodierte die Zahl der Samisdatblätter. Übersichten bei Neubert und Kowalczuk listen über 150 Samisdatformen auf, benennen die dahinterstehenden Redaktionen, geben Aufschluss über die thematischen Schwerpunkte und schätzen die Auflage ab.455 Thematisch waren die Blätter breit aufgestellt, und Waldschäden waren ein Punkt unter vielen. Außer dem Grenzfall wurden keine Samisdat-Blätter gezielt vom MfS zerschlagen, viele Redaktionen waren jedoch von IMs durchsetzt. Allerdings schienen die Behörden auch Ende der 1980er Jahre noch sehr sensibel auf die Darstellung von Waldschäden zu reagieren. In der NotNadel, einem künstlerischen Samisdat, war in der Ausgabe vom 20.  März 1987 ein Beitrag über das Waldsterben enthalten. Die beiden Künstler Thomas Günther und Sabine Jahn erhielten daraufhin vom Magistrat der Stadt Berlin, Abteilung Druckgenehmigung, eine Vorladung. Sie mussten unterschreiben, zukünftig für jede Publikation eine staatliche Genehmigung einzuholen.456 Als Beispiel für den Umgang mit Waldschäden sei hier ein Gedicht aus dem Zwischenruf abgedruckt, der 1988 mit einer Auflage von 300 Exemplaren erschien. Dahinter stand der »Ökologische Arbeitskreis Ilmenau«: 453 Knabe, Nachrichten, 29 und 38. 454 Knabe, Samisdat, 305. 455 Neubert, Geschichte der Opposition, 756–766 und Kowalczuk, Von »aktuell« bis »Zwischenruf«, 52–75. 456 Thomas Günther, Die subkulturellen Zeitschriften in der DDR und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1992, 27–36, 34.

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Am Waldrand steht ein Transparent das weiß auf rot die Losung nennt: ES LEBE UNSER GRÜNER WALD! Aus Propagandatrichtern schallt indes der Song ins kranke Holz Wir sind auf jedes Bäumchen stolz das wächst in unserer Republik. Bleibt standhaft, nahe ist der Sieg! Wir lieben Wälder, Luft und Seen und lassen euch nicht untergehen. Vom Wald her kommt ein letztes Rauschen, die Menschen stehn davor und lauschen. Es ist ein Gruß von jenseits schon, und hätte er ein Mikrofon, so hörte man ihn sterbend sagen: Ich hab die schlechte Luft ertragen, den sauren Regen und den Dung, und es kam niemals Linderung. So laßt mich nun in Frieden sterben und Gott erbarm sich eurer Erben. Laßt die Parolen und Musiken, ich bin zu alt für eure Lügen. Doch keiner kann das Rauschen deuten und ein Experte sagt den Leuten, daß es von jetzt an aufwärts geht (obwohl er weiß, es ist zu spät). Bald wird das Nadelkleid dann fallen, der letzte Vogelschrei verhallen – bis man das tote Holz verbrennt. UND EINSAM STEHT DAS TRANSPARENT457

Für die weitere Entwicklung der Oppositionsbewegung in der DDR war die Ausdifferenzierung der Samisdatkultur insofern von Bedeutung, als dass mit Beginn der Wende überall in der DDR subkulturelle Zeitschriften existierten, die über die Ereignisse berichteten und eine wichtige Multiplikatorfunktion wahrnahmen. Die Vielfalt und die beständige Zunahme der Auflagenhöhe deuten das weitere Vordringen kirchlicher Umweltgruppen in den öffentlichen 457 BStU BV Suhl XX 645, Bd.3 Ministerium für Staatssicherheit, Umweltbewegung 1984–1989.

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Raum an. Allerdings blieben Redaktionen und Leserkreis auch weiterhin in einem hohen Maße reziprok. Nach dem Journalisten und DDR-Historiker Karl Wilhelm Fricke war der­ Samisdat nicht nur das Sprachrohr einer verschwindend kleinen Minderheit. Der Samisdat habe eine »Vielzahl der Probleme reflektiert, die die Menschen in der DDR generell bewegt« hätten. Das »Denken der schweigenden Mehrheit« sei »im Samisdat zur Sprache gebracht« worden.458 Die Mehrheit der Bevölkerung war nicht über den gedruckten Samisdat zu erreichen, allerdings bedeutete die Etablierung zahlreicher Blätter, dass es den Gruppen gelang, der SED die Macht­ressource der kommunikativen Fähigkeiten streitig zu machen. Einige Mit­glieder der Umweltbibliothek in Berlin wollten auf diesem Weg einen Schritt weitergehen. Die Berichterstattung über den Überfall auf die UB in Westmedien hatte sie darin bestärkt, ihre Anliegen nicht nur im Inland in gedruckter Form, sondern auch gezielt über das Westfernsehen zu kommunizieren. Konflikte um die »Arche« Im September 1988 erschien ein weiteres, neues Samisdat-Blatt, die Arche Nova. Sie hatte von Anfang an eine hohe Auflage von 2000 Exemplaren. Unter der Überschrift »Warum Arche?« schrieben die Herausgeber: Es existiert nur eine unterentwickelte bzw. bestenfalls territorial begrenzte Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Öko-Gruppen. Der Informationsaustausch ist sehr mangelhaft. Aktivitäten und Probleme von Ökogruppen aus dem Süden sind im Norden wenig bekannt und umgekehrt.459

In der Gründungserklärung legten die »Arche«-Mitglieder dar, dass sie sich für Offenheit in Umweltfragen einsetzten und die allgemein herrschende Apathie überwinden wollten.460 Patrick von zur Mühlen sah in der Gründung des Netzwerkes »Arche« den Wendepunkt zwischen frühem, basisdemokratischem Engagement im Stile der Umweltbibliothek und einer entwickelten, organisierten Variante der ökologischen Protestbewegung.461 Ein Ziel der »Arche« war es, die Zufälligkeit der basisdemokratischen Arbeitsweise zu überwinden, die eigene fachliche Kompetenz zu bündeln und damit auch zu erhöhen. Nach Ehrhart Neubert ging dieser Prozess der fachlichen Qualifizierung mit einer weiteren 458 Kowalczuk, Freiheit und Öffentlichkeit, 16. 459 Anonymus, – arche – Das Grüne Netzerk i. der Ev. Kirche – (vorläufige) Gründungserklärung, in: Arche-Info, 1988, 2–3, 3. 460 BStU MfS HA XX/4 1983 Ministerium für Staatssicherheit, Information über den Zusammenschluß »Arche/Grün-Ökologischer Bund« und Gründungserklärung der Arche, pag. 5. 461 Mühlen, Aufbruch und Umbruch, 111.

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Politisierung einher.462 Die bewusste Öffnung der »Arche« für Ausreisewillige katalysierte den Politisierungsprozess zusätzlich. Der Anspruch der »Arche«, als Vernetzungs- und Koordinierungsinstanz der Umweltbewegung auftreten zu wollen, war ein offener Affront gegen das Forschungsheim Wittenberg. Die von diesem organisierten Vertretertreffen waren zweimal wegen Schwangerschaft der Sekretärin ausgefallen. Carlo Jordan, der maßgeblich hinter der Gründung der »Arche« stand, nutzte diese Leerstelle und forderte eine forcierte Vernetzung, die das Heim nicht mehr leisten könne. Gensichen beschrieb die Vorgänge mit 20-jährigem Abstand als »Machtkampf«.463 Innerhalb der Umweltbibliothek Berlin – aus der Carlo Jordan und weitere Gründungsmitglieder der »Arche« stammten  – sorgte die Gründungsabsicht für Streit. Wolfgang Rüddenklau warf der »Arche« Hierarchiebildung vor, Jordan bezeichnete die UB als von einer »linken Mehrheit aus Anarchisten, Syndikalisten und Neomarxisten« geprägt.464 Auf der Gründungsversammlung vom 8. bis 10. Januar 1988 in Jordans Privatwohnung gab sich das Netzwerk den Namen »ökologischer Umweltbund Arche«, Mitte 1988 erfolgte eine Umbenennung in »Grün-ökologisches Netzwerk Arche in den evangelischen Kirchen der DDR«. Das MfS berichtete, dass es »[e]rklärtes Ziel dieses Zusammenschlusses ist […], als Netzwerk zur Koordinierung der Aktivitäten der im Umfeld der evangelischen Kirchen in der DDR bestehenden Umweltgruppen beitragen zu wollen […]«. Als inhaltliche Schwerpunkte identifizierte das MfS Luftreinhaltung, Wasser, Müllbeseitigung und Stadtökologie.465 Allerdings waren der »Arche« zunächst alle Veröffentlichungsmöglichkeiten genommen. Am 2. Mai 1988 fassten die Mitglieder der UB den »Unvereinbarkeitsbeschluss«, eine gleichzeitige Mitgliedschaft in UB und »Arche« war nicht mehr möglich. Als Treffpunkt diente der »Arche« danach die Andreas-Markus-Kirchengemeinde in Berlin, wo zu den wöchentlichen Treffen zwischen 20 und 80 Teilnehmer kamen. Schwerer als der Verlust der UB-Räumlichkeiten wog der Verlust der Druckmöglichkeit. Statt des Gründungsaufrufs der »Arche« erschien in den Umweltblättern der UB der Unvereinbarkeitsbeschluss mit ausführlicher Erläuterung. Unter den bestehenden Umweltgruppen fand die Gründung des Netzwerkes »Arche« ein zwiespältiges Echo. Choi betont, dass viele Gruppen froh über ihre begonnene Emanzipierung von der Gängelung des DDR-Systems waren und sich von keiner Dachorganisation ihre Autonomie nehmen lassen wollten.466 Gerade die stark christlich geprägten Kreise verweigerten sich der »Arche« und 462 Neubert, Geschichte der Opposition, 646. 463 Gespräch mit Hans-Peter Gensichen am 9.2.2010. 464 Rüddenklau, Störenfried, 178 und Jordan, Akteure und Aktionen der Arche, 42. 465 BStU MfS HA XX/4 1504 Ministerium für Staatssicherheit, Information über das sogenannte Grün-ökologische Netzwerk Arche. 15.3.1989, pag. 2–3. 466 Choi, Dissidenz, 210.

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sahen die lose Koordination durch das Forschungsheim als dienlicher an, darunter der ÖAK in Dresden.467 Auf der anderen Seite schlossen sich die vermehrt auf öffentlichkeitswirksame Aktionen abzielenden Gruppen der »Arche« an. Choi sieht zusammenfassend den Vernetzungsversuch als gescheitert an, während Thomas Klein ihn als erfolgreich charakterisiert und ihm unter den Ökologiegruppen eine hohe Resonanz attestiert.468 Inhaltlich konzentrierte sich die »Arche« auf ökologische Themen. Sie wollte die in der DDR bestehenden Umweltprobleme offen und ungeschönt aufgreifen und einem breiten Publikum bekannt machen. Im Laufe des Jahre 1988 organisierte erneut Roland Jahn den Transport einer Druckmaschine. Der »Bund für Umwelt und Naturschutz« brachte sie nach Westberlin, von dort aus schmuggelten sie die Bundestagsabgeordneten der GRÜNEN Karitas Hensel und Wilhelm Knabe in die DDR.469 In der Arche Nova 1, die im September 1988 erschien, ging es unter anderem um die Wasserbelastung der Mulde, den Unvereinbarkeitsbeschluss der UB und die Schwefeldioxidbelastung der DDR sowie einzelne Entschwefelungsverfahren. Dabei gelang es der »Arche«, in den Beiträgen über die Schilderung Betroffener hinauszugehen und verstärkt Wissenschaftler für die Veröffentlichung zu gewinnen. In der Arche Info I/89, einem kleineren internen Mitteilungsblatt, beschrieb der Kinderarzt Peter Winterstein die Zusammenhänge zwischen Umweltverschmutzung und Gesundheitsschäden. Dabei griff er auf seine Erfahrungen in der Leipziger Universitätsklinik zurück, wo er nach Luft ringende Kinder behandelte.470 Das Heft kostete zwischen fünf und sechs Mark, was im Vergleich zu DDRPresseerzeugnissen ein hoher Preis war. Der Vertrieb erfolgte über den Verkauf bei eigenen Veranstaltungen, den Postversand nach Eingang einer ›Spende‹ sowie über illegale Kuriere in die BRD, wo das MfS eine »medienpolitische Auswertung in westlichen Publikationen und Funkmedien« feststellte.471 Von Anfang an war es die Absicht der »Arche«-Mitarbeiter, ihr Handeln nicht auf die DDR zu beschränken, sondern auf den Westen, die Bundesrepublik, auszudehnen. Sie wussten, dass der Leserkreis des ökologischen Samisdat in der DDR eng begrenzt war. Um die breite Öffentlichkeit zu erreichen, mussten sie Widerhall in den Westmedien finden. Allein über die Schleife des Westfernsehens konnten sie ihr Tun in die ostdeutschen Wohnzimmer tragen.

467 Jacobi, Jelitto, Grünes Kreuz, 76. 468 Klein, Frieden und Gerechtigkeit, 399. 469 Jordan, Akteure und Aktionen der Arche, 43. 470 BStUMfS HA XX/5431 Ministerium für Staatssicherheit, Ausgaben der »Arche-Infos« 1989, pag. 9– 10. 471 BStU MfS HA XX/AKG 6536 Ministerium für Staatssicherheit, Auskunftsbericht zum nichtlizensierten Druckerzeugnis »Arche Nova«, pag. 7–8.

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Das Konzept der Arche Nova sah darum vor, zu jedem Heft einen Videofilm zu produzieren.472 Der erste »Arche«-Film trug den Titel Bitteres aus Bitterfeld und zeichnete die Spuren der Umweltschäden an Wasser, Luft und Boden im Chemiedreieck nach. Die Aufnahmen hierzu fanden während des Endspiels der Fußball-Europameisterschaft zwischen der UdSSR und den Niederlanden am 25. Juni 1988 statt, da hier die Gefahr der Entdeckung am geringsten war.473 An den Arbeiten war Ulrich Neumann beteiligt, der 1987 einen Ausreiseantrag gestellt hatte und im Juli 1988 in die BRD übersiedeln konnte. Im Westen wurde Neumann zum wichtigsten Kontaktmann der »Arche« zu westlichen Medien. Das MfS war über das Wirken Neumanns derart beunruhigt, dass es nach seiner Übersiedlung einen operativen Vorgang über ihn eröffnete.474 Gemeinsam mit Roland Jahn baute Neumann ein Pressenetzwerk auf. Über den ARD-Journalisten Peter Wensierski landete der »Arche«-Film schließlich beim Magazin Kontraste, das ihn am 27.  September 1988 ausstrahlte.475 Falk Zimmermann, einer der Kameraleute der »Arche«, wusste nichts über die Dreharbeiten zu Bitteres aus Bitterfeld. Er – IM des MfS – bekam nach der Dokumentation zur besten Sendezeit Rechtfertigungsprobleme seinem Verbindungsoffizier gegenüber.476 Das zweite Heft der Arche Nova widmete sich den Waldschäden in der DDR. Mit einem Nachdruck kam es auf eine Auflage von 3000 Stück. Der einschlägige Beitrag griff zwar ebenfalls auf die Schaderhebung in den Kirchenforsten zurück, beschränkte sich aber nicht auf eine Referierung der Ergebnisse. Der Autor Vollrad Kuhn beschrieb den typischen Schadverlauf bei den Hauptbaumarten, befasste sich mit den gängigsten Ursachenhypothesen und erläuterte die Unterschiede zwischen den neuartigen Waldschäden und klassischen Rauchschäden.477 Damit ging die Arche Nova über das hinaus, was in den Umweltblättern zu Waldschäden stand, blieb aber hinter dem zurück, was das Forschungsheim in Wie man in den Wald rußt… drei Jahre zuvor veröffentlich hatte. In einem für die Umweltpolitik der SED elementaren Punkt ging die Arche Nova 2 jedoch über das hinaus, was bis dahin in den Samisdat-Blättern zu lesen 472 Telefonat mit Carlo Jordan am 23.9.2009. 473 Ulrich Neumann, Was war, war wenig und viel. Die Anfänge der Arche, in: Jordan, Arche Nova, 81–92, 89–90. 474 BStU MfS AOPK 15813/89, Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Ulrich Neumann, OPK »Ökologe«. 475 SAPMO DY 30/2837 Hans Reichelt, Information über das Anwachsen gezielter Aktivitäten auf dem Gebiet des Umweltschutzes. 6.10.1988, pag. 290. 476 Jordan, Akteure und Aktionen der Arche, 64. 477 Kuhn, Vollrad, Unsere Wälder sterben, in: Arche Nova, 1988. Nachdruck in: Jordan, Arche Nova, 248–254.

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war. Der Wasserwirtschaftler Reinhard Klaus hatte in der »Arche« eine Projektgruppe »Wasser« gegründet. Er hatte Zugang zum Geheimhaltungsbeschluss zu Umweltdaten des Präsidiums des Ministerrates von 1982.478 Im ARD-Magazins Monitor sagte Jordan dazu am 4. Juli 1989: Der Minsterratsbeschluß ist in der DDR nicht publiziert. Er ist genauso wie die Daten zur Umwelt, die unter Staatsgeheimnis gestellt sind, selbst Staatsgeheimnis. Wir vom Grünen Netzwerk der DDR haben zum ersten Mal diesen Ministerratsbeschluß überhaupt in unserer Publikation »Arche Nova« veröffentlicht.479

Der zur Druckausgabe gehörende Film Über allen Wipfeln ist Ruh hatte jedoch nicht mehr die gleiche Qualität wie Bitteres aus Bitterfeld. Zimmermann war maßgeblich in die Arbeiten eingebunden und verzögerte und sabotierte die­ Fertigstellung des Films aus vorgeschobenen Gründen.480 Das Endergebnis waren stark verwackelte Aufnahmen, die Neumann mit Hilfe von Greenpeace aus der DDR schaffen konnte. Die Ausstrahlung erfolgte am 24.  Mai 1989 in der ZDF-Sendung Kennzeichen D, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der Arche Nova 2.481 Das MfS war teilweise erfolgreich damit, über den gezielten Einsatz von IM die Arbeit der Umweltgruppen zu behindern bzw. zu verzögern. Neben dem Waldsterbensfilm sabotierte Zimmermann auch eine Postkartenaktion. In Zusammenarbeit mit Greenpeace organisierte die »Arche« den Versand von 20.000 Briefen an willkürlich ausgewählte DDR-Bürger. Die Briefe wurden im Westen gedruckt und von Karitas Hensel in die DDR gebracht. Dort hatten Mitarbeiter der »Arche« 20.000 Briefmarken organisiert, und 20 Mitarbeiter sollten die Briefe auf möglichst viele Postkästen verteilen, damit sie nicht auffielen. Der Brief selbst enthielt Informationen zur Luftbelastung und zu Waldschäden in der DDR. Dabei lag eine Postkarte, die man an Hans Reichelt schicken sollte, um die Offenlegung der Umweltdaten zu verlangen. Zimmermann übergab seine 1000 Briefe direkt an das MfS, das sich sofort daran machte, möglichst viele der übrigen Briefe abzufangen. Tatsächlich gingen beim Umweltministerium einige der Postkarten ein, wie viele ist allerdings unbekannt.482 478 Jordan, Akteure und Aktionen der Arche, 53. 479 Uli Lustig, Peter Wensierski, DDR – Geheimhaltung von Umweltdaten, in: Monitor, ARD, 4.7.1989. 480 Rüdiger Rosenthal, Kein Schweigen im (sterbenden) Walde. Die Medienarbeit der Arche, in: Jordan, Arche Nova, 133– 144, 142 und Neumann, Was war, 91. 481 BStU MfS HA XX 964 Ministerium für Staatssicherheit, Zwischenbericht zur OPK »Ökologie« vom 22.11.1988–30.6.1988, pag. 2. Vgl. auch Thomas Beutelschmidt, Sozialistische Audiovision. Zur Geschichte der Medienkultur in der DDR. Potsdam 1995, 243. 482 Siegbert Schefke, 20.000 Briefe, in: Bastian, Greenpeace in der DDR, 52–55 und Belinda Cooper, Die »Arche Berlin-Brandenburg (West)«. Hilfe vom Klassenfeind, in: Jordan, Arche Nova, 99–111, 105–106.

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Gleichzeitig profitierte die »Arche« von den Unzulänglichkeiten der staatlichen Instanzen. Reinhard Klaus, der den Text des Geheimhaltungsbeschlusses besorgt hatte, war im April 1989 zu einer Aussprache bezüglich einer Eingabe in das VEB Schichtpreßstoffwerk bestellt worden. Die Aussprache sollte mit Felix Krause erfolgen, dem stellvertretenden Minister für Wissenschaft und Technik. Die Aussprache mit Klaus ging allerdings vergessen, da an diesem Tag auf Antrag der Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion des Ministerrates eine Expertengruppe – unter der Leitung von Krause – die Umweltbelastung des VEB untersuchen sollte. Als Klaus im VEB eintraf, wurde er für ein Mitglied der Expertengruppe gehalten und konnte den Ausführungen zuhören.483 Darüber hinaus entfaltete die »Arche« eine vielfältige Tätigkeit nach innen und außen. Sie organisierte ein Luftseminar in Erfurt, ein Stadt-Bau-Ökologie-Seminar in Halle, Ökologieseminare in Berlin und verschickte Briefe an Minister in der Bundesrepublik.484 Für 1989 legte die »Arche« die inhaltlichen Schwerpunkte auf dem Gebiet der Luftreinhaltung auf die Bereiche SmogVermeidung, Reduzierung der SO₂-Belastung der Luft, den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Atemwegserkrankungen sowie auf eine Erfassung der Großemittenten in Berlin-Brandenburg fest. Der letzte Punkt war ein Beitrag zum Grünbuch-Projekt des Forschungsheimes Wittenberg, das darin eine umfassende Erhebung des Umweltzustandes der DDR leisten wollte.485 Neben der Reminiszenz an die Arbeiten Lingners aus den 1950er Jahren ist dies ein Beleg dafür, dass die Umweltbewegung die internen Spannungen von Anfang 1988 zugunsten eines sachlichen Vorgehens überwunden hatte.486 Danach wurden einzelne Ausgaben der Arche Nova auf den Druckmaschinen der UB produziert. In Richtung Westen arbeitete die »Arche« mit der Alternativen Liste aus Westberlin zusammen. Am 13. Juli 1989 trafen sich beide Gruppierungen in den Räumen der UB und einigten sich auf ein gemeinsames Programm in Sachen Luftreinhaltung. Im Januar 1987 hatte es in Westberlin eine Smog-Warnung gegeben. Dies war im Ostteil der Stadt nicht unbemerkt geblieben und die Frage, warum es in Ost-Berlin keinen Alarm gegeben habe, bildete für 1987 einen Schwerpunkt der Eingaben an das Umweltministerium. Die Agenda sah vor, ein gemeinsames Smogwarnsystem in den beiden Stadthälften aufzubauen. Westberlin sollte sich dabei finanziell am Aufbau des Ost-Berliner Messnetzes­ 483 BStU MfS HA XVIII 133 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen der HA XVIII, pag. 94. 484 BStU MfS HA XX/4 1504 Ministerium für Staatssicherheit, Information über das sogenannte Grünökologische Netzwerk Arche, pag. 5. 485 BStU MfS HA XX/AKG 5478 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur­ »Arche« 1989, vor allem Aufstand in Peking, pag. 2. 486 Vgl. auch Benjamin Blümchen (Pseudonym), Vertretertreffen ›88 der Ökogruppen, in: Umweltblätter. Infoblatt des Friedens- und Umweltkreises Zionskirchgemeinde 12.1988. 22, 22.

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beteiligen. Entschwefelungsmaßnahmen sollten über einen »Berliner Luftpfennig« auf jede verbrauchte Kilowattstunde Strom finanziert werden. Allein aus Westberlin wären so 94 Mio. DM zusammengekommen. Eine Entschwefelungsanlage für das Kraftwerk »Schwarze Pumpe«, dessen 315.000 t SO₂-Emissionen pro Jahr auch in Westberlin spürbar waren, hätte so in zwei Jahren finanziert werden können.487 Die Vernetzung zwischen den beiden Gruppen intensivierte sich im Laufe der Wende zunehmend. Die Mitglieder der »Arche« prägten die Gründung der Grünen Partei der DDR am 24. November 1989, deren Sprecher Carlo Jordan wurde.488 Von 1994 bis 1995 saß er für Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin.

4.3.3 Waldschutz über die Mauer hinweg In den vorherigen Abschnitten wurde kursorisch auf die verschiedenen Machtressourcen hingewiesen, die die Gruppen der SED zu entwinden versuchten. Am Beispiel der Ressource Sachverstand bzw. Wissen soll nun eine ausführlichere Analyse erfolgen, wie die Gruppen darangingen, die alleinige Kompetenz der SED zurückzudrängen. Die unabhängige Umweltbewegung in der DDR besaß von ihren Anfängen an ein großes Problem. Neben dem schwierigen Zugang zu Daten zum realen Umweltzustand fehlte ihr die Expertise, diese Daten deuten und in größere Zusammenhänge setzen zu können. Dieser Mangel verschaffte den Gruppen einen gewaltigen Nachteil, mit staatlichen Stellen auf Augenhöhe diskutieren zu können. Diese konnten stets eine Vielzahl von Experten ins Feld führen und die Schlussfolgerungen der Gruppen für nichtig oder falsch erklären. Die Gruppen versuchten zunächst, dieses Manko im Inland zu beheben. Das MfS notierte 1985: In der letzten Zeit gibt es Anzeichen, daß zunehmend Personen in die Tätigkeit der »Umwelt- und Ökologiegruppen« einbezogen werden, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit über naturwissenschaftliche Fachkenntnisse zu Teilgebieten des Umweltschutzes verfügen. Die Organisatoren erhoffen sich davon, ihre zum Teil übertriebenen und tendenziösen Behauptungen über die Umweltsituation in der DDR mit Fachkenntnissen zu unterlegen.489 487 BStU MfS HA XX/4 1331 Ministerium für Staatssicherheit, Gemeinsame Erklärung zur grenzübergreifenden Luftpolitik in Berlin(West) und Berlin(DDR) der »Arche« und der AL. Umweltbibliothek Berlin. 13.7.1989. 488 Neubert, Geschichte der Opposition, 863. 489 BStU MfS HAXX/AKG 5662 Ministerium für Staatssicherheit, Zusammenfassung von Erkenntnissen über die Entwicklung, Pläne, Absichten und Aktivitäten gegnerischer und feindlich-negativer Kräfte zur Schaffung einer sogenannten Ökologie- und Umweltschutzbewegung in der DDR und deren operative Bekämpfung, pag. 16.

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Hans-Peter Gensichen beschrieb, dass es nahezu unmöglich gewesen sei, mit Wissenschaftlern in Kontakt zu kommen. In Wittenberg gab es neben dem Kirchlichen Forschungsheim eine Außenstelle des ZUG. Dessen Bibliothek habe er jedoch nicht benutzen dürfen. Ein dort angestellter Ornithologe wollte sich einmal die Vogelsammlung des Heimes anschauen, mit Gensichen darüber hinaus aber keine Informationen austauschen. »Die hatten gar keinen Arsch in der Hose«, fasste Gensichen die Haltung der DDR-Wissenschaftler zusammen.490 Ulrich Neumann bezeichnete sie als »ziemlich feige Clique«.491 Carlo Jordan beschrieb den Zustand ähnlich: Im Gegensatz zu den Ökologiebewegungen in Polen, der ČSSR, Ungarn oder Baltikum waren in der DDR so gut wie keine Wissenschaftler bereit, sich offen in unabhängigen Ökologiegruppen zu engagieren. Die DDR-Intellektuellen saßen bis auf wenige Ausnahmen warm und wohlversorgt in Universitäten, Instituten und Akademien, wo sie in Ruhe ihre tatenlose Unzufriedenheit kultivierten.492

Das Auswahl- und Kaderverfahren in Bildung und Wissenschaft band die Wissenschaftler eng an den Staat bzw. machte es zu einem beruflichen Risiko, sich pointiert gegen den eigenen Arbeitgeber zu äußern. Ausnahmen waren solche, die mit dem Wissenschaftsbetrieb der DDR gebrochen hatten, wie etwa der Ökochemiker Ernst Paul Dörfler, der mit seiner Frau zu den Mitbegründern der Grünen Partei in der DDR wurde,493 oder Joachim Krause, studierter Chemiker und Landesbeauftragter für Glaube und Naturwissenschaft der sächsischen Landeskirche.494 Ansonsten zogen Wissenschaftler, die man für einen Vortrag im kirchlichen Umfeld hatte gewinnen können, ihre Teilnahme oftmals kurzfristig ohne Angaben von Gründen zurück. Eine Einflussnahme der Sicherheitsorgane auf die jeweiligen Referenten darf vermutet werden.495 Als Ersatz dienten westdeutsche Umweltschutzgruppen und Wissenschaftler. Hier war die Intensität der Verknüpfungen zeitlich an die Entwicklungen in der BRD gekoppelt. Es dauerte bis zu Beginn der 1980er Jahre, bis die westdeutschen Gruppen sich die DDR als Tätigkeitsgebiet erschlossen. Aus den bisherigen Schilderungen hoben sich vor allem Politiker der GRÜNEN als Träger eines deutsch-deutschen Austauschs hervor. Die erste offizielle Delegations 490 Gespräch mit Gensichen am 9.2.2010. 491 Neumann, Was war, 87. 492 Jordan, Akteure und Aktionen der Arche, 51. 493 Vgl. Marianne Dörfler, Zurück zur Natur? Mensch und Umwelt aus ökologischer Sicht. Leipzig u. a. 1986. 494 Vgl. Joachim Krause, Fang An. Tips für umweltgerechtes Verhalten im Alltag. Hrsg. v. Kirchliches Forschungsheim Wittenberg. Wittenberg. 1985 und Joachim Krause, …nicht das letzte Wort. Kernenergie in der Diskussion. Hrsg.v. Kirchliches Forschungsheim Wittenberg. Wittenberg. 1987. 495 Vgl. Gespräch mit Hannelore Franck vom ÖAK Dresden am 22.10.2009.

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reise der GRÜNEN in die DDR hatte das Waldsterben und die Luftverschmutzung zum Inhalt. Am 18. Oktober 1983 erhielt Hans Reichelt einen Anruf von Erich Mielke. Die von ihm erwartete Delegation, bestehend aus Wilhelm Knabe, Charlotte Gabler und Christine Muschler, wollte mit dem Fahrrad einreisen. Erich Honecker gab später sein Einverständnis dazu, in der Zwischenzeit hatten Mitarbeiter des MfS die GRÜNEN-Poliker bereits in einen Dienstwagen komplimentiert.496 Sechs Stunden dauerte das Gespräch, an dem neben Reichelt noch Rudolf Rüthnick und Hans-Günther Däßler teilnahmen. Am Ende überreichte Knabe Reichelt das Buch Peter Schütts So stirbt der Wald, das dieser an Däßler weiterreichte. Knabe und Däßler kannten sich zudem aus Tharandter Zeiten, während seines Studiums dort war Knabe im Chemiepraktikum Däßlers.497 Reichelt verfasste einen Bericht über das Treffen und schickte ihn an Honecker, Mittag, Stoph und Hermann Axen. In den Grundfragen des Umweltschutzes gebe es grundlegend unterschiedliche Auffassungen. »Bei Zielkonflikten zwischen Ökonomie und Ökologie habe die natürliche Umwelt für sie Vorrang.« Er selbst habe die Bemühungen der DDR in der Luftreinhaltung ausführlich erläutert, Däßler und Rüthnick hätten die Bewirtschaftungsrichtlinien und forstlichen Forschungsprojekte vorgestellt. »Wiederholte Fragen nach dem Umfang der Waldschäden in der DDR wurden nicht beantwortet.«498 Ganz ähnlich beurteilte Knabe die Situation, die er nach seiner Rückkehr in die BRD den Medien darlegte. An den Schäden im Erzgebirge würde nur »herum­gedoktert«, da der DDR die finanziellen Mittel fehlten, um effektiv an der Ursachenbekämpfung zu arbeiten. Schlimmer sei aber, dass die Verantwortlichen in der DDR die ganze Gefahr und Dramatik des Waldsterbens überhaupt noch nicht erfasst hätten.499 Hier zeigt sich zudem, wie das Erzgebirge für die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte instrumentalisiert wurde. Wentzel, ebenfalls Forstwirt und Tharandt eng verbunden, stellte sich vollkommen in die Tradition Tharandter Rauchschadenforschung. Er sah Schwefeldioxid als Hauptschadstoff und lehnte die von Schütt in dessen Buch zusammengefassten Ursachenhypothesen kategorisch ab.500 Nach dem Treffen in Berlin fuhr die GRÜNEN-Delegation weiter nach Wittenberg, um sich im Forschungsheim mit Gensichen und Pfeiffer über die Situation und Aktivitäten kirchlicher Umweltgruppen zu informieren. Im Gegen-

496 Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010. 497 Gespräch mit Hans-Günther Däßler am 29.9.2010. 498 BStU MfS HA XVIII 17671 Ministerium für Staatssicherheit, Vorlauf und Bericht des Besuchs einer Grünen-Delegation mit Knabe in der DDR 1983, pag. 37–43. 499 Peter Gärtner, Gefahr des Waldsterbens unerkannt. Grüne nach einem Besuch in der DDR: Ökonomie geht vor Ökologie, in: Volksblatt Berlin, 21.10.1983. 500 Gespräch mit Karl Friedrich Wentzel am 17.2.2010.

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satz zu den übrigen im Bundestag vertretenen Parteien suchten die GRÜNEN nicht nur den Kontakt zu staatlichen Stellen in der DDR, sondern stets auch zu kirchlichen Gruppierungen. Von Wittenberg aus fuhr die Delegation weiter nach Dresden und unternahm gemeinsam mit dem ÖAK Dresden einen Wald­ spaziergang, um die Waldschäden zu begutachten.501 Reinhard Weißhuhn und Wilhelm Knabe geben eine Übersicht über die vielfältigen Aktivitäten der GRÜNEN in der DDR.502 Als der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Hans-Jochen Vogel, im Mai 1986 in den Raum Dresden reiste, besuchte er die Sektion Forstwirtschaft, um sich dort mit Forstwissenschaftlern zu unterhalten. Vertreter von Basisgruppen traf er nicht. Die CSUnahe Hanns-Seidel-Stiftung veranstaltete gemeinsam mit der Gesellschaft für Natur und Umwelt Symposien zu aktuellen Vorhaben der Umweltpolitik, an denen ausgesuchte Studenten aus Ost und West teilnahmen. Im Juni 1986 und Oktober 1987 fanden die Veranstaltungen in Tharandt statt, wo es um »Umweltschutz zur Sicherung produktiver Waldbestände ging«.503 Erst nach dem Überfall des MfS auf die Umweltbibliothek im November 1987 suchten auch die etablierten bundesdeutschen Parteien den Kontakt zu systemkritischen Gruppen in der DDR. Weißhuhn bemerkte, dass sich die meisten Kontakte auf Theologen auf beiden Seiten stützten, da die »bürgerliche Kultur« der DDR-Pfarrer den Parteipolitikern anschlussfähiger war als der »kulturelle Habitus des Großteils der Oppositionellen«.504 Ein Beispiel hierfür ist der evangelische Pfarrer Rainer Eppelmann, später Gründungsmitglied und Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs und nach dessen Zusammenschluss mit der CDU Mitglied der CDU. Eine unpersönlichere Art des Informationsaustauschs war der gegen­seitige Beschuss mit Propagandamaterial.505 In der Bundeswehr gab es zwischen 1961 und 1972 einen eigenen »Ballonzug«, der mittels Balloneinflug im Jahr bis zu 20 Tonnen Informationsmaterial in die DDR verfrachtete. Hier war die BRD

501 Wilhelm Knabe, Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluß der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR, in: Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission, 1110–1202, 1139. 502 Knabe, Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluß der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR und Reinhard Weißhuhn, Der Einfluß der bundesdeutschen Parteien auf die Entwicklung widerständigen Verhaltens in der DDR der achtziger Jahre. Parteien in der Bundesrepublik aus der Sicht der Opposition in der DDR, in: Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission, 1853– 1949. 503 BStU MfS HA XX 13945 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Kulturbund und Gesellschaft für Natur und Umwelt. 504 Weißhuhn, Einfluß bundesdeutscher Parteien, 1916–1917. 505 Dies ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn die Informationsmaterialen wurden mithilfe von Katapulten, Raketen oder Ballons in das Nachbarland verbracht.

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dank der herrschenden Windverhältnisse propagandistisch im Vorteil.506 Die Hamburger Umweltschutzorganisation Robin Wood griff diese Methode auf und schickte am 21.  Februar 1983 Luftballons von Westberlin aus auf die Reise. Tags darauf fanden Mitarbeiter des MfS einzelne Ballons in den Kreisen Schwarzenberg und Hainichen. Die Ballons trugen die Aufschrift »Robin Wood stoppt sauren Regen, Robin Wood rettet den Wald«. Die angehängte Karte war »An die Bevölkerung der DDR!« gerichtet und beinhaltete die Aufforderung, sich für den Erhalt der Umwelt einzusetzen.507 Am 28. August 1983 fuhren zwei Greenpeace-Mitarbeiter in einem Heißluftballon über die Mauer. Es war die erste Aktion von Greenpeace in der DDR. Zwei Wochen später demonstrierten Greenpeace-Mitarbeiter kurzfristig vor dem Umweltministerium in Ost-Berlin und zeigten ein Transparent mit der Aufschrift »DDR-Salz vergiftet Werra und Weser«.508 Danach wandte sich Greenpeace an das Forschungsheim Wittenberg, weil es seine inhaltliche Tätigkeit in der DDR ausbauen wollte. Gensichen gab die Adresse von Carlo Jordan weiter. Im Herbst 1987 fanden dann in der Umweltbibliothek in Berlin gemeinsam organisierte Vorträge zur Verschmutzung der Nordsee statt.509 Das Vorgehen hatte dabei konspirative Züge. Wandten sich DDR-Bürger mit der Bitte um Informationen an Greenpeace oder Robin Wood, benutzten sie Deckadressen, die in westlichen Medien angegeben waren. Die Umweltschutzorganisationen ihrerseits verschickten die Antwortbriefe nicht über ihre Zentralen, da die Sendungen sonst vom MfS abgefangen worden wären. Wechselnde Privatadressen dienten als Absender.510 Greenpeace gelang es auch, einen Koffer mit Messinstrumenten für die Wasseranalyse in die DDR zu schmuggeln und dem ÖAK Dresden zu übergeben. Im Rahmen der Aktion »Trinkwasser aus der Elbe« konnten Bürger ihr Trinkwasser auf Schadstoffe überprüfen lassen.511 Es waren solche Einzelaktionen, die dazu beitrugen, das Informationsmonopol des Staates zu brechen. Das MfS registrierte die entsprechende Entwicklung sehr genau: 506 Dirk Schindelbeck, Propaganda mit Gummiballons und Pappraketen. Deutsch-deutscher Flugblatt-krieg nach dem Bau der Mauer, in: Diesener, Propaganda, 213–234, 216–217. 507 BStU BV KMSt. 2928 Ministerium für Staatssicherheit, Umweltbelastung Bezirk KarlMarx-Stadt, pag. 21–28 und BStU BV KMSt. AKG 641 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen an den Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt 1983, pag. 90–91. 508 Uwe Bastian, Greenpeace in der DDR. Erinnerungsberichte Interviews und Dokumente, in: Bastian, Greenpeace in der DDR, 9–40, 9–11 und 18. 509 Ebd., 26–27. 510 BStU BV KMSt. M 12 Ministerium für Staatssicherheit, Informationsbedarf zu verschiedenen Sachverhalten sowie Berichterstattung zu den Sachlagen, pag. 59–61 und BStU BV KMSt. IX 216 Ministerium für Staatssicherheit, Hinweise über Pläne, Absichte und Aktivitäten gegnerischer und feindlich-negativer Kräfte zur Schaffung einer alternativen Ökologie- und Umweltschutzbewegung und deren operativer Bekämpfung. 28.11.1985, pag. 2–4. 511 Jacobi, Jelitto, Grünes Kreuz, 67.

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Bei den Eingaben müssen solche von kirchlichen Kreisen besonders beachtet werden. Es zeigt sich, daß kirchlich gebundene Personen teilweise über umfangreiche Kenntnisse zum Umweltschutz und der Wasserwirtschaft verfügen. Durch Eingaben sollen Erkenntnisse der Kirche bestätigt und staatliche Organe zu Reaktionen auf anstehende Probleme gezwungen werden.512

Ein besonderes ›Lob‹ sprach das MfS dabei dem ÖAK Dresden aus: Infolge der sozialen und beruflichen Zusammensetzung der einzelnen Untergruppen, insbesondere derjenigen, welche sich dem technischen Umweltschutz widmen, verfügt der ÖAK über umfangreiches Faktenwissen über die reale Situation der Umwelt im Verantwortungsbereich.513

Die Kirche war auf allen Ebenen gut vernetzt. Christian Halbrock, Historiker und selbst in der DDR-Umweltbewegung aktiv, hat an Beispielen von Kirchengemeinden gezeigt, wie intensiv der Kontakt und Austausch zwischen ost- und westdeutschen Partnergemeinden war. Neben Baumaterialien und Werkzeugen flossen auch Informationen und Literatur.514 Joachim Krause war im Westen sehr gut angebunden und hatte Zugriff auf die Studie des Umweltbundesamtes Luftverschmutzung durch Schwefeldioxyd – Ursachen, Wirkungen. Im gleichen Jahr – 1983 – verfasste er in den Briefen einen Beitrag über die Waldschäden im Erzgebirge und schickte eine Eingabe an das MUW, in der er ein Sechs-PunkteProgramm zur Rauchgasentschwefelung erläuterte.515 Pfeiffer stand in engem Austausch mit den Umweltbeauftragen der westdeutschen Landeskirchen und konnte auch teilweise an deren Synoden teilnehmen. Das Forschungsheim war daher sehr gut über den aktuellen Stand der westdeutschen Umweltdiskussion informiert und hatte Zugriff auf entsprechende Fachpublikationen. Ab Mitte der 1980er Jahre weiteten sich die Ost-West-Kontakte bezüglich des umweltrelevanten Informationsverkehrs aus. Das MfS registrierte 1986 besorgt: Es liegen gesicherte Erkenntnisse vor, daß zunehmend Personen in die Aktivitäten feindlich-negativer Zusammenschlüsse einbezogen werden, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit über naturwissenschaftliche Fachkenntnisse zu Teilgebieten des Umweltschutzes bzw. Informationen zu angeblichen Umweltbelastungen ver 512 BStU BV DDn. XVIII 14663 Ministerium für Staatssicherheit, Umweltbelastung in Dresden/Pirna und Einschätzung von Umweltgruppen, pag. 8. 513 BStU BV DDn. AOP 451/90 Bd.1 Ministerium für Staatssicherheit, Operativer Vorgang »Kreuz« Ökologischer Arbeitskreis Dresden, pag. 88. 514 Christian Halbrock, Basisarbeit mit der kirchlichen Jugend und Ausbesserungen am Kirchendach. Die Ost-West-Treffen der evangelischen Kirche in der DDR, in: Deutschland Archiv, 2011, aufgerufen am 18.1.2012. 515 BStU MfS HA XX/AKG 5466 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Jo­ achim Krause, OV »Grüner«, pag. 19 und 26.

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fügen. Die Organisatoren erhoffen sich davon, ihre Angriffe auf die staatliche Umweltschutzpolitik mit sogenannten Fachkenntnissen unterlegen zu können. Zunehmend nutzen einreisende BRD-Personen sowie DDR-Bürger, die sich zeitweilig in der BRD aufhielten, die Reise- und Besuchsmöglichkeiten zur ungesetzlichen Einfuhr von Druckerzeugnissen mit gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR gerichteten Aussagen. Auch persönliche Kontakte von DDR-Bürgern mit Personen aus der BRD, vorwiegend übersiedelte Bekannte und Verwandte aus der BRD, in den Urlaubs-, Kur- und Touristenzentren der ČSSR und der VR Ungarn werden verstärkt zur Übergabe und ungesetzlichen Einfuhr von Druckerzeugnissen aus dem kapitalistischen Ausland benutzt.516

Der Informationsfluss zeigte zunächst ein starkes West-Ost-Gefälle. Sachinformationen und Fachwissen wurden über verschiedenste Kanäle von der BRD in die DDR transferiert. Roland Jahn beauftragte damit nur verhältnismäßig sichere Personen wie akkreditierte Journalisten, Diplomaten oder Bundes­ tagsabgeordnete. Gemeinsam mit Jürgen Fuchs erstellte er die Textsammlung­ dialog.517 Jahn steht auch für eine neue Entwicklung, nämlich die Umkehr des Informationsflusses. Der Jenenser Friedens- und Menschenrechtsaktivist war 1983 gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert worden. In der BRD weigerte er sich zunächst, den bundesdeutschen Pass anzunehmen. Er blieb in engem Kontakt zur oppositionellen Szene, telefonierte fast täglich mit deren Vertretern und versuchte, in den westlichen Medien die Aufmerksamkeit auf die Gruppen zu lenken. In den Augen des MfS betrieb Jahn seine Arbeit sehr erfolgreich: Besonders intensiv werden Rückverbindungen ehemaliger DDR-Bürger genutzt, was sich u. a. in einem deutlichen Ansteigen von Zusammenkünften dieser Personen mit feindlich-negativen Kräften der DDR in anderen sozialistischen Ländern, vor allem in der ČSSR, zeigt.[…] Dabei wird ein enges Zusammenwirken mit in der BRD und Berlin-West lebenden ehemaligen DDR-Bürgern, wie der früheren »Jenaer Friedensgemeinschaft« sichtbar.518

Jahn organisierte den Transport von Druckmaschinen, Papier, Druckerschwärze, Literatur und Wachsmatrizen in die DDR. Als freier Journalist produzierte er für das ARD-Magazin Kontraste Beiträge über die DDR und gestaltete bei der taz eine regelmäßig erscheinende DDR-Seite. Entscheidend waren diese Ost-West-Kontakte im Falle der Mahnwache vor der Zionskirche im No 516 BStU BV KMSt. AKG 3243 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen an die SED-Kreisleitung Flöha 1986, pag. 34–39. 517 Kowalczuk, Pressefreiheit, 145. 518 BStU BV KMSt. Leiter 61 Ministerium für Staatssicherheit, Zusammenarbeit, Hinweise über feindliche Inspiratoren in der BRD und Berlin (West), deren Aktivitäten zur Spaltung der Friedensbewegung in westeuropäischen Ländern und zur Organisierung der politischen Untergrundtätigkeit in der DDR vom 25.7.1984.

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vember 1987, die den medialen ›Durchbruch‹ der ostdeutschen Umweltbewegung in der BRD markierten.519 Nach 1988 verstärkte Ulrich Neumann das Netzwerk. Der »Arche«-Aktivist war 1988 ausgebürgert worden und schmuggelte über Kontaktmänner Videorekorder und Videokassetten für die »Arche« in die DDR. Über seine Kontake kam dann das Endprodukt, der »Arche«-Waldsterbensfilm 1989, in das ZDF.520 Er ist darüber hinaus ein Beispiel für die in den 1980er Jahren dramatisch nachlassende Integrations- und Bindekraft des SED-Regimes. Ihn und Rolf Caspar, Sekretär des Kulturbundes für Natur und Umwelt, trennen etwa fünf Jahre voneinander. Caspar beschrieb seine Studienzeit von 1969 bis 1973 als spannende und aufregende Zeit. Trotz der Abschirmungsversuche der Partei habe man über die Studentenproteste in den westeuropäischen Ländern diskutiert. Voller Enthusiasmus sei er 1970 in die SED eingetreten. Er habe die Wirtschaftsexperimente des NÖSPL miterlebt und an die Beweglichkeit und den Reformwillen des Sozialismus geglaubt. Seine naturtheoretische Promotion über den Zusammenhang von natürlicher Umwelt und Lebensweise entsprang dem umweltpolitischen Aufbruch der späten Ulbrichtzeit.521 Neumann hingegen absolvierte sein Psychologiestudium in der bereits von der dritten Hochschul­ reform zementierten Universität. Während und nach der Promotion arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Kybernetik der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Es war das Institut, das für die »Erstellung des Prognose- und Entscheidungsmodell Umweltschutz« verantwortlich war.522 Vielleicht hat Neumann hier die Wirkungslosigkeit staatlicher Umweltschutzanstrengungen erfahren, die sich nicht gegen die fest gefügten Überzeugungen der SED-Parteiführung durchsetzen konnten. Zumindest bat er im September 1986 um die Streichung seines Kandidatenstatus bei der SED. Im April 1987 folgte der Antrag auf Übersiedlung in die BRD. Caspar hingegen rang noch 1989 um eine Reform der Gesellschaft für Natur und Umwelt, während Neumann an der Beseitigung der bestehenden Strukturen arbeitete.

519 Zu den medialen Aktivitäten Jahns vgl. Kowalczuk, Endspiel, 252–253. 520 BStU MfS AOPK 15813/89 Ministerium für Staatssicherheit, OPK »Ökologe«, pag. 14–19. 521 Gespräch mit Rolf Caspar am 8.3.2010. 522 Frithjof Paul, Die Belastung der Wälder durch Umwelteinflüsse – eine Herausforderung an die Wissenschaft, in: Sozialistische Forstwirtschaft 38, 1988, 353–355, 354.

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4.3.4 Gegenbewegungen Hans Reichelt hat nach dem Ende der DDR die Jahre zwischen 1968 und 1975 als relativ günstige Phase für den Umweltschutz in der DDR beschrieben.523 Zu einer ähnlichen Periodisierung kam Edda Müller in der Bundesrepublik. Nach 1974 habe die Umweltpolitik dann einen »defensiven« Charakter getragen, in der sie nicht mehr agieren, sondern auf Angriffe wie »Investitionsstau« oder »Job-Killer-Umweltschutz« reagieren musste.524 Dahinter standen die Auswirkungen der ersten Ölkrise. Für die DDR greift diese Erklärung zu diesem Zeitpunkt noch nicht, profitierte sie in den frühen 1970er Jahren noch von günstigen Erdöllieferungen aus der UdSSR und konnte in diesen Jahren den Abstand im Bruttoinlandsprodukt zur BRD verringern. Reichelt sah für die DDR den politischen Kurswechsel von Ulbricht auf Honecker als Ursache der neuen umweltpolitischen Restriktionen an. Doch die im Westen in den späten 1970er Jahren wirksamen, antagonistischen Vorstellungen von Umweltschutz auf der einen und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Wohlstand auf der anderen hatten auch in der DDR ihre Gültigkeit. Honeckers Vorstellungen von einer Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik zielten auf eine schnelle, spürbare Verbesserung der materiellen Versorgung ab. So blieb der Fünfjahresplan 1971–1975 der einzige, in dem Mittel in Höhe von sieben Mrd. Mark für die Verbesserungen von Umweltbedingungen integriert waren.525 Raestrup und Weymar sahen darin eine Art stillschweigendes Übereinkommen zwischen Parteiführung und Bevölkerung. Gegen die Befriedigung von Konsumbedürfnissen gab es politische Abstinenz. Ökologische Experimente seien vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten gewesen, da bei den Verantwortlichen in Staat und SED ein wirkliches Problembewusstsein gefehlt habe.526 Doch auch in den höheren Ebenen von SED und Staat entwickelte sich ein Bewusstsein dafür, dass das »Verhältnis der Natur zur Gesellschaft […] widersprüchlich und nicht frei von Konflikten« ist. Ein »Fehlverhalten« in Form der »rücksichtslosen Dezimierung der natürlichen Lebensquellen« wurzele »eindeutig in ökonomischen Ursachen«.527 Der DDR-Philosoph Walter Hollitscher sah die Gefahr, dass der Mensch zunehmend die Kontrolle im Stoffaustausch

523 Reichelt, Umweltpolitik nur Alibi für »ökologische Katastrophe«?, 143. 524 Müller, Innenwelt, 101. 525 Andrea Marquardt, Kerstin Nowak, Anette Spangenberger, Kurze Einführung in die Geschichte der DDR und die Entwicklung des Naturschutzes, in: Rösler, Schwab, Lambrecht, Naturschutz, 11–33, 27. 526 Raestrup, Weymar, Schuld, 834 und 843. 527 Bauer, Paucke, Einheit und Kampf zwischen Natur und Gesellschaft, 597.

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mit der Natur verlöre. Die »Umgestaltung der Natur zum zivilisa­tionsträchtigen Ziel« bringe »in zunehmendem Maße die Verunstaltung der Umwelt« hervor.528 Daher ist die erste Frage, der in diesem Abschnitt nachgegangen wird, diejenige nach den Maßnahmen, die die SED als geeignet ansah, den Ressourcenverbrauch einzudämmen – ohne die Ziele der Einheit von Wirtschaft- und Sozialpolitik zu gefährden. Darauf aufbauend stehen dann die Entfaltungsmöglichkeiten im Mittelpunkt, die die SED dem gewachsenen Umweltbewusstsein innerhalb der staatlichen Strukturen geben wollte. In seinem Kern war der Sozialismus auf ein stetiges Wirtschaftswachstum angewiesen. Für die »allseitige Entwicklung der Persönlichkeit, […] die universelle Entfaltung und Bewährung aller Fähigkeiten und Schöpferkraft der Menschen« war Wirtschaftswachstum unverzichtbar.529 Noch 1989 betonte Reichelt: »Diesen Weg eines ressourcensparenden Wirtschaftswachstums setzten wir auch in Zukunft unbegrenzt fort.« Allerdings sollte bei der intensiveren Nutzung der natürlichen Ressourcen die »Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme« erhalten bleiben.530 Ein Bericht des MfS erkannte, dass der Verbrauch von Rohstoffen in der DDR sehr hoch und die Grenze in der Versorgung mit regenerierbaren natürlichen Rohstoffen erreicht sei.531 Hier setzte das sozialistische Verständnis von Umweltschutz an, dessen Grundlage die Einheit von Ökonomie und Ökologie war. Die Natur als Lebens- und Produktionsgrundlage war begrenzt und darum zu schützen.532 Umweltschutz musste die Effektivität der Volkswirtschaft und die Leistungssteigerung der Produktion gewährleisten.533 Der Schutz der Natur und die »Bewahrung der natürlichen Existenzbedingungen der Menschen« waren eine Einheit, die Umweltpolitk ein Mittel zur »Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen«.534 Wie wollte der Sozialismus dieses Ziel erreichen? In den 1970er Jahren kam das Schlagwort von der »Ökologisierung der Produktion« auf.535 Diese gelinge dem Sozialismus dank der umfassenden Planung des Wirtschaftsgeschehens wesentlich besser. Der »Gesamtplan« erfasse auch die »wesentlichen Fernund Nebenwirkungen«.536 Je langfristiger der Planungshorizont werde, desto 528 Hollitscher, Umweltprobleme, Technik und Gesellschaftsordnung, 16. 529 Kosing, Mensch-Gesellschaft-Umwelt, 799. 530 Schindler, Aspekte, 1. 531 BStU MfS HA IX 292 und BV KMSt. XX 271 Ministerium für Staatssicherheit, Die Haltung der Kirchen in der DDR zu Fragen des Umweltschutzes. 10.1.1982, pag. 226–244. 532 Ellenor Oehler, Zur Entwicklung des Umweltrechts, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Umweltschutz Bd. 1, 99–128, 109. 533 BArch DK 5/1903 Zentrum für Umweltgestaltung, Schwerpunkte der gegenwärtigen Umweltbelastung und Tendenzen. (Thema Prognose 2005). 1. Entwurf, pag. 3. 534 Nick, Mensch und Umwelt, 703 und Bittighöfer, Edeling, Kulow, Fragen, 66. 535 Kosing, Mensch-Gesellschaft-Umwelt, 800. 536 Alfred Kosing, Natur und Gesellschaft, in: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus 39, 1984, 1018–1023, 1020.

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einfacher gelänge es, »Umweltschäden von vornherein zu verhindern, statt sie nachträglich zu beseitigen«.537 Auf diese Weise werde der Umweltschutz zur »Langzeitökonomie«.538 In seiner Wertung nach der Wende sah Kloepfer die »Möglichkeit, den Produktionsprozeß nach festgelegten Zielen zu steuern […] im Hinblick auf konkrete Umweltverbesserungsziele praktisch nicht genutzt«.539 Ein beredtes Beispiel für die Zielkonflikte gibt das von Palmowski ausgeführte Beispiel einer LPG im thüringischen Hollenbach, die zu einer Strafe von 1000 Mark verurteilt wurde, weil der Dung das Grundwasser verschmutze. Dagegen legte die LPG Beschwerde beim Staatsrat ein. Sie hätte die Planvorgabe, 600 Schweine zu halten. Das Düngesilo reiche aber nur für fünf Tage. Für eine umweltgerechte Entsorgung auf den Feldern benötige man aber 90 Tage Lagerkapazität. Die notwendigen Baumaßnahmen seien jedoch vom Rat des Kreises Mühlhausen nicht genehmigt worden. Gezwungen, zwischen Umweltbelangen und Plan zu entscheiden, habe man sich für das Planziel entschieden. Der Staatsrat gab dieser Argumentation der LPG nach.540 Dennoch war allen Beteiligten klar, dass sich an der Situation etwas ändern musste. Auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 hatte Willi Stoph gefordert: »Mit Wasser muß sparsam umgegangen werden.«541 Die trockenen Jahre 1972 bis 1976 unterstrichen diese Aufforderung. Der schon knappe Wasserhaushalt der DDR wurde noch weiter strapaziert, mit deutlichem Absinken des Grundwasserspiegels. Die Industriebetriebe durften z. B. 1972 kein Wasser aus der Trinkwasserversorgung entnehmen.542 Bis zum Ende gelang es der DDR jedoch nicht, auf der Ebene der Betriebe die »Gleichgültigkeit« in Bezug auf Umweltbelange zu überwinden.543 Hier behielt die Ökonomie stets Vorrang vor der Ökologie, und Umweltschutz in den Betrieben war oft nur ein Nebenprodukt einer betrieblich sinnvollen, effizienteren Rohstoffverwertung. Das MfS registrierte im 537 Horst Paucke, Heinz Kroske, Zur Kosten-Nutzen-Problematik von Maßnahmen in Umweltschutz und Umweltgestaltung, in: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Gesellschaft und Umwelt. Hans Mottek zum 65. Geburtstag. Berlin (Ost) 1976, 61–67, 66. 538 Rolf Caspar, Politisch-ideologische und humanistische Grundpositionen sozialistischer Umweltpolitik. Ein Kolloquium des Zentralvorstandes und des Bezirksvorstandes Berlin der Gesellschaft für Natur und Umwelt, in: Natur und Umwelt, 1985, 7–8, 8. 539 Kloepfer, Umweltrecht, 142. 540 Jan Palmowski, Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR 1945–1990. Cambridge/Mass. 2009, 212. 541 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Berlin, 15. bis 19. Juni 1971. Bericht zur Direktive des VIII. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1971 bis 1975. Berichterstatter: Genosse Willi Stoph, 42. 542 Füllenbach, Umweltschutz, 19–20. 543 BStU BV Suhl Abt. XVIII 2396 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur Lage der Forstwirtschaft im Bezirk Suhl, Diskussionsbeitrag Hans Reichelts für die Beratung des Vorsitzenden des Ministerrates mit den Vorsitzenden der Räte der Bezirke am 3.7.1989.

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mer wieder auf betrieblicher Ebene Vorfälle, wo Umweltschutzmittel zur Produktionsausweitung und -stabilisierung zweckentfremdet wurden.544 Wenn die Produzenten als Träger von Umweltschutzmaßnahmen ausfielen, blieb die Seite der Verbraucher übrig. Würden diese weniger Wasser und Strom verbrauchen sowie weniger Abfall produzieren bzw. diesen wieder der Produktion zur Verfügung stellen, dann wäre die Umweltbelastung auf ein Mindestmaß zu drücken. Über den Preis war das Verbraucherverhalten jedoch nicht zu steuern. Wie weiter oben beschrieben lehnte die SED das Verursacherprinzip ab, die Konsumentenpreise waren politische Preise und kein Indikator für deren Knappheit. Dies traf besonders die Preise für Wasser und elektrische Energie. Nur etwa 20 Prozent der Haushalte mussten für ihr Trinkwasser überhaupt Zahlungen leisten.545 Daneben gab es 240 verschiedene Tarife, die den Preisen der kommunalen Wasserversorger aus Vorkriegszeiten entsprach. Hier lag der durchschnittliche Preis bei 0,45 Mark pro Kubikmeter.546 In den 1980er Jahren beliefen sich die Subventionen alleine für das Trinkwasser auf 3,1 Mrd. Mark pro Jahr. Der Preis hätte vervierfacht werden müssen, um die tatsächlichen Aufwendungen abzudecken.547 Aufseiten der Verbraucher führte das billige bis kostenlose Wasser zu einem exzessiven Gebrauch. Teilweise wurde in heißen Sommernächten die Wohnung gekühlt, indem kaltes Wasser aus der Dusche lief.548 Der mitteleuropäische Staat mit dem knappsten Wasserdargebot leistete sich einen der höchsten Pro-Kopf-Verbräuche der Welt. Ähnlich gestaltete sich die Situation im Falle des Strompreises. Der niedrige Strompreis von acht Pfennig für eine Kilowattstunde kostete den Staatshaushalt weitere 5,4 Mrd. Mark Subventionen.549 Hinter Kanada und den USA belegte die DDR den dritten Platz im Primärenergieverbrauch pro Kopf.550 Schuld waren nicht nur die energieintensive Produktionsweise oder das sorglose Nutzerverhalten, sondern auch bauliche Mängel. In vielen Neubauwohnungen besaßen die Fernwärmeheizungen keine Ventile. Die Temperaturregulierung funktionierte über das Fenster.551 544 BStU MfS HA XVIII 19328 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Umweltverschmutzung bei den Betrieben und Kontakte mit der BRD, pag. 29. 545 Dieter Graf, Zum Widerspruch zwischen Wirtschafts-und Umweltpolitik in der DDR, in: Bechmann, Umweltpolitik, 64–72, 70. 546 Höhmann, Seidenstecher, Vajna, Umweltschutz, 128. 547 Gernot Schneider, Lebensstandard und Versorgungslage, in: Kuhrt, Situation, ­111–130, 128–129. 548 Gespräch mit Schicketanz am 9.10.2009. Vgl. auch Karl-Heinz Arnold, Zeitung. Ein Journalist berichtet. Berlin 2000, 261. 549 Wolfgang Stinglwanger, Die Energiepolitik der DDR und ihre wirtschaftlichen und ökologischen Folgen, in: Kuhrt, Endzeit, 189–223, 207. 550 Buck, Umweltpolitik, 232. 551 Stinglwanger, Die Energiepolitik der DDR und ihre wirtschaftlichen und ökolo­ gischen Folgen, 206.

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Günstiges Wasser, Strom und Heizung galten der SED als soziale Errungenschaften, sie waren Bestandteil der Grundversorgung. Eine preisliche Anpassung war daher ausgeschlossen. Lediglich das Nutzerverhalten konnte beeinflusst werden. Ansätze, über Aufklärungsmaßnahmen eine Bewusstseinsänderung zu erreichen, gab es bereits am Ende der Ulbrichtzeit. Auf dem V. Philosophiekongress der DDR 1979 war das Resümee, dass diese Bemühungen bisher wenig erfolgreich geblieben waren: Das Wissen über die komplexe Nutzung der Naturkreisläufe, der Stoffe und Kräfte der Natur ist ebenfalls noch sehr begrenzt, bzw. gewonnene Erkenntnisse werden noch nicht in befriedigendem Ausmaß und Tempo in die gesellschaftliche Praxis umgesetzt. Die sozialistische Gesellschaft muß sich auf diese veränderte Situation langfristig einstellen. Insbesondere in der Wirtschaft, der Wissenschaft, in der Planung und Leitung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses sowie im Massen­ bewußtsein müssen sich entsprechende Schlußfolgerungen durchsetzen.552

Reichelt forderte einige Zeit später, dass die »Beziehung zwischen Gesellschaft, Mensch und Natur […] Teil der kommunistischen Erziehung« sein müsse.553 Die Gründung der »Gesellschaft für Natur und Umwelt« Die Gründung der »Gesellschaft für Natur und Umwelt« (GNU) Ende März 1980 war der Versuch der SED zur Quadratur des Kreises. Zum einen versuchte die Partei politisch auf die zunehmenden Umweltprobleme im eigenen Land und die Erfolge der Grünen im Westen zu reagieren. Die GNU sollte bereits bestehendes Umweltbewusstsein kanalisieren. Zum anderen sollte die GNU ein Umweltbewusstsein erst schaffen, denn die Bevölkerung der DDR zerfiel in zwei ungleiche Teile. Eine große Masse, die sich bis dahin wenig für Umweltzusammenhänge interessierte, und eine kleine Gruppe, die umweltpolitisch aktiv sein wollte und dabei zunehmend an die Grenzen stieß, die die SED deviantem Verhalten setzte. Die GNU war ein von der SED an diese kleinere Hälfte gerichtetes Gesprächsangebot. Es war die Strategie des Regimes, die ›radikalen‹ Elemente der Umweltbewegung zu isolieren, den Rest zu unterwandern und in zähe, kleinteilige Grundsatzdiskussionen zu verwickeln sowie moderate Aktivisten in die Gesellschaft für Natur und Umwelt zu drängen.554 In der breiten Masse hingegen sollte die GNU die Umweltbildung forcieren. In der Gründungserklärung hieß es dazu: 552 Stoof, Fragen des Verhältnisses von sozialistischer Gesellschaft und Natur. Zum V. Philosophie-Kongress der DDR, 590. 553 BArch DK 5/5644 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Reden und Vorträge des Ministers, pag. 43. 554 Dale, Protest, 103.

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Ein drittes Grundanliegen unserer Gesellschaft ist die wissenschaftlich fundierte Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu allen Fragen des Schutzes, der Pflege und der Gestaltung von Natur und Umwelt. Dabei geht es uns besonders um die Herausbildung eines Umweltbewußtseins in breiten Bevölkerungskreisen. Wir sehen darin eine Voraussetzung für den fürsorglichen Umgang mit den Schätzen der Natur und mit den von der Gesellschaft geschaffenen Werten in der Landschaft.555

Das Bestreben, den Belangen des Umweltschutzes mehr Gewicht zu verschaffen, war nur ein Gründungsmotiv von vielen. Von der Basis des Kultur­bundes war die Forderung gekommen, die institutionelle Basis der Umwelt- und Naturschützer zu stärken. Die Vorgängerorganisation der »Natur-und Heimatfreunde« war dazu nicht mehr in der Lage. Die Beschlussvorlage des Sekretariats des ZK der SED zur Gründung der GNU verrät, dass nicht nur die Bewusstseinsbildung ein Anliegen war: Die Verstärkung der massenpolitischen Arbeit und die Erhöhung der gesellschaft­ lichen Wirksamkeit des Kulturbundes auf dem Gebiet von Natur und Umwelt sowie die zunehmende Bereitschaft vieler Bürger, aktiv und schöpferisch mitzuarbeiten und Sachkenntnisse erwerben zu wollen, erfordern neue Inhalte, Formen und Leitungsmethoden dieser Tätigkeit im Kulturbund.556

Vorsitzender der GNU wurde der Tharandter Professor für Waldbau Harald Thomasius. In seiner Rede während der Gründungsversammlung stellte er die GNU in den Dienst des Klassenkampfes. Die Umweltproblematik sei nicht klassenindifferent, und die Lösung hänge von der Gesellschaftsordnung ab. Diese Worte veranschaulichen, welchen Spielraum es in der GNU für die offene Debatte über die Ursache und Vermeidung von Umweltproblemen geben konnte. Das MfS drückte in seiner verklausulierten Sprache die Aufgabe der GNU sehr deutlich aus: Gefährliches Potential sollte in staatlichen Strukturen sediert werden.557 Diesen Auftrag konnte die GNU zunächst auch erfüllen. Bei ihrer Gründung hatte sie zwischen 36.000 und 40.000 Mitglieder. Diese Zahl stieg bis 1983 auf 50.000 an, und die GNU war der am schnellsten wachsende Zweig des Kulturbundes der DDR.558 Ein Zentralvorstand aus 45 Mitgliedern leitete die GNU, wobei die operative Arbeit von einem 16-köpfigen Arbeitsausschuss ge-

555 BStU MfS HA XX 11396 Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR, Anliegen und Aufgaben der Gesellschaft für Natur und Umwelt. 1980, pag. 6. 556 BArch DK 1/28737 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Zusammenarbeit des MLFN mit der GNU (und Vorläufer) 1975–1990, Beschlussvorlage vom 8.1.1980. 557 BStU MfS HA XX 1175 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR, pag. 39. 558 Palmowski, Inventing, 209.

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leistet wurde. Der Zentralvorstand war eine bunte Mischung von irgendwie an Naturschutz beteiligten Personen: der Direktor des Berliner Tierparks Heinrich Dathe, Regierungsvertreter, Vertreter der Wissenschaft, der Philosophie, der Forstwirtschaft, der Energieerzeugung, ein Bürgermeister, eine Studentin, eine Schülerin, ein Schuldirektor, Wirtschaftsvertreter, Vertreter der Bezirksräte.559 Inhaltlich blieb die GNU den klassischen Fragen der Naturbeobachtung und des Naturschutzes verhaftet. Die Fachausschüsse, die die horizontale Gliederung der GNU darstellten, verdeutlichen dies. Es gab Ausschüsse für Naturschutz, Dendrologie, Botanik, Mykologie, Geowissenschaften, Entomologie, Ornithologie oder Feldherpetologie.560 Trotz dieser engen inhaltlichen Vorgaben bot die neue GNU doch vielen Bürgern ein legales Betätigungsfeld. Kirchlich nicht gebundene Bürger und solche, denen eine Mitarbeit in den Basisgruppen zu riskant erschien, fanden hier die Möglichkeit, ihr gewachsenes Interesse an Natur und Umwelt auszuleben. Aufgabe der GNU war es nicht, die kirchlichen Umweltgruppen zu zerschlagen, sondern sie zu marginalisieren. Das Abdriften größerer Bevölkerungskreise in die Gruppen und ihre dortige Politisierung sollte sie vermeiden. Dafür musste die GNU ihrerseits vermeiden, selbst politisiert zu werden. Nach Neubert scheiterte die GNU am Ende neben ihrem naturschützerischen Konzept an der vollständigen SED- und MfS-Kontrolle.561 Seit ihrer Gründung war das MfS bestrebt, die GNU mit Informellen Mitarbeitern zu durchsetzen und politisch auf der gewünschten Linie zu halten. Allein im Bezirk Magdeburg arbeiteten 50 IM und Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit (GMS) an der »politisch-operativen Durchdringung« der GNU. Eine hauptamtliche Mitarbeiterin im Bezirkssekretariat des Kulturbundes beobachtete das MfS in einer Operativen Personenkontrolle, da diese in einer kirchlichen Gruppe aktiv war und es den Verdacht hegte, sie gebe geheime Informationen weiter.562 Die Hauptbefürchtung des MfS war, die kirchlichen Umweltgruppen könnten die GNU gezielt unterwandern und so eine legale Basis für ihr Wirken schaffen.563 Vor allem die Vorstände mussten politisch einwandfrei sein, was sich in den Anfangsjahren als Problem erwies.564

559 Knabe, Umweltkonflikte, 212–213. 560 Ebd., 208–216. 561 Neubert, Geschichte der Opposition, 453. 562 BStU MfS HA XX 13945 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Kulturbund, pag. 47–48. Vgl. auch BStU BV Dresden KD Zittau 7281 Ministerium für Staatssicherheit, Über eine Gruppe kirchlich Umweltbewegter im Kreis Zittau, Seifhennersdorf. 563 Vgl. BStU MfS HA XX/4 3682 Ministerium für Staatssicherheit, Übersicht zu vorliegenden Erkenntnissen über Pläne und Aktivitäten zur Organisierung einer »alternativen Umweltschutzbewegung« in der DDR sowie damit in Erscheinung tretende Personen. 1.4.1984 und BStU BV KMSt. Leiter 61 Ministerium für Staatssicherheit, Zusammenarbeit. 564 BStU MfS HA XX 12525 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur Gesellschaft für Natur und Umwelt, pag. 100.

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Es durfte vielleicht jeder in der GNU mitmachen, mitbestimmen durften aber nur die wenigsten. Insgesamt konnte das MfS feststellen, dass es »politischnegativen bzw. feindlichen Kräften bisher nicht gelang, die GNU als legale Basis für politische Angriffe gegen die Umweltschutzpolitik der Partei zu mißbrauchen«.565 Selbst konfessionell gebundene Mitarbeiter hätten keinen negativen Einfluss ausüben können.566 Das MfS überprüfte die Vorstandsmitglieder routinemäßig auf ihre Familiensituation und ihre Auslandsverbindungen, sowohl in das sozialistische als auch das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet.567 1983 zog das MfS eine erste Bilanz. Die GNU entwickle sich erfolgreich, alle Leitungspositionen seien besetzt, und die Mitglieder würden die »Inhalte sozialistischer Umweltpolitik« besser verstehen. Der Bericht führte allerdings auch das große Problem an, mit dem die sozialistische Umweltpolitik zu kämpfen hatte: die Diskrepanz zwischen Ideologie und Realität: An erster Stelle sind hier die Widersprüche zwischen tatsächlich erlebten, subjektiv vermittelten, interpretierten etc. komplizierten Umweltsituationen einerseits und den individuellen Einschätzungen über Ausmaße, Lösungsmöglichkeiten und -richtungen sowie wirksamer Beiträge ehrenamtlich Tätiger zu solchen Lösungen andererseits zu nennen. In diesem Zusammenhang sind besonders die Rauch- und Insektenschäden in den Mittelgebirgsforsten, die Wasser- und Gewässerverschmutzungen sowie einige schädliche Auswirkungen von Intensivierungsmaßnahmen der Landwirtschaft […] hervorzuheben. In Bevölkerungskreisen tauchen zum einen von echter Sorge getragene Fragen auf wie: – welche wissenschaftlichen und technologischen Lösungen bieten sich für welche Zeiträume an? – in welchem Grade sind Schäden überhaupt zu überwinden? – In welchem Maße treten volksgesundheitliche Belastungen für Gegenwart und Zukunft auf? aber auch: – opfert unser Staat zugunsten kurzfristiger politischer und ökonomischer Anforderungen nicht wichtige Werte unserer natürlichen Lebensbedingungen? Zum anderen bilden solche ungelösten Widersprüche Einflußmöglichkeiten für gegnerische Propaganda des Umweltpessimismus und der globalen ökologischen Krise sowie sogenannter alternativer Konzepte.568 565 BStU MfS HA XX 13945 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Kulturbund, pag. 48. 566 BStU BV KMSt. XX 3640 Ministerium für Staatssicherheit, Schriftverkehr mit anderen Diensteinheiten der BV und des MfS, pag. 214–217. 567 BStU BV DDn. XX 10170 Ministerium für Staatssicherheit, Vorstand der GNU im Bezirk Dresden, Überprüfung der Mitglieder. 568 BStU MfS HA XX 12525 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur Gesellschaft für Natur und Umwelt, pag. 86.

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Die Zusammenarbeit mit den kirchlichen Umweltgruppen war nicht verboten, sie sollte sich aber keinesfalls ›öffentlichkeitswirksam‹ gestalten. Im Juli 1987 gründeten etwa Mitglieder der Gruppe Verkehr aus dem ÖAK Dresden die »Interessengemeinschaft Radverkehr« innerhalb der GNU.569 Für den 6. März 1983 – den Tag der Bundestagswahl – war eine gemeinsame Veranstaltung der GNU und der AG Umweltschutz in Leipzig geplant. Als die Veranstaltung jedoch im ARD-Magazin Kontraste angekündigt wurde, musste die GNU Fotos vom Waldsterben im Erzgebirge von den Infotafeln entfernen und die AG Umweltschutz aus der Veranstaltung ›herausdrängen‹.570 Auf der Dresdner »­ Woche der Verantwortung für Gottes Schöpfung« im Juni 1988 hielt das Mitglied des Bezirksvorstandes Dresden der GNU, Helmar Hegewald, den Vortrag »Sozialis­ tische Umweltpolitik – marxistisch-leninistische Ethik«. Das MfS notierte dazu: »Seine politisch souveräne, faktenreiche und kritisch-konstruktive Argumentation sicherte den politischen Erfolg der Veranstaltung.«571 Das MfS erstellte 1985 eine Handlungsanweisung, wie der Kontakt zwischen GNU und kirchlichen Gruppen zu überwachen sei. Innerhalb der GNU sollte eine beständige »Wer ist Wer?«-Aufklärung geleistet werden. Die Abteilung XX des MfS arbeitete mit den Bezirksvorständen der GNU bei der »Bekämpfung feindlich-negativer Erscheinungen« zusammen. Das heißt, die Bezirksvorstände wussten von der massiven Durchsetzung der GNU durch IM. Das Papier betonte, der Kontakt zwischen Umweltgruppen und Fachkräften aus Wissenschaft, Landwirtschaft und Industrie sei unbedingt zu verhindern. Undichte Stellen müssten gefunden und es müsse verhindert werden, dass die Gruppen in irgendeiner Form an Daten zum Umweltzustand kämen. Dazu konnten auch verstärkt Postkontrollen durchgeführt werden.572 Seit 1984 gab die GNU die Zeitschrift Natur und Umwelt heraus. Deren Beiträge befassten sich mit Berichten von Vorstandstagungen oder konzeptionellen Überlegungen zum sozialistischen Umweltschutz. Kritische Töne oder Beschreibungen der desolaten Umweltsituation fanden sich hier nicht. Die Zeitschrift litt unter den Vorgaben des Geheimhaltungsbeschlusses zu Umweltdaten, der jede kritische Auseinandersetzung sehr erschwerte. Unter der Überschrift »Vier Jahre GNU in Bitterfeld« liest man von erfolgreich angelegten Wanderwegen oder spürt die Empörung über falsch zurückgeschnittene Weggehölze.573 569 Jacobi, Jelitto, Grünes Kreuz, 41. 570 Kowasch, Opposition in Leipzig, 217. 571 BStU BV DDn. AOP 451/90 Beiakte Ministerium für Staatssicherheit, Beiakte zum OV »Kreuz« – Überwachung des ÖAK Dresden, pag. 231–236. 572 BStU BV KMSt. IX 216 Ministerium für Staatssicherheit, Hinweise über Pläne, Absichte und Aktivitäten gegnerischer und feindlich-negativer Kräfte zur Schaffung einer alter­nativen Ökologie- und Umweltschutzbewegung und deren operativer Bekämpfung, pag. 8–11. 573 Siegfried Rabenhorst, Vier Jahre GNU in Bitterfeld, in: Natur und Umwelt, 1988, 30–31.

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In einem Beitrag aus dem Jahr 1984 über die Gefährdung der Wälder stand, dass die aufgetretenen Wind- und Schneebruchschäden bald behoben seien.574 1986 schrieb Horst Kurth, Professor für Forsteinrichtung in Tharandt und Bezirksvorstand der GNU Dresden, einen Beitrag über den Wald im 21. Jahrhundert. Er sprach zumindest das Problemfeld der Immissionsschäden an: Immissionsschäden schmälern die stoffliche und damit auch die landeskulturelle Leistungsfähigkeit des Waldes. Die positive Umweltwirkung des Waldes wird dadurch erheblich eingeschränkt. Immissionen schädigen also nicht nur das Ökosystem Wald selbst, sondern schränken auch seine positive Umweltwirkung ein.575

Kurth forderte eine weitere »Sensibilisierung und Emotionalisierung« der Bevölkerung, um den Waldschäden entgegenzutreten. Zahlen nannte er allerdings keine. Detailliertere Informationen gab es in der DDR nur in abseitigen Publikationen mit einer geringen Auflage576 oder in Folge von Unachtsamkeiten bei Vorträgen. Ein Mitarbeiter des StFB Schwarzenberg berichtete auf einer Veranstaltung der GNU 1983, dass von 15.270 ha im Betrieb 12.339 Rauchschäden aufwiesen. Seit 1975 hätte sich diese Zahl verzehnfacht. Das MfS notierte verschreckt diese Information.577 Hans-Peter Gensichen bezeichnete die GNU als »staatszahm«. Eine intensive Debatte über die Umweltzerstörung sei in deren Rahmen nicht möglich gewesen.578 Michael Beleites  – Verfasser einer Samisdat-Monographie über den Uran-Bergbau in der DDR – beurteilte den Versuch der SED als gescheitert, das ökologische Protestpotential in der Gesellschaft für Natur und Umwelt zu kanalisieren.579 Ab 1985 sei die Trennung des systemkonformen Naturschutzes und des systemkritischen Umweltschutzes immer stärker zum Tragen gekommen. Dies bemerkte die Parteibürokratie ebenso wie die GNU selbst. Die Abteilung Landwirtschaft des ZK war unzufrieden über die Entwicklung der GNU, genauer: Sie war unzufrieden über die Entwicklung der alternativen Umweltgruppen. Sie machte Werner Felfe den Vorschlag, für eine Novellierung der 5. DVO des Landeskulturgesetzes einzutreten, um den »zwischenzeitlich vollzogene[n] gesellschaftliche[n] Fortschritt« abzubilden. Zudem forderte sie für die GNU eine hauptamtliche Leitung, um die »entsprechende politische Wirksamkeit« zu 574 Günter Hoffmann, Der Gefährdung unserer Wälder wirksam begegnen, in: Natur und Umwelt, 1984, 31–32, 31. 575 Kurth, Der Wald im 21. Jahrhundert, 21. 576 Gespräch mit Rolf Caspar am 8.3.2010. Vgl. dazu etwa Adolf Bauer, Horst Paucke, Naturaneignung als Prozeß sozialistischer Gesellschaftsentwicklung, in: Edgar Gärtner (Hrsg.), Ökologie – Naturaneignung und Naturtheorie. Köln 1984, 92–106, 99. 577 BStU BV KMSt. KD An. 208 Bd.2 Ministerium für Staatssicherheit, Natur- und Umweltschutz im Kreis Annaberg, pag. 172. 578 Gensichen, Umweltverantwortung, 289. 579 Beleites, Unabhängige Umweltbewegung, 186.

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erzielen.580 Der Parteiapparat glaubte, mit einer Ausweitung und Professionalisierung der staatlichen Umweltorganisation der weiteren Ausbreitung kirchlicher Umweltgruppen entgegentreten zu können. Eine inhaltliche Öffnung hin zu den Themen der Gruppen wurde jedoch nicht angedacht. Die GNU sollte sich weiterhin ausschließlich mit Aktionen wie »Gepflegte Landschaft – gepflegte Umwelt« befassen, wo es um die Pflege und Sauberhaltung von Erholungslandschaften, Grünanlagen oder Parks, die Reinhaltung von Gewässern, die Betreuung von Naturschutzobjekten oder Denkmälern, die Markierung und den Ausbau von Wanderwegen und die Aufstellung und Wartung von Ruhebänken und Schutzhütten ging.581 Das gleiche Engagement duldete man auch im kirchlichen Bereich. Eine »Konzeption für Gespräche mit Vertretern von Kirchen zur Umweltpolitik der DDR« von 1989 lobte das kirchliche Eintreten für die Pflege und Anlage von Waldbeständen. Weniger positiv fiel das Urteil bei den Ökologiegruppen aus, »denen es weniger um die Mitarbeit beim Natur- und Umweltschutz geht, als vielmehr um eine prinzipielle Infragestellung der Umweltpolitik des sozialistischen Staates«.582 Die Verantwortlichen in der GNU registrierten allerdings, dass die kirchlichen Ökologiegruppen und ihre Anliegen vom Staat ernster genommen würden: Wenn durch die GNU vorher das gleiche gesagt oder angeregt werde, würden sich die staatlichen Partner nicht darum kümmern. Das Ergebnis dieser unterschiedlichen Herangehensweise sei, daß die kirchlichen Ökogruppen das Vertrauen der Bevölkerung genießen.583

Rolf Caspar, der Sekretär des Kulturbundes für Natur und Umwelt und damit für die GNU zuständig, besuchte im Dezember 1987 die Berliner Umweltbibliothek und war beeindruckt vom Besucherzuspruch und der Informationsvielfalt. Im Januar 1988 thematisierte er seinen Besuch auf einer Tagung der Bezirks­ vorstände der GNU in Bad Saarow. Wie schaffe es die Kirche, solche Massen anzuziehen, warum sei die UB so voll und seien die eigenen Landeskulturkabinette so leer?584 Auf einer Tagung des Kulturbundes im Mai 1988 beklagte sich Caspar über die passive Haltung der GNU in der Umweltfrage. Damit würde 580 SAPMO DY 30/1441 ZK der SED Abteilung Landwirtschaft, Vorschläge für Genossen Werner Felfe zur Stabilisierung der politischen Leitung und Organisation auf dem Gebiet der Landeskultur und des Naturschutzes. 22.12.1986, pag. 1–3. 581 HStA Dresden 12485/469 Bezirksleitung Dresden Kulturbund der DDR, Verschiedene Plakate/Einladungen Kreise. 582 BStU BV Suhl Abt. XVIII 2396 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur Lage der Forstwirtschaft im Bezirk Suhl, pag. 110–124, hier pag. 122. 583 BStU MfS HA XX 1175 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR, pag. 119. 584 Gespräch mit Rolf Caspar am 8.3.2010.

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man die Leute in die Kirche treiben. Er forderte mehr Offenheit im Umgang mit Umweltfragen: GESCHWÄRZT sagte, wir könnten als Gesellschaft doch aber nichts bewirken. KBUmweltfreunde des waldreichen Bezirkes Suhl hätten ihm gesagt, das Umwelt­gesetz stehe auf dem Papier, die Staatsorgane machten mit Rückendeckung der jeweiligen Parteiorgane doch was sie wollten, sie vom Kulturbund dürften den Wald fegen und hätten die Freiheit zu entscheiden, ob sie nach links oder nach rechts fegen wollten.585

Als Reaktion darauf beschloss der Zentralvorstand im März 1988 die »Grundsätze und Orientierung für die weitere Gestaltung der Öffentlichkeitsarbeit der Gesellschaft für Natur und Umwelt«, ein Papier, welches das MfS als »konterrevolutionär« bezeichnete.586 Die gegenwärtige Ausrichtung der GNU sei nicht geeignet »die wachsende Reflexion von Umweltfragen in der Bevölkerung« zu verarbeiten. In für DDR-Verhältnisse klaren Worten griffen die »Grundsätze« die Umweltpolitik der SED an und forderten ein Umdenken, ein »Herangehen der Art: erst ökonomisches Wachstum – dann Umweltschutz kann und darf es darum nicht geben, zumal zahlreiche ökologische Prozesse irreversiblen Charakter tragen«. Für sich selbst forderte die GNU eine große öffentlichkeitswirksame Zeitschrift, die keinen inhaltlichen Restriktionen unterlegen war: Die demokratische Gestaltung sozialistischer Umweltpolitik braucht ein Klima des öffentlichen Erfahrungs- und Meinungsaustausches, das nicht nur Sache der Medien sein kann. Meinungsbildung, Handlungsmotivation, geistige und praktische Schöpferkraft hängen vom Stellenwert des jeweiligen Gegenstandes in der Gesamtheit der geistigen Kultur einer Gesellschaft ab.587

In dieser Form wurde die Konzeption nicht veröffentlicht. Dies geschah erst im August 1989 nach mehreren Überarbeitungen – zu spät, um noch eine Wirkung zu entfalten.588 Im November 1989 gab Caspar in der Kulturbundzeitung Sonntag eine »hausgemachte« Umweltkrise zu. »Der Zustand unserer Umwelt ist allgemein ruchbar, sichtbar, spürbar geworden, und der Widerspruch zu den bislang geübten volltönigen Verlautbarungen auch unsensibleren Naturen unerträglich.«589 585 BStU MfS HA XX 1175 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR, pag. 125. 586 Gespräch mit Rolf Caspar am 8.3.2010. 587 Privatarchiv Rolf Caspar Zentralvorstand der Gesellschaft für Natur und Umwelt, Grundsätze und Orientierung für die weitere Gestaltung der Öffentlichkeitsarbeit der Gesellschaft für Natur und Umwelt. Beschluß des Zentralvorstandes vom 16./17.3.1988, pag. 7. 588 BStU MfS HA XX 1175 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zur Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR, pag. 126–137. 589 Rolf Caspar, Für ein neues Umweltkonzept. Notizen nach einer außerordentlichen Sitzung des Sekretariats des Präsidiums des Kulturbundes, in: Sonntag 45, 1989, 7.

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Bereits ein Jahr zuvor hatte die GNU versucht, auf die Entwicklungen zu reagie­ ren, indem sie den Fachausschuss »Interessengemeinschaft Stadtökologie« gründete. Dies war ein Gesprächsangebot an das junge, ökologische und städtische Klientel. Hier ging es nicht um Fassadenbegrünung oder die Gestaltung eines Dorfplatzes, sondern um systemische Fragen des Verkehrs, der Müllbeseitigung oder ökologischer Stadtgestaltung. Die GNU erkaufte sich die Integration dieser Gruppen mit einer gewissen Politisierung und Konflikten. Die Mehrheit der GNU war Mitglied, weil die GNU so ausgerichtet war wie sie war, und sprach den jungen Mitgliedern ein echtes Interesse an der Natur ab. Die Mitglieder der IG Stadtökologie ihrerseits orientierten sich an den Bürgerinitiativen der Bundesrepublik, was unweigerlich eine Überwachung und Zersetzung durch das MfS nach sich zog. Die IG Stadtökologie in Erfurt bietet dafür ein unrühmliches Beispiel.590 Abseits von Ortsgruppen, auf höherer Ebene, gestaltete sich der Umgang mit brisanten Informationen stets etwas freizügiger. Der Schriftsteller Reimar Gilsenbach war im Arbeitsausschuss des Zentralvorstandes für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Seit den 1950er Jahren interessierte er sich für das MenschNatur-Verhältnis. Er kannte die Arbeiten Lingners an der Landschaftsdiagnose und benutzte sie bei seinen Bemühungen um die Einrichtung eines grenzüberschreitenden Nationalparks im Elbsandsteingebirge.591 Er trat immer wieder mit entsprechenden Publikationen an die Öffentlichkeit. Ein Beitrag aus dem Jahr 1958 über den Zustand der Pleiße verdeutlicht, wie plastisch er in dieser Zeit den realen Umweltzustand beschreiben durfte: Vor zwei Jahren stand ich zum ersten Mal im Leipziger Auwald am Ufer der Pleiße. Mir waren verunreinigte Flüsse bekannt, aber was ich hier sah, übertraf alles bisher Gesehene um ein Mehrfaches: es war eine rotbraune, mit schmutzigen Schaum­ fladen bedeckte, übelriechende Flüssigkeit. Die Pleiße ist zu einem Ärgernis, zu einer Schande geworden.592

Derart drastische Worte waren in den 1980er Jahren ungestraft nur abgegrenzt von der Öffentlichkeit möglich. Einen solchen Zirkel bildeten die »Brodowiner Gespräche«. Gilsenbach wollte hier Schriftsteller und Künstler an die Umweltproblematik heranführen. Auf Geheiß von Kurt Hager verweigerte der Schriftstellerverband der DDR die Schirmherrschaft. Rolf Caspar bot daraufhin die GNU als Schirmherrin an. 1985 standen die »Brodowiner Gespräche« unter dem Thema Waldschäden und fanden in Grillenburg nahe Tharandt statt. Die­ 590 Hermann Behrens, Umweltbewegung, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Umweltschutz Bd. 3, 131–148, 140–141. 591 Behrens, Umfeld, 68. 592 Reimar Gilsenbach, Über das Wasser aus den Werken in Böhlen und Espenhain, in: Natur und Heimat 7, 1958, 317–318, 317.

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Tharandter Professoren Thomasius und Kurth berichteten über Ursache, Verlauf und Ausmaß der Schäden sowie die ergriffenen forstlichen Gegenmaßnahmen. Für ihre Arbeiten verwerten konnten die Literaten die Informationen nicht. Sie diskutierten stattdessen über Sprachverwilderung anhand des Begriffs »klassische« Rauchschäden.593 In der gesamten Literatur der DDR findet sich nur ein Beitrag, der sich explizit die Waldschäden zum Inhalt nimmt. In Wintereinbruch oder Die wundersame Geschichte von einem Zauberholz geht es um einen Geigenbauer, der die Gabe hat, die Seele der Bäume zu spüren. Auf diese Weise findet er die besten Geigenhölzer. Traurig über den Niedergang der Wälder baut er einem bekannten Geigenvirtuosen eine letzte Geige, die diesen bei einem Auftritt um Jahre altern lässt. Ich wußte, wie sehr es ihm zu schaffen machte, daß nun auch junge Bäume, siebenund achtjährige schon, unheilbar erkrankt waren. Ihre Zahl wuchs von Monat zu Monat, das sah er mit eigenen Augen. Er brauchte keinen Computer, um sich auszurechnen, wann die Wälder nur noch eine schöne Erinnerung sein würden. Auf Spaziergängen hatte er mir die rostroten Nadeln gezeigt, trockene Triebe in der Hand zerrieben und geseufzt: Was soll nur aus uns werden? Das Schicksal der Menschen war für ihn an das Schicksal der Bäume gekettet. […] Wenn die Bäume sterben, so sagte er, sterben auch die Menschen.594

Die SED ihrerseits glaubte nicht an dieses Sterben. Sie setzte unbeirrt auf die hohe Symbolkraft des Baumes, der für Zukunftsverantwortung und -hoffnung steht. Anlässlich des 40. Jahrestags der DDR stieß das Politbüro eine Aktion im Rahmen der »Bürgerinitiative«[sic!] »Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit!« an. »Ein Lebensbaum für mein Land« sollte die »Gewißheit unterstreichen, daß dem Sozialismus die Zukunft gehört«.595

4.4 Ökonomischer und Ökologischer Bankrott des Regimes Im Wendejahr 1989 sahen die DDR-Philosophen Helmar Hegewald und Günter Bohring die »sich zuspitzenden Umweltprobleme« als »neue Formen des politischen und ideologischen Protestes«, als Zeichen des »Kampfes gegen die Herrschaft«. »Bürgerinitiativen, Ökologie und Umweltbewegung« seien »Ausdruck des Auseinanderfallens und Gegensatzes von Volk und Macht«. In ihnen 593 Gespräch mit Rolf Caspar am 8.3.2010 und Gespräch mit Harald Thomasius am 13.10.2009. 594 Armin Müller, Wintereinbruch oder Die wundersame Geschichte von einem Zauberholz, in: Klaus Hammer (Hrsg.), Der Holzwurm und der König. Halle, Leipzig 1985, 17. 595 BArch DK 1/28737 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Zusammenarbeit des MLFN mit der GNU (und Vorläufer) 1975–1990, Schreiben vom 3.11.1988.

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äußere sich sowohl die Ohnmacht demokratischer Kräfte wie ihre Sehnsucht nach demokratischen Alternativen, die letztlich keineswegs auf Umweltfragen beschränkt bleiben könnten, sondern alle anderen wesentlichen Fragen der Gesellschaftspolitik beträfen.596 Die beiden Autoren verstanden sich durchaus als Apologeten des Sozialismus und bezogen ihre vielsagende Analyse nicht etwa auf die DDR, sondern beschrieben ihre Sicht auf die Bundesrepublik. Dabei war es ihr eigener Staat, den die Umweltgruppen zunehmend grundsätzlich in Frage stellten. In der DDR-Historiographie nehmen das revolutionäre Ende und die demokratische Wende einen gewissen Schwerpunkt ein. Alle Darstellungen und Analysen sehen sich vor die Frage gestellt, wo sie zeitlich mit ihren Ausführungen beginnen sollen. In der Rückschau bieten sich für die Beschreibung des »Untergangs auf Raten«597 – so ein Buchtitel – zahlreiche Anknüpfungspunkte an. Der von Honecker eingeschlagene Pfad der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, der nachhaltiges Wirtschaftswachstum über soziale Stimuli erzeugen wollte, in der Realität aber in wirkungslosen Endlostransfers verpuffte, eignet sich ebenso als Startpunkt wie die Drosselung der sowjetischen Erdöllieferungen zu Vorzugspreisen 1981, welche die Energiewirtschaft der DDR zu massiven Anpassungsleistungen zwang. Zur gleichen Zeit versuchte die UdSSR mit politischem Druck, die DDR zu disziplinieren, um ein zweites Polen im Ostblock zu verhindern. Dort war die Solidarność nach der Zulassung als freie Gewerkschaft im Herbst 1980 schnell zu einer bedeutenden politischen Kraft herangewachsen. Nur mit der Ver­ hängung des Kriegsrechtes konnte die kommunistische Partei in Polen ein Eingreifen der übrigen Staaten des Warschauer Paktes verhindern und ihre eigene Macht erhalten.598 Als ein Auslöser der Unruhen in Polen galten die Preis­ erhöhungen für Fleisch zum 1. Juli 1980. Honecker sah sich damit in seiner Politik der Preissubventionen bestätigt. Ende der 1980er Jahre entfernte sich die SED von der Schutzmacht Sowjetunion, deren Reformen sie nicht mittragen wollte. Deutlich wurde dies an den Ereignissen rund um das Verbot des Sputnik im November 1988. Der Sputnik war ein Reader, der ausgewählte Texte aus sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften in deutscher Übersetzung zusammenfasste. Die verbotene Ausgabe enthielt Beiträge zum Hitler-Stalinpakt und kritische Artikel zum Stalinismus als Strukturmerkmal. Die SED wollte eine Aufarbeitung ihrer eigenen stalinistischen Strukturen verhindern und strich den Sputnik kurzerhand von der 596 Helmar Hegewald, Günter Bohring, Umweltbewußtes Handeln und sozialistische Demokratie, in: Natur und Umwelt, 1989, 4–17, 15. 597 Armin Mitter, Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte. München 1993. 598 Schroeder, SED-Staat, 250–251.

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Postzeitungsliste. Dies kam einem Verbot gleich.599 Die SED begab sich damit in einen ideologischen Zwei-Fronten-Krieg. Im Inneren war die Bevölkerung irritiert, warum man von der Sowjetunion nun nicht mehr das Siegen lernen sollte,600 und in der Außenpolitik setzte man sich von der UdSSR ab, die allein die Existenz des ostdeutschen Staates garantieren konnte. Der DDR-Historiker Hermann Weber wiederum sieht als Auftakt der Wende die Kommunalwahlen im Mai 1989.601 Die selbstbewusster gewordenen oppositionellen Gruppen wollten die systematischen Wahlfälschungen dokumentieren und beobachteten die Stimmabgaben und Auszählungen. In einigen Wahlbezirken Ost-Berlins gelang diese Überwachung lückenlos.602 Obwohl das amtliche Endergebnis mit 98,85 Prozent erstmals unter der 99 Prozent-Marke lag, erhoben sich dagegen Widerspruch und Protest. Die Oppositionsgruppen hatten allein für Ost-Berlin eine Ablehnung von über 20 Prozent errechnet. Einzelne Aktivisten erstatteten daraufhin Anzeige wegen Wahlfälschung. Das Regime reagierte mit der Festnahme von 120 Bürgerrechtlern im Juni 1989. Die SED, die eigentlich vor solch drastischen Maßnahmen zurückschreckte, um ihre internationale Reputation nicht zu gefährden, konnte hier im Schatten der Ereignisse in China agieren.603 Da in der vorliegenden Arbeit immissionsbedingte Waldschäden im Mittelpunkt stehen, eingeschlossen die Personen, Gruppen und Institutionen, die sich mit ihnen auseinandersetzten, wird hier ein anderes Datum als ›Anfang vom Ende‹ gewählt. Die Stürmung der Umweltbibliothek durch Einheiten des MfS im November 1987 bedeutete einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Umweltgruppen, ohne dabei dieses Datum mit dem Wissen der Geschichte teleologisch aufzuladen. Die anschließenden Mahnwachen, die Berichterstattung in den Westmedien und die schließlich erfolgreiche Frei­ pressung der noch inhaftierten UB-Mitglieder führte den Gruppen den Einfluss vor Augen, den sie auf das Regime ausüben konnten. Für einen kurzen Moment stellte das Umweltthema die Anschlussfähigkeit zwischen kirchlicher Nische und breiter Gesellschaft her. Dann setzte die SED einen Mechanismus in Gang, den weder sie noch die Gruppen gewollt hatten oder kontrollieren konnten. Auf die zunehmende Besetzung des öffentlichen Raumes, das Brechen des 599 Vgl. zum Sputnik-Verbot Holzweißig, Schärfste Waffe, 147–153; Choi, Dissidenz, 173; Dale, Protest, 123–124; Rüddenklau, Störenfried, 126 und Weber, DDR 1945–1990, 105. 600 Vgl. etwa einen Bericht der KD Brand-Erbisdorf des MfS auf die Reaktionen der Bevölkerung zum Sputnik-Verbot. BStU BV KMSt. AKG 3164 Ministerium für Staatssicherheit, Berichterstattung der KD Brand-Erbisdorf zur Reaktion der Bevölkerung auf aktuell-politische Ereignisse 1988, pag. 22. 601 Weber, DDR 1945–1990, 107. 602 Hubertus Knabe, Politische Opposition in der DDR. Ursprünge, Programmatik, Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1990, 21–32, 25. 603 Weber, Geschichte der DDR, 347.

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Informationsmonopols und Schaffung eines Gegenexpertentums reagierte die sklerotische SED-Führung mit Abschiebung. Zunehmend drängten Ausreisewillige in die Gruppen hinein, die nicht an konstruktiver inhaltlicher Arbeit interessiert waren, sondern an spektakulären öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Auch dies ist ein Beispiel für die schwindende Disziplinierungsfähigkeit des SED-Regimes. Es bot nichts mehr, womit es die Menschen zum Bleiben be­wegen konnte. Das sozialistische Versprechen von Wohlstand und gesunder Umwelt wurde von der Realität konterkariert, und die Furcht vor dem Repressionsapparat nahm kontinuierlich ab.

4.4.1 Smog-Alarme Neben den Waldschäden waren es die Smog-Ereignisse, die einen Keil zwischen Bevölkerung und Partei trieben und die Menschen an der Fürsorglichkeit des Staates zweifeln ließen. Am 20. Januar 1982 gab es in West-Berlin Smog-Alarm. Die Tatsache, dass die Ost-Berliner Behörden nicht auf die lufthygienische Situation reagierten oder die Bevölkerung über die gesundheitlichen Gefahren informierten, führte unter den Ost-Berlinern noch kaum zu Reaktionen. Ein Bewohner des Erzgebirgsdorfes Waldidylle schrieb dagegen an die Junge Welt. Er wunderte sich darüber, dass in West-Berlin Smog-Alarm ausgelöst wurde, im Osten aber nichts geschehen sei. Dann kam er auf die Waldschäden zu sprechen: Kommt mal zu uns ins Osterzgebirge. Gift-gas aus der ČSSR – alle Bäume sterben ab. Macht mal in Zinnwald ein paar Fotos – wie nach einem Atombombenschlag: verbrannte Baumstümpfe, ohne Nadeln. Die Vernichtung von Leben setzt sich immer weiter fort. Regen mit pH-Wert 3–4. Wieso wird da nichts gemacht? […] Ist es etwa zu teuer? Kann so etwas zu teuer sein? Was kosten die Folgen? 604

Die Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat sah in dem West-Berliner Smog-Alarm allein »propagandistische Zwecke«, die »Unruhe bei der um Westberlin wohnenden DDR-Bevölkerung und Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Schutzmaßnahmen unserer Staatsorgane« erzeugen sollten. Der Bericht bemängelte darüber hinaus die niedrigen Grenzwerte, ab denen in West-Berlin Smog-Alarm ausgerufen wurde.605 Hans Reichelt bemühte sich in den kommenden Jahren darum, auf dem Weg gesetzlicher Regelungen die Bevölkerung vor den gesundheitlichen Auswirkungen von Smog-Situationen zu schützen. Dazu musste er Günter Mittag von 604 BArch DK 5/69 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung. 605 BArch DK 5/1982 Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat, Probleme des Geheimnisschutzes, pag. 3–5.

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der Notwendigkeit einer solchen Regelung überzeugen. Reichelt berief sich dabei auf die internationale Entwicklung, eine Argumentationsstrategie, die er bei den Verhandlungen zur Genfer Konvention erfolgreich angewandt hatte: Damit im Zusammenhang bedarf die Regelung der erforderlichen zentralen Maßnahmen bei erheblicher Überschreitung lufthygienischer Grenzwerte, die – wie die Erfahrungen zeigen – bis zu einer Katastrophenlage führen können, einer Entscheidung. Das halte ich auch im Hinblick auf die internationale Entwicklung für erforderlich, da ein großer Teil der Staaten über derartige Regelungen bereits verfügt oder sie zur Anwendung bringt.606

Reichelt konnte sich mit seinem Anliegen erneut nicht gegen den SED-Wirtschaftssekretär durchsetzen. Das MfS registrierte in dieser Frage eine erhebliche Meinungsverschiedenheit zwischen beiden. Ende 1986, Anfang 1987 stand eine Novellierung der 5.  Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz »Reinhaltung der Luft« an. Reichelt wollte im Zuge der Neufassung die Bevölkerung mit vielen Informationen und Erläuterungen versorgen. Mittag lehnte dies ab, er ging davon aus, dass mehr Information die Diskussion zur Umwelt­ problematik verstärken werde: Dr. Reichelt akzeptiert zwar diesen Standpunkt und hält sich strikt an die abgesprochene Verhaltenslinie, vertritt jedoch generell eine andere Meinung. Die Reaktion der Bevölkerung, die massiv verstärkten Angriffe des Gegners in den Massenmedien und die zunehmende Defensivposition der DDR in diesem Bereich gegenüber den kapitalistischen und zum Teil  auch gegenüber sozialistischen Staaten haben seiner Meinung nach ein solches Maß erreicht, daß zwingend gerade solche Maßnahmen, wie – ausgewogene Information der Bevölkerung zu allgemein interessierenden Fragen der Umweltschutzpolitik der DDR – Darstellung positiver Ergebnisse von Maßnahmen des Umweltschutzes und berechtigter Mängel und Mißstände usw. erforderlich sind. Es ist verstärkt eine zunehmende Eingabentätigkeit und eine Orientierung großer Teile der DDR-Bevölkerung an westlichen Massenmedien bezüglich der Verbreitung von aktuellen Informationen zum Bereich Umwelt festzustellen.607

Der letzte Punkt spielte auf die Situation im Februar 1987 an, als in West-Berlin erneut Smog-Alarm der Warnstufe I ausgerufen wurde. Dies geschah, wenn 606 BArch DK 5/765 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Fragen der Umweltpolitik der DDR, Brief vom 27.11.1984. 607 BStU MfS HA XVIII 6154 Ministerium für Staatssicherheit, Über Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, pag. 3.

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an mehreren Messpunkten eine Schwefeldioxidkonzentration von 600 µg pro Kubikmeter Luft gemessen wurde. In der DDR gab es eine interne Übereinkunft zwischen dem Umweltministerium und dem Ministerium für Gesundheitswesen, die Bevölkerung erst ab einem Grenzwert von 1000 Mikrogramm zu informieren.608 In Berlin-Mitte stieg die Belastung am 3. Februar 1987 auf 866 Mikrogramm an, ohne dass die Behörden Warnhinweise oder Fahrverbote aussprachen. Im Gegensatz zu 1982 fielen dann die Reaktionen in Ost-Berlin wesentlich heftiger und zahlreicher aus. Der Smog-Alarm in West-Berlin bildete 1987 einen Eingabeschwerpunkt an das MUW. In der DDR wurde für das Akronym Smog die Auflösung »Sozialistischer Morgennebel ohne Gesundheitsgefährdung« populär. Hier tritt deutlich hervor, wie das West-Berliner Beispiel die Aufmerksamkeit und Sensibilität der DDR-Bevölkerung schärfte. Im Februar 1987 lagen die Schwefeldioxidkonzentrationen in Halle, Leipzig und Gera weit über den Berliner Werten, in Erfurt wurden am 4. Februar sogar 1980 Mikrogramm gemessen. Von dort kamen allerdings kaum Eingaben zur Luftbelastung. Kurz nach der Auflösung der Inversionswetterlage, die die meteorologische Basis für die hohen SO₂-Werte geliefert hatte, beschloss der Ministerrat die Neufassung der 5.  DVO. Unter § 16 wurden Betriebe mit kontrollpflichtigen Anlagen dazu verpflichtet, Einsatzpläne für Maßnahmen zur Begrenzung, Minderung oder Verhinderung von Schadstoffemissionen bei meteo­ rologisch bedingten außergewöhnlichen Immissionssituationen zu erarbeiten. Die Anlage definierte dabei außergewöhnliche Immissionssituationen als »erhöhte Immissionskonzentration, die durch besonders ungünstige meteorologische Bedingungen oder durch Havarien und Störungen verursacht werden und zu einer erheblichen Gefahr für die Gesundheit der Bürger oder zu schwerwiegenden volkswirtschaftlichen Schäden führen oder führen können«. Mittag und Reichelt hatten dabei vollkommen unterschiedliche Vorstellungen davon, was »volkswirtschaftliche Schäden« waren. Um die 5.  DVO in den Betrieben operativ abzusichern, hatte der Ministerrat beschlossen, die Verordnung über die Umweltbeauftragten neu zu regeln. Darin sollten die Stellung, Aufgaben, Rechte und Pflichten der Umweltbeauftragten ausgebaut werden. Mittag weigerte sich, die Verordnung dem Sekretariat des ZK der SED zum Beschluss vorzulegen. Honecker erklärte sich mit dem Vorgehen seines Sekretärs einverstanden. Nach Mittags Vorstellungen sollte die Verantwortung für die Erfüllung der Umweltauflagen beim Leiter der Betriebe verbleiben. Damit sei nämlich dafür gesorgt, dass die Produktion nicht durch Umweltbelange ge­ 608 SAPMO DY 30/2837 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Staatliche Umweltinspektion, Information über die Meßergebnisse der Luftverunreinigung und Einschätzung der weiteren Entwicklung im Raum Berlin vom 19.1.1987. Information für­ Mittag, Günter

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fährdet werde.609 Reichelt reagierte resigniert auf sein Scheitern und notierte auf einem Durchschlag: »Offiziell mitgeteilt, daß nichts vereinbart wird. Es ist alles fertigzustellen für das Schubfach.«610 Am 20. Oktober 1989, zwei Tage nachdem Mittag von seinen Funktionen entbunden worden war, lud das MfS Reichelt zu einem Gespräch über die »weitere offensive Strategie auf dem Gebiet des Umweltschutzes« ein. Reichelt wollte die Umweltbelastungen für die Bürger veröffentlichen, die Smog-Verordnung an diejenige West-Berlins anpassen, die Zusammenarbeit mit Öko- und Kirchengruppen suchen und die Planvorhaben öffentlicher und transparenter gestalten.611 Ob dies einem opportunistischen Verhalten entsprang oder in seinen eigenen Überzeugungen wurzelte, die er nach der Demission Mittags endlich ausleben konnte, kann auf Basis der Quellen nicht abschließend beantwortet werden. Die oben angeführte MfS-Quelle erlaubt aber den Schluss, dass Reichelt an einer weniger klandestinen Informationspolitik gelegen war. Sicher ist, dass die von ihm angeführten Maßnahmen nur in den Augen einer erstarrten Führung ›offensiven‹ Charakter trugen.

4.4.2 »Eine Mark für Espenhain« Dieses letzte Kapitel begibt sich nicht auf die Spurensuche in den letzten beiden Jahren des SED-Regimes. Die Jahre 1988 und 1989 sind in der Literatur bereits ausführlich dargestellt und ihre Ereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt worden. Hier soll dagegen ein Projekt der Umweltgruppen in den F ­ okus gerückt werden, das wie kein anderes die Hoffnungen und Ent­täuschungen, die ambitionierten Ziele und deren langsames Verschwinden sowie die Apathie und Dynamik der DDR-Umweltpolitik und -Umweltbewegung auf sich vereint. Die Geschichte des Schwelwerkes Espenhain trägt die großen Erzählungen der DDR-Geschichte auf kleinstem Raum zusammen. Espenhain ist eine Ortschaft in der Leipziger Tieflandsbucht, etwa 20 Kilometer südlich von Leipzig gelegen und von Braunkohletagebauen umgeben. Der dort ansässige VEB Braunkohleveredelung Espenhain – so der Name ab 1980 – wurde verkürzt als »Espenhain« wiedergegeben. Zwischen 1936 und 1942 hatte die Aktiengesellschaft Sächsische Werke auf 180 Hektar einen damals hochmodernen Kombinatsverbund für 368 Mio. Reichsmark gebaut. Zwei Kraftwerke, zwei Brikettfabriken, zwei Schwelereien und weitere karbochemische 609 SAPMO DY 30/2837 Günter Mittag, Information zu einem Beschluss des Minister­ rates zu einer Verordnung über die Umweltbeauftragten. 25.1.1988, pag. 215. 610 Paucke, Chancen, 43–44. 611 BStU MfS ZAIG 19791 Ministerium für Staatssicherheit, Information zu einem Gespräch mit Dr. Reichelt zur weiteren offensiven Strategie auf dem Gebiet des Umweltschutzes. 20.10.1989, pag. 2.

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Anlagen bildeten einen effizienten Verbundbetrieb und eine wichtige Stütze des nationalsozialistischen Autarkieprogramms. 1940 und 1943 gingen die beiden Kraftwerke in Betrieb, bevor Luftangriffe 1944 und 1945 die Anlage zu 70 Prozent zerstörten.612 Espenhain kann als Prototyp für die von der SED angeführte Übernahme des kapitalistischen Kapitalstocks dienen. Ende 1945 ging das Kraftwerk II wieder ans Netz und 1948 erreichte Espenhain den Produktionsstand von 1943. Zu diesem Zeitpunkt erzeugte die Anlage acht Prozent des Stroms in der SBZ.613 Dank der Karbidchemie konnten in Espenhain aus der Braunkohle Teer, Leichtöl, Synthesegas und Koks hergestellt werden.614 Erich Zieger lobte das in Espenhain angewandte Verfahren, da bei der Schwelung der Braunkohle­ Schwefelwasserstoff anfiel, aus dem elementarer Schwefel gewonnen werden konnte, so dass die Braunkohle anschließend bei der Verbrennung weniger SO₂ freigab. Dies sei ein Beitrag der Industrie zum Forstschutz.615 In den 1950er Jahren konnten die von Espenhain ausgehenden Umweltbedrohungen noch relativ frei angesprochen werden, wobei die Beiträge der sozialistischen Dramaturgie folgen mussten. Der traurige Zustand der Pleiße sei ein Erbe des Faschismus, den die Planwirtschaft bald überwunden habe. Im Falle Espenhains sollten große Wasserleitungen, aus dem Harz kommend, lokale Entlastung schaffen.616 Neben der Wasserbelastung galt die ab 1938 entstandene 68 Meter hohe Abraumhalde als ein Produkt der »kapitalistischen Kriegswirtschaft«. Der Berg überdecke Kulturland und führe bei Regen zu Schlammlawinen und bei Trockenheit zu Staubwänden.617 Im Vertrauen auf eine bessere Zukunft sollte aus Espenhain so viel wie möglich ›rausgeholt‹ werden. Der ursprünglich konzipierte Kohlendurchsatz von 300 Tonnen wurde auf 500 Tonnen erhöht. 1963 erreichte die Erdölpipeline »Freundschaft« das DDR-Territorium in Schwedt. Im Zuge des NÖSPL sollte die Nutzung von Braunkohle als Energieträger schrittweise zurückgefahren und die Karbidchemie durch Petrochemie ersetzt werden. Espenhain wurde nicht mehr gebraucht. 1965 beschloss die Regierung, das Werk 1975 still­zulegen und ab sofort auf Verschleiß zu fahren. Damit steht Espenhain für den Optimismus der Anfangsjahre, für den Glauben, die übernommenen Produktionsverhältnisse hinter sich zu lassen und durch genuin sozialistische zu ersetzen. Acht 612 Anonymus, Das Kraftwerk Espenhain im Wandel der Zeit, in: LMBV Konkret, 1996, 8–9, 8. 613 Ebd., 9. 614 Würth, Umweltschutz, 37. 615 Zieger, Rauchschäden im Walde, 278. 616 Gilsenbach, Wasser, 317 und Arnulf Sieber, Der Kampf um das Wasser, in: Natur und Heimat 8, 1959, 315–320. 617 Gerhard Darmer, Hochhalde Espenhain. Eine offene Wunde der Landschaft, in: Natur und Heimat 2, 1953, 110–113, 111.

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Jahre lang unterblieben alle Ausrüstungsinvestitionen, bis 1972 unter Honecker der Stilllegungsbeschluss aufgehoben wurde. Das Werk blieb in Betrieb, während sich der Schwefelgehalt der Braunkohle immer weiter erhöhte. Der VEB BV Espenhain lag mit 120.000 Tonnen SO₂-Emissionen im Jahr zwar ›nur‹ auf Platz zehn der größten Emittenten in der DDR, beeinträchtigte aufgrund der Bauart und des Alters allerdings weitaus die meisten Menschen.618 Eine Gefährdungsanalyse des MUW von 1984 registrierte in Espenhain einen extremen Verschleiß sowie Überlastung der Schwelöfen und übrigen Anlagen. Zudem waren die Ableitungshöhen sehr gering. In der Summe waren 450.000 Menschen beständig von den Abgasen beeinträchtigt. Der Stammbetrieb des Chemischen Kombinats Bitterfeld kam im Vergleich dazu auf 20.000 Betroffene, die LeunaWerke auf 30.000.619 Bereits 1982 hatte das Mitglied des Rates des Bezirkes Leipzig für Umweltschutz und Wasserwirtschaft das MUW gewarnt, dass in Espenhain die zulässigen Emissionen um das Tausendfache überschritten wurden.620 Besonders von der Luftbelastung betroffen war der Nachbarort Espenhains, Mölbis, der in einem Kilometer Entfernung des Werkes direkt in dessen Abgasfahne lag. 1989 lag der gemessene Maximalwert der Schwefeldioxidkonzentration bei 4900 µg pro Kubikmeter Luft, der Jahresmittelwert bei 530 µg.621 Die größte Braunkohleschwelerei der Welt steht damit als Sinnbild für den gescheiterten Ansatz der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik unter Honecker. Investitionen wurden zugunsten der Sozialtransfers zurückgestellt, und in den 1980er Jahren ließ die Entschuldungspolitik keinen Spielraum für Umweltschutzinvestitionen. Ein Vorschlag des MUW, 1988 die Schwefelemissionen um ein Viertel zu senken, wurde genausowenig verwirklicht wie der Einbau einer Filteranlage, um die Staubbelastung zu reduzieren.622 Im Juni 1983 fand in Mölbis der erste Umweltgottesdienst unter dem Motto »In Mölbis hat unsere Zukunft schon begonnen« statt. Als treibende Kraft wirkte hier das »Christliche Umweltseminar Rötha«, eine Umweltgruppe, die sich 1983 gegründet hatte. Im Juli 1983 berichtete ein Anwohner aus Mölbis auf dem Dresdner Kirchentag über den Alltag: 618 BArch DK 5/1347 Zentrum für Umweltgestaltung, Analyse der Umweltbedingungen DDR 1976–1988. Hrsg. v. Zentrum für Umweltgestaltung. 31.10.1989, pag. 24. 619 BArch DC 20/12800 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Gefährdungsanalyse 1984, pag. 13 und 219. 620 BArch DK 5/188 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Öffentlichkeitsarbeit und Maßnahmen zur Verringerung der Umweltschäden, Bericht vom 29.12.1982. 621 BArch DK 5/6203 Ministerium für Gesundheits-und Sozialwesen, Standpunkt der gesundheitlichen Auswirkungen der carbochemischen Industrie der DDR. 11.1.1990, o. pag. 622 BArch DK 5/1355 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Entscheidungsvorschläge zur Vorbereitung weiterer Objekte der Rauchgasentschwefelung bis 1990 entsprechenddem Beschluß des Ministerrates vom 20.8.1987 »Bericht zur Entwicklung der Emission von Luftverunreinigungen in der DDR im Jahre 1986«. 22.9.1987, pag. 1 und Gespräch mit Hans Reichelt am 12.4.2010.

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Das Schlimmste aber ist nicht der Dreck, sondern das Gas, die Mölbiser sagen: der Gas. »Der Gas hat alles kaputt gemacht.« Wenn man bei solchen heißen Tagen sich abends ins Bett legt und denkt, nun hast du Erholung, ist ja wunderbar, und man macht das Fenster auf und dann kommt frische Luft… das kann man in Mölbis nicht machen, denn dann kommt das Gas knüppeldicke bei Südwestwind. Und meistens haben wir Südwestwind. Und so eine Wärme und Gas, da kann man schlecht schlafen. Es gibt Leute, die zu Besuch sind, die reisen vorzeitig wieder ab. Manche, die müssen dann früh brechen, manche haben furchtbare Kopfschmerzen. Am besten ist, man betrinkt sich abends, da schläft man auf alle Fälle gut ein. Das machen die Mölbiser auch.[…] In diesem Jahr haben die Apfelbäume in Mölbis ihre Blätter schon verloren, schon seit dem 26. Mai. Da gibt es keine Petersilie mehr, die ist ganz weiß, und die meisten Blattpflanzen haben nur noch zusammengerollte Blätter. In Mölbis gibt es kaum noch Bäume, die man anderswo kennt. Und wenn man früh rauskommt und die Haustür aufmacht, hat man das erstemal, wenn nicht schon im Schlafzimmer, dreckige Hände. Denn die Luft ist schmutzig. Die Luft ist so schmutzig, daß man ein Blatt Papier vom Schreibtisch wegnimmt früh und dann sieht man, wo es gelegen hat, rundherum ein schwarzer Rand.623

Der Beitrag auf dem Dresdner Kirchentag machte das Problem Espenhain einem größeren Publikum bekannt, und in der Folge entwickelte es sich zu einem Symbol der gescheiterten DDR-Umweltpolitik. Es steht allerdings auch für die zunehmende Handlungsfähigkeit der Umweltgruppen in der Ausein­ andersetzung mit dem SED-Regime. Im Juni 1984 fand in Mölbis ein zweiter Umweltgottesdienst statt, in dessen Folge es zu punktuellen Verbesserungen der Situation kam. Die Einwohner erhielten eine bessere Versorgung mit Obst und Gemüse, ältere Bürger konnten einmal die Woche zu einer speziellen Sprechstunde kommen, und Grundschulkinder erhielten mehrere Wochen Unterricht in weniger belasteten Gebieten. Am Werk selbst fanden keine baulichen Umweltschutzmaßnahmen statt. Insgesamt schrieb das Umweltseminar Rötha zwölf Eingaben an staatliche Stellen, nach dem Umweltgottesdienst 1986 wandte es sich direkt an Honecker. Nach einer »Wallfahrt« zu den Aschekippen des Werkes forderte das Seminar vom Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph die vollständige Rekonstruktion Espenhains.624 Das Eingabengespräch mit Vertretern des Umweltministeriums verlief ernüchternd. Es wurde jede Hoffnung genommen und deutlich gemacht, dass die Probleme auch noch in zehn Jahren bestehen würden. Als Reaktion 623 Rüffert, Kutter, Betroffene, 4–5. 624 Knabe, Umweltkonflikte, 331–335; SAPMO DY 30/2837 Abteilung Grundstoffindustrie, ZK der SED, Information zu einer DPA-Meldung des BRD-Korrespondenten Jennerjahn. 22.10.1987, pag. 158– 160; Antrag 165 vor der Herbstsynode der EV.-Luth. Landeskirche Sachsen, Dresden 1.10.1987, in: Umweltblätter. Infoblatt des Friedens- und Umweltkreises Zionskirchgemeinde, November 1987, 25–26 und Jürgen Bauerschmidt, Martina Gulitz, Markus Lambrecht, Gabriele Schwarz, Die Entstehungsgeschichte der Ökogruppen innerhalb der Kirche in der DDR, in: Rösler, Schwab, Lambrecht, Naturschutz, 230.

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darauf fasste die Synode der sächsischen Landeskirche 1987 den Beschluss, die Kirchenleitung zu beauftragen, sich bei den staatlichen Stellen für eine Rekonstruktion Espenhains einzusetzen. 1988 gestanden Vertreter des Werkes und des Rates des Kreises ein, dass man gerne einen Filter einbauen würde, dafür aber kein Geld zur Verfügung stünde.625 Als Reaktion darauf riefen der ÖAK Dresden und das Umweltseminar Rötha während der »Woche der Verantwortung für Gottes Schöpfung« – die ganz im Zeichen der Umweltpolitik stand – die Aktion »Eine Mark für Espenhain« ins Leben. Unterschriftenlisten waren in der DDR verboten, aber die beiden Gruppen behalfen sich mit einem Trick. Gegen eine Spende von einer Mark bekam der Spender eine Quittung. Der ÖAK sammelte das Geld und die Durchschläge der Quittungen. Auf diese Weise wurden in einem Jahr 100.000 Mark eingesammelt. Das Geld reichte nicht für den Einbau einer wesentlich teureren Filteranlage aus, aber niemals vor der Wende erreichte eine ökologisch motivierte Aktion eine ähnliche Breitenwirkung. In zahllosen Samisdatblättern wurde auf die Aktion hingewiesen.626 Das MfS registrierte das Umherreichen von Sammellisten in LPG627, und Kirchengemeinden organisierten einen »Espenhain-Tag«, um auf die Luftbelastung und die damit verbundenen gesundheitlichen Schäden aufmerksam zu machen.628 Die »Arche«-Redaktion berichtete in der Arche Nova 1 von den trostlosen Zuständen in Mölbis: Die Häuser sind ruß- und rauchgeschwärzt, wenn nicht, bröckeln die Fassaden, einiges ist schon ganz verfallen. Selbst vor kurzem verputzte oder getünchte Häuser tragen untrügliche Zeichen dicker Staubschichten.629

Vor allem die Aktion »Eine Mark für Espenhain« spiegelte das wachsende Selbstvertrauen der Umweltgruppen wider, offensiv die Auseinandersetzung mit dem Staat zu suchen. Sie vertrauten nicht mehr den hinhaltenden Versprechungen, sondern griffen die Informationspolitik des Regimes an. Die Spendenaktion war ein offener Affront gegen das Regime, dem jede Lösungskompetenz in Umweltfragen abgesprochen wurde. Sie stellte das Herrschafts- und Machtverständnis der SED grundlegend infrage, bezog die Partei doch ihr Selbstverständis daraus, dass sie »die Interessen des Volkes verkörpert und seinen Willen verwirklicht«.630 Am Ende der 1980er Jahre stand die SED nicht mehr nur neben dem Volkswillen, sondern zunehmend konträr zu ihm. In der Umwelt 625 Beleites, Unabhängige Umweltbewegung, 193. 626 BStU MfS HA XX/AKG 5432 Ministerium für Staatssicherheit, Ausgaben von »Straßenfeger«, »Pusteblume«, »Ostmitteleuropa«, »Ostkreuz«, pag. 5. 627 BStU BV KMSt. AKG 3164 Ministerium für Staatssicherheit, Reaktion der Bevölkerung 1988, pag. 12. 628 Katrin Walther, Espenhain-Tag, in: Streiflichter, 1988–11–25. 629 Jordan, Neumann, Voigt, Reise nach Mölbis, 6–7. 630 Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin (Ost) 1967, 471.

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frage war dies zuerst und am offensichtlichsten zu sehen. Die SED war an ihrem Ende angelangt: Kommt freilich der Argwohn auf, daß die Regierung und allgemeiner das politische System selber nicht in der Lage bzw. bereit sind, gegen die Schuldigen tätig zu werden, weil sie selber die Schuldigen sind oder aber mit den Schuldigen alliiert erscheinen, dann sind radikalere Problemlösungsforderungen vorbereitet. Sie zielen in diesem Fall auf Regierungs- bzw. Systemwechsel.631

4.5 Zwischenfazit »Es geht um die Stabilität der DDR«, warnte Erich Honecker das ZK-Mitglied der KPdSU Konstantin Russakow im Oktober 1981. Russakow war nach Berlin gekommen, um Honecker die Kürzung der Erdöllieferung um zehn Prozent zu erklären. »Ich bitte dich, Genossen Leonid Ilijtsch Breschnew offen zu fragen, ob es zwei Millionen Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu destabilisieren und das Vertrauen unserer Menschen in die Staats- und Parteiführung zu erschüttern.«632 Alles Bitten Honeckers hatte keinen Erfolg, die UdSSR blieb bei ihrer Haltung. Das Gespräch im Oktober bildete den Auftakt zu einer Wendezeit, in der die wesentlichen Strukturen entstanden, die die Umweltgeschichte der DDR im Moment ihres Untergangs prägten. Die Kürzung der Erdöllieferungen verengte den wirtschaftspolitischen Spielraum der DDR. Sie musste die verbliebene Menge nahezu vollständig für den Export aufbereiten, um ihre im Ausland aufgelaufenen Schulden zu bedienen. Für die eigene Energieerzeugung musste sie auf die heimische Braunkohle zurückgreifen. Diese ›Renaissance‹ der Braunkohle kam etwa gleichzeitig zur bundesdeutschen Waldsterbensdebatte, in deren Folge die Bundesrepublik ihre Schwefeldioxidemissionen deutlich reduzieren konnte. Noch 1961 emittierten allein die Kraftwerke und Industriebetriebe im Ruhrgebiet mit ca. 4 Mio. Tonnen die gleiche Menge Schwefeldioxid wie die gesamte DDR 1980. 1990 hatte die Bundesrepublik ihre Emissionen auf ca. 0,9 Mio. t gedrückt, während sie in der DDR auf über 5,3 Mio. t gestiegen waren. Diese Bilanz versuchte die SED-Führung über eine strikte Geheimhaltung aller Umweltdaten zu verschleiern. Die auf einen Ausgleich der Zahlungsbilanz ausgerichtete Wirtschaftspolitik ließ nur geringe Mittel für eine Modernisierung des Kapitalstocks übrig, die zudem in wenige Prestigeobjekte geleitet wurden. Für Umweltschutzinvestionen stand spätestens nach dem Verfall der Erdölpreise ab 1985 kaum Geld zur Verfügung. Daneben war es den Verfahrenstechnikern der DDR nicht gelungen, ein 631 Gerhards, Neidhardt, Strukturen, 74–75. 632 Malycha, Winters, SED, 261–262.

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ökonomisch tragfähiges und dauerhaft funktionierendes Rauchgasentschwefelungsverfahren zu entwickeln. So waren die Waldschäden und Entschwefelungsbemühungen in den 1980er Jahren beständig Tagesordnungspunkt auf den Sitzungen von Ministerrat und Politbüro, aber es fehlten der DDR die ökonomischen und technischen Kapazitäten, dagegen vorzugehen. Aufseiten der Forstwissenschaft kam es im Zuge der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte zu keiner Umdeutung der Waldschäden im Erzgebirge. Die Rauchschadenforscher in Tharandt um Hans-Günther Däßler hielten am bekannten Konzept der ›klassischen‹ Rauchschäden fest. Eine Ausweitung der Forschung, wie mit dem Programm von 1985 geplant, scheiterte an den mangelnden Möglichkeiten der DDR, Messgeräte und Chemikalien herstellen bzw. einführen zu können. Parallel zu der Unfähigkeit der DDR-Organe wuchs in Teilen der Bevölkerung das Interesse an ökologischen Fragestellungen. Dieses Interesse speiste sich aus mehreren Quellen. Erstens befassten sich kirchliche Institutionen  – wie das Forschungsheim Wittenberg mit Hans-Peter Gensichen – seit Mitte der 1970er Jahre mit dem Thema. Anfang der 1980er Jahre gelang es der Kirche, im Zuge der Friedensbewegung ihre Wahrnehmung in Gesellschaftskreisen zu erhöhen, die normalerweise keinen Kontakt zu ihr hatten. Allerdings beschränkte die Kirche mit ihren asketischen Vorstellungen von Konsumverzicht und Enthaltsamkeit ihre Entfaltungsmöglichkeiten. Diese Vorstellungen waren in der DDR nicht anschlussfähig. Zweitens wurde in einigen Gebieten wie etwa im Erzgebirge die Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit immer größer. Wer an die marxistischen Umweltversprechen glaubte, musste Augen und Nase vor den offensichtlichen Waldschäden und Geruchsereignissen verschließen. Wer dies nicht tat, musste zwangsläufig die Glaubwürdigkeit der SED in Zweifel ziehen. Anfang der 1980er Jahre waren immer weniger Menschen bereit, diese kognitive Dissonanz auszuhalten. Sie wollten sie auflösen und mit der Partei in einen Dialog treten, den diese aber verweigerte. In dem von der SED vorgegebenen und kontrollierten öffentlichen Raum konnten die Probleme nicht diskutiert werden. Die Lösung war eine sich aus der kirchlichen Nische heraus entwickelnde Gegenöffentlichkeit. Diese Gegenöffentlichkeit erhielt drittens aus der Bundesrepublik Unterstützung. Die mediale Präsenz von Umweltthemen wie dem Waldsterben in den Westmedien erhöhte auch in der DDR die Sensibilität für Umweltbelange. Bedeutsam war der Einzug der GRÜNEN in den Deutschen Bundestag 1983. Sofort dehnten deren Abgeordneten ihre Aktionen auf das Gebiet der DDR aus und nutzten ihren Status, um die aufkommende Samisdat-Landschaft mit Druckmaschinen, Papier und weiteren Ressourcen zu versorgen. Das geschilderte Panorama aus der wirtschaftlichen und technischen Impotenz des Staates, dem zunehmendem Umweltbewusstsein und Konfliktwillen in der Bevölkerung sowie der beginnenden deutsch-deutschen Vernetzung

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Die 1980er Jahre – Importüberschüsse

der Jahre 1981 bis 1983 bilden einen der gesuchten ›Knotenpunkte‹ in der DDRUmweltgeschichte. Danach entspann sich innerhalb dieser Struktur die weitere Entwicklung. Das Kirchliche Forschungsheim in Wittenberg versuchte, die zahlreicher werdenden Umweltgruppen im Land zu vernetzen, um die Gegenöffentlichkeit auszuweiten. Der Staatsapparat entwarf weiter Entschwefelungsprogramme, die über den Status von Beschlüssen nicht hinauskamen. Den GRÜNEN schließlich folgten Umweltorganisationen wie Greenpeace oder Robin Wood in die DDR. Ein nächster Wendepunkt war 1987/88. Nach dem Überfall auf die Umweltbibliothek half der gezielte Einsatz der Westmedien dabei, die Aktion des MfS in der DDR bekannt zu machen. Viele Menschen erfuhren erst auf diesem Wege von der Existenz der Umweltbibliothek. In der Folge erweiterten einige Gruppen wie etwa die »Arche« die Zusammenarbeit mit den Westmedien und knüpften eigene Kontaktnetze in der Bundesrepublik. Es ist bezeichnend, dass gerade die an diesem Prozess beteiligten Akteure auch heute noch in der vereinigten Bundesrepublik bedeutende Positionen einnehmen. Roland Jahn etwa ist seit Januar 2011 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU). Der gestiegene Bekanntheitsgrad der Gruppen ließ sie zu einer Anlaufstelle für Ausreisewillige werden, die weniger an einer inhaltlichen Arbeit interessiert waren als an möglichst spektakulären Aktionen, womit sie ihre Abschiebung beschleunigen wollten. Spätestens in diesem Moment hatte der Versuch der SED versagt, umweltbewusste Menschen über die Mitarbeit in der staatlichen GNU einzubinden. 1989 war es den Gruppen gelungen, einen Kontakt zur Bevölkerungsmehrheit herzustellen. Sie bildeten das kommunikative und organisatorische Rückgrat der Wende. Der Mehrheit war allerdings nicht an einer Verbesserung der Umweltbedingungen in ihrem Heimatland gelegen, sondern sie wollten der politischen Enge und dem wirtschaftlichen Verfall entkommen. Für die Vorgeschichte der Wende war es nicht bedeutsam, womit sich diese Gruppen beschäftigten, sondern allein, dass es sie gab.

Fazit

Die vorliegende Arbeit hat sich mit der Waldsterbensdebatte einen sehr ›deutschen‹ Zugang gewählt, um daraus Schlussfolgerungen für eine Umweltgeschichte der DDR abzuleiten. Die beiden eingangs ausgeführten Hypothesen haben sich dabei als ein brauchbares Arbeitsprogramm erwiesen, das ökologische Profil der DDR schärfer von dem westdeutschen ›Erfolgsmodell‹ abzugrenzen. Ein zentraler Befund war dabei, dass es Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in beiden deutschen Staaten zu ähnlichen Ansätzen in der Umweltpolitik kam, die dann allerdings unterschiedlich ausdefiniert wurden. Das deutliche Auseinandergehen der Entwicklungen ab Mitte der 1970er Jahre kann nicht allein mit dem repressiven Charakter des SED-Regimes erklärt werden, der zivilgesellschaftliches Umweltengagement im Keim zu ersticken versuchte. Vielmehr bewirkte das gesamte sozio-ökonomisch Design des zweiten deutschen Staates ein endogenes Desinteresse an ökologischen Fragestellungen. Die SED musste sich keinen freien Wahlen stellen, aber dennoch lässt sich am Beispiel der Debatten über Waldschäden und Umwelt der Charakter der SED-Herrschaft als iterativer Prozess herausarbeiten. Da eine demokratische Absicherung der eigenen Herrschaft fehlte, musste sie den demokratischen Willensbildungsprozess durch ein beständiges Verfahren der Kurskorrekturen anhand der Reaktionen der Bevölkerung ersetzen. Natürlich war die SED dazu in der Lage, jedes mögliche Gesetz und jede mögliche Regelung zu beschließen, aber wenn sie einen Zustand des latenten Bürgerkrieges vermeiden und sich nicht ausschließlich auf die militärische Präsenz der Sowjetunion sowie den Überwachungsapparat des MfS stützen wollte, musste sie ihre Politik immer wieder an die Vorstellungen und Wünsche der Bevölkerung anpassen. Andrew Port hat diese permanenten Aushandelungsprozesse am lokalen Beispiel des Kreises Saalfeld beschrieben und damit versucht, die »rätselhafte Stabilität« der DDR zu erklären.1 Keine zehn Kilometer von Saalfeld entfernt liegt Rudolstadt. Hier hielt sich 1993/94 die Soziologin Milena Veenis 15 Monate zu Studienzwecken auf. Dass die Bevölkerung der in Sichtweite des Thüringer Waldes liegenden Stadt über Waldschäden gesprochen hätte, berichtete Veenis nicht. Stattdessen bemerkte sie einen geradezu ostentativen Konsum. Eine ihrer zentralen Thesen ist, dass die ostdeutsche Bevölkerung auf die westliche Warenwelt fixiert war, weil diese den Verheißungen der sozialistischen Ideologie entsprochen hätten.



1 Port, Stabilität.

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Fazit

Und mit jedem Jahr, in dem »the gap between the beautiful stories in the papers and everyday reality became larger«, nahm diese Fixierung zu, bis sie sich nach der Wende in einer Übernutzung der neuen Konsummöglichkeiten entladen konnte.2 Der Systemwettstreit zwischen Sozialismus und Kapitalismus wurde nicht über die Wasserqualität des Steinhuder Meeres oder der Müritz, nicht über die Lebensumstände in Gelsenkirchen oder Wolfen-Bitterfeld und auch nicht über die Luftqualität im Schwarzwald oder Erzgebirge entschieden, sondern über das Warensortiment in den Kaufhausregalen. Die SED wusste dies bzw. hatte es am 17. Juni 1953 schmerzhaft erlernen müssen und richtete spätestens nach 1971 ihre Politik konsequent an dieser Erkenntnis aus. Alle anderen Ansprüche mussten dahinter zurückstehen, so auch die Umweltpolitik. Rund 35 Jahre hatte sie mit dieser Ausrichtung relativen Erfolg, weil die große Mehrheit der Menschen in der DDR diese auf materialistische Güter fixierte Einstellung teilte. Der Erosionsprozess, der die DDR ab 1985 erfasste, beruhte darauf, dass die SED nicht mehr liefern konnte. Der Wertewandel, auf den Hubertus Knabe seine Übertragung des Konzepts der Neuen Sozialen Bewegungen begründete, fand in der DDR nur sehr abgeschwächt statt. Zwar gab es auch in der DDR eine nach dem Krieg in Frieden und materieller Sicherheit aufgewachsene Generation, für die aber das westliche Konsummodel das Maß blieb und die darum keine neuen Wertvorstellungen entwickeln konnte oder wollte. Die im Umfeld der Kirche entstehenden Umweltgruppen stellten zwar ähnliche Forderungen, entwickelten diese Vorstellungen aber nicht aus der Erfahrung der materiellen Sättigung heraus, sondern aus traditionellen christlichen Wertvorstellungen der Enthaltsamkeit und des Verzichts. Diese bestanden und bestehen so auch im Westen, aber in der Umweltbewegung der 1970er und 1980er waren sie nur eine Strömung unter anderen. Ohne den von Inglehart beschriebenen Wertewandel fehlte in der DDR eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Herausbildung einer soziokulturellen Kapazität, die den herrschenden Umweltzustand als Problem erkannte und auch so ansprach. Umwelt und Waldschäden blieben in der von Industriearbeit geprägten DDR-Gesellschaft ein Randthema. In den Kategorien des Kapazitätenmodells von Prittwitz gesprochen, fehlte so ein wichtiger Faktor, damit ein breites gesellschaftliches Umweltbewusstsein entstehen konnte. Die wenigen Gruppen, die sich ab Beginn der 1980er Jahre für den Schutz der Umwelt einsetzten, waren allerdings zunächst keine Revolutionäre oder Systemkritiker. Erst in einem über viele Jahre wirkenden Prozess wuchs in vielen Aktiven der Umweltbewegung die Erkenntnis heran, dass mit diesem Staat, dieser Regierung und diesem Gesellschaftssystem die ökologischen Probleme nicht zu lösen 2 Milena Veenis, Consumption in East Germany. The Seduction and Betrayal of Things, in: Journal of Material Culture 4, 1999, 79–112, 94.

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seien. Die Erfahrung, dass dem in der DDR verwirklichten Sozialismus gravierende Ökologieprobleme systemimmanent sind, hob den Protest auf eine andere Stufe, in den Zustand genereller Gegnerschaft zum Regime. Der ursprüngliche Wille zur ökologischen Situationsverbesserung wurde abgelöst von der erkannten Notwendigkeit einer Umgestaltung des politischen Rahmens. Der Umweltzustand und die Umweltbewegung trugen allein jedoch wenig zum Ende des SED-Staates bei. Ihr Verdienst bestand darin, im gesellschaftlichen Abseits tragfähige Kommunikationsstrukturen auszubilden, die im Moment des primär ökonomisch motivierten Aufstandes als Multiplikator dienten. 1. Fragekomplex – War ökologisches Desinteresse ein Strukturmerkmal der DDR? Zu jeder Zeit gab es in der DDR Menschen, die sich für den Zustand der sie umgebenden Natur interessierten. Diese Feststellung gilt für nahezu jede Gesellschaft auf dem Globus. Interessant werden diese Menschen dann, wenn sie zu einer zahlenmäßig so relevanten Gruppe anwachsen, dass sie Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse und Entscheidungen nehmen können. Dieser Entwicklungsschritt wurde allerdings in der DDR nicht erreicht. Zwar gab es innerhalb der SED und den anderen Parteien, der gesellschaftlichen Massenorganisationen, der Kirche und an den Universitäten und Akademien Personen, die auf den problematischen Zustand der Umwelt hinwiesen, aber sie blieben stets eine kleine Minderheit. Die Mehrheit zeichnete sich nicht durch ein ökologisches Desinteresse aus, sondern eher durch eine ›Unbefangenheit‹. Das Umweltwissen war wesentlich weiter verbreitet als die Bereitschaft, dieses Wissen in die Praxis umzusetzen. Insofern war nicht primär das ökologische Desinteresse ein Strukturmerkmal der DDR, sondern die strikte Unterordnung ökologischer Belange unter die Anforderungen der Warenproduktion. So lange die breite Bevölkerungsmehrheit das westliche Konsummodell für nachahmenswert hielt und für eine bessere materielle Versorgung ein Mehr an Umweltbelastung in Kauf zu nehmen bereit war, so lange bestand in dieser Frage eine Übereinstimmung zwischen politischer Führung und Gesellschaft. Zu der fehlenden gesellschaftlichen Kapazität trat zudem eine nur unzureichend ausgebildete politische Verarbeitungskapazität. Das 1971 gegründete Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft konnte diesen Mangel nicht ausgleichen, da es an die Abteilung im ZK der SED angebunden war, die für die Warenversorgung der Bevölkerung entscheidend verantwortlich war. Hinzu kam, dass der zuständige Minister Hans Reichelt nicht Mitglied der SED war und Günter Mittag teilweise Reichelts Vorlagen für das Politbüro nicht auf die Tagesordnung setzen ließ. Das ebenfalls mit der Frage der immissionsbedingten Waldschäden befasste MLFN besaß dagegen im Zusammenspiel von Wolfgang Felfe und Bruno Lietz einen direkten Zugang zum wichtigsten politischen Entscheidungsgremium der DDR. Aber auch das MLFN war letztendlich von der Fähigkeit des MUW abhängig, Umweltschutzinvestitionen in die Jahres-

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pläne einordnen zu können, da allein das MUW für die Finanzierung verantwortlich war. In Bezug auf wissenschaftliche Kapazitäten zerfiel die DDR in zwei Teile. Auf der einen Seite standen die Forstwissenschaftler aus Tharandt, die sich schon lange und intensiv mit der schädlichen Wirkung von Schwefeldioxid auf Waldbestände befasst hatten. Erich Zieger hatte bereits Ende der 1950er Jahre darauf hingewiesen, dass der Prozess der zunehmenden industriellen Verdichtung die Waldschäden zu einem Flächenphänomen machen könnte. 1961 prognostizierte dann ein Mitglied seiner Forschungsgruppe die Entwaldung des Erzgebirges in den 1980er Jahren. Auch Ziegers Nachfolger Däßler verwies auf die stetig zunehmende Waldschadensfläche, sah die Existenz des Waldes aber nicht grundlegend in Gefahr. Nach der Auskohlung der böhmischen Braunkohlevorkommen 2010/20 wären auch auf den Problemlagen des Erzgebirges wieder Bäume gewachsen. Während die Forstwissenschaft bereits früh auf die Problematik hingewiesen hatte, gelang es den Verfahrenstechnikern nicht, effiziente Rauchgasentschwefelungsanlagen für den Dauereinsatz zu entwickeln. Der Import von entsprechender Technik aus westlichen Ländern scheiterte an der unzureichenden ökonomischen Kapazität bzw. an der Subordination unter konsumpolitische Aspekte. In der Summe ergibt sich damit für die DDR ein eklatanter Mangel an den von Prittwitz als notwendig betrachteten Kapazitäten. Allein die Forstwirtschaft hatte einen entsprechenden Entwicklungsstand erreicht, wobei allerdings über die 40 Jahre der DDR hinweg differenziert werden muss. In den letzten Jahren der Regierungszeit Ulbrichts zeigte die SED Ansätze, Verarbeitungskapazitäten zu entwickeln und Umweltwissen in der Bevölkerung zu verankern. Honecker brach diese Entwicklung ab, sah sich aber gegen Ende seiner Amtszeit mit in der kirchlichen Nische entwickelndem Umweltbewusstsein konfrontiert. 2. Fragekomplex – Wer waren die maßgeblichen Akteure der DDR Waldschadensdebatte? Der Landschaftsarchitekt Reinhold Lingner wollte am sozialistischen Aufbau der DDR mitwirken. Seine Vorstellungen von ›Landschaftsgesundheit‹ waren in ähnlicher Weise bereits in den 1920er Jahren formuliert worden, aber in den 1950er Jahren bot sich ihm die Möglichkeit, das Konzept auf einen gesamten Staat auszudehnen. Lingner war getrieben von der Überzeugung, dass sich eine sozialistische Gesellschaft nur in einer »sozialistischen Landschaft« entfalten könne. Die hohen Finanzmittel, die er 1950 für seine Landschaftsdiagnose bekam, belegen, dass seine Pläne durchaus anschlussfähig waren. Zudem gelang es Lingner anfangs, die Ergebnisse der Diagnose in den ZKApparat der SED hineinzutragen und seinen »Plan für die Durchführung der ›Umgestaltung der Natur in Deutschland‹« auf einer Sitzung des Sekretariats des ZK im Juni 1953 beraten zu lassen. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt

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wurde der Zielkonflikt zwischen einer nachhaltigen Neuorientierung der Wirtschaft – wie ihn Lingners Plan versprochen hatte – und einer kurzfristigen Befriedigung der in der Bevölkerung vorhandenen Bedürfnisse deutlich. Der 17. Juni 1953 ist damit auch als ein Knotenpunkt der DDR-Umweltgeschichte zu sehen, weil er der SED-Führung drastisch vor Augen führte, wie sehr ihre Herrschaft von einer Befriedung der Bevölkerungsmehrheit abhing. Gemäß den Annahmen der Totalitarismustheorie war die SED im Besitz aller nötigen Machtressourcen, um mit dem Lingnerschen Plan eine Neugestaltung der DDR durchzusetzen, faktisch fehlten ihr allerdings die nötigen ökonomischen Ressourcen. Bei der Beantwortung der Frage, warum Erich Zieger sich mit den Rauchschäden beschäftigte, liefert die Problemdruckthese zumindest in Ansätzen hilfreiche Erklärungen. Die Rauchschadenforschung war ursprünglich nur ein kleines Arbeitsfeld seines Institutes, aber durch die an Zahl und Schadenshöhe zunehmenden Anfragen in Entschädigungsstreitigkeiten zwischen Wald- und Industriebesitzern sah er sich dazu gezwungen, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Was er ursprünglich suchte, war eine einfache Methode, um die Rauchbeeinflussung von Beständen zweifelsfrei nachweisen zu können. An der Lösung dieses Problems waren bereits zahlreiche seiner Vorgänger in Tharandt gescheitert. Als Zieger 1955 auf Lingner traf und von dessen großräumigen Luftuntersuchungen hörte, schien er sofort deren Wert für seine eigenen Vorhaben erkannt zu haben. In der Großraumdiagnose übertrug er den Ansatz der Landschaftsdiagnose auf die Rauchschadenforschung. Die Kombination aus standardisierter Erfassung des Waldzustandes und weiträumiger Messung der Schwefeldioxidkonzentration ergab einen Relativbeweis: Dort wo die Luftbelastung hoch war, ging es den Wäldern im Schnitt schlechter. Zwei Folgerungen ergaben sich daraus. Das eine war ein Zeitgewinn, um prophylaktisch tätig zu werden, denn über die Luftmessungen konnten Bestände identifiziert werden, die noch keine sichtbaren Schäden aufwiesen, dies aber wahrscheinlich bald tun würden. Zum anderen erkannte Zieger, welche Auswirkungen der von der SED propagierte schwerindustrielle Aufbau der Wirtschaft auf die Waldbestände haben könnte. Diese Erkenntnis barg politische Brisanz und hob die Rauch­schadenforschung über den Status als Grundlagenforschung und ›Gutachterwissenschaft‹ heraus. Ziegers Nachfolger in der Rauchschadenforschung, Hans-Günther Däßler, musste sich seinen akademischen Status gegen einen Konkurrenten erstreiten, wobei die Auseinandersetzung vor einem der einschneidendsten Ereignisse der DDR-Geschichte stattfand, dem Mauerbau. Das Jahr 1961 bedeutete für die Wissenschaftler – wie für viele andere Berufsgruppen auch – einen Wegfall der ›Exit-Option‹ Bundesrepublik. Ein Verlust der Professur aus politischen Gründen konnte nicht mehr mit einem Umzug kompensiert werden, sondern bedeutete das Karriereende. Dieser Umstand allein wirkte bereits erheblich dis-

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ziplinierend, mit der 3. Hochschulreform sicherte sich die SED endgültig den Zugriff auf die Hochschulen. Däßler – als Nicht-SED-Mitglied – musste sich in dieser universitären Landschaft bewegen. Inhaltlich konzentrierte er sich auf die Großraumdiagnose, entwickelte diese weiter und übertrug sie auf andere Schadgebiete in der DDR, von denen das Erzgebirge die bedrohlichste Dynamik aufwies. Am Ende der 1960er Jahre hatte das Erzgebirge alle anderen Schadgebiete an Umfang, Schwere und Komplexität weit hinter sich gelassen. Die 1970er Jahre brachten eine institutionelle Neuheit in Deutschland: Die DDR gründete 1972 ein Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Der dafür vorgesehende Minister Werner Titel starb im Dezember 1971, so dass die Wahl der SED auf den ehemaligen Land- und Forstwirtschaftsminister Hans Reichelt fiel, der Mitglied der DBD war. Das Landeskulturgesetz von 1970 wies dem Umweltministeriums die Aufgaben eines Querschnittsministeriums zu, dass die Umweltschutzinvestitionen in die Jahrespläne einordnen sollte. In dieser Funktion trat Reichelt bis Ende der 1970er kaum in Erscheinung, weil die Neuausrichtung der Wirtschaftpolitik unter Honecker den Spielraum für Investitionen stark einschränkte. Erst als der Ferntransport von Schwefeldioxid ein Gegenstand der internationalen Diplomatie wurde, erhöhte sich seine Präsenz. Er unterzeichnete für die DDR 1979 die Genfer Konvention und führte die Verhandlungen mit der ČSSR über die Luftbelastung im Erzgebirge, die 1981 in ein Regierungsabkommen mündeten. Die Hochkonjunktur von Umweltthemen in der Bundesrepublik im Zuge der Waldsterbensdebatte ließ Reichelt die Rolle eines Vermittlers zwischen Ost und West zukommen. In der Bundesrepublik erläuterte er die Strategien und Erfolge der DDR-Umweltpolitik, während er in der DDR auf neue Forschungsansätze und Gesetzesvorhaben in der Bundesrepublik hinwies. Das forstwissenschaftliche Forschungsprogramm von 1984/85 geht auf seine Anregungen zurück. Die letzte Akteursgruppe, die Umweltgruppen im Umfeld der Kirchen, war insofern ein neuer Faktor, da sie sich außerhalb des von der SED gesetzten und kontrollierten Institutionengefüges bewegten. Zwar versuchte die Partei, auch die Kirche über Druck und Infiltration zu beeinflussen, doch waren dieser Methode wesentlich engere Grenzen gesetzt als bei der Anleitung gesellschaftlicher Massenorganisationen. Das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg war ein Einfallstor für internationale Diskussionsansätze. Dessen Leiter, H ­ ans-Peter Gensichen, hatte in seiner Position ungehinderten Zugang zu westlichen Presse­ erzeugnissen und er verfolgte seit den frühen 1970er Jahren die wachstumskritischen Diskussionen im Westen im Zuge des Berichtes Die Grenzen des Wachstums. Seine Hauptaufgabe sah er darin, Informationen über den Umweltzustand zu sammeln und für eine interessierte Öffentlichkeit bereitzustellen. Das dazu ­nötige Publikationsorgan schuf sich Gensichen in Form der Briefe. Damit griff Gensichen das Informations- und Wahrheitsmonopol der SED an. Die Rolle des Forschungsheimes definierte er dabei als Koordinationszen-

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trum, die praktische Umweltschutzarbeit müsste in den lokalen Gruppen erfolgen. Die Zahl dieser Gruppen nahm in den 1980er Jahren, verstärkt dann ab 1985, zu. Mit der steigenden Zahl der Gruppen absolut nahm auch die Zahl der Gruppen zu, die die konziliante Linie des Forschungsheims in Wittenberg nicht mittragen wollten. Gensichen hatte seine Positionen von einer Basis der christlichen Schöpfungsverantwortung aus entwickelt, die dem Individuum Bescheidenheit und Konsumverzicht nahelegten. Die großstädtischen Umweltgruppen, allen voran die Umweltbibliothek in Ost-Berlin und die »Arche«, setzten dagegen zunehmend auf Provokation und Konflikt mit dem SED-Regime. Da die öffentlichkeitswirksamen Aktionen mit der Abschiebung der beteiligten Personen in die Bundesrepublik enden konnten, engagierten sich Ende der 1980er Jahre zunehmend Ausreisewillige in den Umweltgruppen. Daneben bestanden weiterhin sich auf die inhaltliche Arbeit konzentrierende Gruppen, die mit ihren Aktionen eine Situationsverbesserung in der DDR erreichen wollten, die aber in der Öffentlichkeit – auch in der westdeutschen – kaum noch wahrgenommen wurden. Der ÖAK Dresden ist dafür das mitgliederstärkste Beispiel. 3. Fragekomplex  – Über welche Handlungsspielräume verfügten die einzelnen Akteure? Die Akteure hatten in unterschiedlichem Ausmaß Möglichkeiten, ihre Vorstellungen und Wünsche zu entwickeln, zu kommunizieren und umzusetzen. Dies hing sowohl mit ihrer Position im Institutionengefüge der DDR als auch mit dessen Entwicklung zusammen. Gerade für Wissenschaftler änderten sich die Spielräume innerhalb des 40-jährigen Bestehenszeitraumes erheblich. Lingner und Zieger waren in ihrer Themenwahl und ihrer Publikationstätigkeit noch kaum Einschränkungen unterworfen. Das SED-Mitglied Lingner war bis in die höchsten SED-Kreise persönlich vernetzt und der Abbruch der Landschaftsdiagnose hatte sicherheitspolitische Aspekte. Es war eine politische Entscheidung, die Ergebnisse der Diagnose nicht umzusetzen. Allerdings hatte Lingner dann keine Möglichkeit mehr, gegen die einmal getroffene Entscheidung vorzugehen. Die Staatliche Plankommission verfolgte ihre eigenen Vorstellungen der Raumplanung und verschob Lingner von einem Arbeitskreis in den nächsten. Zieger wählte sich zwar die Rauchschadenforschung nicht ausschließlich aus freien Stücken zu einem seiner Forschungsschwerpunkte, da Industrie und Forstwissenschaft diese Kompetenz von ihm einforderten. Wissenschaftlich hatte er jedoch zunächst freie Hand, war in seiner Publikationstätigkeit keinen Einschränkungen unterworfen und konnte der Politik Forschungsbedarf vermitteln. Er repräsentierte den Typus des bürgerlichen Spezialwissenschaftlers, auf dessen Fachwissen die SED in den frühen 1950er Jahren nicht verzichten konnte. Seinen Handlungsspielraum sicherte er sich dabei über persönliche Kontakte. Ähnlich wie im Falle Lingners verhinderte die Staatliche Plankom-

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mission eine Umsetzung der aus seinen Forschungsprojekten gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis. Zieger vermittelte der Politik aufgrund der ersten Ergebnisse der Großraumdiagnose sehr deutlich, dass eine Umsetzung der geplanten Industrialisierungspolitik ohne entsprechende Entschwefelungsanlagen für die Waldbestände der DDR dramatische Auswirkungen haben würde. Die Rauchschadenforschung bekam einen politischen Horizont und stellte mit ihren Ergebnissen die komplette Wirtschaftspolitik in Frage. Als Lösung des Zielkonflikts schlug Zieger eine Grenzwert-Regelung vor, die über eine kluge Standortplanung abgesichert werden sollte. In der Praxis beschränkte sich die Standortplanung darauf, dass die Forstwissenschaftler früher als zuvor davon erfuhren, wo ein neues Werk gebaut wurde, um zügiger mit den waldbaulichen Anpassungsmaßnahmen beginnen zu können. Das Gesetzesvorhaben zur Grenzwert-Regelung bremste die Plankommission immer wieder aus bzw. verwässerte die Entwürfe mit industriefreundlichen Passagen. Der plötzliche Tod Ziegers 1960 brachte die entsprechenden Bemühungen zum Erliegen. Die DDR der 1950er Jahre war ein im Aufbau befindlicher Staat, dessen institutionelle Entwicklung teilweise chaotische Züge trug. Institutionen wechselten häufig den Namen, die Verantwortungsbereiche verschoben sich, Kader wechselten die Posten oder wurden entfernt und der Elitenwechsel brachte junge, unzureichend ausgebildete Menschen in verantwortungsvolle Positionen, wo sie sich ihren Fachverstand erst aneignen mussten. In einem derart strukturschwachen Staat hatten Personen mit tragfähigen persönlichen Netzwerken Vorteile. Lingner und Zieger waren solche Personen, Hans-Günther Däßler hatte hingegen keinen Zugriff auf solche Netzwerke. Zieger hatte 15 Jahre in der Forstpraxis gearbeitet, danach in der Industrie und am Deutschen Lederinstitut in Freiberg, bevor er Professor in Tharandt wurde. Däßler hingegen hatte sich ausschließlich im universitären Milieu bewegt, dessen Strukturen sich mit dem Mauerbau grundlegend veränderten. ­Uekötter sieht politisch denkende Wissenschaftler am Anfang der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte stehen, die im Zusammenspiel mit den Medien ihre jeweiligen Forschungsergebnisse dramatisierend darstellten.3 Ähnliche Handlungsstrategien waren in der DDR nicht möglich. Nach 1961 waren die Wissenschaftler fest in die Institutionenlogiken des Systems eingebunden. Überspitzt gab es nur die Möglichkeiten, mit der ›Faust in der Tasche‹ den Anweisungen von oben Folge zu leisten oder aus dem System auszusteigen, wie es etwa Robert Havemann und Rudolf Bahro taten. Für den Bereich Umweltschutz und Waldsterben wäre hier Joachim Krause zu nennen, ein studierter Chemiker, der später als Landesbeauftragter für Glaube und Naturwissenschaft der sächsischen Landeskirche wirkte.

3 ­Uekötter, Ende, S. 166.

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Ein Zusammengehen mit den Massenmedien war für Däßler völlig unmöglich. In den 1960er Jahren konnte er seine Forschungsergebnisse zwar noch weitgehend ungehindert in Fachorganen publizieren, daraus abgeleitete politische Forderungen musste er aber direkt an die Politik richten. Hier fehlte ihm zwar das 1963 aufgelöste MLF als Ansprechpartner, jedoch bot die Phase des NÖSPL günstige strukturelle Voraussetzungen für eine Interaktion von Politik und Wissenschaft. Walter Ulbricht wollte die extensive Industrialisierung der 1950er Jahren durch eine Intensivierung und Modernisierung der Produktion ablösen. Greifbarer Ausdruck dieser neuen Politik waren die Bodennutzungsverordnung von 1964 und die Entschädigungsregelung, die das Staatliche Vertragsgericht 1968 auf Basis eines Gutachtens der Tharandter Rauchschadenforscher traf. Mittels marktwirtschaftlicher Instrumente wollte die SED die Betriebe zu einem sparsameren Umgang mit Ressourcen bringen. Das Ende der Wirtschaftsreform und der Machtantritt Honeckers engten den Aktionsradius der Wissenschaftler erneut ein. Horst Paucke, in den 1970er Jahren Wissenschaftler an der AdW und mit Umweltforschung befasst, hat das Dilemma beschrieben, die Umweltbelastung vorhersehen, aber mit diesen Prognosen in der Politik nicht durchdringen zu können.4 Mit Beginn der 1970er Jahre war die Wissenschaft als eigenständiger Akteur in der Umweltdebatte weitgehend ausgeschaltet. Anstatt auf Gefahren aufmerksam zu machen, nutzte die SED Wissenschaftler dazu, in den Medien die sichtbaren Gefahren kleinzureden. Die Handlungsoptionen des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft waren von Anfang an eng umgrenzt. Das Ministerium war ein ›Restposten‹, das den umweltpolitischen Überlegungen Ulbrichts entsprungen war; als es Honecker übernahm, beließ er es im Stadium eines ›Torso‹ und entwickelte es nicht weiter. Im Institutionengefüge der DDR wirkte es wie ein Fremdkörper. Dementsprechend wenig trat der dazugehörige Minister Hans Reichelt in Erscheinung. Die erste Hälfte der 1980er Jahre jedoch bedeutete für das Ministerium im Zuge der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte und des 30-Prozent-Zieles zur Schwefeldioxidreduzierung einen Zugewinn an Personal und Kompetenzen. Nach 1985 lag das Umweltmonitoring nahezu vollständig im Kompetenzbereich Reichelts. In der Frage der Investitionen blieb das MUW allerdings vom Wirtschaftssekretär des ZK der SED, Günter Mittag, abhängig. Die Streichung des Entschwefelungsprogramms aus dem Fünfjahrplan 1986– 1990 belegt diese strukturelle Schwäche des Umweltministeriums deutlich. Der Aktionsradius der kirchlichen Umweltgruppen war zunächst auf die eigene Nische beschränkt. Diese Einhegung betrieb die SED mit einer Vielzahl von Mitteln: Kontrolle der Massenmedien und des öffentlichen Raumes, Verhinderung von Selbstorganisation, Schaffung von staatlich sanktionierten Er

4 Paucke, Chancen, S. 61.

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satzinstitutionen wie der Gesellschaft für Natur und Umwelt, Zersetzung, Abschiebung und Einschüchterung. Die Furcht vor den Konsequenzen eines allzu offensiven Auftretens wirkte ebenso disziplinierend wie das Gefühl, mit seinem Anliegen alleine zu stehen. Gerade in Bezug auf die Umweltbelastung gelang der SED eine lokale Segmentierung: Die Menschen im Erzgebirge sahen die Waldschäden, die Einwohner Leipzig sorgten sich um den Zustand der Pleiße, und die Bewohner Bitterfelds litten unter der Staubbelastung. Eine Vernetzungsleistung dieser Probleme gelang nur auf der Ebene einer kleinen kirchlichen Elite. Da die Gruppen außerhalb des staatlichen Institutionengefüges standen, wurden sie von staatlicher Seite zumeist nicht als Gesprächspartner anerkannt bzw. ihre Ergebnisse als nicht wissenschaftlich fundiert ignoriert. Die grundlegende Strategie, diesen Zustand zu ändern, lässt sich mit den beiden Begriffen Gegenexpertentum und Gegenöffentlichkeit beschreiben. 1980/81 begann das Forschungsheim Wittenberg damit, Informationen zu sammeln und über eigene Publikationen zu verbreiten. 1987 schließlich bedeutete für die Gegenöffentlichkeit einen Wendepunkt, als es mit Hilfe der Westmedien gelang, die nach dem Überfall auf die Umweltbibliothek inhaftierten Mitglieder ›freizudemonstrieren‹. Die Furcht vor Repressionen als Handlungshemmnis nahm ab, die Zusammenarbeit mit den Westmedien wurde institutionalisiert, und das Wissen westlicher Umweltorganisationen diente als Unterfütterung des Gegenexpertentums. Damit gelang es den Gruppen zwar, ihre Handlungsmöglich­ keiten zu erweitern, sie standen aber – wie bereits beschrieben – mit ihren Forderungen abseits der Mehrheit. 4. Fragekomplex – Welche Argumente setzten die Akteure ein, um ihre Ziele zu erreichen? Lingner unterfütterte seine Landschaftsdiagnose und die daraus abgeleiteten Forderungen mit einer langen Reihe von historischen Argumenten. Überall dort, wo der Zugriff auf Naturressourcen ungeplant geschehen sei, sei es zu einer Übernutzung dieser Ressourcen und damit unweigerlich zum Zusammenbruch der herrschenden Gesellschaftsordnung gekommen. Dieses Schicksal wollte er der neugegründeten DDR ersparen. Dazu müsste diese allerdings zuerst die alten Wunden der kapitalistischen Industrialisierung überwinden, um dann eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu errichten. Während Lingner mithilfe der marxistischen Dialektik argumentierte und darauf vertraute, dass sich die in der Bundesrepublik herrschenden Klassengegensätze auch im Zustand der Umwelt widerspiegelten – und letztendlich zu deren revolutionärer Umgestaltung beitrügen  –, verwandte Zieger keine derartig politisch und ideologisch aufgeladene Sprache. Für ihn war Holz in allererster Linie ein wichtiger Rohstoff, dessen Produktion unter der Rauchbeeinflussung litt. Dieser Konflikt zwischen Forstbesitzern auf der einen und Fabrikbetreibern auf der anderen Seite entstand so keineswegs in der DDR, son-

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dern war etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts Kerngegenstand der Tharandter Rauchschadenforschung. Neu war allerdings der mit der sozialistischen Planwirtschaft verbundene umfassende Zugriff der Politik auf die Wirtschaft. Zieger erkannte diese Realitäten und versuchte im Gespräch mit politischen Institutionen, neue Ansätze zu entwickeln. Dabei musste er allerdings die Erfahrung machen, dass die Belange der Forstwirtschaft weiterhin hinter den Interessen der Industrie zurückstanden. Es bürgerte sich eine Praxis ein, in der die Industriebetriebe Entschädigungsleistungen an die Waldbesitzer zahlten, ansonsten ihr Verhalten aber nicht änderten. Diese Praxis versuchte Zieger zu durchbrechen, indem er den Wert des Waldes über den ökonomischen Wert des Holzes hinaus betonte: Wald sei viel mehr als eine mit Bäumen bestandene Fläche, sondern auch ein elementarer Bestandteil des Wasserkreislaufes und zunehmend ein Ort der Erholung. Gegen Ende seines Lebens erweiterte er diese auf den Wald zugeschnittenen Argumente zu einer umfassenden Kritik an der Industrialisierungspolitik, die er mit einem mahnenden Ton versah. Wenn es der Politik nicht gelänge, den Konflikt zwischen der zunehmenden Industrialisierung und den Anforderungen des Umweltschutzes in einer Synthese aufzulösen, sei die Existenz der Menschheit in Gefahr. Auf eine derart drastische Ausdrucksweise verzichtete Däßler. Er brachte zudem keine wesentlichen neuen Argumente in die Diskussion mit ein. In seinen Denkschriften betonte er den bereits von Zieger angesprochenen Erholungseffekt stärker als dieser. Zieger bezog diesen Effekt noch stark auf stadtnahe Waldgebiete, in denen die Stadtbevölkerung an Wochenenden Erholung suchte. Ab 1960er Jahren waren dann primär die Waldgebiete im Erzgebirge betroffen, die die Grundlage für die gesamte Tourismusbranche der Region bildeten. Ganz grundsätzliche Argumente finden sich bei Däßler hingegen nicht mehr. Er wies zwar darauf hin, dass die Wälder im Erzgebirge ohne Entschwefelungsmaßnahmen wahrscheinlich großflächig absterben würden. Dieser Zustand sei aber nicht dauerhaft, und nach Auskohlung der böhmischen Reviere würden dort wieder Bäume wachsen. Reichelt bediente sich vor allem außenpolitischer Argumente. Im Zuge der Entspannungspolitik, die nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 in der Umweltpolitk ein Forum fand, konnte er seine Stellung innerhalb des Institutionengefüges der DDR verbessern. Während den Verhandlungen mit der ČSSR über die Luftbelastung im Erzgebirge überzeugte Reichelt die SED-Spitze davon, dass er die Tschechoslowakei nur zum Einbau von Entschwefelungsmaßnahmen bringen könne, wenn auch die DDR entsprechende Techniken einsetzen würde. In der Folge nahm die DDR Mitte der 1980er Jahre die ersten drei Anlagen auf ihrem Staatsgebiet in Betrieb. Als Mittag wegen des 30-Prozent-Ziels zögerte, machte Reichelt ihn darauf aufmerksam, dass sich die DDR mit dieser Haltung international isoliere und

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ihre Reputation bedrohe. Dieser Argumentation gab das Politbüro – auch unter dem Eindruck des sowjetischen Beispiels – nach. Da die DDR die entsprechenden Entschwefelungsanlagen nicht bauen konnte oder importieren wollte, verknüpfte sie diesen Beschluss mit strikten Geheimhaltungsvorschriften zu Umweltdaten. In Bezug auf die Waldschadensfläche konnte sich Reichelt mit seiner Forderung nach einer Veröffentlichung durchsetzen. Wieder hatte er auf das internationale Ansehen verwiesen. Mittels Fernerkundung seien die westlichen Staaten sehr gut über den Umfang der Schäden informiert, und eine Geheimhaltung schade mehr, als sie nütze. Die SED folgte dieser Argumentation auch deshalb, weil der Schadumfang niedriger lag als in der Bundesrepublik. Die kirchlichen Umweltgruppen, allen voran das Forschungsheim Wittenberg, entwickelten ihre Forderungen auf der Basis der christlichen Schöpfungsverantwortung. Darauf aufbauend argumentierten sie, die Umwelt sei  – bedingt durch neue Konsummuster – in einen kritischen Zustand geraten. Dieser Zustand könne nur durch Bescheidenheit und Verzicht überwunden werden. In politischer Konsequenz wäre eine Erhöhung sämtlicher Güterpreise nötig gewesen, vor allem für Wasser und Energie. Mit den zusätzlichen Einnahmen hätten dann Umweltschutzinvestitionen bezahlt werden können. Ein prominentes Beispiel dieser Haltung ist die Schrift Die Erde ist zu retten. Diese Sichtweise stand freilich den wachstumsbasierten Zukunftsversprechen der SED diametral gegenüber. Allerdings unternahm die Partei auch wenig, um gegen solche Überlegungen vorzugehen, solange die Gruppen darüber innerhalb der Kirchenmauern debattierten – vielleicht auch deshalb, weil sie wusste, dass diese Argumente der großen Mehrheit der Bevölkerung nicht zu vermitteln waren. 5. Fragekomplex  – Welche Rolle spielte die internationale Dimension in der DDR-Umweltgeschichte? Auch bei der Frage nach den internationalen Dimensionen ist zunächst nach der Rolle der Hauptexponenten der DDR-Umweltpolitik zu fragen. Bei Lingners Arbeiten spielte die internationale Dimension keine, bei jenen Ziegers kaum eine Rolle. Zieger konnte an den guten internationalen Ruf der Tharandter Rauchschadenforschung anknüpfen, und seine Ergebnisse in der Erforschung des Ferntransportes von Schwefeldioxid fanden im Ausland Beachtung. Generell kann in den 1950er Jahren noch von einer einheitlichen deutschen Rauch­ schadenforschung gesprochen werden. Die engen Beziehungen zwischen Zieger und Karl-Friedrich Wentzel können hier ebenso als Beleg dienen, wie die Beiträge ostdeutscher Wissenschaftler in westdeutschen Publikationsorganen. Ende der 1960er Jahre exisiterte diese Einheit nicht mehr, und Däßler arbeitete international vor allem mit Jan Materna, einem tschechoslowakischen Forstwissenschaftler, zusammen. Ein gewichtiger Grund für die Kooperation war die Grenzregion Erzgebirge, dessen Wälder unter den Emissionen beider

Fazit

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Länder litt. Die ostdeutsche Seite vertrat allerdings die Ansicht, unter den besonderen meteorologischen Bedingungen des Erzgebirges trüge die ČSSR die Hauptschuld. Während der Verhandlungen, die im Februar 1966 begannen und erst 1981 zum Abschluss eines Regierungsabkommens führten, kam den Tharandter Rauchschadenforschern dabei die Aufgabe zu, diese Sichtweise wissenschaftlich zu stützen. Die Gründung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft ergab sich aus einer Symbiose der innenpolitischen Reformansätze der Ul­bricht­ zeit und der außenpolitischen Darstellung von deren Ergebnissen. Die Anfang der 1970er Jahre noch um ihre endgültige internationale Anerkennung bemühte DDR wollte sich die umweltpoltische Hochkonjunktur um 1970 zu Nutze machen. Nachdem die DDR 1973 in die UNO aufgenommen worden war, verfolgte Honecker die außenpolitische Dimension der Umweltpolitik nicht weiter. Erst als die Probleme des Sauren Regens und des Waldsterbens auf die internationale Agenda drängten, konnte Reichelt die SED-Führung zu einer nominellen Ausweitung von umweltpolitischen Programmen drängen. Im Bereich der Forstwissenschaft unterblieb dagegen eine Übernahme von neuen Deutungsmustern der Waldschäden größtenteils. Zwar gab es 1984/85 den Ansatz, das westdeutsche Forschungsdesign zu übernehmen und die Waldschadensforschung auf eine breitere Grundlage zu stellen. An der grundsätzlichen Überzeugung, dass die Waldschäden des Erzgebirges auf hohen Schwefeldioxidkonzentrationen der Luft beruhten und nicht irreversibel seien, änderte dies jedoch nichts. Für die Kirchen spielte die internationale Dimension seit jeher eine große Rolle, und auf jeder Hierarchieebene bestanden enge Kontakte zwischen Ostund Westdeutschland. Auf diese Weise waren in der Kirche engagierte Personen besser mit Informationen versorgt als der Bevölkerungsschnitt. Anfang der 1980er Jahr wuchs dieser Personenkreis an, erst im Zuge der Friedensbewegung, dann auch in Folge der bundesdeutschen Waldsterbensdebatte. Die Umdeutung, die bei den Forstwissenschaftlern ausblieb, vollzogen Eingabenschreiber und Umweltaktivisten, indem sie die Waldschäden des Erzgebirges als »Waldsterben« benannten. Bei diesem Prozess waren die aus der ČSSR kommenden Geruchsemissionen von großer Bedeutung. Zum einen verknüpfte die ansässige Bevölkerung die Geruchsemissionen mit dem Zustand der Wälder. Zum anderen erlaubte die verbreitete Ansicht, die ČSSR trage die Schuld, der SED, sich teilweise aus der Verantwortung zu stehlen. Die bundesdeutsche Waldsterbensdebatte bildete für zahlreiche Menschen in der DDR den Anlass, sich in Gruppen zusammenzuschließen und sich für den Erhalt ihrer Umwelt zu engagieren. Thematisch entfernten sie sich zwar von Waldschäden bzw. stellten sich breiter auf, aber die Gründung der Umweltbibliothek in Ost-Berlin hat eine ihrer Wurzeln in der Waldsterbensdebatte. Die Umweltbibliothek bildet zudem ein Beispiel für die deutsch-deutschen Aus-

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tauschprozesse in der Umweltbewegung. Westliche Medien, bundesdeutsche Parteien – allen voran die GRÜNEN – und westliche Umweltgruppen waren für die Herausbildung und Festigung von Gegenexpertentum und Gegenöffentlichkeit wichtige Stützen. 6. Fragekomplex – Welchen Stellenwert hatte Umweltpolitik in der DDR? Lingner kannte den Begriff »Umweltschutz« nicht bzw. hätte möglicherweise etwas anderes darunter verstanden, als heute üblich ist. Mit seiner Landschaftsdiagnose verfolgte er jedoch das Ziel, das üblicherweise unter Umweltschutz subsumiert wird: die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage in einem funktionierenden Naturhaushalt. Worin sich Lingners Konzept vom modernen Empfinden unterscheidet, ist seine Bereitschaft zur radikalen Ausrichtung des Naturhaushaltes auf die Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft, so lange die Funktion dabei erhalten bleibt. Dieser Anthropozentrismus ist ein Kennzeichen der marxistischen Ideologie, der Lingner zunächst die Anschlussfähigkeit an die Führungsebene der SED sicherte. Bei der Staatlichen Plankommission war allerdings in den 1950er Jahren noch kein Problembewusstsein vorhanden. Auch Ziegers, auf Erkenntnissen der Rauchschadenforschung entwickelte, an manche hysterische Äußerungen im Westen erinnernde und auf das gesamte Zusammenspiel von Umwelt und Gesellschaft übertragene Warnungen, die verfolgte Standortpolitik gefährde möglicherweise die Existenz der Menschheit, führte aufseiten der Plankommission zu keiner Neuausrichtung der Politik. Erst Anfang der 1960er Jahre ist das NÖSPL als ernstzunehmender Ansatz zu werten, die Auswirkungen der Produktion auf die sie umgebende Umwelt zu verringern. Ulbricht erhoffte sich davon zweierlei. Auf der Inputseite sollte eine intensivere Nutzung der eingesetzten Rohstoffe erreicht werden, also mehr Energie aus weniger Kohle gewonnen oder weniger Stahl für mehr Maschinen verbraucht werden. Auf der Outputseite erhoffte er sich von der Intensivierung eine verringerte Abgabe von Abfall – im Deutsch der DDR Abprodukte genannt – in der Form von Abwasser, Luftschadstoffen oder Müll an die Umwelt. Das ferne Ziel der Zukunft war eine abproduktlose Kreislaufwirtschaft. Ulbricht wollte keine »Zähmung« der Wirtschaft, sondern ihre Entfesselung, er strebte ein langfristig stabiles Wirtschaftswachstum an, das er aber nur durch einen sparsamen Ressourceneinsatz zu erreichen sah. Die dabei implementierten Elemente wie die Bodennutzungsgebühr oder das Staub- und Abgasgeld können ebenso als Elemente einer ›sozialistisch-ökologischen Modernisierung‹ interpretiert werden wie der Versuch, über die »Wochen der sozialistischen Landeskultur« in der Bevölkerung Umweltwissen zu schaffen. In diese Richtung zielten auch die wachstumskritischen Überlegungen eines Hans Mottek an der AdW, der über eine Neubewertung von Wachstumsund Fortschrittsbegriffen nachdachte.

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Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker im Mai 1971 bedeutete den größten Bruch für die Umweltpolitik der DDR. Honecker wollte nicht die Programme seines Vorgängers fortführen, sondern über eine schuldenfinanzierte Angebotspolitik die Zufriedenheit der Menschen in der DDR erhöhen, und sie damit auch mit dem Sozialismus versöhnen. Honecker wählte sich die moderne Kategorie der materiellen Sicherheit als zentrale Legitimationsstütze. Bis zum Ende blieb in der DDR die Verfügbarkeit von Konsumgütern die zentrale Debatte der Gesellschaft und nicht die Verteilung von Risiken der »reflexiven Moderne«. Die SED bemühte sich auch darum, die Gesellschaft in diesem Stadium ›gefangen‹ zu halten, und wollte ein Anwachsen des gesellschaftlichen Problembewusstseins verhindern. Vor diesem Hintergrund sind die Einstellung der »Wochen der sozialistischen Landeskultur« und der Verschluss des jährlichen Umweltberichtes nach 1973 zu deuten. Die innovative Phase der DDR-Umweltpolitik, die 1968 begonnen hatte, war damit vorbei. Schuldenfinanzierte Konsumpolitik und Umweltschutzinvestitionen stehen in einem Zielkonflikt. Als Ende der 1970er Jahre deutlich wurde, dass es der SED nicht geglückt war, die Arbeitsproduktivität nennenswert zu steigern, und 1981 die UdSSR die Erdöllieferungen kürzte, besaß die DDR keinen finanziellen Spielraum mehr, die Ausrichtung ihrer Politik zu ändern, ohne einen Aufstand befürchten zu müssen. Nun war die SED auf ihrem 1971 eingeschlagenen Pfad gefangen. Die Kürzung der Öllieferungen ist dabei nicht als die Ursache der desaströsen Umweltbilanz der DDR zu sehen, sondern sie brachte die strukturellen Schwächen der sozialistischen Umweltpolitik Honecker’scher Prägung nur schneller und offenkundiger zum Vorschein.

Danksagung

Mein Name allein steht zwar auf dem Einband, doch hätte ohne die Unter­ stützung vieler Menschen dieses Buch niemals erscheinen können. Allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Franz-Josef Brüggemeier hat mir mit der Aufnahme in das DFG-Projekt »Grenzüberschreitendes Waldsterben« nicht nur die finanziellen Möglichkeiten gegeben, die vorliegende Arbeit anzugehen, sondern mit seiner Kritik und seinen wertvollen Anregungen zu ihrem Gelingen beigetragen. Neben dem persönlichen Gespräch war das Doktorandenkolloquium an seinem Freiburger Lehrstuhl für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte der Ort, um Konzepte und Ideen auszutauschen. Martin Bemmann, Peter Itzen, Birgit Metzger, Roland Schäfer und Laurent Schmit waren dabei treue Begleiter, die meinen Entwürfen stets neue Aspekte abgewinnen konnten. Sylvia Paletschek danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Dem Freiburger Institut für Forstökonomie und seinem Leiter Gerhard­ Oesten danke ich für die wunderbare Arbeitsatmosphäre. Trotz zahlreicher Renovierungsmaßnahmen und Umzüge bot sich mir ein immer mehr geschätztes Umfeld zum Lesen, Schreiben und Redigieren. Roderich von Detten, der stets ein offenes Ohr für Fragen und Probleme hatte, möchte ich an dieser Stelle besonders danken. Ohne die ausnahmslos freundliche Mithilfe zahlloser Archivmitarbeiter hätte ich diese Arbeit nicht zu Ende bringen können. Brigitte Freudenberg von der BStU und Jutta Wiese vom Archiv der TU Dresden möchte ich gesondert erwähnen, da sie mir auch nach meinen Besuchen unkompliziert manche Frage beantwortet haben. Auch dem Benutzerdienst des Bundesarchivs in BerlinLichterfelde, der nicht selten ›dringende‹ Aktenbestellungen auch nach Ablauf der Bestellfrist beschafft hat, gilt mein besonderer Dank. Gute Wissenschaft bedarf einer gesicherten Finanzierung. Dass ich mich dreieinhalb Jahre ohne finanzielle Sorgen meinem Forschungsprojekt widmen konnte, verdanke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Frei­ burger Waldsterbensprojekt gefördert hat, und der FAZIT-Stiftung, die mir in den letzten Monaten der Dissertation meinen Lebensunterhalt finanziert hat. Den Herausgebern der Reihe Umwelt und Gesellschaft, Christof Mauch und Helmuth Trischler, danke ich für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe sowie auch Frank U ­ ekötter für wertvolle Hinweise bei der Überarbeitung des Manuskriptes für die Drucklegung. Entschuldigen möchte ich mich bei all jenen, die zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben und sich nicht in dieser Liste wiederfinden. Die Erwähnung aller Menschen, die mir mit Rat und Tat zur Seite

Danksagung

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standen, mich mit Tipps und Hinweisen versorgt haben, würde den Umfang dieser Danksagung überschreiten. Am Ende danke ich meinen Eltern Walter und Christiana Huff, die mir mein Studium der Geschichte ermöglicht haben, das die Grundlage für diese Arbeit war. Der größte Dank geht an meine Familie. Meine Frau Claudia hat mit ihrer kritischen Geduld und ihrem tröstenden Zuspruch wesentlich zum Gelingen beigetragen. Mein Sohn Jonathan zeigte mir Tag für Tag mit Leichtigkeit, dass es noch Wichtigeres gibt. Mainz, im September 2014

Bildnachweis

Abbildung 1:

Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Karte 1:

Karte 2: Karte 3: Karte 4:

Kabinenversuch mit Aschegabe (UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 327, Institut für Pflanzenchemie, Einfluß von Exhalaten aus SalzkohleFeuerungsanlagen auf verschiedene Pflanzen, 2.  Teil. 1.2.1968, Schad­ symptome im Oktober 1967) Staubbelastung im Erzgebirge (UA der TUD, Fakultät für Forstwirtschaft 5494/15, Rauchschadenforschung im Osterzgebirge, Denkschrift vom 31.1.1964) Ikonographie Wetzels (Rudi Wetzel, Bedrohte Wälder, in: Urania – Wissen und Leben, Natur und Heimat 27, 1964, 657–661, 658–659) Publikationstätigkeit der Arbeitsgemeinschaft Forstliche Rauchschadenforschung (eigene Darstellung anhand der fortlaufenden Nummerierung der Publikationen) Zahl der Publikationen mit Bezug zu einem Schadgebieten im zeitlichen Vergleich (eigene Darstellung) Fördermenge an Rohbraunkohle in Tausend Tonnen in der DDR (eigene Darstellung anhand der Angaben aus den Statistischen Jahrbüchern der DDR) Rohholzeinschlag in den Wäldern der DDR pro Jahr, 1946–1988 (Eigene Darstellung anhand der Angaben aus den Statistischen Jahrbüchern der DDR) Eingaben an die Abteilung Umweltschutz des MUW (eigene Darstellung anhand der Angaben aus den Beständen der Abteilung Umweltschutz des MUW, Eingaben der Bevölkerung. BArch DK 5/68, 69, 70 und 72) Protestpostkarte des Friedens- und Umweltkreises Berlin-Lichterfelde 1984 (RHG_Fo_Hab_17949) Karte mit Farben (UA der TUD, Sekt 21 511, Bereich Pflanzenchemie, Abschlußbericht: Die forstliche Rauchschadensgroßraumdiagnose im Erzund Elbsandsteingebirge  – Zweitaufnahme 1977/80. 31.10.1980, Abb.  1 Schadzoneneinteilung 1965) Rauchschäden im Erzgebirge (SAPMO DY 30/1738 ZK der SED, Abteilung Landwirtschaft, Information zur Rauchschadenssituation in der DDR unter besonderer Berücksichtigung des »Oberen Erzgebirges«. 28.4.1977) Entwicklung der Schadzonen im Erzgebirge (BArch DK 1/28724 Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Rauchschäden in der Land- und Forstwirtschaft, Bericht vom 26.11.1980) Schadüberlagerung in den Südbezirken der DDR 1981 (BArch DC 20/I/4/ 4918 Präsidium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, B ­ eschluß zur Forstschutzsituation in den Wäldern der DDR)

Abkürzungen

a Jahr Abb. Abbildung ABF Arbeiter- und Bauernfakultät AdL Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR ADN Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst AdW Akademie der Wissenschaften der DDR, ab 1972 AG Arbeitsgruppe AKG Auswertungs- und Kontrollgruppe AOP Archivierter Operativer Vorgang AOPK Archivierte Operative Personenkontrolle Aufl. Auflage BArch Bundesarchiv Bd. Band BGB Bürgerliches Gesetzbuch BHI Bezirks-Hygiene-Inspektion BRD Bundesrepublik Deutschland BStU Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik BV Bezirksverwaltung oder Braunkohlenveredelung CDU Christlich Demokratische Union CO Kohlenmonoxid CO₂ Kohlendioxid ČSR Československá republika, dt. Tschechoslowakische Republik, 1945–1960 ČSSR Československá socialistická republika, dt. Tschechoslowakische Sozialistische Republik, 1960–1990 CSU Christlich Soziale Union in Bayern d. h. das heißt DAL Deutsche Akademie der Landwirtschaftswissenschaften DAW Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, bis 1972 DB Durchführungsbestimmung DBD Demokratische Bauernpartei Deutschlands DDn. Dresden DDR Deutsche Demokratische Republik DDT Dichlordiphenyltrichlorethan DEFA Deutsche Film AG DFF Deutscher Fernsehfunk Dipl.-Forsting. Diplom-Forstingenieur Diss. Dissertation DM Deutsche Mark der Deutschen Notenbank, 1948–1964 Dr. Doktor durchges. durchgesehen DVO Durchführungsverordnung ebd. ebenda ECE Economic Commission for Europe, dt. Wirtschaftskommission für Europa

430 EG EKB EMEP FAO

Abkürzungen

Europäische Gemeinschaft Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld European Monitoring and Evaluation Programme Food and Agriculture Organization of the United Nations, dt. Ernährungsund Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund FDJ Freie Deutsche Jugend Fm. Festmeter GBl. Gesetzblatt GDR German Democratic Republic GNU Gesellschaft für Natur und Umwelt H₂S Schwefelwasserstoff HA Hautptabteilung ha Hektar HBVO Verordnung über die Berufung und Stellung der Hochschullehrer HKW Heizkraftwerk Hrsg. Herausgeber HStA Hauptstaatsarchiv Dresden HU Humboldt-Universität HW Heizwerk IFE Institut für Forstwissenschaften Eberswalde IFM Initiative für Frieden und Menschenrechte IFT Institut für Forstwissenschaften Tharandt IG Interessengemeinschaft IKW Industriekraftwerk ILN Institut für Landschaftsforschung und Naturschutz Halle IM Inoffizieller Mitarbeiter IUFRO International Union of Forest Research Organizations, dt. Internationaler Verband Forstlicher Forschungsanstalten KB Kulturbund der DDR KD Kreisdienststelle KFH Kirchliches Forschungsheim Kfz Kraftfahrzeug km² Quadratkilometer KMSt. Karl-Marx-Stadt KPD Kommunistische Partei Deutschlands KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KSZE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kt Kilotonne KZ Konzentrationslager LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft M Mark der Deutschen Demokratischen Republik, 1968–1990 m³ Kubikmeter Mass. Massachusetts MD Meteorologischer Dienst der DDR MDN Mark der Deutschen Notenbank, 1964–1967 MfA Ministerium für Aufbau MfGe Ministerium für Gesundheitswesen MfP Ministerium für Planung MfS Ministerium für Staatssicherheit µg Mikrogramm

Abkürzungen

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mg Milligramm MIK Maximale Immissions-Konzentration Mio. Million MLF Ministerium für Land- und Forstwirtschaft MLFN Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft Mrd. Milliarde MUW Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft MVO Verordnung über die Wissenschaftlichen Mitarbeiter an Hochschulen Nachdr. Nachdruck NATO North Atlantic Treaty Organization NDPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NOX Stickoxide NS Nationalsozialismus NSB Neue soziale Bewegungen NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSW Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet NVA Nationale Volksarmee NÖSPL Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung O₃ Ozon o. J. ohne Jahr o. pag. ohne Paginierung ÖAK Dresden Ökologischer Arbeitskreis der drei Dresdner Kirchenbezirke OECD Organisation for Economic Co-operation and Development, dt. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OMR Obermedizinalrat OPK Operative Personenkontrolle ÖSS Ökonomisches System des Sozialismus OV Operativer Vorgang pag. Pagina PEMU Prognose- und Entscheidungsmodell Umweltschutz PMR Präsidium des Ministerrates der DDR RDA République Démocratique Allemande RGW Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe RHG Robert-Havemann-Gesellschaft RSZ Rauchschadenzone S. Seite SAPMO Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv SBZ Sowjetische Besatzungszone SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland SO₂ Schwefeldioxid SO₄ Sulfate SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPK Staatliche Plankommission StAC Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz StFB Staatlicher Forstwirtschaftsbetrieb StGB Strafgesetzbuch t Tonne TA Technische Anleitung TH Technische Hochschule

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Abkürzungen

TU Technische Universität TVA Tennessee Valley Authority TÜV Technischer Überwachungs-Verein u. a. und andere UA Universitätsarchiv UB Umweltbibliothek UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UN(O) United Nations (Organisation) UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, dt. Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur USA United States of America VbE Vollbeschäftigungseinheit VD Vertrauliche Dienstsache VEB Volkseigener Betrieb VEB FPP VEB Forstprojektierung Potsdam Vfm Vorratsfestmeter vgl. vergleiche VGW Valutagegenwert VM Valutamark VR Volksrepublik VRP Volksrepublik Polen WHO World Health Organization, dt. Weltgesundheitsorganisation ZAIG Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe ZK Zentralkomitee ZUG Zentrum für Umweltgestaltung

Verzeichnis der verwendeten Quellen und der Literatur

Archivbestände Archiv der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) MfS Ministerium für Staatssicherheit Akten der HA II (Spionageabwehr), VII (Beobachtung/Ermittlung), IX (Untersuchungsorgane), XVIII (Volkswirtschaft), XX (Staatsapparat, Kirche, Kunst, Kultur, Opposition), XXII (Terrorabwehr) und der ZAIG (Zentrale Auswertungs- und Kontrollgruppe) BV DDn. Bezirksverwaltung Dresden BV KMSt. Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt BV Suhl Bezirksverwaltung Suhl

Archiv der Technischen Universität Dresden (UA der TUD) Fakultät für Forstwirtschaft Sektion Forstwirtschaft (Sekt 21)

Bundesarchiv Berlin (BArch) DC 20 DE 1 DF 4 DH 1 DH 2 DK 1 DK 5 DK 107 DQ 1

Ministerrat der DDR Staatliche Plankommission Ministerium für Wissenschaft und Technik Ministerium für Aufbau Bauakademie der DDR Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft Akademie der Landwirtschaftswissenschaften Ministerium für Gesundheitswesen

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) DY 34 FDGB DY 30 SED Abteilung Grundstoffindustrie im ZK der SED, Abteilung Landwirtschaft im ZK der SED, Büro Felfe, Büro Grüneberg, Büro Krolikowksi, Büro Mittag, Politbüro des ZK der SED, Sekretariat des ZK der SED, Zentralkomitee der SED

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Verzeichnis der verwendeten Quellen und der Literatur

Hauptstaatsarchiv Dresden (HStA Dresden) 11452 12485

Bezirkshygieneinspektion Dresden mit Außenstelle Bautzen und Vorgänger Kulturbund der DDR, Bezirksleitung Dresden

Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStA Düsseldorf) NW 4555/00717 Nationaler Bericht der Deutschen Demokratischen Republik für die UNO-Konferenz über menschliche Umweltbedingungen Stockholm 1972

Robert-Havemann-Gesellschaft (RHG) GHG/KFH 52 Gilsenbach, Reimar, Karl Marx über die Ethik des menschlichen Verhaltens zur Natur, Vortrag auf dem Karl-Marx-Kolloquium der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR am 23. März 1983 in Karl-Marx-Stadt Fotoarchiv

Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz (StAC) 33209

Staatlicher Forstwirtschaftsbetrieb Eibenstock, 1946–1991

Übersicht über die Gespräche mit Zeitzeugen Caspar, Rolf Däßler, Hans-Günther Franck, Hannelore Gensichen, Hans-Peter Göschel, Eberhard Jordan, Karl-Heinz (Carlo) Lippmann, Günter Lux, Herbert Mende, Dietmar Möller, Jes Albert Pelz, Eberhart Pfeiffer, Gerhard (Gerd) Reichelt, Hans Schicketanz, Michael Thomasius, Harald Wentzel, Karl-Friedrich Wienhaus, Otto Wötzel, Herbert

8. März 2010 in Potsdam 29. September 2010 in Tharandt 22. Oktober 2009 in Dresden 9. Februar 2010 in Tübingen 23. Oktober 2009 in Dresden 23. September 2009, Telefonat 27. April 2010 in Friedrichswalde 13. Oktober 2009 in Tharandt 25. Oktober 2009 in Neuhausen/Erzgebirge 28. April 2010 in Berlin 28. September 2010 in Dresden 14. September 2011 in Wittenberg 12. April 2010 in Schöneiche bei Berlin 9. Oktober 2009 in Zahna 13. Oktober 2009 in Tharandt 17. Februar 2010 in Wiesbaden 29. September 2010 in Tharandt 12. September 2011 in Berlin

Gesetze und Verordnungen  

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Gesetze und Verordnungen Der Bundesminister für Gesundheitswesen, Allgemeine Verwaltungsvorschriften über Genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 16 der Gewerbeordnung (Technische Anleitung Luft), 8.9.1964, in: GMBl. 26, 433. Der Vorsitzende des Landwirtschaftsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Erste Durchführungsbestimmung zur Bodennutzungsverordnung  – Ausgleich der Wirtschaftserschwernisse –, 28.5.1968, in: Gbl. DDR II 56, 295–305. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Verordnung zum Schutz der Feldgehölze und Hecken, 29.10.1953, in Gbl. DDR 118, 1105. Minister für Gesundheitswesen, Anordnung zur Begrenzung und Ermittlung von Luftverunreinigungen (Immissionen), 28.6.1968, in: Gbl. DDR II 80, 640–642. –, Erste Durchführungsbestimmung zur Fünften Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz – Reinhaltung der Luft – Begrenzung und Überwachung der Immissionen und Emissionen (Luftverunreinigungen), 13.4.1973, in: Gbl. DDR I 18, 162–172. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Bekanntmachung des Beschlusses des Ministerrates über die wichtigsten Aufgaben im Bauwesen, 21.4.1955, in Gbl. DDR 26, 297–312. –, Fünfte Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz  – Reinhaltung der Luft  –. 5. DVO, 17.1.1973, in: Gbl. DDR I 18, 157–162. –, Verordnung über die akademischen Grade, 6.11.1968, in: Gbl. DDR II 127, 1022–1026. –, Verordnung über die Berufung und die Stellung der Hochschullehrer an den wissenschaftlichen Hochschulen. HBVO, 6.11.1968, in: Gbl. DDR II 127, 997–1007. –, Verordnung über die durchgängige 5-Tage-Arbeitswoche und die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit bei gleichzeitiger Neuregelung der Arbeitszeit in einigen Wochen mit Feiertagen, 3.5.1967, in: Gbl. DDR II 38, 237–241. –, Verordnung über die Einführung einer Bodennutzungsgebühr zum Schutz des land- und forstwirtschaftlichen Bodenfonds – Verordnung über Bodennutzungsgebühr –, 15.6.1967, in: Gbl. DDR II 71, 487–493. –, Verordnung über die wissenschaftlichen Mitarbeiter an den wissenschaftlichen Hochschulen – Mitarbeiterverordnung. MVO, 6.11.1968, in Gbl. DDR II 127, 1007–1013. –, Verordnung zum Schutz des land- und forstwirtschaftlichen Grund und Bodens und zur Sicherung der sozialistischen Bodennutzung – Bodennutzungsverordnung –, 17.12.1964, in: Gbl. DDR II 32, 233–238. Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik, Die Weiterführung der 3.  Hochschul­ reform und die Entwicklung des Hochschulwesens bis 1975, 3.4.1969, in: Gbl. DDR I 3, 5–19. –, Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Planung und Leitung der Volkswirtschaft durch den Ministerrat, 11.2.1963, in Gbl. DDR I 1, 1–4. Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, 25.2.1965, in: Gbl. DDR I 6, 83–106. –, Gesetz über die planmäßige Gestaltung der sozialistischen Landeskultur in der Deutschen Demokratischen Republik, Landeskulturgesetz, 14.5.1970, in: Gbl. DDR I 12, 67–74.

436

Verzeichnis der verwendeten Quellen und der Literatur

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Gedruckte Quellen und Sekundärliteratur  

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Verzeichnis der verwendeten Quellen und der Literatur

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Verzeichnis der verwendeten Quellen und der Literatur

Wentker, Hermann, Zwischen Unterstützung und Ablehnung der sowjetischen Linie. Die DDR, der Doppelbeschluss und die Nachrüstung, in: Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. München 2011, 137–154. Wentzel, Karl Friedrich, Vorwort des Gastschriftleiters. Luftverunreinigung – Gefahr für die belebte Welt, in: Allgemeine Forstzeitschrift 13, 1958, 597–598. Wettestad, Jørgen, The ECE Convention on Long-Range Transboundary Air Pollution. From Common Cuts to Critical Loads, in: Steinar Andresen, Tora, Skodvin, Aril Underdal,­ Jørgen Wettestad (Hrsg.), Science and Politics in International Environmental Regimes. Manchester 2000, 95–121. Wetzel, Rudi, Bedrohte Wälder, in: Urania – Wissen und Leben, Natur und Heimat 27, 1964, 657–661. Weyer, Johannes, Techniksoziologie. Genese, Gestaltung und Steuerung sozio-technischer Systeme. Weinheim 2008. Widera, Thomas, Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im Spannungsfeld der SED-Politik 1964–1989. Göttingen 2004. Wieczorek, Hans-Henry, Umweltschäden in der DDR. Dargestellt an einer Analyse von Bekämpfungsaktionen gegen den Forstschädling Nonne (Lymantria monacha L.) in den Jahren 1980 bis 1984. Berlin 1992. Wiedemann, Kurt, Die Landschaft als Faktor der Planung, in: Deutsche Bauakademie (Hrsg.), Landschaft und Planung. Berlin (Ost) 1959, 47–67. Wienhaus, Otto/Däßler, Hans-Günther, 140 Jahre Immissionsforschung am Institut für Pflanzenchemie und Holzchemie in Tharandt, in: Staub – Reinhaltung der Luft 51, 1991, 461–466. Wierling, Dorothee, How Do the 1929ers and the 1949 Differ?, in: Mary Fulbrook (Hrsg.), Power and Society in the GDR, 1961–1979. New York 2009, 204–219. Windhoff-Héritier, Adrienne, Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung. Opladen 1993. Winkler, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990. München 2000. Wolff, Franca, Glasnost erst kurz vor Sendeschluss. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens (1985–1989/90). Köln 2002. Wolle, Stefan, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. 2., durchges. Aufl. Bonn 1999. Wörterbuch der Ökonomie – Sozialismus. Berlin (Ost) 1973. Wübbe, Irmela, Landschaftsplanung in der DDR, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung (Hrsg.), Landschaft und Planung in den neuen Bundesländern. Berlin 1999, 33–56. Würth, Gerhard, Umweltschutz und Umweltzerstörung in der DDR. Frankfurt u. a. 1985. Zatlin, Jonathan R., Ausgaben und Eingaben. Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 45, 1997, 902–917. Zentraler Runder Tisch der DDR, Information zu den Ursachen der bisherigen Nicht-Umweltpolitik der DDR. Information Nr. 10/8, in: Arnim Bechmann (Hrsg.), Umweltpolitik in der DDR. Berlin 1991, 87–89. Zieger, Erich, Das Ulmensterben, in: Der Wald 2, 1952, 21–26. –, Die Wirkung der Industrie-Rauchschäden auf den Wald, ihre Berücksichtigung bei der Raumplanung und die Notwendigkeit ihrer gesetzlichen Regelung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 6, 1956/57, 777–787. –, Die gesetzliche Regelung forstlicher Rauchschäden im In- und Ausland, in: Forst und Jagd 7, 1957, 369–371. –, Die heutige Bedeutung der Industrie-Rauchschäden für den Wald. Vortrag gehalten zum dies academicus in Tharandt am 19. November 1954, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 4, 1954/55, 499–505.

Gedruckte Quellen und Sekundärliteratur  

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–, Ein neues Verfahren der Borkenkäferbekämpfung, in: Forstwirtschaft – Holzwirtschaft 1, 1947, 225–228. –, Ermittlung von Bestandsmassen aus Flugbildern mit Hilfe des Hugershoff-Heydeschen Autokartographen. Leipzig 1928. –, Probleme der Diagnose und Therapie von SO₂-Schäden im Walde. Vortrag aus dem Nachlaß von Prof. Dr. phil E. Zieger. Für die Veröffentlichung bearbeitet von Dipl.-Forsting. E. Pelz, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 10, 1961, 547–552. –, Rauchschäden im Walde, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 3, 1953/54, 271–280. –, Ursachen, Erkennung und Bekämpfung von Industrie-Rauchschäden im Walde, in: Energietechnik 8, 1958, 487–490. Ziemer, Klaus, Sozialistische Systeme. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. München u. a. 1986. Zutz, Axel, Otto Rindt. Landschaftsgestaltung in Sachsen-Anhalt nach 1945, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung (Hrsg.), Landschaft und Planung in den neuen Bundesländern. Berlin 1999, 185–220.

Personenregister

A Andersen, Arne  153 Anders, Kenneth  138, 277 Anderson, Edith  337 Andropow, Juri  245 Apel, Erich  135 Ash, Mitchell  72, 148 Auersch, Otto  94 Axen, Hermann  247, 378 Ay, Otto  159 B Bahro, Rudolf  323, 367, 418 Barth, Roland  301 Bastian, Gert  360 Bastian, Uwe  326 Bauch, Werner  56 Bauer  54 Bavendamm, Werner  70 Becher, Johannes R.  47 Becker, Ernst  325 f. Beck, Ulrich  24 f., 92, 199 Behrens, Hermann  13, 38, 61, 65 Beleites, Michael  393 Bemmann, Martin  68, 85, 102, 275, 278, 298 Berg, Michael v.  172 Bickhardt, Stephan  18 Binswanger, Hans Christoph  42 Biraghi, Antonio  85 Birthler, Marianne  362 Blackbourn, David  48, 52 Bloßfeld, Otto  107 Böer, Wolfgang  225 Bohley, Bärbel  321, 361 Bohring, Günter  397 Boie, Werner  84, 93 f. Börtitz, Siegfried  123, 145 Brand  94 Brandt, Willy  152, 258 Bransch, Günter  340 Breithaupt, Gerhard  159 Breschnew, Leonid  236, 255 f., 408 Brinksmeier, Burghard  350 Brüggemeier, Franz-Josef  153, 278, 338

Brundtland, Gro Harlem  237 Busch-Lüty, Christiane  39 Bush, Vannevar  51 C Carl, Frank Erich  55, 57, 87, 94 Caspar, Rolf  383, 394–396 Choi, Sung-Wan  350 f., 353, 362, 371 f. Cotta, Johann Heinrich  67, 99 D Dale, Gareth  350 Däßler, Hans-Günther  35, 72, 105 f., 108– 110, 112–114, 116–120, 123–132, 134–136, 141, 145–150, 160, 162, 164 f., 178, 216, 226, 241, 255, 274, 280, 291, 297 f., 378, 409, 414–416, 418 f., 421 f. Dathe, Heinrich  390 Detten, Roderich v.  19 Diamond, Jared  8 Dick, Alfred  289 Dix, Andreas  61 Dörfler, Ernst Paul  377 Dupuy, Michel  15 f., 38, 76 E Eckert, Astrid M.  8 Ehlers, Martin  56 Eisenfeld, Bernd  317 f. Eisler, Hanns  347 Enderlein, Horst  99, 116 f., 119, 255, 274 Engels, Friedrich  39–42 Engels, Jens Ivo  15, 50 Eppelmann, Rainer  320, 334, 379 Ewald, Georg  118, 178 Ewert, Eberhard  123 F Falcke, Heino  320 Farthmann, Friedhelm  289 Fehr, Helmut  188 Felfe, Werner  34, 188, 210, 213, 216, 247, 260 f., 285–288, 294, 296, 300, 305 f., 326 f., 333, 393, 413

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Personenregister Fichtner, Lothar  185 Fiedler, Hans-Joachim  112 Fischer, Friedrich  111–113, 117–119 Flach, E.  58, 121 Fleck, Ludwik  150 Flemming, Günther  121 f., 127, 132, 140 Frei, Norbert  11 Freytag, Nils  7 Fricke, Karl Wilhelm  370 Fuchs, Jürgen  382 Fulbrook, Mary  43, 192, 351 Füllenbach, Josef  158 G Gabler, Charlotte  378 Gaus, Günter  28 Gehlert, Siegfried  227 Gelbrich, Helmut  55, 65 Genscher, Hans-Dietrich  170 Gensichen, Hans-Peter  36, 254, 313 f., 316, 322–324, 326–332, 334–336, 371, 377 f., 380, 393, 409, 416 f. Gerhards, Jürgen  29 f., 190, 336, 342 Gerlach, Constantin  81 Gestwa, Klaus  48 Gilsenbach, Reimar  396 Goldenbaum, Ernst  179 Gorbatschow, Michael  255 Göritz, Hermann  56 Göschel, Eberhard  7, 343, 346 f., 350 Graf, Rüdiger  26 Grauer, Christian  340 Grotewohl, Otto  61 Grüneberg, Gerhard  118 f., 126, 136, 160, 179, 285 Günther, Anton  309 Günther, Ruth  58 Günther, Thomas  368 Gutzeit, Martin  18 H Hager, Kurt  190, 201, 208, 396 Halbrock, Christian  355, 381 Hannigan, John A.  117 Haritonow, Alexandr  69 Hasenöhrl, Ute  171 Hauff, Volker  289 Havemann, Robert  320, 418 Heger, Anton  70 f. Hegewald, Helmar  392, 397 Heidrich, Horst  117, 160

Hengst, Eberhard  109–113 Henkel  159 Hensel, Karitas  360, 372, 374 Hentschel, Anna  341 f. Hentschel, Gerhard  82, 88, 94 Herbert, Ulrich  11 Herrmann, Frank  245 f. Herrmann, Günter  121 f. Herrmann, Joachim  188, 247 Herzog, Gerhard  128 Hirsch, Ralf  358, 361 Hoffmann, Dierk  61 Hollitscher, Walter  384 Holzberger, Rudi  278 Holzweißig, Gunter  32 Honecker, Erich  7, 15, 17, 35, 146, 152, 166 f., 176, 181–183, 186–195, 199, 202, 216 f., 224, 228 f., 245, 247–251, 253, 256, 260 f., 272, 285–287, 300, 304 f., 315, 327, 378, 384, 398, 402, 405 f., 408, 414, 416, 419, 423, 425 Horn, Karlwilhelm  129 Hornsmann, Erich  152 Hugershoff, Reinhard  72 Hünemörder, Kai F.  13, 100 I Inglehart, Ronald  24 f., 412 J Jahn, Roland  356, 367, 372 f., 382, 410 Jahn, Sabine  368 Jarausch, Konrad Hugo  28, 352 Jentsch, Johannes  70 Jesse, Eckart  20 Jessen, Ralph  69 f., 113, 147 Jordan, Carlo  25, 355, 371, 374, 376 f., 380 K Keller, Theodor  148 Kelly, Petra  360 Kerling, Alice  46 Kienitz, Erwin  71, 74 Kiesler, Bruno  12, 231, 286 Kirsten, Rüdiger  65 Klaus, Reinhard  374 f. Kleinert, Rudolf  109 f. Kleinschmidt, Hans  322 Kleinschmidt, Otto  314, 322 Klein, Thomas  372 Kloepfer, Michael  172, 386

468 Klokočka, Vladimír  361 Knabe, Hubertus  14, 32, 38 f., 191, 327, 335, 342, 350, 368, 412 Knabe, Wilhelm  53, 149, 357, 360, 372, 378 f. Knoth, Nikola  38 Kocka, Jürgen  28 Kohl, Helmut  277 Kolbig, Joachim  228, 240 f. Kollwitz, Käthe  46 König, Heinz  78 Kosing, Alfred  201 Kowalczuk, Ilko-Sascha  22, 32, 368 Krajčir  225 Krause, Felix  375 Krause, Joachim  377, 381, 418 Krauß, Gustav  78 Krolikowski, Werner  179, 349 Krüger, Erich  87 Krug, Manfred  155 Kuhn, Vollrad  373 Kuhrig, Heinz  231, 285, 327 Kumichel, Wilhelm  112–114 Kurth, Horst  393, 397 Kutter, Dorothea  331, 343–345 L Laak, Dirk van  48 Lampadius, Felix  115, 119, 121 Lampe  88 Lehmann, Edgar  202 Lehmann, Hanns  53, 63, 65 Leucht, Kurt W.  62 f. Leuschner, Bruno  62 Levy, Marc  242 Liebold, Hans-Eitel  145 Lietz, Bruno  260–262, 285, 287 f., 290, 301, 303, 306, 413 Lingner, Reinhold  35, 37–39, 44–67, 72, 76, 82, 86–91, 93, 96 f., 102–104, 146, 156, 158, 161, 172, 174, 200, 241, 255, 325, 375, 396, 414 f., 417 f., 420, 422, 424 Linz, Gerda  56, 58 Lippmann, Günter  347–350 Lohs, Karlheinz  202 Löther, Rolf  202 Lütke, Alfred  260 Lux, Herbert  119, 132, 140, 145, 150, 160, 162 M Maier, Harry  202, 205 Mann, Heinrich  47

Personenregister Maron, Monika  367 Marx, Karl  39–43, 64, 158 Mayer, Roland  109, 111, 114 Mecklinger, Ludwig  185 Mende, Dietmar  222, 348 Merkel, Ina  195 Mette, Hans-Joachim  107, 112, 228 Meuschel, Sigrid  27, 151 Meusel, Hermann  94, 125, 159, 200 f. Meyen, Michael  322, 367 Midell, Matthias  143 Mielke, Erich  222, 227, 341, 378 Mittag, Günter  14, 21, 23, 34, 135, 179–182, 186, 217, 225, 228 f., 242, 246–249, 260, 265, 269, 272, 288, 291, 306, 355, 378, 400–403, 413, 419, 421 Moldenhauer, Max  71 Möller, Jes Albert  338–340 Mothes, Jörn  337 f., 367 Mottek, Hans  202, 207 f., 322 f., 424 Mühlberg, Felix  307 Mühlen, Patrick von zur  353, 358, 370 Müller, Alfred  71–73 Müller, Edda  262, 335, 384 Müller, Gottfried  111, 365 Muschler, Christine  378 N Naumann, Konrad  188 Neidhardt, Friedhelm  29 f., 190, 336, 342 Nelson, Arvid  256 Neubert, Ehrhart  18, 314, 320, 368, 370, 390 Neumann, Ulrich  373 f., 377, 383 Neutsch, Erik  154 f. Nick, Harry  201, 203, 205 f. Niederhut, Jens  120 Noelle-Neumann, Elisabeth  29, 321 Nowak, Kerstin  38, 46, 65 O Oberkrome, Willi  38, 41, 51, 65 Ortmann, Frank  340 P Palmowski, Jan  386 Parak, Michael  70 Pasternack, Peer  352 Paucke, Horst  206, 419 Paul, Frithjof  112 Pehnert, Horst  349

Personenregister Pelz, Eberhart  79–83, 85, 93, 99, 101, 103, 106, 110, 112, 115 f., 119, 125, 127 f., 132, 148, 165, 274 Pertl, Josef  46 Pfeiffer, Gerhard  323, 330–333, 378, 381 Pichl, Peter  196 Pick, Wilhelm  61 Piesnack, Joachim  297, 348 Pisternik, Alois  57 Plachy, Erwin  93 Pleiß, Hermann  94 Pniower, Georg Bela  52 f., 63–65, 103, 160 Pollack, Detlef  18, 27 f., 32 Poppe, Gerd  33, 350, 358 Poppe, Ulrike  321, 358 Prell, Heinrich  70 Preuß, Gunter  155 Priemel, Kim Christian  26 Prittwitz, Volker v.  25, 114, 251, 412, 414 Probst, Lothar  350 Purfürst  292 f. R Radkau, Joachim  14, 35, 95 Raestrup, Reiner  188, 384 Ranft, Horst  119, 145 Reichelt, Hans  20, 35, 92–94, 96, 100, ­116–119, 135, 146, 166, 169, 176–183, 185 f., 192, 219, 225, 228 f., 231–235, 238–243, 245–249, 252, 260 f., 263–267, 269, 272, 285, 288–291, 297 f., 301, 303, 306, 308, 327, 355, 374, 378, 384 f., 388, 400–403, 413, 416, 419, 421–423 Reuß, Carl  68 Reuter, Friedrich  145 Rindt, Otto  56, 66 Roesler, Jörg  15, 182 Rüddenklau, Wolfgang  356 f., 359 f., 371 Russakow, Konstantin  408 Rüthnick, Rudolf  223, 228, 302, 310, 312, 378 S Sachße, Hans  70 Scamoni, Alexis  159 Schäfer, Albert  59 Schäfer, Roland  278 Schicketanz, Michael  332 Schicketanz, Peter  318 Schindler, Herbert  202 Schippel, Heinrich  71 Schlegel, Bert  359

469 Schmidt, Helmut  277 Schmit, Laurent  278 Scholz, Paul  169, 178 Schönbach, Hans  106 Schönherr, Albrecht  315 Schretzenmayr, Martin  112 Schroeder, Julius v.  68, 108 Schroeder, Klaus  353 Schütt, Peter  276, 378 Schwab, Günther  153 Schwartau, Cord  14 Seidel, Egon  348 Seidemann, Joachim  94 Seifert, Alwin  47 Sellin, Peter  360 Semmelmann, Helmut  285, 288, 296 Simon, Hans  356, 365 Simon, Helmut  360 Sommer, Theo  304 Sonnemann, Rolf  71 Stather, Fritz  74 Stegmann, Leo  57 f. Steiner, André  152 f. Stein, Gottfried  119, 145 Stöckhardt, Julius Adolph  67 f., 108 Stoltzfus, Nathan  18 Stoph, Willi  192, 231, 247, 309, 378, 386, 406 Storandt, Kurt  226 Stratmann, Heinrich  291 Strauß, Franz Josef  253, 289 Stubbe, Hans  94 f., 116–118 Supka, Ladislav  228 f., 232 f. T Templin, Wolfgang  358, 361 Theodor, Helmut  228 Thomas, Gerhard  365 Thomasius, Harald  142, 297, 389, 397 Thoms, Guido  233, 244 Timm, Gerhard  14 Titel, Werner  169 f., 174–176, 178 f., 204, 416 Tschernenko, Konstantin  245 U Uekötter, Frank  8, 26, 138, 152, 157, 254, 277, 418 Ulbricht, Walter  10, 17, 35, 47, 62, 134, 141, 151 f., 164, 167–169, 174–176, 181 f., 186–188, 190, 192, 195, 250 f., 253, 305, 384, 414, 419, 424 f.

470 Ulrich, Bernhard  276, 298 Ungewitter, Rudolf  56, 58 V Vierhaus, Hans-Peter  181 Vogel, Hans-Jochen  379 Vogl, Michael  120 Vogt, William  51 Voß, Nikolaus  337 f. W Wagenknecht, Egon  159 Wambutt, Horst  179, 231, 238, 264, 306 Warnke, Hans  55 f., 58 Weber, Hermann  399 Wehler, Hans-Ulrich  12, 255 Weigel, Hansjörg  318 Weißhuhn, Reinhard  379 Welsh, Helga  352 Wensierski, Peter  350, 367, 373 Wentzel, Karl Friedrich  80, 85, 98, 102, 115 f., 119, 148, 275, 378, 422 Wetzel, Rudi  128–130, 155 Weyer, Thomas  188

Personenregister Wieczorek, Hans-Henry  283 Wiedemann, Kurt  63 Wienhaus, Heinrich  70, 72, 79, 87, 108 f. Wiepking-Jürgensmann, Heinrich Friedrich  47 Wierling, Dorothee  107, 351 Winterstein, Peter  372 Wislicenus, Hans  68 f., 76 f., 84, 87, 93, 108 Wobst, Alfred  70 Wolf, Gert  348 Wollenberger, Vera  362 Wolle, Stefan  307 Wötzel, Herbert  282, 294, 296, 301, 349 Wübbe, Irmela  65 Z Zatlin, Jonathan R.  311 Zieger, Erich  35, 37 f., 66 f., 72–110, 112, 115–119, 122, 124–128, 135–137, 145– 148, 156, 160, 164, 178, 241, 255, 258, 274 f., 404, 414 f., 417 f., 420–422, 424 Ziemer, Klaus  361 Zimmermann, Falk  373 f. Zimmermann, Friedrich  289

Natur und Industrie im Sozialismus Eine Umweltgeschichte der DDR

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.

vorgelegt von Tobias Huff aus Mainz

WS 2011/12

Titel der eingereichten Dissertationsschrift: »Hinter vorgehaltener Hand«. Debatten über Wald und Umwelt in der DDR Erstgutachter: Prof. Dr. Franz Josef Brüggemeier Zweitgutachterin: Prof. Dr. Sylvia Paletschek Vorsitzender des Promotionsausschusses der Gemeinsamen Kommission der Philologischen, Philosophischen und Wirtschaftsund Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander Datum der Disputation: 26.07.2012