Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch: Zulassungsverfahren und die Aushandlung von Geschichtskultur in Bayern ab 1949 bis in die 1970er Jahre [1 ed.] 9783737012874, 9783847112877


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German Pages [397] Year 2021

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Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch: Zulassungsverfahren und die Aushandlung von Geschichtskultur in Bayern ab 1949 bis in die 1970er Jahre [1 ed.]
 9783737012874, 9783847112877

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Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik

Band 25

Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand: Michele Barricelli, Martin Lücke, Monika Fenn, Markus Bernhardt und Christine Gundermann

Benjamin Reiter

Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch Zulassungsverfahren und die Aushandlung von Geschichtskultur in Bayern ab 1949 bis in die 1970er Jahre

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert durch die Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V. Die dieser Dissertationsschrift zugrundeliegende Forschung wurde im Rahmen der gemeinsamen »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1615 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor. Dissertationsschrift, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 2019. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Historische Schulgeschichtsbücher. Foto: B. Reiter. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-1287-4

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Entwicklung und Struktur der Zulassungsverfahren . . . . . . . . . 2.1. Rahmenbedingungen: Geschichtslehrpläne und Richtlinien . . 2.2. Äußere Struktur der Zulassungsverfahren: Die Institution . . . 2.3. Innere Struktur der Zulassungsverfahren: Die Akteure . . . . . 2.3.1. Auswahl der Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Sachverständigentypen und Interessengruppen . . . . . 2.3.3. Externalisierung argumentativer Macht? Sachverständige als Experten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Verlagsstrategien im Prüfverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Zusammenführung I: Zulassungsverfahren als geschichtspolitisches Instrument des Bayerischen Kultusministeriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Forschungsgegenstand und Erkenntnispotential 1.2. Theoretische Verortung . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Quellenkorpus und methodisches Vorgehen . . 1.4. Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Inhalte aushandeln. Geschichte des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Weimars Ende: Wer hat Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Schulbuchanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. »Wer war dieser Hitler?« Zwischen Psychologisierung und Historisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Schulbuchanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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4. Zusammenführung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Zulassungsverfahren als geschichtskultureller Hegemonieapparat . 4.2. Ergebnisdiskussion und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2.2. Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. »Hitler und die Juden«. Verortung und Gewichtung des Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Schulbuchanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Verblendet oder überzeugt? Bevölkerung und ›Drittes Reich‹ 3.4.1. Schulbuchanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Opfer? Bevölkerung, Hitler und der Zweite Weltkrieg . . . . 3.5.1. Schulbuchanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2. Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Zusammenführung II: Antitotalitäre und hitlerzentrierte Geschichtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Warum Hitler? Fachliche Überzeugungen in den Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Nervosität lag wie dicke Luft im Raum, als der Bescheid des Kultusministeriums über die Zulassung eines neuen Lehrwerks für Geschichte den C.C. Buchner Verlag erreichte, in dem ich 2014/15 arbeitete. Redaktion, Lektorat, Autorinnen und Autoren, die Werbeabteilung, der Außendienst etc. arbeiteten seit Monaten darauf hin, dieses Nadelöhr zu passieren. Zudem gab es im Verlag die Sorge, dass manche der adressierten Lehrkräfte – die eigentlichen Käuferinnen und Käufer also – noch Berührungsängste mit dem neuen Lehrplan haben. Ein ums andere Mal wurde im Herstellungsprozess diskutiert, ob die verschiedenen Interessen in Gestaltung und Inhalt des Lehrwerks aufgefangen wurden. Die Widersprüche erzeugten überlagernde Spannungsfelder in der redaktionellen Arbeit, die durch didaktische, inhaltliche und ästhetische Entscheidungen während der Produktion im veröffentlichten Lehrwerk aufgehoben wurden. In der Reflexion dieser Erfahrung wurde mir deutlich, dass dieser Produktionsprozess in der Geschichtsdidaktik kaum beachtet und analysiert und dementsprechend begleitet wird. Das Anliegen, den Produktionsprozess von Schulgeschichtsbüchern vor dem Hintergrund wirtschaftlicher, didaktischer und politischer Interessen zu analysieren, war geboren. Ich danke der damaligen Redaktion Geschichte des C.C. Buchner Verlags für die vielen Einsichten und insbesondere dem damaligen Chefredakteur KlausDieter Hein-Mooren für die initiierenden Literaturempfehlungen. Sie zeigten mir das meiner Dissertation zugrundeliegende Forschungsdesiderat auf. Für das Vertrauen, meine Forschung über die Jahre hinweg zu finanzieren und in einen größeren Forschungsverbund einzubinden, danke ich Professorin Anette Scheunpflug sowie Professorin Barbara Drechsel, den Sprecherinnen des vom BMBF geförderten Projekts WegE – wegweisende Lehrerbildung an der Universität Bamberg. Insbesondere die interdisziplinäre Ausrichtung des Teilprojekts KulturPLUS, bei dem ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, verhalf mir unter der Leitung von Professor Konstantin Lindner und Professorin Sabine Vogt zu reichhaltigen Perspektiven im Feld der Kulturwissenschaft und den Didaktiken. Ihnen, meinen beiden Kolleginnen, Adrianna Hlukhovych und Ka-

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Vorwort

tharina Beuter, sowie den studentischen Hilfskräften sei für die Vielzahl an Anregungen und Korrekturen in Oberseminaren, Symposien und Tagungen sowie in der kooperativen Arbeit an Sammelbänden und Artikeln herzlich gedankt. Es war ein großes Glück, in diesem von Vertrauen und Respekt geprägten Team arbeiten zu dürfen. Mein Dank gilt insbesondere auch Professor Bert Freyberger von der Universität Bamberg sowie Professor Michele Barricelli von der LMU München. Als Betreuer ermöglichten sie mir bei persönlichem Vertrauen die Freiheit, Gedanken eigenständig zu verfolgen, zu durchdenken und formulieren zu können, waren aber stets gegenwärtig. Deren Erfahrungen, Ratschläge und Hinweise bereicherten nicht nur meine Arbeit, wodurch so manche Hürde gemeistert wurde, sie ermutigten mich auch dazu, in der scientific community der Geschichtsdidaktik Fuß zu fassen. Der Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V. danke ich für die Möglichkeit, meine Ergebnisse in der Nachwuchstagung vorzutragen und zu diskutieren, sowie für die großzügige Unterstützung bei der Publikation der Dissertation in der eigenen Reihe bei Vandenhoek & Ruprecht. Mit dem Bamberger AK kritische Geschichte diskutierte ich nicht nur eine gehörige Portion Geschichtstheorie und Methodologie, sondern behielt auch stets die Lust am historischen Forschen und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ausleben konnte ich diese Lust durch die freundliche Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Dass es mir rasch gelang, einen breiten Quellenkorpus aufzubauen, lag auch am Einsatz und dem Interesse der Archivoberrätin Susanne Millet an meiner Forschung. Die Arbeit wäre nicht möglich gewesen, ohne die intellektuelle und emotionale Unterstützung aus meinem Freundes- und Familienkreis. Carolin Kienel danke ich für die politikwissenschaftliche Expertise und die Bereitschaft, die gemeinsame Wohnung immer wieder zum »Think Tank« werden zu lassen. Simon Dudek danke ich für die unermüdlichen Gespräche und Diskussionen, vielfältigen Anregungen, das Heranführen an das Staatsverständnis Antonio Gramscis, das gemeinsame Arbeiten auf Kellern und in den Bergen, Zuspruch und Kritik sowie die zeitaufwändigen Korrekturen und Überarbeitungen. Für ihren Scharfsinn, Empathie und Pragmatismus in allen Phasen des Schreibens und Veröffentlichens danke ich Theresia Reiter. Manche Dinge sind eben erst dann anzugehen, wenn sie anstehen. Der Mut, mich auf das wissenschaftliche Feld zu wagen, wurde mir durch die motivierende Gewissheit und das Vertrauen meiner Eltern in meine Fähigkeiten zuteil. Sie ermöglichten ihren Kindern die Ausbildung, die ihnen selbst verwehrt blieb. So wie ich von ihnen die Begeisterung für Bildung vermittelt bekommen habe, vermittelte mir mein Großvater in Kinder- und Jugendtagen das Interesse am politischen Zeitgeschehen. Ihm ist dieses Buch gewidmet: Möge dir die Erde leicht sein.

1.

Einleitung

Am Weihnachtsabend 1959 beschmierten zwei Jugendliche die kurz zuvor wiedereröffnete Kölner Synagoge mit einem Hakenkreuz und dem antisemitischen Spruch »Deutsche fordern: Juden raus«. Die Tat war ein Fanal, fand innerhalb weniger Wochen mehrere hundert Nachahmerinnen und Nachahmer in der gesamten Bundesrepublik, was bald als antisemitische Schmierwelle bezeichnet wurde. Konservative Politiker, darunter auch der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer, vermuteten kommunistische Drahtzieher und mutmaßten, die DDR habe den Vandalismus organisiert, um der Bundesrepublik zu schaden. Doch diese antikommunistisch gefärbte Erklärung konnte nicht lange aufrechterhalten werden, denn die beiden ›Initiatoren‹ der sog. Schmierwelle stellten sich bald als Mitglieder der rechtsradikalen Deutschen Reichspartei (DRP) heraus und viele der jugendlichen Täterinnen und Täter bezogen antisemitische und geschichtsrevisionistische Positionen.1 Wegen deren Minderjährigkeit drehte sich die öffentliche Debatte bald weniger um polizeiliche, sondern vielmehr um bildungspolitische Maßnahmen: Im Vordergrund standen die Qualität des Geschichtsunterrichts und der Schulgeschichtsbücher sowie der Raum, den die Geschichte des Nationalsozialismus darin hatte.2 Das Bayerische Kultusministerium forderte die Lehrkräfte infolge dieser Debatten zu einer tiefergehenden Vermittlung der politischen Bildung hinsichtlich zeitgeschichtlicher Fragen auf und plante auch, die Geschichtsbücher der Volksschulen einer Revision zu unterziehen. Im März 1960 wandte sich der Klett Verlag in einem Schreiben an das Bayerische Kultusministerium, um sich »zu den Angriffen zu äußern, die in einer Reihe von Presseorganen auf unsere und anderer Verlage Geschichtsbücher gerichtet worden sind.« Er problematisierte dabei die Produktion von Schulgeschichtsbüchern, welche die Geschichte des Nationalsozialismus zum Gegenstand haben: 1 Vgl. Kiani (2008). 2 Vgl. Bergmann (1990a), S. 268–270. Siehe Dudek (1995), S. 272–284.

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Einleitung

»Die Geschichtsbücher unserer Jahre sind ein Kompromiß, und sie können auch gar nichts anderes sein. Die Frage, wie die jüngste Vergangenheit behandelt werden soll, ist nämlich grundsätzlich nicht zu lösen. […] Alle Beteiligten – Lehrer, Schulbuchautoren und Schulbuchverlage – stehen heute im Spannungsfeld zwischen falschem Nationalismus auf der einen und rücksichtsloser Selbstanklage auf der anderen Seite. Hier erwächst die ungeheure Gefahr, daß das Verhältnis des jungen Menschen zu dem Volk, dem er angehört, gestört wird. Nicht wenige sachkundige Beurteiler sind der Meinung, daß durch ein Zuviel an Selbstanklage allzu leicht bei der heranwachsenden Jugend das Gegenteil von dem erreicht werden könnte, was beabsichtigt ist.«3

Einige Monate zuvor formulierte der Sozialwissenschaftler und Philosoph Theodor W. Adorno in seiner Rede ›Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit‹ das dialektische Verhältnis von Nationalsozialismus und Demokratie aus. Weniger die offen ausgetragenen nationalsozialistischen Tendenzen gegen die Demokratie, sondern vor allem das Nachleben nationalsozialistischen Denkens in der Demokratie trage das Potential zum erneuten Rückfall in die Barbarei.4 Zwar betonte Adorno auch den Zusammenhang von Wirtschaftsordnung und nationalsozialistischem Denken, doch schlug er ein pädagogisches Programm als Gegenmaßnahme vor, dessen Eckpfeiler die ›Erziehung zur Mündigkeit‹ und die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit bilden sollten.5 Wie allerdings stand es um die Möglichkeiten einer kritischen Geschichtskultur und -vermittlung in Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus in Schule und Unterricht? Die Debatte um die Qualität der Schulgeschichtsbücher sowie die Reaktion des Klett Verlags deuten den Umgang der Zeitgenossen mit den Lehrwerken und der nationalsozialistischen Vergangenheit an: Erstens standen beim Verfassen von Schulgeschichtsbüchern weniger einzelne Fakten, sondern historische Deutungen zur Disposition, die von den daran beteiligten Akteuren – Autorinnen und Autoren, Beamte und Sachverständige der Kultusministerien sowie die Redakteure und Redakteurinnen der Verlage – verhandelt wurden. Die Thematisierung der Geschichte des Nationalsozialismus in Schulgeschichtsbüchern der jungen Bundesrepublik war zweitens ein widersprüchliches Unterfangen, da die historische Aufarbeitung und Vermittlung der Geschichte für die Zeitgenossen unter anderem im Konflikt zur Vermittlung eines positiven Nationalbilds stand. Die pädagogische und die fachwissenschaftliche Funktion von Schulgeschichtsbüchern erzeugte ein zusätzliches Spannungsfeld für die Aushandlung der Schulbuchinhalte. Die Verlage konnten diesen Konflikt weniger lösen, sondern in einen kontingenten Kompromiss überführen. Diesen Kompromiss kontrollierte und korrigierte der Staat drittens in den Zulassungsver-

3 Zitate MK 63844 Stellungnahme des Klett Verlags vom 23. März 1960. 4 Vgl. Adorno (1970b), S. 10. 5 Vgl. zur historischen Einordnung der Rede Schneider (2011).

Einleitung

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fahren, die jeder Verlag beachten musste, wenn er Aussicht darauf haben wollte, dass Schulen seine Lehrwerke mit staatlichen Mitteln einführten. Die Spanungsfelder, in denen Verlag und Staat standen, bestätigt die Schulbuchtheorie. Schulgeschichtsbücher werden als zentrale geschichtskulturelle Medien erkannt, deren Inhalte und Gestaltung »sozial geronnenen Zeitgeist« ausdrücken.6 Da Schulgeschichtsbücher wegen ihrer Funktion als »Autobiographien der Nation« auch zur Ausbildung eines nationalen Geschichtsbewusstseins der Bürgerinnen und Bürger dienen, mischen sich in den Lehrwerken »deskriptive und normative Elemente«.7 Die Besonderheit von Schulbüchern verstand Gerd Stein als »Informatorium, Pädagogicum und Politicum«, da sich didaktischpädagogischer und politischer Auftrag im Medium verschränken und das Schulbuchwissen formieren.8 2005 erweiterte Thomas Höhne die von Stein formulierte Trias um das »Konstruktorium«, um auf die interessengeleitete Gestaltung der Lehrwerke durch verschiedene Akteure aufmerksam zu machen. Die »heterogenen Interessen der verschiedenen Akteure und die oftmals kritisierte Intransparenz des staatlichen Zulassungsverfahren lassen grundlegende Zweifel an der Adäquatheit von Kategorien wie ›Wahrheit‹ oder ›Objektivität‹ mit Blick auf die Charakterisierung des Schulbuchwissens aufkommen.«9

Die Analyse der Konstruktion von Schulgeschichtsbüchern sieht Höhne als Schlüssel zur Erforschung von Schulbuchinhalten an, da in konfliktträchtigen Aushandlungsprozessen innerhalb einer ›Diskursarena‹ mit unterschiedlichen Mitteln und Möglichkeiten eine Entscheidung hin zu einem kontingenten Konsens getroffen wird, der die Inhalte und die Gestaltung von Schulgeschichtsbüchern festlegt.10 Dennoch sind Forschungen zur Produktion von Schulgeschichtsbüchern, den beteiligten Akteuren und Institutionen und sozialen Gruppen, ihren Interessen, Motiven und ihrer Wirkmacht, zum Einfluss struktureller Bedingungen wie Ökonomie, Bildungspolitik, Geschichtspolitik, Pädagogik und Fachwissenschaft ein Desiderat. Die vorliegende Studie geht diese Forschungslücke an, indem sie anhand der Analyse der Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern in Bayern den spannungsgeladenen Umgang des bayerischen Staats und der Schulbuchverlage mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Nachkriegsjahrzehnten der 1950er bis 1970er Jahre herausarbeitet. Es wird davon ausgegangen, dass sich die verschiedenen Akteure in Schulgeschichtsbücher eingeschrieben haben, indem sie ihre historischen Deutungen 6 7 8 9 10

Höhne (2005), S. 86. Vgl. Schoeps (1974). Jacobmeyer (1998), S. 27. Vgl. Stein (1977), S. 231–24. Höhne (2005), S. 68. Vgl. Höhne (2005), S. 68.

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Einleitung

mit- und gegeneinander aushandelten, denn in der ›Diskursarena‹ Zulassungsverfahren ringen die Akteure um historische Deutungsmacht und machtvolle Deutungen. Um den konflikthaften Entstehungsprozessen von Schulgeschichtsbüchern heuristisch gerecht zu werden, wird die Theorie der Geschichtskultur als soziales System von Bernd Schönemann aufgegriffen11 und um die Hegemonietheorie Antonio Gramscis erweitert.12 Die vorliegende Arbeit entwickelt dazu das Begriffspaar geschichtskulturelle Hegemonie und hegemoniale Geschichtskultur. Diese Begriffe erlauben eine prozess- und machtfokussierende Analyse von Geschichtskultur, indem die Produktion und Regulation historischer Darstellungen und Deutungen als ein spezifischer Bereich kultureller Hegemonie aufgefasst werden. Während unter geschichtskultureller Hegemonie die machtvollen Positionen und Machtverhältnisse im Entscheidungsprozess verstanden werden, wird hegemoniale Geschichtskultur als Ausdruck eines konsensualen bzw. mehrheitsfähigen Umgangs mit der Vergangenheit gefasst, das sich in geschichtskulturellen Objekten manifestiert und auf das Denken und Handeln der Akteure rückwirkt. Besonders plakativ ließe sich die Geschichtskultur als hegemoniales Projekt in der unterschiedlichen Geschichtspolitik der beiden deutschen Staaten zeigen, da hier eine milieuspezifische Geschichtskultur zur Staatsräson avancierte.13 Die unterschiedliche Repräsentation des Widerstands gegen das ›Dritte Reich‹ in der Geschichtskultur der beiden deutschen Staaten stand paradigmatisch für die hegemonialen Geschichtskulturen. Während in der bürgerlichen Bundesrepublik der nationalkonservative Widerstand im Fokus stand, wurde in der DDR der Widerstand der organisierten Arbeiterbewegung hervorgehoben.14 Beide Modi dienten zur Legitimation des jeweiligen Staates. DDR und Bundesrepublik konnten sich über die jeweilige historische Erinnerung in die Tradition des Widerstands setzen und so ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus historisch begründen. Überträgt man das heuristische Konzept der geschichtskulturellen Hegemonie auf die Zulassung von Schulgeschichtsbüchern, lässt sich erstens das Zulassungsverfahren als Hegemonieapparat im sozialen System der Geschichtskultur verstehen, in dem die verschiedenen Akteure der Zulassungsverfahren hegemoniale Geschichtskultur in Schulgeschichtsbüchern aushandeln. Zweitens leitet die theoretische Verortung die 11 Vgl. Schönemann (2006). 12 Siehe einführend zu Antonio Gramsci Voigt (2015). 13 Das zeigt sich exemplarisch im Gedenken der Revolution von 1848/49. Zur Geschichtspolitik der beiden deutschen Staaten hinsichtlich der Revolution von 1848/49 siehe Wolfrum (2002), S. 72–82. Zum Zusammenhang von politischer Geschichtskultur zum Vormärz, zur Märzrevolution und zu den Darstellungen von Schulgeschichtsbüchern in der Bundesrepublik siehe Bauer und Freitag (2018). Zur administrativen Kontrolle der Geschichtsschreibung in der DDR siehe Sabrow (2001). 14 Vgl. Steinbach (1994), S. 597.

Einleitung

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Sortierung und Interpretation des reichhaltigen Quellenbestands an und rahmt somit das methodische Vorgehen. Insofern hegemoniale Geschichtskultur vom gesellschaftlichen Einfluss und den Überzeugungen ihrer Träger abhängig ist, arbeitet die vorliegende Studie die Machtverhältnisse, personellen Konstellationen sowie die geschichtskulturellen Überzeugungen der Akteure in den Zulassungsverfahren heraus. Die Studie prüft also die normativen, strukturellen und akteursbezogenen Bedingungen des bayerischen Zulassungsverfahrens in den Nachkriegsjahrzehnten und legt den Konstruktions- und Aushandlungsprozess von Geschichtskultur in Schulgeschichtsbüchern sowie den Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus offen und arbeitet heraus, inwiefern Schulbuchinhalte durch die Zulassungsverfahren in Bayern von 1949 bis in die 1970er Jahre kontrolliert und gesteuert wurden. Dabei stehen folgende Fragen im Zentrum der Untersuchung: Wer erinnerte sich an die Vergangenheit? An welche Vergangenheit sollte erinnert werden? Wie sollte an Vergangenheit erinnert werden? Bleibt man im Bild der Diskursarena, leistet die Analyse der Zulassungsverfahren zweierlei, um die Aushandlung historischer Deutungen zur Geschichte des Nationalsozialismus in Schulgeschichtsbüchern herauszuarbeiten. Sie zeichnet erstens die Struktur der Diskursarena nach, um die geeigneten ›Kampfplätze‹ bei Deutungskonflikten zu bestimmen: Wie war die Deutungsmacht unter den Akteuren aufgeteilt, in der Institution aufgehoben und vorgegeben? Wo waren die deutungsmächtigen Positionen? Inwiefern besaßen die Sachverständigen, Verlage und Ministerialbeamten Deutungsmacht? Welche Strategien wählten Verlage im Umgang mit dem Zulassungsverfahren? Inwiefern regulierten normative Vorgaben und Richtlinien den Entscheidungsprozess? Welche Bedingungen mussten Manuskripte notwendigerweise erfüllen, um zugelassen zu werden? Zweitens untersucht die Studie die konkreten Konflikte, indem sie historische Themen identifiziert, an denen sich die Konflikte entzündeten, und herausarbeitet, welche Deutungen zur Geschichte des Nationalsozialismus sich durchsetzen konnten: Welche Themenfelder waren besonders konfliktträchtig und in welchem Spannungsfeld standen diese Konflikte? Wie zeichnete sich die hegemoniale Geschichtskultur zur Geschichte des Nationalsozialismus aus und wie veränderte sie sich im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte? Wie beeinflusste das Zulassungsverfahren die in Schulgeschichtsbüchern enthaltenen Deutungsangebote zur Geschichte des Nationalsozialismus? In welchem Zusammenhang standen die Einstellungen und Haltungen der Akteure der Zulassungsverfahren und ihre Position im Entscheidungsprozess zum Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus? Dazu werden die bayerischen Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern, welche die Geschichte des Nationalsozialismus thematisierten, untersucht. Die Arbeit wertet Quellen aus, die im Kontext der Zulassungsverfahren von

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Einleitung

1949 bis in die 1970er Jahre angefallen sind: Gutachten von Sachverständigen, Stellungnahmen der Verlage, Personalakten hochfrequentierter Gutachter und Beamter im Kultusministerium, Briefkorrespondenz zwischen dem Kultusministerium und den Verlagen, interne Berichte und Auseinandersetzungen des Ministeriums zum Zulassungsverfahren, veröffentlichte Richtlinien zum Geschichtsunterricht, Lehrpläne und Landtagsbeschlüsse. Zwar wurde das letzte untersuchte Zulassungsverfahren 1974 durchgeführt, doch der Quellenbestand reicht dabei bis zum Ende der 1970er Jahre.

1.1. Forschungsgegenstand und Erkenntnispotential Bei der Untersuchung der Zulassungsverfahren fokussiert die vorliegende Studie das Bundesland Bayern. Diese räumliche Eingrenzung sowie der Forschungszeitraum werden im Folgenden begründet. Zudem wird das Erkenntnispotential der vorliegenden Studie herausgearbeitet und vor dem Hintergrund des Forschungsstands bewertet. Zulassungsverfahren in Bayern Wegen der hohen Bevölkerungszahl erkannten viele Verlage im Freistaat einen wichtigen Markt, weshalb die Unternehmen ihre Schulbücher in Bayern zulassen wollten und sogar spezielle bayerische Ausgaben erstellten, um am bayerischen Markt teilhaben zu können. Im Untersuchungszeitraum haben siebzehn verschiedene Verlage je mindestens ein Zulassungsverfahren eines Lehrwerks angestrebt, das die neueste Geschichte zum Gegenstand hatte. Aufgrund der Tradition eigenständiger Kulturpolitik in Bayern ist weiterhin eine eingehende Kontrolle der Schulbücher zu erwarten, da Bildungspolitik eines der Ressorts ist, in denen die Länder in der Bundesrepublik souverän sind. Für die Gegenwart hält Georg Stöber fest, dass das bayerische Zulassungsverfahren »vielleicht mit der umfangreichsten Prüfung verbunden ist, die sich in Deutschland findet.«15 Zudem gibt Stöber zu bedenken, dass es »konservative Regierungen sind, die […] das strikteste Zulassungsverfahren praktizieren.«16 Diese Kontrolle hat durchaus Tradition.17 Mit Ausnahme einer kurzen Episode der sog. Viererkoalition in den 1950er Jahren regierte die CSU seit dem Bestehen der Bundesrepublik in Bayern und drückte wohl auch der Schulpolitik ihren Stempel auf.18 Diese Konstellation 15 16 17 18

Stöber (2010), S. 7. Stöber (2010), S. 15–16. Vgl. Sauer (1998). Dazu kritisch Lanzinner (1996). Lobend Hoderlein (1997).

Forschungsgegenstand und Erkenntnispotential

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legt ein erhöhtes Konfliktpotential in den Zulassungsverfahren nahe: Die vielen Verlage reichten Manuskripte ein, die durchaus unterschiedliche historische Deutungen zur Geschichte des Nationalsozialismus enthielten, was wohl auf eine vergleichsweise strenge Kontrolle traf. Für Bayern als zu untersuchendes Bundesland spricht zudem die gute Quellenlage, da die im Zuge der Zulassungsverfahren entstandenen Unterlagen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv erhalten sind. Deshalb fokussiert die vorliegende Studie ein Bundesland und entwirft eine methodologische Blaupause zur Untersuchung der Zulassungsverfahren weiterer Bundesländer. Dabei wird berücksichtigt, dass die herausgearbeiteten Strukturen in der Schulbuchpolitik bayerische Spezifika darstellen können und die Aussagekraft dementsprechend begrenzt ist. Es böte sich durchaus an, ein weiteres Bundesland in die Untersuchung einzubeziehen. Dabei würde Hessen eine geeignete Wahl darstellen, da es sich ebenfalls um ein Flächenland handelt, das bis in die 1970er Jahre hinein durchgängig von der SPD regiert wurde und in bildungspolitischen Fragen den Gegenpol zu Bayern darstellte.19 Um die Produktion und Kontrolle von Schulgeschichtsbüchern kohärent erfassen und interpretieren zu können, sollten aber die länderspezifischen Produktionsbedingungen und Kontrollmechanismen berücksichtigt und herausgearbeitet werden, was die Konzentration auf bayerische Verfahren legitimiert. Sonst können Unterschiede zwar benannt, nicht aber eingeordnet oder gar erklärt werden. Ein Spezifikum ist beispielsweise der Bayerische Schulbuchverlag, der als staatlicher Betrieb den Auftrag hatte, günstige Schulbücher zu produzieren, worauf in dieser Arbeit ebenfalls eingegangen wird. Untersuchungszeitraum Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Übernahme der Schulbuchkontrolle durch den bayerischen Staat 1949 bis zur dritten Schulbuchgeneration in Bayern infolge der Lehrplanrevisionen der späten 1960er Jahre.20 Vor 1949 kontrollierte die US-Militärregierung den bayerischen Schulbuchmarkt. Nachdem sie den Geschichtsunterricht ausgesetzt hatte, säuberte die US-Militärregierung den Schulbuchmarkt zunächst von den gröbsten Restbeständen der 19 Hessen hat in den 1960er und 1970er Jahren eine Reihe von schulpolitischen Auseinandersetzungen zwischen der SPD und der CDU geführt. Zur Schulpolitik siehe Führ (1997). Hepp (2003). Dass auch die Schulbuchpolitik in Hessen und Bayern konträr geführt wurde, zeigen die Auseinandersetzungen um das Sexualkundebuch ›Sexualkunde-Atlas‹ und das Sozialkundebuch ›sehen – beurteilen – handeln‹ zwischen 1968 und 1970. Ausführlich zu diesen Schulbüchern siehe Müller (1977), S. 226–245. 20 Die Übernahme der Schulbuchkontrolle gab Bayern im Januar 1949 bekannt. KMBL 1949a, S. 9.

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Einleitung

nationalsozialistischen Bildungspolitik, setzte angesichts des Bedarfs an Lehrwerken ein Schulbuchnotprogramm an Schulgeschichtsbüchern auf und lizenzierte bald auch wieder Verlage.21 Das Bayerische Kultusministerium konnte so auf eine fast vollständig genesene Branche zurückgreifen, wenn auch der Markt an Lehrwerken weiterhin noch leergefegt war. Da die US-Militärregierung im Januar 1949 endgültig die Kontrolle der Schulbücher an das Bayerische Kultusministerium übergab, bietet es sich an, hier den Untersuchungszeitraum zu beginnen. Das 1974 durchgeführte Zulassungsverfahren des von Heinz Dieter Schmid herausgegebenen, konstruktivistischen Arbeitsbuchs, ›Fragen an die Geschichte‹ ist das jüngste im Bayerischen Hauptstaatsarchiv gelistete Verfahren.22 In die Studie wird auch der Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe von 1975 und die interne Korrespondenz der staatlichen Behörden bis zum Ende der 1970er Jahre einbezogen. Der Untersuchungszeitrum erstreckt sich damit von der Phase des vom Leitfaden gestützten, stofforientierten Unterrichts hin zum konstruktivistischen, lernzielorientieren Unterricht, der infolge der Curriculumdebatte der 1970er Jahre zum bildungspolitischen Ideal avancierte.23 Gleichzeitig umfasst der Untersuchungszeitraum auch einen zentralen Wandel in der Geschichtstheorie, nämlich die langsame Abkehr vom Historismus als zentralen Fixpunkt der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft und die Hinwendung zur Sozial- und Strukturgeschichte. Dies zeigte sich auch in einem neuen Schulbuchtypus, dem Lern- und Arbeitsbuch, das den Leitfaden abzulösen begann.24 Der Untersuchungszeitraum erlaubt, die Paradigmenwechsel in Geschichtstheorie und Lerntheorie im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Schulgeschichtsbuch zu prüfen. Für die historische Forschung über die Geschichte der Geschichtskultur zum Nationalsozialismus bietet sich der Begriff der ›zweiten Geschichte des Nationalsozialismus‹ an. Er umfasst die dauerhaften Anstrengungen in der politischjustiziellen Überwindung des NS-Regimes, die personelle Kontinuität und ideologische Transformationen, die geschichtskulturelle und justizielle Aufarbeitung ebenso wie das Schweigen, Verdrängen und Leugnen von Täterschaft und Schuld.25 Die Geschichte der Geschichtskultur wird häufig im Modus einer 21 Vgl. Teistler (2017), S. 125. Zur Schulbuchpolitik der US-Alliierten in Bayern siehe einführend Liedtke (1997). 22 Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979. 23 Vgl. Borries (2016), S. 36–37. 24 Vgl. Becher (2010). Schönemann und Thünemann (2010), S. 49. 25 Vgl. Reichel, Schmid und Steinbach (2009), S. 8–9. Um auf das Fortwirken des Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Demokratie aufmerksam zu machen, schlägt der Politikwissenschaftler Stephan Grigat sogar vor, von Postnazismus oder Postfaschismus zu sprechen, vgl. Grigat (2012), S. 132.

Forschungsgegenstand und Erkenntnispotential

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Erfolgsgeschichte von einer »nationalapologetischen Geschichtskultur«26 hin zu einer kritischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und einer Auffächerung der Geschichtskultur,27 bzw. der ›Vergangenheitsbewahrung‹28 erzählt. Die Entwicklung des geschichtswissenschaftlichen Umgangs mit dem Nationalsozialismus bis in die 1980er Jahre beurteilt Ulrich Herbert dagegen eher kritisch. Zwar hebt er hervor, dass ein verstärktes Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus und vor allem der Opferperspektive zu erkennen war, dennoch »blieb die Beschäftigung mit dem Holocaust in der westdeutschen Wissenschaft das Metier sehr weniger Spezialisten.«29 Felix Bohr hebt in seiner Studie zum bundesdeutschen Umgang mit, im westlichen Ausland inhaftierten Kriegsverbrechern hervor, dass die Bundesrepublik bis zur Deutschen Einheit im Ausland inhaftierte Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs unterstützte, was mit der Persistenz der Legende von der ›sauberen Wehrmacht‹ einherging.30 Die Frage nach der geglückten bzw. missglückten Aufarbeitung ist auch im Kontext der Schulbuchzulassungen relevant. In der unmittelbaren Nachkriegszeit musste die Geschichtskultur zum Nationalsozialismus gefestigt werden und die Zeitgenossen mussten sich gleichfalls vom Bann des Nationalsozialismus lösen. Gleichsam sedimentierten die Erfahrungen und Überzeugungen der Zeitgenossen in die Lehrwerke und wurden an die kommende Generation tradiert. Zulassungsverfahren und ihr Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Der Fokus auf die Geschichte des Nationalsozialismus eignet sich, weil die Frage nach der angemessenen Deutung des Nationalsozialismus immer wieder Anstoß geschichtswissenschaftlicher, geschichtsdidaktischer und geschichtspolitischer Debatten und Reformen war. Ian Kershaw erkennt drei überlagernde Dimensionen in den geschichtswissenschaftlichen Kontroversen um den Nationalsozialismus: eine geschichtsphilosophische Dimension, eine politisch-ideologische und eine moralische Dimension. Um den Nationalsozialismus zu erklären, be26 »Begleitet von einem Generationenwechsel in Wissenschaft und Politik wurde das bisherige nationalapologetische Geschichtsbild einer grundsätzlichen Revision unterzogen.« Wolfrum (1999), S. 66. 27 »In den siebziger Jahren fächerte sich das Geschichtsbild auf. In diesen Veränderungen spiegelte sich die endgültige Abkehr von den 1950er Jahren.« Steinbach (2009), S. 134. 28 »Gemeint ist damit jene bis in die Gegenwart reichende Entwicklung, in der an die Stelle einer bis dahin stark politisch überformten Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit zunehmend das inzwischen vorwaltende Bemühen um ihre kommemorative Vergegenwärtigung trat.« Frei (2003a). 29 Herbert (1992), S. 78–81. 30 Vgl. Bohr (2018), S. 379–380.

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durfte es eines neuen geschichtstheoretischen Ansatzes, der sich erst gegen die hegemoniale Stellung des Historismus durchsetzen musste. Gleichfalls stand die Erklärung des Nationalsozialismus in enger Verbindung mit dem staatlichen Selbstverständnis und dem Systemkonflikt der beiden deutschen Nachfolgestaaten des ›Dritten Reichs‹. Zudem stand die historische Aufarbeitung im moralischen Spannungsfeld, den Nationalsozialismus nachvollziehend zu erklären, ohne ihn zu verharmlosen.31 Dementsprechend forderte diese Epoche von der Geschichtswissenschaft erstens die Entwicklung eines neuen Methodenrepertoires. Den Akademikerinnen und Akademikern sowie den bildungsbürgerlichen Laien fehlten laut Ulrich Herbert zunächst die Voraussetzungen für eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Charakter des NS-Staates und speziell mit dem Holocaust, was in vier Punkten begründet war: der eigenen Verstrickung im NS-Regime, den durch NS-Propaganda erlernten Abwehrmechanismen, dem Historismus als einzig anerkannter Form der allgemeinen Geschichtsschreibung sowie der schnellen Instrumentalisierung der Geschichte für den Aufbau der Bundesrepublik.32 Gerade wegen dieser Hürden riss die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik nicht ab, was Nicolas Berg auf die symbolische Präsenz des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zurückführt. Die »theoretischen und politischen Idiosynkrasien«, die eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus mit sich brachten, drängten eine permanente Beschäftigung mit dem Thema auf, deren Folge es ist, dass die »zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sich unablässig mit Auschwitz hatte befassen müssen«.33 Massenverbrechen und Holocaust erzeugten zweitens eine Dimension von Schuld, die als ›kollektive Schuld‹ die Zeitzeugen traf, insofern »im Sinne eines moralischen Fehlverhaltens auch jene schuldig geworden [sind], die zugesehen und geschwiegen haben, als die Verfolgung und Vernichtung der ›Fremdvölkischen‹ und ›Gemeinschaftsfremden‹ ihren Lauf nahm.«34 Diese Schuldakzeptanz stand laut Peter Reichel in der Nachkriegszeit in einem negativen Zusammenhang zum Opferbewusstsein. Zwar ging die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus mit einer partiellen Anerkennung von Mitschuld einher, doch die identifizierend-reduktionistische Sicht auf die Zeit des Nationalsozialismus als eine Spielart des Totalitarismus oder die Personalisation des Regimes in der ›dämonischen‹ Gestalt Hitler dienten auch der Verharmlosung und Schuldab-

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Vgl. Kershaw (1995), S. 18–41. Vgl. Herbert (1992), S. 68–70. Zitate Berg (2003a), S. 8. Reichel (2001), S. 28. Selbstverständlich nahmen die Massenverbrechen der Nationalsozialisten nicht passiv ›ihren Lauf‹, sondern wurden von Nationalsozialisten und Kollaborateuren durchgeführt.

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wehr.35 Das Reden über den Holocaust steht deshalb auch immer im Zusammenhang mit Schuld und Verdrängung.36 Der Fokus auf die Geschichte des Nationalsozialismus erlaubt also, den Umgang von Geschichtslehrkräften mit einem politisch brisanten Themenfeld zu untersuchen und auf das gewandelte Methodenrepertoire und die Entwicklung der Geschichtskultur einzugehen. In den Nachkriegsjahrzehnten war der Umgang mit dem Nationalsozialismus drittens eng mit der Frage nach der politischen Legitimität der Bundesrepublik verbunden, was sich insbesondere im deutsch-deutschen Systemkonflikt ausdrückte.37 Deshalb stand die historische Erinnerung an den Nationalsozialismus auch unter einem geschichtspolitischen Vorzeichen, das in der Bundesrepublik zur Legitimation des eigenen Staates, zur Delegitimation der DDR und zur adäquaten Analyse des Nationalsozialismus dienen musste. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit setzte sich rasch ein antitotalitärer Konsens durch. Im Kalten Krieg avancierten die verschiedenen Totalitarismustheorien, die jeweils darauf abzielten, die strukturellen Gemeinsamkeiten kommunistischer und nationalsozialistischer Herrschaftsformen zu erfassen, zu einem zentralen Fixpunkt im Umgang mit dem Nationalsozialismus. Der Antitotalitarismus war in der Bonner Republik – und damit auch in Bayern – vor allem mit antikommunistischen Obertönen virulent, wodurch die Bundesrepublik auch ein ideologisches Erbe des NS-Regimes transformierte.38 Trotzdem der nationalsozialistische Antikommunismus in der physischen Vernichtung des Bolschewismus ein anderes Ziel hatte als der Antikommunismus der Bundesrepublik, besaß diese Ideologie laut Lars Lüdicke eine »Brückenfunktion in den nationalsozialistischen Staat«,39

35 Vgl. Reichel (1998), S. 692. In der jungen Bundesrepublik wurde die Verantwortung für die Entwicklung des Nationalsozialismus vor allem Hitler und der Führungselite zugesprochen, während für die mehrheitsdeutsche Bevölkerung attestiert wurde, sie sei mit dämonischem Geschick verführt und missbraucht worden und/oder habe von den Verbrechen nichts gewusst. Vgl. Frei (2009a), S. 101. 36 Vgl. Knigge (1992), S. 248. Die Historisierung des Nationalsozialismus bedeutet laut Dan Diner, den Holocaust intellektuell begreifbar machen zu wollen. Dabei liegt eine paradoxe Folge alltagsgeschichtlicher Historisierungsversuche in der Banalisierung des Schreckens, dem mit der Einnahme der Opferperspektive entgangen werden könne. Vgl. Diner (1987), S. 69–71. Die Verabsolutierung des Nationalsozialismus als aus der Geschichte heraustretende Singularität des Holocausts ist laut Winfried Schulze eine, religiösen Deutungen ähnliche, Enthistorisierung. Diese Enthistorisierung lässt den Nationalsozialismus als nicht von den realen Menschen verantwortbares Schicksal verstehen, wodurch Verantwortung reduziert werde. Schulze (1987), S. 89. Eine deterministische Historisierung befreit von der Frage nach individueller und kollektiver Schuld und Verantwortung. 37 Vgl. Zimmermann (1995). 38 Vgl. Schildt (2017). Bernd Faulenbach erkennt angesichts der Ausrichtung von SPD, CDU/ CSU und FDP einen antikommunistischen Konsens in der frühen Bundesrepublik, siehe Faulenbach (2017). 39 Lüdicke (2014), S. 107.

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die in der relativen Kontinuität der Wahrnehmung des Kommunismus bestand.40 Laut Axel Schildt konnte der Antikommunismus in der frühen Bundesrepublik auch gerade »vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gesellschaftlich hohe Integrationskraft entfalten«.41 In der politischen Anwendung der Totalitarismustheorien in den Nachkriegsjahrzehnten erkennt Wolfang Kraushaar eine ideologische Instrumentalisierung mit drei Aspekten: In der politischen Großwetterlage des Kalten Kriegs konnten die Totalitarismustheorien nach außen und innen erstens zum Kampf gegen den Kommunismus und alternative Gesellschaftsmodelle in Stellung gebracht werden, zweitens erlaubte der Gegensatz von totalitären Staaten und freiheitlichen Demokratien eine Immunisierung des Westblocks und drittens konnten mit den Totalitarismustheorien die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert und Schuld abgewehrt werden.42 Im Mittelpunkt der unterschiedlichen Theorien »standen der totale Herrschaftsanspruch und die Herrschaftstechniken, während ideologischen Differenzen weniger Bedeutung zugemessen wurde«, hält Clemens Vollnhals fest, weshalb »Antisemitismus und Rassismus der NS-Ideologie […] kaum thematisiert wurden.«43 Die Dezentralisierung des Antisemitismus und die antitotalitäre Prägung der offiziellen Geschichtskultur standen also in einem wechselseiteigen Verhältnis, was sich auch auf die Gewichtung der Themen im Lehrplan niederschlug. Umgekehrt bildeten die nationalsozialistischen Massenverbrechen und vor allem die Erinnerung an den Holocaust einen Störfaktor nationalstaatlicher Identitätsbildung, der erst aufgelöst wurde, als die Erinnerung und Aufarbeitung des Nationalsozialismus zur Staatsräson der Berliner Republik avancierte.44 Die Konfliktlinien um Schuld, Aufarbeitung, Methodenentwicklung und politischer Indienstnahme der nationalsozialistischen Vergangenheit verdichteten sich im Schulgeschichtsbuch, das in seiner Funktion als »nationale Autobiographie«45 die an der Produktion und Zulassung beteiligten Akteure im Besonderen herausforderte. So sollte die Darstellung des Nationalsozialismus die Akzeptanz der Bundesrepublik stärken, keinesfalls aber der politischen Legitimation des Nachfolgestaates des ›Dritten Reichs‹ zuwiderlaufen. Dass die Zulassungsverfahren im Spannungsfeld verschiedener geschichtswissenschaftlicher und geschichtspolitischer Debatten standen, spricht dafür, die Zulassungsverfahren in den Blick zu nehmen, die Schulgeschichtsbücher zu diesem Thema 40 Vgl. Korte (2009). Zur antikommunistischen politischen Justiz der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte vgl. Perels (2005). 41 Schildt (2017), S. 194. Siehe auch Wentker (2014), S. 356. 42 Vgl. Kraushaar (1999), S. 491. 43 Vollnhals (2006), S. 23. 44 Vgl. Bergem (2003). 45 Jacobmeyer (1998), S. 26.

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prüften. Da die Akteure der Zulassungsverfahren die Schulbuchinhalte vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Spannungsfelder aushandelten, birgt der Forschungsgenstand zweierlei Erkenntnispotential: Anhand der Zulassungsverfahren kann der gesellschaftliche Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus nachgezeichnet und die Bedingungsfaktoren der Geschichtskultur zum Nationalsozialismus können herausgearbeitet werden. Der Fokus auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Zulassungsverfahren erlaubt deshalb auf geschichtswissenschaftlicher Ebene, einen zentralen geschichtspolitischen Bereich im Bayern der frühen Bundesrepublik zu diskutieren, indem geprüft wird, inwiefern die Zulassungsverfahren für die Durchsetzung der Staatsräson in der Bildungspolitik genutzt wurde. Weiterhin ist die Debatte über Schulgeschichtsbücher kein reine fachliche, sondern ebenfalls eine pädagogisch-didaktische Auseinandersetzung um die Inhalte und deren Gestaltung. Im Forschungszeitraum stand die geschichtsdidaktische Reflexion fachlicher Inhalte allerdings noch in ihren Kinderschuhen. Stofforientierung galt bis zur Lernzielorientierung in den 1970er Jahren als Leitkategorie der meist als Leitfäden herausgegebenen Schulgeschichtsbücher. Dementsprechend eng war die pädagogisch-didaktische Perspektive auf Schulbuchinhalte an die fachliche Perspektive geknüpft. Die Studie trägt in diesem Kontext auch zu einem vertieften Verständnis des Schulgeschichtsbuchs als geschichtsdidaktischem Medium bei. Da ein Großteil der am Zulassungsverfahren beteiligten Gutachterinnen und Gutachter als Lehrkräfte tätig waren, kann die Studie auf geschichtsdidaktischer Ebene den Zusammenhang der epistemologischen Überzeugungen und biographischen Erfahrungen von Lehrkräften und der Durchsetzung historischer Deutungen zur Geschichte des Nationalsozialismus im didaktischen Medium diskutieren. Epistemologische Überzeugungen beziehen sich laut Sigrid Blömeke auf die fachlichen Einstellungen zu »Struktur und Genese von Wissen« und können mitunter gewichtige Faktoren sein, um Handlungen der Lehrkräfte anzuleiten.46 Die geschichtsdidaktische Forschung zu fachlichen Einstellungen der Geschichtslehrkräfte steht allerdings noch in ihrem Anfang.47 Die Dissertation kann deshalb dazu beitragen, das Verständnis 46 Blömeke, Müller, Felbrich und Kaiser (2008), S. 221. Einführend zu den epistemologischen Überzeugungen Bråten (2010). 47 Ein empirisch gestütztes Modell fachspezifischer, epistemologischer Überzeugungen entwickelte zunächst Maggioni In diesem Stufenmodell steigen die Überzeugungen von einer positivistischen, über eine skeptizistische hin zu einer narrativisch-konstruktivistischen Überzeugung auf. Nitsche ordnete diese Stufen auf Maggioni aufbauend als transmissiv, individualkonstruktivistisch (radikalkonstruktivistisch) und sozialkonstruktivistisch, vgl. Nitsche (2016). Maggioni (2010). Messner und Buff identifizieren in einer quantitativen Studie progressive und traditionale Typen von Geschichtslehrern, die sich v. a. hinsichtlich der Frequentierung verschiedener Lerngelegenheiten (aufgabenbasiert, erarbeitend, kooperativ-selbsttätig) unterscheiden, vgl. Messner und Buff (2007). Ohne explizit die fachlichen

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der Wirkweise fachlicher Überzeugungen von Lehrkräften zu vertiefen. Dadurch bietet die vorliegende Studie das Potential, historisches Wissen für die gegenwärtige geschichtsdidaktische Diskussion um die Relevanz der epistemologischen Überzeugungen in der Lehrerbildung bereitzustellen. Forschungsstand zu Zulassungsverfahren und Schulbuchproduktion Schulbuchforschung differenzierte sich laut Peter Weinbrenner seit Mitte der 1980er Jahre in drei Richtungen aus: Die ›prozessorientierte Schulbuchforschung‹ verfolgt den Weg des Schulbuchs von der Entwicklung bis zum Unterrichtseinsatz, die ›produktorientierte Schulbuchforschung‹ erforscht das Schulbuch als Ausdruck und Mittel kommunikativer Situationen und die ›wirkungsorientierte Schulbuchforschung‹ prüft das Schulbuch hinsichtlich seiner Wirkung auf Lernende und Lehrende.48 Im deutschsprachigen Raum stand zunächst die produktorientiere Schulbuchforschung im Vordergrund, doch seit einigen Jahren treten Fragen der Wirkung, Rezeption und Nutzung von Schul(geschichts)büchern in den Fokus.49 Historische Schulbuchforschung ist vor allem produktorientierte Schulbuchforschung und prüft den Ausdruck des Geschichtsbewusstseins zu darin enthaltenen historischen Themen,50 wobei die Ansätze sich meist entweder auf die durch Deutung der Vergangenheit hergestellte (kollektive) Identität bzw. auf die Repräsentation der Vergangenheit in den Schulgeschichtsbüchern im diachronen Vergleich konzentrieren.51 Schulgeschichtsbücher werden als zentrale geschichtskulturelle Medien erkannt, deren Inhalte und Gestaltung »sozial geronnenen Zeitgeist«52 ausdrücken. Diese Medien versteht Thomas Sandkühler als »Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses über Geschichtsbilder« und als gebrochenes »Spiegelbild der historischen Forschung«.53 In einer Dissertationsschrift zu Schulgeschichtsbüchern seit den 1980er Jahren arbeitet Etienne Schinkel heraus, dass einschlägige

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Überzeugungen der Geschichtslehrkräfte in den Blick zu nehmen, extrapolierte Bodo von Borries aus der Geschichte des Geschichtsunterrichts seit 1949 vier Modelltypen historischen Lernens entlang der Skalen Reichweite (dominant kognitiv – ausgewogen kognitiv) und Offenheit (enge Lehrerführung, komplexe Schüleraktivierung), die Rückschlüsse auf die dem Handeln zugrundeliegenden fachbezogenen, epistemologischen Überzeugungen ermöglichen, vgl. Borries (2016). Zur Einstellung zum Fachwissen von Lehrkräften siehe Fenn und Sieder (2017). Vgl. Weinbrenner (1992), S. 22. Vgl. Fuchs, Niehaus und Stoletzki (2014), S. 22. Vgl. Borries (2005). Borries (2006). Gautschi (2009). Meyer-Hamme (2006). Neumann (2015a). Neumann (2015b). Schönemann und Thünemann (2010), S. 22–29. Vgl. Fuchs et al. (2014), S. 28. Höhne (2005), S. 86. Sandkühler (2012), S. 50.

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Forschungsliteratur »nicht verarbeitet worden ist«,54 während geschichtskulturelle Ereignisse von großer Tragweite, etwa die Ausstrahlung der Fernsehserie ›Holocaust‹,55 die hitzig geführte Goldhagen-Debatte oder die Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht in den jeweiligen Lehrwerksgenerationen ein Echo fanden.56 Das Schulgeschichtsbuch dient laut Wolfgang Jacobmeyer als ›nationale Autobiographie‹, da es ein nationalstaatliches Geschichtsbewusstsein vermitteln soll. In den Lehrwerken mischen sich »deskriptive und normative Elemente«, die im Unterricht systematisch vermitteln und geprüft werden, weshalb Schulgeschichtsbücher hohe Bedeutung als kulturpolitische Medien haben.57 Die Spezifik von Schulbüchern begreift Gerd Stein in der Trias von »Informatorium, Pädagogicum und Politicum«58, da sie didaktisch-pädagogische und politische Funktionen erfüllen. In den Funktionen von Schulgeschichtsbüchern liegt auch der besondere Wert der Lehrwerke als geschichtskulturelle und geschichtsdidaktische Quellen, denn sie geben Aufschluss über das Verhältnis von Geschichtskultur und dem nationalstaatlichen Selbstverständnis ihrer Entstehungszeit und den fachdidaktischen Rahmenbedingungen des Unterrichts. Forschungen zum Zusammenhang von Geschichtskultur und Schulgeschichtsbüchern sind deshalb Legion.59 Schulbuchanalysen zum Nationalsozialismus können grundsätzlich in drei Strömungen subsumiert werden,60 a) historische Studien,61 b) (historisch-)vergleichende Studien62 und c) gegenwartsbezogene Forschungen.63 Alle drei Typen der Schulbuchanalyse werten allerdings die Lehrwerke aus, ohne ihre Produktionsbedingungen im Besonderen zu reflektieren. Im Jahr 2005 hob Thomas Höhne den Konstruktionsprozess von Schulbüchern als einen wesentlichen Faktor hervor, da die Akteure der Schulbuchproduktion in konfliktträchtigen Aushandlungen innerhalb der Diskursarena ihre mitunter heterogenen Positionen und Überlegungen in das Schulgeschichtsbuch

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Schinkel (2018), S. 339. Vgl. Schinkel (2018), S. 231–232. Vgl. Schinkel (2018), S. 342–343. Jacobmeyer (1998), S. 27. Vgl. Stein (1977), S. 231–24. Siehe stellvertretend für viele: Borries (1994). Handro (2011); Heuer (2006). Weiß (2009). Schönemann und Thünemann trennen in historische, international (vergleichende) und didaktische Schulbuchforschung. Didaktische Fragen werden jedoch auch in historischen und vergleichenden Forschungsarbeiten gestellt, weshalb die Trennung eher tendenzielle als konzeptionelle Richtungen angibt, vgl. Schönemann und Thünemann (2010), S. 21–48. 61 Beispielsweise Barschdorff (1999). Kahlcke (2015). Pingel (2000). Schinkel (2018). 62 Beispielsweise Bendick (2001). Bilewicz (2016). Fischer (2005). Kühberger (2012). Mittnik (2017). Storrer (2008). Uhe (1972). 63 Beispielsweise. Dolezel (2013). Fischer (1980). Handro (2006). Popp (2010). Scholz (2015). Wenzel (2013).

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eingeschrieben haben.64 Schulgeschichtsbücher sind Objektivationen und Kompromiss des Zeitgeists ihrer Entstehungszeit, was in der Rekonstruktion der kommunikativen Aushandlung offengelegt werden kann.65 Der Schulbuchmarkt ist zwar Gegenstand historischer66 und bildungswissenschaftlicher Forschung,67 allerdings ist die Entwicklung, Produktion und Steuerung von Schulbüchern, also die eigentliche Phase der Konstruktion bislang kaum erforscht. Dagegen geben konzeptionelle und qualitative Studien sowie Berichte einzelner Akteure Einblick in die Produktion von Lehrwerken. Die Geschichte der staatlichen Schulbuchkontrolle in der Moderne arbeitete Michael Sauer an Preußen und Bayern heraus und zeigte, dass die zentralisierte, strenge Kontrolle der qualitativen Verbesserung von Lehrwerken diente, spätestens seit den 1990er Jahren jedoch überholt ist. »Beim gegenwärtigen Stand der Schulentwicklung, der Lehrerentwicklung und der Didaktik brauchen Schulen nicht mehr Standardvorgaben von außen, sondern mehr Autonomie«, begründet der Geschichtsdidaktiker sein Plädoyer für eine Reduktion zentraler Prüfkriterien.68 Wegen der staatlichen Mittelverwendung und Kontrolle stellt der Schulbuchmarkt laut Eckhardt Fuchs et al. einen ›gebrochenen Markt‹ dar, »in dem sich Anbieter und Käufer nicht unmittelbar gegenüberstehen«.69 In diesem Markt mit einem vergleichsweise hohen wirtschaftlichen Volumen treten Bildungsmedienverlage bezüglich der Marktanteile in Konkurrenz zueinander, infolgedessen Lehrwerke zu Objekten wirtschaftlicher Spekulation werden. Weil die staatlichen Vorgaben und Kontrollinstanzen regulierend auf die Produktion und Distribution von Lehrwerken wirken, wurden Verlage laut Felicitas Macgilchrist häufig als Organisationen zur Umsetzung dieser bildungspolitischen Vorgaben mit dem Ziel der Kapitalakkumulation wahrgenommen,70 wohingegen sich in einer ethnografischen Studie herausstellt, dass Verlage auch Organisationen der Diskursproduktion sind, »die anhand von weiteren (kontingenten) Kriterien die kulturellen Wissensordnungen der Kerncurricula teilweise iterativ reproduzieren und stabilisieren und zugleich teilweise ergänzen, verschieben und destabilisieren.«71 Dem liegen die zum Teil auch widersprüchlichen politischen und didaktischen Ziele von Verlagen zugrunde, die während der Entwicklung des

64 Höhne (2005), S. 68. 65 Höhne (2005), S. 68. Höhne bezieht sich hier ebenfalls auf den Begriff Stuart Halls aus Hall (2012a), S. 145. Siehe auch Kapitel 1.2. 66 Zum Schulbuchmarkt der Weimarer Republik siehe beispielsweise Kreusch (2012). Zum ›Dritten Reich‹ siehe Blänsdorf (2004). 67 Vgl. Baer (2010). 68 Sauer (1998), S. 156. 69 Fuchs et al. (2014), S. 16. 70 So das Fazit von Macgilchrist, siehe Macgilchrist (2011), S. 249. 71 Macgilchrist (2011), S. 260.

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Schulbuchs ausgehandelt und durchgesetzt werden und sowohl die Auswahl der Autorinnen und Autoren als auch die Inhalte betreffen.72 Das »Markteintrittsfenster durch die Implementierung neuer Lehrpläne« erkennt Bea Hermann als den gewichtigsten Anlass zur Produktion neuer Schulgeschichtsbücher.73 Danach folgen gesellschaftliche Entwicklungen, welche die Neugestaltung von Inhalten anstoßen, wie z. B. gegenwärtig Migrationsprozesse oder die politische Forderung nach Inklusion. An dritter Stelle stehen konzeptionelle Ideen, die einen didaktischen Mehrwert in neuentwickelten Lehrbüchern gegenüber bereits eingeführten Schulbüchern erwarten lassen.74 Die Entstehungsgeschichte eines Schulbuches bewegt sich »zwischen zahlreichen ineinander übergreifenden Gravitationspunkten«75 und Personen,76 nämlich bildungspolitischen Vorgaben, Anforderungen der Lehrkräfte, Gewinnerwartungen des Verlags, Interessen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler und ökonomischen Rahmenbedingungen des Staates. Deshalb werden Schulbuchtexte immer wieder umgeschrieben und an den ursprünglichen Ideen der Autorinnen und Autoren »von allen Seiten gerüttelt und gezupft, sie werden kritisiert und gelobt, oft nehmen diese Ideen mehrere Anläufe, bis eine druckreife Vorlage geschaffen ist.«77 Damit im Zusammenhang steht die Varianz von Schulbüchern hinsichtlich ihrer Inhalte und ihrer Gestaltung als Ausdruck demokratischer, kapitalistischer Staaten, denn in »einer pluralistischen Demokratie bezieht sich das Prinzip des Wettbewerbs auch auf ein reiches Marktangebot von Schulbüchern.«78 Zur Kosteneinsparung übernehmen Verlage laut Björn Opfer gerne bestehendes Material aus alten Lehrwerken für neue Schulbücher.79 In einem Einzelfallbericht kommt Lola Klemenz zu dem Schluss, dass die Konstruktion von Schulbuchinhalten stark durch den spekulativen Warenwert des Produkts bestimmt ist.80 Die Warenförmigkeit von Schulgeschichtsbüchern birgt das Problem, dass eine innovative Gestaltung oder kontroverse Inhalte, die Autorinnen und Autoren einbringen, von Verlagen wegen potentiell schwindender Absatzmöglichkeiten gemieden werden. Die unterschiedlichen verlegerischen Interessen am 72 Vgl. Macgilchrist (2011), S. 252–255. 73 Herrmann (2016), S. 52. 74 Vgl. Herrmann (2016), S. 52. Laut Gautschi waren z. B. neue Erkenntnisse zur Geschichte der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus Anlass zum Lehrmittel »Hinschauen und Nachfragen«, vgl. Gautschi (2009), S. 35. 75 Opfer (2007), S. 123. 76 Vgl. Ott (2016), S. 45. Zu nennen sind auf Verlagsseite noch mindestens die Verleger/Geschäftsführer. 77 Vandersitt (2015), S.185. 78 Pöggeler (2005), S. 35. 79 Vgl. Opfer (2007), S. 118. 80 Vgl. Klemenz (1997).

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Schulbuch lassen sich laut Macgilchrist bereits bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren aufzeigen. Dafür dienen den Verlagen drei Kriterien, aus denen ökonomische Vor- und Nachteile der Vermarktung abgeleitet werden: die politische Haltung, das individuelle Engagement und der Bekanntheitsgrad des Autors oder der Autorin.81 In ihrer Fallanalyse zur Wahrnehmung von Schulbüchern in der Öffentlichkeit legen Tomas Bascio und Andreas Hoffmann-Ocon nahe, dass Schulbücher die Funktion haben, gesellschaftliche Normen widerzuspiegeln, denn Interessengruppen erwarten, »dass gesellschaftliche Orientierungen eines externen Publikums in das Lehrmittelsystem inkludiert werden.«82 Von Interessenverbänden direkt an Verlage vorgebrachte kleinere Änderungswünsche werden laut Macgilchrist »meistens bedacht, da ein Gegenargument mehr Zeit in Anspruch nehmen würde«83, was das primär ökonomische Interesse von Verlagen unterstreicht. Kontroversen staatlicher Interventionen bei der Zulassung von Schulgeschichtsbüchern schilderte Walter Müller und kam zu dem Schluss, dass staatliche Vorgaben gegenüber pädagogischen Überlegungen Vorrang haben und pädagogische Überlegungen sich nur in den Grenzen staatlichen Selbstverständnisses bewegen können, weshalb das Zulassungsverfahren ein Indiz für den parapädagogischen Charakter der Schule ist.84 Auch für das Schulgeschichtsbuch gilt, dass es politisch, wissenschaftlich und didaktisch gerahmt, sowie in seiner Produktion ökonomischen, didaktischen und politischen Vorgaben unterlegen ist.85 Deshalb setzt sich die »mediale Eigenlogik Schulbuch«86 aus ökonomischen, ästhetischen, politischen und kognitiven Dimensionen von Geschichtskultur zusammen. Die Entscheidungen zur Auswahl von Inhalten während der Entwicklung von Schulbüchern bleiben laut Lola Klemenz bei der produktorientierten Schulbuchforschung unberücksichtigt, weshalb der Blick auf den Prozess der Produktion und ihre Auswahlmechanismen gelegt werden muss.87 Auch Björn Opfer-Klinger und Nils Vollert entgegnen den geschichtsdidaktischen Schulbuchanalysen, dass Produktionsund Entstehungsbedingungen eines Schulbuchs nur selten angemessen bedacht werden, und verweisen darauf, dass Themensetzungen in »erster Linie eine politische Entscheidung, nicht die der Schulbuchredaktion« sind, da Verlage als gewinnorientierte Unternehmen die staatlichen Vorgaben erfüllen, um die

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Vgl. Macgilchrist (2011), S. 252. Bascio und Hoffmann-Ocon (2010), S. 30. Macgilchrist (2011), S. 253. Vgl. Müller (1977), S. 288–289. Der Schulbuchzulassung attestierte zeitgleich Stein ein Legitimationsdefizit, vgl. Stein (1978). 85 Vgl. Handro (2006), S. 200–201. Doering (2008), S. 5. 86 Schönemann und Thünemann (2010), S. 176. 87 Vgl. Klemenz (1997), S. 61–62.

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lernmittelfreie Zulassung zu erhalten,88 weshalb das Zulassungsverfahren die Produktion reguliert. Aufgrund der föderalen Bildungshoheit sind die jeweiligen Produktionsbedingungen von Lehrmitteln länderspezifischen Rahmenbedingungen, insbesondere dem Lehrplan und/oder den Rahmenrichtlinien unterlegen,89 unterscheiden sich aber auch durch die landesspezifischen Kontrollinstanzen, nämlich die jeweiligen Zulassungs- und Einführungsverfahren.90 Zu Zulassungsverfahren als Instrument der Überwachung und Zensur im kommunistischen Polen forschte Joanne Wojdon. Im Unterschied zum Zulassungsverfahren in bürgerlichen Staaten, war der polnische Staat bereits bei der Auswahl von Autorinnen und Autorin sowie im Redaktionsprozess beteiligt, was eine tiefgreifende Kontrolle der Inhalte und Überwachung des Produktionsprozesses ermöglichte.91 Dagegen sind starke Eingriffe in die Lehrwerke durch Zulassungsverfahren in demokratischen Staaten unüblich, zeigt Hendrianne J. Wilkens in ihrer Studie zu Zulassungsverfahren der PISA-Staaten. Nur Serbien greift demnach stärker in die Lehrwerke ein, während die meisten Staaten einen moderaten bzw. keinen Einfluss auf die Lehrwerke ausüben.92 In den bildungspolitisch föderalen USA zeigt sich, dass vor allem in bevölkerungsreichen Bundesstaaten eine inhaltliche Kontrolle der Schulbücher stattfindet, der Fokus insgesamt aber eher auf den Kosten der Lehrwerke liegt.93 Gleichwohl sind die Zulassungs- und Einführungsverfahren in den USA seit den 1980er Jahren insbesondere im Kontext religiöser Überzeugungen ein umkämpftes Gebiet.94 In einer umfassenden Studie zur Schulbuchpolitik während der Zeit von 1945 bis 1949 geht auch Gisela Teistler auf die Produktionsbedingungen von Schulbüchern ein und zeigt die politischen Interessen der Siegermächte bei der Gestaltung und Kontrolle der Lehrwerke auf.95 Trotzdem stellen quellengestützte Analysen der Zulassungsverfahren eine Lücke in der Forschung dar. Sabrina Schmitz-Zerres publizierte im Sommer 2019 ihre Dissertation zur Entstehung von Zukunftsnarrationen in deutschen Schulgeschichtsbüchern. Im Rahmen der Dissertation untersucht die Geschichtsdidaktikerin, inwiefern Vorstellungen von Zukunft bei der Entwicklung und Zulassung von Schulgeschichtsbüchern in die 88 Opfer-Klinger und Vollert (2015), S. 82. 89 Vgl. Biener (2005). Künzli (1999). Wiater (2005). »Curricula und Lehrpläne sind der Selektion von Schulbuchwissen vorgeschaltet, sie geben Strukturen und Kontexte für dessen Auswahl und Verknüpfung vor und generieren damit unweigerlich auch politisch definiertes Wissen.« Lässig (2010). S. 204. 90 Vgl. Fey (2016). Stöber (2010). Zu den verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Grundlagen vgl. Leppek (2002). 91 Vgl. Wojdon (2015). 92 Vgl. Wilkens (2001), S. 70. 93 Vgl. Watt (2009). 94 Vgl. Crawford (2003). 95 Vgl. Teistler (2017).

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Lehrwerke eingeschrieben wurden. Dabei arbeitet sie auch praxeologische Muster im Umgang mit Manuskripten bei Prüfverfahren heraus.96 In einer kleineren Arbeit widmet sie sich der Frage, wie religiöse Institutionen in Rheinland-Pfalz der 1950er Jahre in das Zulassungsverfahren einbezogen wurden und die religiöse Ausrichtung der Lehrwerke beurteilten.97 Zwar erlauben die Ergebnisse der historischen Schulbuchforschung Aussagen über den Wandel des Geschichtsbewusstseins, jedoch können sie den Wandel selbst nicht erklären, da die Aushandlung von Deutung und Repräsentation kaum untersucht wird.Deshalb können die auf das Produkt Schulbuch gerichteten Forschungsvorhaben die sozialen und kulturellen Einflussgrößen bei der Konstruktion des Schulbuchs bestenfalls erahnen, insofern sie die Inhalte des Schulbuchs mit den herrschenden Narrativen und Überzeugen der Entstehungszeit abgleichen. Thomas Höhne schlägt im Kontext seiner Schulbuchtheorie zwar eine thematische Diskursanalyse vor, die allerdings nicht die konkreten Deutungskonflikte und deren Lösungen bei der Entwicklung von Schulgeschichtsbüchern fassen kann, da der Prozess aus dem Produkt und dessen weitem Entstehungskontext extrapoliert wird und daher selbst keinen Untersuchungsgegenstand darstellt.98 Dagegen kann Schulbuchforschung, die ihren Fokus auf die Produktion von Schulgeschichtsbüchern legt, die fachlichen und didaktischen Überzeugungen herausarbeiten und das Geschichtsbewusstsein der an der Herstellung unmittelbar beteiligten Akteure und Institutionen erörtern. Eine solche Forschung kann erstens identifizieren, inwiefern Akteure bei Konflikten um Inhalt und Gestaltung die Deutungshoheit erlangen, zweitens analysieren, wie ökonomische, didaktische und bildungspolitische Interessen bei der Gestaltung eines Schulbuchs in Konkurrenz und Kongruenz sich zueinander verhalten, um schließlich drittens die Wirkung dieser Konstellation auf das Produkt herauszuarbeiten. Indem die vorliegende Studie die Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern in Bayern analysiert, erhellt sie eine zentrale Instanz im Produktionsprozess von Schulgeschichtsbüchern und trägt dazu bei, das aufgezeigte Desiderat der Bildungsmedienforschung einzulösen.

1.2. Theoretische Verortung Ausgehend von Bernd Schönemanns Konzept der Geschichtskultur als System der sozialen Konstruktion und Antonio Gramscis Begriff der kulturellen Hegemonie werden im Folgenden die Termini geschichtskulturelle Hegemonie und 96 Vgl. Schmitz-Zerres (2019). 97 Schmitz-Zerres (2018). 98 Vgl. Höhne (2008).

Theoretische Verortung

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hegemoniale Geschichtskultur eingeführt und als Heuristik zur prozessorientierten und machtfokussierenden Analyse der Zulassungsverfahren begründet. Geschichtskultur und Wiederholungsstruktur In den 1990er Jahren avancierte ›Geschichtskultur‹ zum zentralen Begriff der Geschichtsdidaktik, um den gesellschaftlichen Umgang mit Vergangenheit analytisch zu fassen und zu erforschen.99 Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein konzipiert Bernd Schönemann als zwei aufeinander bezogene Elemente eines sozialen Systems der Gesellschaft, in dem sich das individuelle Geschichtsbewusstsein durch Internalisierungs- und Vergesellschaftungsprozesse herausbildet, während die Externalisierung des Geschichtsbewusstseins die Geschichtskultur auf kollektiver Ebene formt.100 Da diese Externalisierung die Artikulation des Geschichtsbewusstseins voraussetzt, besteht das System der Geschichtskultur aus kulturell geformter Kommunikation, »die auf eine spezifische Weise Geschichte erzeugt«.101 Nach Jörn Rüsen ist Geschichtsbewusstsein die Gesamtheit der mentalen Operationen, die Zeit und Erfahrung im Medium der historischen Erinnerung verarbeitet.102 Historische Erinnerung rahmt folglich die spezifische Kommunikation im sozialen System der Geschichtskultur. Sie hat zwei Funktionen: Zum einen verknüpfen Subjekte durch historische Erinnerung die außerhalb ihrer eigenen Erfahrung liegende Vergangenheit mit der gegenwärtigen Lebenssituation und entwickeln daraus Perspektiven für die Zukunft,103 weshalb historische Erinnerung zur Orientierung in der Zeit verhelfen und zum (politischen) Handeln anleiten kann. Zum anderen handeln Subjekte diese Erinnerungen kommunikativ aus, wodurch »eine Gesellschaft die für ihre Mitglieder maßgebende kollektive Identität« herausbildet.104 In diesem Zusammenhang unterscheidet Reinhard Koselleck in primäre und sekundäre Erfahrung, also unmittelbar erlebte und mittelbar erlesene bzw. erzählte Erfahrung. Während die Primärerfahrungen aus segmentierten Erinnerungen bestehen, transformieren Sekundärerfahrungen diese Erinnerungen und gleichen sie einander an, indem die segmentierten Erinnerungen in institutionalisierten Erinnerungsräumen aufgehoben werden.105 In Geschichtskultur amalgamiert divergentes Geschichtsbewusstsein und umgekehrt besitzt Geschichtskultur als externalisiertes Geschichtsbewusstsein überindividuellen Geltungsanspruch. Die 99 100 101 102 103 104 105

Einführend zu den Konzepten von Geschichts- und Erinnerungskultur siehe Bauer (2019a). Vgl. Schönemann (2000), S. 44. Schönemann (2014), S. 18. Vgl. Rüsen (2008), S. 13. Rüsen (1994), S. 6–7. Rüsen (1997a), S. 38. Vgl. Koselleck (1999), S. 214–215.

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kommunikative Aushandlung von Geschichte zeitigt deshalb Deutungskonflikte, die in einen zumindest kontingenten Konsens überführt werden müssen, um in geschichtskulturellen Objektivationen und Institutionen stabilisiert zu werden. Geschichtskulturelle Objekte und Institutionen wiederum bedingen und regulieren das Geschichtsbewusstsein und folglich die Entwicklung von Geschichtskultur. Wer die geschichtskulturellen Institutionen nicht kennt und versteht, wird deshalb »immer nur staunend ihre Produkte beäugen, aber geschichtskulturell ein Analphabet bleiben.«106 Geschichtskulturelle Institutionen – z. B. Schulen, Museen, Archive oder historische Themenparks – basieren laut Schönemann auf einer ›Wiederholungsstruktur‹, die in einem dauerhaften Modus immer wieder spezifische geschichtskulturelle Artikulationen und Objektivationen produziert. Schönemann bezieht sich dabei auf Koselleck, der mit Wiederholungsstruktur das Verhältnis von subjektiver Einmaligkeit des Ereignisses bei stabilen Strukturen benennt. Die Strukturen bieten gleichbleibende Antworten und Lösungswege auf wiederkehrende Fälle. Daraus folgt auch eine Ungleichzeitigkeit von Ereignis und Struktur, da die »einmalige Zeit der Ereignisse in sich wiederholbare Strukturen birgt, deren Veränderungsgeschwindigkeiten andere sind als die der Ereignisse selbst.«107 Für Schönemann gilt das historische Jubiläum »als geschichtskulturelle Wiederholungsstruktur par excellence«, da Jubiläen zum einen seit Jahrhunderten bestand haben, wenn sie auch inhaltlich verschieden begründet und gefüllt sind, und zum anderen gegenwärtig kaum noch zu überblicken sind.108 Dadurch bilden die Jubiläen insgesamt »eine gigantische Wiederholungsmaschinerie, die am laufenden Band geschichtskulturelle Ereignisse produziert, ohne sie in ihrer konkreten Gestalt determinieren zu können.«109 Durch das dauerhafte Angebot bestimmter Lösungswege bei wiederkehrenden Problemen begrenzen Wiederholungsstrukturen die Handlungsmöglichkeiten und Ideen, entlasten allerdings gleichzeitig den Aushandlungsprozess. Insofern richten sich Individuen an den von der Institution vorgegebenen Handlungen und Ideen aus. Diese Institutionen können soziale Integration fördern, beschneiden aber die Entfaltung individuellen Geschichtsbewusstseins und geschichtskultureller Artikulationen. Als »komplexes heuristisches Konzept«110 erlaubt der Begriff Wiederholungsstruktur, die spezifische Qualität geschichtskultureller Artikula-

106 107 108 109 110

Schönemann (2011), S. 71. Koselleck (2006), S. 30. Schönemann (2011), S. 68. Schönemann (2011), S. 69. Schönemann (2011), S. 68.

Theoretische Verortung

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tionen zu fassen, ohne die Funktion von sozialen Einrichtungen zu missachten,111 und die unterschiedliche Zeitlichkeit von Ereignis und Struktur herauszustellen. Damit Institutionen dauerhaft geschichtskulturelle Artikulationen und Objektivationen produzieren können, bedarf es laut Schönemann als zweites Element des sozialen Systems der Geschichtskultur verschiedener Professionen, die aufgrund ihrer Ausbildung einen systematischen Umgang mit Vergangenheit ermöglichen. Als drittes Element speichern und transportieren die durchaus heterogenen Medien die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung. Medien sind beispielsweise Kriegsdenkmäler, Computerspiele, Schulbücher, die Tagespresse oder digitale Plattformen, also die Materialisation von Geschichtskultur. Die Vielfalt der Medien richtet sich schließlich an spezifische Publika bzw. wird von diesen aufgegriffen und weiterverwendet, worunter Schönemann die Adressaten geschichtskultureller Artikulationen versteht.112 Dadurch skizziert er ein TopDown-Modell von Geschichtskultur, das von durch Ausbildung und institutioneller Anbindung befähigten Eliten produziert und reguliert und medial an vergleichsweise passive Adressaten popularisiert wird. Dagegen ist einzuwenden, dass die kommunikative Konstruktion von Geschichtskultur keineswegs ausschließlich eine Top-Down-Bewegung sein muss, was sich beispielsweise in digitalen Zusammenhängen zeigt, wo auch Personen ohne ausgewiesene Profession Geschichtskultur erzeugen können.113 Doch bereits durch die seit den 1980er Jahren gestiegene gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit, die sich unter anderem in pluralen Interpretationen des Vergangenen durch Zeitzeugen und TV-Dokumentationen zeigt, ist Historikerinnen und Historikern »die Gate-Keeper-Funktion zum historischen Wissen abhandengekommen.«114 Vor diesem Hintergrund erscheint es schlüssiger, Profession und Publika unter den »Personalbestand der Institutionen«115 als Akteure zusammenzufassen. 111 Dazu beruft sich Schönemann Berger und Luckmann vgl. Berger und Luckmann (1984) sowie auf Gehlens Funktionsbestimmung der Institutionen, nämlich die Regulierung der »Invarianz der Ideen« Gehlen (1964), S. S. 41. Vgl. Schönemann (2011), S. 69. 112 Schönemann (2000), S. 46–47. Schönemann (2014), S. 18–19. 113 Hannes Burkhardt arbeitet anhand der Analyse von Facebookseiten und -beiträgen, die sich mit historischen Themen auseinandersetzen, heraus, dass eine »vielschichtige Nutzergemeinschaft mit einer Vielzahl alternativer Vergangenheitsinterpretationen« diese Plattform dominiert, Burkhardt (2016), S 165 An der Erstellung von Lexikonbeiträgen mit historischem Inhalt in der Wikipedia zeigt Manuel Altenkirch auf, dass tausende von Nutzerinnen und Nutzer daran beschäftigt sind. So waren allein am Eintrag zum Lemma Holocaust in der Wikipedia bis Juli 2013 1 006 verschiedene Accounts beteiligt, vgl. Altenkirch (2015), S. 67. Dies legt nahe, dass die Grenze zwischen Profession und Publika bei der Produktion und Verbreitung von Geschichtskultur in digitalen Zusammenhängen verschwimmt. 114 Kühberger (2015), S. 163. 115 Gukenbiehl (2016), S. 176. Neben der Idee der Institution, den Regeln und Normen der Institution und der materiellen Ausstattung der Institution gehört der Personenbestand laut Gukenbiehl zu den vier Strukturelementen von Institutionen.

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Akteure umfassen Menschen und soziale Gruppen, welche die von der Institution vorgesehenen gesellschaftlichen Rollen übernehmen.116 Da der Begriff Akteur die Position von Personen im sozialen System erfasst, ohne sie zu determinieren, bezieht er mit ein, dass Personen funktional zwischen Adressat und Adressant wechseln können. Dadurch reflektiert der Begriff, dass sich Personen reziprok beeinflussen, aber aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausstattung und hinsichtlich ihrer Möglichkeiten verschiedene Positionen im sozialen System einnehmen, weshalb Profession und Publika als verschiedene Positionen von Akteuren verstanden werden können. (Geschichts-)kulturelle Hegemonie und hegemoniale Geschichtskultur Die Identifikation von Geschichtskultur mit dem Geschichtsbewusstsein einer Gesellschaft, beispielsweise als ›kollektive Erinnerung‹ oder ›kollektives Gedächtnis‹ unterschlägt die divergenten Formen und Inhalte historischer Erinnerung sowie den unterschiedlichen Zugang zur Geschichtskultur.117 In der Trennung von kollektiver Geschichtskultur und individuellem Geschichtsbewusstsein wird diesem Problem zwar begegnet, doch die Dynamik sowie die gesellschaftliche Hierarchie bei der Aushandlung von Geschichtskultur bleiben unberücksichtigt. Als Erweiterung des von Schönemann entwickelten Konzepts der Geschichtskultur schlägt Jörg van Norden einen kritischen Konstruktivismus vor, der den hierarchisch gestuften Zugang zu Kultur in die Analyse integriert und den Fokus auf die Analyse von Herrschaft bei der Produktion von Geschichtskultur richtet.118 Ebenso kritisiert Dietrich Seybold Forschungen zur Geschichtskultur, die Entwicklungsmöglichkeiten durch Fokussierung auf den Staat als Produzenten von Geschichtskultur monopolisieren, insoweit Konflikt und Konsensbildung als wesentliche Modi gesellschaftlicher Prozesse ausge116 Der Begriff Akteur umfasst dabei die soziale Dimension des Handelns, also die Ausrichtung des Handelns an sozialen Rollen, Positionen Normen und/oder die Wirkung menschlichen Handelns auf die Gesellschaft. Handeln ist dabei durch gesellschaftliche Institutionen strukturiert, jedoch intentional, wodurch die Subjektivität sozialer Handlungen ausgedrückt und von Verhalten abgegrenzt wird. ›Akteur‹ muss nicht auf Individuen bezogen sein, auch wenn der Begriff häufig zur Erklärung individuellen Handelns im sozialen System genutzt wird. Vgl. einführend Schimank (2016), S. 28–48. Zum Homo Sociologicus und Homo Oeconomicus als virulente Akteursmodelle siehe einführend Maurer (2011). 117 Ziegler (2014), S. 82–83. Vgl. Siebeck (2013). Barricelli schlägt vor, das »freiheitsraubende […] Konstrukt eines kollektiven Gedächtnisses« fallenzulassen und stattdessen die Pluralität durch historische Erinnerung bedingte Identitätskonstruktionen zu berücksichtigen und im Unterricht u. a. durch einen angemessenen Aufbau narrativer Kompetenz, verstanden als Fähigkeit »Geschichten von Diversität und Gemeinsamkeit verstehen, bilden sowie selbst erzählen zu können« zu fördern Barricelli (2013a), S. 89 und 104. Hervorhebung im Original durch Kursivierung. 118 van Norden (2017), S. 21.

Theoretische Verortung

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blendet werden.119 Dagegen schlägt er vor, Staat und Zivilgesellschaft als zwei Pole zu fassen, wobei die verschiedenen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure sich in einem Kräftespiel um die historische Deutung und deren politischen Folgerungen befinden.120 Um die Entwicklungspotentiale geschichtskultureller Aushandlungsprozesse in den Blick zu nehmen und gleichzeitig die Dimension von Macht und Herrschaft zu fokussieren, schlage ich vor, Antonio Gramscis Begriff der kulturellen Hegemonie als heuristisches Konzept in die Forschung zur Geschichtskultur einzubinden.121 Der italienische Sozialist verfasste während seiner Haft im faschistischen Italien Skizzen und Überlegungen zur politischen Analyse westlichbürgerlicher Staaten, die er, aufgrund der Haftbedingungen, an deren Folgen er kurz nach seiner Entlassung 1937 starb, nicht mehr ausführen konnte.122 Dennoch bieten seine sog. Gefängnishefte einen originellen Ansatz für kulturwissenschaftliche Analysen, der insbesondere von britischen Kulturwissenschaften rezipiert wurde.123 Der Begriff der kulturellen Hegemonie stellt eine Schlüsselkategorie in Gramscis Verständnis zur Wirkung staatlicher Macht sowie der Reichweite des Staates dar. Die Basisformel der politischen Theorie Antonio Gramscis lautet: »Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt, Hegemonie, gepanzert mit Zwang.«124 Gramsci eröffnet damit zwei spezifische Perspektiven auf den Staat: Zum einen erweitert er den Begriff des Staates, da neben den staatlichen Institutionen im engeren Sinne auch Akteure und Institutionen der Zivilgesellschaft eingebunden werden. Diese erweiterte Reichweite bedingt zum anderen die Wirkweise staatlichen Handelns, insofern neben den repressiven Herrschaftsmitteln, die Gramsci unter den Begriff des Zwangs subsumiert, auch die »kulturelle[…] und moralische[…] Führung«125 der Bürger tritt. Hegemonie ist also kulturell, wenn die Führung kulturelle und moralische Fragen – also die Art und Weise, in der sich Menschen in der Welt verorten und ihr Leben führen – beantwortet. Kulturelle Hegemonie stiftet kollektive Identität und bietet Orientierung, indem sie Deutungsangebote verknappt, reguliert, erzeugt und refor119 Seybold skizziert diese Kritik exemplarisch am Konzept des kollektiven Gedächtnisses von Jan und Aleida Assmann siehe z. B. Assmann (2013). Assmann (2006)., vgl. Seybold (2005), S. 162–163. 120 Vgl. Seybold (2005), S. 208–209. 121 Einführend zum Staatsverständnis Antonio Gramscis vgl. Voigt (2015). Demirovic (2007). Zur theoretischen Weiterentwicklung der Staatstheorie siehe Jessop (2007). 122 Vgl. Fiori (2013). Einführend zum Staatsverständnis Antonio Gramscis vgl. Voigt (2015). 123 Siehe dazu Hall (2004). Gramscis Hegemonietheorie ist noch immer ein zentraler Begriff anglophoner Kulturwissenschaften vgl. Storey (2012), S. 82. Zu zentralen Begriffen der Staatstheorie in den Cultural Studies siehe Langemeyer (2009). 124 Gramsci (1992), § 88, S. 783. 125 Gramsci (1994), § 7, S. 1239.

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miert und damit gesellschaftliche Lebensweisen normiert. Hegemonial ist Kultur dann, wenn ihre Legitimation auf einem »aktiven und freiwilligen (freien) Konsens«126 von Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft fußt. Um diesen Konsens zu erzeugen, werden die Einstellungen und Forderungen innerhalb der Zivilgesellschaft in den staatlichen Entscheidungsprozess und in staatliches Handeln integriert, was neben der Erweiterung des Staates seine Stabilität und Flexibilität in demokratischen Systemen bedeutet, da sich die Führung den dominanten Positionen innerhalb der Zivilgesellschaft anpassen muss. Weil Hegemonie fragil ist, benötigt sie die permanente kommunikative Aushandlung legitimer Deutungsmuster und Lebensweisen. Als Hegemonieapparate bezeichnet Gramsci gesellschaftliche Einrichtungen, die im Rahmen dieses Aushandlungsprozesses »eine Reform der Bewusstseine und der Erkenntnismethoden« anstreben, um eine »entsprechende neue Moral« durchzusetzen,127 wozu beispielsweise Vereine und Gewerkschaften, Medien, Kirchen aber auch Schulen und Universitäten zählen.128 Soziale Gruppen, die kulturelle Hegemonie besitzen, dominieren in verschiedenen Hegemonieapparaten, weshalb kulturelle Hegemonie laut Stuart Hall heißt, »eine ganze Reihe von ›gesellschaftlichen Positionen‹ gleichzeitig zu besetzen.«129 Ihre Aushandlung ruht in demokratischen Systemen nur selten auf unmittelbarem Zwang, der erst greift, wenn kein Konsens hergestellt werden kann oder die strukturellen Rahmenvorgaben ignoriert werden.130 Stattdessen beruht kulturelle Hegemonie nach Stuart Hall auf einem Prozess, »in dem ein beträchtliches Maß an Zustimmung im Volk gewonnen wurde. Sie ist also ein Zeichen für einen hohen Grad an sozialer und moralischer Autorität […] in der Gesellschaft als Ganzes.«131 Übertragen auf die Geschichtskultur als soziales System kann die Produktion und Regulation von historischen Darstellungen und Deutungen als ein spezifischer Bereich in der Aushandlung kultureller Hegemonie aufgefasst werden, da Geschichtskultur zur Orientierung in der Zeit anleitet, kollektive Identität stiftet und Lebensweisen normiert. Als heuristisches Konzept erlaubt der Begriff zudem, manifestierte Geschichtskultur als Konsequenz spezifischer kultureller Hegemonie zu verstehen, denn zum einen konkurrieren verschiedene historische 126 Gramsci (1992), § 10, S. 718. 127 Gramsci (1994), § 12, S. 1264. 128 Als ›Hegemonieapparate‹ bezeichnet Althusser die ›ideologischen Staatsapparate‹ Althusser (1977). Zu den Funktionen der Schule im Staat siehe Wiater (2009). 129 Hall (2012b), S. 72. 130 In der Regel teilen Kontrahenten bei gesellschaftlichen Konflikten bestimmte Grundlagen, um überhaupt in Konflikte treten zu können. So stimmen demokratische Parteien trotz inhaltlicher Differenzen darin überein, dass erst Wahlen die Bildung von Regierungen legitimieren. Ebenso ist die Deutung von (historischen) Ereignissen in einem durch Konsens strukturierten Rahmen eingebettet, vgl. Hall (2012a), S. 142–149. 131 Hall (2012b), S. 72.

Theoretische Verortung

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Deutungen um Hegemonie und zum anderen setzen sich historische Erinnerungen dann gesellschaftlich durch und werden in geschichtskulturellen Objekten stabilisiert, wenn sie innerhalb der Hegemonieapparate breite Zustimmung erhalten. Da hegemoniale Geschichtskultur jedoch nicht auf reinem Zwang gründet, sondern auf einem aktiven und freiwilligen Konsens, müssen geschichtskulturelle Artikulationen mitunter divergente Positionen synthetisieren und von bedeutsamen gesellschaftlichen Akteuren und Institutionen getragen werden, um hegemonial zu werden. Einen Ansatz zur Identifikation dieser Anforderungen bieten die von Rüsen eingebrachten geschichtskulturellen Dimensionen Herrschaft, Schönheit und Wahrheit, demnach Geschichtskultur zur (De-)Legitimation des staatlichen Systems dient, durch ihre Gestaltung eingängig ist und breit rezipiert werden kann und schließlich rationalen Maßstäben entspricht, indem sie historische Triftigkeit besitzt und nachvollziehbar ist.132 Analog zur kulturellen Hegemonie wird vorgeschlagen, von geschichtskultureller Hegemonie dann zu sprechen, wenn konfligierende geschichtskulturelle Artikulationen zwischen Parteien der Zivilgesellschaft und der politischen Gesellschaft ausgehandelt und in einen Konsens überführt werden, der sich in Gesetzen, Objekten, Ritualen und Institutionen niederschlägt, stabilisiert und die weitere Entwicklung der Geschichtskultur beeinflusst. Geschichtskulturelle Hegemonie verhindert die Proliferation geschichtskultureller Aussagen, indem der Rahmen der legitimen historischen Deutungsleistung sowie der Personenkreis innerhalb der Hegemonieapparate eingeschränkt werden. Wer geschichtskulturelle Hegemonie besitzt, bestimmt hegemoniale Geschichtskultur. Umgekehrt weist gerade die Wucherung kontroverser, geschichtskultureller Aussagen auf Fragilität geschichtskultureller Hegemonie hin. Der zur hegemonialen Position avancierte geschichtskulturelle Konsens drückt sich schließlich in hegemonialen Projekten aus,133 die materielle oder juristische Konsequenzen nach sich ziehen. Solche hegemonialen Projekte können im geschichtskulturellen Bereich beispielsweise die Debatten um die Verleihung von Straßennamen mit historischem Bezug, die Gestaltung und Einrichtung offizieller Gedenktage, die Einrichtung und inhaltliche Bestimmung von geschichtswissenschaftlichen Professuren, Denkmälern, Gedenkstätten oder historischen Museen sein. Unter geschichtskulturell hegemoniale Projekte fällt auch die Aushandlung von Lehrplänen im Fach Geschichte und die Zulassung von Schulgeschichtsbüchern. Schließlich können darunter auch die Zahlungen in Form von ›Wiedergutmachung‹, die Anerkennung kultureller Praktiken von Minderheiten oder gar die Legitimation politischer Systeme fallen, sofern sie historisch begründet werden, beispielsweise in Form einer kritischen ›Lehre aus der Geschichte‹ oder affirmativen Tradierung 132 Vgl. Rüsen (1994), S. 11–21. 133 Vgl. Jessop (1990), S. 207–209.

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des Historischen. Insgesamt führt geschichtskulturelle Hegemonie auf materieller Ebene dazu, dass sie »den moralischen ›Haushalt‹ einer Gesellschaft unter Verarbeitungsdruck setzt«.134 Da geschichtskulturelle Hegemonie von der Deutungsmacht der Akteure und Institutionen des geschichtskulturellen Systems bestimmt ist, benötigt Geschichtskultur, um hegemonial zu werden, nicht die Gesamtheit aller im System agierenden Kräfte, sondern nur die im Konsens integrierten geschichtskulturellen Positionen. Hegemoniale Geschichtskultur verändert sich, wenn neue Akteure und Institutionen mit hoher Deutungsmacht im System auftreten oder herkömmliche Akteure und Institutionen neue Deutungen produzieren. Geschichtskulturelle Hegemonie ist also von Kämpfen um Deutungshoheit und deutungsmächtige Positionen gezeitigt, weshalb Geschichtskultur in diesem Kontext als konflikthafter Prozess um historische Deutung und Deutungshoheit zu verstehen ist. Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern und geschichtskulturelle Hegemonie Überträgt man das eben entfaltete heuristische Konzept der geschichtskulturellen Hegemonie auf die Zulassung von Schulgeschichtsbüchern, lässt sich das Zulassungsverfahren als Hegemonieapparat im sozialen System der Geschichtskultur verstehen, in dem verschiedene Vertreter der zivilen und der politischen Gesellschaft – Autorinnen und Autoren und Verlage sowie Gutachterinnen und Gutachter und Beamte des Kultusministeriums – hegemoniale Geschichtskultur in Schulgeschichtsbüchern aushandeln. Dies deckt sich mit Thomas Höhnes Theorie des Schulbuchs als ›Konstruktorium‹. Auf der Medientheorie Stuart Halls aufbauend, schlägt Höhne einen sozialkonstruktivistischen Ansatz zur Analyse von Schulbuchinhalten vor, da er das in Schulbüchern enthaltene Wissen als kontingentes Produkt sozialer Aushandlungsprozesse sieht. In der Metapher der ›Diskursarena‹ drückt Höhne »den Konsenscharakter sowie die Selektionsprozesse des Schulbuchwissens« aus.135 Die Relevanz dieser Aushandlung ergibt sich aus der doppelten Funktion von Schulbüchern als Mittel staatlicher Kontrolle von Unterrichtsinhalten und als Spiegel gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung. Kontingente Schulbuchinhalte sind abhängig von der Deutungsmacht der direkt am Zulassungsverfahren beteiligten Akteure. Die staatliche Kontrolle von Schulgeschichtsbüchern kann insgesamt als geschichtskulturelle Wiederholungsstruktur konzeptualisiert werden, in der die 134 Seybold (2005), S. 204. 135 Höhne (2005), S. 68. Zur Kritik an Höhnes Absage an das ideologiekritische Forschungsprogramm siehe Fey (2015).

Quellenkorpus und methodisches Vorgehen

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beteiligten Akteure um geschichtskulturelle Hegemonie und hegemoniale Geschichtskultur ringen, wobei jedes einzelne Zulassungsverfahren ein einmaliges Ereignis innerhalb der Kontrollinstanz darstellt. Während in Schulgeschichtsbüchern hegemoniale Geschichtskultur ihren Ausdruck findet, ist ihre Durchsetzung in der Deutungsmacht der am Entscheidungsprozess beteiligten Akteure begründet, die ihre Deutungen durch das Zulassungsverfahren in das Schulbuch einschreiben. Das Zulassungsverfahren stellt eine zentrale Instanz bei der Entwicklung von Schulgeschichtsbüchern dar, da erstens Verlage wie auch der Staat in die innere Gestaltung des Buches eingreifen und zweitens anzunehmen ist, dass die Produktion mindestens implizit auf das Zulassungsverfahren ausgerichtet ist. Denn in den Zulassungsverfahren wird entschieden, ob ein Manuskript auf den Schulbuchmarkt gelangen wird. Deshalb liegt das Augenmerk der prozessorientierten Schulbuchanalyse auf der Untersuchung der Zulassungsverfahren. Eine Analyse der Zulassungsverfahren im Hinblick auf die Frage, welche historischen Deutungen zum Nationalsozialismus sich durchsetzen, arbeitet dazu die positionale und die argumentative Macht der an der Zulassung beteiligten Akteure heraus. In diesem Kontext werden auch die fachlichen Überzeugungen der Akteure von Relevanz sein. Das methodische Vorgehen wird im Folgenden erläutert.

1.3. Quellenkorpus und methodisches Vorgehen In diesem Kapitel wird der Quellenkorpus der vorliegenden Studie vorgestellt und diskutiert. Im Anschluss werden die Methoden beschrieben, die die Analyse des Quellenbestands anleiten. Quellenkorpus Der Quellenbestand gliedert sich in gedruckte und ungedruckte Quellen zur Produktion und Zulassung von Lehrwerken sowie zu den bildungspolitischen Rahmenbedingungen und normativen, strukturellen und akteursbezogenen Bedingungen der Zulassungsverfahren. Als ungedruckte Quellen wurden zum einen Unterlagen systematisch gesichtet, die im Zuge der staatlichen Prüfung von Schulgeschichtsbüchern zur lernmittelfreien Zulassung entstanden,136 also interne Korrespondenzen zwischen den Beamten des Bayerischen Kultusministeriums, Gutachten über die zur Zulassung eingereichter Manuskripte, Protokolle des Ministeriums von Gesprächen und Telefonaten mit Verlagsangestellten, 136 BayHStA MK 63541; 63817; 63818–63833; 63835–63840; 63842–63847; 64256–64258; 64260– 64272; 64363; 64517–64520; 64523–64526; 65421.

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Autorinnen und Autoren, Bürgerinnen und Bürgern und schließlich Stellungnahmen und Gegengutachten von Seiten der Verlage und von Interessenverbänden. Anhand dieser Quellen können auch Strategien von Lehrmittelverlagen herausgearbeitet werden. Im Untersuchungszeitraum von 25 Jahren konnten 65 Zulassungsverfahren gezählt werden, an denen über 100 Personen beteiligt waren, darunter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums, Historikerinnen und Historiker des Instituts für Zeitgeschichte in München, Kirchen, aber vor allem Lehrkräfte. Im Rahmen dieser Verfahren wurden über 150 Gutachten verfasst. Im Durchschnitt waren 2,4 Sachverständige in je einem Zulassungsverfahren beteiligt. In manchen Zulassungsverfahren wurden bis zu fünf Gutachterinnen und Gutachter einbezogen. Im Rahmen eines Zulassungsverfahrens konnten die Sachverständigen durchaus mehr als ein Gutachten verfassen. Dies war der Fall, wenn ein Zulassungsverfahren mehrere Prüfgange umfasste, da das ursprünglich eingereichte Manuskript zunächst nicht zugelassen wurde und vom Verlag überarbeitet werden musste. Wurde auch im zweiten Prüfgang der Gutachter oder die Gutachterin wieder zur Prüfung des Manuskripts gebeten und war erneut unzufrieden, konnten die Mängel in einem zweiten Gutachten aufgezeigt werden. Mit fünf Prüfgängen stellte das Zulassungsverfahren des Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹ das umfangreichste Verfahren im Untersuchungszeitraum dar.137 Von einigen zentralen Beamten im Kultusministerium sowie von exponierten Sachverständigen wurden, sofern verzeichnet, auch Personalakten gesichtet.138 Diese Akten enthalten Informationen über die fachlichen Qualifikationen der Akteure hinsichtlich ihrer Arbeit als Gutachterinnen und Gutachter. So geben die Personalbögen Auskunft über den Karriereweg der Lehrkräfte. Zudem enthalten die Akten auch Beurteilungsbögen, in denen Vorgesetzte die fachlichen Stärken und Schwächen der Lehrkräfte skizzierten. In manchen Fällen liegen den Personalakten auch Ego-Dokumente, beispielsweise ein Lebenslauf bei. Wegen der im Zuge des ›Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus‹ auszufüllenden Meldebögen erlauben die Personalakten auch einen groben Einblick in die individuelle Integration der Personen in das ›Dritte Reich‹.139 Die biographischen Quellen werden auf kollektivbiographische Merkmale untersucht140 und vor dem Hintergrund der Ergebnisse der historischen Generatio-

137 C.C Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971. 138 BayHStA MK 43125; 45880; 48269; 54118; 54120; 54140; 54154; 54156; 56677; 56760; 59713; 59760; 75321; 76254. BayHStA Reichsstatthalter 7629. 139 Allgemein zur Entnazifizierung in Bayern siehe das noch immer gültige Standardwerk Niethammer (1982). Zur Entnazifizierung allgemein siehe Vollnhals und Schlemmer (1991). 140 Zur Methode der historischen Kollektivbiographie vgl. Schröder (1985). Schröder (2011).

Quellenkorpus und methodisches Vorgehen

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nenforschung eingeordnet.141 Da nicht alle erforderlichen Personalakten im Hauptstaatsarchiv gelistet sind, reduzierte sich die Zahl der gehobenen Quellen. Ergänzend wurden deshalb noch die Personalakten von Personen herangezogen, die an weniger Zulassungsverfahren beteiligt waren.142 Die acht Sachverständigen repräsentieren zwar nur zehn Prozent der Grundgesamtheit aller an Zulassungsverfahren beteiligten Lehrkräfte, waren aber an mehr als jedem dritten Zulassungsverfahren involviert. Demzufolge geben sie nur Näherungswerte für die kollektivbiographische Analyse des Personenkreises.143 Schließlich wurden Quellen gesichtet, die sich generell mit der Schulbuchpolitik und speziell dem Zulassungsverfahren beschäftigten,144 also Geschäftsverteilungspläne, Korrespondenzen zwischen der Bayerischen Staatskanzlei und dem Kultusministerium bzw. dem Landtag, interne Korrespondenzen des Kultusministeriums zu Zulassungsverfahren sowie externe Korrespondenzen mit anderen Bundesländern. Zum anderen wurden Unterlagen zur Produktion von zwei Schulgeschichtsbüchern aus dem C.C. Buchners Verlag145 und dem Bayerischen Schulbuch-Verlag146 gesichtet, die in den 1950er und 1960er Jahren veröffentlicht wurden. Das betrifft vor allem Briefkorrespondenzen zwischen Verlagsangestellten und Herausgebern sowie Autorinnen und Autoren, selten Notizen von Autorentreffen und in einem Fall ein redigiertes Manuskript.147 Neben den ungedruckten Quellen wurden Lehrpläne sowie Verordnungen und Bekanntmachungen hinsichtlich der Zulassungsverfahren und des (Ge-

141 Siehe einführend zur historischen Generationenforschung Jureit (2010). Schulz und Grebner (2003). Kritisch: Lepsius (2005). Die Heuristik historischer Generationenforschung birgt das Problem falscher Identifikation von einer Mehrheit der Kohortenmitglieder mit der gesamten Generation. 142 Die Analyse der beruflichen Biographien kann hier Hinweise auf die Entscheidungsgrundlagen der Referentinnen und Referenten geben. 143 Zur Repräsentativität kollektivbiographischer Studien vgl. Schröder (2011), S. 105. 144 BayHStA MK 62120; 62121; 63654; 63655; 64255; 65604; 65608; 81263; 85947. BayHStA StK 17595; 1756. 145 Mittlerweile lautet der Name des Verlags C.C. Buchner. Die Akten des C.C. Buchners Verlags lagern, leider kaum verzeichnet, im Bayerischen Wirtschaftsarchiv. BayWA F28/184-b. 146 BayHStA BSV 455; 459; 462; BayHStA ORH 1832; 1833. 147 Aus datenschutzrechtlichen Gründen werden die Namen der Gutachterinnen und Gutachter sowie der Beamten des Kultusministeriums weitgehend anonymisiert. An einigen Stellen wird von dieser Anonymisierung abgewichen. Dies ist dann der Fall, wenn die betroffene Person bereits verstorben ist und ein öffentliches, bedeutsames Amt ausgeübt hat. Auf Seiten der Verlage konterkariert eine Anonymisierung der Akteure dem Forschungsinteresse, da die Zuordnung der Aussagen zur Position des Aussagenden im Entscheidungsprozess bedeutsam ist. Deshalb wurde auch in diesen Fällen von einer Anonymisierung Abstand genommen. In diesem Sinne werden auch die Namen der verstorbenen Historiker des Instituts für Zeitgeschichte genannt, die sich bei Zulassungsverfahren beteiligten.

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schichts-)Unterrichts in die Analyse einbezogen.148 Die Lehrpläne und Richtlinien stellen die Rahmenbedingungen der Schulbuchproduktion sowie der Zulassungsverfahren dar. Daneben wurden auch Landtagsprotokolle in die Analyse integriert, insoweit sie schulbuchpolitische Themen, wie etwa die Gestaltung der Zulassungsverfahren oder die inhaltliche bzw. didaktische Ausstattung von Schulgeschichtsbüchern betreffen.149 Zudem wurden insgesamt dreißig in Bayern während des Forschungszeitraums geprüfte Schulgeschichtsbücher in die Analyse aufgenommen. Die Schulgeschichtsbücher ›Fragen an die Geschichte‹150, ›Zeitgeschichte und wir‹151 und ›Geschichte für die Jugend‹152 erhielten keine Zulassung in Bayern. Sie dienen zur Ergänzung des Quellenbestands, um die situativen Grenzsetzungen der Zulassungsverfahren zu skizzieren. Die als Lehrkräfte tätigen Sachverständigen, aber auch die Autorinnen und Autoren von Schulgeschichtsbüchern sowie die Verlage und Referate des Kultusministeriums überblickten die jeweils zugelassenen Schulgeschichtsbücher in Bayern, weshalb diese Medien neben den Lehrplänen eine wichtige Bezugsgröße hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung und konkreten Deutung des Nationalsozialismus darstellten. Da die Manuskripte nicht vorlagen, ist eine Wirkungsanalyse des Entscheidungsprozesses häufig nur dann möglich, wenn Gutachterinnen und Gutachter aus dem Manuskript zitierten oder sehr konkrete Änderungs- und Textvorschläge äußerten. Da die Sachverständigen gegebenenfalls auch direkt in das Manuskript lektorierten, ist davon auszugehen, dass die direkte formative Wirkung der Zulassungsverfahren auf die Schulgeschichtsbücher höher lag, als in der Studie aufgezeigt werden kann. Der Abgleich von Gutachten und Lehrwerk ist zudem nur dann möglich, wenn das Buch auch gedruckt wurde. Da der wirtschaftliche Erfolg des Buches an die Zulassung gebunden war, blieben nicht zugelassene Lehrwerke unveröffentlicht, sofern sie nicht in anderen Bundesländern vertrieben wurden. Zu bedenken ist weiterhin die lückenhafte Überlieferungssituation des Entscheidungsprozesses. Es ist anzunehmen, dass die Beamten des Kultusministeriums untereinander viele Meinungsverschiedenheiten mündlich aushandeln konnten, weshalb im Zulassungsverfahren gewonnenes Wissen und diskutierte Haltungen, die für den Entscheidungsprozess relevant waren, nicht vollständig überliefert sind. 148 Die Lehrpläne sowie Verordnungen sind abgedruckt im Amtsblatt des Kultusministeriums: KMBL. Daneben sind Gesetze, die die Richtlinien der Zulassungsverfahren betreffen im Gesetzes- und Verordnungsblatt veröffentlicht: GVBl. 149 Bay.Landtag 2/1950–1954, Protokoll 26. Februar 1953. Bay.Landtag 3/1954–1958, Protokoll, 2. Februar 1956. Bay.Landtag 3/1954–1968, Protokoll, 25. März 1958. Bay.Landtag 6/1966– 1970, Protokoll 23. Januar 1968. Bay.Landtag 6/1966–1970, Beilage 1350, 17. Oktober 1968. Bay.Landtag 6/1966–1970, Beilage 2654 17. Dezember 1969. 150 Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979. 151 List, Zeitgeschichte und wir, 1962. 152 Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959.

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Die hohe Anzahl an Sachverständigen und der Entstehungsprozess von Gutachten erschwert eine quellenkritische Analyse der Textsorte, denn die Gutachten sind weniger eine standardisierte, sondern eher eine situative Textgattung. Deren Form war zwar durch den Anlass bedingt, deren Qualität hing aber auch vom Interesse, Engagement, der Zeit und der Kompetenz des jeweiligen Autors bzw. der Autorin ab. Dieser enge Entstehungskontext kann nicht nachgezeichnet werden. Die Gutachten zeigen durchaus qualitative und quantitative Unterschiede auf. Manche Sachverständige gaben an, wieviel Zeit sie für die Erstellung des Gutachtens verwendeten oder wie sie bei der Begutachtung der Lehrwerke vorangegangen sind. Dies ermöglicht tentative, nicht aber generelle Rückschlüsse auf die Intensität der Auseinandersetzung der Sachverständigen mit den Manuskripten. Bei der Auswertung der Gutachten sollte dieses Problem berücksichtigt werden. Die randomisierten Entstehungsbedingungen, der lange Forschungszeitraum sowie die lückenhafte Überlieferung im Hinblick auf die Wirkung der Gutachten konterkarieren eine typenbildende Quellenauswertung. Auch deshalb wird die Analyse der Gutachten entlang inhaltlicher Komponenten durchgeführt. Der Quellenbestand erlaubt zum einen, die Sichtweise der an der Entwicklung von Schulbüchern beteiligten Akteure und Institutionen – Verlage mit den Autorinnen und Autoren sowie den Staat mit den Sachverständigen – zu untersuchen. Zum anderen kann die Schulbuchpolitik auf mehreren institutionellen Ebenen – von den Beamten im Kultusministerium bis zur Staatskanzlei und zum Landtag – erörtert und insbesondere das Zulassungsverfahren als zentrales, direktes Steuerungsmittel des Staates geprüft werden. Zitate aus den Quellen werden in der vorgefundenen Form übernommen und lediglich offensichtliche Rechtschreibfehler korrigiert, wobei die Rechtschreibung allerdings nicht an die gegenwärtigen Regeln angepasst wird. Zusätzliche Anmerkungen werden in eckigen Klammern [] eingefügt. Historische Amtsbezeichnungen werden übernommen. Die vorliegende Studie hat zwei Zeitschichten zum Gegenstand: Zum einen erstreckt sich der Untersuchungszeitraum auf die Zeit von 1949 bis in die Mitte der 1970er Jahre. Zum anderen bezogen sich die Gutachterinnen und Gutachter sowie die untersuchten Schulgeschichtsbücher auf die Geschichte des Nationalsozialismus. In einzelnen Fällen erstreckt sich der Untersuchungszeitraum auch auf die Zeit des ›Dritten Reichs‹, so etwa wenn die Biographien der Akteure der Zulassungsverfahren ausgewertet werden. In der Studie wird die untersuchte Zeit deshalb im Präteritum verfasst und das Perfekt verwendet, um die Differenz zwischen der untersuchten Zeit und der in den Zulassungsverfahren thematisierten Zeit zu markieren.

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Methodische Hinweise Um den Begriff der geschichtskulturellen Hegemonie zu operationalisieren, greift die vorliegende Studie ergänzend zur historischen Methode auf die Prozessanalyse von Frank Nullmeier et al. zur Untersuchung von Entscheidungsprozessen in Gremien zurück.153 In diesem Sinne ist jedes Zulassungsverfahren ein Entscheidungsprozess über die Zu- oder Absage zu einem eingereichten Schulbuchmanuskript.154 Zentrales Erkenntnisinteresse der Prozessanalyse ist das Aufzeigen von Machtverhältnissen und ihre Wirkung auf die historische Dynamik.155 Nullmeier et al. setzen ihrer Analyse voraus, dass an Entscheidungsprozessen zweifelsohne interessiert, »ob und wie sich Macht in ihnen zur Geltung bringt.«156 Macht wird als eine dem Prozess inhärente Größe gefasst, die u. a. durch die Asymmetrie der Beteiligten entsteht, wenn die Akteure unterschiedliche Positionen einnehmen und verschiedene Kompetenzen besitzen,157 wobei zwischen positionaler und argumentativer Macht unterschieden wird. Die Methode der Prozessanalyse ist konform mit dem zuvor charakterisierten Begriffspaar geschichtskulturelle Hegemonie und hegemoniale Geschichtskultur. Insofern (historische) Deutungsmuster nach Stuart Hall dann hegemonial werden können, wenn ihre Träger einflussreiche gesellschaftliche Positionen bekleiden und ihre Deutungen anschlussfähig zu konkurrierenden Überzeugungen formulieren, ist geschichtskulturelle Hegemonie abhängig von der positionalen und argumentativen Macht der Akteure.158 Abhängig von der Position ist auch die Möglichkeit zum Einsatz argumentativer Macht. Für das Zulassungsverfahren können diese Positionen beispielsweise dadurch bedingt sein, dass Akteure bestimmte Ämter bekleiden (Staatssekretär vs. Studienrat), unterschiedliche Institutionen vertreten (geschichtswissenschaftliche Forschungseinrichtungen vs. Lehrerbildungszentren), unterschiedlich lange dem Entscheidungsprozess

153 Nullmeier, Baumgarten, Pritzlaff und Weihe (2008). 154 Prozess wird dazu zunächst formal als Abfolge von Ereignissen verstanden, die durch eine Wiederholungsstruktur geordnet und innerhalb dieses Rahmens ergebnisoffen ist. So auch Luhmann nach Miebach (2009), S. 40. 155 Auf Grundlage des gramscianischen Staatsverständnis empfiehlt die Forschungsgruppe ›Staatsprojekt Europa‹ eine Prozessanalyse, die eingebettet in den Ansatz der historischmaterialistischen Politikanalyse (HMPA) neben der Kontext- und Akteursanalyse besteht. vgl. Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa (2014), S. 53–58. Siehe auch Syrovatka (2016), S. 39–42. Während mit der HMPA politische Strategien in den Blick genommen werden, die über eine konkrete politische Handlung hinaus verschiedene Politikfelder einbezieht, bleibt diese Studie im Feld der Geschichtskultur und prüft verschiedene, kleine Hegemonieprojekte, nämlich die einzelnen Zulassungsverfahren, weshalb der Ansatz der HMPA nicht weiter verfolgt wird. 156 Nullmeier et al. (2008), S. 85. 157 Vgl. Nullmeier et al. (2008), S. 86. 158 Hall (2012a), S. 142–149.

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angehören (Referent des Kultusministeriums vs. Gutachter), inhaltliche Bezüge aufstellen und diskutieren bzw. entscheidungsrelevantes Wissen erzeugen. Forschung zu geschichtskultureller Hegemonie sollte diese Positionen, ihre Deutungsmacht und die konkrete Aushandlung analysieren. Die Analyse der Aushandlung hegemonialer Geschichtskultur in den Zulassungsverfahren verläuft in zwei Schritten. Im ersten Schritt wird die Struktur der Zulassungsverfahren in seinem historischen Wandel herausgearbeitet, um die Machtverhältnisse und Handlungsspielräume der Akteure und Akteursgruppen zu bestimmen. Für diese Strukturanalyse greift die Studie auf verschiedene gedruckte und ungedruckte Quellen zurück. Lehrpläne und vom Kultusministerium vorgegebene Richtlinien zum Geschichtsunterricht schränken als normative Quellen die Macht der Akteure ein und binden als Bezugspunkte die Argumentation und den Entscheidungsprozess der Akteure. Zur Formanalyse der Machtverhältnisse dienen vor allem Geschäftsverteilungspläne, Dienstanweisungen, interne Absprachen zwischen den Beamten des Ministeriums, schriftliche Absprachen zwischen dem Bayerischen Kultusministerium und anderen Ministerien sowie die Korrespondenz zwischen dem Bayerischen Kultusministerium mit den Verlagen. Eine kollektivbiographische Analyse der Personalakten und ihre Interpretation vor dem Hintergrund der Erkenntnisse historischer Generationenforschung erlaubt Rückschlüsse auf die Primärerfahrungen der Personen der Zulassungsverfahren159 sowie auf ihre erfahrungsbedingten Argumentationen in den Gutachten. Zudem werden die Bedingungen extrapoliert, die Personen erfüllen mussten, um als Sachverständige an Zulassungsverfahren teilnehmen zu können. Um die disparaten geschichtskulturellen Artikulationen auf der Bedeutungsebene zu aggregieren, greift die Studie im zweiten Schritt auf die Methode der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (ISQI) nach Udo Kuckartz zurück.160 Die ISQI ist ein mehrstufiges Verfahren, das nach der ersten Durchsicht des Korpus’ und der Markierung relevanter Textstellen thematisch gebundene Hauptkategorie entwickelt, auf deren Grundlage der Korpus codiert wird. In mehreren Durchgängen im Text, können die Hauptkategorien durch von ihnen abhängige Subkategorien ausdifferenziert werden. Das Ergebnis ist ein thematisch gebundenes Kategoriensystem, welches mit konkreten Textpassagen gefüllt ist. Die Auswertung des erfassten Materials hat hier den Zweck, sowohl die Sinnzusammenhänge innerhalb einer Hauptkategorie als auch die »Zusam-

159 Zur Methode der historischen Kollektivbiographie vgl. Schröder (1985). Schröder (2011). Siehe einführend zur historischen Generationenforschung Jureit (2010). Schulz und Grebner (2003). Kritisch: Lepsius (2005). Lepsius hebt hervor, dass die Methode das Problem birgt, die vielfältigen Strömungen in einer Generation zu vereinheitlichen. 160 Vgl. Kuckartz (2016), S. 97–121.

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menhänge zwischen Kategorien« aufzuzeigen,161 weshalb im Vergleich zu quantitativen Methoden, die nach Häufigkeit des Erfassten fragen auch Einzelfälle besondere Gewichtung erfahren können. Die Auswertung erfolgt mit Hilfe des qualitativen Daten- und Textanalyseprogramms MAXQDA. Grundsätzlich können Kategorien deduktiv, also durch einen Operationalisierungsprozess theoretischer Vorüberlegungen, sowie induktiv, also »direkt aus dem Material in einem Verallgemeinerungsprozess« abgeleitet werden.162 Kuckartz resümiert jedoch, dass diese beiden Verfahren »in Forschungsprojekten allerdings in ihrer reinen Form nur selten anzutreffen« sind.163 In das Korpus werden die über 150 Gutachten, Gegengutachten und Stellungnahmen eingebunden, die bei Zulassungsverfahren angefallen sind und in der Archivrecherche gehoben werden konnten. In die Analyse werden die Quellen dann einbezogen, wenn direkt Aspekte zur Geschichte des Nationalsozialismus angesprochen wurden. Auch wenn die Gutachterinnen und Gutachter indirekt auf die Geschichte des Nationalsozialismus Bezug nahmen, etwa indem sie über die ›jüngste Vergangenheit‹ oder die ›Zeitgeschichte‹ im Allgemeinen sprachen, werden die Gutachten untersucht. Da die Manuskripte nicht im Hauptstaatsarchiv gelistet sind, der Kontext der Gutachten jedoch zur Interpretation notwendig ist, werden zudem noch dreißig in Bayern während des Forschungszeitraums geprüfte Schulgeschichtsbücher in die Analyse einbezogen. Zunächst werden die Kategorien anhand der Gutachten und Gegengutachten entwickelt. Anschließend werden die Schulgeschichtsbücher einer strukturierenden Inhaltsanalyse unterzogen, die den inhaltlichen Kategorien folgt, die bei der Analyse der Dokumente gewonnen wurde, die im Zuge des Zulassungsverfahrens erzeugt wurden. Das so gewonnene Kategoriensystem wird in einem zweiten Durchlauf durch den Quellenbestand verdichtet. Hauptkategorien: fünf Konfliktfelder Es erweisen sich fünf Themengebiete als vergleichsweise konstante, konfliktreiche Gebiete, die im Sinne der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse als thematische Hauptkategorien erfasst und als Konfliktfelder bezeichnet werden. Diese Konfliktfelder umfassen mehrere Aspekte zur Geschichte des Nationalsozialismus, die jedoch in einem engen Sinnzusammenhang stehen. Die Konfliktfelder werden in spezifischen Unterkapiteln (3.1.–3.5.) dokumentiert und interpretiert. Im Konfliktfeld Weimar sind Aussagen aggregiert, die den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten zu 161 Kuckartz (2016), S. 119. 162 Mayring (2010), S. 83. 163 Kuckartz (2016), S. 97.

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erklären versuchten oder im Manuskript vorhandene Erklärungen revidierten, ergänzten bzw. widersprachen. Das Konfliktfeld Hitler umfasst die Debatten zu Adolf Hitlers Biographie, Persönlichkeit und demagogischen Fähigkeiten. Unter Antisemitismus werden Aussagen zusammengefasst, die sich auf die Gewichtung des Antisemitismus in der NS-Weltanschauung, auf antisemitische Maßnahmen und Gesetze während des Nationalsozialismus (z. B. vom Boykott jüdischer Geschäfte bis hin zur Vernichtung der europäischen Juden) sowie auf den historischen Ort des nationalsozialistischen Antisemitismus in der deutschen Geschichte bezogen. Bevölkerung und ›Drittes Reich‹ umfasst geschichtskulturelle Artikulationen, die direkt oder indirekt die Rolle der mehrheitsdeutschen Bevölkerung im NS-Regime fokussierten.164 Dafür boten v. a. die NS-Propaganda, die vermeintlichen wirtschafts- und außenpolitischen Erfolge sowie der NSTerror mitunter konfligierende Erklärungen. Zudem hing die Deutung der Mehrheitsdeutschen im ›Dritten Reich‹ auch von der Einordnung der Kirchen sowie des organisierten Widerstands ab. Der geschichtskulturelle Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg wird im Konfliktfeld Kriegsverlauf zusammengefasst. Hier werden Aussagen gesammelt, die den Ausbruch und die Entwicklung des Zweiten Weltkriegs, Auswirkungen des Kriegsverlaufs auf die mehrheitsdeutsche Bevölkerung (z. B. durch die Bombardierung deutscher Städte) und auf die europäische Bevölkerung (z. B. Verbrechen des NS Regimes während der Besatzung) sowie das Verhältnis von Wehrmacht und Regime betrafen. Die einzelnen Konfliktfelder tangieren unterschiedliche Topoi, die sich wiederum in mehreren Konfliktfeldern finden. Beispielsweise ist das Thema Widerstand dem Konfliktfeld Bevölkerung und ›Drittes Reich‹ zugeordnet, doch wegen des Fokus auf den militärischen Widerstand um den 20. Juli 1944 erlaubt die Analyse des Themas auch Aussagen zur geschichtskulturellen Deutung der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und könnte dem fünften Konfliktfeld Kriegsverlauf zugeordnet sein. Deshalb besitzt die kategoriengeleitete Analyse der geschichtskulturellen Artikulationen vor allem heuristische Funktion. Es ist der Zweck der inhaltlichen Kategorien, Deutungskonflikte bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus herauszuarbeiten, die bei der Begutachtung von Schulgeschichtsbüchern über den Forschungszeitraum hinweg aufgetreten sind, und die Veränderungen im Umgang mit der Geschichte des 164 Unter Mehrheitsdeutsche werden die Deutschen verstanden, die keiner Opfergruppe des Nationalsozialismus angehört haben. Der Begriff reflektiert auf den Umstand, dass zwar im Unrechtsregime des ›Dritten Reichs‹ auch Deutsche aus der NS-Volksgemeinschaft ausgeschlossen worden sind, aber im überpositiven Sinn dennoch Deutsche geblieben sind. Die Rede von der deutschen Bevölkerung wird dem komplexen Verhältnis von deutschen Juden im Nationalsozialismus, aber auch den aus der NS-Volksgemeinschaft ausgeschlossenen sog. Asozialen, Erbkranken, Kommunisten und deutschen Sinti und Roma und weiteren Minderheiten zur NS-Volksgemeinschaft nicht gerecht.

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Nationalsozialismus im Rahmen des Untersuchungszeitraums zu identifizieren. Ein Deutungskonflikt tritt dann auf, wenn ein Akteur während eines Zulassungsverfahrens im Sach- oder Werturteil in Bezug auf einen historischen Sachverhalt vom begutachteten Manuskript bzw. vom Gutachten abweicht. Deshalb wurde auf die Analyse von Aussagen verzichtet, wenn angenommen werden kann, dass ihnen kein Deutungskonflikt zugrunde lag (z. B. bei der Korrektur von Rechtschreib- oder Grammatikfehlern, stilistische Verbesserungen oder die Korrektur historischer Daten) und wenn thematische Artikulationen in nur sehr wenigen Gutachten auftraten.

1.4. Aufbau der Studie Die vorliegende Arbeit ist nicht chronologisch, sondern kategorial-thematisch strukturiert und gliedert sich in zwei analytische Kapitel. In Kapitel 2. wird die Struktur der Zulassungsverfahren als Instanz des Bayerischen Kultusministeriums zur Kontrolle von Schulbuchinhalten herausgearbeitet. Dazu werden zunächst (2.1.) die bildungspolitischen Rahmenbedingungen und normativen Grundlagen der Zulassungsverfahren untersucht. Inwiefern die geltenden Geschichtslehrpläne in den eingereichten Manuskripten umgesetzt waren, war ein zentrales Prüfkriterium bei den Zulassungsverfahren. Das Kapitel bindet deshalb die Geschichtslehrpläne, Richtlinien und Entschließungen des Kultusministeriums zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in Schule und Unterricht ein und zeigt die Entwicklung der Rahmenbedingungen im Untersuchungszeitraum von der Stofforientierung zur Curricularisierung auf. Anschließend (2.2.) wird die strukturelle Entwicklung der Zulassungsverfahren von der Übernahme der Schulbuchpolitik durch das Kultusministerium bis in die späten 1970er Jahre herausgearbeitet. Zwar war die Kontrolle der Schulgeschichtsbücher ein Verwaltungsakt, der den Ministerialbeamten zur selbstständigen Bearbeitung überlassen wurde, dennoch schälte sich die Form der Zulassungsverfahren erst in den 1950er Jahren gegen konkurrierende Modelle heraus und auch in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren blieb die Form der Zulassungsverfahren Gegenstand hitziger Debatten zivilgesellschaftlicher Vereine und Verbände sowie staatlicher Apparate. Nachdem die Entwicklung der äußeren Struktur untersucht wurde, erläutert Kapitel 2.3 den Personalbestand der Zulassungsverfahren. Die kollektivbiographische Analyse der Personalakten frequentierter Gutachter und zentraler Beamter zeigt die Auswahlmechanismen von Gutachterinnen und Gutachtern und den Zusammenhang ihrer biographischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und den historischen Deutungen dieser Zeit in den Gutachten. Schließlich entfaltet Kapitel 2.4. anhand der Analyse von vier beispielhaften Zulassungsverfahren eine Typologie von Verlagsstrategien im Umgang

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mit dieser Kontrollinstanz. Insgesamt arbeitet Kapitel 2. die Verteilung und Entwicklung der geschichtskulturellen Hegemonie in den Zulassungsverfahren heraus und gibt zusammenfassend (2.5.) Aufschluss darüber, wo hohe positionale und argumentative Macht lag und wer im Besitz dieser Macht war. In Kapitel 3. richtet sich der Blick weg von der Struktur der Zulassungsverfahren hin zu den Handlungen der Akteure in den Zulassungsverfahren und untersucht die kommunikative Aushandlung der Geschichtskultur zum Nationalsozialismus. Unter Rückgriff auf die ISQI werden die konkreten Entscheidungsprozesse analysiert. Die Kapitel 3.1. bis 3.5. untersuchen die einzelnen Konfliktfelder, um hegemoniale und alternative historische Deutungen herauszufiltern. Eine Analyse der Schulbücher geht jeweils der Untersuchung der Zulassungsverfahren voraus, um den geschichtskulturellen Kontext zu explizieren, in dem sich die Akteure der Zulassungsverfahren bewegten. In diesem Zuge wird auch geprüft, inwieweit bestimmte historische Deutungsmuster zu hegemonialer Geschichtskultur wurden und wie Deutungen durch das Zulassungsverfahren verschoben wurden. In 3.6. werden die Ergebnisse der einzelnen Kapitel zusammengeführt und erörtert, dass die hegemoniale Geschichtskultur stark vom antitotalitären Konsens der Bonner Republik geprägt ist. Da Hitler stets im Zentrum der Debatten steht und als Fixpunkt der historischen Deutungen des Nationalsozialismus gilt, wird vorgeschlagen, von einer hitlerzentrierten Geschichtskultur zu sprechen. Im Anschluss diskutiert Kapitel 3.7. den Einfluss der fachlichen und didaktischen Überzeugungen der Akteure der Zulassungsverfahren auf die Konstruktion der hitlerzentrierten Geschichtskultur. Abschließend (4.) werden Praxis und Struktur der Zulassungsverfahren zusammengefasst und die Ergebnisse hinsichtlich der Fragen nach dem Verhältnis von geschichtskultureller Hegemonie und hegemonialer Geschichtskultur sowie nach der Qualität der Wirkung der Zulassungsverfahren auf die Entwicklung von Schulgeschichtsbüchern systematisiert (4.1). Außerdem werden die Ergebnisse der Arbeit für die Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft diskutiert (4.2). Nunc itur ad fontes.

2.

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2.1. Rahmenbedingungen: Geschichtslehrpläne und Richtlinien Die Inhalte sowie die Gestaltung von Schulgeschichtsbüchern stehen laut Werner Wiater in einem engen Zusammenhang mit in Lehrplänen ausgehandelten bildungspolitischen Rahmenvorgaben.165 Schulbücher sind aus Sicht der Lehrkräfte für die Unterrichtsgestaltung wichtiger als Lehrpläne,166 müssen aber Lehrpläne umsetzen,167 um als lernmittelfreie Lehrwerke zugelassen zu werden. Dazu geben die Lehrpläne verbindliche Vorgaben zu pädagogischen, fachlichen Zielen und/ oder konkreten Unterrichtsinhalten sowie zur Stoffanordnung.168 Diese Vorgaben schaffen einen Gestaltungsraum, in dessen Rahmen die Schulbuchverlage Lehrwerke produzieren müssen, wenn sie Aussicht auf lernmittelfreie Zulassung haben wollen.169 Lehrpläne werden schließlich in einem mitunter konfliktreichen Prozess entwickelt,170 in dem sich verschiedene soziale Gruppen mit unterschiedlichen bildungspolitischen Interessen einbringen und folglich Einfluss auf die Ausrichtung und den Gehalt der Vorgaben nehmen.171 Geschichtslehrpläne sind im doppelten Sinne politische Texte: Sie sind Produkte staatlich-administrativen Handelns sowie Kristallisationspunkte verschiedener bildungs- und geschichtspolitischer Interessen. Da die Lehrplantreue von Schulgeschichtsbüchern ein wesentliches Kriterium in der Zulassung von Lehrwerken ist, wird in diesem Kapitel die Entwicklung der Geschichtslehrpläne im Hinblick auf die 165 Vgl. Wiater (2005), S. 61. 166 Siehe dazu beispielsweise die Kritik eines Lehrers an zeitgenössischen Schulgeschichtsbüchern: Rahe (2008). 167 Vgl. Pöggeler (2005), S. 24–25. 168 Vgl. zum Lehrplan als Steuerungsinstrument Künzli (1999). Die in Lehrplänen codierten Normen und Ziele werden selbst wiederum konflikthaft ausgehandelt. 169 Vgl. Biener (2005). 170 Bähr et al. schlugen beispielsweise ein systemtheoretisches Modell vor, um die Prozesse nachzuvollziehen, siehe Bähr, Fries und Rosenmund (1999). 171 Zur geschichtsdidaktischen Lehrplanforschung siehe den Sammelband Handro und Schönemann (2004).

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normativen Vorgaben zur Darstellung der Geschichte des Nationalsozialismus untersucht.172 Die Geschichtslehrpläne im Nachkriegsjahrzehnt Das gesinnungsbildende Unterrichtsfach Geschichte galt ebenso wie die Geschichtswissenschaft unmittelbar nachdem die nationalsozialistische Herrschaft von den Alliierten zerschlagen wurde als korrumpierte ›Legitimationswissenschaft‹,173 weshalb die US-Militärregierung nicht nur die Schulgeschichtsbücher aus dem Verkehr zog, sondern auch den Geschichtsunterricht bis 1946 aussetzte. Dementsprechend reflektierten die 1947 veröffentlichten allgemeinen Richtlinien für Höhere Schulen auf die Notwendigkeit von Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung des Geschichtsunterrichts.174 Die Entnazifizierung des Geschichtsunterrichts sollte ein positivistisch ausgerichtetes, ›objektives‹ Verständnis von Geschichte sowie die Abkehr vom ›Führerprinzip‹ gewährleisten. Die Autoren des Lehrplans implementierten die »Wahrheit als oberstes Gesetz«,175 um Stil und Inhalt der NS-Propaganda entgegenzustehen. Auf Stoffebene wurden Kriege weiterhin als zentraler Gegenstand der Politikgeschichte angesehen, doch sollte ihre Darstellung auf die Ursache und Wirkung von Kriegen beschnitten und keinen Platz mehr für Kriegshelden bieten. Dies war gleichwohl keine Abkehr von der herkömmlichen Personengeschichte, sondern ihre Neujustierung, da nun »Helden des Geistes und Helden des Friedens«176 die Vorbildfunktion für die Schülerinnen und Schüler einnehmen sollten. Neben dieser Entmilitarisierung des Stoffes sollte die Stoffauswahl auch der Demokratieerziehung dienen. Deshalb sollten im Geschichtsunterricht die Französische Revolution, die Entwicklung Englands zum Mutterland der Demokratie und die Geschichte der USA neben der »Gesellschaftskunde«, die das Verhältnis von Staat und sozialen Gruppen vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert mit Blick auf die Entwicklung hin zur Demokratie thematisierte, im Geschichtsunterricht fokussiert werden.177 Diese deutliche Funktionalisierung des historischen Stoffs im Sinne demokratischer, politischer Bildung178 wurde im zeitgenössischen Lehrplan für Mit172 Zur historischen Lehrplanentwicklung im Fach Geschichte in Bayern grundlegend Baumgärtner (2007). Zur historischen Entwicklung der Lehrpläne in Bayern allgemein siehe Apel (1991), S. 61–118. 173 Schöttler (1999). 174 KMBL 1947, S. 101–102. 175 KMBL 1947, S. 102. 176 KMBL 1947, S. 102. 177 KMBL 1947, S. 102. 178 Vgl. Baumgärtner (2007), S. 406–407.

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telschulen nicht durchgehalten.179 Mit dem Lehrplan von 1950 wurde die Gründung der Mittelschule in der Nachkriegszeit abgeschlossen, die als Sekundarstufenschule die siebte bis zur zehnten Klasse abdeckte und zumindest im Geschichtsunterricht mit der Besonderheit sozialkundlicher Aspekte zunächst eher an den Volksschulen ausgerichtet war.180 Der 1950 veröffentlichte Lehrplan für Mittelschulen hob die Relevanz der gegenwartsorientierten Bearbeitung historischer Inhalte bei sozialkundlichen Fragen hervor, doch der Geschichtsunterricht hatte insgesamt den Zweck, »im Schüler weiterhin das historische Bewußtsein zu wecken und ihn zu geschichtlicher Haltung zu erziehen.«181 Der ebenfalls 1950 erlassene Lehrplan für Volksschulen182 setzte vor allem an der volkstümlichen Bildung an, deren Kern die Heimatgeschichte war. Die bayerische Landesgeschichte sowie die Heimatgeschichte besaß neben der politischen Bildung hohe Relevanz im Geschichtsunterricht an Volksschulen. Die bayerische Bildungspolitik knüpfte an der aus der Weimarer Republik stammenden Tradition an, die bayerische Landesgeschichte als eigenständige Historiographie im Unterricht hervorzuheben, was neben dem pädagogischen Prinzip der Nähe, auch mit einer bewussten Abkehr von der kleindeutschpreußischen Geschichtsschreibung als Reflexion auf den zentralistischen Nationalsozialismus begründet wurde.183 Dennoch bildete »die Geschichte des deutschen Volkes […] den Kern« des historischen Lernens, dem die bayerische Geschichte eingliedert sei. Zu diesem Ziel der historischen Bildung, die »den Schüler in den Wandel des Geschehens« hineinstellte, gesellte sich das Prinzip der politischen Bildung, die zu »Gerechtigkeit, Vaterlandsliebe und Toleranz und […] Verständnis […] für die politischen Gegenwartsaufgaben« erziehen sollte.184 Bayerische Landesgeschichte war den Kultusministern des Nachkriegsjahrzehnts ein großes Anliegen. Alois Hundhammer, der erste Bayerische Kultusminister in der Bundesrepublik, gehörte dem konservativ-altbayerischen Flügel der CSU an und war überzeugter Föderalist. Im Januar 1951 trat Josef Schwalber das Amt an. Der 1902 geborene, katholisch-konservative Schwalber plädierte im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat für einen föderalen Bundesstaat und eine klare christliche Staatsräson.185 Das Kultusmi179 180 181 182 183 184

KMBL 1950a, S. 161–200. Vgl. Baumgärtner (2007), S. 396–398. KMBL 1950a, S. 166. Bayerisches Kultusministerium (1950c). Vgl. Fenn (2008), S. 135–139. Zitate Bayerisches Kultusministerium (1950c), S. 41. Die politische Bildung avancierte schließlich im Zeichen der Bildungsreform seit dem Ende der 1950er Jahre bis zum Ende der 1970er Jahre schließlich zu einem zentralen Bezugspunkt der Geschichtslehrpläne. Die stärkere Gewichtung im Geschichtsunterricht forderten manche Geschichtsdidaktiker bereits in den frühen 1950er Jahren, vgl. Fenn (2008), S. 150. 185 Vgl. Feldkamp (1998), S. 177–178.

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nisterium stärkte in seiner Amtszeit die bayerische Landesgeschichte auch schulartübergreifend in einem eigenen Erlass von 1952, in dem es eine gründliche Kenntnis der bayerischen Geschichte als wesentlichen Bestandteil der staatsbürgerlichen Erziehung reklamierte,186 womit die bayerische Landesgeschichte an die politische Bildung geknüpft wurde.187 Der Lehrplan von 1950 stellte nicht die Struktur- oder Ideengeschichte, sondern den »Mensch als Träger der Geschichte« in den Mittelpunkt, die als Personengeschichte ›von oben‹ die »Bedeutung schöpferischer Persönlichkeiten« und das »Heldentum des Friedens und der Gerechtigkeit« erzählen sollte,188 womit der Lehrplan auch Aspekte der Allgemeinen Richtlinien für Höhere Schulen übernahm. Mit einer nationalgeschichtlichen Rahmung, der Zentrierung historischer Persönlichkeiten des Friedens und der stofflichen Fokussierung auf Kriegsgeschichte übernahm der Lehrplan eher konservativ-nationalgeschichtliche Ansätze.189 Das positivistische Geschichtsverständnis sowie die personalisierte Geschichte waren Aspekte historistischer Geschichtstheorie.190 Die Funktionalisierung des historischen Stoffs im Sinne der politischen Bildung brach nicht mit dem historistischen Geschichtsverständnis, da die Verbindung von Nationalgeschichte als Rahmen und ›Vaterlandsliebe‹ als Zweck des Geschichtsunterrichts, wie im Lehrplan für Volksschulen gefordert, eng mit dem historistischen Paradigma verbunden war. Der historistisch geprägte Geschichtsunterricht besaß seit dem Zweiten Kaiserreich die Aufgabe, zur nationalen Identität zu erziehen, wofür der Leitfanden als Schulbuchformat tragend war.191 Dagegen war die Thematisierung zeitgeschichtlicher Aspekte ein Novum. Dennoch zeugten die Lehrpläne von der Tendenzwende des Geschichtsunterrichts, wenn sie die politische Bildung im Sinne der Erziehung zur Demokratie konzipierten und zu einem wesentlichen Bildungsziel erhoben. Obwohl die Hinwendung zur demokratieorientierten politischen Bildung die Reflexion auf die Geschichte des Nationalsozialismus markierte, hielten die Lehrpläne sich thematisch zurück und blieben dem historistischen Paradigma verbunden. Hinsichtlich der Geschichte des Nationalsozialismus sah der Lehrplan für Höhere Schulen ebenso wie der Lehrplan für Mittelschulen lediglich vor, »die beiden Weltkriege« 186 KMBL 1952a, S. 300. 187 Zur Relevanz der bayerischen Landesgeschichte in den bayerischen Geschichtslehrplänen allgemein vgl. Körner (2011). 188 Bayerisches Kultusministerium (1950c), S. 41. 189 Vgl. Mayer (1988), S. 144–146. Siehe auch Wolfrum (2008). 190 Der historische Positivismus entwickelte sich aus dem an Leopold Ranke geschultem Historismus des 19. Jahrhunderts, vgl. Wiersing (2007), S. 372. 191 So zeigen Schönemann und Thünemann an Schulgeschichtsbüchern den Zusammenhang von Historismus, Erziehung zu nationaler Identität und dem Schulbuchformat ›Leitfaden‹ auf, das vom Zweiten Kaiserreich bis in die Bundesrepublik fortbestand, vgl. Schönemann und Thünemann (2010), S. 57–61.

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zu behandeln,192 sodass trotz der Beteuerungen, die ›Helden des Friedens‹ im Unterricht zu besprechen, doch eher die traditionelle Kriegsgeschichte als politische Geschichte übernommen wurde. Nachdem die Kultusministerkonferenz 1953 beschlossen hatte, der Zeitgeschichte mehr Unterrichtsstunden einzuräumen,193 reagierte auch das Bayerische Kultusministerium. In der Neuformulierung des Bildungsplans für Volksschulen von 1955194 bezog der Lehrplan zwar wenig inhaltliche Aspekte zur Geschichte des Nationalsozialismus ein, offenbarte aber gerade dadurch die hohe geschichtspolitische Relevanz dieser ausgewählten Inhalte. Der Lehrplan spezifizierte, dass vom Zweiten Weltkrieg im Unterricht insbesondere die »Bombennächte« zu behandeln seien und schlug vor, auch die Flucht und Vertreibung unter heimatgeschichtlicher Perspektive zu thematisieren.195 Dass der Lehrplan ›Bombennächte‹ und nicht ›Luftkrieg‹ oder wenigstens ›alliierter Luftkrieg‹ vorgab, suggeriert, dass vor allem die alltagsgeschichtliche Komponente des Luftkriegs aus Sicht der mehrheitsdeutschen Bevölkerung gedeutet werden sollte. Der Luftkrieg sowie Flucht und Vertreibung stellten im geschichtskulturellen Diskurs zum Nationalsozialismus zwei wesentliche Aspekte zur Viktimisierung der mehrheitsdeutschen Bevölkerung dar, die der Lehrplan bediente, indem er diese Aspekte hervorhob, jedoch Themen aussparte, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem NS-Regime oder gar der Bevölkerung eher ermöglichte. Gleichwohl dienten die Themen der Friedenserziehung und entsprangen dem Erfahrungsraum der entscheidenden Akteure, weshalb die geschichtspolitische Wirkung nicht zwingend intendiert war. Flucht und Vertreibung eigens zu thematisieren, war zudem im bildungspolitischen Programm des Kultusministeriums eingebunden, die Geschichte ›Mittel- und Ostdeutschlands‹, also der ehemaligen Reichsgebiete, in den gesinnungsbildenden Fächern zu intensivieren. So beauftragte das Kultusministerium die Schulen damit, die »Ostkunde« in Unterricht und Schulkultur zu betonen. Zudem beschloss das Kultusministerium bereits 1952, den ›Ostkunde-Unterricht‹ zu stärken. In den Fächern Deutsch, Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde wurden die Schulen dazu angewiesen, die Möglichkeiten zum Ostkunde-Unterricht im Klassenzimmer und in der Schule auszuschöpfen. Dazu sollten auch Schulfeste, Elternabende und eine entsprechende Ausstattung der Schulbüchereien Angebote schaffen, um »die Kenntnis der z. Z. von Deutschland getrennten Gebiete im Osten, der Menschen und ihrer Geschichte wachzuhalten und das Wissen um ihren Beitrag zur 192 Bayerisches Kultusministerium (1950c), S. 42. Im Lehrplan für Mittelschulen ist notiert: »Weltkrisen und Weltkriege. Ursachen und Verlauf der beiden Weltkriege« KMBL 1950a, S. 167. 193 Vgl. Pingel (2000), S. 13–15. 194 KMBL 1955b, S. 425–512. 195 Der Vorschlag lautete: »Flüchtlinge kommen ins Dorf.« KMBL 1955b, S. 484.

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abendländischen Kulturgemeinschaft zu vertiefen«.196 Der Entschluss wurde 1955 und infolge der Neuen Ostpolitik Willy Brandts auch 1974 wiederholt197 und 1956 forderte das Kultusministerium, »der Jugend die Kenntnis und das Bild nicht nur der engeren Heimat und der Bundesrepublik, sondern in verstärktem Maße auch Gesamtdeutschlands« zu vermitteln.198 Zäsur 1959/1960 Das Jahr 1959 bildete in zweierlei Hinsicht eine Zäsur in der Entwicklung von Geschichtslehrplänen. Zum einen löste ein geschlossener Gesamtlehrplan199 in diesem Jahr einen 1952 eigentlich nur vorläufig von der Wallenburgstiftung ausformulierten Lehrplan an Höheren Schulen ab.200 Diesem Gesamtlehrplan gingen Debatten um die Stellung der politischen Bildung mit der Zeitgeschichte als epochaler Bezugspunkt voraus. Die Zeitschrift ›Geschichte in Wissenschaft und Unterricht‹, das einzige wissenschaftliche Organ, das sich im Untersuchungszeitraum um die Vermittlung von Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht bemühte, druckte wiederkehrend Artikel ab, die die Relevanz von Zeitgeschichte und politischer Bildung diskutierten.201 Die Fachöffentlichkeit erprobte den Spagat von christlich gerahmter historischer Kultur- und Menschenkunde und traditionalistisch-nationaler historisch-politischer Bildung. Diese politische Historiografie führte zunächst konservative Ansätze aus der Zeit der Weimarer Republik fort. Daneben waren Völkerverständigung, Humanität und Demokratie zunächst eher periphere Schlagworte in der Fachöffentlichkeit,202 die aber zunehmend mehr Gewicht gewannen. Auf Landesebene konnte die SPD mit ihrem Landes- und Fraktionsvorsitzenden Waldemar von Knoeringen203 vor allem während der Zeit der sog. Viererkoalition (1954–1957)204 die politische Bildung durch die Gründung der Landeszentrale für politische Bildung (1955) sowie der Akademie für politische 196 197 198 199 200 201

KMBL 1952b, S. 370–371. siehe KMBL 1955a, S. 394. KMBL 1974, S. 282–283. KMBL 1956, S. 18–19. Vgl. KMBL 1959, S. 13–27. Wallenburgstiftung (1952). Siehe beispielsweise Schäfer (1951). Messerschmid (1951). Fritzsche (1954). Moltmann (1956). Messerschmid (1955). 202 Vgl. Mayer (2008), S. 106. Baumgärtner (2007), S. 368–373. Die nationalistische Geschichtsschreibung in Westdeutschland brach erst mit dem Generationenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft zum Ende der 1960er Jahre auf, vgl. Cornelißen (2008). 203 Zur politischen Biographie von Knoeringens siehe Menges (1979). 204 Die Viererkoalition war eine Koalition von SPD, Bayernpartei, GB/BHE und FDP. Als Ministerpräsident wurde der sozialdemokratische Politik Wilhelm Hoegner gewählt. Diese Koalition stellte die einzige Regierung ohne Beteiligung der CSU seit der Gründung der Bundesrepublik.

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Bildung (1957) institutionalisieren. Damit ging die stärkere Berücksichtigung der Zeitgeschichte in Politik und Öffentlichkeit einher, was die SPD auch nach dem Bruch der Koalition forcierte.205 So beantragte sie im Bayerischen Landtag beispielsweise, der Zeitgeschichte in den Abschlussklassen der Höheren Schulen mehr Raum zu geben und die Erkenntnisse des Instituts für Zeitgeschichte für diesen Zweck zu nutzen.206 Im Februar 1959 schließlich veröffentlichte das Kultusministerium den Gesamtlehrplan für Geschichte an Höheren Schulen,207 der unter anderem die Neueste Geschichte stärkte, um die »Bedeutung des Geschichtsunterrichts für die staatsbürgerliche Erziehung voll auszuschöpfen«.208 Um das Verständnis der Gegenwart anzuleiten, sollten vor allem die Jahre 1919–1945 eingehend behandelt werden,209 wodurch der Nationalsozialismus deutlich mehr Gewicht erhielt und auch in seiner Entwicklung dargestellt werden sollte.210 Der Lehrplan von 1959 differenzierte das Themenspektrum zum Nationalsozialismus aus und hierarchisierte diese Themen auf drei Niveaus: Der Lehrplan ordnete die Themen den Hauptkapiteln »VII. Zwischen den beiden Weltkriegen« und » VIII. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen« zu, wodurch die herkömmliche Kriegsgeschichte übernommen und nicht die Machtübernahme der NSDAP 1933, sondern der Kriegsbeginn als Zäsur der jüngsten Geschichte angelegt wurde. Im Kapitel VII. nimmt das Themenfeld »Hitlers Diktatur« die zweite Ebene ein, dem schließlich verschiedene Stichpunkte zugeordnet waren: »Machtergreifung, Reichstagsbrand, Gleichschaltung, die NSDAP als Staat im Staat, Polizeistaat (Gestapo), Judenverfolgung, Kirchenkampf, Aufrüstung, Vertragsbrüche, staatlich gelenkte Wirtschaft, politische und geistige Uniformierung und Unfreiheit.« Davon grafisch abgesetzt, jedoch ohne eigene gliedernde Kategorie, zählte der Lehrplan verschiedene außenpolitische Aspekte des Nationalsozialismus, nämlich »Österreich, Achse Berlin – Rom, Münchner Abkommen« auf.211 Die Besetzung der Tschechoslowakei und der Konflikt mit Polen um Danzig, der für das NS-Regime als Kriegsanlass diente, wurden bereits dem folgenden Kapitel zugeordnet. Schließlich sollten auch ›Blitzkrieg‹, der Angriff auf ›Sowjetrussland‹ und der Kriegseintritt der USA, der ›Totale Krieg‹, das Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 und der Widerstand in den besetzten Ländern, der totale Zusammenbruch des Deutschen Reichs, das Potsdamer Abkommen, ›das dreigeteilte 205 Vgl. Baumgärtner (2007), S. 374–376. 206 Vgl. Bay.Landtag 3/1954–1968, Protokoll, 25. März 1958, S. 4276–4277. 207 Siehe zur historischen Einordnung des Lehrplans in die Geschichts- und Bildungspolitik des Kultusministeriums Baumgärtner (2007), S. 417–432. 208 KMBL 1959, S. 15. 209 KMBL 1959, S. 27. 210 Vgl. Baumgärtner (2007), S. 424. 211 KMBL 1959, S. 19.

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Deutschland‹ und die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten im zweiten Kapitel behandelt werden.212 Dass der Lehrplan die innenpolitischen wie außenpolitischen Aspekte der nationalsozialistischen Geschichte in das Themenfeld »Hitlers Diktatur« einordnete, nahm das hitlerzentrierte Deutungsmuster vorweg, dass auch in den Zulassungsverfahren debattiert wurde und in Schulbüchern hegemonial war. Da eine weitere Gewichtung der genannten Stichpunkte nicht vorgenommen wurde, erschienen die Judenverfolgung, der Kirchenkampf, die Aufrüstung etc. als gleichwertige Konsequenzen der nationalsozialistischen Herrschaft. Während im ersten Kapitel vor allem auf den Umbau des Staates (Gleichschaltung, Reichstagsbrand, staatlich gelenkte Wirtschaft, politische und geistige Uniformierung) sowie den NS-Terror (Kirchenkampf, Judenverfolgung…) und die Außenpolitik (Österreich, Münchner Abkommen) eingegangen wurde, unterblieben diese Aspekte im zweiten Kapitel. Die Thematisierung der Judenvernichtung oder der Vernichtungspolitik in Osteuropa wird höchstens implizit durch den Stichpunkt ›Totaler Krieg‹ eingefordert. Eingebunden waren diese Themen in den Bildungsauftrag der Geschichte. Der Lehrplan griff die Fachdiskussion der 1950er Jahre auf, die im historischen Lernen ein Medium der anthropologischen und der politischen Bildung erkannte. Dementsprechend sollte der Geschichtsunterricht: »Einsichten in das Wesen des Menschen und der menschlichen Gemeinschaften vermitteln« und »dazu anleiten, das politische Geschehen als Widerstreit und Ausgleich wirkender Kräfte aus allen Lebensgebieten zu verstehen.«213 Traditional sollte dieser Geschichtsunterricht sein,214 da die Schülerinnen und Schüler durch den Unterricht die »Kontinuität der geschichtlich gewordenen Lebensgrundlagen Deutschlands und Europas erkennen« und daraus bürgerlich-demokratische Haltungen schöpfen sollten.215 Der Lehrplan schwieg sich allerdings darüber aus, wie der Nationalsozialismus in diese Traditionalisierung einzubinden sei, ohne die daraus zu gewinnenden politischen Haltungen zu pervertieren. Der Lehrplan 212 Vgl. KMBL 1959, S. 19. Mit dem ›dreigeteilten Deutschland‹ ist die Teilung in Ost- und Westdeutschland sowie die ehemaligen deutschen Gebiete gemeint, die nach 1945 unter polnisches Herrschaftsgebiet fielen. Erst im Zuge der Deutschen Einheit verzichtete die Bundesrepublik auf die ehemals deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie und erkannte die Linie als Grenzverlauf an. 213 KMBL 1959, S. 13. 214 Als traditionales Geschichtsbewusstsein versteht Thomas Fischer ein Geschichtsbewusstsein, dass auf die Ursprünge gegenwärtiger Lebensformen bei ungebrochener Kontinuität der wirksamen Kräfte und herrschenden Verhältnisse Entwicklung wert legt. Vgl. Fischer (2000), S. 14–15. Diesem Geschichtsbewusstsein entspricht eine traditionale Geschichtskultur als dessen Artikulation und manifeste Objektivation, z. B. in Lehrplänen. Siehe auch Rüsen (1997b). 215 KMBL 1959, S. 14.

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offenbarte insgesamt eine deutlich am historisch-politischen Lernen ausgerichtete Zwecksetzung der Geschichte, weshalb er als Abschluss einer bildungspolitischen Auseinandersetzung der 1950er Jahre verstanden werden kann. Die stärkere Gewichtung der Zeitgeschichte, die mit einer ausdifferenzierten Thematisierung des Nationalsozialismus einherging, lässt sich mit der Zwecksetzung der politischen Bildung erklären. Außerdem steht die stärkere Gewichtung der Geschichte des Nationalsozialismus im Kontext der vergangenheitspolitischen Skandale und Affären um den gesellschaftlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus und den NS-Tätern in der Bundesrepublik,216 die zu einer allmählichen Hinwendung der bundesdeutschen Gesellschaft zur NS-Vergangenheit führten. Der Lehrplan fing diese Tendenzwende in der bundesdeutschen Geschichtskultur auf. Zwei Fälle sollen die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit des Nationalsozialismus in den 1950er Jahren illustrieren: Im ersten Fall zerschlugen britische Sicherheitskräfte 1953 einen konspirativen Kreis ehemaliger NS-Funktionäre um den ehemaligen designierten Nachfolger Joseph Goebbels im Reichspropagandaministerium, Werner Naumann. Der nach ihm benannte Naumann-Kreis, zeitgenössisch als ›Gauleiter-Kreis‹ bezeichnet, war ein Netzwerk aus über hundert Personen, das die Errichtung einer neuen nationalsozialistischen Massenbewegung und den Sturz der Demokratie plante. Sie waren in mehreren rechtsgerichteten Gruppen und demokratischen Parteien aktiv. Das Netzwerk konnte die FDP so stark beeinflussen, dass die Partei auf ihrem Bundesparteitag 1952 das von der nationalen Sammlungsbewegung vorgeschlagene ›Deutsche Programm‹ annahm und den Kandidaten des Naumann-Kreises, Friedrich Middelhauve, zum stellvertretenden Parteivorsitzenden kürte. Da die FDP in der Regierungskoalition war, konnte der Naumann-Kreis sogar stellenweise bis auf die Regierungsebene einwirken.217 Das organisatorische Zentrum war in Nordrhein-Westfalen, also auf dem Gebiet der britischen Militärregierung, weshalb britische Sicherheitskräfte eingriffen, nachdem die Bundesregierung nicht gebührend auf die Warnungen des zuständigen Hohen Kommissars reagierte. Diese Intervention löste ein breites Medienecho in der Bundesrepublik aus und hievte die Frage nach der Gegenwart der NS-Vergangenheit kurzzeitig ins Bewusstsein vieler Bürger.218 Im zweiten Fall veröffentlichte der 1954 in der DDR eingerichtete ›Ausschuss für deutsche Einheit‹ von 1957 bis 1959 fortlaufend Broschüren über die ungebrochene Integration ehemaliger NS-Richter in die bundesrepublikanische Justiz. Die erste Publikation listete über hundert Staatsanwälte und Richter der 216 Zu den geschichtskulturellen Skandalen in den 1950er Jahren siehe Reichel (2001), S. 138– 152. 217 So urteilte Beate Baldow in ihrer detailreichen Studie zu Zielen und Entwicklung des Naumann-Kreises. Vgl. Baldow (2013), S. 305. 218 Vgl. Frei (2003b), S. 361–396.

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Bundesrepublik mit ihrer Funktion im Nationalsozialismus auf.219 Insgesamt enttarnte der Ausschuss die NS-Vergangenheit von über 1 000 im Dienst der Bundesrepublik stehenden Richtern und Staatsanwälten.220 In der Bundesrepublik diskutierten Behörden bald die politische Schlagkraft dieser Veröffentlichungen, doch erst nachdem der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) auf Basis dieser Broschüren eine Wanderausstellung ins Leben rief, die unter dem Titel ›Ungesühnte Nazi-Justiz‹ die Selbstamnestierung der Justiz in der Bundesrepublik dokumentierte, griffen die westdeutschen Medien das Thema auf und forderten eine politische Aufarbeitung. Die vergangenheitspolitische Affäre erzeugte politischen Druck auf die Bundes- und Länderregierungen, die personelle Kontinuität der NS-Judikative aufzubrechen. Der politische Druck der Zivilgesellschaft auf die Bundes- und Länderregierungen genügte zwar nicht, die Strafverfolgung ehemaliger NS-Richter und Staatsanwälte anzuleiten,221 hob aber die Gegenwärtigkeit des Nationalsozialismus erneut ins Bewusstsein vieler Bürgerinnen und Bürger. Laut Detlef Siegfried hat die DDR mit solchen Kampagnen schließlich dazu beigetragen, »daß sich die Bundesrepublik zu einer Gesellschaft mit hoher vergangenheitspolitischer Sensibilität entwickelte.«222 Die 1950er Jahre waren durchzogen von Skandalen und Debatten um den Umgang mit der NS-Vergangenheit sowie der personellen und ideologischen Kontinuität des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auch durch eine gestiegene Anzahl antisemitischer Vorfälle befeuert wurden.223 Die politischen Skandale hatten weniger die geschichtskulturelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Kultusministerien zur Folge, sondern vielmehr das Fortwirken des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zum Gegenstand, was das geschichtskulturelle Schweigen bei der gleichzeitigen Häufung vergangenheitspolitischer Skandale erklären kann. So wurde die nationalsozialistische Vergangenheit im zeitgenössischen Jargon nicht aufgearbeitet, sondern bewältigt.224 Gleichwohl reprä219 Vgl. Ausschuß für Deutsche Einheit (1957). 220 Siehe z. B. die Folgebroschüre vom Februar 1959 Ausschuß für Deutsche Einheit (1959). 221 Eine Reform des Deutschen Richtergesetzes wies Richter mit NS-Vergangenheit dazu an, bis einem Stichtag im Sommer 1962 den Wechsel in den Ruhestand zu ersuchen. Sollten sie dieser Anweisung nicht nachkommen, drohte der Paragraf 116 zwar Disziplinarmaßnahmen an, die allerdings nie konkretisiert wurden, da sich Bundesrat und Rechtsausschuss nicht auf konkrete Strafen einigen konnten. Damit war der vorzeitige Eintritt in den Ruhestand bei vollen Bezügen das schlimmste, was einem ehemaligen NS-Richter bzw. Staatsanwalt in der Bundesrepublik geschehen konnte. Siehe Bästlein (1994). Miquel (2017), S. 181–194. So entließ das Bundesjustizministerium beispielsweise den Leiter für die Abteilung Strafrecht, Josef Schafheutle, nachdem die Broschüren dessen NS-Vergangenheit offenlegten in den Ruhestand. Vgl. Görtemaker und Safferling (2017), S. 325–329. 222 Siegfried (2000), S. 112. 223 Vgl. Reichel (2001), S. 144. 224 Vgl. Garbe (1998).

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sentierte der Lehrplan für Geschichte an Höheren Schulen den gestiegenen geschichtspolitischen Druck auf die staatlichen Behörden, eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit voranzutreiben.225 Die Lücke zwischen dem geschichtspolitischem Schweigen über die NS-Vergangenheit und die Politisierung des Fortlebens der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Gegenwart der Bundesrepublik schlossen die Kultusministerien systematisch erst infolge der sog. antisemitischen Schmierwelle von 1959/60.226 Weil die Täter oft minderjährig waren und zudem geschichtsrevisionistische Einstellungen zeigten, drehte sich die öffentlich geführte Debatte bald weniger um polizeiliche, sondern um bildungspolitische Maßnahmen. Sie zog eine Kritik des zeitgenössischen Geschichtsunterrichts mit sich und mündete schließlich in einem Ausbau der politischen Bildung in und außerhalb der Schule.227 Im April 1958 begann zudem der sog. Ulmer-Einsatzgruppenprozess. Das Gericht verurteilte die Angehörigen von SD, SS und Ordnungspolizei wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an über 5 000 jüdischen Personen im Zweiten Weltkrieg. Die Presse verfolgte den Prozessverlauf mit regem Interesse, was die Brutalität und die Tragweite der Massenmorde, ihre mangelnde ( juristische) Aufarbeitung und die Tatsache, dass die NS-Täter frei in der Bundesrepublik lebten, ins öffentliche Bewusstsein hievte.228 Bayern setzte zur Antisemitismus-Prävention auf die historisch-politische Bildung, indem es zum einen die zugelassenen Volksschulgeschichtsbücher einer Revision unterzog und zum anderen die Lehrkräfte zu einer tiefergehenden Vermittlung der politischen Bildung hinsichtlich zeitgeschichtlicher Fragen, insbesondere zum Judentum und Israel aufforderte. »Alarmierende Vorgänge« haben »die Dringlichkeit einer eingehenden Unterrichts- und Erziehungsarbeit auf diesem Gebiet« bewiesen, weshalb das Kultusministerium vor allem im Geschichts- und Sozialkundeunterricht aber auch in der allgemeinen Schulkultur eine verstärkte Darstellung jüdischer Geschichte und Israels einforderte, was auch eine ausführliche Behandlung der jüdischen Geschichte im Nationalsozialismus bedeutete.229 Dazu schlug die Entschließung des Kultusministeriums auch konkrete Literatur und Filme vor, die im Unterricht herangezogen werden oder die Schulbibliotheken ergänzen sollten.230 Diese Entschließung druckte das Kultusministerium ergän225 Vgl. Dudek (1995), S. 272–274. 226 Kiani (2008). 227 Vgl. Bergmann (1990a), S. 268–270. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus wurde durchweg in pädagogische Zwecke eingebunden, da die aus der Schuld deduzierte Verantwortung der Zeitgenossen auch daraus bestand, aus der Geschichte zu lernen. Zur Rolle der Erziehung im geschichtskulturellen Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus siehe Meseth (2005). 228 Vgl. Fröhlich (2012). 229 KMBL 1960c, S. 30. 230 KMBL 1960c, S. 29–30.

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zend zu den Beschlüssen der KMK ab, Zeitgeschichte und politische Bildung in den Schulen zu stärken, die in Bayern zu konkreten Reformen führten.231 Die KMK tagte am 11./12. Februar 1960 zur Hochzeit des antisemitischen Vandalismus. Um das sozialkundliche Unterrichtsprinzip zu stärken, wurde neben dem Einsatz neuer Unterrichtsmethoden und Sozialformen (in Höheren Schulen) auch eine Reform der Lehrerausbildung in Bayern anvisiert, die jedem Lehramtskandidaten seit 1961 eine Prüfung seiner staatsbürgerlichen Bildung abverlangte. Schließlich wurde der Geschichtsunterricht reformiert, um ihn auf »seinen politischen Bildungsgehalt und auf die Vorbereitung des Unterrichts in der neuesten Geschichte« auszurichten. Die KMK strebte eine Vereinbarung über die »Themen und Tatsachen aus der nationalsozialistischen Zeit« an, die in »sämtlichen Abschlussklassen sämtlicher Schulen des Bundesgebiets im Einzelnen zu behandeln sind.«232 Die Zeitgeschichte bzw. die Geschichte des Nationalsozialismus avancierte dadurch im Untersuchungszeitraum zu einer festen Größe des Unterrichtsstoffs aller Regelschularten und setzte sich bald auch in den anderen Lehrplänen fest. Der Lehrplan für Höhere Schulen von 1959 nahm diese Entwicklung vorweg, was auch durch Aussagen des zuständigen Ministerialreferenten untermauert wird. Laut Geschäftsverteilungsplan war er für Höhere Schulen zuständig und in dieser Funktion auch in der Entwicklung des Lehrplans eingebunden. Der besagte Referent erhielt den Brief einer empörten Exilantin, die in Seattle lebend, von den antisemitischen Ausschreitungen im Winter 1959/60 in der Times las. Sie führte die Ausschreitungen auf die mangelnde historische Bildung der Schülerinnen und Schüler zurück,233 weshalb sie die kritische Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus im Unterricht als Gegenmaßnahme einforderte.234 Der Referent entgegnete, dass es zwar einige unverbesserliche Lehrkräfte gebe, der Nationalsozialismus in den Schulgeschichtsbüchern und im Geschichtsunterricht aber sehr wohl behandelt werde und er dank des neuen Stoffverteilungsplans noch stärker in den Fokus gerückt sei.235 Der Briefwechsel unterstreicht nicht nur das rege Interesse der US-amerikanischen Presse an der politischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, sondern auch die Kritik abfedernde Funktion des neuen Lehrplans angesichts des geschichtspolitischen Drucks auf das Kultusministerium.

231 KMBL 1960a, S. 171–175. 232 Zitate KMBL 1960a, S. 171–172. 233 »Vorfälle, wie die Beschimpfung der jüdischen Nation lassen sich nur daraus erklären, daß die deutsche Jugend in den Schulen und Elternhäusern über die Gräueltaten des Nationalsozialismus nicht genügend aufgeklärt wird« MK 63823 Brief vom 16. Januar 1960. 234 MK 63823 handschriftlicher Brief vom 16. Januar 1960. 235 MK 63823 Briefentwurf ohne Datum.

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Gleichzeitig räumten die folgenden Lehrpläne anderer Schularten der Geschichte des Nationalsozialismus ebenfalls mehr Platz ein. So enthielt der 1961 zunächst erprobte236 und 1963 als Richtlinie237 eingeführte Lehrplan für Volksschulen differenzierte Aspekte zur Behandlung des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht und gliederte den historischen Stoff auch nicht mehr in Krieg und Friedenszeiten, sondern in politische Systeme. So schlossen die chronologisch geordneten Stichpunkte zum übergeordneten Kapitel »Von der Demokratie zur Diktatur« mit »Hitler kommt an die Macht«, während das Kapitel »Das ›Dritte Reich‹ und sein Zusammenbruch im Zweiten Weltkrieg« mit dem Stichpunkt »Die nationalsozialistische Diktatur« begann.238 In einigen Stichpunkten legten die Richtlinien bereits eine Deutung des Themas nahe, so sollte die »Arbeitsbeschaffung durch Wiederaufrüstung« erklärt und die Schlacht um Stalingrad als »entscheidende Wende« gewertet werden. Ebenso wie der Lehrplan von 1959 erwartete der Volksschullehrplan bei der Thematisierung des Widerstands, auf den ›20. Juli‹ einzugehen. Der Lehrplan forderte nicht nur, die »Judenvernichtung« und »Konzentrationslager« zu thematisieren, sondern listete außerhalb der Chronologie auch »Edith Stein« als Person auf, die im Unterricht vorgestellt werden sollte.239 Dies ergab sich aus der Forderung des Lehrplans, in »Knaben- und Mädchenklassen […] auf die Stellung und das Wirken der Frau in den einzelnen Epochen einzugehen«240 und war eine Konzession der Lehrplanmacher an die gesellschaftliche Realität, in der im »zunehmendem Maße […] Frauen Verantwortung im beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Leben«241 übernahmen, wobei Mädchen dennoch für stereotype Frauenberufe ausgebildet werden sollten.242 Der Lehrplan für Volksschulen war zunächst nationalkonservativ ausgerichtet. Der Lehrplan von 1961 setzte den Menschen »in seiner Volkszugehörigkeit, die für ihn Schicksal und Verpflichtung bedeutet« in den Mittelpunkt und forderte eine dezidiert nationale Perspektive, wenn das Weltgeschehen durch die »Beschäftigung mit der deutschen Geschichte« erkannt werden sollte, wozu auch 236 237 238 239

KMBL 1961b, S. 387–479. Der Geschichtslehrplan ist auf den Seiten 401–413. KMBL 1963, S. 283–380. KMBL 1963, S. 309. KMBL 1963, S. 309. Die 1891 geborene Edith Stein war deutsche Philosophin und Frauenrechtlerin. 1922 konvertierte sie vom jüdischen zum katholischen Glauben und trat 1933 den Karmelitinnen bei. Im August 1942 wurde sie in Auschwitz ermordet. Vgl. zur kontroversen Erinnerung und dem christlich-jüdischen Dialog Siegele-Wenschkewitz (2000). 240 KMBL 1963, S. 305. 241 KMBL 1963, S. 288. 242 Vgl. KMBL 1963, S. 288. Zum Geschlechteraspekt in der Lehrplanentwicklung für Volksschulen siehe Apel (1991), S. 81–84. Der probeweise eingeführte Lehrplan wies die Frauengeschichte explizit aus und nannte neben Edith Stein auch Anne Frank, vgl. KMBL 1961b, S. 412.

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»die Deutschen im Osten und Südosten miteinbezogen« werden sollten.243 Die Ausrichtung des Geschichtsunterrichts war im Lehrplan von 1963 abgemildert, wenn der Geschichtsunterricht zum christlich gerahmten, traditionswahrenden Gegenstück angesichts der oberflächlichen Konsumwelt funktionalisiert wurde.244 Statt eine vermeintlich schicksalhafte Verknüpfung von ›Volk‹ und Individuum zu vermitteln, erkannte der Lehrplan die Persönlichkeitsentwicklung und den jugendlichen »Willen zur Selbständigkeit« als relevante Bezugsgröße an, weshalb trotz der »Gefahr der Entordnung« offenere Sozialformen im Unterricht ausgelotet und der vertiefende, interesse- und fähigkeitsgeleitete Unterricht im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht wurden.245 Im Gegensatz zum Lehrplan von 1961 werteten die Richtlinien von 1963 die politische Bildung als hohes Gut, weshalb der »Heranwachsende in die sozialen und staatlichen Ordnungen so weit eingeführt wird, daß er später in politische Mitverantwortung hineinwachsen kann.«246 Wegen der hohen Gewichtung des politischen Unterrichtsprinzips wurden sogar die Fachgrenzen der Fächer Erdkunde, Sozialkunde und Geschichte aufgeweicht.247 Die Jahre um 1960 bildeten hinsichtlich der Lehrplanentwicklung aus zweierlei Sicht eine Zäsur: Erstens erhielt die politische Bildung in den Lehrplänen einen zentralen Stellenwert, der im Geschichtsunterricht an Volksschulen sogar die Fächergrenzen der gesinnungsbildenden Fächer aufzuweichen drohte. Zweitens erhielt die Zeitgeschichte mehr Raum im Geschichtsunterricht, was auch mit einer höheren Gewichtung der Geschichte des Nationalsozialismus einherging. Die Lehrpläne griffen damit die Forderungen nach politischer Bildung auf und gingen auf den geschichtspolitischen Druck aus der Zivilgesellschaft ein, im Geschichtsunterricht im Sinne der Demokratieerziehung über den Nationalsozialismus aufzuklären.248 Die gestiegene Repräsentation der Geschichte des Nationalsozialismus in den Lehrplänen war nur in geringem Maße durch eine staatliche Deutung präformiert. Zwar gab schon die Auswahl der Themen Tendenzen vor, indem sie die Unterrichtsinhalte gewichtete, doch die bloße Nennung der Themen in Schlag243 Zitate KMBL 1961b, S. 402. 244 »Das gesteigerte Angebot an Kultur- und Konsumgütern muß seelisch bewältigt werden. Deshalb hat gerade die Volksschuloberstufe die Aufgabe, dem Heranwachsenden in der Entfaltung seiner Persönlichkeit zu helfen. Gegenüber einer gewissen Traditionslosigkeit der Gegenwart muß sie ihm wesentliche Ausschnitte aus der geistig-geschichtlichen Überlieferung vermitteln. […] In der Begegnung mit dem lebendigen Gott und in der Gemeinschaft gläubiger Christen findet dieser die sichernde Mitte der eigenen Person.« KMBL 1963, S. 287. 245 Zitate KMBL 1963, S. 288. 246 KMBL 1963, S. 287. 247 Vgl. KMBL 1963, S. 288. 248 Vgl. zur Entwicklung auf bundesdeutscher Ebene Herbst (1977), S. 123–130.

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worten und ihre geringe Hierarchisierung ermöglichten den Lehrkräften einen breiten Handlungsspielraum. Dieser Spielraum wurde durch Entschließungen des Kultusministeriums, insbesondere den Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht, stärker eingeschränkt.249 Diese von der KMK beschlossenen und auch in Bayern durchgesetzten Richtlinien wurden auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, ein Jahr nach dem Mauerbau und einen Monat vor dem Beginn der Kuba-Krise veröffentlicht und »verbanden […] die pädagogische Aufarbeitung des Nationalsozialismus mit dem politischen Kampf gegen den Kommunismus«.250 Die Totalitarismus-Richtlinien regulierten den Umgang mit Nationalsozialismus und ›Bolschewismus‹, indem Kommunismus und Nationalsozialismus als zwei Erscheinungen des Totalitarismus, die dem bürgerlichkapitalistischen Staat entgegenstanden, gleichzusetzen und dementsprechend gleich zu bewerten seien. Diese Richtlinien zählten Ideologie, Ein-ParteienHerrschaft, Terror, Missachtung der Menschenwürde, die »Durchdringung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens«, Streben nach Weltherrschaft sowie die Perversion »werthaltige[r] Begriffe (Friede, Freiheit, Demokratie, Sozialismus, Ehre, Vaterland u. a.) als wesentliche Elemente totalitärer Staaten auf.251 Diese Liste hatte schematischen Charakter, da weder die Entwicklungsmöglichkeit totalitärer Staaten reflektiert wurde noch kontroverse Ereignisse oder Befunde sinnvoll in das Schema eingebunden werden konnten. Dementsprechend apodiktisch verlautbarten die Richtlinien: Auch die »Tatsache, daß die beiden Systeme einander bekämpft haben, darf nicht über ihre enge Verwandtschaft hinwegtäuschen.«252 Die Stoffpläne der Abschlussklassen waren den Maßgaben so anzupassen, dass »die totalitären Systeme entsprechend den vorstehenden Richtlinien eingehend behandelt werden können.«253 Zur Schulung und Vertiefung listete die Entschließung über mehrere Seiten Fachliteratur zur Ideen- und Politikgeschichte des Totalitarismus und des Bolschewismus, nicht jedoch des Nationalsozialismus auf,254 was die antikommunistische Stoßrichtung der Entschließung 249 KMBL 1962, S. 279–285. 250 Dudek (1995), S. 275. Vgl. Gagel (2005), S. 90–100. Vgl. Storrer (2008), S. 15–21. 251 Zitate KMBL 1962, S. 279. Die Richtlinien lehnten sich anscheinend an die populäre Totalitarismustheorie Carl Friedrichs und Zbigniew Brzezinski an, die sechs Elemente als entscheidende Wesenszüge aller totalitären Diktaturen ausmachten: »eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffenmonopol und eine zentral gelenkte Wirtschaft.« Friedrich und Brzezinski (1957), S. 19. In den Richtlinien wurde auch die deutsche Ausgabe des gemeinsamen Werks von Friedrich und Brzezinski als Lektüre für die Hand der Lehrkraft empfohlen. Zur Kritik am Modell vgl. Fritze (1999), S. 311–312. 252 KMBL 1962, S. 281. 253 KMBL 1962, S. 281. 254 KMBL 1962, S. 281–285.

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unterstrich. Im Rahmen des Antitotalitarismus setzten die Richtlinien auch demokratische Ziele fest. So hieß es programmatisch, dass der Unterricht die Schülerinnen und Schülern dazu befähigen soll, »selbst verantwortlich an der Gestaltung der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung mitzuwirken und zur Abwehr des Herrschaftsanspruchs des Totalitarismus« beizutragen.255 Indem das Bayerische Kultusministerium die Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus in Bayern einführte, avancierte die antitotalitäre Deutung des Nationalsozialismus zu einem wichtigen Bestandteil hegemonialer Geschichtskultur, die im Unterricht durchgesetzt werden musste. Curricularisierung der Lehrpläne Die in den Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus vorgenommene Regulation der historischen Deutung im Unterricht ging zudem deutlich über die bisherige Praxis der Lehrplanvorgaben hinaus, die nach Fächern und Klassen geordnete Lehrinhalte zusammenstellten und zusätzlich noch eine Beschreibung des Bildungsauftrags von Schule im Allgemeinen und von bestimmten Fächern bereithielten, ohne die Bildungsziele direkt mit den Inhalten zu verbinden. Die Konzeption inhaltsorientierter Lehrpläne sah sich spätestens seit der Mitte der 1960er Jahre wachsender Kritik von Pädagoginnen und Pädagogen ausgesetzt, die im Sinne der Lebensweltorientierung eine Abkehr von inhaltlich als überladen wahrgenommenen Lehrplänen einforderten und eine stärkere wissenschaftliche Absicherung der Zwecke sowie der Plan- und Messbarkeit von Lernzielen erwarteten.256 Um die Abkehr vom stofforientieren Lehrplan zu unterstreichen, stellen sie den Begriff des Curriculums dagegen. Die Wirkung des Unterrichts auf die Schülerinnen und Schüler sollte kontrolliert werden, indem präzise formulierte Lernziele inhaltlichen Vorgaben zugeordnet wurden, sodass der In- und Output von Unterricht planvoll gestaltet werden könne.257 Diese Lernzieldiskussion bzw. Curriculumdebatte erreichte ihren Höhepunkt in der Bundesrepublik um 1970 und wurde in Bayern durch das Staatsinstitut für Schulpädagogik aufgefangen. Das Institut ging 1971 aus dem bereits in den 1960er Jahren gegründeten Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik hervor. Dabei handelte es sich um eine nachgeordnete Behörde des Kultusministeriums, die mit der anwendungsbezogenen Beforschung von Schulqualität und Lehrplanentwicklung betraut wurde.258 Ohne allzu große Hoffnungen in die Lernzielori255 KMBL 1962, S. 281. 256 In der Bundesrepublik stieß Samuel B. Robinsohn, der damalige Direktor des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung mit seiner 1967 veröffentlichen Kritik am stofforientierten Lehrplan die Curriculumdebatte an. Vgl. Robinsohn (1967). 257 Vgl. Apel (1991), S. 18–24. Wiater (2005), S. 45. 258 Vgl. Hinke (1997), S. 997–1001.

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entierung zu setzen, entwickelte dieser staatliche Apparat seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre sog. Curriculare Lehrpläne und wandte sich von den stofforientieren Lehrplänen ab. Das erste Curriculum in Bayern war der gymnasiale Lehrplan von 1975, der die curricularen Ansprüche erfüllte, »indem er konsequent Lernziele auswies und diesen Lernhinhalte, Unterrichtverfahren und Lernzielkontrollen zuwies.«259 Im Prozess der Curricularisierung glichen sich die Schularten an, da die Gymnasien stärker pädagogisiert und der Unterricht in Hauptschulen verstärkt an den Fachwissenschaften orientiert wurde. Der im Curricularen Lehrplan vorgenommene Kompromiss von Stoff- und Lernzielorientierung mündete in dem Versuch, das Unterrichtsgeschehen durch Planung vorwegzunehmen.260 Die Curricularisierung der Lehrpläne bahnte sich bereits im 1965 veröffentlichten Lehrplan für bayerische Gymnasien durch die klare Lebensweltorientierung sowie durch eine stärkere Vorgabe bei der Aufarbeitung des konkreten Stoffs an.261 Die Lebensweltorientierung implementierte der Lehrplan, indem das bisher vor allem an Volksschulen angewandte Prinzip der Nähe, das den Heimatunterricht pädagogisch begründete, nun auch im Geschichtsunterricht an Gymnasien eingesetzt wurde. Geschichtsunterricht sollte »Heimatgeschichte, wo immer möglich, zur Grundlage der Betrachtung« machen,262 hießt es im Lehrplan. Daneben erforderte die Einführung der gegenwartsorientierten Gemeinschaftskunde als Unterrichtsprinzip einen Umbau des Geschichtsunterrichts in der Oberstufe, da nun die epochale Ausrichtung auf die Zeitgeschichte und die Zwecksetzung der politischen Bildung dominierte.263 Neben »Einsichten in das Wesen des Menschen« sollte der Geschichtsunterricht die »grundlegenden Werte der europäischen Kultur« durch einen Überblick über die weltpolitischen und nationalgeschichtlichen Entwicklungen vermitteln und den Jugendlichen schließlich dazu anleiten, »seine Aufgabe im öffentlichen Leben zu erkennen.«264 Historische Bildung besaß im Lehrplan weniger Selbstzweck, als dass historisches Lernen im Geschichtsunterricht zur fachspezifischen Methode wurde, um die Aufgabe der politischen Bildung zu erfüllen.265 259 260 261 262 263 264

Baumgärtner (2007), S. 544. Zur Curriculumdebatte in Bayern siehe Baumgärtner (2007), S. 471–475. KMBL 1965, S. 245–307. KMBL 1965, S. 260. Zum Lehrplan siehe Baumgärtner (2007), S. 534–538. Zitate KMBL 1965, S. 260. Das gemeinschaftskundliche Unterrichtsprinzip wurde insbesondere in der 12. und 13. Klasse zur Vernetzung von Erdkunde, Sozialkunde und Geschichte eingefordert, vgl. KMBL 1966b, S. 269. 265 Der Relevanzverlust historischer Bildung stand im engen Zusammenhang mit dem zeitgleichen Relevanzverlust der Geschichtswissenschaft, vgl. Baumgärtner (2007), S. 477–482. Zur zeitgenössischen Fachdebatte um das Verhältnis von historischer und politischer Bildung in der Gemeinschaftskunde vgl. Herbst (1977), S. 146–149.

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Außerdem formulierte der gymnasiale Lehrplan von 1965 den zu behandelnden Unterrichtsstoff nicht nur stichpunktartig in Einzelthemen, die gegenüber dem Lehrplan von 1959 nicht ausgebaut wurden, sondern normierte die historische Deutung dieser Themen in spezifischen Bemerkungen zur Stoffauswahl in der Oberstufe. Diese historische Deutungsmacht betraf u. a. den historischen Ort des Nationalsozialismus und die Rolle der Bevölkerung im Nationalsozialismus. Zum einen sollte aufgezeigt werden, dass der Nationalsozialismus »an vorhandene antidemokratische und nationalistische Tendenzen anknüpft«266, was nicht ausschließlich die antidemokratischen Strömungen in der Weimarer Republik, sondern in Europa einbezog.267 Zum anderen sollte aufgezeigt werden, wie der Nationalsozialismus »überkommene Begriffe und Wertvorstellungen ideologisch verfälscht.«268 Der bayerische Lehrplan normierte die Geschichte des Nationalsozialismus nicht als Höhe- und vorläufigen Endpunkt eines deutschen Sonderwegs, wie sie von zeitgenössischen nationalkritischen Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftlern seit der sog. ›Fischer-Kontroverse‹269 erhoben und bis in die 1970er Jahre hinein ausgebaut wurde.270 Stattdessen verortete er ihn antitotalitär271 und in einen europäischen Zusammenhang272 und gleichsam als Perversion (›Verfälschung‹) europäischer Werte. Im Zusammenhang mit dieser Auslagerung des Nationalsozialismus aus der deutschen Geschichte behauptete der Lehrplan auch, dass »die demokratischen Führungskräfte und die Massen in Unkenntnis der Methoden totalitärer Herrschaft der Aufhebung des Rechtsstaats nicht rechtzeitig widerstanden«. Zudem waren die NS-Propaganda, die vermeintlichen außenpolitischen Erfolge des NS-Regimes und die »unentschlossene Haltung des Auslands« für eine »immer willigere und urteilslosere Massengefolgschaft« verantwortlich.273 Damit normierte der Lehrplan eine historische Deutung, welche die mehrheitsdeutsche Bevölkerung als kollektive Masse von der Verantwortung am und im Nationalsozialismus ausschloss, da die Bevölkerung angeblich weder 266 KMBL 1965, S. 272. 267 Unter den Einzelthemen ist neben »Weimarer Republik« auch der Punkt »Antidemokratische Strömungen: Autoritäre Regierungen und Faschismus« gelistet, siehe KMBL 1965, S. 272. 268 KMBL 1965, S. 272. 269 Die sog. ›Fischer-Kontroverse‹ diskutierte auf der Sachebene die Frage nach der Schuld am Ausbruch des ersten Weltkriegs, war aber eingebettet in die Frage nach der Kontinuität deutscher Geschichte und dem historischen Ort des Nationalsozialismus in ihr, vgl. Große Kracht (2011a). 270 Vgl. Faulenbach (1989), S. 107–110. 271 Im Koordinierungsplan für die Gemeinschaftskunde wurden Nationalsozialismus und Bolschewismus als Formen totalitärer Herrschaft konzeptualisiert und die Einzelthemen des Lehrplans zu beiden Systemen aufgegriffen, vgl. KMBL 1965, S. 288. 272 Zur ›historischen Europäisierung‹ des deutschen Sonderwegs siehe Sabrow (2003), S. 64–65. 273 Zitate KMBL 1965, S. 273.

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Wissen über die wahren Ziele und Verbrechen des ›Dritten Reichs‹ noch genügend Macht besessen habe, um sich dem Regime zu widersetzen. Der Realschullehrplan von 1969274 gab ausführliche Vorbemerkungen zu den Bildungszielen, zum didaktischen und methodischen Vorgehen und erläuterte die Stoffverteilung, was den Umfang des Geschichtslehrplans im Vergleich zum Lehrplan von 1961 von drei auf zwölf Seiten vervierfachte.275 Auch wenn der Lehrplan selbst nicht curricular gestaltet war, erfüllten die ausführlichen Erläuterungen der Bildungsziele und der Stoffverteilung das Postulat der Curricularisierung, »die Inhaltsauswahl zu begründen und so rational verhandelbar zu machen.«276 Er blieb in Kraft, bis er Ende des Jahres 1978 durch einen curricularisierten Lehrplan ersetzt wurde. Die Erläuterungen besaßen im Vergleich zum gymnasialen Lehrplan von 1965 nationalkritische Tendenzen: Der Lehrplan deutete den Nationalsozialismus, der in der zehnten Klasse behandelt werden sollte, »als Ergebnis der deutschen Geschichte und Erscheinungsform europäischer Tendenzen des 20. Jahrhunderts«, weshalb die Thematisierung des Nationalsozialismus »deutsche Fehlleistungen und sittliche Verirrungen aufzeigen« sollte. Diese historische Deutung sollte jedoch nicht die gesamte Nationalgeschichte desavouieren, weshalb »die Frage der Kontinuität oder Nichtkontinuität mit gebotener kritischer Einstellung erörtert werden« musste. Darunter verstand der Lehrplan anscheinend eine Absage an die als »nationalen Masochismus« apostrophierte nationalkritische Geschichtsschreibung, die »in jeder einzelnen Erscheinungsform das Schlechte des Ganzen wiederfinden« wollte, was vom Kultusministerium als komplementäres Gegenstück zu »nationaler Hybris« verstanden wurde.277 Der Lehrplan rekurrierte zwar auf die zusehends anerkannte nationalkritische Oppositionshistorie des sog. deutschen Sonderwegs,278 indem das Kultusministerium den Nationalsozialismus anders als im gymnasialen Lehrplan von 1965 auch in der deutschen Geschichte verortete. Dennoch verbot das Kultusministerium für den Geschichtsunterricht, die Kontinuitätsthese, die eine ungebrochene Entwicklungslinie vom Zweiten Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus behauptete. Die Nationalgeschichte (›einzelne Erscheinungsformen‹) sollte nicht als Geschichte zum ›Dritten Reich‹ (›das Schlechte des Ganzen‹) erzählt werden. Dass der Lehrplan einen Absatz verwendete, um gegen die Kontinuitätsthese zu argumentieren, belegt die gestiegene Popularität dieser nationalkritischen, historischen Deutung.

274 275 276 277 278

KMBL 1969a, S. 125–207. Der Geschichtslehrplan ist auf S. 159–171. Vgl. Baumgärtner (2007), S, 518–519. Baumgärtner (2007), S. 519. Zitate KMBL 1969a, S. 170. Die ursprünglich nationalkritische Geschichtsschreibung erlangte in der Brandt-Ära identitätsstiftende Funktion, vgl. Welskopp (2002).

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Die gesammelten Stichpunkte zur Geschichte des Nationalsozialismus ordnete der Lehrplan weiterhin drei Kapiteln zu, die als »nationalsozialistisches Herrschaftssystem«, »Entfesselung des Zweiten Weltkriegs« und »Der totale Krieg« betitelt wurden und die Schwerpunkte vorgaben. Der Aufbau und die innere Entwicklung des NS-Regimes sowie die Gründe für den Beginn des Zweiten Weltkriegs sollten im Unterricht behandelt werden. Im Geschichtsunterricht ist die »Schuld Hitlers an der Entfesselung des 2. Weltkriegs« zwar »scharf herauszuarbeiten«, allerdings ohne »die Fehler der europäischen Mächte, die Hitlers Intentionen teilweise begünstigten«, zu übersehen.279 Die zurückhaltende, auf Deeskalation setzende Politik der ehemaligen Entente – dem Bündnis von Frankreich und Großbritannien – und zukünftigen Alliierten gab der Lehrplan als einen Grund für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an. Die Stichpunkte zur Außenpolitik des Nationalsozialismus ordnete der Lehrplan dem Kapitel zum Zweiten Weltkrieg zu. Dadurch unterschied der Lehrplan nicht länger zwischen einer revisionistischen und expansiven Außenpolitik, deren Zäsur herkömmlicherweise die Besetzung der Tschechoslowakei markierte. Stattdessen wurde die nationalsozialistische Außenpolitik insgesamt als Vorbereitung auf den Weltkrieg verstanden. Während das zweite Kapitel die nationalsozialistische Außenpolitik als Klimax skizzierte, die mit »Deutschlands Griff nach Ostmitteleuropa« ihren Höhepunkt erreicht habe und von der Politik in den Krieg umgeschlagen sei, begann das dritte Kapitel zunächst im antitotalitären Sinne mit dem Stichpunkt »Siege der Diktatoren« und endete nationalgeschichtlich mit der ›deutschen Katastrophe‹ und globalgeschichtlich mit der japanischen Kapitulation. Die »Ausrottung der Juden« wurde diesem Kapitel zugeordnet und damit erstmals eine innere Entwicklung des nationalsozialistischen Antisemitismus angelegt, die mit der »Rassenpolitik« begonnen habe, was dem Kapitel »Das nationalsozialistische Herrschaftssystem« zugeordnet war. Beim Stichpunkt »Widerstand« legte der Lehrplan nicht länger eine Engführung auf die Widerstandsgruppe um den sog. 20. Juli fest. Der Unterricht sollte das militärische Geschehen in den Vordergrund rücken, es allerdings »als Mittel der Politik und Kampf der Wertordnungen begreifen« weshalb die »Kriegsziele der Großmächte« besprochen werden sollten. Während die Achsenmächte laut Lehrplan Imperien errichten wollten, strebten die Alliierten »die Sicherung des internationalen Friedens und der Stabilität« an.280 Der Lehrplan verstand den Holocaust als Kriegsziel des ›Dritten Reichs‹. Indem das »großgermanische Reich« zum Movens aller militärischen Strategien erhoben wurde, blieb der Holocaust eine erklärungsbedürftige Anomalie. Dies könnte selbst wieder an der Virulenz der Totalitarismustheorien in der bundesdeutschen Geschichtskultur 279 Zitate KMBL 1969a, S. 170. 280 Zitate KMBL 1969a, S. 171.

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gelegen haben, denn im Mittelpunkt dieser Theorien stand weniger der Antisemitismus als spezifische Ideologie des Nationalsozialismus, sondern dessen Herrschaftsform.281 Die Dezentralisierung des Antisemitismus und antitotalitäre Prägung der hegemonialen Geschichtskultur standen also in einem wechselseiteigen Verhältnis, was sich auch auf die Gewichtung der Themen im Lehrplan niederschlug. Am Ende der 1960er Jahre reformierte das Kultusministerium die in den Lehrplänen vorgegebenen Inhalte, indem die Gymnasien aufgefordert wurden, Vorschläge für die Kürzung der Stundentafel und zur Förderung von Übungsund Arbeitsphasen zu unterbreiten. Die Ergebnisse leitete das Ministerium einer eigens eingerichteten Kommission zu, die über geeignete Maßnahmen zur Reduktion der Stofffülle beriet. Diese Reduktion stieß auf Widerstand der bayerischen Lehrerverbände.282 Zur gleichen Zeit führte das Kultusministerium zunächst probeweise, Mitte der 1970er Jahre schließlich endgültig, die neue gymnasiale Oberstufe als Kollegstufe ein,283 die durch die Ordnung der Fächer in Leistungs- und Grundkurse Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gab, gewählte Fächer vertiefend (Leistungskurse) oder grundständig zu besuchen. Die Ordnung der Kollegstufe stand unter der Prämisse, die Studierfähigkeit durch geeignete Arbeitsmethoden und vertiefende Kenntnisse in den Leistungskursen vorzubereiten, Selbstverantwortung durch die Fächerwahl einzuüben und in den Grundkursen allgemeines Orientierungswissen und Einsichten zu erwerben. Gleichzeitig buchstabierte der Lehrplan die Bildungsziele kaum aus. Es gab auf Stoffebene lediglich die Themen und ihre Aufteilung auf die Halbjahre vor, konkretisierte ihre Deutung jedoch nicht durch weitere normative Vorgaben, was dem Konzept Curricularer Lehrpläne entgegenstand.284 In der neuen, semestral organisierten Kollegstufe besaß Geschichte neben den übergeordneten Bildungszielen, das »Erkenntnis- und Urteilsvermögen« zu steigern, zur »Standortbestimmung des Einzelnen in Gesellschaft und Staat« zu befähigen und im Leistungskurs zu Studierfähigkeit hinzuführen, auch zwei fachliche Ziele: Erstens sollte durch den Geschichtsunterricht die »anthropologische Dimension des Historischen«285 sichtbar werden, die als gleichbleibende Bedürfnisse, Interessen und Verhaltensformen des Menschen konzipiert wurde. Zweitens sollte die historische Bedingtheit der Gegenwart auf sozialer, politischer und kultureller Ebene herausgearbeitet werden. Damit führte der Kollegstufenlehrplan die seit den 1950er Jahren eingebrachte doppelte Zwecksetzung des Geschichtsunterrichts als anthropologische und politische Bildung fort. Grund281 282 283 284 285

Vgl. Vollnhals (2006), S. 23. Vgl. Baumgärtner (2007), S. 538–539. KMBL 1970, S. 641–763. Vgl. Baumgärtner (2007), S. 540–542. Zitate KMBL 1970, S. 714.

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und Leistungskurse sollten Querverbindungen zu anderen Fächern, insbesondere Sozial- und Erdkunde anstreben. Stofflich sollte der nationalgeschichtliche und europäische Bezug in eine universalhistorische Betrachtung eingebunden sein,286 was das anthropologische Bildungsziel des Lehrplans unterstrich. Die Behandlung des Nationalsozialismus war im dritten Semester vorgesehen, das »[d]emokratische, autoritäre und totalitäre Bewegungen und Herrschaftsformen« gegenüberstellte, und wurde gemeinsam mit dem Bolschewismus und Kommunismus dem Kapitel »Totalitäre Herrschaftsformen« zugeordnet.287 Eine weitere Ordnung der Themen nahm der Lehrplan nicht vor, sondern listete die stichpunktartig genannten Aspekte nur chronologisch auf. Auffällig an der Themensetzung ist die ideengeschichtliche Verortung des Nationalsozialismus in der deutschen Geistesgeschichte, da als »Geistige Wegbereiter« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler und Carl Schmitt genannt wurden, was einen ideengeschichtlichen Rückgriff bis aufs frühe 19. Jahrhundert einforderte und eine kontinuierliche Entwicklung nahelegte. Zusätzlich forderte der Lehrplan, Sozialdarwinismus, Rassenlehre und Antisemitismus als Aspekte der NS-Ideologie zu behandeln und diese Ideologie historisch zu verorten. Erstmals sollte auch die »Idee der ›Volksgemeinschaft‹« zusätzlich zur Wirtschafts- und Außenpolitik behandelt werden. Neben dieser Dominanz der politischen Ideengeschichte hob der Lehrplan auch den Holocaust hervor, indem er nicht in das Kriegsgeschehen eingeordnet wurde, sondern die »Verfolgung und Vernichtung der Juden« noch vor »Gründe und Anlaß für den Zweiten Weltkrieg« gelistet wurde. Diese Einordnung unterstrich die Gewichtung des NSAntisemitismus als eigenständiges (statt nachgeordnetes) Thema. Der Bedeutungsverlust der Kriegsgeschichte zeigte sich darin, dass sie nur einen Stichpunkt erhielt: »Der Zweite Weltkrieg als Katastrophe Europas«. Der Unterricht sollte anscheinend auch eine postnationale Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg einnehmen. Im Lehrplan für Geschichte an Hauptschulen von 1971288 stand »deutsche Geschichte […] nach wie vor im Vordergrund«, auch wenn europäische und globale Geschichte in den höheren Klassen einbezogen werden sollte. Ausgangspunkt des Unterrichts war weiterhin die Heimat sowie die bayerische Geschichte. Um den Unterrichtsstoff zu reduzieren, war nicht Vollständigkeit, sondern Exemplarität des Stoffs leitend für die Auswahl der Inhalte. Das Kriterium der Exemplarität wurde gewichtiger, je näher der Geschichtsunterricht an die Gegenwart heranreichte. Neuland betrat der Lehrplan, indem er die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler als Bildungsziel hervorhob: Der Ge286 Vgl. KMBL 1970, S. 714. 287 Zitate KMBL 1970, S. 717–718. 288 Vgl. KMBL 1971, S. 469–478.

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schichtsunterricht sollte »eine selbstständige Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen ermöglichen«289, indem Quellenarbeit und eine deutlich stärkere Ausrichtung an den Ergebnissen der Fachwissenschaft in den Unterricht einbezogen wurden, als in der Volksschule bisher üblich.290 Damit fand die bei Vertretern der Curriculumrevision geforderte Wissenschaftsorientierung Eingang in den Fachunterricht an Hauptschulen, wohingegen Bildungsziele des Lehrplans nicht stärker ausformuliert wurden als in älteren Lehrplänen der Volks- und Hauptschulen. Auch auf Deutungsebene normierte der Lehrplan den Stoff nicht. Anders als im Kollegstufenlehrplan wählte der Geschichtslehrplan für Hauptschulen auch keinen systematischen, sondern einen chronologischen Zugang zum Themenfeld ›Nationalsozialismus‹, indem die »Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus« nach dem Kapitel »Weimarer Republik« und vor der dem Kapitel »Entstehung der Ost-West-Spannung in der Nachkriegszeit« behandelt werden sollte.291 Im entsprechenden Kapitel wurden bestimmte Aspekte zur Geschichte des Nationalsozialismus in übergeordnete Themen gruppiert. Diese Themen formulierte der Lehrplan als personalisierte Geschichte, die Hitler als Akteur und Zentrum des Nationalsozialismus lokalisierte, wenn unter »Hitlers Machtergreifung und Ausbau der totalen Herrschaft« die Entwicklung vom Ermächtigungsgesetz bis zur Errichtung von Konzentrationslagern gefasst oder die Ideologie sowie die Wirtschafts- und Sozialpolitik des ›Dritten Reichs‹ unter »Hitler und die NSDAP« gruppiert wurde. Die vom Lehrplan genannten Aspekte unterschieden sich kaum vom vorangegangenen Lehrplan für Volksschulen von 1963. Die Thematisierung des Widerstands war nicht mehr auf den ›20. Juli‹ beschränkt, dafür aber als »Aufstand des Gewissens gegen Unrecht und Unmenschlichkeit« in einem moralischen Deutungsmuster eingehegt. Die eher nationalgeschichtliche Perspektive hinsichtlich des Ausgangs des Zweiten Weltkriegs, die im Lehrplan von 1963 dominierte, erhielt durch den Stichpunkt »Die Opfer des Zweiten Weltkriegs« eine postnationale Tendenz, wenngleich der Lehrplan weiterhin eine nationale Perspektive auf die Geschichte des Nationalsozialismus einnahm. So lautete der Stichpunkt zur Kapitulation der Nationalsozialisten »Der Zusammenbruch und seine Folgen für Deutschland«, dem »Flucht und Vertreibung« als besonderer Aspekt zugeordnet wurde.292 Die frauengeschichtliche Perspektive, die der Lehrplan von 1963 noch forderte und die sich darin zeigte, dass Edith Stein und 1961 auch Anne Frank thematisiert werden sollten, verschwand mit dem Anliegen der Stoffreduktion. 289 290 291 292

KMBL 1971 S. 470. Vgl. KMBL 1971, S. 470. Vgl. KMBL 1971, 476–477. Vgl. KMBL 1971, S. 477.

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Zusammenfassung In den 1960er Jahren sedimentierte die erstmals im Lehrplan für Höhere Schulen codierte facettenreiche Darstellung der Geschichte des Nationalsozialismus auch in den Lehrplänen anderer Schularten. Die stärkere Gewichtung der Zeitgeschichte begründeten die Lehrpläne mit dem Ziel der politischen Bildung und des Lebensweltbezugs. Nachdem die in den Stoffplänen codierten Inhalte zur Geschichte des Nationalsozialismus durch die vom Kultusministerium übernommenen Beschlüsse der KMK zur Behandlung des Totalitarismus gerahmt worden waren, was sich schließlich auch in den Lehrplänen der Mittelschule und der Gymnasien niederschlug, avancierte die antitotalitäre Deutung des Nationalsozialismus zu einem gewichtigen Bestandteil hegemonialer Geschichtskultur. Statt den Nationalsozialismus in seiner Spezifik zu fokussieren – und dementsprechend den Antisemitismus zu beleuchten – zielten die Lehrpläne eher auf einen Vergleich der totalitären Herrschaftsformen in Sowjetunion und ›Drittem Reich‹ und ihre Unterschiede zur Demokratie ab. Die Lehrpläne der 1960er und frühen 1970er Jahren zeichneten sich durch ihre ausformulierten Ziel- und Deutungsvorgaben gegenüber den Lehrplänen der 1950er Jahre ab, die im Zuge der Curriculumdebatte gefordert wurden, auch wenn die untersuchten Lehrpläne noch keine Curricula darstellten. Langsam lösten sich die Vorgaben auch von einer nationalkonservativen Geschichtsschreibung und reflektierten auf die gestiegene Popularität der nationalkritischen Sonderwegsthese. Im Untersuchungszeitraum können vor diesem Hintergrund zwei Phasen der Lehrplanentwicklung identifiziert werden: In der ersten Phase entwickelte sich die Geschichte des Nationalsozialismus von einem randständigen, die Militärgeschichte fokussierenden Thema zu einem eigenständigen Unterrichtsgegenstand von hoher Relevanz für die politische Bildung. Diese Phase beendete der Lehrplan für Höhere Schulen von 1959. In der zweiten Phase wurde dieser Unterrichtsinhalt durch Vorgaben zur historischen Deutung des Nationalsozialismus geschichtspolitisch normiert und enger auf die politische Bildung im Sinne des Antitotalitarismus ausgerichtet. Gleichzeitig zeigte sich in den jüngeren Lehrplänen ein gewandeltes Verständnis des Geschichtsunterrichts, der die Eigenständigkeit der Schülerinnen und Schüler stärker berücksichtigte und die selbstständige Arbeit mit historischen Quellen als Unterrichtsmethode erwartete.293 Die Entwicklung der Lehrpläne von der Stofforientierung hin zur Schülerorientierung und offenen Lehr-Lernformaten war anscheinend auch eine Folge eines gesellschaftlichen Einstellungswandels, was sich in demoskopischen Umfragen zeigte: Erziehung zu Gehorsam und Unterordnung erhielt 1974 nur noch halb so viel Zustimmung wie 1954, wohingegen die Mehrheit der Bevöl293 Vgl. Borries (2016), S. 36.

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kerung Erziehung zur Selbstständigkeit als wichtigstes pädagogisches Ziel angab.294 Die Lehrpläne seit den 1960er Jahren fokussierten zudem die Geschichte des Nationalsozialismus in der Person Hitler. Damit führten sie die personenzentrierte Geschichtstheorie, die bereits in den Lehrplänen für Volksschulen der 1950er Jahre gefordert wurde, auf Ebene des inhaltlichen Zuschnitts fort.

2.2. Äußere Struktur der Zulassungsverfahren: Die Institution Seitdem die Zulassungsverfahren1949 von der US-Militärregierung in der Hand des Bayerischen Kultusministeriums übergeben wurden, unterlagen sie einem Prozess der Standardisierung und Verrechtlichung, die erst in den 1970er Jahren abgeschlossen war. Dabei war die Form der Zulassungsverfahren durchaus strittig. Konkurrierte das gutachterbasierte Zulassungsverfahren zu Beginn des Forschungszeitraums noch mit einem Kommissions-Modell, forderten zivilgesellschaftliche Verbände zum Ende der 1960er Jahre die Abschaffung der staatlichen Kontrolle und Franz Josef Strauß (CSU) erwartete in seinem Amt als Ministerpräsident Bayerns einen Ausbau der Kontrolle mit dezidiert antikommunistischer Stoßrichtung. Das folgende Kapitel arbeitet die Entwicklung der Zulassungsverfahren auf struktureller Ebene heraus. Verrechtlichung Im Januar 1949 gab das Bayerische Kultusministerium im ministeriellen Amtsblatt (KMBL) bekannt, dass auch von der US-Militärregierung in anderen Bundesländern genehmigte Schulbücher dem Ministerium zur Genehmigung vorgelegt werden müssen, wenn sie in bayerischen Schulen verwendet werden sollen, und konkretisierte, dass »[o]hne Genehmigung des Ministeriums […] kein Buch von einem Verlag außerhalb Bayerns eingeführt und verwendet werden« darf.295 Im gleichen Jahr erließ der bayerische Staat das Gesetz über die Lernmittelfreiheit, in dem er die Schulträger – meist Gemeinden und Städte – mit der Bereitstellung von Schulbüchern für minderjährige Schülerinnen und Schüler beauftragte und die Schulträger zum Ausgleich der entstandenen Ausgaben mit 66,6 Prozent des Aufwands bezuschusste.296 Dass der Staat die Schulbücher für die Schülerinnen und Schüler finanzierte, war ein gewichtiges Argument zur staatlichen Kontrolle der Schulbücher, da der Staat aus der Finanzierung der Lernmittel sein Recht zur Qualitätsprüfung der Schulbücher hinsichtlich di294 Vgl. Scheibe (2003), S. 359–360. 295 KMBL 1949a, S. 9. 296 GVBl 1949b, S. 59.

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daktischer und bildungspolitischer Standards ableitete.297 Dieses Argument war auch den Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums bei der Begutachtung von Manuskripten bewusst, die zur lernmittelfreien Zulassung eingereicht wurden. 1952 äußerte sich eine zu dieser Zeit als Oberstudiendirektorin am Kultusministerium beschäftigte und spätere Ministerialrätin298 ablehnend zu einem Schulgeschichtsbuch aus dem Klett-Verlag, da ihr die bayerische Landesgeschichte als Thema im Schulgeschichtsbuch nicht genügend behandelt wurde. In ihrer Argumentation stützte sie sich zum einen auf die Lehrplantreue als Zulassungsvoraussetzung und zum anderen auf die Verantwortung gegenüber dem bayerischen Volk, das durch Steuergelder die Lernmittel finanziere.299 Obwohl das Gesetz zur Lernmittelfreiheit festlegte, dass nähere Bestimmungen durch das Kultusministerium getroffen wurden, erschien erst 1976 im bayerischen Gesetz- und Verordnungsblatt eine alle Schularten betreffende Verordnung über die Zulassung von Lernmitteln.300 Für die Zulassung von Volksschulbüchern entschloss das Kultusministerium 1950, die Bekanntmachung von 1928 zur Zulassung von Lernmitteln für Volksschulen fortzuführen.301 Dort wurden vor allem Vorschriften zur Einführung zugelassener Lernmittel an Schulen übernommen.302 Zulassungsgesuche wurden folglich ans Kultusministerium gestellt, indem fünf gedruckte Belegstücke der Manuskripte mit Angaben zum Ladenpreis, der vollständigen Ausstattung, Namen der Autorinnen und Autoren, Auflage und Jahreszahl eingereicht wurden, woraufhin das Ministerium Sachverständige und gegebenenfalls kirchliche Behörden um Begutachtung ersuchte.303 Ein Jahrzehnt später gab das Kultusministerium ein Verfahren bekannt, wonach »zwei Manuskripte mit vollständigem Text einschließlich der 297 Dass die Verbindung von staatlicher Kontrolle und staatlicher Finanzierung nicht zwingend ist, zeigt die Überschau der aktuellen Zulassungspraxis in den Bundesländern, so hob das Land Berlin schon vor einigen Jahren aus Kostengründen das staatliche Zulassungsverfahren für Schulbücher auf. Das Einführungsverfahren als dezentrale, durch Lehrkräfte vorgenommene zweite Kontrollinstanz blieb jedoch bestehen. vgl. Stöber (2010), S. 12–13. 298 Zu den personenbezogenen Angaben siehe Personalakte BayHStA MK 54151. 299 Vgl. MK 63820, Handschriftliche, interne Notiz vom 24. Oktober 1952. Bei dem geprüften Buch handelt es sich um ein von der Verlagsgemeinschaft Klett-Offenburg eingereichtes Manuskript, das auf dem in der Weimarer Republik sehr beliebten Teubner’schen Unterrichtswerk basierte und außerhalb Bayerns breiten Absatz fand. Siehe hierzu ausführlich Kapitel 2.4. 300 Vgl. GVBl 1976, S. 184–187. 301 KMBL 1950b, S. 205–207. Dabei definierte es Schulbücher im Sinne der Entschließung pragmatisch als »alle Bücher, die gemäß Veröffentlichung im Amtsblatt für den lernmittelfreien Gebrauch zugelassen sind, nicht aber Schulbücher für den Wahlunterricht.« KMBL 1950b, S. 205. 302 Demnach haben Schulaufsichtsbehörden darüber zu wachen, dass nur zugelassene Lernmittel eingeführt werden. Der Wechsel einmal eingeführter Lernmittel darf nur zu Beginn eines neuen Schuljahres und in der Regel erst nach fünf Jahren stattfinden. 303 BayBSVK S. 164–166.

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vorgesehenen Zeichnungen, Skizzen, Karten und sonstigen Abbildungen«304 dem ans Kultusministerium zu richtenden Antrag auf Zulassung beizufügen seien. Des Weiteren sollten Ladenpreis, Auflagenhöhe und Namen der Autorinnen und Autoren verzeichnet werden und auch am Prinzip der Begutachtung durch Sachverständige wurde festgehalten. Die ausgesprochene Zulassung werde erst nach der Zusendung von fünf Belegstücken und durch die Veröffentlichung des Zulassungsbescheids im Amtsblatt des Ministeriums (KMBL) wirksam.305 Die Verordnung von 1976 ging weit über diese knappe Bekanntmachung hinaus, da neben den Angaben zum Prüfverfahren auch Zulassungsvoraussetzungen festgeschrieben und Schulbücher definiert wurden. Die funktionsorientierte Definition von Schulbüchern umfasste, dass sie den Unterricht stützten, indem sie eigens zum Erreichen der in den Lehrplänen festgelegten Lernziele herausgegeben wurden und die zum Lernergebnis führenden Überlegungen darlegten, als Lehr- und Nachschlagewerk dienten und den fachspezifischen Stoff eines Halbjahrs oder eines gesamten Schuljahres erfassten.306 Die funktionalen Anforderungen an das Schulbuch zeigten sich auch in den Zulassungsvoraussetzungen, die gleichwohl darüber hinausgingen, da Schulbücher nur zugelassen werden durften, »wenn sie: 1. nicht im Widerspruch zum geltenden Recht stehen, 2. die Anforderungen der Lehrpläne erfüllen, 3. den Anforderungen entsprechen, die nach pädagogischen Erkenntnissen, insbesondere nach methodischen und didaktischen Grundsätzen sowie nach Auswahl, Anordnung, Darbietung und Umfang des Stoffes für die betreffende Schulart und Jahrgangsstufe angemessen sind, 4. im Fach Religionslehre von der betreffenden Religionsgemeinschaft als mit ihren Glaubensgrundsätzen vereinbar erklärt worden sind und 5. keine Werbung enthalten.«307 Weiterhin regelte die Verordnung den Ablauf der Zulassungsverfahren, das vom Herausgeber, respektive vom Verlag durch einen schriftlichen Antrag angestoßen werden musste, wobei dem Antrag zwei Prüfstücke mit Angaben zum Ladenpreis, Namen der Autorinnen und Autoren sowie Vorwort und Verlagsvor304 KMBL 1960b, S. 67. 305 Vgl. KMBL 1960b, S. 67. Die kirchlichen Behörden prüften, ob die Darstellung der Kirchen in den Schulgeschichtsbüchern politisch angemessen war und äußerten sich nur in Ausnahmefällen zu Themenbereichen, die nicht direkt die jeweilige Konfession betrafen. Die Gutachten wurden im gesamten Untersuchungszeitraum vom katholischen Schulkommissariat und vom evangelisch-lutherischen Landeskirchenrat verfasst. Vgl. BayHStA MK 64519, 64520, 64523, 64524, 64526. 306 Vgl. GVBl 1976, S. 185. 307 Vgl. GVBl 1976, S. 185. Diese fünf Kriterien blieben bis in die Gegenwart unverändert siehe hierzu die Verordnung über die Zulassung von Lernmitteln von 2008, GVBl 2008, S. 902–904.

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bemerkungen beigelegt sein mussten. Das Prüfstück selbst oder die beigelegten Bemerkungen mussten die zur »Zulassung wesentlichen Umstände erkennen lassen«. Das Prüfstück musste jedoch nicht ein fertig ausgedrucktes Exemplar sein, sondern konnte auch als Textfahne oder als ein geordnetes und geheftetes Manuskript eingereicht werden.308 Die 1976 erlassene Verordnung zur Zulassung von Schulbüchern stellte den vorläufigen Endpunkt einer Verrechtlichung der Zulassungsverfahren in Bayern dar, deren Gestalt in den 1950er Jahren durchaus strittig war und sich erst durch die serielle Anwendung und Durchführung stabilisierte. Transparenz und »Machtvollkommenheit« Nachdem die US-Militärregierung die Prüfung und Zulassung der Lehrwerke an die bayerische Verwaltung übergab, existierte zunächst kein geregeltes oder gar transparentes Zulassungsverfahren. An Prüfverfahren zu einem Schulbuch waren aufgrund des Geschäftsverteilungsplans des Kultusministeriums häufig mehrere Referate beteiligt, deren Referentinnen und Referenten sich dementsprechend miteinander ins Benehmen setzen mussten. So nannte der Geschäftsverteilungsplan von 1959 sowohl ein Referat für gemeinsame Angelegenheiten aller Schulgattungen als auch schul- und fachspezifische Referate.309 Dass diese Referate bei den Prüfgängen von Schulbüchern beteiligt waren, beweisen die von den verschiedenen Referentinnen und Referenten mit Namenskürzel und Datum gezeichneten Schreiben, die im Zuge der Zulassungsverfahren entstanden sind. Allerdings ist eine lückenhafte Überlieferung der Entscheidungsprozesse durchaus wahrscheinlich, da Referentinnen und Referenten sich wohl auch häufig mündlich verständigten. Unter den für die Schulbuchzulassung zuständigen Referentinnen und Referenten entwickelte sich 1952 eine Debatte, als im November des Jahres ein Rechtsanwalt einen Brief an das Bayerische Kultusministerium schickte. Darin begründete er eine Liste von Vorschlägen zur Form der Zulassungsverfahren, die im Auftrag des Bayerischen Verleger- und Buchhändlerverbands und der Arbeitsgemeinschaft der Schulbuchverleger entstanden ist. Durch einen Referenten des Ministeriums nachträglich handschriftlich hervorgehoben, schlug der Rechtsanwalt vor, dass für die Gutachterinnen und Gutachter des Ministeriums »gewisse feststehende Richtlinien geschaffen werden, damit Gewähr dafür gegeben werden kann, dass die Gutachten in grundsätzlichen Fragen inhaltlich einheitlich ge-

308 GVBl 1976, S. 185. 309 BayHStA MK 65608 Geschäftsverteilung des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 1. Juni 1959.

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fasst werden können. Diese Richtlinien sollten folgenden Aufbau jedes Gutachtens zwingend vorschreiben: a. Prüfung der sachlich-wissenschaftlichen Richtigkeit des vorgelegten Werkes; b. Beurteilung des Werkes hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit dem Lehrplan, der altersgemäßen Schwierigkeiten und des dadurch bedingten Umfangs; c. Beurteilung der Methodik des Werkes, bei der darauf Rücksicht zu nehmen wäre, dass ein Urteil hierüber subjektiv und zeitgebunden ist.«

Des Weiteren sah der Jurist es als wichtig an, die Kriterien einzeln im Gutachten zu prüfen und die Gutachter zu benennen, um bei Missverständnissen eine direkte Aussprache suchen zu können. Außerdem sollten bei Neuauflagen Gutachten nicht Probleme aufzeigen, die in einem ersten Zulassungsverfahren nicht beanstandet wurden, und den Autorinnen und Autoren sollte genügend Zeit zu einer Stellungnahme gelassen und die Möglichkeit eines Gegengutachtens gegeben werden, auf das die Sachverständigen zu antworten hätten. Die vom Ministerium ersuchten Gutachter sollten über Spezialkenntnisse auf dem Gebiet verfügen. Gegebenenfalls sollte ein weiterer Spezialist hinzugezogen werden. Schließlich sollte auch die Möglichkeit erteilt werden, Schulbücher außerhalb der Lernmittelfreiheit zuzulassen. Der Rechtsanwalt schloss seinen Brief damit, dass sich in diesem Rahmen die »Wünsche der Verfasser von Schulbüchern wie auch deren Verleger«bewegten.310 Der Brief verdeutlicht das Interesse der Verlage an einem transparenten Prüfverfahren sowie die gleichzeitige Machtposition des Kultusministeriums in fachlicher und methodischer Hinsicht, die als »subjektiv und zeitgebunden« infrage gestellt und mit der Forderung nach der Möglichkeit zu Gegengutachten entgegengetreten wurde. Dass zudem keine übernommenen Mängel in Neuauflagen bereits zugelassener Schulbücher kritisiert werden sollten, legt den Schluss nahe, dass die Verlage mit ihren Vorschlägen eine Beschleunigung der Zulassungsverfahren auch zu Lasten der Qualitätssicherung beabsichtigten. Auch die Veröffentlichung klarer Kriterien bei der Begutachtung von Schulbüchern half dabei, das Zulassungsverfahren zu verkürzen, da Verlage das Schulbuch leichter auf die Wünsche des Ministeriums hin gestalten können. Da kürzere Produktionszeiten geringere Produktionskosten zur Folge haben und den Verlagen erlauben, schneller auf veränderte Bedürfnisse in den Schulen zu reagieren,311 ist anzunehmen, dass die Verlage materielle Vorteile mit einer transparenten Reglementierung der Zulassungsverfahren verbanden.

310 Zitate BayHStA MK 63654 Brief vom 12. November 1952. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 311 Das kostenintensive und zeitintensive Prüfverfahren hebt der Schulbuchredakteur Björn Opfer in einem Bericht über die Produktion von Schulbüchern hervor, bezieht sich dabei aber auf den gegenwärtigen Produktionsablauf (Opfer (2007)).

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Eine Regelung der Zulassungsverfahren hätte jedoch die geschichtskulturelle Hegemonie der Referate empfindlich eingeschränkt, denen laut Geschäftsordnung die »selbstständige Bearbeitung der ihnen nach Geschäftsverteilungsplan zugewiesenen Angelegenheiten zustand.«312 Dementsprechend entwickelte sich im Ministerium eine Diskussion um die Anfrage, die Monate nachdem besagter Brief im Ministerium ankam eröffnet wurde: Dem Schreiben liege »eine irrige Auffassung von den Gutachten zugrunde«, denn das Staatsministerium treffe Entscheidungen hinsichtlich der Zulassung von Schulbüchern »aus eigener Machtvollkommenheit«, hielt ein Beamter des Ministeriums in einem internen Rundschreiben fest. Diese Machtvollkommenheit war aus Sicht des Beamten eng mit der Eigenständigkeit der Referate verknüpft, denn: »Es ist die Sache des Referenten, wie weit er sich hierzu auf Gutachten stützt. Diese Gutachten werden nicht etwa für den Verlag eingeholt, sondern ausschließlich für den Fachreferenten, der sie sich ganz oder teilweise zu Eigen machen kann.« Dass die Gutachten aus Sicht des Referenten keine Serviceleistung für Verlage darstellten, verdeutlichte er mit seinen Ausführungen zur Veröffentlichung von Gutachten. Demnach war es laut Referenten »Sache des Ministeriums, ob und inwieweit es diese Gutachten den Verlagen zur Kenntnis bringen will. Es ist daher ausgeschlossen, die Namen der Gutachter den Verlagen bekanntzugeben. Es wäre überhaupt besser, nicht die Originalgutachten den Verlagen zur Kenntnis zu bringen. Die Referenten sollten das Wesentliche herausgreifen.«

Schließlich erfülle das Zulassungsverfahren »eine wesentliche kulturpolitische Aufgabe« und sei kein Verwaltungsakt, denn das »Schulbuch ist ein entscheidendes Instrument der inneren Schulreform. Es wäre verhängnisvoll, wenn das Staatsministerium durch irgendwelche auch noch so unverfänglich erscheinende Bindungen sich dieses Instruments berauben würde.«313 Eine Kollegin im Ministerium hielt dagegen, dass die von den Schulbuchverlagen vorgeschlagenen Gesichts- und Gliederungspunkte der Zulassungsverfahren bereits angewandt seien. Die Verfasserinnen und Verfasser von Lehrbüchern besaßen laut der Referentin selbstverständlich das Recht, aus deren Sicht unannehmbare Vorschläge mit entsprechender Begründung in Form einer Gegendarstellung abzulehnen. Dementsprechend hielt sie die Übernahme der Punkte in Form eines dem Prüfungsauftrag beigelegten Merkblatts für unproblematisch. Die Benennung des Gutachters sollte jedoch weiterhin nur mit Wunsch des Verlags und Einverständnis des Gutachters geschehen, um die Sachlichkeit der Verfahren nicht zu gefährden. Außerdem werden die Gutachten im Auftrag des Ministeriums verfasst, weshalb sie auch Ministerium überprüft 312 BayHStA MK 85947 Geschäftsordnung von 1947. 313 Zitate BayHStA MK 63654 internes Schreiben des bay. Kultusministeriums vom 31. März 1953.

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und vertreten werden. Die namentliche Nennung der Sachverständigen sei deshalb nicht notwendig. Die Ministerialreferentin sprach sich zudem für die Möglichkeit der nichtlernmittelfreien Zulassung aus.314 Der Idee der nichtlernmittelfreien Zulassung schlossen sich zwar einige Referate an, doch nach dem Einwand eines Referenten, dass die Lernmittelfreiheit eine Rechtsfolge der Zulassung sei, ließen die Beamten von der Idee ab. Die Lernmittelfreiheit war ein von der US-Besatzung durchgesetztes Novum,315 das von den Beamten des Kultusministeriums dementsprechend lax verhandelt wurde. In dem aus Versehen am 27. August 1953 abgeschickten und am 8. September verbesserten Antwortschreiben an den Anwalt des Bayerischen Verleger- und Buchhändlerverbands argumentierte das Ministerium, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit Bücher aus Not heraus auch mit Mängeln zugelassen wurden, was für aktuelle Schulbücher nicht mehr gelten könne. Im Gegenteil sah sich das Staatsministerium »dazu gezwungen, für Neuauflagen bereits zugelassener Lehrbücher, bei denen nachträglich noch Mängel bekannt werden, die lernmittelfreie Genehmigung nur dann aufrecht zu erhalten, falls Autor und Verlag die vom Ministerium als notwendig erachteten Verbesserungen vornehmen.«316

Da die Lernmittelfreiheit eine Rechtsfolge der Zulassung sei, könne es keine nicht-lernmittelfreie Zulassung geben.317 Tatsächlich übernahmen die Referentinnen und Referenten bei den untersuchten Prüfverfahren in den Jahren 1951/1952 selbst auch die Aufgabe der Gutachterinnen und Gutachter. Die proklamierte ›Machtvollkommenheit‹ nutzte zunächst auch eine Referentin, als sie den für den Geschichtsunterricht an Volksschulen vom Oldenbourg Verlag eingereichten Band ›Geschichte unseres Volkes‹ auf Grundlage eines selbst erstellten Gutachtens ablehnte.318 Nachdem der Verlag nachgehakt und ihre Abteilungsleiter sie gescholten hatten, bestellte sie jedoch auch externe Gutachter ein. Der Verlag sei laut dem Vorgesetzten »nicht einfach mit der Feststellung abzufertigen, dass bei Durchsicht des Buches festgestellt wurde, dass es nicht in allem den Anforderungen des Ministeriums entspricht.« Stattdessen hätten die Beanstandungen »im Einzelnen dargelegt werden müssen und außerdem ist es nicht üblich, dass ein Buch ohne Erstattung von Gutachten durch Fachleute außerhalb des Hauses abgelehnt wird.«319 Den-

314 315 316 317 318 319

Vgl. BayHStA MK 63654 internes Schreiben des bay. Kultusministeriums vom 2. April 1953. Vgl. Liedtke (1997). BayHStA MK 63654 Brief vom 8. September 1953. Vgl. BayHStA MK 63654 Brief vom 8. September 1953. Vgl. BayHStA MK 64517 internes Gutachten vom 2. April 1951. Zitate BayHStA MK 64517 internes Schreiben des Abteilungsleiters Abt. III vom 19. Oktober 1951.

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noch gab es auch nach diesen reglementierenden Worten Ausnahmen: 1952 wurde für ein Schulgeschichtsbuch der Höheren Schulen aus dem Borgmeyer Verlag das einzige Gutachten, auf dessen Basis dann der ablehnende Bescheid ausgesprochen wurde, im Ministerium verfasst. Dem Gutachten nach sei der Band stofflich überladen und erreiche keine große Überschau, sondern biete eine verwirrende Menge an Einzelheiten. Da es zudem bereits zwei zugelassene Mittelstufenbände gebe, wurde eine tiefergehende Prüfung unterlassen.320 Anscheinend waren ministerielle Gutachten die Ausnahme bei Zulassungsverfahren. In Zulassungsverfahren bis 1952 wurden nur drei Gutachten von Referentinnen und Referenten des Ministeriums verfasst. Auch in den 1960er und 1970er Jahren blieben vom Kultusministerium erstellte Gutachten – abgesehen von den Gutachten des Referats für Ostkunde321 – die Ausnahme. Außerdem reichten bereits vor dem Schreiben des Bayerischen Verleger- und Buchhändlerverbands Verlage Gegengutachten und Stellungnahmen im Ministerium ein. Insbesondere der Klett Verlag argumentierte beim negativen Bescheid zur Reihe »Grundriss der Geschichte« von 1951 mit Gutachten von Historikern sowie mit Rezensionen von Lehrkräften.322 Allerdings waren die in den Gutachten der Sachverständigen aufgeführten Monita in der Praxis nicht bindend für die Entschließung der Referentinnen und Referenten. Eine Aussage dazu, inwiefern die Referentinnen und Referenten vom Inhalt der Gutachten abhängig waren, gibt erst die Verordnung von 1976: Während zur Prüfung von Schulbüchern allgemein die Sachverständigen nur »gehört« wurden, war die Entscheidung der jeweiligen kirchlichen Behörde bei der Zulassung von Schulbüchern für den Religionsunterricht »bindend.«323 Diese Freiheit der Referentinnen und Referenten zeigte sich auch in der Praxis, etwa wenn ein Referent 1958 ein drittes Gutachten einholte, nachdem die beiden zuvor ersuchten Sachverständigen ungenügende Gutachten verfasst hatten. Besagter Referent ersuchte erstmals das Münchner Institut für Zeitgeschichte um ein Gutachten, um den abschließenden vierten Band einer für die Zulassung in der Mittelschule eingereichten Reihe C.C. Buchners Verlags zu prüfen. Die zuvor eingeholten Gutachten prüften die Darstellung des Nationalsozialismus nicht,

320 Vgl. BayHStA MK 63820 internes Gutachten vom 9. August 1952. 321 Es handelt sich um vier Gutachten im Untersuchungszeitraum, die alle zu Schulgeschichtsbüchern für die Volksschulen/Hauptschulen verfasst wurden. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 7. Juni 1967; MK 64521 Gutachten vom 9. April 1970; MK 64524 Gutachten von November 1965; MK 64525 vom 3. Juni 1959. Zum Ostkunde-Referat siehe 2.3.2. Zur bildungspolitischen Agenda der Ostpolitik im Unterricht vgl. Weichers (2014). 322 Siehe dazu auch Kapitel 2.4. Vgl. BayHStA MK 63819. 323 Zitate GVBl 1976, S. 186. Vgl. Schmitz-Zerres (2018).

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weshalb er das Institut um eine fachwissenschaftliche Prüfung des zeitgeschichtlichen Abschnitts bat.324 Schulbuchkommissionen Bereits im Januar 1950 beauftragte das Kultusministerium die Regierungen der bayerischen Bezirke damit, geeignete Lehrkräfte für Schulbuchkommissionen zu benennen. Diese Lehrkräfte sollten nicht selbst ein Schulbuch verfasst haben, um einen Interessenkonflikt zu vermeiden.325 Damit setzte das Ministerium an der bereits vor 1933 bestehenden Instanz der Prüfkommissionen an und entwickelte neben dem bereits genannten Gutachterverfahren zunächst noch eine zweite Kontrollmöglichkeit. Infolge dieser doppelten Regulierung wurde das Für und Wider der beiden Instanzen 1954 abgewogen. Die Diskussion um die vom Bayerischen Verleger- und Buchhändlerverband eingebrachten Vorschläge zum Zulassungsverfahren gab den Auftakt der Abwägungen.326 Da der Schulbuchmarkt sich im Vergleich zur Weimarer Republik deutlich verändert habe, folgerte die zuständige Referentin, könne eine Kommission heute die Aufgabe der Begutachtung nicht mehr lösen, sofern sie sich nicht ausschließlich der Prüfung von Schulbüchern widme. Die Organisation ständiger Ausschüsse sei sehr aufwendig, zumal auch das Gutachterverfahren sicherstellen könne, dass Interessengruppen – also Verlage und Verbände –, »denen es nicht um sachliche Motive geht« und »die Gutachter beeinflussen können«, keinen Vorzug erhielten. Das Gutachterverfahren entlaste die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter des Ministeriums, da die Sachverständigen sich und ihre Gutachten nicht gegenseitig kannten und dadurch ergänzen konnten. Weiterhin obliege es aber den Ministerialbeamten, selbst ein Urteil über das vorgelegte Schulbuch zu gewinnen. Dagegen werde durch die Errichtung von Schulbuchkommissionen dem Ministerium zwar »manche Arbeit erspart werden, gleichzeitig würde aber die Gefahr einer sachlich nicht immer einwandfreien Beurteilung zunehmen«, weshalb die Referentin dafür plädierte, das gegenwärtige Gutachterverfahren weiter auszubauen.327 Der Abteilungsleiter votierte dafür, die Beurteilungspraxis durch zwei Gutachter nicht aufzuheben. Die aus der Weimarer Republik übernommene Kommission erhalte die Gutachten aus dem Zulassungsverfahren sowie die zur Begutachtung infrage kommenden Bücher.328 Folglich hatte die Schulbuchkommission, die sich in fachspezifische Unterausschüsse gliederte, die Aufgabe der Nachkontrolle bereits zugelassener Lern324 325 326 327 328

Vgl. BayHStA MK 64256 Brief vom 11. November 1958. Vgl. BayHStA MK 62121 internes Schreiben, 23. September 1954. Vgl. BayHStA MK 62121 internes Schreiben, 29. September 1954. Zitate BayHStA MK 62121 internes Schreiben, 29. September 1954. Vgl. BayHStA MK 62121 internes Schreiben, 14. Oktober 1954.

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mittel. Allerdings arbeitete die Kommission nur sporadisch und in langen Phasen, beispielsweise zwischen 1957 und 1963, gar nicht. Erst 1964 wurde eine zweite Schulbuchkommission einberufen, infolgedessen von Verlagen Prüfexemplare erbeten und von den Bezirksregierungen erneut Vorschläge für geeignete Lehrkräfte eingeholt wurden. Für den Bereich Geschichte/Sozialkunde waren ab 1964 drei Lehrkräfte zuständig, ab 1965 mindestens fünf.329 Allerdings liegen keine Berichte zu der inhaltlichen Arbeit des Ausschusses vor. Zwar berichtete der Vorsitzende des Fachbereichs Geschichte/Sozialkunde, dass Gutachten zu zwei Schulgeschichtsbüchern verfasst wurden,330 die Gutachten selbst blieben aber nicht erhalten. Da die Unterausschüsse nur sporadisch tätig waren, im Untersuchungszeitraum anscheinend auch nur zwei Schulgeschichtsbücher geprüft wurden und die Arbeit der Kommission auch in den Akten zu den Zulassungsverfahren anderer Volksschulgeschichtsbücher nicht bedacht wurde, ist es plausibel, von einer zu vernachlässigenden Wirkung der Schulbuchkommissionen im Bereich Geschichte auszugehen. Standardisierung Eine von den Verlagen erwünschte kriterienorientierte Prüfung der Manuskripte veranlasste das Ministerium zunächst nicht. Die standardisierten Briefe, mit denen das Ministerium die Gutachterinnen und Gutachter um Prüfung der Manuskripte ersuchte, beinhalteten in den 1950er Jahren lediglich die Aufforderung, die Eignung zum schulartspezifischen Unterrichtsgebrauch zu prüfen. Daneben bat das Ministerium im Brief, eine Frist von vier bis fünf Wochen einzuhalten und das Gutachten in doppelter Ausführung einzureichen, von denen eines unterschrieben ist.331 Konkretisierte Kriterien zur Prüfungen blieben in den an die Sachverständigen versandten Standardbriefen bis auf seltene Ausnahmen aus.332 Das nicht unterschriebene Gutachten konnte dem Verlag ausgehändigt werden, ohne die Anonymität der Gutachterin oder des Gutachters aufzugeben. In der Debatte um das Prüfverfahren zum oben erwähnten Volks329 Vgl. BayHStA MK 62121 Brief Bauer an bay. Kultusministerium, 2. Januar 1965. 330 Vgl. BayHStA MK 62121 Brief Bauer an bay. Kultusministerium, 26. Oktober 1965. 331 Siehe beispielsweise das an einen Studienrat gerichtete Ersuchen zur Begutachten eines Mittelschulbands aus dem Bayerischen Schulbuchverlag BayHStA MK 63822 Brief vom 30. Januar 1953. 332 In einem Brief zur Begutachtung eines Volksschulgeschichtsbuches spezifiziert der Referent in Stichpunkten die Kriterien: »Die Beurteilung soll sich außer auf die sachliche Richtigkeit, soweit dies in diesem ermöglicht werden kann, auf folgende Gesichtspunkte erstrecken: Aufbau, Gliederung, Umfang, Stoffauswahl, Forderungen des Bildungsplanes für die bayerischen Volksschulen vom 28. August 1950, Fassungskraft und Altersstufe der Kinder, kindlicher Interessenskreis, kindlicher Geschichtssinn, Erlebnisunterricht, Erkenntnisbildung und Willensbildung.« BayHStA MK 64518, Brief vom 19. Juli 1952.

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schulgeschichtsbuch des Oldenbourg Verlages verwies ein Referent in einem internen Schreiben darauf, dass die Anonymität der Gutachterinnen und Gutachter Usus sei, um sie vor potentieller Einflussnahme von Seiten der Verlage zu schützen und so ein »unbefangenes und unbeeinflusstes Gutachten« zu erzielen.333 Die Anonymität der ersuchten Sachverständigen wurde sodann fast ausschließlich nach dem Abfassen der Gutachten und erst auf deren ausdrückliche Erlaubnis hin aufgehoben.334 In einem Zulassungsverfahren erfuhr der Autor des eingereichten Manuskripts anscheinend von Seiten des Ministerialreferenten davon, dass das Institut für Zeitgeschichte um ein Gutachten ersucht wurde.335 Das Institut berichtete dem Ministerium, dass dieser Autor erheblichen Druck auf das Institut ausübte, da er sich mehrmals »mit dem Referenten in Verbindung setzte, um auf eine Beschleunigung der Begutachtung hinzuwirken.« Zwar unterstellte das Institut dem Autor ausdrücklich nicht, dass dieser auf die Inhalte der Begutachtung Einfluss nehmen wollte, dennoch sah das IfZ sich zunächst dazu genötigt, die Begutachtung abzubrechen.336 Erst nach telefonischer Rücksprache mit dem Ministerium war das Institut zum Abschluss der Begutachtung bereit.337 Üblicherweise wurden zwei Sachverständige pro Zulassungsverfahren bestellt und nur für Volksschulgeschichtsbücher neben dem sporadisch eingreifenden Referat für Ostkunde noch Vertreter der katholischen und der evangelischen Landeskirchen um ein Gutachten ersucht.338 Die Sachverständigen erhielten zusammen mit dem Manuskript einen standardisierten Brief des Kultusministeriums.339 Die vom Kultusministerium im Standardbrief vorgegebenen Aspekte der Prüfung zeigte eine stofforientierte Begutachtung von Schulgeschichtsbüchern auf, die erstens nach bildungspolitischen Kriterien (Lehrplantreue), 333 BayHStA MK 64517 internes Schreiben vom 6. Oktober 1951. 334 So etwa im Fall des Prüfverfahrens des vierten Bandes von »Geschichte für Real- und Mittelschulen« des Bayerischen Schulbuchverlages, siehe BayHStA MK 64264 und BSV 462. Ausführlich zu diesem Band siehe das Kapitel 2.4. Die Anonymität des Sachverständigen bei der Begutachtung von Borgmeyers ›Erbe des Abendlands‹ wurde ebenfalls aufgehoben und der Gutachter zum Autor, vgl. BayHStA MK 63844 Interne Notiz 12. August 1953. Im Lehrwerk ›Geschichte unseres Volkes‹ von 1963 wurde im Impressum einem Gutachter namentlich gedankt. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 2. 335 Es handelt sich um die neu bearbeitete Wiedervorlage von Geschichte für Realschulen IV, das zuvor der Bayerische Schulbuchverlag veröffentlichte, seit diesem Zulassungsverfahren aber vom Oldenbourg Verlag publiziert wurde. Siehe BayHStA MK 64268. 336 Vgl. BayHStA MK 64268 Brief des Instituts für Zeitgeschichte an das bay. Kultusministerium vom 9. Juni 1972. 337 Vgl. BayHStA MK 64264 Handschriftliche Notiz auf der Rückseite des oben genannten Briefes vom 30. Juni 1972. 338 Zur durchschnittlichen Anzahl und der Auswahl der Sachverständigen Kapitel 2.3.1. 339 Vgl. BayHStA MK 63837 standardisierter Briefentwurf des bay. Kultusministeriums vom 4. März 1966. Siehe beispielsweise auch BayHStA MK 63825, Briefentwurf vom 13. August 1963.

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zweitens nach fachlichen Kriterien (fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Standpunkt) und drittens nach pädagogischen Kriterien (sprachliche und stoffliche Angemessenheit, Stofffülle) auffächerbar und ineinander verwoben waren. Damit spiegelte der Kriterienkatalog des Kultusministeriums zum einen die »Eigenlogik des Mediums Schulbuch«340 und zum anderen die bis zur Curricularisierung der Lehrpläne vorherrschende Stofforientierung des Unterrichts wider. Außerdem legte das Kultusministerium mit den in den Briefen formulierten Kriterien hohe Standards zur Bewertung von Schulgeschichtsbüchern fest, da Neuzulassungen das Angebot nicht nur vermehren, sondern bereichern sollten.341 Das Ministerium beabsichtigte mit der Zulassungspolitik keine Varianz der Schulgeschichtsbücher, sondern fachlichen Fortschritt. Ob begutachtete Manuskripte als Schulgeschichtsbücher eine Bereicherung oder eine bloße Vermehrung darstellten, wurde von den Gutachterinnen und Gutachtern häufig als Floskel zur abschließenden Bewertung genutzt und von den Referentinnen und Referenten als ausschlaggebend herangezogen.342 So bescheinigte ein Gutachter beispielsweise der 1968 eingereichten Neuauflage des von Eduard Steinbügel verfassten vierten Bandes der ›Geschichte für Mittelschulen‹ aus dem Bayerischen Schulbuchverlag, dass es keine Bereicherung der bisher zugelassenen Schulbücher – einschließlich der alten Auflage des Bandes – darstellte.343 Diese Einschätzung wurde in der vom zuständigen Referenten verfassten Zusammenfassung der beiden vom Ministerium ersuchten Gutachten übernommen und dem Verlag übersandt,344 infolgedessen der Verlag sich vom eingereichten Manuskript distanzierte. Der gleiche Verlag hob im internen Sprachgebrauch in Bezug auf das für Höhere Schulen produzierte Schulgeschichtsbuch ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ hervor, dass mit diesem Buch keine Vermehrung, sondern eine Bereicherung der bisherigen Schulgeschichtsbücher bezweckt werden sollte.345 Mit der Ausrichtung des Prüfvorgangs auf optimale Standards

340 Schönemann und Thünemann (2010), S. 176. 341 Vgl. BayHStA MK 63837 standardisierter Briefentwurf des bay. Kultusministeriums vom 4. März 1966. 342 Beispielsweise wurden die Prüfverfahren zum vierten Band der Oberstufenreihe Geschichtliches Werden sowie zum dritten Band der Mittelstufenreihe Geschichtliches Werden (beide Bände für Höhere Schulen) erst nachdem die Gutachter dem Manuskript eine Bereicherung der bisher zugelassenen Schulgeschichtsbücher attestierten, mit einer Zulassung abgeschlossen, siehe BayHStA MK 63826. 343 Vgl. BayHStA MK 64263 Gutachten vom 28. März 1968. 344 Vgl. BayHStA MK 64263 internes Schreiben vom 11. April 1968. 345 Der Verleger des Bayerischen Schulbuchverlages schrieb eigenständig einen Lehrer mit der Bitte an, ein Schulgeschichtsbuch zu begutachten, bevor es im Kultusministerium eingereicht wird: »Wie sie sich denken können, habe ich nicht die Absicht, den bereits vorliegenden Geschichtswerken ein neues hinzuzufügen, sondern es liegt mir daran, ein Werk

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statt beispielsweise einer Negativkontrolle oder Regelstandards verengte das Kultusministerium die Anzahl der im Bundesland zugelassenen Schulgeschichtsbücher, wodurch die Entscheidungsfreiheit der Lehrkräfte bei der Einführung von Schulgeschichtsbüchern eingeschränkt wurde. Zwar behauptete das Kultusministerium eine stetige Verbesserung der zugelassenen Bände, blieb allerdings vage bei der inhaltlichen Bestimmung der in den Standardbriefen genannten Kriterien, wodurch den Gutachterinnen und Gutachtern breiter Spielraum bei der Prüfung der Manuskripte zugesprochen wurde. Ebenfalls standardisiert waren die Vergütung der Sachverständigen sowie die Verwaltung der Verfahrenskosten, die das Kultusministerium den Verlagen in Rechnung stellte. Bayern erhob 1960 pro Band eine Prüfgebühr zwischen 20– 30 DM, bei Volksschulbüchern aufgrund der Wirtschaftlichkeit bis zu 150 DM. Die Veröffentlichung im Amtsblatt, ohne die die Zulassung nicht gültig war, kostete 2 DM. Zudem bezahlte Bayern den Sachverständigen 30 DM pro hundert Manuskriptseiten für ein ausführliches Gutachten.346 Nach Selbstauskunft des Ministeriums lagen die gesamten Kosten für ein im Durchschnitt sieben bis zehn Wochen andauerndes Prüfverfahren im Bereich von 150 bis 500 DM,347 wobei längere Zulassungsverfahren, die das Abfassen mehrerer Gutachten notwendig machten, die Kosten auch erhöhten. Das Kultusministerium sah die Entlohnung der Sachverständigen als angemessen an, doch eine Erhöhung der Gebühr war auch deshalb nicht geplant, um Verlagen keinen Vorwand für Preissteigerungen zu geben.348 Allerdings führte die Entlohnung gelegentlich zu Beschwerden von Seiten der Sachverständigen, die dann weder die Qualität des Gutachtens noch den Aufwand für das Gutachten angemessen entlohnt sahen. Das Ministerium stockte die Entlohnung zwar auf, überschritt aber die 1970 festgelegte Höchstgrenze von 300 DM nicht.349

346 347 348

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herauszugeben, das wirklich eine Bereicherung der in Benutzung befindlichen Bücher ist.« BayHStA BSV 459 Brief vom 4. April 1957. BayHStA MK63655 Brief bay. Kultusministerium an KMK, 3. Mai 1960. BayHStA MK 63655 Brief bay. Kultusministerium an Verlag Tellus, 7. März 1967. BayHStA MK 63655 Brief bay. Kultusministerium an Berliner Senator für Volksbildung, 25. Januar 1964. Zum Vergleich: 1959 vergütete das Niedersächsische Kultusministerium ein Gutachten für ein hundert Seiten starkes Buch mit ca. 24 DM. BayHStA MK 63655 Brief nds. Kultusministerium an KMK, 16. Dezember 1959. Dies geht aus einer handschriftlichen Notiz aus dem Beschwerdebrief hervor, siehe BayHStA MK 64268 Brief an bay. Kultusministerium, 1. Dezember 1973. Das Institut für Zeitgeschichte befürchtete, angesichts der geringen Entlohnung keine qualifizierten Sachverständigen mehr beauftragen zu können, siehe BayHStA MK 64268, Brief IfZ an bay. Kultusministerium, 12. April 1973.

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Regulierung oder Liberalisierung? Diese durch das Zulassungsverfahren erzeugte Verknappung auf dem Schulbuchmarkt war von Beamten des Ministeriums zunächst auch intendiert. Obwohl Schulen direkt beim Ministerium den Bedarf an Schulgeschichtsbüchern anzeigten und zudem auch den Wunsch nach Varianz äußerten, hielten sich die Referentinnen und Referenten zurück. Nachdem das Direktorium eines Landschulheims 1950 den Bedarf an Schulgeschichtsbüchern an das Ministerium herantrug, teilte der zuständige Referent mit, dass bereits Schulgeschichtsbücher des C.C. Buchners Verlags genehmigt seien und vom Verlag Lurz weitere Bücher für Gymnasien zugelassen werden. Außerdem sei die »Zulassung eines dritten Geschichtswerkes […] nicht veranlasst.«350 Dementsprechend reagierte das Ministerium auch gegenüber dem Verlag: Der Schwann Verlag reichte 1950 den ersten Band seiner ›Geschichte des Abendlandes‹ mit der Bitte um ein Prüfverfahren ein. Der Band behandelte die Geschichte des Altertums für die Höheren Schulen. Nach einer internen Absprache unter den Referentinnen und Referenten351 teilte das Ministerium mit, dass es schon Bücher für diese Jahrgangsstufe gebe, weshalb es abgelehnt wurde.352 Im darauffolgenden Jahr wandte sich der Bonner Borgmeyer Verlag mehrmals an das Kultusministerium, um den Stand der von ihm zur Prüfung eingereichten Mittelschulreihe von MeierSchirmeyer zu erfahren. Infolgedessen wurde zwar der von Karl Watermann verfasste erste Band von ›Bilder aus der alten Welt‹ lernmittelfrei zugelassen, die weiteren angefragten Bände der Reihe jedoch nicht. Der Referent begründete seine Entscheidung damit, dass »bereits genügend Bücher für den Geschichtsunterricht zur Verfügung stehen und eine zu große Zersplitterung vermieden werden muss.«353 Zwei Monate zuvor versandte das Ministerium eine Liste der genehmigten Schulgeschichtsbücher an die Education Branch der US-Militärregierung.354 Demnach waren nur die bislang unvollständigen Reihen zweier Verlage für den Geschichtsunterricht zugelassen, nämlich vom Bamberger C.C. Buchners Verlag und vom Münchner Verlag Martin Lurz. Die Befürchtung des Ministeriums vor einer ›Zersplitterung des Schulbuchmarktes‹ schränkte in der Konsequenz die Wahlfreiheit der Lehrkräfte bezüglich der Einführung von Schulgeschichtsbüchern ein. Daran störten sich auch Leh350 BayHStA MK 63818 Brief bay. Kultusministerium an Landschulheim, 3. November 1950. 351 Die beiden korrespondierenden Referenten hatten »kein Interesse« an der Zulassung des Schulgeschichtsbuches, siehe BayHStA MK 63819 Handschriftliche Notizen, 17. und 18. November 1950. 1950. 352 BayHStA MK 63819 Brief des bay. Kultusministerium an Schwann Verlag, 23. November 1950. 353 BayHStA MK 63819 Brief bay. Kultusministerium an Borgmeyer Verlag, 2. August 1951. 354 BayHStA MK 63819 Brief bay. Kultusministerium an Education Branch beim Hohen Kommissariat | US-Militärregierung, Frankfurt, 11. Juni 1951.

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rerinnen und Lehrer, die das Ministerium mit der Bitte um die Einführung bestimmter Lehrwerke anschrieben, die sie als pädagogisch wertvoll ansahen, da sie einen guten Unterricht unterstützen würden.355 Zuweilen schreckten manche Lehrkräfte auch vor Holocaustrelativierung nicht zurück: Ein Münchener Oberschullehrer empfand die Ankündigung des C.C. Buchners Verlag, dass ein Schulbuch des Hauses lernmittelfrei zugelassen werde, »wie eine Erlösung aus dem reinsten KZ«.356 Den quantitativen Höhepunkt erreichten diese Schreiben während der Zulassungsverfahren zu Bänden der Reihe ›Grundriss der Geschichte‹ des Klett Verlags. Die Reihe basierte auf dem in der Weimarer Republik beliebten sog. Teubner’sche Unterrichtswerk.357 Daran schienen die Lehrkräfte anknüpfen zu wollen, doch das Kultusministerium hatte die Zulassung verweigert, weshalb innerhalb eines halben Jahres vierzehn Schulen und Lehrer das Kultusministerium direkt anschrieben, um die Zulassung des Werkes zu erwirken. Daneben leitete auch der Verlag die an ihn gerichteten Schreiben von Lehrkräften an das Kultusministerium weiter.358 Zwar sah die Referentin sich wegen der vielen Zusendungen zunächst bereit, die Reihe zuzulassen, doch nach Unterredungen im Ministerium nahm sie davon wieder Abstand.359 Den Schulen teilte das Ministerium mit, dass das Schulgeschichtsbuch »möglicherweise als Lizenzausgabe eines bayerischen Verlages erscheinen wird«. Da es »noch nicht vollständig vorliegt, ist die Überprüfung noch nicht abgeschlossen«, weshalb eine lernmittelfreie Zulassung nicht ausgesprochen werde.360 Trotz der geplanten Verknappung des Schulbuchmarkts nahm die Zahl der zugelassenen Lehrwerke in den 1960er Jahren stetig zu. Im September 1968 zählte das Amtsblatt des Ministeriums im Schulbuchverzeichnis allein für die Gymnasien 44 Schulgeschichtsbücher.361 Daneben waren auch sechs Quellenbände 355 Siehe z. B. BayHStA MK 63818 Brief Mädchen-Oberrealschule und Mädchen-Gymnasium München-Nord an bay. Kultusministerium, 16. November 1950. Das Direktorat berichtet, dass es eigenmächtig ein Schulgeschichtsbuch eingeführt hatte, da es sich in der Schule »unerträglich störend bemerkbar« macht, dass noch kein Schulgeschichtsbuch für die Oberstufe zugelassen ist. Die Schule beantragt, das eingeführte Schulbuch in Bayern lernmittelfrei zuzulassen. Der zuständige Referent notiert am 24. November 1950 handschriftlich auf dem Brief, dass an eine Einführung nicht zu denken sei. 356 Aussagen dieser Art blieben seltene Ausnahmen. Der Verlag hängt in seinem Schreiben an das bay. Kultusministerium den Briefdurchschlag des Münchener Oberschullehrers an, siehe BayHStA MK 63818 Brief C.C. Buchners Verlag an bay. Kultusministerium, 24. Januar 1950. 357 Blänsdorf (2004), S. S. 317–322. 358 In einem internen Briefverkehr wurden die Schreiben von einer Referentin aufgelistet. Sie betrafen vor allem die Bände II, III und IV der Reihe. Die aufgelisteten Eingänge begannen am 17. Februar 1951 und endeten vorläufig am 15. Oktober des gleichen Jahres. Siehe BayHStA MK 63819 30. Oktober 1951. 359 Zitate BayHStA MK 63819 internes Schreiben, 20. Dezember 1951. 360 Zitate BayHStA MK 63820 Briefentwurf 13. März 1952. 361 Vgl. Vgl. KMBL 1968b, S. 318–320.

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sowie sechs Lehrwerke zur Gemeinschaftskunde lernmittelfrei zugelassen. Für Realschulen galten immerhin 15 Schulgeschichtsbücher362 und für Volksschulen 17 als lernmittelfrei zugelassen,363 davon vier mit ausschließlich regionalem Schwerpunkt.364 Dieser Anstieg an Schulbüchern zum Ende der 1960er Jahre erzeugte Kritik von Elternräten und Parteien, die für mehr Regulierung eintraten und Kosten sparen wollten, was durch eine schärfere Kontrolle der Schulbücher gelingen sollte. Bayern lagerte durch eine Reform der Lernmittelfreiheit vom April 1968 die Kosten für die Einführung von Lernmitteln zu Teilen auf die Eltern aus, da Erziehungsberechtige die Kosten der Schulbücher zu tragen hatten, sofern ihr Jahreseinkommen 15 000 DM überstieg.365 Diese Reform wurde jedoch im Juli 1969 wieder außer Kraft gesetzt.366 Der damalige Kultusminister und CSUFraktionsvorsitzende berief zudem eine Kommission zur Zulassung und Einführung lernmittelfreier Bücher ein, die am 28. März 1968 tagte. Das Protokoll der Sitzung hielt fest, dass die anwesenden Landtagsabgeordneten auf die Kosten für den Staatshaushalt und auf die Belastungen des Schulbuchwechsels für die Familien hinwiesen. Den Schulbuchverlagen wurde vorgeworfen, dass sie ausschließlich nach ökonomischen Kriterien Bücher produzierten, wogegen sich die anwesenden Vertreter der Verlage verteidigten. Die Kommission einigte sich außerdem auf Punkte zur Regulierung der Zulassungs- und Einführungsverfahren, was zu einer Verknappung der auf dem Markt befindlichen Schulbücher führen sollte. Pro Schulgattung und Fach sollten zwischen zwei und fünf Schulbücher zur Verfügung stehen und die Einführung neuer Schulbücher erst nach etwa vier bis fünf Jahren möglich sein. Neuauflagen (nicht Neudrucke) durften nur noch bei entscheidenden Änderungen zugelassen werden und einmal zugelassene Schulbüchern sollten nach einigen Jahren zur Wiedergenehmigung geprüft werden. Des Weiteren verpflichteten sich die Verlage zur freiwilligen Selbstkontrolle, indem sie für das 1968 zu erscheinende Verzeichnis lernmittelfrei zugelassener Schulbücher die Titel strichen, deren Genehmigung einige Jahre zurücklag und die nicht mehr vertrieben wurden. Der Kostendruck war zudem anscheinend so hoch, dass die Kommission sich dazu entschied, die Formate von Schulbüchern auf Normgrößen zu beschränken und trotz des

362 Vgl. KMBL 1968b, S. 353. 363 Vgl. KMBL 1968, S. 365–366. 364 Nicht hinzugezählt sind die für den Geschichtsunterricht der einzelnen Schularten lernmittelfrei zugelassenen Atlanten. Das gesamte Verzeichnis umfasst knapp hundert Seiten. 365 Siehe KMBL 1968a, S. 152–153. Zum Vergleich: 1966 lag der durchschnittliche Bruttojahresverdienst von männlichen Angestellten in Bayern bei 15 450 DM, bei Frauen bei 8 770 DM. Der durchschnittliche Bruttojahresverdienst von Arbeitern lag in Bayern bei 10 555 DM, der Verdienst von Arbeiterinnen bei 7 050 DM. Vgl. Bayerisches Statistisches Landesamt (1969), S. 369. 366 Vgl. GVBl 1969b, S. 101.

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möglichen didaktischen Mehrwerts auf eine aufwendige Bebilderung zu verzichten.367 Dass sich Landtagsabgeordnete sinkende Kosten bei gleichzeitig steigender Regulierung erhofften, zeigte eine mündliche Anfrage des CSU-Abgeordneten Otto Meyer, der aus dem Wechsel bereits eingeführter Schulbücher erhebliche Belastungen für die Staatskasse ableitete.368 Des Weiteren beantragen Landtagsabgeordnete der CSU, dass die Staatsregierung prüfen solle, ob eine einfachere Ausstattung der Lernmittel Kosten spare und ob die Ausstattung der Schulen mit Lernmitteln aus einem staatlichen Schulbuchverlag die gleiche Wirkung habe.369 Die SPD-Fraktion beantragte im Oktober 1968 zudem die Reduktion zugelassener Lehrwerke,370 was auf heftige Kritik des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands (BLLV) stieß.371 In einem Protestschreiben an das Kultusministerium behauptete der BLLV, dass nur der Markt über die Qualität eines Schulbuches entscheiden könne, da ein abschließendes Urteil über die pädagogische Qualität eines Schulbuches erst durch einen Praxistest erlaubt sei. Außerdem sei die pädagogische und didaktische Freiheit der Lehrkraft wesentlicher Bestandteil seines Berufsbildes, das sich auch in der Wahlfreiheit bei der Einführung von Schulbüchern zeige, die zudem aufgrund des Wettbewerbsdrucks günstiger sein werden, als bei einer Monopolsituation eines Verlages, die auch ein Preismonopol nach sich ziehe. Schließlich erwachse aus der freien Konkurrenz verschiedener Schulbücher pädagogischer und methodischer Fortschritt.372 Zur gleichen Zeit agitierte auch der Verband der Schulbuchverlage (VdS) gegen die Reduktion zugelassener Lernmittel und plädierte für die Abschaffung der Zulassungsverfahren. Die Kontrollinstanz hatte der Verband schon 1954 mit Blick auf die für Verlage kostenintensive föderale Struktur der Schulbuchpolitik und die Betätigung der öffentlichen Hand durch staatsnahe Betriebe in einem Brief an die Kultusministerien der Länder problematisiert. Darin erhob er auch verfassungsrechtliche Bedenken, da die Verfahren die Meinungs- und Lehrfrei367 Vgl. BayHStA MK Protokoll der Sitzung der Kommission zur Zulassung lernmittelfreier Bücher vom 28. März 1968, 4. April 1968. 368 Bay.Landtag 6/1966–1970, Protokoll 23. Januar 1968, S. 1221–1222. 369 Gemeint ist wahrscheinlich der Bayerische Schulbuchverlag. Vgl. Bay.Landtag 6/1966–1970, Beilage 2654 17. Dezember 1969. 370 »Die Staatsregierung wird ersucht, alle geeigneten Schritte zu unternehmen, um das übermäßige Angebot verschiedener Schulbücher für das gleiche Fach und den gleichen Jahrgang auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren und allzu häufige pädagogisch nicht notwendige Neuauflagen zu verhindern.« Bay.Landtag 6/1966–1970, Beilage 1350, 17. Oktober 1968. 371 1951 berücksichtigte der Bayerische Lehrerverein die gestiegene Zahl der Lehrerinnen in seinen Reihen und benannte sich zum Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverein um. Eine knappe Dokumentation des BLLV bietet der im Auftrag des BLLV entstandene Ausstellungsband Liedtke und Schneider (1996). 372 Vgl. BayHStA MK 63655 Brief BLLV an bay. Kultusministerium, 23. Oktober 1968.

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heit unzulässig einschränkten.373 Allerdings stellte sich der Verband in diesem Schreiben noch nicht grundsätzlich gegen die Kontrollinstanz. Nachdem das Saarland sein eigenes Zulassungsverfahren abschaffte, fragte der VdS im Oktober 1967 beim Bayerischen Kultusministerium an, ob es ebenfalls auf das »kostspielige und zeitraubende« Zulassungsverfahren verzichten wolle und bat darum, die aus vieljähriger Erfahrung erkannten Probleme der Zulassungsverfahren vorzutragen.374 Im Sommer 1968 richtete sich der Verband schließlich wieder mit einem Brief an die Kultusministerien der Länder, in dem er die Zulassungsverfahren grundsätzlich im Konflikt mit dem Grundgesetz sah, wobei der Verband sich auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Januar 1966 stützte.375 Der Verband leitete aus diesem Urteil die generelle Unzulässigkeit verwaltungsrechtlicher Maßnahmen ab, »wenn sie in ihrer praktischen Durchführung zu einer faktischen Behinderung des der Presse- und Meinungsfreiheit immanenten Verbreitungsrechtes führen.«376 Aus Sicht des Verbandes behindere dieses zensurähnliche Zulassungsverfahren außerdem den pädagogischen Fortschritt und zeige mangelndes Vertrauen in die pädagogische Erfahrung und in das demokratische Bewusstsein der Verlage.377 Der VdS schlug den Kultusministerien deshalb vor, das Zulassungsverfahren auf zwei Jahre auszusetzen, an deren Stelle der Verband eine Art freiwillige Selbstverpflichtung der Verlage anbot, wonach die auf den Markt gebrachten Lernmittel in Stoffauswahl, -umfang und -darstellung mit pädagogischem Gewinn die Bildungsziele des jeweiligen Lehrplans erreichen helfen würden.378 373 Im Brief wurde als Beispiel für solche »Regiebetriebe« u. a. der Bayerische Schulbuchverlag genannt. BayHStA StK 17595 Brief VdS an bay. Kultusministerium, 3. Februar 1954. 374 BayHStA MK 63655 Brief VdS an bay. Kultusministerium, 27. Oktober 1967. 375 Die Schulbuchverlage stützten sich bei ihrer Einschätzung auf das sogenannte ›Pamirurteil‹ des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Januar 1966. Das Gericht prüfte, ob staatliche Stellen ein Prädikat für ein kulturelles Erzeugnis, in diesem Fall einen Dokumentarfilm, ausstellen dürfen. In ihrer Urteilsbegründung sahen die Richter die Gefahr der Zensur erst gegeben, wenn das Versagen des Prädikats zu steuerrechtlichen Bedingungen führe, die die Aufführung des Dokumentarfilms verunmöglichen. Dabei verglich das Gericht die Gutachtertätigkeit der Filmbewertungsstelle mit einer pädagogischen Prüfungsentscheidung. BVerwGE 23, 194–201. Zur Einordnung des Urteils im Hinblick auf die Legitimation der Zulassungsverfahren siehe Leppek (2002), S. 61–62. 376 Vgl. BayHStA MK 63655 VdS an KMK, 8. Juni 1968. 377 Auch in der Verbandszeitschrift argumentierten die Verleger scharf gegen die staatlichen Zulassungsverfahren. So hieß es beispielsweise in einem »…geben sie Gedankenfreiheit« betitelten Artikel sah der Autor die Freiheit durch staatliche Zulassungsverfahren bedroht, die er als ›Zensurverfahren‹ verstand, was tendenziell eine Praxis totalitärer Staaten sei. Die Autorin behauptete, dass auch in der Bundesrepublik die Gefahr drohe, eine vergleichbare Lenkung des Schulbuchwesens abzurutschen. Vgl. Beckmann (1967). Hans-Georg Fernis kritisierte zwei Ausgaben das Zulassungsverfahren als undemokratische Einschränkung der Lehrerautonomie, vgl. Fernis (1967). Die kritischen Artikel ziehen sich durch die Jahrgänge. 378 Vgl. BayHStA MK 63655 VdS an KMK, 8. Juni 1968.

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Der Argumentation des Verbandes folgte der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz, der am 18./19. Juli 1968 tagte, jedoch keineswegs. Dies geht aus dem internen Bericht der Sitzung hervor, die ein Referent des Bayerischen Kultusministeriums verfasste.379 Demnach verhindere kein Bundesland den Verkauf von Schulbüchern, sondern lediglich den Kauf über staatliche Mittel, sofern es nicht lernmittelfrei zugelassen wurde, weshalb die verfassungsrechtlichen Bedenken des VdS ins Leere liefen. Der Berichterstatter hielt es für angebracht, »den Vorschlag wegen seiner Naivität mit Nachdruck zurückzuweisen«, da jeder Verlag seine Werke als pädagogischen Gewinn ansehe, weshalb die vorgeschlagene Selbstverpflichtung keine qualitätssichernde Funktion habe, sondern gerade in den Fächern Geschichte und Sozialkunde zu »höchst bedenklichen Konsequenzen« führe, über deren Konkretisierung der Berichterstatter sich allerdings ausschwieg. Der Schulausschuss schätzte dem Protokoll nach das Verhalten des Verbandes als Reaktion auf die wachsende Kritik angesichts der hohen Zahl zugelassener Schulbücher ein, für das weder auf Seiten der Parteien noch von Lehrerverbänden Verständnis bestehe.380 Der Verband hakte nochmals im Bayerischen Kultusministerium nach und verwies auf den angeblich absolutistischen Ursprung der Zulassungsverfahren, welche in einer freiheitlich-westlichen Demokratie entbehrlich seien.381 Dennoch nahm die Schärfe der Auseinandersetzung ab und der VdS änderte seine Strategie, infolgedessen er sich dem Status quo anzunähern schien, da er nicht mehr länger die Abschaffung der Zulassungsverfahren forderte. Zwar hielt der VdS an den verfassungsrechtlichen Bedenken fest, stellte aber seine Bedenken bezüglich der Eignung der Sachverständigen in den Mittelpunkt und erkannte schließlich die Kontrollinstanz an, was nach Walter Müller auch eine Durchsicht der Verbandszeitschrift der Schulbuchverlage, Blickpunkt Schulbuch, zeige.382 Auftakt war ein Schreiben des Verbands im Februar 1971 an das Bayerische Kultusministerium, dem ein Positionspapier der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Nordrhein-Westfalen anhing.383 Im Sinne der Demokratisierung forderte die Gewerkschaft, die Sachverständigen sowie die 379 BayHStA MK 63655 Interner Bericht der 120. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 25. Juli 1968. 380 Zitate aus BayHStA MK 63655 Interner Bericht von der 120. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 25. Juli 1968. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 381 BayHStA MK 63655 Brief VdS an bay. Kultusministerium, 24. Oktober 1968. 382 Müller führt die Anerkennung der Zulassungsverfahren auf die Entwicklung drucktechnischer Möglichkeiten zurück, die es Lehrkräften erlaubte, eigene Lernmaterialien zu entwerfen. Dass von den Verlagen gefordert wird, diese lehrerproduzierten Materialien der gleichen Kontrolle zu unterwerfen, liege nahe, denn die geforderte pädagogische Freiheit diente nur als Deckmantel für den Wunsch nach gesteigerten Absätzen. Vgl. Müller (1977), S. 279–281. 383 BayHStA MK 63655 Brief VdS an bay. Kultusministerium, 10. Februar 1971.

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Gutachten bei der Zulassung von Schulbüchern offenzulegen und das Verfahren in ein unabhängiges Institut auszulagern, das lediglich Empfehlungen für Lehrkräfte erstellte. Dies hätte die Hegemonie des Kultusministeriums abgeschafft und die aus Sicht der GEW angemahnte staatliche Manipulation verhindert.384 Die Anschuldigung der Manipulation wurde vom Kultusministerium in der Antwort als Polemik zurückgewiesen.385 Die Forderungen der GEW fielen in die Zeit der Zulassung zweier Schulbücher, die eine bedeutende Stellung in der bundesdeutschen Auseinandersetzung um die Richtung der Bildungspolitik hatten. Diese Verfahren betrafen zum einen den im Leske Verlag 1969 herausgegebenen und von der damaligen Bundesfamilienministerin Käte Strobel (SPD) mit erarbeiteten sog. ›Sexualkunde-Atlas‹,386 zum anderen das von Wolfgang Hilligen im Hirschgraben Verlag neu bearbeitete Sozialkundebuch ›sehen beurteilen handeln‹.387 In seiner Studie zur Schulbuchzulassung als bildungspolitisches Verfahren zeichnet Walter Müller die kontroversen Zulassungsverfahren nach.388 Das Bayerische Kultusministerium fragte erst mehrere Monate nach der Einreichung des Sexualkunde-Atlas beim Leske Verlag nach, ob es geprüft werden sollte, da eine Genehmigung nicht in Aussicht stehe. Da der Verlag dennoch ein Prüfverfahren einforderte, wurde auf Grundlage von sieben Gutachten mit gemeinsamem Tenor ein negativer Bescheid übermittelt, da das Schulbuch der ›triebhaften Jugend‹ keine ethisch-pädagogische Komponente, sondern nur biologische Aufklärung gebe. Laut Walter Müller wurden diese Gutachten teilweise aus Besprechungen katholischer Zeitschriften abgeschrieben. Andere Gutachten übernahmen wortwörtlich Stellungnahmen katholischkonservativer Vereine. Müller hält fest, dass es dem CSU geführten Kultusministerium darum ging, eine aus parteipolitischen und weltanschaulichen Erwägungen von vornherein feststehende Entscheidung durch Beauftragung politisch gewogener Gutachterinnen und Gutachter offiziell abzusegnen.389 Auch das Zulassungsverfahren des Sozialkundebuchs ›sehen beurteilen handeln‹ stand laut Müller in diesem Konflikt. Demzufolge wurde die zunächst in allen Bun384 Die GEW empfahl die Gründung eines ›Curriculum-Instituts‹, das keiner Behörde unterstellt sei und in dem ein Jurist und ein Pädagoge Lernmittel nach Grundsätzen der Verfassung prüfen und nach fachdidaktischen und methodischen Punkten begutachten sollten. Die Gutachten sollten Lehrkräften als Entscheidungshilfe dienen, was der faktischen Abschaffung der Zulassungsverfahren gleichkam. Dadurch wäre aus Sicht der GEW aber die für eine Demokratie notwendige Transparenz geschaffen und die mögliche Manipulation der Gutachten durch den Dienstherrn verhindert worden. Siehe Gesamtverband der Lehrer und Erzieher in Nordrhein-Westfalen (1970). 385 BayHStA MK 63655 Briefentwurf bay. Kultusministerium an VdS, 8. März 1971. 386 Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (1969). 387 Hilligen (1970). 388 Müller (1977). 389 Vgl. Müller (1977), S. 226–230.

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desländern mit Wohlwollen ausgesprochene Zulassung im Zuge einer aufgeheizten Debatte zwischen SPD und CDU im Kontext des hessischen Wahlkampfs in den Uniongeführten Ländern zurückgezogen. In der CDU/CSU war die Meinung vorherrschend, dass das Schulbuch die Schülerinnen und Schüler sozialistisch indoktriniere und zum Klassenkampf aufrufe. Infolge der Debatten um die zuvor in allen Gutachten bescheinigte hohe Qualität des Schulbuches wurden für die neue Auflage des Sozialkundebuches neue Gutachten angefertigt, wodurch in allen unionsgeführten Ländern die Zulassung mit Hinweis auf angebliche Verfassungsfeindlichkeit der Lehrwerke verweigert wurde, obwohl die nun eher kritischen Gutachten weiterhin die didaktische Qualität des Buches lobten und auch im Vergleich zu den Konkurrenzwerken meist von der fachlichen Expertise überzeugt waren.390 Vor diesem Hintergrund können die Forderungen der GEW als Reaktion auf die bildungspolitische Auseinandersetzung zwischen CDU/CSU und SPD verstanden werden, der mit einer Ausgliederung des Gutachterverfahrens aus den Behörden und einer Stärkung der pädagogischen Freiheit der Lehrkräfte entgegnet werden sollte. Im Protokoll des Schulausschusses vom März 1971 ist dieser Zweck der Reform der Zulassungsverfahren nicht berücksichtigt. Allerdings wurde der Vorschlag des VdS festgehalten, eine Gutachterliste anzulegen und die für ein Zulassungsverfahren ausgewählten Gutachterinnen und Gutachter den Verlagen mitzuteilen, welche binnen 14 Tagen Einspruch erheben können. Die Sachverständigen sollten keine konkurrierenden Werke veröffentlicht haben, möglichst Mitglieder des Ministeriums sein und sich inhaltlich darauf beschränken, die Übereinstimmung des Schulbuchs mit der freiheitlichdemokratischen Grundordnung zu prüfen. Doch auch dieser Vorschlag wurde von Seiten der Kultusministerien verworfen, da die Anonymisierung der Sachverständigen nicht aufgegeben werden sollte.391 Allerdings wurde den eingereichten Gutachten anscheinend auch innerhalb des Bayerischen Kultusministeriums zuweilen eine mangelhafte Qualität attestiert. Im Februar 1972 wurde im Ministerium ein Brief an die Schulbuchverlage aufgesetzt, in dem das Ministerium ankündigte, einen Kriterienkatalog zur Begutachtung von Schulbüchern zu erstellen und darum bat, Kriterien vorzuschlagen.392 Diesem Entwurf ging die von einem Referenten erhobene Notwendigkeit einer stärker kriteriengeleiteten Abfassung von Gutachten bei Volksschulbüchern voraus, da manche Sachverständige mit dem Erstellen eines fundierten Gutachtens überfordert zu sein schienen. »Wesentliche Beurtei390 Vgl. Müller (1977), S. 230–245. 391 Vgl. BayHStA MK 63655 Protokoll der 144. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 23. März 1971. 392 Vgl. BayHStA MK 63655 Briefentwurf bay. Kultusministerium an Schulbuchverlage, 18. Februar 1972.

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lungsmerkmale werden vielfach nicht angesprochen«, stellte der Referent fest, forderte jedoch auch, dass die Kriterienliste die ersuchten Gutachterinnen und Gutachter nicht in ihren Äußerungen beschränke, sondern »zusätzliche Aspekte bei der Beurteilung erschließe.«393 Auch wenn das Kultusministerium die Verlage nun zur Zusammenarbeit einlud, zeigten sich doch in den Konflikten um die Form der Zulassungsverfahren durchaus divergente Interessen am Medium Schulbuch. Die Forderungen der Schulbuchverlage nach der Abschaffung oder zumindest weitreichenden Liberalisierung der Zulassungsverfahren verdeutlichten, dass die staatliche Kontrolle als Schranke in der Kapitalakkumulation verstanden wurde. Die Frage nach der pädagogischen Qualitätssicherung erschien dagegen als sekundär, da sich aus Sicht der Verlage die Qualitätssicherung durch die unsichtbare Hand des Marktes, also durch die Kaufentscheidungen der Lehrkräfte und die Initiativen der Verlage, ergeben hätte. Doch die meisten Kultusministerien wollten dagegen nicht auf dieses Steuerungsinstrument verzichten, da so die Aufsicht über die Bildungsinhalte gewährleistet und eine politische Bildung im staatlichen Sinne sichergestellt werden konnte. Dies erklärt auch, weshalb zwar Ministerium und Verlage einen Mangel in den Gutachten sahen, das Ministerium daraus aber die Notwendigkeit steigender Regulierung ableitete, der VdS aber zu einem gegenläufigen Schluss kam und einen Rückzug der Regulierung einforderte. Der Strategiewechsel des VdS, der die Qualität der Gutachten statt die verfassungsrechtliche Eignung in den Mittelpunkt stellte, mündete schließlich in eine Anerkennung der Zulassungsverfahren, aus der heraus lediglich Verfahrensreformen vorgeschlagen wurden. Antikommunistischer Eingriff Die Organisation der Zulassungsverfahren lag fest in der Hand des Kultusministeriums. Dies unterstrich gerade der Eingriff in die Zulassungsverfahren von außen durch Franz Josef Strauß. 1974 gab Strauß, damaliger wirtschafts- und finanzpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, bei der CSU nahen Hanns-Seidel-Stiftung eine Studie zur »[p]olitischen und weltanschaulichen Tendenz in Bayern zugelassener Schulbücher« in Auftrag, die als Denkschrift gemeinsam mit dem Arbeitskreis Bildungs- und Erziehungspolitik der CSU München verfasst wurde. Die fertige Studie wurde nach Anonymisierung

393 BayHStA MK 63655 maschinengeschriebene Notiz bay. Kultusministerium, 10. Februar 1972.

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des Initiators an das Kultusministerium mit dem Auftrag weitergereicht, den monierten Lehrwerken die Zulassung zu entziehen bzw. umzuschreiben.394 Einer der beanstandeten Titel war das Schulgeschichtsbuch ›Spiegel der Zeiten‹ des Diesterweg Verlags. Dem 3. und 4. Band warf die Studie der HannsSeidel-Stiftung wegen der Darstellung Karl Marx’, der Industriellen Revolution, der Oktoberrevolution, des Spartakusaufstands sowie der Innenpolitik Lenins eine »gewisse Linkstendenz« vor, da die Lehrwerke die historischen Phänomene nicht im Darstellungstext aburteilten, sondern Quellen abdruckten, die aus der Perspektive der Sozialisten und Kommunisten verfasst wurden. Die zuständigen Sachbearbeiter reagierten sichtlich brüskiert über den Eingriff und wehrten sich gegen diese Einschätzung, da der Bearbeiter des dritten Bands »aktives CSU Mitglied« in der Kommunalpolitik sei und auch der Bearbeiter des vierten Bands unter den Kollegen der Schule als »schwärzer als schwarz« eingestuft werde.395 Die Autoren,396 ein eigens angefordertes Gutachten397 sowie die Stellungnahme des Verlags398 wiesen die Einschätzung einer tendenziös linken Geschichtsschreibung zurück. Der Verlag hob den didaktischen Wert der Quelle im Geschichtsunterricht hervor, zumal die Quellen sowohl »den gewaltsamen, voluntaristischen Charakter des Leninismus als auch die utopisch orientierte Verkennung der Wirklichkeit« der sozialistischen Wissenschaft belegen würden. Eingriffe und verzerrende Invektiven dieser Art sei der Braunschweiger Verlag zwar »von der Seite marxistischer Kritik gewohnt, […] daß solche Methoden von einem Ministerium eines freiheitlichen Rechtsstaates«angewandt werden, brüskierte die Verleger. Um das Gutachten der Stiftung zu entkräften, hing der Verlag seiner Stellungnahme auch einen das Werk lobenden Brief des konservativen Historikers Golo Mann als Abdruck an.399 Der Eingriff in die Hoheit des Kultusministeriums sorgte unter den Referentinnen und Referenten, aber auch bei den Verlagen für Aufsehen, da der Vorwurf linker Geschichtsschreibung angesichts der politischen Ausrichtung aller Beteiligten unhaltbar schien, zumal auch die Eigenständigkeit der Behörde infrage gestellt wurde. Erst in seiner Funktion als bayerischer Ministerpräsident lüftete Franz Josef Strauß seine Rolle als Initiator dieser Studie. In der von ihm an den Kultusmi-

394 Die Studie selbst wurde anscheinend nicht vom Kultusministerium archiviert. Auch das Archiv der Hanns-Seidel-Stiftung konnte auf eine E-Mail-Anfrage zum Verbleib der Studie keine Auskunft geben. 395 BayHStA MK 64261 Interne Bemerkung ohne Datum, vermutlich zwischen 26. Januar und 3. Februar 1976. 396 BayHStA MK 642621 Brief des Autors vom 4. Februar 1976. 397 BayHStA MK 64261 Gutachten vom 7. Februar 1976. 398 BayHStA MK 64261 Stellungnahme des Verlags vom 6. Oktober 1976. 399 BayHStA MK 64261 Stellungnahme des Verlags vom 6. Oktober 1976.

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nister andressierten Nachfrage zum Stand der monierten Lehrwerke offenbarte er den Zweck seines Eingriffs: »Seit Beginn dieses Jahrzehnts versuchen die radikalen Verneiner unserer freiheitlichen-rechtsstaatlichen Ordnung im zunehmenden Maße, ihre linksextremistischen Gedankengänge auch über das Schulbuch an junge Menschen heranzubringen. Selbstverständlich schrecken diese Propheten einer ›sozialistischen Republik‹ nicht davor zurück, ihr Ziel unter Einsatz raffinierter Tricks zu verfolgen. Die durchgängige Lernziel-Orientierung der Curricularen Lehrpläne mit ihrem letztlich behavioristischen Theorie-Hintergrund erleichtert vermutlich eine relativ rasche und weitreichende Einträufelung neomarxistischen Gedankenguts in den Unterricht an unseren Schulen. Da der Primat der Ziele fächerübergreifend dogmatisiert ist, gelingt der Pädagogik der ›Neuen Linken‹ der geistig-propagandistische Einstieg am leichtesten in den weltanschaulich ›anfälligen‹ Fächern.«400

Anscheinend unter dem Eindruck der Arbeiter- und Studentenproteste von 1968/69 befürchtete der Kalte Krieger Franz Josef Strauß hinter der Curricularisierung der Lehrpläne offenbar eine Verschwörung kommunistischer Kräfte in der Bundesrepublik, was angesichts der konservativen Hegemonie der Schulbuchkontrolle irritierte. Dieser Verschwörung wollte er mit einer stärkeren Kontrolle der Schulbücher gesinnungsbildender Fächer begegnen. Auf Basis der von ihm initiierten Denkschrift schlug Strauß unter anderem vor, die Zahl der Sachverständigen pro Zulassungsverfahren von zwei auf fünf zu erhöhen und die Dauer der Zulassung auch bei Materialien für Lehrkräfte zu beschränken. Strauß schrieb zwar von den Gefahren einseitiger Darstellungen, »gleichgültig von welcher Seite«, sah aber die freiheitlich-demokratische Grundordnung nur von Links gefährdet. Als Ministerpräsident erbat er sich vom damaligen Kultusminister, Hans Meier, eine Stellungnahme zum Stand der Schulbuchpolitik, die einer »verfassungsfeindlichen Indoktrination«401 der Schülerinnen und Schüler durch das Einsickern linken Denkens in die Lehrwerke zuvorkam. Hans Meier wahrte die Eigenständigkeit seines Ministeriums vor dem Eingriff der Staatskanzlei, indem er in seiner Antwort die Vorschläge und den von Strauß aufgemachten Zusammenhang von Neomarxismus und Lernzielorientierung sowie von Behaviorismus und Curricularisierung zurückwies. Anscheinend brüskierte ihn der Vorwurf der nachlässigen Schulbuchkontrolle in Bayern, denn von der Kritik an Einzelfällen könne keinesfalls pauschal auf die »politische und weltanschauliche Tendenz in Bayern zugelassener Lernmittel« geschlossen werden. Stattdessen könne das Bayerische Kultusministerium »unter den Kultusverwaltungen aller elf Länder für sich in Anspruch nehmen, einseitig indoktri400 BayHStA St 17596 Brief des Ministerpräsidenten an den Kultusminister vom 26. April 1979, S. 1–2. 401 BayHStA St 17596 Brief des Ministerpräsidenten an den Kultusminister vom 26. April 1979, S. 17.

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nierende Lernmittel von jeher am kompromisslosesten abgelehnt zu haben.« Der Kultusminister zeigte sich also politisch auf einer Linie mit dem Ministerpräsidenten, weshalb er zum Abschluss seines Briefs die Hoffnung ausdrückte, dass Strauß »nach Lektüre dieses Schreibens zu einer anderen Beurteilung des in Bayern praktizierten Zulassungsverfahrens für Lernmittel und seiner materiellen und rechtlichen Voraussetzungen« gelange.402 Indem auf die antikommunistische Ausrichtung der Zulassungsverfahren verwiesen wurde, konnten die (geschichts-)politischen Bedenken hinsichtlich der Darstellung von Sozialismus und Kommunismus in bayerischen Lehrwerken ausgeräumt werden. In der Konsequenz wehrte das Kultusministerium die hoheitlichen Eingriffe in den Prozess der Zulassungsverfahren ab und sicherte die Eigenständigkeit der Instanz. Föderale Absprachen? Die Auseinandersetzung mit den Interessenverbänden zu Form und Bestand der Zulassungsverfahren verhandelten das Bayerische Kultusministerium auch über den Schulausschuss der Kultusministerkonferenz, da die Zulassung von Schulbüchern gemäß der Kulturhoheit der Länder auch Gegenstand föderaler Absprachen war. Die Kultusministerkonferenz fungierte mit ihren bereits vor der Gründung der Bundesrepublik bestehenden Ausschüssen als föderalistische Interessen wahrende Institution, indem sie sich gegen zentralistische Institutionen, wie dem Schulreferat des Bundesinnenministeriums oder dem kulturpolitischen Ausschuss des Bundestags durchsetzte. Gleichwohl waren die Absprachen der KMK notwendig, um dem Auseinanderdriften der Bildungsinstitutionen auf Länderebene entgegenzuwirken, weshalb die Länder in den Ausschüssen sich gegenseitig über die bildungspolitischen Entwicklungen informierten und absprachen, wobei Entscheidungsfindungen schwerfällig waren und Beschlüsse erst infolge ihrer Umsetzung auf Länderebene Verbindlichkeit erlangten.403 Das Interesse an Selbstständigkeit in kulturpolitischen Fragen verdeutlichte das Bayerische Kultusministerium in einem Schreiben von 1957 an den (West-) Berliner Senator für Volksbildung. Auf dessen an alle Kultusministerien der Länder gerichtete Frage, wie die Zulassungsverfahren geregelt seien und ob Bedenken hinsichtlich einer Reform der Verfahren in Berlin bestehen, äußerte das Bayerische Kultusministerium keine Bedenken, stellte aber auch heraus, dass es aus den Berliner Reformen »keine Folgerungen für seine eigene, seit Jahren 402 BayHStA St 17596 Brief des Kultusministers an den Ministerpräsidenten vom 26. Juli 1979. 403 Zu den bayerischen Interessen an der Kultusministerkonferenz siehe Baumgärtner (2007), S. 344–348. Zur Gründung der KMK siehe Müller (1994).

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bewährte Praxis in dieser Frage zu ziehen gedenkt.«404 Diesem Modus des Wissensaustauschs und der Absprache zwischen den kulturpolitischen Institutionen der Länder, ohne daraus Konsequenzen für die eigene Praxis abzuleiten, beschreibt die bayerische Bildungspolitik auf Ebene der Zulassungsverfahren gegenüber der KMK. Inhaltlich betrafen diese Absprachen zum einen formale Bedingungen der Zulassungsverfahren oder der Austausch über Dritte, etwa dem Verband der Schulbuchverlage. Daneben tauschten die Kultusministerien gegebenenfalls Informationen zum Umgang mit konkreten Schulbüchern aus. Dabei übernahm das Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister die Funktion eines Verteilers, indem es Anfragen und Antworten an das Sekretariat zu den einzelnen Ministerien weiterleitete und auch selbsttätig Informationen verschickte. So übermittelte das Sekretariat den Mitgliedern der KMK auf Bitten der Wissenschaftler Veröffentlichungshinweise405 sowie Tagungsberichte406 des späteren Georg Eckert Instituts für Internationale Schulbuchforschung (GEI).407 Dies betraf auch beispielsweise die Abschrift eines Zeitungsartikels der israelischen Tageszeitung Maariv vom 30. März 1964, die eine Studie von Saul B. Robinsohn und Chaim Schatzker aus der Schriftenreihe des internationalen Schulbuchinstituts besprach.408 Der Studie zufolge wurde die jüdische Geschichte vor 1933 in den untersuchten Volksbüchern fast nie behandelt und der Hass Hitlers gegen die Juden nur nebenbei bemerkt.409 Der Austausch zu den formalen Bedingungen der Prüfverfahren betraf etwa die Frage nach der Kompensation der Verwaltungskosten.410 In diesem Austausch schilderten die Kultusministerien der Länder auch ihr gesamtes Zulassungsverfahren,411 was bis 1969 darin 404 BayHStA MK 63655 Brief bay. Kultusministerium an Berliner Senator für Volksbildung, 15. November 1957. 405 BayHStA MK 63822 KMK an bay. Kultusministerium, 12. Dezember 1956 sowie 14. Dezember 1957. 406 BayHStA MK 63822 KMK an bay. Kultusministerium, 12. November 1955. 407 Das 1951 zunächst als Internationales Schulbuchinstitut gegründete Zentrum war mit der Ausrichtung auf eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Geschichtsdidaktik und einem dezidiert transnationalen Ansatz ein progressiver Akteur im Feld des Schulbuchs. Zum Institut siehe Riemenschneider (2008). Zur Person Georg Eckert siehe Barricelli (2008). Auf das bayerische Zulassungsverfahren hatte es allerdings keinen Einfluss. Die Empfehlungen der 1970 vom Institut ins Leben gerufenen deutsch-polnischen Schulbuchkommission erkannte das Bayerische Kultusministerium nicht an. Siehe dazu auch BayHStA MK 63824. 408 Robinsohn und Schatzker (1963). Es war die erste Schulbuchanalyse zur jüdischen Geschichte in der Bundesrepublik und entstand als Reaktion auf die sprunghaft angestiegenen antisemitischen Vorfälle im Winter 1959/60, vgl. Schatzker (1994), S. 37–38. 409 BayHStA MK 63823 KMK an bay. Kultusministerium, 21. April 1964. 410 Diese Frage wurde z. B. vom Saarländischen Minister gestellt, der erwog, eine Verwaltungsgebühr für die Verlage einzuführen. BayHStA MK63655 Brief saar. Kultusministerium an KMK, 29. März 1965. 411 Z. B. das Hessische Kultusministerium BayHStA MK 63655 hess. Kultusministerium an KMK, 23. Mai 1966.

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mündete, dass eine Synopse der Zulassungsverfahren der Länder erstellt wurde.412 Neben dieser Verbreitung wissenschaftlichen Wissens wurden auf Ebene der Ausschüsse Strategien zum Umgang mit Forderungen und Vorschlägen von Verbänden und Gewerkschaften besprochen. Schulbuchverlage wiederum nutzten anscheinend die disseminierende Wirkung des Sekretariats der Kultusministerkonferenz, insofern sie Vorschläge hinsichtlich der Überprüfung von Schulgeschichtsbüchern direkt an diese Institution richteten.413 Der VdS übte zudem bereits 1954 Kritik an der föderalen Struktur der Schulbuchzulassungen, da die elf Prüfverfahren für die Verlage zeit- und kostenintensiv seien und zudem häufig gegensätzliche Gutachten hervorbrachten, was die pädagogische Qualität der Bücher beeinträchtige, insofern die Initiative der Verlage zur pädagogischen Weiterentwicklung gehemmt sei. In vielen Fällen seien die Zulassungsverfahren zudem Zensur, wenn sie die Lehr- und Meinungsfreiheit beeinträchtigten, und widersprachen den Regeln des freien Wettbewerbs.414 Die Sorge wegen der eventuell diametralen Gutachten äußerte auch der Klett Verlag, als er sich 1960 direkt an die KMK richtete, nachdem aufgrund des immensen antisemitisch motivierten Vandalismus zwischen Dezember 1959 und Februar 1960 die Schulbücher einer Revision unterzogen werden sollten. Um »eine gewisse Ruhe in die Lehrbücher zu bringen«415 schlug der Klett Verlag 1960 vor, das GeorgEckert-Institut als zentrale Einrichtung mit der Überprüfung von Schulgeschichtsbüchern zu beauftragen, womit der Aufwand, der sich infolge von bis zu elf Kontrollverfahren pro Schulbuch für die Verlage ergab, abgewehrt worden wäre. In einigen Fällen unterrichteten sich die Kultusministerien gegenseitig darüber, wie sie mit aus ihrer Sicht besonders kontroversen Lernmitteln umgegangen sind. Dies war zum Beispiel bei der von Arno und Anneliese Peters 1952 verfassten ›Synchronoptischen Weltgeschichte‹416 der Fall. Ein interner Bericht des Bayerischen Kultusministeriums sammelte den Umgang anderer Kultusministerien mit diesem Buch, wonach es von verschiedenen Bundesländern sowie von der US-Militärregierung zunächst gefördert wurde. Doch kurz vor der Veröffentlichung des Bandes ergab »eine eingehende Prüfung […] eine klare materialistische, religionsfeindliche und prokommunistische Tendenz«, weshalb dessen »Verbreitung in den bayerischen Schulen […] schon aus staatspolitischen Gründen zu schwersten Bedenken Anlaß geben« müsste.417 Das Kultusministe412 413 414 415 416 417

Vgl. BayHStA MK 63655 KMK an bay. Kultusministerium, 15. September 1969. Vgl. BayHStA MK 63655 VdS an KMK, 8. Juni 1968. Vgl. BayHStA StK 17595 Brief VdS an bay. Kultusministerium, 3. Februar 1954. BayHStA MK 63844 Klett Verlag an KMK, 16. September 1960. Peters und Peters (1952). BayHStA MK 63820 internes Schreiben, 27. November 1951.

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rium Baden-Württembergs wiederum schickte 1956 eine Abschrift des negativen Bescheids zu dem von Holland und Josenhans verlegten Buch ›Kleine Weltgeschichte‹ von Wilhelm Eilers418 an das Bayerische Kultusministerium. Der Band wurde wegen der angeblich undemokratischen Gesinnung abgelehnt.419 Zusammenfassung Innerhalb des Untersuchungszeitraums etablierte und verfestigte sich die Praxis der gutachterbasierten Zulassungsverfahren, doch sie erhielten erst 1976 mit der oben genannten Verordnung eine inhaltliche Ausgestaltung und eine transparente Fassung. Im Vergleich zu den Anmerkungen in den an die Gutachterinnen und Gutachter versandten Ersuchen wurde in der Verordnung von 1976 der Erwartungshorizont gesenkt, da zur Zulassungsvoraussetzung nicht mehr eine einwandfreie fachliche und methodische Gestaltung des Stoffes erzielt werden musste. Stattdessen genügte eine nach pädagogischen Kenntnissen und fachlichen wie didaktischen Grundsätzen angemessene Gestaltung des Schulbuches. Auch eine Bereicherung der bisher zugelassenen Schulbücher musste nicht mehr erreicht werden.420 Neben dieser Liberalisierung unterlagen die Zulassungsverfahren von 1949 bis Mitte der 1970er Jahre einem Prozess der Standardisierung und Verrechtlichung. Diese Instanz wurde zunächst informell reglementiert, die daraus entstandene institutionelle Praxis verstetigt und die Prüfkriterien veröffentlicht, was schließlich in eine Verordnung überführt und angepasst wurde, die die äußere Form der Zulassungsverfahren codierte. Dabei stützten sich die die Referentinnen und Referenten auf eine für die Volksschulen bereits seit 1928 bestehende Bekanntmachung zur Zulassung von Schulbüchern, die spätestens seit 1950 auch für andere Schularten stilgebend war. Auch Versuche von Seiten der Regierung, eine schärfere Kontrolle der Schulbücher durchzusetzen, um vermeintlich kommunistische Bildungsabsichten zu verhindern, konnten abgewehrt werden, was die Stabilität der Zulassungsverfahren untermauert. 418 Eilers (1955). 419 BayHStA MK 63823 Brief ba.-wü. Kultusministerium an bay. Kultusministerium, 27. Februar 1956. Der im Bayerischen Kultusministerium zuständige Referent sah darin nur politische Ungenauigkeiten, die er mit den notwendigen Kürzungen entschuldigte. Aufgrund der fehlenden Bezüge zur bayerischen Geschichte versagte er dennoch eine lernmittelfreie Zulassung. Siehe BayHStA MK 63823 internes Gutachten, 24. Juni 1955. 420 Möglicherweise wurde dieser zurückgenommene Erwartungshorizont in fachlicher und pädagogischer Hinsicht ausgeglichen, da aufgrund der seit Mitte der 1970er Jahre eingeführten Curricularen Lehrpläne die Lehrplantreue als Zulassungsvoraussetzung mehr Spielraum in der Kontrolle von Inhalt und Gestaltung von Schulbüchern erlaubte. Dies wäre an den Prüfverfahren der 1970er und 1980er Jahre zu prüfen, die jedoch noch nicht im BayHStA erfasst sind.

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Gutachterinnen und Gutachter wurden durch die äußere Form der Zulassungsverfahren in den Expertenstatus versetzt, da sich die Beamten des Kultusministeriums bei ihren Entscheidungen auf ›Sachverständige‹ stützten. Die Verrechtlichung und Standardisierung des Prüfverfahrens ging mit einem Verlust der ›Machtvollkommenheit‹ der Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums einher, da sie zwar über die Zulassung von Schulbüchern entscheiden durften, das zur Entscheidungsfindung notwendige Wissen jedoch an Sachverständige auslagerten. Die Durchsetzung historischer Deutungen in Schulgeschichtsbüchern war durch die Regulierung des Verfahrens abhängig von den argumentativen und inhaltlichen Bezügen der Sachverständigen und den Schlussfolgerungen der zuständigen Beamten im Kultusministerium. Allerdings wurde die formale Selbstständigkeit der Referentinnen und Referenten bei der Beurteilung der eingereichten Manuskripte im gesamten Untersuchungszeitraum nur selten in Frage gestellt, da Vorgesetzte nur in Konfliktfällen in das laufende Zulassungsverfahren eingriffen und die Referentinnen und Referenten sich zwar auf die in den Gutachten aufgezeigte Expertise stützten, jedoch formal nicht an die Gutachten gebunden waren. Genügte den Referentinnen und Referenten die eingereichten Gutachten nicht, war es ihnen durchaus möglich, weitere Personen um ein Gutachten zu ersuchen. Gleichwohl räumte die Verrechtlichung und weitere Standardisierung der Zulassungsverfahren in den 1970er Jahren den Sachverständigen Expertenstatus ein, da gerade die Eigenständigkeit der Gutachterinnen und Gutachter gewahrt werden sollte. Während einige Ministerialbeamte zu Beginn des Untersuchungszeitraums den Machtverlust befürchteten, bildete sich auf Ebene der Aufgaben- und Machtverteilung zwischen Sachverständigen und Ministerialbeamten im Laufe des Verfahrens anscheinend eine strukturelle Autonomie der als Experten geschätzten Gutachterinnen und Gutachter heraus. Diese Standardisierung des Verfahrens lief zwar durchaus konflikthaft ab, doch das Ministerium konnte seine Hoheit über die Schulbuchkontrolle gegenüber den Interessenverbänden, dem Bund und der bayerischen Regierung wahren. Das Gutachterverfahren musste zunächst gegen das vor 1933 übliche Verfahren der Schulbuchkommissionen konkurrieren, doch es setzte sich bald durch, weshalb die Kommissionen lediglich sporadische Nachprüfungen übernahmen. Während das Ministerium sich mit anderen Kultusministerien meist über die formalen Bedingungen der Zulassungsverfahren austauschte, ohne daraus Konsequenzen für die eigenen Verfahren abzuleiten, war das Zulassungsverfahren vor allem von Seiten zivilgesellschaftlicher Verbände heftiger Kritik ausgesetzt. Hierbei dienten die Absprachen zwischen den Kultusministerien der Länder zur gegenseitigen Versicherung, an der Praxis der Zulassungsverfahren festzuhalten. In Bayern stand der Konflikt vor allem unter dem Zeichen einer kostengünstigen Verwaltung: Während der Staat mit der Regu-

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lierung des Marktes weniger Kosten für Schulen und Eltern erwartete, sahen die Verlage ihre Profite davonschwimmen. Die Qualität der Lehrwerke war dagegen sekundär, was sich beispielsweise in der Übereinkunft von Verlagen und der Regierung bei der von der CSU 1968 einberufenen Schulbuchkommission zeigte, die Bebilderung in Lehrwerken zu minimieren. Fragen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der Qualität der Lernmittel und den Kontrollmechanismen diskutierten dagegen vor allem die Lehrerverbände GEW und BLLV, die beide einen Qualitätszuwachs in der Liberalisierung der Kontrolle bzw. durch eigenmächtige Kontrolle von Lehrwerken durch Lehrkräfte annahmen. Nachdem auch die ökonomischen Sorgen der Schulbuchverlage in den 1970er Jahren abebbten und die Konflikte um die Zulassung kontroverser Schulbücher zurückgingen, gab der Verband der Schulbuchverlage seine Haltung auf und zielte auf eine Reform der Zulassungsverfahren. Kritikpunkt blieb jedoch die Auswahl der Sachverständigen, die schließlich in Bayern darin mündete, dass Ministerium und Verlage gemeinsam Kriterien sammelten, die für Sachverständige eine Hilfestellung bieten sollten, um qualitativ hochwertige Gutachten zu verfassen. Das Verhältnis von Sachverständigen und Beamten des Kultusministeriums soll im folgenden Abschnitt näher beleuchtet werden. Dabei steht die Frage nach der Verteilung von (geschichtskultureller) Hegemonie – operationalisiert als inhaltliche und positionale Macht – im Vordergrund.

2.3. Innere Struktur der Zulassungsverfahren: Die Akteure In Zulassungsverfahren beauftragte das Kultusministerium externe Sachverständige zur Begutachtung der eingereichten Manuskripte. Das formale Zusammenspiel von Kultusministerium, Sachverständigen und Verlagen soll im Folgenden untersucht werden. Geprüft werden nicht die konkreten inhaltlichen Auseinandersetzungen zur Gestaltung einzelner Schulgeschichtsbücher, sondern die positionale Macht, die in den Kompetenzen und dem Verhältnis der einzelnen Akteure zueinander liegt: Welche Sachverständigen wurden von den Beamten des Kultusministeriums auf welche Weise ausgewählt? Inwiefern wurden bestimmte geschichtskulturelle Interessen bei den Prüfverfahren berücksichtigt? Neben der Auswertung von Dokumenten, die im Zuge der Zulassungsverfahren entstanden – wie Briefentwürfe und Anschreiben des Kultusministeriums sowie interne Korrespondenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums – werden dazu die Personalakten zentraler Sachverständiger ausgewertet.

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2.3.1. Auswahl der Sachverständigen Dass im Kultusministerium externe Sachverständige zur Begutachtung eingereichter Lehrwerke ersucht wurden, musste zwar gegen die Haltung einiger Referentinnen und Referenten zu Beginn der 1950er Jahre durchgesetzt werden. Dennoch wurde die Auslagerung der inhaltlichen Prüfung Usus, da die Argumentationen der Gutachterinnen und Gutachter nur in wenigen Ausnahmen durch zusätzliche schriftliche Gutachten bzw. Einlassungen der Referentinnen und Referenten ergänzt wurden.421 Eine Ausnahme stellte lediglich das Referat für Ostkunde dar, dessen Referent seit 1959 Volksschulbücher begutachtete.422 Fasst man die ministeriellen Gutachterinnen und Gutachter, die Sachverständigen des Instituts für Zeitgeschichte sowie die Vertreter der beiden christlichen Kirchen zu je einer Gruppe zusammen, waren im Untersuchungszeitraum insgesamt neunzig verschiedene Sachverständige beteiligt, von denen fast alle außer die eben genannten als Lehrkräfte tätig waren. In der Regel wählten die Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums die Sachverständigen nach Eingang der zu prüfenden Manuskripte fallbezogen aus. Der jeweilige Auswahlprozess wurde handschriftlich im Anschreiben des Verlags festgehalten und durch eine zweite Referentin bzw. einen zweiten Referenten bestätigt oder korrigiert. Angesichts des lückenhaften Quellenmaterials können keine eindeutigen Gründe für die Auswahl konkreter Sachverständiger nachgewiesen werden. Eventuelle Konflikte zur Auswahl der Sachverständigen dokumentierten die Beamten nicht, sondern lösten sie wahrscheinlich mündlich. Die wenigen handschriftlichen Notizen der Ministerialbeamten deuteten häufig Einigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinsichtlich der ausgewählten Sachverständigen an, doch in einigen Fällen wurden die von einer Mitarbeiterin bzw. einem Mitarbeiter vorgeschlagenen Personen unkommentiert ausgetauscht. So beauftragte das Ministerium im März 1972 zunächst zwei Studienräte zur Prüfung des Realschulbuches ›Neueste Zeit (1890– 421 1960 verfasste die zuständige Ministerialreferentin ein Gutachten zur Neuauflage von Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963. BayHStA MK 64526 Internes Gutachten vom 12. Dezember 1960. Dem Gutachten ging ein Radiobericht des Bayerischen Rundfunks voraus, in dem die Darstellung des Nationalsozialismus in diesem Schulgeschichtsbuch moniert wurde. Der Verlag versprach Verbesserungen in der Neubearbeitung, für deren Prüfung besagte Referentin ihren Urlaub unterbrach. Zwei Jahre später verfasste auch ein im Ministerium tätiger Schulrat ein Gutachten zu diesem Lehrwerk. BayHStA MK 64526 Internes Gutachten vom 27. Juli 1962. Für das Lehrwerk ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ verfasste vermutlich der zuständige Ministerialreferent ein anonymes Gutachten zur »Akzentuierung des Themas Nationalsozialismus« im Schulbuch. BayHStA MK 63835 Gutachten vom 12. Juni 1961. 422 In den Quellen taucht zum ersten Mal im Juni ein Gutachten des Referenten auf. BayHStA MK 64525 Gutachten vom 3. Juni 1959.

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1972)‹ aus dem Oldenbourg Verlag.423 Allerdings wurde einer der beiden Gutachter zehn Tage später per Telefon um die Rücksendung des Manuskripts gebeten.424 Das Manuskript wurde an das Institut für Zeitgeschichte weitergeleitet, das stattdessen den Text prüfte.425 Auch im Zulassungsverfahren zum Schulgeschichtsbuch ›Unsere Geschichte – Unsere Welt‹ wurde einer der beiden im Entwurf des Anschreibens genannten Gutachter durchgestrichen und ersetzt.426 In manchen Zulassungsverfahren tauschte das Kultusministerium die Gutachter zwischen zwei Prüfgängen aus. Im Zulassungsverfahren des Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹ vom Verlag C.C. Buchners wechselte nach dem ersten Prüfgang der Gutachter.427 Möglicherweise war das Kultusministerium mit der Arbeit des Lehrers unzufrieden, da er das Gutachten erst sieben Monate nach seinem Gutachterkollegen einreichte.428 Das Gutachten besaß zudem mit fünf Schreibmaschinenseiten auch nur etwa die Hälfte des Umfangs vom Gutachten des Kollegen. Die im Gutachten formulierte Kritik am eingereichten Manuskript unterschied sich schließlich in der Tiefe und war eher abwägend, sprach sich aber ebenso gegen eine Zulassung aus. Allerdings wurde besagter Gutachter 1964 auch zum Schuldirektor ernannt.429 Um ihn angesichts der damit einhergehenden Pflichten zu entlasten, befreite ihn das Ministerium möglicherweise vom Gutachterauftrag. Auch im Zulassungsverfahren von ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ des BSV tauschte das Kultusministerium einen der Gutachter nach dem ersten Prüfgang aus. Das zuerst eingereichte Manuskript wurde wegen erheblicher Mängel – die Gutachter monierten, dass weite Teile des Darstellungstexts Plagiate waren – nicht zugelassen.430 Während der Erstgutachter an verschiedenen Aspekten einen nationalistischen Duktus des Manuskripts kritisierte, lobte der Zweitgutachter, dass der Autor »die vaterländischen Werte nicht gering«431 schätzte. Der Verlag beauftragte einen neuen Autor zur Abfassung eines neuen Manuskripts. Für dessen Prüfung wurde zwar der Erstgutachter wieder herangezogen, doch der zweite Gutachter nicht. Stattdessen bat das Kultusministerium das Institut für Zeitgeschichte um die Prüfung des Manuskripts, dem ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter nachkam.432 423 BayHStA MK 64268 Handschriftliche Notizen, Anschreiben des Verlags vom 17. März 1972. 424 BayHStA MK 64268 Brief des Sachverständigen an das Kultusministerium vom 28. März 1972. 425 BayHStA MK 64268 Briefentwurf des Kultusministeriums vom 12. April 1972. 426 BayHStA MK 63835 Briefentwurf des Kultusministeriums vom 14. Juli 1959. 427 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 1. April 1964. 428 Vgl. BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963. 429 Vgl. BayHStA MK 59713 Personalbogen vom 16. Mai 1961. 430 Vgl. BayHStA MK 64264 Gutachten vom 4. April 1960. Gutachten vom 9. April 1960. 431 BayHStA MK 64264 Gutachten vom 9. April 1960. 432 Vgl. BayHStA MK 64264 Briefentwurf des Kultusministeriums vom 28. Februar 1961.

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Einen Gutachter wechselte das Kultusministerium auch im Zulassungsverfahren zu ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ des BSV. Im ersten Prüfgang waren ein Mittelschullehrer sowie das Institut für Zeitgeschichte, vertreten durch eine wissenschaftliche Mitarbeiterin beteiligt. Während der Verlag die Kritik des Instituts in einer Stellungnahme dankend annahm, wies er die Einlassungen des Lehrers zurück, wonach »Autoren und Verlag in weiten Partien eine gegensätzliche Auffassung haben«.433 Im zweiten Prüfgang beauftrage das Ministerium einen Lehrer, der zu dieser Zeit für die Ausbildung von Lehrern an Mittelschulen tätig war.434 Konkrete Gründe für diese Differenzen im Auswahlprozess sind mit einer Ausnahme nicht überliefert: Im Zulassungsverfahren zu List, ›Zeitgeschichte und wir‹, das bereits in anderer Fassung ein paar Jahre vorher erfolglos eingereicht wurde, schlug die zuständige Ministerialreferentin einen neuen Sachverständigen vor. Das Lehrwerk wurde von Alois Seiler, Professor für Geschichte und Gemeinschaftskunde am Pädagogischen Institut Weilburg/Lahn verfasst. Außerhalb Bayerns fand das zunächst als ›Unbewältigte Vergangenheit‹ titulierte Lehrwerk reißenden Absatz, sodass es noch im Jahr der Veröffentlichung fünfmal neu aufgelegt wurde. In der sechsten Auflage erschien es dann mit dem hier genannten Titel. Der Verlag strebte für dieses innovative Lehrwerk vergeblich die lernmittelfreie Zulassung in Bayern an. Es wartete mit einem breiten Quellenapparat nach jedem Kapitel auf, durchbrach damit die dominante Lehrbuchform des Leitfadens und bot Gelegenheit zum modernem Arbeitsunterricht, was die Gutachter auch anerkannten. Weil es nicht mit dem Lehrplan an bayerischen Schulen konform sei, wies das Ministerium das Gesuch zurück.435 Da der bisherige Gutachter im ersten Verfahren »die Zulassung als lernmittelfreies Buch befürwortet hatte«, schlug die Ministerialbeamte im zweiten Verfahren unwidersprochen einen neuen Gutachter vor, denn ihr Urteil stand schon fest: Im internen Bericht notierte die Referentin, dass es als lernmittelfreies Schulgeschichtsbuch nicht geeignet sei, da es nur einen Teil des Gesamtjahresstoff enthalte.436 In der Auswahl der Sachverständigen benötigte sie einen Gutachter, der ihre Position bestätigte. Eine strukturelle Ausnahme bei der Auswahl von Sachverständigen etablierte das Ministerium in den 1960er Jahren für Volksschulbücher. Das Ministerium legte 1961 einen Pool von Sachverständigen an, indem die Bezirksregierungen des Landes damit beauftragt wurden, geeignete Lehrkräfte zu nennen, die bei Prüfverfahren die Begutachtung von Lehr- und Lernmitteln übernehmen sollten. 433 BayHStA MK 64264 Brief und Stellungnahme des Verlags vom 24. Oktober 1960. 434 Vgl. BayHStA MK 64264 Gutachten vom 15. Dezember 1960. 435 Vgl. BayHStA MK 64519 Gutachten vom 8. Februar 1961 und BayHStA MK 64520 Gutachten vom 30. Juli 1962. 436 BayHStA MK 64529 Interner Bericht vom 9. Mai 1962.

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Der Pool wurde sechs Jahre später erneuert. Im Anschreiben an die Bezirksregierungen wies das Kultusministerium auf die möglichen Richtlinien für die Auswahl von Sachverständigen hin. Darin wurden zwei relevante Kriterien zur Auswahl geeigneter Gutachterinnen und Gutachter genannt; die Lehrkräfte sollten nämlich »aufgrund ihrer theoretischen Studien bzw. ihrer schulpraktischen Erfahrungen als Sachverständige« bestimmt werden.437 Auch die Zahl der Sachverständigen variierte in den Zulassungsverfahren. Zwar beauftrage das Ministerium üblicherweise zwei Sachverständige pro Prüfgang, doch bei Volksschulbüchern verfasste in einigen Fällen auch das OstkundeReferat438 und in der Regel beide Kirchen je ein Gutachten. Im Prüfverfahren zu Kletts Mittelstufenband für Höhere Schulen, ›Grundriss der Geschichte‹, zog der zuständige Referent ohne Angabe von Gründen drei Lehrkräfte zur Prüfung heran.439 Ebenso wurden auch in Diesterwegs ›Grundzüge der Geschichte‹440 und in ›Deutschlands jüngste Vergangenheit‹ des Kösel Verlags drei Gutachten von Lehrkräften eingeholt.441 Im Verfahren zu ›Reise in die Vergangenheit‹ genügten dem Kultusministerium anscheinend die Gutachten der beiden Sachverständigen nicht,442 da die Behörde nach deren Einreichen den 1972 zum Professor für Geschichtsdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt berufenen Kurt Fina um ein zusätzliches Gutachten bat.443 In manchen Fällen, vor allem in den frühen 1950er Jahren, wurde kein externer Gutachter zur Prüfung des eingereichten Lehrwerks ersucht. So hielt ein im Ministerium tätiger Schulrat 1953 beispielsweise fest, dass von einer Begutachtung des Buches ›Deutsche Geschichte‹ des Westermann Verlags abgesehen werde, da bereits zwei Bände für die Volksschulen zugelassen seien, die anders als das vorliegende der »heimatverbundenen bayerischen Volksschule« Rechnung tragen.444 Obwohl der Mitarbeiter des Ministeriums so formal kein Zulassungsverfahren einleitete, gründete diese Entscheidung auf einer wenigstens oberflächlichen Begutachtung des eingereichten Lehrwerks. Zwar waren also zwei Sachverständige mit je einem Gutachten pro Prüfgang die Regel im Zulassungsverfahren, doch die gesamte 437 BayHStA MK 62120 Brief des Kultusministeriums vom 14. November 1961. Der Sammeleinlauf wurde nach Anweisung vom 16. November 1967 erneuert. 438 Siehe BayHStA MK 64525 Gutachten vom 3. Juni 1959. BSV 455 Gutachten vom 20. Januar 1966. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 7. Juni 1967. BayHStA MK 64521 Gutachten vom 9. April 1970. 439 Vgl. BayHStA MK 63844 Brief des Kultusministeriums vom 23. Dezember 1958. 440 Vgl. BayHStA MK 63830 Gutachten vom 1. Dezember 1968, vom 14. Dezember 1968 und vom 30. Dezember 1968. 441 Vgl. BayHStA MK 63845 Gutachten vom 17. Mai 1962, vom 14. Juni 1962 und vom 4. August 1962. 442 Vgl. BayHStA MK 64521 Briefentwurf vom 19. September 1973. 443 Vgl. BayHStA MK 64521 Briefentwurf vom 4. Januar 1974. 444 BayHStA MK 64518 Internes Gutachten vom 12. September 1953.

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Anzahl der Gutachterinnen und Gutachter schwankte zwischen einer und sechs Personen. Durchschnittlich waren ca. 2,4 Gutachterinnen und Gutachter in je einem Zulassungsverfahren beteiligt. Von allen Sachverständigen waren nur fünf Personen weiblich. 72 Prozent, also 65 der neunzig Gutachterinnen und Gutachter prüften nur ein Lehrwerk. Immerhin dreizehn Akteure (15 Prozent) waren an zwei Zulassungsverfahren beteiligt. Drei Lehrkräfte waren an drei und zwei an vier Zulassungsverfahren beteiligt. Ein Gutachter war in fünf und ein weiterer sogar in acht Zulassungsverfahren involviert. Ein Sachverständiger erhielt neben regulären Zulassungsverfahren 1956 auch den Auftrag, alle zugelassenen Volksschulgeschichtsbücher, welche die ›jüngste Vergangenheit‹ thematisierten, einer Revision zu unterziehen.445 Das Kultusministerium (darunter auch das Ostkunde-Referat) sowie die beiden Kirchen verfassten in neun der gesammelten Zulassungsverfahren Gutachten. Die beiden Kirchen prüften lediglich Volksschulbücher. Am häufigsten an Zulassungsverfahren beteiligt war das Münchner Institut für Zeitgeschichte. Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie eine Wissenschaftliche Mitarbeiterin verfassten Gutachten im Rahmen von acht Verfahren für Lehrwerke der Höheren Schulen und drei Verfahren zu Lehrwerken der Volksschulen. Offensichtlich ist zudem, dass das Ministerium vor allem Münchner Gutachterinnen und Gutachtern bestellte. Insgesamt 78 Mal waren Sachverständige aus München an den Zulassungsverfahren von Lehrwerken beteiligt. Immerhin 15 weitere Male wurde ein Sachverständiger aus dem restlichen Oberbayern zur Begutachtung gebeten. Fünf Mal wurden Sachverständige aus Niederbayern, elf Mal aus der Oberpfalz, zwölf Mal aus Schwaben und Oberfranken, elf Mal aus Unterfranken und zwanzig Mal aus Mittelfranken an den Zulassungsverfahren beteiligt (Total 152, bei 65 Zulassungsverfahren = 2,38 Sachverständige pro Verfahren; da einige Personen mehrmals zu Zulassungsverfahren herangezogen wurde, ist die Gesamtzahl der Sachverständigen um 30 Prozent niedriger). Das Münchner Übergewicht begründete sich auch damit, dass sowohl die Sachverständigen des Kultusministeriums, des Instituts für Zeitgeschichte also auch die beiden Kirchen in der Hauptstadt arbeiteten. Doch selbst wenn diese insgesamt 36 Beteiligungen abgezogen werden, bleibt München der räumliche Schwerpunkt der Kontrolle. Möglicherweise erlaubte diese Nähe eine fließende Kommunikation zwischen Ministerium und externen Gutachtern oder eine persönliche Bekanntschaft zwischen den Ministerialbeamten und den Sachverständigen. Legt man die bisherigen Ergebnisse an, war der durchschnittliche Sachverstän445 Dazu wurde der Lehrer sogar vom Dienst befreit. BayHStA MK 64519 Brief des Kultusministeriums vom 16. Mai 1956. In den Berichten stufte er die zugelassenen Reihen nach deren Qualität und den Monita ein, ging jedoch nicht direkt auf die Darstellung des Nationalsozialismus ein. BayHStA MK 64519 Gutachten vom 11. September 1956.

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dige ein theoretisch geschulter bzw. praktisch erfahrener, männlicher Fachlehrer, der in räumlicher Nähe zum Kultusministerium arbeitete. Eine Analyse einiger zentraler Gutachter gibt zudem Hinweise auf die vom Kultusministerium erhobenen Kriterien bei der Auswahl der Experten. Akteure der Zulassungsverfahren Um die Kriterien bei der Auswahl von Sachverständigen herauszuarbeiten und den Zusammenhang von kollektivbiografischen Erfahrungen und historischen Deutungen zu erhellen, werden die überlieferten Personalakten zentraler Gutachter geprüft.446 Zentrale Gutachter waren an mindestens drei der gesammelten Zulassungsverfahren beteiligt. Da nicht alle Personalakten auffindbar waren, wurden der Korpus ergänzt. Zudem wurden die Personalakten von Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums gesammelt, wenn diese an Zulassungsverfahren maßgeblich beteiligt waren. Ein Gutachter war in 8 Verfahren beteiligt,447 ein Gutachter in fünf Verfahren,448 einer in 4 Verfahren,449 drei Gutachter waren in je drei Verfahren,450 einer in zwei Verfahren451 und ein Gutachter in einem Verfahren involviert.452 Auf Seiten des Kultusministeriums wurden die biographischen Quellen von drei Ministerialreferentinnen und Referenten ausgewertet.453 Abgesehen von einem Lehrer, der während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs im südamerikanischen Ausland lebte und arbeitete, waren die dokumentierten Lehrkräfte im Kriegseinsatz oder erlebten unmittelbar die Auswirkungen des Krieges auf die Heimat. Die untersuchten Gutachter entstammten mit einer Ausnahme dem Kreis der ›Täter und Zuschauer‹454 im ›Dritten Reich‹. Ein Gutachter hat sich in einer antinazistischen Widerstandsbewegung engagiert.455 Angemerkt sei hier, dass es sich um eine Stichprobe

446 Hinsichtlich der Kontrolle von Schulgeschichtsbüchern, die den Nationalsozialismus behandeln, sowie zur Kulturpolitik in Bayern nach 1945 wäre eine kollektivbiographische Analyse der Kontinuität des Kultusministeriums auf akteursbezogener, ideengeschichtlicher und praxeologischer Ebene vielversprechend, da das Verständnis der bayerischen Kultur- und Schulpolitik nach 1945 erforscht werden könnte. 447 BayHStA MK 45880. 448 BayHStA MK 76254. 449 BayHStA MK 48269. 450 BayHStA MK 56677. BayHStA MK 56760. BayHStA MK 59713. 451 BayHStA MK 75321. 452 BayHStA MK 59760. 453 BayHStA Reichsstatthalter 7629. BayHStA MK 54154. BayHStA MK 54118. 454 Hilberg (1992a). 455 BayHStA MK 48269.

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handelt. Vier der untersuchten Gutachter waren Mitglieder in der SA.456 Ebenfalls vier der Gutachter und zudem alle Ministerialbeamten waren auch Mitglied im NS-Lehrerbund. Der NS-Lehrerbund (NSLB) war eine für Erzieherinnen und Erzieher aller Schul- und Bildungseinrichtungen installierte NS-Organisation. Bis 1937 waren 97 Prozent (= 320 000) aller pädagogischen Fachkräfte im NSLB organisiert. Zwei Jahre später kletterte die Mitgliedszahl auf insgesamt 360 000, von denen knapp jeder dritte auch Mitglied der NSDAP war. Vier der untersuchten Lehrer waren NSDAP-Mitglieder (fünf, zählt man einen NSDAP-Anwärter dazu). Sie traten der Partei erst bei, nachdem der zwischen 1933 und 1937 geltende Aufnahmestopp aufgehoben wurde. Die vier SA-Mitglieder waren auch in der NSDAP. Der fünfte Lehrer trat im Alter von zwölf Jahren in die Hitlerjugend ein und erhielt dort 1937 den Unteroffiziersrang des Oberkameradschaftsführers, bevor er im September 1939 der NSDAP beitrat, die er im Februar 1941 wieder verließ.457 Drei Gutachter waren in der NSDAP und dem NS-Lehrerbund. Wer in beiden Organisationen Mitglied war, hatte laut Müller und Ortmeyer zudem häufig die Position eines NS-Funktionärs, etwa Ortsgruppenoder Stützpunktleiter, inne.458 Ob dies auch auf die Gutachter zutrifft, müsste im Einzelfall geprüft werden. Da die Lehrer Mitglieder verschiedener NS-Organisationen waren und zum Teil sogar höhere Dienstgrade innehatten, waren sie meist nominell und wenigstens formal in das ›Dritte Reich‹ integriert. Zwar erlaubt allein der Organisationsgrad keine Rückschlüsse auf die konkrete Funktion oder gar Motive der Akteure im Nationalsozialismus, dazu fehlen Angaben zur konkreten Tätigkeit. Allerdings legt die prosopografische Analyse die Bereitschaft einiger Lehrer zur Integration in NS-Staat und aktiven Teilhabe am Nationalsozialismus nahe. Kohorten Die acht Sachverständigen können zwei verschiedenen Kohorten zugeordnet werden: Sechs Lehrkräfte wurden zwischen 1900 und 1910 geboren, erlebten den Ersten Weltkrieg als Kinder oder Jugendliche und machten eigenständige politische Erfahrungen in der Weimarer Republik. Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren die vorgestellten Lehrkräfte erwachsene Männer. Da 456 BayHStA MK 56677 Meldebogen vom 25. Juli 1948. BayHStA MK 56760 Meldebogen vom 31. Juli 1947. BayHStA MK 59713 Sühnebescheid vom 19. Februar 1948. BayHStA MK 75321 Meldebogen vom 26. April 1950. 457 BayHStA MK 59760 Meldebogen vom 30. August 1948. Unter zehn Prozent (ca. 760 000) der insgesamt rund 10 000 000 NSDAP-Mitglieder traten wieder aus der Partei aus, davon die meisten bereits vor 1933. In absoluten Zahlen traten mehr Arbeiter als Nicht-Arbeiter wieder aus der NSDAP aus. Vgl. Falter (2016), S. 25–26. 458 Müller und Ortmeyer (2017), S. 24–25.

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der Erste Weltkrieg die Generation prägte, wird sie auch als Kriegsjugendgeneration bezeichnet. Laut Ulrich Herbert kompensierte die Generation die nicht erlebte Fronterfahrung durch die Internalisierung eines imaginierten Ideals des entschlossenen und kompromisslosen Frontkämpfers. Dieses Ideal propagierte einen Lebensstil, der die realen Abstiegs- und Zukunftsängste angesichts sozioökonomischer Verwerfungen in letzten Kriegsjahren und den Anfangsjahren der Weimarer Republik heroisierte und in einer feindlichen Haltung gegenüber den Anforderungen der Moderne mündete.459 Die Mehrzahl der direkten Täterinnen und Tätern des Nationalsozialismus gehören dieser Generation an.460 Der Historiker Norbert Frei ordnet diese Kohorte deshalb der Gruppe der sogenannten NS-Funktionseliten zu, die er von der etwas älteren Gruppe der eigentlichen Führungselite unterschied.461 Die bis etwa 1925 geborene, sog. Nachkriegsgeneration bzw. Generation der 45er – denen zwei der untersuchten Gutachter zuzuordnen sind –, erlebten die Weimarer Republik als Kinder bzw. Jugendliche und den Nationalsozialismus zunächst in der Hitlerjugend und anschließend als Frontsoldaten oder Flakhelfer. Folgt man Dirk Moses, verdichtet sich die zentrale Erfahrung dieser zweiten Generation im Zusammenbruch des Deutschen Reiches und der politischen Neuorientierung im Jahr 1945, weshalb sie auch als ›45er‹ bezeichnet werden.462 Anders als die Kriegsjugendgeneration waren sie jung genug, um sich nach 1945 politisch neu zu orientieren. Im scharfen Kontrast zur anfänglichen Begeisterung für den Nationalsozialismus in der Hitlerjugend bzw. dem Bund Deutscher Mädel in den Jahren der Kindheit und frühen Jugend stand der tiefe Sturz am Kriegsende, was sich auch in den generationellen Selbstbezeichnungen als ›missbrauchte Generation‹ (Wolfgang Klafki) oder ›skeptische Generation‹ (Helmut Schelsky) manifestierte. Nach einer Phase des rekonsolidierenden Rückzugs ins Private entwickelte sich die Generation der 45er mit der Stabilisierung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren schließlich zum eigentlichen Träger des antitotalitären Konsenses heran und bereitete um 1960 die Liberalisierung der bundesdeutschen Demokratie auch im Sinne pluraler politischer Ansätze vor,463 ohne dass eine große Mehrheit überzeugte Demokraten waren,464 denn der Einstellungswandel der Mehrheitsdeutschen in den Nachkriegsjahrzenten war ein langsamer Prozess, in dessen »Verlauf alte Gewohnheiten und

459 460 461 462 463 464

Zur Charakterisierung der Kriegsjugendgeneration siehe Herbert (2016), S. 53–56. Vgl. Paul und Mallmann (2011), S. 6. Vgl. Frei (2003a), S. 90. Vgl. Moses (2000). Moses weist in seiner Analyse auf die Pluralität der ›45er‹ hin, vgl. Moses (2000), S. 261. Vgl. Herbert (2003), S. 102–107.

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Wissensbestände und noch vorhandene alternative Ordnungsformen allmählich abgeschliffen wurden.«465 In ihrer umfassenden Analyse biographischer Rückblicke der ›45er‹ Generation stellt Sibylle Hübner-Funk die »Befreiung aus dem ideologischen Netz« des Nationalsozialismus als »eine der schwierigsten Lernaufgaben, die die unter Hitler herangewachsene Jugendjahrgänge […] hatten«, heraus. Die »Termini der demokratischen Kultur waren extrem negativ besetzt« und mussten dementsprechend erst neu erlernt werden.466 Die Herausforderung gründete zudem im langen Nachwirken der positiv besetzten Jugenderfahrung in den ersten Jahren des ›Dritten Reichs«, denn das historisch distanzierte Verständnis des Nationalsozialismus stand im Konflikt zum subjekt-biographischen Empfinden: »Bis heute [2005] finden sich bei vielen überlebenden der HJ- und BDM-Zeitzeugen noch immer Versatzstücke eines positiven Bildes ihres Jugendlebens.«467 So konnten sich viele Angehörige der Generation laut Birgit Schwelling nicht vom überkommenen Orientierungsmuster der Gemeinschaft lösen, das der Nationalsozialismus in der NS-›Volksgemeinschaft‹ einlöste, die Demokratie aber nicht erzeugen konnte und wollte.468 Während die Kriegsjugendgeneration für die restaurative Phase der Vergangenheitspolitik in den 1950er Jahren zuständig war, dominierte die Generation der 45er in der Phase der sukzessiven Aufarbeitung des Nationalsozialismus seit dem Ende der 1950er Jahre bis zum Ende der 1960er Jahre.469 Auf Ebene der Geschichtswissenschaft zeichnete sich die ältere der beiden Generationen, laut Christoph Cornelißen durch eine bewusst auferlegte Zurückhaltung nach 1945 im Hinblick auf den Nationalsozialismus aus. Gleichzeitig erweiterten die Historiker dieser Kohorte das inhaltliche und methodische Repertoire der Geschichtswissenschaft langsam hin zur Sozialgeschichte.470 Erst der linke Flügel der ›45er-Generation‹entwickelte auf Basis der Sozialgeschichte eine ›nationalkritische Oppositionshistorie‹, die mit einer fundamentalen Neueinschätzung der Geschichte des Nationalsozialismus einherging.471 In diesen Kontext lassen sich auch die Haltungen der beiden Gutachter einordnen, die der Kohorte der 45er angehören. Einer der Sachverständigen vermisste beispielsweise »ein Wort der Kritik über den biederen deutschen Durchschnittsbürger«, wodurch er sich deutlich von den meisten Gutachterinnen 465 466 467 468 469

Schwelling (2003), S.54. Zitate Hübner-Funk (2005), S. 318. Hübner-Funk (2005), S. 316. Vgl. Schwelling (2003). Frei (2003a), S. 90. Zur Erinnerung an den Holocaust bei Historikern der Nachkriegsgeneration siehe Berg (2007). 470 Cornelißen (2004), S. 144–148. 471 Cornelißen (2004), S. 148–149.

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und Gutachtern abhob.472 Der zweite angehörige der Nachkriegsgeneration befürwortete in seinem Gutachten das didaktisch und im Geschichtsbild revolutionäre Schulbuch ›Fragen an die Geschichte‹.473 Gleichwohl lassen sich die Kohorten hinsichtlich der geschichtspolitischen Haltung keinesfalls vereinheitlichen. So forderte der ehemalige Widerstandskämpfer unter den untersuchten Personen, der zur Kohorte der zwischen 1900 und 1910 geborenen Kriegsjugendgeneration gehörte, eine stärkere Gewichtung des Holocausts und anderer Verbrechen des Nationalsozialismus ein. Gleichzeitig betonte er die Gefahr geschichtsrevisionistischer Lehrkräfte. Dies hing wohl mit seiner bereits im Nationalsozialismus resistenten Haltung zusammen, die ihn schließlich auch zum aktiven Widerstand motivierte. In den Zulassungsverfahren verhandelten die Akteure zwar auch ihre Primärund Sekundärerfahrungen, die in Schulgeschichtsbüchern als institutionalisierte Erinnerungsräume aufgehoben wurden.474 Umgekehrt spiegelten diese Erinnerungsräume die spezifischen Erfahrungen der Akteure wider. So kritisierte ein Gutachter die Darstellung der Lehrer als Mitläufer im Nationalsozialismus, was auch als eine Abwehrhaltung, verstanden werden kann, da besagter Gutachter bereits im Nationalsozialismus unterrichtete und durchaus auch höhere Dienstgrade in NS-Organisationen hatte.475 Gleichwohl bleiben Aussagen in den Zulassungsverfahren, die Primärerfahrung als Quelle der geschichtspolitischen Haltung heranzogen oder gar Primärerfahrung auf Basis neues Wissens reflektierten, die seltenen Ausnahmen. Auswahlkriterien Die Integration der Lehrkräfte in den NS-Staat war für die Referentinnen und Referenten offensichtlich kein Hinderungsgrund bei der Expertensuche. Keiner der vorgestellten herangezogenen Sachverständigen gehörte einer Opfergruppe des Nationalsozialismus oder dem Kreis der emigrierten Regimegegner an.476 472 473 474 475

BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961. BayHStA MK 63831 Gutachten vom 20. März 1974. Vgl. Koselleck (1999), S. 214–215. »Aber auch ›die Deutschen‹ werden nicht verschont, die ›nur nach verlorenen Kriegen‹ sich zur Demokratie zu bekehren beginnen (M 26); wo bleibt hier die Frage nach dem Warum? Selbst »Lehrer und Angestellte« kriegen gelegentlich etwas ab als Mitläufer. Solche Verallgemeinerungen sind vor allem in einem Buch für die Jugend abzulehnen. Ihr gegenüber sollte grundsätzlich nicht mit Ironie gearbeitet werden.« BayHStA MK 63836 Gutachten vom 24. April 1953. Vgl. BayHStA MK 56677 Personalakte. 476 Der bisherige Befund stützt auch die These Bergs, demnach die Arbeiten der jüdischen Historiker in der deutschen geschichtswissenschaftlichen Forschung der Zeit »nicht als Wissenschaft betrachtet [wurden], sondern im besten Falle als ›Quellen‹ in der Tradition der ›Nürnberger Prozesse‹.« Berg (2003a), S. 218.

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Damit deckt sich der Befund mit den Untersuchungen zur Geschichtskultur in den Nachkriegsjahrzehnten, demnach kaum Opfer des NS-Regimes gehört wurden. Die Berücksichtigung von Vertretern der Opfergruppen des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren hätte möglichweise stärkere Konflikte bei der Aushandlung der Schulbuchinhalte erzeugt. Vertreter von Opferverbänden sowie Holocaust- und KZ-Überlebende machten schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg auf die hohe Bedeutung des Antisemitismus sowie der mittleren Führungsebene im Nationalsozialismus aufmerksam. Bis heute bedeutsam ist beispielsweise das von Eugen Kogon 1946 veröffentlichte ›Der SS-Staat‹. Eugen Kogon ist als katholischer Gegner des Nationalsozialismus mehrere Jahre im KZ Buchenwald inhaftiert gewesen. Noch 1945 begann er an seiner Monographie zu arbeiten, für die er neben eigenen Erinnerungen auch die Aussagen von über hundert KZ-Überlebenden sammelte. Kogon lieferte nicht nur einem beeindruckenden Umriss des Lagersystems am Beispiel des KZ Buchenwald, sondern äußerte sich auch zum Verhältnis von Bevölkerung und ›Drittem Reich‹. Bereits 1946 hielt er fest, dass die Mehrheitsdeutschen zwar kaum die Dimension der Konzentrationslager überblickt haben, dennoch aber alle Deutschen die antisemische Barbarei erlebten und viele Geschäftsleute, Industrielle und Mediziner sowie Offiziere und Soldaten der Wehrmacht Wissen über das Lagersystem hatten, weil sie »mit den professionellen Mördern zusammenarbeiteten.«477 Dieses Wissen habe die Deutschen »als Volk überhaupt nicht« zum Widerstand motiviert, resümierte Kogon.478 Seine Diagnose stand quer zum geschichtskulturellen Konsens der Nachkriegsjahrzehnte, doch sein ›Sachbericht‹, wie Kogon das Werk im Vorwort nannte, gilt heute weiterhin als Standardwerk. Erinnert sei auch beispielhaft an die Arbeiten des Holocaustüberlebenden und deutschpolnischen Historikers Joseph Wulf, der sich als Mitarbeiter der ›Bundeszentrale für Heimatdienst‹ in Bonn (dem Vorläufer der Bundeszentrale für politische Bildung) und als Mitglied der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission darum bemühte, die bundesdeutsche Öffentlichkeit über die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Holocaust aufzuklären. Er war der erste, der sich systematisch und auf breiter Quellenbasis mit dem Holocaust beschäftigte und bereits 1955 Dokumentationsbände zur Judenverfolgung und zum Holocaust479 oder zur Rolle der Eliten im Nationalsozialismus480 veröffentlichte. Seine Arbeiten nahmen zwar viele der geschichtskulturellen Debatten vorweg, die seit den 1990er Jahren in der Bundesrepublik immer wieder aufkamen, etwa zur Haltung 477 478 479 480

Zitate Kogon (1946), S. 332. Kogon (1946), S. 333. Wulf und Poliakov (1955). Wulf und Poliakov (1959). Wulf und Poliakov (1956).

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der Mehrheitsdeutschen im Nationalsozialismus, zur tragenden Rolle von Wehrmacht und Polizei bei der Durchführung von Vernichtungskrieg und Holocaust oder zur Rolle der NS-Eliten und ihrer Reintegration in die Bundesrepublik. Seine Forschung stand jedoch abseits der hegemonialen Geschichtskultur und wurde vor allem von der Fachpresse negativ rezensiert und Joseph Wulf bald von der Fachöffentlichkeit ignoriert.481 Die Stimmen der Vertreter von Opfergruppen hatten also gesellschaftliche Randpositionen inne,482 was sich auch in der Auswahl der Gutachterinnen und Gutachter spiegelte. Alle drei Beamte des Kultusministeriums wurden zwischen 1901 und 1910 geboren. Sie studierten nach dem Abitur das Lehramt für Höhere Schulen in München und verfassten eine Promotionsschrift nach dem Staatsexamen. Die untersuchten Ministerialdirektoren gehörten ebenfalls der Kriegsjugendgeneration an und teilten wohlmöglich vergleichbare Erfahrungen mit den Sachverständigen. Die personelle Konstellation des Kultusministeriums in der Nachkriegszeit kann die Nichtberücksichtigung der persönlichen Verstrickung in den Nationalsozialismus bei der Auswahl der Sachverständigen und die häufige Übereinstimmung zwischen Referentinnen und Referenten sowie Sachverständigen bei Deutungskonflikten zum Nationalsozialismus erklären. Ausschlaggebend für die Wahl von Gutachterinnen und Gutachtern war allerdings nicht deren politische Biographie, sondern wohl vor allem deren berufliche Erfahrung. Ein Vergleich der untersuchten Biographien zeigt auf, dass die bei der Erstellung des Sachverständigenpools auf Ebene der Volksschulen genannten Kriterien, also theoretische Studien und schulpraktische Erfahrung, vergleichsweise robust waren und sich vermutlich in harten Aspekten, wie Erfahrung in Jahren, veröffentlichten Büchern, Amtsbezeichnungen und Funktionen ausdrückten. Dagegen wurden weichere Kriterien, etwa die Bewertung des Unterrichts durch Vorgesetzte, eher nicht berücksichtigt. So wurde ein Lehrer für acht Zulassungsverfahren herangezogen, obwohl sein Vorgesetzter dessen veraltete Unterrichtsmethoden kritisierte. So habe besagter Lehrer laut seinem Vorgesetzten einen zu starken Frontalunterricht gehalten, »anstatt Vorhandenes aus den Schülern herauszuarbeiten«.483 Des Weiteren habe er Schülerinnen und Schülern bei Widerspruch »keine Möglichkeit zu einer eigenen Meinungsäußerung oder zu seiner Rechtfertigung« gegeben.484 Allerdings war besagter Gutachter seit mehreren Jahren als Lehrer tätig, besaß laut seines Vorgesetzten gutes 481 Vgl. Berg (2003b), S. 316–318. 482 Zu bedenken ist auch die geringe Zahl von Juden in der Bundesrepublik. Seit der Gründung des Zentralrats der Juden zu Beginn der 1950er Jahre bis zur Deutschen Einheit vertrat der Verband nur die verschwindend geringe Zahl von 30 000 in Westdeutschland lebenden Jüdinnen und Juden, also 0,05 Prozent der Gesamtbevölkerung. Vgl. Brenner (2007), S. 15. 483 BayHStA MK 45880 Beurteilungsbogen vom 8. November 1948. 484 BayHStA MK 45880 Beurteilungsbogen vom 21. Juli 1957.

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Fachwissen, war ebenfalls Autor geschichtlicher Lehrwerke aktiv und hatte als Seminarlehrer einen vergleichsweise herausgehobenen Status.485 Gemein ist den untersuchten Sachverständigen in ihrer beruflichen Biografie ein bestimmter Ausbildungsgrad: Sie waren bereits promoviert, viele der untersuchten Personen waren Seminarlehrer oder sogar Seminarleiter und hatten mehrere Jahre Berufserfahrung. Einige der Lehrkräfte verfassten sogar selbst Lehrwerke und wiesen damit auch spezifische Kenntnisse hinsichtlich der Erwartungen und Möglichkeiten von Schulgeschichtsbüchern auf. Manche hatten eine Doktorarbeit in der Geschichtswissenschaft oder einer anderen Geisteswissenschaft veröffentlicht – darunter auch alle drei Beamte des Kultusministeriums. Gemeinsam mit drei anderen Lehrkräften, von denen zwei ebenfalls als Gutachter in Zulassungsverfahren tätig waren, wurde einer der untersuchten Lehrkräfte zudem 1967 als Mitglied »der Lehrplankommission Geschichte einberufen.«486 Daneben könnte in einigen Fällen auch persönliche Bekanntschaft die konkrete Wahl erleichtert haben. Drei der untersuchten Sachverständigen und eine der drei untersuchten Beamten im Kultusministerium waren während des Nationalsozialismus aktiv im Umfeld des ›Volksbundes für Deutschtum im Ausland‹ (VDA). Der als Schutzbund für ›Volksdeutsche‹ im Ausland 1881 gegründete Verein besaß in der Weimarer Republik eine deutschvölkische Ausrichtung, forcierte eine traditionalistische Volkstumspolitik, »hatte sich früh der NS-Politik angenähert und war seit der NS-Machtübernahme weitgehend, aber nicht restlos vereinnahmt worden.«487 Erst 1938 wurde er gleichgeschaltet und der ›Volksdeutschen Mittelstelle‹ beigeordnet, die während des Zweiten Weltkriegs unter der Losung ›Heim ins Reich‹ die Umsiedlung von ›Volksdeutschen‹ organisierte, die in annektierten Gebieten außerhalb des Deutschen Reiches lebten. Von den vier Akteuren, die Mitglied im VDA waren, lebten zudem drei im Raum München. Die räumliche Verteilung der Sachverständigen legte bereits nahe, dass sich die Sachverständigen und Referentinnen und Referenten möglicherweise kannten, was durch diesen Befund erhärtet wird. Tiefergehende Forschungen zum Personal des Kultusministeriums müssten allerdings prüfen, inwiefern die bayerische Schulbuchpolitik ein Netzwerk war, das auf persönlicher Bekanntschaft gründete.

485 Vgl. BayHStA MK 45880. 486 BayHStA MK 56760 Brief des Kultusministeriums vom 15. Mai 1967. 487 Bauer (2008), S. 231.

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2.3.2. Sachverständigentypen und Interessengruppen An der Kontrolle von Schulgeschichtsbüchern wurden neben den Lehrkräften drei Gruppen einbezogen. Diese waren die Vertreter der beiden Amtskirchen, der Geschichtswissenschaft, repräsentiert durch das Institut für Zeitgeschichte in München, sowie des sog. Heimatvertriebenen, die durch das Ostkunde-Referat des Kultusministeriums vertreten wurden. Im Folgenden werden diese Gruppen und ihre Funktionen im Zulassungsverfahren einzeln dargestellt. Kirchen und Zulassungsverfahren Nicht nur bei Religionsbüchern, sondern auch bei der Prüfung von Schulgeschichtsbüchern der Volksschulen wurden die katholische sowie die evangelische Kirche um die Begutachtung ersucht. Auf evangelischer Seite wurde dazu der evangelische Landeskirchenrat und auf katholischer Seite das katholische Schulkommissariat, beide mit Sitz in München, angeschrieben. Die Einbindung der Kirchen unterlag dem bereits oben skizzierten Prozess der Standardisierung und Verrechtlichung. Bereits in den 1950er Jahren wurden die Kirchen unregelmäßig und in Absprache mit den Verlagen zur Begutachtung von Schulgeschichtsbüchern der Volksschule herangezogen.488 In der Bekanntmachung über die Zulassung von Volksschulbüchern von 1960 verordnete das Kultusministerium, dass die Zusage der Kirchen bei der Zulassung von Schulbüchern für den Religionsunterricht ausschlaggebend sei und die kirchlichen Oberbehörden bei anderen Fachgruppen gegebenenfalls neben den zwei Sachverständigen herangezogen werden sollten.489 In der Praxis betraf diese Verordnung nur die Schulgeschichtsbücher der Volksschulen, was wohl zunächst an der Institution der Bekenntnisschulen lag, die bis zum Volksentscheid 1968 neben den Gemeinschaftsschulen bestanden und schließlich in christliche Gemeinschaftsschulen überführt wurden.490 Damit Schulgeschichtsbücher an katholischen wie evangelischen Bekenntnisschulen und später an christlichen Gemeinschaftsschulen genutzt werden konnten, mussten sie frei von Ressentiments gegenüber den Kirchen sein, was durch eine Begutachtung sichergestellt wurde.491 Gleichzeitig konnte Kritik an Schulge-

488 Siehe zum Beispiel das Zulassungsverfahren von 1954 zu Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955. BayHStA MK 64526. 489 Vgl. KMBL 1960b, S. 67. 490 Zur Auseinandersetzung um die Bekenntnisschulen in Bayern nach 1945 siehe Richter (1997). Vgl. auch Hoderlein (1997), S. 107–110. 491 Dies zeigte sich auch in den Zulassungsverfahren in Rheinland-Pfalz der 1950er Jahre. Die Kirchen wurden laut Sabrina Schmitz-Zerres aufgrund des Bekenntnischarakters der

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schichtsbüchern mit Verweis auf die religiöse Herkunft der Autorenschaft und der Sachverständigen abgewiesen werden. Unaufgefordert reichte ein fränkischer Schulrat 1956 eine kritische Besprechung des kürzlich zugelassenen Schulbuchs ›Bayern in Geschichte und Gegenwart‹ aus dem Lurz Verlag ein. Der Schulrat erkannte in dem Lehrwerk eine »einseitige klerikal-monarchistische Geschichtsauffassung«, die das »ungeheure Schuldkonto« der katholischen Bayerischen Volkspartei für den Aufstieg des Nationalsozialismus »verschwiegen oder umgefälscht« habe.492 Das Kultusministerium rügte den Schulrat im Antwortschreiben für den anmaßenden Ton und verwies auf die protestantische Konfession eines Autors und eines Gutachters, weshalb die kritisierte »Lobhudelei auf die Wittelsbacher« und die einseitige Darstellung der Kirchen nicht zu erkennen sei.493 Allerdings erlaubten sich die Kirchenvertreter in Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern der Volksschule neben der Beurteilung religiöser Themen auch die inhaltliche Prüfung allgemeiner historischer Darstellungen, sofern sie einen kirchengeschichtlichen Bezug aufwiesen.494 So anerkannte das evangelische Landeskirchenamt in einem Gutachten von 1970, dass sich wegen der Stoffbeschränkung auf »politische und sozial-politische Fragen […] nur ganz selten Bezüge zu kirchlich relevanten Themen« ergeben. Der zuständige Gutachter bat darum, nicht ohne Distanzierung von Gebet zu sprechen, wenn die ›Deutschen Christen‹ im Schulbuch behandelt wurden, und auf die kirchlichen Funktionäre als besonderes Ziel des NS-Terrors hinzuweisen.495 Vertreter anderer religiöser Gemeinschaften, die ebenfalls ein berechtigtes Interesse an einer von Ressentiment befreiten Darstellung ihrer Geschichte hatten – etwa das Judentum –, wurden nicht in das Zulassungsverfahren integriert. Vor dem Hintergrund des religiösen Proporzprinzips bei der Beurteilung von Schulbuchinhalten mit religiöser Dimension wäre gerade die Darstellung des Nationalsozialismus und der Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums ein Argument für den Einbezug jüdischer Sachverständiger gewesen. Dass das Judentum keine vergleichbare Verbreitung innerhalb der Gesellschaft besaß und auch institutionell nicht an staatlichen Schulen eingebunden war,

492 493 494 495

Volksschulen in das Zulassungsverfahren einbezogen und beurteilten die religiöse Ausrichtung der Lehrwerke. Schmitz-Zerres (2018). Zitate BayHStA MK 63822 Brief an das Kultusministerium vom 29. Juli 1956. BayHStA MK 63822 Brief des Kultusministeriums vom März 1957. Der Brief wurde vom zuständigen Referenten vorbereitet, der in einem internen Bericht die religiöse Herkunft als Gegenargument hervorhob. BayHStA MK 64519 Interner Bericht vom 30. Januar 1957. Die Kirchen prüften also die religiöse Dimension von Geschichtskultur. Zum Verhältnis von Geschichtskultur und der religiösen Dimension von Geschichtskultur siehe Bauer (2019a). BayHStA MK 64521 Gutachten vom 2. März 1970.

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kann dagegen erklären, weshalb es nicht in das Zulassungsverfahren einbezogen wurde. Geschichtswissenschaftliche Kompetenz. Das Institut für Zeitgeschichte Neben der systematischen Kontrolle der religiösen Dimension der Geschichtskultur in Volksschulbüchern durch die Kirchen wurde stellenweise auch die kognitiv-geschichtswissenschaftliche Dimension von Geschichtskultur geprüft. Bei insgesamt elf Zulassungsverfahren unterschiedlicher Schularten wurde das Münchner Institut für Zeitgeschichte um Begutachtung der Manuskripte gebeten. Im Zulassungsverfahren von 1954 zu Oldenbourgs ›Geschichte unseres Volkes‹, das von einem ehemaligen NSDAP-Mitglied herausgegeben wurde, beauftragte das Ministerium den Verlag damit, direkt am Institut für Zeitgeschichte ein Gutachten zum Manuskript einzufordern.496 Im März 1958 beantragte die SPD-Fraktion des Bayerischen Landtags zusammen mit dem kulturpolitischen Ausschuss, die »wissenschaftlichen Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Forschung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte für den Unterricht an allen Schulen verstärkt nutzbar zu machen497 Der Landtag nahm den Antrag einstimmig an, wodurch auch das Institut für Zeitgeschichte immer wieder in die Zulassung von Lehrwerken, die zeitgeschichtliche Fragen behandelten, involviert war. Das Institut für Zeitgeschichte wurde nach mehreren Anläufen bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als ›Deutsches Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit‹ gegründet und avancierte zu einer deutungsmächtigen Forschungseinrichtung zum Nationalsozialismus.498 Neben dem Forschungsauftrag übernahmen die größtenteils konservativen Historiker des Instituts auch Gutachtertätigkeiten bei juristischen Verhandlungen zu Verbrechern im Nationalsozialismus499 und im wissenschaftlichen Bereich. Die jüngere Forschung zur Geschichte des Instituts zeigte die persönlichen Verstrickungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Nationalsozialismus und deren Auswirkungen auf die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus auf. So rekrutierte das Institut seine Mitglieder in der Gründungszeit auch aus dem Kreis

496 BayHStA MK 64519 Stellungnahme des Verlags vom 16. September 1954. 497 Bay.Landtag 3/1954–1968, Protokoll, 25. März 1958, S. 4276–4277. 498 Vgl. Auerbach (1970). Einführend zur geschichtskulturellen Funktion des Instituts siehe Drescher (2015). 499 So etwa die von Fritz Bauer in Auftrag gegebenen Studien, die 1960 im Buch »Anatomie des SS-Staats« veröffentlicht wurden und einen ersten zusammenhängenden Überblick zur NSVernichtungspolitik lieferten, der die Strukturen abbildete, ohne die individuelle Schuld zu negieren. Buchheim, Broszat, Jacobsen und Krausnick (1965).

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ehemaliger NS-Funktionseliten.500 Institutsmitglieder beäugten die Forschungen jüdischer Wissenschaftler wegen der persönlichen Betroffenheit als Opfer des Nationalsozialismus als unsachliche Arbeiten,501 was sich anscheinend auch auf die Praxis der Gutachtertätigkeit auswirkte. Durch negative Gutachten zögerte das Institut die Übersetzung des Werks des US-amerikanischen Historikers Raul Hilberg, ›The Destruction of the European Jews‹, ins Deutsche hinaus, bis ein kleiner linker Verlag das Buch dennoch übersetzen ließ.502 Allerdings war das Institut insbesondere mit dem Vierteljahresheft für Zeitgeschichte im Untersuchungszeitraum ein wichtiger Initiator und zentraler Multiplikator wissenschaftlichen Wissens zur Geschichte des Nationalsozialismus.503 In den Zulassungsverfahren wurde das Institut für Zeitgeschichte manchmal ergänzend, manchmal als einer der zwei Sachverständigen herangezogen. Die Prüfung der Manuskripte durch das Institut war jedoch stets fakultativ. Das Zulassungsverfahren zum Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹ des C. C. Buchners Verlag zeigte die Grenzen des geschichtskulturellen Einflusses des Instituts deutlich auf: Da die beiden von Lehrkräften verfassten Gutachten zur Mittelstufenreihe dem zuständigen Referenten hinsichtlich der Kontrolle der Zeitgeschichte anscheinend nicht genügten, ersuchte dieser das Institut für Zeitgeschichte um ein Gutachten zu Band IV der Reihe. Während der damalige Institutsleiter, Dr. Paul Kluke, die Darstellung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik prüfte, verfasste Dr. Hans Buchheim sein Gutachten zur Darstellung des Nationalsozialismus im Lehrwerk.504 Beide Historiker listeten eine Reihe von Mängeln am Manuskript anhand der falschen bzw. überholten Darstellung verschiedener Aspekte der Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus auf. Diese Kritik an den Aspekten mündete in den Schlussworten des Gutachtens von Hans Buchheim: »Alle die genannten Fehler können an sich abgestellt werden, ohne daß man eine Zeile mehr braucht, als bisher aufgewendet wurden. Allerdings handelt es sich bei den erwähnten Fehlern nur um besonders greifbare Manifestationen einer im Ganzen ungenügenden Darstellung. Deshalb ist mit Verbesserungen nicht viel zu erreichen […].«505

Dementsprechend empfahl Buchheim eine Neuformulierung des monierten Textes, was tiefgreifende Einschnitte in das Lehrwerk nach sich gezogen hätte. Dagegen opponierte der Autor und Herausgeber des Bandes in einem Brief an 500 501 502 503 504 505

Vgl. Winkler (2019a). Vgl. Berg (2003a), S. 218. Vgl. Aly (2017). Vgl. Graml und Woller (2003). Vgl. BayHStA MK 64256 Brief an das Kultusministerium vom 11. November 1958. BayHStA MK 64256 Gutachten vom 11. November 1958.

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das Kultusministerium, dem er eine unterstützende Stellungnahme des im Kultusministerium anerkannten Münchner Geschichtsprofessors Dr. Franz Schnabel beilegte. Der Autor erklärte, dass er die Gutachten »in Bezug auf sachliche Objektivität, auf pädagogisches Verständnis und auf den anmaßenden Ton nicht anerkennen« könne und stellte seine Expertise als langjähriger Schulbuchautor und (Seminar-)Lehrer gegen die Positionen der beiden Wissenschaftler. Es sei aus Sicht der historisch-politischen Bildung ein falscher Weg, die jüngere deutsche Geschichte so umzuschreiben, »dass man die Vergangenheit nach dem Heute interpretiert.«506 Franz Schnabel erkannte zudem in der Beurteilung von Schulbüchern eine Kompetenzüberschreitung der Wissenschaftler und des Instituts, da sie zu pädagogischen Fragen keine Stellung beziehen könnten.507 Der Ministerialreferent, der zuvor die Gutachten unkommentiert an den Verlag weiterreichte, sah Verständnis für die heftige Reaktion des Autors aufgrund der scharfen Formulierungen der Wissenschaftler in ihren Gutachten und genehmigte nach einigen kosmetischen Korrekturen des Manuskripts den Band als lernmittelfreies Schulgeschichtsbuch. Statt gesamte Abschnitte umzuschreiben, sollten nur die »seitenmäßig angeführten Beanstandungen berücksichtigt« werden.508 Zweierlei Marksteine zur Kennzeichnung der Kompetenzgrenzen des Instituts zeigen sich in diesem Verfahren: Zum einen war es dem Institut nicht möglich, von einer Kritik einzelner Aspekte des Nationalsozialismus auf die Kritik der Gesamtdarstellung abzuheben. Die geschichtswissenschaftlichen Eingriffe konnten anscheinend nur zu tendenziellen Korrekturen der historischen Deutung führen. Zum anderen waren die Wissenschaftler auf eine Begutachtung fachwissenschaftlicher Güte beschränkt, was didaktische Argumentationen und Eingriffe verbaute. In ihrem Kompetenzbereich dagegen galt die Haltung des Instituts als Expertenmeinung, weshalb eine positive Begutachtung des Instituts die fachwissenschaftliche Güte bewies. Einer kritischen Anfrage eines NPD-Abgeordneten von 1966 zu einem Schulgeschichtsbuch, das aus Sicht des Abgeordneten die SS verunglimpfe, entgegnete das Kultusministerium beispielsweise damit, dass der Band vom Institut für Zeitgeschichte begutachtet und »wärmstens« empfohlen wurde.509

506 507 508 509

Zitate BayHStA MK 64256 Brief an das Kultusministerium vom 15. Mai 1959. BayHStA MK 64256 Stellungnahme im Anhang des Briefs vom 15. Mai 1959. BayHStA MK 64256 Interner Bericht vom 3. Juni 1959. BayHStA MK 64272 Briefentwurf des Kultusministeriums vom 30. Januar 1968.

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Ostkunde-Referat. Interessenvertretung der Flüchtlinge und sog. Heimatvertriebenen Die dritte Interessengruppe vertrat das Ostkunde-Referat des Kultusministeriums. Das Referat beschäftigte sich laut Geschäftsverteilungsplan von 1959 mit »Fragen der Ostkunde« und Angelegenheiten der Flüchtlingslehrkräfte, arbeitete darüber hinaus aber auch mit dem Referat 6 zusammen, das »Allgemeine Angelegenheiten der Höheren Schulen und gemeinsame pädagogische Angelegenheiten aller Schulgattungen« zu bearbeiten hatte, sofern diese Themen nicht zum Schwerpunkt eines anderen Referats gehörten.510 Mit dem Ostkunde-Referat institutionalisierte das Kultusministerium die Interessensvertretung der Heimatvertriebenen und mehrheitsdeutschen Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs. Neben der Darstellung von Flucht und Vertreibung dieser Gruppe prüfte der Referent auch die Darstellung der Geschichte der ehemaligen deutschen Reichsgebiete im Osten Europas. Die historische Deutung besaß geschichtspolitische Sprengkraft, da die Frage der deutschen Ostgrenze im Kalten Krieg nicht geklärt war. Das geschichtspolitische Interesse des Kultusministeriums zeigte bereits in den in Kapitel 2.1. herausgestellten Rahmenrichtlinien und Entschließungen. 1966 druckte das Kultusministerium die Entschließung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen zur politisch korrekten Sprachregelung in Schulgeschichtsbüchern hinsichtlich des Umgangs mit den (inner-) deutschen Grenzen ab. Diese sollten nicht als Grenzen, sondern als Demarkationslinien bezeichnet werden, da bis zu einem Friedensvertag die völkerrechtlich gültigen Grenzen des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937 gültig waren.511 Die Entschließung unterstrich die Vorläufigkeit der politischen Regelung und verdeutlichte den Anspruch auf diese ›Ostgebiete‹. Da die ehemaligen deutschen Reichsgebiete während des Kalten Krieges in den politischen Machtbereich der Sowjetunion fielen und ihr Verlust die Folge des nationalsozialistischen Angriffsund Vernichtungskriegs war, war die Sprachregelung eng mit der Darstellung des Nationalsozialismus und des Kommunismus verbunden. Eine (geschichts-)politische Regelung zum Umgang mit Nationalsozialismus und ›Bolschewismus‹ erließ das Kultusministerium 1962 mit den sogenannten Richtlinien des Totalitarismus im Unterricht.512 Das Kultusministerium stärkte auch den Ostkunde-Unterricht als Unterrichtsprinzip, denn in den Fächern Deutsch, Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde wurden die Schulen bereits 1952 »angewiesen, die unterrichtlichen 510 Zitate BayHStA MK 65608 Geschäftsverteilung des Kultusministeriums vom 1. Juni 1959. 511 Zur Entschließung über die Richtlinien für die Bezeichnungen Deutschlands, der Demarkationslinien innerhalb Deutschlands und der Orte innerhalb Deutschlands (Bezeichnungsrichtlinien) vom 2. März 1966 siehe KMBL 1966a, S. 97–100. 512 Vgl. KMBL 1962, S. 279–285.

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Möglichkeiten« zum Ausbau des ostkundlichen Unterrichtsprinzips »auszunutzen.« Schulfeste, Elternabende und eine entsprechende Ausstattung der Schulbüchereien sollten Angebote schaffen, um »die Kenntnis der z. Z. von Deutschland getrennten Gebiete im Osten, der Menschen und ihrer Geschichte wachzuhalten und das Wissen um ihren Beitrag zur abendländischen Kulturgemeinschaft zu vertiefen«513. Den Entschluss legte das Kultusministerium 1955 und in der Gegenbewegung zur Neuen Ostpolitik Willy Brandts (SPD) auch 1974 wieder auf.514 Die von Brandt angestrebte Aussöhnung mit Polen und die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens war eng an die ›deutsche Frage‹ und das Gebot der Verfassung nach Wiedervereinigung geknüpft, da die Gebiete östlich der Linie bis 1945 zum Deutschen Reich gehörten und im Zuge des Potsdamer Abkommens unter polnische Verwaltung gestellt wurden. Während die SPD die politische Realität akzeptierte, machten konservative Parteien sowie die sog. Heimatvertriebenen weiterhin Gebietsansprüche geltend. Der wieder aufgelegte Entschluss zur Förderung des Ostkunde-Unterrichts ist in diese Kontroverse eingebettet. Die geschichtspolitische Auftragslage institutionalisierte das Ministerium schließlich durch das Ostkunde-Referat, was unter anderem in dessen Gutachten zu Schulgeschichtsbüchern durchgesetzt wurde. Allerdings begutachte der Referent keineswegs durchgängig die vorgelegten Manuskripte.515 Der Stil des Referenten brüskierte zudem die Verleger sowie die Autorinnen und Autoren. In einem Verfahren von 1966 gab der Referent für Ostkunde den vom BSV eingereichten zweiten Band des Volksschulgeschichtsbuches ›Wir erleben die Geschichte‹ ein schlechtes Zeugnis, da der »Ost-WestGleichgewichts-Blick« fehle und die »Sünden einer überbetont preußischnorddeutschen Geschichtsdarstellung, besser: -klitterung immer wieder fröhliche Urständ feiern«. Zudem fehlten dem Referenten deutliche Ausführungen zum »KPD-Terrorbolschewismus« in der Weimarer Republik, der im Manuskript, wenn überhaupt erwähnt, dann viel zu ungefährlich dargestellt werde. Auch die »Hinweise auf die Gleichwertigkeit des totalitären antichristlichen Gewaltstaates Hitlers mit solchen der Bolschewiki« seien »dünn gesät«. Weiterhin falle laut Referent kein Wort über die »menschenunwürdige Entrechtung und ›Entvolkung‹ lebender Restdeutscher in den Ostblockländern, insbes. in der CSSR und Polen«. Deutlich werden müsse dagegen die »Europa- wie Freiheits513 Zitate KMBL 1952b, S. 370–371. 514 siehe KMBL 1955a, S. 394. KMBL 1974, S. 282–283. 515 Es handelt sich im Forschungszeitraum um drei Gutachten zu Volksschulgeschichtsbüchern: BayHStA MK 64525, Gutachten zu Renate Riemeck, Geschichte für die Jugend III–IV, Mundus Verlag, 3. Juni 1959. Das hier ausgeführte Gutachten zu Hampel, Seilnacht: Wir erleben die Geschichte. 7/8. Schuljahr Volksschulen. Bayerischer Schulbuch Verlag (BayHStA BSV 455 Gutachten vom 20. Januar 1966) sowie das Gutachten zu Scherl/Schwandner, Die Vergangenheit lebt, Band 4, Oldenbourg Verlag in BayHStA MK 65420 vom 7. Juni 1967.

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sehnsucht der ost(mittel)europäischen Völker im ›sozialistischen Lager‹, die im permanenten Widerstand zu ihren bolschewistischen Gewaltherren stehen und von uns neue Vorschläge zu einer freiheitlichen Völker-Zusammenlebensordnung in Europa erhoffen.«516 Die vom Kultusministerium gestellten Rahmenbedingungen zur Behandlung der Ostkunde im Unterricht sowie der Gleichbehandlung des Nationalsozialismus und des Bolschewismus als Formen des Totalitarismus ausreizend, engagierte sich der Leiter des Referats für Ostkunde um eine deutliche Erweiterung der monierten Bereiche. Mit diesem Gutachten rief er allerdings den Unmut des Autors hervor, der deutlich aufgebracht in einem Brief an den Verleger des BSV zur Sprache brachte, dass er ihn gerne in einem Gespräch »schulmeistern« würde, da er den zuständigen Ministerialreferenten für einen Wirrkopf halte, der unter die »Rubrik Sudetendeutsche Landsmannschaft« einzuordnen sei (wo er tatsächlich auch aktiv war). Aufgrund seiner »politischen Naivität« sei es für den Autoren das »Gescheiteste, – nicht das Klügste!!«, den Mann in Pension zu schicken.517 Der Verleger berichtet anschließend davon, dass er im Ministerium wegen der Auswirkungen des Gutachtens nachfragte und dabei im direkten Gespräch mit einer Beamten erfuhr, dass besagter Referent für Ostkunde auch von seinen Kolleginnen und Kollegen nicht ernst genommen werde. Der Verleger habe mit der Beamten abgesprochen, dass der Autor die für ihn vertretbaren Änderungsvorschläge akzeptiere, womit einer Genehmigung nichts mehr im Wege stehe.518 Dennoch traf sich ein im BSV tätiger Lektor noch mit besagten Referenten. Der Referent habe eingeräumt, in der Hoffnung darauf, dass wenigstens einige seiner Ansichten berücksichtigt werden, bewusst viele Beanstandungen eingebracht zu haben. Des Weiteren sehe er sich mit dem politischen Auftrag des Kultusministeriums ausgestattet, das Wert auf eine »Ost-West-Balance«lege, berichtet der Lektor.519 Das Verfahren verdeutlicht den geschichtspolitischen Charakter des Ostkunde-Referats hinsichtlich der bayerischen Ostpolitik. Ausgehend von der Quellenlage war sich der Referent seines bildungspolitischen Auftrags bewusst, wirkte aber kaum im Bereich der Schulbuchverwaltung, da er nur sporadisch Gutachten verfasste. Zwar schien er sich aufgrund seiner harschen und irritierenden Haltung nur schwer gegen konträre Positionen durchgesetzt zu haben, dennoch mussten seine Gutachten berücksichtigt werden. Da andere Interessengruppen nicht als direkte Akteure der Zulassungsverfahren in die geschichtskulturelle Instanz einbezogen wurden, waren neben Lehrkräften drei Typen von Sachverständigen an der Begutachtung von Schul516 517 518 519

Die Zitate entstammen BayHStA BSV 455 Gutachten vom 20. Januar 1966. Zitate BayHStA BSV 455 Brief von Johannes Hampel an Wilhelm Schindler, 23. Januar 1966. BayHStA BSV 455 Brief von Wilhelm Schindler an Johannes Hampel, 1. Februar 1966. BayHStA BSV 455 Gesprächsprotokoll vom 9. Februar 1966.

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geschichtsbüchern beteiligt: Die Beamten des Kultusministeriums, darunter das Ostkunde-Referat als Interessenvertretung, Vertreter der Amtskirchen sowie das wissenschaftliche Personal des Instituts für Zeitgeschichte. Das Institut für Zeitgeschichte ersuchte das Ministerium als fachwissenschaftliche Einrichtung eigens zu Dissemination geschichtswissenschaftlichen Wissens, wodurch ihm ein Expertenstatus auf geschichtswissenschaftlicher, nicht aber auf geschichtsdidaktischer Ebene eingeräumt wurde. Dagegen traten die Kirchen sowie das Ostkunde-Referat funktional als Vertreter und als geschichtspolitische Agenten spezifischer sozialer Gruppen hervor, deren inhaltliche Bezüge zwar auf die Darstellung konkreter Themen beschränkt, hier jedoch deutungsmächtig waren, da ihre Anmerkungen vom Ministerium berücksichtigt und an die Verlage zur Umsetzung weitergeleitet wurden. Opfer oder Opferverbände bezog das Kultusministerium nicht in die Zulassungsverfahren mit ein.

2.3.3. Externalisierung argumentativer Macht? Sachverständige als Experten Während in den frühen 1950er Jahren einige der Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums noch den Anspruch der ›Machtvollkommenheit‹ gegen eine transparente Regulierung und Standardisierung der Zulassungsverfahren erhoben, gaben die Beamten im Verlauf des Untersuchungszeitraums Deutungsmacht ab. Die Externalisierung von Gutachten wurde bald akzeptiert, standardisiert und schließlich rechtlich codiert. Die ersuchten Gutachterinnen und Gutachter galten im Rahmen ihrer Kompetenzbereiche, die abhängig vom Aufgabengebiet des Sachverständigentyps waren, als Experten. Doch was bedeutete dieser Status für den Entscheidungsprozess? Nachdem die Auswahl der Sachverständigen und die Position der Interessenvertreter herausgearbeitet wurden, soll abschließend die Entwicklung des Verhältnisses von sachverständigen Lehrkräften und den Beamten des Kultusministeriums analysiert werden. Dabei wird die Wirkung der Gutachten im Entscheidungsprozess der Zulassungsverfahren geprüft. Kriterien für Gutachten Die Sachverständigen erhielten zusammen mit dem Manuskript einen standardisierten Brief des Kultusministeriums. Infolge eines einstimmigen Landtagsbeschlusses vom 2. Februar 1956 zur Einschränkung des Lehrstoffes an höheren Schulen520 reformierte das Ministerium das an die Sachverständigen entworfene

520 Bay.Landtag 3/1954–1958, Protokoll, 2. Februar 1956, S. 1639–1640.

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Schreiben521 um das Anliegen, »eine Überlastung der Schüler zu verhüten und die ständig wachsende Stoffülle in Lehrbüchern und im Unterricht zu begrenzen«, weshalb »nötigenfalls […] einschneidende Streichungen vorzuschlagen« seien. Außerdem bat das Ministerium die Gutachterinnen und Gutachter, auf eine altersangemessene Sprache der Lehrwerke zu achten. Des Weiteren setzte das Kultusministerium nicht näher bestimmte, doch offensichtlich hohe Kriterien an die Lehrwerke an, denn die lernmittelfreie Zulassung kann laut Schreiben nur dann ausgesprochen werden, »wenn ein Unterrichtsmittel die Forderungen des Lehrplans voll erfüllt, vom fachlichen und methodischen Standpunkt aus in jeder Hinsicht einwandfrei ist und nicht nur Vermehrung, sondern eine wünschenswerte Bereicherung der bereits zugelassenen Werke darstellt.«522

Damit gab das Ministerium den Experten ein Raster an die Hand, mit dem das Gutachten entlang der vom Ministerium genannten Kriterien nach Lehrplanbezug, Methode, Stofffülle und Sprache geordnet werden konnte.523 In fast allen der untersuchten Zulassungsverfahren gingen die sachverständigen Lehrkräfte – nicht jedoch die anderen Sachverständigentypen – auf die genannten Kriterien ein. So urteilte beispielsweise ein Gutachter von ›Geschichte für die Jugend‹ des Mundus Verlags: »Die sprachliche Darstellung ist altersgemäß. Wenngleich sie die lebendige, dramatisierte Schilderung dem Lehrer überläßt, bringt sie viele anschauliche Einzelheiten, die einerseits dem Lehrer genügend Stoff für seine ausschmückende Erzählung bieten wie sie andererseits geeignet erscheinen, dem Kind ein farbiges Bild vergangener Zeiten und geschichtlicher Geschehnisse zu vermitteln. Die sprachliche Darstellung übertrifft darin die bisher in Bayern lernmittelfrei genehmigten Geschichtsbücher.«524

Der Band ist für Volksschulen verfasst worden. Besagter Gutachter prüfte das vom Kultusministerium vorgegebene Kriterium der sprachlichen Angemessenheit. Diese sah er in den anschaulichen Einzelheiten gegeben. Abstraktionen galten den Sachverständigen von Mittel- und Volkschulbüchern als Negativkriterium bei der Beurteilung der sprachlichen Angemessenheit der Schulgeschichtsbücher. So urteilte beispielsweise ein Mittelschullehrer in der Bewertung

521 Vgl. BayHStA MK 63654 internes Schreiben, 23. Mai 1956. 522 Zitate aus BayHStA MK 63837 standardisierter Briefentwurf des bay. Kultusministeriums vom 4. März 1966. Siehe beispielsweise auch BayHStA MK 63825 Briefentwurf vom 13. August 1963. 523 Siehe zum Beispiel BayHStA MK 63830 Gutachten vom 30. 12. 1968. Der Sachverständige stelle dem Gutachten ein Inhaltsverzeichnis voran. Siehe auch BayHStA MK 64526 Gutachten vom 26. April 1960. 524 BayHStA MK 64525 Gutachten vom 19. August 1958. Hervorhebung im Original durch handschriftliche Unterstreichung.

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des Lehrwerks ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittel- und Realschulen‹ von 1960 über den sozialkundlichen Teil des Manuskripts: »Dieser Teil des Buches ist an den meisten Stellen abstrakt, strohtrocken, sterbenslangweilig und könnte für die Schüler eher eine Abschreckung bedeuten als den Anreiz, sich später weiter mit diesen Problemkreisen zu befassen.«525

Für den Gutachter sollte die Sprache ein facettenreiches Geschichtsbewusstsein bei den Schülerinnen und Schülern vermitteln. Gleichzeitig schränkte er den Aufgabenbereich des Schulgeschichtsbuchs ein, indem bestimmte sprachliche Darstellungsformen, etwa die dramatisierende Erzählung, an die Lehrkraft übertragen wurden. Der Sachverständige vermutete, dass diese Formen absichtlich ausgespart wurden, und erkannte dahinter ein Qualitätsmerkmal, da die Freiheit des Lehrers gewahrt bleibe. Manchmal spezifizierten die Gutachterinnen und Gutachter die offenen Kategorien des Ministeriums, bevor sie das Manuskript bewerteten. In der Auseinandersetzung mit dem später zurückgezogenen Manuskript des vierten Bandes von ›Geschichte für Real- und Mittelschulen‹ konkretisierte der Zweitgutachter das Kriterium ›fachlicher Standpunkt‹. In einem Gutachten solle geprüft werden, »ob das dargelegte Material objektiv richtig ist, ob die Daten, Fakten usw. stimmen, wie die Ereignisse verknüpft und überschauend beurteilt werden.« Des Weiteren komme es bei Geschichtsbüchern »auf den Geist an, aus dem heraus die Darstellung erfolgt.« Der Verfasser des Gutachtens lobte dabei v. a. »[g]roßräumiges Denken, Weltoffenheit« und »die vaterländischen Werte« des Manuskripts an.526 Ein weiterer Gutachter monierte 1960, dass das Manuskript den Lehrplan für Mittelschulen erfülle, weil es sowohl Sozialkunde wie auch Geschichte behandele. Der Gutachter plädierte dafür, zwei fachlich getrennte Schulbücher für den Unterricht einzuführen, um so dem Fach Geschichte gerecht werden zu können.527 Gegen die Rahmenbedingungen des Unterrichts gerichtete Einwände blieben jedoch seltene Ausnahmen und wurden vom Ministerium nicht beherzigt.

525 BayHStA MK 64264 Gutachten vom 4. April 1960. In einem Gutachten zu einem Mittelstufenband heißt es: »Neben leicht verständlichen Beispielen (Wandervogel, SeveringDenkschrift, Kleinbürger-Erinnerungen) stehen gewagte Abbreviaturen (»rassisch-nationalistische«, »völkische Gruppen«) oder Abstraktionen (»sich restaurierende Ständegesellschaft«, »geschichtsromantische Ideen«), die für Jugendliche im Konfirmandenalter nicht kommensurabel sind.« BayHStA MK 63830 Gutachten vom 30. Dezember 1968. 526 Zitate aus BayHStA MK 64264 Gutachten vom 9. September 1960. 527 Vgl. BayHStA MK 64264 Gutachten vom 4. April 1964.

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Entscheidungswissen der Sachverständigen Bestimmte Aspekte in Gutachten durch Markierungen am Rand oder Unterstreichungen hervorzuheben, war ein gängiges Mittel der Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums, um die für die Entscheidungsfindung über die Zulassung eines Lehrwerks wichtigen oder zusammenfassenden Aussagen der Sachverständigen herauszufiltern. So unterstrich beispielsweise der zuständige Referent in einem Gutachten zu einer gesamten Schulbuchreihe folgenden Satz: »Alle Bände sind wissenschaftlich gründlich fundiert, flüssig und klar geschrieben und für die Auffassungskraft der Schüler nicht zu schwierig. Sie sind als Ganzes für den Unterricht an unseren Schulen nur zu empfehlen.«528

Vor allem in jüngeren Zulassungsverfahren seit dem Ende der 1960er Jahre, verfassten die Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums auch zusammenfassende Berichte, die aus Zitaten der Gutachten bestanden. So zeigten zwar die beiden Gutachten zum vierten Band von ›Geschichtliches Unterrichtswerk für Realschulen‹ des Blutenburg Verlags keine Spuren einer Auseinandersetzung des Referenten mit dem Text, doch ein interner Bericht im Zulassungsverfahren zitierte aus beiden Gutachten. Der Referent filterte Schlüsselaussagen der Gutachten zu fachlichen, sprachlichen und didaktischen Kriterien und zog ein Fazit aus diesen Urteilen: »Da beide Gutachter zu einem abschließenden positiven Urteil gelangen, wird vorgeschlagen, das o.g. Buch zum lernmittelfreien Gebrauch an den bayerischen Realschulen zu genehmigen mit der Auflage, daß die in den beiden Gutachten genannten Mängel behoben und die Vorschläge berücksichtigt werden. Das überarbeitete Manuskript ist dabei unter Kenntlichmachung der vorgenommenen Änderungen mit Bezug auf das jeweilige Gutachten dem Staatsministerium vorzulegen.«529

Hinsichtlich der Frage nach geschichtskultureller Hegemonie im Prüfverfahren zeigt die Praxis der Gutachtenbearbeitung und -verwertung in den Zulassungsverfahren zweierlei auf: Sachverständige konnten erstens den Entscheidungsprozess der Zulassungsverfahren und die Richtung des Urteils vorgeben, da sie das zur Entscheidungsfindung notwendige Wissen im Gutachten erzeugten. Dass die Beamten des Kultusministeriums bei unterschiedlichen Positionen der Sachverständigen in der Regel eine dritte Person hinzuzogen, statt ein eigenes Urteil auf Grundlage divergenter Gutachten zu fällen, unterstreicht die Relevanz

528 BayHStA MK 63821 Gutachten vom 24. März 1953. 529 BayHStA MK 64265 Interner Bericht vom 11. April 1969.

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des von Sachverständigen erzeugten Entscheidungswissens.530 Verlage mussten zudem gegen das Gutachten oder bestimmte Aspekte des Gutachtens Stellung beziehen und konfligierendes Wissen erzeugen oder die Profession des Sachverständigen unterminieren, um auf den Entscheidungsprozess einzuwirken. Die Sachverständigen galten folglich als fachbereichsspezifische Experten mit hoher argumentativer Macht, da das von ihnen erzeugte Wissen, das Urteil des Referenten oder der Referentin durch eine fachlich begründete Stellungnahme steuerte. Die argumentative Macht der Sachverständigen und Beamten des Kultusministeriums war zweitens ineinander verwoben. Zwar lieferten die Sachverständigen das notwendige Entscheidungswissen, doch deren Auswahl sowie die Präformation der Wissensorganisation lagen im Kompetenzbereich des Kultusministeriums. Inhaltliche Schranken. Bayerische Landesgeschichte Die Beamten hielten sich bei programmatischen Aussagen zu inhaltlichen Fragen von Schulgeschichtsbüchern zurück und rekurrierten in der Regel auf Probleme im Manuskript oder bildungspolitischen Vorgaben. Neben dem Stoffverteilungsplan bzw. dem Lehrplan oblag vor allem die Darstellung der bayerischen Landesgeschichte einer spezifischen Kontrolle der Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums. Auf programmatischer Ebene äußerte sich ein Referent bei der Darstellung des Nationalsozialismus angesichts eines Gutachtens zu ›Grundriss der Geschichte‹ aus dem Klett Verlag. Der als Gutachter einberufene Oberstudiendirektor wollte zur Darstellung von »Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg […] keine Stellung nehmen«, da er die zeitgeschichtlichen Darstellungen generell nicht als Geschichte, sondern als Quellensammlung auffasste. Er lehnte das Lehrwerk ab, da es »im Grunde kleindeutsch-protestantisch orientiert« sei. Wegen des Verzichts auf eine bayerische Landesgeschichte durfte das Buch »an Bayerischen Schulen nur dann benützt werden, wenn eine eigene Bayer. Geschichte nebenher benützt« werde.531 Der Abteilungsleiter des Kultusministeriums lobte in einer dem Gutachten beigefügten Notiz die Lehrwerke des Klett Verlags für ihre ausgezeichneten Materialsammlungen. Gleichwohl sei der vom Historiker Hans Herzfeld verfasste Zeitabschnitt von 1850 bis 1950 »mit zu großer Breite und Ausführlichkeit dargestellt«. Ohne seine Befürchtungen zu konkretisieren, behauptete der Abteilungsleiter, dass die Behandlung der jüngsten Vergangenheit im Geschichtsunterricht ressentimentgeladen sei, weshalb sich 530 Zur Bedeutung von Entscheidungswissen in administrativen Verfahren siehe Affolter (2017). Zur Wissensproduktion in politischen Entscheidungsprozessen siehe Hagen-Demszky, Mayr und Sanaa (2009). 531 Zitate BayHStA MK 63819 Gutachten vom 20. November 1951. Hervorhebung durch Original durch handschriftliche Unterstreichung.

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der Unterricht auf Verfassungsgeschichte beschränken sollte: »Zu große Ausführlichkeit in der Darstellung der jüngsten Vergangenheit gibt allzuleicht Gelegenheit, politische Antipathien zu nähren.«532 Vermutlich meinte der Abteilungsleiter die Geschichte des Nationalsozialismus, doch ob er befürchtete, dass ressentimentbehaftete Lehrkräfte die Geschichte des Nationalsozialismus im Unterricht zur Propaganda nutzten oder die Behandlung des Themas eine kritische Haltung gegen die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des ›Deutschen Reichs‹ nährte, blieb unbeantwortet. In der Konsequenz veränderte sich die programmatische Haltung jedoch nicht: Der Nationalsozialismus sollte im Geschichtsunterricht kaum thematisiert werden. Der Verlag protestierte zwar gegen die Haltung des Kultusministeriums,533 doch die zuständige Referentin sah sich an das Gutachten gebunden, da der Sachverständige ein erfahrener Lehrer sei, der selbst Schulbücher veröffentlicht habe.534 Auch die Bedeutung der bayerischen Landesgeschichte in Schulgeschichtsbüchern war ein Kriterium, bei dem sich die Referentinnen und Referenten direkt gegen das Entscheidungswissen der Sachverständigen stellten. Den hohen Stellenwert der bayerischen Landesgeschichte betonte beispielsweise eine Ministerialreferentin, um die Ablehnung von ›Grundriss der Geschichte‹ zu begründen. Aus ihrer Sicht wurde die Landesgeschichte im Schulgeschichtsbuch nicht genügend thematisiert, weshalb der Lehrplan nicht umgesetzt worden sei. Aber auch wegen der Verantwortung vor dem Steuerzahler sollte die »tausendalte bayerische Geschichte« in der Kulturpolitik des Ministeriums berücksichtigt werden.535 Einen Monat vorher druckte das Kultusministerium auch einen Entschluss zum Stellenwert der bayerischen Landesgeschichte ab: »Die gründliche Kenntnis der bayerischen Geschichte muß […] als wesentlicher Bestandteil der staatsbürgerlichen Erziehung angesehen werden. Im Unterricht und zur häuslichen Arbeit sind die vom Staatsministerium als lernmittelfrei genehmigten Lehrbücher der allgemeinen Geschichte und der bayerischen Geschichte gleichmäßig heranzuziehen.«536

Die Ministerialreferentin setzte folglich den Entschluss des Kultusministeriums um, der bayerischen Landesgeschichte einen zentralen Stellenwert in der schulischen Erziehung und folglich auch in den Lehrwerken einzuräumen. Nachdem in den 1950er Jahren ergänzende Schulgeschichtsbücher zur bayerischen Geschichte zugelassen wurden,537 ging die Relevanz der bayerischen Geschichte 532 533 534 535 536 537

BayHStA MK 63819 Interne Notiz vom 10. August 1952. Siehe dazu auch Kapitel 2.4. Vgl. BayHStA MK 63820 Interne Notiz vom 8. Januar 1952. BayHStA MK 63820 Handschriftliche, interne Notiz vom 24. Oktober 1952. KMBL 1952a, S. 300. Lurz, Bayern in Geschichte und Gegenwart, 1956.

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zurück, blieb aber zum Ende des Untersuchungszeitraums ein gewichtiges Prüfkriterium. In mehr als jedem zweiten der untersuchten Zulassungsverfahren sprach mindestens ein Sachverständiger über den für die bayerische Landesgeschichte im Lehrwerk vorgesehenen Raum. So erkannte beispielsweise ein Gutachter in der »ausführlichen Behandlung der bayerischen Landesgeschichte […] ein großes Verdienst des Unterrichtswerkes.«538 Das besprochene Lehrwerk war die Neubearbeitung eines Mittelstufenbands für Höhere Schulen aus dem Verlag Blutenburg. In dem ablehnenden Gutachten zum berühmten Schmids ›Fragen an die Geschichte‹ aus dem Hirschgraben Verlag stellte einer der Gutachter auch einen »Totalausfall an bayerischer Geschichte« fest.539 Unter anderem deshalb wurde der Band nicht zugelassen. Die mangelhafte Repräsentation der bayerischen Landesgeschichte war selbst dann eine nicht passierbare Hürde, wenn das weitere Manuskript des Lehrwerks in höchsten Tönen gelobt wurde. Im Verfahren zur ›Reise in die Vergangenheit‹ ersuchte das Kultusministerium neben zwei Lehrkräften auch Kurt Fina, den Professor für Geschichtsdidaktik an der katholischen Universität Eichstätt, um je ein Gutachten.540 Während ein Gutachter monierte, dass die USA zu negativ und die UdSSR positiv dargestellt sei, da im Text behauptet wurde, dass in der USA Sklavennot und Rassenunruhen zum alltäglichen Terror wurden, wohingegen in der UdSSR unter Chruschtschow kein staatlicher Terror mehr vorhanden sei,541 lobte Kurt Fina das Lehrwerk überschwänglich als »das beste geschichtliche Unterrichtswerk für den Gebrauch an Hauptschulen, das gegenwärtig in der Bundesrepublik zur Verfügung steht«.542 Er versuchte zudem, die Bedenken zu zerstreuen, es behandle zu wenig bayerische Geschichte und biete zu viel Stoff.543 Allerdings erteilte das Ministerium die Zulassung des Bands dennoch nur, »wenn die Stoffülle begrenzt und die Belange der bayerischen Geschichte in stärkerer Weise berücksichtigt würden. Außerdem wäre jede einseitige Darstellung der Geschichte, wie im Beispiel der Geschichte der USA und der UdSSR zu vermeiden.«544

Die Referentinnen und Referenten agierten allerdings nicht willkürlich bzw. eigenmächtig, sondern interpretierten die Vorgaben des Kultusministeriums. Das zur Prüfung vorgelegte Lehrwerk erfüllte nicht die geschichtspolitischen Anforderungen des Kultusministeriums, da es weder den Kommunismus im Sinne des Entschlusses zur Behandlung des Totalitarismus verurteilte noch die bayerische 538 539 540 541 542 543 544

BayHStA MK 63836 Gutachten vom 14. Juni 1966. BayHStA MK 63831 Gutachten vom 14. November 1973. Vgl. BayHStA MK 64521 Briefentwurf des Kultusministeriums vom 4. Januar 1974. Vgl. BayHStA MK 64521 Gutachten vom 3. Dezember 1973. BayHStA MK 64521 Gutachten vom 26. Februar 1974. Vgl. BayHStA MK 64521 Gutachten vom 26. Februar 1974. BayHStA MK 64521 Briefentwurf des Kultusministeriums vom 30. April 1974.

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Landesgeschichte hervorhob. Allerdings nutzen die Beamten des Kultusministeriums ihren Ermessensspielraum aus, wenn sie bei Konflikten zwischen geschichtspolitischen Vorgaben und didaktischen Qualitätsmarken im Sinne der staatlichen Geschichtspolitik entschieden. Zusammenfassung Indem durch den Standardbrief bestimmte Aspekte bei Begutachtung von Lehrwerken vorgegeben wurden, schufen die Beamten des Kultusministeriums ein Dispositiv zur Regulierung der entscheidungsrelevanten Kriterien. Da diese Aspekte jedoch nicht näher bestimmt wurden, hatten die Sachverständigen bei der Ausformulierung und Anwendung der Vorgaben einen breiten Ermessensspielraum. Das hohe Maß an Eigenständigkeit ging mit der Kontingenz der Sachverständigen einher. Während die Beamten des Kultusministeriums dauerhaft mit Zulassungsverfahren betraut und durchgängig in jedem Entscheidungsprozess involviert waren, erfolgte die Einbindung von Sachverständigen nur sporadisch. Die Deutungsmacht des einzelnen Sachverständigen war im Vergleich gering, da der Großteil der als Gutachterinnen und Gutachter tätigen Lehrkräfte häufig nicht mehr als ein Lehrwerk prüfte, das den Nationalsozialismus behandelte. Die Ministerialbeamten stützen sich bei ihren Entscheidungen auf das Wissen, dass die Sachverständigen in den Gutachten bereitstellten. Die Freiheit der Gutachterinnen und Gutachter ermöglichte ihnen, die historischen Narrative in den Manuskripten zu beeinflussen. Gleichzeitig wirkten – ob dies intendiert war, lässt sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht beurteilen – die Referentinnen und Referenten durch die Auswahl der Sachverständigen auf die inhaltlichen Aspekte der Zulassungsverfahren ein, da die geschichtskulturelle Haltung sowie die Profession der Gutachterinnen und Gutachter mit ihren Beurteilungen der Manuskripte zusammenhingen. Dass Anschreiben infolge der Standardisierung nur durch einen gemeinsamen Beschluss im Kultusministerium verändert werden konnten, entpersonalisierte die Macht der Referentinnen und Referenten. Gleichwohl besaßen sie durch die Auswahl der Gutachterinnen und Gutachter indirekt argumentative Macht. Trotz anfänglicher Widerstände in den frühen 1950er Jahren setzte sich in der Praxis der Zulassungsverfahren eine Externalisierung argumentativer Macht auf die Sachverständigen durch. Eine dritte Gruppe der direkten Akteure fehlt noch: die Verlage und ihre Autoren. Im Folgenden sollen die Verlage als zivilgesellschaftliche Akteure der Zulassungsverfahren vorgestellt und anhand vierer Fälle Strategietypen im Umgang mit der staatlichen Kontrolle analysiert werden.

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2.4. Verlagsstrategien im Prüfverfahren Neben den Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums und den von ihnen bestellten Sachverständigen waren auch Verlage und deren Autorinnen und Autoren am Zulassungsverfahren beteiligt. Als kapitalistisch organisierte Unternehmen konnten Verlage zwar (geschichts-)politische Positionen vertreten, die dissident zur staatlichen Kulturpolitik waren, jedoch hatten diese zugleich ein unmittelbares Interesse an der Zulassung des Lehrwerks, um auf dem Schulbuchmarkt profitabel agieren zu können. Insgesamt siebzehn Verlage545 und eine dementsprechend höhere Anzahl an Autorinnen und Autoren waren in den untersuchten Zulassungsverfahren involviert. Im Folgenden werden anhand vier verschiedener Zulassungsverfahren die Bandbreite der verschiedenen Verlagsstrategien ausgelotet. Zweck dieser qualitativen Herangehensweise ist zweierlei: Zum einen wird aufgezeigt, welche konkreten Strategien Verlage wählten, um den Entscheidungsprozess zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Zum anderen wird die zentrale Position der Zulassungsverfahren als regulative Instanz des Schulbuchmarkts und des verlegerischen Handelns herausgearbeitet. Die Begriffe ›Daneben – Dagegen – Dazu - Damit‹ heben die tendenzielle Strategie des jeweiligen Verlags hervor. Die so gewonnene Taxonomie erlaubt keine Aussagen über die Wirkkraft der Verlagsstrategien im Zulassungsverfahren. Stattdessen wird der Rahmen des verlegerischen Handelns bei der Aushandlung geschichtskultureller Hegemonie im Zulassungsverfahren abgesteckt. Daneben: Oldenbourg-Verlag mit ›Geschichte unseres Volkes‹ Im Sommer 1949 beschloss der Oldenbourg Verlag546 die Veröffentlichung eines Volksgeschichtsschulbuches und gewann den Schulrektor Josef Scherl als Herausgeber der zweibändigen Reihe sowie einen weiteren Lehrer als Autoren des zweiten Bands. Es handelte sich dabei um die zunächst zweibändige, später 545 Die Verlage lauteten: Bayerischer Schulbuchverlag, Blutenburg Verlag, Braun Verlag, C. C. Buchners, Diesterweg, Dümmler Verlag, Hirschgraben, Klett, Kösel, Ludwig Auer Cassianeum, M. Lurz Verlag, Mundus, Oldenbourg Verlag, List Verlag, Pädagogischer Verlag Berthold Schulz, Pädagogischer Verlag Schwann, Westermann Verlag. 546 Oldenbourg gehörte in der Weimarer Republik zu den größten Schulbuchverlagen Süddeutschlands. Die Auftragsarbeit zur Verlagsgeschichte erzählt für die Zeit des Nationalsozialismus eine Geschichte genötigter Konformität: Der Verlag sei demnach »im Gezänk der Parteibonzen […] zum Prügelknaben« geworden, der sich passiven Widerstand nicht habe leisten können. Allerdings wurden bereits vor 1933 Bücher verfasst, die wegen der reaktionären Färbung nicht in der gesamten Republik zugelassen wurden, vgl. Wittmann (2008), S. 107–108. Eine Verlagsgeschichte von 1958 sparte die Zeit des Nationalsozialismus aus, abgesehen von der Zerstörung des Verlagsgebäudes bei Alliierten Luftangriffen im April 1945, vgl. Hohlfeld (1958), S. 63.

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vierbändige Reihe ›Geschichte unseres Volkes‹. Der Verleger reklamierte, schon bereits bei der Konzeption des Bandes Rücksprache mit dem Kultusministerium gehalten zu haben, um Wünsche der zuständigen Referentinnen und Referenten entgegenzunehmen.547 Im Sommer 1950 reichte der Verlag schließlich die Reihe mit der Bitte um Zulassung im Kultusministerium ein,548 obwohl der zuständige Ministerialrat wenig Aussicht auf Erfolg beschied, da auch der vom Kultusministerium gegründete Bayerische Schulbuchverlag ein Volksschulgeschichtsbuch plane.549 Der zuständige Ministerialrat wies schließlich darauf hin, dass beide Autoren seit 1933 Mitglied der NSDAP gewesen seien. Der Zweitautor sei bereits 1931 der NSDAP beigetreten. Das Kultusministerium werde jedoch kein Lehrwerk zulassen, das von einem ›Alt-Pg.‹ verfasst wurde, weshalb der Verlag vom kostspieligen Zulassungsverfahren absehen sollte.550 Der Verlag prüfte den Fall und kam zu dem Schluss, dennoch ein Zulassungsverfahren zu wagen. Beide Personen arbeiteten als verbeamtete Lehrkräfte, weshalb einer Zulassung ihres Buchs nichts im Wege stehe. Die vom Verlag eingeholten Gutachten zum Manuskript beschieden dem Lehrwerk eine hohe Qualität. Zudem könnte auch der Spruchkammerbescheid eingesehen werden, um etwaige Zweifel am Zweitautoren auszuräumen. Nach Rücksprache mit dem Kultusministerium entschied sich der Verlag, den inkriminierten Autoren nicht mehr zu auszuzeichnen, da das Ministerium aus »Besorgnis vor öffentlicher, politischer Kritik mit jederlei Entscheidungen über ein Geschichtswerk zögere.«551 Trotz ausbleibender Zulassung veröffentlichte der Oldenbourg Verlag das Lehrwerk und erhielt nach eigener Aussage zahlreiche unaufgeforderte, sehr positive Gutachten über das Werk aus allen süddeutschen Ländern.552 Trotzdem das Ministerium die Bitte zur Zulassung im Dezember 1950 ablehnte,553 strebte der Verlag im Januar 1951554 und im März 1951 erneut Zulassungsverfahren an. Im dritten Anlauf schickte der Oldenbourg Verlag zudem die Bittschreiben von 28 bayerischen Lehrkräften um Zulassung des Lehrwerks mit.555 Der Verlag versuchte anscheinend, das Zulassungsverfahren zu umgehen. Angeblich versehentlich zeichnete der Verlag in einem vom Verband der Bayerischen Schulbuchverlage gemeinsam veröffentlichten Prospekt die beiden Bände der Reihe ›Geschichte unseres Volkes‹ als lernmittelfrei zugelassen. Auf 547 548 549 550 551 552 553 554 555

Vgl. BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlag vom 30. August 1951. Vgl. BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlags vom 26. Juni 1950. Vgl. BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlag vom 30. August 1951. Vgl. BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlags vom 30. August 1951. BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlags vom 30. August 1951. Vgl. BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlags vom 30. August 1951. Vgl. BayHStA MK 64517 Brief des Kultusministeriums vom 13. Januar 1951. Vgl. BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlags vom 16. Januar 1951. Vgl. BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlags vom 8. März 1951.

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die Rüge des Kultusministeriums und der Richtigstellung im Amtsblatt reagierte der Verlag mit einem Brief, der den Zulassungsprozess detailliert schilderte. Im gemeinsam vom Verleger und den Autoren verfassten Brief wurde behauptet, »daß der Verlag sich nur selbst schadet, wenn er absichtlich ein noch nicht genehmigtes Lehrbuch als lernmittelfrei bekanntgibt. Es hat sich hier also um ein offensichtliches Versehen gehandelt, das der Verlag bedauert und dessen Richtigstellung er sofort veranlasst hat.«556

In der Novemberausgabe der ›Bayerischen Schule‹, dem Magazin des BLLV erschien 1950 eine wohlwollende Rezension des ersten Bands von ›Geschichte unseres Volkes‹. Der mit K. L. gezeichnete Artikel druckte auch Auszüge aus dem Band ab und rühmte den Band als gelungenes Arbeitsbuch für den Geschichtsunterricht.557 Zwei Jahre später urteilte ein nicht gezeichneter, im Stil werbender Artikel, dass das Lehrwerk »für die Hand unserer Schüler« gut geeignet sei und sich im Unterrichtseinsatz verdient gemacht habe.558 Die beiden Artikel hoben sich gegenüber den kurzen Notizen veröffentlichter Lehrwerke bei Konkurrenzverlagen deutlich ab. Die Zeitschrift wurde im Oldenbourg Verlag publiziert, was eine Einflussnahme des Verlags auf die Buchbesprechungen nahelegt. Das Kultusministerium rügte die Herausgeber, da die Rezension suggeriere, dass der Band im Unterricht eingesetzt werden dürfe, obwohl das Buch nicht lernmittelfrei zugelassen sei.559 Trotz der Beteuerung ließ sich der Oldenbourg Verlag nicht davon abhalten, einer Bestellung der Stadt Nürnberg nachzukommen, die als Sachbedarfsträger der Volksschulen bereits im März 1951 insgesamt 5 550 Ausgaben für 48 der 52 in Nürnberg vorhandenen Volksschulen erwarb. Die Bestellmenge hatte einen Gesamtwert von 10 000 DM. Das Schulbuch galt in Nürnberg als lernmittelfrei zugelassen, was ein Stadtrat dem Kultusministerium mitteilte, nachdem dort im September 1951 der Kauf des Lehrwerks aus staatlichen Mitteln entdeckt wurde.560 Nach Auskunft des Regierungsschulrats von Mittelfranken sprach die Stadt Nürnberg die lernmittelfreie Zulassung bereits im September 1950 aus, nachdem die Stadt eine »mündliche Zusage des Verlags Oldenbourg auf eine bevorstehende Zulassung des Ministeriums«561 erhielt. Monate bevor der (negative) Bescheid des ersten angestrebten Zulassungsverfahrens verfasst wurde, entschied sich der Oldenbourg Verlag, das Zulassungsverfahren zu umgehen, indem er auf Ebene der Bezirksregierung das Schulbuch als lernmittelfrei anpries und schließlich auch verkaufte. Gleichwohl 556 557 558 559 560 561

BayHStA MK 64517 Brief des Oldenbourg Verlags vom 30. August 1951. Hartmann (1952). o.N. (1952), S. 233. BayHStA MK 64518 Briefentwurf vom 6. August 1952. Vgl. BayHStA MK 64517 Bericht Stadtrat Nürnberg vom 26. September 1951. BayHStA MK 64517 Interner Bericht vom 9. September 1951.

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wusste der Verlag aus den Vorgesprächen mit den zuständigen Referentinnen und Referenten des Ministeriums vom Gegenwind angesichts der nationalsozialistischen Vorgeschichte des Verfassers und des Autors. Die zuständige Ministerialreferentin lehnte die Zulassung der Reihe nach einer selbstständigen Begutachtung der Manuskripte im April 1951 ab, da der Band nicht frei von einer nationalsozialistischen Geisteshaltung sei. Außerdem weise das Manuskript fachliche Mängel auf und überfordere die Schülerinnen und Schüler mit abstrakten Begriffen.562 Zudem fertigten zwei anonym gehaltene Personen je ein Gutachten an, das die Haltung der zuständigen Referentin stützte.563 Allerdings standen die zuständigen Beamten des Kultusministeriums auch in einem Interessenskonflikt, da das angesprochene Schulgeschichtsbuch des Bayerischen Schulbuchverlags auch von der Ministerialreferentin verfasst werden sollte, die das Zulassungsverfahren zum Lehrwerk des Oldenbourg Verlags beaufsichtigte.564 Die Affäre debattierte das Kultusministerium. Der Kultusminister wurde bereits 1950 nach der Veröffentlichung eines Erdkundebuchs für Volksschulen, das ebenfalls von sog. Alt-Pg. verfasst wurde, medial kritisiert, weshalb das Ministerium vor einer Veröffentlichung eines Schulgeschichtsbuch, an dem ein ›AltPg.‹ mitschrieb, zurückschreckte.565 Einige der Referenten bestätigten diese kritische Haltung gegenüber der Autorenschaft ehemaliger NSDAP-Mitglieder. In einer schriftlich festgehaltenen Debatte hielt ein Ministerialreferent fest: »Ein Pg. von 1931 dürfte bei allem guten Willen, der heutigen Zeit gerecht zu werden, doch zu sehr den Ideologien der vergangenen Zeiten verhaftet sein, als daß ein Buch, das der jetzigen Zeit in vollem Umfange gerecht wird, entstehen könnte.«566

Der Abteilungsleiter rügte allerdings diese grundsätzliche Ablehnung, da es sich beim Oldenbourg Verlag um einen traditionsreichen, bayerischen Verlag handelte, der zudem »sicherlich viele Tausende von Mark investiert« habe, um dieses Lehrwerk zu publizieren. Deshalb könne er nicht mit der Meinung eines einfachen Sachbearbeiters abgeblockt werden, zumal die hohe Anzahl von eingesandten Urteilen der Lehrkräfte eine tiefer gehende Prüfung hätte notwendig erscheinen lassen. Selbst das Ersuchen von zwei »Gutachten kann als eine solche

562 Vgl. MK 64517 Interner Bericht vom 2. April 1951. 563 Dass die Anonymität sogar im internen Umlauf beibehalten werden sollte, wurde von den Vorgesetzten stark kritisiert, siehe BayHStA MK 64517 Interner Bericht vom 19. Oktober 1951. 564 Vgl. KMBL 1957, S. 122. Das Kultusministerium riet, die sichtbare Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Schulbuchverlag zu minimieren, da dies eine zu große Angriffsfläche biete. Siehe BayHStA MK Interner Bericht vom 15. Mai 1951. 565 BayHStA MK 65417 Interner Bericht an den Staatsminister vom 12. Oktober 1951. 566 BayHStA MK 64517 Interner Bericht vom 18. September 1951.

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Rechtfertigung noch nicht angesehen werden.«567 Nach einer deutlichen Rüge am Verhalten des Sachbearbeiters568 wurden drei weitere, externe Gutachten eingeholt,569 die jeweils aus pädagogischen Gründen zu einem negativen Ergebnis kamen. Nach der Neubearbeitung des Lehrwerks wurde die Reihe ›Geschichte unseres Volkes‹ in Bayern 1955 lernmittelfrei zugelassen.570 Der Fall ›Geschichte unseres Volkes‹ offenbart ein extremes Beispiel verlegerischen Umgangs mit dem staatlichen Zulassungsverfahren: Indem der Verlag die Schulgeschichtsbücher als lernmittelfrei anbot und verkaufte, ignorierte er die hegemoniale Position des Ministeriums und umging in der Konsequenz den staatlichen Zwang des Zulassungsverfahrens. Der Verlag agierte in diesem Fall also am staatlichen Zulassungsverfahren vorbei. Dass dieses Verhalten möglich war und über Monate hinweg unentdeckt blieb, offenbart auch die im Schulbuchmarkt noch nicht durchgesetzte Bedeutung und Form des Zulassungsverfahrens. So versicherte sich weder das Kultusreferat in Nürnberg noch der Regierungsschulrat Mittelfrankens beim Kultusministerium über den Status der Reihe, sondern beide verhandelten neben dem Kultusministerium mit dem Verlag. Gleichzeitig wahrte das Kultusministerium trotz internen Auseinandersetzungen über den richtigen Umgang mit dem ›bayerischen Traditionsverlag‹ einerseits und dem Umgang mit der NS-Vergangenheit von Autoren andererseits nach außen seine hegemoniale Position, denn für die Bücher konnten die staatlichen Mittel keineswegs abgeschöpft werden. Gleichzeitig setzte das Kultusministerium trotz der Intervention von Verlag und Lehrkräften seine Position durch, die durch das Entscheidungswissen der zusätzlichen Gutachter untermauert wurde. Dagegen: Klett-Verlag mit ›Grundriss der Geschichte‹ Der aus Baden-Württemberg stammende, konservativ ausgerichtete Ernst Klett Verlag571 reichte 1951 seine bereits in anderen Bundesländern zugelassene Neubearbeitung des sog. Teubner‹schen Unterrichtswerks ›Grundriss der Geschichte‹ im Kultusministerium ein. Klett arbeitete dazu mit dem Offenburg Verlag, der nach dem Zweiten Weltkrieg als staatlicher Lehrmittelverlag in der 567 568 569 570

Zitate BayHStA MK 64517 Interner Bericht vom 18. September 1951. Vgl. BayHStA MK 64517 Interner Bericht vom 19. Oktober 1951. Vgl. BayHStA MK 64517 Briefentwurf vom 29. Oktober 1951. Vgl. BayHStA MK 64519 Interner Bericht vom 16. März 1955. Wenige Jahre nach der Zulassung des letzten Bandes, wurde die Darstellung des Nationalsozialismus zum Gegenstand der Kritik im Rundfunk. 571 Eine Geschichte des Schulbuchverlags und seines Gründers, Ernst Klett, gab dessen Sohn heraus. In dem Sammelwerk stammen der größte Teil der Texte aus der Feder Ernst Kletts. Klett (1981).

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französischen Besatzungszone gegründet und bald vom Klett Verlag aufgekauft wurde,572 sowie mit dem bayerischen Kösel Verlag zusammen, vermutlich um die Chancen der Zulassung in Bayern zu erhöhen.573 Das ursprünglich im Teubner Verlag verfasste Lehrwerk besaß vor 1933 hohe Popularität unter den Lehrkräften der Weimarer Republik und galt als das bedeutendste republikanisch ausgerichtete Schulgeschichtsbuch seiner Zeit.574 Dessen neu bearbeitete Wiederauflage fand in den Bundesländern, in denen das Werk zugelassen wurde, breiten Absatz. In Bayern wurde das Lehrwerk nicht zugelassen, da es die bayerische Landesgeschichte nicht gebührend berücksichtigte und der Geschichte des Nationalsozialismus zu viel Raum gab.575 Allerdings war diese Entscheidung aufgrund der offensiven Strategie des Verlags zunächst brüchig: Der Verlag reichte die Lehrwerke der Reihe zwischen Februar und März 1951 im Ministerium mit der Bitte auf Prüfung und lernmittelfreie Genehmigung ein.576 Das Ministerium hielt sich bis zum Herbst 1951 mit einer Begutachtung zurück, um die bisher nicht eingereichten Werke bayerischer Verlage berücksichtigen zu können.577 In dieser Zeit reichten dreizehn Schulen unaufgefordert Bittschreiben zur Zulassung der Reihe im Kultusministerium ein.578 Der Verlag äußerte in mehreren Schreiben, an die er weitere positive Gutachten bayerischer Schulen anhing, seinen Unmut angesichts des schleppenden Zulassungsverfahrens,579 weswegen eine Referentin es zunächst als »Unrecht« erachtete, »die Genehmigung zu verweigern oder noch länger zu verzögern.«580 Diese Einschätzung stieß im Kultusministerium jedoch auf geteilte 572 Die Geschichte des Offenburg Verlags endete 1951, nachdem der Klett Verlag die Schulbuchsparte komplett und damit auch die Reihe ›Grundriss der Geschichte‹ übernahm. Der Redaktionsleiter für das Fach Geschichte des Teubner Verlags, Gerhard Aengeneyndt, stieß bald nach Kriegsende zum staatlichen Offenburg Verlag und schließlich zum Klett Verlag, was die Übernahme der Schulgeschichtsbücher durch den Klett Verlag beförderte. Zum Verhältnis von Offenburg und Klett siehe Teistler (2017), S. 232–234. Aengeneyndt gründete 1950 die Zeitschrift ›Geschichte in Wissenschaft und Unterricht‹, die bis in die 1970er Jahre alleinstehend zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht vermittelte. Vgl. Blaschke (2010), S. 513–516. 573 So schätzte das der Verleger des C.C. Buchners Verlags die Zusammenarbeit der Verlage ein. BayWA F28/184-b Brief des C.C. Buchners Verlag an Autoren vom 20. Februar 1951. 574 Vgl. Blänsdorf (2004), S. 281. Zur Bearbeitung und Reichweite des ›Teubners‹ im Nationalsozialismus, siehe S. 317–322. 575 Vgl. BayHStA MK 63819 Interner Bericht vom 10. August 1952. Die Bemerkung listet die Schreiben der Schulen auf. 576 Vgl. BayHStA MK 63819 Briefe des Klett Verlags vom 17. Februar 1951 bis 30. März 1951. 577 BayHStA MK 63819 Interner Bericht vom 30. Oktober 1951. 578 Weitere fünfzehn Schulen – vierzehn davon aus Franken – baten zwischen Januar und April 1952 um die lernmittelfreie Genehmigung der Reihe, vgl. BayHStA MK 63820 Briefe 4. Januar 1952–27. April 1952. 579 Vgl. BayHStA MK 63819 Brief des Klett Verlags vom 18. August 1951 und vom 10. September 1951. 580 Zitate BayHStA MK 63819 Interner Bericht vom 30. Oktober 1951.

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Meinungen, weshalb ein Schulleiter die Oberstufenbände prüfen sollte.581 Laut dem im November 1951 eingereichten Gutachten war die Stoffmenge zu groß und die Sprache zu rational-distanziert. Der Schulleiter bemängelte aber vor allem das Fehlen einer bayerischen Landesgeschichte, weshalb er sich gegen eine Zulassung aussprach.582 Die Referentin sah sich an das Urteil des Gutachters wegen seiner Erfahrung als Lehrer und als Schulbuchautor gebunden.583 Das Verfahren wurde weiter verschleppt und dem Verlag erst im August 1952 das negative Urteil des Kultusministeriums mitgeteilt.584 Daraufhin ging der Verlag mit Gegengutachten und Stellungnahmen seiner namhaften Autoren der Reihe gegen den Entschluss vor. Der Historiker Hans Herzfeld,585 der bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit in die Lehrplanentwicklung Badens einbezogen war586 und als Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin dozierte, verfasste für den Klett Verlag den Abschnitt von 1850 bis zur Gegenwart. Daneben beteiligte sich auch der Münchner Professor Franz Schnabel, der dort seit 1947 den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte innehatte. In ihren Stellungnahmen problematisierten Verlag und Autoren zum einen die schulbuchpolitische Sonderrolle Bayerns in der Bundesrepublik, da »das Werk an nahezu 80 % aller höheren Schulen in allen deutschen Ländern, mit alleiniger Ausnahme von Bayern, eingeführt«587 sei. Zum anderen versuchten sie, die kritischen Einwände der Gutachter zu entkräften: So wurde beispielsweise mit Verweis auf die hauseigene Zeitschrift ›Geschichte in Wissenschaft und Unterricht‹ die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Ausrichtung des Lehrwerks be-

581 Vgl. BayHStA MK 63819 Handschriftliche Bemerkungen zur internen Notiz vom 30. Oktober 1951. 582 »Der Hauptgrund ist die völlige Außerachtlassung der Bayerischen Geschichte, die oft geradezu absichtlich an die Wand gedrückt ist. Wie soll man da jungen Menschen Heimatliebe und föderalistisches Verständnis beibringen können?« BayHStA MK 63819 Gutachten vom 20. November 1951. 583 Vgl. BayHStA MK 63820 Interne Notiz vom 8. Januar 1952. Der Gutachter schrieb bereits in der Weimarer Republik Lehrwerke, die auch im ›Dritten Reich‹ vermarktet wurden. Auch in der Nachkriegszeit war er als Autor tätig. 584 Nach außen wurde die Verzögerung des Zulassungsverfahrens damit begründet, dass die komplette Reihe noch nicht vorliege. Vgl. BayHStA MK 63820 Briefentwurf des Kultusministeriums an bayerische Schulen vom 13. März 1952. 585 Der Historiker Hans Herzfeld war während der Weimarer Republik Mitglied des ›Stahlhelm‹. Weil Herzfeld einen jüdischen Großvater hatte, war er im NS-Regime Repressalien ausgesetzt. In der Bundesrepublik war er Professor an der Freien Universität Berlin. Mit seinem Widerspruch zu Fritz Fischers Forschungen bzgl. der deutschen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, löste Herzfeld die sog. Fischer-Kontroverse aus, vgl. Große Kracht (2011b). 586 Vgl. Mayer (2008), S. 100–101. 587 BayHStA MK 63820 Brief des Klett Verlags vom 9. September 1952.

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gründet588 oder der Münchner Professor Franz Schnabel als Autor der beanstandeten Stellen ausgegeben. Überhaupt richteten sich laut Stellungnahme die Einwände des ersten Gutachters »allesamt gegen Prof. Schnabel, der arrivierter Historiker und Kenner des 19. Jahrhunderts ist, weshalb dem Gutachter in seinem Urteil nicht wirklich vertraut, sein Urteil dennoch geprüft werde.«589 Ausführlich argumentierte der Verlag schließlich in mehreren Einsendungen gegen Qualität und Inhalt der beiden Gutachten. Außerdem hob der Verlag den demokratischen Charakter des Lehrwerks und das Interesse der bayerischen Schulen an den Büchern hervor.590 In einem vom Verlag im Oktober 1952 eingereichten Gutachten einer bayerischen Lehrerin wurde ›Grundriss der Geschichte‹ mit dem zeitgleich im Zulassungsverfahren befindlichen sog. EbnerHabisreutinger des C. C. Buchners Verlags verglichen. Die Gutachterin lobte darin das Werk des Klett Verlags für die zeitgemäße Pädagogik sowie die adäquate Darstellung der Geschichte. Dementgegen sei Buchners Lehrwerk »noch nicht genügend distanziert, um zu neuen, aufbauenden Gedanken kommen zu können […].«591 Der Verlag reichte zudem ein von Hans Herzfeld verfasstes Gegengutachten ein, in dem Herzfeld den vom Ministerium bestellten Sachverständigen u. a. als Dilettant beschimpfte, der sich weder mit geschichtsphilosophischen Fragen und Methoden noch mit der Komplexität vieler historischer Phänomene der Neuesten Geschichte auskenne.592 Das Kultusministerium holte zeitgleich ein Gutachten für die Mittelstufenbände der Reihe ein, das ebenfalls die Leerstelle in der bayerischen Landesgeschichte sowie die Stofffülle der jüngsten Geschichte monierte, in der Wortwahl jedoch um einiges diplomatischer war.593 Der Verlag entgegnete erneut mit einem ausführlichen Gegengutachten, dem mehrere Berichte bayerischer Schulen anhingen, die das Lehrwerk auf eigene Kosten anschafften.594 Gerhard Aengeneyndt, der Chefredakteur des Klett Verlags, wurde im November auch persönlich im Kultusministerium vorstellig, um »Bescheid über die Bedingungen [zu] erhalten, unter denen eine Genehmigung in Frage kommen könnte.«595 Die 588 Der Verlag verweist in seiner Argumentation auf einen Aufsatz, der sich gegen die Flucht in die Kulturgeschichte nach 1945 aussprach. Weniger (1951). 589 BayHStA MK 63820 Brief des Klett Verlags vom 9. September 1952. 590 BayHStA MK 63820 Brief des Klett Verlags vom 9. September 1952. 591 BayHStA MK 63820 Gutachten vom 8. Oktober 1952. Aus Sicht der Referentin war das Verfahren jedoch bereits unumstößlich entschieden. Sogar eine »Erwiderung dürfte überflüssig sein, da sich aus dem Urteil über die vorliegende Auflage nichts ändert. Der Verlag kann das Werk in neuer Form wieder einreichen.« BayHStA MK 63820 Interne Notiz vom 21. Oktober 1952. 592 BayHStA MK 63820 Gegengutachten vom 30. August 1952. 593 BayHStA MK 63820 Gutachten vom 4. September 1952. 594 BayHStA MK 63820 Brief des Klett Verlags vom 22. Oktober 1952. 595 BayHStA MK 63820 Interner Bericht vom 29. Dezember 1952.

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Interventionen des Verlags blieben jedoch erfolglos. Zwar wurden die Stellungnahmen zur Kenntnis genommen, doch eine Genehmigung könne laut Abteilungsleiter erst dann in Aussicht gestellt werden, »wenn die Bücher in einer Neubearbeitung vorgelegt werden, die den bayerischen Stoffverteilungsplänen entspricht und bayerische Geschichte in gebührendem Maße berücksichtigt.«596 Zusammenfassend zeigte sich eine offensive Strategie des Verlags im Zulassungsverfahren, indem erstens mittels umfangreicher Gegengutachten und Stellungnahmen der Expertenstatus der Sachverständigen desavouiert und der Expertenstatus der eigenen Autoren dagegengestellt wurde. Zweitens wurde die Qualität und Notwendigkeit der Reihe durch die Forderungsschreiben bayerischer Lehrkräfte untermauert, die als indirekte Akteure der Zulassungsverfahren und gleichzeitige Adressaten der Lehrwerke zu unbefangenen Gutachten stilisiert werden konnten. Die offensive Strategie des Verlags zeigte sich in Ansätzen zwar bereits vor der Entscheidung des Kultusministeriums über die Zulassung der Reihe, im Drängen des Verlags und dem Weiterleiten von Forderungs- und Bittschreiben diverser bayerischer Lehrkräfte, doch sie entfaltete sich erst nach dem negativen Urteil des Kultusministeriums. Dementsprechend kristallisierte sich die Verlagsstrategie als Strategie gegen die Entscheidung des Kultusministeriums heraus, ohne die hegemoniale Position der Zulassungsverfahren infrage zu stellen oder gar zu umgehen. Damit: C.C. Buchners Verlag mit ›Ebner-Habisreutinger‹ Nachdem der C.C. Buchners Verlag 1927 das Sortiment des Carl Koch Verlags erwarb, avancierte Buchners bis 1933 zum gewichtigsten bayerischen Schulbuchverlag. Unter den erworbenen Lehrwerken war auch die Schulgeschichtsbuchreihe für Höhere Schulen, die nach dem Autor ›Ebner‹ genannt wurde. Der Verlag entwickelte die Reihe gemeinsam mit Josef Habisreutinger (Geschichte des Altertums, Geschichte der Neuzeit) und Karl Schmelzle (Geschichte des Mittelalters) weiter, was der Reihe den umgangssprachlichen Titel ›EbnerHabsireutinger‹ gab, das »fachlich anspruchsvoll, in den politischen Wertungen zurückhaltend national-konservativ«597 ausgerichtet war. Trotzdem die Reihe auch nach 1933 in hoher Auflage verkauft wurde, waren die Bände ›Geschichte des Altertums‹ und ›Geschichte des Mittelalters‹ die beiden einzigen von der USMilitärregierung nach 1945 in Bayern lizenzierten Lehrwerke im Bereich Geschichte.598 Für die Geschichte der Neusten Zeit, von 1890 bis in die Gegenwart, 596 BayHStA MK 63820 Briefentwurf des Kultusministeriums vom 23. Dezember 1952. 597 Blänsdorf (2004), S. 327–328. Zur Verlagsgeschichte des C.C. Buchners Verlags siehe Walther und Hein-Mooren (2007). 598 Teistler (2017), S. 125. Zur Schulbuchpolitik der US-Alliierten in Bayern siehe einführend Liedtke (1997).

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musste ein neues Schulgeschichtsbuch verfasst werden. Der Verleger, Wilhelm Ament,599 achtete sorgsam auf die Entwicklung des Schulbuchmarkts und gab seinem Herausgeber und Autoren immer wieder zu verstehen, dass eine zügige Einreichfassung aufgrund des Konkurrenzdrucks notwendig sei.600 Bereits im Oktober 1949 plante Ament, im Kultusministerium vorzusprechen, um den Band zur Neuesten Geschichte zuzulassen und die bisherigen Bände auch an Mittelschulen vertreiben zu dürfen.601 Nach einer internen Absprache mit der Referentin für Mittelschulen teilte das Kultusministerium dem Verlag mit, das der ›Ebner-Habisreutinger‹ auch dort verwendet werden dürfe.602 Gleichzeitig hielt das Kultusministerium andere Verlage davon ab, im bayerischen Schulbuchmarkt Fuß zu fassen. So versuchte nicht nur der Klett Verlag, sondern zeitgleich auch der Düsseldorfer Schwann Verlag vergeblich, die bayerische Zulassung einer Schulgeschichtsbuchreihe zu erhalten. Da bereits Lehrwerke für den Geschichtsunterricht genehmigt wurden, so im Antwortschreiben des Ministeriums, die entweder zur Verfügung stehen oder sich wenigstens »kurz vor der Fertigstellung« befinden, gebe es »kein Bedürfnis für die Genehmigung des vorgelegten Buches«.603 Das Zulassungsverfahren ermöglichte dem Kultusministerium folglich eine protektionistische Wirtschaftspolitik, indem die bayerischen Verlage privilegiert wurden. Dabei spielte die Praxis der regional vergebenen Lizenzierung von Lehrwerken und Verlagen durch die alliierte Militärregierung dem Protektionismus in die Hände, denn die außerbayerischen Verlage benötigten 1950 noch eine Lizenz, um Schulbücher vertreiben zu dürfen, weshalb sowohl der Klett als auch der Schwann Verlag mit dem bayerischen Kösel Verlag als Lizenzgeber für Bayern kooperierten.604 Dass der Klett Verlag bereits ein Lehrwerk für die Neueste Geschichte im Bayerischen Kultusministerium einreichen konnte, beeindruckte Ament, da er fürchtete, dass ein außerbayerischer Verlag in Bayern lizenziert werde oder durch den bayerischen Kösel Verlag eine Lizenz erhalte, um das ›Vakuum‹ auf dem Schulbuchmarkt zu füllen. Dagegen setzte er auf die protektionistische Wirtschafts- und Schulbuchpolitik des Kultusministeriums, die das Verfahren hinausgezögerte, »bis wir mit unserem

599 Ament war in der Weimarer Republik Mitglied der DNVP. Seit 1931 war Ament auch Mitglied des Stahlhelms und der Harzburger Front – zwei Organisationen, die Querverbindungen deutschnationaler und nationalsozialistischer Verbände herstellten. 1934 trat er der SA, 1937 auch der NSDAP bei. Blänsdorf (2004), S. 327, FN 149. 600 BayWA F28/184-b Brief C.C. Buchners Verlag vom 10. Februar 1951 und vom 20. Februar 1951. 601 BayWA F28/184-b Brief C.C. Buchners Verlag vom 29. Oktober 1949. 602 BayWA F28/184-b Brief des Kultusministeriums vom 18. September 1950. 603 Zitate BayHStA MK 63818 Briefentwurf des Kultusministeriums vom 27. November 1950. 604 Vgl. BayHStA MK 63818 Brief des Kösel Verlag an das Kultusministerium vom 15. November 1950.

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Ersatzwerk herauskommen können.«605 In der Tat verzögerte das Kultusministerium das Zulassungsverfahren von ›Grundriss der Geschichte‹ aus dem Klett Verlag aus »Rücksicht auf die bayerischen Werke«606, die zu dieser Zeit noch nicht eingereicht waren. Habisreutinger und Ament arbeiteten mit Walter Krick, einem Studienassessor an der Rupprecht-Oberrealschule in München, die von Josef Habisreutinger geleitet wurde, an dem Manuskript zur Neusten Geschichte. Bereits im Mai 1951 reichte der Herausgeber eine Fassung im Verlag ein, das von Ament selbst geprüft und nur in Details angepasst wurde. Die deutschen Außengrenzen sollten auf einer Karte von Europa aus dem Jahr 1950 anders markiert werden, da die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen gegen die bisherige Kennzeichnung protestieren werden. Ament wollte »in erster Linie die alten Grenzen einzeichnen und die okkupierten in besonderer Weise kenntlich machen.«607 Der vom Kultusministerium beauftragte Gutachter empfahl neben einer Stärkung der bayerischen Landesgeschichte auch den Umbau der Kapitel. Statt den Stoff in Krieg und Frieden einzuteilen, sei eine Ordnung des Inhalts in Staatsformen sinnvoller, denn die bislang angelegte Kriegsgeschichte »ist vom erziehlichen Standpunkt aus bedenklich.«608 Das Ministerium unterstützte den Gutachter und monierte bei der Wiedervorlage des Manuskripts die Stoffbeschränkung auf die politische Geschichte, statt auch die Wirtschafts- und Kulturgeschichte einzubeziehen.609 Nachdem der Verlag das Manuskript nahezu unverändert wiedervorgelegt hatte, reduzierte der zuständige Referent im Januar 1952 die Auflagen darauf, der bayerischen Landesgeschichte mehr Raum zu geben, einen kulturgeschichtlichen Abschnitt schülergerechter zu schreiben und manche stilistische Mängel zu beheben.610 Konzeptionelle Veränderungen waren nicht mehr notwendig, weshalb das Manuskript bereits wenige Wochen später wieder eingereicht werden konnte. Im März 1952 erteilte der Abteilungsleiter schließlich die lernmittelfreie Zulassung.611 In der Produktion und Zulassung des Bands ›Geschichte der Neuesten Zeit. 1890–1950‹ aus der Reihe ›Ebner-Habisreutinger‹ arbeitete der Verlag eng mit dem Kultusministerium zusammen. Zum einen wurde der Verleger bereits vor 605 BayWA F28/184-b Brief des Kultusministeriums vom 20. Februar 1951. 606 BayHStA MK 63819 Interner Bericht vom 30. Oktober 1951. 607 Eine Karte von Europa aus dem Jahr 1950 sollte aufgrund der politischen Macht der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen die deutschen Außengrenzen anderes markieren. Deshalb wollte Ament »in erster Linie die alten Grenzen einzeichnen und die okkupierten in besonderer Weise kenntlich machen.« BayWA F28/184-b Brief des Kultusministeriums vom 5. Mai 1951. 608 BayHStA MK 63819 Gutachten vom 12. Juni 1961. 609 BayHStA MK 63819 Briefentwurf vom 24. Oktober 1951. 610 BayHStA MK 63819 Interner Bericht vom 10. Januar 1952. Briefentwurf vom 16. Januar 1952. 611 BayHStA MK 63819 Interner Bericht vom 4. März 1952.

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der Autorenakquise und der Abfassung des Manuskripts beim Kultusministerium vorstellig, um die Planung des Bands abzusprechen. Zum anderen plante der Verlag die protektionistische Wirkung des Prüfverfahrens in seine Strategie ein, insofern das Ministerium die Zulassung konkurrierender Werke außerhalb Bayerns hinauszögerte, um dem C.C. Buchners Verlag den Vorzug zu gewähren. Die Strategie ging auf. Obwohl kaum Lehrwerke für den Geschichtsunterricht vorhanden waren, teilte das Kultusministerium dem Bonner Borgmeyer Verlag im August 1951 mit, dass die von ihm eingereichten Schulgeschichtsbücher nicht zugelassen werden, da »bereits genügend Bücher für den Geschichtsunterricht zur Verfügung stehen und eine zu große Zersplitterung vermieden werden muss.«612 Da auf dem Schulbuchmarkt bislang kein Lehrwerk für die neueste Geschichte an Höheren Schulen zugelassen war, versprach die wenigstens kurzzeitige Monopolstellung sowohl hohe Rendite als auch geschichtskulturelle Dominanz. Der C.C. Buchners Verlag konnte so das Zulassungsverfahren nutzen, um die Marktmacht im Bereich der Schulgeschichtsbücher Höherer Schulen zu sichern bzw. die gewichtige Stellung als Schulbuchverlag in der Weimarer Republik zu halten. Dazu: Bayerischer Schulbuch Verlag mit ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ Im März 1946 gründete das Kultusministerium in Absprache mit der US-Militärregierung den Bayerischen Schulbuchbuchverlag, der als staatlicher Verlag ohne Gewinnabsichten die Produktion neuer Schulbücher vorantreiben sollte. Der staatliche Einfluss wurde sichergestellt, indem das Kultusministerium sowohl den Verleger auswählte als auch die Mittel des Verlags zur Verfügung stellte.613 Als Verleger wurde Wilhelm Schindler eingesetzt.614 Der Verlag stellte insofern kein bayerisches Novum dar, als dass er auf den bereits 1775 gegründeten ›Bayerischen Zentralschulbücherverlag‹ zurückging, der bis 1849 Monopolstellung genoss, jedoch 1905 aufgelöst wurde.615 Zudem arbeitete Personal des Kultusministeriums mit dem Verlag an gemeinsamen Buchprojekten, was nach dem Protest einiger Verlage an der privilegierten und den Wettbewerb verzerrenden Position des Verlags zu vorsichtigerem Vorgehen des Ministeriums führte.616 So riet das Kultusministerium der Ministerialreferentin, die sichtbare 612 BayHStA MK 63819 Briefentwurf vom 2. August 1951. 613 KMBL 1946, S. 3. 614 An der Festschrift zu seiner Pensionierung im Mai 1975 trugen ehemalige Autorinnen und Autoren, Angestellte des Verlags und Beamte des Kultusministeriums bei und geben dadurch Einblick in die enge Zusammenarbeit von BSV und Ministerium. Schindler (1975). 615 Sauer (1998), S. 150–151. Zur Verlagsgeschichte des BSV siehe Umlauff (1978), S. 937–986. 616 Die privaten Verlage klagten 1948 gegen den Bayerischen Schulbuchverlag, da dieser mutmaßlich seine staatsnahe Stellung ausnutze, um zügig an Papierkontingente zu gelangen,

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Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Schulbuchverlag zu minimieren, da dies eine zu große Angriffsfläche böte.617 Nach einer lebhaften Landtagsdebatte beschloss das Parlament 1953 mit achtzig Stimmen, bei 76 Gegenstimmen die Abwicklung des bayerischen Schulbuchverlags, ohne sich auf die Form dieser Abwicklung einigen zu können,618 weshalb das Staatsministerium während des Untersuchungszeitraums entgegen der mehrheitlichen Position des Landtags am Bayerischen Schulbuchverlag als Regiebetrieb festhielt.619 Seit den 1950er Jahren erarbeitete der BSV eine vierbändige Mittelschulreihe für den Geschichtsunterricht, deren abschließender Band die ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittel- und Realschulen‹ umfassen sollte. Die Produktion der Reihe wurde von einem negativen Bescheid des zügig verfassten ersten Bands unterbrochen und der erste Band der Reihe erst ein Jahr später wieder vorgelegt,620 da der Verlag durch ein vergrößertes Autorenteam die Qualität der Reihe steigern wollte. Bislang arbeitete nur ein Autor, Direktor einer staatlichen Mittelschule, am vierten Band. Zwar konnte Eduard Steinbügel für den dritten Band gewonnen werden. Da der Verlag aber niemanden fand, der an den Bänden nachhaltig zu arbeiten bereit war, engagierte der Verlag zunächst besagten Rektor weiter.621 Auch der vierte Band der Reihe erhielt von den Sachverständigen ein negatives Urteil, wegen einer Vielzahl inhaltlicher Probleme. Diese Probleme führte einer der Gutachter auf die Haltung des Verfassers zurück, wohingegen der Zweitgutachter gerade diese nationale Ausrichtung begrüßte. Beide Sachverständige deckten auf, dass der Autor in weiten Teilen aus geschichtswissenschaftlichen Handbüchern und konkurrierenden Schulgeschichtsbüchern plagiierte und sprachen sich deshalb gegen eine Zulassung aus.622 Im Verlag zeigte man sich im Brief an den Autoren blamiert und bedauerte, das Manuskript vorher nicht geprüft zu haben. Angesichts der ernsten Lage wurde der Autor zur Aussprache in den Verlag gebeten.623 Dieser zeigte sich von den Gutachten unbeeindruckt, denn er habe das Manuskript absichtlich nur

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Autoren abwarb und Manuskripte zu großen Teilen von anderen Verlagen übernahm. Der Kultusminister erwartete vom BSV, zu diesen Anklagepunkten Stellung zu beziehen, siehe BayHStA ORH 1832 Brief des Kultusministers an den BSV vom 22. Januar 1949. In einem Protestschreiben des Verbands bayerischer Schulbuchverlage an die Regierung von Bayern kritisierten diese auch die dominante Rolle des BSV, siehe BayHStA StK 17595 Brief vom 3. Februar 1954. BayHStA MK Interner Bericht vom 15. Mai 1951. Vgl. Bay.Landtag 2/1950–1954, Protokoll 26. Februar 1953, S. 911–929. Vgl. BayHStA ORH 1833 Kultusministerium an Bayerischen Schulbuchverlag. Wirtschaftsordnung. Dienstanweisung für die Geschäftsführung vom 28. November 1960. Vgl. BayHStA MK 63821 Gutachten vom 10. Januar 1953. BayHStA MK 63822 Gutachten vom 25. Februar 1954. Zum Produktionsprozess der Reihe siehe BSV 462. Vgl. BayHStA MK 64262 Gutachten vom 4. April 1960. Gutachten vom 9. April 1960. Vgl. BayHStA BSV 462 Brief des BSV an den Autor vom 23. Mai 1960.

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oberflächlich bearbeitet, weil er eine schnelle Beurteilung wollte. Die attestierten Mängel seien innerhalb weniger Monate zu lösen.624 Der Verlag bedachte daraufhin einen Autorenwechsel und einen Neustart des vierten Bands mit Eduard Steinbügel, da der von ihm verfasste dritte Band vom Ministerium ohne jede Beanstandung genehmigt wurde und die innere Geschlossenheit der Reihe durch den gleichen Autor gewahrt sei.625 Nachdem der bisherige Autor die Arbeit am Manuskript verschleppt hat, trennte sich der Verlag endgültig und Eduard Steinbügel übernahm die Neufassung des vierten Bands.626 Steinbügel arbeitete mit Hochdruck am Manuskript, bis er im Februar 1961 eine Fassung im BSV einreichte, die Schindler bereits zwei Tage später an das Kultusministerium weiterreichte.627 Der Verleger entschied folglich erneut, das Manuskript ohne interne Prüfung dem Ministerium vorzulegen. Stattdessen wurde das Manuskript zeitgleich im Haus lektoriert und gemeinsam mit dem ersten der beiden im Kultusministerium verfassen Gutachten an den Autor weitergegeben.628 Das Ministerium ersuchte neben dem Mittelschullehrer, der bereits die erste Fassung begutachtete, auch das Institut für Zeitgeschichte um je ein Gutachten.629 Noch bevor das Gutachten des IfZ dem BSV vorlag, gab Steinbügel das redigierte Manuskript an den Verlag zurück. Der Lektor betrachtete den Text zwar wohlwollend, schlug jedoch vor, noch weitere Korrekturvorschläge des Gutachters zu bedenken und zwar »nicht so sehr wegen der sachlichen Wichtigkeit als vielmehr, um damit den guten Willen zu dokumentieren«630, denn durch das Einfügen eines kurzen Satzes oder Wortes könne eine Auseinandersetzung vorgebeugt werden.631 Nachdem allerdings das Gutachten des IfZ an den Autoren weitergleitet wurde, überlegte dieser wegen des desaströsen Urteils die Arbeit am Manuskript abzubrechen. Der Gutachter, der Historiker Hans-Dietrich Loock, sparte nicht mit Vorwürfen: Die mangelnde innere Geschlossenheit des Textes, das Fehlen einer pädagogischen Linie sowie die problematische Darstellung der politischen Funktion der Parteien in der Weimarer Republik, die einer demokratiestärkenden, politischen Bildung im Wege stehe, ließen Steinbügel an einem erfolgreichen Abschluss des Lehrwerks zweifeln.632 Schindler drängte daraufhin den Historiker, sein Gutachten zu entschärfen. Dieser willigte ein, seine Kritik zurückzuziehen 624 625 626 627 628 629 630 631 632

Vgl. BayHStA BSV 462 Brief des Autors an den BSV vom 19. Juli 1960. Vgl. BayHStA BSV 462 Brief des BSV an den Autor vom 29. Juli 1960 BayHStA BSV 462 Brief des BSV an Eduard Steinbügel vom 3. Oktober 1960 Vgl. BayHStA BSV 462 Brief des BSV an Kultusministerium vom 8. Februar 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 Brief des BSV an Steinbügel vom 28. April 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961. Gutachten des IfZ vom 9. Mai 1961. BayHStA BSV 462 Brief des BSV an Steinbügel vom 9. Mai 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 Brief des BSV an Steinbügel vom 9. Mai 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 Brief Steinbügel an BSV vom 28. Mai 1961.

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und auf zentrale Einwände am Text zu beschränken. Gleichzeitig ermahnte der Verleger seinen Autoren, dass ein Abbruch des Bandes dem Verlag ökonomisch schade, weshalb der Band unbedingt abgeschlossen werden sollte.633 Der Lektor des BSV vereinbarte mit Hans-Dietrich Loock, das Manuskript durchzugehen und die Kritik einzelner Passagen auf ein Tonband einzusprechen, was dann in den Text eingearbeitet werden solle.634 Nachdem Loock das Manuskript wieder begutachtete und insgesamt drei Tondokumente mit Korrekturhinweisen eingereicht hatte, war der Lektor überrascht von den Eingriffen und Wünschen des Historikers. Da »fast keine Seite des ursprünglichen Manuskripts ohne größeren Eingriff geblieben ist […] kann […] nun gar nicht mehr von der Autorschaft des Herrn Steinbügel allein«635 gesprochen werden. Zwar widersprach Loock dieser Einschätzung und verstand sich lediglich als Gutachter,636 doch sowohl Wilhelm Schindler als auch Eduard Steinbügel sahen hier so tiefgreifende Eingriffe in das Lehrwerk, dass es nicht mehr den Stil des ursprünglichen Autors trage.637 Zusätzlich zu den Tonbändern reichte Loock noch einen Text ein, der 21 Seiten konkrete Textvorschläge für die Umgestaltung des Manuskripts umfasste. Der Verlag übernahm diese Textvorschläge. Einige Abschnitte und ganze Seiten fehlen in der Quelle, da sie wahrscheinlich ausgeschnitten und in das Manuskript eingeklebt wurden. Zudem redigierten mehrere Hände den Text.638 Nach weiteren Auseinandersetzungen um das Manuskript lenkte Steinbügel schließlich ein und akzeptierte einen großen Teil der von Loock vorgebrachten Korrekturen. Der Historiker verlangte, das Manuskript nochmals dem IfZ zur Begutachtung vorzulegen, wenn seine Einwände nicht übernommen werden, was der Verlag unbedingt vermeiden wollte. Dagegen versprach Loock, seine Einwände vor dem Ministerium zurückzuziehen, wenn seine Korrekturwünsche weitestgehend berücksichtigt werden. Der Verlag übte daraufhin Druck auf den Autor aus, um den Band noch vor dem Erscheinen eines Konkurrenzwerks veröffentlichen zu können.639 Die Satzfahne wurde schließlich keinem Gutachter mehr vorgelegt, sondern vom Referenten des Ministeriums selbst geprüft und die lernmittelfreie Zulassung in Aussicht gestellt.640 633 634 635 636 637 638 639 640

Vgl. B BayHStA SV 462 Brief BSV an Steinbügel vom 12. Juni 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 Telefonprotokoll mit Loock vom BSV vom 23. Juni 1961. BayHStA BSV 462 Brief des BSV an Loock vom 28. Juli 1961. Das Tonband ist nicht archiviert. Vgl. BayHStA BSV 462 Brief Loock an BSV vom 31. Juli 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 Brief BSV an Steinbügel vom 9. August 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 Textkorrekturen vom 4. August 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 BSV an Steinbügel vom 26. September 1961. Vgl. BayHStA BSV 462 Brief des Kultusministeriums an BSV vom 31. September 1961. Zwischen 1962 und 1966 verkaufte der Verlag ca. 5500 Ausgaben des vierten Bands, was eine Neuauflage des Bands nötig machte. BayHStA BSV 462 Bericht der Buchhaltung vom 5. Februar 1963; 3. Februar 1964; 4. Februar 1965; 9. Februar 1966. Brief des BSV an Steinbügel vom 22. Februar 1967.

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Die Herstellung des Bands ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittel- und Realschulen‹ offenbarte eine das Zulassungsverfahren absichtsvoll in die Produktion integrierende Strategie des Verlags. Der Verlag reichte das Manuskript in beiden Zulassungsverfahren ungeprüft an das Kultusministerium weiter, obwohl das erste Verfahren zu einem blamablen Ausgang führte und der Verleger das Vorgehen nachträglich bedauerte. Der BSV integrierte das Zulassungsverfahren aus zeitökonomischen Gründen als Qualitätskontrolle des Manuskripts in den Produktionsprozess, statt die Produktion am Manuskript erst abzuschließen und dieses anschließend einer staatlichen Kontrolle zu unterziehen. Durch diese vermeintliche Zeitersparnis erhoffte der Verlag, den Band vor einem Konkurrenzwerk zu veröffentlichen. Der BSV argumentierte nicht gegen die Gutachten des Kultusministeriums, sondern nutzte das Verfahren dazu, die Qualität des Manuskripts zu prüfen und zu heben. Die Integration eines Gutachters als informeller Autor des Bands verschmolz Abfassung und Kontrolle des Schulbuchs in eine Sequenz. Zusammenfassung: Typen verlegerischen Umgangs mit dem Zulassungsverfahren Die Taxonomie ›Daneben – Dagegen – Dazu – Damit‹ verdichtet markante Strategien der Verlage auf distinkte Typen verlegerischen Handelns, die in ihrer Reinform allerdings nicht vorkommen, weshalb diese Bezeichnungen eher als tendenzielle Kategorien zu verstehen sind. Diese Strategien sind von Handlungen durchzogen, die jeweils anderen Kategorien zugerechnet werden können. So argumentierte der BSV im geschilderten Verfahren gegen die Interventionen von Hans-Dietrich Loock, kooperierte aber vor allem mit dem Gutachter des Ministeriums. Trotz der tiefgreifenden Einwände des Gutachters entschied sich der C.C. Buchners Verlag nicht dazu, das Manuskript des vierten Bands der ›EbnerHabisreutinger‹ Reihe umzuarbeiten, sondern reichte es lediglich mit kleinen Veränderungen erneut ein. Diese Handlung gegen das Zulassungsverfahren wurde stillschweigend vollzogen, statt mit Gegengutachten und Stellnahmen aufzuwarten. Aus der hier qualitativ gewonnenen Taxonomie kann auch nicht die Wirkkraft der Verlagsstrategien abgeleitet, sondern der Handlungsspielraum der Verlage im Zulassungsverfahren abgesteckt werden. Dieser Handlungsraum der Verlage kann auch in Graden der Akzeptanz der Zulassungsverfahren skaliert werden: Während der Oldenbourg Verlag im Zulassungsverfahren von ›Geschichte unseres Volkes‹ zunächst am Zulassungsverfahren vorbei direkt mit Schulen verhandelte und dementsprechend das staatliche Verfahren als Kontroll- und Ausschlussverfahren umging, integrierte der Bayerische Schulbuchverlag bei ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittel- und Realschulen‹ das Zulassungsver-

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fahren so stark in den Produktionsprozess, dass sich die Akteure nicht mehr sicher waren, ob der Gutachter zum Autor des Lehrwerks mutierte. Dementsprechend heben die hier gewonnenen Kategorien auch die unterschiedlichen Haltungen zu den Zulassungsverfahren in der verlegerischen Praxis hervor, die sich aus der kontingenten Wechselbeziehung von Verlag und Ministerium ergab und darauf zurückwirkte. Wenn das Kultusministerium das Zulassungsverfahren Anfang der 1950er Jahre dazu nutzte, die bayerischen Schulbuchverlage zu privilegieren, konnte der C.C. Buchners Verlag diesen Mechanismus in die Publikationsstrategie einbinden und dementsprechend vor dem Kultusministerium agieren. Eine vergleichbare Auffassung des bayerischen Zulassungsverfahrens war dem Stuttgarter Klett Verlag gar nicht möglich, weshalb er eine andere Strategie im Umgang mit dem Kultusministerium wählen musste. Demzufolge sind Verlagsstrategien im Zulassungsverfahren eher als situative Strategien zu fassen, denn als Strategien, die sich aus Prinzipien des Verlags speisten, was auch bedeutet, dass die gleichen Verlage in anderen Zulassungsverfahren durchaus eine andere Tendenz in ihrer Strategie verfolgten.

2.5. Zusammenführung I: Zulassungsverfahren als geschichtspolitisches Instrument des Bayerischen Kultusministeriums Die strukturelle Entwicklung der Zulassungsverfahren dokumentiert einen administrativen Bereich der bayerischen Bildungspolitik, der bis in die 1970er Jahre einem Regulierungsprozess unterlegen war. Dass die Beamten des Kultusministeriums für die Entscheidung über die Zulassung eines Lehrwerks externe Sachverständige zu Rate zogen, wurde von einigen Ministerialbeamten in den 1950er Jahren noch deutlich kritisiert. Durch die Regulierung des Verfahrens und die Externalisierung der Gutachten büßten die Beamten ihre monopolartige historische Deutungsmacht im Bereich der Schulgeschichtsbücher ein. Dennoch erkannten die Beamten die externen Sachverständigen bald als Expertinnen und Experten an, die das notwendige Entscheidungswissen zur Verwaltung der Schulbuchzulassungen lieferten. Die Referate des Kultusministeriums stützten ihre Entscheidungen auf die Ausführungen und Urteile der Expertinnen und Experten, was den Sachverständigen hohe argumentative Macht verlieh. Allerdings standardisierte das Kultusministerium die Urteilsbegründung, indem in den an die Sachverständigen verschickte Briefe Beurteilungskriterien aufgezählt wurden, und konnte durch die Auswahl der Sachverständigen zumindest indirekten Einfluss auf das Urteil im Gutachten nehmen. Inwiefern diese Möglichkeit allerdings in der Praxis tatsächlich bewusst wahrgenommen wurde, ist angesichts

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der lückenhaften Quellenlage zur Auswahl von Gutachterinnen und Gutachtern nicht zu eruieren. Sachverständige waren im Untersuchungszeitraum fast ausnahmslos männlich und stammten mehrheitlich aus München. Die Analyse einiger der am häufigsten herangezogenen Gutachter zeigte, dass sie seit mehreren Jahren als Lehrkraft unterrichteten und mitunter fachliche Expertise zur Begutachtung von Lehrwerken besaßen, was die Veröffentlichung eigener Lehrwerke oder historischer Arbeiten, die berufliche Funktion als Seminarlehrer, -leiter oder in einer höheren Stellung und meist auch die Beurteilung durch Vorgesetze nahelegen. Eine Lehrkraft war zum Ende des Zweiten Weltkriegs in einer antinazistischen Widerstandsgruppe aktiv, die meisten jedoch waren in verschiedenen NS-Organisationen Mitglied und übernahmen teilweise Ämter auf Offiziersebene. Die Aussagen der Gutachter zum Nationalsozialismus können sich in die Ergebnisse der historischen Generationenforschung einbinden lassen und deuten zudem einen Zusammenhang von individueller Erfahrung und historischer Deutung an. Neben Lehrkräften waren sporadisch auch das Institut für Zeitgeschichte und bei Schulgeschichtsbüchern der Volksschulen auch die beiden Kirchen sowie selten das am Ministerium installierte Ostkunde-Referat beteiligt, die innerhalb der ihnen zugesprochen Kompetenzen Einfluss auf den Entscheidungsprozess und die Gestalt der Schulgeschichtsbücher nehmen konnten. Den Zusammenhang von individueller Integration in den Nationalsozialismus und einer nachsichtigen Deutung des Nationalsozialismus bzw. gar die Transmission nationalsozialistischen Denkens bedachten die Beamten beim Auswahlprozess der Sachverständigen offenbar nicht, obwohl diese Problematik bereits zu Beginn der 1950er Jahre im Kultusministerium angesprochen wurde. Ein von einem sog. AltPg. verfasstes Schulgeschichtsbuch des Oldenbourg Verlags wurde zunächst nicht zugelassen, da die zuständige Referentin auch dann Residuen der NSIdeologie im Lehrwerk befürchtete, wenn der Autor sich nach 1945 vom Nationalsozialismus distanziert habe. Zwar unterlagen die Verfahren im Untersuchungszeitraum einem Prozess der Regulierung und Standardisierung, doch nach außen konnte das Kultusministerium die Eigenständigkeit des geschichtspolitischen Instruments wahren. Die Zulassungsverfahren wurden vor allem in den 1960er und frühen 1970er Jahren von mehreren Seiten infrage gestellt: Die Schulbuchverlage wollten das zeitaufwendige Verfahren abschaffen, da es eine Schranke im Produktionsablauf darstellte und ökonomische Einbußen brachte. Die GEW sah in den Zulassungsverfahren ein illegitimes Steuerungsinstrument des Staates, weshalb sie die Verfahren auf eine unabhängige Behörde auslagern wollten, die lediglich die Vereinbarung des Lehrwerks mit dem Grundgesetz prüfen sollte. Der BLLV sprach sich gegen die Verknappung des Schulbuchmarkts durch restriktive Zulassungsverfahren aus. Beide Lehrerverbände sowie die Schulbuchverlage argu-

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Entwicklung und Struktur der Zulassungsverfahren

mentierten u. a. mit dem hohen Stellenwert der Lehrerautonomie. Die Verlage befürchteten ökonomische Einbußen. Das Kultusministerium beanspruchte dagegen die Zulassungsverfahren zur Qualitätskontrolle. Die Entwicklung und Vermarktung neuer Schulgeschichtsbücher sollte progressiv wirken, weshalb neu zugelassene Lehrwerke eine Bereicherung des bisherigen Angebots darstellen mussten. Trotz dieser propagierten hohen Standards konnten Lehrkräfte zum Ende der 1960er Jahre auf ein nominell breites Angebot zugelassener Schulgeschichtsbücher zurückgreifen. In der Praxis kooperierten die Verlage mit dem Kultusministerium. In nur einem Zulassungsverfahren verkaufte der Verlag Schulgeschichtsbücher auf Basis der Lernmittelfreiheit am Zulassungsverfahren vorbei, was scheiterte, nachdem das Ministerium den Vorfall entdeckt hat. In verschiedener Intensität kooperierten die Verlage mit dem Kultusministerium und erkannten damit die Hegemonie der Institution an: Das Münchner Kultusministerium war ein Trichter, durch den alle Manuskripte geschickt werden mussten, um Aussicht auf lernmittelfreie Zulassung zu erhalten. Die Zulassungsverfahren können als ein administrativer Arm bayerischer Geschichtspolitik verstanden werden. Mit dem Begriff Geschichtspolitik bzw. Vergangenheitspolitik als zeitlich auf die frühen 1950er Jahre eingeschränkter Geschichtspolitik wird häufig entweder die symbolisch-öffentliche Funktion641 oder die administrative Funktion642 politischer Prozesse und Ereignisse mit historischem Bezug behandelt. In beiden Aspekten war das Zulassungsverfahren ein geschichtspolitisches Instrument, da es ein politisch gerahmtes administratives Verfahren zur Regulierung historisch aufgeladener, politisch funktioneller symbolischer Ordnungen im Medium Schulgeschichtsbuch war: Im Zulassungsverfahren kontrollierten die Beamten des Kultusministeriums sowie die ersuchten Gutachterinnen und Gutachter formal neben der didaktischen Qualität der Lehrwerke auch, ob die eingereichten Lehrwerke historische Deutungsangebote innerhalb der Grenzen der politisch gewollten historischen Erinnerung anboten. Diese pädagogischen Qualitätsmerkmale, Grenzen und Maßgaben der politisch gewollten historischen Erinnerung steckte das Kultusministerium durch die Lehrpläne sowie bestimmte Entschließungen zum Schulunterricht bzw. speziell zum Geschichtsunterricht sowie durch die insti641 Wolfrum und Bock (1999), S. 9. 642 Norbert Frei fasst unter Vergangenheitspolitik ein auf die erste Hälfte der 1950er Jahre beschränktes geschichtspolitisches Handlungsfeld der Integration ehemaliger Nationalsozialisten, gepaart mit der politischen und justiziellen Abgrenzung gegenüber einer ideologischen Restgruppe. Diese Politik konstituierte den antinazistischen Gründungskonsens der Bundesrepublik. Frei (2003b), S. 13–14. Leggewie und Meyer führten beide Funktionen von Geschichtspolitik zusammen, vgl. Leggewie und Meyer (2005), S. 18. Diese Zusammenführung wurde zwar von Birgit Schwelling begrüßt, die Umsetzung in der Methode jedoch als unzureichend kritisiert, da die Studie in der administrativen Dimension verharrt und damit die Dichotomie der Geschichtspolitik aufrechterhielt. Schwelling (2008), S. 105–106.

Zusammenführung I: Zulassungsverfahren als geschichtspolitisches Instrument

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tutionelle Anbindung von Entscheidungsträgen an das Zulassungsverfahren ab. So prüften die Gutachten die kindgemäße Sprache, lobten didaktische Entwicklungen und monierten fehlende didaktische Reflexion. Die politische Relevanz der Zulassungsverfahren offenbarten neben der Privilegierung bestimmter Interessengruppen (Kirchen, Heimatvertriebene) insbesondere die versuchten Eingriffe von Franz Josef Strauß (CSU) in das Verfahren, der das Zulassungsverfahren strukturell umbauen und stärker antikommunistisch ausrichten wollte. Die Eigenständigkeit des kultusministeriellen Verfahrens konnte der zuständige Minister auch wahren, indem er die bisherige antikommunistische Ausrichtung der Instanz hervorhob. Die Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern dienten so zur pädagogischen Reflexion und zur Umsetzung der geschichtspolitischen Interessen und Vorgaben des Bayerischen Kultusministeriums. Insgesamt entwickelte sich die Prüfung von Lehrwerken im Untersuchungszeitraum zu einer rechtlich festgelegten geschichtskulturellen Wiederholungsstruktur mit politischem Auftrag und hegemonialer Position im Feld der Schulgeschichtsbücher: Als behördliche Instanz gab das Kultusministerium den Rahmen der legitimen historischen Deutungsleistung in Schulgeschichtsbüchern durch Lehrpläne und Entschließungen vor und verhinderte durch das Zulassungsverfahren die Proliferation geschichtskultureller Aussagen. Verlage waren auf einen erfolgreichen Abschluss des jeweiligen Verfahrens angewiesen, um ihre Lehrwerke profitabel auf dem Schulbuchmarkt vertreiben zu können. In den Zulassungsverfahren strukturierte das Kultusministerium folglich eine ›Diskursarena‹, in der die beteiligten Akteure wiederholt – und zwar bei jedem Verfahren – um die Legitimität geschichtskultureller Aussagen rangen. Bereits die strukturelle Analyse zeigte eine ungleiche Verteilung historischer Deutungsmacht bei den Akteuren: Während die Referentinnen und Referenten durchgängig in jedem Verfahren involviert waren und schließlich über die Zulassung konkreter Manuskripte entschieden, waren Sachverständige nur partiell und viele Sachverständige zudem nur einmalig an den untersuchten Zulassungsverfahren beteiligt. Gegenüber den Verlagen und den Ministerialbeamten besaßen sie folglich geringe positionale Macht. Aufgrund ihres Expertenstatus und ihrer Funktion als Produzenten von Entscheidungswissen besaßen sie jedoch hohe argumentative Macht, da sie inhaltliche Bezüge und Deutungsmuster aufmachen, bewerten und Interventionen vorschlagen konnten. Diese argumentative Macht teilten sich die Sachverständigen mit den Autorinnen und Autoren sowie den Verlagen, die durch das eingereichte Manuskript sowie den Gegengutachten historische Deutungsmuster anboten und nachverhandelten.

3.

Inhalte aushandeln. Geschichte des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren

In den vorherigen Kapiteln wurden zunächst die Rahmenbedingungen der Zulassungsverfahren herausgearbeitet und dabei die normativen Grundlagen, personellen Konstellationen und Machtverhältnisse in den Zulassungsverfahren erörtert. Während Ministerialbeamte hohe positionale Macht besaßen, stellten die Sachverständigen das Entscheidungswissen in Form von Gutachten. Durch die Geschichtslehrpläne und die Richtlinien erhielten die Zulassungsverfahren einen geschichtspolitischen Auftrag, der sich auch auf Ebene der Strukturen und Akteure ausdrückte. Wie zeigte sich der geschichtspolitische Auftrag der Zulassungsverfahren in der Praxis? Inwiefern griffen das Kultusministerium und dessen Akteure in die Gestaltung von Schulgeschichtsbüchern ein? Welche pädagogischen Überlegungen waren für die Akteure leitend? Dem wird anhand von zentralen Konfliktfeldern bei der kommunikativen Aushandlung der Geschichte des Nationalsozialismus in Schulgeschichtsbüchern nachgegangen. Die Darstellung des Nationalsozialismus war für die Zeitgenossen im Untersuchungszeitraum wegen der eigenen Betroffenheit, den didaktischen Problemen und politischen Implikationen des Themenfelds ein heißes Eisen. Zudem konnten die Akteure der Zulassungsverfahren nicht auf eine tradierte Darstellung des Nationalsozialismus zurückgreifen, weshalb sich eine hegemoniale Geschichtskultur erst herausbilden musste. Dies ging schließlich mit einem erhöhten Konfliktpotential einher. Nachdem Zulassungsverfahren als ›Diskursarena‹643 in ihrer Struktur analysiert und die strukturellen Stärken und Schwächen der verschiedenen ›Kampfplätze‹ herausgestellt wurden, begeben sich die folgenden Kapitel in die konkreten Auseinandersetzungen und zeichnen die Wirkungsweise der staatlichen Schulbuchkontrolle als geschichtskultureller Hegemonieapparat nach. Dazu werden die fünf identifizierten Konfliktfelder (Weimar, Hitler, Antisemitismus, Bevölkerung und ›Drittes Reich‹ sowie Kriegsverlauf) in spezifischen Kapiteln (3.1. bis 3.5.) erörtert. In jedem Kapitel ist der Untersuchung der Zu643 Höhne (2005), S. 68.

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Geschichte des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren

lassungsverfahren jeweils eine Analyse der Schulgeschichtsbücher vorangestellt, um den Kontext zu explizieren, in dem sich die geschichtskulturellen Artikulationen der Akteure bewegen. Es zeigt sich, dass der Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus von einem antitotalitären Geschichtsverständnis geprägt und Hitler gleichsam der Fixpunkt vieler Auseinandersetzungen war. Wegen dieser zentralen Funktion in der Geschichtskultur wird vorgeschlagen, für den Untersuchungszeitraum von einer antitotalitären und hitlerzentrierten Geschichtskultur zu sprechen (3.6.). Die Persistenz der hitlerzentrierten Geschichtskultur wird im Anschluss an die Analyse der Konfliktfelder mit den fachlichen Überzeugungen der Akteure begründet (Kapitel 3.7.).

3.1. Weimars Ende: Wer hat Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus? Als komplexer historischer Bezugspunkt ragte die Vergangenheit der ersten deutschen Republik in die Gegenwart der bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnte hinein. Die Weimarer Republik war die historische Vorläuferin, in dessen Tradition sich die Bundesrepublik zwar stellte, jedoch mit dem Traditionsbestand auch brach, da die historische Erinnerung an die Republik erstens im engen Kontext zur »Schuld am Untergang der Demokratie und am Aufkommen Hitlers« stand644 und zweitens Ausdruck des antitotalitären Konsenses der Bundesrepublik in den Nachkriegsjahrzehnten war. In den politischen Debatten der 1950er Jahren kam ›Weimar‹ deshalb die »Rolle einer Legitimität stiftenden negativen Vergleichsfolie« zu.645 Das folgende Kapitel untersucht die Schulgeschichtsbücher und Zulassungsverfahren hinsichtlich des geschichtskulturellen Umgangs mit Schuld und Verantwortung am Ende der Weimarer Republik und am Aufstieg des Nationalsozialismus.

3.1.1. Schulbuchanalyse Eine der zentralen Fragen bei der Deutung der Geschichte des Nationalsozialismus bezog sich auf die Gründe und Ursachen für die Implementierung der nationalsozialistischen Herrschaft. Die historisierende Erklärung der nationalsozialistischen Machtübernahme und des Zweiten Weltkriegs bestimmte die

644 S. Ullrich (2011), S. 37. 645 S. Ullrich (2011), S. 38.

Weimars Ende: Wer hat Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus?

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Deutung der Weimarer Republik in den Nachkriegsjahrzenten,646 sodass die erste deutsche Demokratie in den untersuchten Schulgeschichtsbüchern nur selten einen eigenständigen Rang einnahm. Beispielsweise fasste Diesterwegs ›Grundzüge der Geschichte‹ von 1953 die Geschichte der Weimarer Republik auf sieben Seiten zusammen und ordnete sie dem Kapitel »Zwischen Diktatur und Demokratie 1919–1939« zu.647 Das 1959 veröffentlichte Volksschulgeschichtsbuch ›Aus deutscher Vergangenheit‹ führte die Geschichte der Weimarer Republik gar nicht auf. Im Inhaltsverzeichnis ist stattdessen nur »Zwischen den beiden Weltkriegen« zu lesen.648 In einem Lehrwerk für Höhere Schulen, dem 1964 veröffentlichten ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ des C.C. Buchners Verlags, fehlte eine geschlossene Darstellung der Weimarer Republik. Einzelne Aspekte wurden den Kapiteln »Das Ringen um die Neuordnung der Welt«, »Die Welt im Schatten von Versailles« und »Die Zeit der Diktatoren« zugeordnet.649 Im 1967 veröffentlichten Volksschulgeschichtsbuch des Oldenburg Verlags, ›Die Vergangenheit lebt‹ stand die Darstellung der Weimarer Republik unter der Überschrift »Von der Demokratie zur Diktatur«.650 Die paradigmatischen Titulierungen zeigen die Dominanz einer teleologischen Deutung der Weimarer Republik. Den Niedergang der Weimarer Republik erklärten die Schulgeschichtsbücher anhand mehrerer Ursachen, struktureller und akteursbezogener Bedingungen, die allerdings selten zusammengestellt aufgezählt und gewichtet, sondern in die historische Narration eingewoben waren. Im Untersuchungszeitraum stand die schulbuchbezogene Geschichtskultur zur Weimarer Republik unter einem antitotalitären Vorzeichen, demnach die Republik durch die Angriffe links- und rechtsextremer Verbände und Parteien (gemeinsam) zermürbt wurde. Die freiheitliche Verfassung der Weimarer Republik habe keinen Schutz gegen ihre Instrumentalisierung durch totalitäre Organisationen geboten, weshalb in der Verfassung bereits strukturelle Ursachen für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie lagen. Die gedeutete Vergangenheit legitimierte so das Bonner Grundgesetz und die antitotalitäre Ausrichtung der Bonner Republik, die im Adenauer-Erlass, in Parteienverboten und schließlich im Radikalenerlass während des gesamten Untersuchungszeitraums politische Praxis war.651 Seit der Mitte der 1960er Jahre wandelte sich die Ge646 Zur Weimarer Republik in der bundesdeutschen Geschichtskultur des Nachkriegsjahrzehnt, vgl. Ullrich (2009). 647 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 113–120. 648 Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1959, S. 4. Die Gliederung wurde in der Neuauflage von 1961 nicht beibehalten, vgl. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 4. 649 C.C. Buchners, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 328. 650 Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 4. 651 Adenauer-Erlass und Radikalenerlass richteten sich zwar formal gegen Rechts- und Linksextreme, in der Praxis wurden allerdings vor allem als linksextrem identifizierte Personen

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schichtskultur, indem vermehrt auch die deutschnationalen, selten die konservativen ›Steigbügelhalter‹ des Nationalsozialismus stärker in den Blick genommen wurden. Schließlich habe die Weltwirtschaftskrise das von den Reparationen und Gebietsabtretungen geschwächte Deutschland getroffen, dessen politische Akteure dem anschwellenden Totalitarismus nicht gewappnet waren. Auch in der Person Adolf Hitler sahen die Akteure der Zulassungsverfahren einen gewichtigen Faktor für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Wie die Akteure Hitlers Charakter und die Tragweite seiner Fähigkeiten diskutierten, wird in Kapitel 3.2. untersucht. Im Folgenden werden die Ergebnisse entlang dieser Deutungsmuster dokumentiert. Versailler Friedensbestimmungen Die bereits in den Titeln formulierte Darstellung der Weimarer Republik als Zwischenkriegszeit bauten die Schulgeschichtsbücher in ihren Darstellungstexten aus, wozu vor allem die Friedensordnung von Versailles diente. So resümierte C.C. Buchners ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ 1952, direkt im Anschluss an die Darstellung der Friedensbeschlüsse, dass »der Versailler Vertrag nicht den Beginn eines friedlichen Zusammenlebens der Völker bedeutete, sondern Ausgangspunkt zu neuer Verbitterung und zu neuem Hasse wurde.«652 Das im Lurz Verlag 1954 veröffentlichte ›Bilder aus deutscher Vergangenheit meinte, dass die »harten und finanziell unerfüllbaren Bedingungen des Friedensvertrages von Versailles (1919) und die Zerreißung der Donaumonarchie […] den Keim neuer Verwicklungen in sich«653 getragen habe. Die Autoren des 1967 veröffentlichten ›Die Vergangenheit lebt‹ waren sich sicher: »Ein Verständigungsfriede hätte der Welt unendliches Leid ersparen können.«654 Die teleologisch erzählenden Schulgeschichtsbücher erklärten diesen Ursachenzusammenhang von ›Versailles‹ und ›Drittem Reich‹ (bzw. dem Zweiten Weltkrieg) damit, dass diese Friedensbeschlüsse die nationalistische Stimmung in Deutschland befeuert haben. In der Revision der Friedensbeschlüsse seien sich die sonst zerstrittenen Deutschen einig gewesen: »Die Nation fühlte sich von den Siegern gedemütigt«655, hieß es in Kösels ›Geschichte für Realschulen‹ von 1971. »Das ganze Volk dachte damals wie sein Präsident«656 behaupteten die Autoren von ›Wir erleben die Geschichte‹ und meinten den Reichspräsidenten Friedrich Ebert, der empört die Friedensbe-

652 653 654 655 656

vom Staatsdienst ausgeschlossen, vgl. Histor (1992). Der Radikalenerlass traf vor allem (Hochschul-)Lehrkräfte, vgl. Mühldorfer (2014). C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 34. Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 158. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 74. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 62. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 170.

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dingungen zurückwies. Dieser Empörung schlossen sich die Autoren dann auch an, wenn sie im gleichen Buch vom ›unbarmherzigen Frieden‹ oder vom einseitigen Diktatfrieden der Siegermächte657 sprachen, dessen Konsequenzen »jedem Rechtsempfinden Hohn sprachen.«658 Die Schulgeschichtsbücher affirmierten die nationale Empörung über den Versailler Vertrag in der Weimarer Republik und ordneten ihn als nachvollziehbaren Reflex auf das demütigende ›Diktat‹ ein: Durch den Versailler Vertrag sei es den »Feinden der Demokratie und des Friedens […] leicht [gefallen], Haß und Fanatismus zu schüren«659 urteilte ›Wir erleben die Geschichte‹. In Oldenbourgs Volkschulgeschichtsbuch ›Die Vergangenheit lebt‹ endete der Abschnitt zum Versailler Vertrag folgendermaßen: »Die harten Bedingungen des Versailler Vertrages haben das deutsche Volk sehr erbittert und radikalen und uneinsichtigen Elementen in Deutschland viel Auftrieb gegeben.«660 Im Oberstufenband von ›Europa und die Welt‹ hießt es im Darstellungstext: »Hitlers vereinfachende Propaganda hatte insofern recht, als wirklich der erste Weltkrieg ›des Jahrhunderts Mutterkatastrophe‹ wurde, Versailles ›die Bedingung – wenn auch nicht der zureichende Grund! – für den zweiten Weltkrieg‹ (G. Mann).«661 Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ hielt 1955 fest, dass die »Todfeinde der Weimarer Republik im eigenen Land […] immer wieder durch die unversöhnliche Haltung der ehemaligen Feindmächte« Auftrieb erhalten haben.662 ›Grundriss der Geschichte‹ von 1958 setzte statt eigener Urteile Quellen britischer und französischer Provenienz ein, in denen die Vertragsbestimmungen verurteilt wurden. Gleichwohl stand in der zusammenfassenden Würdigung des Vertrags, der als »mühsamer abgerungener Kompromiss der Sieger« vergleichsweise wohlwollend beurteilt wurde, auch leise Kritik am deutschnationalen Urteil über Versailles: »Deutschland bedachte nicht, daß die aufgewiegelten Massenleidenschaften der Siegervölker sich nicht in wenigen Tagen der kühlen Vernunft des Staatsmannes unterordnen ließen. Es übersah in seiner Erregung, daß die Abmachungen nicht unabänderlich waren.«663 Der zuständige Autor, der Historiker Hans Herzfeld, vollbrachte dadurch nicht nur einen geschichtskulturellen Deutungswechsel, der auch die Perspektive der ehemaligen Siegermächte beleuchtete, sondern kritisierte auch die deutschnationale Reaktion als unvernünftig. In Diesterwegs ›Spiegel der Zeiten‹ ist 1972 zu lesen, dass der Vertrag zum innenpolitischen 657 658 659 660 661 662

Vgl. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 20. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 110. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 170. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 75. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 160. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 152. Hervorhebung im Original durch Kursivierung. 663 Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 108.

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Kampfmittel geworden und keine »abwägende Würdigung« zustande gekommen sei.664 Die untersuchten Schulgeschichtsbücher tradierten meist die nationale Empörung, sahen im Anstieg des nationalistischen Denkens aber einen wesentlichen, die Republik destabilisierenden Faktor. Diese Deutung verortete eine gewichtige Ursache für die Machtübernahme im Handeln der Siegermächte des Ersten Weltkriegs und deren ›Diktat von Versailles‹. Mängel der Verfassung Neben den Versailler Friedensbestimmungen als externe Ursache des ›Dritten Reichs‹ und schließlich des Zweiten Weltkriegs werteten Schulgeschichtsbücher häufig auch spezifische Vorgaben der Weimarer Verfassung als interne, strukturelle Bedingungen für den Untergang der Staatsordnung: In dem zu hohen Maß an Freiheit, dass die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919 den am kaiserlichen Obrigkeitsstaat politisierten Bürgerinnen und Bürgern gewährt habe, habe der Keim der politischen Verwerfungen seit der Weltwirtschaftskrise gelegen. Das 1952 veröffentlichte ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ drückte diese sog. Geburtsfehler-These folgendermaßen aus: »Jetzt wo das Volk die Möglichkeit hatte, die von ihm selbst geschaffene Verfassung zu seinem Wohlergehen zu gebrauchen, nahm die Mehrheit an der Politik keinen Anteil und machte von der Volkssouveränität keinen Gebrauch. Zugleich aber barg die Verfassung bei aller Fortschrittlichkeit einige bedenkliche Schwächen in sich. Einheit und Freiheit waren gewährleistet, aber nichts war vorgesehen zum Schutz dieser Freiheit. Nachteilig wirkte sich auch das Verhältniswahlrecht aus, das eine starke Zersplitterung der Parteien förderte.«665

Das Urteil zur Weimarer Verfassung atmete den Geist der Bonner ›wehrhaften Demokratie‹, die sich gegen ihren Missbrauch durch Parteienverbote wehrte und durch die 5-Prozent-Hürde und das Zweistimmensystem von Listen- und Verhältniswahlreicht aus den attestierten Fehlern der Vergangenheit lernte. Die Debatte um das Verhältnis von wehrhafter und zu freiheitlicher Demokratie avancierte mit den von der Großen Koalition 1968 beschlossenen, aber bereits seit den 1950er Jahren diskutierten Notstandsgesetzen zu einer grundsätzlichen Konfliktlinie der Tagespolitik. Die Notstandsgesetze sollten den Ausnahmefall regeln und sahen zur Abwehr drohender Gefahr, etwa Aufständen im Inneren, auch den Einsatz der Bundeswehr ohne eine parlamentarische Kontrolle vor. Der Artikel 48 der Weimarer Verfassung verlieh der Debatte um die Notstandsgesetze eine geschichtskulturelle Tiefendimension, indem im Zuge der Debatte über die Rückkehr des autoritären Staats auch diskutiert wurde, ob der Weg, den de664 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 46. 665 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 48.

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mokratischen Staat mit autoritären Mitteln zu retten, erneut geebnet werden sollte. Dadurch erhielt die Debatte laut Jörg Requate eine Scharnierfunktion zwischen der klaren Abgrenzung von ›Weimar‹ in den 1950er Jahren und der vorsichtigen Traditionssetzung von Bonner und Weimarer Republik ab den späten 1960er Jahren, da weniger die Behauptung der zu freiheitlichen Demokratie, sondern die Obrigkeitsstaatlichkeit der Weimarer Republik in den Vordergrund rückte.666 In der bundesdeutschen Nachkriegszeit zirkulierten, wohl auch angesichts der personellen Kontinuität in vielen staatlichen und medialen Schlüsselstellen, konservative Ressentiments gegen das parlamentarische Repräsentativsystem. Die Verfassung des Deutschen Reiches galt als parteiübergreifende Negativfolie und Begründungsmuster unterschiedlicher Verfassungsentwürfe. Gleichzeitig waren sich die nichtkommunistischen Parteien des verfassungsgebenden Parlamentarischen Rats trotz aller Differenzen in der historischen Deutung darin einig, dass es »vor allem die radikalen, ›totalitären‹ Kräfte von rechts und links gewesen seien, die die Weimarer Demokratie zerstört hätten.«667 Gegen die KPD gerichtet, leiteten die bürgerlichen Parteien daraus ab, Sicherungselemente in die Verfassung einzubauen. Zum geschichtskulturell vermittelten Demokratieverständnis der 1950er und 1960er Jahre urteilte der Historiker Hans Mommsen, dass nicht die konservativen Kräfte und ihr Zusammenschluss mit den Nationalsozialisten in die Verantwortung genommen wurden, sondern die demokratischen Bedingungen der Weimarer Republik: »Hitler wurde als Resultat einer ›Überdemokratisierung‹, als Produkt der Massendemokratie hingestellt und die Fiktion der bürgerlichen Rechten aufgegriffen, daß der Erfolg des Nationalsozialismus auf gesellschaftlicher ›Vermassung‹ und der plebiszitären Verblendung des Wahlvolkes beruht habe. Der Tatbestand, daß nicht die Wahlen, sondern eine Koalition der antiparlamentarischen Rechten Hitler an die Macht gebracht hatten, wurde demgegenüber oft geleugnet.«668

Angesichts der geschichtskulturellen Engführung auf die Mängel der demokratischen Rahmenbedingungen bei der Frage nach dem Scheitern der Weimarer Republik standen weniger die politischen Strategien der deutschnationalen und konservativen Verbände und Parteien, sondern die Verfassung in der Kritik.669 Für den Parlamentarischen Rat rückten deshalb 1948/1949 die Reform des Verhältniswahlrechts, die Reduktion des Bundespräsidentenamts auf repräsen-

666 667 668 669

Vgl. Requate (2003), S. 334. Ullrich (2009). S. 296. Mommsen (1998), S. 746. Dass die Einschätzung der Weimarer Verfassung mit dem Zeitgeist zusammenhing, zeigt sich im Kontrast zu jüngeren Urteilen. Zum 100. Jubiläumsjahr interpretierte Gusy sie als »gute Verfassung in schlechter Zeit«, siehe Gusy (2018).

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tative Aufgaben und die Absicherung der Grundrechte in den Vordergrund. Im Sinne der wehrhaften Demokratie sollte der an die Weimarer Republik gerichtete Vorwurf, den Feinden der Verfassung gleichen Schutz und gleiche Rechte wie den verfassungstreuen Bürgerinnen und Bürgern eingeräumt zu haben, nicht wiederholt werden und folglich das angebliche Übermaß an Freiheit wieder eingeholt werden.670 Den Erfolg der Bundesrepublik sicherte laut Hans Mommsen zum einen die Kontrolle die Besatzungsmächte in den Nachkriegsjahren, zum anderen der Wandel im Selbstverständnis der Parteien von Klientel- und Lagerparten hin zu milieuübergreifenden Volksparteien. Gerade von den konservativen Stimmen in der CDU/CSU wurde zunächst nicht erkannt, dass das Zusammenspiel von Opposition und Regierung erst eingeübt werden musste.671 Die freiheitliche Verfassung wurde von mehreren Bänden als gewichtige Ursache für den Fall der Weimarer Republik angeführt. Beispielsweise sah der 1953 veröffentlichte Mittelstufenband ›Europa und die Welt‹ im Verhältniswahlrecht und in ›Splitterparteien‹ ein Problem staatlicher Ordnung.672 Auch das 1955 zugelassene ›Geschichte unseres Volkes‹ hob die Zersplitterung des Parlaments als Grund für die Handlungsunfähigkeit des Staates in Krisenzeiten hervor.673 Für die Autoren von ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ aus dem Lurz Verlag gefährdete der »Einfluss der politisch unreifen Massen« die staatliche Ordnung.674 Auch das 1955 von Kösel veröffentlichte ›Geschichte für Mittelschulen‹ behauptete, dass die freiheitliche Verfassung nicht zur obrigkeitsstaatlichen Gesinnung der Deutschen gepasst habe, denn wegen der politischen Tradition war das Volk »gewohnt, regiert zu werden, nicht aber, sich selbst zu regieren«. Dieses Urteil diente zur impliziten Begründung der wehrhaften Demokratie: »[N]icht wenige bezweifelten schon damals [!], daß sie das richtige Fundament für ein neues Deutschland sei.«675 Zurückhaltender fasste der Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹ 1961 in Volksbegehren und Volksentscheid, Listenwahlrecht, der starken Stellung des 670 Vgl. Mommsen (1998), S. 747. Im Ausschuss für Grundsatzfragen und Grundrechte sah man sich beispielsweise der öffentlichen Kritik ausgesetzt, die Weimarer Verfassung zu sehr nachzuahmen, was brüsk zurückgewiesen wurde, vgl. Pikart und Werner (1993 | 2010), S. 980. 671 Vgl. Mommsen (1998), S. 750–755. 672 Vgl. Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelstufe, 1953, S 133. 673 Vgl. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 96. 674 Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 121. Der diffamierenden Rhetorik der ›unreifen Masse‹ lag wohl die konservative Haltung des elitären Denkens zugrunde, die im restaurierten Konservativismus der 1950er Jahre eine dominante Rolle einnahm. Vgl. Schildt (2009), S. 157–160. »Die Konservativen erwähnten das Einbrechen der Massen in die Geschichte mit Abscheu: Die Vermassung wurde einstimmig als das wesentliche Zivilisationsmerkmal im letzten Jahrhundert der europäischen Geschichte angesehen.« Solchany (1996), S. 380. 675 Zitate Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 151.

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Reichspräsidenten und den Notverordnungen die strukturellen Probleme der staatlichen Ordnung zusammen. Lediglich zum Verhältniswahlrecht übte der Band leise Kritik, wenn er in diesem Wahlverfahren die »Gefahr der Zersplitterung, die auf jede Regierungstätigkeit sich sehr hemmend auswirkte«, erkannte und bereits einen Grund für den Untergang der Republik während der Weltwirtschaftskrise andeutete.676 In Form von Arbeitsaufträgen ließ ›Geschichte unseres Volkes‹ von 1963 die Schülerinnen und Schüler in der fragmentierten Parteienlandschaft eine wesentliche Ursache der Diktatur erkennen: »2. Stelle Zusammenhang her zwischen Rückgang der staatstragenden Parteien und Sieg der Diktatur! 3. Bedeutung der Zersplitterung der Mittelparteien: je größer die Zersplitterung in der Mitte desto mächtiger …«677 Und 1972 band das im Hirschgraben Verlag veröffentlichte ›Unser Weg durch die Geschichte‹ die Staatskrise der Weimarer Republik in der Weltwirtschaftskrise an die ›zersplitterte‹ Parteienlandschaft, was das Aufblühen totalitärer Parteien beförderte.678 Die demokratische Ordnung der Weimarer Republik war aus Sicht der Schulgeschichtsbücher mit ursächlich für den eigenen Untergang und wurde neben der Friedensordnung von 1919 als gewichtige, strukturelle Bedingung für den Aufstieg und die Machtübernahme der Nationalsozialisten gedeutet. Dieser Deutungsmodus bereitete das Bonner Grundgesetz als Lehre aus den attestierten Fehlern der Weimarer Verfassung vor und sah in der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik eine Reaktion auf den 30. Januar 1933. Rechte ›Steigbügelhalter‹ oder totalitäre Angriffe? Die antirepublikanische Haltung in der Bevölkerung wurde zuweilen auch mit der ›Dolchstoßlegende‹ verbunden, wonach die angeblich unbesiegten deutschen Truppen erst durch die republikanischen Aufstände im Inneren geschwächt und zur Aufgabe genötigt waren. Die Dolchstoßlegende verband den Frust über die Kriegsniederlage und den Frieden von Versailles mit der Ablehnung einer demokratischen Staatsordnung, weshalb sie in der Gesellschaft der Weimarer Republik breite Rezeption fand. Die Schulgeschichtsbücher widersprachen ihr häufig und thematisierten stellenweise die historische Wirkmacht der von deutschnationalen Gegnern der Republik verbreiteten Dolchstoßlegende.679 In 676 677 678 679

C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe 1961, S. 152. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 86. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 73. Vgl. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 152. Westermann, Wege in die Welt, 1955, S. 208. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 116. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 103. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 61. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 111. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 74. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 98. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971,

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wenigen Fällen behaupteten die Schulgeschichtsbücher, dass lediglich die Nationalsozialisten die sog. Dolchstoßlegende verbreitet haben.680 Die antirepublikanische Einstellung deutschnationaler (und seltener konservativer) Kreise thematisierten manche der Schulgeschichtsbücher durchaus als relevantes Element für den Aufstieg des Nationalsozialismus und sprachen dabei insbesondere der Großindustrie eine gewichtige Rolle zu. Die wirkmächtige Verbindung von Deutschnationaler Volkspartei (DNVP), Großindustrie und Nationalsozialismus thematisierten die Schulgeschichtsbücher vor allem ab Mitte der 1960er Jahre anhand der sog. Harzburger Front, einem 1931 geschlossenem Bündnis verschiedener rechter und rechtsextremer Organisationen, das vom deutschnationalen Medienmagnaten Alfred Hugenberg initiiert wurde, um als Wahlbündnis den mit Notverordnungen regierenden Kanzler Brüning zu stürzen.681 Die Kooperation fußte auf der gemeinsamen Agitation rechter Verbände und der NSDAP und den angestrebten Volksentscheid gegen den YoungPlan, der eine Reform der Reparationszahlungen festlegte. Die Kampagne gegen den Young-Plan ging deutlich seltener in die Schulgeschichtsbücher ein.682 In falscher Chronologie ordnete der 1954 im Blutenburg Verlag herausgegebene Oberstufenband ›Europa und die Welt‹ der ›Harzburger Front‹ hohe Tragweite zu: »Seit der Pressemagnat Hugenberg mit Hitler die ›Harzburger Front‹ gegen den YoungPlan aufgerichtet hatte, war Hitlers Geltung als Führer einer (relativen!) nationalen Mehrheit und ›allein möglicher Erretter vor dem kommunistischen Terror‹ trotz mancher Wahlrückschläge nicht mehr zu erschüttern.«683

Das gemeinsame Bündnis gegen den Young-Plan kritisierte der Darstellungstext nicht, sondern stufte die im Young-Plan vorgesehenen Zahlungen selbst als »untragbar«684 ein. Gleichwohl erkannte der Band in den national gesinnten

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S. 83. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 54. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 75. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 88. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1963, S. 185. Siehe beispielswese Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelstufe, 1953, S. 146. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 161. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 132. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1959, S. 96. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 137–138. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 140. Westermann, Reise durch die Vergangenheit, 1965, 197. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 100. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 34. Die Schulgeschichtsbücher thematisierten beispielsweise die gemeinsame Propaganda gegen den Young-Plan und den mittelfristigen Nutzen der NSDAP, siehe BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 133. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 106. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 161. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 145.

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Industriellen der Groß- und Schwerindustrie sowie in den ostelbischen Großgrundbesitzern von Beginn an Förderer republikfeindlicher, völkischer Organisationen.685 Die deutsche Schwerindustrie war in Kösels ›Geschichte der Mittelschule‹ der entscheidende Akteur der letzten Tage der Weimarer Republik, da sie Hindenburg dazu überredete, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, weil »sie sich von Hitler eine Beilegung des Klassenkampfes erhoffte.«686 Eine ähnliche Motivation erkannte auch Renate Riemeck, die Autorin von ›Geschichte für die Jugend‹: Da die KPD in den Wahlen seit der Weltwirtschaftskrise immer mehr Stimmen erhalten habe, habe das Kapital die Furcht vor dem Kommunismus ergriffen: »Die reichen Großindustriellen fürchteten, daß die KPD die Macht ergreifen und sie um ihren Besitz bringen könnte. Deshalb unterstützten sie Hitler mit riesigen Geldsummen für seine Wahlpropaganda und seinen Parteiapparat.«687 In ›Wir erleben die Geschichte‹ hatten die Industriellen kein antikommunistisches, sondern ein schlicht ökonomisches Interesse an der Förderung der NSDAP. So finanzierten Industrielle die Propaganda Hitlers, weil er finanzielle Zusicherungen durch große Staatsaufträge nach der Machtübernahme gemacht habe.688 Die Wirkmacht und Rolle des deutschen Großkapitals wollte der Autor von ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ nicht klar einordnen und erlaubte sich stattdessen raunende Spekulation: »Welche Rolle im einzelnen Wirtschaftsführer und Mitglieder […] in diesen kritischen Tagen gespielt haben, ist nicht völlig geklärt. Sicher ist, daß die Parteikasse der NSDAP, die Ende 1932 leer gewesen war, plötzlich wieder über erhebliche Mittel verfügte.«689 Die Schulgeschichtsbücher im Gründungsjahrzehnt fokussierten insbesondere die Schwächen der Weimarer Verfassung, weniger aber die Stärke des rechten und rechtsextremen Milieus. Mitte der 1960er Jahre verschob sich zwar die historische Deutung, nachdem die Relevanz politischer Lager und Verbände in die historische Deutung der Weimarer Republik eingegangen war. In den 1962 veröffentlichten Richtlinien zur Behandlung des Totalitarismus im Unterricht codierten die Kultusministerien den antitotalitären Konsens der Bonner Republik und übertrugen ihn in die Bildungsinstitutionen. Schülerinnen und Schüler sollten zum Einsatz für die bürgerliche Demokratie und zur »Abwehr des Herrschaftsanspruchs des Totalitarismus«690 erzogen werden. Gleichzeitig sollte die »enge Verwandtschaft von Bolschewismus und Nationalsozialismus« als Hauptströmungen des Totalitarismus herausgestellt werden. Dies erforderte eine 685 Vgl. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 141–142. 686 Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 156. 687 Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 66. Siehe auch Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 197. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 85. 688 Vgl. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 186. 689 BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 144. 690 Vgl. KMBL 1962, S. 279–285.

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historische Darstellung, die KPD und NSDAP als gleichwertige Gegner und Gefahr des bürgerlichen Staats chiffrierte. Die Schulgeschichtsbücher setzten den antitotalitären Konsens der Bonner Republik um. So hieß es im Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹, dass Hugenberg in der NSDAP und der Person Hitler einen Partner im antirepublikanischen Kampf fand, um hinzuzufügen: »Aber auch die KPD bekämpfte den Young-Plan als einen ›Sklavenpakt‹, und so fand das Volksbegehren die verfassungsmäßig festgesetzte Beteiligung von über 10 Prozent der Wahlberechtigten.«691

Exemplarisch erkannte ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ des Bayerischen Schulbuchverlags in den links- und rechtsextremen Parteien ein grundsätzliches Problem der Weimarer Republik, da ihre Angriffe auf die Demokratie einer notwendigen Stabilisierung der Republik von Beginn an zuwiderliefen: »Die junge Demokratie hätte zu ihrer Festigung der Ruhe bedurft. Tatsächlich sah sie sich aber von Anfang an schweren Belastungsproben von außen und innen ausgesetzt. Im Innern waren es die extremen linken und rechten Parteien, die beabsichtigten, die Republik zu stürzen.«692

Im gleichen Duktus begann ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ 1952 das Kapitel, »Der Zusammenbruch der Weimarer Republik«, denn in der Wirtschaftskrise »wirkte sich nun der planmäßige, offen und versteckte Kampf aus, der von den extrem links und rechts gerichteten Kreisen schon seit Anfang gegen die Weimarer Republik geführt wurde«, was sich u. a. im Stimmenzuwachs bei Parlamentswahlen gezeigt habe. Die Motivation für die Wahl der NSDAP lag dann auch wieder in der KPD begründet, denn nicht der Wunsch nach einem antirepublikanischen Weg aus der Weltwirtschaftskrise, sondern aus »Furcht vor dem Bolschewismus nach russischem Muster wählte ein Großteil des Volkes die NSDAP.«693 Dass die Weimarer Republik von totalitären Kräften sturmreif geschossen und schließlich von der NSDAP eingenommen wurde, war eine durchgängige Deutung in den untersuchten Schulgeschichtsbüchern.694 691 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 106. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 29. 692 BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 83. 693 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 52. Die Wahl der NSDAP konnte als antikommunistischer Abwehr legitimiert werden. Ein Deutungsangebot, das wohl gerade im Systemkonflikt des Kalten Kriegs bedeutsam gewesen sein dürfte. 694 Neben den bereits genannten beispielsweise Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelstufe, 1953, S. 137. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 113. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 151–152. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1955, S. 211. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 152. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 64. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 123–124. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 178 und 186. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 82. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1971, S. 73. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 88–89.

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Vom Gros der Schulbücher wich der von Hermann Glaser und Helmut Altrichter 1969 veröffentlichte Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ ab. Die Autoren legten Wert auf den aus dem Kaiserreich tradierten »politische[n] Irrationalismus«695 der Beamten und Soldaten in der Weimarer Republik und erkannten darin ein grundlegendes Problem der staatlichen Ordnung,696 das in Krisensituationen aufzubrechen drohte. Die Ausführungen wurden noch mit ›Die Stützen der Gesellschaft‹, einem ikonischen Gemälde Georg Grosz‹ zur nationalistischen Haltung der bürgerlichen Eliten in Justiz, Militär, Presse und Universitäten von 1926 illustriert.697 Außerdem ging der Band auch auf die Rolle Bayerns als ›Ordnungszelle‹ und Biotop nationalistischer und rassistischer Organisationen ein, das auch der NSDAP in den ersten Jahren der Republik politische Freiräume geboten habe.698 Damit nahm das von Hermann Glaser und Helmut Altrichter verfasste ›Geschichtliches Werden‹ eine herausgehobene Position in den untersuchten Schulgeschichtsbüchern ein. Anhand der antikommunistischen Rechtsprechung in der Weimarer Republik bei gleichzeitiger Milde gegenüber rechtsextrem und nationalistisch motivierten Straften zeigte Kösels ›Geschichte für Realschulen‹ auf, dass die Justiz mit nationalistischen Richtern und Staatsanwälten durchsetzt gewesen war. Mit der Integration der Nationalsozialisten in die Regierungen der Länder ab 1932 haben die konservativen Eliten der NSDAP ermöglicht, »die staatlichen Organe zu unterwandern«, kritisierte der Band.699 Wenn andere Lehrwerke die national geformte, antirepublikanische Ausrichtung staatlicher Eliten thematisierten, dann beschränkten sich die Ausführungen auf wenige Zeilen.700 Im 1974 veröffentlichten ›Wir erleben die Geschichte‹ hieß es beispielsweise: »Typisch für jene Jahre des Zerfalls der Demokratie war es, daß die von rechtsextremen Gruppen begangenen Straftaten von der Justiz nachsichtig 695 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 98. 696 »Der neue Staat übernahm den Herrschaftsapparat des Kaiserreichs, seine Organisation und seine Menschen, die Verwaltungsbeamten, Richter, Offiziere. Sie alle bekannten sich zu korrekter Pflichterfüllung, nicht aber zu einer staatlichen Ordnung, die sie als Übergangszustand betrachteten. Entsprechendes galt im Bereich der Kirchen, Schulen und Universitäten. Im Bürgertum, das sich vielfach an obrigkeitsstaatliches Denken gewöhnt hatte, verbreitete sich nach dem politischen Umsturz die Angst vor einer sozialen Deklassierung. Daneben behielt der Adel durch seinen Grundbesitz eine starke Position im politischen Leben. Um einen geistig-sozialen Wandel des Volkes einleiten zu können, hätte es einer ungestörten Entwicklung bedurft, die der Weimarer Republik nicht vergönnt war.« C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 95. 697 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 105. 698 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 100. 699 Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 99–100. 700 Der Ausrichtung des Lehrwerks gemäß bot ›Fragen an die Geschichte‹ eine Quelle an, aus der man die Rolle der Reichswehr als Förderin des NSDAP in den letzten Jahren der Weimarer Republik herausstellen konnte, vgl. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte. 1979, S. 39.

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behandelt wurden; gegen die ›Roten‹ ging man schärfer vor.«701 Im Gegensatz zum Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ stellte der Text keinen Zusammenhang zwischen der Verfolgung politisch motivierter Straftaten und der politischen Haltung der Justiz her. ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ band seine Ausführung zur Reichswehr in das antitotalitäre Deutungsmuster ein: Da es der Republik nicht gelang, die monarchistisch geprägte Reichswehr »gesinnungsmäßig an sich zu binden oder auch nur wirksam zu kontrollieren«, habe diese sich zum politisch agierenden ›Staat im Staate‹ entwickelt, der nicht gezögert habe, »geheime Beziehungen zur Roten Armee zu unterhalten, und […] andererseits die Deutschnationalen und die republikfeindlichen Soldatenbünde« zu unterstützen.702 Dass Schulgeschichtsbücher die nationalistische Gesinnung der Staatsbeamten der Weimarer Republik in ihre Darstellungen aufnahmen, stand wohlmöglich im Kontext der Gründung und anfänglichen Erfolge der NPD infolge einer kleinen wirtschaftlichen Rezession Mitte der 1960er Jahre. Dem Sammelbecken nationalistischer Verbände und Akteure gelang bis 1967 der Einzug in sieben Landesparlamente. Auf die Rückkehr einer offen nationalistischen und geschichtsrevisionistischen Partei reagierte die demokratische Öffentlichkeit mit der Forderung nach verstärkter Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit. Nachdem die NPD auch in Hessen vor allem im ländlichen Raum Stimmen erhielt, forderte beispielsweise der Frankfurter Philosoph und Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno die »Entbarbarisierung des Landes« durch »mobile Erziehungsgruppen und -kolonnen von Freiwilligen.«703 Die mediale Öffentlichkeit diskutierte ein mögliches Verbot der NPD auch in Bezug auf die Weimarer Verhältnisse.704 Neben dieser geschichtskulturellen Unterfütterung tagespolitischer Entwicklungen kann auch ein geschichtstheoretischer Wandel vom Historismus zur Sozialgeschichte die veränderten Narrative erklären. So nahmen die Schulgeschichtsbücher sozialgeschichtliche Ansätze auf, welche die historische Wirkmacht sozialer Gruppen und Institutionen und die Relevanz wirtschaftlicher Interessen und Strukturen fokussierten.705

701 BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 90. Ebenso in List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 52. 702 Zitate Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 128. 703 Adorno (1970a), S. 98. 704 Kurt Becker sprach sich beispielsweise in der ZEIT gegen ein Verbot der NPD aus, denn anders als in der Weimarer Republik genieße man zwanzig Jahre Stabilität. Dem juristischen sei der politische Weg gegen die NPD vorzuziehen, vgl. Becker (1968). 705 Vgl. Nathaus (2012).

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Personengeschichte? Die untersuchten Schulgeschichtsbücher erzählten die Geschichte der Weimarer Republik entlang politischer Persönlichkeiten. Der erste Reichspräsident Friedrich Ebert, der Reichskanzler und Außenminister Gustav Stresemann, der monarchistische Reichspräsident Paul von Hindenburg sowie die drei Reichskanzler der Präsidialkabinette, Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher bildeten mit Adolf Hitler ein festes Ensemble in den Schulbuchdarstellungen. Mit dem Versailler Vertrag und der Weimarer Verfassung als strukturellen Wegmarken und der Aufnahme von Parteien und Verbänden und seltener auch sozioökonomisch gefasster Milieus und Klassen gingen die Schulgeschichtsbücher zwar auch über eine personenzentrierte Geschichtsschreibung hinaus, dennoch war das Handeln und Denken konkreter Persönlichkeiten ein gewichtiger Bestandteil bei der Erklärung für den Aufstieg und die Machtübernahme des ›Dritten Reichs‹. Die Schulgeschichtsbücher gaben der Biografie Adolf Hitlers und seinen demagogischen Fähigkeiten breiten Raum, um die Verbreitung und Verankerung der nationalsozialistischen Ideologie vor 1933 zu erklären.706 Ob die Politiker eine angemessene Antwort auf die sozioökonomischen Verwerfungen infolge der Weltwirtschaftskrise fanden und die NSDAP (und wegen des antitotalitären Deutungsmusters auch die KPD) wirksam bekämpften, lag in den Deutungsangeboten vieler Schulgeschichtsbücher auch in ihrer Persönlichkeit. Im Zentrum standen dabei Hindenburg und Brüning. Die historischen Urteile zu diesen politischen Persönlichkeiten waren in der geschichtskulturellen Kontroverse eingebunden, ob die politischen Träger der Republik sich gegen die Diktatur aufgebäumt haben, oder Totengräber der Demokratie gewesen sind. So sei es laut ›Wir erleben die Geschichte‹ verhängnisvoll gewesen, dass der von Alter und Krankheit geschwächte Hindenburg die sozioökonomischen Folgen der Weltwirtschaftskrise »nicht mehr überblicken konnte und seine Entscheidungen durch seine Umgebung bestimmt wurden.« Er habe den besonnen Zentrumspolitiker Brüning fallengelassen und mit Franz von Papen und Kurt von Schleicher »unfähige Männer« als Nachfolger berufen, da Papen entscheidend mitgeholfen habe, »Hitler an die Macht zu bringen.« Den Abschnitt betitelten die Schulbuchmacher mit »Das Versagen Hindenburgs«.707 In den Schulgeschichtsbüchern fungierte die starke Stellung des Reichspräsidenten wegen Hindenburg weniger als Bollwerk, sondern als Einfallstor der NSDAP in die staatlichen Stellen, da Hindenburg die Politik »von rechts« forderte und das Kanzleramt falsch besetzt habe. Allerdings haben Hindenburg Groß-

706 Siehe dazu das Kapitel 3.2. 707 Zitate BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 187.

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industrielle und Großgrundbesitzer zu dieser Politik gedrängt,708 während er die Tragweite der Inthronisierung Hitlers auf den Posten des Reichskanzlers nicht überblickt oder sie nur »schweren Herzens« vorgenommen habe.709 Die Bewertung Brünings stand im Kontext der Frage, ob seine Deflationspolitik und sein autoritärer, mit Notverordnungen durchgesetzter Regierungsstil den Niedergang der Republik besiegelt hat. Um ein historisches Urteil zu fällen, rekurrierten die Schulbuchtexte auch auf seine Persönlichkeit: Ebenfalls mit »Das Versagen Hindenburgs« betitelt, kritisierte die Neuausgabe von ›Wir erleben die Geschichte‹ 1974 Brünings Haltung und Handeln: Zwar ging es ihm um die »Bewahrung des Rechtsstaats gegen dessen Feinde von rechts und links«, doch er »spürte zu wenig, daß auch sein Regieren durch Notverordnungen eine Aushöhlung der parlamentarischen Ordnung mit sich brachte.«710 Brüning wurde als sachlicher Realpolitiker und autoritärer Gegner totalitärer Regime gezeichnet, wodurch er geschichtskulturell in den antitotalitären Konsens der Bonner Republik eingebunden werden konnte. Ähnlich apostrophierte ihn das 1953 veröffentlichte ›Grundzüge der Geschichte‹ als »nüchtern und gerecht denkende[n] Mann«, der mit seiner Deflationspolitik »vergeblich auf das Verständnis des Volkes« hoffte.711 »Lauter und nüchtern ging dieser überzeugte Katholik den Weg harter Pflichterfüllung, bereit, den Ansturm des Nationalsozialismus abzuwehren, auch auf die Gefahr hin, daß seine Politik unpopulär sei«, versah Hans Herzfeld im 1958 veröffentlichten ›Grundriss der Geschichte‹ den Reichskanzler mit einer Reihe deutscher Sekundärtugenden.712 In Diesterwegs 708 Vgl. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 161. Kösel, Geschichte für Mittelschulen 1955, S. 155–156. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 132–133. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 57. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 86–87. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 95. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 111. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1971, S. 101 und 104. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 89–90. 709 Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 166. Vgl. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 97. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 125. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 154. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 67. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 159. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 67. Kritisch verwies List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 56 auf Hindenburgs Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Hindenburgs Skrupel reichten demnach für eine milde Beurteilung nicht aus, da Hitlers antidemokratische Haltung bekannt gewesen sei, denn »der Reichspräsident als Hüter der Verfassung [hätte] niemals diesen Feind der Demokratie zum Reichskanzler machen dürfen.« Ähnlich auch BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 88.Ohne Charakterisierung Hindenburgs: Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 97. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1959, S. 96. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 55. Westermann, Reise durch die Vergangenheit, 1965, S. 197. 710 BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 87. 711 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 120. 712 Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 152.

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›Spiegel der Zeiten‹ von 1972 wurden Brüning und Hindenburg dagegen als dezidierte Antiparlamentarier beschrieben. Diese Einschätzung war mit der im Lehrwerk geäußerten Kritik einer mangelnden Abgrenzung gegenüber der NSDAP konform, löste aber die Scheidelinie Realpolitik – Populismus auf: Dass Hindenburg Brüning fallen ließ, erklärte das Lehrwerk nicht wie sonst üblich mit der Gegenwehr zur Agrarreform Brünings, sondern stellte die Entlassung Brünings in den Kontext seines Verbots von SA und SS. Seine Deflationspolitik kritisierte das Lehrwerk als Fehlerhaft und stellte die antizyklische Wirtschaftspolitik Keynes dagegen.713 In der Regel bemühten sich die Schulbücher allerdings darum, Brüning und Hindenburg als Gegner der Diktatur, wenn schon nicht als Freunde der Demokratie zu charakterisieren. In der Darstellung historischer Persönlichkeiten verbanden die Schulgeschichtsbücher anscheinend eine geschichtswissenschaftliche Würdigung historischer Personen, die im Kontext moralischer Erziehung das Handeln Einzelner bewertete, mit antitotalitären Deutungen zum Untergang der Weimarer Republik. Zusammenfassung Die Schulgeschichtsbücher wählten durchweg einen politikgeschichtlichen, multifaktoriellen Ansatz, um das Ende der Weimarer Republik und den Aufstieg der NSDAP bis hin zur Machtübernahme zu erklären. Die hegemoniale Geschichtskultur wertete und gewichtete den Versailler Vertrag als wesentliche externe Ursache und die zu freiheitliche Verfassung als essenzielle interne Ursache für die Instabilität der Republik. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der von den USA ausgegangenen, Deutschland hart getroffenen Weltwirtschaftskrise haben als zweiten externen Faktor neben der Versailler Friedensordnung den Stein des Niedergangs ins Rollen gebracht. Mit totalitärer Propaganda und blutigen Auseinandersetzungen haben schließlich links- und rechtsextreme Parteien die Weimarer Republik von Beginn an angegriffen. Dagegen diskutierten die Schulgeschichtsbücher weniger die Offenheit der konservativen Parteien und Personen für die antirepublikanische, autoritäre Politik, häufiger aber die Zusammenarbeit von DNVP und NSDAP. Ein Schulgeschichtsbuch wies auf die antiparlamentarische Haltung Brünings hin. Da die Verfassung keine Optionen für ein Verbot totalitärer Parteien vorgesehen habe, Grundrechte nicht abgesichert gewesen seien und die starke Stellung des Reichspräsidenten sogar das Parlament faktisch entmachten konnte, sei ein autoritärer Ausweg aus der Wirtschaftskrise strukturell bedingt gewesen. Da im mächtigen Amt des Reichspräsidenten ein greiser, den Einflüsterungen der Großindustrie ausgesetzter Reichspräsident gesessen habe, wurde der besonnene Realpolitiker Brü713 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 89–90.

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ning gegen die nationalistischen Reichskanzler von Papen und schließlich von Schleicher ersetzt. Im hegemonialen Deutungsmuster habe die Weimarer Republik der NSDAP strukturell und – spätestens nach dem Abgang Brünings – personell nichts entgegensetzen können. Die in Schulgeschichtsbüchern hegemoniale Geschichtskultur zum Niedergang der Weimarer Republik stand unter antitotalitärem Vorzeichen: Im Wechselspiel von wehrloser Verfassung und Angriffen von links und rechts sei die Republik von Beginn fragil gewesen, statt stabile Verhältnisse garantiert zu haben, was im Zuge der Weltwirtschaftskrise zum endgültigen Umsturz geführt habe. Durch diese historische Deutungsleistung zum Niedergang der Weimarer Republik legitimierte sich die antitotalitäre Politik der Bonner Republik.714 Dieser geschichtskulturelle Zusammenhang soll als antitotalitäres Deutungsmuster bezeichnet werden. Dass Schulgeschichtsbücher die Kooperation von Deutschnationalen und Nationalsozialisten ab Mitte der 1960er eher hervorhoben, markierte eine Tendenzwende in der geschichtskulturellen Hegemonie hin zu einer sozialgeschichtlich ausgerichteten, nationalkritischen Geschichtskultur,715 die sich der historischen Relevanz sozialer Gruppen öffnete und zeitgenössische, politische Kontroversen auf geschichtskultureller Ebene spiegelte.

3.1.2. Zulassungsverfahren Die Schulgeschichtsbücher boten eine multifaktorielle Erklärung zum Niedergang der ersten deutschen Demokratie und dem Aufstieg der nationalsozialistischen Diktatur an, deren Gründe und Ursachen in die Narration eingebettet waren. Im Zulassungsverfahren wogen die Gutachterinnen und Gutachter dagegen verschiedene Faktoren gegeneinander ab und explizierten den geschichtspolitischen Gehalt der Darstellungen. Dabei diskutierten die Akteure der Zulassungsverfahren die Versailler Friedensordnung und den Zusammenhang von Verfassung und totalitären Kräften in Bezug auf den Untergang der Republik.

714 Schildt (2009), S. 140–143. 715 Der deutschnational gesinnte Geschichtsdidaktiker Rudolf Raasch vermisste dann in analysierten Schulgeschichtsbüchern der 1980er Jahre hinsichtlich der Darstellung der Weimarer Republik die Hinführung zu nationaler Identität, vgl. Raasch (1988).

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Nationalismus und Friedensordnung Anfang der 1950er Jahre reichte der Klett Verlag die Neubearbeitung des populären Teubner’schen Unterrichtswerks ein, das in der Weimarer Republik als vorbildliches, republikanisch verfasstes Schulgeschichtsbuch galt.716 Im Gutachten zum Lehrwerk, das Klett als ›Grundriss der Geschichte‹ dem Bayerischen Kultusministerium vorlegte, bemängelte der Sachverständige, ein Schulrektor, der selbst auch als Schulbuchautor tätig war, »eine unbillige Verurteilung des deutschen Nationalismus bei gleichzeitiger Zurückhaltung gegenüber ähnlichen Erscheinungen in anderen Ländern.«717 Diese vermeintlich doppelten Standards manifestierten sich laut Gutachter auch in der Bewertung der Versailler Friedensordnung, denn in Darstellung und Urteil des Lehrwerks »geht die Objektivität zu weit. Versailles war ein Haß- und Diktatfriede, seine Konsequenz der 2. Weltkrieg.«718 Der Blick auf die Friedensordnung aus mehreren Perspektiven, das meinte der Gutachter wohl mit der zu weitreichenden Objektivität, sollte zugunsten einer nationalen Geschichtsschreibung verworfen werden. Autoren und Verlag wehrten sich gegen diese Kritik. Dass »nun beide Seiten ausgewogen dargestellt« sind, sei gerade der Vorteil gegenüber älteren Schulgeschichtsbüchern. Sie boten an, den psychologischen Folgen des Versailler Vertrags in der Weimarer Republik bei einer Neuauflage mehr Raum zu geben. Offensichtlich brüskiert verwarf Hans Herzfeld, der Autor des betreffenden Kapitels, die vom Gutachter eingeforderte »Darstellung als ›Haß- und Diktatfrieden‹«, da sie eine »primitive Vereinfachung« der historischen Zusammenhänge darstelle, die man »als indiskutabel für einen denkenden Menschen ansehen« müsse.719 Der Band wurde nicht zugelassen, weil das Lehrwerk die bayerische Geschichte nicht berücksichtigte, der Darstellung des Nationalsozialismus zu viel Platz einräumte und bayerische Verlage vom Kultusministerium zu Beginn der 1950er Jahre privilegiert wurden.720 Die Tragweite der Friedensordnung wurde von den Akteuren der Zulassungsverfahren immer wieder diskutiert. Auch ein vom IfZ beauftragter Gymnasialprofessor ging im Gutachten zu Oldenbourgs ›Geschichte für Realschulen‹ darauf ein. Ohne die französischen Sicherheitsinteressen transparent und nachvollziehbar darzustellen, sollte der Frieden von Versailles als »haßerfüllte Rache für 1871« gedeutet werden.721 Die nahezu deterministisch-teleologische 716 Vgl. Blänsdorf (2004), S. 281. Zur Bearbeitung und Reichweite des ›Teubners‹ im Nationalsozialismus, siehe S. 317–322. 717 BayHStA MK 63819 Gutachten vom 10. August 1952. 718 BayHStA MK 63819 Gutachten vom 10. August 1952. 719 Zitate BayHStA MK 63820 Stellungnahme des Klett Verlags vom 30. August 1952. 720 Erst zum Ende des Jahrzehnts konnten Schulen mit staatlichen Mitteln eine eigens für Bayern verfasste Bearbeitung erwerben. Siehe auch das Kapitel 2.4. 721 BayHStA MK 84268 Gutachten vom 28. Oktober 1972.

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Verbindung von Friedensordnung und Kriegsausbruch stellte dagegen ein Gutachter zum Volksschulgeschichtsbuch ›Aus deutscher Vergangenheit‹ infrage. Der Volksschulrektor zitierte aus dem Manuskript, das den Frieden als »›Anlass zu einem weiteren und viel schrecklicheren Kriege‹« bezeichnete, und kritisierte die Einseitigkeit dieser Aussage. Zwar stimmte der Gutachter damit überein, dass ›Versailles‹ in der Konsequenz »keinen Frieden gebracht hat«. Er widersprach aber der in der Formulierung transportierten Monokausalität, was die Schulbuchmacher offensichtlich beherzigten. In einer textgleichen, aber neu zugeschnittenen Ausgabe urteilte das Lehrwerk: »Der Vertrag von Versailles brachte nicht einen dauernden Frieden für die Völker, sondern war mit ein Grund [!] zu einem weiteren und viel schrecklicheren Kriege.«722 Im von Hermann Glaser und Harald Straube verfassten ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ forderte ein Gutachter bei den historischen Konsequenzen des Vertrags die Rolle der deutschen Bevölkerung stärker zu berücksichtigten. Nicht der Versailler Vertrag, wie er im Schulbuch herauslas, habe zum wirtschaftlichen Ruin und damit zu Hitler geführt, denn »die Geschichte des Nationalsozialismus war anfänglich kein Monolog, sondern ein Dialog zwischen Hitler und dem deutschen Volk.« In diesem Dialog erkannte der Gutachter die allgemeine »Anfälligkeit der heutigen Demokratie für die Diktatur«.723 In seiner weiteren Argumentation verwies der Gutachter auf Martin Broszat, den späteren Direktor des Instituts für Zeitgeschichte. Im zitierten programmatischen Aufsatz historisierte Broszat den Nationalsozialismus als »Ergebnis der deutschen Geschichte« und einer allgemein europäischen Tendenz, mit der Konsequenz, im Unterricht ein nüchternes Geschichtsbild zu vermitteln, das auch Schatten auf nationalgeschichtliche Figuren und Ereignisse warf.724 Mit der geschichtswissenschaftliche Autorität im Rücken forderte der Gutachter, das Verhältnis von Demokratie und Diktatur im betreffenden Kapitel als »Problem der deutschen und europäischen Geschichte« zu erörtern.725 Im historischen Urteil über den Versailler Vertrag verbanden die Akteure der Zulassungsverfahren zwei Perspektiven: Zum einen diskutierten sie die historische Wirkmacht der Friedensordnung für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Zum anderen reflektierten sie das aus der Weimarer Republik tradierte, revisionistische Geschichtsbild. So forderte beispielsweise ein Oberlehrer in seinem Gutachten, die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf französischer Seite hervorzuheben, da so der »gesteigerte Haß der Franzosen nach Kriegsende […] verständlich gemacht werden kann.«726 Ebenso empfahl ein weiterer Gutachter zu 722 723 724 725 726

Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1959, S. 93. Zitate BayHStA MK 64363 Gutachten vom 21. Januar 1960. Vgl. Broszat (1957), S. 534–535. BayHStA MK 64363 Gutachten vom 15. Dezember 1960. BayHStA MK 64526 Gutachten vom 26. April 1962.

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Kösels ›Deutschlands jüngste Vergangenheit‹, das Sicherheitsstreben aus französischer Perspektive herauszustellen.727 Ein Mittelschullehrer vermisste offensichtlich ein nationalistisch gerahmtes Urteil zur historischen Tragweite der Friedensordnung. Es sei im begutachteten Manuskript, dem von Kösel eingereichten Volksschulband ›Geschichte für Mittelschulen‹, zu zeigen, dass den Siegermächten »an einer allmählichen Gesundung Deutschlands nicht gelegen war« und sie damit »Strömungen – vor allem von rechts – begünstigten.« Insgesamt störte sich der Gutachter daran, dass im Manuskript in »einseitiger Weise der alliierte Standpunkt vertreten« wurde.728 Der Klett Verlag erörterte in einem Brief an das Bayerische Kultusministerium grundsätzliche Probleme der Schulbuchgestaltung, nachdem zugelassene Schulgeschichtsbücher revidiert werden sollten, um das darin enthaltene Geschichtsbild zum Nationalsozialismus zu prüfen. In diesem Brief problematisierte der Verlag auch das Verhältnis von politischer und kognitiver Dimension der Geschichtskultur in der Darstellung des Versailler Vertrags und fasste das Spannungsfeld in der Urteilsfindung zusammen: »Auf der einen Seite darf man nicht unterschlagen, wie verhängnisvoll der Versailler Vertrag sich auf die Geschichte der zwanziger Jahre bis zum Jahre 1933 ausgewirkt hat, auf der anderen Seite muß der Anschein vermieden werden, als seien nur ›die anderen‹ schuld.«729

Eine sinnvolle Darstellung der Zeitgeschichte sei aus Sicht des Verlags eine unlösbare Aufgabe, da den Schülerinnen und Schülern einerseits ein positives Nationalbild vermittelt werden solle, andererseits aber auch erklärt werden müsse, weshalb »dieses Volk sich 12 Jahre lang von Verbrechern leiten ließ«. In diesem Spannungsfeld stand auch die Zulassung von Oldenbourgs ›Die Vergangenheit lebt‹. Ein Mittelschulrektor und Seminarleiter forderte in seinem Gutachten, das »Verhalten der fremden Staaten« als Ursache des ›Dritten Reichs‹ stärker zu gewichten,730 was der Verlag allerdings verwarf: »Die Schuld fremder Staaten besonders hervorzuheben, könnte im eigenen Volk mißdeutet werden als Versuch, sich im Grunde frei zu fühlen von der eigenen Verantwortung.«731 Ebenso schlussfolgerte ein Mittelschullehrer zu dem unveröffentlichten Manuskript ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ aus dem BSV.732 Der Gutachter schloss sich dem »sehr harte[n] Urteil über diese Verträge und das Versagen aller

727 728 729 730 731 732

BayHStA MK 63845 Gutachten vom 4. August 1962. Zitate BayHStA MK 64272 Gutachten vom 3. Mai 1963. Zitate BayHStA MK 63844 Stellungnahme des Klett Verlags vom 23. März 1960. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 28. Mai 1967. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 20. Juli 1967. Weil das Manuskript wegen vielfachen Plagiats zurückgewiesen wurde und ein neuer Autor vom Verlag eingestellt wurde, ist unklar wie der bisherige Autor dieses Urteil formulierte.

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staatsmännischen Kunst« an, bezweifelte aber, »ob man eine solche Abrechnung in ein Schulbuch schreiben darf.« Das Urteil sei politisch fragwürdig. Die Friedensordnung dürfe nicht zum singulären Faktor für den Aufstieg der Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg ernannt werden, um einer revisionistischen Erklärung zum Aufstieg des Nationalsozialismus vorzubeugen, argumentierte der Lehrer. Dementsprechend diente das Urteil des Autors dazu, dass »wir uns um unser schönes deutsches Versagen herumdrücken.« Allerdings solle das Manuskript erwähnen, dass »die deutschen Unterhändler an den Verhandlungen in Versailles überhaupt nicht beteiligt worden waren.«733 Am neu verfassten Manuskript lobte besagter Gutachter die Darstellung des Versailler Vertrags und insbesondere die »Aufnahme der Stellungnahme eines britischen Historikers.«734 Das Lehrwerk zitierte die kritischen Worte des liberalen, politisch engagierten Historikers George Macaulay Trevelyan zum Frieden von 1919. Das Ziel Englands und Frankreichs hätte es demnach sein müssen, Deutschlands Fortleben als Demokratie zu gewährleisten, doch stattdessen wurde »die deutsche Nation […] erniedrigt« und »so phantastisch mißhandelt, dass sie ruiniert wurde, ohne daß ihre Gläubiger davon Vorteil hatten.« Der Mittelschullehrer sah in der von Versailles ausgehenden nationalen Kränkung der Deutschen den Keim für das ›Dritte Reich‹ und den Zweiten Weltkrieg. Obwohl Versailles in dieser historischen Deutung den Weg von der Republik in die Diktatur markierte, verwehrte sich der Gutachter gegen diese Geschichtsschreibung, da sie die deutsche Verantwortung an der Machtübernahme der Nationalsozialisten negierte. Im Spannungsfeld von vermeintlich historischer Wahrheit und dem politischem Auftrag, einem revisionistischen Geschichtsbild nicht das Wort zu reden, empfahl er, weniger Pathos und weichere Formulierungen für das Manuskript zu wählen.735 Davon setzte sich das Urteil des zweiten Gutachters an dem von Eduard Steinbügel verfassten Manuskript ab. Er kritisierte im historischen Urteil zum Versailler Vertrag, dass der Autor die nationale Empörung perpetuierte: »Wörter wie ›auslöschen‹, ›spalten‹ und Formulierungen wie ›wehrlose Besiegte mit Entsetzen erfüllen‹ sind hier unbedingt zu streichen; dasselbe gilt für die Behauptung, es habe sich um einen ›Vernichtungsfrieden‹ gehandelt.« Hans-Dietrich Loock, der Verfasser des Gutachtens und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, sah in der Affirmation nationaler Empörung auch die »sachlich falsch[e]« Darstellung,736 was ihm die Kritik am Manuskript erleichterte.

733 734 735 736

Zitate BayHStA MK 64264 Gutachten vom 4. April 1960. BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961. Zitate BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 43. BayHStA BSV 462 Gutachten vom 9. Mai 1961.

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Am vom Bayerischen Schulbuchverlag eingereichten ›Geschichte für Mittelschulen‹ kritisierte eine Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte grundsätzlich die Darstellung der Weimarer Republik und »die Entwicklung hin zum Nationalsozialismus«. Die gedrängte Darstellung betonte allzu sehr den Versailler Vertrag und die Weltwirtschaftskrise, »so dass der Eindruck entsteht, diese beiden außerhalb Deutschlands Einfluß liegenden Ereignisse seien allein verantwortlich für das Heraufkommen des Nationalsozialismus. Die schwierige innenpolitische Situation sowie die starken antidemokratischen Strömungen der Weimarer Republik finden zu wenig Berücksichtigung.«737

Die Sachverständigen bemühten sich darum, die historische Wirkung der Versailler Verträge reflektiert darzustellen. Diese Reflexion stand vor der Herausforderung, ein positives Nationalbild als sinnstiftendes Element kollektiver Identität anzubieten, ohne Ressentiments gegenüber den Siegermächten zu schüren oder gar die Verantwortung für das ›Dritte Reich‹ auszulagern. Zwar forcierten nur wenige Sachverständige einen nationalen Duktus, doch die Akteure der Zulassungsverfahren erkannten den nationalpädagogischen Zweck von Schulgeschichtsbüchern an. Hinsichtlich der Frage nach Schuld und Verantwortung für die historische Entwicklung zum Nationalsozialismus schälte sich ein geschichtskultureller Konsens heraus, der die historische Wirkung der Versailler Friedensordnung für den Aufstieg des Nationalsozialismus meist sehr hoch einschätzte. Von links und rechts zermürbt? Die Gutachterinnen und Gutachter diskutierten neben der Versailler Friedensordnung auch interne Gründe und Bedingungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Die Sachverständigen erörterten dabei, in welchem Maß die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919 den Aufstieg totalitärer Kräfte bedingte und eine demokratische Willensbildung konterkarierte. Ein Oberstudiendirektor und Schulbuchautor listete in einem Gutachten 1952 das Verhältniswahrecht, das wohlfahrtstaatliche Modell und die Unentschlossenheit der Parlamentarier in den letzten Jahren der Weimarer Republik als »ganz wichtige Gedanken« hinsichtlich des Scheiterns der Weimarer Republik auf, weshalb sie im Manuskript von ›Grundriss der Geschichte‹ aufzunehmen seien. Seiner Ansicht nach habe das Verhältniswahlrecht »zu einer Parteibonzenwirtschaft« geführt, die »zur Wahl einer von ›unsichtbaren‹ Händen geschrieben Liste« gezwungen habe. Der Wohlfahrtstaat hingegen habe den Bürger drangsaliert und entmündigt, da er »nach dem Motto der ›Planung‹ und ›Len737 BayHStA MK 64263 Gutachten vom 20. März 1968.

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kung‹« dem Bürger »alles vorschreibt« und gleichzeitig »jeder alles [von ihm] erwartet« habe. Schließlich seien die Akteure der Republik zu langsam und unentschlossen gewesen, um »in Zeiten der Gefahr« zu handeln.738 Den »hemmungslosen Parteienkampf« des zersplitterten Parlaments sah auch ein Würzburger Lehrer im 1953 verfassten Gutachten zum Oberstufenband von ›Europa und die Welt‹ als gewichtigen Faktor des Niedergangs an, da die Uneinigkeit der Parteien »viele anständige Menschen, die in keiner Weise radikal eingestellt waren, in Hitlers Lager getrieben« habe.739 In seiner Stellungnahme zum Gutachtern delegitimierte der Historiker Hans Herzfeld die Haltung des Gutachter, indem er ihm offensichtliche Unkenntnis über die »sehr ausgebreitete Diskussion zu dem Problem« attestierte.740 Die in den Schulgeschichtsbüchern durchgängig geäußerte ›GeburtsfehlerThese‹, wonach der Untergang der Republik in den Schwächen der Weimarer Verfassung gelegen habe, wurde in den Gutachten der 1950er Jahre nicht weiter thematisiert, was einen geschichtskulturellen Konsens nahelegt. Erst nachdem der Zeitgeschichte im Zuge der neuen Lehrpläne von 1959 und 1963 mehr Platz eingeräumt wurde, diskutierten die Sachverständigen die historische Wirksamkeit der Reichsverfassung von 1919. Mitunter ordneten die Sachverständigen die Verfassung hinsichtlich der antitotalitären Staatsräson der wehrhaften Bonner Demokratie ein.741 So empfahl ein Schulrat im Gutachten zu Oldenbourgs ›Geschichte unsers Volkes‹ von 1962, »[i]m Zusammenhang mit der Präsidialregierung Hindenburgs unter Brüning« aufzuzeigen, welche »Schwächen die Weimarer Verfassung enthält und wie diese Fehler im Grundgesetz vermieden wurden.« Denn die Lehre aus dem Umschwung von der Republik zur Diktatur ist für besagten Schulrat die wehrhafte Demokratie, die sich gegen den »Mißbrauch demokratischer Mittel durch Feinde der Demokratie« immunisiert habe.742 Ein solcher Missbrauch stellte für den Gutachter des Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹ des C.C. Buchners Verlags, beispielsweise der von DNVP und NSDAP angestrebte Volksentscheid zum Young-Plan dar. Im Hinblick auf die politische Bildung sollte das Lehrwerk nämlich nicht nur auf die Möglichkeit zum Volksentscheid in der Weimarer Republik, sondern »auf den Mißbrauch, welchen Hitler und Hugenberg während der Kampagne gegen den Young-Plan 738 739 740 741

Zitate BayHStA MK 63819 Gutachten vom 10. August 1952. BayHStA MK 63836 Gutachten vom 13. April 1953. BayHStA MK 63820 Stellungnahme vom 30. August 1952. Dem antitotalitären Gründungskonsens der Bundesrepublik gemäß, wurde die im Grundgesetz vermerkte freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht positiv, sondern negativ, nämlich in Abgrenzung zu den totalitären Vereinigungen und Parteien definiert und die antikommunistische Innen- und Außenpolitik – etwa der Adenauer-Erlass, das Verbot der KPD oder die Nicht-Anerkennung der DDR – abgeleitet, vgl. Wippermann (2009), S. 35–38. 742 BayHStA MK 64526 Gutachten vom 27. Juli 1962. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung.

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damit trieben«, hinweisen. Dadurch »verstünde der Schüler das Fehlen einer solchen Bestimmung im Grundgesetz.«743 Auch in dem in Bayern nicht zugelassenen Lehrwerk kritisierte der Autor die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Hindenburg. Dessen Skrupel reichten dem Autoren aber für eine – in den Lehrwerken übliche – wohlwollende Beurteilung nicht aus, da Hitlers antidemokratische Haltung bekannt gewesen sei. Der »Reichspräsident als Hüter der Verfassung [hätte] niemals diesen Feind der Demokratie zum Reichskanzler machen dürfen.«744 Der beauftragte Gutachter forderte, dass die Beurteilung Hindenburgs der hegemonialen Geschichtskultur zu folgen habe. Den Reichspräsidenten treffe aus Sicht des Gutachters keine Schuld am ›Dritten Reich‹, denn »Hüter der Verfassung ist in erster Linie das Parlament.«745 Auch die Historikerin des IfZ wehrte im Gutachten zu Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ kritische Urteile über Hindenburg ab. Die im Manuskript enthaltene Einschätzung, Hindenburg habe das Parlament ausschalten wollen, waren für die Historikerin haltlose Vermutungen. Zwar sei Hindenburg »keineswegs Demokrat«, doch »pflichtgetreuer Beamter« gewesen, der der amtierenden Obrigkeit – in diesem Falle der Republik – in loyaler Weise zu dienen bestrebt war.« Die Historikerin empfahl die Streichung des inkriminierten Absatzes.746 Dementsprechend behauptete die Historikerin im Gutachten zu Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ 1963 auch, dass man 1933 »noch nicht sehen [konnte], daß Hitlers Herrschaft ›verbrecherisch‹ sein« würde.747 Ebenso wie die Verantwortung für das ›Dritte Reich‹ nicht beim Monarchisten Hindenburg gelegen habe, sollte das Lehrwerk laut der Historikerin »nicht von einer Schuld Brünings sprechen, den Weg zur Präsidialregierung eingeschlagen zu haben.« Entgegen der Behauptung, Brüning habe sich von der parlamentarischen Demokratie abgewandt, kann »höchstens gesagt werden, daß ein solches Experiment in einer Gesellschaft gefährlich werden konnte, in der demokratisches Empfinden noch in keiner Weise verankert war.«748 Vom Missbrauch der Notstandsverordnungen durch die Präsidialregierungen zu sprechen, sei »für Schüler nicht durchschaubar«, argumentierte ein Gymnasialprofessor, der vom Institut für Zeigeschichte beauftragt wurde, ein Gutachten zu ›Geschichte für Realschulen‹ des Oldenbourg Verlags zu verfassen. Er forderte, 743 744 745 746 747 748

Zitate BayHStA MK 63826 Gutachten vom 28. Juni 1967. List, Zeitgeschichte und wir, 1962. S. 52. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 30. Juli 1962. Zitate BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963. BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963. Zitate BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. Zu ähnlichen Urteilen über Brüning siehe auch BayHStA MK 64272 Gutachten vom 3. Mai 1963. BayHStA MK 63845 Gutachten vom 4. August 1962. BayHStA MK 64526 Gutachten vom 27. Juli 1962.

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die Verwendung des Paragrafen in den Präsidialkabinetten konkret darzulegen und mit dessen Gebrauch in den ersten Jahren der Weimarer Republik zu vergleichen,749 um eine sinnvolle politische Bildung zu gewährleisten. In der engen Verzahnung von Weimarer Verfassung und dem Ende der Republik erkannte ein weiterer Gutachter eine »fatalistisch determiniert[e]« Geschichtsschreibung. Er wandte dagegen ein, dass bereits Friedrich Ebert »mehr als 150 Mal von seinem Notverordnungsrecht Gebrauch gemacht und damit Krisen bewältigt« hat und es durchaus Gesetze gegen die »staatsgefährdenden Umtriebe […] von links und rechts gab«. Diese Kritik ging mit einer Neubewertung der staatlichen Ordnung Weimars einher, die »keine wehrhafte Demokratie gewesen sei.750 Bereits 1960 hielt die Historikerin des IfZ in ihrem Gutachten fest: »Nicht Schwächen der Weimarer Verfassung haben Hitler zur Macht verholfen.« Im gleichen Gutachten hinterfragte sie das Stabilitätsversprechen einer wehrhaften Demokratie, denn »man kann jede Demokratie ad absurdum führen […], wenn man nicht guten Willens ist.« Dieser Wille sei dagegen »ein integrierender Bestandteil freiheitlichen politischen Lebens!« Die Relevanz der demokratischen Gesinnung der Bürgerinnen und Bürger für das Funktionieren einer Demokratie war ihr »eine wichtigere Lehre […] als […] nach angeblichen Schwächen der einen oder anderen Verfassung zu suchen.«751 Damit forderte die Historikerin eine stärker sozial- und mentalitätsgeschichtliche Darstellung der Weimarer Republik ein. Im 1968 verfassten Gutachten zum Manuskript von ›Geschichte für Mittelschulen‹ des BSV schlug sie zudem gegen die hohe Gewichtung externer Ursachen für den Aufstieg des Nationalsozialismus vor, die »schwierige innenpolitische Situation sowie die starken antidemokratischen Strömungen der Weimarer Republik« stärker zu betonen.752 Die Aussagen der Sachverständigen in den Zulassungsverfahren deuteten eine geschichtskulturelle Tendenzwende hinsichtlich der Darstellung der Weimarer Republik an. Bereits die Trennung von Gebrauch und Missbrauch des Notstandsparagrafen in den frühen und späten Jahren der Weimarer Republik deutete eine Neubewertung der Verfassung an, in der die staatliche Ordnung von 1919 nicht länger ihre eigene Aufhebung im Nationalsozialismus vorherbestimmte. Die Neubeurteilung der Geschichte der Republik ging einher mit ihrer Traditionssetzung: Das Grundgesetz erschien in diesem Urteil nicht mehr als Abgrenzung zur, sondern Weiterentwicklung der Verfassung von 1919.753 749 750 751 752 753

Vgl. BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972. Zitate BayHStA MK 64628 Gutachten vom 22. Januar 1973. Zitate BayHStA MK 64363 Gutachten vom 14. September 1960. BayHStA MK 64263 Gutachten vom 20. März 1968. Die Integration der Weimarer Republik in den Traditionsbestand der Bonner Demokratie als dessen würdige Vorgängerin sieht auch Sebastian Ullrich zum Ende der 1960er Jahre in der offiziellen Geschichtskultur, vgl. Ullrich (2009), S. 488.

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Diese Diskussion um die Tragfähigkeit der Verfassung des Deutschen Reiches von 1919 und ihre geschichtskulturelle Neubewertung vollzog sich im Rahmen eines antitotalitären Deutungsmusters. So sprach sich beispielsweise Hans Herzfeld in der Stellungnahme zum 1952 im Kultusministerium geprüften ›Grundriss der Geschichte‹ dezidiert für eine antitotalitäre, transnationale Darstellung der Zeitgeschichte aus.754 Im besprochenen Lehrwerk sollten laut Herzfeld »Bolschewismus und Faschismus […] in der sinngemäßen Folge ihrer Entstehung behandelt« werden, um nicht »den Nationalsozialismus als isoliertes Phänomen auf deutsche Lasten gehen zu lassen.«755 Auch die Zersplitterung des Parlaments wurde in diesem Sinne bewertet. Dass ein stark frakturiertes Parlament dem Nationalsozialismus Aufwind verliehen habe, indem es die eigene Arbeit unterminiert habe, behauptete beispielsweise Eduard Steinbügel in seinem 1961 eingerichteten Manuskript zu ›Geschichte der Neusten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹. Als »Gipfel des Fehlurteils« erachtete der Historiker Hans-Dietrich Loock diese Behauptung. Zwar könne man die Haltung vieler Parteien kritisieren und auch auf die Gefahr vieler kleiner Parteien im Parlament hinweisen, jedoch könne nicht behauptet werden, dass die breite Parteienlandschaft und der von Steinbügel monierte Streit zwischen den Parteien »Ursache des Zusammenbruchs« gewesen sei. In dem historischen Urteil erkannte Loock Ressentiments gegen den Parlamentarismus. Anders als Steinbügel behauptete, habe der Fehler des Staates nicht darin gelegen, den vermeintlichen »Parteihader« zu dulden, da politischer Streit gerade die »Aufgabe der Parteien« sei: So bringen sie die »vielfältigen und einander notwendig widerstreitenden Interessen innerhalb der Gesellschaft zum Ausdruck«. Steinbügel erkannte laut Loock nicht, dass die Weimarer Republik »nicht an der Uneinigkeit der Parteien, sondern an der Angst vor der Uneinigkeit zugrunde gegangen ist.« Diese Angst haben die totalitären Parteien bedient, »die auf den Sturz der parlamentarischen Staatsordnung und die Beendigung des Parteihaders abzielen«, weshalb der Staat gegen KPD und NSDAP hätte einschreiten müssen und der Autor des Lehrwerks die Rolle der beiden Parteien herausstellen musste.756 Der Vorwurf eines mangelhaften Demokratieverständnisses brüskierte den Autor. Peinlich berührt, schrieb Steinbügel an seinen Verleger und wollte das Manuskript zurückziehen,757 was der Verleger verhinderte.758 HansDietrich Loock schickte schließlich mehrere Tonbänder und über zwanzig Schreibmaschinenseiten mit Textvorschlägen, um den Band nach seinen Vor-

754 755 756 757 758

Vgl. BayHStA MK 63819 Gutachten vom 10. August 1952. Zitate M BayHStA K 63820 Gutachten vom 30. August 1952. BayHStA BSV 462 Gutachten vom 9. Mai 1961. BayHStA BSV 462 Brief Steinbügel an BSV vom 28. Mai 1961. BayHStA BSV 46 Brief BSV an Steinbügel vom 12. Juni 1961.

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stellungen zu verbessern.759 Nicht der Streit zwischen den Fraktionen, sondern erst die gemeinsamen Angriffe von Kommunisten und Nationalsozialisten auf das Fundament der demokratischen Ordnung, das Parlament, zerstörten laut Loock die Weimarer Republik: »Die Weimarer Republik hat nur 14 Jahre bestanden. Sie erwuchs nach der militärischen Niederlage des Kaiserreiches im Kampf gegen kommunistische Umsturzversuche. Sie konnte in den folgenden Jahren die moralische Ächtung Deutschlands überwinden und die außenpolitische Isolierung durchbrechen. Sie besaß aber nicht mehr die Kraft, dem nationalsozialistischen Umsturz zu widerstehen. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Demokratie wurde durch die Propaganda ›nationaler‹ Kreise, die die Leistungen der Republik nicht anerkennen wollten, unterminiert. Die Nationalsozialisten und die Kommunisten verstanden es außerdem, durch die Behinderung der parlamentarischen Arbeit das Ansehen des Parlaments zu zerstören. So waren denn die politischen Kräfte, die den Willen zur Verteidigung der Demokratie besaßen, zur Minderheit geworden. Die Demokratie stand in ihren schwersten Stunden ohne genügend Demokraten da.«760

Der Textbaustein wurde im Schulgeschichtsbuch übernommen.761 Im Manuskript des von Hermann Glaser verfassten ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ von 1960 monierte die Historikerin des IfZ die Einseitigkeit des Lehrwerks bei der Diskussion über die Gegner der Weimarer Republik, denn nicht nur die Rechtsextremen, sondern »auch der kommunistische Radikalismus« sollte im Lehrwerk beachtet werden. Schließlich befand sich die Weimarer Republik in einem »ständige[n] Abwehrkampf« gegen totalitäre Kräfte.762 Das Bild einer von links und rechts zermürbten Weimarer Republik wurde bei der Wissenschaftlerin zum wesentlichen Kriterium für den Niedergang der Demokratie: Die Dynamik von Abwehr und Aushöhlung demokratischer Institutionen im Kampf gegen den Totalitarismus von kommunistischer und nationalsozialistischer Seite hatte sie im Blick, wenn sie im 1968 verfassten Gutachten zum Manuskript von ›Geschichte für Mittelschulen‹ des BSV vorschlug, die »schwierige innenpolitische Situation sowie die starken antidemokratischen Strömungen der Weimarer Republik« stärker zu berücksichtigen.763 In Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ monierte ein promovierte Mittelschullehrer, dass »die SA und ihre Praktiken dargestellt, nicht aber die Kampfverbände der gleichfalls genannten Kommunisten und ihrer Methoden« genannt wurden und mahnte Besserung an.764 In den 1962 erlassenen Richtlinien zur Behandlung des Totalitarismus im Unterricht 759 760 761 762 763 764

Siehe zusammenfassend zu diesem Zulassungsverfahren Kapitel 2.4. BayHStA BSV 462 Redaktionelle Vorschläge vom 4. August 1961. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 57. Zitate BayHStA MK 64263 Gutachten vom 14. September 1960. BayHStA MK 64263 Gutachten vom 20. März 1968. BayHStA MK 64272 Gutachten vom 3. Mai 1963.

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forderte das Kultusministerium, Bolschewismus und Nationalsozialismus als wesensähnliche Feinde der bürgerlichen Demokratie darzustellen.765 Ohne explizit auf die Richtlinien zu verweisen, setzten die Gutachterinnen und Gutachter diese staatliche Vorgabe um. Ein Gutachter behauptete schließlich, dass erst der Kommunismus dem Nationalsozialismus als dessen Gegenideologie »volle Zugkraft brachte.« Das Kleinbürgertum, das vom Autor des monierten Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹ als wesentlicher Träger der NSDAP erkannt wurde, lief laut Gutachter »aus instinktiver Feindschaft gegen den Kommunismus« ab 1933 zu den Nationalsozialisten über.766 Ein Schulrat wollte Brüning in einem Gutachten von 1962 als einen »verantwortungsbewußte[n] Mann, der sich der Sache der Demokratie und seinem Volke verpflichtet fühlt« dargestellt wissen, der auch »ohne Parlament demokratisch regieren kann«. Zudem erwartete der Gutachter, dass Brünings Sturz im Lehrwerk »deutlich als Werk volksfremder und volksfeindlicher Kräfte« herausgestellt werde.767 Brüning werde bereits positiv gezeichnet, erwiderte der Verlag, doch wer ohne Parlament regiere, könne nur schwer als Demokrat dargestellt werden. An die »Terminologie der Diktatur« erinnert, wies der Oldenbourg Verlag die Argumentation des Gutachters zurück.768 Rechtsoffener Staat? Die antitotalitäre Deutung der Weimarer Republik wurde nicht von allen Akteuren der Zulassungsverfahren unwidersprochen getragen. So fand ein Schulrat in den Parteien der Weimarer Koalition keine überzeugten Anhänger der Weimarer Republik und erkannte darin ein wesentliches Kriterium für ihren Niedergang.769 Das von ihm begutachtete Manuskript von ›Unbewältigte Vergangenheit‹ führte mit der ›Dolchstoßlegende‹ und den »unbilligen Forderungen des Friedensvertrags« zwei Aspekte für die Fragilität der Weimarer Republik an. Damit erklärten sich für den Sachverständigen jedoch nicht die instabilen Verhältnisse der Republik, denn auch »die beiden tragenden Parteien Zentrum und SPD« seien weder an einer »Erziehung zum Staatsbewusstsein interessiert« noch »zu einem vorbehaltlosen Bekenntnis zur Weimarer Republik entschlossen« gewesen. Der Gutachter scherte mit dieser Haltung aus dem antitotalitären Deutungsmuster aus, was beim Referenten des Ministeriums offensichtlich 765 766 767 768 769

Siehe dazu Kapitel 2.1. Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 9. März 1963. Zitate BayHStA MK 64526 Gutachten vom 27. Juli 1962. BayHStA MK 645256 Stellungnahme vom 7. August 1962. Vgl. dazu Vierhaus, der in der »Zersplitterung und Uneinigkeit der politischen Mitte« und nicht im Anwachsen von NSDAP und KPD die existenzielle Bedrohung der Weimarer Demokratie vor den Präsidialregierungen sah. Vierhaus (1964), S. 142.

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Unverständnis hervorrief.770 Zu einer Auseinandersetzung zwischen Referent und Gutachter kam es allerdings nicht, denn das Lehrwerk wurde nicht zugelassen, da es die Rahmenbedingungen des Lehrplans nicht erfüllte. Dagegen irritierte die Kritik an den staatstragenden Institutionen eines Gutachters von ›Bilder aus deutscher Geschichte‹ des Lurz Verlags weniger. Der Gutachter monierte die »lasche Haltung der Staatsorgane nach dem Hitlerputsch.«771 Die Kritik staatlicher Institutionen der Weimarer Republik für ihre nach rechts offene Politik äußerte ein weiterer Lehrer in seinem Gutachten zu Kösels ›Deutschlands jüngste Vergangenheit‹. Anders als das Manuskript behauptete, sei die Erfolglosigkeit der Polizei beim Aufspüren nationalistisch motivierter Attentäter und Mörder nicht in ihrer Unfähigkeit begründet. »Warum so rücksichtsvoll?«, fragte der Gutachter. Aus seiner Sicht durfte die Polizei nicht stärker gegen nationalistisch motivierte Attentate vorgehen, »weil die Justiz Verbrechen aus nationaler Gesinnung sehr milde beurteilte«, argumentierte er gegen das Manuskript.772 Die geschichtskulturelle Auseinandersetzung des Gutachters bezog sich auf einen Gegenstand bayerischer Landesgeschichte, die ›Ordnungszelle Bayern‹.773 Die Kritik an der ›Ordnungszelle Bayern‹ legitimierte das Kultusministerium dann nicht mehr, wenn die ›zu lasche‹ Abwehr rechtextremer Organisationen mit der Kritik am staatlichen Konservativismus verbunden wurde: Die Neuauflage des sog. Ebner-Habisreutinger aus dem C.C. Buchners Verlag unterzog der damalige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Paul Kluke, einer grundsätzlichen Kritik: Das Schulgeschichtsbuch sei im »Stil einer Hofhistoriographie« gehalten und mit allerlei Irrelevanz bayerischer Landesgeschichte gespickt. Statt sich mit der glücklichen, aber für die Weltpolitik irrelevanten »Regierungszeit des Prinzregenten« zu beschäftigten, sollte ein demokratisches Schulgeschichtsbuch den ihm gegebenen Raum »benutzen, um die Problematik der bayerischen Politik von 1918–23 darzulegen, die das Aufkommen des Nationalsozialismus ermöglicht hat.« Angesichts der euphemistischen Darstellung der ›Ordnungszelle Bayern‹ und des Umgangs mit dem sog. Hitlerputsch »muss man den Kopf schütteln.« Dem ganzen Werk attestierte Kluke ein »Geschichtsbild […], von dem wir uns lösen wollen«, weshalb er »eine prinzipielle Neufassung der hier untersuchten Abschnitte« vorschlug.774 Das Kultusministerium gab jedoch den brüskierten Einwänden des Autors statt, der in den Vorschlägen des Instituts eine Kompetenzüberschreitung sah. Das Ministerium zeigte angesichts der 770 Der Referent zeichnete ein großes Fragezeichen an den Rand, siehe BayHStA MK 64510 Gutachten vom 8. Februar 1961. 771 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 21. Juni 1964. 772 BayHStA MK 63845 Gutachten vom 4. August 1962. 773 Vgl. Menges (2000), S. 188–215. 774 Zitate BayHStA MK 64526 Gutachten vom 12. November 1958.

Weimars Ende: Wer hat Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus?

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scharfen Vorwürfe Verständnis für den Autor.775 Die Kritik Klukes verpuffte. Unparteilichkeit zeigte das Kultusministerium dagegen, wenn Sachverständige den Zusammenhang von BVP und Nationalsozialisten verunklaren wollten: Ein Mittelschullehrer begutachtete das von Kösel eingereichte ›Geschichte für Mittelschulen‹. Darin problematisierte er die im Kontext des sog. Hitlerputsches verwendete Formulierung, die BVP sei eine »weit rechts stehende Bayerische Volkspartei«. Diese Einschätzung sei sachlich falsch und deshalb »richtigzustellen«, forderte der Gutachter, ohne sein Urteil zu begründen. Auch für den Ministerpräsidenten der BVP schlug er vor, ihn im bürgerlichen Lager statt als Rechtsaußen einzuordnen.776 Der Verlag blieb unbeeindruckt und Kahr weiterhin »wie die meisten seiner Anhänger, politisch sehr weit rechts.«777 Zusammenfassung Die Geschichte der Weimarer Republik wurde im Untersuchungszeitraum als eine Geschichte des Scheiterns erzählt, deren Gründe und Faktoren die Akteure in den Zulassungsverfahren diskutierten und gewichteten. Die Analyse der Zulassungsverfahren zeigt, dass das Scheitern der Republik unter dem Blickwinkel der historisch-politischen Bildung stand. Das historisch gewonnene Verständnis für demokratische Institutionen und deren Anfälligkeit sollte die Schülerinnen und Schüler dazu anleiten, das wehrhafte Grundgesetz der Bundesrepublik zu verstehen und als positive Lehre aus der Vergangenheit anzunehmen. Insofern war die Geschichtskultur zur Weimarer Republik eng mit der bundesrepublikanischen Staatsräson verknüpft. Zudem fand der antitotalitäre Konsens der Bonner Republik der Nachkriegsjahrzehnte in der Geschichtskultur zur Weimarer Republik eine historische Tiefendimension: Im Wechselspiel von schwacher Verfassung und totalitären Kräften von links und rechts konnte der allmähliche Niedergang der Weimarer Republik erklärt und die Lehre der wehrhaften Demokratie abgeleitet werden. Ein Großteil der geschichtskulturellen Deutungskonflikte in den Zulassungsverfahren entspann sich entlang dieser beiden Pole, indem die Akteure die Schwäche der Verfassung und die Stärke des Totalitarismus gegeneinander abwogen. Dieses antitotalitäre Deutungsmuster war hegemonial, sodass die seltenen geschichtskulturellen Artikulationen, die sich nicht in dieses Deutungsmuster einbinden ließen, Irritation oder Verweigerung hervorriefen. Zudem knüpften manche Schulgeschichtsbücher an die bereits vor 1933 entstandenen antiparlamentarischen Ressentiments an und führten sie auf geschichtskultu775 Vgl. BayHStA MK 64256 Stellungnahme Autor vom 15. Mai 1959. 776 Zitate BayHStA MK 64272 Gutachten vom 5. März 1963. 777 Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 119.

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reller Ebene fort.778 Im Zulassungsverfahren wachte das Kultusministerium über die Einhaltung des antitotalitären Deutungsmusters zur Weimarer Republik. Die Analyse der Zulassungsverfahren zeigt zudem ein Spannungsfeld bei der Erklärung für das Ende der Weimarer Republik auf, das im historischen Urteil zum Frieden von Versailles lag. Der Frieden von Versailles erhielt als strukturgebender Ausgangspunkt im Geschichtsverständnis der Schulbuchmacher einen zentralen Stellenwert, um das Scheitern der ersten deutschen Demokratie zu erklären. Nachdem die Friedensordnung zum gewichtigen Faktor für die innere Entwicklung der Republik zur Diktatur erklärt worden war, konnten die Akteure der Zulassungsverfahren die aus der Weimarer Republik stammenden Ressentiments gegen den vermeintlichen ›Hass- und Diktatfrieden‹ in die Bundesrepublik übertragen und gleichzeitig einen Teil der Verantwortung für das ›Dritte Reich‹ auf das Ausland verschieben. Diese Tendenz sicherte zwar eine positive Nationalhistorie und konnte ein positives Deutschlandbild an die zukünftige Generation vermitteln, stand aber im Widerspruch zur Aussöhnungspolitik der Nachkriegsjahre. Im Spannungsfeld von Revision und Versöhnung suchten Akteure der Zulassungsverfahren auch nach einer angemessenen Sprache, reflektierten die revisionistisch-nationalistische Bewertung des Versailler Vertrags oder ordneten die historische Relevanz des Vertrags dem antitotalitären Deutungsmuster unter. Neben diesen beiden Spannungsfeldern fanden die Schulbücher und Sachverständigen in der Person Hitler eine dritte Erklärung für den Aufstieg des Nationalsozialismus und das Ende der Demokratie. Wie Hitler charakterisiert und mit welchen Fähigkeiten er in der schulbuchbezogenen Geschichtskultur versehen wurde, soll im folgenden Kapitel analysiert werden.

3.2. »Wer war dieser Hitler?« Zwischen Psychologisierung und Historisierung Das folgende Kapitel behandelt die Aussagen zur Biographie und zur Persönlichkeit Adolf Hitlers in Schulgeschichtsbüchern und Zulassungsverfahren.779 Nachdem die Deutung Hitlers in Schulgeschichtsbüchern vorgestellt wurde, folgt eine Analyse der Konflikte um die Person Hitler in den Zulassungsverfahren. Das Kapitel zeigt auf, dass die Konflikte der Zulassungsverfahren sich um die Frage drehten, inwiefern ›das Phänomen Hitler‹ zu historisieren war. Fast alle unter778 Vgl. S. Ullrich (2011), S. 43. 779 Das Zitat im Titel entstammt dem Schulgeschichtsbuch BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 179. Es gehört zur Überschrift des Abschnitts über die Biographie und Persönlichkeit Hitlers.

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suchten Schulgeschichtsbücher bieten eine Biographie,780 gefolgt von bzw. gepaart mit einer Charakterisierung Adolf Hitlers, die im Regelfall dem Kapitel zum Ende der Weimarer Republik781 oder zu Beginn des Kapitels zur NS-Herrschaft stehen.782 In manchen Fällen wird eine Biographie Hitlers im Horizont des Putschversuchs von 1923 skizziert.783 Dem Bemühen, die Persönlichkeit Hitlers in einen historischen Kontext zu stellen, standen die enthistorisierenden Darstellungen gegenüber, die Hitlers Charakter pathologisierten und stellenweise dämonisierten.

3.2.1. Schulbuchanalyse Die Analyse der Schulbücher in diesem Kapitel fokussiert den Aspekt der Charakterisierung Hitlers. Dies geschah in den untersuchten Lehrwerken vor allem anhand der Beschreibung von Hitlers Lebensumständen und biographischen Stationen vor dem Beitritt zur Deutschen Arbeiterpartei (DAP), da diese Beschreibungen den Autorinnen und Autoren eine kompakte Charakterisierung Hitlers erlaubten. Im engen Zusammenhang mit den geschilderten Lebensumständen charakterisierten viele Schulgeschichtsbücher Hitler als einen ›Antibürger‹ und neigten zu enthistorisierenden Erklärungen seiner Ideologie.

780 Keine Biographie bieten: Westermann, Wege in die Welt, 1955. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1959. List, Zeitgeschichte und wir, 1962. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974. 781 C.C. Buchners, Neueste Zeit, 1952, S. 52–53. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S: 161. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 66. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 54–55. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 97. 782 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 122. Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 164–165. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 175. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 155–156. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 195–160. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 65–66. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 121. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 84. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 99–102. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 80. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 54–56. 783 Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschulen, 1953, S. 136–137. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 152. Lurz, Geschichte der neuesten Zeit, 1956, S. 127–128. Kösel, Geschichte für Mittelschulen 4, 1963, S. 120–121. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 79–80. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 193. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 179–180. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 99– 100.

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Lebensumstände vor der Weimarer Republik Die biographischen Skizzen der Schulgeschichtsbücher schilderten Hitlers Lebensweg vor dem Beitritt zur Deutschen Arbeiterpartei, wie die NSDAP vor ihrer Umbenennung im Februar 1920 hieß, als Stationen des Scheiterns. So hieß es in der ausführlichen biographischen Skizze des 1953 veröffentlichten Bands ›Europa und Welt‹, dass er nach der Zurückweisung der Wiener Malerschule »unter ärmsten Verhältnissen als ungelernter Bauarbeiter und Anstreicher sein Leben fristen« musste. Bereits damals sei er Antisemit und Nationalist gewesen, weshalb er sich zum Kriegsdienst meldete, »jedoch nur den Dienstgrad eines Gefreiten« erreichte.«784 Ähnlich urteilt ›Grundzüge der Geschichte‹ aus dem Verlag Diesterweg, demnach Hitler als »abenteuerlicher Außenseiter der Gesellschaft aufgewachsen« sei.785 Nüchterner, jedoch mit den gleichen Stationen, wurde Hitlers Lebensweg in dem im Lurz Verlag 1954 veröffentlichen ›Bilder aus deutscher Geschichte‹ skizziert: »Hitler war der Sohn eines österreichischen Zollbeamten in Braunau am Inn. In jungen Jahren verwaist, verdiente er sich in Wien seinen Unterhalt als Bauhilfsarbeiter. Er wollte Baumeister oder Maler werden. 1912 siedelte er nach München über. Den Krieg machte er als Freiwilliger im deutschen Heer mit. Als Gefreiter entlassen; beschloß er Politiker zu werden.«786

Das im Klett Verlag 1958 veröffentlichte ›Grundzüge der Geschichte‹ mutmaßte, dass Hitler 1913 vielleicht nach München gezogen sei, »um sich dem Militärdienst gemeinsam mit Juden, Tschechen und anderen ihm verhaßten Untertanen der Habsburger Monarchie zu entziehen«, wo er »ohne Beruf« gelebt habe, da er zwar »viele Gaben« besessen habe, jedoch »faul, launisch und ohne Ausdauer« gewesen sei.787 Gelegenheitsarbeiter und gescheiterter Kunstmaler sind auch die beiden Berufe, die das 1959 veröffentlichte ›Geschichte für die Jugend‹ des Mundus Verlag bezüglich Hitler nannte. In dem 1963 veröffentlichten ›Geschichte unseres Volkes‹ wurde Hitlers Jugend als »freudlos« und seine Schulerfolge als »gering« bezeichnet. Das 1979 veröffentlichte ›Fragen an die Geschichte‹ konstatierte dagegen, dass Hitler die Volksschule mit »sehr guter Beurteilung« besucht, jedoch die Realschule nicht abgeschlossen habe. Während seiner Zeit in Wien habe Hitler zudem im »Obdachlosenasyl« gelebt.788 Entgegen dem ›Grundzüge der Geschichte‹ von 1958 war sich der Autor von ›Geschichte unseres Volkes‹ sicher, dass Hitler nach München geflohen sei, »[a]ls er in die österreichische Armee einrücken sollte […]. Hier wurde er in den Polizeiakten 784 785 786 787 788

Zitate vgl. Blutenburg, Europa und die Welt, 1953, S. 136. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 175. Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 164–165. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 155. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 54.

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als ›arbeitsscheuer Asozialer‹ geführt.«789 Mit nur seltenen Ausnahmen, etwa dem oben genannten, 1952 veröffentlichten ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ aus dem C.C. Buchners Verlag, boten die Schulgeschichtsbücher Biographien Hitlers, die ihn zusammenfassend als deklassierten Kleinbürger zeichneten. Als eines von zwei Schulbüchern setzte das im Diesterweg 1972 veröffentlichte ›Spiegel der Zeiten‹ die Darstellung Hitlers im Schulgeschichtsbuch der Selbstdarstellung Hitlers gegenüber. Statt »[f]ünf Jahre Elend und Jammer in Wien«, so zitierte das Buch aus ›Mein Kampf‹, habe Hitler als Waise eine »auskömmliche Rente« bezogen, doch: Er »schaffte es nicht, eine Ausbildung abzuschließen. Die Realschule mußte er wegen unzureichender Leistungen verlassen. In die Wiener Kunstakademie wurde er aus dem gleichen Grunde nicht aufgenommen.«790 Auch das 1965 veröffentlichte ›Reise in die Vergangenheit‹ ging zudem noch auf die Familie Hitlers ein: »Die Herkunft Hitlers war eine sehr unklare. Der Vater hieß ursprünglich Schickelgruber; erst mit 40 Jahren erhielt er durch das Standesamt den Namen Hitler. Er war dreimal verheiratet und hatte insgesamt sieben Kinder.«

Aus dieser unklaren Abstammungslinie folgerte das Schulgeschichtsbuch, dass Hitlers Herkunft seinen eigenen Gesetzen nicht genügt habe: »Nach seinen Gesetzen wurden Millionen von Menschen herabgesetzt, geschmäht, aus der Volksgemeinschaft [sic!] ausgestoßen oder gar als ›unwertes Leben‹ vernichtet, die nicht seiner Forderung eines ›reinen, arischen Blutes‹ entsprachen. Er selbst hätte überhaupt keinen solchen Nachweis erbringen können.«

Die Argumentation des Textes ist janusköpfig: Indem Hitler zum Drahtzieher der NS-Verbrechen ernannt wurde und gleichzeitig behauptet wurde, er sei selbst nicht den Ansprüchen der von ihm geschaffenen NS-Volksgemeinschaft gerecht geworden, konnte das NS-Unrecht abgelehnt und gleichzeitig als Werk eines Außenstehenden chiffriert werden. Die Schulgeschichtsbücher skizzierten Hitler als gesellschaftlichen Außenseiter, der zu einem bürgerlichen Leben nicht in der Lage gewesen sei. Hitlers Lebensweg wurde als Gegenteil eines bürgerlichen Lebensentwurfs gezeichnet und daran ein sozialpsychologisches Profil erstellt. Die Darstellung Hitlers kann als Ausdruck einer zeitgenössischen, konservativen Erklärung des Nationalsozialismus verstanden werden. So hält Jean Solchany in seiner Analyse konservativer Intellektueller in der unmittelbaren Nachkriegszeit fest, dass der Nationalsozialismus »häufig als beginnende Herrschaft der Halbbildung interpretiert 789 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 79. Dass Hitler von der Polizei als ›Asozialer‹ geführt wurde, nannte auch C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 99. 790 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, 99–100.

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[wurde], die in Adolf Hitler, der zum Autodidakten gewordenen gescheiterten Existenz, verkörpert sei«.791 Eingebunden war diese Kritik in ein eher antimodernistisches Weltbild, das Bildungsideale des frühen 19. Jahrhunderts gegen den technischen Fortschritt des 20. Jahrhunderts in Stellung brachte. Solchany resümiert, dass diese Modernitätskritik in der bald populären Totalitarismustheorie aktualisiert und demokratisiert werden konnte.792 Der Befund der vorliegenden Studie bestätigt diese Annahme: Insofern Hitlers Lebensführung als Gegenbeispiel bürgerlicher Tugenden dargestellt wurde, konnte umgekehrt die Aufrechterhaltung bürgerlicher Tugend als Garant gegen das totalitäre NS-Regime gewertet werden. Psychologisierung statt Historisierung An Hitlers sozialer Situierung als deklassierter Bürger einerseits und seinen ›Erfolgen‹ als Politiker andererseits begründeten die Schulgeschichtsbücher seinen Größenwahn. Statt Hitlers Ideologie zu historisieren, wurde er meist pathologisiert. Expressis verbis und mit antisemitischen Untertönen sah ›Unser Weg durch die Geschichte‹ von 1972 die antisemitische und rassistische Ideologie Hitlers in seiner sozialen Depravation begründet. Das Leben als Gelegenheitsarbeiter und die Absage der Kunstakademie haben »bei ihm Minderwertigkeitsund Haßgefühle für sein ganzes Leben« entwickelt, die sich »vor allem gegen die Juden, die damals starken Einfluß auf das Wirtschafts- und Kulturleben hatten«, gerichtet haben.793 Hitler hat laut ›Reise in die Vergangenheit‹ in Wien »als ein Ausgestoßener, als sozial Heruntergekommener« gelebt. Er hat »das Leben gewissermaßen vom Hinterhof aus, in seiner Kehrseite« gesehen. Er hat gehasst, »wovon er ausgeschlossen war«,794 worunter das Schulbuch »alles bürgerliche Leben« verstand.795 Bis in die 1960er Jahre pathologisierten die untersuchten Lehrwerke Hitlers politisches Handeln. So hat er sich laut dem 1952 veröffentlichten ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ von »der ›Vorsehung‹ […] berufen [gefühlt], das Schicksal des deutschen Volkes zu gestalten«, wobei die »anfänglichen Erfolge […] seinen Cäsarenwahn, von übernatürlichen Kräften geleitet zu sein« noch steigerten.796 Diesen Glauben führte die Publikation auf den Größenwahn Hitlers zurück. Deutlicher war ›Grundriss der Geschichte‹ von 1958:

791 792 793 794 795 796

Solchany (1996), S. 386. Vgl. Solchany (1996), S. 389–391. Zitate Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 80. Zitate Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 192. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 193. C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit 4, 1952, S. 53.

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»Er war voller Ideen, aber zu sprunghaft, sie auszuwerten. Seine einzigen Leidenschaften waren Zeitunglesen und Politisieren. Auch sonst las er viel, aber wahllos und unsystematisch. In der Diskussion schrie er, wenn er sich aufregte, und beschimpfte seine Widersacher. Schon damals zeigte sich sein manischer Drang zum Monolog und eine bis ins Psychopathische gesteigerte Einseitigkeit.«797

Die Pathologisierung Hitlers hatte mitunter eine enthistorisierende Funktion,798 insofern psychologische statt historische Gründe für die Dynamik ausschlaggebend für die Entwicklung des ›Dritten Reichs‹ waren. So hieß es beispielsweise im 1961 veröffentlichten ›Geschichtliches Werden‹ für die Mittelstufe, dass Hitlers außenpolitische ›Erfolge‹ ihn »immer überheblicher und wagemutiger« werden ließen.799 Das Lehrwerk verglich Hitler mit Napoleon, um den Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1942 zu erklären, denn Hitler habe »als ein zweiter Napoleon Europa und der Welt eine ›neue Ordnung‹ geben« wollen.800 Das Motiv der Selbstüberschätzung infolge der politischen und militärischen ›Erfolge‹ des NS-Regimes, dargestellt als Erfolge Hitlers, blieb in Schulgeschichtsbüchern bis in die Mitte der 1960er Jahre dominant.801 Laut dem 1953 veröffentlichen ›Europa und die Welt‹ ist »Hitlers Selbstgefühl und Verblendung« nach dem Sieg NSDeutschlands gegen Frankreich »ins Grenzenlose« gestiegen und er hat »sich jedem militärischen und politischen Fachmann an Genialität für überlegen« gehalten.802 In ›Geschichte für Mittelschulen‹ hieß es 1955: »Die unerwarteten Erfolge der deutschen Armee […] steigerten den Größenwahn Hitlers, der sich von seinen Anhängern als der größte Feldherr aller Zeiten feiern ließ, ins Grenzenlose und stürzten ihn und das deutsche Volk letzten Endes ins Verderben.«803 Die pathologisierenden Beschreibungen Hitlers gingen seit Mitte der 1960er Jahre zurück: 1966 zitierte ›Wir erleben die Geschichte‹ eine an den österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg gerichtete Aussage Hitlers, mit der dieser die Annexion Österreich einforderte. Hitler sagte darin über sich selbst: »›Ich habe noch alles erreicht, was ich wollte, und bin vielleicht dadurch zum größten 797 Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 154. 798 Es soll (und kann) nicht diskutiert werden, ob Hitler wirklich psychisch krank war, sondern welche geschichtskulturelle Relevanz das Hervorheben einer psychisch kranken Persönlichkeit bei der Deutung des Nationalsozialismus besitzt. 799 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 166. 800 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 173. Den Vergleich mit Napoleon zog bereits Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 177. 801 »Hitler krankte an einer maßlosen Überschätzung der eigenen Person«, heißt es noch in Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 243. 802 Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschulen, 1953, S. 162. 803 Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 165. Den gleichen Zusammenhang zwischen militärischen ›Erfolgen‹, Größenwahn und Bewunderung Hitlers von seinen Anhängern stellt auch Klett, Grundriss B 3, 1958, S. 174 her.

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Deutschen der Geschichte geworden.«804 In einem Arbeitsauftrag forderte das Schulgeschichtsbuch die Schülerinnen und Schüler dazu auf, anhand des Zitats eine Aussage über den Charakter Hitlers zu treffen, womit die Psychologisierung Hitlers dem Unterrichtsgeschehen überlassen wurde.805 1972 forderte der Band ›Spiegel der Zeiten‹ die Schülerinnen und Schüler in einem Arbeitsauftrag dagegen dazu auf, zu prüfen, »wieweit es gerechtfertigt ist, Hitlers politische Ansichten aus seinem persönlichen Lebensschicksal zu erklären.«806 Damit wurde die Psychologisierung selbst zum Gegenstand des Unterrichts und die Schülerinnen und Schüler zu einem kritisch-reflexiven Umgang mit tradierten Deutungsmustern angeleitet. Allerdings zeigte der Arbeitsauftrag den tendenziellen Rückgang des psychologisierenden Umgangs mit Hitler auf. Der 1971 veröffentlichte Band ›Geschichte für Realschulen‹ deutete Hitlers Nationalismus anscheinend als positive Charaktereigenschaft, da er »sicher einem echten Gefühl« entsprungen, »aber […] durch persönliche Machtgier« verzerrt worden sei. Der Text unterschied offensichtlich Nationalismus als politische Idee von der anscheinend pathologischen Machtgier Hitlers. Dadurch konnte ein scheinbar ›gesunder‹ einem ›kranken‹ Nationalismus gegenübergestellt werden und am gesunden Nationalismus festgehalten werden, der erst durch die persönliche ›Machtgier‹ Hitlers korrumpiert worden sei.807 Hitler sollte man »bei aller negativen Bewertung doch als historische Größe verstehen, die eine Bewegung verkörpert und mit ihr die Welt in unheilvoller Weise verändert hat«, schloss der Text ab.808 Die Stelle ist doppelbödig, da sie deskriptiv und normativ verstanden werden kann. Im ersten Fall legt das Schulbuch nahe, dass Hitler die Verkörperung des Nationalsozialismus gewesen sei und Unheil über die Welt gebracht habe, weshalb er als zentrales historisches Subjekt der Epoche zu verstehen sei. Im zweiten Fall behauptet das Lehrwerk, dass Hitler trotz seiner negativen Eigenschaften für seine Politik zu würdigen sei.

804 BSV, Wir erleben die Geschichte 2, 1966, S. 204. 805 Das Schulgeschichtsbuch bietet im Kontext des Zitats und des Arbeitsauftrags keine alternativen Deutungen, etwa die Selbstaussage als rhetorische Strategie zu deuten, an. Vgl. BSV, Wir erleben die Geschichte 2, 1966, S. 204–205. 806 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 104. 807 Auch das 1953 veröffentlichte ›Grundzüge der Geschichte‹ und die Neuauflage von 1957 trennten in gesunden und kranken Nationalsozialismus. Vgl. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 122. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 126. 808 Zitate Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 98.

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Demagogie und Dämonie Die untersuchten Schulgeschichtsbücher betonten in der Regel Facetten in der Biographie Hitlers, die im Gegensatz zu einer bürgerlichen Lebensführung standen. Hitler habe kein geregeltes Arbeits- und Familienverhältnis und nur einen unterdurchschnittlichen Bildungsgrad besessen, er sei weder fleißig noch zu ausdauernder Konzentration fähig gewesen. Allerdings bescheinigten sie ihm durchweg hohe rhetorische Fähigkeiten.809 Diese Fähigkeiten besaßen für manche Autorinnen und Autoren mitunter quasimagische bzw. religiöse Qualität. Laut dem 1952 veröffentlichten ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ übte »er durch seine Wortgewandtheit und demagogische Begabung eine fast hypnotische Macht auf die Zuhörer aus und zwang sie oft wider besseres Wissen zu seinen Gedankengängen.«810 Diese Beurteilung wurde in der Neuauflage von 1961 wiederholt, dann jedoch ohne die Behauptung, dass Hitler die Menschen wider besseres Wissen zu seinen Gedankengängen gezwungen habe.811 1963 beurteilte ein Schulgeschichtsbuch Hitlers demagogische Fähigkeiten als »barbarisch und unheimlich« und sah darin den entscheidenden Grund für den Aufstieg der NSDAP zur Massenpartei.812 Abgedruckte Propagandabilder, die Hitler in Rednerpose zeigen – vor dem Spiegel übend oder tatsächlich zu einer Versammlung sprechend –, illustrierten das rhetorische Talent. 1961 präsentierte der Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹ ein solches Foto mit dem Arbeitsauftrag »Beachte Stellung, Gesten, Gesichtsausdruck«.813 Zwar wurden vergleichbare Abbildungen in den folgenden Bänden nicht mehr mit einem Arbeitsauftrag versehen, doch seitdem druckten acht weitere Bände Fotos von Hitler in Rednerpose ab.814 Da die Lehrwerke die abgedruckten Fotos nicht einordneten, explizierten sie nicht den propagandistischen Zweck und ideologischen Gehalt der Fotos. Exemplarisch ist der Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹. Im Lehrwerk wurde unter anderem ein Foto Hitlers in Rednerpose am Reichsparteitag in 809 Etwa: »Durch fanatische Reden, durchsetzt mit zugkräftigen Schlagworten, riß er die Massen mit.« Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 165. »Als Redner verstand er es, die unzufriedenen Massen an sich zu ziehen.« Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, 84. 810 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 52. 811 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 160. 812 Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 121. Siehe auch: »Er trat in eine kleine politische Partei ein, in der er infolge seiner demagogischen Reden bald zum Mittelpunkt wurde.« Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 55. 813 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, S. 160. 814 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschule und Realschule, 1962, S. 65. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 62. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 132. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 145. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 186. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 121. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1971, S. 101. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 88.

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Nürnberg abgedruckt, das gemeinsam mit zwei anderen Propagandafotos eine Seite des Schulgeschichtsbuchs füllte. Der Text zum Bild, der auf der Vorderseite abgedruckt wurde, lautete: »›Der Führer spricht.‹ In ständigen Propaganda- und Hetzreden hämmert Adolf Hitler seine ideologischen Phrasen in das Bewußtsein des Volkes.«815 Auf dem Foto sieht man Hitler aufrecht stehend, mitten im Sprechen. Seine Arme sind nach oben angewinkelt und die offenen Hände auf Höhe des Kopfes. Seine Haltung ist einer liturgischen Geste nahe, etwa der Geste des Priesters, wenn er im Gebet, der Gemeinde zugewandt, das Wort ergreift. Das Foto transportierte dadurch die Ideologie des von der ›Vorsehung‹ geschickten ›Führers‹. Im Lehrwerk wurde weder die propagandistische Funktion des Bildes erläutert, noch wurden die Schülerinnen und Schüler zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Foto aufgefordert. Die moralische Distanzierung in der Bildunterschrift wurde dadurch nicht an eine sachliche Auseinandersetzung mit der Propaganda geknüpft. Statt die religiöse Inszenierung offenzulegen, transportierte die Pathologisierung Hitlers und die Zuschreibung magischer, religiöser Fähigkeiten das propagandistisch geschaffene Bild in die Geschichtskultur, wo es gleichwohl antinazistisch gewendet wurde. So stand beispielsweise 1962 in ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹: »Besessen von der Wahnvorstellung, einen ›germanischen Staat deutscher Nation‹ aufbauen zu müssen, um dann mit seiner ›Herrenrasse‹ die Welt zu unterjochen, ließ er sich in der Zeit seiner unumschränkten Herrschaft in immer fragwürdigere Abenteuer ein, die schließlich zum großen Weltenbrand führen mußten.«816

Besessenheit und Weltenbrand entstammen einem eher religiösen Sprachschatz. Der Weltenbrand ist die zweite von vier Phasen im ›Ragnarök‹, dem Untergang der Götter und Neubeginn der Welt in der nordischen Mythologie. Die Besessenheit wird im religiösen Kontext genutzt, um die Inbesitznahme des Körpers durch ein übernatürliches, böses Wesen – dem Teufel oder einem Dämon – zu bezeichnen. Diese Wortwahl hatte durchaus widersprüchliche Funktion, denn einerseits gelang den Autoren die klare Distanzierung von Hitler (und damit auch vom Nationalsozialismus), doch andererseits verstellte diese Darstellung den Blick auf die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen der Geschichte des Nationalsozialismus. In seiner Studie zur psychologischen Geschichtsschreibung zu Hitler hält José Brunner fest, dass die historische Psychologisierung Hitlers stets auf ahistorische und transzendente Kräfte zurückgriff, um zu erklären, was Hitler zu einem Monster gemacht habe, und so auf geschichtskultureller Ebene das Bild des 815 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 120. 816 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 66.

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unmenschlichen Monsters festigte.817 In der deutschsprachigen Geschichtskultur drückte sich das enthistorisierende Geschichtsbild im Begriff des Dämons aus. Die Charakterisierung als ›Dämon‹ war in den Nachkriegsjahrzehnen zudem eine gängige Chiffre zur Einordnung von NS-Täterinnen und Tätern.818 Sie diente laut Thomas Kühne dazu, »eine emotionale und moralische Distanz zwischen den Tätern und den Beobachtern« zu schaffen.819 Dieser moralisch fundierten Ablehnung stand die Verdunkelung historischer Sachverhalte gegenüber: Indem die Täterinnen und Täter als Bestien und Monster aus dem Kreis des Menschlichen enthoben wurden, erlaubte das Deutungsmuster laut Thomas Kühne, »Fragen nach der eigenen tatsächlichen oder potentiellen Rolle im sozialen und politischen Gefüge massenhafter Gewalt (»Was hätte/habe ich getan?«) auszublenden und sich der eigenen moralischen Integrität zu versichern.«820 Acht der dreißig untersuchten Schulgeschichtsbücher nutzen die Metapher des Dämons, um Hitlers Fähigkeiten und Handeln zu erfassen.821. So war es laut ›Europa und die Welt‹ Hitlers »dämonische Rednergabe«, die Millionen von Deutschen gefesselt hat.822 ›Unser Weg durch die Geschichte‹ von 1972 beschrieb die Wirkung von Hitlers Reden auf die Deutschen folgendermaßen: »Am Schluss seiner Reden tobe die Menge wie hingerissen von einem Dämon, der unter sie gefahren war.«823 Die Mittelstufenausgabe ›Geschichtliches Werden‹ behauptete, Hitler »schien von dämonischen Kräften geleitet zu sein«, während824 der 1958 von Klett herausgegebene ›Grundriss der Geschichte‹ vergleichsweise ausführlich darlegte: »Hitler wartete, bis er – 1933 – überzeugt war, daß der richtige Augenblick für die Machtergreifung gekommen sei. In den folgenden Jahren lieferte sich Hitler immer mehr den dämonischen Kräften aus, die ihn seit frühester Jugend getrieben hatten. […]

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Vgl. Brunner (2004), S. 171. Vgl. Herwig (2008). Kühne (2016). Kühne (2016), S. 33. Kühne (2016), S. 37. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 161. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 156. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 160. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschule und Realschule, 1962, S. 66. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 193. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 97. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 80. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 96. 822 Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 161. 823 Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 80. Eine ›dämonische Rednergabe‹ konstatierte auch BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 66. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1971, S. 97–98 spricht von »dämonische wirkender Energie« mit der Hitler die Menschen in seinen »Bann« zog. Laut Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 193 hat sich das »angeborene Rednertalent« Hitlers, gepaart mit »dem dämonischen Willen zur Macht« mit seinem Beitritt zur DAP entfaltet. (Hervorhebung im Original durch Kursivierung.) 824 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 160.

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Es gab keine gültige Ethik, kein gültiges Sittengesetz mehr; die Macht legimitierte jede Gewalttat jeden Mord; sie schuf die Moral. Das göttliche Gesetz war aufgehoben, der Mensch Hitler setzte sich an Gottes Stelle zum Herrn über das Gewissen. So wurde alles Positive, was er schuf, aller Auftrieb, den er den Deutschen gab, von der Dämonie verschlungen und ins Gegenteil verkehrt.«825

Den Untergang des Deutschen Reiches kommentiert ein Schulbuch folgendermaßen: »So weit konnte es kommen, wenn Recht und Gesetz mit Füßen getreten wurde, wenn an die Stelle des Christentums die Vergötterung der »arischen« Rasse trat und ein gottloser Tyrann sich vermaß, mit seinen »germanischen Übermenschen« die Weltherrschaft zu erringen.«826 Die Darstellung Hitlers enthistorisierte erstens den Nationalsozialismus zum religiös-schicksalhaften Ereignis, indem das Regime sowie dessen Verbrechen nicht als Konsequenz menschlicher Handlung oder gesellschaftlicher Bedingungen erfasst, sondern als das Wirken metaphysischer Kräfte verstanden wurden. Religiöses Vokabular, Sünde, Buße und Gewissen bildeten vor allem in den 1950er Jahren Schlüsselbegriffe bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus,827 was sich auch in der Attribuierung als ›dämonisch‹ widerspiegelte. Auch wenn versucht wurde, die im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen mit der Attribuierung Hitlers als Dämon vermeintlich in Worte zu fassen, minderte die Dämonisierung Hitlers zweitens die Verantwortung der Bevölkerung an den Verbrechen des NS-Regimes. Hitler erschien als übermächtiges und über der Geschichte stehendes Subjekt, dem die Bevölkerung machtlos ausgeliefert gewesen sei.828 Zusammenfassung Eine Biographie Hitlers gehörte zum Kanon der untersuchten Schulgeschichtsbücher. Die Lehrwerke gingen auch auf Hitlers Lebensumstände vor Beginn seines politischen Engagements in der DAP und der späteren NSDAP, also auf seine Biographie vor seiner politischen Karriere ein. Die Verfassertexte waren offensichtlich darum bemüht, Hitler als entbürgerlichtes Subjekt zu chiffrieren. Sie sprachen ihm den Besitz bürgerlicher Tugenden ab und erklärten seine Weltanschauung, indem sie in ein sozialpsychologisches Psychogramm eingebettet wurde, statt Hitlers Ideologie zu historisieren. Im Kontrast zum pathologischen Phänomen Hitler stand sein Rednertalent, das die Lehrwerke bis zur quasimagischen, dämonischen Fähigkeit hochschraubten. Er erschien damit weiterhin als das übermenschliche Subjekt, als das in die NS-Propaganda zeich825 826 827 828

Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 156. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 98. Vgl. Berg (2003a), S. 209–212. Ausführlich zur Rolle der Bevölkerung im ›Dritten Reich‹ siehe Kapitel 3.4.

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nete, erhielt aber ein negatives Vorzeichen. Die moralische Distanzierung von Hitler war an die Eskamotierung von Verantwortung der Bevölkerung im ›Dritten Reich‹ gekoppelt, die den übernatürlichen Fähigkeiten unterlegen gewesen sei. Seit Mitte der 1960er Jahre nahm die Pathologisierung Hitlers zugunsten einer tendenziellen Historisierung seiner Ideologie ab, doch bis in die 1970er Jahre nutzten manche Schulgeschichtsbücher enthistorisierende Vokabeln, um Hitler zu erfassen.

3.2.2. Zulassungsverfahren Dass die Schulgeschichtsbücher eine Biographie Hitlers anboten, wurde auch von den Gutachterinnen und Gutachtern erwartet und eingefordert. So kritisierte ein Oberschulrat im Zulassungsverfahren des 1952 veröffentlichten ›Geschichte der Neuesten Zeit‹, dass es nicht anginge, »eine ganze Geschichtsepoche um einen Mann kreisen zu lassen, der überhaupt nicht charakterisiert wird, wie dies bei der Person Hitlers der Fall ist.«829 Die Gutachterinnen und Gutachter standen vor der Frage, wie die historische Persönlichkeit Hitler zu erklären und zu bewerten sei. Dabei stand für Sachverständige das rhetorische Talent Hitlers im Kontrast zu seinen ansonsten antibürgerlichen Eigenschaften. (Ent-)Historisierung? Wie das rhetorische Talent Hitlers in den Schulgeschichtsbüchern bewertet werden sollte, wurde des Öfteren von Sachverständigen geprüft. Ein als Gutachter ersuchter Mittelschullehrer forderte 1960 für das vom Bayerischen Schulbuchverlag eingereichte Manuskript von ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ den Austausch einer Bildquelle, da das im Manuskript verwendete Bild aus Hitlers Jugend »völlig nichtssagend« sei. Stattdessen wollte der Gutachter »ein Bild des wild gestikulierenden Demagogen« sehen,830 wodurch der Gutachter zum einen Hitlers Rhetorik als wesentlichen Aspekt zur Beurteilung seiner Person und vermutlich auch seiner historischen Wirkmacht hervorhob. Zum anderen sah der Sachverständige im Foto eine Möglichkeit zur Distanzierung von Hitler, worauf die pejorative Attribuierung hindeutet. Dass die Entlarvung Hitlers nicht nur als Demagogen, sondern als außerhistorische Figur für den Gutachter Aufgabe des Unterrichts war, zeigt sich zudem deutlich in der von ihm geäußerten Erwartung, »daß eine überragende Gestalt des Widerstandes der diabolischen Gestalt Hitlers und seiner Trabanten gegenübergestellt« werden 829 BayHStA MK 63819 Gutachten zu Buchner ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ vom 12. Juni 1951. 830 Beide Zitate aus BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960.

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müsse.831 Zudem legte der Mittelschullehrer Wert auf eine Psychologisierung Hitlers, die vor allem in der biographischen Skizze aufgezeigt werden sollte. Dabei wollte er Hitler mit einer Reihe negativer Eigenschaften erfasst wissen, denen jedoch auch positive Eigenschaften gegenübergestanden haben sollen: »Mit der Erläuterung seiner grenzenlosen Dummheit, seiner Faulheit, seiner Unbegabtheit, Unstetigkeit, Hemmungslosigkeit, Streitsucht, Launenhaftigkeit, Arbeitsscheue, der Nichtbewältigung seines Lebens, des Neides, der Ressentiments des Habenichts gegen die Besitzenden, der Verantwortungslosigkeit, der Obdachlosenpsyche des Abenteurertums wird man dem Phänomen Hitler nicht gerecht. Gerade seine positiven Eigenschaften, die freilich für das Negative genutzt wurden, waren es, die Hitler befähigten, an die Macht zu kommen.«832

Die Hitler zugesprochenen Charaktereigenschaften können auch als Gegenteil bürgerlicher Tugenden aufgefasst werden. Die gewählten Begriffe weisen auf Ressentiments des Gutachters gegenüber deklassierten Schichten hin, für die Hitler pars pro toto stehe. Zudem wurde Hitlers psychische Disposition einerseits mit einer sozialen Situation identifiziert (›Obdachlosenpsyche‹) und daraus seine Ideologie abgeleitet, statt die Weltanschauung sozial- und ideengeschichtlich zu erklären. Andererseits sollte in diesem Modus auch seine Strahlkraft erklärt werden. In der politischen Großwetterlage des Kalten Kriegs hatte diese Deutung auch den geschichtspolitischen Zweck, dass der in sozialistischen Faschismustheorien immer wieder postulierte Zusammenhang von bürgerlicher und faschistischer Gesellschaft anhand der Darstellung Hitlers implizit zurückgewiesen werden konnte. Die Zweitgutachterin, Historikerin im IfZ, widersprach in ihrem Gutachten zum gleichen Manuskript dem vom Mittelschullehrer hervorgehoben Spezifikum Hitlers als ›wild gestikulierenden Demagogen‹. Zwar forderte auch sie zur Charakterisierung Hitlers ein Beispiel ein, »dass seine hemmungslose Redetalentiertheit zeigt, die sich vor allem an die emotionale Sphäre wendet, die Vernunft dabei ausschaltet.« An anderer Stelle wies die Historikerin jedoch zurück, dass dieses Redetalent einmalig bei Hitler zu finden wäre: »Der Ausdruck ›mit tierischem Gebrüll‹ ist zwar voll berechtigt, es fragt sich nur, ob er wirklich etwas Typisches ist. Es gibt auch in den Demokratien Wahl- und Volksredner, die mit solchem Gebrüll auftreten.«833

Satt ahistorische und transzendente Kräfte zu bemühen oder Hitler zu pathologisieren, verwies die Historikerin zweitens indirekt auf die sozialen Bedingungen, welche die Verbrechen des NS-Regimes erst ermöglichten, indem sie den 831 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960. 832 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960. 833 Zitate BayHStA MK 64363 Gutachten des IfZ vom 14. September 1960.

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Angriffskrieg in der kriegerischen Grundhaltung der nationalsozialistischen Ideologie verortete. Dieser sei »von einem unkontrollierten und niemandem verantwortlichen Diktator« entfesselt worden.834 Die Bevorzugung sozialhistorischer vor sozialpsychologischen Erklärungen zeigte sich auch an der Bewertung Hitlers in den letzten Kriegsmonaten, denn: »Hitlers Verfall in den letzten Monaten ist auf Erschöpfung und auf die Folgen des Attentats zurückzuführen und nicht etwa darauf, daß er ein Feigling gewesen wäre.«835 In der Stellungnahme des Verlags zu den beiden Gutachten gingen Verlag und Autoren nur kurz auf die Frage der Darstellung Hitlers ein. In der Forderung des Erstgutachters nach einer Darstellung der positiven Eigenschaften des Nationalsozialismus im Ganzen sowie der Person Hitlers sahen die Autoren »eine Einstellung zum Nationalsozialismus […], die wir schärfstens ablehnen müssen und nur als ein historisches Fehlurteil bezeichnen können.« Für Verlag und Autoren war »unerfindlich, was der Gutachter als positive Eigenschaften des ›Führers‹ genannt wissen will, und es fehlt hier leider wie in den meisten Fällen jeder konkrete Hinweis.836 Dennoch setzte sich der Mittelschullehrer mit seiner Forderung nach einer Abbildung des ›wild gestikulierenden Demagogen‹ durch, insofern der veröffentlichte Band ein Foto Hitlers während einer Rede abgedruckt hat, das mit »Wie ein Magier beschwört Hitler die Massen.« unterschrieben wurde.837 In einem 1963 eingereichten Gutachten zu ›Geschichte für Mittelschulen‹ aus dem Hause Kösel fokussierte die Historikerin des IfZ den psychischen Zustand Hitlers, denn es »sollte bei der Schilderung von Hitlers Jugend doch die Tatsache der Ziellosigkeit und Bohèmehaftigkeit seines Lebens vom 16. – 25. Lebensjahr erwähnt werden, daß er trotz vorhandener Möglichkeiten keinen Beruf erlernte, keine ernsthaften Bildungsanstrengungen fundierter Art machte, geregelte Arbeit scheute, von Familienzuschüssen, einer erschwindelten Rente oder Gelegenheitsarbeiten lebte und schließlich kümmerlich existierte. Daraus soll allerdings keine Wertung abgeleitet werden.«838

Obwohl die Historikerin kein Werturteil aus dem skizzierten Charakter Hitlers gezogen sehen wollte, war die Darstellung seines Lebens vor dem Beitritt zur Deutschen Arbeiterpartei (DAP) für sie notwendig. Diese Notwendigkeit begründete sie nicht. Zugleich lag der Charakterisierung Hitlers bereits eine Wertung zugrunde, die zwar nicht in der Intensität, jedoch in ihrer Tendenz der

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BayHStA MK 64363 Gutachten des IfZ vom 14. September 1960. BayHStA MK 64363 Gutachten des IfZ vom 14. September 1960. Zitate BayHStA MK 64363 Stellungnahme Verlag vom 24. Oktober 1960. BSV, Nationalsozialismus und Demokratie, 1961, S. 31. BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963.

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Charakterisierung durch den oben genannten Mittelschullehrer glich.839 Diese Charakterisierung forderten weitere Gutachter. So wurde in einem Gutachten von 1964 gefordert, dass Hitler als Person dargestellt werden sollte, die keine bürgerlichen Eigenschaften besaß, denn Hitler »war unfähig, sich seine bürgerl. Existenz aufzubauen, hat wohl nie körperlich gearbeitet.« Genannt werden müssten: »Mangelhafte Schulbildung, Mangel an geordnetem Wissen, schulische Fehlleistungen, Kontakt mit verworrenen politischen Köpfen und mit asozialen Elementen in Wien.«840 Im Gutachten zum Manuskript von ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ wurde für die Notwendigkeit des sozialhistorischen Erklärungsmusters geworben. Der Gutachter postulierte: »Anschauungen Hitlers müssten auch aus den besonderen sozialen und nationalen Verhältnissen in Wien und im österreichischen Vielvölkerstaat erklärt werden.«841 Zum Ende der 1960er Jahre wandelte sich der Umgang mit der Charakterisierung Hitlers: In einem Gutachten von 1968 erwartete die Historikerin des IfZ zwar weiterhin Aussagen zu Hitlers Zeit in Wien, reduzierte aber die notwendigen Elemente und verzichtete auf die Psychologisierung sowie auf die Beschreibung unbürgerlicher Eigenschaften, wie sie es noch 1960 einforderte.842 Ein Realschullehrer behauptete sogar in einem Gutachten, dass Hitler nicht dem Status des deklassierten Kleinbürgers zugesprochen werden könne, denn »[d]as Leben Hitlers in Wien war wirtschaftlich nicht so bedrängt, wie es aus dem Text gelesen werden kann. […] Er hatte Anspruch auf eine elterliche Rente.«843 Die korreliert auch mit dem Befund der Schulbuchanalyse, wonach die pathologisierenden Darstellungen Hitlers seit Mitte der 1960er Jahre zurückgefahren wurden. Positive Eigenschaften? Während sich der Bayerische Schulbuchverlag und dessen Autoren 1960 bei ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ dagegen wehrten, Hitler und dem Nationalsozialismus positive Eigenschaften zuzusprechen, wurde dieser Modus in einem anderen Manuskript aus dem gleichen Hause durch einen Gutachter bemängelt. So kritisierte im Jahr 1960 ein eigens vom Bayerischen Schulbuchverlag 839 In einem Gutachten von 1968 reduziert sie die notwendigen Facetten der Beschreibung: »Hitlers Jugend kommt hier gar zu kurz. Er lebte in Wien von einer kleinen Rente und hat nicht als Bauhilfsarbeiter gearbeitet. Er las sehr viel und wahllos, möglicherweise auch antisemitische Broschüren.« BayHStA MK 64263 Gutachten vom 28. März 1968. 840 Beide Zitate BayHStA MK 64520 Gutachten vom 21. Juni 1964. 841 BayHStA MK 63835 Gutachten vom 28. Dezember 1959. Der Band erschien erst 1964. 842 »Er lebte in Wien von einer kleinen Rente und hat nicht als Bauhilfsarbeiter gearbeitet. Er las sehr viel und wahllos, möglicherweise auch antisemitische Broschüren.« BayHStA MK 64263 Gutachten des IfZ vom 20. März 1968. 843 BayHStA MK 64263 Gutachten vom 28. März 1968.

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beauftragter – also außerhalb des Zulassungsverfahrens stehender – Gutachter das Manuskript von ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹. Laut Gutachter gewinnt man bei der Lektüre des Manuskripts den Eindruck, der Nationalsozialismus »habe sich […] erst im Laufe der Zeit zum Schlechten entwickelt.« Denn: »Die Dämonie Hitlers und die wesenhafte Amoralität des NS kommen nicht klar zum Ausdruck.«844 Hugo Staudinger, der Autor des Bands, widersprach in seiner Stellungnahme der Annahme einer ›wesenhaften Amoralität‹ des Nationalsozialismus und Hitlers. Das gestiegene Unheil habe mit der gestiegenen Macht korreliert und gerade in den ersten Jahren habe es sehr wohl auch positive Seiten des ›Dritten Reichs‹ gegeben, argumentierte der Autor. Die Erwiderung notierte er handschriftlich im Gutachten. Staudinger sprach sich damit für er eine Aufteilung der Zeit des Nationalsozialismus in gute und schlechte Jahre aus, was bei Zeitzeugen, die nicht zu den Opfern des Nationalsozialismus gehörten, durchaus üblich war.845 Den Terror gegen die von der NS-Volksgemeinschaft Ausgeschlossenen sowie die Aufhebung bürgerlicher Rechte ignorierte Staudinger oder nahm sie zumindest als notwendige Begleiterscheinungen scheinbar positiver Seiten in Kauf.846 Die Vorstellung, dass Hitler positive Eigenschaften besessen habe, problematisierte auch ein Oberschulrat im Gutachten zum Manuskript von ›Grundriss der Geschichte‹ aus dem Klett Verlag. Er zitierte vor dem Urteil die problematische Textstelle: »›So wurde alles Positive, was er schuf, aller Auftrieb, den er den Deutschen gab, […]. ins Gegenteil verkehrt.‹« Dagegen hielt er fest: »Das ›Positive‹ kann in diesem Fall sehr engherzig, unter Umständen aber auch sehr großzügig interpretiert werden. Klare Abgrenzung wäre deshalb wohl anzuraten.« Der Oberschulrat schlug vor, die Biographie Hitlers im Manuskript zu erweitern. Die Interpretation des Textes könne für die »nachwachsende Generation« missverständlich sein, hielt der Lehrer fest.847 Er verdeutlichte aber weder, wie die Autoren diese missverständliche Interpretation verhindern können, noch, wie eine angemessene Darstellung Hitlers lauten sollte. Im später zugelassenen Band blieb die monierte Textstelle wortgetreu erhalten. Die gegensätzliche Richtung empfahl ein sachverständiger Schulrat im Zulassungsverfahren zum in Bayern abgelehnten ›Unbewältigte Vergangenheit‹ aus 844 Zitate BayHStA BSV 459 Gutachten vom 26. Juli 1960. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 845 Vgl. Herbert (1986). 846 Anzunehmen ist, dass der 1921 geborene Staudinger die mehrheitsdeutsche Sicht auf die Zeit des Nationalsozialismus teilte. So schrieb er im Schulgeschichtsbuch zu den wirtschaftspolitischen ›Erfolgen‹: »Angesichts dieser positiven Seite der Machtballung glaubten viele, gewisse Nachteile als notwendige Schattenseiten hinnehmen zu müssen.« BSV, Unsere Geschichte, 1964, S. 157. 847 Zitate BayHStA MK 63844 Gutachten vom 2. Februar 1959.

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dem List Verlag. Die fehlende Biographie monierte der Gutachter zwar, doch ließe sich wenigstens »vieles aus seinen Handlungen entnehmen.« Dagegen vermisste der Gutachter die positiven Seiten Hitlers bzw. des NS-Regimes, mit dem er ihn gleichsetzte: »Positives über seine Tätigkeit ist nirgends ausgesagt, wenn einmal Erfolge zugestanden werden, dann werden sie immer zurecht gerückt, z. B. ›1933 begann er, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Er war darin so erfolgreich; zum Teil, weil er Brünings Pläne aufgriff, zum Teil, weil er mit den Vorbereitungen für einen Krieg begann.«848

Damit sprach sich der Schulrat offen dafür aus, die Wirtschaftspolitik des NSRegimes als positive Leistung Hitlers darzustellen, indem der längerfristige Zweck dieser Politik – nämlich die Vorbereitung NS-Deutschlands auf einen Krieg – ignoriert werden sollte. Mit dieser befürworteten und eingeforderten Deutung einer erfolgreichen NS-Wirtschaftspolitik, stellte das Gutachten eine Ausnahme dar, von der der Gutachter ein Jahr später wieder abrückte.849 Die Analyse der Zulassungsverfahren zeigt, dass die Akteure darum bemüht waren, eine historische Erklärung Hitlers zu formulieren. Diese kritische Erklärung sollten Schülerinnen und Schülern dazu dienen, ein kritisches Urteil und die Wirkmacht der historischen Person kompakt zu erfassen. Diese Würdigung war entlang zweier Pole aufgespannt. Indem Hitler als Verkörperung des Bösen behandelt und die Geschichte des Nationalsozialismus auf Hitler verdichtet wurde,850 reflektierten die Akteure der Zulassungsverfahren indirekt den Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus als Ganzes. Zudem stand die Frage nach der richtigen Einordnung Hitlers im Spannungsfeld sozialpsychologischer und sozialhistorischer Erklärungsmuster. Während noch im Nachkriegsjahrzehnt eine enthistorisierende Erklärung Hitlers vorherrschte, setzten sich seit Mitte der 1960er Jahre langsam sozialhistorische Deutungsmuster durch.

848 BayHStA MK 64519 Gutachten vom 8. Februar 1961. 849 Im bearbeiteten und vom List Verlag unter dem Titel ›Zeitgeschichte und wir‹ wieder vorgelegten Band, den er trotz der genannten Haltung wieder begutachten durfte, kritisierte er, dass der wirtschaftliche Aufschwung im NS-Regime nicht als ›Scheinblüte‹ dargestellt würde, sondern bloß der Krieg als Zweck der staatlich geförderten Wirtschaft genannt werde, siehe BayHStA MK 64520 Gutachten vom 30. Juli 1962. 850 Siehe zum ›Hitlerzentrismus‹ in der frühen Bundesrepublik Hammerstein (2017), S. 68–78. Der Fokus auf Hitler war auch didaktisch durchaus anerkannt. In der Zeitschrift GWU schlug Host Fischer 1969 ein Unterrichtsbeispiel zum Aufstieg der NSDAP und der nationalsozialistischen »Machtergreifung 1933/1934« vor, dass »die Person Hitlers in das Zentrum der Überlegungen gerückt« hat. Der Exkurs zur Biographie Hitlers diente dazu, die Ideologie des Nationalsozialismus vorzubereiten, erklärte der Autor: »Die Schüler lernen erstmals auf eine für sie leicht faßbare Art das Ausweichen vor der Verantwortung als einen bestimmenden Zug der NS-Führungsschicht kennen.« Fischer (1969), S. 343.

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Dämon Hitler? In einigen Zulassungsverfahren spitzte sich die Debatte um die Charakterisierung in der Frage um die ›Dämonisierung‹ Hitlers zu. So forderte beispielsweise ein damaliger Studienprofessor in seinem Gutachten zum Oberstufenband von ›Geschichtliches Werden‹ die klare Äußerung, dass »Hitler mit dämonischem Geschick die ersten Jahre seiner Außenpolitik unter das Motto ›Revision von Versailles‹ stellte«.851 Die Gutachterinnen und Gutachter des Instituts für Zeitgeschichte widersprachen durchweg der impliziten und expliziten Dämonisierung Hitlers in den Manuskripten: Der Historiker Hans Buchheim in seinem Gutachten zum Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹ des C.C. Buchners Verlags 1958: »Hitler glaubte nicht von dämonischen Kräften geleitet zu sein, sondern er setzte seinen Willen mit dem der Vorsehung gleich. Dämonische Züge in Hitlers Wesen werden heute von christlichen Historikern angenommen. Neben der Demagogie darf man bei Hitlers Kampfmitteln nicht den offenen Terror zu nennen vergessen.«

Zudem korrigierte er die im Manuskript beschriebenen materiellen Verhältnisse, in denen Hitler aufgewachsen sein soll: »Hitler stammt nicht aus ›dürftigen‹ Verhältnissen, wie er uns in ›Mein Kampf‹ glauben machen will, sondern aus recht gutsituierten kleinbürgerlichen Verhältnissen.«852 In beiden Fällen sprach sich Buchheim gegen eine Deutung der Person Hitlers aus, die auf der Übernahme der NS-Propaganda basierte. Die Kritik an der enthistorisierenden Deutung des mit ›dämonischen Fähigkeiten‹ ausgestatteten Hitler, wie auch die Kritik an den angeblich deklassierten Verhältnissen, in denen Hitler aufgewachsen sein soll, wurde zwar im Manuskript zu diesem Schulgeschichtsbuch übernommen, worauf die handschriftliche Notiz des Ministerialbeamten auf dem Gutachten hinweist, allerdings protestierte der Autor vehement.853 Das Ministerium zeigte sich verständnisvoll: Im gedruckten Buch waren die dürftigen Verhältnisse zwar zu »einfachen, kleinbürgerlichen Verhältnissen« und die dämonischen Fähigkeiten lediglich zu »fast hypnotische[r] Macht« abgeschwächt worden, doch die Charakterisierung endete mit der Einschätzung, dass Hitler »von dämonischen Kräften geleitet zu sein« schien.854 Der kritische Einwand des Historikers bezüglich der Darstellung Hitlers konnte sich im Zulassungsverfahren kaum durchsetzen. Dieser Kritik folgend empfahl eine weitere Historikerin des IfZ im Gutachten zu dem im BSV verlegten ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ von 1968, dass »Be851 852 853 854

BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963. Zitate BayHStA MK 64256 Gutachten des IfZ vom 11. November 1958. Vgl. BayHStA MK 64256 Stellungnahme Autor vom 15. Mai 1959. Zitate C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 159 und 160.

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zeichnungen wie ›dämonisch‹ […] im Zusammenhang mit Hitler endlich aus deutschen Schulbüchern verschwinden«855 sollten. Ein Jahr später forderte ein dritter Historiker des IfZ, dass die angedeutete »Dämonisierung Hitlers […] aus Schulbüchern verschwinden«856 sollte, dem sich 1970 ein vierter Institutsmitarbeiter anschloss: Er empfahl, mit »Vokabeln wie ›dämonisch‹ […] bei der Erklärung historischer Persönlichkeiten oder historischer Vorgänge vorsichtig« zu sein und diese Begrifflichkeiten ersatzlos zu streichen.857 In der Kritik an der Vokabel wiesen die Angestellten des IfZ eine christlich aufgeladene Deutung von Hitlers Persönlichkeit zurück und plädierten wenigstens implizit für eine stärkere Historisierung. Abgesehen von Hans Buchheim führten die Angestellten ihre Kritik jedoch nicht weiter aus. Die Dämonisierung Hitlers und des Nationalsozialismus ging jedoch nicht in der Enthistorisierung auf. Dies zeigt das Gutachten eines Schulrats von 1972. Er empfahl einen insgesamt sachlichen Tonfall bei der Darstellung Hitlers im Manuskript zur Neuauflage von ›Wir erleben die Geschichte‹. »Die Abscheu vor dem Gemeinen und die Gefahren des Dämonischen sollen Schüler und Lehrer aus sachlichen Berichten erlesen können«, postulierte der Gutachter. Er äußerte aber ein grundlegendes Problem der Zeitgeschichte. Wer vom Nationalsozialismus betroffen und wohlmöglich begeistert gewesen sei, dem sei es kaum möglich, eine sachliche Bewertung Hitlers zu verfassen, so der Gutachter. Er argumentierte, dass »Gefühle der zeitgenössischen Autoren stark durch Enttäuschung und Empörung die Geschichtlichkeit beeinflussen. Die Beurteilung Hitlers erfolgt nicht aus der Distanz einer Generation, die nicht beteiligt war, daher mag es schwierig sein, die Vorgänge mehr aufklärend als emotional zu werten.«858 Der Schulrat eröffnete einen Gegensatz zwischen einem kognitivistischen und emotionalen Zugang zur Zeitgeschichte und verwarf das Diktum des Doyens der Zeitgeschichte, Hans Rothfels, der gerade in der Betroffenheit einen Vorteil für die Geschichtsschreibung der Zeitgeschichte erkannte. Rothfels argumentierte, dass die jüngste Vergangenheit »uns hart genug bedrängt [hat], um uns des innerlich Zusammenhängenden und des Neuartigen einer universalen Konstellation gewahr werden zu lassen.«859 Worin Rothfels 1953 noch eine der Stärke der Zeitgeschichtsschreibung ausmachte, hob der Schulrat fast zwanzig Jahre später ihre Schwäche hervor. Der Gutachter wies damit darauf hin, dass die Deutung Hitlers ein kohortenspezifisches Problemfeld war. Statt ein Psychogramm Hitlers 855 Zitate BayHStA MK 64263 Gutachten des IfZ vom 20. März 1968. 856 BayHStA MK 65265 Gutachten des IfZ vom 24. März 1969. 857 BayHStA MK 64272 Gutachten des IfZ vom 27. Januar 1970. Dennoch attestierte der zugelassene Band Hitler eine »dämonisch wirkende Energie«. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 97. 858 Zitate BayHStA MK 64521 Gutachten vom 22. Juni 1972. 859 Rothfels (1953b), S. 6.

»Wer war dieser Hitler?« Zwischen Psychologisierung und Historisierung

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zu zeichnen und ihn als Dämon zu enthistorisieren, sollten, die Schülerinnen und Schüler zu einem sachgerechten Urteil über Hitler gelangen, in dessen Konsequenz sie das Verbrecherische des Regimes erkennen können. Dass der Gutachter dabei selbst die enthistorisierende Vokabel ›dämonisch‹ nutzte, zeigt die Persistenz des Begriffs und seine wichtige Funktion als moralische Kategorie im geschichtskulturellen Umgang mit Hitler und dem Nationalsozialismus auf. Zusammenfassung Der Umgang mit der Biographie und dem Charakter Hitlers stand in den Zulassungsverfahren im Spannungsfeld enthistorisierender, psychologisierender und sozialgeschichtlicher Deutungsmuster. Dieser Deutungskonflikt war von dem Interesse nach moralischer Distanzierung einerseits und sachlicher Darlegung andererseits geprägt. Die enthistorisierende Darstellung Hitlers war auch in der offiziellen Geschichtskultur üblich und spitzte sich in der Darstellung Hitlers als übermenschliches Monster zu, dem diskursiv magische Fähigkeiten zugesprochen wurden. Zwar waren die Gutachterinnen und Gutachter des Instituts für Zeitgeschichte darum bemüht, diesen Begriffen aus den Schulgeschichtsbüchern wegen ihrer enthistorisierenden Funktion zu streichen, doch noch Schulgeschichtsbücher der 1970er Jahre attribuierten Hitler als Dämon. Dass der Begriff trotz der Einwände aus dem IfZ aus Sicht vieler Schulbuchmacher einer sachlichen Darstellung nicht entgegenstand, zeigt sich beispielsweise in einem 1972 verfassten Gutachten. Der Gutachter erwartete, dass die Lernenden sich gerade durch die sachorientierte Beschreibung Hitlers des Dämonischen im Allgemeinen gewahr wurden. Der Begriff erlaubte vermutlich einen niedrigschwelligen, emotionalen Zugang zu einem moralischen Urteil über Hitler, was für ein didaktisches Medium wohl bedeutsam war. Dies zeigt auch, dass die geschichtspolitischen Wirkungen der Schulbuchdarstellungen mitunter eine ungewollte Folge pädagogisch-didaktischer Überlegungen waren. Das didaktische Anliegen einer kindgemäßen Darstellung und die fachliche Erwartung an differenzierte Darstellungen fielen auseinander. Die Schulbuchanalyse zeigt, dass Gutachterinnen und Gutachter bis Mitte der 1960er Jahre auch um eine psychologisierende Deutung Hitlers bemüht waren, während die Sachverständigen jüngerer Zulassungsverfahren die Historisierung Hitlers beförderten. Angesichts der politischen Großwetterlage des Kalten Kriegs war diese soziale Einordnung Hitlers von geschichtspolitischer Relevanz. Während die Faschismusdoktrinen sozialistischer Länder NS-Regime und bürgerliche Demokratie als zwei zusammenhängende Ausprägungen des Kapitalismus verstanden,860 konnte die Darstellung Hitlers als entbürgerlichter Charakter 860 Vgl. Wippermann (1997a), S. 58–64.

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diesen Zusammenhang zurückweisen. Insofern der den Nationalsozialismus verkörpernde Hitler nicht dem Bürgertum, sondern der deklassierten Bohème bzw. dem ›asozialen‹ Milieus zugeordnet wurde, galt auch das NS-Regime nicht als Form bzw. Fortsetzung bürgerlicher Herrschaft, sondern als dessen Negation. Der immer wieder behauptete Hass Hitlers auf das Bürgertum bzw. die Besitzenden ließ das bürgerliche Milieu sogar implizit als Opfer des ›Hitlerregimes‹ verstehen. Dagegen konnten bürgerliche Tugenden und Charaktereigenschaften als Garant demokratischer Verhältnisse in ihrer Bedeutung am ›asozialen‹ und ungebildeten Hitler hervorgehoben werden. Dies fügt sich auch in den Befund der Analyse hegemonialer Geschichtskultur zum Ende der Weimarer Republik ein. Bereits in Kapitel 3.1. konnte aufgezeigt werden, dass der Niedergang Weimars laut hegemonialer Geschichtskultur weniger durch die innere Korrumption der staatlichen Institutionen und bürgerlichen Hüter der Demokratie, sondern durch die Feinde der bürgerlichen Herrschaft und den Verfall bürgerlicher Werte zermürbt und schließlich zerstört worden ist. Indem Hitlers Ideologie als psychische Folge seiner sozialen Position dargestellt wurde, mussten nicht die ideen- und sozialgeschichtlichen Zusammenhänge von autoritärem Bürgertums und nationalsozialistischem Milieu erörtert werden. Die pathologisierende Darstellung Hitlers diente im deutschdeutschen Systemkonflikt folglich auch der Legitimation der bürgerlichen Bundesrepublik und kann als ein Aspekt des antitotalitären Deutungsmusters verstanden werden. Die Veränderungen in der hegemonialen Geschichtskultur zu Adolf Hitler hingen auch mit der Darstellung und Bewertung des NS-Antisemitismus zusammen. Das folgende Kapitel beleuchtet den geschichtskulturellen Wandel zu diesem Konfliktfeld.

3.3. »Hitler und die Juden«. Verortung und Gewichtung des Antisemitismus Die Frage nach dem historischen Ort des nationalsozialistischen Antisemitismus in der deutschen Geschichte sowie die Frage nach der Gewichtung des Antisemitismus im Nationalsozialismus galten neben der eher didaktischen Frage, wie der Antisemitismus angemessen darstellbar sei, als gewichtige Konfliktlinien in Zulassungsverfahren.861 Im folgenden Kapitel sollen die Verläufe dieser Konfliktlinien anhand der Schulgeschichtsbücher skizziert werden. Dabei wird anhand der Einordnung des NS-Antisemitismus und der Verwendung von Text-

861 List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 74.

»Hitler und die Juden«. Verortung und Gewichtung des Antisemitismus

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und Bildmaterial geprüft, inwieweit die Thematisierung des NS-Antisemitismus für eine als angemessen erachtete Darstellung des Nationalsozialismus relevant war. Zudem wird geprüft, wie die Schulgeschichtsbücher den NS-Antisemitismus historisch einordneten bzw. inwiefern dazu Stellung bezogen wurde. Im Anschluss an die Schulbuchanalyse werden vor diesem Hintergrund die Gutachten interpretiert und die Wirkung der Zulassungsverfahren bei dieser Konfliktlinie an geeigneten Stellen geprüft. Bereits in Kapitel 3.2. konnte ein Deutungswandel im geschichtskulturellen Umgang mit Adolf Hitler aufgezeigt werden. Eine pathologisierende und enthistorisierende Deutung wich dabei zusehends dem Bestreben, Hitlers Ideologie zu historisieren. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit den Ergebnissen in diesem Kapitel. Bis zur Mitte der 1960er Jahre wurde der nationalsozialistische Antisemitismus in Darstellungen diskursiv auf Hitler reduziert und stellenweise als Wahn pathologisiert. Seit Mitte der 1960er Jahre wich diese Hitlerzentrierung einer stärker historisierenden Darstellung des NS-Antisemitismus, die mitunter Kontinuitätslinien in der deutschen Nationalgeschichte prüfte. Diese Historisierung stand bei den Akteuren der Zulassungsverfahren allerdings im Konflikt mit dem nationalpädagogischen Erziehungsauftrag des Geschichtsunterrichts.

3.3.1. Schulbuchanalyse Inwiefern Antisemitismus für die Darstellung des Nationalsozialismus aus Sicht der Schulbuchmacher relevant war und wie sich diese Bedeutungszuschreibung veränderte, soll an zwei Facetten beleuchtet werden: Erstens wird geprüft, ob dem Antisemitismus – also der antisemitischen Weltanschauung, Gesetzgebung sowie dem Terror gegen Jüdinnen und Juden vor 1939 sowie der Vernichtung des europäischen Judentums – eigene Kapitel zugestanden wurden. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die im Inhaltsverzeichnis angegebene Gliederung von Schulgeschichtsbüchern die geschichtskulturelle Wertigkeit von Themen und Aspekten widerspiegelt. Zweitens wird geprüft, inwiefern der NS-Antisemitismus in Bild- und Textquellen wiedergegeben wurde. Auch wenn eine systematische Didaktisierung von Materialien in Schulgeschichtsbüchern durch Arbeitsaufträge erst spät eintrat, nutzten Schulgeschichtsbücher schon bald Bildund Textquellen, um als wichtig erachtete Thesen zu belegen oder zu illustrieren. Dementsprechend sollen diese beiden Aspekte herangezogen werden, um die Relevanz des NS-Antisemitismus bei der Darstellung des Nationalsozialismus in Schulgeschichtsbüchern aufzuzeigen, ohne daraus auf die Qualität der Darstellung zu schließen. Im Anschluss werden die Aussagen zum historischen Ort des Nationalsozialismus analysiert.

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Eigenständiges Themenfeld? Auch wenn die antisemitische Weltanschauung und Praxis des Nationalsozialismus mittlerweile als wesentliches Element des Nationalsozialismus gilt, dessen Fluchtpunkt der Holocaust darstellt, und dementsprechend gewichtig in gegenwärtigen Schulgeschichtsbüchern behandelt wird,862 galt die Behandlung des Antisemitismus in Lehrwerken lange Zeit bestenfalls als randständiges Thema: Die ersten in Bayern zugelassenen Schulgeschichtsbücher verwendeten nur wenige Zeilen auf dieses Thema. C.C. Buchners 1952 veröffentlichtes ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ beschrieb die Vernichtung des europäischen Judentums während des Zweiten Weltkriegs in drei Sätzen.863 Im Kapitel »Kriegsnot in der Heimat« fasste ›Bilder aus deutscher Geschichte‹ den Holocaust 1954 lediglich in einem Satz zusammen.864 Einen Absatz widmete der Mittelschulband ›Europa und die Welt‹ der Vernichtung der polnischen Juden. Der Band deutete den von NS-Deutschland ausgehenden Massemord an den Polen als gemeinsame Tat von NS-Regime und Sowjetunion.865 In ›Grundzüge der Geschichte‹ wurde der Holocaust auf einer viertel Seite thematisiert und erhielt einen eigenen Abschnitt, der mit »Die Vernichtung der Juden« eingeleitet wurde.866 Doch erst 1962 wurde der Vernichtung des europäischen Judentums ein eigenes Kapitel gewidmet: Das im Bayerischen Schulbuchverlag herausgegebene ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ sah dafür 2,5 Seiten vor, die unter dem Titel »Der organisierte Massenmord« standen,867 während das im List Verlag erschienene, in Bayern aber nicht zugelassene ›Zeitgeschichte und wir‹ auf insgesamt zehn Seiten den antisemitischen Terror ab 1933 bis zur »Endlösung der Judenfrage« schilderte und dabei auch einen mehrseitigen Anhang von Bild- und Textquellen anbot.868 Das Kapitel begann mit dem Versuch, den NS-Antisemitismus historisch zu verorten, indem ein stark geraffter Überblick zur Geschichte der Juden und des Antisemitismus dem NS-Terror gegen die Juden vorangestellt wurde, das unter dem Titel »Hitler und die Juden«869 stand. Seit 1962 räumten insgesamt acht der untersuchten Schulgeschichtsbücher dem Holocaust mindestens ein eigenes 862 Ausführlich zur Thematisierung von Judenverfolgung und Judenvernichtung in gegenwärtigen Schulgeschichtsbüchern siehe die Studie Schinkel (2018), S. 334–345. 863 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 62. 864 »In den Gaskammern der Vernichtungslager wurden Millionen, vor allem Juden, ermordet.« Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 178. 865 Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschule. 1953, S. 160. 866 Gemeinsam mit dem Absatz »Konzentrationslager« bildeten die beiden Abschnitte das Kapitel zweiter Ordnung »Verfolgung und Terror während des Krieges«, das fast eine Seite umfasste. Siehe Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 144–145. 867 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 96–98. 868 List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 74–83. 869 List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 74.

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Kapitel ein. Mit der Überschrift »Der Massenmord an den Juden« widmete sich ›Wir erleben die Geschichte’ auf vier Seiten dem NS-Antisemitismus von der Weltanschauung bis zum Holocaust870 und auch der Oberstufenband von ›Geschichtliches Werden‹ fasste 1971 die als rassistisch apostrophierte antisemitische Weltanschauung mit dem Holocaust im Kapitel »Die Ideologie des Rassenhasses und ihre Konsequenzen« zusammen.871 Auffällig ist, dass im Band neben dem Antisemitismus auch der Konflikt des NS-Regimes mit den Kirchen sowie die Ablehnung der Demokratie und die Propaganda als Konsequenzen der rassistischen Ideologie verstanden wurden. Dem offensichtlich zentralen Stellenwert des Rassismus zur Beschreibung der Geschichte des Nationalsozialismus entsprechend stellten die Autoren das NS-Regime auch als »ideologische Diktatur« vor.872 ›Die Vergangenheit lebt‹ sah 1967 zwei Seiten vor, um »Konzentrationslager und die Vernichtung der Juden« zu erklären und porträtierte Edith Stein in einem eigenen Kapitel mit Textquelle.873 Anhand des Lebenswegs der zum Katholizismus konvertierten Jüdin, die als Schwester Benedicta während des Nationalsozialismus im Kloster lebte, exemplifizierte das Schulgeschichtsbuch die Verfolgung und Ermordung der Juden im Nationalsozialismus.874 Bereits vier Jahre zuvor – in ›Geschichte unseres Volkes‹ – widmete der Verlag der Darstellung Edith Steins eine Spalte mit der gleichen Textquelle.875 Damit setzte der Verlag eine Lehrplanvorgabe um, denn für kurze Zeit gab der Geschichtslehrplan für Volksschulen vor, Edith Stein und Anne Frank im Unterricht zu thematisieren.876 Als »Endlösung der Judenfrage« wurde die Vernichtung des Judentums ohne Distanzierung vom Jargon des Nationalsozialismus bei ›Geschichte für Realschulen‹ 1971 im Iterinar verzeichnet,877 das zudem ein eigenes Kapitel für den NS-Antisemitismus vor dem Zweiten Weltkrieg hatte.878 ›Spiegel der Zeiten‹ räumte dem »Völkermord an den Juden« ein Kapitel ein879 und der Band ›Wir erleben die Geschichte‹ ordnete das Kapitel »Der Massenmord an den Juden«880 870 BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 194–198. 871 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 119–125. 872 Als ideologische Diktatur verglichen die Autoren das NS-Regime außerdem mit der Sowjetunion und nannten als einzigen Unterschied, dass die »nationalsozialistische Weltanschauung kein systematisch durchkonstruiertes Gedankengebäude« darstellt. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S 119. 873 Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S 127–129. Zwischen den beiden Seiten zum Holocaust zeigt eine Seite ausschließlich eine Karte namens »Europa im Zweiten Weltkrieg«. 874 Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S 138–139. 875 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 119. 876 Siehe hierzu Kapitel 2.1. 877 Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 132–34. 878 Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 113–115. 879 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 135–138. 880 BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 114–117.

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nach dem Kapitel »Terror – Verfolgung – Massenmord« ein, das die Verfolgung der Christen in NS-Deutschland behandelte.881 Der »Judenverfolgung – Judenvernichtung« widmete schließlich auch ›Fragen an die Geschichte‹ vier Seiten.882 Von den insgesamt 14 ab 1962 erfassten Schulgeschichtsbüchern zeichneten acht mindestens ein Kapitel – in der Regel zum Holocaust – aus, während die untersuchten Schulgeschichtsbücher vor 1962 kein Kapitel vorwiesen. Ebenso stellte das 1957 auf den Markt gebrachte ›Grundzüge der Geschichte‹ eine Scharnierstellung dar, insofern es als erstes einen eigens gezeichneten Absatz zur Judenvernichtung führte. Dass der eliminatorische Antisemitismus in einigen Bänden ab den 1960er Jahren ein eigenes Kapitel erhielt, heißt nicht zwingend, dass ihm auch mehr Platz zugesprochen wurde. Im 1963 erschienenen ›Geschichte unseres Volkes‹ wird die Vernichtung des europäischen Judentums auf knapp drei Seiten besprochen, was allerdings mit anderen NS-Verbrechen im Rahmen des Zweiten Weltkriegs unter dem Titel »Hitlers Verbrechen schänden den deutschen Namen« zusammengefasst wurde.883 Dass der Antisemitismus in den untersuchten Lehrwerken jedoch zusehends ein eigenes Kapitel erhielt, legt nahe, dass er als eigenständiger Aspekt der Geschichte des Nationalsozialismus bewertet wurde. Text- und Bildquellen Einen zweiten Näherungswert, um die Relevanz des Antisemitismus in der Geschichte des Nationalsozialismus für die Autorinnen und Autoren zu identifizieren, können die in Schulgeschichtsbüchern verwendeten Bild- und Textquellen geben. In den dreißig untersuchten Schulgeschichtsbüchern wurden insgesamt 67 Textquellen verwendet, um den nationalsozialistischen Antisemitismus zu belegen oder zu illustrieren. Sieben der 67 Textquellen stehen zudem in einem didaktisierten Zusammenhang, insofern Arbeitsaufträge zu den Quellen formuliert wurden. Das 1958 im Klett Verlag veröffentlichte ›Grundriss der Geschichte‹ räumte dem NS-Antisemitismus zwar kein im Inhaltsverzeichnis ausgezeichnetes Kapitel ein, dafür aber eine Seite, die vor allem mit einem in Kleindruck abgefassten Zitat des sog. Gerstein-Berichts besetzt wurde.884 Es ist das erste Schulgeschichtsbuch, das eine Quelle zur Thematisierung des NS-Antisemitismus nutzte. Kurt Gerstein war als Hygienefachmann der Waffen-SS in den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka tätig, wodurch er zum Augenzeugen des Einsatzes von Abgasen und später auch Zyklon B wurde. Im April 881 882 883 884

BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 113. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 58–61. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 116–119. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 187–188.

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1945 wurde Gerstein von der französischen Armee verhaftet, legte in Haft einen Augenzeugenbericht zu den Massenvernichtungen ab und stützte ihn mit weiteren Dokumenten. Der Bericht wurde zunächst im sog. Nürnberger Ärzteprozess als Beweisstück der Anklage eingesetzt und 1953 vom Institut für Zeitgeschichte ediert und veröffentlicht, da die »Aufzeichnungen Gersteins einen in vieler Hinsicht einzigartigen Augenzeugenbericht aus dem Bereich der Massenvergasungen darstellen.«885 Bereits bei der Veröffentlichung des Berichts stellte Hans Rothfels heraus, dass Kurt Gerstein »einen exemplarischen Fall des ›Mitmachens, um Schlimmeres zu verhüten‹ dar[stellte], das ja ein bekanntes Phänomen ist, hier aber nicht in seiner durchschnittlichen, oft nur allzu durchschnittlichen, sondern in einer äußerst zugespitzten Gestalt erscheint.«886 Veröffentlichungen der Vierteljahrshefte wurden laut Hermann Graml und Hans Woller häufig über Presse und Rundfunk rezipiert und nachgedruckt, doch der Gerstein-Bericht war ein »publizistisches Ereignis, das in der Geschichte des Vierteljahrshefte ohne Beispiel ist«, da zahlreiche Zeitungen und Studios darüber berichteten und ein eigener Sonderdruck des Berichts eine Auflage von 100 000 Stück erreichte.887 Ohne bibliographische Angaben zitierte ›Grundriss der Geschichte‹ als erstes der untersuchten Schulgeschichtsbücher diesen Bericht. 1962 nahmen auch ›Zeitgeschichte und wir‹888 sowie das im BSV herausgegebene ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹889 den Bericht auf. Der BSV zitiert die Quelle auch 1966 im Volksschulband ›Wir erleben die Geschichte‹ sowie in der Ausgabe von 1974, allerdings in beiden Fällen, ohne den Verfasser zu nennen.890 Häufiger wurde in den untersuchten Büchern aus der Zeugenaussage von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz, der im Rahmen der Nürnberger Prozesse vernommen wurde, zitiert. Höß sagte dort als Zeuge der Verteidigung aus und bestätige die Niederschrift der zuvor während der Vernehmung sehr detaillierten Beschreibungen über den Ablauf des Massenmords in Auschwitz sowie in dem von ihm besuchten Treblinka. Insgesamt elf Schulgeschichtsbücher verwendeten seit 1962 diese ursprünglich zur Verteidigung der Hauptkriegsverbrecher verfasste Quelle, um den systematischen Massenmord an den Juden zu belegen.891 Damit wurde die Zeugenaussage 885 886 887 888 889 890

Rothfels (1953a), S. 177. Rothfels (1953a), S. 183. Graml und Woller (2003), S. 67. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 80. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 98. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 171. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 115 und 117. 891 List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 79. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 97–98. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 182. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 117. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964,

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von Rudolf Höß in fast allen der nach 1962 erschienenen, untersuchten Schulgeschichtsbüchern abgedruckt. Diesen kanonischen Rang konnte keine weitere Textquelle erreichen. Auffällig ist weiterhin, dass in zwei Schulgeschichtsbüchern je eine Quelle abgedruckt wurde, die expressis verbis die Perspektive von Opfern wiedergibt.892 Das ist insofern bemerkenswert, als dass das Verhalten jüdischer Opfer in den frühen Forschungen laut Frank Bajohr »nicht immer die gebotene Aufmerksamkeit gewidmet« wurde und sich erst in den 1970er und 1980er Jahren langsam eine Wende hin zu den Ego-Dokumenten jüdischer Zeitzeugen abzeichnete.893 Die beiden Schulgeschichtsbücher standen somit im Kontrast zur geschichtskulturellen Hegemonie. ›Die Vergangenheit lebt‹ zitierte 1967 den Brief eines polnischen Juden von 1943, der seiner Schwester von der Deportation der Mutter aus Warschau nach Treblinka und den Gaskammern berichtete.894 ›Fragen an die Geschichte‹ druckte 1979 zwei Tagebucheinträge des deutschen Theologen und Schriftstellers Jochen Kleppers ab, der darin seine Angstträume angesichts der drohenden Deportation seiner jüdischen Frau und der gemeinsamen Tochter schilderte.895 In ›Die Vergangenheit lebt‹ und ›Wir erleben die Geschichte‹ forderte jeweils ein Arbeitsauftrag die Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich in der Klasse aus dem Tagebuch der Anne Frank896 vorzulesen.897

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S. 196. Mit der Einleitung »Ein Augenzeuge berichtet«: BSV, Wir erleben die Geschichte 2, 1966, S. 197. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 122. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 132. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S: 136–137. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 115. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 60. Der den Quellenauszug einleitende Text zeigte die Opferperspektive auf. Nach Frank Pingel übernahm der vom Klett Verlag herausgegebene sechste Band von ›Menschen in ihrer Zeit‹ von 1965 zum ersten Mal die Perspektive eines Opfers. Nicht der Lagerkommandant, sondern ein KZ-Häftling schilderte Auschwitz, vgl. Pingel (2000), S. 16–17. Bajohr (2020), S. 27. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 128–129. Die Tagebucheinträge sind vom 24. August und vom 28. September 1942. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 60. Die Familie beging am 11. Dezember 1942 Suizid, um der Deportation zu entkommen. Das Buch wurde 1955 im S. Fischer Verlag erstveröffentlicht und erreichte bereits 1960 eine Auflage von 750 000 Exemplaren, vgl. Reichel (2001), S. 150. Frank (2015). Die breite Rezeption des Tagebuchs in der deutschen Bevölkerung erklärte damit auch, dass die Passagen in der Erstausgabe gestrichen wurden, die Anne Franks deutsche Herkunft, Deutsche als ihrer Verfolger oder ihre Ängste vor deutschen Tätern (etwa die Furcht, vergewaltigt zu werden) thematisierte. Außerdem wurden die zentralen Orte des Holocausts und die Mordmaschinerie selbst nicht dargestellt. Dadurch eigneten sich die Tagebücher »mehr zur intimen Identifikation und persönlichen Annäherung, wie auch zur pathetischen Überhöhung und kitschigen Versöhnungssehnsucht, die man, ausgesprochen von einem jüdischen Mädchen, dankbar entgegennehmen konnte.« Berg (2003c), S. 85. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 129. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1967, S. 197. Der Band zeigt zudem auf der gleichen Seite ein Portraitfoto von Anne Frank.

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In den dreißig untersuchten Schulgeschichtsbüchern wurden zudem 66 Bilder abgedruckt, um den Antisemitismus während der Zeit des Nationalsozialismus zu illustrieren, wovon etwa jedes zweite im Kontext des Holocausts stand. Der Band ›Bilder aus deutscher Geschichte‹ von 1954 druckte ein Foto des KZ Dachau und verwies in der Bildunterschrift auf weitere Seiten im Buch, wo u. a. die Verfolgung und Vernichtung der Juden angesprochen wurde898 Erst das im List Verlag 1962 erschienene Lehrwerk, ›Zeitgeschichte und wir‹ druckte Bilder, die im direkten Kontext zur Thematisierung des Antisemitismus standen, weshalb die Bebilderung sich mit einer Ausnahme auf die 14 ab 1962 erschienenen, untersuchten Lehrwerke erstreckte. Die Tendenz zur Bebilderung nahm in den 1970er Jahren nochmals zu: Von 66 Bildquellen waren 41 in den sechs erfassten Lehrwerken der 1970er Jahre abgedruckt. Mit durchschnittlich zwei bis drei Bildquellen pro Band in den 1960er Jahren und zwischen sechs und sieben Bildquellen in den 1970er Jahren avancierte die Illustration des NS-Antisemitismus durch authentische Bilder zum kanonischen Rüstzeug der untersuchten Schulgeschichtsbücher. Dies könnte auch an der drucktechnischen Entwicklung gelegen haben, die einen kostengünstigen Druck von Bildquellen ermöglichte. Allerdings verwendeten auch die Lehrwerke vor 1962 durchaus Bilder, um ihre Darstellungstexte zu illustrieren. Die 17 vor 1962 herausgegebenen Lehrwerke druckten zu anderen Themen insgesamt 95 Fotos, Karikaturen oder Plakate ab.899 Obwohl dies keine besonders hohe Summe ist, zeigt der Befund, dass die Autorinnen und Autoren sehr wohl die Möglichkeit hatten, die Thematisierung des NS-Antisemitismus zu illustrieren bzw. zu belegen, sich allerdings dagegen entschieden. Auch die angenommene affektive Wirkung der Bilder kann die restriktive Verwendung erklären, wenn die Schulbuchmacher eine Überforderung der Schülerinnen und Schüler durch die Bildwirkung antizipierten. Die Zulassungsverfahren zeigen, dass Lehrkräfte negative Wirkungen befürchteten, sofern die mitunter drastischen Bildquellen – etwa NS-Propaganda, Massengräber oder Leichenberge – zum Beleg des NS-Antisemitismus genutzt wurden. Tatsächlich druckten nur drei Lehrwerke ein Foto ab, das aufgebahrte Leichen in einem Konzentrations-

898 Der Band Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, 167 zeigt ein Foto des KZ Dachau und verweist in der Bildunterschrift auf weitere Seiten im Buch, wo u. a. die Verfolgung und Vernichtung der Juden angesprochen wurde. 899 Gemessen wurde folgende Abschnitte der Bücher: Versailler Vertrag, Weimarer Republik, Nationalsozialismus/Zweiter Weltkrieg. Gezählt wurden Bildquellen, Plakate und Karikaturen sowie künstlerische Abbildungen (darunter auch Handzeichnungen, die allerdings nur in geringer Zahl vertreten sind). In die Rechnung nicht einbezogen sind Geschichtskarten, Schaubilder und Statistiken.

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lager zeigt.900 Möglich ist schließlich auch, dass dem NS-Antisemitismus nicht genügend Bedeutung zugesprochen wurde, um die Darstellung zu bebildern. Dies deckt sich auch mit dem Befund hinsichtlich der Kapiteleinteilung, wonach die Thematisierung des NS-Antisemitismus – vor allem der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg – ab den 1960er Jahren des Öfteren im Inhaltsverzeichnis aufgenommenen wurde. Insgesamt sieben Lehrwerke präsentierten Fotos von der Räumung des Warschauer Ghettos, die dem sog. Stroop-Bericht entstammten,901 wobei der vorherige jüdische Aufstand nur in drei Fällen im Kontext des Fotos thematisiert wurde.902 Um den Terror gegen die Jüdinnen und Juden vor dem Zweiten Weltkrieg zu verbildlichen, druckten Schulgeschichtsbücher häufiger auch Fotos ab, die den Boykott jüdischer Geschäfte 1933903 oder brennende Synagogen im Zuge der Novemberpogrome von 1938904 zeigten. Neben Bildquellen wurden auch didaktische Materialien zur Veranschaulichung bzw. zum Beleg von Judenverfolgung und -vernichtung ab den 1960er Jahren aufgenommen. Die erste von insgesamt vier in den Lehrwerken verwendeten Karten zum Netzwerk der Konzentrations- und Vernichtungslager des NS-Regimes wurde erstmals 1962 in ›Zeitgeschichte und wir‹ abgedruckt.905 Das Lehrwerk ›Aus deutscher Geschichte‹ 900 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 97. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 154. BSV, Wir erleben die Geschichte 9, 1974, S. 116. Beide nutzten das gleiche Foto. 901 Der SS-Gruppenführer Jürgen Stroop war für die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto verantwortlich. Die Bilder des Stropp-Berichts geben die Täterperspektive wieder, dass der jüdische Aufstand trotz unterlegener Ausstattung 27 Tage durchhielt sowie die Massenerschießungen unterschlagen die Bilder. Die Einordnung der Bilder in die Lehrwerke verschärfte diese Verzerrung. Siehe zur Ikonographie des Stropp-Berichts und ihrer Verwendung Hamann (2011). 902 Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 81. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 240. BSV, Wir erleben die Geschichte 2, 1966, S. 196. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 133. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 137. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 116. Lediglich BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt 3, 1964, S. 195 zeigt ein Foto aus dem Warschauer Ghetto von 1942. Nie gesagt wurde, wer die Fotos zu welchem Zweck schoss. 903 Beispielsweise List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 82. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 165. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 195. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 98. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 115. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 115. 904 Beispielsweise: BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 196. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 106. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 114. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 115. 905 List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 81. Eine Karte der KZ (Konzentrations- und Vernichtungslager wurden in der Karte nicht unterschieden) sowie Punkte für die Außenlager druckte BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt 3, 1964, S. 194. Eine mit »Massenmord an den Juden in Europa« überschriebene Karte, die Haupt- und Nebenlager auszeichnete sowie die Opferzahlen nach Nationalität (nicht die Opferzahlen in den Lagern), allerdings nicht zwischen Vernichtungs- und Konzentrationslager unterschied, druckte auch Oldenbourg,

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belegte 1961 zum einen in einer Statistik die Opferzahlen der europäischen Juden im Zuge der Verfolgung, die von Schülerinnen und Schülern addiert werden mussten, um die nominelle Dimension der jüdischen Opfer zu erfahren.906 Zum anderen führte eine gezeichnete Skizze eines Konzentrationslagers in den Abschnitt »Der Kampf gegen das Judentum« ein. Die Skizze zeigt einen von Stacheldraht umzäunten Turm und einige Baracken.907 Sowohl die Anzahl der Text- wie auch der Bildquellen stieg in den 1960er Jahren an, was zum einen auf die Lehrplanentwicklung zurückgeführt werden kann, die seit 1959 eine breitere Thematisierung der Zeitgeschichte voraussetzten und auch die Darstellung des NS-Antisemitismus einforderten. Eingebettet war diese Entwicklung auch in einen allgemeinen geschichtskulturellen Wandel zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die zur allmählichen Abkehr der »Erinnerungsverweigerung« in den ersten Nachkriegsjahren führte.908 Explizit für den Geschichtsunterricht veröffentlichte beispielsweise der Historiker Wolfgang Scheffler 1960 einen Band, der die Geschichte der Judenverfolgung und Judenvernichtung nach dem zeitgenössischen Kenntnisstand ausbreitete und den Umgang mit Antisemitismus in der Nachkriegsgesellschaft diskutierte.909 Eine Reform der historisch-politischen Bildung in Bayern löste vermutlich der antisemitische motivierte Vandalismus im Winter 1959/60 aus.910 In Bayern wurden die Lehrkräfte beispielsweise zu einer tiefergehenden Vermittlung der politischen Bildung hinsichtlich zeitgeschichtlicher Fragen, insbesondere zum Judentum und zu Israel aufgefordert.911 Den Zusammenhang von historischer Erinnerung und politischer Orientierung äußerte u. a. der Mittelschulband ›Geschichte der Neueste Zeit‹ 1962. Dabei drückte der Verfassertext

906 907 908 909

910 911

Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 118. Eine Karte unterschied zwar in Konzentrations- und Vernichtungslager, zeigte aber die Opferzahlen nicht auf und legte die Orte auf eine Karte, die das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 zeigte, wodurch der Eindruck erweckt wurde, viele Konzentrations- und Vernichtungslager seien nicht auf deutschem Gebiet gewesen, Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 59. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 64–65. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 57. Garbe (1998), S. 707. Dem Text hing Scheffler eine breite Quellensammlung zum Unterrichtsgebrauch an. Der geschichtskulturelle Umgang mit dem Holocaust sei die aus der deutschen Schuld geborene Verantwortung, um den nationalen Makel zu heilen: Weil die Judenvernichtung im Deutschen Namen begangen wurde, trägt das deutsche Volk die »volle moralische Verantwortung für das Geschehen«. Daraus ergebe sich neben der materiellen Wiedergutmachung in erster Linie die Aufgabe zur »Wiederherstellung des Ansehens des deutschen Namens vor uns selbst.« Zur Frage nach Schuld schrieb der Autor, dass am Holocaust vor allem Angehörige der SS, aber auch Polizeidienststellen beteiligt waren. Die Rolle der Wehrmacht diskutierte er nicht. Gleichwohl verneinte er auch die Legende der unwissenden Mehrheitsdeutschen. Scheffler (1960), S. 98–99. Vgl. Bergmann (1990a), S. 268–270. KMBL 1960c, S. 29–30.

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die Kontroverse um das offene Bekenntnis zu Schuld- und Verantwortung und das Bedürfnis nach Schuldabwehr angesichts der Vernichtung des europäischen Judentums aus. Gleichzeitig liege in der Erinnerung an den Holocaust der geschichtspolitische Auftrag, einen erneuten Holocaust zu verhindern.912 Der historische Ort des Antisemitismus Obwohl die untersuchten Schulgeschichtsbücher bis in die 1950er Jahre den historischen Antisemitismus kaum zur Kenntnis nahmen, zeigte sich auch schon in den frühen Lehrwerken das Bedürfnis, den nationalsozialistischen Antisemitismus zu erklären. In einigen Fällen wurde lediglich der nationalsozialistische Antisemitismus in seiner Dimension bewertet, ohne überhaupt Ursachen für den Antisemitismus zu nennen. Eine Analyse der Deutungsmuster zeigt durchaus unterschiedliche Qualitäten, wobei sich zwei Erklärungsmodi herausstellen lassen: Im ersten Fall wurde der NS-Antisemitismus über die Person Hitler erklärt. Antisemitisches Denken und Handeln erschien dann der mehrheitsdeutschen Bevölkerung als fremdes Phänomen, insofern Hitler als relevante Bezugsgröße und einziger Akteur dargestellt wurde. Diese hitlerzentrierte Deutung ist in den untersuchten Schulgeschichtsbüchern dominant, wurde aber zur Mitte der 1960er Jahre aufgebrochen, als auch gesellschaftliche Institutionen, soziale Gruppen oder die NSDAP als weitere Trägerinnen antisemitischen Denkens angeführt wurden und das NS-Regime nicht mehr als identisch mit Hitler gesetzt wurde. Dieser zweite Modus ging damit einher, auch die Geschichte des Antisemitismus stärker hervorzuheben und Vorläufer des NS-Antisemitismus zu betonen.913 Der Wandel der Deutungsmuster wird im Folgenden an Beispielen aufgezeigt. Das 1952 herausgegebene ›Geschichte der neuesten Zeit‹ nannte die NSDAP eine von Anfang an antisemitische Partei. Dieser Antisemitismus musste laut Schulgeschichtsbuch dem bisher von antisemitischen Haltungen freien ›Volk‹ erst »eingehämmert« werden.914 Die Beschreibung des Holocausts war im Band auf drei Sätze zusammengefasst und in einem etwa halbseitigen Abschnitt mit dem Titel »Die nationalsozialistische Herrschaft über Europa« eingebettet: »In diesen Jahren beschloß Hitler die ›Endlösung der Judenfrage‹. Millionen Juden wurden in Konzentrationslager gebracht und fanden hier ein schreckliches Ende. Diese grausamen Morde wurden unter strengster Geheimhaltung durchgeführt.«915 912 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 97. 913 Dass Hitler häufig als diabolische Figur in Schulgeschichtsbüchern gezeichnet wurde, zeigte bereits die Analyse der Lehrwerke und Zulassungsverfahren zur Person Hitlers. Siehe hierzu das Kapitel 3.2. 914 Vgl. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 55. 915 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 62.

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Als einzig aktive Person trat dabei Adolf Hitler auf, der scheinbar im Alleingang den systematischen Massenmord beschlossen habe. Wichtiger als die Bereitstellung historischen Wissens zum Vorgang und zu den Akteuren des Massenmords schien den Autoren die ›strengste Geheimhaltung‹ des Massenmords, was die Unwissenheit der Bevölkerung über diesen Massenmord nahelegte.916 Die Autoren des 1953 veröffentlichten Mittelstufenbands ›Europa und die Welt‹ bewerteten die Judenvernichtung folgendermaßen: »In zwei christlichen Jahrtausenden war eine ähnliche Massenvernichtung von Menschen wie die der Juden nicht mehr geschehen. Auch die später in der Nähe von Katyn entdeckten Massengräber von mehreren tausend uniformierten polnischen Offizieren, die von den Russen als Gefangene in Massenhinrichtungen erschossen waren, bewiesen, welche Unmenschlichkeiten in diesem Kriege möglich waren.«917

Der Holocaust wurde weder als Telos der nationalsozialistischen Dynamik noch wurde der Antisemitismus als ein zentraler Aspekt der nationalsozialistischen Ideologie gewertet. Stattdessen erschien der Holocaust als Folge eines enthemmten Kriegs zwischen totalitären Staaten. Eine historische Erklärung für den nationalsozialistischen Antisemitismus skizzierte das 1953 veröffentlichte ›Grundzüge der Geschichte‹. Demnach bildeten »[d]erste Weltkrieg, der Versailler Frieden, und alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Nöte, die daraus folgten, […] den Zeithintergrund zu Hitlers Lehre.«918 Obwohl der Absatz mit »Die Weltanschauung der Partei« in Fettdruck eingeleitet wurde, bezog sich der Verfassertext lediglich auf Hitler.919 Die Aufhebung des Rechtsstaats und den NS-Terror gegen die Juden führt der Oberstufenband von ›Europa und die Welt‹ 1954 sogar direkt auf Hitler zurück, wonach »[d]ie Willkür wuchs, als Hitlers andere fixe Idee (– neben der Versailles-Revision), sein Schlüssel zur Weltgeschichte (lautend: ›Der Jude ist an allem schuld!‹) mit den sog. Nürnberger Gesetzen, hervorgeholt wurde.«920 916 Die angebliche Unwissenheit der mehrheitsdeutschen Bevölkerung äußerte Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 145 noch deutlicher. Dort heißt es: »Die SS hatte abgefeimte Methoden der Tarnung entwickelt und hielt den Kreis der Eingeweihten und Henker sehr klein, so daß diese und viele andere Gräuel des Systems erst nach dem Kriege zur Kenntnis des deutschen Volkes gelangten.« In Grundriss der Geschichte gingen die Autoren sogar davon aus, dass das Wissen um den Massenmord die mehrheitsdeutsche Bevölkerung aufgebracht hätte: »Dem deutschen Volke gegenüber wurden alle Vernichtungsaktionen sorgfältig geheim gehalten; die Regierung wußte genau, daß die meisten sie nicht gebilligt hätten.« Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 187. Siehe auch das Kapitel 3.4. 917 Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschule, 1953, S. 160. 918 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 122. 919 Vgl. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 122. 920 Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 163.

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In ›Bilder aus deutscher Geschichte‹ wurden Jüdinnen und Juden zum grammatikalischen Agens des Holocausts: »Tausende wanderten in die Konzentrationslager, viele fanden dort einen grauenvollen Tod«, behauptete der Band 1954 zur Eskalationsstufe des NS-Antisemitismus nach den Novemberpogromen.921 Der Fokus auf Hitlers Antisemitismus als Ursache für die Vernichtung des europäischen Judentums, bei gleichzeitiger Aussparung der mehrheitsdeutschen Bevölkerung an den Verbrechen ist ein dominantes Phänomen der Schulgeschichtsbücher bis zum Beginn der 1960er Jahre.922 Noch 1972 behauptete ›Unser Weg durch die Geschichte‹, dass »Hitlers krankhafter Antisemitismus […] zur Ermordung von nahezu sechs Millionen Juden« geführt habe,923 ohne weitere Ursachen und Bedingungen für die Entschließung und Durchsetzung des Massenmords aufzuzeigen. Ein zweiter Deutungsmodus bezog verschiedene gesellschaftliche Institutionen bzw. soziale Gruppen mit ein, was mit einer stärkeren Historisierung des Antisemitismus einherging, insofern historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufgezeigt wurden, um die Genese und Spezifik des nationalsozialistischen Antisemitismus zu erklären. Dadurch wurde der Antisemitismus historisch eingeordnet und soziale Gruppen sowie Institutionen einbezogen. Dieses Deutungsmuster soll an einigen Lehrwerken beispielhaft vorgestellt werden. Nachdem ›Grundzüge der Geschichte‹ in einem Kapitel über »Die allgemeine geistige Lage des Zeitalters« materialistisches Denken, Technikgläubigkeit und den Aufstieg der Masse gegen das Bürgertum als den eigentlichen Träger des Geisteslebens zur Erklärung für die Etablierung totalitärer Diktaturen heranzog,924 ging der Band dezidiert auf den Ursprung der nationalsozialistischen Weltanschauung ein. Dieser sei »in gewissen einseitig verstandenen Lehren Darwins und Nietzsches […]« zu finden.925 Den Modus der historischen Verortung übernahm der Band auch bei der Erklärung des eliminatorischen Antisemitismus und fand den Vorläufer im nationalistisch ausgerichteten Alldeut-

921 Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte 1954, S. 171. 922 Die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden führten die Schulgeschichtsbücher auf den Antisemitismus Hitlers zurück. Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit der Beteiligung von Teilen der Bevölkerung für die Durchsetzung der antisemitischen Politik ausgespart. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 159–160. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 144. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 126. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 57–58. BSV, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 174. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 66. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 100. 923 Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 90. 924 Vgl. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 185–186. 925 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 186.

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schen Verband, der schon vor dem Ersten Weltkrieg verbreitet gewesen sei und im Nationalsozialismus fortgelebt habe.926 Vor der Erläuterung des antisemitischen Terrors im Nationalsozialismus skizzierte der Band ›Zeitgeschichte und wir‹ in wenigen Zeilen die Geschichte des Antisemitismus. Jüdinnen und Juden haben im Mittelalter bereits in einem Ghetto leben müssen, seien aber durch kaiserlichen Schutz lange Zeit in Sicherheit gewesen. »Durch ihren weltweiten Handel wurden sie oft reich. Deshalb kam es gelegentlich aus Neid oder übersteigertem religiösem Gefühl […] zu Verfolgungen (Pogromen).« Im 19. Jahrhundert erhielten »Juden die gleichen Rechte wie die übrigen Staatsbürger«. Weil Juden »sehr zäh und klug« seien, arbeiteten sie sich in führende wirtschaftliche und geistige Positionen empor und konnten einen bedeutenden Beitrag »zum kulturellen, geistigen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands« leisten. Allerdings sei »vor 100 Jahren die Meinung auf[gekommen], dass Arten und Rassen auch in ihrem Wert verschieden« wären. Der Antisemitismus als Spielart des Rassismus, der »natürliche Verschiedenartigkeit zwischen den Menschen […] in eine Verschiedenwertigkeit« umgemünzt habe, sei zum Ende des 19. Jahrhunderts immer beliebter geworden. Schließlich sei »[a]uch Hitler […] von diesem Antisemitismus erfaßt« worden.927 Ein Vergleich mit dem im gleichen Jahr erschienen Mittelschulband ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ verdeutlicht das spezifisch Neue an der in ›Zeitgeschichte und wir‹ vorgenommenen Historisierung: »Seit dem 18. Jahrhundert setzte sich aber immer mehr die Ansicht durch, daß alle Menschen gleich waren. Hitler jedoch lebte in dem Wahn, daß die Juden einer minderwertigen Rasse angehörten und stellte die Behauptung auf, diese Rasse wolle das deutsche Volk vernichten.«928

Auch dieses Lehrwerk setzte dem NS-Antisemitismus den mittelalterlichen Antisemitismus gegenüber, erklärte Hitlers Judenhass jedoch nicht geschichtlich, sondern psychologisch, wodurch der nationalsozialistische Antisemitismus als ein aus der Zeit gefallenes Phänomen gedeutet wurde, dessen Ursache in der pathologischen Persönlichkeit Hitlers gelegen habe und im Kontrast zu den Überzeugungen im ›Volk‹ gestanden sei. Übernommen wurde der Textabschnitt von einem Vorschlag des am Institut für Zeitgeschichte tätigen Historikers HansDietrich Loock.929 Im Anschluss daran versuchte das Lehrwerk, den Antisemitismus zu widerlegen, ohne die Idee der Rassen anzuzweifeln, indem es aus »der Vielzahl namhafter Deutscher jüdischen Blutes« einige Namen herausgriff.930 926 927 928 929 930

Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 175. Zitate aus: List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 74–75. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen«, 1962, S. 75. Siehe dazu Kapitel 3.3.2. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 76.

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Der im BSV veröffentlichte Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ verortete in dem Kapitel »Die geistige Situation in der spätbürgerlichen Epoche«931 – der Titel gab bereits ein sozialgeschichtliches Erklärungsmuster vor – ebenfalls den Aufstieg des modernen Antisemitismus‹ im 19. Jahrhundert. Er deutete sogar eine spezifisch deutsche Traditionslinie an:932 »Eine besondere Form« habe »der ins Politische gewendete Irrationalismus in Deutschland« angenommen, wo »auf Grund seiner rationalistischen Ursprünge das republikanisch-demokratische System als Verfallserscheinung der Menschheit hingestellt« worden sei, erklärte der Darstellungstext.933 Der Text hob hervor, dass im Deutschland des 19. Jahrhunderts die Ansicht vertreten worden sei, dass republikanisches Denken dem deutschen Wesen als etwas Fremdes gegenstünde, und dass die Republik mit den Juden identifiziert worden sei. Gleichfalls sei der Antisemitismus kein alleiniges Problem des Zweiten Kaiserreichs gewesen: »Als Handlanger des ›fremden Geistes‹ in Deutschland wurden mit Vorliebe die Juden hingestellt. So gewann hier der Judenhaß eine dominierende Note, der im Übrigen zu den verbreiteten Erscheinungen des Zeitalters gehörte. Er führte in Rußland seit 1881 zu blutigen Ausschreitungen (Pogromen) und flackerte in Frankreich 1894–1899 bei der Dreyfus-Affäre auf.«934

Die Zugkraft des antisemitischen Denkens habe sich laut Verfasser aus den politischen und wirtschaftlichen Krisen des späten 19. Jahrhunderts ergeben. Diese Krisen seien für das konservative Bürger- und Bauerntum »von einer fremden, unheimlichen Macht bewußt ins Werk gesetzt worden.« Dies war für die Autoren auch das distinktive Merkmal zum »Judenhaß der vorangegangenen Epochen«.935 Der Text skizzierte kurz den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Antisemitismus, der in der Verschiedenheit der Religionen, der Eigenart und Gebräuche der Jüdinnen und Juden sowie ihrer Rolle als Geldverleiher gelegen habe,936 was durch Aufklärung, Französische Revolution und deutsche Romantik jedoch allmählich überwunden worden sei. Die einsetzende Emanzipation der Jüdinnen und Juden habe ihnen den Zugang zu bürgerlichen Berufen eröffnet, nicht aber zu mächtigen und einflussreichen Positionen im Beamten-

931 BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 21–30. 932 Diese Traditionslinie, das zeigt die Analyse der Gutachten, war im ursprünglichen Manuskript sehr deutlich hervorgehoben. 933 Zitate BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 26. 934 BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 27. 935 Zitate BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 27. 936 »Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit hatte die Verschiedenheit der Religion, die Eigenart der mit dieser verbundenen Sitten und Gebräuche wie auch die Rolle der Juden als Geldverleiher zu Spannungen geführt. In Zeiten der Erregung (Kreuzzüge, Seuchen) war es zu gewaltsamen Ausbrüchen, auch zu heftigen Verfolgungen der Minderheit gekommen.« BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 27.

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wesen oder der Armee. Viele Juden haben ihre berufliche Existenz in den Kulturberufen gesucht, wodurch – der Text zitierte hier Hannah Arendt – die jüdische Mittelschicht »in ausgesprochenem Gegensatz zu dem durchschnittlichen Verhalten der Bourgeoisie« gestanden habe.937 Darin sah der Text auch begründet, dass manche Juden »als Kritiker der bestehenden Zustände« sowie als »Befürworter sozialer Umwälzung« hervortraten.938 Affirmativ zitierten die Autoren auch Golo Mann, um die Behauptung zu untermauern, dass die Monarchie jedoch als Schutz vor den schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen wahrgenommen worden sei, worauf eine konservative Haltung vieler Jüdinnen und Juden gefußt habe: »[D]ie bei weitem überwiegende Mehrzahl der Juden, gerade in Deutschland und vielleicht noch mehr in der alten Donaumonarchie, war ganz entschieden konservativ gewesen, hat ganz entschieden an der bestehenden Ordnung gehangen, am Schutze des Eigentums, am Schutze überhaupt, den der Staat ihnen bot‹ (Golo Mann).«939

Als Scharnier zwischen vormodernem und modernem, rassistischen Antisemitismus führte der Verfassertext den Historiker Heinrich von Treitschke an, indem u. a. seine Aussage ›Die Juden sind unser Unglück‹ zitiert und auf den sog. Antisemitismusstreit im Kaiserreich eingegangen wurde.940 Außerdem gab der Text Wilhelm Marr als den Begründer des rassistischen Judenhasses an.941 Schließlich sei die Assimilation der Jüdinnen und Juden ins Stocken geraten, und zwar »nicht nur durch die zunehmende Ablehnung, der die Juden begegneten, sondern auch dadurch, daß als Reaktion darauf unter ihnen die zionistische Bewegung entstand.«942 Anders als ›Zeitgeschichte und wir‹ stellte der Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ die rassische Verschiedenheit von Jüdinnen und Juden und Mehrheitsdeutschen infrage. Antisemitismus wurde nicht als bloße Spielart des Rassismus verstanden, sondern beides als Reaktionen auf die wirtschaftlichen und 937 Diese Textstelle ist als Zitat Hannah Arendts angegeben und im Original in kursiv gesetzt. BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 27. 938 BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 27. 939 Im Original kursiv. BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 27. 940 Hoffmann (1997). Ein ausführlicher Quellenband zum ›Antisemitismusstreit‹ ist: Krieger (2003). 941 Sie verwiesen auf die in mehreren Auflagen verlegte Broschüre. Marr (1879). Marr begründete dort einen biologischen Antisemitismus und prägte dadurch den modernen Begriff des Antisemitismus. Im gleichen Jahr gründete Marr die ›Antisemitenliga‹, die entgegen der ein Jahr zuvor gegründeten antisemitischen christlich-sozialen Partei ein überkonfessionelles, rassistisches Programm hatte. Im Oktober 1879 löste Treitschke den ›Antisemitismusstreit‹ aus, in dessen Zuge er sich von Marr abgrenzte, die antisemitische Position der christlich-sozialen Partei jedoch befürwortete. 942 Die Worte ›zionistische Bewegung‹ sind im Original in Fettdruck. BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 27.

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politischen Krisen der Moderne erklärt, wobei der Antisemitismus in Deutschland aufgrund des ins Politische mündenden Irrationalismus besonders fruchtbaren Boden gefunden habe. Die Autoren sahen die Entstehung des modernen Antisemitismus in den wirtschaftlichen Krisen der Moderne begründet, die der Antisemitismus nicht mit systemimmanenten Bedingungen, sondern mit einer angeblichen Verschwörung des Judentums erklärt habe. Diese Deutung legt nahe, dass die Autoren einen dem marxistischen Denken entlehnten Begriff des Antisemitismus als notwendig falsches Bewusstsein zugrunde legten.943 Einen direkten Bezug zum nationalsozialistischen Antisemitismus stellte der Band allerdings nicht her. Diese explizite Historisierung wurde zwar im ursprünglichen Manuskript vorgenommen, aber von den Gutachtern nicht gewünscht, was die Analyse der Zulassungsverfahren zeigt. Neben der historischen Einbettung bemühte sich der Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ anscheinend auch darum, den NS-Antisemitismus nicht als ein auf Hitler reduziertes Problem darzustellen. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Erstens gingen die Verfasser neben den Ansichten Hitlers beispielsweise auf die Bedeutung des ›Chefideologen‹ Alfred Rosenberg für den NS-Antisemitismus ein944 und erklärten zweitens, dass die ›Endlösung‹ kein lediglich von Hitler und dem Führungsstab durchgesetzter Massenmord war, sondern »von Anfang an bei allen NS-Stellen umfangreiche Planung [erforderte], der sich besonders das Zentralamt im SS-Sicherheitsamt annahm.«945 Das in Bayern nicht zugelassene ›Fragen an die Geschichte‹ widmete der Geschichte des Antisemitismus und dem nationalsozialistischen Antisemitismus eine gesamte Seite Darstellungstext, was angesichts der Konzeption des Bandes, vor allem Materialien heranzuziehen und möglichst wenig Platz für Darstellungstext zu verwenden, frappierend ist. Der Darstellungstext deutete in der Gleichstellung der Jüdinnen und Juden seit der Aufklärung einen Bruch zum Antijudaismus des Mittelalters. Der Band erklärte ebenfalls, dass Juden keinen Zugang zu Offiziers- und Beamtenstellen gehabt haben, bildungs- und wirtschaftsbürgerliche Berufe jedoch zugänglich gewesen seien. In Reaktion auf den Prozess der Gleichstellung im 19. Jahrhundert sei laut Text eine antisemitische Bewegung entstanden. Jüdinnen und Juden wurden von Antisemiten 943 Notwendig falsches Bewusstsein meint Bewusstsein, das aus den gesellschaftlichen Verhältnissen entsteht, den Blick auf die reale Herrschaft als Bedingung der Verhältnisse jedoch verstellt. Ideologie hat zudem selbst materielle Folgen, beispielsweise in Gesetzen und Normen, die den Individuen als objektiver Schein gegenübertreten. Vgl. Marx ([1846] 1958), S. 26–27. Zur zeitgenössischen Rezeption von Marx‹ Begriff der Ideologie und weiteren Ideologiebegriffen im Kontext der Entstehungszeit des Schulgeschichtsbuchs siehe Schnädelbach (1968). Allgemein einführend zu Ideologie siehe Eagleton (2000). Zur Aktualität und Ausrichtungen der Ideologiekritik siehe Jaeggi (2009). 944 BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 119–120. 945 BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 122.

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»zum rassisch minderwertigen Fremdkörper gestempelt, der die germanische Rasse vernichten, das deutsche Kulturleben zersetzen und vor allem über seine Stellung im internationalen Finanzjudentum nach der Weltherrschaft streben wolle, während sich gleichzeitig in den liberalen Parteien und in der Sozialdemokratie jüdische Journalisten und Politiker (z. B. Marx, Lassalle, Bernstein) für Demokratie und Arbeiterbewegung einsetzten.«946

Wie im Oberstufenband von ›Geschichtliches Werden‹ verstand ›Fragen an die Geschichte‹ Antisemitismus als eine rassistisch geformte (Welt-)Verschwörungstheorie.947 Allerdings betrachtete der Band deutschsprachige Gebiete und erklärte die Entstehung des Antisemitismus nicht als ideologische Reaktion auf ökonomische und politische Krisen des 19. Jahrhunderts. Als Belege für den angestiegenen Antisemitismus im Kaiserreich gab der Band an, dass es im Reichstag von 1893 bereits 16 antisemitische Abgeordnete gegeben habe, »die aus Teilen des Zentrums, der evangelischen christlich-sozialen Partei oder nationalvölkischen Gruppen« gekommen seien. Auch »der Kreis um den Opernkomponisten Richard Wagner« sei antisemitisch eingestellt gewesen. Der Band erklärte zudem implizit die Wandlungsfähigkeit des modernen Antisemitismus: »In Wien, wo sich Hitlers politische Vorstellungen formten«, habe sich der Antisemitismus vor allem gegen aus Polen und Russland vertriebene und ins Habsburgerreich eingewanderte sog. Ostjuden gerichtet. Die antisemitischen Strömungen in der Weimarer Republik haben schließlich deutsche Jüdinnen und Juden für die Novemberrevolution und den Zusammenbruch von 1918 verantwortlich gemacht.948 Anders als der Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ diente der Darstellungstext nicht dazu, das politische Denken des späten 19. Jahrhunderts zu veranschaulichen, sondern im Sinne eines Längsschnitts die Entwicklungslinien des Antisemitismus bis zum NS-Antisemitismus aufzuzeigen.949 Dementsprechend mündete die Darstellung in der Thematisierung der NS-Rassenlehre, welche »die traditionellen antisemitischen Vorurteile vor allem des Rassenantisemitismus (›arisches Blut‹ werde durch Vermischung mit jüdischem zersetzt, es gebe eine internationale Verschwörung des Judentums mit Weltherrschaftsabsichten)« übernommen und »zur Propaganda gegen den angeblich jüdischen Liberalismus und Marxismus« ausgebaut habe.950 Die praktische Umsetzung des nationalsozialistischen Antisemitismus im Schulgeschichtsbuch ist laut Verfassertext von verschiedenen Institutionen, Organisationen und Verbänden des NS946 947 948 949

Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 61. Zum verschwörungstheoretischen Antisemitismus vgl. Wetzel (2010). Zitate Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 61. Der historischen Verortung steht der Anachronismus als Problem von Längsschnitten gegenüber, vgl. Barricelli (2012), S. 208–213. 950 Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 61.

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Regimes durchgeführt worden. So haben beispielsweise »›Einsatzgruppen‹ der SS in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten Europas die Erfassung, Deportation und Erschießung von Juden« übernommen.951 Zusammenfassung In den 1960er Jahren löste die Historisierung des NS-Antisemitismus, die mit der Ausweitung der antisemitischen Politik auf Verbände und Institutionen des NSRegimes einherging, langsam eine Deutung ab, die Hitler als quasi einzigen Träger und Akteur des NS-Antisemitismus verstand. Diese historisierende Deutung weitete die Schuld und Verantwortung am Holocaust aus und forderte eine Reflexion der deutschen Nationalgeschichte ein, insofern sie die in älteren Schulgeschichtsbüchern vorgenommene strikte Trennung zwischen Bevölkerung und dem in Hitler verkörperten Regime bröckeln ließ und das NS-Regime bzw. dessen Verbrechen nicht länger als ›Betriebsunfall‹ der deutschen Geschichte verstanden, sondern in ihr verortet wurde. Diese Tendenzwende korrelierte mit der gestiegenen Relevanz des Antisemitismus in der Darstellung der Geschichte des Nationalsozialismus. Während Schulgeschichtsbücher der 1950er Jahre nur wenige Zeilen für den aus gegenwärtiger Sicht zentralen Aspekt der Geschichte des Nationalsozialismus nutzten, erhielt der Antisemitismus in den Lehrwerken ab den 1960er Jahren des Öfteren ein eigenes Unterkapitel zugesprochen. Der nationalsozialistische Antisemitismus wurde im Untersuchungszeitraum von einem abseitigen zu einem eigenständigen Aspekt bei der Behandlung des Nationalsozialismus. Dies lag auch an der Reform der Lehrpläne. Seit der Reform des gymnasialen Lehrplans begannen die Geschichtslehrpläne, den nationalsozialistischen Antisemitismus als eigenständiges Thema im Geschichtsunterricht einzufordern. Die Schulgeschichtsbücher setzten die Vorgabe um. Die im Untersuchungszeitraum gestiegenen Bilder und Textquellen dienten dazu, Judenverfolgung und Holocaust zu belegen. Didaktisierungen der Quellen leiteten teilweise auch die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld an. Text- und Bildquellen gaben häufig die Täterperspektive wieder. Gleichwohl ordneten die Lehrwerke die ausgewählten Quellen selten ein oder gaben quellenkritische Hinweise, um einen kritischen Umgang mit den Quellen anzuleiten.

951 Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 61. Hervorhebung im Original.

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3.3.2. Zulassungsverfahren Die Darstellung des Antisemitismus in den eingereichten Manuskripten wurde – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – in fast jedem zweiten Zulassungsverfahren thematisiert, wobei vor allem die angemessene Gewichtung der antisemitischen Ideologie und des Holocausts in der Geschichte des Nationalsozialismus sowie der historische Ort des Antisemitismus in der (deutschen) Geschichte diskutiert wurde. Die Sachverständigen standen dabei anscheinend vor der Herausforderung, den nationalsozialistischen Antisemitismus sachlich darzulegen und ihn zu belegen, ohne aber antisemitisches Denken zu vermitteln. Im Folgenden werden die in den Zulassungsverfahren auftretenden Konfliktlinien zum Themenfeld Antisemitismus dargestellt. Aufklärung als didaktische Aufgabe Einer der zentralen Konfliktpunkte bei der angemessenen Darstellung des Antisemitismus bis in die Mitte der 1960er Jahre war der richtige Umgang mit der Dimension von Judenverfolgung und Holocaust. Zuletzt 1964 ging der zuständige Gutachter des katholischen Schulkommissariats auf die absolute Höhe der Opferzahlen ein. Der für das Schulreferat des Erzbistums München tätige Gutachter schlug vor, statt der im Manuskript geschätzten acht bis zehn Millionen KZ-Opfer lediglich ›Mehrere Millionen‹ zu schreiben, da die Zahl zu unsicher sei.952 Ein weiterer Gutachter diskutierte, ob die Dimension des Holocausts im Manuskript des Volksschulbuchs ›Aus deutscher Vergangenheit‹ von Ludwig Nett richtig erfasst wurde. Der Volksschulrektor stellte dem Gutachten eine Präambel mit drei Gesichtspunkten voraus, auf die sich die Beurteilung erstrecken sollte: »a. Auf die Richtigkeit des Tatsachenmaterials, also der geschichtlichen Fakten; b. auf das Geschichtsbild, das einer geschichtlichen Darstellung zugrunde liegt, und dessen erziehliche Bedeutung; c. auf die methodische, kindespsychologische Gestaltung.«953

Allerdings sah sich der Gutachter zur »Prüfung des bloßen Tatsachenmaterials […] kaum zuständig«, weshalb er sich in seinem Gutachten auf die Gestaltung und die didaktische Relevanz des vermittelten ›Geschichtsbildes‹ beschränke. Unter eben diesem Punkt monierte er, dass die »Judenfrage […] nicht so unvollständig dargestellt werden« dürfe, denn den »Juden wurde wahrhaftig mehr genommen als nur die staatsbürgerlichen Rechte!« Seine Kritik ordnete der 952 Vgl. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 6. August 1964. Das Gutachten bezog sich auf die Neubearbeitung von Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1964. 953 BayHStA MK 64518 Gutachten vom 19. August 1952.

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Volksschulrektor der Frage nach dem rechten Geschichtsbild und dessen erzieherischer Bedeutung zu.954 Eine Diskussion über das Geschichtsbild wurde auch durch den Bayerischen Rundfunkt angestoßen. Nach einer Radiosendung kritisierte das Schulreferat München 1956 das Schulbuch in einem Schreiben an das Kultusministerium, in dessen Folge das zuständige Referat des Ministeriums den Verlag zur Stellungnahme aufforderte. Dieser entschuldigte sich für die falsch wiedergegebene Höhe der jüdischen Opferzahlen mit Verweis auf den Forschungsstand bei der Veröffentlichung von 1952. Zu dieser Zeit sei »die Zahl der Juden, die in der NS-Zeit ihr Leben verloren [haben], noch nicht genau bekannt« gewesen.955 Die bisherige Fassung lautete: »Hunderttausende von eingekerkerten Juden verloren ihr Leben oder wenigstens ihre Gesundheit. (31 Silben)« Der Verlag versprach, die Textstelle umzuschreiben. Die neue Fassung sollte lauten: »Bis zum Untergang des Nationalsozialismus verloren 6 Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer ihr Leben. (31 Silben)«956 Allerdings brachte dieser Vorschlag aus Sicht des Referenten »im wesentlichen keine Änderung«,957 weshalb er eine neue Prüfung des Schulbuchs veranlasste.958 Ebenfalls durch eine Radiosendung des Bayerischen Rundfunks wurde die Darstellung des Holocausts in dem vom Oldenbourg Verlag veröffentlichten Lehrwerk ›Geschichte unseres Volkes‹ debattiert und eine neue Prüfung des Schulbuches bei der kommenden Auflage veranlasst.959 Im 1955 zugelassenen Schulgeschichtsbuch hieß es: »In vielen Städten des Reiches wurden die Synagogen niedergebrannt, jüdische Männer und Frauen als Volksfeinde verdächtigt und in ›Konzentrationslager‹ gesperrt.«960 Das Lehrwerk sollte bis zur Neubearbeitung zugelassen bleiben, doch die neue Fassung befriedigte einen der Gutachter, den Schulrat nicht: »Warum geht man schamhaft über die grauenhafte Vernichtung von jüdischen Männern, Frauen und Kindern hinweg? Damit, daß man sie undeutlich – man möchte sagen schamhaft – zusammen mit den übrigen Verlusten aufzählt, hat man sicher nicht das getan, was hier geschehen müßte, nämlich die Brandmarkung Hitlers und seiner Helfer als millionenfache Mörder.«961 954 955 956 957 958

Zitate BayHStA MK 64518 Gutachten vom 19. August 1952. BayHStA MK 64519 Gutachten vom 9. April 1956. BayHStA MK 64519 Gutachten vom 9. April 1956. BayHStA MK 64519 Interne Notiz vom 3. Mai 1956. BayHStA MK 64519 Brief an den Verlag vom 7. Juni 1965. Über den Grund seiner Ablehnung schwieg sich der Referent in internen Schreiben aus. 959 Sendung des Bayerischen Rundfunks am 24. April 1958 von 20.00–20.45 Uhr im 1. Programm unter dem Titel: ›Die Lehre aus dem Gestern – Was hören die Jungen aus der jüngsten Geschichte?‹ BayHStA MK 64526 Kommentierte und verschriftlichte Auszüge vom 26. April und 13. Mai 1958. Zu diesem Band und der Debatte dazu siehe Kapitel 2.4. 960 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 97. 961 BayHStA MK 64526 Gutachten vom 8. April 1960.

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Dabei sah der Schulrat, der sich zum Ende des Zweiten Weltkriegs in einer antinazistischen Widerstandgruppe engagierte, u. a. in der offenen Darlegung der Verbrechen des Regimes, die Möglichkeit zur Distanzierung von Hitler. Diese Offenlegung der Verbrechen verortete er als geschichtspolitische Herausforderung in den Kontext eines Generationenkonflikts zwischen einer von Hitler getäuschten und enttäuschen Elterngeneration, der keine Distanzierung von Hitler gelungen sei, sowie einer jungen Generation, die eine konsequente Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vorantreiben müsse, dadurch jedoch in Konflikt mit den Eltern gerate. Der Gutachter stellte »grundsätzlich die Frage«, ob »man von Hitler völlig eindeutig abrücken und ihn klar als großen Betrüger (dem Ausland und vor allem auch dem eigenen Volk gegenüber) und als Verbrecher und Mörder darstellen soll oder ob man, um ›das eigene Nest nicht zu beschmutzen‹ und um jene Eltern, welche ganz oder zeitweise positiv zu Hitler eingestellt waren, zu schonen, das Verbrechen und den Betrug Hitlers in schonenden Allgemeinformulierungen verstecken soll.«

Der Gutachter plädierte für die zweite Antwort. Zwar nehme niemand einfach so die Schuld von den Deutschen, aber eine »berechtigte Chance besteht […] darin, daß wir uns von Hitler klar distanzieren.«962 Der implizite Vorwurf des 1903 geborenen Gutachters963 lautete, dass sich die Deutschen von Hitler täuschen ließen, denn: »Er hat unser gutgläubiges deutsches Volk doch genauso getäuscht und betrogen wie das Ausland.«964 Damit erhielt die Darstellung der Verbrechen des NS-Regimes einen doppelten geschichtspolitischen Zweck: Einem geläuterten Deutschland könne erstens die historische Schuld genommen werden, die es sich durch ›Hitler‹ aufgeladen habe. Zweitens sollte das Schulgeschichtsbuch bilden, indem es die Kindergeneration über die nationalsozialistische Vergangenheit gegen die Überzeugungen ihrer Eltern aufkläre. Dem Manuskript attestierte er, den Weg der Elterngeneration gegangen zu sein.965 Das Zulassungsverfahren markierte den geschichtskulturellen Wandel von den 1950er zu den 1960er Jahren: Nicht das Verschweigen und Relativieren, sondern die Offenlegung des antisemitischen Massenmords galt mittlerweile als pädagogische und fachwissenschaftliche Aufgabe von Schulgeschichtsbüchern. Der umgearbeitete und schließlich 1963 veröffentlichte Band kam dem Anliegen des Gutachters nach: Eine Geschichtskarte zeigte das Netzwerk der Konzentrations- und 962 Zitate BayHStA MK 64526 Gutachten vom 8. April 1960. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 963 BayHStA MK 48269 Personalakte. Lebenslauf zum Meldebogen zum ›Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus‹ vom 21. Januar 1948. Dem Meldebogen liegt zudem ein undatiertes Schriftstück aus der Hand des Lehrers bei, in dem er seine Rolle als Widerstandskämpfer deutlich machte. 964 BayHStA MK 64526 Gutachten vom 8. April 1960. 965 Vgl. BayHStA MK 64526 Gutachten vom 8. April 1960.

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Nebenlager und gab die jüdischen Mordopfer mit der (zu niedrigen) Gesamtsumme von 4 364 000 an. Zudem druckte der Band auch Auszüge aus der Vernehmung des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, welche die technische Durchführung des Massenmords belegten.966 Die damit beauftragen Personen blieben auf die nicht näher bestimmten »Exekutionskommandos der SS« beschränkt und auch die Entrechtung der Juden blieb als Tat Hitlers gedeutet.967 Doch weitere Einwände dazu äußerten die Gutachter nicht. Ein weiterer Gutachter begründete die Thematisierung des Antisemitismus mit dem Zweck der historisch-politischen Bildung. Im Gutachten zu ›Unbewältigte Vergangenheit‹ lobte der Schulrat das Manuskript, weil es »mannigfache Anstöße« dazu gebe, Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung mit dem »Judenproblem«, dem Verbrecherischen »am Nationalsozialismus« oder »Rassenhybris des Hitlertums« zu bewegen.968 Die Auseinandersetzung mit Judenverfolgung und Holocaust sei im Zweck des Geschichtsunterrichts eingebunden, so der Schulrat weiter, um die Schülerinnen und Schüler »zur politischen Mündigkeit im Raum der staatlichen Wirklichkeit« zu erziehen, weshalb politischer Unterricht »jungen Menschen bei der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit und den in ihr wurzelnden Gegenwartsproblemen behilflich zu sein« habe. Als Gütekriterien politscher Bildung für ein Schulgeschichtsbuch nannte der Gutachter klare Urteile und Einblicke in die historischen Zusammenhänge statt der Vermittlung von Einzeltatsachen, erklärte jedoch nicht, wie der Band diese Kriterien erfüllen konnte.969 Eine Historikerin vom Institut für Zeitgeschichte monierte in ihrem Gutachten zum Band ›Nationalsozialismus und Demokratie‹970, dass die NS-Besatzung das polnischen Judentum vernichtet und nicht nur – wie angegeben – unterdrückt habe.971 Die im Gutachten geäußerte Kritik richtete sich jedoch eher gegen Einzelheiten, denn »in seiner Gesamtanlage« würdigte die Wissenschaftlerin das Manuskript als »eine außerordentlich glückliche Idee.«972 Dagegen äußerte der

966 967 968 969

Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 118. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 117. Zitate BayHStA MK 64519 Gutachten vom 10. Februar 1961. BayHStA MK 64519 Gutachten vom 10. Februar 1961. Der Gutachter sprach sich für eine Zulassung des Bands aus. Das Ministerium gab diese Zusage wegen des negativen Bescheids des zweiten Gutachters jedoch nicht. Der Band wurde umgearbeitet und als ›Zeitgeschichte und wir‹ neu eingereicht. Der Gutachter wurde nicht erneut um ein Gutachten gebeten. BayHStA MK 64520 Interner Vermerk vom 7. August 1962. 970 BSV, Nationalsozialismus und Demokratie, 1961. 971 Vgl. BayHStA MK 64363 Gutachten vom 14. September 1960. Im veröffentlichten Band wurde der Änderungsvorschlag übernommen, vgl. BSV, Nationalsozialismus und Demokratie, 1961, S. 106–107. 972 Eine andere Anordnung des Bandes empfahl sie lediglich wegen der im Manuskript vorgenommenen Trennung von ›Wesen‹ und ›Geschichte‹ des Nationalsozialismus, denn bei-

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Erstgutachter zum gleichen Lehrwerk eine Reihe konzeptioneller und didaktischer Bedenken, die sich u. a. gegen die Auswahl von Text- und Bildquellen richteten: »Auffallend mangelhaft hinsichtlich ihrer Auswahl scheinen die zur Verwendung bestimmten Bilder zu werden. Bei der Behandlung des ›Rassenhasses‹ wird ein Bild aus dem ›Stürmer‹ vorgeschlagen. Abgesehen davon, daß man diesem Pamphlet allzu große Ehre antut, in einem bayerischen Arbeitsbuch fröhliche Urstände zu feiern, wäre es psychologisch verkehrt, überhaupt einen Juden als ›Untermenschen‹ zu zeigen. Bei der Jugend, die kaum mehr einen Juden zu Gesicht bekommt, würde die Assoziation zwischen dem Bild und dem Juden zu stark sein und allzu lebhaft haften bleiben.«973

Damit standen die Akteure der Zulassungsverfahren vor der anscheinend widersprüchlichen Situation, einerseits den nationalsozialistischen Antisemitismus in Wort und Tat zu schildern, gleichzeitig aber nicht die NS-Propaganda zu perpetuieren. Der Gutachter ging von der Gefahr aus, dass die fachwissenschaftlich geforderte Darstellung der Propaganda zur Übernahme antisemitischer Stereotype führe und folglich den didaktischen Zweck, nämlich die Distanzierung vom NS-Regime und dessen Ideologie anzuleiten, konterkarierte. Dem propagierten Bild des Juden als ›Untermenschen‹ müsse widersprochen werden. Da aber in der Bundesrepublik kaum mehr Jüdinnen und Juden lebten, die als außerschulische Gegenbeispiele wirken könnten, schlug der Erstgutachter vor, dass die Widerlegung durch das Schulbuch selbst geleistet werden müsse. Beispielhaft erklärte er seine Absicht im Rahmen seiner Kritik eines im Manuskript aufgenommenen Artikels aus dem nationalsozialistischen Hetzblatt ›Der Stürmer‹. Er schlug vor: »Wie gut würde hier eine Stelle aus dem NS-Schrifttum, das den Juden als arbeitsscheu abstempelt, und zur Gegenüberstellung ein Bericht oder ein Bild aus dem heutigen Israel die Situation klarlegen.«974

Darüber hinaus sprach der Erstgutachter psychologische Bedenken dagegen aus, die »unmenschlichen, bestialischen Quälereien der KZ-Wächter und die Art der Tötung der Juden bis ins Detail zu schildern, wie dies in dem vorliegenden Buche getan ist.« Der Gutachter befürchtete hier eine verrohrende Wirkung auf die 14 bis 17-jährigen Schülerinnen und Schüler, weshalb er vorschlug, die »Aufklärung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.«975 Die Autoren des Bands argudes »geht doch ineinander über und überschneidet sich ständig.« BayHStA MK 64363 Gutachten vom 14. September 1960. 973 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960. 974 Das ursprüngliche Zitat des Stürmers diffamierte Juden als lüstern und sexuell übergriffig, was für den Gutachter wegen des »erotischen Inhalts« für Unterrichtszwecke unpassend sei. BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960. 975 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960.

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mentierten mit dem Auftrag der historisch-politischen Bildung gegen den Gutachter an. Sie behaupteten, dass »ein junger Mensch heute ein Bild aus dem Stürmer durchaus verkraften können« müsse. Das Schulbuch solle gegen diese nationalsozialistische Propaganda wie ein Impfstoff wirken, also gerade vor demagogischen Einflüssen immunisieren, indem es sie wohl dosiert zur Schau stelle. Wenn jemand dennoch dieser Propaganda verfiele, dann sei »ihm sicher nicht zu helfen, da er dann jeder Demagogie zum Opfer fallen wird.« Darüber hinaus könne eine detaillierte Schilderung der Verbrechen nicht auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, da die Schülerinnen und Schüler bald die Schule verließen, weshalb sie später oft nicht mehr die Möglichkeit besitzen, »eine eindeutige Aufklärung über die historische Wahrheit zu erfahren.«976 Darlegen und Widerlegen Das anscheinend komplexe didaktische Problem, den historischen Antisemitismus darzulegen, ohne ihn zu reproduzieren, zeigte sich auch in den Kritiken des Darstellungstexts. Ein Lehrer schlug in seinem Gutachten zu einem Mittelstufenband des Blutenburg Verlags beispielsweise vor, den »verwendete[n] Begriff ›Weltjudentum‹ besser zu unterlassen, da es sich hierbei um ein sehr fragwürdiges Wortgebilde« handele.977 Zwar überarbeitete der Verlag das Manuskript, doch das Ministerium war weiterhin nicht zufrieden, weshalb die Behörde die Kritik des Gutachters wiederholte. Allerdings kritisierte der Referent die Verwendung des Begriffs nicht, weil er in seiner Grundlage antisemitisch sei, sondern warnte höflich, dass »er durch den Mißbrauch, der mit ihm getrieben wurde, sehr gefährlich« klinge.978 Die Beanstandungen wurden zwar laut Brief des Verlags durch den Autor des zeitgeschichtlichen Teils behoben979 und der Verlag reichte 1966 ein neues Manuskript ein. Doch die neu bearbeitete Fassung stellte die Zweitgutachterin nicht zufrieden. Sie monierte, dass »Ausdrücke vermieden werden müssen, die in der NS-Zeit mißbraucht wurden, wie ›Volksgemeinschaft‹, ›Volksgenossen‹«. Ein »Wort wie ›Endlösung‹ dürfte selbst bei dem Zusatz ›in seinem [= Hitlers] Sinn‹ nicht ohne Anführungszeichen stehen.« Die anspruchsvolle Situation, die Ideologie des NS-Regimes aufzuzeigen, ohne sie zu perpetuieren, erforderte aus Sicht der Gutachterin durchaus mehr Raum, denn es »müsste manches differenzierter dargestellt werden, auch umfassender«, was für die Gutachterin nicht zu einer Vermehrung des Stoffumfangs führen müsse, da

976 977 978 979

Zitate BayHStA MK 64363 Stellungnahme Verlag vom 24. Oktober 1960. BayHStA MK 63836 Gutachten vom 10. Juni 1960. BayHStA MK 63826 Brief des Kultusministeriums an die Autorin vom 19. Oktober 1960. BayHStA MK 638256 Brief vom 8. November 1960.

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andere Stoffgebiete gekürzt werden könnten.980 Der Erstgutachter äußerte sich nicht zur Darstellung des Nationalsozialismus im Band und sprach sich für dessen Zulassung aus.981 Dagegen schloss sich das Kultusministerium der Zweitgutachterin an und erwartete eine Überarbeitung des Bands vom Verlag,982 was möglicherweise nicht vorgenommen wurde, da weder ein neues Manuskript in den Akten erwähnt noch der Band als zugelassenes Lehrmittel im Amtsblatt genannt wurde.983 Der Antisemitismus sollte als Ideologie widerlegt werden.984 Dies forderte beispielsweise ein Mittelschullehrer, nachdem er monierte, dass im Manuskript ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ »lediglich in Wort und Bild die Anschauungen des Nationalsozialismus über den Juden gegeben« wurden. Das Schulbuch sollte zeigen, wie »der Jude wirklich« sei, wozu die »großartigen Leistungen der Juden auf religiösem, wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet« aufgezeigt werden sollten. Alternativ vermittle das Buch folgendes Urteil: »Man darf dem Juden deshalb nichts tun, weil er auch ein Mensch ist. Und das ist nicht genug, wenigstens hier nicht.«985 Wie die Schulbuchanalyse zeigte, war die Widerlegung des Antisemitismus mit dem Verweis auf die Leistungsfähigkeit durchaus ein probates Element der Schulgeschichtsbücher seit den 1960er Jahren.986 Die Widerlegung des Antisemitismus‹ durch den Verweis auf jüdische Leistungen riss dagegen für die Autoren des Bandes gerade »Abgründe auf«, da nicht die Leistungsfähigkeit von Jüdinnen und Juden, sondern das Menschenrecht der hinreichende Grund sei, die Ermordung von Jüdinnen und Juden zu verurteilen: »Der Schüler muß folgende Erkenntnis gewinnen: Man darf und 980 Zitate nach MK 63837 Gutachten vom 30. April 1966. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 981 BayHStA MK 63837 Gutachten vom 14. Juni 1966. 982 »Dem Verlag wird anheimgegeben, die Manuskripte entsprechend den Änderungs- und Verbesserungsvorschlägen der Gutachten, im Besonderen auf sprachliche Formulierung, Bildanordnung und Flüchtigkeitsfehler, zu überarbeiten und mit dem Staatsministerium je 1 Manuskript der verbesserten Fassung mit Angabe der Änderungen vorzulegen.« BayHStA MK 63837 Brief des Kultusministeriums an den Verlag vom 18. August 1966. 983 Als der Verlag 1972 den Band ›Zeiten und Menschen‹ einreichte, der laut Verlag eine Neubearbeitung des früheren Bands sei, wurde allerdings nur einer der beiden früheren Gutachter wieder als Sachverständiger herangezogen. BayHStA MK 63837 Brief des Verlags an das Kultusministerium 24. Juli 1972. 984 Zu Beginn der 1960er Jahre kritisierte ein Oberstudienrat im Gutachten zu ›Deutschlands jüngste Vergangenheit‹ aus dem Kösel Verlag, die Wiederbelebung der »alte[n] Fabel von der ›semitischen Rasse‹«. BayHStA MK 63845 Gutchten vom 17. Mai 1962. Der Band wurde nicht zugelassen. 985 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960. 986 In der Stellungnahme des Oldenbourg Verlags zum Manuskript von ›Die Vergangenheit lebt‹ argumentierte der Verlag für eine Zulassung mit Verweis auf die ausführliche Beschreibung der jüdischen Leistungen als Widerlegung des Antisemitismus. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 20. Juli 1967.

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durfte dem Juden allein deshalb nichts tun, weil er auch ein Mensch ist.«987 Der erste Prüfgang des Bandes kam nicht zu einem erfolgreichen Abschluss, weshalb das Manuskript erneut geprüft werden musste. Allerdings ersuchte die Behörde nicht mehr den gleichen Sachverständigen, sondern einen Beamten am Staatsinstitut für die Ausbildung der Lehrer an Mittelschulen um ein Gutachten. Dieser Sachverständige kritisierte das Schulbuch quasi von entgegengesetzter Seite, insofern er sich an dem von ihm zitierten Satz des Manuskripts störte: »Das Opfer (sc. die Ermordung der Juden!) gewinnt allein dann einen Sinn, wenn es die kommenden Geschlechter der Menschheit zur Humanität verpflichten kann.« Dagegen argumentierte er, dass ein Mensch »seinen Zweck in sich trägt« und deshalb »gegen seinen Willen keinen heteronormen Zielen dienstbar gemacht werden« dürfe. Dementsprechend könne ein Mord auch dann keinen Sinn haben, wenn sich kommende Generationen zur Humanität verpflichteten. Eine dieser Schlussfolgerung zuwiderlaufende Aussage entsprach für den Sachverständigen zudem »nationalsozialistischem und kommunistischem, nicht aber abendländischem Denken.«988 Trotz dieser Kritik blieb die monierte Stelle im veröffentlichen Band erhalten.989 Auch die Historikerin des IfZ begutachtete das Manuskript von ›Nationalsozialismus und Demokratie‹. Sie forderte bereits im ersten Prüfgang des Manuskripts mehr Sachorientierung bei der Widerlegung des Antisemitismus ein. Statt »mit abwertenden Wörtern wie ›dumm‹, ›unmenschlich‹, ›verabscheuungswürdig‹« zu arbeiten, sollte der Antisemitismus als Pseudowissenschaft erklärt werden, die sich auf »reine Behauptungen und Gefühlsangelegenheiten« stütze.990 Die gleiche Argumentation brachte die Historikerin auch gegen das Buch ›Geschichte für Mittelschulen‹ des Kösel Verlags vor, insofern sie bei der Widerlegung des rassischen Antisemitismus einforderte, ernstzunehmende Rassenwissenschaft und »scheinwissenschaftlicher Schriftsteller (Gobineau, Chamberlain, Darwinisten), auf die sich die NS ständig beriefen« zu unterscheiden.991 Die Anmerkungen der Sachverständigen wurden anscheinend übernommen, denn in einer eigens angelegten Seite, »Toleranz als Grundlage des Staates«, erklärten die Autoren, dass das Menschenrecht in Demokratien das Gegenstück zum Antisemitismus darstelle und weder von ›reinen Rassen‹ gesprochen werden könne, noch Unterschiede zwischen den Rassen bestehen.992 987 988 989 990 991 992

BayHStA MK 64363 Stellungnahme des Verlags vom 24. Oktober 1960. Zitate BayHStA MK 64363 Gutachten vom 15. Dezember 1960. BSV, Nationalsozialismus und Demokratie, 1961, S. 69. Zitate BayHStA MK 64363 Gutachten des IfZ vom 14. September 1960. BayHStA MK 64272 Gutachten des IfZ vom 2. Juli 1963. BSV, Nationalsozialismus und Demokratie, 1961, S. 15. Auf die Würde des Menschen als Grundlage der Demokratie und der Kritik des biologistischen Weltbilds geht der Band auch auf S. 27 ein.

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Die dokumentierten Gutachten wurden vor allem in den Jahren von 1960– 1963 verfasst; also in dem Zeitraum, in dem Antisemitismus und Holocaust erstmals den Status eines Lehrplanthemas erreichten. Die gestiegene Relevanz des nationalsozialistischen Antisemitismus in den frühen 1960er Jahren zog demnach eine Debatte über die angemessene Darstellung der Ideologie nach sich, die sich in den Antinomien von sachlicher Darstellung und gleichzeitiger Distanzierung sowie Widerlegung und Perpetuierung bewegte. Der Antisemitismus sollte in seiner Konsequenz belegt und in seiner Idee widerlegt werden, um Schülerinnen und Schüler gegen den gegenwärtigen Antisemitismus zu ›impfen‹, wie es die Autoren von ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ nannten. Die Zulassungsverfahren belegen, dass sich die Gutachter um eine pädagogische und geschichtswissenschaftliche Reflexion der Manuskripte bemühten und widerstrebende Gütekriterien in der Darstellung aufzuheben versuchten. Relevanz des NS-Antisemitismus Die gestiegene Relevanz des NS-Antisemitismus als Thema in Schulgeschichtsbüchern spiegelte sich auch in den Kritikpunkten der Gutachterinnen und Gutachter wider. Bereits 1959 störte sich ein Oberschulrat bei der Neubearbeitung des Oberstufenbands ›Europa und die Welt‹ aus dem Verlag Blutenburg an der unübersichtlichen, nicht zweckmäßigen Gliederung, da die Themen offensichtlich falsch gewichtet seien. So waren für die Angaben über Antisemitismus und »Judenpolitik« nur neun Zeilen vorgesehen.993 Dies ist genau die Zeilenanzahl, die auch der 1954 zuerst veröffentlichte Band einräumte.994 Anzunehmen ist, dass der Verlag lediglich die Übernahme der Textbestände plante, was aber im Zulassungsverfahren wegen der gestiegenen Bedeutung des NS-Antisemitismus nicht mehr toleriert wurde. Das Manuskript musste vor der Zulassung den Wünschen des Gutachters entsprechend umgearbeitet werden995 und erschien schließlich im Juni 1961.996 Für eine Studienprofessorin wurde die Geschichte des ›Dritten Reiches‹ in dem speziell für Wirtschaftsschulen verfassten Manuskript ›Grundriss der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung von Handel und Wirtschaft‹ aus dem Blutenburg Verlag »sehr stiefmütterlich behandelt«, da die Schülerinnen und Schüler aus dem Buch nichts von den »Gräueln der Diktatur Hitlers« erfahren.997 Der zweite Gutachter thematisierte die Darstellung des Nationalso-

993 994 995 996 997

BayHStA MK 63836 Gutachten vom 25. August 1959. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 163–164. BayHStA MK 63836 Brief des Ministeriums an den Verlag vom 9. März 1960. Liste neu erschienener, zugelassener Schulbücher in, KMBL 1961a, S. 366. BayHStA MK 63836 Gutachten vom 11. Februar 1960.

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zialismus dagegen gar nicht.998 Das Ministerium erwartete schließlich vom Verlag die Überarbeitung des betreffenden Bandes auf Grundlage des Gutachtens besagter Studienprofessorin,999 was dazu führte, dass der dritte Band erst 1968 als zugelassenes Lehrmittel im Amtsblatt des Kultusministeriums genannt wurde.1000 Auch das Kapitel zu Edith Stein in der 1963 veröffentlichten Neubearbeitung von ›Geschichte unseres Volkes‹ geht auf das Zulassungsverfahren zurück, da das katholische Schulkommissariat u. a. einen eigenen Abschnitt empfahl, in dem das Leben Edith Steins geschildert werde,1001 was der Oldenbourg Verlag umsetzte.1002 Erst der Volksschullehrplan von 1963 sah vor, Edith Stein im Unterricht zu behandeln.1003 Gleichwohl wurde auch Kritik an einer stärkeren Gewichtung des NS-Antisemitismus in der Geschichte des Nationalsozialismus geübt. Die Historikerin des IfZ sprach sich gegen die Einordnung der Novemberpogrome 1938 sowie der Einführung des ›Judensterns‹ 1941 im Kapitel ›Unrecht wird Recht‹ des Manuskripts ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ aus und schlug vor, ein anderes – nicht ein eigenes – Kapitel zu wählen, um die Entrechtung der Juden im Nationalsozialismus darzustellen. Ihrer Überzeugung nach haben die genannten Beispiele »eigentlich nichts mit der Zerstörung des Rechts« zu tun gehabt.1004 Im gleichen Zulassungsverfahren schien dem Erstgutachter das Kapitel ›Rassenhass‹ »allzu sehr auf die Judenfrage zugeschnitten« zu sein. Auch in anderen Kapiteln dominiere die »Judenfrage«. Dies sollte allerdings außer in einem eigens dem Antisemitismus gewidmeten Kapitel vermieden werden, »weil sonst der Eindruck in dem Jugendlichen entsteht, daß nur die Juden zum Problem wurden und werden.« Er schlug dagegen vor, die antisemitische Ideologie und Politik des Nationalsozialismus »in einem Kapitel zu vereinigen«.1005 Wie in der Kritik an der Auswahl der Bild- und Textquellen befürchtete der Erstgutachter die Vermittlung antisemitischer Haltungen bei Jugendlichen, wenn der Antisemitismus als Fixpunkt des Nationalsozialismus dargestellt werde. Das Zulassungsverfahren zeigte auf, dass Autoren und Verlag dem Antisemitismus in Weltanschauung und Handeln des Nationalsozialismus eine hohe Bedeutung zurechneten. Dagegen führte die Notwendigkeit didaktischer Reduktion die Argumentation und Überlegungen der Autoren an: In ihrer Stellungnahme gegen die Gutachten hoben Autoren und Verlag diese Ansicht auch hervor, denn der Band »mußte 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005

Zitate BayHStA MK 63836 Gutachten vom 10. Februar 1960. BayHStA MK 63836 Brief des Ministeriums an den Verlag vom 14. März 1960. KMBL 1968b, S. 376–377. BayHStA MK Gutachten vom 30. April 1962. BayHStA MK 64526 Stellungnahme vom 7. August 1962. Vgl. KMBL 1963, S. 309. Siehe auch Kapitel 2.1. BayHStA MK 64363 Gutachten vom 14. September 1960. Zitate BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960.

»Hitler und die Juden«. Verortung und Gewichtung des Antisemitismus

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sich auf exemplarische und typische Züge des Nationalsozialismus beschränken«, weshalb der »Antisemitismus als die furchtbarste Auswirkung des Rassenhasses in den Mittelpunkt gestellt« wurde.1006 Der veröffentlichte Band verzahnte folglich auch im entsprechenden Kapitel die Judenverfolgung mit dem Umbau der Republik zum Unrechtsstaat in Darstellungstext und Quellenmaterial.1007 Im Gutachten zu ›Geschichte für Realschulen‹ des Oldenbourg Verlags monierte der vom Institut für Zeitgeschichte einbestellte Gymnasialprofessor »die viel zu dürftige Darstellung des Antisemitismus«, denn Hitlers »rassistisches Programm muß unbedingt gleichgewichtig neben dem antidemokratischen genannt werden.«1008 Der Referent übernahm die Forderung des Gutachters nach »einer stärkeren Berücksichtigung thematischer Einheiten bzw. Längsschnitte« in seinen Bericht über die Gutachten auf und übermittelte dem Verlag die Kritik.1009 Die Äußerungen der Sachverständigen zur Relevanz des Antisemitismus im Nationalsozialismus zeigt eine gestiegene Bedeutungszuschreibung in den frühen 1960er Jahren auf. Der Befund ist kongruent zur Analyse der Schulgeschichtsbücher, insofern die Analyse einen Anstieg von Kapiteln, Text- und Bildquellen aufzeigte, die sich explizit mit den NS-Antisemitismus auseinandersetzen. Dies wurde auch von den Sachverständigen des Kultusministeriums eingefordert und begrüßt. Wie die Schulbuchanalyse bereits zeigte, waren Bildund Textquellen zum NS-Antisemitismus bis zum Ende der 1950er Jahre durchaus unüblich. Als der Band ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ Bildquellen einband, brach er also mit einer Konvention. Im oben geschilderten Zulassungsverfahren stellte dieser Bruch die Gutachter vor eine didaktische Herausforderung. Text- und Bildquellen wurden in einem Gutachten von 1960 wegen ihres emotionalisierenden und illustrierenden Charakters im Manuskript des Mittelstufenbands ›Geschichte der neuesten Zeit‹ vermisst. So fehle »die Unmittelbarkeit des Eindrucks, bes. auch vom Vernichtungskampf gegen das Judentum«, monierte der Gutachter.1010 Weil der Autor von anderen Schulbüchern und Fachpublikationen plagiierte, was beide Gutachter im Zulassungsverfahren aufdeckten, trennte sich der Verlag vom Autor und setzte mit einem neuen Bearbeiter in wenigen Monaten ein neues Manuskript auf. Im erneuten Prüfverfahren hob der Erstgutachter das Kapitel »Der organisierte Massenmord« 1006 1007 1008 1009

Zitate BayHStA MK 64363 Stellungnahme vom 24. Oktober 1960. BSV, Nationalsozialismus und Demokratie, 1961, S: 52–56. BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972. BayHStA MK 64268 Interne Notiz vom 9. Februar 1972. Der Akt bricht allerdings vor einem Abschluss des Zulassungsverfahrens ab, weshalb unklar ist, inwiefern der Verlag auf die Kritik reagierte. 1010 BayHStA MK 64264 Gutachten vom 4. April 1960.

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als besonders gelungen hervor, da es durch »authentische Berichte äußerst eindrucksvoll« gestaltet sei.1011 Der veröffentlichte Band widmete der Vernichtung des europäischen Judentums ein eigenes Kapitel, in dem er u. a. neben der Aussage Rudolf Höß’ auch zwei Bildquellen abdruckte.1012 Dass die Verwendung von drastischen Bild- und Textquellen im Laufe der 1960er Jahre zur neuen Konvention wurde, zeigt ein 1972 verfasstes Gutachten zu ›Spiegel der Zeiten‹. Der vom Institut für Zeitgeschichte ersuchte Gutachter monierte, dass die Schilderung der Wannsee-Konferenz und das Zitat der Aussage Höß’ bei den Nürnberger Prozessen von »zwei vergleichsweise ›harmlosen‹ Bildern begleitet« werden, »die in keinem Verhältnis zum Grauen der Planung der ›Endlösung‹ und ihrem durch Zitat belegten Vollzug stehen.« Der Historiker forderte, dass stattdessen ein Bild abgedruckt werde, »das nun wirklich den Völkermord belegt.«1013 Im veröffentlichten Lehrwerk wurden die beiden Textquellen von einem Bild des sog. Stroop-Berichts begleitet, das die Deportation überlebender Jüdinnen und Juden aus dem Warschauer Ghetto zeigte, sowie ein Bild von der ›Selektion‹ im Vernichtungslager Auschwitz.1014 Die Zulassungsverfahren zeigen, dass die gestiegene Anzahl von Bildern in Schulgeschichtsbüchern eine pädagogisch-didaktische Reflexion ihrer Einsatzmöglichkeiten nach sich zog. Zudem zeigen die Verfahren eine Tendenzwende im Umgang mit dem historischen Antisemitismus auf. Dem nationalsozialistischen Antisemitismus wurde insgesamt mehr Bedeutung und Relevanz zugesprochen, wenn die Geschichte des Nationalsozialismus diskutiert wurde. Dabei war die Darstellung des Antisemitismus neben der historischen Aufklärung auch in den Zweck der politischen Bildung eingebunden. Diese gestiegene Bedeutungszuschreibung zeigt sich auch in der Debatte um die Frage nach dem historischen Ort des Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Historischer Ort des NS-Antisemitismus Der historische Ort des nationalsozialistischen Antisemitismus wurde im Rahmen von Zulassungsverfahren zum ersten Mal 1961 besprochen, als der Historiker Hans-Dietrich Loock dem Bayerischen Schulbuchverlag Textvorschläge im Umfang von 21 Seiten zur redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts von ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ vorlegte. Der Historiker arbeitete dem Verlag direkt zu, nachdem er vom Kultusministerium 1011 BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961. Siehe BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962. 1012 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1963, S. 96–99. 1013 BayHStA MK 64261 Gutachten vom 10. Juni 1972. Hervorhebung im Original durch handschriftliche Unterstreichung (wahrscheinlich durch den Ministerialreferenten). 1014 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 136–137.

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als Gutachter bestellt war und den Band nicht genehmigen wollte. Unter anderem verfasste er einen Abschnitt zur historischen Verortung des Antisemitismus. Dieser Abschnitt wurde vermutlich vom Lektor des Verlags als »recht gute Ergänzung« bewertet und fand als einleitender Absatz unter dem Kapitel »Verfolgung der Juden« nahezu wortgetreu Eingang im Schulbuch: Textvorschlag Hans-Dietrich Loock1015 Das dunkelste Kapitel der bisherigen deutschen Geschichte ist die Verfolgung und schließliche Vernichtung der Juden.

Veröffentlichtes Lehrwerk1016

Analyse

Das dunkelste Kapitel der bisherigen deutschen Geschichte ist die Verfolgung und geplante Vernichtung aller Juden.

Nationalgeschichtliche Rahmung | Werturteil

Gewiß war die jüdische religiöse Minderheit schon in den früheren Jahrhunderten rechtlichen und beruflichen Beschränkungen unterworfen gewesen. Der Aberglaube hatte auch im Mittelalter zu Pogromen geführt. Seit dem 18. Jahrhundert hatte man aber eingesehen, daß alle Menschen gleich waren.

Gewiß war die jüdische Minderheit schon in früheren Jahrhunderten rechtlichen und beruflichen Beschränkungen unterworfen gewesen. Unduldsamkeit und Aberglaube hatten auch im Mittelalter zu Pogromen geführt. Seit dem 18. Jahrhundert setzte sich aber immer mehr die Ansicht durch, daß alle Menschen gleich waren.

Mittelalter als Maßstab des Rückschritts

Die Anhänger des jüdischen Glaubens wurden seitdem allenthalben als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt. Hitler aber lebte in dem Wahn, daß die Juden einer fremden, ›minderwertigen Rasse‹ angehörten und stellte die Behauptung auf, diese ›Rasse‹ wolle die Deutschen vernichten.

Modernes Ideal | Orientierungsrahmen Modernes Recht

Hitler jedoch lebte in dem Wahn, daß die Juden einer minderwertigen Rasse angehörten und stellte die Behauptung auf, diese Rasse wolle das deutsche Volk vernichten.

Hitlerzentrismus

1015 BayHStA BSV 462 Redaktionelle Vorschläge vom 4. August 1961, S. 15a. 1016 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 75.

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Geschichte des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren

(Fortsetzung) Textvorschlag Hans-Dietrich Loock

Veröffentlichtes Lehrwerk

Analyse

Schon in seinem Buch ›Mein Kampf‹ schrieb er:

In seinem Buch ›Mein Kampf‹ Beleg: Hitler ist Antihatte Hitler schon lange vor semit der Machtergreifung den Juden als den angeblichen ›Vergifter der deutschen Volksseele‹ den schärfsten Kampf angesagt und erklärt: ›So glaube ich im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.‹ Und an anderer Stelle schrieb er:

›Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal 12- oder 15 000 dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie 100 000 unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen im Felde es erdulden mußten, dann wäre das Millionenopfer nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: 12 000 Schurken zur rechten Zeit umgebracht hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutscher das Leben gerettet.‹ Daß genau 12 000 dieser angeblichen ›Schurken‹ im Ersten Weltkrieg für ihr deutsches Vaterland gefallen waren, verschwieg Hitler geflissentlich.

›Hätte man zu Kriegsbeginn (1914) und während des Krieges einmal 12- oder 15 000 dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie 100 000 unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen im Felde es erdulden mußten, dann wäre das Millionenopfer nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: 12 000 Schurken zur rechten Zeit umgebracht, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutscher das Leben gerettet.‹ Daß genau 12 000 dieser an- Widerlegung | natiogeblichen »Schurken« im ers- nalpädagogischer Rahmen ten Weltkrieg für ihr deutsches Vaterland gefallen waren, verschwieg Hitler wohlweislich.

Abgesehen von dem zusätzlichen Zitat aus ›Mein Kampf‹, das Hitlers Vorstellung von der göttlichen Weisung des Kampfs gegen das Judentum belegte, lehnte sich der Absatz eng an die Ausführungen des Historikers an. Deutlicher noch als im abgedruckten Text skizzierte Loock den NS-Antisemitismus als Bruch mit der deutschen Nationalgeschichte, da er dem NS-Antisemitismus die angeblich mehrheitlich getragene staatsbürgerliche Gleichheit seit dem 18. Jahrhundert gegenüberstellte. In anderen zeitgenössischen Schulgeschichtsbüchern wurde

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auch darauf hingewiesen, dass der NS-Antisemitismus auf der Rassenlehre gefußt habe oder bereits im Kaiserreich einen Vorläufer besessen habe. Diese Kontinuitätslinie griff Loock nicht auf, sondern sah die Rückkehr des Antisemitismus im ›Wahn‹ Hitlers begründet. Anders als seine Kollegin widerlegte er deshalb auch nicht den Antisemitismus, indem er ihn als Scheinwissenschaft darstellte, sondern setzte den Widerlegungsversuch in einen nationalen Rahmen. Dies zeigte sich in den Arbeitsfragen, die zur Wiederholung und Vertiefung am Ende des Kapitels zu finden sind.1017 Die Frage »Woran kann man besonders deutlich erkennen, daß die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens sich als Deutsche fühlten?« wurde ebenfalls von Loock vorgeschlagen.1018 Den von Loock angelegten Dreischritt von mittelalterlichem Antisemitismus – Überwindung durch die Aufklärung – und Nationalisierung der deutschen Jüdinnen und Juden als Gegenargument zum Antisemitismus des Nationalsozialismus schlug auch ein Gutachter von ›Deutschlands jüngste Vergangenheit‹ aus dem Kösel Verlag vor, denn bislang habe ihn »die geschichtliche Herleitung des Judenhasses nicht« genügt.1019 Trotzdem der Band nur die Zeitgeschichte abdeckte, schienen die Autoren nicht genügend Platz für die historische Einordnung des Holocausts geboten zu haben, denn der zweite Gutachter kritisierte, dass zwar die Idee, eine Geschichte des Antisemitismus darzulegen, gut sei, man diese aber »nicht mit 15 Zeilen abtun« könne.1020 Der Band wurde nicht zugelassen, weil er mit dem zeitgeschichtlichen Zuschnitt die Lehrplanvorgaben für ein Schuljahr nicht abdeckte. Die Forderungen nach einer Historisierung des Antisemitismus blieben nicht auf die frühen 1960er Jahre beschränkt. Ein Gutachter des Volksschulbands ›50 Jahre Zeitgeschichte‹ vermisste 1970 einen Längsschnitt zur Geschichte des Antisemitismus, um eine grundlegende Auseinandersetzung mit diesem Thema zu ermöglichen. Mit der Historisierung des Antisemitismus versprach sich der Lehrer eine sachbezogene Auseinandersetzung, doch statt die Möglichkeit der »tiefere[n] Einsicht in das weltgeschichtliche Problem der ›Judenfrage‹« zu nutzen, verweise der Band nur auf Hitlers Kampfparolen und Gesetze und zielte bei der Schilderung des Holocausts ausschließlich auf Emotionen.1021 Auch der vom Institut für Zeitgeschichte beauftragte Gutachter und Gymnasialprofessor monierte in seinem Gutachten zu Oldenbourgs ›Geschichte für Realschulen‹, 1017 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 77. 1018 BayHStA BSV 462 Redaktionelle Vorschläge vom 4. August 1961, S. 16. 1019 »Die mittelalterliche Judenfeindschaft sollte besser erklärt, die nachfolgende Überwindung durch die Aufklärung erwähnt und letztlich auch die weitgehende Nationalisierung der deutschen Judenschaft im 19. Jahrhundert betont sein.« BayHStA MK 63845 Gutachten vom 14. Juni 1962. 1020 BayHStA MK 63845 Gutachten vom 4. August 1962. 1021 BayHStA MK 64521 Gutachten vom 25. März 1970.

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dass das »überaus schwierige Problem des Antisemitismus viel zu kurz« komme und in einem Längsschnitt behandelt werden müsse,1022 sodass die Schülerinnen und Schüler die »prinzipiellen Unterschiede« des modernen zum mittelalterlichen Antisemitismus verstehen. Statt eines bloßen Verweises auf Chamberlain und dessen rassistischen Antisemitismus müsse zudem auf die jüdischen Assimilationsversuche seit der Aufklärung eingegangen werden, denn nur so kann »Herzls Zionismus und andererseits der biologisch begründete Antisemitismus der 2. Jahrhunderthälfte verständlich gemacht werden.«1023 Der Gutachter hielt es für »ungemein wichtig, die Wurzeln der nationalsozialistischen ›Weltanschauung‹ aufzudecken.«1024 Während Sachverständige und Verlage in den frühen 1960er Jahren noch die Historisierung des Antisemitismus in Lehrwerken lobten, erwarteten die Sachverständigen der 1970er Jahre, den NS-Antisemitismus historisch herzuleiten. In diesem Kontext entwickelte sich ein Zulassungsverfahren zu einem geschichtswissenschaftlichen Paradigmenstreit auf der Bühne der Schulbücher. Es soll im Folgenden ausführlich besprochen werden. Paradigmenwechsel? Die Zulassung des Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹1025 Zu einer langjährigen Auseinandersetzung mit insgesamt fünf Prüfgängen führte die Frage nach dem historischen Ort des NS-Antisemitismus im Zulassungsverfahren des Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹. Der Verlag reichte im Sommer 1963 das Manuskript des damals noch dritten Bands der Reihe ein. Das Zulassungsverfahren dauerte insgesamt fünf Jahre, was zum einen an einer Lehrplanreform lag,1026 die einen neuen Zuschnitt des Manuskripts bedingte,1027 und zum anderen in der im Verfahren hitzig geführten Debatte um den historischen Ort des NS-Antisemitismus in der deutschen Geschichte begründet war. Diese Debatte prägte eine mehrjährige Auseinandersetzung zwischen dem C.C.

1022 BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 1023 Zudem sei die Schilderung des Zionismus im Kapitel ›Imperialismus‹ falsch eingeordnet. BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972, S. 3. 1024 BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972, S. 8. 1025 Siehe zu diesem Zulassungsverfahren auch Bauer (2019b). 1026 Der Lehrplan für Gymnasien erschien im September 1965 und sah nun eine vierstufige statt eine dreistufige Oberstufe vor, siehe KMBL 1965, S. 260. 1027 Siehe BayHStA MK 63825 Brief des Kultusministeriums an die Gutachter vom 19. August 1965.

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Buchners Verlag bzw. dem Erstautor Dr. Hermann Glaser1028 und dem vom Ministerium beauftragten Erstgutachter.1029 Im ersten Prüfverfahren beanstandete der Erstgutachter die soziologische Ausrichtung des Textes, die in anderen Schulbüchern nicht vorkomme und auch keinen schulbuchnotwendigen Stoff biete. Er schlug vor, drei Kapitel im Umfang von insgesamt 45 Seiten zu streichen: Sie behandelten die deutsche Geistesgeschichte und dabei u. a. den Nationalsozialismus, ›Blut und Boden‹ und Antisemitismus und diskutierten den Kleinbürger als Träger dieser Gedanken, das allgemeine Vordringen des Faschismus sowie antidemokratisches Denken.1030 Das zweite Kapitel sei zudem eng an einen Aufsatz von Theodor Eschenburg angelehnt, der Teil einer verschriftlichten Sendereihe des Norddeutschen Rundfunks war.1031 Eschenburg galt als angesehener Politikwissenschaftler, bis 2011 bekannt wurde, dass er als Beamter im Nationalsozialismus unter anderem an ›Arisierungen‹ von Unternehmen beteiligt war und dem NS-Regime beflissen diente.1032 Für den Erstgutachter war die inhaltliche Gestaltung des Manuskripts »sehr stark von der Fragestellung determiniert«, wie »sich der Nationalsozialis1028 Hermann Glaser promovierte 1952 in der Literaturwissenschaft, arbeitete anschließend über zehn Jahre als Lehrer und schließlich erfolgreich als Autor und war seit 1964 als Schulund Kulturdezernent der Stadt Nürnberg tätig. Er veröffentlichte in den 1960er Jahren unter anderem Glaser (1961). In Glaser (1964) behauptete er eine lange Kontinuitätslinie deutscher Kultur, die er als Spießer-Ideologie verstand. Diese Ideologie habe seit dem 19. Jahrhundert bestand, sei für den Nationalsozialismus tragend gewesen und wirke bis in die Bundesrepublik fort, so Glaser im Buch. Das ursprünglich eingereichte Schulbuchmanuskript übernahm offenbar diese These. 1029 Eine Personalakte des Gutachters war im Hauptstaatsarchiv nicht gelistet. Der 1919 geborene Erstgutachter war zu dieser Zeit Gymnasialprofessor und steig im Laufe seiner Amtszeit zum Oberstudiendirektor auf. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer war er auch als Schulbuchautor und im regionalen Geschichtsverein aktiv. Zudem veröffentlichte er heimatgeschichtliche Sachbücher. Aus datenschutzrechtlichen Gründen wird er hier anonymisiert. 1030 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963. 1031 Eschenburg (1963). Eschenburg behandelt in diesem verschriftlichen Radiovortrag die Entstehung von Diktaturen im Europa der Zwischenkriegszeit und schlägt eine Taxonomie der Diktaturen in unideologische Diktaturen (v. a. Osteuropa), in eine ideologisch-bürgerliche Diktatur (Italien) und in katholische Diktaturen (Spanien, Portugal und Österreich) vor. Auf das Deutsche Reich ging Eschenburg nicht ein. Theodor Eschenburg war zu dieser Zeit Lehrstuhlinhaber der Politikwissenschaft in Tübingen und Rektor der Universität von 1961 bis 1963 und zudem u. a. Mitherausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, als die Zeitschrift 1961 einen Bericht platzierte, der in der Intention verfasst wurde, Hans Globke von der Mitwirkung bei den Nürnberger Rassegesetzen freizusprechen. Strauß (1961). 1032 Das Bekanntwerden von Eschenburgs Teilhabe an ›Arisierungen‹ im Nationalsozialismus führte zu einer intensiven Kontroverse in der Politikwissenschaft, die Rainer Eisfeld in einem Band gesammelt hat: Eisfeld (2016). In den Vierteljahrsheften stellte Eisfeld die Dokumente 2014 zusammen, die Eschenburgs Beteiligung an den ›Arisierungen‹ belegen. Vgl. Eisfeld (2014), S. 613.

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Geschichte des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren

mus hinreichend erklären« ließe, denn das »Dritte Reich ist gleichsam der Brennpunkt, auf den alle Strahlen zustreben.« Der Sachverständige sah darin drei Probleme: Erstens führe die breite Darstellung und historische Herleitung der NS-Weltanschauung an anderen Stellen zu einer »bedenkliche[n] Kürzung des herkömmlichen Stoffes.« So monierte der Gutachter, dass Bismarcks Außenpolitik nur »auf drei Schreibmaschinenseiten abgehandelt« werde. Aus dieser falschen Stoffverteilung könne aber kein »verantwortbares Geschichtsbewusstsein« erwachsen. Statt einer breiten Darlegung der »forschungsmäßig sehr umstrittene[n] Frage, ob der Nationalsozialismus kontinuierlich aus geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts« entstanden sei, solle ein Schulgeschichtsbuch zum Aufbau verantwortbaren Geschichtsbewusstseins den geschichtswissenschaftlichen Konsens darlegen, was für den Erstgutachter »die von der ausländischen Geschichtsschreibung anerkannte Bewahrung des Friedens Europas durch Bismarck« war. Zweitens bilde der »Eigenwert jeder Geschichtsepoche« die Grundlage historischer Urteile und eines verantwortbaren Geschichtsbewusstseins, weshalb der Erstgutachter eine »exakte Darlegung des Vergangenen« erwartete, die aber durch die im Manuskript vorgenommene »Ausschaltung und Verkürzung ganzer Stoffbereiche« konterkariert werde. Drittens beinhalten die im Manuskript angelegten Längsschnitte die »Gefahr des Verlusts jedes Epochengefühls«. Denn für den Erstgutachter ist mit der »Überbetonung der Kontinuität […] zwangsläufig eine Unterbewertung der besonderen Umstände der Zeit von 1918–1933 verbunden.«1033 Den Historiker Theodor Schieder zitierend1034 hielt der Erstgutachter dem Autor vor, »›daß der Kontinuitätsbegriff gar nicht mehr ausreicht, um ein die Kontinuität durchbrechendes revolutionäres Phänomen wie die nationalsozialistische Revolution in seiner historischen Bedeutung zu verstehen‹.« Zudem zitierte der Erstgutachter den Historiker Hans Herzfeld, wonach eine tiefe Kluft zwischen den Irrtürmern der Generation vor dem Ersten Weltkrieg und dem ahistorischen, vollkommen von der Persönlichkeit Adolf Hitlers erfassten Nationalsozialismus liege. Diese Kluft habe ebenso »zwischen den schärfsten antisemitischen Äußerungen der Alldeutschen und jenem Hitler-Antisemitismus« bestanden, wurde im Gutachten resümiert.1035

1033 Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963. Hervorhebungen im Original durch Sperrung. 1034 Schieder (1963). Theodor Schieder war ein einflussreicher Sozialhistoriker der jungen Bundesrepublik. Er sah den Kontinuitätsbruch als Wesensmerkmal der Moderne an. Vgl. Chun (2000), S. 64–65. Erst nach seinem Tod wurde Schieders Beteiligung an der Vorbereitung des Völkermords im Nationalsozialismus zur Kontroverse. Vgl. Staets und Wille (1998). 1035 Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963. Hervorhebungen im Original durch Sperrung.

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Die Eigenständigkeit der historischen Epoche sowie die positivistische Urteilsbildung auf dem Boden eines breiten, geschichtswissenschaftlichen Konsenses hielt der Erstgutachter gegen die dem Buch attestierte Kontinuitätsthese, wonach sich der Nationalsozialismus aus der deutschen Geistesgeschichte erklären ließe. Analog zu der für Gutachter nicht haltbaren These Fritz Fischers, wonach eine Kontinuität des Imperialismus Wilhelms II. zum Imperialismus Hitlers bestanden habe,1036 sei auch Glasers These von der Kontinuität der Geisteshaltung des 19. Jahrhunderts zum Nationalsozialismus nicht haltbar.1037 Der Zweitgutachter lobte zwar die Klarheit im Urteil, bedauerte aber, dass die Anlage des Buches historische Vorbilder in der deutschen Geschichte destruiere, denn im »Endergebnis bleibt […] in den etwa 100 Jahren dieses Geschichtsabschnitts überhaupt kaum eine größere positive Leistung oder eine politische Persönlichkeit, zu der man Ja sagen könnte. Alles ist Fehlentwicklung und Versagen.«1038 Das Manuskript ging mit den Gutachten zurück an den Verlag, der den Nürnberger Gymnasiallehrer Dr. Helmut Altrichter zur Überarbeitung des Bands hinzuzog. Den Monita wurde anscheinend weitgehend zu entsprechen versucht, denn der Erstgutachter hatte im zweiten Prüfgang nicht mehr »das Gefühl [..], die Autoren interessiere der Geschichtsstoff des 19. Jahrhunderts vornehmlich dann, wenn gefährliche Strömungen, welche zum Aufkommen des Nationalsozialismus beigetragen haben könnten, zu erörtern sind.« Bedenken trug der Gutachter noch zu dem Kapitel »Die geistige Situation in der spätbürgerlichen Epoche«, da die angebliche »Deformation des deutschen Bürgers zum manipulierbaren Spießbürger Hauptthema« bleibe, wenn auch die Formulierungen weniger aufsässig seien.1039 Der deutsche Spießbürger war in der Tat ein wichtiges Thema Hermann Glasers zu dieser Zeit, denn erst wenige Jahre zuvor veröffentlichte er sein Bändchen ›Die Spießer-Ideologie‹, welches die Deformation des Geisteslebens im 19. Jahrhundert und den Kleinbürger als Träger des Nationalsozialismus diskutierte.1040 Auch die im Text dargelegte Geschichte des Antisemitismus sei für den Erstgutachter problematisch geblieben. Gegen das Manuskript hielt er fest: »Der deutsche Antisemitismus des 19. Jahrhunderts war keine schlimmere Erscheinung als der gleichzeitige Antisemitismus in anderen Ländern. […] Vor allem kam es nicht, 1036 Die sog. Fischer-Kontroverse beeinflusste nicht nur das bundesdeutsche Geschichtsbild, sondern beschleunigte auch die Absatzbewegung der Sozialgeschichte, indem das ›Primat der Innenpolitik‹ gegen die bisherige Geschichtspolitik gestellt und in den folgenden Jahrzenten in der Sozialgeschichte durchgesetzt wurde, vgl. Große Kracht (2011b), S. 65–67. 1037 Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963. Hervorhebung im Original durch Sperrung. 1038 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 1. April 1964. 1039 Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 2. Mai 1965. 1040 Glaser (1964).

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wie im Text dargelegt wird, zur Ausformung eines ›ganzen antisemitischen Gedankensystems‹ mit ›gefährlicher Fernwirkung‹ […]. Hitlers verhängnisvolle Einstellung zu den Juden, das ist auch in allen Biographien betont (z. B. A. Bullock, Düsseldorf 1959, S. 35), war nur ein Niederschlag aus den antisemitischen Zeitschriften und Broschüren, die er vor 1914 in Wien gelesen hat.«1041

Der Erstgutachter bezog sich vermutlich auf Allen Bullocks 1959 veröffentlichte Hitler-Biographie.1042 Der britische Historiker zeichnete Hitler in dieser zum zeitgenössischen Standardwerk gewordenen Biographie als opportunistischen Machtpolitiker und sicherte die dämonische Hitler-Imago der Nachkriegszeit wissenschaftlich ab. Die Bundeszentrale für politische Bildung verteilte noch im Veröffentlichungsjahr über 60 000 Exemplare der deutschen Erstausgabe kostenlos an die Schulen im Bundesgebiet,1043 wodurch die Biographie vermutlich bald zum geschätzten Nachschlagewerk für Lehrkräfte werden konnte. Wie bereits im ersten Prüfgang sprach sich der Erstgutachter deutlich dagegen aus, den NS-Antisemitismus in einer nationalgeschichtlichen Kontinuitätslinie zu verorten. Der Sachverständige zitierte nochmals die oben angeführte Aussage Schieders und plädierte erneut dafür, die Kontinuitätsthese fallen zu lassen, und zwar »nicht aus Halsstarrigkeit, sondern aus Verantwortungsbewusstsein den Schülern, aber auch dem Verlag gegenüber.« Die pädagogische Verantwortung und geschichtswissenschaftliche Haltung erhielt zudem geschichtspolitische Tiefe, da der Erstgutachter ein »Aufbegehren gegen das weitere Tragen des Büßerhemdes« erwartete. Dessen Legitimität wollte er zwar nicht einschätzen, doch er hielt es »für unklug, wenn bei diesen gegebenen Umständen nunmehr das Büßerhemd gleichsam noch verlängert werden soll, wenn Bismarckzeit, Romantik und Klassik schließlich auch noch Mitverantwortung am Nationalsozialismus aufgebürdet erhalten.«1044

Die Abwehr der Kontinuitätsthese fußte dementsprechend auf der Abwehr historischer Schuld, da diese nationalkritische Geschichtsschreibung einer positiven Identifikation mit der Nationalgeschichte und folglich der Formierung eines nationalen Kollektivs zuwiderlief. Komplementär dazu vermisste der Zweitgutachter im ersten Prüfgang die Identifikationsfiguren in der deutschen Geschichte, die der Erstgutachter anscheinend vor allem in Bismarck sah. In der Annahme einer aufbegehrenden Öffentlichkeit erweiterte der Erstgutachter seine historisch-fachliche Argumentation um die geschichtspolitische Wirkung von Schulbüchern.

1041 1042 1043 1044

BayHStA MK 63825 Gutachten vom 2. Mai 1965. Vgl. Bullock (1959). Vgl. Widmaier (1987), S. 60 (Fußnote 105). Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 2. Mai 1965.

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Wissenschaftliche Evidenz lieferte der deutschnationale Pädagoge und Geschichtsdidaktiker Rudolf Raasch in einer nahezu zeitgleich veröffentlichten Studie zum Geschichtsbild der Jugend. Laut seiner Untersuchung gibt es ein verbreitetes Bedürfnis nach nationaler Gruppenzugehörigkeit unter Jugendlichen, sodass nationalkritische Darstellungen bei Schülerinnen und Schülern eine Verweigerungshaltung auslösen.1045 Zwar bezog sich der Erstgutachter nicht auf die Studie, doch die Studie legt nahe, dass dessen Befürchtungen keinen Sonderfall, sondern eine streitbare Position darstellte. Dagegen gab es bereits in den 1950er Jahren Stimmen, die eine Abkehr von nationalgeschichtlichen Identifikationsfiguren forderten: So veröffentlichte Martin Broszat bereits 1957 einen programmatischen Aufsatz zu den Problemen des zeitgeschichtlichen Unterrichts, in dem er »das schwierige Problem der Kontinuität oder Nichtkontinuität des Nationalsozialismus mit der vorausgegangen deutschen Geschichte« als Herausforderung des Unterrichts diskutierte. Er suchte den Mittelweg, indem er sich gegen die Kontinuitätsthese verwehrte und den Nationalsozialismus als Ergebnis deutscher Geschichte und »typisches Gewächs der Epoche« europäisierte. Geschichtsunterricht habe eine nationalpädagogische Aufgabe, sollte aber ein »nüchterneres Geschichtsbild« vermitteln, in dem »mancher Schatten auf frühere Figuren und Ereignisse deutscher Geschichte fällt«.1046 Die Autoren Glaser und Altrichter planten in ihrem Manuskript jedoch nicht, den von Broszat vorgeschlagenen Mittelweg zu gehen. Der Nationalsozialismus sollte nicht als europäisches Phänomen, sondern als spezifisch deutsches ›Gewächs‹ verstanden werden. Die Frage nach der Darstellung der Geschichte des Antisemitismus spitzte sich im dritten Prüfgang zu. Da die Autoren im Manuskript anscheinend die These einer kontinuierlichen Entwicklung des Antisemitismus aufrechterhielten, hob der Erstgutachter zu einer längeren Gegenargumentation an. Die Basis der Kontinuitätsthese liege in der Behauptung der Autoren, im Zweiten Kaiserreich habe sich ein antisemitisches Gedankensystem entwickelt, das im Vergleich zu anderen Nationen eine deutlich gefährlichere Fernwirkung besessen habe. Der Sachverständige brachte drei Argumente dagegen vor: Die Empirie stütze die These des antisemitischen Gedankensystems nicht, da es lediglich eine kleine soziale Gruppe im Kaiserreich gegeben habe, deren Antisemitismus von »einem bloßen Fremdheitsgefühl bis zur Ablehnung der Judenschaft« changiert habe. Geschichtspolitisch sei die Darstellung falsch, denn sie »lastet einen Teil der Schuld den Vertretern des 19. Jahrhunderts an und entlastet Hitler«1047.

1045 Vgl. Raasch (1964), S. 248–249. 1046 Zitate Broszat (1957), S. 534–535. 1047 Beide Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 8. September 1965.

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Schließlich argumentierte der Erstgutachter mit Bezug auf Golo Mann,1048 dass Hitler der Alleinschuldige an den »Orgien des Hasses« sei, da weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik der Antisemitismus stärker gewesen sei als in den anderen Ländern Europas. Er zitierte Mann: »Ich selber kann mich des Verdachts nicht erwehren, daß der Judenmord von Deutschland ausging, von Deutschen besorgt wurde, weil die deutsche Obrigkeit es befahl; nicht aber, weil in Deutschland ein besonders starker Judenhaß geblüht hätte.«1049

Der Erstgutachter empfahl, das Kapitel über die geistige Situation in der spätbürgerlichen Epoche nach der Schilderung des Alldeutschen Verbands mit der Bemerkung abzuschließen, daß trotz der »Judenfeindlichkeit keine gewaltsamen Aggressionen« im Zweiten Kaiserreich stattgefunden haben. Zudem sollte auch Heinrich von Treitschkes Antisemitismus, den die Autoren im Lehrwerk besprachen, auf der Grundlage Golo Manns beurteilt werden.1050 Zwischen dem dritten und vierten Prüfgang verstrichen knapp zwei Jahre, da ein neuer Lehrplan eine neue Stoffverteilung und folglich einen konzeptionellen Umbau des Manuskripts erforderte. Doch die vorgeschlagenen Änderungen wurden schließlich zur Zufriedenheit des Erstgutachters durchgeführt, worauf seine Beurteilung im vierten Prüfgang hinweist. Beruhigt hielt er fest, dass »der Antisemitismus der Wilhelminischen Zeit eine weitaus zutreffendere Beurteilung«1051 erhalte. Bedenken äußerte er nunmehr wegen der Kapitelanordnung, setzte seinen Wunsch nach einer anderen Kapitelaufteilung aber nicht durch.1052 Das im Zulassungsverfahren strittige Kapitel schloss die Ausführungen zum Antisemitismus im Kaiserreich mit folgender vom Erstgutachter vorgeschlagenen Behauptung: »Gewaltsame Aggressionen gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil, wie sie sich in anderen Ländern ereigneten, sind in Deutschland nicht vorgekommen.« Allerdings fügten die Autoren noch den Zusatz an, dass »hier eine besonders umfangreiche ›antisemitische‹ Literatur, die jahrzehntelang ein Zerrbild ›des Juden‹ zeichnete« entstanden sei, wozu die »Verkünder des germanischen Ideals […] fast alle dazu ihren Beitrag geleistet« haben.1053 Im Kapitel wurde weder auf den NS-Antisemitismus vorgegriffen noch wurde der Antisemitismus im Zweiten Kaiserreich an anderer Stelle besonders hervorgehoben. Da jedoch das Buch die Skizze des Antisemitismus im späten 19. Jahr1048 1049 1050 1051 1052

Mann (1961). BayHStA MK 63825 Gutachten vom 8. September 1965. Siehe auch Mann (1961), S. 32. BayHStA MK 63825 Gutachten vom 8. September 1965. BayHStA MK 63826 Gutachten vom 28. Juni 1967. Siehe dazu das Inhaltsverzeichnis C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971. In einem vergleichbaren Fall bat wurde in einem Gutachten darum gebeten, den Begriff ›Herrenmenschen‹ in Anführungszeichen zu setzen. BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961. 1053 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 28.

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hundert damit einleitete, dass der »ins Politische gewendete Irrationalismus« in Deutschland eine »besondere Form« angenommen habe, die mit antirepublikanischen und antisemitischen Haltungen einhergegangen sei,1054 blieben subtile Andeutungen einer deutschen Kontinuitätslinie des Antisemitismus vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus im Werk. Der Konflikt zwischen den Autoren Glaser und Altrichter sowie dem Erstgutachter war durch einen geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel bezüglich der Verortung des Nationalsozialismus in der Nationalgeschichte geprägt, der auch als Generationenkonflikt ausgetragen wurde. Während Altrichter und Glaser eine ideologische Kontinuitätslinie vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus behaupteten, hielt der Erstgutachter daran fest, dass der Nationalsozialismus gerade aus der Kontinuität der deutschen Nationalgeschichte ausgebrochen sei und seine Ursache im Wahn Hitlers gehabt habe. Die von Glaser und Altrichter behauptete und sozialgeschichtlich erfasste Kontinuität brach mit den Grundsätzen des historistischen Denkstils: historische Singularität, positivistische Methodologie und personenzentrierte Geschichtsschreibung. Die Argumentation des Erstgutachters war in den 1960er Jahren durchaus mehrheitsfähig, worauf beispielsweise die nahezu wortgetreu übernommenen Vorschläge Loocks im Band ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ hindeuteten. Der Deutungskonflikt stand zudem im Kontext des Umgangs mit Schuld und Verantwortung: Während Glaser und Altrichter breite Teile der Bevölkerung in die Verantwortung für die Dynamik des ›Dritten Reichs‹ nahmen, schrieb der Erstgutachter diese Verantwortung Hitler zu. Auch die deutsche Nationalgeschichte sollte eine Neubewertung erhalten, die besagter Gutachter nicht mittragen wollte. Angesichts seiner hegemonialen Position im Zulassungsverfahren und der Funktion von Schulgeschichtsbüchern als ›nationale Autobiographien‹ konnten sich die Autoren nicht durchsetzen. Nach fünf Prüfgängen blieben von ihrer nationalkritischen These, die schon auf die Sonderwegsthese der 1970er voraus verwies, nur Andeutungen. Zusammenfassung In den 1950er Jahren war der nationalsozialistische Antisemitismus ein randständiges Thema in Schulgeschichtsbüchern und wurde auch in den Zulassungsverfahren kaum besprochen. Erst zu Beginn der 1960er Jahre erkannten die Akteure der Zulassungsverfahren allmählich die Notwendigkeit, Holocaust und Judenverfolgung in Schulgeschichtsbüchern zu thematisieren, was auf die Lehrplanreform sowie den gestiegenen Bedarf der historisch-politischen Bildung infolge der antisemitischen Schmierwelle von 1959/60 zurückgeführt werden 1054 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 26.

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kann. Die Zulassungsverfahren zeigten, dass die Sachverständigen darum bemüht waren, die neuen Lehrplanvorgaben umzusetzen. Trotzdem der Antisemitismus als Element des Nationalsozialismus akzeptiert wurde, wurde der Holocaust in der hegemonialen Geschichtskultur der 1960er Jahre keinesfalls als Fluchtpunkt der Geschichte des Nationalsozialismus angesehen. Deshalb wurden die Autoren von ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ im Zulassungsverfahren kritisiert, wenn sie den Antisemitismus zum wesentlichen Element des Nationalsozialismus erhoben. Gleichzeitig stand die Thematisierung und Historisierung des nationalsozialistischen Antisemitismus in mehreren Spannungsfeldern: Zum einen sollte der Antisemitismus zwar sachlich dargelegt, durfte jedoch nicht perpetuiert werden, denn die Thematisierung war im Zweck der historisch-politischen Bildung eingebunden. Deshalb sollte die antisemitische Ideologie nicht nur geschildert, sondern auch widerlegt werden. Zudem stand die Bewertung der historischen Darstellung im Spannungsfeld didaktischer und fachwissenschaftlicher Überlegungen. So erkannten Gutachter zwar den dokumentierenden Zweck von Illustrationen zum Antisemitismus an, befürchteten aber eine problematische pädagogische Fernwirkung auf die Jugendlichen, die wohlmöglich antisemitische Stereotype übernehmen könnten. Umgekehrt standen die Schulbuchmacher vor der Herausforderung, den Nationalsozialismus auf seinen wesentlichen Gehalt zu beschränken, gleichwohl aber eine fachlich differenzierte Darstellung anzubieten. Außerdem stand die Historisierung des Antisemitismus im Konflikt zum nationalpädagogischen Zweck des zeitgenössischen Geschichtsunterrichts. Dieser Konflikt wurde vor allem an der Frage nach dem historischen Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Nationalgeschichte ausgetragen. Eine hitlerzentrierte Deutung stand einer sozialgeschichtlichen Deutung der Geschichte des Antisemitismus gegenüber. Das Zulassungsverfahren des Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹ war von diesem Konflikt geprägt und glich einem Paradigmenstreit. Dieses Zulassungsverfahren offenbarte zudem die normierende Wirkung der staatlichen Kontrolle. In mehreren Prüfgängen wurde das nationalkritische Deutungsmuster, das Hermann Glaser und Helmut Altrichter, die beiden Autoren des Lehrwerks, ursprünglich vertraten, aus dem Manuskript gestrichen und der Text an die hegemoniale Geschichtskultur angepasst. Im Spannungsfeld von Pädagogik, Fachwissenschaft und Geschichtspolitik stand auch die Frage nach dem Verhältnis von Bevölkerung und NS-Regime. Im folgenden Kapitel werden dieser Umgang und der geschichtskulturelle Wandel eingehend beleuchtet.

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3.4. Verblendet oder überzeugt? Bevölkerung und ›Drittes Reich‹ Welche Rolle hat die mehrheitsdeutsche Bevölkerung im Nationalsozialismus gehabt? Die Antwort auf diese Frage war ein zentrales Konfliktfeld in den Zulassungsverfahren. Über 200 Aussagen in 38 Zulassungsverfahren bezogen sich direkt oder indirekt auf dieses Thema. Um das Verhältnis von mehrheitsdeutscher Bevölkerung und NS-Regime zu fassen, bezogen sich die Akteure der Zulassungsverfahren auf zwei Aspekte: Zum einen nahmen sie verschiedene Herrschaftstechniken (Propaganda und Terror) und zum anderen soziale Formationen (Kirche, Widerstand) in ihre Narration auf. Das Verhältnis von Bevölkerung und NS-Regime wurde vor allem im Spannungsfeld kritischer historischer Aufarbeitung und nationalstaatlicher Pädagogik verhandelt. Insbesondere die Deutung und Repräsentation des Widerstands in den Schulgeschichtsbüchern stand dabei im Kontext des deutsch-deutschen Systemkonflikts. Vor der Analyse der Zulassungsverfahren werden die in den Verfahren zentralen Aspekte in den Schulgeschichtsbüchern untersucht und die hegemonialen Deutungen sowie ihr Wandel erörtert.

3.4.1. Schulbuchanalyse Die Schulgeschichtsbücher nannten verschiedene Herrschaftstechniken des NSRegimes, um das Verhalten der Bevölkerung zu erklären, und sprachen der mehrheitsdeutschen Bevölkerung ein breites Repertoire an Verhaltensweisen im ›Dritten Reich‹ zu, die von geblendet-passiven bis zu widerständig-aktiven Formen gereicht haben. Das 1963 im Kösel Verlag veröffentlichte ›Geschichte für Mittelschulen‹ fasste das Themenspektrum und die hegemoniale historische Deutung zum Verhältnis von Regime und Mehrheitsdeutsche zusammen: »Die Tatsache, daß die Masse des deutschen Volkes die nationalsozialistische Herrschaft willig oder gleichgültig ertrug, ist nicht allein damit zu erklären, daß viele der Regierungspropaganda erlagen und die Verbrechen in den Konzentrationslagern geheim gehalten wurden, sondern vor allem durch den raschen wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands.«1055

Die Vorstellung, dass die mehrheitsdeutsche Bevölkerung von der NS-Propaganda geblendet worden sei, kein Wissen über die Massenverbrechen und die Konzentrationslager gehabte habe und sich wegen des angeblichen Wirtschaftsaufschwungs bald mit dem NS-Regime arrangierte, war bis in die 1960er Jahre die hegemoniale Deutung zur Rolle der Bevölkerung im Nationalsozialismus. Diese 1055 Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 155.

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Aspekte werden im Folgenden ausgeführt und mit einem alternativen Deutungsmuster kontrastiert, der in den späten 1960er Jahren Zulauf erhielt und in der Bevölkerung durchaus ignorante Mitläufer und überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus erkannte. Im Folgenden soll das gedeutete Verhältnis von Regime und Bevölkerung und das zugesprochene Handlungsrepertoire untersucht werden. Nachdem die hegemoniale Deutung und ihr Wandel herausgearbeitet sind, wird auf die Bedeutung des deutschen Widerstands gegen das NSRegime in Geschichtskultur eingegangen. Propaganda Das 1952 veröffentlichte ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ skizzierte im Kapitel »Der nationalsozialistische Staat« drei Herrschaftstechniken, die das Verhältnis von NS-Regime und Mehrheitsdeutschen bestimmt haben: totale Erfassung, Terror und Propaganda. Den ersten Aspekt wertete das Schulgeschichtsbuch als Basis der NS-Herrschaft: »Die Grundlage des Staates war die straff gegliederte Partei, die mit Block- und Zellenwart jede Regung des Volkslebens überwachte.«1056 Zum Terror gegen die mehrheitsdeutsche Bevölkerung äußerte sich das Schulgeschichtsbuch kaum. Zum einen seien nach dem Reichstagsbrand 1933 »alle Gegner des Systems festgesetzt« worden, zum anderen hatten SS, SA und Gestapo »die Herrschaft der Gewalt« gesichert, hielt der Band fest. Zudem sei es dem NS-Regime gelungen, das ›Volk‹ über die »wirklichen Absichten und das wirkliche Geschehen auf allen Lebensgebieten zu täuschen.«1057 Auch der Holocaust sei »unter strengster Geheimhaltung durchgeführt« worden.1058 Zudem bewertete das Buch die Mehrheitsdeutschen als Opfer des »von Hitler heraufbeschworenen Weltkrieg[s].«1059 Diese historische Deutung hatte in den Schulgeschichtsbüchern der 1950er und 1960er Jahre kanonischen Rang, was die Lehrwerke in der häufig genutzten Phrase von der ins Volk eingehämmerten NS-Propaganda verdichteten. Insgesamt zwölf Bände nutzten das die Metapher des ›Hämmerns‹, um die NS-Propaganda zu fassen.1060 Beispielhaft für viele hieß es im 1953 veröffentlichten 1056 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 54. Besonders hervorgehoben wurde die totale Erfassung an anderer Stelle des Lehrwerks, als der Band die »Erziehung der Jugend« im Nationalsozialismus knapp skizzierte, siehe C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 55. 1057 Zitate C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 55. 1058 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 62. 1059 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 67. Ausführlich zur Deutung der Mehrheitsdeutschen als Opfer des Kriegs siehe Kapitel 3.5. 1060 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 55. Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschulenband, 1952, S. 151. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1952, S. 123. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 142. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957,

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Mittelschulband ›Europa und die Welt‹ des Blutenburg Verlags: »Eine raffinierte Propaganda hämmerte dem Volk Tag für Tag die offizielle Meinung als die richtige ein und entwöhnte es so des selbständigen Denkens.«1061 In ›Grundzüge der Geschichte‹ hieß es im gleichen Jahr: »Unaufhörlich hämmerte die Propaganda, unter Führung von Goebbels und mit allen Machtmitteln ausgestattet, auf das Volk ein«.1062 Im Jahr 1971 betitelte der Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ eine Abbildung Hitlers in Rednerpose mit folgenden Worten: »In ständigen Propaganda- und Hetzreden hämmert Adolf Hitler seine ideologischen Phrasen in das Bewußtsein des Volkes.«1063 Im Bild der eingehämmerten Propaganda konnten drei Aspekte hinsichtlich der Deutung der Bevölkerung im ›Dritten Reich‹ verdichtet werden: Erstens signalisierte diese Phrase eine eigentlich ideologische Trennung von NS-Regime und Bevölkerung, da die mehrheitsdeutsche Bevölkerung anscheinend weder die Weltanschauung des Nationalsozialismus geteilt habe noch mit sanften Mitteln für die NS-Weltanschauung zugänglich gewesen sei. Zweitens erlaubte diese Metapher das Verhältnis von Regime und Bevölkerung als Gewaltverhältnis zu chiffrieren. Auf der einen Seite habe das übermächtige Regime gestanden, das häufig in Hitler verkörpert oder auf einen engen Führungszirkel reduziert blieb. Auf der anderen Seite habe die mehrheitsdeutsche Bevölkerung gestanden, die der Gewalt des Regimes auch ohnmächtig ausgesetzt gewesen sei. Mit der Metapher wurde dadurch drittens das NS-Regime als gewaltsames Unrechtsregime hervorgehoben, welches die Bevölkerung zum bloßen Objekt ihrer Propaganda herabgesetzt, getäuscht, belogen und betrogen habe. Die moralische Distanzierung vom NSRegime war aufgrund der gleichzeitigen Trennung von Regime und Bevölkerung an die Exkulpation der Mehrheitsbevölkerung gebunden, die durch die gewaltsame Propaganda erst im Sinne der NS-Weltanschauung korrumpiert worden sei und gleichzeitig über die tatsächlichen Entwicklungen und Verbrechen unwissend geblieben sei. Dementsprechend behaupteten viele Schulgeschichtsbücher, dass die Mehrheitsdeutschen kein Wissen von den nationalsozialistischen Verbrechen haben konnten.

S. 127. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 155. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 69. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 164. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 110. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 84 und 102. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 120. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 80. 1061 Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschule, 1953, S. 151. 1062 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 123. 1063 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 120. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 80.

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Mehr als jedes zweite Schulbuch erwähnte, dass die Mehrheitsdeutschen nichts von den nationalsozialistischen Verbrechen gewusst haben konnten.1064 Laut ›Geschichte für Mittelschulen‹ blieben die meisten der nationalsozialistischen Verbrechen »dem Großteil des deutschen Volkes verborgen, weil weder Presse noch Rundfunk davon berichten durften.« Der Behauptung angeblicher Unwissenheit folgte die Reduktion der Verantwortung auf Hitler: »Aber sie wurden im Auftrag des vom deutschen Volk gewählten Führers begangen und befleckten den deutschen Namen in aller Welt mit Schmach und Schande.«1065 Die Deutung der Bevölkerung im ›Dritten Reich‹ war eng mit der Frage nach (moralischer) Schuld und Verantwortung verknüpft. ›Geschichte für Mittelschulen‹ sprach der Bevölkerung trotz negierter Unwissenheit durchaus Verantwortung zu, da sie Hitler gewählt haben. Dagegen deutete ›Grundriss der Geschichte‹ von 1958 die Unwissenheit als Beleg einer moralisch integren Bevölkerung: »Dem deutschen Volke gegenüber wurden alle Vernichtungsaktionen sorgfältig geheim gehalten; die Regierung wußte genau, daß die meisten sie nicht gebilligt hätten.«1066 Diese Argumentation teilte auch das 1964 herausgegebene ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹. Der Darstellungstext sah im Unwissen und der Ohnmacht der Bevölkerung zwei Gründe für das Ausbleiben eines breiten gesellschaftlichen Widerstands gegen das NS-Regime.1067 Wirtschaft Manche Schulgeschichtsbücher begründeten die blendende Wirkung der Propaganda mit der wirtschaftspolitischen Naivität der mehrheitsdeutschen Bevölkerung, so beispielsweise im 1966 veröffentlichen ›Wir erleben die Geschichte‹:

1064 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 62. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 160. Westermann, Wege in die Welt, 1955, S. 212-213. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 144. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 144. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 187. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 163. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 77. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 130. BSV, Unsere Geschichte Unsere Welt, 1964, S. 200. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 204. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1966, S. 127 und 129. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 118. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 134. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 91. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 114. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 61. 1065 Zitate Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 160. 1066 Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 187. 1067 Vgl. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 200. Neuere Forschung bezweifelt diese Unwissenheit vgl. Longerich (2007a), S. 240.

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»Als Hitler die uneingeschränkte Macht erreicht hatte, sollte die Vernichtung der Juden ihren Anfang nehmen. Viele Deutsche glaubten den Naziführern und ließen sich gegen die Juden aufputschen.«1068

Eine wesentliche Bedingung dieser blendenden Wirkung waren die scheinbaren wirtschaftspolitischen und außenpolitischen Erfolge des NS-Regimes. Nachdem der 1959 veröffentlichte Band ›Geschichte für die Jugend‹ die »Ausschaltung der Gegner« in den ersten Jahren der NS-Herrschaft skizzierte, hielt der Band fest, dass das »Volk glaubte, daß Hitler alles in bester Absicht täte. Hatte er nicht im Verlauf eines Jahres für 2 Millionen Erwerbslose Arbeit und Brot geschaffen? Er ließ Autobahnen, Straßen, Brücken und Deiche bauen. Und dem Ausland zeigte er, daß Deutschland sich nicht alles gefallen ließ!«1069

Der Band erklärte anschließend, dass die Wirtschafts- und Außenpolitik der Kriegsvorbereitung gedient habe, was die Bevölkerung jedoch in ihrer Freude über die wirtschaftliche Absicherung und wegen ihres Vertrauens in Hitler nicht erkannt habe.1070 »In Wirklichkeit gefährdeten die übersteigerten Rüstungsausgaben schon vor dem Kriege Währung und Außenhandel« hielt ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ des Lurz Verlags einer zuvor zitierten Propagandaaussage Hitlers entgegen. In diesem Zitat behauptete Hitler die Sicherheit der deutschen Währung. Der Darstellungstext begründete das Vertrauen der Bevölkerung mit den sozialen Leistungen des Regimes und dessen Propaganda.1071 ›Reise in die Vergangenheit‹ betitelte 1965 das Kapitel zur NS-Wirtschaftspolitik mit »Kanonen statt Butter«, wodurch sowohl der mittelfristige kriegerische Zweck wie auch die kurzfristigen negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung prominent platziert wurden.1072 ›Die Vergangenheit lebt‹ schilderte ebenfalls auf mehreren Seiten, dass die Wirtschaftspolitik nur vordergründig der Arbeitsbeschaffung und eigentlich der militärischen Aufrüstung gedient habe.1073 Darin eingebettet behauptete es zum wirtschaftspolitischen Verständnis der Bevölkerung: »Die Massen des Volkes aber verstanden nichts von einem Staatshaushalt. Für sie hatte der Führer die Arbeitslosigkeit beseitigt; die Politiker der Weimarer Republik waren Versager gewesen. Nun gab es ›Arbeit und Brot‹. Das Reich war nicht mehr wehrlos. Herrliche Autobahnen wurden gebaut. Das alles verdankte man dem ›Führer‹.«1074

1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074

BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 195. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 69. Vgl. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 69. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 144–145. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 215–217. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 109–111. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 110.

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Die Sozialpolitik für die NS-Volksgemeinschaft und die Propaganda des NSRegimes galten vielen Schulgeschichtsbüchern bis in die 1970er Jahre als wichtige Faktoren, um das Vertrauen der Bevölkerung in das ›Dritte Reich‹ und das Desinteresse gegenüber dem Abbau des Rechtsstaats, dem grassierenden Antisemitismus und den Kriegsvorbereitungen zu erklären. Terror Neben der Propaganda führten die Schulgeschichtsbücher den Terror gegen Teile der Bevölkerung als weiteres Machtinstrument an. Der Terror habe das Verhältnis von Bevölkerung und Regime sowie die Rolle der Bevölkerung im Nationalsozialismus bestimmt und habe sich in offener Gewalt oder starkem institutionellen Druck gegenüber dem ›Volk‹ gezeigt.1075 So erklärte ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ von 1956 den sprunghaften Anstieg der Mitgliederzahl der NSDAP nach 1933 damit, dass »viele nur unter Druck oder aus Sorge um Stellung und Familie« beitraten.1076 In ›Geschichte unseres Volkes‹ wurde der ausbleibende öffentliche Protest infolge der als ›Röhm-Revolte‹ bezeichneten Ausschaltung der SA damit erklärt, dass die Bevölkerung zu große Angst vor dem Regime gehabt hat.1077 Terror und Propaganda galten im Oberstufenband von ›Geschichtliches Werden‹ als gleichermaßen eingesetzte Machtinstrumente des Regimes gegen seine Bevölkerung, um nach der Niederlage in Stalingrad 1943 »das Letzte aus der Bevölkerung Deutschlands und der besetzten Gebiete herauszuholen.«1078 Das im Diesterweg 1957 veröffentlichte ›Grundzüge der Geschichte‹ begründete die Unwissenheit der Bevölkerung über den Holocaust mit dem Terror des NS-Regimes, denn jeder, der Wissen und Gerüchte über den 1075 Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 143. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 144. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 162. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 72. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 92. 1962BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 164 und 199–200. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 151. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 102. 1076 Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 143. 1077 Der Darstellungstext sah in der Ausschaltung der SA das Ende des Rechtsstaats. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 92. Die gewaltsame Ausschaltung der SA wurde vom ehemaligen Vorsitzenden des IfZ, Hermann Mau, in einer nach seinem Tod veröffentlichten Arbeit als Zäsur des Nationalsozialismus gesehen, da die durch die Machtübernahme ausgelöste Dynamik einer von der SA propagierten zweiten Revolution verhindert worden sei, wodurch der kürzlich installierte Staatsapparat sich stabilisierte. Die fixierte Ordnung sei zudem mit einer Aufwertung der Wehrmacht und vor allem der SS zu einer mächtigen Organisation einhergegangen, was die weitere Geschichte des Regimes entscheidend prägte. Somit wurde durch die Ausschaltung der SA der Mord zum legalen Mittel der Politik ernannt, wovon sich das Regime nicht mehr löste. Vgl. Mau (1953), S. 136– 137. 1078 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 151.

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Massenmord verbreitet habe, sei in großer Gefahr gewesen, weshalb »das Wissen darüber meist zufällig, zusammenhanglos, oft auch unglaubwürdig geblieben« sei.1079 Angesichts des NS-Terrors attestierten einige Schulgeschichtsbücher der Bevölkerung durchaus eine resistente Haltung gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen.1080 So behauptete ›Geschichte für Mittelschulen‹ im Kontext der Ausschaltung der SA im Juni 1934, »daß die anfängliche Begeisterung allmählich einer Ernüchterung, ja einer inneren Ablehnung Platz« gemacht habe.1081 Auch ›Wir erleben die Geschichte‹ von 1966 behauptete, dass die »brutale Mißhandlung der politischen Gegner«, die »Bildung der ersten Konzentrationslager (KZ), die »verschärfte Hetze gegen die Juden« sowie die Gleichschaltung von Parteien und Gewerkschaften »gleich zu Beginn der Diktatur den Widerstand« geweckt haben.1082 Das Novemberpogrom diente den Autoren des Mittelstufenbands ›Europa und die Welt‹ als Beispiel für die Resistenz des Volks gegenüber den Verbrechen des Regimes: »In einem von oben angeordneten Judenpogrom (1938 ›Reichskristallwoche‹) fielen die braunen Horden zum Abscheu aller anständigen Deutschen über die Juden her«.1083 Der Band transportierte die von der NS-Propaganda geschürte Furcht vor einer angeblich jüdischen Rache an den Mehrheitsdeutschen:1084 »Das trug dem Nationalsozialismus, aber

1079 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 144. 1080 Resistenz ist allerdings kein Quellenbegriff. Den Begriff der Resistenz brachte eine Forschungsgruppe um Martin Broszat in den 1970er Jahren in den fachwissenschaftlichen Diskurs ein, vgl. Steinbach (2001), S. 60–61. In der vorliegenden Studie wird er zur Abgrenzung von Widerstand genutzt, was implizit auch in Schulgeschichtsbüchern unterschieden wurde. Dabei stellte Resistenz die Grundlage von Widerstand dar, wenn darunter die innerliche Distanzierung vom Nationalsozialismus verstanden wird sowie die Bewahrung tradierter Wertvorstellungen, die Vorbehalte gegenüber dem NS-Regime beinhalten. »Widerstand bezeichnet ein breites Verhaltensspektrum, dessen Voraussetzungen in Vorbehalten gegenüber dem Regime (Resistenz), in der inneren Kraft zur bewußten Distanzierung von den politischen Konventionen der Zeit und in der Befähigung zur Bewahrung traditional vermittelter Wertvorstellungen liegen.« Steinbach und Tuchel (1998b), S. 229. Eine vergleichbare Unterscheidung nimmt auch Wolfgang Benz vor. Grundlage des Widerstands ist »das Festhalten an Normen und Werten, die Verweigerung von Anpassung und Kompromiss, wie es des Vorteils, des Friedens, des Fortkommens wegen von der Mehrheit praktiziert wurde.« Davon unterscheidet sich Widerstand »durch das Bekenntnis und die Bereitschaft, Konsequenzen der Haltung und Handlung zu tragen.« Benz (2014), S. 8. 1081 Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 159. 1082 BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 198. 1083 Blutenburg, Europa und die Welt. Mittestufe, 1953, S. 151. 1084 Obwohl sich die »antisemitische ›Kraft-durch-Furcht‹ Propaganda für das Regime nicht ausgezahlt hatte, finden sich in der Propaganda immer wieder Hinweise auf die im Falle einer deutschen Niederlage drohende ›jüdische Vergeltung‹. vgl. Longerich (2007a), S. 269 und 294.

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auch dem deutschen Volk den tödlichen Haß des Judentums und aller freiheitlich gesinnten Kreise in der Welt ein.«1085 Gesteigert wurde die Idee vermeintlicher Rache am deutschen Volk in dem nach öffentlicher Kritik 1963 neu bearbeiteten ›Geschichte unseres Volkes‹ aus dem Oldenbourg Verlag. Das Kapitel zur Judenverfolgung schloss mit folgendem Arbeitsauftrag: »›Alle Deutschen sind Mörder! Man muß ihnen ein Galgenzeichen an die Jacke stecken!‹ – was würdest du sagen, wenn ein Amerikaner derartiges verlangte? Im Dritten Reich hieß es: ›Die Juden sind unser Untergang, die Juden sind minderwertig, verschlagen und sie wollen nur unser Geld …‹ – Man heftete ihnen den Judenstern an die Brust und behandelte sie wie Aussätzige. a. Was steckt hinter solchen Äußerungen und Maßnahmen? (Vorurteil, Verallgemeinerung, Haß, persönliche Abneigung, Dummheit, Voreiligkeit, Überheblichkeit?) b. Was folgt aus einer solchen Einstellung gegenüber anderen Menschen? (Haß, Vernichtung, Verachtung, Vergeltung, Leid, Ungerechtigkeit …?)«1086

Möglicherweise sollte der Arbeitsauftrag zur Perspektivübernahme und Fremdverstehen anleiten, indem ein erfundenes Beispiel dazu dienen sollte, ein Werturteil über den Judenhass im Allgemeinen und die Anweisung an Jüdinnen und Juden zum Tragen des sog. Judensterns im Besonderen anzuleiten. Allerdings wurde der Arbeitsauftrag nicht aufgelöst. Der Arbeitsauftrag forderte stattdessen die Schülerinnen und Schüler dazu auf, zur Kollektivschuldthese Stellung zu beziehen. Weder gab der Band eine Quelle dieser angeblich geäußerten Kollektivschuldthese an noch gab er im Darstellungstext des Kapitels einen Hinweis auf unterschiedliche bzw. opponierende Haltungen innerhalb der mehrheitsdeutschen Bevölkerung. Zusätzlich verdrehte die Analogie von Judenstern und Galgenzeichen die Rollen von historischen Opfern und Tätern.1087 Im Band ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ wurde auch das Engagement im ›Dritten Reich‹ als mögliche Form der Resistenz verstanden. Auf Höhe der Marginalie ›Haltung des Volkes‹ erklärte der Band, dass zwar ein großer Teil der Bevölkerung das ›Dritte Reich‹ abgelehnt habe, aber nicht in offener Gegnerschaft zum Regime getreten sei, um wenigstens »etwas erreichen zu können«. Mit einem »radikalen Bruch« hätten sich die vielen Regimegegner »jede weitere Wirkungsmöglichkeit genommen«, erklärte der Band. Deshalb bekannten sich äußerlich »alle zu der neuen Staatsordnung« und äußerten keine öffentliche 1085 Blutenburg, Europa und die Welt. Mittestufe, 1953, S. 151. Vor der angeblichen jüdischen Rache warnte die NS-Propaganda vor allem seit der Kriegswende 1943, vgl. Longerich (2007a), S. 269 und 294. 1086 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 101. 1087 Die Schuldumkehr diente der Erinnerungsverweigerung und ist ein wichtiger Aspekt des sekundären Antisemitismus, vgl. Bergmann (2010).

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Kritik, sondern haben das »›Horst-Wessel-Lied‹ als Nationalhymne nach dem Deutschlandlied« mitgesungen und ein »dreifaches ›Sieg-Heil‹ auf den ›Führer‹« ausgerufen.1088 Ignorant und überzeugt In manchen Fällen wurden die Mehrheitsdeutschen als ignorant oder sogar als überzeugte Nationalsozialisten bewertet. So veröffentlichte der C.C. Buchners Verlag 1961 den Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹, in dem die Haltung der Bevölkerung gegenüber dem antisemitischen Terror des Nationalsozialismus folgendermaßen verstanden wurde: »Ein Großteil des Volkes wußte nicht, was vor sich ging; viele Deutsche aber verzichteten unbekümmert um das, was geschah, auf die menschliche und politische Freiheit, welche Verantwortung, Gefahren und Opfer gefordert hätte; sie schwiegen und verschlossen die Augen gegen alles nationalsozialistische Unrecht.«1089

Der im gleichen Verlag, einige Jahre später veröffentlichte Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ führte das mangelnde Wissen der Bevölkerung nicht auf Propaganda und Terror, sondern auf die Ignoranz der mehrheitsdeutschen Bevölkerung gegenüber den Opfern des NS-Terrors zurück. Nachdem der Band die Begriffe Konzentrationslager, Gestapo, SS und SD – also den zentralen Ort und die Organe des NS-Terrors – erläuterte, hielt er fest: »Doch die rechtlichen Übergriffe des Regimes drangen nur wenigen Menschen ins Bewußtsein – im Mittelpunkt des Volksinteresses stand die Besserung der wirtschaftlichen Lage.«1090 Für die Autoren des 1962 im BSV veröffentlichten Bands ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ »darf nicht verschwiegen werden, daß viele Deutsche nur allzu bereitwillig den Parolen Hitlers folgten und in ihrem Kreise mit Eifer und Hingabe an der Umerziehung ihrer Mitbürger im Sinne des nationalsozialistischen Gedankengutes arbeiteten. Nicht immer taten sie es nur aus innerer Überzeugung, vielmehr, um beruflich oder geschäftlich vorwärtszukommen, niedere Triebe zu befriedigen oder auch nur aus einem gewissen Geltungsbedürfnis heraus.«1091

Damit bot der Darstellungstext ein Bündel unterschiedlicher Intentionen und Motive an, um zu erklären, weshalb die Mehrheit der Bevölkerung das NS-Regime getragen hat. Diese Erklärung band der Text in den geschichtskulturellen Auftrag zur historischen Erinnerung an die Massenverbrechen ein. 1088 Zitate BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 154. 1089 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 164. Ähnlich auch Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 81. 1090 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 118. 1091 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 72–73.

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Im 1972 veröffentlichten ›Spiegel der Zeiten‹ begründeten die Autoren den geringen Widerstand gegen das NS-Regime mit den wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen des Regimes. Wegen dieser Politik habe ein »großer Teil der Bevölkerung […] Frieden mit der NS-Diktatur geschlossen«, was einen breiten Widerstand konterkariert habe.1092 Unterstützend war im Band ein Foto der Zuschauer bei der sog. Sportpalast-Rede Goebbels abgedruckt. In dieser Rede hatte Goebbels vor ausgewähltem Publikum zum »Totalen Krieg« aufgerufen, doch nicht die Rede und ihre Inszenierung thematisierte der Band, sondern die Begeisterung der Zuhörer.1093 Der gleiche Band stellte auch Unwissenheit der Bevölkerung infrage: Das Regime habe kaum verhindern können, »daß große Teile des deutschen Volkes von den Massenmorden erfuhren.«1094 In die gleiche Richtung argumentierte ›Wir erleben die Geschichte‹ von 1974. Das Lehrwerk behauptete, dass die mehrheitsdeutsche Bevölkerung bereits in den ersten Monaten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten das Ende der bürgerlichen Freiheiten und den NS-Terror habe erkennen können.1095 In ›Fragen an die Geschichte‹ wurde die Urteilsfindung zwar an die Nutzerinnen und Nutzer des Schulgeschichtsbuchs ausgelagert, die anhand des Quellenmaterials eigene Urteile fällen sollten. Die Kontextualisierung dieser Quellen leitete aber die Urteilsfindung. So fasste der Band drei Quellenexzerpte zu Äußerungen Hitlers unter der Frage »Was konnte man 1933 wissen?« zusammen, darunter auch eine Textstelle aus »Mein Kampf«, in der Hitler die gewaltsame »Lebensraumpolitik« propagierte.1096 Komplettiert wurde diese Anlage durch eine Methodenseite zu kontroversen Deutungen in der Geschichtswissenschaft. Unter dem Kapitel »Wer ist an allem schuld?« zitierte der Band unterschiedliche Deutungen von Historikern und Politikwissenschaftlern. Diese kontrastive Quellensammlung spiegelte auch die in den 1970er Jahren hitzig geführte Debatte um die Einordnung des Nationalsozialismus in die Gattungsbegriffe ›Totalitarismus‹ oder ›Faschismus‹ wieder:1097 Der zitierten Behauptung Golo Manns, dass die Alliierten ein Deutschland vorgefunden haben, in dem es trotzt der nationalsozialistischen Herrschaft »eigentlich überhaupt keine Nationalsozialisten« gegeben habe,1098 1092 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 115. 1093 So die Titulierung des Bildes. Die ›Massen‹ schrien laut Untertitel auf die Frage, ob sie den totalen Krieg wollen, hysterisch ja. Daneben war ein Foto von Überlebenden eines Luftangriffs auf Mannheim, das den Schock und die Zerstörung festhielt. Die Bildanordnung legt die Deutung nahe, dass die für den totalen Krieg begeisterten Deutschen Verantwortung für die Folgen des totalen Kriegs tragen. Vgl. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 145. Siehe dazu auch Kapitel 3.5. 1094 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 138. 1095 Vgl. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 95. 1096 Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 62–63. 1097 Zu dieser Kontroverse siehe Kershaw (1995), S. 43–87. 1098 Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 75.

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standen unter anderem die Positionen des Zeithistorikers Karl Bracher, des marxistischen Politikwissenschaftlers Reinhard Kühnl, des Psychoanalytikers Wilhelm Reich sowie des Politikwissenschaftlers Ralf Dahrendorf gegenüber. Während Bracher das Kleinbürgertum als Träger der nationalsozialistischen Weltanschauung deutete, sah Reich im Kleinbürgertum und in den faschisierten Proletariern die Basis des Nationalsozialismus, wohingegen Kühnl in den bürgerlichen Eliten aus Wirtschaft, Militär und Beamtenschaft die wesentliche Stütze der nationalsozialistischen Herrschaft ausmachte. Dahrendorf schließlich erkannte in den konservativen Kräften gegen die parlamentarische Demokratie den Boden für den Aufstieg des Nationalsozialismus.1099 Die angeführten Bände zeigten im Vergleich zu den Lehrwerken der 1950er Jahre und vielen Bänden der 1960er Jahre einen tendenziell differenzierenden Blick auf die Bevölkerung im Nationalsozialismus. Sie verstanden ›Volk‹ nicht länger als einen homogenen, mit einheitlichem Willen ausgestatteten Verband, sondern als heterogene Gruppe, deren Mitglieder durch unterschiedliche Interessen, Haltungen und Handlungen voneinander abgrenzbar waren und Milieus, Klassen oder Schichten zugeordnet werden konnten. Die herkömmliche Trennung von ›Volk‹ und Regime wurde dadurch gelockert und die Bevölkerung eher für die Verbrechen des Nationalsozialismus in die Verantwortung genommen. Dieser Deutungswandel verlief analog zur Inkorporation sozialwissenschaftlichen Wissens in die Geschichtswissenschaft, was darauf schließen lässt, dass der Deutungswandel auch in der Abkehr vom Historismus und der Hinwendung zur Sozialgeschichte als geschichtstheoretischen Fixpunkt der Historiographie bergründet war.1100 Widerständig: Repräsentation und Legitimation Die behauptete Resistenz der Mehrheitsdeutschen gegen den Nationalsozialismus setzten Schulgeschichtsbücher immer wieder in den Kontext von Organisationen, die im Unterschied zur breiten Bevölkerung die notwendigen Machtmittel und Netzwerke und das Wissen besessen haben, um Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten. Die Lehrwerke zählten Widerstandsformen auf, die sich in das antitotalitäre Selbstverständnis der Bundesrepublik einhegen ließen, weshalb insbesondere der nationalkonservative und religiös motivierte Widerstand in Schulgeschichtsbüchern rezipiert wurde.1101 In jüngeren Schulgeschichtsbüchern 1099 Vgl. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 75–76. 1100 Zum Eingang soziologischer Theorie in der Geschichtswissenschaft, zur Erklärung des Nationalsozialismus siehe Cornelißen (2004), S. 148–149. 1101 Alle untersuchten Lehrwerke gingen auf das gescheiterte Attentat vom 20. Juli 1944 ein. Siebzehn Lehrwerke stellten Carl Goerdeler vor. Elf Lehrwerke nannten den Kreisauer Kreis. Immerhin zehn Lehrwerke nannten Helmuth Graf von Moltke.

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wurden die zentralen Personen des deutschen, bürgerlichen und nationalkonservativen Widerstands auch in Fotos extra hervorgehoben. So druckte der 1963 veröffentlichte Volksschulband ›Die Vergangenheit lebt‹ im Kapitel zum Widerstand auch die Porträtaufnahmen von Angehörigen der Weißen Rose, des religiösen und des militärischen Widerstands ab.1102 Der nationalkonservative Widerstand bildete sich vor allem um den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler (bis 1933 DNVP) sowie dem sog. Kreisauer Kreis um Helmuth Graf von Moltke. Er hat sich vor allem aus Funktionseliten ziviler und militärischer Einrichtungen zusammengesetzt. Aus diesem Kreis sind die Verschwörer um den Umsturzplan vom 20. Juli 1944 rekrutiert worden. Einige der zentralen Personen um Goerdeler sind jedoch keine Demokraten, sondern autoritär gesinnte Monarchisten gewesen, weshalb sie zunächst durchaus bereit gewesen sind, mit der NSDAP und Hitler zusammenzuarbeiten. Der Goerdeler-Kreis hat eine staatliche Ordnung für Deutschland nach dem Sturz des NS-Regimes skizziert, in dem ein auf das Budgetrecht limitiertes Parlament einer starken Exekutive bei einer möglichen monarchistischen Staatsspitze gegenüberstand.1103 Zwar sind auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter in diesen Kreisen organisiert gewesen, das Profil, die politischen Ziele und Konzepte rechtfertigen es laut Hans Mommsen dennoch, »sie unter den Begriff ›nationalkonservativ‹ zu subsumieren.«1104 Während der nationalkonservative Widerstand einen kanonischen Rang in den Lehrwerken einnahm, schlossen die untersuchten Schulgeschichtsbücher den sozialistischen Widerstand lange Zeit aus. Im starken Kontrast zum nationalkonservativen Widerstand ist der mittlerweile durchaus bekannte Einzeltäter Georg Elser gewesen.1105 Nur drei Schulgeschichtsbücher gingen auf ihn ein. In ›Grundzüge der Geschichte‹ von 19531106 und der untersuchten Neuauflage von 19571107 wurde allerdings weder sein Name genannt noch galten die Hintergründe der Tat als bekannt. Dies lag auch am zeitgenössischen Wissen über den Widerstandskämpfer: Georg Elser wurde in der Nachkriegszeit von Vertretern der ›Bekennenden Kirche‹ sowie von ehemaligen KZ-Aufsehern als SS-Unterscharführer denunziert. Zudem hielt sich das Gerücht, Georg Elser sei bereits vor seinem Attentatsversuch im KZ Dachau inhaftiert gewesen und dort angeworben worden. Es schien den Zeitgenossen unwahrscheinlich, dass ein Attentat auf Hitler von einem Einzeltäter und nicht von organisierten Widerstandsgruppen verübt werden konnte. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Elser als 1102 1103 1104 1105 1106 1107

Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 132–133. Vgl. Weiß (1994). Vgl. Mommsen (1994), S. 55. Vgl. Steinbach und Tuchel (1998a). Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 140. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 145.

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Widerstandskämpfer blieb bis zu Quellenfunden in den 1960er Jahren aus.1108 Die gestartete Aufarbeitung führte jedoch nicht zu einer erhöhten Repräsentation des Attentats in den Schulgeschichtsbüchern. Lediglich ›Fragen an die Geschichte‹ ging 1979 auf seinen Attentatsversuch ein, ohne dessen Motive oder sein weiteres Schicksal zu skizzieren.1109 Dass Georg Elsers Attentatsversuch selten in den untersuchten Schulgeschichtsbüchern genannt wurde, lag auch daran, dass sie als Tat eines Einzelnen der in Schulgeschichtsbüchern des Öfteren behaupteten Notwendigkeit des organisierten Widerstands zuwiderlief. So argumentierte ›Grundzüge der Geschichte‹ von 1953 beispielsweise, dass nur eine Untergrundbewegung, »mit der Hilfe hoher Militärs und dem Einsatz ihrer Machtmittel« mit Erfolg habe rechnen können, da der Terror des totalitären Systems »erbarmungslos gegen alle Gegner« gewütet habe,1110 bevor das Attentat Georg Elsers, als Tat mit unbekanntem Hintergrund genannt wurde. Zudem ist Georg Elser der KPD nahe gewesen, wodurch die historische Erinnerung an seine Tat wohlmöglich unter die Räder des Systemkonflikts zwischen Bundesrepublik und DDR geriet. Während in der Bundesrepublik die nationalkonservativen Eliten erinnert wurden, wurde in der DDR der Widerstand der organisierten Arbeiterbewegung hervorgehoben.1111 Als Einzeltäter stand Georg Elser abseits beider offizieller Geschichtskulturen. Insoweit bayerische Schulgeschichtsbücher der 1960er Jahre überhaupt kommunistischen Widerstand in ihre Darstellungen aufnahmen – in den 1950er Jahren war dies nicht der Fall –, standen sie ihm kritisch gegenüber. Dies zeigt sich im ersten der untersuchten Lehrwerke, das überhaupt auf den kommunistischen Widerstand einging, dem in Bayern nicht zugelassenen Schulbuch ›Zeitgeschichte und wir‹ von 1962. »Die Einsatzbereitschaft der Kommunisten müssen wir anerkennen. Andererseits aber sollen wir uns doch darüber klar sein, daß sie das Terrorregime Hitlers durch das des Bolschewismus ersetzen wollten. Auch in ihrem totalitären Staat gelten ja das Leben des einzelnen sowie Freiheit und Menschenwürde nichts.«1112

Diese Deutung setzte den Bildungsauftrag der Schulen zur Behandlung des Totalitarismus im Unterricht um und spiegelte den antitotalitären Konsens der Bundesrepublik wider.1113 Der Vergleich vom 1966 veröffentlichten ›Wir erleben die Geschichte‹ mit dessen Neubearbeitung von 1974 zeigt den geschichtskul-

1108 1109 1110 1111 1112 1113

Vgl. Hoch (1969). Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 74. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 140. Vgl. Steinbach (1994), S. 597. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 110–111. Im gleichen Jahr wurden die »Richtlinien zur Behandlung des Totalitarismus im Unterricht« erlassen, siehe KMBL 1962, S. 279–285. Siehe dazu Kapitel 2.1.

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turellen Wandel in der Bewertung des kommunistischen Widerstands auf: Die kritische Passage von 1966 – »Jedoch nicht die Freiheit Deutschlands war das letzte Ziel der KPD, sondern die Ausbreitung der kommunistischen Lehre«1114 – entfiel im Band von 1974. Dort hieß es eher neutral: »Ziel des kommunistischen Widerstandes war neben der Überwindung des Nazi-Regimes die Durchsetzung des Sowjet-(Räte-)systems in Deutschland.«1115 Dieser Wandel hing möglicherweise mit der veränderten politischen Großwetterlage infolge der ›Neuen Ostpolitik‹ Brandts zusammen,1116 kann aber ebenso durch ein neues didaktisches Paradigma der konstruktivistischen Lerntheorie erklärt werden, wonach Urteile durch die Schülerinnen und Schüler gefällt werden sollten und das Lernmaterial lediglich relevantes Wissen zur Verfügung stellte. Die Klarheit des historischen Urteils musste in diesem Kontext zwar zurückgefahren werden, allerdings beeinflusste die konstruktivistische Lerntheorie nicht zwingend Auswahl bzw. Zungenschlag der Inhalte. Die Schulgeschichtsbücher nahmen auch die Kirchen in die Reihe der legitimen widerständigen Gruppen auf. In den historischen Narrationen wurden die Kirchen als widerständige Institutionen bezeichnet, da das Christentum diametral zu NS-Weltanschauung gestanden habe.1117 In den Schulgeschichtsbüchern der 1950er Jahre wurde die Verfolgung der Kirchen stellenweise eng mit der Verfolgung der Jüdinnen und Juden verknüpft.1118 So waren laut ›Grundriss der Geschichte‹ neben den Judentum auch die Kirchen »Ziel systematischer Verfolgung […], weil das Christentum als Fortsetzung des Judentums galt.«1119 Zudem gehörte die Personalisierung des Widerstands zum Kanon der Schulgeschichtsbücher. Die Lehrwerke personalisierten den christlichen Widerstand beispielsweise in Dietrich Bonhoeffer1120 und August Kardinal Graf von Galen,1121 die beide in vielen Bänden namentlich genannt und zum Teil auch zitiert wurden. 1114 BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 198. 1115 BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 118. 1116 Zum Verhältnis von Neuer Ostpolitik und Geschichtspolitik siehe Wolfrum (2002), S. 87– 93. 1117 Vgl. zum Widerspruch von Christentum und NS-Regime: Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 142. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1962, S, 163–164. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 155. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 192. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1966, S. 123. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 130. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 116. 1118 Siehe z. B. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1953, S. 97. Westermann, Wege in die Welt, 1955, S. 212. 1119 Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 159. In ›Grundzüge der Geschichte‹ war die Ablehnung des Christentums »vor allem wegen seines geschichtlichen Zusammenhangs mit dem Judentum« begründet. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 175. 1120 Vgl. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 188. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 48–49 und 59. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 105. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 113 und 116. BSV, Unsere Geschichte,

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Nur selten behaupteten die Lehrwerke, dass die Kirchen zum Pakt mit dem Nationalsozialismus bereit gewesen seien und den Widerstand gegen das NSRegime nicht unterstützt haben. ›Unsere Geschichte Unsere Welt‹ hielt fest, dass es in den ersten Jahren des ›Dritten Reichs so schien, »als würde sich der neue Staat auch die Kirchen dienstbar machen.«1122 1972 konnte man in ›Spiegel der Zeiten ‹ lesen, dass die Kirchen »anfangs mit dem Nationalsozialismus paktiert hatten« und nur zögernd bereit gewesen seien, dem militärischen Widerstand, »einen gewissen Rückhalt zu bieten.«1123 Nicht zu den Kirchen als gesellschaftlichen Institutionen, sondern gegenüber den Gläubigen äußerte sich auch ›Wir erleben die Geschichte‹ kritisch, wenn es behauptete, dass sich viele Christen »durch die Lügen Hitlers und Goebbels‹ täuschen« ließen.1124 Im Gegensatz zum kommunistischen Widerstand wurde dem nationalkonservativen Widerstand – insbesondere der Widerstandsbewegung um den 20. Juli – bald breiter Raum in Schulgeschichtsbüchern geboten und zudem durchgängig als legitimer Widerstand vorgestellt. So hieß es in ›Geschichte unseres Volkes‹ von 1955 beispielsweise, dass eine »Gruppe von Offizieren und Politikern nun Hitlers gewaltsamen Tod [plante], da auf andere Weise eine Wendung nicht mehr möglich war. Das deutsche Volk sollte vor gänzlicher Vernichtung bewahrt und ein erträglicher Friede geschlossen werden. Recht und Glaube sollten wieder zur Geltung kommen.«1125

Das moralisch motivierte Attentat habe dabei nicht nur im Gegensatz zum NSUnrechtsstaat sowie zum kommunistischen Widerstand gestanden. Der Oberstufenband ›Europa und die Welt‹ bezeichnete die Personen des Widerstands als

1121

1122 1123 1124 1125

Unsere Welt, 1964, S. 199. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 194 und 201. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 132–133. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 126. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 136. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 149. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 119. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 74. Vgl. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 144. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 176. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 187. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 79. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 114–115. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 154–155. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 199. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 199–200. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 130–131. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 116 und 136. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 113–114 und 119. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 73. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 154. Vgl. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 116. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 149. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1965, S. 192. Siehe auch BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 193. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 107. Vgl. BSV, Geschichte der neusten Zeit für Mitteschule und Realschule, 1962, S. 104.

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»tapfere Patrioten«, die »›ein heroisches Kapitel innerdeutscher Geschichte schrieben – mit ihrem Blut.«1126 Im neubearbeiteten Band von ›Geschichte unseres Volkes‹ von 1963 forderte ein Arbeitsauftrag eine Antwort auf die Frage: »Wer liebte sein Vaterland mehr, die Geschwister Scholl, die Verschwörer vom 20. Juli oder Hitler?«1127 Das 1971 veröffentlichte ›Geschichte für Realschulen‹ sah den Widerstand dadurch motiviert, dass sie den Krieg beenden wollten, da er »nur noch sinnlose Opfer forderte«.1128 Die Schulbücher legitimierten den Attentatsversuch des 20. Juli durch ein nationales Argumentationsmuster. Indirekt begegneten sie damit dem Vorwurf des Landes- und des Hochverrats, der vor allem in der postnazistischen Bundesrepublik gegen die Verschwörer erhoben wurde.1129 Die Deutungsangebote der Schulgeschichtsbücher waren in den Lehrwerken hegemonial, standen im Konflikt zur Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung. So findet Peter Steinbach, dass es ein Großteil der Deutschen bis weit in die 1960er Jahre ablehnte, »den Umsturzversuch des 20. Juli 1944 als eine Rettungsaktion zugunsten der deutschen Nation und als Manifestation politischen Anstands anzuerkennen«.1130 Der Rekurs auf den nationalkonservativen Widerstand hatte vermutlich auch eine nationalpädagogische Funktion, da in diesem Widerstand das ›andere Deutschland‹ behauptet werden konnte, in dessen Tradition die Bundesrepublik stand. Diese Tradition artikulierten die Schulgeschichtsbücher, indem sie den nationalkonservativen Widerstand als Querschnitt der Bevölkerung auf Ebene der Elite vorstellen. Laut ›Grundriss der Geschichte‹ fanden sich im bürgerlichen Widerstand »namhafte Persönlichkeiten aller Bekenntnisse, Stände und ehemaligen Parteien« zusammen.1131 ›Reise in die Vergangenheit‹ wollte im nationalkonservativen Widerstand »die besten Männer und Frauen aller Stände und politischen Richtungen« erkennen.1132 Laut ›Geschichte für die Jugend‹ kamen die »Männer und Frauen der deutschen Widerstandsbewegung […] aus verschiedenen Lagern« der Gesellschaft zusammen: »Es waren Offiziere und hohe Beamte, ehemalige Gewerkschaftsführer und Männer der Kirchen.«1133 Diese

1126 Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 171. 1127 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 124. 1128 Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 137. Ähnlich subtil argumentierte List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 112. Der nationalkonservative Widerstand entschloss sich zum Attentat gegen Hitler, da die Niederlage unvermeidlich war, »Hitler aber ließ das deutsche Volk weiter verbluten, um sein Leben zu verlängern.« 1129 Dieser Vorwurf wurde in der postnazistischen Bundesrepublik immer wieder erhoben und durch ein Urteil 1952, im sog. Remer-Prozess, ausgeräumt. Vgl. Perels (1997), S. 368–370. 1130 Steinbach (2009), S. 151. 1131 Klett, Grundriss der Geschichte, 1956, S. 118. 1132 Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 247. 1133 Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 75.

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Traditionssetzung musste zunächst gegen die gesellschaftliche Mehrheit durchgesetzt und die mehrheitliche Meinung zum Widerstand gewandelt werden.1134 Aus dem Rahmen fiel der 1972 veröffentlichte Band ›Spiegel der Zeiten‹. Laut dieser Publikation plante der militärische Widerstand um den 20. Juli das Attentat auf Hitler, um »den nationalsozialistischen Führerstaat tödlich zu treffen und das Leben vieler Menschen zu retten.«1135 Der Band stellt insoweit eine Besonderheit unter den untersuchten Schulgeschichtsbüchern dar, als dass er den Nationalismus als Hürde und nicht als Movens des konservativen Widerstands auffasste, wenn das Attentat auf Hitler als »Verzweiflungsschritt« von »nationalbewußte[n] Diplomaten und Militärs«1136 apostrophiert wurde. Anscheinend nahm der Band neuere Forschungen zum Winterstand in seine Darstellungen auf. Mitte der 1960er Jahre begann die geschichtswissenschaftliche Forschung, die Haltung des ›nationalkonservativen‹ Widerstands zu kritisieren, da die ständisch-elitären, monarchistischen und nationalistischen Überzeugungen im Konflikt mit der bundesdeutschen demokratischen Ordnung standen.1137 Die in Schulgeschichtsbüchern angebotene Deutung des national gesinnten Widerstands war eng mit der offiziellen Geschichtskultur der Bundesrepublik verwoben. Das legte unter anderem dessen Darstellung im 1962 veröffentlichten ›Zeitgeschichte und wir‹ nahe, das Auszüge der Rede des Bundespräsidenten Theodor Heuss zum zehnten Jahrestag des Attentatsversuchs abdruckte. In der zitierten Passage behauptete das damalige Staatsoberhaupt unter anderem, dass die »Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, […] durch ihr Blut vom besudelten deutschen Namen wieder weggewischt« worden sei.1138 Dies zeigt zweierlei: Zum einen sah Heuss die deutsche Bevölkerung im national gesinnten Widerstand repräsentiert und zum anderen nutzte er diesen Widerstand zur Entlastung der Mehrheitsdeutschen, wenn die Widerstandsgruppe um den 20. Juli als eigentlicher Repräsentant der Deutschen den Nationalsozialismus zu stürzen vermochte. Dieses geschichtskulturelle Urteil sekundierten auch die zahlreichen Veröffentlichungen im Nachkriegsjahrzehnt.1139 Die Autoren des genannten Lehrwerks schlossen sich diesem Urteil offensichtlich an, wenn sie im Darstellungstext »mit Trauer, aber auch mit Stolz« feststellten: »es war die Auslese, die Elite des deutschen Volkes auf allen Gebieten.«1140 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140

Des vermutet Steinbach, vgl. Steinbach (2009), S. 150–151. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 150. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 149. Vgl. Steinbach (2001), S. 55–56. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 117. Vgl. Eckel (2003), S. 152–154. Zitate List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 112. Zu dem gleichen Schluss kommt Lange (2004), S. 100.

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Die Motivation des nationalkonservativen Widerstands wurde in den Schulbuchtexten in moralische Gewissenskonflikte gekleidet. So hieß es 1952 in ›Grundzüge der Geschichte‹: »Sie zögerten. Zweifellos standen sie in einem schweren Gewissenskonflikt. Der Fahneneid, den sie geleistet hatten, band sie nicht nur an die Person Hitlers, sondern lud ihnen auch eine hohe Verantwortung gegenüber ihren Truppen und dem Vaterlande auf.«1141

Laut ›Grundriss der Geschichte‹ trieben nicht »machtlüsterner Imperialismus, sondern sittliche Prinzipien […] die Elite der Nation zum aktiven Widerstand, der ein ›Aufstand des Gewissens‹« gewesen ist.1142 Im Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ aus dem Verlag Buchner sei nicht »Rache und Haßgefühl […], sondern eine Gesinnung« handlungsleitend gewesen, »die den Maßstab der menschlichen Würde und Achtung wieder zur Geltung bringen wollte. Die Männer des 20. Juli hatten sich in jahrelangen Diskussionen mit dem Problem des Tyrannenmords befaßt und sich nur schweren Herzens zu hochverräterischem Handeln entschlossen, aber der Staat hatte die naturrechtliche Ordnung zerstört und war zum Unstaat geworden«1143

Der gleiche Band verwies auf den »sittlichen Wert des Attentats« und zitierte affirmativ Henning von Tresckow, Widerstandskämpfer, Generalmajor und Mitglied der Widerstandsgruppe um den 20. Juli, dem es nicht um den praktischen Zweck des Attentats gegangen sei, sondern darum, der Welt und der Geschichte zu zeigen, dass die deutsche Widerstandsbewegung den Umsturz versucht habe.1144 In ›Reise in die Vergangenheit‹ forderte ein Arbeitsauftrag die Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich in »die zwiespältigen Gefühle und Gedanken dieser Menschen hineinzuversetzen, die das Schwerste auf sich nahmen« und als »Verräter und Verbrecher«1145 beschimpft wurden. Der national gesinnte Widerstand galt als Antipode des NS-Regimes und die Mitglieder des Widerstands galten als Antipoden Hitlers: Sie wollten die deutsche Nation (als Volk oder als Staat) retten, wo Hitler es in den Untergang getrieben habe, und sie haben eine moralisch reflektierte Entscheidung zum Attentat getroffen, wo Hitler stets amoralisch gehandelt habe und nur an Machterhalt und Machtausbau interessiert gewesen sei. Die Moralisierung des Widerstands »war 1141 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 141. 1142 Klett, Grundriss der Geschichte 1958, S. 189. Zudem urteilte der Band: »Gestützt auf die im Kaisermythos wurzelnde 2000 Jahre alte nationale Tradition, war das autoritäre Regime so fest verankert, daß es in Japan keinen 20. Juli gegeben hatte.« Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 195. 1143 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 127. 1144 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 154. 1145 Zitate Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 247.

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das grundlegende und unumstrittene Deutungsparadigma der ersten rund zwanzig Jahre nach Kriegsende.«1146 Dieser Gegensatz von Moralität vs. Macht und Rettung der Nation vs. Verrat an der Regierung wurde in Schulgeschichtsbüchern als Gewissenskonflikt dargestellt, dem die Gruppe um den 20. Juli vor allem wegen des militärischen Eids ausgesetzt war. Zusammenfassung Mehrheitlich charakterisierten die Schulgeschichtsbücher eine eigentlich der NSWeltanschauung resistente, jedoch verängstigte und durch Propaganda geblendete Gesellschaft, die kein Wissen über die NS-Massenverbrechen besessen habe. Die Resistenz der Bürgerinnen und Bürger im Regime habe sich auch wegen des Terrors nicht zum breiten Widerstand gegen das Regime entwickeln können. Das hegemoniale Deutungsmuster in den untersuchten Schulgeschichtsbüchern erscheint so als eine geschichtskulturelle Abwehrstrategie im Umgang mit Schuld und Verantwortung angesichts der NS-Verbrechen. Diese Strategien brachen zum Ende der 1960er Jahre auf. Einige Publikationen der 1960er und schließlich verstärkt der 1970er Jahre markierten diesen Deutungswandel: Laut dieser neuen Deutung haben sich Teile der Bevölkerung mit dem NS-Regime arrangiert, davon profitiert oder seien vom Nationalsozialismus überzeugt gewesen, während auf der anderen Seite Personen mit resistenter und widerständiger Haltung gegen das NS-Regimes gestanden haben. Die kollektivistische Verwendung des Volksbegriffs wurde dabei von einer differenzierenden Vorstellung der Bevölkerung abgelöst. In Schulgeschichtsbüchern wurden vornehmlich nationalkonservative Widerstandsgruppen aufgenommen, deren bedeutendste die Gruppe um den 20. Juli war. Die Darstellung des Widerstands hatte eine dreifache Funktion: Erstens schuf die Gegenüberstellung der Moralität der Widerstandsbewegung offensichtlich ein nationalpädagogisches Vorbild, indem die konkreten Personen als gewissenhafte Helden des ›anderen Deutschlands‹ figuriert wurden. Zweitens diente die Deutung des Widerstands auch, die mehrheitsdeutsche Bevölkerung von Schuld und Verantwortung zu entlasten, indem der Widerstand als Beweis ihrer eigentlichen Resistenz gegenüber dem ›Dritten Reich‹ herangezogen wurde. Häufig apostrophierten die Lehrwerke den Widerstand als Repräsentant und Elite verschiedener gesellschaftlicher Schichten. Drittens diente der Widerstand als Traditionslinie zur Legitimation der Bundesrepublik. Im antitotalitären Konsens der Bonner Republik rückte der kommunistische Widerstand unter Verdacht des Hochverrats, weshalb er erst spät in die Lehrwerke aufgenommen und delegitimiert wurde. Die eminente Funktion des Widerstands für die his1146 Eckel (2003), S. 159. Siehe auch Metzler (2018), S. 87–96.

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torisch-politische Bildung im Sinne der Demokratieerziehung findet hierdurch ihren zeitgenössischen Ausdruck. Gleichzeitig stand die Darstellung des nationalkonservativen Widerstands im Kontext des geschichtspolitischen Anliegens, die Bundesrepublik als Gegnerin des ›Dritten Reichs‹ zu legitimieren, indem sie sich in dieser Tradition verortet. Die Attentäter des 20. Juli zeichneten die Lehrwerke deshalb häufig in der Situation eines moralischen Dilemmas. Während der kommunistische Widerstand nur ein anderes totalitäres Regime angestrebt habe, sei es dem nationalkonservativen Widerstand darum gegangen, Nation und ›Volk‹ vor Hitler bzw. dem Kommunismus zu retten. Auf jüdischen Widerstand gingen die Lehrwerke nicht ein.1147

3.4.2. Zulassungsverfahren Die Analyse der Gutachten zeigt, dass die Akteure der Zulassungsverfahren die Rolle der Bevölkerung vor der Frage der kollektiven Schuld reflektierten und in ein Spannungsfeld von nationaler Bildung und historischer Aufklärung verorteten. Insbesondere der NS-Propaganda im Schulgeschichtsbuch zu widersprechen, galt den Sachverständigen als Auftrag historisch-politischer Bildung. Schließlich prüften die Sachverständigen, welcher Widerstand dargestellt und wie dieser legitimiert wurde. Die Analyse der Zulassungsverfahren wird im Folgenden dokumentiert. Kollektive Schuld? Ein grundsätzliches Problem bei der Darstellung der Bevölkerung im Nationalsozialismus legte der Ernst Klett Verlag im März 1960 dar. In dieser Stellungnahme ging der Verlag auf die widersprüchlichen Anforderungen an den Geschichtsunterricht ein: »Der unterrichtende Lehrer steht genau wie der Schulbuchverfasser vor dem Dilemma, einmal den Schülern deutlich zu machen, daß sie einem anständigen, auf eine würdige Vergangenheit zurückblickenden Volke angehören, andererseits aber auch, daß dieses Volk sich 12 Jahre lang von Verbrechern leiten ließ, daß Entsetzliches in seinem Namen geschehen ist und daß die Väter dieser Schüler, wenn nicht schuldig, so doch mitverantwortlich sind.«

Der Verlag skizzierte eine antinomische Situation von nationaler Pädagogik und historischer Aufklärung. Formal ausgedrückt, skizzierte der Verlag einen Konflikt zwischen der politischen und der kognitiven Dimension der Geschichts1147 Zum jüdischen Widerstand siehe Kwiet und Eschwege (1984).

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kultur im Umgang mit Schuld und Verantwortung. Um diese widersprüchliche Anforderung zu lösen, benötigten die Schulgeschichtsbücher mehr Raum für die Darstellung des Nationalsozialismus. Dies ziehe jedoch »eine einseitige Verlagerung der Gewichte« hin zur Zeitgeschichte nach sich, was weder der Lehrplan vorgebe noch der Verlag intendiere. Die antinomische Situation führte der Verlag weiter aus: »Alle Beteiligten – Lehrer, Schulbuchautoren und Schulbuchverlage – stehen heute im Spannungsfeld zwischen falschem Nationalismus auf der einen und rücksichtsloser Selbstanklage auf der anderen Seite. Hier erwächst die ungeheure Gefahr, daß das Verhältnis des jungen Menschen zu dem Volk, dem er angehört, gestört wird. Nicht wenige sachkundige Beurteiler sind der Meinung, daß durch ein Zuviel an Selbstanklage allzu leicht bei der heranwachsenden Jugend das Gegenteil von dem erreicht werden könnte, was beabsichtigt ist.«1148

Der vom Klett Verlag skizzierte Konflikt war Zeitgenossen durchaus gegenwärtig. Insbesondere im Zusammenhang mit dem (imaginierten) Vorwurf der kollektiven Schuld erregte die Distanzierung vom Nationalsozialismus deutsche Gemüter.1149 Die These der Kollektivschuld wurde von den Siegermächten zwar nie offiziell vertreten, dafür aber von Deutschen gerne widerlegt1150 und war ein gewichtiger Forschungsanlass in den 1950er Jahren.1151 Wolfgang Benz sieht in der Kollektivschuldthese dementsprechend »ein Konstrukt der Abwehr. Der vermeintliche Vorwurf diente als willkommener Vorwand der Verweigerung.«1152 Jan Friedmann und Jörg Später schlussfolgern in ihrer Analyse der britischen und bundedeutschen Debatte um die Kollektivschuldfrage, dass die »Schuld vieler […] zur Schuld aller überdehnt und als unangemessener Kollektivschuldvorwurf zurückgewiesen« wurde, wodurch »das deutsche Volk, die deutsche Nation und mit ihm seine kulturelle und politische Gestalt als identifikationsstiftende Kontinuität erhalten und die deutsche Nationalgeschichte gerettet werden« konnte.1153 Das vom Klett Verlag angenommene Spannungsverhältnis von historischer Aufklärung zum Nationalsozialismus und nationalaffirmativen Geschichtsunterricht steht im Kontext dieses Konflikts und bestärkt diesen Befund. Indem der Verlag behauptete, er müsse in Lehrwerken erklären, dass sich die Vatergeneration der Schulkinder vom Nationalsozialismus habe einnehmen lasse, implizierte er die kollektive Schuld, die er mit seiner Behauptung der gefährlichen Selbstanklage wieder zurückwies. Eine Diskussion darüber, wie Schuld und 1148 1149 1150 1151 1152 1153

Zitate BayHStA MK 63844 Stellungnahme des Klett Verlags vom 23. März 1960. Vgl. Jarausch (2004), 80–85. Vgl. Frei (2009d). Vgl. Herbert (1992), S. 70–73. Benz (1995), S. 51–52. Zitate Friedmann und Später (2003), S. 90.

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Verantwortung überhaupt verteilt gewesen sei, konnte schließlich mit dem Verweis auf die Bedeutung einer nationalpädagogischen Bildung verworfen werden. Die Sicht des Verlags war zudem eine streitbare Meinung im zeitgenössischen pädagogischen Feld. Zu Beginn der 1960er Jahre forschte Rudolf Raasch vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung zum Wissen hessischer und niedersächsischer Gymnasiasten über die Geschichte des Nationalsozialismus und plädierte offen für die Rekultivierung nationalistischer Geschichtskultur, da in der kritischen Darstellung des Nationalsozialismus ein Minderwertigkeitsgefühl verborgen liege, dessen Vermittlung zur Gefahr für den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft anwachsen könnte, verhindere der Unterricht den Aufbau »volkliche[r] und nationale[r] Gruppenbedürfnisse. Wenn ein Staat seine »volkliche Realgruppe« abwerte, erzeuge dies die Gefahr, dass »die den Bestand des Staates sichernde Identifikation des Einzelmenschen mit dem Staat (dasselbe gilt auch für die Gesellschaft) ausbleibt«,1154 behauptete der Pädagoge. Während Raasch bei fast allen Schülerinnen und Schülern dieses ›nationale Gruppenbedürfnis‹ erkannt haben will, vermittelte seiner Ansicht nach der Geschichtsunterricht die moralische Minderwertigkeit der deutschen Nation.1155 Eine ausführliche und kritische Darstellung der Geschichte des Nationalsozialismus und gleichzeitig eine kritische Darstellung der Rolle der Bevölkerung stehen diesem nationalpädagogischen Zweck entgegen und führen bei den Schülerinnen und Schülern zur Verweigerungshaltung, behauptete der Pädagoge.1156 Im Rahmen des skizzierten Spannungsfelds von kollektiver Schuld, historischer Aufklärung und nationaler Bildung diskutierten die Akteure des Zulassungserfahrens die historischen Deutungsangebote zur Rolle der mehrheitsdeutschen Bevölkerung im ›Dritten Reich‹. Dem Mittelstufenband für Höhere Schulen aus dem Schwann Verlag, ›Erbe des Abendlands‹ erteilte ein Gutachter ein insgesamt positives Urteil, weil die Gestaltung »gut reichisch1157, aber auch europäisch und universalhistorisch, demokratisch und nicht zuletzt christlich« sei. Doch in der Darstellung der innenpolitischen Verhältnisse im ›Dritten Reich‹ erkannte er nicht hinnehmbare »Rechtfertigungsversuche […] für das zum Teil kaum entschuldbare Versagen einer Generation.« Als beispielhaft sah er die Behauptung des Schulbuchs an, »daß die NS-Volkswohlfahrt eine Organisation gewesen sei, der sich niemand entziehen konnte«. Dagegen schlug der Gutachter »für unsere heranwachsende Jugend« vor, »wenn in guter erzieherischer Absicht

1154 1155 1156 1157

Zitate Raasch (1964), S. 253. Raasch (1964), S. 257. Raasch (1964), S. 248–249. Vgl. Dudek (1995), S. 288–289. Gemeint ist wohl das Deutsche Reich. Der Gutachter lobte hierbei die nationalgeschichtliche Ausrichtung des Manuskripts.

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die menschlichen Schwächen ohne Beschönigung dargestellt würden«.1158 Die Deutung des historischen Sachverhalts der anscheinend kollektiven Schuld einer Generation band der Sachverständige in den Zweck historisch-politischer Bildung ein, indem er auf den demokratischen Erziehungsauftrag des Schulbuchs hinwies. In die gleiche Kerbe, jedoch mit anderer Haltung, schlug auch ein Oberschulrat in seinem Gutachten zum Klett Oberstufenband ›Grundriss der Geschichte‹. Er sah die Behandlung des ›Dritten Reichs‹ als das schwierigste Kapitel der Schulgeschichtsbücher an. Da die Lehrwerke »eine für die heranwachsende Generation verständliche (und auch akzeptierte!)« Erklärung zur »Frage der Kollektivschuld« liefern müssten, schlug der Gutachter vor, dass u. a. »auf die Wirkung der Propaganda […], auf die Abrüstungsvorschläge Hitlers, dessen Verzichterklärungen und Wortbrüchigkeit […], auf die außenpolitischen Erfolge« eingegangen werden sollte.1159 Zur Begründung dieser Haltung zog der Oberschulrat nicht wissenschaftliche Triftigkeit, sondern (soziale) Akzeptanz und Verständlichkeit als Gütekriterium heran. Eine eher abweichende Haltung zur Rolle der Bevölkerung zeigte ein Mittelschullehrer in seinem Gutachten zum Manuskript ›Nationalsozialismus und Demokratie‹. Er forderte, dass die »Charaktereigenschaften des Deutschen, die ihn besonders anfällig für einen ›Führerstaat‹« gemacht haben, im Kapitel »Verführung des Volkes« besprochen werden sollen. Mit der bisherigen Erklärung des Manuskripts, dass »man sich das Volk nur durch Lügen gefügig gemacht habe«, könnten die Verfasser weder die Machtübernahme noch die Stabilität des ›Dritten Reiches‹ hinreichend erklären, argumentierte der Gutachter. Statt lediglich auf die »psychologischen Mittel« zu rekurrieren, sollte der Band zudem aufzeigen, »wie es Hitler gelang, die einzelnen Stände für sich zu gewinnen: Hitler und das Heer, Hitler und die Industrie, Hitler und die Arbeiter; der Begriff ›Volk‹ ist hier zu weit gefaßt.« Er forderte abschließend, die »›schuldlose Schuld‹ von Parteien und Verbänden« nicht zu verschweigen und wenigstens anzudeuten, »daß auch ein gewisses Verschulden der Kirche vorliegt.«1160 Der geforderte Perspektivenwechsel von den Machtinstrumenten hin zu den Einstellungen in der Bevölkerung markierte den Deutungskonflikt in der Frage nach Schuld und Verantwortung. Der Sachverständige konnte seine Deutung jedoch nicht durchsetzen. Verlag und Autoren konterten mit dem Verweis auf die pädagogische Funktion des Lehrwerks. In einer Stellungnahme behaupteten sie, keine »Enzyklopädie über den Nationalsozialismus und die Demokratie schreiben« zu wollen, sondern ein Schulbuch für die Volksschulen, was einen 1158 Zitate BayHStA MK 63821 Gutachten vom 5. März 1953. 1159 BayHStA MK 63844 Gutachten vom 2. Februar 1959. 1160 Zitate BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960.

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Text erfordere, der dem »Auffassungsvermögen der Schüler angepaßt« sei. Der Gutachter »verkennt und überfordert« die Anliegen und die Möglichkeiten der Schulgeschichtsbücher. Deshalb appellierten die Autoren und der Verlag »an den Realismus des Ministeriums, daß es etwa nicht möglich ist, vom Gutachter geforderte Begriffe wie ›schuldlose Schuld‹ den Schülern dieses Bildungsgrades nahezubringen.« Weil sich der Band auf das Exemplarische und Wesentliche beschränken sollte,1161 so die Stellungnahme, werde auch nicht geschildert, wie die einzelnen sozialen Gruppen in den Nationalsozialismus eingehegt wurden. Stattdessen »mußte es genügen, die allgemeinen propagandistischen Methoden der Verführung aufzuzeigen.«1162 An diesem Verfahren zeigt sich ums andere Mal das Problem, fachlich differenzierte Begrifflichkeiten und Diskussionen in eine kindgemäße Sprache und Darstellungsweise zu überführen. Die Pädagogisierung fachlicher Inhalte für Schulgeschichtsbücher erweist sich als ein konflikthaft reflektierter Prozess im Kontext der Zulassungsverfahren. In einer Radiosendung des Bayerischen Rundfunks vom April 1958 kritisierten die Moderatoren am Volksschulbuch des Oldenbourg Verlags, ›Geschichte unseres Volkes‹ u. a. die kollektivistische Deutung der Bevölkerung im Nationalsozialismus. Sie zitierten aus dem Band: »›Schwere Schuld lud Adolf Hitler durch die Behandlung der jüdischen Mitbürger auf sich. Eine böswillige Propaganda wiegelte das Volk gegen sie auf.‹« Dieser Textstelle hielt einer der Moderatoren entgegen: »Das ist eine einfache Unwahrheit. Das Volk in seiner Gesamtheit hat sich nie gegen die Juden aufwiegeln lassen.«1163 Der Sprecher erkannte in diesem Ausschnitt die Behauptung der Kollektivschuldthese, die er als historisch nicht korrekt zurückwies. Die Radiosendung schlug im Ministerium Wellen, sodass das Ministerium vom Verlag eine Stellungnahme einforderte, die er am 25. Mai 1958 einreichte. Darin argumentierte der Verlag: Zum einen werde keinesfalls behauptet, dass das ganze Volk sich habe aufwiegeln lassen, weshalb auch sie der Vorwurf, der Verlag vertrete die Kollektivschuldthese, »mit allem Nachdruck zurück[gewiesen]« werde. Allerdings mache die Zahl der Angehörigen der mehrheitsdeutschen Bevölkerung, die »aktiv an antisemitischen Ausschreitungen beteiligt waren« oder »unter dem Eindruck der Propaganda solche Ausschreitungen passiv geduldet haben« den Großteil der Bevölkerung aus, was sich daran zeige, dass keine Verhaftungswellen gegen 1161 Die Autoren erkannten das Wesentliche im Antisemitismus des Nationalsozialismus als furchtbarste Auswirkung des Rassenhasses. 1162 Zitate BayHStA MK 64364 Stellungnahme des Verlags vom 24. Oktober 1960. 1163 Sendung des Bayerischen Rundfunks am 24. April 1958 von 20.00–20.45 Uhr im 1. Programm unter dem Titel: ›Die Lehre aus dem Gestern – Was hören die Jungen aus der jüngsten Geschichte?‹ Zitate BayHStA MK 64526 Kommentierte und verschriftlichte Auszüge vom 26. April und 13. Mai 1958. Die erwähnte Textstelle ist Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 97.

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Bürgerinnen und Bürger bekannt seien, die sich gegen die antisemitischen Ausschreitungen gewehrt hätten. Dementsprechend sei der Verlag weiterhin der Meinung, dass der größte Teil der Mehrheitsdeutschen der Propaganda unterlag und »das ganze Volk eine schwere moralische Schuld auf sich geladen hat, weil es die damaligen Ereignisse widerstandslos ablaufen ließ.«1164 In der Neubearbeitung des Lehrwerks von 1963 gab der Verlag zwar der antisemitischen Politik im Nationalsozialismus mehr Raum, wies die (moralische) Schuld des ›ganzen Volkes‹ jedoch von der Hand. Ein Arbeitsauftrag stellte die Kollektivschuldthese in Analogie zur antisemitischen Ideologie des Nationalsozialismus. In diesem Arbeitsauftrag wurde der ›Judenstern‹ erklärt. Anschließend wurden die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert, zu der erfundenen Behauptung eines US-Amerikaners Stellung zu beziehen, dass alle Deutschen Mörder gewesen seien, denen man »ein Galgenzeichen an die Jacke stecken« müsse.1165 Im Darstellungstext wurde die Rolle der Bevölkerung beim Terror gegen Jüdinnen und Juden abgesehen von den Novemberpogromen nicht thematisiert. Die Novemberpogrome deutete der Text als Racheaktion der Führungselite auf die Tötung eines deutschen Botschafters durch einen Juden,1166 die »den Anschein einer unmittelbaren Volksempörung erhalten sollte.«1167 Die Kritik am impliziten Vorwurf kollektiver Schuld setzte sich durch. Im neuen Lehrwerk wurde der Kollektivschuldthese offen widersprochen, ohne die Rolle der Mehrheitsdeutschen an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu besprechen. Auf die Schuld der Mehrheitsdeutschen ging auch ein Gutachter zum Manuskript ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ des Bayerischen Schulbuchverlags ein. Der Mittelschullehrer attestierte dem Manuskript eine betont nationale Einstellung.1168 Zudem äußerte er die deutlichste Kritik an dem Verhalten der Bevölkerung im Nationalsozialismus und kritisierte die Darstellung der Bevölkerung im Manuskript. Der Mittelschullehrer widersprach der darin gemachten Behauptung, dass »der Großteil der Bevölkerung von der verbrecherischen Politik Hitlers keine Kenntnis hatte«.1169 Dagegen sollte in einem Schulgeschichtsbuch über die Zeit des Nationalsozialismus

1164 BayHStA MK 64526 Stellungnahme des Verlags vom 23. Mai 1958. 1165 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 101. 1166 Die Tötung wurde nicht als Anlass, sondern als Grund der Pogrome verstanden, weshalb die Schulbuchaussage Aspekte nationalsozialistischer Propaganda übernahm. 1167 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 101. 1168 Das Manuskript stellte die zweite Fassung dar, nachdem der erste Text v. a. wegen Plagiats abgelehnt und ein neues Manuskript durch einen anderen Autor eingereicht wurde. 1169 Der Gutachter zitierte aus dem Manuskript. Siehe BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961.

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»ein Wort der Kritik über den biederen deutschen Durchschnittsbürger stehen, der seine Augen verschloß und manches nicht sehen wollte und sich als Stammtischstratege oder gar mit geräuschvollem Beifall als 150 %iger strammer Parteigenosse zeigte, und den doch ein gerüttelt Maß an Mitschuld trifft, selbst wenn er an keinem Verbrechen beteiligt war und keiner Fliege etwas zu Leid hätte tun können.«1170

Das Bild der ›150-prozentigen Nationalsozialisten‹ nutzte der ehemalige Vizekanzler Franz von Papen durch die sog. Marburger Rede. In der Rede vom 17. Juni 1934 an der Marburger Universität hat er die ›Primitivität‹ und Brutalität der ›150-prozentigen‹ Nationalsozialisten aus deutschnationaler Perspektive kritisiert.1171 Die Rede hat in der ausländischen Presse breiten Widerhall gefunden und ist von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gedruckt worden, was zum Einzug der Ausgabe geführt hat, denn im »nationalsozialistischen Lager« ist »die Marburger Rede natürlich auf heftige Ablehnung« gestoßen.1172 Während Papen die ›150-Prozentigen‹ von den konservativen Revolutionären als national gesinnte Opposition abgegrenzt hat, sah der Gutachter darin eher eine Facette des spießigen Kleinbürgers, der ignorant gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus und durchaus überzeugter Anhänger des Regimes gewesen sei. Die Schuld des Großteils der Mehrheitsdeutschen ergab sich für den Gutachter aus ihrer Rolle als Zuschauer und Täter des Regimes. Zur gleichen Zeit wurde auch der Umgang mit Schuld und Verantwortung im Manuskript ›Unsere Geschichte Unsere Welt‹ des Bayerischen Schulbuchverlags kritisiert. Vermutlich wurde dieses Gutachten von einem Referenten des Kultusministeriums verfasst und anonymisiert an den Bayerischen Schulbuchverlag weitergegeben. Nicht aus Unwissenheit, sondern aus »verständlicher Angst, dieses Wissen zu verbreiten bzw. von ihm Gebrauch zu machen« haben die Mehrheitsdeutschen keinen Widerstand organisiert, so der Gutachter. Er empfahl »eine vorsichtigere Formulierung, damit nicht das Ganze als ›Pauschalentschuldigung‹ gedeutet wird.«1173 Dass das ursprüngliche Manuskript diese ›Pauschalentschuldigung‹ angeboten hat und dieses Angebot im Zulassungsverfahren von anderer Stelle gut geheißen wurde, zeigt ein zuvor verfasstes Gutachten zum Manuskript. Laut dem Sachverständigen wird darin deutlich, »was eben auch deutlich werden muss, warum nämlich auch verantwortlich und rechtlich Denkende sich zumindest nicht entschieden gegen Hitler und seine Partei wandten.« Der Gutachter affirmierte das Manuskript, wonach »das Parteiprogramm der NSDAP ›eine ganze Reihe berechtigter oder zumindest dis-

1170 1171 1172 1173

BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961. Die Rede ist abgedruckt in Forschbach (1984), S. 153–164, hier S. 168–169. Zitate Orth (2016), S. 463. BayHStA MK 63835 Gutachten vom 12. Juni 1961.

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kutabler Forderungen‹ enthielt« und schlug vor, diesen Zusammenhang noch deutlicher hervorzuheben.1174 Die stille Debatte um die kollektive Schuld bzw. Unschuld der Mehrheitsdeutschen hatte ihren Zeitkern, das zeigten die angeführten Gutachten und Stellungnahmen, um das Jahr 1960. In den folgenden Jahren wurde die Debatte um eine kollektive Schuld der Bevölkerung kaum mehr aufgegriffen. Gegner der Kollektivschuldthese forderten dann allerdings eine differenzierende Deutung der Rolle der Mehrheitsdeutschen im ›Dritten Reich‹ ein. Der Deutungskonflikt um die Rolle dieser Gruppe im Nationalsozialismus stand dabei vor der Herausforderung, die kognitive und die politische Dimension der Geschichtskultur in Einklang zu bringen. Insbesondere Verlage standen in der Zwickmühle, der politischen, pädagogischen und fachlichen Funktion von Lehrwerken gerecht zu werden: Zum einen sollten die Schülerinnen und Schüler im demokratischen Sinne politisch gebildet werden, weshalb eine kritische Aufarbeitung und Vermittlung der nationalsozialistischen Vergangenheit notwendig war. Gleichzeitig sollte der Zweck der Schulgeschichtsbücher als ›nationale Autobiographien‹ nicht unterminiert werden, indem die gewünschte Identifikation mit der deutschen Nation durch eine Diskreditierung der Bevölkerung konterkariert wurde. Schließlich sollte ein historischer Zugang genutzt werden, der dem Alters- und Erfahrungsstand der Schülerinnen und Schüler angemessen war. In den einzelnen Zulassungsverfahren reflektierten die Akteure die Darstellung der Bevölkerung vor diesem Spannungsfeld. Die Kollektivschuldthese war eng an der Vorstellung des Volks als Kollektiv gebunden. Dies zeigt auch der Zeitkern der Debatte vor dem Hintergrund der Schulbuchanalyse: Als sich in den Schulgeschichtsbüchern seit Mitte der 1960er Jahre ein verstärkt differenzierender Volksbegriff durchsetzte, ebbte die Debatte ab. Terror und Alltag Um die Wirkung des NS-Regimes auf das Leben des Einzelnen erfassen und vermitteln zu können, erwarteten manche Gutachterinnen und Gutachter, dass alltagsgeschichtliche Ansätze in die Darstellungstexte eingebunden werden. In einem Gutachten zum ersten Prüfgang von ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ wurde gefordert, dass die Schülerinnen und Schüler durch das Schulbuch erfahren sollten, was »mit denen geschah, die das Gesetz übertraten und Feindsender abhörten«.1175 Damit zeigte der Gutachter bereits ein alltagsgeschichtliches Interesse zur Geschichte des Nationalsozialismus, denn das Hören sog. Feindsender umfasste eine alltägliche Widerstands1174 BayHStA BSV 459 Gutachten vom 21. Juli 1960. 1175 BayHStA BSV 462 Gutachten vom 4. April 1960.

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form.1176 Vermutlich sollte dieser Vorschlag nur wenige Zeilen des Schulbuchs in Anspruch nehmen. Anzunehmen ist, dass sein Fokus auf die Relevanz der Feindsender durch seine subjektive Erfahrung geprägt ist. Besagter Mittelschullehrer war während des Zweiten Weltkriegs in einem Regiment stationiert, das für die Funknachrichten zwischen den Obersten Kommando des Heeres und den verschiedenen Kommandoebenen zuständig war. Vermutlich arbeitete er als Techniker in diesem Regiment, da er zwischen Kriegsende und seiner Wiederaufnahme des Lehrerberufs 1948 als Rundfunktechniker beschäftigt war.1177 Um die Totalität des NS-Regimes und die »Regie des öffentlichen Lebens« aufzuzeigen,1178 forderte auch die Historikerin am IfZ bereits 1960 im Gutachten zum Band ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ den Blick auf den Alltag im ›Dritten Reich‹ zu lenken. Im Gutachten zu ›Geschichte für Mittelschulen‹ des Kösel Verlags wandte sie ein, dass die »totalitäre Herrschaft in all ihren Erscheinungsformen und Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen […] den entscheidenden Aspekt bei der Darstellung des NS-Staates zu bilden« habe.1179 In ihrem 1968 verfassten Gutachten zur eingereichten Neubearbeitung des Bands ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ aus dem Bayerischen Schulbuchverlag argumentierte sie in die gleiche Richtung. Sie gab an, dass die »Schilderung des innenpolitischen Gesinnungsterrors […] etwas ausführlicher und konkreter sein« könnte, indem der Darstellungstext »das dichte Netz der Partei zeigen und aus dem Alltag des Bürgers« schildere.1180 Eher didaktisch argumentierte der vom IfZ beauftragte Gymnasialprofessor. Er kritisierte in seinem Gutachten von 1972,1181 dass die »Reglementierung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens […] viel zu schwach zur Darstellung« komme. Damit »bleibt dem Schüler verborgen, was sich hinter dem Begriff ›Gleichschaltung‹ alles verbirgt.« Dagegen sei die Gleichschaltung am besten durch »die Situation eines Einzelnen in seinem Eingespanntsein in dieses Zwangssystem zu schildern.«1182 1176 Während des Zweiten Weltkriegs konnten im Deutschen Reich dutzende Auslandssender empfangen werden. Das Hören sog. Feindsender stand im ›Dritten Reich‹ unter hoher Strafe. Umgekehrt zeigte das Hören auch die »eigensinnigen Gebrauchsmöglichkeiten des Mediums« als Alltagsgegenstand auf. Marszolek und Saldern (1998), S. 34. 1177 Vgl. BayHStA MK 59760 Meldebogen vom 30. August 1948. 1178 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 14. September 1960. 1179 BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963. 1180 Zitate BayHStA MK 64263 Gutachten vom 20. März 1968. Wegen der tiefgreifenden Kritik des zweiten Gutachters distanzierte sich der Verlag vom Buch und kündigte an, ein neues Lehrwerk zu konzipieren, das dem modernen Unterricht angemessen sei. BayHStA MK 64263 Stellungnahme Verlag vom 13. Mai 1968. 1181 Das monierte Manuskript wurde vom Oldenbourg Verlag eingereicht und war vermutlich die Übernahme des zuvor im BSV veröffentlichten und neu bearbeiteten ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962. Oldenbourg, Geschichte IV. Neueste Zeit, 1973. 1182 Zitate BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972.

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Der alltagsgeschichtliche Zugang erlaubte es den Gutachterinnen und Gutachtern, die Funktion und Wirkung des Terrors zu erfassen und das NS-Regime als totalitäres und antidemokratisches Regime adäquat darzustellen und schülergerecht zu vermitteln. Allerdings forderten nur wenige Gutachterinnen und Gutachter die Perspektive auf den Alltag des Einzelnen ein, was auch am fehlenden Ansatz in der Geschichtswissenschaft als Bezugsdisziplin gelegen haben könnte. Während sich die Geschichtswissenschaft in Frankreich, insbesondere im Umfeld der sog. Annales-Schule, bereits seit den 1920er Jahren alltagsgeschichtlichen Fragen und Gegenständen zuwandte, avancierte diese geschichtswissenschaftliche Disziplin in der Bundesrepublik erst zum Beginn der 1980er Jahre zum anerkannten Forschungsfeld. Sie hatte ihren historischen Vorläufer zwar in der Volkskunde, deren verzögerte Rezeption in der Geschichtswissenschaft war laut Erhard Wiersing der »Verstrickung dieses Fachs in die NSIdeologie und der allgemeinen Diskreditierung des ›Völkischen‹ und der ›Heimatkunde‹ nach 1945 und besonders um 1965 geschuldet.«1183 Das Fehlen eines methodologisch abgesicherten alltagsgeschichtlichen Zugangs zur Geschichte des Nationalsozialismus sowie alltagsgeschichtlicher Befunde erklärt die Einwände der Sachverständigen: Diese waren zwar sehr wohl an alltagsgeschichtlichen Darstellungen interessiert und erkannten auch den alltagsgeschichtlichen Mehrwert in der Darstellungen zum Nationalsozialismus, doch weder konnten sie auf geschichtswissenschaftliche Befunde rekurrieren noch ihr Interesse methodisch untermauern. Vermutlich blieben die Interventionen der Sachverständigen deshalb auf dem Niveau konkreter und kleiner Einschübe. Umgekehrt zeigen die dokumentierten Artikulationen das Interesse der Gutachterinnen und Gutachter nach einem gegenstandsangemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, was einen impliziten Rückgriff und eine Erweiterung der geschichtstheoretischen Bezugspunkte benötigte. Distanzierung Einige Gutachterinnen und Gutachter legten Wert auf eine klare Distanzierung von den angeblichen ›Erfolgen‹ des NS-Regimes, die vor allem im Gebiet der Wirtschafts- und Außenpolitik verortet wurden. Diese ›Erfolge‹ – etwa die Beseitigung der Arbeitslosigkeit oder die Annexion von Gebieten mit großer deutschsprachiger Minderheit – galten den Sachverständigen als Gründe für die 1183 Wiersing (2007), S. 623. 1980/81 stand der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten unter dem Thema: »Alltag im Nationalsozialismus«. Galinski-Koch (1983). Die Welle des alltagsgeschichtlichen Interesses zum Nationalsozialismus hatte freilich auch außerwissenschaftliche Ursachen: Zwei Jahre vor dem Geschichtswettbewerb wurde die Fernsehserie ›Holocaust‹ ausgestrahlt, die den alltäglichen Terror und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus zeigte und dabei ein großes Echo hervorrief.

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hohe Zustimmung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus. Ein Gutachter wollte die »Leistungen Hitlers« im Manuskript von ›Deutschlands jüngste Vergangenheit‹ aus dem Kösel Verlag erwähnt wissen. Darunter verstand er die scheinbare Überwindung des Klassenkampfes, die Annexion Österreichs und des Sudetenlandes und schließlich »sogar die schnellen Siege über Polen und Frankreich.« Indem diese Leistungen geschildert werden, könne die »Verführung Hitlers« für ein national gesinntes Bürgertum vermittelt werden. Alternativ könnten »[u]nsere Jugendlichen […] nicht begreifen, warum ihre Väter nicht mehr Widerstand leisteten«.1184 Die Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik des NS-Regimes in die historischen Narrative der Lehrwerke einzubinden, war für den Gutachter bedeutsam, um die Integration der Bevölkerung ins ›Dritte Reich‹ zu erklären. Für einige Sachverständige besaßen diese ›Leistungen Hitlers‹ bzw. die ›Erfolge des NS-Regimes‹ auch eine gefährliche politische Fernwirkung, da ihre Darstellung zur Attraktion des Nationalsozialismus unter den jugendlichen Schülerinnen und Schülern beitragen könne. Um der propagandistischen Fernwirkung der angeblichen Erfolge des Nationalsozialismus den Stachel zu ziehen, musste die Propaganda als Lüge und die angeblichen Erfolge als Fehlleistungen offen gelegt werden, deren Konsequenz die ›deutsche Katastrophe‹ – der Untergang des Deutschen Reiches – gewesen ist.1185 In ihrem Gutachten zu Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ forderte die Historikerin am IfZ deshalb ein, dass die Schulgeschichtsbücher die ›Irrlehren‹ des Nationalsozialismus, sofern sie denn dargestellt werden, für »den Schüler wohl auch richtigstellen« müssen.1186 Ein Gutachter erwartete bereits 1955 in seinem Gutachten zu ›Geschichtliches Werden‹ des C.C. Buchners Verlags, dass der Ressourcenmangel der Kriegsjahre und Nachkriegsjahre mit der Wirtschaftspolitik im ›Dritten Reich‹ in Verbindung gebracht werde. Diese Wirtschaftspolitik sei zwar kurzfristig erfolgreich gewesen, doch die vermeintlichen Erfolge »wurden in einer bedenkenlosen Weise unter Vorgreifen auf eine bessere Zukunft finanziert«. Der Sachverständige verwies darauf, dass der Bevölkerung diese Entwicklung habe verborgen bleiben sollen, weshalb »seit 1934 der Haushaltsplan des Reiches nicht mehr veröffentlicht werden konnte.«1187 Folglich forderte er, den Schülerinnen und Schülern die propagandistische Wirkung und desaströsen Folgen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik zu vermitteln. 1184 Zitate BayHStA MK 63845 Gutachten vom 4. August 1962. 1185 Der Holocaust besaß im Geschichtsbewusstsein der Akteure nicht die notwendige Relevanz, um als die Katastrophe gedeutet zu werden, auf die der Nationalsozialismus hinsteuerte. Als Katastrophe von nationalem Ausmaß galt in der Bundesrepublik eher das Ende der deutschen Einheit. Wolfrum (2002), S. 57–63. Kwiet (1987), S. 237. 1186 BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963, S. 5. 1187 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. März 1955.

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Ein Schulrat verstand solche Richtigstellungen im Gutachten zur Neuauflage von ›Europa und die Welt‹ aus dem Blutenburg Verlag als aufklärerische Akte. Diese seien gegen die Nachwirkungen der propagandistischen Ausschlachtung der vermeintlichen wirtschaftlichen Erfolge im ›Dritten Reich‹ gerichtet, da es »der Legendenbildung entgegen wirken [kann], wenn man betont, daß die Wirtschaftsblüte durch heimliche Schwächung der Währung erzielt wurde.«1188 Ein Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, reichte zum Manuskript von ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ aus dem BSV einen Textvorschlag zum Kapitel ›Autarkie der Wirtschaft‹ ein, der die Kriegsvorbereitung als wahres Ziel der NSWirtschaftspolitik offenlegte.1189 Der Textvorschlag wurde im Schulbuch übernommen.1190 Auch ein weiterer Sachverständiger sah in seinem Gutachten zum Manuskript ›Zeitgeschichte und wir‹ aus dem List Verlag die Wirtschaftspolitik im Nationalsozialismus nicht ausführlich dargestellt. Zwar seien die Kriegsvorbereitungen als Zweck der Wirtschaftspolitik genannt, es werde aber nicht aufgezeigt, dass »der Aufschwung auf unsoliden Grundlagen« gestanden habe und »alles nur eine Scheinblüte« gewesen sei.1191 Ein Schulrat argumentierte im Gutachten zu ›Diktatur und Freiheit‹ aus dem Klett Verlag, dass die Kritik der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Außenpolitik ein Auftrag der historisch-politischen Bildung sei.1192 Zwar müssten die Erfolge der Politik aufgezeigt werden, statt sie zu negieren, doch die Schülerinnen und Schülern sollten zugleich in die historischen Zusammenhänge eingeführt werden, um sie »die Gefahren einer Fehlentwicklung trotz ihrer äußeren Erfolge erkennen zu lassen«. Dazu sei ein »Blick hinter Dinge« notwendig, womit der Schulrat vermutlich die militärischen Absichten und Zwecke des NS-Regimes meinte, die den politischen Maßnahmen zugrunde lagen. Außerdem könne erst so sinnvoll erklärt werden, »warum so viele Deutsche zu Gefolgsleuten Hitlers wurden.« Dies aufzudecken sei, so der Gutachter weiter, das Ziel historisch-politischer Bildung.1193 Eindrücklich bezogen die Sachverständigen die Multifunktionalität des Schulgeschichtsbuchs in die Kontrolle ein, wenn pädagogische, geschichtspolitische und fachwissenschaftliche Anforderungen zu Begründung und Struktu1188 BayHStA MK 63836 Gutachten vom 31. Januar 1958. 1189 »Hitler wußte allerdings sehr genau, dass eine wirtschaftliche Unabhängigkeit Deutschlands auf die Dauer nicht möglich war. Seine Autarkiemaßnahmen stellen nur eine Kriegsvorbereitung dar. Denn beim Ausbruch des geplanten Krieges würde das Ausland keine Waren mehr liefern. Deshalb mußte erreicht werden, daß Deutschland für kurze Zeit sich aus eigenen Mitteln versorgen konnte. lm Kriege selbst sollten dann, wie er schon in seinem Buch ›Mein Kampf‹ geschrieben hatte, die wirtschaftlichen Ergänzungsgebiete erobert werden.« BayHStA BSV 462 Redaktionelle Vorschläge vom 4. August 1961, S. 15. 1190 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 74–75. 1191 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 30. Juli 1962. 1192 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 29. Mai 1969. 1193 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 29. Mai 1969.

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rierung der Inhalte herangezogen werden. Das Offenlegen der Zwecke (Krieg) und Maßnahmen (Verschuldung) der NS-Wirtschaftspolitik besaß neben der aufklärerischen Absicht gegen die angenommene Fernwirkung der NS-Propaganda auch einen hohen Stellenwert bei der Deutung der Rolle der Bevölkerung. Erst durch die historische Einordnung der vermeintlichen Erfolge als Mittel zur Kriegsvorbereitung bzw. als Ursache tiefer Staatsverschuldung konnte die Zustimmung der Bevölkerung zur Politik des ›Dritten Reichs‹ erklärt werden, ohne eine antidemokratische Haltung der adressierten Schülerinnen und Schüler zu fördern. Die Frage nach Schuld und Verantwortung der Mehrheitsdeutschen beantworteten die Akteure der Zulassungsverfahren dann mit der politischen Naivität des ›Volks‹, Hitler bzw. dem NS-Führungszirkel vertraut zu haben. Dagegen forderte der Leiter des Ostkunde-Referats im Kultusministerium in seinem Gutachten zu ›50 Jahre Zeitgeschichte‹ aus dem List Verlag die Perspektivübernahme der von den außenpolitischen Erfolgen überzeugten, deutschsprachigen Minderheiten außerhalb des Deutschen Reiches. Der Blick sollte sich auf die Gebiete in Osteuropa und das Aufzeigen der Lebensverhältnisse der dort lebenden »deutschen Volksgruppen und Volksstämme« richten, die »(als ›permanente Minderheiten‹ in Pseudo-Nationalstaaten eines nach den ›Friedens‹Schlüssen von St. Germain, Neuilly und Sévres etablierten antideutschen ›zwischeneuropäischen‹ Staatengürtels) gelenkt« worden sind. Die Übernahme dieser Perspektive könne, so der Referent weiter, zum Verständnis der dem Nationalsozialismus positiv zugewandten Haltung beitragen und den Irrtum erklären, dem die deutschsprachige Minderheit aufgesessen habe. Der Referent verstand die Friedensschlüsse von 1919 als ›antideutsche Verträge‹ und erkannte die Staatlichkeit der in den Verträgen geschaffenen Länder nicht an. Zudem sah er das nationalistische Interesse der ›deutschen Volksgruppen und Volksstämme‹ nach einem Großdeutschen Reich als legitimes Ziel an.1194 Nicht die nationalistische Haltung der deutschen Minderheiten, sondern ihr irrtümliches Vertrauen in Hitler problematisierte der Referent. Ein Gutachter des Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹ des C.C. Buchners Verlag hob hervor, dass die Zustimmung der Bevölkerung zu Hitler erklärt werden könne, wenn »objektiv geschildert [werde], mit welcher immer lautstärker anschwellenden Propaganda er als Retter des Abendlandes gegen die Flut des Kommunismus glorifiziert« worden sei. Erst »dann gewänne der Schüler Verständnis für […] die Lähmung gegnerischer deutscher Kreise.« Tatsächlich, so der Sachverständige weiter, sei »dem Volk bis zum letztmöglichen Tage suggeriert« worden, dass Hitler »nur die Fesseln des Versailler Vertrags« habe ab-

1194 Zitate BayHStA MK 64521 Gutachten Ostkunde Referat 9. April 1970.

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schütteln wollen, weshalb die wahren Ziele der Ostraumpolitik nur die Führungszirkel erfahren haben.1195 Die Distanzierung vom Nationalsozialismus besaß wegen des Nachlebens der autoritären und nationalsozialistischen Ideologie also Fallstricke, die erst infolge der historischen Distanz und geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung gelöst wurden. Dies zeigt ein Zulassungsverfahren von 1972 auf. Der Gutachter war am Bayerischen Staatsinstitut für die Ausbildung von Realschullehrern tätig. In seinem Gutachten erkannte er, dass es der nationalsozialistischen Propaganda möglich war »mit nachhaltigem Erfolg bis auf den heutigen Tag die Herrschaftsstruktur der bewußt institutionalisierten und permanent wirksamen Rivalität und des Kompetenzwirrwars von Behörden und Personen zu verschleiern, mittels derer sich Hitler die Schiedsrichterrolle sicherte.«1196

Die Aussage reflektierte die gestiegene Bedeutung der nationalsozialistischen Herrschaftsstrukturen in der Geschichtswissenschaft. Die v. a. von Studierenden geführte Debatte um den Zusammenhang von bürgerlicher und faschistischer Staatsform1197 und der Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu sozialen Gruppen und Institutionen führte bald zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit den staatlichen Institutionen und der Herrschaftsform im ›Dritten Reich‹.1198 Gegen die auch aus der NS-Propaganda tradierte Vorstellung des ›Führerstaats‹ stand u. a. die Auffassung einer polykratischen Herrschaft, was der Gutachter aufgriff. Er kritisierte den hitlerzentrierten Deutungsmodus, da er nicht Hitler als Personalisation des NS-Regimes, sondern die rivalisierenden Institutionen in den Fokus rückte. In diesem Atemzug kritisierte er auch, dass die Propagandaformel des ›Führerstaats‹ bis in seine Gegenwart nachwirke. Kirchlicher Widerstand In einigen Gutachten erwarteten Sachverständige spezifische Widerstandsformen im Schulgeschichtsbuch und prüften, ob die Widerstandsgruppe um den 20. Juli sowie das Attentat auf Hitler legitimiert wurde. Auch die Darstellung des kirchlichen Widerstands debattierten die Akteure des Zulassungsverfahrens. So untersuchten die kirchlichen Sachverständigen, die bei Zulassungsverfahren der Volksschulbücher als Gutachter auftraten, die angemessene Repräsentation des kirchlichen Widerstands und legten Einspruch ein, falls die Darstellung aus ihrer Sicht unausgewogen war. Das evangelische Landeskirchenamt 1195 1196 1197 1198

Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963. BayHStA MK 64268 Gutachten vom 22. Januar 1973. Vgl. Kraushaar (1996). Vgl. Herbert (1992), S. 76–77.

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hob in seinem Gutachten zu Oldenbourgs ›Die Vergangenheit lebt‹ hervor, dass viele »gläubige evangelische Christen […] sich mit ihren Pfarrern zur ›Bekennenden Kirche‹« zusammengeschlossen haben. Aus Sicht des Gutachters würdigte das Manuskript diesen Aspekt nicht genügend. Als Beispiel nannte der Gutachter den bayerischen Landesbischof Hans Meiser als bekanntesten Vertreter der Bekennenden Kirche, dessen Verhaftung durch harten »Widerstand im ganzen Land« aufgehoben werden konnte.1199 Zudem sprachen sich die kirchlichen Gutachter auch gegen Manuskripte aus, in denen die Kirche als eine Institution dargestellt wurde, die vom NS-Regime vereinnahmt worden sei.1200 Der Gutachter, der für das Schulreferat des Erzbistums München die Volksschulbücher begutachtete, empfahl beispielsweise in seinem Gutachten zur Neubearbeitung von ›Bilder aus deutscher Geschichte‹ nicht nur, dass die Enzyklika ›Mit brennender Sorge‹ erwähnt werde, sondern sah auch für das Konkordat nicht die katholische Kirche verantwortlich, da dieser Vertrag auf Druck des Reiches abgeschlossen worden sei.1201 Im Gegensatz zum Vertreter der katholischen Kirche war das 1934 »mit Hitler« beschlossene Konkordat für einen Schulrektor »ein sehr schwerer Fehler der Kirche!« Dieser Fehler »[m]uß gesagt werden!«1202 Für einen Gutachter von ›Geschichte für Mittelschulen‹ solle »nicht verschwiegen werden, daß auch die Kirche die Gefahr eines Totalitarismus in Deutschland nicht zeitig erkannt und davor gewarnt hatte.«1203 Der Sachverständige erwartete, dass die Kooperation der katholischen Kirche mit den Nationalsozialisten dargestellt werde. Diese Zusammenarbeit habe sich beispielsweise in der Zustimmung der katholischen Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz und dem Konkordat gezeigt, argumentierte der Gutachter.1204 Dem Gutachter des Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹ war das darin gefasste Urteil über die Kirchen in ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus zu hart. Im ursprünglichen Manuskript sahen die Autoren anscheinend eine opportunistische Haltung zum Nationalsozialismus bei Vertretern der Kirche. Dagegen forderte der Gutachter, dass deutlicher herausgestellt werden müsse, wie die NSDAP sich mit den ›Deutschen Christen‹ um die Einhegung der Protestanten in den Nationalsozialismus bemüht habe, um zu einem ausgewogenen Urteil zu gelangen.1205 Der organisierte Widerstand wurde 1199 Zitate BayHStA MK 64520 Gutachten vom 2. November 1967. Das Gutachten wurde allerdings zu spät eingereicht. Der Referent notierte handschriftlich, dass das Buch bereits am 18. August 1967 zugelassen wurde. 1200 Vgl. BayHStA MK 64521 Gutachten vom 2. März 1970. 1201 Vgl. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 6. August 1964. 1202 Zitate BayHStA MK 63819 Gutachten vom 10. August 1952. Gutachten zum Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ aus dem Klett Verlag. 1203 BayHStA MK 64263 Gutachten vom 28. März 1968. 1204 BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972. 1205 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963.

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laut Gutachter des Manuskript von ›Zeitgeschichte und wir‹ aus dem List Verlag zwar genügend gewürdigt, doch ihm fehlte der geistige Widerstand sowie der unpolitische Protest, den er in kirchlichen Würdenträgern beider Konfessionen personalisiert sehen wollte.1206 Die Forderung, Namen von widerständigen Personen im Manuskript zu nennen, erwarteten mehrere Sachverständige. Dabei stellten sie auch einen Bezug zur bayerischen Geschichte her.1207 Bei der Forderung nach der Repräsentation des Widerstands waren zudem auch didaktische Überlegungen ausschlaggebend, wenn beispielsweise gefordert wurde, auf christliche, jugendliche Widerstandsformen einzugehen, da »das Buch für die Jugend bestimmt ist.«1208 Den kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den Schulgeschichtsbüchern zu repräsentierten galt anscheinend als Konsens der Akteure der Zulassungsverfahren. Wenige Gutachter beförderten eine kritische Darstellung der Kirchen im ›Dritten Reich‹ mit dem Argument der opportunistischen Haltung der Kirche wenigstens in den Anfangsjahren des NS-Regimes. Die Zulassungsverfahren zeigen zudem die Relevanz der Interessenvertretung auf, da die kirchlichen Gutachter stets darum bemüht waren, dass die Lehrwerke ein positives Bild der Kirchen im ›Dritten Reich‹ zeichneten. Repräsentativ? Kommunistischer und sozialistischer Widerstand Insgesamt sei es notwendig, »die Beteiligung aus allen Schichten« zu vermerken und den »Bombenanschlag vom 20. Juli 1944 als entscheidende Tat« herauszustellen, hieß es in einem Gutachten.1209 Diese Repräsentation aller Schichten des ›Volkes‹ im Widerstand war allerdings vom antitotalitären Konsens der Bundesrepublik geprägt. Die Schulbuchanalyse zum Topos ›Widerstand‹ zeigt, dass der kommunistische und sozialistische Widerstand bis in die 1960er Jahre keinen Eingang in die untersuchten Publikationen fand. Diese Unterrepräsentation des arbeiterbewegten Widerstands fand in den 1970er Jahren Kritiker: So hielt ein Gymnasialprofessor, der vom Institut für Zeitgeschichte mit einem Gutachten beauftragt wurde, das Kapitel zum Widerstand in Oldenbourgs ›Geschichte für Realschulen‹ »unzulänglich«, da das Kapitel neben dem bürgerlichen Widerstand auch »auf den SPD-Widerstand der ersten Jahre« hinzuweisen und jeweils die verschiedenen Motive und Ziele zu beschreiben habe.1210 Ein Schulrat wollte 1206 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 30. Juli 1962. 1207 Vgl. beispielsweise BayHStA MK 64265 Gutachten vom 24. März 1969. BayHStA MK 63835 Gutachten vom 12. Juni 1961. BayHStA MK 64526 Gutachten vom 7. August 1962. 1208 BayHStA MK 64519 Gutachten vom 2. Februar 1961. Ebenso argumentierte ein zweiter Gutachter in BayHStA MK 64263 Gutachten vom 28. März 1968. 1209 Zitate BayHStA MK 64519 Gutachten vom 2. Februar 1961. 1210 BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972.

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1972 im Gutachten zum gleichen Manuskript, dass neben dem nationalkonservativen Widerstand auch der kommunistische Widerstand ins Schulbuch einging, und zwar durch die Widerstandsgruppe ›Rote Kapelle‹.1211 Im schließlich 1973 veröffentlichten ›Geschichte IV. Neueste Zeit‹ konnte man nicht nur lesen, dass »[b]ereits unmittelbar nach der Machtergreifung […] überwiegend Sozialdemokraten und Kommunisten, ein Netz von Widerstandszellen in ganz Deutschland aufzubauen« versuchten. Es findet sich auch ein Satz zur ›Roten Kapelle‹: »In der Widerstandsgruppe ›Rote Kapelle‹ fanden sich ehemalige Kommunisten und Linksintellektuelle zur Spionagetätigkeit für die Sowjetunion zusammen.«1212 Die »Rote Kapelle« ist allerdings keine von der Sowjetunion gelenkte, spionierende Widerstandsorganisation, sondern ein Sammelbegriff der Gestapo für ein bestenfalls loses Netzwerk von Gruppen und Einzelpersonen gewesen. Die westdeutschen Nachrichtendienste behielten das von der Gestapo geschaffene Bild der »Roten Kapelle« sowie den Vorwurf des Hochverrats bei und wollten in der Bunderepublik das Fortwirken der »Roten Kapelle« erkennen, was zur Popularisierung der Vorstellung einer antideutschen, kommunistischen Spionageorganisation beitrug. So veröffentlichte das Wochenmagazin Der Spiegel 1968 eine mehrteilige Reportage zur Geschichte der »Roten Kapelle«, die auch auf den Informationen der bundesdeutschen Geheimdienste beruhte.1213 Erst mit dem Ende des Kalten Kriegs nahm der Widerwille der westdeutschen Öffentlichkeit auf die Bewertung der »Roten Kapelle« als legitime Widerstandsgruppe spürbar ab.1214 Vor diesem Hintergrund ist die Forderung des besagten Schulrats nach der Repräsentation der »Roten Kapelle« als legitime Widerstandsorganisation im Schulgeschichtsbuch frappierend. Sie markierte den gewandelten Zeitgeist, denn als mit Willy Brandt ein ehemaliger sozialistischer Widerstandskämpfer im Kanzleramt saß, der im Zuge der Neuen Ostpolitik eine Annäherung der beiden deutschen Staaten zum Ziel hatte, konnte auch der kommunistische Widerstand leichter in den Traditionsbestand aufgenommen werden.1215 Die Abhängigkeit der Repräsentation der verschiedenen Formen und Motive des Widerstands vom antitotalitären Konsens der bundedeutschen Nachkriegsjahrzehnte reflektierte Christoph Weisz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am In1211 BayHStA MK 64268 Gutachten vom 27. April 1972. 1212 Zitate Oldenbourg, Geschichte IV. Neueste Zeit, 1973, S. 105–106. Hervorhebung im Original durch Halbfette. 1213 Vgl. Winkler (2019b), S. 92–113. Der Serie begann mit Heft 21 und ließ kaum eine der antikommunistischen Befürchtungen aus. Unter einem Bild, das Soldatengräber zeigt, transformiert die Behauptung zur suggestiven Frage: »›Hunderttausend Soldaten von der Roten Kapelle verraten‹?«. Höhne (1968), S. 82. Das Urteil schien klar: Landesverrat. 1214 Mommsen (1992), S. S113. 1215 Vgl. Wolfrum (2002), S. 87–93.

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stitut für Zeitgeschichte. Er hob in einem Gutachten hervor, dass es im Manuskript von ›Geschichte für Mittelschulen‹ »nicht der historischen Realität [entspricht], wenn der Widerstand der linken Gruppierungen in einem Satz behandelt wird, während dem nationalkonservativen Widerstand fast eine ganze Seite eingeräumt wird.« Die verzerrte Repräsentation des Widerstands verstand er als Ausdruck der »ideologische[n] Grundhaltung der BRD, die sich »im bürgerlichmilitärischen Widerstand wiedererkennt«, was seiner Ansicht nach dann wenigstens offengelegt werden sollte, statt mit dem »verwaschenen Begriff ›freiheitliche und rechtliche Ordnung‹« zu operieren. Zudem problematisierte er auch den im Manuskript verwendeten Ausdruck des ›Jahres 0‹. Laut Weisz »gibt [es] im geschichtlichen Ablauf keinen absolut neuen Anfangspunkt«, was sich »an der Entwicklung der BRD besonders deutlich zeigen läßt.«1216 Weil der Kösel Verlag bereits die Druckfahnen vorbereiten ließ, bat der Verlag das Kultusministerium trotz der Einwände um die lernmittelfreie Zulassung des Bands.1217 Zwar setzte sich Christoph Weisz mit einigen Einwänden durch,1218 doch der linke Widerstand erhielt im entsprechenden Kapitel dennoch nicht mehr als einen Halbsatz. Die Forderung nach einer stärkeren Repräsentation sozialistischen und kommunistischen Widerstands fand im Zulassungsverfahren keinen hegemonialen Status.1219 Während die Repräsentation des sozialistischen und kommunistischen Widerstands in den Lehrwerken erst in den 1970er Jahren eingefordert wurde, wies kein Sachverständiger eigens darauf hin, dass der nationalkonservative Widerstand im Manuskript aufgenommen werden müsse. Da alle der untersuchten Schulgeschichtsbücher auf den Widerstand eingingen, war es nicht notwendig, die Relevanz des Widerstands im Zulassungsverfahren zu betonen. Dies legt eine über den Untersuchungszeitraum stabile hegemoniale Geschichtskultur nahe, was sich wohl darauf stützte, dass sich die offizielle Geschichtskultur der Bundesrepublik in der Tradition des konservativen Widerstands verortete. Allerdings äußerten sich manche Sachverständigen dazu, wie die Widerstandsgruppen um den 20. Juli 1944 dargestellt wurden. Im Zulassungsverfahren prüften die Gutachterinnen und Gutachter, ob das Attentat als legitime Widerstandsform dargestellt wurde. Dadurch spiegelten die Zulassungsverfahren eine geschichtspolitische Debatte der Nachkriegszeit.

1216 BayHStA MK 64272 Gutachten vom 27. Januar 1971. 1217 BayHStA MK 64272 Brief des Verlags an das Kultusministerium. 1218 So wurde ›arische Rasse‹ wie von ihm gefordert durchgehend in Anführungszeichen gesetzt und auch das ›Jahr 0‹ wurde nicht verwendet. 1219 Bezeichnenderweise forschte Weisz auch zum Zusammenhang von Geschichtskultur und politischer Haltung, siehe Weisz (1970).

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Legitimer Widerstand? Der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 In einer Studie zum juristischen Umgang mit dem Widerstand in der jungen Bundesrepublik wies Joachim Perels darauf hin, dass den verurteilen und verfolgten Widerstandskämpfern um den 20. Juli 1944 Entschädigungen zugesprochen wurden, was vor allem auf der nationalen Intention des 20. Juli gründete, Deutschland vor der totalen Niederlage zu bewahren.1220 Dagegen war in den 1950er Jahren in der Gesellschaft durchaus die Position verbreitet, dass das Attentat und der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 Landesverrat gewesen sei. Dieser Transmission des NS-Urteils in die Bundesrepublik, wurde bereits im sog. Remer-Prozess 1952 der Boden entzogen.1221 Laut Perels wurde zwar die »rechtsstaatliche Legitimation des Widerstands […] von der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der ihr folgenden untergerichtlichen Judikatur nicht aufgegriffen.«1222 Das Verfahren erzeugte aber laut Norbert Frei ein enormes Interesse der medialen Öffentlichkeit, sodass der sog. Remer-Prozess »zu einem öffentlichen Lehrstück wurde, ja zu einem normativen Akt, der entscheidende Grundlagen für die Verankerung des 20. Juli 1944 im Geschichtsbewußtsein der Bundesrepublik schuf.«1223 Die Frage nach der Legitimität des Widerstands, dies zeigt der kurze Überblick, war zum einen wichtiger Diskussionsgegenstand der jungen Bundesrepublik und zum anderen eng an das bundesrepublikanische Selbstverständnis einer bürgerlichen Demokratie geknüpft. Sowohl der Lehrplan für Höhere Schulen von 1959 wie auch der Volksschullehrplan von 1963 erwarteten, dezidiert auf den Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 einzugehen.1224 Dies spiegelt sich auch in den Schulgeschichtsbüchern sowie in der Debatte um die Repräsentation des Widerstands in den Zulassungsverfahren wider. Den Leitlinien offizieller Geschichtskultur folgend prüften die Sachverständigen bei der Darstellung der Widerstandsgruppe um den 20. Juli vor allem, inwiefern der Anschlag auf Hitler legitimiert wurde. Dabei sollte die »tragische 1220 Perels (1997), S. 365–366. Ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfern, die sich nach dem Verbot der KPD 1956 noch im kommunistischen Sinne betätigten, wurde der Entschädigungsanspruch entzogen. 1221 Der ehemalige Wehrmachtsoffizier Otto Ernst Remer war im Nationalsozialismus an der Niederschlagung des Umsturzversuchs infolge des Attentats vom 20. Juli 1944 beteiligt. In der Bundesrepublik war er Mitglied der rechtsradikalen Sozialistischen Reichspartei. Er bezichtigte die Beteiligten des Attentats 1951 als Landesverräter, weshalb er vom Braunschweiger Landesgericht 1952 wegen übler Nachrede und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu drei Monaten Haft verurteilt wurde. Zwar folge das Gericht der Argumentation des Staatsanwalts Fritz Bauer, doch es blieb die Ausnahme in der Rechtsprechung der jungen Bundesrepublik. Vgl. Munzert (2015). 1222 Perels (1997), S. 370. 1223 Frei (1995), S. 501. 1224 Siehe dazu Kapitel 2.1.

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Konfliktsituation«1225 herausgestellt werden, wofür die Sachverständigen auch den Soldateneid problematisiert sehen wollten.1226 In ihrem Gutachten zu ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ wies die Historikerin des IfZ darauf hin, dass die Kontakte mit dem ›feindlichen Ausland‹ dazu dienten, nach dem Sturz des NS-Regimes in Friedensverhandlungen treten zu können. Dieser Zusammenhang sollte herausgestellt werden, um dem »Einwand des Landesverrates vorzubeugen«.1227 Der Erstgutachter sah die Darstellung des Widerstands als das schwächste Kapitel des von ihm begutachteten Manuskripts von ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ an, weil der militärische Widerstand als opportunistische Gruppe dargestellt werde, die erst aktiv geworden sei, als die Niederlage nicht mehr aufzuhalten gewesen sei. Man bekomme so den Eindruck, dass die Widerstandskämpfer sich wegen des späten Eingreifens »gegenüber ihrem Volk schuldig gemacht haben«. Statt der Diskreditierung des militärischen Widerstands sollte »eine überragende Gestalt des Widerstandes der diabolischen Gestalt Hitlers und seiner Trabanten gegenübergestellt« werden.1228 Damit forderte der Mittelschullehrer eine Darstellung ein, die durchaus hegemonialen Statuts in den Schulgeschichtsbüchern besaß. Zudem sah er auch in den Bildbeigaben eine problematische Perspektivübernahme des Nationalsozialismus und reflektierte ihre didaktische Wirkung. Die Fotos erweckten den Eindruck, dass die Widerstandskämpfer des 20. Juli Verbrecher und die Richter honorable Persönlichkeiten gewesen seien, stellte der Gutachter fest. Da gerade Jugendliche für solche Bilder sehr empfänglich seien, sollte der Band statt einer Bildbeigabe zu den Schauprozessen ein Foto »vom Attentäter Stauffenberg (mit Auszeichnungen) bringen«.1229 Im veröffentlichten Lehrwerk wurde keine Abbildung Stauffenbergs eingebunden und ein Foto von Julius Leber vor dem Volksgerichtshof beibehalten. Das bearbeitete Foto zeigte aber den Widerstandskämpfer in Nahaufnahme, sodass das Gericht nicht zu sehen ist. Außerdem bot die Bildunterschrift eine Deutung Lebers als standhafte und gerechte Persönlichkeit an, dessen ernsthafte »Gewissensentscheidung […] sich in Haltung und Gesicht« spiegelte.1230 In einem vom Blutenburg Verlag eingereichten Manuskript monierte ein Gutachter, statt Tyrannenmord nur Tötung zu schreiben, »da der Begriff Mord der Notwendigkeit der Notwehr in diesem Falle nicht gerecht wird.«1231 Hans1225 So in BayHStA MK 63826 Gutachten vom 28. Juni 1967. 1226 Vgl. BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961. BayHStA MK 64263 Gutachten vom 28. März 1968. BayHStA MK 64272 Gutachten vom 22. Januar 1970. 1227 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 14. September 1960. 1228 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960, S. 11. 1229 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 12. Juni 1960, S. 4. 1230 BSV, Nationalsozialismus und Demokratie, 1961, S. 117. 1231 BayHStA MK 64265 Gutachten vom 14. März 1969.

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Dietrich Loock legitimierte die militärische Widerstandsbewegung in seinen Textvorschlägen für den BSV Band ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹. Zwar haben die Verschwörer des 20. Juli das »Odium des Hochverrats« auf sich genommen, doch ihr Ziel sei es gewesen, »das deutsche Volk vor der Katastrophe zu bewahren«, weshalb sie laut Loock »für uns zum Vorbild geworden« sind.1232 Zwar wurde diese Textstelle nicht wortgetreu übernommen, doch der Band hob die repräsentative Funktion des 20. Juli und das Dilemma des Eidbruchs hervor,1233 was einer sinngemäßen Weiterentwicklung des Textvorschlags entsprach. In den späten 1960er Jahren schlug ein Gutachter vor, die Stellungnahme zum Eid der schulischen Diskussion zu überlassen,1234 was möglicherweise mit dem Einzug konstruktivistischer und eher schülerorientierter Lehr-Lernformen zusammenhing, da besagter Gutachter einige Stellen im Manuskript aufzählte, in denen »kaum zum Vorteil der Schüler die Meinung des Autors zu deutlich zutage tritt.«1235 Anders als bei der Gewichtung und Verortung des Antisemitismus blieben die Einwände der Gutachterinnen und Gutachter zur Darstellung des Widerstands unwidersprochen, was die These einer hegemonialen Geschichtskultur zum nationalkonservativen Widerstand stützt. Die Forderungen nach der Repräsentation der verschiedenen Widerstandsformen sind zudem mit den Ergebnissen der Schulbuchanalyse komplementär: Der nationalkonservative Widerstand war vermutlich so stark kanonisiert, dass er von den Sachverständigen nicht mehr eigens eingefordert werden musste, weil jedes Manuskript bereits auf ihn einging. Der kirchliche Widerstand wurde eher problematisiert und durchaus mehr Raum verlangt, als Autorinnen und Autoren veranschlagten. Dagegen wollten erst in den 1970er Jahren einige Gutachter explizit die Darstellung der sozialistisch oder kommunistisch motivierten Widerstandsformen in die Lehrwerke aufnehmen, was als ein Echo des geschichtspolitischen Wandels in der BrandtÄra verstanden werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Gutachterinnen und Gutachter im Zulassungsverfahren als ›Torhüter‹ hegemonialer Geschichtskultur, insofern sie die Sedimentierung staatlicher Geschichtskultur in Lehrwerken kontrollierten und durchsetzten. Gleichwohl zeigen die Zulassungsverfahren, dass die Darstellung des Widerstands in Schulgeschichtsbüchern vor zeitgenössischen pädagogischen und didaktischen Kriterien begutachtet und dementsprechend angepasst wurde.

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BayHStA BSV 462 Redaktionelle Vorschläge vom 4. August 1961, S. 18. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 105. BayHStA MK 64263 Gutachten vom 28. März 1968, S. 9. BayHStA MK 64263 Gutachten vom 28. März 1968, S. 4.

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Zusammenfassung Die historische Deutung der mehrheitsdeutschen Bevölkerung im ›Dritten Reich‹ kreiste in den Schulgeschichtsbüchern und den Zulassungsverfahren um die Frage nach Schuld und Verantwortung. In den Zulassungsverfahren reflektierten die beteiligten Akteure die Darstellung der Bevölkerung im Spannungsfeld nationaler Pädagogik und kritischer, historischer Aufklärung über die Geschichte des Nationalsozialismus. Der Bezugsrahmen spiegelt die Mulitfunktionalität von Schulgeschichtsbüchern als politische, pädagogische und informatorische Medien sowie die kognitive und politische Dimension von Geschichtskultur wider. Insbesondere die Debatte um die Kollektivschuld zeigt die Reflexion der Lehrwerke vor dem Hintergrund des politischen und pädagogischen Auftrags der Schulgeschichtsbücher. Weder solle ein komplexes Beziehungsgefüge zwischen Volk und Staat die Schülerinnen und Schüler überfordern, noch soll eine einfache Darstellung dem Vorwurf kollektiver Schuld bzw. kollektiver Apologie das Wort reden. So diskutieren die Sachverständigen das Verhältnis von Regime und Bevölkerung in Bezug auf die nationalsozialistische Wirtschafts- und Außenpolitik und reflektierten die didaktische Fernwirkung bei der Darstellung dieser Politikfelder in den Schulgeschichtsbüchern. Zwar mussten die wirtschafts- und außenpolitischen ›Erfolge‹ des ›Dritten Reichs‹ geschildert werden, um ihre propagandistische Wirkung auf die Bevölkerung zu erklären. Dies barg jedoch die Gefahr einer verspäteten Attraktion des NS-Regimes auf die Jugendlichen. Dementsprechend charakterisierten die Schulgeschichtsbücher auch ein resistentes, jedoch verängstigtes und durch Propaganda geblendetes ›Volk‹, das kein Wissen über die NS-Massenverbrechen besessen habe. Dieser historischen Narration lag bis in die 1960er Jahre eine Vorstellung des Volks als homogenem, vom Staat getrenntem Kollektiv zugrunde. Die resistente Haltung des ›Volks‹ konnten die Autorinnen und Autoren an der Darstellung des Widerstands gegen das ›Dritte Reich‹ plastisch erläutern. Die Zulassungsverfahren zeigen den Konstruktcharakter der Schulbuchinhalte entlang dieser geschichtskulturellen Dimensionen auf. Gleichwohl war die Entscheidung über Inhalte von der geschichtskulturellen Hegemonie in den Zulassungsverfahren abhängig, was vor allem in der Thematisierung des Widerstands zeigt. Auch die Darstellung des Widerstands wurde von den Gutachterinnen und Gutachtern einer didaktischen Reflexion unterzogen. So wurde in Zulassungsverfahren der Einsatz von Bildmedien oder die Darstellung des Widerstands vor dem Hintergrund zeitgenössischer Vorstellung sinnvollen Lernens am Vorbild im Kontext der Demokratieerziehung diskutiert. Die Vermittlung historischen Wissens zum Widerstand hatte in diesem Zusammenhang auch eine geschichtspolitische Funktion. Erstens diente die Tradierung des nationalkonservativen Widerstands in der Bundesrepublik der Legitimation des bürgerlichen

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Staats und zur Abgrenzung von der sozialistischen DDR. Dies zeigte sich in der Auswahl der Widerstandsformen: Während der nationalkonservative Widerstand sowie der christliche Widerstand als Vorbilder apostrophiert wurden, fand der kommunistische Widerstand erst spät und zunächst ablehnend seinen Weg in die Lehrwerke, da er nicht die bürgerliche, nationale Freiheit, sondern das totalitäre System der Räterepublik angestrebt habe. Die Gutachterinnen und Gutachter legten Wert auf eine legitimierende und positive Darstellung des nationalkonservativen Widerstands. Zweitens konnte der Widerstand gegen das NS-Regime die resistente Haltung in der Bevölkerung belegen. Lehrwerke behaupteten wahrscheinlich auch deshalb, dass der bürgerliche Widerstand die Bevölkerung als dessen Elite repräsentierte und von moralischen Überlegungen geleitet gewesen sei, wodurch die Schulbuchmacherinnen und Schulbuchmacher ihn in scharfen Kontrast zum amoralischen Unrechtsregime setzen und als das ›andere Deutschland‹ figurieren konnten, in dessen Tradition sich die offizielle Geschichtskultur Bundesrepublik setzte. Diese Darstellung war auch ein langes Echo der zeitgeschichtlichen Forschung zum Widerstand der 1950er Jahre.1236 Die Gutachterinnen und Gutachter prüften auch, inwiefern die offizielle Geschichtskultur zum Widerstand in den Schulgeschichtsbüchern gespiegelt wurde. Erst in den 1970er Jahren äußerten Sachverständige auch Kritik an der mangelnden Repräsentation des sozialistischen und kommunistischen Widerstands in den Lehrwerken. Christoph Weisz vom IfZ erklärte das Ungleichgewicht anhand der antitotalitären Staatsräson der Bundesrepublik und reflektierte als einziger Gutachter den Zusammenhang von Schulbuchinhalten und staatlichem Selbstverständnis. Die Debatten in den Zulassungsverfahren sind zudem auch Ausdruck zeitgenössischer geschichtskultureller Entwicklungen. So lag der Zeitkern in der Auseinandersetzung um die Frage nach der kollektiven Schuld zwischen 1960 und 1965, als die Darstellung des Nationalsozialismus erstmals ausführlich von den Lehrplänen gefordert wurde. Im Gleichtakt zum Aufstieg der Sozialgeschichte wurde die klare Trennung von Bevölkerung und NS-Regime langsam aufgehoben. Die Lehrwerke der 1970er Jahre gingen auch darauf ein, dass Teile der mehrheitsdeutschen Bevölkerung in den nationalsozialistischen Staat ideologisch und institutionell integriert waren und die Verbrechen des Nationalsozialismus mitgetragen haben. Da eine differenzierende Darstellung der Bevölkerung in Schichten und Milieus keinen Anlass mehr zur Debatte um kollektive Schuld bot, lies die Diskussion bald nach. Erst mit der Auflösung eines kollektivistischen Volksbegriffs endeten auch die Debatten in den Zulassungsverfahren.

1236 Vgl. Metzler (2018), S. 87–96.

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Auch die Darstellung des Zweiten Weltkriegs diente den Akteuren der Zulassungsverfahren dazu, das Verhältnis von Mehrheitsdeutschen und NS-Regime zu bestimmen. Im folgenden Kapitel wird der Umgang mit diesem Themenfeld analysiert.

3.5. Opfer? Bevölkerung, Hitler und der Zweite Weltkrieg Die zum Konfliktfeld Kriegsverlauf aggregierten Aussagen in den Gutachten kreisten vor allem um zwei zusammengehörige Punkte: Zum einen sollte der durch die NS-Propaganda aufgebaute Mythos Hitlers als ›Größter Feldherr aller Zeiten‹ diskreditiert werden. Zum anderen sollte die mehrheitsdeutsche Bevölkerung als Opfer dargestellt werden. In der Darstellung des Zweiten Weltkriegs wurde Hitler als ideologisch motivierter Verbrecher dargestellt, die Mehrheitsdeutschen jedoch nicht in ihrer Rolle als Täter dargestellt, sondern als Opfer Hitlers gedeutet. Die Sachverständigen erwarteten deshalb, dass die Lehrwerke Hitler als unfähigen Militärstrategen zeichneten, der einen verbrecherischen Angriffskrieg geführt hat. Gegen Hitler habe die eigentlich integre Generalität sowie die mehrheitsdeutsche Bevölkerung gestanden, die als Soldaten im Krieg oder als Zivilisten in der ›Heimat‹ Opfer des Kriegs bzw. Hitlers Fanatismus gewesen seien, so die hegemoniale Position. Insbesondere Stalingrad, die Luftangriffe auf deutsche Städte sowie die Flucht und Vertreibung der Mehrheitsdeutschen waren zentrale Topoi der Gutachterinnen und Gutachter, um die Viktimität der dieser Gruppe darzulegen.

3.5.1. Schulbuchanalyse Zivilbevölkerung Das Opfer der Zivilbevölkerung erhielt seine Evidenz in der Darstellung der Luftangriffe auf deutsche Städte. Da die Bombardierungen der Städte der zentrale Diskussionsgegenstand war, werden die Luftangriffe in vorliegender Studie auch als ›Bombenkrieg‹ begrifflich gefasst. Darstellungen zeigen, dass Lehrwerke die Bombardierung nichtdeutscher Städte durch die Wehrmacht häufig nüchtern beschrieben und als pragmatische Notwendigkeit des Kriegsverlaufs einordneten.1237 Demzufolge standen bei der ›Luftschlacht um England‹ nicht die Verluste 1237 Eine grobe Skizze der Darstellung der Luftangriffe in Schulgeschichtsbüchern verschiedener Länder liefert Andrzejewski. Er erkennt in Lehrwerken der DDR eine politischideologische, in der Bundesrepublik eine sachlich-objektive ausgerichtete Darstellung des

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auf Seiten der britischen Zivilbevölkerung, sondern auf Seiten der deutschen Luftwaffe im Fokus, um den Abbruch der Invasion zu erklären.1238 Das Leiden der britischen Bevölkerung thematisierten die Schulgeschichtsbücher nur selten.1239 Lediglich das 1972 veröffentlichte ›Unser Weg durch die Geschichte‹ druckte ein Foto ab, das den Alltag im durch deutsche Bomben zerstörten London zeigte und in einer Bildunterschrift auch den Widerstandswillen der englischen Bevölkerung vermittelte.1240 Diese pragmatisch-militärische Deutung der deutschen Luftangriffe stand im Kontrast zur Deutung brutaler Luftangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung durch alliierte Luftstreitkräfte. Einige Bände stellten die Luftangriffe auf London und auf deutsche Städte direkt gegenüber: In ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ von 1964 konnten Leserinnen und Leser lernen, dass der nächtliche »Bombenkrieg auf deutsche Städte […] die Zivilbevölkerung zermürben sollte«, wohingegen es die »Aufgabe einer gleichzeitigen deutschen Luftoffensive war […], eine deutsche Invasion auf den britischen Inseln vorzubereiten.«1241 Für die Autoren stand dementsprechend das Leid der mehrheitsdeutschen Bevölkerung sowie die Zerstörung deutscher Städte durch das alliierte Bombardement im Vordergrund, die mal durch Sta-

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Bombenkriegs und in polnischen Lehrwerken ein »Bild des Märtyrertums der polnischen Nation.« Andrzejewski (2005), S. 276. Angesichts der Befunde dieser Arbeit ist diese Differenzierung nicht aufrechtzuerhalten. Die dominante Darstellung der Luftangriffe auf deutsche Städte in bundesdeutschen Lehrwerken ist eher Bestandteil eines exkulpierenden Narrativs der Deutschen als Opfer. C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 61. Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschulen, 1953, S. 162–163. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 138. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 150. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 142. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 175. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1959, S. 100. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 72. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 64. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 172. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 96. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 181. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 235. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 211. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 119. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 141. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 132. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 76. »Wochenlang ließ er [= Hitler] England durch Luftgeschwader heimsuchen. London wurde fast täglich angegriffen, die englische Zivilbevölkerung erduldete unsägliches Elend.« Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 176. »In diesen Monaten, die dem englischen Volke ›Blut, Schweiß und Tränen‹ brachten, spornte Winston Churchill sein Land zu zähem Widerstand an.« Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 104. »Vergeßt aber nicht, daß auch die deutschen Luftangriffe auf ausländische Städte ähnliche Verheerungen hinterließen!« Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 241. In der Bildunterschrift wurde ein Element des Fotos herausgegriffen: »›Hitlers Bomben können uns nicht unterkriegen. Unsere Apfelsinen kamen durch Mussolinis Meer!‹ Das steht an der Tafel an diesem Obststand mitten in London, zu einer Zeit, als die britische Hauptstadt unter den deutschen Angriffen mit Bomben (später mit Raketengeschossen) schwer zu leiden hatte.« Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 98. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 181.

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tistiken, mal sprachlich dramatisiert und häufig auch mit Bildern zerstörter Städte illustriert wurden.1242 Laut ›Grundzüge der Geschichte‹ stiegen wegen der Bombardements auf deutsche Städte »die Leiden der Zivilbevölkerung, die in diesem Kriege unvergleichlich mehr als in jedem früheren« habe erdulden müssen.1243 Laut ›Geschichte der Neusten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ sind »den ›Bombenteppichen‹ […] sinnlos [!] ganze Städte wie Dresden und Würzburg zum Opfer« gefallen.1244 Im 1966 veröffentlichten ›Wir erleben die Geschichte‹ heißt es, dass die Höhe der mehrheitsdeutschen Opferzahlen beim Luftangriff auf Dresden im Februar 1945 bei ungefähr 150 000 Menschen gelegen habe.1245 Zudem setzte die Darstellung des Bombenkriegs häufig Hitler als handelndes Subjekt ins Zentrum. Die Lehrwerke zeigten an der Niederlage in der sog. Luftschlacht um England die Unfähigkeit Hitlers bzw. der NS-Führungsriege zu sinnvollem militärisch-strategischen Handeln auf und betonten die Diskrepanz von NS-Propaganda und Realität. So brüstete sich Göring laut ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ mit der Behauptung, allein »mit seiner Luftwaffe […] England niederringen zu können, doch die hohen eigenen Verluste widerlegten ihn sehr bald.«1246 Der Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ sah anhand des Bombenkriegs die Diskrepanz zwischen mehrheitsdeutscher Bevölkerung und Hitler, da das Leiden der dieser Gruppe immer fürchterlichere Ausmaße angenommen habe, während Hitler sich in den sicheren Luftschutzbunker zurückgezogen habe. Daran ansetzend behauptete 1242 C.C. Buchners, Geschichte der Neuesten Zeit, 1952, S. 67. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 142. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 172. Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 178. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 169. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 107. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 155. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 146. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 186. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 76. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 99. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 240. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 211 u. 217. Oldenbourg, Reise in die Vergangenheit, 1967, S. 126. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 156. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 145. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 122 u. 123. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 102–103. Hirschgraben, Fragen an die Geschichte, 1979, S. 76. 1243 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 146. 1244 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 101. 1245 BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 217. Im damals vielbeachteten und auch ins Deutsche übersetzte Buch ›Der Untergang Dresdens‹ des späteren Holocaust-Leugners David Irving ging dieser von mindestens 135 000 Todesopfern aus. Siehe Irving (1963). Insgesamt sind etwa 18 000 Opfer belegbar. Die Polizeimeldung vom Februar 1945 berichtete von ca. 25 000 Opfern. Die von Irving erfundenen Zahlen schwankten. In der Auflage von 1966 ging Irving sogar von 250 000 Opfer aus, senkte die Zahl aber in späteren Werken wieder. Zur Entstehung, Rezeption und Berichtigung der falschen Opferzahlen bei Irving, siehe Evans (2001), S. 193–238. 1246 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 90.

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der Darstellungstext, dass Hitler »das deutsche Volk […] als ›unwürdig‹ von sich verstoßen und verdammt« habe.1247 Laut ›Aus deutscher Vergangenheit‹ brachte der »unmenschliche Befehl« Hitlers, englische Städte zu zerstören, nicht dem englischen, sondern »dem deutsche Volke noch namenloses Elend«.1248 Wenn Schulgeschichtsbücher in dieser Weise die Angriffe auf England mit den Luftangriffen auf deutsche Städte in Verbindung brachten, erschienen die alliierten Luftangriffe als Racheaktion am ›deutschen Volk‹ für die verbrecherischen Befehle Hitlers.1249 Lediglich ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ und ›Spiegel der Zeiten‹ evozierten – durch die Bildanordnung – einen Zusammenhang zwischen den Überzeugungen der Mehrheitsdeutschen und dem Bombenkrieg. So verband ›Spiegel der Zeiten‹ 1972 die jubelnde Menschenmenge bei Goebbels’ berühmter Sportpalastrede mit der Zerstörung deutscher Städte.1250 In ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ kontrastierte die Bildanordnung des Bandes die jubelnde Menschenmenge an der Reichskanzlei am Tag der ›Machtübernahme‹ mit einem Bild der zerstörten Reichskanzlei von 1945.1251 Der zwei Jahre später herausgegebene Band ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ vermied diese Bildanordnung. Stattdessen wurde mit einer Bildüberschrift zu einem Foto der zerstörten Reichskanzlei ein Zusammenhang zwischen Machtübernahme und der Zerstörung deutscher Städte hergestellt.1252 Die Rolle der Zivilgesellschaft als Opfer des Zweiten Weltkriegs konnte auch am Themenfeld ›Flucht und Vertreibung‹ belegt werden, das zudem stellenweise mit antikommunistischen Obertönen verbunden wurde. Obwohl Flucht und Vertreibung zwei unterschiedliche Migrationsbewegungen fassen, einerseits die Flucht vor den Auswirkungen des Krieges, andererseits die Vertreibung von Deutschen nach dem Krieg, stellten sie die Lehrwerke wegen der Konsequenzen für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft häufig zusammen dar. Die viktimisierende Deutung von ›Flucht und Vertreibung‹ diente mitunter der Nivellierung nationalsozialistischer Verbrechen. Der Mittelschulband ›Europa und die Welt‹ von 1953 urteilte beispielsweise, nachdem der »Leidensweg der deutschen Ostbevölkerung« geschildert wurde, dass in »der zweitausendjährigen an Leid und Not reichen deutschen Geschichte« keine »derartige Katastrophe vom

1247 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 156. 1248 Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 67. 1249 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 116. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 151. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 101–102. 1250 Vgl. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 145. 1251 Vgl. Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 168–169. 1252 Vgl. Lurz, Geschichte der Neuesten Zeit, 1956, S. 153.

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deutschen Volk«ertragen worden sei wie die des Jahres 1945.1253 In ›Grundzüge der Geschichte‹ wurde die Flucht und Vertreibung von Mehrheitsdeutschen in Mittel- und Osteuropa schuf für die Vertreibung der Deutschen den Neologismus »furchtbare Deutschenverfolgung«1254 und behauptete, dass tausende Deutsche nach Kriegsende in Konzentrationslagern gestorben seien.1255 Die dadurch eröffnete Analogie zum Holocaust wurde vom Lehrwerk nicht aufgelöst. In den Schulgeschichtsbüchern der 1950er Jahre wurde die Vertreibung wegen der seit Jahrhunderten anhaltenden Siedlung der Deutschen,1256 insbesondere wegen der Härte gegen die Zivilbevölkerung und selten wegen der fraglichen Legalität als Unrecht angesehen.1257 Häufig wurde Gewalt gegen die Mehrheitsdeutschen im Zuge der Vertreibung als Racheaktionen für die Verbrechen des NS-Regimes gewertet. Dies hielt stellenweise bis in die 1970er Jahre an. So behauptete der Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ 1971: »Das Regime erzeugte nicht nur Haß gegen den Nationalsozialismus und seine Repräsentanten, sondern gegen die Deutschen schlechthin – einen Haß, den dann 1945 auch viele unschuldige Opfer in furchtbarer Weise zu spüren bekamen«.1258

Laut Westermanns ›Aus deutscher Vergangenheit‹ hatten die Vertriebenen »die unmittelbaren Folgen vorangegangener Untaten, mit denen der deutsche Name belastet war, erleiden« müssen.1259 Dass die Westalliierten nicht gegen die Verbrechen im Zuge der Umsiedlung der Mehrheitsdeutschen vorgingen, erklärte ›Geschichte unseres Volkes‹ damit, dass die Öffentlichkeit »die Gräueltaten der nationalsozialistischen Machthaber noch nicht vergessen« habe.1260 Zudem äußerten die untersuchten Texte häufig die Furcht der Zivilbevölkerung vor der heranrückenden Roten Armee oder den bolschewistischen Vergeltungsmaßnahmen, ohne über den Stellenwert des Antikommunismus in der NS-Propaganda zu reflektieren oder tatsächliche Maßnahmen der Roten Armee

1253 Zitate Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschule, 1953, S. 171–172. 1254 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 146. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 149. 1255 Die Wortschöpfung ›Deutschenverfolgung‹ nutzte auch Lurz, Geschichte der neuesten Zeit, 1956, S. 157. 1256 Vgl. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 113. Westermann, Wege in die Welt, 1955, S. 217. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1959, S. 105. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 78. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 111. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 250. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 225. 1257 Lurz, Geschichte der neuesten Zeit, 1956, S. 156. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 149. 1258 Vgl. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 146. 1259 Westermann, Aus deutscher Vergangenheit, 1965, S. 252. 1260 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 128.

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darzulegen.1261 Dies perpetuierte die durch Propaganda geschürte Furcht vor dem ›Bolschewismus‹.1262 Stellenweise wurde die Rote Armee als Naturgewalt apostrophiert, deren Ziel verängstigte und hilflose deutsche Zivilisten gewesen seien.1263 In der Bildunterschrift zu einem Foto, das einen Flüchtlingstreck zeigt, ist im Band ›Bilder aus deutscher Geschichte‹ beispielsweise zu lesen: »Aufgeschreckt und gehetzt von den anstürmenden Russen flohen diese gequälten Menschen nach dem Westen.«1264 »Was […] die ost- und mitteldeutschen Gebiete durch die Russen an Mord, Brandstiftung, Frauenschändung und Verschleppung erlebten,« hat laut ›Grundriss der Geschichte‹ »die schlimmsten Befürchtungen des Volkes und der westlichen Welt« übertroffen.1265 Die angeblichen Racheaktionen schienen den Holocaust in den Schatten gestellt zu haben, der tatsächlich die schlimmsten Befürchtungen der westlichen Welt übertroffen hat.1266 Daraus erklärten sich die Autoren auch die hastigen Fluchtbewegungen. Die Toten der Flucht seien aber »auch […] ein Opfer der unverantwortlichen Politik Hitlers« gewesen.1267 Im Oberstufenband von ›Geschichtliches Werden‹ mutmaßten die Verfasser, dass die Wohnungs- und Versorgungsprobleme, die sich mit dem Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen ergaben, »von kommunistischer Seite vielleicht erwartet worden« waren, um »sozialrevolutionäre Bestrebungen«zu fördern.1268 In der »Bolschewisierung Mitteleuropas« und der Vertreibung der »wichtigsten Vermittler westlicher Kultur nach Osten« – gemeint sind die deutschen Siedler in Mittel- und Osteuropa – sah der Oberstufenband ›Europa und die Welt‹ eine paradoxe Ausgangslage, da der »Freiheitskampf der Demokratien […] mit neuem politisch-moralischem Unrecht und einer gewaltigen kulturellen Schrumpfung des Abendlandes« geendet habe.1269 Neben dem Oberstufenband 1261 Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 142. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 174. Lurz, Geschichte der neuesten Zeit, 1956, S. 156. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 147. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 76. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 100. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 161. 1262 Zur Propaganda der Furcht vor der ›jüdisch-bolschewistischen Rache‹ siehe Longerich (2007a), S. 263–296. 1263 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 108. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 100. 1264 Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, 169. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Bild abgedruckt, das deutsche Soldaten zeigte, die gerade einen polnischen Schlagbaum brechen. 1265 Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 192. 1266 Zur Rezeption des Holocaust in den US-amerikanischen Medien zum Kriegsende und der unmittelbaren Nachkriegszeit siehe Frei (1987). 1267 Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 192. 1268 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 162. 1269 Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 174.

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›Geschichtliches Werden‹1270 sah nur die Publikation ›Geschichte unseres Volkes‹ die Verantwortung für die chaotische Flucht und ihrer desaströsen Folgen für viele Flüchtlinge in der Führungsriege des Nationalsozialismus, denn »die braunen Machthaber« leugneten »zunächst meist jede Gefahr für die einzelnen Gebiete«. Deshalb habe »die Zivilbevölkerung fast immer Hals über Kopf fliehen« müssen.1271 Lediglich das im Lurz Verlag 1956 veröffentlichte ›Geschichte der neuesten Zeit‹ ging neben den Geflüchteten und Vertriebenen auch auf die Lage der displaced persons im ehemaligen Reichsgebiet ein: Die ehemaligen Zwangsarbeiter haben laut Band ebenso wie die Mehrheitsdeutschen den Kommunismus abgelehnt und »im Westen bleiben« wollen. Dagegen sind »Juden, die den nationalsozialistischen Terror überlebt hatten, […] vor den Polen und Russen, von denen sie sich auch nichts Gutes erwarteten«, geflohen.1272 Verbrechen Neben der Darstellung der Kriegsauswirkungen auf die Mehrheitsdeutschen rissen viele Schulgeschichtsbücher auch die Verbrechen des Nationalsozialismus gegen die Bevölkerung in den besetzten Gebieten an.1273 In den untersuchten Schulgeschichtsbüchern erhielt die Darstellung des Kriegsverlaufs breiten Raum, der allerdings im Untersuchungszeitraum abnahm.1274 Dagegen erhielt die Darstellung der NS-Verbrechen während des Krieges mehr Gewicht. So setzte das 1952 veröffentlichte ›Geschichte der neuesten Zeit‹ aus dem Hause Buchner noch 24 Zeilen inklusive Überschrift an, um sämtliche NS-Verbrechen zu schildern,1275 während das 1972 veröffentlichte ›Spiegel der Zeiten‹ für die nationalsozialistische Lebensraumpolitik in den eroberten Gebieten der Sowjetunion zwei Seiten vorsah.1276 Diese Publikation druckte zudem als einzige je ein Bild ab, das die katastrophalen Bedingungen der sowjetischen Kriegsgefangenen1277 und die 1270 1271 1272 1273 1274

1275 1276 1277

C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 161. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1967, S. 143. Lurz, Geschichte der neuesten Zeit, 1956, S. 157. Da die Darstellung des Holocausts in den untersuchten Schulgeschichtsbüchern bereits in Kapitel 3.3.1. besprochen wird, wird hier nicht nochmals darauf eingegangen. Siehe dazu auch die Ergebnisse der Schulbuchanalyse von Ernst Uhe. Der ›Zweite Weltkrieg‹ nahm in den Schulbüchern der Bundesrepublik den meisten Platz ein, der für die Darstellung des Nationalsozialismus zur Verfügung stand. Die Tendenz war aber fallend. Waren zwischen 1949 und 1960 durchschnittlich über vierzig Prozent für die Darstellung des Kriegsgeschehens vorgesehen, lag dieser Wert in den Jahren 1961 bis 1971 bei dreißig Prozent – und damit immer noch deutlich über den Themenbereichen ›Aufstieg des Nationalsozialismus‹, ›Innenpolitik‹, ›Außenpolitik‹ und ›Widerstand‹, vgl. Uhe (1972), S. 36– 37. C.C. Buchners, Geschichte der neuesten Zeit, 1952, S. 62–63. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 133–135. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 133.

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Opfer der ukrainischen Zivilbevölkerung1278 illustrierte, womit ein emotionaler Zugang zu den Opfern der Verbrechen ermöglicht wurde.1279 Mit Ausnahme des 1971 veröffentlichten ›Geschichte für Realschulen‹ erhielt das Thema NS- und Kriegsverbrechen kein eigenes Kapitel in den untersuchten Lehrwerken,1280 sondern blieb in den Ausführungen zum Kriegsgeschehen oder im Kapitel zum Holocaust eingebunden. Die verschiedenen Formen und Konsequenzen der Verbrechen, die von Raub bis Massenmord reichten, waren deshalb häufig im Darstellungstext verstreut oder wurden auf engem Raum verdichtet. Da die Perspektive der Erzählung auf den Konsequenzen der Verbrechen für den Kriegsverlauf lag, erhielt das Leid der terrorisierten Bevölkerung in den besetzten Gebieten keinen hohen Stellenwert. Die Schilderung der NS- und Kriegsverbrechen kam in vielen Schulgeschichtsbüchern ohne die Benennung konkreter Täterinnen und Täter aus, indem beispielsweise die Beschreibung der Verbrechen ins Passiv gesetzt oder Hitler pars pro toto als Akteur figuriert wurde. Daneben waren auch unpersönliche Pronomina üblich. Paradigmatisch hieß es im Mittelschulband ›Europa und die Welt‹: »Es kamen Grausamkeiten vor, die weder in der deutschen noch in der russischen Armee vorher je denkbar gewesen waren.«1281 Die Rhetorik des Unkonkreten zeigte sich auch in C.C. Buchners Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹. Hier konnten die Schülerinnen und Schüler zur Zwangsarbeit lesen: »Als die Zahl der Kriegsgefangenen nicht mehr ausreichte, verpflichtete man Zivilarbeiter oder verschleppte Tausende von Arbeitern aus den besetzten Gebieten nach Deutschland.«1282 Laut ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ wurde der »polnische Rumpfstaat […] von Hitler zerschlagen und ein ›Generalgouvernement‹ gebildet, in dem nun nationalsozialistische Willkürherrschaft um sich griff.«1283 Der Umgang mit den NS- und Kriegsverbrechen war in den untersuchten Publikationen zudem davon geprägt, dass die Verantwortung für die Verbrechen auf Hitler und dessen »Paladine« reduziert wurde. In jüngeren Lehrwerken wurden vermehrt auch eigene NS-Gliederungen genannt, die mit der Durchsetzung der Verbrechen beauftragt wurden, während die Wehrmacht als integre 1278 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 135. 1279 Vgl. zur Bedeutung von Emotionalität in aktuellen Schulgeschichtsbüchern siehe Oswalt (2013). Zur Relevanz der Emotionen in der jüngeren Geschichte des historischen Lernens siehe Borries (1992). Zur Achtung der Gefühle in historischen Lehr-Lern-Settings, siehe Barricelli (2013b). In diesem Kontext verweist Bert Freyberger auch auf die Möglichkeit, Erinnerungsorte des Holocausts als lokale außerschulische Lernorte und Orte forschenden Lernens einzubinden, siehe Freyberger (2018), S. 293–295. 1280 Vgl. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 131–132. 1281 Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschule, 1953, S. 166. 1282 C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 174. 1283 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 89.

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Organisation geschildert wurde, die an Verbrechen nicht beteiligt gewesen sei, jedoch die Konsequenzen habe ertragen müssen. So berichtete der Mittelschulband ›Europa und die Welt‹ beispielsweise, dass die deutschen Soldaten »in mustergültiger Ordnung Leben und Eigentum der Franzosen achteten.«1284 Hitler habe eigens ›Sonderkommandos‹ aufstellen müssen, die seine verbrecherischen Befehle ausgeführt haben, da er gewusst habe, »daß er der deutschen Armee und seinem Offizierskorps derartige Menschenvernichtungsbefehle nicht zumuten durfte.«1285 In ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ hieß es, dass ein spezieller ›Führerbefehl‹ das Erschießen sowjetischer Kommissare angeordnet habe. Zur Rolle des Militärs führt das Lehrwerk aus: Zwar haben »mehrere Armeeführer ihre größten Bedenken gegen diesen völkerrechtswidrigen Mordbefehl« angemeldet, doch der Befehl sei nicht zurückgenommen worden. Ihn habe nicht das Militär, sondern »›Einsatzkommandos‹ der SS und des SD« durchgesetzt, was »zum fanatischen Haß« auf Seiten der Bevölkerung in den besetzten Gebieten geführt habe, die sich in Partisanentruppen zum Kampf gegen die Wehrmacht zusammengeschlossen haben.1286 Laut dem 1963 veröffentlichten ›Geschichte unseres Volkes‹ habe »Hitler den Generälen mitleidlose Härte anempfohlen«, weshalb »Hitler auch für den Tod von Hunderttausenden von Kriegsgefangenen verantwortlich« gewesen sei. Da sich wegen dieser Verbrechen Widerstandsgruppen bildeten, die »den Deutschen ihre Grausamkeiten mit gleicher Münze heimzahlten«, wurden die Truppen zudem »entscheidend geschwächt.«1287 Die Schulgeschichtsbücher trennten auch zwischen der strategisch operierenden Wehrmacht und den ideologisch operierenden NS-Gliederungen. Laut ›Grundriss der Geschichte‹ hat die Ursache des Partisanenkriegs darin gelegen, dass »die deutsche Besatzung den Verhältnissen nicht gerecht wurde, daß die Militärverwaltung zwar human, die daneben bestehenden SS- und SD-Instanzen aber meist brutal vorgingen«.1288 Als distinktes Merkmal des Zweiten Weltkriegs zu bisherigen Kriegen hob ›Reise in die Vergangenheit‹ hervor, dass nicht mehr allein die »Tapferkeit der Soldaten und das Geschick der Feldherren« entscheidend für den Kriegsverlauf gewesen seien. Neben den Soldaten sei der »Wissenschaftler, der Erfinder und Organisator immer neuer, furchtbarer Massenvernichtungsmittel« getreten.1289 Schließlich haben laut ›Spiegel der Zeiten‹ von 1972 weder Kriegsnotwendigkeiten noch »persönliche Schuld«, sondern der »Wahnsinn der Rassentheorie« den Ausschlag für die Massenmorde an Polen, 1284 1285 1286 1287 1288 1289

Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschule, 1953, S. 162. Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschule, 1953, S. 160. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 96–97. Zitate Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 116–117. Klett, Grundriss der Geschichte, 1963, S. 185. Westermann, Reise in die deutsche Vergangenheit, 1965, S. 239.

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sowjetischen Kommissaren und Kriegsgefangenen gegeben, wobei die »Regie der Vernichtungsmaschine in den Händen der SS-Polizeimacht« gelegen habe.1290 Die Beteiligung der Bevölkerung an den nationalsozialistischen Verbrechen war in den Lehrwerken der 1950er und 1960er Jahre bestenfalls ein randständiges Thema. Zwei Bände gingen auf die Rolle der Mehrheitsdeutschen an den NS- und Kriegsverbrechen ein. So erwähnte ›Geschichte unseres Volkes‹ im Rahmen eines Arbeitsauftrags, dass die Deutschen »die verbrecherischen Befehle […] aus falsch verstandenem Gehorsam oder weil sie die Deutschen für ein ›Herrenvolk‹, die anderen Völker für »›minderwertig‹ hielten« durchgeführt haben. An diese Feststellung schloss sich ein Arbeitsauftrag an. Er forderte die Lernenden dazu auf, eine begründete Position zur Frage einzunehmen, ob es »›wertvolle‹ und ›minderwertige‹ Völker« gebe, wobei die Verfasser einen nicht näherbestimmten Unterschied zwischen ›primitiv‹ und ›minderwertig‹ voraussetzten.1291 Mit euphemistischem Vokabular forderte ›Aus deutscher Vergangenheit‹ die Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich von Zeitzeugen erzählen zu lassen, »wie […] Fremdarbeiter (!) in deinen Heimatort kamen und wie sie dort behandelt wurden!«1292 Die NS- und Kriegsverbrechen wurden häufig an die nationalsozialistische Weltanschauung Hitlers rückgebunden, da die sog. Lebensraumpolitik oder die rassistische Ideologie als Motivation der Verbrechen genannt wurden. In einigen Fällen führten die Schulbücher die Namen von NS-Organisationen ein, die mit den Massenvernichtungen beauftragt wurden. Die Wehrmacht wurde dagegen nicht als Akteur gezeichnet, sondern erschien in den Deutungsangeboten der Lehrwerke eher als indirektes Opfer der ideologiegetriebenen Verbrechen. Der geschichtskulturell behauptete Gegensatz von Wehrmacht und NS-Regime wird im Folgenden skizziert. Resistente Offiziere – geopferte Mannschaften Insbesondere den militärischen Widerstand gegen Hitler, der beim Attentatsversuch vom 20. Juli eine tragende Rolle hatte, führten die Schulgeschichtsbücher häufig an.1293 In vielen Lehrwerken wurden die Offiziere der Wehrmacht eingeführt, um die Unfähigkeit Hitlers in militärischen Fragen aufzuzeigen. So haben die Offiziere laut der untersuchten Schulgeschichtsbücher der 1950er und 1960er Jahre gegen die Kriegspläne Hitlers opponiert, was dieser mit der Absetzung der

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Zitate Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 138. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 124. Auer, Aus deutscher Vergangenheit, 1961, S. 66. Siehe hierzu Kapitel 3.4.1.

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resistenten Generäle beantwortet habe.1294 Die Gegenüberstellung von anständig gebliebenen, strategisch operierenden Offizieren und einem unfähigen, von Ideologie getriebenen Hitler verdichtete sich in den Schulgeschichtsbüchern in der historischen Person Erwin Rommels, der in 22 der untersuchten Schulgeschichtsbücher namentlich im Kontext der Gefechte in Afrika, der Landung in der Normandie sowie im Rahmen des militärischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus erwähnt wurde. Der General wurde in den Schulgeschichtsbüchern als meisterhafter Militärstratege gezeichnet, der »stets ritterlich und anständig«1295 kämpfte und als Verkörperung »alten deutschen Offiziersgeist[s]«1296 galt. Folgt man den Schulgeschichtsbücher seit den 1960er Jahren, hat Rommel im Laufe des Zweiten Weltkriegs eine oppositionelle Haltung zu den militärischen Überlegungen Hitlers entwickelt und Hitler bei Kritik zu militärischen Fragen offen adressiert.1297 Einige Publikationen rechneten den Generalfeldmarschall sogar dem militärischen Widerstand zu.1298 Die Faszination für Rommel ergab sich aus mehreren Aspekten. Zum einen speiste sie sich aus dem in der NS-Propaganda geschaffenen Mythos vom unbesiegbaren, kühnen Militärstrategen,1299 der bis in die Nachkriegsjahrzehnte nachwirkte. Daneben war auch der Kriegsschauplatz entscheidend, in dem Rommel kämpfte. Für die bundesdeutsche Geschichtskultur bot sich der Afrikafeldzug laut Erwin Rommels Biographen Georg Reuth an, da es die Massenverbrechen, wie sie im Ostfeldzug üblich waren, nicht gegeben habe.1300 1294 C.C. Buchners, Geschichte der neuesten Zeit, 1952, S. 58. Blutenburg, Europa und die Welt. Mitteschule, 1953, S. 151. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 126. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 167. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1955, S. 162. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 70. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 111–112. C.C. Buchners, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 166–167. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 229–230. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 124. 1295 Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 73. 1296 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 91. 1297 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 99–100. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 103. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt,1964, S. 201. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 218. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 136. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 104. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 123. 1298 Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 188. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 75. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 178. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 105. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 113. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 131. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 153. 1299 »Daß […] er schließlich zum Mythos werden konnte, lag […] weniger an Rommels operativen Qualitäten als vielmehr an seinem besonderen Verhältnis zur Propaganda.« Reuth (1997), S. 468. 1300 Vgl. Reuth (1997), S. 469. Laut Ralf Georg Reuth ist Rommel nie im Widerstand aktiv gewesen. Zwar habe er vom geplanten Attentat gewusst, sich aber am Umsturzversuch nicht beteiligen wollen. Hitler habe er bis zu seinem Suizid verehrt. Rommel befürwortete einen

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Die mangelnde Kompetenz Hitlers in militärischen Fragen wurde in den Schulgeschichtsbüchern immer wieder hervorgehoben, indem die Generalität in Opposition zu Hitler dargestellt bzw. als ›Sündenbock‹ seiner fehlerhaften Strategie gedeutet wurde.1301 So hat Hitler laut Oberstufenband ›Europa und die Welt‹ bei den Vorbereitungen zum Überfall auf die Sowjetunion »den Rat seiner Generäle« missachtet und »keine Winterausrüstung bereitstellen« lassen, was den Rückzug der Armee infolge des Wintereinbruchs erzwungen habe.1302 In ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ ist zu lesen, dass Hitler seine Generäle stets auch für das in die Verantwortung genommen habe, »was seine eigenen Befehle verschuldet hatten.«1303 Im Topos Stalingrad spitzte sich diese Gegenüberstellung zu: Die deutschen Soldaten seien für die ideologischen Motive Hitlers und gegen den Rat der Generäle in Stalingrad geopfert worden. Stalingrad galt in Schulgeschichtsbüchern als Kriegswende und »Massengrab«1304 der deutschen Soldaten.1305 Über zwanzig der untersuchten Schulgeschichtsbücher brachten die vielen toten Soldaten im Gefecht um Stalingrad mit der Fehlentscheidung Hitlers in Verbindung.1306 Der »verblendete oberste Befehlshaber«1307, wie er in ›Europa und die Welt‹ bezeichnet wurde, habe den Ausbruch der eingekesselten Soldaten

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Waffenstillstand im Westen, um den westalliierten Streitkräften einen zügigen Durchmarsch ins Deutsche Reich zu ermöglichen und ein weiteres Vordringen der Roten Armee zu verhindern. Vgl. Reuth (2013), S. 283–285. Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelschule, 1953, S. 162. Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 170.BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 100. Westermann, Reise in die Vergangenheit, 1965, S. 236. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 213. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 135. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 142–145. Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 142. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1972, S. 127. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 123. Zitate Blutenburg, Europa und die Welt. Oberstufe, 1954, S. 170. Lurz, Geschichte der neuesten Zeit, 1956, S. 150. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 128. Zu der Darstellung ›Stalingrads‹ in jüngeren Lehrwerken, vgl. Benz (2003). C.C. Buchners, Geschichte der neuesten Zeit, 1952, S. 64. Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelstufe, 1953, S. 169–170. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1953, S. 140. Lurz, Bilder aus deutscher Geschichte, 1954, S. 177. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 106–107. Westermann, Wege in die Welt, 1955, S. 215. Diesterweg, Grundzüge der Geschichte, 1957, S. 144. Klett, Grundriss der Geschichte, 1958, S. 181–182. Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 74. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 175. BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 95. List, Zeitgeschichte und wir, 1962, S. 98. BSV, Unsere Geschichte, Unsere Welt, 1964, S. 191. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1966, S. 215. Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 122–123. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 150. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 129. Hirschgraben, Unser Weg durch die Geschichte, 1972, S. 100. BSV, Wir erleben die Geschichte, 1974, S. 122. Blutenburg, Europa und die Welt. Mittelstufe, 1953, S. 169–170.

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verboten. Dadurch »opferte« er laut ›Geschichte für die Jugend‹ seinem »Eigensinn Hunderttausende von Menschenleben.«1308 Zwei Bände übten auch Kritik am Generalstab: Der Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ erkannte in der Schlacht von Stalingrad auch die »Hörigkeit der Truppenoffiziere«, da sie nicht gegen Hitler aufbegehrt haben.1309 Auf gleiche Art argumentierte ›Geschichte für Mittelschulen‹ acht Jahre zuvor: Da kein General gegen Hitler opponiert habe, die Generäle sich aber gegenseitig die Entscheidungsgewalt zugeschoben haben, enthüllten die »Operationen um Stalingrad« auch das »Ausmaß der Verantwortungslosigkeit innerhalb der deutschen Generalität.«1310 Zusammenfassung In der Analyse von Schulgeschichtsbüchern der 1970er und 1980er Jahre zum Thema Kriegsbeginn und Kriegsverlauf kommt Hans-Heinrich Nolte zu dem Schluss, dass bundesdeutsche Schulgeschichtsbücher den Krieg als deutsches Schicksal und Verhängnis interpretierten und die katastrophalen Konsequenzen des Kriegs für die europäischen Nachbarn, besonders der Sowjetunion »nicht deutlich gemacht« haben.1311 Die Ergebnisse der vorliegenden Studie erlauben den Schluss, dass die von Nolte untersuchten Lehrwerke tradierte Deutungsmuster aus den Nachkriegsjahrzehnten übernahmen. Anhand der Topoi Bombenkrieg sowie Flucht und Vertreibung konnte die mehrheitsdeutschen Bevölkerung als Opfer des Nationalsozialismus belegt werden. Demgegenüber nahm die Darstellung der Kriegsverbrechen und NS-Verbrechen in Osteuropa wenig Raum in den Schulgeschichtsbüchern ein. Der Entschluss zu nationalsozialistischen Massenverbrechen sowie ihre Durchsetzung wurden in der Regel allein Hitler angelastet oder in unpersönlichen Pronomen gefasst. In einigen Fällen nannten die Lehrwerke zwar auch NS-Organisationen, doch die Rolle der Wehrmacht bei diesen Verbrechen wurde nicht problematisiert und stellenweise sogar ausgeschlossen. Stattdessen deuteten die meisten der untersuchten Lehrwerke die Wehrmacht auf Ebene der Generäle als Gegengewicht zu dem von der NS-Ideologie getriebenen Hitler und auf Ebene der einfachen Mannschaften als Opfer seiner Fehlentscheidungen. Analog zur Zivilbevölkerung wurden mindestens die Mannschaftsgrade der Wehrmacht als eine soziale Gruppe gedeutet, die nicht nur keine direkte Verantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus getragen habe, sondern selbst ein Opfer des 1308 1309 1310 1311

Mundus, Geschichte für die Jugend, 1959, S. 74. C.C. Buchners, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 150. Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 179. Vgl. Nolte (1984), S. 61.

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NS-Regimes gewesen sei. Insgesamt schrieb die hegemoniale Geschichtskultur der Nachkriegszeit den Mehrheitsdeutschen also nicht die Rolle der Täter, dafür aber die Rolle der Zuschauer und Opfer zu.1312

3.5.2. Zulassungsverfahren Die Gutachterinnen und Gutachter diskutierten neben strategischen Bewertungen von Manövern und Feldzügen im Zweiten Weltkrieg auch die Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung und der Rolle von Wehrmacht und Generalität im Nationalsozialismus. Themenübergreifend zeigen die Analysen immer wieder eine Deutung auf, die Hitler als unfähigen Strategen hervorhob, der die Interessen der Mehrheitsdeutschen verraten und das ›Volk‹ seinen Plänen geopfert habe. Luftangriffe Nur in acht Zulassungsverfahren besprachen die Akteure die angemessene historische Deutung der Luftangriffe auf deutsche und europäische Städte während des Zweiten Weltkriegs. Die Diskussionen zum Bombenkrieg war zwischen zwei Punkten eingespannt: Erstens verglichen die Akteure die Zerstörung deutscher Städte durch alliierte Luftstreitkräfte mit der Zerstörung außerdeutscher Städte durch die Luftwaffe der Wehrmacht. Zweitens diskutierten die Akteure, ob es sich bei den Angriffen um Kriegsverbrechen gehandelt habe. Ein beredtes Beispiel sind die Zulassungsverfahren zum Band ›Geschichte unseres Volkes‹ und dessen Neubearbeitungen aus dem Oldenbourg Verlag. Im Zulassungsverfahren von 1954 zitierte der als Rektor tätige Gutachter aus dem Manuskript: »›Flugzeuge warfen die Hauptstadt [= Warschau] in Trümmer‹«.1313 Dagegen postulierte er, dass »die ›Zertrümmerung‹ von Städten […] den Alliierten vorbehalten« geblieben sei. Zum gleichen Manuskript hielt der Zweitgutachter fest: »Wenn man in Band 4 schon mit Recht bei den amerikanischen Bombenangriffen im 2. Weltkrieg erklärt, daß hier nicht nur Industriegebiete, sondern auch Wohnviertel bombardiert wurden, dann müßte man zuvor auch die Bombardierung Warschaus, Rotterdams und Coventrys durch Hitler entsprechend glossieren.«1314

1312 Zu dieser Typologie siehe Hilberg (1992a). 1313 Zitate BayHStA MK 64519 Gutachten vom 25. Oktober 1954. 1314 BayHStA MK 64519 Gutachten vom 16. November 1954.

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Das Ministerium überließ es dem Verlag, den Deutungskonflikt zu lösen. Der Verlag behielt die monierte Textstelle im veröffentlichten Lehrmittel.1315 Außerdem entgegnete der Verlag dem Zweitgutachter, dass die Bombardierung Coventrys und Warschaus im Manuskript genannt sei, weshalb die vom Zweitgutachter gewünschte stärkere Fokussierung nicht notwendig sei.1316 Wenige Jahre nach der Veröffentlichung wurde das Lehrwerk in einem Radiobericht besprochen und die Darstellung der Luftangriffe kritisiert, da »mit malerischen Details« den Alliierten vorgerechnet werde, »wie viele ›Greise, Frauen und Kinder‹ in Deutschland sie mit ihren Luftangriffen getötet hätten.« Demgegenüber habe der Autor aber nicht die Millionen Opfer der Konzentrationslager erwähnt.1317 Der Oldenbourg Verlag wurde nach dieser medialen Schelte vom Kultusministerium zur Stellungnahme aufgefordert. Wegen der problematischen »Aufnahmefähigkeit eines empfindsamen Kindes«, erklärte der Oldenbourg Verlag, sei »noch eine ganze Menge anderer, ähnlicher Tatsachen ebenfalls unerwähnt geblieben«, etwa »Zahl der Opfer des Bombenkrieges« oder die »unendliche Zahl der russischen und polnischen Gefangenen«.1318 Nachdem noch weitere Kritikpunkte am Lehrwerk geäußert wurden, sprach das Ministerium dem Lehrwerk die pädagogische und fachliche Eignung ab. Da die Zurücknahme der Zulassung aus Sicht des Ministeriums aber »zu einer zu starken finanziellen Belastung der Träger des Sachbedarfs« führte, wurde sie unterlassen. Das Ministerium erwartete vom Verlag, dass der entsprechende Band nach Verkauf der Auflage neu zu bearbeiten und wieder einem Zulassungsverfahren zu unterziehen sei.1319 In der Begutachtung des 1960 neu bearbeiteten Schulgeschichtsbuchs forderte der Gutachter, ein Rektor, die Bombardierung Dresdens zu schildern, um der »Simplifizierung oder der Verharmlosung unbequemer Sachverhalte« vorzubeugen. Es entspreche sehr wohl der Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler, argumentiert der Gutachter, »wenn auch die Fakten, welche das Verhältnis zu unseren Nachbarvölkern belasten könnten, der historischen Wahrheit entsprechend dargestellt werden.«1320 Als Zweitgutachter ersuchte das Ministerium einen ehemaligen Widerstandskämpfer.1321 Der Oberschulrat schlug vor, die alliierten Luftangriffe als »entsetzliche Antwort unserer Gegner auf die grausamen Luftangriffe Hitlers gegen die wehrlosen Menschen 1315 Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1955, S. 102. 1316 BayHStA MK 64519 Stellungnahme des Verlags 4. März 1955. 1317 Sendung des Bayerischen Rundfunks am 24. April 1958 von 20.00–20.45 Uhr im 1. Programm unter dem Titel: ›Die Lehre aus dem Gestern – Was hören die Jungen aus der jüngsten Geschichte?‹ BayHStA MK 64526 Kommentierte und verschriftlichte Auszüge vom 26. April und 13. Mai 1958. 1318 Zitate BayHStA MK 64526 Stellungnahme des Verlags vom 23. Mai 1958. 1319 BayHStA MK 64526 Interner Bericht vom 29. Oktober 1958. 1320 Zitate BayHStA MK 64526 Gutachten vom 23. Mai 1960. 1321 BayHStA MK 48269 Meldebogen sowie Anlage zum Meldebogen vom 21. Januar 1948.

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von Warschau und Rotterdam« zu deuten,1322 was der Verlag diesmal übernahm.1323 Im 1963 verfassten Gutachten zu Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ kritisierte ein promovierter Mittelschullehrer, dass die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte im Manuskript bagatellisiert seien. Wegen der hohen Zahl deutscher Opfer sei es unverständlich, so der Gutachter, »die Zerstörung der Stadt Dresden mit der Vernichtung von ca. 300 000 Menschen einfach unerwähnt zu lassen.«1324 Der veröffentlichte Band bettete die Luftangriffe der Alliierten in das Kapitel zum ›Totalen Krieg‹ ein, und besprach sie dadurch analog zu den Verbrechen NS-Deutschlands. Er ging jedoch weder auf die Bombardierung Dresdens ein, noch sind im Lehrwerk Aussagen zum Ausmaß der zivilen Opfer infolge der Luftangriffe geschildert.1325 1972 begutachtete ein Gymnasialprofessor das Manuskript zu Oldenbourgs ›Geschichte für Realschulen‹. Der Sachverständige des IfZ monierte, dass nur eine Zeile für die Luftangriffe vorgesehen sei und forderte, »unbedingt einen Abschnitt über den Luftkrieg« einzufügen. Diese Erweiterung sollte Ausmaß und Wirkung der Luftangriffe beschreiben und die Lage der Bevölkerung skizzieren.1326 Der Forderung kam der Verlag teilweise nach. Er fügte zwar keinen eigenen Abschnitt im veröffentlichten Lehrwerk ein, ging jedoch in den Ausführungen zu den Kapiteln »Kriegseintritt USA« und »Totaler Krieg« auf das Ausmaß der alliierten Luftangriffe und ihre Konsequenzen für die mehrheitsdeutsche Zivilbevölkerung ein.1327 Im Zulassungsverfahren von ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ zweifelte der Erstgutachter an der genannten Höhe der mehrheitsdeutschen Opfer: »Fast 1 Million Bombenopfer dürfte zu hoch gegriffen sein.«1328 Da das eingereichte Manuskript sich in großen Teilen als Plagiat erwies, wurde ein neuer Autor vom Verlag engagiert. Im nun völlig neu verfassten, veröffentlichten Lehrwerk wurde diese Zahl bei der Schilderung der Luftangriffe auch nicht mehr genannt.1329 In weiteren Zulassungsverfahren forderte ein Schulrat in zwei Gutachten zu unterschiedlichen Lehrwerken, die 1322 BayHStA MK 64526 Gutachten vom 8. April 1960. 1323 »Der Bombenkrieg auf die Zivilbevölkerung. Die Antwort der Alliierten war die viel nachhaltigere Zerstörung deutscher Städte […].« Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 116. 1324 BayHStA MK 64272 Gutachten vom 3. Mai 1963. Zu Dresden als propagandistisch aufgeladenes Symbol der Luftangriffe auf deutsche Städte siehe Bergander (2003). Zur Fortwirkung dieses viktimisierendes Symbols in der Geschichtskultur siehe z. B. Vgl. Neutzner (2005). Schmid (2007). 1325 Kösel, Geschichte für Mittelschulen, 1963, S. 183–184. 1326 BayHStA MK 64268 Gutachten vom 28. Oktober 1972. 1327 Oldenbourg, Geschichte IV. Neueste Zeit, 1973, S. 100–101. 1328 BayHStA MK 64264 Gutachten vom 4. April 1960. 1329 BSV, Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen, 1962, S. 102.

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Luftangriffe auf zivile Ziele nicht als ausschließliche Taktik der Alliierten darzustellen. Auch die Zerstörung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe sei militärisch zwecklos gewesen, argumentierte der Gutachter. Dies solle zwar erwähnt werden, doch ebenso müsse darauf eingegangen werden, dass die deutsche Luftwaffe »die franz. Kathedralen schonte und 1944 Ravenna […] (vielfach entgegen den Befehlen Hitlers)« gerettet habe.1330 Dies seien »Beispiele für Recht und Unrecht« im Zweiten Weltkrieg, so der Gutachter.1331 Flucht und Vertreibung Häufiger als die Luftangriffe diskutierten die Sachverständigen die Darstellung von Flucht und Vertreibung in den Manuskripten. In fast jedem zweiten Zulassungsverfahren sprachen die Gutachterinnen und Gutachter dieses Themenfeld an. Zudem wurde die Prüfung dieses Themengebiets durch das sog. OstkundeReferat sogar institutionalisiert.1332 Die Sachverständigen prüften dabei insbesondere, inwiefern die Darstellung dem Leid der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen gerecht wurde. In der Begutachtung des Manuskripts von ›Bilder aus deutscher Geschichte‹ des Lurz Verlags zog der zuständige Gutachter auch die Kolleginnen und Kollegen seines Fachbereichs heran und explizierte in der Präambel seines Gutachtens das Vorgehen. Dies war in den Zulassungsverfahren einmalig. Es unterstreicht die Selbstständigkeit der Gutachter und gleichzeitig die Mühe einzelner Gutachter bei der Bewertung der Manuskripte, was auf ein gewisses Verantwortungsbewusstsein schließen lässt: Zunächst begutachteten die Kolleginnen und Kollegen die einzelnen Kapitel. In einem zweiten Schritt wurden diese individuellen Standpunkte in Arbeitsgruppen besprochen, »gegensätzliche Meinungen geklärt, gemeinsame Anliegen herausgestellt« und anschließend vom zuständigen Sachverständigen in ein Gutachten überführt.1333 Die inhaltliche Ebene wurde im Abschnitt »Sachliche Richtigkeit« zusammengeführt. Zum Themenfeld Flucht und Vertreibung hält die so geschaffene Kommission fest: »Die Ausweisung der Millionen Deutschen nach dem 2. Weltkrieg kam nach Meinung verschiedener Lehrer zu unbetont weg.« Die Lehrkräfte erwarteten

1330 BayHStA MK 64524 Gutachten vom 30. September 1965. Vgl. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 21. Juni 1964. 1331 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 21. Juni 1964. 1332 Siehe dazu Kapitel 2.3.2. 1333 Dieses aufwändige Verfahren wurde in den folgenden Gutachten des Sachverständigen – er wurde noch um die Begutachtung zwei weiterer Lehrwerke ersucht – nicht aufrechterhalten.

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nämlich, dass »Recht und Unrecht der Alliierten, Massentod, Unmenschlichkeit« angesichts der Vertreibungen thematisiert werde.1334 Für die Neubearbeitung von ›Geschichte unseres Volkes‹ verfasste auch ein direkt im Kultusministerium tätiger Schulrat 1962 ein Gutachten. Er erwartete, dass das Manuskript »die wahre Lage der Volksdeutschen in Polen, auf die sich Hitler bei seinem Einfall immer wieder berief,« darstelle. Die Eroberung Polens durch NS-Deutschland sei nicht im Interesse der ›Volksdeutschen‹ gewesen, argumentierte der Gutachter. Obwohl sie über »diese ›Befreiung‹ gar nicht so sehr erfreut« waren, haben sie »doch am ärgsten dafür büßen« müssen.1335 Der Verlag sprach sich mit Verweis auf die Erfahrungen eines Verfassers des Lehrwerks gegen diese Deutung aus. Denn der Autor »hat persönlich erlebt, mit welcher Begeisterung die deutschen Truppen von Volksdeutschen in Polen empfangen worden sind. Er hat ferner erlebt, wie die Volksdeutschen nach der ›Eingliederung‹ ihre Ressentiments gegen die Polen ausgetobt haben.«1336

Der Einwand offenbart den Zusammenhang von Primärerfahrung und historischer Erinnerung beim Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Der Autor verstand die ›Volksdeutschen‹ durchaus in der Rolle des Täters. Eine Haltung, die in dieser Klarheit nur von einem Gutachter geäußert wurde, der im durchschnittlichen Deutschen auch einen überzeugten Anhänger der NSDAP gesehen hat.1337 Im insgesamt sehr positiven Gutachten zu ›Die Vergangenheit lebt‹ des Oldenbourg Verlags monierte ein Gutachter die zu geringe Ausführlichkeit in der Darstellung zum »Schicksal […] der Heimatvertriebenen«. Im gleichen Zug relativierte er NS-Terror und Holocaust, denn er argumentierte: »Wie die ›KZLager‹ sind ›die Ausweisungen‹ ein Mahnmal für die Bevölkerung der Welt!«1338 Im gleichen Zulassungsverfahren störte sich auch der Referent des OstkundeReferats daran, dass im Manuskript die »physischen wie materiellen Opfer der widerrechtlich-unmenschlichen Heimatvertriebenen und Fluchtzüge (1945–1947) […] unerwähnt« seien. Das insgesamt positiv bewertete Lehrwerk erschien dem Referenten des Kultusministeriums als »allzu kleinstdeutsch [sic!] […], spürbar ›ostblind‹, etwas stark etatistisch und zu wenig ethnisch«.1339 Der Verlag blieb offensichtlich unbeeindruckt. Er hielt dagegen, dass die Geschichte der Flücht-

1334 Zitate BayHStA MK 64518 Gutachten vom 9. Dezember 1953. 1335 Zitate BayHStA MK 64526 Gutachten vom 27. Juli 1962. 1336 BayHStA MK 64526 Stellungnahme des Verlags vom 7. August 1962. Unklar ist, welchen Verfasser der Verlag hier anführt. Ausführlich dazu Kapitel 2.4. 1337 Siehe hierzu das Kapitel 3.4.2. 1338 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 2. Mai 1967. 1339 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 7. Juni 1967.

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linge und Heimatvertriebenen »in ausreichendem Maße angesprochen« sei. Zudem verwies er auf die noch ausstehende Bebilderung sowie die Möglichkeit zur Ausgestaltung durch die Lehrkraft. Das Lehrwerk ermögliche eine detaillierte Behandlung der Themen.1340 Der Band wurde bereits im Folgemonat zugelassen. Das veröffentlichte Lehrwerk hat knapp eine Seite Darstellungstext und drei Arbeitsaufträge zur Behandlung von Flucht und Vertreibung, jedoch keine Abbildung in diesem Kontext. Die Arbeitsaufträge zielen im Sinne des Ostkundeunterrichts darauf ab, die Erinnerung an Gebiete aufrecht zu erhalten: Nachdem die Schülerinnen und Schüler in einer Landkarte die Orte der meisten Flüchtlinge und Heimatvertriebenen einzeichnen sollten, sollten sie aufzeigen, dass diese Gebiete unter polnischer Verwaltung standen, um sich schließlich in einem Lexikon über die »berühmten deutschen Städte jenseits von Oder und Neiße« zu informieren, die »viele deutsche Kinder« gar nicht mehr kennen würden.1341 In einigen Fällen kritisierten die Gutachter Aspekte einer viktimisierenden Darstellung von Flucht und Vertreibung. Im Zulassungsverfahren von ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹ zitierte der Erstgutachter aus dem Manuskript die Behauptung, »dass die Gräueltaten bei der Austreibung unserer Ostdeutschen oft die nationalsozialistischen Grausamkeiten übertrafen.‹« Er verwies dagegen auf »die kaltblütigen Massenmorde an den Juden usw.« Ein Schulgeschichtsbuch, das »vielen (und z. T. missgünstigen) Augen ausgesetzt ist«, sei für solche Behauptungen der falsche Ort, argumentierte der Sachverständige. Höchstens könne geschrieben werden, dass die Vertreibungen den Verbrechen des Nationalsozialismus »gleichkamen.«1342 Hans Buchheim war der einzige Gutachter, der die Verantwortung für die hohen Opfer der Flucht im NS-Regime verortete. Im Gutachten zum Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹ merkte der Sachverständige vom IfZ an, dass die NS-Führungsriege schuld an den katastrophalen Umständen und Folgen der Fluchtbewegungen gewesen sei, »weil im Zusammenhang einer illusionistischen Durchhaltepolitik die Erlaubnis zur Flucht vielfach erst spät gegeben wurde, daß kein geordneter Abzug mehr möglich war.«1343. Handschriftlich notierte der Referent am Rand zwar, dass die Anmerkung berücksichtigt werde, doch im veröffentlichten Lehrwerk hieß es lediglich: »Die Flucht der Zivilbevölkerung vor den Russen nach Westen war eine furchtbare Katastrophe des Elends und Hungers im Winter 1944/45.«1344

1340 BayHStA MK 64520 Stellungnahme des Verlags vom 20. Juli 1967. Im veröffentlichten Band ist allerdings kein Bild zum Themenfeld ›Flucht und Vertreibung‹ abgedruckt. 1341 Oldenbourg, Die Vergangenheit lebt, 1967, S. 143–144. 1342 BayHStA MK 64264 Gutachten vom 4. April 1960. 1343 BayHStA MK 64256 Gutachten vom 3. November 1958. 1344 Buchners, Geschichtliches Werden. Mittelstufe, 1961, S. 177–178.

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Die Sachverständigen prüften zudem, wie der Verlust der Gebiete im Osten dargestellt wurde. Die Debatte besaß wegen ihrer zeitgenössischen Aktualität – die Frage der deutsch-polnischen Grenze wurde schließlich erst im Zuge der deutschen Wiedervereinigung endgültig gelöst – hohes geschichtspolitisches Gewicht. Das Kultusministerium druckte 1966 auch die Entschließung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen zur politisch korrekten Sprachregelung in Schulgeschichtsbüchern hinsichtlich des Umgangs mit den (inner-)deutschen Grenzen ab. Der Plural war beabsichtigt, da auch die Grenze zwischen der DDR und Polen als innerdeutsche Grenzen angesehen wurde. Diese Grenze sei als Demarkationslinie zu bezeichnen, da bis zu einem Friedensvertag die völkerrechtlich gültigen Grenzen des Deutschen Reiches vom Stand vom 31. Dezember 1937 gültig seien.1345 Die Sprachregelung machte den Anspruch auf diese ›Ostgebiete‹ geltend und unterstrich die Vorläufigkeit der aktuellen Situation. Diese Regelung prüfte u. a. das Ostkunde-Referat. So wies der Referent beispielsweise 1970 im Gutachten zu ›50 Jahre Zeitgeschichte‹ des List Verlags darauf hin, dass von Mitteldeutschland und nicht von Ostdeutschland zu sprechen sei, wenn im Manuskript von der DDR die Rede ist.1346 Gleichwohl blieb die Prüfung der Darstellung der ›Ostgebiete‹ nicht auf das Ostkunde-Referat beschränkt. So forderte beispielsweise auch ein Gutachter von Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ bereits 1963, nicht nur eine Schilderung »der Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland«. Er erwartete die klare Formulierung, dass »Polen die deutschen Ostgebiete nur zur vorläufigen Verwaltung« erhalten habe und dass »eine endgültige Regelung einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben« müsse.1347 Militär Wenn die Sachverständigen das Verhältnis von Militär und NS-Regime ansprachen, diskutierten sie im Zulassungsverfahren zum einen das strategische Vermögen Hitlers und stellten dieses der Haltung des Militärs gegenüber. Zum anderen diskutierten sie die Einstellung des Militärs zur Ideologie des Nationalsozialismus. So intervenierte der Gutachter von ›Deutschlands jüngste Vergangenheit‹, weil ihm »Hitlers militärische Befähigung nicht ganz exakt charakterisiert zu sein« schien. Dagegen schlug er vor, ein abwägendes Bild seiner militärischen Fähigkeiten zu zeichnen: So hat Hitler laut Gutachter durchaus 1345 Vgl. KMBL 1966a, S. 97–100. 1346 BayHStA MK 64521 Gutachten vom 9. April 1970. 1347 Zitate BayHStA MK 64272 Gutachten vom 3. Mai 1963. Als gefährliche »Geschichtsklitterung« mit der Absicht, die »unselige Politik der Alliierten« zu verschweigen, beurteilte ein vom BSV engagierter privater Gutachter des Manuskripts ›Unsere Geschichte, Unsere Welt.« BayHStA BSV 459 Gutachten vom 26. Juli 1960.

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»militärischen Instinkt« bewiesen, aber auch »Fehldispositionen« offenbart. Diese Differenzierung sei notwendig, da der Mythos vom ›Größten Feldherren aller Zeiten‹ »für die Faszination weiter Kreise […] nicht belanglos« sei.1348 Viele Sachverständige beabsichtigten, das militärische Versagen Hitlers in den Manuskripten herauszustellen. Dazu konnte der Fall Dünkirchen dienen. Etwa 300 000 britische Soldaten sind von dort im Frühjahr 1940 nach England geflohen, wodurch sie sich vor einem Zugriff der Wehrmacht haben retten können. Dies sah beispielsweise ein Gutachter als »Versagen der Heeresführung oder [sic!] Hitlers« an, was im Schulgeschichtsbuch dementsprechend gekennzeichnet werden sollte.1349 Im Gutachten zu ›Wir erleben die Geschichte‹ des BSV meinte ein weiterer Sachverständiger, die oppositionelle Haltung der Generäle zu Hitler bereits zum Kriegsbeginn deutlich zu erkennen, da ihnen die militärische Aufrüstung noch nicht weit genug vorangeschritten gewesen sei, wohingegen »Hitler einfach drauflos riskiert« habe.1350 Im als »Russlandfeldzug« bezeichneten Krieg gegen die Sowjetunion erkannte ein Gutachter die oppositionelle Haltung des Generalstabs einerseits und die strategischen Fehler Hitlers andererseits. Deshalb forderte er im Manuskript vom Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ eine Ergänzung zur Darstellung der anfänglichen Siege der Wehrmacht im Sommer und Herbst 1941. Hitler habe den Vorstoß nach Moskau für eine Zangenoperation der beteiligten Heeresgruppen verhindert. Durch dessen Abschluss seien zwar mehrere hunderttausend sowjetische Soldaten in Gefangenschaft geraten, was Hitler »›als größte Schlacht der Weltgeschichte‹« gefeiert habe. Doch der Generalstab habe »die Operation als den größten strategischen Fehler des Ostfeldzugs [bezeichnet], da der Vorstoß nach Moskau zu spät kam.«1351 Die Interventionen der Sachverständigen zeigen das kriegsgeschichtliche Interesse der Lehrkräfte und lassen ein pädagogisches Interesse vermuten: Diese Deutungsvorschläge dienten zur Dekonstruktion des von der NS-Propaganda geschaffenen Hitlerbilds als ›Größten Feldherren aller Zeiten’ und folglich der antinazistischen, politischen Bildung. Auf geschichtspolitischer Ebene entlaste1348 BayHStA MK 63845 Gutachten vom 14. Juni 1962. Der Gutachter schlug eine Umarbeitung des Bands vor, ein weiterer Gutachter lehnte jedoch eine Zulassung ab: »Wenn ein solcher Stil in Unterrichtsbüchern Schule machen sollte, darf der Germanist einpacken!« BayHStA MK 63845 Gutachten vom 17. Mai 1962. Deswegen wurde ein dritter Gutachter zur Beurteilung hinzugezogen, der aus methodischen, inhaltlichen und stilistischen Gründen von einer Zulassung abriet. Der zuständige Ministerialreferent folgte den Gutachtern. BayHStA MK 63845 Gutachten vom 4. August 1962. 1349 BayHStA MK 64264 Gutachten vom 9. April 1960. 1350 BayHStA MK 64524 Gutachten vom 30. September 1965. Im Gutachten zum Manuskript von ›Deutschlands jüngste Vergangenheit‹ hielt er fest, dass auch der »Einmarsch ins Rheinland und in Österreich entgegen dem Rat der Generäle« von Hitler entschieden worden sei. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 21. Juni 1964. 1351 BayHStA MK 63826 Gutachten vom 28. Juni 1967.

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ten sie auch die Wehrmacht, die in Opposition zu den von Hitler geplanten militärischen Offensiven gezeichnet wurde und dementsprechend nicht verantwortlich für die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg gewesen sei.1352 Dieses Argumentationsmuster war durchaus strittig. In einigen Fällen wurde dagegen die Einordnung des Kriegsverlaufs in eine kritische Darstellung der NS-Ideologie gefordert: So deutete eine Wissenschaftlerin des IfZ in ihrem Gutachten zum BSV Lehrwerk ›Geschichte für Mittelschulen‹ eine grundsätzliche Kritik an strategischen Kriterien zur Beurteilung des Kriegsverlaufs, denn die »Sätze von den überwältigenden deutschen Erfolgen klingen mißtönig.« Das Lehrwerk vermittle dadurch den Eindruck, dass »alles in Ordnung geblieben« wäre, wenn Hitler nach der Eroberung Polens, Frankreichs und des Balkans »nicht noch Rußland angegriffen« hätte.1353 Den Fokus auf Strategien und Manöver mahnte auch Hans Buchheim an, als er kritisierte, dass im Text der Jargon der Wehrmacht übernommen wurde. So wies der Gutachter des IfZ in seiner Kritik zum Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹ darauf hin, dass die im Text genutzten Worte wie ›blitzartig‹, ›Niederringung‹ und ›schlagartiger Vorstoß‹ »aus dem propagandistischem Vokabular der Wehrmachtsberichte« stammen. Buchheim fehlte im Manuskript u. a. »ein kritisches Urteil über die ›Lebensraum‹-Politik«. Er empfahl deshalb auch, die militärischen Strategien in die NSIdeologie einzuordnen.1354 In einem Gutachten zum Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ wurde angemerkt, dass die militaristische Sprache auch dazu diente, die leidvollen Konsequenzen des Krieges für die vom Nationalsozialismus beherrschte Zivilbevölkerung zu verstellen.1355 Der Realschullehrer erwartete in Blutenburgs ›Geschichte für Realschulen‹ die Kriegsziele der Gegner als »Gegensatz von humaner Idee und politischem Mythos« – verstanden als »kollektives Sicherheitssystem der Alliierten« und »großgermanisches Reich Hitlers« – einander gegenüberzustellen.1356 Schließlich gefiel einem Gutachter vom 1972 veröffentlichten ›Spiegel der Zeiten‹, dass es »die Darstellung der Kriegsziele und der Maßnahmen in den besetzten Gebieten als Folge der Nazi1352 Dieses Argumentationsmuster nutzen auch ehemalige Wehrmachtsgeneräle in der Nachkriegszeit vgl. Wette (2001), S. 93–99. Die Viktimisierung der deutschen Soldaten als Opfer des Krieges bzw. als Konsequenz der militärischen Unfähigkeit Hitlers, was sich vor allem in Stalingrad verdichtete, waren auch in den Veröffentlichungen der Veteranenverbände der 1950er und 1960er Jahre virulent, siehe Morina (2008), S. 285–286. 1353 Zitate BayHStA MK 64263 Gutachten vom 20. März 1968. 1354 Zitate BayHStA MK 64256 Gutachten vom 3. November 1958, S. 2–3. Ebenso kritisierte auch ein Referent des Kultusministeriums die Übernahme des Wehrmachtsjargons im Manuskript zu ›Unsere Geschichte, Unsere Welt‹ BayHStA MK 63835 Gutachten vom 12. Juni 1961. 1355 »Worte wie […] ›wir mußten zum System starrer Verteidigung übergehen‹ charakterisieren die damit für die russischen Menschen verbundene Tragödie nicht.« BayHStA MK 63826 Gutachten vom 28. Juni 1967. 1356 Zitate BayHStA MK 64265 Gutachten vom 14. März 1969.

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Ideologie« deute. Er vermisste allerdings »Hitlers fragwürdige Rolle als ›Feldherr‹ und sein Verhältnis zu den Generälen und Offizieren«, was deshalb »vielleicht in einem kurzen Abschnitt dargestellt werden« sollte.1357 Im Zusammenhang mit der Darstellung Hitlers als unfähigen Militärstrategen diskutierten die Akteure der Zulassungsverfahren auch die Rolle der Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Als Bezugspunkt wurde in einigen Zulassungsverfahren der Feldzug gegen die Sowjetunion und die Schlacht von Stalingrad angeführt. Ein Gutachter von ›Geschichte für Mittelschulen‹ schlug 1970 die Verwendung alltagsgeschichtlicher Quellen vor.1358 ›Stalingrad‹ könne so als »menschliche Tragödie noch eindringlicher« geschildert werden, argumentierte der Sachverständige.1359 Der Grund, dass »viele der besten deutschen Soldaten elendiglich bei 50° Kälte zugrunde gehen« mussten, habe für einen Oberschulrat darin gelegen, dass Hitler vor dem Überfall auf die Sowjetunion »die deutschen Soldaten nicht für einen Winterkrieg« habe ausrüsten lassen. Die Soldaten in Stalingrad »mußten zur ›Ehre des Führers‹ elend zugrunde gehen«, damit der »prahlerische Hitler nicht blamiert würde, wenn er die Eroberung Stalingrads aufgäbe.«1360 Der Gutachter formulierte seine Einwände zu Oldenbourgs ›Geschichte unseres Volkes‹ zwar als Textvorschläge, die in das Manuskript übernommen werden sollten, doch der Verlag übernahm sie dennoch nicht. Zwei Jahre später, das Zulassungsverfahren war noch nicht abgeschlossen, schloss sich ein im Kultusministerium tätiger Schulrat in seinem Gutachten der Forderung seines Vorgängers an. Am »Winterfeldzug« und an der Schlacht von Stalingrad könne gezeigt werden, wie »rücksichtslos Hitler um seiner größenwahnsinnigen Ziele und zuletzt um der Erhaltung seines eigenen Lebens willen Massen deutscher Menschen opferte, die ihm teilweise treu ergeben waren«.1361 Dem entgegnete der Oldenbourg Verlag, dass den vielen toten deutschen Soldaten in Stalingrad zwar »ein schwerer Führungsfehler« zugrunde gelegen habe, »aber auch noch nicht im eigentlichen Sinn des Wortes ein Verbrechen.«1362 Dementsprechend ist im veröffentlichten Schulbuch im Haupttext lediglich zu lesen, dass die deutsche Niederlage in ›Stalingrad‹ die Wende des Kriegs markiert und den Nimbus der unbesiegbaren deutschen Truppen zerstört habe.1363 Am Ende des Buches wurde jedoch ein Bild deutscher Soldaten auf dem Weg in sowjetische Kriegsgefangenschaft abgedruckt und mit »Die Katastrophe von Stalingrad 1943: Deutsche

1357 1358 1359 1360 1361 1362 1363

BayHStA MK 64261 Gutachten vom 14. Juni 1972. BayHStA MK 64272 Gutachten vom 22. Januar 1970. BayHStA MK 64261 Gutachten vom 14. Juni 1972. Zitate BayHStA MK 64526 Gutachten vom 8. April 1960. BayHStA MK 64526 Gutachten vom 27. Juli 1962. BayHStA MK 64526 Gutachten vom 7. August 1962. Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963, S. 111.

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Soldaten büßen für die verantwortungslose Eroberungspolitik Hitlers« untertitelt.1364 Ein Gutachter von Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ hatte den Eindruck, »daß in vielen Punkten die Ereignisse nur aus dem Blickpunkt der Gegner Deutschlands heraus dargestellt werden.«1365 Er erwartete, dass ein Schulgeschichtsbuch die »Not vieler Millionen Deutscher« darstelle, »die im guten Glauben, ihre Pflicht gegenüber dem eigenen Volke zu erfüllen, vom Größenwahn Hitlers zu ungeheuren Leistungen und Opfern veranlaßt worden sind.«1366 Ein Sachverständiger erkannte in der Opferbereitschaft der deutschen, die sich im militärischen Einsatz ausgedrückt hat, eine Tugend, die Hitler ausgenutzt habe. In seinem Gutachten zu Buchners Oberstufenband von ›Geschichtliches Werden‹ störte er sich daran, dass der Autor das Kleinbürgertum zum historischen Träger der nationalsozialistischen Ideologie erkläre. Gerade die »jahrelange außergewöhnliche Opferkraft und Tapferkeit« im Weltkrieg widerspreche einer kleinbürgerlichen Haltung. Zudem verleihe die »Bereitschaft zum Einsatz menschlichen Lebens« Respekt.1367 Ein weiterer Lehrer wollte in der Neubearbeitung von Blutenburgs Mittelstufenband ›Europa und die Welt‹ hervorgehoben sehen, »daß Millionen bereit waren, für ihr Vaterland freiwillig ein Opfer zu bringen und Hitler diese […] Begeisterung mißbrauchte.«1368 Ein Mittelschulrektor und Seminarleiter forderte im Gutachten zu Oldenbourgs ›Die Vergangenheit lebt‹ eine stärkere Fokussierung auf die Opferbereitschaft der Soldaten. Ihm waren im Manuskript »die Leistungen und Leiden der eingesetzten Soldaten zu wenig gewürdigt.«1369 Der Verlag erwiderte, dass Leistungen und Leiden »unschwer vom Lehrer aus eigener Erfahrung ergänzend dargestellt werden« können, weshalb die Autoren darauf verzichteten.1370 Verbrechen In etwa jedem sechsten Zulassungsverfahren thematisierten die Sachverständigen auch die Darstellung der NS- und Kriegsverbrechen.1371 In der Regel forderten sie eine stärkere Berücksichtigung der Verbrechen in den Manuskripten. 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371

Oldenbourg, Geschichte unseres Volkes, 1963. Bildbeigabe #39. BayHStA MK 64272 Gutachten vom 3. Mai 1963. Zitate BayHStA MK 64272 Gutachten vom 3. Mai 1963. Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 1. April 1964. BayHStA MK 63836 Gutachten vom 31. Januar 1958. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 28. Mai 1967. BayHStA MK 64520 Stellungnahme des Verlags vom 20. Juli 1967. BayHStA MK 64517 Gutachten vom 19. August 1952. BayHStA MK 63838 Gutachten vom 17. März 1956. BayHStA MK 63844 Gutachten vom 2. Februar 1959. BayHStA MK 64363 Gutachten vom 14. September 1960. BayHStA MK 64526 Interner Bericht vom 17. Dezember 1960. BayHStA MK 63845 Gutachten vom 17. Mai 1962. BayHStA MK 64526 Gut-

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Beispielhaft kritisierte ein Gutachter die unausgewogene Schilderung der Eroberung Polens im Manuskript des Volksschulbuchs ›Aus deutscher Vergangenheit‹ des Auer Verlags. Obwohl der Haupttext 27 Zeilen auf die Eroberung Polens verwende, so der Gutachter, sei »von den maßlosen Leiden des polnischen Volkes keine Rede.«1372 Eine Oberstudienrätin vermisste im Manuskript von Blutenburgs Mittelstufenband für Höhere Schulen neben den Angaben zu den mehrheitsdeutschen und jüdischen Verlusten auch eine »Angabe über die Verluste der anderen Völker, v. a. der Russen.«1373 Die zuständige Ministerialreferentin zitierte in ihrem Gutachten der Neubearbeitung von ›Geschichte unseres Volkes‹ des Oldenbourg Verlags aus dem Manuskript: »›Der zweite Weltkrieg hatte allen beteiligten Völkern schwere Wunden zugefügt. Deutschland aber hatte er am härtesten getroffen.‹« Sie entgegnete im Gutachten dieser Aussage, verwies aber nicht auf den nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzug in Osteuropa, sondern legte nahe, dass Frankreich härtere Verluste erlitten habe.1374 Die Forderungen der Sachverständigen nach einer breiteren Darstellung der Kriegsverbrechen spiegelten auch die geschichtspolitischen Entwicklungen der offiziellen Geschichtskultur im Umgang mit der Brutalität des NS-Vernichtungsfeldzugs in Osteuropa wider. Dieser Umgang war wiederum in die politische Großwetterlage des Kalten Kriegs eingebunden. Während Bundeskanzler Konrad Adenauer diese Verbrechen laut Christina Morina nur in einem nichtöffentlichen Rahmen anerkannte, behauptete Ludwig Erhard eine moralische Gleichsetzung sowjetischer und deutscher Opfer im Zweiten Weltkrieg. Erst Willy Brandt sprach öffentlich davon, dass die Sowjetunion die Hauptlast des Krieges getragen habe.1375 Das Leid der osteuropäischen Bevölkerung in der Geschichtskultur anzuerkennen, war wohl auch durch den antitotalitären Konsens verstellt. Schließlich stand dieses Deutungsmuster der politischen Forderung entgegen, Bolschewismus und Nationalsozialismus als gemeinsame Feinde der bürgerlichen Demokratie darzustellen. Dass die Vernichtung des Kommunismus ein erklärtes Ziel des Nationalsozialismus gewesen ist, schien damit schwer zu vereinbaren. Dementsprechend stand die Anerkennung sowjetischer Soldaten und der sowjetischen Bevölkerung als Opfer des NS-Regime vor einer Hürde, die erst mit der tendenziellen Annäherung von Bundesrepublik und DDR in der Brandt-Ära überwunden werden konnte.

1372 1373 1374 1375

achten vom 27. Juli 1962. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 30. Juli 1962. BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963. BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963, S. 4–5. BayHStA MK 63837 Gutachten vom 30. April 1966. BayHStA MK 63826 Gutachten vom 28. Juni 1967. BayHStA MK 64517 Gutachten vom 19. August 1952. BayHStA MK 63837 Gutachten vom 30. April 1966. BayHStA MK 64526 Interner Bericht vom 17. Dezember 1960. Morina (2008), S. 265–280.

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Ein Gutachter legte Wert auf eine Darstellung, welche die Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechen des Nationalsozialismus stärker gewichtete als im beanstandeten Manuskript. Im Gutachten zum BSV Band ›Geschichte der Neuesten Zeit für Mittelschulen und Realschulen‹, das wegen Plagiats nicht zugelassen wurde, stellte der Erstgutachter infrage, ob sich »beim Abwägen der Schuld so säuberlich Partei und Staatsführung einerseits und Wehrmacht andererseits voneinander trennen« ließe.1376 Abgesehen von dieser Ausnahme sahen die Sachverständigen die Tatherrschaft bei Hitler bzw. der Führungselite des NS-Regimes.1377 So begrüßte ein Lehrer im insgesamt positiven Gutachten zum Mittelstufenband ›Geschichte der Neuesten Zeit‹ des Lurz Verlags die ausführliche Darstellung des Leids der Mehrheitsdeutschen infolge des Zweiten Weltkriegs. Er betonte, dass es »Hitler und die deutsche Führung« gewesen sei, die »ungeheures Elend […] über die Völker gebracht haben.«1378 Zudem wollte besagter Lehrer auch Beispiele genannt wissen, bei denen sich die Wehrmacht gegen die verbrecherischen Befehle Hitlers gestellt habe, wenn schon die Zerstörung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe angesprochen werde.1379 Für die Historikerin des IfZ dürfe im Manuskript von Kösels ›Geschichte für Mittelschulen‹ nicht angedeutet werden, dass alle SS-Einheiten in Einsatzgruppen organisiert und im Völkermord direkt involviert gewesen seien. Ein »großer Teil der SS« habe »rein militärische Aufgaben« wahrgenommen, hielt die Historikerin dem Manuskript entgegen.1380 Eine differenzierte Sicht auf die SS forderte sie auch im Zuge der Darstellung der Konzentrations- und Vernichtungslager. Zwar sei es richtig, dass sich im KZ-Personal »›die fanatischsten und verbrecherischsten Elemente der NS-Anhängerschaft ansammelten‹« – Die Wissenschaftlerin zitierte aus dem Manuskript –, doch dann solle auch »ausdrücklich gesagt werden, daß ein anderer, großer Teil der SS mit diesen Unmenschlichkeiten nichts zu tun und im Kriege rein militärische Aufgaben im Rahmen der Wehrmacht zu erfüllen hatte.«1381 Der Verlag berücksichtigte ihre Einwände nicht. Laut veröffentlichtem Lehrwerk wurden die Konzentrationslager von der Waffen-SS verwaltet, »einem Teil der Schutzstaffeln (SS), in dem sich

1376 Der Erstgutachter explizierte den Grund der Schuld nicht, sondern verwies auf Manuskriptseiten. BayHStA MK 64264 Gutachten vom 4. April 1960. 1377 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 14. September 1960. BayHStA MK 63845 Gutachten vom 17. Mai 1962. 1378 BayHStA MK 63836 Gutachten vom 17. März 1956. Das Schulbuch wurde vorbehaltlich der Berücksichtigung der Änderungswünsche zugelassen BayHStA MK 63836 Brief des Kultusministeriums an den Verlag vom 3. April 1956. 1379 Vgl. BayHStA MK 64520 Gutachten vom 21. Juni 1964. 1380 BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963, S. 9. 1381 BayHStA MK 64272 Gutachten vom 2. Juli 1963.

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die fanatischsten und verbrecherischsten Elemente der nationalsozialistischen Anhängerschaft sammelten.«1382 Diese Passage blieb auch nach der Veröffentlichung kontrovers. Nach dem Einzug der rechtsradikalen und nationalistischen NPD in den Bayerischen Landtag zog der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Dietrich Richter, 1968 die von der Historikerin im Zulassungsverfahren kritisierte Textpassage zu einer kleinen Anfrage heran. Gekleidet in eine rhetorischer Frage an den Kultusminister behauptete er in dieser generellen Verurteilung der SS ein »nicht richtig wiedergegebenes Geschichtsbild« zu erkennen und fragte an, ob die notwendigen Schritte eingeleitet seien, »um die Verwendung von Geschichtsbüchern mit solchen einseitigen Darstellungen an den bayerischen Schulen zu verhindern?«1383 Im Antwortschreiben entgegnete der Ministerialreferent, dass der Band von zwei Lehrkräften und dem Institut für Zeitgeschichte begutachtet und das Lehrwerk nach Überarbeitungen »wärmstens«1384 vom IfZ empfohlen worden sei. An der bisherigen Form der Zulassungsverfahren werde zudem festgehalten. Der Verlag plante gerade die neue Ausgabe des Bandes. In diesem Kontext ging der Referent auf die Einwände des Abgeordneten ein, indem er im Entwurf des Antwortschreibens vorschlug, den beanstandeten Passus hinsichtlich »des darin enthaltenen Urteils« vom IfZ »eingehend« überprüfen zu lassen.1385 Dieses Angebot strich der Vorgesetzte aus dem Entwurf des Antwortschreibens, bevor es im Februar 1968 an die Staatskanzlei weitergereicht wurde. Im Zulassungsverfahren für den neu bearbeiteten Band, an dem Christoph Weisz vom IfZ beteiligt war, wurde weder auf die Anfrage Bezug genommen noch wurde in den Gutachten die betreffende Textstelle kritisiert. Im 1971 veröffentlichen Band blieb der Passus wortgetreu erhalten.1386 Dass 1963 vom Institut für Zeitgeschichte noch eine geschichtskulturelle Deutung vertreten wurde, die fünf Jahre später auch von der NPD eingebracht und vom Kultusministerium zögerlich zurückgewiesen wurde (immerhin war es im Kultusministerium fraglich, ob die inkriminierte Textstelle beibehalten werden könne), zeigt zudem die Verschiebung der hegemonialen Geschichtskultur auf. Die geschichtskulturelle Ächtung der SS als verbrecherischer Organisation setzte sich im Laufe der 1960er Jahre durch.1387 Diese Tendenzwende setzte sich auch bei der Zulassung von Schulgeschichtsbüchern durch, insofern unwider1382 1383 1384 1385 1386 1387

Kösel, Geschichte für Mittelschulen 1963, S. 147. Zitate BayHStA StK 17595 Anfrage Dietrich Richter, NDP vom 16. Januar 1968. BayHStA MK 64272 Briefentwurf vom 30. Januar 1968. BayHStA MK 64272 Briefentwurf vom 30. Januar 1968. Kösel, Geschichte für Realschulen, 1971, S. 109. Vgl. Eichmüller (2018), S. 161–167. Vgl. Bohr (2018), S. 132. Den geschichtswissenschaftlichen Wandel markierte Buchheim et al. (1965). Dieser Wandel zeigte sich auch am Auschwitz-Prozess. Zur geschichtskulturellen Bedeutung des Prozesses vgl. Wojak (2004).

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sprochen blieb, dass die SS als Organisator des Völkermords geächtet wurde. Wie die Schulbuchanalyse zeigte, sah auch das 1972 veröffentlichte ›Spiegel der Zeiten‹ die »Regie der Vernichtungsmaschine in den Händen der SS-Polizeimacht.«1388 Im Zulassungsverfahren wurde diese Deutung bereits nicht mehr angemahnt. Zusammenfassung In den geschichtskulturellen Artikulationen zum Zweiten Weltkrieg erkannten die Gutachterinnen und Gutachter die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg und vielfacher NS- und Kriegsverbrechen an. Dieses geschichtskulturelle Schuldbekenntnis war jedoch an die Reduktion der Verantwortlichen auf Hitler und die NS-Führungsriege gebunden, wohingegen die mehrheitsdeutschen Zivilisten und Soldaten in die Opfer des Zweiten Weltkriegs eingehet wurden. Die Themenfelder ›Flucht und Vertreibung‹ sowie ›Bombenkrieg‹ dienten den Gutachterinnen und Gutachtern als Beleg dieser Deutung. Manche Sachverständige bemühten sich auch darum, Luftangriffe und die Vertreibung von Mehrheitsdeutschen als Konsequenz deutscher Aggressionen zu erklären. Nur wenige Akteure gingen darauf ein, dass Soldaten und Zivilbevölkerung mitunter an den Verbrechen im Nationalsozialismus durchaus beteiligt gewesen sind. Auffällig ist, dass die Akteure der Zulassungsverfahren in diesem Konfliktfeld kaum auf die pädagogische Funktion der Lehrwerke Bezug nahmen, also auf die Verständlichkeit der Darstellung zielten oder ihre Deutung durch einen adressatengerechten Zugang zu historischem Wissen begründeten. In geringerem Maß bezogen sich die Akteure der Zulassungsverfahren in diesem Konfliktfeld auf pädagogische Argumentationsmuster. Dennoch wurden Bildmedien und Darstellungen stellenweise auf ihre pädagogische Wirkung geprüft. Die Auseinandersetzung war deutlicher von persönlicher Betroffenheit und dem politischen Umgang mit Geschichte geprägt. Frappierend ist der den Aussagen der Gutachterinnen und Gutachter zugrundeliegende doppelte Begriff des Opfers: Die semantische Unterscheidung eines Opfers für etwas (sacrifice) und eines Opfers von etwas (victim) fiel sowohl in vielen Schulgeschichtsbüchern sowie in den Artikulationen der Sachverständigen zusammen.1389 Auf diese Besonderheit des doppelten Opferbegriffs weist Manfred Hettling angesichts der Begriffsverwendung in der Geschichtskultur zu ›Stalingrad‹ hin: Die Verwischung der Dimensionen des Täters und des Opfers sieht er in den Erinnerungen und der subjektiven Wahrnehmung der Zeitzeugen begründet, die eine Deutung als ›Opfer‹ begünstigte und den individuellen 1388 Diesterweg, Spiegel der Zeiten, 1972, S. 138. 1389 vgl. dazu Hammerstein (2007), S. 28.

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»Anteil an der ›Täterschaft‹ der nationalsozialistischen Herrschaft« ignorierte.1390 Dieser Zusammenhang von Erfahrung und Erinnerung war vermutlich im Entscheidungsprozess der Zulassungsverfahren bedeutsam, da die Sachverständigen in der Regel als Soldaten und als in NS-Gliederungen organisierte Zivilisten die Auswirkungen des Kriegs erlebten. In der Gleichsetzung von Tätern und Opfern infolge von Kriegserfahrung und Vertreibung sieht Robert Moeller eine »der machtvollsten integrativen Mythen der 1950er Jahre« schuf.1391 Diese viktimisierende Deutung des Nationalsozialismus war in der frühen Bundesrepublik laut Norbert Frei auch Bestandteil der offiziellen Geschichtskultur.1392 Dies bestätigt sich auch in der Analyse der Zulassungsverfahren: Die Gutachterinnen und Gutachter reflektierten an verschiedenen Aspekten, ob die Viktimität der Mehrheitsdeutschen angemessen dargestellt wurde und griffen gegebenenfalls in die Manuskripte ein. Eine kritische Darstellung des Nationalsozialismus, konnte sich deshalb nur auf die Ebene der Führungsriege erstrecken, die breite Bevölkerung jedoch sollte als Opfer dieser Führung verstanden werden. Vor diesem Hintergrund reflektierten die Sachverständigen auch das Bild Hitlers in den Darstellungen zum Zweiten Weltkrieg und waren darum bemüht, das von der NS-Propaganda geschaffene Bild des ›Größten Führers aller Zeiten‹ zu dekonstruieren. In der Gegenüberstellung von responsablem Generalstab und ideologisch verblendetem Hitler hegten die Sachverständigen – die häufig selbst Soldaten der Wehrmacht waren – die Soldaten in die Reihe der Opfer Hitlers ein. Dieses Anliegen war doppelbödig: Zwar erlaubte es einen kritischen Umgang mit dem Hitler-Mythos und diente als Vehikel zur Friedenserziehung, indem die Konsequenzen der Kriegsführung aufgezeigt werden konnten. Allerdings transportierten die Lehrwerke so die Legende der ›sauberen Wehrmacht‹, die auch in Osteuropa Gefechte im Rahmen einer normalen kriegerischen Auseinandersetzung geführt habe, und blendeten stellenweise die Relevanz der nationalsozialistischen Ideologie aus. Die geringe Bedeutung dieser Ideologie kann wiederum als Ausdruck des antitotalitären Deutungsmodus verstanden werden, da die Totalitarismustheorien vor allem auf die Formanalyse der Herrschaft, weniger auf die Qualität fokussiert waren. Die Argumentationslinie war innerhalb des Untersuchungszeitraums einem geschichtskulturellen Wandel unterlegen, der auf einen tendenziellen Rückgang des antitotalitären Deutungsmusters hinweist, denn die Sachverständigen in den späteren Zulassungsverfahren verstanden den Krieg in Osteuropa verstärkt als ideologisch geführten Krieg.

1390 Hettling (1995), S. 516–517. 1391 Moeller (2001), S. 33. 1392 Vgl. Frei (2009b), S. 101–102.

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3.6. Zusammenführung II: Antitotalitäre und hitlerzentrierte Geschichtskultur Die einzelnen Ergebnisse der Konfliktfelder werden im Folgenden zusammengeführt und in den Begriffen des antitotalitären und des hitlerzentrierten Deutungsmusters verdichtet. Im Anschluss daran wird die geschichtskulturelle Hegemonie des hitlerzentrierten Deutungsmusters anhand der fachlichen Überzeugungen der Akteure der Zulassungsverfahren begründet. Im Konfliktfeld Weimars Ende diskutierten die Sachverständigen explizit die Gründe für den Aufstieg der NSDAP, das Ende der ersten deutschen Demokratie und den Beginn der Diktatur im Januar 1933, indem sie interne und externe Faktoren gegeneinander gewichteten. Der Umgang mit dem Versailler hatte die Wirkung, die historische Ursache für die Machtübernahme der Nationalsozialisten auch im Ausland zu verorten. Das historische Urteil zum Frieden von Versailles reflektierten die Akteure der Zulassungsverfahren in einem Spannungsfeld von nationalpädagogischen Geschichtsunterricht und versöhnlicher Geschichtsschreibung. Die Zulassungsverfahren markierten eine tendenzielle Abkehr vom nationalistischen Deutungsmuster des Versailler Vertrags. Zudem führten Sachverständige interne Faktoren zur Historisierung der Machtübernahme an. An diesen Faktoren diskutierten die Sachverständigen auch ihr Verständnis von Demokratie und Parlamentarismus. Die Bedeutungszuschreibung der inneren Faktoren für den Niedergang der Weimarer Republik kann einem antitotalitären Deutungsmuster zugeordnet werden, denn der Untergang der ersten deutschen Demokratie sei im Wechselspiel von schwacher Verfassung und antitotalitären Kräften von links und rechts zu erklären, woraus die Lehre der wehrhaften Bonner Demokratie abgleitet wurde. Selten sprachen die Schulgeschichtsbücher und Sachverständigen die Offenheit der konservativen Parteien für antirepublikanische Politik an, häufiger aber die Zusammenarbeit von DNVP und NSDAP in Bezug auf den Aufstieg des Nationalsozialismus. In der Geschichtskultur zur Weimarer Republik konnte so die antitotalitäre Praxis der Bonner Republik historisch legitimiert werden. Das zweite Konfliktfeld drehte sich um die Charakterisierung Adolf Hitlers. In der Regel führten die untersuchten Schulgeschichtsbücher Hitler mit einer charakterisierenden Biographie bereits im Kapitel zur Weimarer Republik, spätestens aber mit der Machtübernahme der NSDAP im Januar 1933 ein. Die biographischen Skizzen stellten Hitler meist als deklassierten Kleinbürger dar, der zwar keine der sog. ›deutschen Sekundärtugenden‹ wie Fleiß und Ordnungssinn, doch ein hervorragendes Rednertalent besessen habe. Die gleichzeitige Identifikation der Geschichte des Nationalsozialismus mit Hitler erlaubte es den Akteuren der Zulassungsverfahren, den Nationalsozialismus als tenden-

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ziell antibürgerliche Herrschaft zu zeichnen. Folglich konnte der von eher sozialistischen Faschismustheorien vertretene Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Nationalsozialismus wenigstens implizit zurückgewiesen und stattdessen der Nationalsozialismus in ein antitotalitäres Geschichtsbild eingehegt werden. In der Geschichtskultur der Nachkriegszeit wurde Hitler häufig auch mit dämonischen Zügen versehen. Die Forderung der Sachverständigen nach einer Pathologisierung Hitlers als wahnhaften Demagogen machte in den 1960er Jahren einer langsam voranschreitenden Historisierung Hitlers Platz. Diese Historisierung erklärte Hitlers politische Haltung weniger sozialpsychologisch, sondern eher sozialgeschichtlich, indem beispielsweise sein Antisemitismus von seiner Rezeption antisemitischer Literatur vor dem Ersten Weltkrieg abgeleitet wurde. Gleichwohl blieb die Person Hitler der Kristallisationspunkt der Narrative zum Nationalsozialismus. So zeigt die Analyse zum Konfliktfeld Antisemitismus, dass die Schulgeschichtsbücher die planmäßige Desintegration der Jüdinnen und Juden aus der ›Volksgemeinschaft‹ und schließlich die Vernichtung des europäischen Judentums im Holocaust häufig auf den antisemitischen ›Wahn‹ Hitlers zurückführten und selten die Bedeutung des Verhaltens der Mehrheitsdeutschen bei der Durchsetzung der antisemitischen Politik diskutierten. Der nationalsozialistische Antisemitismus – im Vergleich zur gegenwärtigen Geschichtskultur besonders frappant – erhielt erst in den 1960er Jahren die Relevanz, in Schulgeschichtsbüchern mit einem eigenen Kapitel repräsentiert zu werden. Die Gutachterinnen und Gutachter sprachen sich verstärkt dafür aus, dem nationalsozialistischen Antisemitismus einen höheren Stellenwert in den Schulbuchdarstellungen zuzuweisen. Mit Ausnahme des von Hermann Glaser und Harald Straube 1961 verfassten ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ ordneten weder die Sachverständigen noch die verfassten Lehrwerke den Antisemitismus als wesentliches Element oder den Holocaust gar als Telos des Nationalsozialismus ein. Die Berücksichtigung des Antisemitismus in den Schulgeschichtsbüchern stellte die Sachverständigen vor didaktische Herausforderungen, denn mit der gestiegenen Repräsentation des Antisemitismus in Wort und Bild befürchteten einige der Gutachterinnen und Gutachter, auch antisemitische Denkweisen zu perpetuieren, weshalb die Lehrwerke den dargelegten Antisemitismus klar widerlegen sollten. Die Zulassungsverfahren waren also auch ein Verfahren zur Reflexion historischer Darstellungsweisen entlang der Mulitfunktionalität von Schulgeschichtsbüchern als pädagogische, politische und informatorische Medien. Der NS-Antisemitismus wurde bis weit in die 1960er Jahre auf Hitler und die Führungsriege des NS-Regimes reduziert und als Diskontinuität in der deutschen Geschichte gedeutet. Zum Ende der 1960er Jahre wurde dies aber von einer historischen Deutung ersetzt, die den Ursprung des NSAntisemitismus ideengeschichtlich im 19. Jahrhundert verortete, einer konti-

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nuierlichen ideengeschichtlichen Entwicklung des Antisemitismus vom Zweiten Kaiserreich zum ›Dritten Reich‹ jedoch widersprach. Ein Vergleich dieser geschichtskulturellen Tendenzwende mit den Lehrplänen zeigt, dass die Lehrplanvorgaben diese geschichtskulturelle Wende beförderten: Während erst 1959 im Lehrplan für Höhere Schulen und 1963 im Lehrplan für Volksschulen eine ausgefächerte Thematisierung des Nationalsozialismus erwartet wurde, in dessen Zuge auch der NS-Antisemitismus zu einem eigenen Gegenstand erhoben wurde, fokussierte der 1970 zunächst probeweise eingeführte Lehrplan für die neu geschaffene Kollegstufe eine ideengeschichtliche Verortung der NS-Ideologie und erkannte im 19. Jahrhundert geistige Vorläufer. Zwar beriefen sich die Akteure der Zulassungsverfahren nicht konkret auf die Lehrpläne, ihre Positionen folgen allerdings den normativen Vorgaben. Im Konfliktfeld Bevölkerung im ›Dritten Reich‹ explizierten die Sachverständigen die Gründe für das Ausbleiben eines breiten Widerstands gegen den Nationalsozialismus, prüften die Repräsentation des Widerstands gegen Hitler und diskutierten vor allem die Frage nach kollektiver Schuld. Indem in der hegemonialen Geschichtskultur das ›Dritte Reich‹ in der Figur Hitler personalisiert wurde, konnte die Bevölkerung aus der Verantwortung für die nationalsozialistischen Massenverbrechen genommen werden. Die NS-Propaganda sowie den Terror werteten die Sachverständigen als Herrschaftsmittel, um die Resistenz in der Bevölkerung zu brechen. In den angeblichen wirtschafts- und außenpolitischen Erfolgen des ›Dritten Reichs‹ sahen sie einen gewichtigen Grund für die Versöhnung breiter gesellschaftlicher Schichten mit dem NS-Regime. Um die propagandistische Fernwirkung dieser ›Erfolge‹ nicht zu befördern und eine demokratische Bildung nicht zu unterminieren, erwarteten die Sachverständigen, dass die nationalsozialistische Außen- und Wirtschaftspolitik als Politik zur Kriegsvorbereitung offengelegt wird, was die Verquickung geschichtspolitischer und pädagogischer Anliegen im Sinne der Demokratieerziehung aufzeigt. Die hegemoniale Deutung zur Bevölkerung im ›Dritten Reich‹ war konform zur Deutung des Antisemitismus, der ebenfalls bis in die 1960er Jahre als Wahn Hitlers und klarer Bruch in der deutschen Geschichte identifiziert wurde. Im Spannungsfeld pädagogischer Anliegen und historischer Aufarbeitung bemühten sich die Sachverständigen darum, den angeblichen Vorwurf der Kollektivschuld zurückzuweisen. Erst seit Mitte der 1960er Jahre verlor die Debatte um die Kollektivschuld ihre Relevanz in den Zulassungsverfahren, als sich in den Schulgeschichtsbüchern ein verändertes Verständnis der Bevölkerung anbahnte. Trotzdem blieb die explizite Thematisierung der Bevölkerung im ›Dritten Reich‹ ein Randthema in den untersuchten Schulgeschichtsbüchern der 1970er Jahre. Die Repräsentation der Widerstandsorganisationen in den Schulgeschichtsbüchern war stark vom antitotalitären Konsens der Nachkriegsjahrzehnte geprägt und Echo offizieller Geschichtskultur in Rahmen des deutsch-deutschen

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Systemkonflikts. Die Lehrpläne forderten, den nationalkonservativen Widerstand und das Attentat vom 20. Juli 1944 als zentralen Akt des Widerstands hervorzuheben. Erst in den 1960er Jahren nahmen einzelne Lehrwerke auch linken Widerstand in den Kanon auf und in den 1970er Jahren, in der Phase des ›Wandels durch Annäherung‹, forderten manche Sachverständige, dass auch der kommunistische Widerstand in den geprüften Lehrwerken Eingang finden solle. Im Konfliktfeld Kriegsverlauf diskutierten die Sachverständigen bei eingereichten Manuskripten insbesondere die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte sowie das Themenfeld ›Flucht und Vertreibung‹, an denen die deutsche Zivilbevölkerung als Opfer des Kriegs evident werden konnte. Anliegen vieler Sachverständiger war es, dass NS-Bild Hitlers als ›Größten Feldherrn aller Zeiten‹ zu destruieren, indem sie das verantwortungslose und ideologiegetriebene Handeln Hitlers einer verantwortungsbewussten, strategisch operierenden Generalität gegenüberstellten. Als Opfer dieser Kriegspolitik galten neben der Bevölkerung in den besetzten Ländern auch die deutschen Soldaten, wobei diese Deutung in der Darstellung der Schlacht um Stalingrad kulminierte. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war in vielen Punkten von einem antitotalitären Deutungsmuster geprägt und von der politischen Großwetterlage des Kalten Kriegs präformiert. Besonders auffällig war das antitotalitäre Deutungsmuster in den Zulassungsverfahren zum Konfliktfeld Weimars Ende, wenn der Niedergang der ersten Republik in einem Wechselspiel von wehrloser Verfassung auf der einen und den links- und rechtsextremen Angriffen auf der anderen Seite erklärt wurde. Auch die Repräsentation des Widerstands entsprach dem antitotalitären Deutungsmuster, da zwar auf den nationalkonservativen Widerstand stets verwiesen wurde, die Gegnerschaft der Kommunisten zum ›Dritten Reich‹ jedoch lange ausgespart blieb. In der Wirkung wurde der Gegensatz von bürgerlichem und nationalsozialistischem System herausgehoben, der Gegensatz von Kommunismus und Nationalsozialismus relativiert. Dass Hitler in seiner vorpolitischen Biographie als deklassierter ›Bürgerschreck‹ gezeichnet wurde, verortete zudem den zentralen Repräsentanten des Nationalsozialismus im schroffen Gegensatz zum bürgerlichen Selbstverständnis. Dadurch wurde der in Faschismustheorien postulierte Zusammenhang von bürgerlicher und faschistischer Gesellschaft implizit zurückgewiesen. In vielen Schulgeschichtsbüchern standen auch die Darstellungen des Kriegsverlaufs in Osteuropa im Kontext des antitotalitären Deutungsmusters, wenn die Kriegsverbrechen von NS-Regime und der Sowjetunion verglichen oder die deutschen Zivilisten als Opfer der heranrückenden Roten Armee vorgestellt wurden. Schließlich kann auch die geringe Berücksichtigung des Antisemitismus bis zu den 1960er Jahren anhand des antitotalitären Deutungsmusters erklärt werden, denn der Fokus auf die Herrschaftsmittel und den Vergleich von Kommunismus und Nationalsozialismus verstellte den Blick auf die Spezifika

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der nationalsozialistischen Ideologie.1393 Dementsprechend wurde der Ideologie des Nationalsozialismus zunächst wenig Bedeutung zugemessen. Umgekehrt verweist die gestiegene Relevanz des Antisemitismus in der Darstellung des Nationalsozialismus seit den 1960er Jahren auf die Krise des antitotalitären Deutungsmusters. Die Hegemonie des antitotalitären Deutungsmusters war durch mehrere Aspekte gestützt. Zum einen waren Totalitarismustheorien in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auch für die Zeitgeschichtsforschung von hoher Relevanz, um den nationalsozialistischen Staat zu erfassen. Zum anderen wurde das antitotalitäre Deutungsmuster in Bayern seit den 1960er Jahren auch durch bildungspolitische Vorgaben abgesichert. Die anerkannte totalitarismustheoretische Formanalyse, in dem totalitäre Diktaturen als höchste Steigerung und Monopolisierung von Macht – gestützt durch Befehlswirtschaft, Einheitspartei, Nachrichten- und Propagandamonopol sowie auf terroristische Exekutivorgane – verstanden wurden,1394 geriet zwar in Politik- und Geschichtswissenschaft seit den 1960er Jahren in die Kritik.1395 Folgt man Gabriele Metzler, fiel es aber noch der Geschichtswissenschaft zu Beginn der 1960er Jahre »bemerkenswert schwer, das nationalsozialistische Herrschaftssystem jenseits totalitarismustheoretischer Deutungen zu analysieren.«1396 So erkannte beispielsweise Karl Dietrich Bracher im NS-Regime weniger einen bürokratisch geordneten, machtkonzentrierenden Staat, sondern ein »Wirrwarr« an Machtbefugnissen und Kompetenzen, das er als »totalitären Pluralismus« begrifflich erfasste.1397 Die Krise des totalitären Deutungsmusters in den Wissenschaften fing zudem der Staat in der Bildungspolitik auf. Nachdem Bayern die von der KMK 1962 verabschiedeten Richtlinien zur Behandlung des Totalitarismus im Unterricht veröffentlichte, ging ein zum Schema erstarrtes Verständnis von Totalitarismus bald auch in den Geschichtslehrplänen der 1960er Jahre ein. So gab beispielsweise der 1965 veröffentlichte Koordinierungsplan für die Gemeinschaftskunde vor, Nationalsozialismus und Bolschewismus als Formen totalitärer Herrschaft im Unterricht zu behandeln.1398 Dadurch avancierte das antitotalitäre Deutungsmuster zur staatlichen Direktive bei der Darstellung der nationalsozialistischen Vergangenheit, was die anhaltende Hegemonie des Deutungsmusters erklärt. Vielen Artikulationen der Sachverständigen sowie Darstellungen in Schulbuchtexten ist zudem eine hitlerzentriete Deutung der Geschichte des Natio1393 Vgl. Vollnhals (2006), S. 23. 1394 So die Formmerkmale bei Carl Friedrich und Zbigniew Brzezinski, siehe Friedrich und Brzezinski (1957). Vgl. auch Funke (1999), S. 152–153. 1395 Vgl. Kraushaar (1996). 1396 Metzler (2018), S. 139. 1397 Bracher (1964), S. 175–176. Vgl. Metzler (2018), S. 140–141. 1398 Vgl. KMBL 1965, S. 288. Siehe dazu auch Kapitel 2.1.

Warum Hitler? Fachliche Überzeugungen in den Zulassungsverfahren

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nalsozialismus gemein. Sie bildete neben dem Antitotalitarismus den Nexus der verschiedenen Facetten hegemonialer Geschichtskultur sowie der Konflikte um die Deutung des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren. Zugespitzt formuliert arbeiteten sich die Sachverständigen an der Person Hitler ab, identifizierten den Nationalsozialismus als Hitler-Deutschland bzw. als Hitler-Regime, führten die antisemitische Politik bis hin zum Holocaust auf die Intentionen Hitlers zurück und sahen in der Kriegsführung einen Verrat Hitlers am deutschen ›Volk‹, das sich im falschen Vertrauen auf Hitler geopfert habe. Der in Schulgeschichtsbüchern und in den Zulassungsverfahren hegemoniale Deutungsmodus brach ab Mitte der 1960er Jahre langsam auf. Der Antisemitismus wurde nicht mehr ausschließlich als Wahn Hitlers apostrophiert, sondern auch aus der deutschen Geschichte erklärt. Der Bevölkerung wurde nicht länger bloß die Rolle des Statisten zugesprochen, der ahnungs- und interesselos am Rand der Geschichte gestanden habe. Dennoch blieb die Hitlerzentrierung im gesamten Untersuchungszeitraum hegemonial. Die hitlerzentrierte Geschichtskultur und ihr Aufbrechen zum Ende der 1960er Jahre sollen im Folgenden anhand der fachlichen Überzeugungen der Gutachterinnen und Gutachter zur Spezifik des historischen Wissens begründet werden. Diese Überzeugungen werden an den Zulassungsverfahren herausgearbeitet.

3.7. Warum Hitler? Fachliche Überzeugungen in den Zulassungsverfahren Hitler war in den Schulgeschichtsbüchern nahezu allgegenwärtig und der Fokus auf Hitler ging erst in den späten 1960er Jahren schleichend zurück. Die Erweiterung des Personals, um die Geschichte des Nationalsozialismus zu erzählen, offenbarte auch eine Tendenzwende im Umgang mit Schuld und Verantwortung in der Deutung zum Nationalsozialismus. Dieser neue Umgang war jedoch nicht durch einen paradigmatischen Wechsel der Darstellungen in Schulgeschichtsbüchern geprägt, sondern ging langsam in die Lehrwerke ein.1399 Die hitlerzen1399 Der Befund der hitlerzentrierten Darstellung in Schulgeschichtsbüchern ist alt. Marienfeld und Overesch arbeiteten in einer qualitativen, die Richtlinien der Bundesländer berücksichtigenden Inhaltsanalyse von Schulgeschichtsbüchern bereits 1984 dieses Ergebnis heraus. Sowohl der Weg in den Krieg wie auch die Judenverfolgung werden in Schulgeschichtsbüchern der frühen 1950er Jahre als Abfolge der Taten Hitlers beschrieben, vgl. Marienfeld und Overesch (1984), S. 84–88. In den bis 1969 veröffentlichten Schulgeschichtsbüchern trete zwar eine ideengeschichtliche Verortung und Erklärung des Nationalsozialismus zusehends in den Vordergrund, doch weiterhin bleibe die innere Dynamik an die Person Hitler gebunden. »Personalismus und Anthropomorphismus sind also nur abgemildert«, schließen die Autoren aus der Analyse, Marienfeld und Overesch (1984), S. 150.

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trierte Geschichtskultur korrelierte laut Karl-Ernst Jeismann eng mit der Schuldabwehr: »Je größer die Rolle Hitlers und seines Herrschaftssystems, umso entschuldbarer die deutsche Gesellschaft.«1400 In ihrer Analyse zum politischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den 1950er Jahren findet Katrin Hammerstein, dass in der hitlerzentrierten Geschichtskultur nicht nur Schuldabwehr, sondern ein »Oszillieren zwischen Schuldannahme und Schuldreduzierung« bestimmend war.1401 Die Fokussierung auf Hitler in den Lehrwerken und Zulassungsverfahren verhandelte deutsche Schuld in einer doppelten Weise: Zum einen wurde Hitler als einziger Verantwortlicher für den Zweiten Weltkrieg (und die in diesem Rahmen verübten Verbrechen) identifiziert, was die Mehrheitsdeutschen aus der Verantwortung nahm. Die nichtjüdischen Deutschen galten dann so als von Hitler verratene und getäuschte Opfer für den Nationalsozialismus (sacrifice), was sie in die Nähe der Opfer des NS-Regimes (victim) rückte. Zum anderen konnte über die Distanzierung von Hitler ein Läuterungsprozess der Nachkriegsgesellschaft glaubhaft artikuliert werden. Dass die Mehrheitsdeutschen sich von Hitler haben blenden und verführen lassen, sahen die Akteure der Zulassungsverfahren als Schuld der Bevölkerung an. Diese Schuld sei durch eine klare Distanzierung von Hitler in der Geschichtskultur abtragbar. Im Folgenden wird dargelegt, dass die geschichtskulturelle Hegemonie des Hitlerzentrismus bei der Zulassung von Schulgeschichtsbüchern auf mehreren Säulen stand, die sich nicht im Umgang mit Schuld und Verantwortung erschöpfend fassen lassen, sondern auch in den fachlichen Überzeugungen der am Zulassungsverfahren und an der Schulbuchproduktion beteiligten Akteure lagen. Fachliche Überzeugungen werden als fachspezifische epistemologische Überzeugungen aufgefasst, die wiederum Überzeugungen zur »Struktur und Genese von Wissen«1402 sind.1403 Die fachlichen Überzeugungen im Fach Geschichte befassen sich also mit der Struktur und Genese historischen Wissens. Daneben umfassen fachliche Überzeugungen zum Geschichtsunterricht auch die Haltungen zum Zweck des Unterrichts bzw. zur Vermittlung historischer Stoffe. Insgesamt sind also das Was, Wie und Warum des historischen Erkenntnisgewinns die Bestandteile der fachlichen Überzeugungen, weshalb geschichtstheoretische, geschichtswissenschaftliche wie auch geschichtsdidaktische und allgemeinpädagogische Überzeugungen zusammenfließen. Angesichts der Funktion der Geschichtslehrkräfte als professionelle Vermittler historischer Bildung fließen diese Überzeugungen in die Begutachtung von Lehrwerken ein. 1400 1401 1402 1403

Jeismann (2000), S. 135. Hammerstein (2017), S. 71. Blömeke et al. (2008), S. 221. Einführend zu den epistemologischen Überzeugungen Bråten (2010).

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Transmission der Hitler-Imago Folgt man Ian Kershaws Studie zu Aufstieg und Wirkmacht des Hitler-Mythos im Nationalsozialismus,1404 war die nationalsozialistische Hitler-Imago der Ankerpunkt der nationalsozialistischen Propaganda. Bereits in der Weimarer Republik ist ein verbreitetes Verlangen nach einem politischen Führer herangewachsen, der die als gespalten wahrgenommene Gesellschaft einigte. Die nationalsozialistische Propaganda hat Hitler zu dieser übermächtigen Führerfigur konstruiert, der die gespaltene Gesellschaft habe einigen können. Bald wurde Hitler als Verkörperung der ›NS-Volksgemeinschaft‹ wahrgenommen. Als ein Beispiel unter vielen prägte die nationalsozialistische Presse schon direkt nach der Machtübernahme den Begriff ›Volkskanzler‹ statt Reichskanzler, um die pseudodemokratische Einheit von ›Volk‹ und ›Führer‹ zu suggerieren.1405 Der Führermythos besaß eine integrative und eine kompensatorische Funktion, da die Imago auch als Ventil diente, um Kritik an tagespolitischen Maßnahmen zu äußern, ohne den Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung zu verlassen. Ian Kershaw sieht einen »scharfe[n] Gegensatz zwischen dem Partei- und dem Führer-Image« angesichts der innenpolitischen Entwicklungen bis Mitte der dreißiger Jahre, was er darauf zurückführt, »daß die Partei im Vordergrund der Alltagspolitik stand«, wohingegen ›der Führer‹, dem Alltag entrückt, »mit den ›großen‹ Fragen der nationalen Politik zu tun hatte«.1406 Erst in den letzten Kriegsjahren bekam der Hitler-Mythos Kratzer und Schrammen ab.1407 Die propagandistische Wirkung der angeblichen wirtschaftlichen und außenpolitischen Erfolge und zumindest die militärischen Erfolge der ersten Kriegsjahre stützten den Führerkult. Trotz der materiellen Einbußen, die bereits ab den ersten Kriegswochen erlebt wurden, stieg die Begeisterung für ›den Führer‹ in den ersten Kriegsjahren auf ihren Höhepunkt. »Die emotionale Zuneigung zu Hitler wurzelte in der Auffassung, er repräsentiere das Ideal der nationalen Gemeinschaft und der nationalen Größe, er führe Deutschland zu größerem Wohlstand, und was auch immer unmittelbar an Opfern verlangt werden mochte, so sei doch knapp jenseits des Horizonts für alle eine Glückssträhne zu erwarten«,

1404 1405 1406 1407

Siehe Kershaw et al. (1999). Vgl. Kershaw et al. (1999), S. 70. Zitate Kershaw et al. (1999), S. 152. Berühmt für Vertrauen und Vertrauensverlust ist die von Götz Aly mit Studenten identifizierte sog. ›Adolf-Kurve‹. Sie zeigt die gestiegene Beliebtheit der Namen Adolf, Horst und Hermann (nach Horst Wessel und Herman Göring) als Geburtsname von der Machtübernahme 1933 bis 1941 und dessen anschließenden Abfall, vgl. Lorenz (2014).

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fasst Ian Kershaw die Grundlage des Hitler-Mythos in den ersten Kriegsjahren zusammen.1408 Mit der Kapitulation des NS-Regimes und dem (aus Sicht der Zeitgenossen vorläufigem) Ende des Deutschen Reichs brach der Führerkult zusammen und verkehrte sich in sein Gegenteil. Hitler galt nicht länger als ein von der ›Vorsehung‹ geschickter Hoffnungsträger der deutschen ›Volksgemeinschaft‹, sondern als dämonischer Verräter deutscher Interessen. In diesem Sinne war der Hitlerismus in der Geschichtskultur der höchsten politischen Stellen der Bundesrepublik präsent. Als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches war die Bundesrepublik aus Sicht ihrer politischen Vertreter zwar in der Pflicht, die Verantwortung für den Nationalsozialismus fortzutragen. Einige dieser Vertreter eskamotierten diese Verantwortung aber, indem sie sie auf einen dämonischen, die Bevölkerung verführenden Hitler und dessen Führungselite reduzierten. Im Rahmen einer feierlichen Gedenkveranstaltung zum Attentatsversuch vom 20. Juli ließ beispielsweise der damalige Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) 1958 verlauten, dass für Verderbnis im totalitären Staat nicht die Millionenmassen, sondern die Machthaber Verantwortung getragen haben und diese verbrecherische Führung die Deutschen in eine ausweglose Katastrophe gestürzt habe.1409 Allerdings bestand ein positives Hitlerbild anscheinend auch in der postnazistischen Bundesrepublik fort. So bildeten die (nicht repräsentativen)1410 Meinungsumfragen des konservativen Allensbach-Instituts in der Nachkriegszeit den Fortbestand des Hitler-Mythos sowie den Wunsch nach einem politischen Führer in der Gesellschaft der jungen Bundesrepublik ab.1411 In einer Meinungsumfrage vom Juli 1952 gaben 22 Prozent der Befragten an, dass Hitler trotz einiger Fehler »ein vorzüglicher Staatsführer« gewesen sei, und jeder Zehnte sah in Hitler »de[n] größte[n] Staatsmann dieses Jahrhunderts«, dessen wirkliche Größe man erst in Zukunft erkenne.1412 Deutlicher wird die Transmission der positiven Hitler-Imago, wenn der Zweite Weltkrieg und dessen Folgen ignoriert wurden. Eine Umfrage lautete: »Alles was zwischen 1933 und 1939 aufgebaut worden war und noch viel mehr, wurde durch den Krieg vernichtet. Würden Sie sagen, dass Hitler ohne den Krieg einer der größten Staatsmänner gewesen wäre?«

1408 Kershaw et al. (1999), S. 186. 1409 Vgl. Hammerstein (2007), S. 26. 1410 Vgl. Bergmann (1990b), S. 111–112. Zum Quellenwert der Meinungsumfragen in der Nachkriegszeit vgl. auch Rothland (2008). 1411 Das gleiche gilt für antisemitische Einstellungen. Siehe dazu Bergmann (1990b). 1412 Noelle und Neumann (1956), S. 136.

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Noch 1955 stimmten 48 Prozent der Befragten dieser Aussage zu,1413 was zwar bis 1959 leicht rückläufig war, doch erst zwischen Mai 1959 und Juni 1961 deutlich zurückging, und zwar von 42 Prozent auf noch immer dreißig Prozent.1414 Zu bedenken ist allerdings die tendenziöse Fragestellung, die eine zustimmende Aussage nahelegte.1415 Die Umfragen waren zudem nicht repräsentativ; sie erlauben aber eine Annäherung an das Meinungs- und Stimmungsbild der Nachkriegszeit. In Westdeutschland standen schärfste Ablehnung und Hochachtung Hitlers einander gegenüber. Beiden Haltungen »lag jedoch […] das durch den Führer-Mythos erzeugte Bild des allgegenwärtigen und alle Politikbereiche effektiv kontrollierenden Diktators zugrunde.«1416 Die Personalisierung des Nationalsozialismus in Hitler eskamotierte zwar die Schuld und Verantwortung der Mehrheitsdeutschen für die Verbrechen im Nationalsozialismus. Angesichts der Transmission des propagandistischen HitlerMythos in die historische Erinnerung vieler Deutscher der Bundesrepublik ging die hitlerzentrierte Geschichtskultur in Schulgeschichtsbüchern wohl nicht in diesem Zweck auf. Die Hitlerzentrierung diente den Sachverständigen wahrscheinlich auch dazu, den nationalsozialistischen Hitler-Mythos zu destruieren und antinazistisch zu wenden. In diesem Sinne bezweckten manche Gutachterinnen und Gutachter auch, mit Schulgeschichtsbüchern gegen den in Westdeutschland fortlebenden Hitler-Mythos anzuschreiben. Der Oberschulrat, der zum Ende des Zweiten Weltkriegs aktiv im Widerstand gewesen ist, fasste dieses geschichtspolitische Programm der Nachkriegszeit in einem Gutachten zum Lehrwerk ›Geschichte unseres Volkes‹ aus dem Oldenbourg Verlag 1960 zusammen: Statt »jene Eltern, welche ganz oder zeitweise positiv zu Hitler eingestellt waren, zu schonen« sollten die Schulgeschichtsbücher Hitler »klar als großen Betrüger (dem Auslande und vor allem auch dem eigenen Volk gegenüber) und als Verbrecher und Mörder darstellen«.1417 Hitler in den Schulgeschichtsbüchern zu desavouieren, folgte laut dem Oberschulrat einem aufklärerischen Bildungsauftrag, der allerdings in dem Versuch eingebunden war, deutsche Schuld abzutragen. So führte der Gutachter aus: »Kein Mensch in der Welt wird uns die Schuld am Krieg 1939–45 abnehmen. Hitler hat sich so wenig bemüht, seine Schuld zu verbergen und hat zu viele Dokumente hinterlassen, als daß wir Deutschen hier eine Chance hätten. Unsere und der ehemaligen Parteigenossen berechtigte Chance besteht meines Erachtens vielmehr darin, daß wir

1413 Noelle und Neumann (1956), S. 277. 1414 Noelle und Neumann (1965), S. 233. Die 1952 gestellte Frage zur Bewertung Hitlers wurde nicht wiederholt. 1415 Zum Allensbach-Institut siehe Becker (2018). 1416 Mommsen (2004), S. 103. 1417 BayHStA MK 64526 Gutachten vom 8. April 1960.

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uns von Hitler klar distanzieren. Er hat unser gutgläubiges deutsches Volk doch genauso getäuscht und betrogen wie das Ausland.«1418

Die Mehrheitsdeutschen haben durch ihr Vertrauen zu Hitler – ein Fehler, den laut dem Gutachter und anderen Sachverständigen auch das Ausland begangen hat – Schuld auf sich geladen und sollten in der Nachkriegszeit Verantwortung für dessen Verbrechen übernehmen. Dieses Anliegen vertrat auch ein weiterer Lehrer in seinem Gutachten zu ›Wir erleben die Geschichte‹ des BSV von 1972. Unter dem Eindruck der curricularen Lehrplanrevision, die mit Wissenschaftsund Schülerorientierung den Unterricht reformieren wollte, kritisierte er die Darstellung der »Geschichte der Diktatur Hitlers« in diesem Lehrwerk. Diese Darstellung stamme, so der Lehrer weiter, aus der Feder einer Generation, die selbst vom Nationalsozialismus betroffen war, weshalb ihr Umgang mit der Vergangenheit zu emotional und zu wenig sachlich sei. Dagegen empfahl er, dass die »Geschichtsepoche ›Deutschland unter dem Diktat Hitlers‹ pragmatischer und genetischer beschrieben wird, weniger emotional, um dem Schüler mehr selbständige Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen zu ermöglichen.« Diese historische Bildung besaß einen politischen Zweck, denn die »Abscheu vor dem Gemeinen und die Gefahren des Dämonischen sollen Schüler und Lehrer aus sachlichen Berichten erlesen können.«1419 Indem Hitler zum alleinigen historischen Subjekt des Nationalsozialismus erhoben wurde, schraubten die Akteure der Zulassungsverfahren zunächst an der in der NS-Propaganda geschaffenen Hitler-Imago und stellten das Vorzeichen um. Hitler blieb in der Geschichtskultur weiterhin der übermenschliche Herrscher, doch nicht länger ›Vorsehung‹, sondern Dämonie habe seine Macht begründet. Diese Macht blieb in der Nachkriegszeit bestehen und wurde in den Schulgeschichtsbüchern erst im Laufe der 1960er Jahre ergänzt, indem der Personenkreis erweitert und auch die Verantwortung von gesellschaftlichen Schichten erwähnt wurde. Über die Hitler-Imago traten die Lehrwerke jedoch nicht hinaus. Personenzentrierte Geschichtsschreibung Die geschichtskulturelle Verdichtung des Nationalsozialismus in der historischen Figur Hitler wurde von der geschichtswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen Forschung flankiert. Hans Buchheim, der als Historiker des Instituts für Zeitgeschichte auch Schulgeschichtsbücher begutachtete, urteilte, dass der Nationalsozialismus eigentlich ›Hitlerismus‹ genannt werden sollte, da die 1418 BayHStA MK 64526 Gutachten vom 8. April 1960. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 1419 Zitate BayHStA MK 64521 Gutachten vom 22. Juni 1972.

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Propaganda und die Politik des ›Dritten Reichs‹ im Wesentlichen auf die Intentionen Hitler zurückzuführen seien.1420 Noch deutlicher äußerte sich Golo Mann, der das ›Dritte Reich‹ als »das Abenteuer eines einzelnen Bösewichts, der Deutschland und durch Deutschland einem guten Teil der Welt seinen Willen aufzwang« zu verstehen glaubte.1421 Das Ende der Hitler-Imago in der Geschichtswissenschaft sieht Hans Mommsen erst in den 1980er Jahren durch die von Martin Broszat angeregte und von Ian Kershaw durchgeführte Studie zur Entstehung des Hitler Mythos.1422 Bereits in den 1960er Jahren begann in der Geschichtswissenschaft die Auseinandersetzung um die angemessene Deutung Hitlers im Herrschaftssystem des ›Dritten Reichs‹, als Hans Mommsen unter sozialgeschichtlichem Vorzeichen vorschlug, Hitler als schwachen Diktator zu verstehen, der Entscheidungsfindungen nicht taktisch verhinderte, um die konkurrierenden Organisationen auszuspielen, sondern weil er den Konflikt fürchtete.1423 Da die Vorstellung eines schwachen ›Führers‹ mit der zeitgenössischen Hitler-Imago brach, befeuerte das von Hans Mommsen vorgebrachte Deutungsangebot eine Kontroverse über die Reichweite und Bedeutung Hitlers in der Geschichte des Nationalsozialismus, die in der Geschichtswissenschaft als Kontroverse zwischen Intentionalismus und Funktionalismus bzw. Strukturalismus erfasst wurde.1424 Der Intentionalismus erkannte in Hitler den Schlüssel zum Verstehen des Nationalsozialismus. Er habe bereits in seiner demagogischen Streitschrift ›Mein Kampf‹ seine Absichten dargelegt und nach 1933 planvoll realisiert, weshalb die historische Dynamik des Nationalsozialismus sowie dessen Konsequenzen aus Hitlers Denken und Handeln ableitbar und folglich identisch seien. Noch 1981 schlug Klaus Hildebrand vor, den Nationalsozialismus als ›Hitlerismus‹ zu fassen.1425 Dagegen führten Funktionalisten/Strukturalisten die historische Dynamik des Nationalsozialismus auf die polykratische Herrschaft rivalisierender Gruppen zurück, während Hitlers Tätigkeit auf die Weltanschauung beschränkt blieb.1426 Damit lag dem Wandel im historischen Verständnis des Nationalsozialismus ein Wandel im Verständnis des Historischen zugrunde. Dieser Wandel war durch die Absatzbewegung der Strukturen und Funktionen fokussierenden Sozialgeschichte vom historistischen Paradigma der personenzentrierten Politikgeschichte geprägt.1427 1420 1421 1422 1423 1424 1425 1426 1427

Vgl. Buchheim (1962), S. 38–43. Mann (1958), S. 322. Vgl. Mommsen (2004), S. 104–106. »Hitlers Haltung ist irrtümlich als bewußtes Ausspielen konkurrierender Kräfte interpretiert worden, er war aber in allen Fragen, die einer grundsätzlichen und definitiven Stellungnahme bedurften, ein schwacher Diktator.« Mommsen (1966), S. 98 (Fußnote). So z. B. Wehler (2007). Vgl. Hildebrand (1981). Vgl. z. B. Broszat (1970), S. 405. Vgl. Mommsen (2007), S. 15.

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Den »Personenkult des Historismus«1428 begründete wohl der antisemitische Hofhistoriker der Preußischen Krone, Heinrich von Treitschke, mit einer Vielzahl von Schriften zu Staatsmännern und historischen Persönlichkeiten. Programmatisch legte er den geschichtstheoretischen Zusammenhang von Historismus und Personengeschichte im ersten Band seiner fünfbändigen ›Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert‹ dar: »Männer machen die Geschichte. Die Gunst der Weltlage wird im Völkerleben wirksam erst durch den bewußten Menschenwillen, der sie zu benutzen weiß.«1429 Die im Zitat vorgenommene Identifikation von Volk, historischer Dynamik und großen Persönlichkeiten diente einer die zeitgenössische Herrschaft affirmierenden Geschichtsschreibung, was die Popularität Treitschkes vor allem unter autoritären und borussischen Historikern des Kaiserreichs stützte. Das historische Paradigma der personenzentrierten Geschichtsschreibung blieb auch in den bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnten zunächst bestehen, bis die historistische Geschichtstheorie durch die Strukturgeschichte Konkurrenz erhielt. In seiner Studie zur Geschichte der Geschichtswissenschaft hält Georg Iggers das Paradigma der Strukturgeschichte in Konkurrenz zum Historismus fest: »Die Aufgabe des Historikers besteht nicht mehr nur im Rekonstruieren der einmaligen geschichtlichen Lage, wie sie von einmaligen Persönlichkeiten gestaltet worden ist, sondern auch in der Erforschung der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, der kontinuierlichen Elemente in der sozialen Struktur und der Regelmäßigkeiten in den Entwicklungslinien.«1430

Die Konkurrenzsituation der geschichtswissenschaftlichen Paradigmen wurde anhand der Lehrpläne auch in die bayerische Bildungspolitik überführt. So erwarteten zunächst auch die bayerischen Lehrpläne zum Geschichtsunterricht eine personenzentrierte Ideengeschichte.1431 Der Lehrplan für Geschichte an Volksschulen von 1950 verortete den »Mensch als Träger der Geschichte« im Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts, der als Personengeschichte ›von oben‹ die »Bedeutung schöpferischer Persönlichkeiten« und im Sinne des Vorbildlernens vom »Heldentum des Friedens und der Gerechtigkeit« erzählen sollte.1432

1428 Geiss (2003), S. 417. 1429 Treitschke (1879–1894 [1997]), S. 28. Die Kritik der Geschichte der großen Männer hatte freilich Vorläufer im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, vgl. Wiersing (2007), S. 474– 475. Deshalb ist der Historismus nicht auf Personengeschichte reduzierbar, die Personengeschichte aber sehr wohl aus dem Historismus deduzierbar. 1430 Iggers (1997), S. 351. Die Hinwendung zur Sozialgeschichte war zugleich Folge des von Historikern seit dem Untergang des Deutschen Reichs wahrgenommen Sinnverlusts der Geschichte in der Gegenwart, die im Kontext einer Krise der Moderne erlebt wurde, vgl. Chun (2000), S. 55–62. 1431 Siehe ausführlich zur Entwicklung der Lehrpläne das Kapitel 2.1. 1432 Zitate Bayerisches Kultusministerium (1950c), S. 41.

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Der Lehrplan von 1955 trug diese Aufgabe weiter.1433 Auch der Lehrplan von 1963 sah noch den Menschen im »Mittelpunkt der Geschichtsbetrachtung«,1434 sparte jedoch die Reduktion der Geschichte auf ›schöpferische Persönlichkeiten‹ also eine Personengeschichte ›von oben‹ aus. Der Lehrplan von 1971 reagierte schließlich auf die geschichtstheoretischen Verschiebungen hin zur Sozialgeschichte, indem er »Leben und Handeln des Menschen« als »Glied der Gesellschaft« konzeptualisierte.1435 Auch der etwa zeitgleich veröffentlichte Lehrplan für Realschulen berücksichtigte das strukturtheoretische Paradigma der Sozialgeschichte. Er schlug eine Kompromissformel vor: Geschichtsunterricht » zeigt Zusammenhänge und gewisse Gesetzmäßigkeiten auf, ohne die Einmaligkeit der Persönlichkeit oder eines Geschehens zu übersehen.«1436 Die Vorgaben der Lehrpläne zum personenzentrierten Geschichtsunterricht beherzigten auch die Lehrkräfte, wenn sie als Sachverständige im Zulassungsverfahren die Lehrwerke prüften. So lobte 1959 beispielsweise ein Gutachter von Renate Riemecks ›Geschichte für die Jugend‹: »Der Mensch wird als Träger der geschichtlichen Ereignisse ausgewiesen und Bild und Charakter bedeutender geschichtlicher Persönlichkeiten anschaulich herausgearbeitet.«1437 Noch 1970 hielt ein Gutachter von ›50 Jahre Zeitgeschichte‹, ein Schulgeschichtsbuch für Hauptschulen, das Lehrwerk für ein »rationales Gerippe«, das wohlmöglich zur gymnasialen Oberstufe passe, aber keinesfalls zur Abschlussklasse einer Hauptschule. Denn »Fleisch und Blut, Farbe und menschliches Handeln in der Geschichte fehlen.«1438 Die personenzentrierte Geschichtsschreibung hatte neben dem geschichtstheoretischen vor allem in der Volks- und späteren Hauptschule einen eminent didaktischen Zweck, denn in der Personengeschichte sahen die Lehrkräfte ein zentrales Element zur Vermittlung und zum Aufbau historischen Wissens. So bettete der oben zitierte Gutachter von ›Geschichte für die Jugend‹ des Mundus Verlags sein Lob der personenzentrierten Geschichte in die Prüfung der altersgemäßen Darstellung des Lehrwerks ein. Ein weiterer Mittelschullehrer argumentierte, dass 14- bis 15-jährige Schülerinnen und Schüler, also die Adressaten des Lehrwerks, »einer lebensvollen, auch mitunter spannungsgeladenen Darstellung« bedürfen. Ein »lebendiger Text« entlaste zudem Lehrkraft und Unterricht, da »wirklich Teile des Stoffes der selbständigen Erarbeitung durch die Schüler in allen möglichen überwiesen werden konnten.«1439 Im Gutachten zum neu aufgelegten ›Aus deutscher Vergangenheit‹ aus dem Blutenburg 1433 1434 1435 1436 1437 1438 1439

Vgl. KMBL 1955b, S. 461. KMBL 1963, S. 304. KMBL 1971, S. 470. KMBL 1969a, S. 159. BayHStA MK 64525 Gutachten vom 18. August 1959. Zitate BayHStA MK 64521 Gutachten vom 28. März 1970. Zitate BayHStA MK 64521 Gutachten vom 28. März 1970.

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Verlag forderte ein Lehrer die »schärfere Herausarbeitung einzelner Persönlichkeiten im positiven wie im negativen Sinne«, um so gerade die komplexe »Geschichte der neuesten Zeit in ihrer Vielfalt und in ihrer Weltweite zu vereinfachen und so den 13- bis 14-Jährigen zum Verständnis zu bringen.« Die Personengeschichte war dem Gutachter anscheinend gerade zur Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus ein sinnvolles Mittel. So schloss er an seinen geschichtsdidaktischen Überlegungen an, dass das »pathologische Phänomen Hitler […] zu harmlos dargestellt« sei. Einer zeitgeschichtlichen Darstellung, die mit abstrakten Begriffen operiert, erteilte der Lehrer eine Absage. So sei den Schülerinnen und Schülern nicht gedient, »da ihr geschichtliches Denken doch noch recht primitiv ist.«1440 Im Gutachten zur Neubearbeitung von ›Geschichte unseres Volkes‹ des Oldenbourg Verlags wurde das Lehrwerk gelobt. Aus Sicht des Gutachters gehe »es dem Pubertierenden in erster Linie um das Psychische […], weshalb er nach den Motiven der geschichtlich handelnden Personen sucht […].« Das vorliegende Manuskript komme deshalb gerade durch die personenzentrierte und psychologisierende Geschichtsschreibung den »Forderungen ›moderner Bildung‹, – ›moderner Pädagogik‹ überhaupt –, in anschaulicher und unaufdringlicher Weise positiv nach.«1441 Die zitierten Gutachter waren an Volks- und Hauptschulen ausgebildete, aktive Lehrkräfte. Ihre Positionen zeigen eine geschichtsdidaktische Komponente der hitlerzentrierten Geschichtskultur auf, die in den fachlichen Überzeugungen der Akteure begründet war. Die Personenzentrierung schien gerade für die Vermittlung historischen Wissens ein zentrales Vehikel zu sein schien, da die Personengeschichte weniger die historisch-sozialen als eher die psychischen Dimensionen der Geschichte in den Vordergrund rücke. Die Schülerinnen und Schüler benötigten aus Sicht der Gutachter eine erlebnisorientierte, emotional ausgerichtete Darstellung der Geschichte, um historisches Wissen aufzubauen und historische Prozesse zu verstehen. Die Personengeschichte war also mit den lern- und entwicklungspsychologischen Überzeugungen, die die Lehrkräfte bezüglich der Interessen und Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler hatten, konform. Die Personenzentrierung im Geschichtsunterricht an Volksschulen bildete also nicht nur die geschichtswissenschaftlichen Annahmen und Methoden zur Geschichte im Unterricht ab.Im lern- und entwicklungspsychologisch begründeten, emotional ausgerichteten Geschichtsunterricht zeigte sich noch ein unabhängiger und für die Lehrkräfte anscheinend wesentlicher geschichtsdidaktischer Aspekt der Personenzentrierung, die in der an Volksschulen bis in die 1960er Jahre spezifischen ›volkstümlichen Bildung‹ eingebunden war.1442 1440 Zitate BayHStA MK 64523 Gutachten vom 26. Juli 1960. 1441 BayHStA MK 64520 Gutachten vom 5. Mai 1967. 1442 Vgl. Alavi (2008).

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Dagegen dominierte in den Höheren Schulen nach 1945 der positivistische Grundsatz der Objektivität.1443 »Objektivität ist das Gebot der Stunde«, setzte Walter Schäfer seinem Postulat für den zeitgeschichtlichen Unterricht voran und der behaupteten Unmöglichkeit zeitgeschichtlichen Unterrichts entgegen.1444 Das Vorrecht der vermeintlichen Objektivität positivistischer Geschichtsschreibung prüften die Sachverständigen auch in den untersuchten Zulassungsverfahren. Dabei verstanden sie Objektivität im historistischen Sinne als Darstellung des wahrhaft Gewesenen, das anhand der Objekte der Vergangenheit – den Quellen – in historisch-kritischer Methode herausgearbeitet werden sollte, oder als Perspektiven abwägendes, sachorientiertes Urteilen über historische Tatsachen und Prozesse.1445 Zu ›zeigen, wie es gewesen ist‹, erwartete beispielsweise ein Mittelschulrektor und Gutachter des 1972 vom Schulgeschichtsbuch ›Spiegel der Zeiten‹. So hielt er in seinem Gutachten lobend fest: »Der dargebotene Geschichtsstoff wird den Grundsätzen der Wahrhaftigkeit und der historischen Treue gerecht.«1446 Dagegen verstand ein Schulrektor in einem Gutachten von 1952 unter Objektivität anscheinend ein abwägendes Urteilen. Dafür kritisierte er das von ihm begutachtete ›Grundriss der Geschichte‹. Bei dessen Darstellung des Versailler Vertrags ging ihm »die Objektivität zu weit. Versailles war ein Haß- und Diktatfriede, seine Konsequenz der 2. Weltkrieg«, behauptete der Rektor.1447 Das Gegeneinander beider Begriffe nutzten beispielsweise die Autoren von ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ in ihrer Stellungnahme: Der vom Gutachter vorgebrachte Zweifel »an der Objektivität der Verfasser«, da diese »am Nationalsozialismus nur das Negative« sahen, wiesen die Autoren mit dem konträren Objektivitätsbegriff zurück: »Genau dies aber ist objektiv: der Nationalsozialismus ist als System das negative Modell par excellence«.1448 Lehrkräfte reflektierten den Geschichtsunterricht nicht nur anhand des Fachbezugs, sondern deutlich auch anhand pädagogischer und didaktischer Kriterien, bevor die Geschichtsdidaktik als eigenständige Disziplin institutionalisiert war.1449 Der Geschichtsunterricht an Volksschulen fußte auf der eigen1443 Vgl. Weiß (2015), S. 96–97. 1444 Schäfer (1951), S. 606. Die Unmöglichkeit behauptete Hans Georg Fernis, Mitgründer des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) und Leiter des Landesverbands Rheinland-Pfalz, vgl. Fernis (1951). 1445 In etwa jedem dritten Zulassungsverfahren nutzen die Akteure den Begriff der ›Objektivität‹, um ihre Argumentationen zu untermauern. 1446 BayHStA MK 64261 Gutachten vom 14. Juni 1972. 1447 BayHStA MK 63819 Gutachten vom 10. August 1952. 1448 BayHStA MK 64363 Gutachten vom 24. Oktober 1960. 1449 Erst 1961 wurde eine Professur für Geschichtsdidaktik in Hessen eingerichtet. 1973 gründeten Didaktiker die ›Konferenz für Geschichtsdidaktik‹ als eigenständigen Fachverband mit eigener Zeitschrift, die seitdem neben der ›Geschichte in Wissenschaft und Unterricht‹ bestand. Dieser Institutionalisierung gingen freilich eine lange Tradition geschichtsdidaktischer Konzepte und Überlegungen voraus. Vgl. Deile (2014).

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ständigen Traditionslinie der ›Erzähldidaktik‹, die in der Weimarer Republik zaghaft in die Schulgeschichtsbücher und den Geschichtsunterricht Höherer Schulen einging.1450 Die zurückhaltende Rezeption der ›volkstümlichen Bildung‹ an Höheren Schulen kann die vergleichsweise geringe Berücksichtigung der Emotionen in der Darstellung des Historischen erklären. Zwar glichen sich die Vorgaben zum Fachunterricht an den Schularten im Laufe des Untersuchungszeitraums an, was die Analyse der Lehrpläne belegt,1451 dennoch blieb der Fachunterricht an Höheren Schulen deutlich kognitivistisch ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund schätzen die Lehrkräfte an Höheren Schulen auch den Stellenwert der Personengeschichte im Unterricht anders ein. Nicht auf das Erleben der Geschichte, also die emotionale Verarbeitung und Vermittlung durch Personen, sondern auf das kognitive Urteilen über Geschichte und das Bewerten historischer Persönlichkeiten, im Jargon der Zeit als Würdigung bezeichnet, zielten Lehrkräfte im Geschichtsunterricht ab. So wurde in einem Gutachten zum Mittelstufenband für Höhere Schulen des geschichtlichen Unterrichtswerks von Klett gelobt, dass die Verfasser »die geschichtlichen Tatsachen und Quellen besonders bei der Geschichte des ›Dritten Reiches‹« sprechen lassen. Der begutachtende Lehrer führte weiter aus: »Aber sie versäumen darüber nicht, bei der Übersicht über einzelne Geschichtsepochen oder über das Wirken einzelner Persönlichkeiten klar Stellung zu beziehen.«1452 Das Handeln und Wirken historischer Persönlichkeiten diente weniger dazu, historische Stoffe emotional zu vermitteln. Deren Darstellung sollte vielmehr in eine sachorientierte Wertung münden, die von den Verfassern selbst vorgenommen und an die Schülerinnen und Schüler transmittiert werden sollte. Gleichwohl war die Persönlichkeitsschilderung auch in Höheren Schulen als Methode zur Reduktion des kognitivistischen Anspruchs anerkannt. In einem Gutachten zu ›Europa und die Welt‹ wurde moniert, dass das Manuskript die »Gelegenheiten zu anschaulicherer und lebendigerer Gestaltung« nicht wahrgenommen habe und schlug statt der im Lehrwerk genutzten »abstrakten Formulierungen« vor, die »Persönlichkeitsschilderung« stärker zu nutzen.1453 Der personenzentrierte Geschichtsunterricht wurde allerdings bereits Mitte der 1960er Jahre kritisiert. Der Soziologe Ludwig von Friedeburg (SPD), der 1969 hessischer Kultusminister wurde, und der Historiker Peter Hübner sahen eine personalisierende Darstellung der Zeitgeschichte nicht mit dem Aufbau eines demokratischen Geschichtsverständnisses vereinbar und hoben den ideologischen Gehalt der Personengeschichte hervor:1454 1450 1451 1452 1453 1454

Vgl. Weiß (2009). Siehe Kapitel 2.1. Zitate BayHStA MK 63844 Gutachten vom 6. Juli 1959. BayHStA MK 63836 Gutachten vom 25. August 1959. Vgl. Friedeburg und Hübner (1964), S. 47.

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»Das personalisierende Geschichtsbild mit seinen anthropomorphen Kategorien verstellt den Zugang zur Vergangenheit dieser Gesellschaft. Indem die Vorstellung von ihr als Machwerk übermächtiger Subjekte scheinbares Verständnis vermittelt und moralische Verurteilung erleichtert, entbindet sie zugleich die Individuen von der kritischen Reflexion auf die historisch bedingten, gesellschaftlichen Prozesse der Gegenwart.«1455

Sie warnten zudem, dass »über die Vorstellung vom übermächtigen Subjekt der Geschichte latent eine positive Bewertung der Hitler zugeschriebenen autoritären Eigenschaften« in das Geschichtsbewusstsein der Jugendlichen mit einfließe.1456 Klaus Bergmann kritisierte 1972 die Personalisierung der Geschichte im Unterricht, denn ein personalisierter Geschichtsunterricht entpolitisiere das historische Bewusstsein und fördere simplifizierende Deutungsmodelle des Historischen, »indem er Geschichte als das Entscheidungs- und Handlungsfeld übermächtiger Subjekte darstellt und gesellschaftliche und ökonomische Prozesse« auf übermächtige Subjekte reduziere.1457 In die gleiche Richtung argumentierte der marxistische Marburger Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl in seiner mit Studierenden durchgeführten ideologiekritischen Analyse von Schulgeschichtsbüchern. Die personalisierte Geschichte erkläre geschichtliche Prozesse und Leistungen als Produkt einzelner Personen, trenne den Zusammenhang von gesellschaftlicher Realität, politischer Einstellung und individueller Reaktion, wodurch sie moralisierende und psychologisierende Begründungen individuellen Handelns einführe. In der Funktion entpolitisiere diese Form des Geschichtsunterrichts die Lernenden und fixiere ihr historisches Denken autoritär auf vermeintlich mächtige Personen.1458 In einem Satz: Die Kritiker desavouierten die personenzentrierte Geschichte als undemokratische Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik. Als Gegenbegriff zur personalisierten Geschichte schlug Klaus Bergmann die Personifizierung vor, die zwar weiterhin den Menschen als historisches Subjekt in den Mittelpunkt der Geschichtsschreibung rückt, diesen aber in das zeitgenössische soziale Gefüge einband. Nicht mehr ›große Männer‹ sollten Geschichte machen, sondern Geschichte sollte »an namenlosen Individuen und aus der Sicht namenloser Individuen« personifiziert werden, ohne »nicht personale Elemente wie wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen« zu vernachlässigen, da sich in diesem Rahmen »historisch-politisches Handeln vollzieht«.1459 Damit schlug Bergmann eine Brücke von der personenzentrierten zur strukturalistischen, sozialgeschichtlichen Geschichtstheorie, indem die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher sozialer Gruppen, Klassen, Stände etc. durch Figuren dargestellt werden sollte, die einen bestimmten so1455 1456 1457 1458 1459

Friedeburg und Hübner (1964), S. 43. Friedeburg und Hübner (1964), S. 45. Vgl. Bergmann (1972), S. 61. Vgl. Kühnl (1973), S. 187–192. Zitate Bergmann (1972), S. 82–83.

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Geschichte des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren

zialen Typus vertraten. Durch diese »Personifizierung historisch-gesellschaftlicher Sachverhalte«1460 sollte ein multiperspektivischer Geschichtsunterricht geleistet werden, was die demokratische Bildung erst sicherte.1461 Unter dem Eindruck der Curricularisierung erarbeitete ein junger Hauptschullehrer im November 1971 ein stark theoriegeleitetes Gutachten zu den Bänden 1 bis 3 von ›Unser Weg durch die Geschichte‹ des Hirschgraben Verlags. Bevor er Anmerkungen zum Manuskript machte, begründete er unter Verweis auf zeitgenössische Fachliteratur seine Vorstellung »modernen Geschichtsunterrichts«, die er in Relation zum Werk stellte. In diesem Konzept hob er die »Forderung nach mehr Wissenschaftlichkeit« sowie die »Forderung nach pluralistischem Geschichtsunterricht«, den »Mut zur Lücke« und den »Wechsel in den Arbeitsmethoden« hin zu offenen Sozialformen der Gruppenarbeit als wesentliche Strukturmerkmale hervor.1462 Der Geschichtsunterricht müsse diesen Vorgaben gemäß klar gegenwartsorientiert und auf den Aufbau eines demokratischen Geschichts- und Politikverständnisses hin ausgerichtet sein, solle nicht länger aus nationaler Sicht betrieben und nicht mehr Gesetzmäßigkeiten, sondern allenfalls historische Grundbegriffe herausarbeiten. Die bisherige im Mittelpunkt stehende Lehrererzählung müsse durch »vermehrte Quellenarbeit« auf die Funktion der Einführung in die Quellen reduziert werden. Als dramatisierende, lokalisierende und personifizierende Darbietung solle die Lehrererzählung nur dann noch herangezogen werden, wenn »die geschichtliche Quelle nicht vorhanden oder nicht verwertbar ist, und auch dann […] mit aller Vorsicht und möglicher Objektivität«. Als pluralistischen Geschichtsunterricht verstand der Hauptschullehrer eine gegenwarts- und weltbezogene Vermittlung des historischen Stoffs und einen Unterricht, der Geschichte »aus verschiedenen Sichtweisen darstellt und zu verschiedenen Beurteilungsmöglichkeiten Anstoß gibt.«1463 Dieser offen angelegte Unterricht könne, so der Gutachter weiter, die Bereitschaft zur Übernahme politischer Verantwortung vermitteln, was er als gewichtige Bezugspunkte moderner Geschichtsvermittlung ansah. 1460 Bergmann (1972), S. 83. 1461 Ob diese Figuren »fiktive oder reale Personen« sind, war Bergmann einerlei, solange die gesellschaftlichen Strukturen erkennbar und aufzeigbar sind. Bergmann (1972), S. 83. Damit erhielt das Konzept der Personifizierung einen Rest ahistorischer Geschichtsschreibung. 1462 Zitate BayHStA MK 64521 Gutachten vom 9. November 1971. Hervorhebungen im Original durch Unterstreichung. Der Gutachter zog seine Forderungen aus einem programmatischen Aufsatz Walter Fürnrohrs, in der er gegen die Vereinnahmung des Geschichtsunterrichts durch die politische Bildung und vor allem vor dem historischen Materialismus warnte. Dabei übernahm der Gutachter die Forderung nach mehr Wissenschaftlichkeit, Pluralismus und modernen Arbeits- und Sozialformen aus dem Aufsatz, vgl. Fürnrohr (1970). 1463 Zitate BayHStA MK 64521 Gutachten vom 9. November 1971.

Warum Hitler? Fachliche Überzeugungen in den Zulassungsverfahren

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Den Ausführungen stellte der Sachverständige eine anthropologisch ausgerichtete Geschichtstheorie voran. Dazu verwies er auf den bayerischen Landeshistoriker und Schulbuchautoren Karl Bosl, wonach Geschichte ein Schauspiel sei, »in dem sich das wesentliche Werden des Wesens Mensch in seinen verschiedenen historischen Formen und Ausprägungen vollzieht«, was im gesellschaftlichen, institutionellen und überindividuellen Wandel fassbar werde. »Das soziale Subjekt im Wandel der Geschichte zu erkennen«, erhob Bosl zur Aufgabe der deutschen Geschichtsforschung.1464 An diesem historisch-anthropologischem Forschungsprogramm anschließend erkannte der Gutachter auch für den Geschichtsunterricht: »Zentrum der Geschichte ist also der Mensch als soziales, geschichtstragendes Wesen«, weshalb der Geschichtsunterricht weniger Politikgeschichte noch Nationalgeschichte zu behandeln habe, sondern »der Mensch und sein Handeln« im Rahmen einer »universale[n] Geschichtsbetrachtung« zu analysieren sei, in der dann auch die National- und Landesgeschichte »einen ihnen gebührenden Platz haben«.1465 In diesem Rahmen nutzte der Gutachter dementsprechend konsequent auch den Gattungsbegriff Mensch, statt von den Menschen zu sprechen. Im Gegensatz zu Bergmanns Idee der Personifizierung standen nicht soziale Typen im Vordergrund, sondern die Abstraktion der Diversität menschlichen Lebens auf den Gattungsbegriff. Inwiefern diese anthropologische Ausrichtung mit der multiperspektivischen Methode in Einklang zu bringen und eine sinnvolle Abstraktion im Geschichtsunterricht möglich sei, reflektierte der Sachverständige nicht. Das Gutachten kann allerdings als ein Kompromiss des in den Lehrplänen vorgegeben historisch-politischen und anthropologischen Bildungsziels angesehen werden. Auffällig ist die klare Argumentation für einen wissenschaftsorientieren Unterricht, in dessen Zusammenhang der Hauptschullehrer einer emotionalisierenden Lehrererzählung sowie der personalisierten Geschichte eine Absage erteilte. Hitlerzentrierung und fachliche Überzeugungen Die hitlerzentrierte Geschichtskultur stand bis in die 1970er Jahre auf mehreren Füßen: Gewichtig war der im Nationalsozialismus etablierte Hitler-Mythos als Personalisation der ›NS-Volksgemeinschaft‹, der in der Bundesrepublik fortweste. Die Lehrkräfte standen deshalb vor der Herausforderung, historisches Wissen gegen eine positive Transmission des Hitler-Mythos zu vermitteln. Indem sie Hitler ins Zentrum des geschichtskulturellen Umgangs mit der nationalso1464 Zitate Bosl (1966), S. 942. Der Aufsatz war ursprünglich ein Festvortrag zum 75-jährigen Jubiläums des Historischen Vereins Dillingen und wurde im Jahrbuch des Vereins bereits 1964 gedruckt. Der Gutachter verweist aber auf die hier genannte Dublette. 1465 Zitate BayHStA MK 64521 Gutachten vom 9. November 1971. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung.

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Geschichte des Nationalsozialismus in den Zulassungsverfahren

zialistischen Vergangenheit rückten und zum mächtigen historischen Subjekt erhoben, konnten sie das positive Bild Hitlers dekonstruieren. Die Personalisierung des Nationalsozialismus in Hitler erlaubte den Akteuren, das propagandistische Bild Hitlers als großartigen Staatsmann, als ›Größten Feldherr aller Zeiten‹ oder als von der ›Vorsehung‹ geschickten Retter des deutschen Volks zu dekonstruieren und sich über den Umweg Hitler auch mit dem ihm identisch angesehenen Nationalsozialismus deutlich zu distanzieren. In diesem Zusammenhang entlastete die Personalisierung die mehrheitsdeutsche Bevölkerung als von Hitler geblendete, verführte und schließlich ohnmächtige Objekte des Regimes, denn die Schuld der Mehrheitsdeutschen reduzierte sich darauf, Hitler vertraut zu haben. Deshalb diente die geschichtskulturelle Kritik Hitler auch der Läuterung. Die hitlerzentrierte Geschichtskultur führte allerdings die im Nationalsozialismus geschaffene Imagination des übermächtigen Hitlers mit umgekehrten Vorzeichen weiter: Aus dem von der ›Vorsehung‹ geschickten Hitler wurde der dämonische Verführer des Volkes. In dieser postnazistischen Stimmung allein ist die hitlerzentrierte Dominanz der hegemonialen Geschichtskultur bei der Aushandlung von Schulbuchinhalten nicht begründet, denn der Fokussierung auf Hitler lagen auch geschichtstheoretische und (geschichts-)didaktische Überzeugungen der Lehrkräfte zugrunde. Bereits in der kritischen Auseinandersetzung mit dem residualen Hitler-Mythos sahen die Lehrkräfte in der Vermittlung historischer Deutungen ein Mittel zur historisch-politischen Bildung, da die Abkehr vom Hitler-Mythos eine Voraussetzung für die Erziehung zur Demokratie war. Neben dem politischen Zweck der historischen Bildung erkannten die geschichtswissenschaftlich geschulten Lehrkräfte in der personenzentrierten Darstellung eine geschichtstheoretisch anerkannte Form historischen Erzählens, zumal arrivierte Historiker bereits historisches Wissen zum Nationalsozialismus bereitstellten, das auch auf dem Konzept der Geschichte großer Männer basierte. Deshalb war der hitlerzentrierte Deutungsmodus konform zu den epistemologischen Überzeugungen der Lehrkräfte hinsichtlich der Struktur historischen Wissens. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die geschichtspolitische Dimension hegemonialer Geschichtskultur in Schulgeschichtsbüchern nicht zwingend Intention der Lehrkräfte war, die mitunter die Vermittlung und den Aufbau eines bestimmten historischen Denkstils im Blick hatten. In diesem Sinne erkannten vor allem Volksschullehrer, aber auch Lehrkräfte Höherer Schulen die didaktische Relevanz der personalisierten Geschichtsschreibung für die Genese historischen Wissens im Unterricht: Wegen der Greifbarkeit und der Möglichkeit zur Emotionalisierung und Dramatisierung sahen Lehrkräfte an Volks- und Hauptschulen in der Personalisierung eine schülergerechte historische Darstellungsform, die im Sinne ›volkstümlicher Bildung‹ zur Genese historischen Wissens beitrage. Insofern lag die Wahl einer hitlerzentrierten Darstellung in dem Ver-

Warum Hitler? Fachliche Überzeugungen in den Zulassungsverfahren

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such, komplexe historische Prozesse den lern- und entwicklungspsychologischen Annahmen kindgemäß anzupassen. Lehrkräfte Höherer Schulen hoben historische Persönlichkeiten im Unterricht weniger wegen der erlebnishaften Vermittlung des historischen Wissens, sondern wegen der Möglichkeit zum sachorientierten Urteilen im Sinne einer abwägenden Würdigung historischer Persönlichkeiten hervor. Insofern diente der hitlerzentrierte Deutungsmodus im gymnasialen Geschichtsunterricht eher dazu, zu einem kognitiv gewonnenen Urteil über den Nationalsozialismus und dessen innere Dynamik zu kommen. Vor diesem Hintergrund kann die geforderte hitlerzentrierte Darstellung des Nationalsozialismus als durchaus anerkannte Überzeugung von Lehrkräften hinsichtlich des Aufbaus historischen Wissens verstanden werden. Weil die Hitlerzentrierung mit den fachlichen Überzeugungen von Lehrkräften hinsichtlich Zweck, Struktur und Genese historischen Wissens durchaus konform war, konnte sie in den Schulgeschichtsbüchern geräuschlos implementiert werden und avancierte zur hegemonialen Geschichtskultur hinsichtlich der Darstellung des Nationalsozialismus in Lehrwerken. Erst mit der geschichtstheoretischen Tendenzwende der späten 1960er und frühen 1970er Jahre von der personen- zur strukturorientierten Geschichtstheorie, die als Konkurrenz von Historismus und Sozialgeschichte ausgetragen wurde, geriet auch die personalisierte Geschichtsvermittlung zusehends in die Kritik, da sie die strukturellen Bedingungen menschlichen Handelns – die das wesentliche Kriterium des neuen Paradigmas war – nur schwer vermitteln konnte. Zudem markierte die von Klaus Bergmann ausgeführte Kritik der personalisierten Geschichtsvermittlung bereits einen Paradigmenstreit, der auf geschichtsdidaktischer Ebene die tendenzielle Abkehr vom Hitlerzentrismus vorbereitete, ohne die hitlerzentrierte Geschichtskultur zu verdrängen.

4.

Zusammenführung und Ausblick

Wer erinnerte? Was wurde erinnert? Wie wurde erinnert? Die vorliegende Studie untersucht die strukturelle Entwicklung und die Praxis der bayerischen Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern, welche die Geschichte des Nationalsozialismus behandeln. Gestützt auf das in Kapitel 1.2. entwickelte Begriffspaar geschichtskulturelle Hegemonie und hegemoniale Geschichtskultur vollzieht sie zwei wesentliche Analyseschritte: Eine institutionenzentrierte Analyse erläutert die äußere und innere Entwicklung des bayerischen Zulassungsverfahrens, um die deutungsmächtigen Positionen, Machtverhältnisse und Rahmenbedingungen dieser geschichtskulturellen Institution herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt analysiert sie die konkreten Zulassungsverfahren, um alternierende Deutungen, Deutungskonflikte und die hegemoniale Geschichtskultur zum Nationalsozialismus in ihrem Wandel zu erörtern. Die Ergebnisse der einzelnen Analyseschritte sind den jeweiligen Kapiteln angeschlossen. Im Folgenden werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund der Frage danach, wie im Bayerischen Kultusministerium geschichtskulturelle Hegemonie verteilt war und hegemoniale Geschichtskultur kontrolliert wurde, synthetisiert und diskutiert.

4.1. Zulassungsverfahren als geschichtskultureller Hegemonieapparat »Die Entscheidung für ein Geschichtsbuch ist auch ein politischer Akt.«1466 Mit diesen Worten leitete ein Gutachter von Hirschgrabens ›Fragen an die Geschichte‹ seine Begründung zur Ablehnung des Schulgeschichtsbuchs ein. Die vorliegende Arbeit zeigt auf, dass Schulgeschichtsbücher im doppelten Sinne geschichtspolitische Medien sind. Geschichtspolitik besitzt, folgt man Claus

1466 BayHStA MK 63831 Gutachten vom 27. Januar 1974.

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Zusammenführung und Ausblick

Leggewie und Erik Mayer1467 oder Birgit Schwelling,1468 eine symbolisch-öffentliche sowie eine justiziell-administrative Dimension, die in der Zulassung von Schulgeschichtsbüchern zusammenkommen. Auf symbolischer Ebene dienen Schulgeschichtsbücher zur Konstruktion »von Geschichts- und Identitätsbildern«,1469 die auf national gerahmte, kollektive Identität zielen. Die Gutachterinnen und Gutachter prüften, inwieweit dieser Zweck von den Schulgeschichtsbüchern erfüllt wurde. Die Akteure der analysierten Zulassungsverfahren nahmen die Schulgeschichtsbücher als ›nationale Autobiographien‹ wahr, wenn sie die Deutungen der Vergangenheit in einen nationalen Rahmen setzten und Deutungskonflikte auch im Kontext der Nationalgeschichte debattierten. Gleichwohl fügten sich die geschichtskulturellen Debatten zur Darstellung des Nationalsozialismus in Schulgeschichtsbüchern nicht in diesen geschichtspolitischen Rahmen ein. In der Analyse der Zulassungsverfahren können drei themenübergreifende Spannungsfelder herausgestellt werden, die in der zeitgenössischen und institutionellen Anordnung der kultusministeriellen Kontrollinstanz als geschichtskultureller Hegemonieapparat begründet sind: Erstens debattierten die Akteure die Geschichte des Nationalsozialismus immer wieder im Spannungsfeld von persönlicher Erinnerung, Aufarbeitung und historischer Schuld. Zweitens stand die Geschichte des Nationalsozialismus im Spannungsfeld historischer Vermittlung und antitotalitär gerahmter Vereindeutigung der Vergangenheit und drittens befand sich die Zulassung von Lehrwerken im Spannungsfeld von bildungspolitischen Vorgaben und pädagogischer Reflexion. Gleichzeitig war die Aushandlung historischer Narrative durch drei strukturelle Dimensionen geprägt: dem Personenbestand der Zulassungsverfahren, der Verteilung historischer Deutungsmacht auf diese Personen und den inhaltlichen und didaktischen Vorgaben des Ministeriums in Form von Lehrplänen und Richtlinien. Diese Spannungsfelder und Dimensionen werden im Folgenden gebündelt charakterisiert. Auswahl der Sachverständigen und fachliche Überzeugungen Etwa hundert Sachverständige waren im Untersuchungszeitraum in die Begutachtung von über sechzig Schulgeschichtsbüchern eingebunden. Die meisten Gutachterinnen und Gutachter bewerteten in diesem Zeitraum nur ein Schulgeschichtsbuch, das den Nationalsozialismus thematisierte. In seltenen Fällen 1467 Die administrative und symbolische Dimension von Geschichtspolitik führten zunächst Mayer und Leggewie in ihrer Studie zur Debatte um das Mahnmal der ermordeten Juden Europas zusammen, siehe Leggewie und Meyer (2005). 1468 Schwelling kritisiert den Ansatz als unzureichend, da die Studie in der administrativen Dimension verharrt. Vgl. Schwelling (2008), S. 105–106. 1469 Wolfrum und Bock (1999), S. 9.

Zulassungsverfahren als geschichtskultureller Hegemonieapparat

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wurden sie häufiger herangezogen. Ausschlaggebend für die Auswahl der Gutachterinnen und Gutachter waren vor allem beruflich-fachliche Kriterien. So bestätigt die biographische Untersuchung der Gutachterinnen und Gutachter, dass vor allem Funktionslehrkräfte (z. B. Seminarlehrer) oder Lehrkräfte mit Erfahrung im Bereich der Schulbuchproduktion herangezogen wurden. Die ausgewählten Lehrkräfte brachten in der Regel mehrjährige Unterrichtserfahrung mit, hatten teilweise selbst Schulgeschichtsbücher veröffentlicht oder besaßen sogar einen Doktorgrad. Einer der untersuchten Lehrer war in der Lehrplankommission tätig. Einige der Gutachter waren Rektoren. Die Sachverständigen hatten also bereits vergleichsweise hohe Funktionsstellen im bildungspolitischen Betrieb inne oder konnten breite Fachkenntnis und fachliche Kompetenzen ausweisen. Diese Aspekte wurden auch bei der Erstellung eines Gutachter-Pools für Volksschulbücher berücksichtigt, wenn theoretischen Studien bzw. schulpraktische Erfahrungen als ausschlaggebende Kriterien bei der Auswahl möglicher Sachverständiger genannt wurden. Daneben können auch persönliche Bekanntschaften und räumliche Nähe zu München wichtige Faktoren für die Auswahl von Sachverständigen gewesen sein (siehe 2.3.1.). Das Bayerische Kultusministerium band zudem die Vertreter der beiden Amtskirchen in die Kontrolle der Volksschulbücher ein und installierte für die Heimatvertriebenen und ›volksdeutschen‹ Flüchtlinge mit dem Ostkunde-Referat sogar eine eigne Interessenvertretung, die das Recht besaß, in die Schulbuchgestaltung einzugreifen. Doch erst nach einem Antrag der SPD im Bayerischen Landtag von 1958 begann das Kultusministerium, dezidiert geschichtswissenschaftliche Expertise in die Zulassungsverfahren einzubinden, indem auch das Zentrum für Zeitgeschichte in München frequentiert wurde (siehe 2.3.2.). Eine Vertretung der Holocaustüberlebenden oder anderer Opfer des NS-Regimes, die ein Interesse an einer sachlichen Aufarbeitung und didaktischen Reflexion historischer Darstellungen zum Nationalsozialismus haben könnten, wurden nicht explizit als Sachverständige eingebunden. Die Auswahl der Gutachter nach Kriterien der Berufserfahrung und der Positionen war möglicherweise für Lehrkräfte eine Hürde, die im Nationalsozialismus durch Flucht, Exil und Verfolgung gebrochene Karrierewege aufwiesen. Einer der untersuchten Gutachter ist zum Ende des Zweiten Weltkriegs in einer widerständigen Gruppe organisiert gewesen, während alle anderen untersuchten Akteure im polykratischen NS-Staat integriert gewesen sind. Meist sind sie in den verschiedenen NS-Verbänden organisiert gewesen und haben teilweise Funktionsstellen, etwa als Vertrauensperson des NS-Lehrerverbands, als Offizier der Hitlerjugend oder der NSDAP übernommen. Fast alle der untersuchten männlichen Akteure haben als Soldaten und Offiziere der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gekämpft, sind in Kriegsgefangenschaft geraten und ›entnazifiziert‹ worden (siehe 2.3.1.).

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Zusammenführung und Ausblick

In den Zulassungsverfahren der Nachkriegsjahrzehnte flossen auch die Primärerfahrungen der beteiligten Akteure ein und wurden tradiert. Diese Primärerfahrungen formten segmentierte Erinnerungen, die von der individuellen, perspektivischen Betroffenheit vom Nationalsozialismus abhingen. Wegen der perspektivischen Betroffenheit schufen die Erinnerungsweisen »fragmentierte und pluralistische Erfahrungsräume, die mit dem historischen »Gesamtgeschehen […] wenig zu tun hatten.«1470 Zwar blieben direkte Bezüge zum eigenen Erleben die Ausnahme, die Sachverständigen erwähnten aber stellenweise ihre eigene ›Verblendung‹ oder zitierten Reden Hitlers aus der Erinnerung. Ein Autor verwies beispielsweise auf seine persönlichen Erfahrungen als Wehrmachtssoldat in Polen, um die im Schulgeschichtsbuch dargestellte Rolle der sog. »Volksdeutschen« zu plausibilisieren (siehe 3.5.2.). Damit explizierten die Akteure auch den Zusammenhang von erlebter Vergangenheit und historischer Deutung. Im Zulassungsverfahren flossen diese Primärerfahrungen in einen »institutionalisierten Erinnerungsraum« ein,1471 wodurch die subjektiven Erinnerungen im jeweiligen Schulgeschichtsbuch materialisiert und das spezifische Geschichtsbewusstsein der Akteure auf diese Weise in die hegemoniale Geschichtskultur einging. Zwar ist nur eine geringe Stichprobe der Gutachterinnen und Gutachter sowie der Ministerialbeamten kollektivbiographisch ausgewertet, diese Personen hatten jedoch vergleichsweise hohe Deutungsmacht, da sie entweder stark frequentierte Sachverständige waren oder als Beamte des Kultusministeriums Entscheidungsmacht besaßen. Die spezifische Auswahl von Gutachterinnen und Gutachter prägte einen geschichtskulturellen Hegemonieapparat, in dem auch die segmentierten Erinnerungsräume der Mehrheitsdeutschen in den Schulgeschichtsbüchern institutionalisiert und schließlich an die nachfolgende Generation tradiert wurden. Durch den kollektivbiographischen Deutungsrahmen soll freilich nicht die spezifische Qualität eines jeden Zulassungsverfahrens außer Acht gelassen werden, die sich gerade aus der kontingenten Zusammensetzung von Text und Personenbestand ergab. Kaum ein Gutachter war regelmäßig an Zulassungsverfahren beteiligt, dessen Interessen und Haltungen konnten den Gang des Verfahrens – und damit die Gestaltung des Textes sehr wohl beeinflussen. Die Wirkung der Zulassungsverfahren war wegen dieser personellen Diskontinuität von einer gewissen Zufälligkeit geprägt. Die Sachverständigen griffen auch auf geschichtswissenschaftliches Wissen zurück, um die Darstellungen und Quellen in den Schulgeschichtsbüchern zu bewerten. So zeigt beispielsweise, dass der sog. Gerstein-Bericht bald nach der Veröffentlichung des edierten Berichts in den Lehrwerken aufgenommen wurde. 1470 Koselleck (1999), S. 214. 1471 Koselleck (1999), S. 215.

Zulassungsverfahren als geschichtskultureller Hegemonieapparat

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Etwa fünf Jahre nach der Veröffentlichung zitierte eines der untersuchten Schulgeschichtsbücher die Quelle, die die Durchführung des industriellen Massenmords belegte, was bald auch konkurrierende Verlage nachahmten (siehe 3.3.). Zudem beeinflusste der geschichtstheoretische Wandel vom Historismus zur Sozial- und Strukturgeschichte spätestens seit Mitte der 1960er Jahre auch die Debatten in den Zulassungsverfahren. So zeigt beispielsweise Kapitel 3.7. u. a. auf, dass die personalisierte Geschichtsvermittlung mit der geschichtstheoretischen Tendenzwende der späten 1960er und frühen 1970er Jahre zusehends in die Kritik geriet, da sie die strukturellen Bedingungen menschlichen Handelns – die das wesentliche Kriterium des neuen Paradigmas war – nicht länger vermitteln konnte. Der geschichtstheoretische Wandel war deshalb ein gewichtiger Aspekt für den tendenziellen Rückgang der personalisierenden, hitlerzentrierten Geschichtskultur. Hitler wurde in der Regel als übermächtiger Demagoge und vor allem in den 1950er Jahren als Dämon chiffriert, der wegen seiner Rednergabe die Deutschen in seinen Bann gezogen habe. Auf geschichtspolitischer Ebene erlaubte diese Darstellung die klare Distanzierung von Hitler und dem mit ihm identifizierten NS-Regime, ermöglichte aber auch, den Nationalsozialismus als Bruch mit der deutschen Nationalgeschichte aufzufassen (siehe 3.2.). Dementsprechend wurde auch der Antisemitismus bis in die Mitte der 1960er Jahre häufig als Wahn Hitlers erklärt, statt die ideengeschichtlichen Entwicklungslinien und die Verbreitung dieser Ideologie in der Bevölkerung vor 1933 zu thematisieren (siehe 3.3.). Die Hitlerzentrierung war auch ein Effekt der nationalsozialistischen Propaganda, die Hitler zum übermenschlichen und von der ›Vorsehung‹ geschickten ›Führer‹ stilisiert hat. Sie hatte eine Wurzel in den Residuen des antidemokratischen Denkens, ebenso wie die Kritik des Parlaments als Ort des ›Parteihaders‹ in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Untergang der Weimarer Republik (3.1.2.) oder antikommunistischen Darstellungen in Schulgeschichtsbüchern zum Ende des Zweiten Weltkriegs (3.5.). Diese Residuen transmittierten über und trotz der Zulassungsverfahren in die bayerischen Schulgeschichtsbücher und wurden erst langsam ausgeschlichen oder transformiert. Der schleichende Rückgang dieser Hitlerzentrierung kann als geschichtskulturelle Tendenzwende infolge der gestiegenen Relevanz der Sozial- und Strukturgeschichte für die Akteure der Zulassungsverfahren verstanden werden. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass das Zulassungsverfahren zwar ein politisches Instrument war, die beteiligten Lehrkräfte aber insbesondere auf Basis ihrer impliziten fachlichen Überzeugungen zur Spezifik historischen Wissens und dem Aufbau historischen Denkens von Schülerinnen und Schülern agierten. So erkannten die Lehrkräfte eine kindgemäße historische Darstellung als hohen Wert an, was sie wegen der Möglichkeit zum affektiven Lernen oder kognitiven Würdigen in der personenzentrierten Geschichtsschreibung erfüllt sahen. Hinzu

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Zusammenführung und Ausblick

kam, dass die Personenzentrierung eine durchweg anerkannte Form historischer Darstellung war, was die geschichtswissenschaftlich geschulten Lehrkräfte beherzigten. Die Stabilität der hitlerzentrierten Geschichtsschreibung in Schulgeschichtsbüchern ergab sich also nicht nur aus den geschichtspolitischen Zielen des Bayerischen Kultusministeriums, sondern auch aus den pädagogischen und geschichtstheoretischen Überzeugungen zur Struktur und Genese historischen Wissens der Akteure (siehe 3.7). Zeitgeschichtliche Darstellungen in Schulgeschichtsbüchern sind also Amalgam des durch Erleben und Erlesen gewonnenen Geschichtsbewusstseins, der impliziten fachlichen Überzeugungen, geschichtspolitischen Haltungen der an der Produktion beteiligten Akteure sowie den normativen Vorgaben des Ministeriums. Zwar waren wohl viele Gutachterinnen und Gutachter ehemals im NS-Regime integriert, den Ministerialbeamten war aber zumindest zu Beginn der 1950er Jahre der mögliche Zusammenhang von NS-Ideologie, Mitgliedschaft in NSVerbänden und historischem Narrativ bewusst. Das Schulgeschichtsbuch ›Geschichte unseres Volkes‹ wurde unter anderem deshalb 1951 nicht zugelassen, weil einer der beiden Autoren bereits 1931 der NSDAP beigetreten ist und es dem zuständigen Ministerialbeamten nicht glaubhaft erschien, dass der Autor sich trotz guten Willens von der NS-Ideologie befreien konnte. Allerdings wurde der zuständige Referent vom Abteilungsleiter dafür gerügt, einen bayerischen Traditionsverlag vor den Kopf gestoßen zu haben, sodass eine überarbeitete Fassung des Lehrwerks 1955 zugelassen wurde, ohne die Autorschaft des ›Alt-Pg.‹ auszuzeichnen (siehe 2.4.). Zweifelsohne gab es auch einzelne Gutachter, die etwa auf das Engagement der ›Durchschnittsdeutschen‹ im Nationalsozialismus hinwiesen. Hervorzuheben ist hier beispielsweise nochmals die Forderung eines Mittelschullehrers, der »ein Wort der Kritik über den biederen deutschen Durchschnittsbürger« vermisste.1472 Das ehemalige Mitglied der Hitlerjugend und der NSDAP, die er allerdings 1941 verlassen hat, ist während seines Kriegseinsatzes in einem Regiment stationiert gewesen, das für die Funknachrichten zwischen dem Obersten Kommando des Heeres und den verschiedenen Kommandoebenen zuständig gewesen ist. Dort hat er vermutlich auch die Dimensionen der massenhaften Kriegs- und NS-Verbrechen in Erfahrung gebracht. Die geschichtskulturelle Artikulation stellte eine der seltenen Ausnahmen in den Zulassungsverfahren dar. Herauszuheben sind auf Seite der Verlage auch die progressiven Autoren Hermann Glaser und Harald Straube, die mit ihrem modularisierten Lehrwerk ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ nicht nur den Leitfadenstil durchbrachen, sondern bereits 1962 den Antisemitismus als wesentliches Element des Nationalsozialismus anerkannten, wofür sie im Zulassungsverfahren freilich kritisiert wurden. Die Beispiele zeigen, dass durchaus kontroverse his1472 BayHStA BSV 462 Gutachten vom 28. April 1961.

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torische Narrative in den Zulassungsverfahren verhandelt wurden. Größere Konflikte um hegemoniale Geschichtskultur blieben allerdings meist aus. Normierung historischer Deutungsangebote Die Auswahl der Sachverständigen war für die Durchsetzung historischer Narrative bedeutsam, da die kommunikativ ausgehandelte Geschichtskultur durch den hierarchischen Zugang zur Deutungsmacht in den Zulassungsverfahren bestimmt wurde. Die geschichtskulturelle Hegemonie besaßen insbesondere die Ministerialbeamten als Entscheidungsträger und die Sachverständigen als Lieferanten des Entscheidungswissens. Im standardisierten Anschreiben konnten die Ministerialbeamten bereits wichtige Kriterien der Begutachtung nennen und damit die Form der Gutachten sowie inhaltliche Aspekte vorgeben. Zudem legt die überlieferte interne Kommunikation des Kultusministeriums nahe, dass die Ministerialreferentinnen und -referenten eher Sachverständige bestellten, die das bereits prognostizierte Urteil zum Schulgeschichtsbuch unterstützten (siehe 2.3.1.). Die wenigen Quellenbelege erlauben allerdings keine generalisierten Aussagen. Schließlich waren die Ministerialbeamten auch nicht an das Entscheidungswissen der Gutachterinnen und Gutachter gebunden, konnten die Sachverständigen wechseln, zusätzliche Sachverständige bestellen oder die gegebenenfalls vorgebrachten Argumente der Verlage höher gewichten. Dagegen begannen Gutachter manchmal am Ministerium vorbei, direkt mit den Verlagen zusammenzuarbeiten und wurden sogar als Autoren eingestellt. Die in Kapitel 2.2. herausgearbeitete Entwicklung der Zulassungsverfahren verdeutlicht das Machtbewusstsein des Kultusministeriums und seiner Beamten, die eine Regulierung von außen – durch Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft wie auch der Staatskanzlei – zurückwiesen und nur auf starken Druck das Verfahren reformierten, es jedoch keinesfalls auf eine nachgeordnete Behörde oder gar ein unabhängiges Institut auslagern wollten. Der administrative Prozess der Schulbuchzulassung war deshalb ein politisiertes wie politisches Verfahren. Die bayerische SPD sah im Zulassungsverfahren ein Instrument der Qualitätskontrolle hinsichtlich der Darstellung des Nationalsozialismus und forderte bereits in den 1950er Jahren, das Institut für Zeitgeschichte einzubinden. Lehrerverbände, Gewerkschaften und Schulbuchverlage stellten das Verfahren vor allem in den 1960er Jahren als ökonomische Schranke und unzulässige politische Kontrolle infrage. Von der Staatskanzlei unter der Ägide von Franz Josef Strauß (CSU) sollte es dagegen zum antikommunistischen Instrument ausgebaut werden. Wollten einige der Ministerialbeamten die ›Machtvollkommenheit‹ zu Beginn der 1950er Jahre nicht aufgeben, setzte sich bald die Praxis durch, externe Sachverständige zur Begutachtung der eingereichten Lehrwerke hinzuzuziehen, was erst 1976 in Rechtsform gegossen wurde.

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Zusammenführung und Ausblick

Das Zulassungsverfahren zum Mittelstufenband ›Geschichtliches Werden‹ aus dem C.C. Buchners Verlag verdeutlicht die positionale Macht der Referentinnen und Referenten. Das Ministerium bat in diesem Verfahren auch das IfZ um Gutachten, die von Paul Kluke und Hans Buchheim erstellt wurden. Beide Historiker listeten eine Reihe von Mängeln am Manuskript anhand der falschen bzw. überholten Darstellung verschiedener Aspekte der Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus auf. Der Band verunklarte u. a. die Rolle der Bayerischen Volkspartei am Aufstieg der NSDAP, verwendete Propagandajargon bei der Schilderung des Kriegsverlaufs, dämonisierte Hitler, statt ihn zu historisieren und reproduzierte aus Sicht der konservativen Historiker ein traditionalistisches Geschichtsverständnis, was in dem Urteil Klukes mündete, dass das Lehrwerk im Stil einer »Hofhistoriographie« geschrieben sei und einem »Geschichtsbild« anhänge, »von dem wir uns lösen wollen«1473 Zwar schlugen beide Gutachter eine prinzipielle Neufassung vor, doch nachdem der Autor scharf protestierte, zeigte der zuständige Ministerialreferent Verständnis und schlug sich auf die Seite des Verlags, wodurch die grundsätzliche Kritik an der überkommenen Darstellung von Nationalsozialismus und Weimarer Republik verpuffte (siehe 3.1.2.). Dagegen verhinderte das Ministerium die weitreichenden Eingriffe der Gutachterinnen und Gutachter dann nicht, wenn ein Schulgeschichtsbuch dem ›Stil der Hofhistoriographie‹ entgegensetzt war und eine nationalkritische Geschichtsschreibung bediente: In dem von 1963 bis 1968 andauernden Zulassungsverfahren des gymnasialen Oberstufenbands ›Geschichtliches Werden‹ aus dem C.C. Buchners Verlag kritisierten die Gutachter die nationalkritische Geschichtsschreibung des progressiven Autors Hermann Glaser und seines Kollegen Helmut Altrichter. Das in Kapitel 3.3.2. ausführlich untersuchte Zulassungsverfahren spiegelte den paradigmatischen geschichtswissenschaftlichen Streit der 1960er Jahre wider: die sog. ›Fischer-Kontroverse‹. In dieser breit geführten Debatte diskutierten Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit auf Sachebene die Frage nach der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Urteil dazu stand in engem Zusammenhang mit der Frage nach dem historischen Ort des Nationalsozialismus, dem auch ein Paradigmenstreit zwischen Historismus und Strukturgeschichte zugrunde lag. Analog zu der vom Erstgutachter nicht vertretbaren These einer kontinuierlichen Entwicklung vom preußischen Obrigkeitsstaat bis hin zum autoritären ›Führerstaat‹ erschien ihm auch Glasers und Altrichters auf Basis sozialgeschichtlicher Erkenntnisse fußende These von der kontinuierlichen ideengeschichtlichen Entwicklung vom 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus nicht haltbar. Geprägt war das Zulassungsverfahren ebenso wie die Fischer-Kontroverse durch einen Konflikt zweier Kohorten, 1473 Zitate BayHStA MK 64526 Gutachten vom 12. November 1958.

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nämlich zwischen dem 1919 geborenen Erstgutachter und dem 1928 geborenen Hermann Glaser. Der vom Ministerium beauftragte Sachverständige konnte sich mit seiner Deutung durchsetzen, weil er a) argumentativ an die hegemoniale Geschichtskultur anknüpfte und b) die entscheidende positionale Macht des Referenten auf seiner Seite hatte. Dennoch unterstreicht das Zulassungsverfahren die Fragilität der hegemonialen Geschichtskultur, da enormer argumentativer Aufwand nötig war, um die hegemoniale Position zu verfechten und es den Autoren dennoch – wenn auch in vergleichsweise subtiler Form – gelang, eine nationalkritische historische Deutung im veröffentlichten Lehrwerk zu platzieren. Dort diskutierten die Autoren den Aufstieg des modernen Antisemitismus‹ im 19. Jahrhundert und deuteten sogar eine spezifisch deutsche Traditionslinie an.1474 Mit den Zulassungsverfahren besaß der bayerische Staat also ein geschichtspolitisches Instrumentarium, um Form und Inhalt der hegemonialen Geschichtskultur in Schulgeschichtsbüchern zu steuern und damit die geschichtskulturelle Varianz zu vereindeutigen. Die Geschichtslehrpläne und Richtlinien bildeten dazu den normativen Rahmen (siehe 2.1.). Das Zulassungsverfahren prüfte die in den Lehrplänen und Richtlinien enthaltenen Vorgaben. Insbesondere die antitotalitäre Ausrichtung der Bundesrepublik und v. a. Bayerns normierte die geschichtskulturellen Deutungen. Der antitotalitäre Konsens der Bonner Republik war durch die politische Großwetterlage des Kalten Kriegs bestimmt und diente im deutsch-deutschen Systemkonflikt zur geschichtspolitischen Legitimation staatlichen Handelns und zur Delegitimation der sozialistischen DDR, da die bürgerliche Demokratie als Gegenstück der nationalsozialistischen Herrschaft konstruiert und die kommunistischen Staaten in die Verwandtschaft des Nationalsozialismus gerückt wurden. Der Antitotalitarismus wurde auf mehreren Ebenen deutlich: Auf Regierungsebene forderte Franz Josef Strauß unter dem Begriff des Antitotalitarismus eine klar antikommunistisch ausgerichtete Kontrolle der Lehrwerke, die vom Kultusministerium abgewendet wurde, indem der Kultusminister glaubhaft versicherte, dass die Behörde bereits konsequent gegen kommunistische Darstellungen in Lehrwerken vorgehe (siehe 2.2.). In den staatlichen Vorgaben, die in Kapitel 2.1. in ihrer Entwicklung eingehend besprochen werden, setzten die Richtlinien zur Behandlung des Totalitarismus im Unterricht von 1962 bereits fest, dass Kommunismus und Nationalsozialismus als gleichförmige, antibürgerliche Ideologien dargestellt werden sollten, was die Lehrpläne der 1960er und 1970er Jahre weiterführten. In der Geschichtskultur sollte der Anspruch auf die ehemaligen deutschen Gebiete wachgehalten und die Herrschaft Polens und der Tschechoslowakei über diese Gebiete delegitimiert werden. Da diese Gebiete im sozialistischen Herrschafts1474 Vgl. BSV, Geschichtliches Werden. Oberstufe, 1971, S. 26.

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bereich lagen, war die Debatte um die ehemaligen Ostgebiete eng an den politischen Systemkonflikt gebunden und stand im Kontext der politischen Indienstnahme der Totalitarismustheorien. Um diese Geschichtskultur zu fördern, erließ das Kultusministerium Richtlinien zum Ostkunde-Unterricht und installierte eine eigene Interessensvertretung in der Behörde, die auch Schulbücher kontrollierte (siehe 2.3.2.). Die gestiegene Repräsentation der Geschichte des Nationalsozialismus in den Lehrplänen war nur in geringem Maße durch Anweisungen zum historischen Deutungsmuster präformiert. Zwar gab die Auswahl der Themen Tendenzen vor, indem sie die Unterrichtsinhalte gewichtete, doch die bloße Nennung der Themen in Schlagworten und ihre geringe Hierarchisierung ermöglichte den Schulbuchmacherinnen und Schulbuchmachern, den Sachverständigen und Ministerialbeamten einen breiten Handlungs- und Ermessensspielraum. Zusätzlich änderte sich die personelle Zusammensetzung in jedem Zulassungsverfahren, da die einzelnen Gutachter kaum frequentiert wurden. Der lehrplanbedingte Deutungskorridor sowie die personelle Zufälligkeit kontrastierten das Bemühen um eine Strukturierung der Zulassungsverfahren. Diese Offenheit räumte den Gutachtern breiten Ermessensspielraum ein. Gleichzeitig erhöhte die Kontingenz in der Auswahl der Sachverständigen das Risiko der Verlage, da sie die Kriterien einer Zulassung schwieriger antizipieren konnten. Weder war die fachliche Überzeugung der Sachverständigen bekannt, noch war es absehbar, inwiefern die Gutachter dazu gewillt waren, in das Manuskript einzugreifen, da das Ministerium seinen Sachverständigen große Freiheiten gab. Dementsprechend gab es sowohl Gutachter, die sich mit einer oberflächlichen Beschreibung des Manuskripts zufriedengaben, wie auch Gutachter, die intensiv in die Lehrwerke eingriffen und sogar Kapitel umschrieben. So verfassten die meisten Sachverständigen – auch bedingt durch den Zeitdruck – knappe Gutachten, während manche Gutachten eine intensive Beschäftigung und Reflexion des gelesenen Manuskripts aufzeigen. Ein Gutachter erstellte mit seinen Kolleginnen und Kollegen sogar eine Kommission, die themenspezifisch die Gestaltung und didaktische Qualität des Lehrwerks prüfte (siehe 3.5.2.). Auf dieser Basis war der Ausgang eines Zulassungsverfahrens für Verlage kaum berechenbar, die dementsprechend eine Abschaffung der Zulassungsverfahren forderten bzw. eine geplante, kriteriengeleitete Regulierung der Gutachten befürworteten. Gemindert wurde die Kontingenz durch die personale Stabilität bei den Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums, in deren Händen die faktische Entscheidungshoheit lag, gleichwohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium selten in die laufende Verfahren eingriffen und ihren Kompetenzbereich zusehends auf die formale Richtigkeit des Ablaufs beschränkten. Auf inhaltlicher Ebene zeigte sich das antitotalitäre Deutungsmuster der Vergangenheit beispielsweise in der Forderung, Hitler als deklassierten ›Aso-

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zialen‹ darzustellen, der keine bürgerlichen Tugenden besessen habe, wodurch der Nationalsozialismus entgegen der Faschismustheorien nicht als Fortsetzung bürgerlicher Herrschaft, sondern als dessen Negation verstanden werden konnte (siehe Kapitel 3.2.). Kapitel 3.1.2. zeigt, dass die Sachverständigen und Ministerialbeamten auch darauf achteten, dass vor allem das Zusammenspiel der totalitären Kräfte von links und rechts und weniger die Offenheit der konservativen Parteien für einen autoritär-nationalen Ausweg aus der Demokratie den allmählichen Niedergang der Weimarer Republik erklärte. Aus diesem Zusammenspiel sollte zudem die Lehre der wehrhaften Bonner Republik abgeleitet werden. Dieser antitotalitäre Konsens der bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnte erklärte auch, dass eine Repräsentation des sozialistischen und kommunistischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus ausblieb, wohingegen der bürgerlich-konservative Widerstand, insbesondere das gescheiterte Attentat gegen Hitler vom 20. Juli 1944 kanonischen Rang einnahm. Erst mit der sozialliberalen Wende in der politischen Kultur der Bundesrepublik am Ende der 1960er Jahre forderten einzelne Sachverständige auch die Repräsentation des kommunistischen und sozialistischen Widerstands in den Lehrwerken ein (siehe 3.4.2.). Schließlich kann auch der in Kapitel 3.5. aufgezeigte Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in die antitotalitäre Geschichtskultur eingebunden werden. Weniger der ideologisch gefütterte Vernichtungskrieg und die sowjetischen Opfer sollten im Vordergrund der historischen Narrative stehen, sondern das Leid der deutschen Wehrmachtssoldaten angesichts der taktischen Fehlplanungen Hitlers. Die ideologisch bedingte Gegnerschaft von Kommunismus und Nationalsozialismus, die in den Richtlinien zur Behandlung des Totalitarismus im Unterricht als Anomalie erkannt wurde, konnte so weitestgehend ausgeblendet werden. Demzufolge spiegelten die Debatten der Zulassungsverfahren die öffentlichen geschichtskulturellen Kontroversen und Entwicklungen wider: Trotz der strukturell bedingten Kontingenz jedes Zulassungsverfahrens hatten sie insgesamt die Aufgabe, die gesellschaftliche Pluralität geschichtskultureller Überzeugungen zu vereinheitlichen und die Schulgeschichtsbücher an die hegemoniale Geschichtskultur anzupassen, die in den Lehrplänen gerahmt wurde. Die Gutachterinnen und Gutachter sowie die Ministerialbeamten erhielten dadurch die Funktion des Trägers und ›Torhüters‹ hegemonialer Geschichtskultur. Politische Vorgaben vs. didaktische Innovation Die tendenzielle Vereinheitlichung der Schulgeschichtsbücher durch das Zulassungsverfahren kritisierten die Vertreter der Lehrerverbände als unzulässigen, obrigkeitsstaatlichen Eingriff in die Lehrerautonomie und Verlage kritisierten das Verfahren als Eingriff in den freien Markt. Das kostspielige Zulassungsver-

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fahren verhindere aus Sicht der Verbände die Konkurrenz der Lehrwerke und beschneide die fachliche und didaktische Weiterentwicklung. Dagegen behaupteten die Ministerialbeamten, dass das Zulassungsverfahren ein zentrales Mittel der Qualitätskontrolle sei. Die Vermittlung historischen Wissens zum Nationalsozialismus lag seit 1959 im offiziellen Interesse des Bayerischen Kultusministeriums, was sich am Ausbau des Themas in den Lehrplänen zeigte (2.1.). Die Einbindung der Zeitgeschichte als Unterrichtsthema ging mit der Anerkennung der gegenwartsorientierten Gemeinschaftskunde als Unterrichtsprinzip einher. Dieses Prinzip erforderte wiederum einen Umbau des Geschichtsunterrichts in der Oberstufe, da nun die politische Bildung zum Unterrichtszweck gesetzt wurde. Zwischen 1959 und 1963 veröffentlichte das Ministerium Lehrpläne für alle Regelschulen, die erstmals einforderten, die Geschichte des Nationalsozialismus in seiner inneren Entwicklung und thematischen Bandbreite darzustellen. Die Vernichtung des Judentums stand nun ebenso wie der NS-Terror und der Kampf des NS-Regimes gegen die Kirchen auf dem Lehrplan. Auf den Anstieg antisemitischer Straftaten Jugendlicher im Winter 1959/60 reagierte das Kultusministerium mit zusätzlichen Beschlüssen, um die Geschichte des Antisemitismus und der Juden im ›Dritten Reich‹ im Unterricht stärker zu berücksichtigen. Dabei subsumierten die Lehrpläne innen- wie außenpolitische Aspekte der nationalsozialistischen Geschichte als ›Hitlers Diktatur‹ und nahmen die hitlerzentrierte Geschichtskultur vorweg. Diese Rahmenbedingungen schlugen sich auch in den Zulassungsverfahren nieder. Die geschichtskulturellen Auseinandersetzungen in den analysierten Zulassungsverfahren erlebten ihren Höhepunkt in den Jahren, in denen das Themenfeld ›Nationalsozialismus‹ ausgebaut und in den Schulgeschichtsbüchern als eigenständiges Kapitel implementiert wurde. Kapitel 3.3.2. zeigt, dass die Sachverständigen deshalb beispielsweise auf die Darstellung des industriellen Massenmords eingingen. Angesichts der gestiegenen Relevanz des Antisemitismus als Thema in Schulgeschichtsbüchern reflektierten die Sachverständigen in den Zulassungsverfahren, wie dieser Topos dargelegt und vermittelt werden kann, ohne antisemitischen Denkmuster zu perpetuieren. So wurden beispielsweise der Einsatz von Bildmedien stellenweise dahingehend diskutiert, inwiefern sie die propagandistische Absicht transportieren oder die Schülerinnen und Schüler emotional überfordern könnten. Auch eine historische Verortung des nationalsozialistischen Antisemitismus‹ forderten die Sachverständigen ein. Keineswegs galt der Holocaust als Telos des Nationalsozialismus oder der Antisemitismus als wesentliches Strukturelement der nationalsozialistischen Ideologie. So wurden die Autoren Hermann Glaser und Harald Straube im Zulassungsverfahren von ›Nationalsozialismus und Demokratie‹ von den Sachverständigen kritisiert, weil sie dem Antisemitismus einen zentralen Stellenwert

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in der Geschichte des Nationalsozialismus einräumten. Die didaktische Reflexion der Inhalte vor dem Hintergrund der demokratischen Bildung zeigten die in Kapitel 3.4.2. herausgearbeiteten Debatten zur Wirtschafts- und Außenpolitik des ›Dritten Reichs‹, die in ihrer mittel- und langfristigen katastrophalen Wirkung für das Deutsche Reich offengelegt werden sollten. Gutachterinnen und Gutachter machten zuweilen darauf aufmerksam, wenn Manuskripte den Jargon des ›Dritten Reichs‹ übernahmen oder gar allzu sehr die Täterperspektive einnahmen. In einem Fall deckten beide Gutachter eine Vielzahl von Plagiaten im Manuskript auf, weshalb der Verlag das Manuskript zurückzog und den Autor wechselte (siehe 2.4). Ziel der Sachverständigen war stets, die Schülerinnen und Schüler mit den Lehrwerken zur Demokratie zu erziehen, wenn die Gutachterinnen und Gutachter auch unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was demokratisch-politische Bildung sein sollte. Die Zulassungsverfahren zeigen auch immer wieder auf, dass die Gutachterinnen und Gutachter die didaktische und pädagogische Qualität der Lehrwerke reflektierten und deren Inhalt sowie Gestaltung nach didaktischen Kriterien prüften. Die kindgemäße Sprache war dabei ein wichtiges, vom Bayerischen Kultusministerium in den standardisierten Briefen an die Sachverständigen auch vorgegebenes Qualitätskriterium. Auf dieses Kriterium gingen die Gutachterinnen und Gutachter meist ein (siehe 2.3.3.). Der Wert eines kindgemäßen Zugangs zur Geschichte zeigte sich auch daran, dass einige Gutachterinnen und Gutachter bereits in den 1960er Jahren einen stärkeren alltagsgeschichtlichen Bezug forderten, um der Darstellung des nationalsozialistischen Terrors gerecht zu werden. Diese Forderung deckte sich allerdings nicht mir vorherrschenden fachlichen Überzeugungen zum Wert der Alltagsgeschichte, wodurch sie wenig Wiederhall fand (siehe 3.4.2.). Die fachlichen Überzeugungen der Gutachterinnen und Gutachter zeigen dabei auch, dass die geschichtspolitische Wirkung des Zulassungsverfahrens nicht immer intendiert, sondern wohl auch eine unbeabsichtigte Wirkung fachlicher Anliegen war. Die Stofforientierung der Lehrpläne hatte Vorrang vor den didaktischen und fachlichen Erwartungen der Lehrkräfte. So erhielten mehrere Lehrwerke keine Zulassung in Bayern, obwohl sie außerhalb Bayerns von Gutachterinnen und Gutachtern für ihre didaktische Qualität gelobt wurden und bayerische Lehrkräfte um die Zulassung der Lehrwerke beim Kultusministerium baten. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre verweigerte das Kultusministerium die Zulassung des ehemaligen Teubner’schen Unterrichtswerks, das vom Klett Verlag in Zusammenarbeit mit namhaften Geschichtswissenschaftlern als ›Grundriss der Geschichte‹ neu bearbeitet wurde. Bereits in der Weimarer Republik galt der Band wegen seiner republiktreuen Geschichtsdarstellung als Besonderheit. Diese Ausrichtung behielt sich das Schulbuch offensichtlich auch nach 1945 bei, denn mehrere Schulen forderten beim Bayerischen Kultusministerium die Zulassung

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des Lehrwerks wegen seiner fachlichen Qualität und demokratischen Ausrichtung ein. Manche Schulen schafften die Reihe sogar auf eigene Kosten an, doch das Ministerium ließ das Buch nicht zu, da es die bayerische Landesgeschichte nicht berücksichtigte. Erst eine eigene, bayerische Reihe konnte zum Ende der 1950er Jahre im Bundesland Fuß fassen (siehe 2.4.). Auch ›Zeitgeschichte und wir‹ ebenso wie das Vorgänger-Lehrwerk ›Unbewältigte Vergangenheit‹ erhielt 1962 keine lernmittelfreie Zulassung, da es den Lehrplanvorgaben nicht genügte und nur einen Teil des Jahresstoffs abdeckte. Die Publikation wurde von Alois Seiler, Professor für Geschichte und Gemeinschaftskunde am Pädagogischen Institut Weilburg/Lahn, verfasst. Das Lehrwerk behandelte ausschließlich und ausführlich die zeitgeschichtliche Epoche von 1918 bis 1945 und durchbrach die zeitgenössische Dominanz der Leitfäden, indem es sich von der Stofforientierung löste und verstärkt Methoden und Quellen einbezog: Jedem Kapitel war ein umfassender Quellenapparat angeschlossen, wodurch das Lehrwerk einen relativ offenen Arbeitsunterricht beförderte. Dieser Vorläufer des modernen Lern- und Arbeitsbuchs musste wegen der hohen Absatzzahlen außerhalb Bayerns noch im Jahr der Veröffentlichung fünfmal neu aufgelegt werden und wurde bald als ›Zeitgeschichte und wir‹ neu bearbeitet (siehe 2.3.1). ›Reise in die Vergangenheit‹ wurde 1972 in Bayern nicht zugelassen, obwohl der damalige Professor für Geschichtsdidaktik, Kurt Fina, das Lehrwerk als das beste Schulgeschichtsbuch für Hauptschulen lobte. Das Ministerium erwartete eine stärkere Berücksichtigung der bayerischen Landesgeschichte und die klare Umsetzung der Richtlinien zum Umgang mit dem Totalitarismus, weshalb der Band nicht zugelassen wurde. Die Referentinnen und Referenten agierten allerdings nicht willkürlich, sondern interpretierten die Richtlinien des Kultusministeriums zum Totalitarismus im Unterricht, was schließlich auch das von Hirschgraben veröffentlichte ›Fragen an die Geschichte‹ zu spüren bekam. Dieses Schulbuch wurde nicht nur wegen seiner revolutionären Didaktik, sondern wegen seiner politischen Ausrichtung in Bayern nicht zugelassen, da der zuständige Gutachter befürchtete, der Band fördere nicht eine positive Haltung zur parlamentarischen Demokratie, sondern zur Revolution und die »Entscheidung für ein Geschichtsbuch ist auch ein politischer Akt.«1475 Strukturierung geschichtskultureller Hegemonie In den Zulassungsverfahren handelten die beteiligten Akteure Schulbuchinhalte und historische Deutungen aus. Manuskripte mussten einen staatlichen Anerkennungs- und Adaptionsprozess durchlaufen, in dem die Proliferation geschichtskultureller Aussagen entlang staatlicher Vorgaben, aber auch den In1475 BayHStA MK 63831 Gutachten vom 27. Januar 1974.

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teressen und Überzeugungen der Akteure begrenzt wurde, weshalb die Zulassungsverfahren eine gewichtige Funktion im sozialen System der Geschichtskultur hatten. Die Zulassungsverfahren bildeten das Nadelöhr in der Entwicklung von Schulgeschichtsbüchern, das jeder Verlag passieren musste. Kapitel 2.4. zeigte auf, dass die Verlage zwar unterschiedliche Strategien im Umgang mit dem Zulassungsverfahren wählten. Der vom Oldenbourg Verlag unternommene Versuch, ein Lehrwerk am Zulassungsverfahren vorbei zu vermarkten, scheiterte jedoch. Den Verlagen blieb also nur die Möglichkeit, mit dem Kultusministerium zusammenzuarbeiten. Dementsprechend kann das staatliche Zulassungsverfahren als geschichtskultureller Hegemonieapparat verstanden werden, da in den Zulassungsverfahren hegemoniale Geschichtskultur ausgehandelt wurde und das Zulassungsverfahren im Feld des Schulbuchmarktes hegemoniale Position hatte. Die Studie zeigt drei Faktoren auf, die diesen geschichtskulturellen Hegemonieapparat im Untersuchungszeitraum strukturierten: 1) Die kulturpolitischen Rahmenvorgaben des Kultusministeriums, die in Lehrplänen, Richtlinien und Entschlüssen codiert wurden. Auf Basis der Rahmenvorgaben konnte das Kultusministerium die Quantität und Qualität der hegemonialen Geschichtskultur steuern. Lehrwerke, die diese Vorgaben unterschritten, überschritten oder abseits dieser Vorgaben standen, mussten im Zuge der Zulassungsverfahren angepasst werden oder wurden nicht zugelassen. Der antitotalitäre Konsens der Bundesrepublik im Nachkriegsjahrzehnt sicherte Bayern seit den 1960er Jahren durch Vorgaben in der Bildungspolitik ab. Damit konnte Bayern auch die gewachsene Bedeutung der Geschichte des Nationalsozialismus in Unterricht und Schulbuch normieren. 2) Die Auswahl der Gutachterinnen und Gutachter sowie der Ministerialbeamten nach fachlichen Kriterien ohne Berücksichtigung biographischer Faktoren. Ausschlaggebend für die Auswahl der Gutachter war meist die fachliche und pädagogische Expertise, wohingegen der persönliche Werdegang der Gutachter kaum Berücksichtigung fand. Dadurch wurden die Perspektiven von Opfern des Nationalsozialismus formal nicht in den Kontrollprozess eingebunden. Die primären Erfahrungen der Akteure beeinflussten die Geschichtsschreibung, da die Akteure auch aus ihren subjektiven Erinnerungen schöpften und dieser Erinnerungsraum im Spannungsfeld von historischer Verantwortung und Schuldabwehr stand. Auch wegen der personellen Konstellation konnte das in Schulgeschichtsbüchern enthaltene Wissen meist die gesellschaftlich anerkannten und akzeptierten Narrationen zur Geschichte des Nationalsozialismus spiegeln. Außerdem konnte durch die Auswahl erfahrener und arrivierter Lehrkräfte auf das pädagogische und fachliche Wissen zurückgegriffen werden, um eine zeitgenössischen, pädagogischen Standards gerecht werdende Prüfung der Manuskripte durchzuführen. Gestützt wurde die hegemoniale Geschichtskultur auch durch die fachlichen Überzeugungen zur kindgemäßen und geschichtstheoretisch anerkannten Darstellungs-

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wiese historischen Geschehens. 3) Die ungleiche Verteilung historischer Deutungsmacht auf die Sachverständigen als Lieferanten und die Ministerialbeamten als Entscheidungsträger. Verlage und Staat konnten mit Manuskript und Lehrplan die Ausgangspunkte jeder geschichtskulturellen Debatte festlegen. Zugleich besaßen die Ministerialbeamten hohe positionale Macht, da sie die endgültige Entscheidung über den Status eines Lehrwerks fällten, in die gesamte Dauer des Verfahrens involviert waren und über die Auswahl der Gutachterinnen und Gutachter zumindest indirekt die Produktion von Entscheidungswissen beeinflussen konnten. Die individuellen Sachverständigen teilten sich mit den Verlagen situativ-argumentative Macht, da sie zwar nur sporadisch in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden, jeden einzelnen Prozess aber durch ihre Gutachten und Gegengutachten inhaltlich beeinflussen konnten. Erkannten die Akteure der Zulassungsverfahren, dass die im Manuskript enthaltenen Deutungsangebote mit den aus Geschichtslehrplan und Richtlinien gewonnenen, normativen Vorgaben brachen, blieb dem Verlag kaum eine andere Möglichkeit als die Neubearbeitung inkriminierter Textstellen. Dass jede Gutachterin und jeder Gutachter nur an wenigen Zulassungsverfahren beteiligt war, erhöhte die Zufälligkeit der angesprochenen Themen, Debatten und den Ausgang eines Zulassungsverfahrens. Die individuellen Überzeugungen und Interessen des jeweiligen Gutachters bzw. der Gutachterin konnten von Verlagen nicht abgeschätzt werden, hatten aber Einfluss auf die Gestaltung des Manuskripts. Diese Kontingenz wurde vom Kultusministerium in der zweiten Hälfte der 70er Jahre wohl problematisiert, da zusammen mit Verlagen ein breiter Kriterienkatalog für mehr Einheitlichkeit in den Prüfverfahren hergestellt werden sollte.

4.2. Ergebnisdiskussion und Ausblick Die Ergebnisse der vorliegenden Studie können auf drei Ebenen eingeordnet und weiterverarbeitet werden. Auf methodologischer Ebene kann die Studie durch den Begriff der geschichtskulturellen Hegemonie zu einem kritischen Verständnis der Produktion von Geschichtskultur beitragen. Auf kultur-politikgeschichtlicher Ebene erhellt die Studie den Umgang Bayerns mit der Geschichte des Nationalsozialismus in der Bildungspolitik und erweitert das Verständnis über das dialektische Beziehungsgeflecht von Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Drittens kann die Arbeit auf einer dezidiert mediendidaktischen Ebene zu einem historisch vertieften Verständnis für die Probleme aktueller Schulgeschichtsbücher beitragen. Diese Ergebnisse sollen im Folgenden diskutiert werden.

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Methodologischer Beitrag zur Konstruktion von Geschichtskultur Als Erweiterung des konstruktivistischen Begriffs der Geschichtskultur schlägt Jörg van Norden einen kritischen Konstruktivismus vor, der »Klassenstrukturen, Produktionsverhältnisse als die geordnete arbeitsteilige Aneignung von Natur und den hierarchischen, gestuften Zugang zur Kultur« einbezieht.1476 Beatrice Ziegler verwehrt sich gegen einen geschichts- bzw. erinnerungskulturellen Ansatz, der »die soziale Hierarchie und horizontale Vielfalt aufgrund sozialer und kultureller Kategorien negiert.« Dagegen spricht sie sich für Forschungen aus, die aufzeigen, wie die »höchst unterschiedlich Erinnernden über höchst unterschiedliche Diskursmacht verfügen, sowohl was das ›Erinnerte‹ anbelangt als auch die Formen, Muster und Regeln der Erzählung.«1477 Das Kräftespiel von »›Staat‹ und ›Zivilgesellschaft‹ als die beiden Pole eines geschichtspolitischen Handlungsfeldes« in den Blick zu nehmen, fordert schließlich Dietrich Seybold, um die kontingente, konfliktreiche und machtabhängige Aushandlung von Geschichtskultur zu erforschen.1478 Analog zu Antonio Gramscis Begriff der kulturellen Hegemonie erlaubt der Begriff geschichtskulturelle Hegemonie als heuristisches Konzept, die Objektivation von Geschichtsbewusstsein und ihre konfliktreiche Überführung in Geschichtskultur zu erklären. Während hegemoniale Geschichtskultur die Objektivation der Aushandlungsprozesse darstellt, benennt geschichtskulturelle Hegemonie die Verteilung historischer Deutungsmacht im Aushandlungsprozess. Hegemoniale Geschichtskultur wird als Folge geschichtskultureller Hegemonie verstanden. Gleichwohl kann einmal hegemonial gewordene Geschichtskultur auf die weiteren Aushandlungsprozesse einwirken. Wer wiederum Träger geschichtskultureller Hegemonie ist, kann den Aushandlungsprozess beeinflussen, ohne den Ausgang jedoch zu determinieren. Geschichtskultur ist Prozess und ihre Hegemonie ist fragil. Die Analyse der Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern zeigt, dass das Bayerische Kultusministerium hohe Deutungsmacht besaß, da die machtvollen Positionen durch Vertreter des staatlichen Apparats besetzt waren. Schulgeschichtsbücher als Manifestation der hegemonialen Geschichtskultur werden also durch den Staat als Träger geschichtskultureller Hegemonie gesteuert, ohne mit dem Staat identisch zu sein: Verlage, Autorinnen und Autoren, Gutachterinnen und Gutachter sowie indirekt die mediale Öffentlichkeit verhandeln ihre historischen Deutungen im Verfahren, können sich ggf. auch gegen staatliche Autorität durchsetzen und schreiben sich in die Lehrwerke ein. Schulgeschichtsbücher sind deshalb Konsens und Kom-

1476 van Norden (2017), S. 21. 1477 Ziegler (2014), S. 82–83. 1478 Seybold (2005), S. 208.

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promiss verschiedener Akteure mit unterschiedlichem Geschichtsbewusstsein; sie sind eine in sich widersprüchliche Textgattung. Hinsichtlich der Analyse der geschichtskulturellen Hegemonie bleibt vorliegende Studie in einigen Punkten vage: Da Manuskripte fehlen und nur schriftliche Korrespondenz innerhalb des Kultusministeriums überliefert sind, können nur Näherungswerte auf den Einfluss und die Wirkmacht der verschiedenen Akteure im diskursiven Ringen um hegemoniale Geschichtskultur angegeben werden. Die Perspektive auf die Konflikte und Prozesse im Aushandlungsprozess bergen das Problem, dass die von den Akteuren ausgesparten Themen und der stillschweigende Konsens aller beteiligten Akteure übersehen werden kann. In der ergänzenden Analyse der Schulgeschichtsbücher konnten diese Probleme zwar gemildert, jedoch nicht aufgelöst werden, weshalb weiterführende Forschung bedeutsam ist. Diese Forschung könnte auf Basis vorliegender Ergebnisse verstärkt in Verlagsarchiven recherchieren, um die Aushandlungsprozesse aus Sicht der Unternehmen zu rekonstruieren. Das Bayerische Wirtschaftsarchiv kann beispielsweise eine Anlaufstelle dieser historischen Recherche sein. Die in 2.4. herausgearbeitete Typisierung verlegerischer Strategien im Aushandlungsprozess kann wiederum als heuristische Basis herangezogen werden. Die in dieser Studie geleistete Analyse der Zulassungsverfahren kann gleichwohl die hierarchischen Zugänge zur (Geschichts-)Kultur herausarbeiten und das Spannungsfeld von Varianz und Vereindeutigung in der kommunikativen Aushandlung der hegemonialen Geschichtskultur erörtern. In den analysierten Zulassungsverfahren explizierten die Akteure ihre Intentionen und den Zweck ihrer historischen Deutungen. Auf Quellen gestützt, belegt die Studie das Schulbuch als ›Konstruktorium‹ im Sinne Höhnes, weshalb die prozessorientierte und hegemonietheoretische Perspektive der vorliegenden Arbeit eine Erweiterung der häufig statischen und produktorientierten Schulbuchanalysen darstellt. Auch auf methodischer Ebene bietet die Studie einen Mehrwert für die didaktische Forschung. Mit dem Begriff der geschichtskulturellen Hegemonie wird das konstruktivistische Konzept der Geschichtskultur als soziales System um eine herrschaftskritische Perspektive erweitert. Der hier vorgestellte Ansatz kann Erkenntnisse auch in anderen institutionellen Zusammenhängen liefern, in denen Geschichtskultur ausgehandelt wird: Die hierarchisch bedingte Entwicklung von Lehrplänen könnte ebenso wie die Konzeptualisierung historischer Ausstellungen in Museen aufgezeigt werden.1479 Auch Schulkultur und Fachun1479 Dass musealer Wandel »stärker durch (geschichts-)politische Dynamiken beeinflusst wird als durch wissenschaftliche Erkenntnisse« ist die Leitthese eines Sammelbands zu Museen als Orte geschichtspolitischer Verhandlungen. Die Herausgeberinnen nutzen allerdings immer das Paradoxon ›kollektiver Identitäten‹. Brait und Früh (2017), S. 10.

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terricht könnten unter dieser Perspektive stärker in den Blick genommen werden. Folgt man Markus Rieger-Ladich, gehen Schulkulturen »aus hegemonialen Kämpfen um deren Gestalt hervor.« Der Pädagoge hält fest, dass unterschiedliche Gruppen – Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Ämter – im Klassenzimmer und im Unterricht, am Elternabend oder auf dem Pausenhof um Deutungsmacht ringen. Sie »suchen ihren Einfluss geltend zu machen und bestimmte soziale Praktiken als legitime und vernünftige fest zu etablieren.«1480 Insofern diese Aushandlungen auch den Geschichtsunterricht umfassen und sich in dessen Produktion niederschlagen, könnten die Aushandlungen historischer Narrative im (Geschichts-)Unterricht zwischen Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften vor dem Hintergrund des hierarchischen Zugangs zu historischer Deutungshoheit herausgearbeitet werden. Auf Basis dieses Wissens könnte langfristig ein kritisch-reflektiertes Selbstverständnis der Lehrpersonen angeleitet werden. Gerade angesichts der Heterogenität moderner Klassengemeinschaften erscheint ein hegemoniesensibler Umgang mit diversen historischen Erinnerungen der Schülerinnen und Schüler für eine integrative Schulkultur bedeutsam. Der Begriff der geschichtskulturellen Hegemonie besitzt dabei das Potential, die herrschaftsbedingte Steuerung und Durchsetzung hegemonialer Geschichtskultur in den jeweiligen Institutionen aufzuzeigen, ohne die grundsätzliche Offenheit der Aushandlung zu negieren. Beitrag zur ›zweiten Geschichte des Nationalsozialismus‹ Zwar erlosch die Existenz des ›Dritten Reichs‹ am 8./9. Mai 1945, doch die Geschichte des Nationalsozialismus hörte damit nicht auf. Mit dem Begriff der ›zweiten Geschichte des Nationalsozialismus‹ umfassen Peter Reichel, Harald Schmid und Peter Steinbach die dauerhaften Anstrengungen in der politischjustiziellen Überwindung des NS-Regimes ebenso wie die personelle Kontinuität und ideologischen Transformationen. Unter den Begriffen fallen die geschichtskulturelle und justizielle Aufarbeitung ebenso wie das Schweigen, Verdrängen und Leugnen von Täterschaft und Schuld in den deutschen Nachkriegsgesellschaften.1481 Die vorliegende Studie ist in zweierlei Hinsicht in das Forschungsprogramm zu dieser zweiten Geschichte des Nationalsozialismus eingliederbar. Erstens ergibt die Analyse des Personenbestands der Sachverständigen und Ministerialbeamten Näherungswerte an eine NS-Belastung der Zulassungsverfahren bei gleichzeitigem Ausschluss der Opfer des nationalsozialistischen Regimes bei der Aushandlung über die Deutung des Nationalsozialismus. Ange1480 Rieger-Ladich (2017), S. 36. 1481 Reichel et al. (2009), S. 8–9.

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sichts dieser Konstellationen stand die historische Aufarbeitung und Vermittlung kritischen Wissens zum Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft auf tönernen Füßen, denn die Kontrolle von Schulgeschichtsbüchern von NSbelastetem Personal war eine Hürde dafür, die Perspektive der Opfer aufzunehmen. Die Akteure der Zulassungsverfahren waren allerdings um eine moralische Distanzierung vom Nationalsozialismus und einer sachlichen Widerlegung der NS-Propaganda und Ideologie bemüht. Häufig wurden die Manuskripte vor dem Hintergrund demokratischer politischer Bildung geprüft. Die Zulassungsverfahren waren deshalb auch eine Instanz zur didaktischen und kritischen Reflexion des geschichtskulturellen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Zweitens offenbart die Studie, dass die Zeitgenossen ein durchaus dialektisches Verhältnis zur Aufarbeitung der Vergangenheit hatten, vor dessen Hintergrund beispielsweise auch der 1959/60 eingesetzte Erinnerungsboom neu bewertet werden kann. Nachdem die bayerischen Lehrpläne dem Thema Nationalsozialismus erstmals breiten Raum zugesichert hatten, häuften sich um 1960 auch die Artikulationen zur Deutung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Gleichzeitig wurden die proliferierenden Deutungen des Nationalsozialismus mit verschiedenen Richtlinien und Erlassen eingezäunt und vereindeutigt. Die quantitative Zunahme historischen Wissens ging nicht zwingend mit ihrem qualitativen Anstieg einher. Der segmentierte Erfahrungsraum und die fachlichen Überzeugungen der Akteure präformierten die historische Deutung des Nationalsozialismus, die eine hitlerzentrierte Darstellung begünstigte. Gleichwohl muss berücksichtigt werden, dass die bayerische Regulation der Geschichtskultur nicht die Bandbreite der bundesdeutschen Geschichtskultur zum Nationalsozialismus repräsentierte, sondern wohlmöglich einen spezifisch konservativen Weg abbildete. Ergänzende Studien zur staatlichen Kontrolle von Schulbuchinhalten sind deshalb sinnvoll. Vor allem Hessen dürfte den Gegenpol im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gebildet haben, da das von der SPD regierte Flächenland in bildungspolitischen Fragen ein zentraler Kontrahent Bayerns war.1482 Indem die vorliegende Studie die geschichtskulturellen Artikulationen in den Zulassungsverfahren nachzeichnete, blieb die Perspektive notwendigerweise beengt, weshalb weniger der kontingente, gesamte Möglichkeitsraum, sondern die faktische Aushandlung geschichtskultureller Hegemonie im Zulassungsverfahren herausgearbeitet wurde. Der interne Vergleich verschiedener Gutachterinnen und Gutachter sowie die Extrapolation der Wirkung der Zulassungsverfahren auf die Manuskripte und schließlich die Kontextualisierung der Zulassungsverfahren anhand bisheriger Erkenntnisse zur zweiten Geschichte des Nationalsozialismus und einer Auswahl von Schulge1482 Zur Bildungspolitik Hessens siehe Führ (1997). Hepp (2003).

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schichtsbüchern milderte diesen Effekt ab. Indem auch Schulgeschichtsbücher in die Analyse aufgenommen sind, die nicht zugelassen wurden, liefert die Studie zudem Ergebnisse zum historischen Möglichkeitsraum und dessen Steuerung durch das Bayerische Kultusministerium. Die ›Stimmlosen‹ der Zeit sind jedoch nicht abgebildet. Dagegen kann in der Analyse die geschichtspolitische Steuerung und pädagogische Reflexion der historischen Deutungen zum Nationalsozialismus nachgewiesen werden. Eine tiefer gehende kollektivbiographische Analyse der bayerischen Geschichtslehrkräfte in der Nachkriegszeit sowie eine Analyse der NS-Belastung des Bayerischen Kultusministeriums wären notwendig, um die Bedingungen und den Möglichkeitsraum geschichtskultureller Varianz weiter zu erhellen. Didaktische Impulse für Zulassungsverfahren der Gegenwart In einer umfassenden geschichtsdidaktischen Studie zu Holocaust und Vernichtungskrieg vergleicht Etienne Schinkel den Stand des geschichtswissenschaftlichen Wissens und dessen Reflexion in deutschsprachigen Schulgeschichtsbüchern seit den 1980er Jahren. Er kommt zu dem Schluss, dass Schulgeschichtsbücher trotz vieler methodischer Weiterentwicklungen und fachlicher Vertiefungen in der Darstellung des Nationalsozialismus weiterhin unreflektierte Geschichtsvorstellungen affirmierten und apologetische Deutungen zum Nationalsozialismus, etwa zum Wissen der Bevölkerung über den Holocaust, tradierten. Lediglich die Hälfte der aktuell zugelassenen, untersuchten Lehrwerke thematisierte das Wissen in der Bevölkerung zu Holocaust und Vernichtungskrieg. »Häufig gewinnt man den Eindruck, als könnten oder wollten die Schulbuchautorinnen und -autoren sich hierzu nicht äußern«, resümiert der Geschichtsdidaktiker in seiner Dissertationsschrift.1483 Gegenwärtige Schulgeschichtsbücher übernehmen in Bild- und Textquellen sowie in ihrer Sprache noch immer unreflektiert die Perspektive der Täter, hält Susanne Popp fest.1484 Philipp Mittnik weist in einer vergleichenden Studie zu Schulgeschichtsbüchern in England, Österreich und Deutschland darauf hin, dass sich die kritische Auseinandersetzung mit den Biographien und Darstellungen von Täterinnen und Tätern »in den Lehrwerken […] nicht durchgesetzt« hat.1485 In österreichischen Schulgeschichtsbüchern erkennt Christoph Kühberger ein Fortleben des Hitler-Mythos, so habe sich in den aktuellen Lehrwerken »ein veritabler Anteil an personalisierten Darstellungen festgesetzt«, indem »Adolf Hitler massiv als Agens auftritt und der Anschein erweckt wird, er persönlich sei durch sein 1483 Schinkel (2018), S. 430–432. 1484 Popp (2010), S. 106–110. 1485 Mittnik (2017), S. 188.

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Handeln für viele Momente alleine verantwortlich gewesen.«1486 Als Gegenmaßnahme zur Verbesserung gegenwärtiger Lehrwerke schlägt Kühberger deshalb eine anhaltende geschichtsdidaktische Reflexion der personalisierten Darstellung des Nationalsozialismus vor, die mit einer allgemeineren Diskussion einhergeht, die über die NS-Geschichte hinausgeht.1487 Ein dem fachlichen Kenntnis- und Reflexionsstand angemessenes Schulbuch benötigt Autorinnen und Autoren, die neben historischem Wissen auch eine fundierte geschichtstheoretische und fachdidaktische Ausbildung haben, um adaptiv auf die Herausforderungen einer angemessenen Geschichtskultur reagieren zu können.1488 Dass die fachlichen Überzeugungen zur Struktur und Genese historischen Wissens im Geschichtsunterricht auch beim Verfassen und der Kontrolle von Schulgeschichtsbüchern bedeutsam sind und Einfluss auf die Entwicklung der historischen Darstellung haben, zeigt Kapitel 3.7 exemplarisch an der Bedeutung der personenzentrierten Darstellung der Geschichte auf. Der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie endet mit der der Hinwendung zum lernzielorientierten Unterricht in den 1970er Jahren, weshalb anzunehmen ist, dass in jüngeren Zulassungsverfahren die geschichtsdidaktischen Debatten zunehmen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Analyse der Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern ab der Mitte der 1970er Jahre lohnenswert.1489 Eine quellengestützte Analyse der Schulbuchentwicklung könnte dazu beitragen, die komplexen Entstehungsbedingungen auf institutioneller, praxeologischer und kultureller Ebene herauszuarbeiten. Die in Verlagsarchiven oder dem Bayerischen Wirtschaftsarchiv gelisteten Produktionsunterlagen könnten hierzu einen Fundus bieten. Zudem lassen die Ergebnisse darauf schließen, dass profundes geschichtstheoretisches und geschichtsdidaktisches Wissen für eine effiziente Kontrolle von Schulbuchinhalten sinnvoll ist, da so historische Narrative identifiziert und dem historischen Gegenstand sowie der Aufnahmefähigkeit von Schülerinnen und Schülern gerecht werdende Deutungsmuster vorgeschlagen werden können. Bereits in der universitären Lehrerbildung könnten geschichtstheoretisches Wissen vermittelt und metakognitive Kompetenzen verstärkt geschult werden, um angehenden Lehrkräften ein flexibles und ausbaufähiges Instrumentarium zur Bewertung und Konstruktion historischer Darstellungen an die Hand zu geben. 1486 Kühberger (2017), S. 209. 1487 Kühberger (2017), S. 209. 1488 Autorinnen und Autoren auszuwählen, die zum Themenfeld Antisemitismus profunde Kenntnisse haben, ist u. a. ein Vorschlag des im Januar 2019 veröffentlichten Berichts zum Antisemitismus in der Schule des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung. Vgl. Salzborn und Kurth (2019). 1489 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren diese Akten noch nicht im Bayerischen Hauptstaatsarchiv gelistet.

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Allerdings ist der Fortbestand apologetischer Narrative keine ausschließliche Folge mangelnden Wissens. Schulbuchverlage übernahmen und übernehmen ältere Textbestände, Strukturierungen und Versatzstücke für aktuelle Schulgeschichtsbücher, wenn sie ökonomisch handeln wollen. Zum einen erlaubt der Rückgriff auf ältere Texte eine schnellere Konzeption neuer Bände, zum anderen bilden sie Brücken für die primären Adressaten (Lehrkräfte) zwischen neuen und alten Konzeptionen, was den Vertrieb erleichtert.1490 Deshalb ist anzunehmen, dass residuale Bestandteile ursprünglicher Darstellungen des Nationalsozialismus Schulbuchgenerationen hinweg überdauerten. Ein Lehrwerk, das die (Mit-) Täterschaft und Verantwortungsschichten an den nationalsozialistischen Massenverbrechen offenlegt, dürfte heute weniger ein Problem ungenügender Fachkenntnis sein. Sowohl Etienne Schinkel wie auch Susanne Popp zeigen auf, dass Lehrwerke die Zunahme an fachlichem Wissen kaum integrieren. Um dem fachlichen Wissens- und dem Reflexionsstand gerecht zu werden, bedarf es deshalb auch einer konsequenten Neufassung und einer verbesserten Kontrolle von Schulgeschichtsbüchern, was angesichts der als ökonomischen Schranke wahrgenommenen Zulassungsverfahren vor allem eine politökonomische Herausforderung darstellt. Da der Schulbuchmarkt als gebrochener Markt vor allem über den staatlichen Haushalt betrieben wird, die Ausgaben für Lehrmittel aber sinken, erhöhte sich der ökonomische Druck auf Schulbuchverlage in den letzten Jahrzehnten. Die staatliche und kommunale Unterfinanzierung des Schulbuchund Medienbudgets verhindert nicht nur die adäquate Ausstattung der Schulen mit Lehrwerken, sondern unterminiert auch didaktische Innovationen im Mediensegment. Problematische Aspekte zur Darstellung des Nationalsozialismus in aktuellen Schulgeschichtsbüchern erscheinen vor dem Hintergrund der Ergebnisse vorliegender Studie auch als Hypothek der postnazistischen Nachkriegsgesellschaften. In dem Maße, in dem die Geschichte des Nationalsozialismus in die Schulgeschichtsbücher einging, wurde sie auch von den damaligen Akteuren der Schulbuchproduktion und Zulassung formiert. Gleichwohl unterlag die in Schulgeschichtsbüchern hegemoniale Geschichtskultur einem Deutungswandel, der konform zum langsamen Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft vom Historismus zur Sozialwissenschaft vollzogen wurde. Bildhaft gesprochen wurden schichtenweise Elemente sozialwissenschaftlich geprägter Geschichtstheorie auf die tradierten Schulgeschichtsbücher aufgetragen und überkommene Darstellungen langsam abgetragen. In einigen der analysierten Schulgeschichtsbücher vollzog sich dieser Prozess revolutionär, etwa bei Hirschgrabens ›Fragen an die Geschichte‹ oder ›Zeitgeschichte und wir‹, was jedoch im Zulassungsverfahren abgeblockt bzw. abgemildert wurde. In der Regel übernahmen 1490 Vgl. Opfer (2007), S. 118.

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jüngere Schulgeschichtsbücher Textbestände aus den Vorgängerwerken. Schulgeschichtsbücher sind deshalb nicht nur Ausdruck des gesellschaftlichen Konsenses zur Entstehungszeit, sondern enthalten auch das Echo älterer Zeitschichten. Neben den metakognitiven Kompetenzen der Akteure in Zulassungsverfahren sind also auch die Rahmenbedingungen relevant, die eine konzeptionelle Weiterentwicklungen nicht zu einem ökonomischen Desaster werden lassen, wenn politische Vorgaben im Widerspruch zu didaktischer Innovation stehen. Umgekehrt sollte die (sicherlich ungewollte) Tradierung überkommener Narrative zur Geschichte des Nationalsozialismus in Lehrwerken nicht profitabel bleiben. Die Analyse der bayerischen Zulassungsverfahren in den Nachkriegsjahrzehnten konnte aufzeigen, dass die Machtverteilung, die Auswahl der Gutachterinnen und Gutachter und die Lehrpläne und Richtlinien entscheidende Faktoren zur Steuerung der Schulbuchinhalte waren. Um den Handlungsspielraum der Gutachterinnen und Gutachter festzusetzen und sie mit historischer Deutungsmacht auszustatten, bedarf es eines klaren politischen Auftrags, der durch Geschichtslehrpläne inhaltlich vorgegeben und durch spezifische Richtlinien verfeinert werden kann.

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Abkürzungsverzeichnis BayHStA BayBSVK BayWA BDM BLLV BFB BSV CDU CSU DAP DNVP DRP GB/BHE GEW GVBl ISQI IfZ KMBL KMK KPD NSDAP NSLB SA SD SDS SS VDA VdS

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Bereinigte Sammlung der Verwaltungsvorschriften des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus 1865 bis 30. 6. 1957 Bayerisches Wirtschaftsarchiv der bayerischen Industrie- und Handelskammern Bund Deutscher Mädel Bayerischer Lehrerinnen- und Lehrerverband Bayerische Freiheitsbewegung Bayerischer Schulbuchverlag Christlich Demokratische Union Christlich Soziale Union Deutsche Arbeiterpartei Deutschnationale Volkspartei Deutsche Reichspartei Gesamtdeutscher Block / Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse Institut für Zeitgeschichte Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus Kultusministerkonferenz Kommunistische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Lehrerbund Sturmabteilung Sicherheitsdienst des Reichsführers SS Sozialistischer Deutscher Studentenbund Schutzstaffel Volksbund für das Deutschtum im Ausland Verband der Schulbuchverlage

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Literaturverzeichnis Systematisch ausgewertete Quellen Ungedruckte Quellen Generalia zum Zulassungsverfahren

BayHStA MK 62120; 62121; 63654; 63655; 64255; 65604; 65608; 81263; 85947. BayHStA StK 17595; 1756.

Zulassungsverfahren von Schulgeschichtsbüchern

BayHStA MK 63541; 63817; 63818–63833; 63835–63840; 63842–63847; 64256–64258; 64260– 64272; 64363; 64517–64520; 64523–64526; 65421.

Personalakten

BayHStA MK 43125; 45880; 46965; 48269; 54118; 54120; 54140; 54154; 54156; 56677; 56760; 59713; 59760; 75321; 76254. BayHStA Reichsstatthalter 7629.

Produktionsunterlagen

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Winkler, Willi (2019b): Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde. Berlin: Rowohlt. Wippermann, Wolfgang (1997a): Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. 7., überarb. Aufl. Darmstadt: Primus-Verl. Wippermann, Wolfgang (1997b): Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. Darmstadt: Primus Verl. Wippermann, Wolfgang (2009): Dämonisierung durch Vergleich. DDR und Drittes Reich. Berlin: Rotbuch. Wittmann, Reinhard (2008): Wissen für die Zukunft. 150 Jahre Oldenbourg Verlag. München: Oldenbourg. Wojak, Irmtrud (2004): Zur Einführung. Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozeß und die »Bewältigung« der NS-Vergangenheit. In: Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main, hg. v. Wojak, Irmtrud. Köln: Snoeck, S. 52–71. Wojdon, Joanna (2015): The system of textbook approval in Poland under communist rule (1944–1989) as a tool of power of the regime. In: Paedagogica historica, 51, S. 181–196. Wolfrum, Edgar (1999): Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989. Phasen und Kontroversen. In: Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, hg. v. Bock, Petra, Wolfrum, Edgar. Göttingen: V&R, S. 55–81. Wolfrum, Edgar (2002): Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. 2. Aufl. Göttingen: V&R. Wolfrum, Edgar (2008): Zwischen Tradition und Neuorientierung. Die Geschichtswissenschaft im Nachkriegsdeutschland 1945–1955. In: Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, hg. v. Hasberg, Wolfgang, Seidenfuß, Manfred. Berlin: Lit, S. 51–62. Wolfrum, Edgar; Bock, Petra (1999): Einleitung. In: Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, hg. v. Bock, Petra, Wolfrum, Edgar. Göttingen: V&R, S. 7–14. Wulf, Joseph; Poliakov, Léon (1955): Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze. Berlin: Arani. Wulf, Joseph; Poliakov, Léon (1956): Das Dritte Reich und seine Diener. Auswärtiges Amt, Justiz und Wehrmacht. Dokumente und Berichte. Berlin: Arani. Wulf, Joseph, Poliakov, Léon (1959): Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente und Berichte. Berlin: Arani. Ziegler, Béatrice (2014): »Erinnert euch!«. – Geschichte als Erinnerung und die Wissenschaft. In: Der Beitrag von Schulen und Hochschulen zu Erinnerungskulturen, hg. v. Gautschi, Peter, Sommer Häller, Barbara. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verl., S. 69– 89. Zimmermann, Michael (1992): Negativer Fixpunkt und Suche nach positiver Identität. Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der alten Bundesrepublik. In: Holocaust. die Grenzen des Verstehens: Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, hg. v. Loewy, Hanno. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 128–143. Zimmermann, Moshe (1995): Die Erinnerung an Nationalsozialismus und Widerstand im Spannungsfeld deutscher Zweistaatlichkeit. In: Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, hg. v. Danyel, Jürgen. Berlin: Akademie Verlag, S. 133–138.