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German Pages 228 Year 2015
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Band 29
Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn Dietrich Murswiek
Duncker & Humblot · Berlin
Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Dieter Blumenwitz †, Karl Doehring †, Gilbert H. Gornig, Christian Hillgruber, Hans-Detlef Horn, Bernhard Kempen, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning
Band 29
Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit
Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn Dietrich Murswiek
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Bände 1 – 19 der „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 978-3-428-14520-1 (Print) ISBN 978-3-428-54520-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84520-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort In den Zeiten der Globalisierung und der internationalen Freizügigkeit trifft das Staatsrecht der Demokratie auf eine grundlegende Herausforderung: Wer ist das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgehen soll? Traditionell knüpfen die Staaten das nationale Wahlrecht an zwei Voraussetzungen: die Staatsangehörigkeit und die Ansässigkeit im Staatsgebiet. Doch die Tradition schwindet. Jüngere Entwicklungen zeigen, dass an die Stelle der alten territorialen und personalen Abschließung des staatlichen Wahlrechts verschiedene Konzepte und Strategien treten, die der Tatsache Rechnung tragen wollen, dass immer mehr eigene Staats- und Nationsangehörige im Ausland leben und dass umgekehrt immer mehr fremde Staatsangehörige dauerhaft im Inland ansässig sind. Mit den aus dieser Entwicklung erwachsenden Fragen und Problemen beschäftigte sich das Symposium der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, das in Verbindung mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen vom 12. bis 13. Oktober 2012 in Königswinter bei Bonn stattgefunden hat. Der vorliegende Band enthält die von den Autoren überarbeiteten Fassungen der dort gehaltenen Vorträge. Die Beiträge behandeln das Thema „Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit“ aus der Warte des Völkerrechts und des Staatsrechts sowie in rechtsvergleichender Hinsicht. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, ob und inwieweit das jeweilige nationale Wahlrecht zum einen auch für die nicht im Inland ansässigen Staatsangehörigen und zum anderen auch für die im Inland ansässigen Nicht-Staatsangehörigen – dies auch unter dem Aspekt eines möglichen Minderheitenschutzes – gilt oder gelten sollte. Dazu orientieren sich die ersten, grundlegenden Beiträge an den kategorischen Polarisierungen „Demokratie und Staatensouveränität“, „Demokratie und Staatsvolk“, „Demokratie und Staatsgebiet“ sowie „Demokratie und Minderheiten“. Die daran anschließenden „Länderberichte“ informieren sodann über die Rechtslagen und rechtspolitischen Diskussionen in Österreich, Ungarn, Ukraine und Frankreich. Christian Hillgruber (Bonn) zeigt zu Beginn auf, dass das gegenwärtige Völkerrecht zwar das nationale Wahlrecht garantiert, sich aber zu den Fragen der Bindung des Wahlrechts an die jeweilige Staatsangehörigkeit und an einen inländischen Wohnsitz indifferent verhält. Otto Depenheuer (Köln) erkennt in den zunehmenden Bestrebungen, Ausländern die nationale Wahlberechtigung einzuräumen oder sie im Wege der Einbürgerung zu Bürgern mit doppelter Staatsangehörigkeit zu machen, eine allmähliche und politisch brisante Auflösung des für die Demokratie wesentlichen Status der Staatsangehörigkeit. Hans-Detlef Horn (Marburg) hält den Begriff vom Staatsvolk der Demokratie
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Vorwort
als dem Volk, das auf dem Staatsgebiet ansässig ist, für überholt und spricht sich gegen eine Bindung des nationalen Wahlrechts an den Nachweis eines Inlandswohnsitzes aus. Dietrich Murswiek (Freiburg) begrüßt eine wahlrechtliche Privilegierung von nationalen Minderheiten, aber nur soweit wie damit minderheitenspezifische Interessen geschützt werden. Alfred Eisfeld (Göttingen) berichtet über die spezielle wahlrechtliche Lage der Deutschen in Russland und der Russen in Deutschland. Ebenso reichhaltige wie vielfältig bereichernde Einblicke in die einschlägigen wahlrechtlichen Regelungen anderer Staaten bieten schließlich die Berichte aus Österreich von Katharina Pabel (Linz), aus Ungarn von Elisabeth Sándor-Szalay (Pécs), aus der Ukraine von Victor Kostiv (Uschhorod/Ungwar) und aus Frankreich von Dominique Breillat (Poitiers). Die Herausgeber danken erneut den Mitarbeitern am Institut für Öffentliches Recht der Philipps-Universität Marburg für die tatkräftige Mithilfe bei der Zusammenstellung auch dieses Bandes in den „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“, insbesondere Frau Petra Kühn sowie den Herren Ass. iur. Friedemann Larsen und Ass. iur. Olivier Kreßner. Marburg/Freiburg, im März 2014 Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn Dietrich Murswiek
Foreword In terms of globalisation and freedom of movement state law of democracy meets a fundamental challenge: Who is to be the people governing the state power? Traditionally states bind national suffrage to the requirements of both national citizenship and homeland residence. That tradition, however, is on the wane. There are recent developments showing the former territorial and personal closure of suffrage regulations being replaced by different concepts and strategies in order to provide for the fact that more and more home citizens and other nationals are living abroad as well as more and more foreigners are of habitual abode inside the country. Issues and problems arising from that development have been the matter of the symposium of the Study Group for Politics and International Public Law (“Studiengruppe für Politik und Völkerrecht”) held 12th - 13th October 2012 in Königswinter near Bonn, again in association with the “Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen”. The presented volume collects the revised seminar papers. The articles work towards the topic “National Suffrage and International Freedom of Movement” from both International Public Law and State Law point of view as well as in regard of Comparative Law. The focus lies on the question whether or not and to which extend national voting rights are guaranteed or should be guaranteed respectively to non-resident citizens on the one hand, and resident foreigners on the other hand – including aspects of possible protection of minorities. Thereto the first part of the articles gets its bearings from the categorical juxtapositions “Democracy and State Sovereignty”, “Democracy and the People of a State”, “Democracy and the Territory of a State”, and “Democracy and Minorities”. Afterwards several Country Reports inform about the prevailing legal situation and the political discussions taking place in Austria, Hungary, Ukraine, and France. Christian Hillgruber (Bonn) shows up at the beginning that the current international law namely guarantees the national suffrage, but behaves indifferent to questions of the binding of the suffrage to the respective citizenship and to a domestic residence. Otto Depenheuer (Cologne) recognizes the growing intentions to grant foreigners the national voting rights or to make them by way of naturalization to citizens with dual nationality, a gradual and politically explosive corrosion of the essential for democracy status of nationality. Hans-Detlef Horn (Marburg) holds the concept of identifying the voting people of a democracy with the people that is resident on the territory of the relevant state, for obsolete and opposes a binding of national voting rights to the proof of a domestic residence. Dietrich Murswiek (Freiburg) welcomes a legal privilege of na-
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Foreword
tional minorities concerning their right to vote, but only so far as specific minority interests are to be protected. Alfred Eisfeld (Göttingen) reports on the special suffrage situation of the Germans in Russia and the Russians in Germany. Likewise, rich as varied enriching insights into the relevant electoral law regulations of other countries ultimately provide the reports from Austria by Katharina Pabel (Linz), from Hungary by Elisabeth Sándor-Szalay (Pécs), from Ukraine by Victor Kostiv (Uzhhorod/Ungwar), and from France by Dominique Breillat (Poitiers). The editors would like to express their thanks to the staff of the Institute of Public Law (“Institut für Öffentliches Recht”) at Philipps University of Marburg for their assistance regarding the compilation of the volume, again being published in the edition “Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht”, especially to Petra Kühn, and to both Ass. iur. Friedemann Larsen und Ass. iur. Olivier Kreßner. Marburg/Freiburg, in March 2014 Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn Dietrich Murswiek
Inhaltsverzeichnis Christian Hillgruber Demokratie und Staatensouveränität: Das Wahlrecht im Völkerrecht ......................................19 Abstract .......................................................................................................................................36
Otto Depenheuer Demokratie und Staatsvolk: Zur Bindung des Wahlrechts an die Staatsangehörigkeit ............39 Abstract .......................................................................................................................................53
Hans-Detlef Horn Demokratie und Staatsgebiet: Die Bedeutung des Wohnsitzes für das Wahlrecht ...................55 Abstract .......................................................................................................................................93
Dietrich Murswiek Demokratie und Minderheiten: Wahlrecht von Minderheiten ...................................................95 Abstract .................................................................................................................................... 115
Alfred Eisfeld Demokratie und Minderheiten: Status und Wahlrecht der Deutschen in Russland und der Russen in Deutschland....................................................................................................... 117 Abstract .................................................................................................................................... 132
Katharina Pabel Länderbericht Österreich – auch mit Bezug auf Südtirol........................................................ 135 Abstract .................................................................................................................................... 152 Elisabeth Sándor-Szalay Länderbericht Ungarn – auch mit Bezug auf die Slowakei .................................................... 153 Abstract .................................................................................................................................... 173 Viktor Kostiv Länderbericht Ukraine ............................................................................................................. 175 Abstract .................................................................................................................................... 192
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Inhaltsverzeichnis
Dominique Breillat Länderbericht Frankreich......................................................................................................... 195 Abstract .................................................................................................................................... 211
Die Autoren ..................................................................................................................................... 213 Sach- und Personenverzeichnis ...................................................................................................... 225
Table of Contents Christian Hillgruber Democracy and State Sovereignty: The Right to Vote in International Public Law .................19 Abstract .......................................................................................................................................36
Otto Depenheuer Democracy and the People of a State: On Binding Suffrage to Citizenship .............................39 Abstract .......................................................................................................................................53
Hans-Detlef Horn Democracy and the Territory of a State: The Meaning of Residency for Suffrage ...................55 Abstract .......................................................................................................................................93
Dietrich Murswiek Democracy and Minorities: Minority Suffrage ..........................................................................95 Abstract .................................................................................................................................... 115
Alfred Eisfeld Democracy and Minorities: Suffrage of Ethnic Germans in Russia ....................................... 117 Abstract .................................................................................................................................... 132
Katharina Pabel Country Report Austria............................................................................................................ 135 Abstract .................................................................................................................................... 152 Elisabeth Sándor-Szalay Country Report Hungary ......................................................................................................... 153 Abstract .................................................................................................................................... 173
Viktor Kostiv Country Report Ukraine .......................................................................................................... 175 Abstract .................................................................................................................................... 192
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Table of Contents
Dominique Breillat Country Report France ............................................................................................................ 195 Abstract .................................................................................................................................... 211
The Authors..................................................................................................................................... 213 Subject Index and List of Names .................................................................................................... 225
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations
a.A. Abg. abgedr. ABl. Abl. Abs. AEUV a.F. Anh. AöR Art. ASSRdW Aufl. Ausschuss-Drs. Az. Bd. Bek. Beschl. BGBl. BlgNr. BT-Drs. BuStAG BVerfG BVerfGE BVerfGG B-VG BWahlG BWG bzw. ca. CDU dens. ders. d.h. d.i. dies. DÖV
andere Auffassung Abgeordneter abgedruckt Amtsblatt Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Anhang Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen Auflage Ausschussdrucksache Aktenzeichen Band Bekanntmachung Beschluss Bundesgesetzblatt Beilage(n) zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates Bundestagsdrucksache Gesetz über die Bundes- und Staatsangehörigkeit Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundes-Verfassungsgesetz Bundeswahlgesetz (ältere Fassungen) Bundeswahlgesetz beziehungsweise circa Christlich Demokratische Union Deutschlands denselben derselbe das heißt das ist dieselbe Die Öffentliche Verwaltung
14 Dr. DVBl. E ebd. ed. EG EGMR EGMR (GK) EKMR EMRK ENDB-K endg. EP etc. EuGH EUV EuWG e.V. EvStL EWG EZB f. FAZ FDP ff. FG Fn. FNKA FS FUEV GA geänd. GG gg. GIZ GP GTZ GUS Herv.i.O. Hrsg. HStR i.d.F. IPBPR IVDK
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations Doktor Deutsches Verwaltungsblatt Entscheidung ebenda edited Europäische Gemeinschaften Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer) Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention Endbericht des Österreich-Konvents endgültig Europäisches Parlament et cetera Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union i.d.F. des Vertrags von Lissabon Europawahlgesetz eingetragener Verein Evangelisches Staatslexikon Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäische Zentralbank folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei fortfolgende Festgabe Fußnote Föderale Nationale Kulturautonomie der Russlanddeutschen Festschrift Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen General Assembly geändert Grundgesetz gegen Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit Gesetzgebungsperiode Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Hervorhebung im Original Herausgeber Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland in der Fassung Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationale Verband der deutschen Kultur
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations i.V.m. JA JRP JZ Kap. KGB KOM KPdSU KSZE lit. LWahlG m.a.W. m.E. Mio. Mithrsg. m.N. Ms. m.w.N Nachw. NEEDS NGO NJW NKVD NKWD No. NordÖR Nr. Nrn. NRWO NVwZ NVwZ-RR o.ä. OAS ÖGZ ÖJZ OSZE OVG para. Pkt. pp. Pr.GS RF RGBl.
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in Verbindung mit Juristische Ausbildung Journal für Rechtspolitik Juristenzeitung Kapitel Komitet gossudarstwennoi besopasnosti pri Sowjete Ministrow SSSR (Sowjetischer Geheimdienst) Kommission (Europäische Union) Kommunistische Partei der Sowjetunion Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa litera Landeswahlgesetz mit anderen Worten meines Erachtens Million Mitherausgeber mit Nachweisen Manuskript mit weiteren Nachweisen Nachweis Network Enhanced Electoral and Democratic Support Nichtregierungsorganisation Neue Juristische Wochenschrift Peoples Commissariat for Internal Affairs Narodny Kommissariat Wnutrennich Del (Volkskommissariat des Inneren) number Zeitschrift für Öffentliches Recht in Norddeutschland Nummer Nummern Nationalrats- Wahlordnung Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Rechtsprechungsreport oder ähnliche Organisation Amerikanischer Staaten Österreichische Gemeindezeitung Österreichische Juristenzeitung Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Oberverwaltungsgericht paragraph Punkt pages Preußische Gesetzessammlung Russische Föderation Reichsgesetzblatt
16 Ril/RL Rn. ROW RSFSR RV RWahlG Rz. S. s. sc./scil. SIAK-Journal sog. Sp. SPD SSW StAG StGBl. st.Rspr. u. u.a. UdSSR UK UkrStBG UN unveränd. Urt. U.S. usw. v. VerfSH VfGH VfSlg. vgl. VK VKP(b) Vol. VVDStRL WK II YaleJIL Z. z. z.B. Ziff.
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations Richtlinie Randnummer Recht in Ost und West Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Regierungsvorlage Reichswahlgesetz Randziffer Seite siehe scilicet Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis so genannt Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschland Südschleswigscher Wählerverband Staatsangehörigkeitsgesetz Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich ständige Rechtsprechung und und andere/unter anderem Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Kingdom Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Ukraine United Nations unverändert Urteil United States und so weiter vom/von Verfassung des Landes Schleswig-Holstein Verfassungsgerichtshof Amtliche Sammlung des Verfassungsgerichtshofes (Österreich) vergleiche Vereinigtes Königreich Kommunistische Partei der Sowjetunion / Allunionistische Partei der Sowjetunion Volume Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Zweiter Weltkrieg Yale Journal of International Law Zeile zum zum Beispiel Ziffer
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations zit. ZK ZP ZParl zul.
zitiert Zentralkomitee Zusatzprotokoll Zeitschrift für Parlamentsfragen zuletzt
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Demokratie und Staatensouveränität: Das Wahlrecht im Völkerrecht Von Christian Hillgruber
I. Einleitung „In modernen Territorialstaaten verwirklicht sich die Selbstbestimmung eines Volkes hauptsächlich in der Wahl von Organen eines Herrschaftsverbandes, die die öffentliche Gewalt ausüben.“1 Repräsentative Demokratien sind daher zwingend auf Wahlen angewiesen, und dabei gilt: Ohne freie Wahlen keine Demokratie.2 Nur Wahlen, in denen sich der freie Wille des jeweiligen Staatsvolkes zu artikulieren vermag, vermögen demokratische Legitimation zu vermitteln, erlauben die normative Zurechnung des Handelns der Staatsorgane an das Volk. Dass die Wahl den grundlegenden und unverzichtbaren demokratischen Legitimationsakt darstellt, mit dem Demokratien stehen oder fallen, ist daher unbestreitbar, und alle Demokratien garantieren daher verfassungsrechtlich – geschrieben oder ungeschrieben – die periodische Durchführung von Wahlen nach Grundsätzen, die einen authentischen Ausdruck des Volkswillens garantieren sollen. Aber ist das Wahlrecht und seine Ausgestaltung auch ein Thema für das Völkerrecht? Das könnte wohl nur dann der Fall sein, wenn sich das Völkerrecht auch die innere Verfasstheit der Staaten als seiner primären Subjekte angelegen sein ließe, wenn es eine demokratische politische Ordnung in den Staaten gebieten würde. Die Vorstellung, das Völkerrecht könne Demokratie als Staats- und Regierungsform vorschreiben, wäre noch vor 25 Jahren ins Reich der Phantasie verwiesen worden. Im Pluriversum demokratisch, autoritär und diktatorisch regier___________ 1
BVerfGE 123, 267 (366) – Lissabon. Der Satz lässt sich nicht umkehren: Wahlen werden auch in Staaten durchgeführt, die keine Demokratien sind: Dabei handelt es sich entweder um „Wahlen“ ohne Auswahl nach Einheitslisten, die nur eine pseudodemokratische Scheinlegitimation eines in Wahrheit autokratischen politischen Systems verleihen sollen, oder aber um Wahlen von Organen, die keine entscheidende politische Macht besitzen. 2
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Christian Hillgruber
ter Staaten verhielt sich das Völkerrecht gegenüber deren innerer Organisation und Verfassung neutral. Sie galten als klassische innere Angelegenheit, in die sich weder Drittstaaten noch internationale Organisationen einzumischen hatten. Noch 1986 urteilte der Internationale Gerichtshof im Nicaragua-Fall: „However the régime in Nicaragua be defined, adherence by a State to any particular doctrine does not constitute a violation of customary international law; to hold otherwise would make nonsense of the fundamental principle of State sovereignty, on which the whole of international law rests, and the freedom of choice of the political, social and cultural system of a State“.3 Demokratische Anforderungen an Staaten zu stellen, erschien nachgerade unvereinbar mit dem völkerrechtlichen Grundprinzip der Staatensouveränität. Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der weltpolitischen Wende 1989/90 aber meinten US-amerikanische Autoren bereits ein „emerging right to democratic governance“ ausmachen zu können.4 Hatte sich das Völkerrecht schlagartig geändert oder hatte das geltende Völkerrecht lediglich eine neue Lesart erfahren?
II. Das (innere) Selbstbestimmungsrecht der Völker: Recht auf Demokratie? Es gab jedenfalls schon vor der weltpolitischen Wende 1989/90 Bestimmungen des universellen Völkerrechts, die demokratisch hätten interpretiert werden können, aber nicht demokratisch interpretiert worden sind, weil es keinen Staatenkonsens in Sachen Demokratie gab. Hier ist an erster Stelle das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu nennen. Es vermittelt nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 der beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966, die 1976 in Kraft traten und seitdem auch die Ostblockstaaten banden und mittlerweile 167 Staaten5 binden, allen Völkern das Recht, frei über ihren politischen Status zu entscheiden und in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten. Das innere Selbstbestimmungsrecht gewährleistet also einem Staatsvolk die eigene, von dirigierender Einflussnahme dritter Mächte freie Entscheidung über die innere Organisation seines Staates, mithin Verfassungsautonomie als
___________ 3 Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. U.S.), judgment of 27 June 1986, I.C.J. Reports 1986, S. 14 (133 para. 263). 4 T. M. Franck, The Emerging Right to Democratic Governance, 86 AJIL 46 (1992); G. H. Fox, The Right to Political Participation in International Law, 17 YaleJIL 539 (1992). 5 Zu den prominentesten und volkreichsten „Abstinenzlern“ zählt China.
Das Wahlrecht im Völkerrecht
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Ausdruck von Volkssouveränität.6 Mit diesem Inhalt hatte das (innere) Selbstbestimmungsrecht der (Staats-)Völker 1945 Eingang in die Zielbestimmungen der Charta der Vereinten Nationen gefunden,7 und es erfuhr insoweit durch die UN-Menschenrechtspakte eine Betätigung und Bekräftigung. Diese innere Seite des Selbstbestimmungsrechts der Völker geht ideengeschichtlich auf die Französische Revolution zurück, in der sich das Prinzip der Volkssouveränität durchsetzte.8 Das innere Selbstbestimmungsrecht eines Volkes richtet sich gegen den eigenen Staat, für den es sich in äußerer Selbstbestimmung entschieden hat. Es steht daher dem jeweiligen Staatsvolk als alleinigem Rechtsträger zu. Die durch das innere Selbstbestimmungsrecht der Völker garantierte Volkssouveränität berührt sich mit der überkommenen Staatssouveränität; sie erscheint gleichsam als der Zweck, zu dem Staatssouveränität gefordert wird. Hinter dem Schutz staatlicher Souveränität steht als neue völkerrechtliche Letztbegründung das Selbstbestimmungsrecht der Völker und damit – verfassungstheoretisch gesprochen – das Prinzip der Volkssouveränität, das im (inneren) Selbstbestimmungsrecht eine völkerrechtliche Anerkennung und Absicherung erlangt hat.9 Aber verpflichtet das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch zu Herstellung von Demokratie? Demokratie ist eine mögliche, unter den heutigen Bedingungen regelmäßig eintretende, aber keine zwingende Folge des Prinzips der Volkssouveränität. Mit Recht betont Niels Petersen, dass man unterscheiden müsse „between the act of framing the political system and its actual content, the pouvoir constituant and the pouvoir constitué. The right to selfdetermination only refers to the former, but not necessarily to the latter. History provides examples in which citizens opted by electoral means to delegate pow___________ 6
Zutreffend neigt daher D. Murswiek, Der Staat 23 (1984), S. 523 (534 mit Fn. 35), dazu, das Selbstbestimmungsrecht auch als Garantie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zu begreifen. 7 Der demokratische Aspekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist schon bei den Beratungen von San Francisco zur Sprache gekommen; vgl. Summary Report of the Sixth Meeting of Committee I/1, in: United Nations Conference on International Organisation, Documents, Vol. VI, S. 300: „(…) that an essential element of the principle in question is a free and genuine expression of the will of the people, which avoids cases of the alleged expression of the popular will“; H. Kelsen, The Law of the United Nations, 1950, S. 50 ff. Zur Entwicklung siehe U. Fink, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, JZ 1998, S. 330 (335 f.). 8 Siehe dazu C. Hillgruber, in: H. Neuhaus (Hrsg.), Sicherheit in der Welt heute – Geschichtliche Entwicklung und Perspektiven, Atzelsberger Gespräche 2000, 2001, S. 27 (35 f.). 9 Vgl. dazu D. Murswiek (Fn. 6), S. 534 mit Fn. 35; B. Kempen, Einige Bemerkungen zum völkerrechtlichen Begriff der Souveränität, in: D. Dörr u. a. (Hrsg.), FS für H. Schiedermair, 2001, S. 783 (795 f.).
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Christian Hillgruber
er to political elites, which then established authoritarian rule“.10 Pointiert formuliert Karl Doehring: „Selbsterzeugte Tyrannis wird vom Völkerrecht hingenommen, aber von außen auferlegte Tyrannis nicht“.11 Es ist allerdings durchaus fraglich, unter welchen Umständen eine nicht demokratische Herrschaftsordnung als vom Volk hinreichend legitimiert angesehen werden kann.12 Im Regelfall aber wird sich das Volk in Ausübung seiner Souveränität für Demokratie entscheiden, damit es nicht nur herrscht, sondern auch regiert. Dann aber stellt sich die Frage: Verletzt die Missachtung seines auf Demokratie mittels freier Wahlen gerichteten Willens auch sein inneres Selbstbestimmungsrecht? Begründet das innere Selbstbestimmungsrecht also einen Anspruch des Staatsvolkes auf demokratische Teilhabe an der Staatsgewalt, die nur durch freie, gleiche und allgemeine Wahlen verbürgt ist? Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ordnet, wie gesehen, zunächst einmal die Geltung des Prinzips der Volkssouveränität an. Es umfasst die Gewährleistung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, den demokratischen pouvoir constituant. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker erweist sich insofern als „ein Ausfluss des demokratischen Prinzips der Regierung mit der Zustimmung der Regierten“.13 Von wirklicher Selbstbestimmung des Staatsvolkes, so ließe sich argumentieren, kann nur bei authentischer Selbstregierung die Rede sein; sie setzt umfassende politische Teilhabe voraus, die erst effektive Volksherrschaft begründet. Der Geltung des demokratischen Prinzips käme danach für die Verwirklichung des inneren Selbstbestimmungsrechts jenseits des souveränen Akts der Verfassunggebung grundlegende Bedeutung zu.14 ___________ 10 N. Petersen, The Principle of Democratic Teleology in Public International Law, in: Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods, 2008/16, abrufbar unter: http://www.coll.mpg.de/pdf_dat/2008_16online.pdf, S. 16 f. Siehe auch bereits C. Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl. 1970, § 17 unter 1.III.2., S. 237: „Stets aber ist (…) eine Aufhebung der Demokratie auf demokratischer Grundlage für die Diktatur charakteristisch“, sowie C. Schmitt, Die Diktatur, 6. Aufl. 1994, unter XIII: „Wahre Diktatur ist nur auf demokratischer Grundlage möglich“; gemeint ist Volkssouveränität. 11 K. Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, § 2 I dI Rn. 117. Allerdings dürfte entgegen der Annahme von Doehring (Demokratie und Völkerrecht, in: FS für H. Steinberger, 2002, S. 127 [129]) mit der Entscheidung eines Volkes gegen ein demokratisches politisches System das Selbstbestimmungsrecht nicht endgültig und dauerhaft verbraucht sein. Vielmehr kann sich ein Volk kraft seiner souveränen verfassunggebenden Gewalt jederzeit eine neue Verfassungsordnung geben. 12
Siehe hierzu nur die Überlegungen von N. Petersen (Fn. 10), S. 17 f., zur Repräsentativität von Regierungen. 13 14
A. Cassese, in: L. Henkin (ed.), The International Bill of Rights, 1981, S. 92 (102).
A. Cassese (Fn. 13), S. 98: „The test for gauging whether self-determination is recognized or denied is whether or not there is democratic decision-making-process“.
Das Wahlrecht im Völkerrecht
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Eine solche „demokratische“ Deutung des inneren Selbstbestimmungsrechts der Völker kann sich angesichts des Zusammenhangs, der zwischen der „inneren“ Dimension des Selbstbestimmungsrechts und den individualrechtlichen Gewährleistungen des Pakts über bürgerliche und politische Rechte besteht, prima facie auch auf Art. 25 IPBPR stützen.15 Diese Bestimmung zieht, so scheint es, die praktischen Konsequenzen aus dem inneren Selbstbestimmungsrecht für das Völkerrecht, indem sie dem Individuum staatsbürgerliche Rechte auf aktive Mitwirkung an der Bildung des Staatswillens und der Bestellung von Staatsorganen in freien Wahlen vertraglich garantiert.16 Nach Art. 25 IPBPR hat jeder Staatsbürger das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Art. 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen, a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; b) bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden. Es ist allerdings nicht eindeutig, ob Art. 25 IPBPR tatsächlich eine inhaltliche Festlegung auf westliche Demokratievorstellungen enthält. Zwar setzt eine Wahl eigentlich schon begrifflich eine Entscheidungsalternative, also Auswahl, voraus, die beispielsweise eine von einer Staatspartei aufgestellte Einheitsliste nicht bietet, und einer anderen, willkürlichen Interpretation dieser Garantie des Wahlrechts scheint die Bestimmung im Sinne einer Rechtsverwahrung selbst vorzubeugen, indem sie anordnet, dass „echte“ Wahlen (genuine elections; élections honnêtes) stattfinden müssen, die darüber hinaus geeignet sein müssen, den Willen der Wähler frei zum Ausdruck zu bringen.17 Im UNMenschenrechtsausschuss ist indes die Frage, ob ein institutionalisiertes Einparteiensystem mit dem IPBPR vereinbar sei, zwar noch in Zeiten des Kalten Krieges thematisiert, aber keine klare Position bezogen worden.18 Eine effektive Garantie eines Mehrparteiensystems liegt darin also offenbar entgegen dem ___________ 15
Zur Verbindung von (innerem) Selbstbestimmungsrecht und demokratischem Prinzip, wie sie insbesondere durch Art. 25 IPBPR hergestellt wird, vgl. C. Hillgruber/B. Kempen, ROW 1989, S. 323 (325 f.). 16 So – grundlegend – Th. M. Franck, AJIL 86 (1992), 46 ff.; siehe auch J. Crawford, Democracy in International Law, 1996; skeptisch nach wie vor K. Doehring (Fn. 11), S. 127 ff. Der Menschenrechtsausschuss hebt in seinem „General Comment“ (GenC 25/57, § 1) hervor, dass „Article 25 lies at the core of democratic government based on the consent of the people“. 17 Vgl. K. J. Partsch, Freedom of Conscience and Expression, and Political Freedoms, in: L. Henkin (ed.), The International Bill of Rights: The Covenant on Civil and Political Rights, 1981, S. 209 ff. (240): „But it is difficult to avoid the conclusion that an election in which voters have no meaningful choice between parties or candidates and cannot express that choice without compulsion or fear is not ‚genuine‘ but a violation of Article 25“. 18 K. J. Partsch (Fn. 17), S. 243 mit Fn. 164.
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ersten Anschein doch nicht; die Entstehungsgeschichte19 bestätigt die zurückhaltende Auslegung der Vorschrift.20 Dies kann auch nicht wirklich überraschen, waren und sind doch zahlreiche Signatarstaaten des IPBPR nicht demokratisch verfasst und wären daher auch wohl kaum bereit gewesen, sich völkerrechtlich zur Einführung eines repräsentativen demokratischen Regierungssystems zu verpflichten.21 Auch heute noch gibt es einige Staaten, die Demokratie sogar ausdrücklich als eine für sie nicht akzeptable Staatsform ausschließen.22 Zudem regelt Art. 25 lit. b) IPBPR gar nicht, welche Staatsorgane zu wählen sind und welche Stellung der gewählten Körperschaft in der internen Verfassungsordnung zukommt, insbesondere ob sie als (alleiniger) Gesetzgeber fungieren und ob die Regierung ihr gegenüber verantwortlich sein muss.23 Das Recht auf Teilnahme an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten ist demgegenüber inhaltlich so vage, dass es keine effektive Teilhabe an der Ausübung von Staatsgewalt zu garantieren vermag.24 ___________ 19 Siehe dazu M. Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights, CCPR Commentary, 2. Auflage 2005, Art. 25 Rn. 3 ff. (20 mit Fn. 52). 20 In jüngerer Zeit hat der Menschenrechtsausschuss im Fall Bwalya v. Zambia (No. 314/1988) den Ausschluss eines Oppositionskandidaten von der Wahl zwar als Verletzung von Art. 25 lit. a) IPBPR gewertet – „restrictions on political activity outside the only recognised political party amount to an unreasonable restriction of the right to participate in the conduct of public affairs“ –, es aber vermieden, ein Einparteiensystem als solches als paktwidrig zu verwerfen. Siehe dazu M. Nowak (Fn. 19), Art. 25 Rn. 17. 21 Bei Ausarbeitung der UN-Charta war erwogen worden, neben der „Friedensliebe“ (vgl. Art. 4 Abs. 1 UN-Charta) auch eine demokratische, innere Verfassung eines Staates zur Voraussetzung der UN-Mitgliedschaft zu machen; diese Idee wurde aber verworfen (vgl. K. Ginther, in: B. Simma, Hrsg., Die Charta der Vereinten Nationen, Art. 4 Rn. 21). 22 H.-J. Heintze, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 30 Rn. 7, nennt als Beispiel Saudi-Arabien. Gleiches gilt für den Iran. Gewählt wird hier gleichwohl auch. 23 Nach M. Nowak (Fn. 19), Art. 25 Rn. 18, ist die Entscheidung, welche Organe gewählt werden sollen, „subject to the discretion of State parties within the scope of their various democratic models“. Andererseits soll es geboten sein, dass „those state organs in which both legal and de facto power is concentrated are either directly or indirectly validated by elections“. Davon steht indes in Art. 25 IPBPR nichts. 24 Euphemistisch M. Nowak (Fn. 19), Art. 25 Rn. 11: „this formulation is intentionally vague in order to allow States parties to structure the fundamental right to democratic participation in a manner consistent with the various models of democracy“; als definitiv garantierten Minimumstandard sieht aber auch er nur das Prinzip der Volkssouveränität an. Siehe demgegenüber dens., Rn. 46: Die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung politischer Rechte auf der internationalen Ebene würden schon bei der Frage deutlich, „what is meant by the ‚conduct of public affairs‘ and which State organs must be elected [...]. But when these [legislative] bodies meet for only a few days, when the executive is not strictly bound by their laws, or when true decision-making rests with other organs, such as a dominating or even uniform party, then the voter takes part in the conduct of public affairs to only a very limited extent“.
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Gleichwohl ist eine ernsthafte demokratische „Aufladung der Bestimmung“ durch nachfolgende Praxis nicht per se ausgeschlossen, sollte sich ein breiterer oder gar allgemeiner Konsens darüber, was die Substanz von Demokratie ausmacht, einstellen. Der General Comment des Menschenrechtsausschusses von 199625 legt dies ebenso nahe wie Äußerungen einzelner Mitglieder desselben. So hat Martin Scheinin betont, dass „the provisions of Article 25 have been applied in respect of changing circumstances in various parts of the world. Against the background of the Covenant having been drafted and entered into force during the Cold War period, it is understandable that the Human Rights Committee has not been prepared to read into Article 25 elements that have no explicit textual basis there, including a requirement of political pluralism. However, in recent years there are developments towards Article 25 getting a more prominent role in the work of the Committee“.26 Mit anderen Worten: Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der auf dem Weg ist, universelle Geltung zu erlangen, hat demokratisches Potential; ob es in der Praxis zu Tage gefördert und fruchtbar gemacht wird, bleibt abzuwarten.27
III. Weitergehende Demokratisierungstendenzen in der aktuellen Völkerrechtsentwicklung? In der völkerrechtlichen Literatur werden gegenwärtig zum Teil bereits weitergehende Demokratisierungstendenzen behauptet. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat seit 1988 eine ganze Serie von Resolutionen unter dem programmatischen Titel „Enhancing the Effectiveness of the principle of periodic and genuine elections“ erlassen.28 Sie gehen indes inhaltlich nicht über ___________ 25
GenC 25/57, § 10: „Party membership should not be a condition of eligibility to vote, nor a ground of disqualification“; § 17: „The right of persons to stand for election should not be limited unreasonably by requiring candidates to be members of parties or of specific parties […] Without prejudice to paragraph (1) of article 5 of the Covenant, political opinion may not be used as a ground to deprive any person of the right to stand for election“; siehe auch § 26. 26
Zitiert nach: M. Nowak (Fn. 19), Art. 25 Rn. 20 mit Fn. 52.
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Bereits jetzt weitergehend N. Petersen (Fn. 10), S. 19 f.: „there is consensus among legal scholars today that voters have to be given a meaningful choice in order to meet the requirements of the Covenant“. Ebenso M. Nowak (Fn. 19), Art. 25 Rn. 37: „Oneparty systems, although envisaged during the drafting of the Covenant as one of different models of democracy, seem to be permissible today only in very exceptional circumstances“. 28 Siehe zum Beispiel GA Res. 45/150, 18 December 1990, A/RES/45/150, Ziff. 2, „Enhancing the effectiveness of the principle of periodic and genuine elections and the promotion of democratization“; GA Res. 56/159, 19 December 2001, A/RES/56/159,
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die Gewährleistungen des Paktes hinaus, die lediglich in ihrer Bedeutung bekräftigt werden. Im Übrigen haben diese Resolutionen keine Verbindlichkeit und es gibt auch keine Indizien dafür, dass sie Ausdruck einer zu Gewohnheitsrecht erstarkten Rechtsüberzeugung der gesamten Staatengemeinschaft zur Herstellung von Demokratie nach westlichem Muster sein könnten. Vielmehr wird ausdrücklich das souveräne Recht der Staaten, ihr jeweiliges politisches System selbst zu bestimmen und fortzuentwickeln, betont. Allenfalls kann als konsentiert gelten, dass die Volkssouveränität die Legitimationsgrundlage der politischen Herrschaft bildet, alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wie auch immer sich dies ausdrücken mag. Wenn die Generalversammlung sich darüber hinaus in allgemein gehaltenen Formulierungen der „Förderung und Konsolidierung von Demokratie“ bzw. einem Demokratisierungsprozess verschreibt,29 dann liegt dem offensichtlich ein so weites, unspezifisches Verständnis von Demokratie zugrunde, dass es unter den Vertretern der so unterschiedlich verfassten Staaten in den Vereinten Nationen konsensfähig ist. Die Anerkennung von Neustaaten und neuen Regierungen wird nach wie vor nicht strikt und konsistent davon abhängig gemacht, dass sie demokratisch organisiert bzw. aus demokratischen Wahlen hervorgegangen sind. Bestrebungen, die in diese Richtung zielten, vermochten sich jedenfalls universell und dauerhaft nicht durchzusetzen.30 Die militärische Interventionspraxis kennt nur einen einzigen Fall, nämlich Haiti 1994, in dem es tatsächlich einmal – jedenfalls nach der damaligen Rechtsauffassung der USA – zu einem Eingreifen der Staatengemeinschaft zwecks Wiederherstellung von Demokratie kam. Dieser Fall31 eignet sich jedenfalls nicht als Präzedenzfall für die Anerkennung eines Rechts auf Demokratie, allenfalls eines Rechts auf Wiederherstellung einer gestörten, aber bereits vorher existent gewesenen, demokratischen Ordnung.32 ___________ „Strengthening the role of the United Nations in enhancing the effectiveness of the principle of periodic and genuine elections and the promotion of democratization“. Weitere Nachweise bei N. Petersen (Fn. 10), S. 23 mit Fn. 132. 29
GA Res. 55/96, 28 January 2001, A/RES/55/96; UN Millennium Declaration, GA Res. 55/2, 8 September 2000, A/RES/55/2. 30 Andere Deutung der jüngeren Staatenpraxis bei F. Ehm, Demokratie und die Anerkennung von Staaten und Regierungen, AVR 2011, S. 64 (83), demzufolge es „einen nicht zu übersehenden Trend dahingehend gibt, Regierungen nur dann anzuerkennen, wenn sie sich an die verfassungsrechtlichen Vorgaben halten und demokratisch legitimiert sind“, wobei in demokratischer Hinsicht nur die Einhaltung von Minimalstandards gefordert wird (S. 84). 31 Eingehende Analyse der einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen bei U. Fink, Kollektive Friedenssicherung, 1999, Teil 2, S. 799 - 852. 32 So auch N. Petersen (Fn. 10), S. 38 (39 f.). Zurückhaltende Beurteilung auch bei U. Fink, JZ 1998, S. 330 (337): Es sei aber zumindest „eine für den Inhalt des Selbstbestimmungsrechts bedeutsame Entwicklung in Gang gesetzt worden“.
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Auch die Demokratisierungstendenzen im Zuge des „Arabischen Frühlings“ haben keine grundsätzliche Änderung in der Haltung der Staaten bewirkt: Der Umgang der Staatengemeinschaft mit den Protesten ist zu uneinheitlich, als dass sich daraus auf eine allgemein geteilte opinio iuris, es gebe ein aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker folgendes „Recht auf Demokratie“, rückschließen ließe. Während westliche Mächte in Libyen 2011 gegen den autokratischen Herrscher Gaddafi intervenierten und einen regime change bewirkten, wurden die demokratischen Proteste der schiitischen Mehrheit gegen das sunnitische Königshaus in Bahrain im gleichen Jahr aufgrund eines Hilfeersuchens der bahrainischen Regierung mit Hilfe von Truppen des Golfkooperationsrates niedergeschlagen. Hier wurde also zugunsten des autokratischen Regimes interveniert, ohne dass dies auf erheblichen internationalen Widerspruch gestoßen wäre.33 2012 war sich die Staatengemeinschaft uneinig, wie auf die andauernde gewaltsame Unterdrückung der Opposition durch das Assad-Regime in Syrien reagiert werden sollte. Wenn die Macht diktatorischer oder autokratischer Regimes allerdings brüchig wird, verlieren sie unter Umständen rasch ihre Anerkennung als legitime Regierungen, weil ihre fehlende demokratische Legitimation, die das innere Selbstbestimmungsrecht des Staatsvolkes beeinträchtigt, aus der Sicht der Staatengemeinschaft dann auch nicht mehr länger durch die Effektivität ihrer Herrschaftsgewalt kompensiert wird.34
IV. Das Wahlrecht nach Art. 25 IPBPR – feststehende völkerrechtliche Regeln und einzelstaatliche Ausgestaltungsmöglichkeiten Wenn demnach auch noch nicht der Nachweis geführt werden kann, dass das universelle Völkerrecht tatsächlich eine Staatsordnung verlangt, die dem Demokratieprinzip des westlichen Typs des Verfassungsstaates entspricht,35 so gibt Art. 25 IPBPR doch allen Staatsbürgern der an diesen Pakt gebundenen ___________ 33
Es gab allerdings von westlicher Seite Aufrufe zur Mäßigung bzw. Beendigung der Gewaltanwendung gegen die Opposition; so durch den US-amerikanischen Präsidenten Obama am 17. Februar 2011, http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/bahrainObama-fordert-gewaltverzicht_aid_601074.html, und durch den deutschen Außenminister Westerwelle am 16. März 2011, http://www.dernewsticker.de/news.php?title =Au%DFen-minister+Westerwelle+fordert-+Ende-+der+Gewalt+in+Bahrain&id=20712 9&i=ifkfon. 34 So erkannte Frankreich im Libyen-Konflikt den sog. Nationalen Übergangsrat, das Vertretungsgremium der Aufständischen im Bürgerkrieg, bereits am 10. März 2011 offiziell als legitime Regierung Libyens an. Die anderen europäischen Staaten und die USA folgten wenige Wochen oder Monate später. Die Anerkennung erfolgte aber zumindest im Fall Frankreichs eindeutig verfrüht und war daher ein Interventionsverstoß. 35 So aber U. Fink (Fn. 32), S. 338.
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Staaten immerhin einen individuellen Anspruch auf „Teilnahme an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten“, entweder unmittelbar – im Rahmen von Volksbefragungen oder Volksentscheiden – oder durch frei gewählte Repräsentanten (lit. a.), und in diesem Zusammenhang auch das aktive und passive Wahlrecht (lit. b.). Art. 25 IPBPR verleiht ein subjektives völkerrechtliches Staatsbürgerrecht des status activus. Seine Verletzung kann, sofern der betreffende Vertragsstaat das (erste) Fakultativprotokoll zum IPBPR ratifiziert hat, im Rahmen einer Individualbeschwerde an den Menschenrechtsausschuss, jetzt: Menschenrechtsrat, gerügt werden. Die Beschränkung auf Staatsangehörige entspricht dem Charakter als politisches Recht im Sinne demokratischer Mitwirkungsfreiheit. Sie hindert die Vertragsstaaten allerdings selbstverständlich nicht, überobligationsmäßig auch Ausländern, etwa bei längerer Verweildauer im Aufenthaltsstaat, das Wahlrecht, etwa zu kommunalen Vertretungskörperschaften, einzuräumen. Soweit dabei Differenzierungen zwischen Ausländergruppen vorgenommen werden, dürfen diese nicht diskriminierender Natur sein (siehe Art. 2 IPBPR), also insbesondere nicht an Rasse, nationale Herkunft, Sprache oder Religion anknüpfen. Die Bestimmung des Kreises der Staatsangehörigen ist im Grundsatz innere Angelegenheit der Staaten, sofern nur ein hinreichender Anknüpfungspunkt („genuine link“) für die Verleihung der eigenen Staatsangehörigkeit besteht. Insbesondere entscheiden die Staaten grundsätzlich frei über die tatbestandlichen Voraussetzungen, unter denen sie Ausländer einbürgern. Allerdings ist fraglich, ob der Staat hinsichtlich des status activus zwischen Staatsangehörigen kraft Geburtserwerbs und solchen kraft Einbürgerung ohne Verletzung von Art. 25 IPBPR differenzieren darf.36 Die „echten und periodischen“, d.h. in regelmäßigen, nicht zu lang bemessenen Abständen zwecks Erneuerung der demokratischen Legitimation zu wiederholenden Wahlen sind vorbehaltlich von „reasonable restrictions“ nach den Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit, Allgemeinheit und Geheimheit durchzuführen. Ausgenommen ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit; damit sind indirekte Wahlen wie bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen paktkonform. Ausnahmen vom Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl können wohl nur bei Minderjährigen, Geisteskranken oder wegen bestimmter Straftaten rechtskräftig Verurteilten und deshalb ihrer bürgerlichen Rechte (vorüberge___________ 36 Siehe dazu GenC 25/57 (1996), § 3. In der besonderen Konstellation der Ausübung des äußeren Selbstbestimmungsrechts der Völker kann die Voraussetzung eines langjährigen Aufenthalts in dem Gebiet, über dessen künftigen politischen Status entschieden werden soll, legitim sein; vgl. Gillot et al. v. France, No. 932/2000, §§ 13, 16 und 14.7.
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hend) verlustig gegangenen Staatsangehörigen als vernünftig anerkannt werden. An das passive Wahlrecht können wegen der damit verbundenen besonderen Verantwortungsübernahme noch zusätzliche Qualifikationsanforderungen gestellt werden, sofern dadurch der Zugang zu politischen Ämtern nicht ungebührlich, d.h. weder willkürlich noch diskriminierend beschränkt wird. Auch gegen bestimmte Inkompatibilitätsregeln wie in Art. 137 Abs. 1 GG vorgesehen, dürften insoweit grundsätzlich keine Bedenken bestehen.37 Was die Gleichheit der Wahl angeht, so wird dieses Gebot von verschiedenen Wahlsystemen erfüllt, nicht nur im Verhältniswahlsystem, sondern auch im Mehrheitswahlsystem, auch wenn dieses nur den gleichen Zählwert jeder Stimme („one man one vote“), nicht aber auch Erfolgswertgleichheit zu verbürgen vermag. Das Gleichheitsprinzip gilt folglich nur nach Maßgabe des Wahlsystems, das den Staaten freigestellt bleibt, vorausgesetzt sie verfahren dabei willkür- und diskriminierungsfrei.38 Die Freiheit der Wahl wird nicht zuletzt durch deren Geheimheit garantiert. Darüber hinaus erfordert Wahlfreiheit nicht nur Freiheit von Zwang und Druck bei der Stimmabgabe, sondern auch, „dass die Wähler ihr Urteil in einem freien, offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können“.39 Hier greifen indes auch andere Paktgarantien wie die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Schutzinstrumente ein (Art. 19, 20, 22 IPBPR). Man wird sich im Ergebnis der Einschätzung von Manfred Nowak anschließen können: „Although the Committee, in its General Comment on Article 25, its practice in the State reporting procedure and its jurisprudence in individual cases, has developed a number of remarkable standards for the interpretation and application of political rights, it is, nevertheless, difficult to draw general conclusions as to the permissibility of restrictions on democratic participation. Many questions remain controversial, for example whether a one-party system as such violates adequate participation by citizens in the conduct of public affairs“.40
___________ 37 Siehe dazu Debreczeny v. the Netherlands, No. 500/1992, § 9.2 - 9.4; Ignatane v. Latvia, No. 884/1999, § 7.3 - 7.5. 38 GenC 25/57 (1996), § 21. 39 So BVerfGE 73, 40 (85); siehe auch M. Nowak (Fn. 19), Art. 25 Rn. 36 m.w.N.; GenC 25/57 (1996), § 19. 40 M. Nowak (Fn. 19), Art. 25 Rn. 49.
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V. Regionale Garantien von Demokratie und Wahlfreiheit – Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK Reichen die Garantien politischer Teilhabe der Bürger im homogeneren regionalen Kontext beispielsweise Europas weiter? Darüber kann eine Analyse des Bedeutungsgehalts von Art. 3 Abs. 1 1. ZP zur EMRK Aufschluss geben. Danach verpflichten sich die Hohen Vertragsparteien, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten. Obwohl sich alle Mitgliedstaaten des Europarates nach dessen Satzung zu den Grundwerten der persönlichen und politischen Freiheit bekennen, „auf denen jede wahre Demokratie beruht“, und auch die Einleitung zur EMRK die Selbstverpflichtung auf „eine wahrhaft demokratische politische Ordnung“ als bester Sicherung der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthält, hat sich auch insoweit nicht mehr als ein eher bescheidener Mindeststandard der Garantie politischer Freiheit entwickeln können, der gleichwohl höher liegt und substanzieller ist als der auf universeller Ebene bestehende, weil jedenfalls bis 1989/90 nur dem westlichen Demokratieverständnis (uneingeschränkt) verpflichtete Staaten dem Europarat angehörten und sich der EMRK und den Zusatzprotokollen unterwarfen. Aus der ursprünglich geplanten umfassenden Gewährleistung demokratischer Rechte und Einrichtungen wurde im Verlaufe der Entstehungsgeschichte eine bloße Garantie freier und geheimer Wahlen zu den gesetzgebenden Organen.41 Die Verbürgung des aktiven wie passiven Wahlrechts bei den Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften stellt immerhin eine Kerngarantie eines jeden demokratischen politischen Systems dar. Obwohl die EMRK und ihre Zusatzprotokolle Demokratie als solche nicht ausdrücklich verbürgen, setzen sie, wie die Präambel und die Schrankenregelungen der Absätze 2 der Artikel 8 bis 11 EMRK zeigen, deren Bestehen doch voraus; dementsprechend sieht der EGMR zu Recht die Demokratie als Basis des konventionsrechtlichen ordre public européen an.42 Obwohl als Staatenverpflichtung formuliert, handelt es sich – mittlerweile unbestritten – beim Wahlrecht ebenso wie bei den persönlichen Freiheitsgaran___________ 41 Zur Entstehungsgeschichte der „politischen Klausel“ siehe näher M. Jestaedt, in: C. Hillgruber/ders., Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz nationaler Minderheiten, 1993, S. 56 ff. 42 EGMR vom 30. Januar 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei u.a. ./. TUR, Nr. 19392/92, Z. 45; EGMR (GK) vom 16. März 2006, Zdanoka ./. LAT, Nr. 58278/00, Z. 98.
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tien der Konvention um ein subjektives, individuelles Recht, das im Wege der Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK) einklagbar ist.43 Anders als Art. 25 IPBPR beschränkt Art. 3 des 1. ZP zur EMRK den persönlichen Schutzbereich nicht expressis verbis auf die Staatsangehörigen des jeweiligen Konventionsstaates. Zwar ist diese Beschränkung in den Konventionsstaaten traditionell üblich und entstehungsgeschichtlich deshalb wohl auch vorausgesetzt worden. Allerdings ist umstritten, ob der Begriff des Volkes in Art. 3 des 1. ZP tatsächlich von vornherein nur die Gesamtheit der Staatsangehörigen erfasst44 und damit schon tatbestandlich nur ein Staatsbürgerrecht gegeben ist oder ob es sich um eine grundsätzlich legitime Einschränkung des Wahlrechts handelt. Jedenfalls Letzteres wird allgemein angenommen.45 Das Wahlrecht, das Art. 3 des 1. ZP garantiert, bezieht sich ausschließlich auf Gesetzgebungsorgane, deren Existenz vorausgesetzt wird und deren ersatzlose Beseitigung eine Konventionsverletzung darstellen würde.46 Unter den Begriff der gesetzgebenden Körperschaft (corps législatif; legislature) fallen staatliche Organe, denen in nennenswertem Umfang Legislativkompetenzen zur eigenen Wahrnehmung grundsätzlich unentziehbar zugewiesen sind. „Die Gesetzgebungsrechte müssen über Beratungsbefugnisse und Vorschlagsrechte hinausreichen, und sie dürfen nicht nur derivative Rechtssetzungsbefugnisse sein.“47 Diese Voraussetzungen erfüllen stets die nationalen Parlamente, in Bundesstaaten auch die gliedstaatlichen Legislativorgane, unter Umständen auch die mit substantiellen Gesetzgebungsrechten ausgestatteten Regionalparlamente autonomer Provinzen oder Kantone, nicht dagegen bloße Kommunalparlamente.48 In Zweikammersystemen muss die Erste Kammer nicht notwendig aus Wahlen hervorgehen; dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte, in ___________ 43 EGMR vom 2. März 1987, Mathieu-Mohin u. Clerfayt ./. BEL, Nr. 9267/81, Z. 50 f.; EGMR vom 11. Juni 2002, Selim Sadak u.a. ./. TUR, Nr. 25144/94, Z. 31; C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 23 IV 1, S. 370 f. Rn. 100; M. Jestaedt (Fn. 41), S. 65 f. 44 C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 43), § 23 IV 1, S. 371 f. Rn. 103; a. A. F. Arndt, in: U. Karpenstein/F.C. Mayer (Hrsg.), EMRK, Kommentar, 2012, Art. 3 ZP I Rn. 7; D. Richter, in: R. Grote/T. Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, Kap. 25 Rn. 15. 45 Siehe dazu EGMR vom 2. März 1987, Mathieu-Mohin u. Clerfayt ./. BEL, Nr. 9267/81, Z. 54, sowie mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung der Kommission L. Wildhaber, IntKommEMRK, Art. 1 des 1. ZP (1986), Rn. 25, 28 f. Erachtet man den Volksbegriff als „offen“, können die Konventionsstaaten den Kreis der Wahlberechtigten auch über die eigenen Staatsangehörigen hinaus ausweiten. Dazu verpflichtet sind sie jedoch keinesfalls. 46 J. Frowein/W. Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 3 des 1. ZP Rn. 2. 47 M. Jestaedt (Fn. 41), S. 61. 48 M. Jestaedt (Fn. 41), S. 62 ff.; C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 43), § 23 IV 1, S. 373 Rn. 106, jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane.
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der das Vereinigte Königreich mit Blick auf das House of Lords entsprechende Vorbehalte anmeldete.49 An der Kreation und demokratischen Legitimation anderer Staatsorgane wie des Staatspräsidenten oder der Regierung muss das Volk von Konventions wegen nicht unmittelbar durch Wahlen beteiligt sein. Da die Vorschrift des Art. 3 des 1. ZP „die Konstituierung eines repräsentativ-demokratischen Organs zum Gegenstand hat“50, werden (Gesetzgebungs-)Referenden als Form direkter Demokratie nicht erfasst. „Weder stellt die Norm sie unter ihren Schutz, noch verbietet sie sie.“51 Art. 3 des 1. ZP gewährleistet das aktive und passive Wahlrecht. Zu deren Gewährleistung sind die Staaten zur Organisation und Durchführung demokratischer Wahlen positiv verpflichtet. Das aktive und passive Wahlrecht sind konventionsrechtlich nicht absolut oder unbegrenzt garantiert. Der EGMR sieht die Konventionsstaaten implizit dazu ermächtigt, das Wahlrecht Bedingungen und Einschränkungen zu unterwerfen, und billigt ihnen dabei einen weiten Ausgestaltungsspielraum zu.52 Insbesondere erkennt der Gerichtshof in den Verfassungsordnungen der Vertragsstaaten hergebrachte Einschränkungen (wie etwa die Voraussetzungen der Staatsangehörigkeit oder eines bestimmten Mindestalters) als in der Gewährleistung mitgedacht und daher als grundsätzlich legitim an.53 Die Einschränkbarkeit des Wahlrechts findet ihrerseits ihre Grenzen in den Erfordernissen der Freiheit von Willkür und Diskriminierung,54 der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (mit der häufigen Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung) sowie der Nichtbeeinträchtigung der freien Äußerung der Meinung des Volkes.55 Von den anerkannten demokratischen Wahlgrundsätzen benennt die Vorschrift explizit nur die Freiheit und Geheimheit sowie die Periodizität der Wah___________ 49
Siehe nur M. Jestaedt (Fn. 41), S. 58, 62 f. F. Arndt (Fn. 44), Art. 3 ZP I Rn. 6; D. Richter (Fn. 44), Kap. 25 Rn. 38. 51 M. Jestaedt (Fn. 41), S. 60. Im Ergebnis ebenso C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 43), § 23 IV 1, S. 374 Rn. 107; EGMR vom 7. September 1999, Hilbe ./. LIE, Nr. 31981/96; EGMR (GK) vom 6. Januar 2011, Paksas ./. LTU, Nr. 34932/04, Z. 72. Diese Rechtsprechung fußt allerdings auf einer Entscheidung der Kommission, die ein nichtbindendes und daher nicht gesetzesgleiches Referendum zum Beschwerdegegenstand hatte; EKMR vom 3. Oktober 1975, X ./. UK, Nr. 7096/75. 52 C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 43), § 23 IV 1, S. 377 Rn. 114. 53 Siehe dazu EGMR vom 2. März 1987, Mathieu-Mohin u. Clerfayt ./. BEL, Nr. 9267/81, Z. 54. 54 In der Vorenthaltung des passiven Wahlrechts für Roma und Juden zur „Kammer der Völker“ in Bosnien-Herzegowina hat der EGMR eine unzulässige Diskriminierung erblickt, EGMR (GK) vom 22. Dezember 2009, Sejdic u. Finci ./. BOS, Nr. 27996, 34836/06, NJOZ 2011, S. 428. 55 M. Jestaedt (Fn. 41), S. 66 f., 69; C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 43), 423 IV 1, S. 377 Rn. 115 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung in Fn. 577 und 580. 50
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len, die dem demokratischen Prinzip der Herrschaft auf Zeit Rechnung trägt und eine Erneuerung demokratischer Legitimation in angemessenen Zeitabständen (die maximal zulässige Länge einer Legislaturperiode dürfte wohl bei sechs Jahren liegen)56 erfordert. Auch die Gleichheit der Wahl, obwohl nicht erwähnt, wird als implizit garantiert angesehen. Dies folgt, ohne dass es insoweit eines Rückgriffs auf die Gleichheitsgarantie des Art. 14 EMRK bedürfte, aus der Ausrichtung der Gewährleistung auf das Ziel der Artikulation der freien Meinung des Volkes und dessen Repräsentation durch das Wahlorgan; sie erfordert nämlich eine Gleichbehandlung aller Bürger bei der Ausübung des Wahlrechts.57 „Aus dieser grundsätzlichen Gleichheit leitet der Gerichtshof allerdings weder die Erfolgswertgleichheit aller Stimmen noch die Erfolgschancengleichheit aller Kandidaten ab. Er akzeptiert, dass es in jedem Wahlsystem Stimmen gibt, die auf das Wahlergebnis keinen Einfluss haben.“58 Art. 3 des 1. ZP schreibt kein bestimmtes Wahlsystem – etwa das Verhältniswahlsystem – zwingend vor. Auch das reine Mehrheitswahlsystem ist konventionskonform; davon ist man mit Blick auf das Vereinigte Königreich von Anfang an ausgegangen.59 Im Verhältniswahlsystem dürfen Sperrklauseln bestehen, allerdings nur in verhältnismäßiger Höhe; dies ist für eine 5%-Sperrklausel bejaht60, für eine 10%-Sperrklausel verneint worden.61 Eine wahlrechtliche Bevorzugung nationaler Minderheiten ist zulässig, aber nicht geboten. Auch die Allgemeinheit der Wahl gilt als mit gewährleistet,62 mit der Folge, dass der Ausschluss bestimmter Gruppen vom Wahlrecht rechtfertigungsbedürftig ist. Mit der mittlerweile erfolgten Einbeziehung des Europäischen Parlaments in den Kreis der gesetzgebenden Körperschaften, deren Wahl als Individualrecht durch Art. 3 des 1. ZP garantiert ist, trägt der EGMR nicht nur in dynamischer Interpretation der Garantie („living instrument“) der seit dem Vertrag von Maastricht mitentscheidenden Rolle des Parlaments in der europäischen Gesetzgebung Rechnung,63 sondern berücksichtigt auch die zunehmende Verlage___________ 56
Siehe C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 43), § 23 IV 1, S. 374 Rn. 109. EGMR vom 2. März 1987, Mathieu-Mohin u. Clerfayt ./. BEL, Nr. 9267/81, Z. 54. 58 C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 43), § 23 IV 1, S. 374 f. Rn. 110. 59 Siehe auch EKMR vom 6. Oktober 1976, X ./. UK, Nr. 7140/75, DR 7, S. 95 (97). 60 EKMR vom 9. Dezember 1987, Tete ./. Frankreich, Nr. 11123/84, DR 54, S. 52 (60); EKMR vom 10. März 1988, Fournier ./. Frankreich, DR 55, S. 130 (135). 61 EGMR (GK) vom 8. Juli 2008, Yournak und Sadak ./. TUR, Nr. 10226/03, NVwZRR 2010, S. 81, Z. 147. 62 EGMR vom 7. September 1999, Hilbe ./. LIE, Nr. 31981/96, Z. 59. 63 Ob das EP allerdings wirklich die „vorrangige“ Form der demokratischen und politischen Verantwortlichkeit in der EU darstellt (so EGMR [GK] vom 18. Februar 1999, Matthews ./. UK, Nr. 24833/94, EuGRZ 1999, S. 200, Z. 52), kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. 57
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rung gesetzgeberischer Zuständigkeiten von der nationalen auf die inter- und supranationale Ebene im Schutzsystem der EMRK, um so „der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen durch die Verschränkung der Rechtsebenen zu begegnen“.64 Die Konventionsstaaten können sich ihrer konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit nicht durch Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen entziehen. Sie müssen daher grundsätzlich – vorbehaltlich eines konventionsrechtlich ausreichenden Rechtsschutzes auf der supranationalen Ebene65 – weiterhin selbst für die Wahrung der konventionsrechtlichen Vorgaben einstehen.66 Die einzelnen Konventionsstaaten haben insoweit nicht nur für die Konventionskonformität ihrer eigenen nationalen Europawahlgesetze Sorge zu tragen; sie sind auch, je für sich und nicht etwa nur „gesamtschuldnerisch“ für die Vereinbarkeit der europarechtlichen Vorgaben (Art. 14 Abs. 2 S. 3 u. 4, Abs. 3 EUV; Art. 39 Abs. 1 u. 2 EU-Grundrechtecharta ) bei den Wahlen zum Europäischen Parlament mit den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 3 des 1. ZP zur EMRK verantwortlich. Fraglich wird dabei insbesondere die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Gleichheit sein, der wohlweislich in der Aufzählung der europarechtlichen Wahlrechtsgrundsätze (Art. 14 Abs. 3 EUV) nicht auftaucht. Angesichts des vom EGMR den Konventionsmitgliedern eingeräumten weiten Einschätzungsund Ausgestaltungsspielraums dürfte die mitgliedstaatliche Kontingentierung der Sitze, d.h. die degressiv proportionale Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (Art. 14 Abs. 2 S. 3 u. 4 EUV) und das sich daraus ergebende Stimmenungleichgewicht der Unionsbürger je nach Staatsangehörigkeit bzw. Wohnsitz jedoch durch die Struktur der EU als föderales Gebilde und Staatenverbund konventionsrechtlich hinreichend gerechtfertigt angesehen werden.67 Ein Übergang der konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit auf die EU selbst und eine Freizeichnung der Konventionsstaaten dürfte erst dann eintre___________ 64
C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 43), § 23 IV 1, S. 373 Rn. 106. Einen solchen verneinte der EGMR wegen der Unangreifbarkeit des der nationalen Europawahlgesetzgebung zugrundeliegenden Direktwahlakts vor dem EuGH. 66 D. Richter (Fn. 44), Kap. 25 Rn. 42. 67 F. Arndt (Fn. 44), Art. 3 ZP I Rn. 40. Aus grundgesetzlicher Perspektive kritisch dagegen BVerfGE 123, 267 (370 ff., 373 ff.) – Lissabon: „Die Europäische Union erreicht beim gegenwärtigen Integrationsstand auch bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch keine Ausgestaltung, die dem Legitimationsniveau einer staatlich verfassten Demokratie entspricht“ (S. 370). Das Europäische Parlament repräsentiert zwar entgegen Art. 14 Abs. 2 S. 1 EUV nicht die (Gesamtheit der) untereinander gleichberechtigten (Art. 9 EUV) Unionsbürger, aber eben auch nicht (je für sich) die jeweiligen Bürger der einzelnen Mitgliedstaaten, denn auch im jeweiligen Mitgliedstaat wohnhafte Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten sind wahlberechtigt; dies stellt die Rechtfertigungsfähigkeit des national unterschiedlichen Wahlrechts zum einheitlichen Europarlament letztlich doch wieder in Frage. 65
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ten, wenn, was sich allerdings konkret abzeichnet und bald realisieren wird, die EU selbst an die Konvention und die materiellen Zusatzprotokolle gebunden sein wird. Das Problem der Auszehrung der nationalen Demokratien durch den europäischen Integrationsprozess vermag die Erstreckung der Geltung des Art. 3 des 1. ZP auf das Europäische Parlament allerdings nicht zu lösen. Dies liegt nicht nur am unterschiedlichen Legitimationsniveau, sondern auch in dem Umstand begründet, dass es um unterschiedliche Legitimationssubjekte geht. Das Recht demokratischer Mitwirkung der Unionsbürger auf der Unionsebene68 ist etwas anderes als nationale demokratische Selbstbestimmung der Staatsangehörigen; demokratische Teilhaberechte auf der nationalen und europäischen Ebene sind daher nicht beliebig austausch- und verrechenbar. Auch mit einer weiteren Ausdehnung der Gesetzgebungsbefugnisse des Europaparlaments ist es daher aus der Perspektive der nationalen Demokratien nicht getan. Damit es nicht zu einer Sinnentleerung des Wahlrechts nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG kommt, erkennt das Bundesverfassungsgericht ein subjektives Recht auf nationale Demokratie an und fordert zu Recht, dass hinreichende Aufgabenfelder für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit des nationalen Verfassungsstaates verbleiben,69 ohne dies allerdings bisher durch eine effektive Begrenzung der Kompetenzübertragungen hinreichend sicherstellen zu können. Wer ständig nach „mehr Europa“ zur vermeintlichen Lösung anstehender politischer Probleme ruft, verkennt den Eigenwert demokratischer Selbstbestimmung eines Volkes.
VI. Fazit Das universelle und das regional-europäische Völkerrecht garantieren das Wahlrecht als Recht des status activus. Jedenfalls im europäischen und amerikanischen70 Kontext ist damit eine Grundvoraussetzung einer funktionierenden Demokratie im westlichen Sinne gewährleistet.71 Die Wahlberechtigung ist da___________ 68 Vgl. dazu BVerfGE 123, 267 (370) – Lissabon: „Mit der Wahl des deutschen Kontingents von Abgeordneten des Europäischen Parlaments ist für das Wahlrecht der Bundesbürger eine ergänzende Mitwirkungsmöglichkeit im europäischen Organsystem eröffnet, die im System der übertragenen Einzelermächtigungen ein ausreichendes Legitimationsniveau vermittelt“. 69 BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht; E 123, 267 (357 f.) – Lissabon. 70 Siehe insoweit nur die von der Generalversammlung der OAS angenommene „Inter-American Democratic Charter“ vom 11. September 2001, insbesondere Art. 3, abrufbar unter: http://www.oas.org/OASpage/eng/Documents/Democractic_Charter.htm. 71 Vgl. auch die KSZE/OSZE-Charta von Paris für ein Neues Europa 1990 („Ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“): „Demokratische Regierung gründet sich auf den Volkswillen, der seinen Ausdruck in regelmäßigen, freien und gerechten Wahlen findet. [...] Die Demokratie, ihrem Wesen nach repräsentativ und pluralistisch, erfordert Verantwortlichkeit gegenüber der Wählerschaft [...]“.
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bei entweder von vornherein auf Staatsangehörige beschränkt (Art. 25 IPBPR) oder auf solche jedenfalls völkerrechtskonform beschränkbar. Für die politische Freiheit bleibt daher die Staatsangehörigkeit wenn nicht maßgeblicher Anknüpfungspunkt, so doch jedenfalls legitimes Differenzierungsmerkmal. Dies hindert Staaten allerdings nicht daran, den Kreis der Wahlberechtigten über die Staatsangehörigen hinaus auszudehnen und Ausländer insbesondere bei längerem Aufenthalt auf ihrem Territorium einzubeziehen. In der Rechtsprechung des EGMR ist das Problem der Entdemokratisierung durch Internationalisierung und Supranationalisierung vormals nationalstaatlicher Regelungszuständigkeiten ansatzweise in der Matthews-Entscheidung reflektiert und mit der Einbeziehung des Europäischen Parlaments in den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 3 des 1. ZP zur EMRK bewältigt worden. Die fortbestehende konventionsrechtliche Verantwortlichkeit der an die EMRK gebundenen Nationalstaaten vermag allerdings die Auszehrung nationalstaatlicher Demokratie weder aufzuhalten noch zu kompensieren. Der völkerrechtliche Befund ist daher eher karg. Soweit hinsichtlich der Auswirkungen von internationaler Migration und Freizügigkeit sowie der Kompetenzverschiebung hin zu überstaatlichen Einrichtungen und Organen auf die politische Freiheit überhaupt bereits ein internationales normatives Problembewusstsein besteht, ist man von Lösungen noch weit entfernt. Immerhin steht das Völkerrecht solchen Lösungen auch nicht im Weg. Das ist – angesichts manch fragwürdiger völkerrechtlicher Vorgaben der jüngeren Zeit – vielleicht gar nicht so wenig und gar nicht so schlecht. * * *
Abstract Christian Hillgruber: Democracy and State Sovereignty: The Right to Vote in International Public Law (Demokratie und Staatensouveränität: Das Wahlrecht im Völkerrecht), in: National Right to Vote and International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 19-36. Universal and regional European international law guarantee the right to vote by status activus. Certainly in the European and American contexts this would provide a foundation for a functioning democracy in the Western sense of the word. The right to vote is from the outset either limited to citizens of the state in question (Article 25, ICCPR) or it can at any rate be limited to that population in compliance with international law. For political freedom one’s nationality remains therefore if not the authoritative link at least a legitimate
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differentiator. This, however, does not prevent states from extending the circle of voters beyond its citizens to include foreigners, particularly those foreigners who remain in their territory for an extended period of time. In the ECHR ruling, the problem of de-democratization by internationalization and supranationalization of formerly national regulatory responsibilities is reflected to some extent in the Matthews verdict and resolved with the involvement of the European Parliament in the substantive scope of Article 3 of the first amended protocol of the ECHR. The ongoing legal responsibility of the national states bound to the ECHR, however, can neither stop nor countervail the depletion of national democracy. Therefore there is not much to work with in terms of international law findings and observations. Where an awareness of an international normative problem regarding the impact of international migration and mobility as well as the authority shift to supranational institutions and organs on political freedom even exists, one is still a far cry from any solutions. International law is, however, not standing in the way of such solutions. That is – in light of some dubious international legal provisions of recent times – perhaps not so little and not so bad.
Demokratie und Staatsvolk: Die Bindung des Wahlrechts an die Staatsangehörigkeit Von Otto Depenheuer
I. Demokratiedämmerung? Die Demokratie des Grundgesetzes versteht sich als „wehrhafte“.1 Nie wieder sollen die Feinde der Demokratie diese freiheitlichste je auf deutschem Boden realisierte Staatsform missbrauchen dürfen. Zahlreich die Vorkehrungen, das Trauma der Deutschen von 1933 – die „legale Machtergreifung“ – vorbeugend zu verhindern. Doch wie so oft in der Geschichte: Die Gefahr kommt nicht von dem Feind, den man vermutet und gegen den man sich gewappnet hat. Gefahr erwächst der grundgesetzlichen Demokratie still, allmählich, fast unmerklich, strukturell und ziemlich unpolitisch: unaufhörliche Komplexitätssteigerungen der Entscheidungslagen, entsprechend zunehmende Ausbildung technokratischer Subsysteme, potenziert durch überstaatliche Problembewältigungsherausforderungen und internationale Normgenerierung. Parlamentarisch zu bewältigende Entscheidungslagen werden parallel dazu immer komplexer und diffuser. Regelmäßig verbunden mit extremem zeitlichem Entscheidungsdruck führen diese Rahmenbedingungen im Ergebnis zu einer weitgehend faktischen Entmachtung der nationalen Parlamente.2 Exemplarisch war dieser Prozess der Entmachtung des demokratischen Apparates in Deutschland bei den diversen Maßnahmen zur Euro-Rettung (2011/12) zu beobachten, als eine Gesetzgebung im Wochentakt an die Grenze einer Selbstpersiflage des parlamentarischen Systems und seiner Idee – Diskussion über Inhalte, über die man sich vorher informieren konnte – geriet. Die griechische Demokratie ist auf geraume Zeit Befehlsempfänger der Euro-Troika, das demokratische System in Italien hat sich selbst auf Zeit ganz verabschiedet und einem Technokraten die Macht anvertraut, und die deutschen Parlamentarier versuchen sich – vergeb___________ 1 Vgl. M. Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003; J. Becker, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: HStR VII, 1992, § 167; O. Depenheuer, Wehrhafte Republik, in: R. Gröschner/ O. W. Lembcke (Hrsg.), Freistaatlichkeit. Prinzipien eines europäischen Republikanismus, 2011, S. 211 ff. 2 Ausführliche Analyse: Q. Weber, Parlament – Ort der politischen Entscheidung?, 2011.
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lich – hinter Kleinstausschüssen zu verstecken und müssen vom Bundesverfassungsgericht wiederholt zur Wahrnehmung ihrer parlamentarischen Frage-, Kontroll- und Mitbestimmungsrechte im Bundestag ermahnt werden, wo sie alles, was ihnen in diesen Euro-Krisenzeiten von der Regierung vorgelegt wird, parteiübergreifend abnicken. Aber nicht nur das Substrat des demokratischen Entscheidungsprozesses verschwimmt, zeitgleich wird auch das Subjekt der Demokratie undeutlicher. Zwar liegt die Antwort im Begriff der Demokratie selbst: Herrschaft des Demos, des Volkes. Doch was das Volk ist, ist auch nicht mehr so klar wie es einmal war: im Zeitalter von Internationalisierung und Globalisierung, von supranationaler Integration und immer größeren weltweiten Migrationsströmen verliert der demokratisch verfasste Nationalstaat seinen Quellgrund, auf dem die demokratische Organisation politischer Macht beruht: den Demos, d.h. das Volk.3 Der Bundestag hat den Wandel baulich bereits vorweggenommen: er sieht sich nicht mehr nur, wie an der historischen Stirnfront des Reichstagsgebäudes bekundet, „dem Deutschen Volke“ verpflichtet, sondern – etwas versteckt im Innenhof – auch „der Bevölkerung“.4
II. Die Geburt der Demokratie aus dem Geiste des Nationalstaates Die neuzeitliche Demokratie entstand im Schoße des modernen Nationalstaates.5 Dieser trat in Deutschland ab 1806 nach und nach an die Stelle der mittelalterlichen, personal legitimierten und lehensrechtlich strukturierten Herrschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Demokratie im Sinne der Teilhabe aller Bürger an den politischen Entscheidungen setzt die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts voraus, in denen die Fürsten nach und nach entmachtet worden waren und eine neue politische Legitimationsgrundlage gesucht werden musste. An die Stelle des Personenverbandsstaates trat der moderne Territorialstaat: Objekt staatlicher Souveränität war das Territorium, die Wahrnehmung der souveränen Staatsgewalt oblag – mit historischen Brüchen und im Falle Deutschlands etwas „verspätet“ – dem je gegebenen, in der Regel historisch gewachsenen, sich als vorrechtliche Einheit verstehenden und darin seinen politischen Sinn findenden Volk. Das Erwachen der Nationen um 1800 ___________ 3
J. Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos. Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung, in: D. Schwab u. a. (Hrsg.), FS für P. Mikat, 1989, S. 705. 4 Dokumentation der öffentlichen Debatte bei M. Diers/K. König (Hrsg.), Der Bevölkerung, 2000. 5 Vgl. zum Nachfolgenden E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 34 (39 ff.); O. Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat [1991], 2009, S. 287 ff.
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war eine Form kollektiver Selbstbewusstwerdung relativ homogener, in der Regel durch gemeinsame Sprache und Geschichte verbundener Völker, die dadurch ihre verlorene, im Königtum verkörperte und „von Gottes Gnaden“ legitimierte Einheit kompensierten: Das Volk selbst wird zum Souverän. Das Volk betritt als Subjekt des politischen Handelns die politische Bühne und entwickelt im Schoße des Nationalstaates allmählich die ihm gemäße Form politischer Herrschaft: Demokratie. Damit brach zwar nicht der „ewige Friede“ an. Gleichwohl bildet der Nationalstaat seither die Form politischer Einheitsbildung: Er verbindet territorial definierte Staatssouveränität mit personal konstituierter Herrschaftslegitimation, d.h. Demokratie. Demokratiegeschichtlich gilt Deutschland bekanntlich als verspätete Nation. Und die verspätete Nation war es denn auch, die nach einer unerträglichen Übersteigerung und Pervertierung der Nationalstaatsidee im Nationalsozialismus die erste war, die wie keine andere Nation in der Welt es sich zur Aufgabe macht, seine nationalstaatlich gegebene Identität zu überwinden und in Europa aufzugehen: Die Deutschen wollen seither kein Volk mehr sein, sondern nur noch Menschen. Die Menschenrechtsidee avancierte zur Raison d’être der alten Bundesrepublik. Und so stolpert Deutschland von einem Sonderweg in den gegenteiligen: vom übersteigerten Nationalismus in den menschenrechtlichen Universalismus.6 Deutschlands Nachbarn in Europa können sich einmal mehr verwundert die Augen reiben: was für ein eigenartiges Volk, das kein Volk sein will. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Diskussionen um Staatsbürgerschaft und Wahlrecht nebst ihrer menschenrechtlichen Aufladung genuin deutsche Themen sind. Und während man sich in Deutschland derzeit anschickt, das allgemeinste und gleichheitsrechtlich optimale Wahlrecht zu ersinnen,7 fällt kaum auf, dass gleichzeitig die Basis demokratischer Selbstbestimmung erodiert und das Gewicht demokratischer Selbstbestimmung im postnationalen Zeitalter zusehends abnimmt und fragwürdig wird.
III. Demokratie im postnationalen Zeitalter Dieser Befund ist für breite Teile der Bevölkerung erstmals im Kontext der Euro-Krise ins Bewusstsein gelangt: Zentrale politische Fragen unterliegen nicht mehr der souveränen Selbstbestimmung des Volkes. Erstmals taucht für ___________ 6 Zum ideengeschichtlichen Hintergrund näher: O. Depenheuer, „Nicht alle Menschen werden Brüder“. Unterscheidung als praktische Bedingung von Solidarität. Eine rechtsphilosophische Erwägung in praktischer Absicht, in: J. Isensee (Hrsg.), Solidarität und Knappheit. Zum Problem der Priorität, 1998, S. 41 ff. 7 BVerfG vom 25. Juli 2012, NVwZ 2012, S. 1101; BVerfG vom 4. Juli 2012, NVwZ 2012, S. 1167; BVerfG vom 31. Januar 2012, NVwZ 2012, S. 622; BVerfGE 121, 266 ff.
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die gegenwärtige Generation ein schon fast vergessener Begriff der politischen Realgeschichte wieder real auf: Fremdherrschaft, d.h. das Gegenteil von Demokratie. Hintergrund dieser sanften Entdemokratisierung der nationalen Gemeinwesen durch Internationalisierung bildet die einzigartige Entwicklung Europas hin zu einer „immer engeren“ Union: Aus den EWG-Gemeinschaften erwuchs über die Europäische Gemeinschaft schließlich die Europäische Union. Am Horizont sehen manche gar schon die Vereinigten Staaten von Europa, deren institutionelle Basis in nuce bereits besteht: Parlament, Regierung (Kommission), Verfassungsgericht (EuGH) und gemeinsame Währung. Und die Euro-Krise soll nach dem erklärten Ziel der politischen Akteure in Deutschland nicht etwa zu kritischer Bestandsaufnahme oder gar Korrektur der Entwicklung führen, sondern im Gegenteil die weitere politische Integration hin zu einer politischen Union vorantreiben. Aus nationalstaatlicher Perspektive bedeuten die diversen Souveränitätsverluste der Nationalstaaten einen schleichenden Entdemokratisierungsprozess, der am deutlichsten sichtbar in den zahlreichen Maßnahmen der Euro-Rettung und dem Agieren der EZB „am Rande ihrer Kompetenzen“ zum Ausdruck kam. Der Bundestag vermag hier kaum mehr substantielle Entscheidungen zu treffen oder auch nur zu beeinflussen. Mangels realpolitischer Alternativen steht seine Zustimmung zu den Regierungsvereinbarungen schon fest, noch bevor diese in Brüssel getroffen werden.8 Der Verlust an demokratischer Legitimation wird auf nationaler Ebene auch nicht kompensiert durch das Europäische Parlament, das zwar so heißt, aber keines ist: Die Europäische Union verfügt mangels europäischer Öffentlichkeit und europäischem Volk über keine demokratische Vertretungskörperschaft.9 Parallel zum Entdemokratisierungsprozess im Zuge der europäischen Integration hat sich Deutschland zu einem Einwanderungsland entwickelt. Ausgehend von früher ungeahnten Reisemöglichkeiten über diverse Wellen des Zuzugs von Gastarbeitern bis hin zu weltweiten Wanderungsbewegungen in erheblichem Umfang verfügen in Deutschland gegenwärtig 20 % der Gesamtbevölkerung über einen Migrationshintergrund. In manchen Stadtteilen und Schulen liegt der Ausländeranteil bei über 50 %. Zwei Drittel der ausländischen Bevölkerung leben seit über 10 Jahren in Deutschland, nahezu 40 % seit über 20 Jahren und ein Viertel seit über 30 Jahren.10 Dieser Befund bezeichnet ein demokratietheoretisches Problem. Wenn Demokratie Herrschaft des Volkes ist, dann kann es nicht folgenlos bleiben, wenn das Volk als prinzipiell feste ___________ 8
Vgl. zum Problem jüngst: W. Kahl, Bewältigung der Staatsschuldenkrise unter Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts, DVBl 2013, S. 197 (insbes. 206 f.). 9 BVerfGE 123, 267 (370 ff.). 10 Einzelheiten: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Migrationsbericht 2010, S. 179 f.
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Größe fragwürdig wird, seine Substanz sich ändert und eine zahlenmäßig erhebliche Diskrepanz zwischen dem deutschen Volk und der innerhalb des Bundesgebietes ansässigen Bevölkerung festzustellen ist. Was wird aus der „Herrschaft des Volkes“, wenn das Substrat des Volkes „undeutlich“ wird? Nun haben Juristen eine symphatische Scheu, sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen zu müssen; ihr Hoheitsgebiet ist das Reich des Sollens, das sich in Normen zeigt. Deshalb können sie die Frage, was das Volk soziologisch ist, dadurch umgehen, dass sie rechtlich definieren, was das Volk ist. Ergebnis: „Deutscher im Sinne dieses Gesetzes ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt“ (§ 1 StAG).
IV. Funktion und Bedeutung der Staatsangehörigkeit Die rechtlich definierte Staatsangehörigkeit bezeichnet die formalisierte Basis des Bürgerstatus und bedeutet politische Vollmitgliedschaft im Gemeinwesen.11 Sie bildet die Grundlage gleicher politischer Teilhabe aller Bürger bei der politischen Willensbildung und der dadurch demokratisch legitimierten Kreation der Staatsorgane durch Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 GG). Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Die Staatsangehörigkeit ist die rechtliche Voraussetzung für den gleichen staatsbürgerlichen Status, der einerseits gleiche Pflichten, zum anderen und vor allem aber auch die Rechte begründet, durch deren Gewährleistung die Staatsgewalt in der Demokratie legitimiert wird“. Dieser formal-demokratische Bürgerbegriff öffnet den Zugang zu den politischen Institutionen und demokratischen Verfahren, um die Art, Form und Regeln des politischen Zusammenlebens demokratisch zu gestalten und zu verändern. Solange die Staaten primärer Bezugspunkt demokratischer Herrschaftsausübung sind, ist die konstitutive Bedeutung der Staatsangehörigen für die demokratische Herrschaftsform ebenso unvermeidbar wie die dadurch bewirkte Unterscheidung zwischen Staatszugehörigen und Fremden. Die rechtliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit erschließt sich indes nicht aus dem Status als solchem, sondern aus den Rechtsfolgen, die an die Staatsangehörigkeit anknüpfen. Insoweit werden wir gegenwärtig Zeugen einer Marginalisierung der Staatsbürgerschaft als exklusivem Statusrecht. Scheinbar unaufhaltsam wird der tatsächliche Rechtsstatus von Staatsangehörigen und Ausländern immer gleicher.12 Ein kursorischer Überblick mag diesen Befund illustrieren: Das Aufenthaltsrecht ist heute praktisch kein exklusives Privileg der ___________ 11 Einzelheiten: S. Haack, Staatsangehörigkeit – Unionsbürgerschaft – Völkerrechtssubjektivität, in: HStR X, 3. Aufl., 2012, § 205 Rn. 7 ff. 12 Zum Folgenden jeweils m.w.N. die Referate von C. Walter und K. F. Gärditz, Der Bürgerstatus im Licht von Migration und europäischer Einwanderung, in: VVDStRL 72 (2013).
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Staatsangehörigen mehr. Aufenthaltsentscheidungen werden unions-, grundund menschenrechtlich überlagert. Unionsbürgern wird qua Binnenfreizügigkeit ein Recht auf Aufenthalt garantiert. Mit der Gewährung von Gebietszugang eines jeden Ausländers verfestigt sich dessen Status im Aufenthalt. Der ursprünglich als vorübergehend konstruierte Aufenthaltsstatus geht über in ein Bündel von Aufenthaltstiteln, die der Tendenz nach zu einem rechtlich gesicherten Daueraufenthalt führen können: Das Aufenthaltsrecht des Ausländers kann gleichsam „durch Ersitzung“ erworben werden. Aber auch der Status des rechtmäßig in Deutschland verweilenden Ausländers wird dem der deutschen Staatsangehörigen immer ähnlicher: Die Gleichstellung von Ausländern als Wirtschaftssubjekte ist durchgehend verwirklicht, für Unionsbürger bildet sie gar die Essenz der Grundfreiheiten. Allein der Arbeitsmarktzugang für drittstaatsangehörige Ausländer ist noch reguliert. Der Zugang zum öffentlichen Dienst ist für Unionsbürger in weitem Umfang geöffnet. Nur Justiz, Diplomatie und innere Sicherheit bilden letzte Reservate, die exklusiv Staatsangehörigen vorbehalten sind, wenngleich auch hier erste Öffnungen zu beobachten sind. Im Übrigen unterliegen In- wie Ausländer in gleicher Weise der allgemeinen Gehorsamspflicht gegenüber geltendem Recht, haben beide Gruppen gleichen Anspruch auf soziale Teilhabe: Leistungen werden einfachgesetzlich entweder nach Versicherungsprinzip oder nach Bedürftigkeit organisiert, in der Regel jedoch nicht nach Staatsangehörigkeit. Elementare Sozialleistungsansprüche sichern das in der Menschenwürde wurzelnde und damit das statusunabhängige soziale Existenzminimum: Mensch ist nämlich jeder. So hat das Bundesverfassungsgericht jüngst den Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger mit humanitären Aufenthaltstiteln von Bundeserziehungs- und Bundeselterngeld für gleichheitswidrig erklärt: Wer rechtmäßig in Deutschland verweilt, bekommt sozialstaatlich das der Menschenwürde je gemäße.13 Auch die staatliche Schutzverpflichtung erfasst alle – Staatsangehörigen wie Fremde – gleichermaßen: Eine Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit ist grundrechtlich zwar bei Deutschengrundrechten zulässig, wird aber einfachrechtlich regelmäßig neutralisiert. Fazit: Die festzustellende allmähliche Annäherung des Status von In- und Ausländern – überlagert von der Differenzierung zwischen Unionsbürgern sowie sonstigen privilegierten Drittstaatsangehörigen – bewirkt eine Auffächerung der vormals exklusiv durch die Staatsangehörigkeit vermittelten Statusverhältnisse. Die Bedeutung des Staatsangehörigkeitsstatus nimmt korrespondierend ab. Nicht zufällig nehmen gleichzeitig entsprechend mehrfache Staatsangehörigkeiten zu. Unverfügbarkeit und Unentrinnbarkeit des Staatsangehö___________ 13
BVerfG vom 18. Juli 2012, NVwZ 2012, S. 1024.
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rigkeitsbandes verlieren somit immer mehr an Bedeutung. Eine Bestandsaufnahme der Rechtsentwicklung zeigt einmal mehr: Statusunterschiede zwischen In- und Ausländern verblassen mit Verfestigung des Aufenthalts und werden in der Folge zu Details des Verwaltungsrechts, das die aus den Uneindeutigkeiten der rechtlichen Zugehörigkeit entstehenden Probleme im Einzelfall abarbeiten muss. Wenn also die aus der Staatsangehörigkeit fließenden Rechte mit denen immer ähnlicher werden, die aus dem rechtmäßigen Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet resultieren, dann stellt sich unvermeidlich die weitergehende Frage, welche Konsequenzen daraus für das Wahlrecht folgen. Noch markiert das demokratische Wahlrecht den entscheidenden Statusunterschied zwischen Staatsangehörigen und Nichtstaatsangehörigen. Aber kann das so bleiben oder müssen nicht vielmehr Ausländer, insbesondere wenn sie längere Zeit im Bundesgebiet ansässig sind, Steuern zahlen, im sozialen Leben integriert sind, dann nicht auch demokratisch am politischen Gemeinwesen partizipieren dürfen? Haben sie nicht gar einen menschenrechtlichen Anspruch auf demokratische Teilhabe? Ist ihre demokratische Exklusion ein verfassungsrechtliches Relikt und deswegen überholt?
V. Demokratische Exklusion von Ausländern als Verfassungsgebot Nimmt man das positive Verfassungsrecht zur Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen, dann ist der Befund eindeutig. Im Hinblick auf demokratische Teilhabe und Repräsentation besteht die fundamentale Statusdifferenz zwischen Staatsangehörigen und Ausländern bis heute verfassungsrechtlich fort. Das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), ist die Summe der Staatsangehörigen, die insoweit das demokratische Zurechnungs- und Legitimationssubjekt konstituieren und Herrschaftslegitimation personalisieren. In der Konsequenz dieser rechtlichen Vorgaben bleibt Ausländern das aktive Wahlrecht zu Landesparlamenten und zum Deutschen Bundestag, das Herzstück des status activus, verschlossen. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1990:14 „Der Verfassungssatz ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus‘ enthält […] nicht allein den Grundsatz der Volkssouveränität. Vielmehr bestimmt diese Vorschrift selbst, wer das Volk ist, das in Wahlen, Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung Staatsgewalt ausübt: Es ist das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland. […] Als demokratischer Staat kann sie nicht ohne die Personengesamtheit gedacht werden, die Träger und Subjekt der in ihr und durch ihre Organe ausgeübten Staatsgewalt ist. Diese Personengesamtheit bildet das Staatsvolk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. ___________ 14
BVerfGE 83, 37 (50 ff.) – Ausländerwahlrecht.
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Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG hat daher nicht zum Inhalt, dass sich die Entscheidungen der Staatsgewalt von den jeweils Betroffenen her zu legitimieren haben; vielmehr muss die Staatsgewalt das Volk als eine zur Einheit verbundene Gruppe von Menschen zu ihrem Subjekt haben. Das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, wird nach dem Grundgesetz von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellten Personen gebildet. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk der Bundesrepublik wird also grundsätzlich durch die Staatsangehörigkeit vermittelt. Die Staatsangehörigkeit ist die rechtliche Voraussetzung für den gleichen staatsbürgerlichen Status, der einerseits gleiche Pflichten, zum anderen und insbesondere aber auch die Rechte begründet, durch deren Ausübung die Staatsgewalt in der Demokratie ihre Legitimation erfährt. […] Schließlich weist Art. 146 GG dem deutschen Volke die Entscheidung über eine das Grundgesetz zu gegebener Zeit ablösende Verfassung zu. In nicht zu übersehender Parallelität erklären die Präambel und Art. 146 GG das deutsche Volk zum Träger und Subjekt des Staates der Bundesrepublik Deutschland. […] Ist also die Eigenschaft als Deutscher nach der Konzeption des Grundgesetzes der Anknüpfungspunkt für die Zugehörigkeit zum Volk als dem Träger der Staatsgewalt, so wird auch für das Wahlrecht, durch dessen Ausübung das Volk in erster Linie die ihm zukommende Staatsgewalt wahrnimmt, diese Eigenschaft vorausgesetzt“. Die Einführung eines allgemeinen Ausländerwahlrechts ist also auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechts in seiner maßgeblichen Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht unzulässig. Das schließt andere Formen der Ausländerpartizipation (Ausländerbeiräte etc.) nicht aus; aber diese sind kein Ausdruck demokratischer Teilhabe und deshalb auch nicht geeignet, Entscheidungen demokratisch zu legitimieren. Die Staatsangehörigkeit entfaltet damit für die Teilhabe an der demokratischen Staatswillensbildung nach wie vor eine verfassungsrechtlich vorgegebene und politisch zu respektierende Exklusionswirkung.
VI. Demokratische Inklusion von Ausländern als politische Herausforderung Dieser verfassungsrechtliche Befund bereitet vielfach rechtspolitisches Unbehagen. Als bedeutende Exportnation stehe das wohlhabende Deutschland im Zentrum des Prozesses von Globalisierung und Internationalisierung, von Migrationsbewegungen und Integrationsprozessen. Dadurch entwickelten sich die der Herrschaftsgewalt Unterworfenen und die Mitglieder des Legitimationssubjekts Volk auseinander. Die im Bundesgebiet wohnhaften Ausländer verfügten über kein Wahlrecht, seien nicht Mitglied der politischen Gemeinschaft. Ihre Anliegen seien nicht die eines Wählers und würden deshalb auch nur verzerrt oder gar nicht berücksichtigt. Obwohl sie die Lasten von Herrschaft mittrügen,
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wären sie von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen. Der dauerhafte Aufenthalt von Ausländern ohne Wahlrecht wird derart als schwärendes Partizipationsproblem wahrgenommen. Wer Steuern und Abgaben zahle, müsse auch politisch mitbestimmen dürfen. Die Parole des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges „No Taxation without Representation“ verdeutliche die politische Sprengkraft dieses Korrelationsverhältnisses. Aus diesen Überlegungen wird dann die rechtspolitische Forderung nach verfassungsrechtlicher Inklusion von in Deutschland lebenden Ausländern abgeleitet. Eine repräsentative Begründung liest sich wie folgt:15 Die unbestrittene Entwicklung, dass Ausländer zahlreiche Möglichkeiten haben, einzelne oder gar einen großen Teil der mit der Staatsbürgerschaft üblicherweise verbundenen Statusrechte zu erwerben, „entbündele“ die Statusrechte. Die materiellen Rechte der Staatsbürgerschaft, insbesondere ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, würden weitgehend unabhängig von der Staatsangehörigkeit zugewiesen. Dies führe dazu, dass sich Migranten mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht hinsichtlich des Bürgerstatus in der Praxis letztlich nur noch beim Wahlrecht von den Staatsangehörigen unterschieden. Solange die Statusrechte überwiegend gebündelt mit dem Bürgerstatus verliehen wurden, hätte der Bürgerstatus Gleichheit auch hinsichtlich der Partizipationsmöglichkeiten garantieren können. In dem Maße, in dem der Bürgerstatus entbündelt und der dauerhafte Aufenthalt unabhängig von der Staatsangehörigkeit ermöglicht werde, drohten Ungleichheiten, die sich als demokratisches Mitwirkungsproblem darstellten. Für die repräsentative Demokratie könne das zum Krisenfall werden, denn es drohe eine Inkongruenz „zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen“. Das hier verwandte Argumentationsmuster ist bekannt: eine Entwicklung wird festgestellt (Globalisierung), ihre Richtung analysiert (Entkopplung von Statusrechten und Staatsangehörigkeit), die weitere Entwicklung interpoliert und hochgerechnet (Funktionslosigkeit des Staatsangehörigkeitsrechts), schließlich der status futurus skizziert (Ablösung des Wahlrechts von der Staatsangehörigkeit), dessen ohnehin zu erwartender Eintritt dann auch schon hier und heute als „historisch zwingend“ politisch vorweggenommen werden könne (demokratische Partizipation). Allenfalls über die rechtstechnische Umsetzung des als überfällig Erkannten kann dann noch diskutiert werden. So werden für die rechtspolitisch erwünschte demokratische Inklusion von Ausländern denn auch mehrere Lösungswege angeboten. Der erste hält rechtstechnisch an der Statuslösung fest, setzt aber auf erleichterte Einbürgerung (VII.), gegebenenfalls auch unter vermehrter Hinnahme von doppelten Staatsangehörigkeiten (VIII.). Alternativ soll das Wahlrecht von der Staatsangehörigkeit ab___________ 15
C. Walter (Fn. 12), unter II.5.
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gekoppelt, der Prozess der Entbündelung der Statusrechte vollendet und das Wahlrecht für die Bevölkerung eingeführt werden (IX.).
VII. Menschenrechtlicher Anspruch auf Erwerb einer exklusiven Staatsangehörigkeit? Bereits das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Ausländerwahlrecht16 den Weg zu einer Auflösung des Problems gewiesen: „Das bedeutet keineswegs, dass dem Gesetzgeber jede Einwirkung auf die Zusammensetzung des Volkes im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verwehrt wäre. So überlässt das Grundgesetz […] die Regelung der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit und damit auch der Kriterien, nach denen sich die Zugehörigkeit zum Staatsvolk des näheren bestimmt, dem Gesetzgeber. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist daher auch der Ort, an dem der Gesetzgeber Veränderungen in der Zusammensetzung der Einwohnerschaft der Bundesrepublik Deutschland im Blick auf die Ausübung politischer Rechte Rechnung tragen kann. Es trifft nicht zu, dass wegen der erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebietes der verfassungsrechtliche Begriff des Volkes einen Bedeutungswandel erfahren habe. Hinter dieser Auffassung steht ersichtlich die Vorstellung, es entspreche der demokratischen Idee […], eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen. Das ist im Ausgangspunkt zutreffend, kann jedoch nicht zu einer Auflösung des Junktims zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt führen. Ein solcher Weg ist durch das Grundgesetz versperrt. Es bleibt unter diesen Umständen nach geltendem Verfassungsrecht nur die Möglichkeit, auf eine derartige Lage mit entsprechenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen zu reagieren, etwa dadurch, dass denjenigen Ausländern, die sich auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen haben, sich hier rechtens aufhalten und deutscher Staatsgewalt mithin in einer den Deutschen vergleichbaren Weise unterworfen sind, der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit erleichtert wird“. Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 200017 hat der Gesetzgeber diesen Weg beschritten und den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit durch Einführung des Erwerbs der Staatsangehörigkeit iure soli erweitert. Danach erwerben Kinder ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt im Inland, wenn ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und ein ___________ 16 17
BVerfGE 83, 37 (52). Gesetz vom 15. Juli 1999, BGBl. I S. 1618.
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unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt (§ 4 Abs. 3 StAG). Dieser Erwerbstatbestand wird allerdings mit einer Obliegenheit versehen, d.h. durch eine Optionspflicht begrenzt: Da die Kinder regelmäßig mit der Geburt auch eine weitere Staatsangehörigkeit, nämlich diejenige der ausländischen Eltern, erwerben, müssen sie sich nach Eintritt der Volljährigkeit für eine Staatsangehörigkeit entscheiden (§ 29 StAG). Außerdem wurde bei mindestens achtjährigem gewöhnlichen Aufenthalt und unbefristetem Aufenthaltsrecht ein Einbürgerungsanspruch geschaffen (§ 10 StAG). Der politisch erwartete Erfolg der Reform hielt sich in Grenzen. Die Quote der Gesamtzahl der eingebürgerten Ausländer in Deutschland beläuft sich insgesamt auf 2,44 %, bei türkischen Staatsangehörigen auf 2,0 %.18 Von der erweiterten Möglichkeit der Einbürgerung wurde also nur in geringem Umfang Gebrauch gemacht. Das zentrale Ziel der Reform, dem Auseinanderfallen von Wohnbevölkerung und Staatsbürgern durch erweiterte Einbürgerungsmöglichkeiten entgegenzutreten, wurde also nicht erreicht. Man kann dies als Ausdruck einer freien Entscheidung der adressierten Ausländer in Ansehung einer rechtlichen Option interpretieren. Dann zeigt die Nichtwahrnehmung dieser Option zur Einbürgerung, dass die betreffenden Ausländer offensichtlich keinen erhöhten Wert darauf legen, Deutsche zu werden. Dann könnte man dies auch akzeptieren und ihnen nicht stattdessen ein Leiden an fehlenden politischen Partizipationsproblemen andichten. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben könnte, die Option aber nicht ergreift, wird wohl seine Gründe dafür haben. Vielleicht spüren oder wissen die betreffenden Ausländer besser als die Verfechter einer staatsangehörigkeitsrechtlichen Inklusion, dass hinter der Entscheidung für oder gegen eine Staatsangehörigkeit potentielle Loyalitätskonflikte stehen, die auch einmal zum Schwur kommen könnten. Dass niemand Diener zweier Herren sein kann, ist nicht nur uralte, schon im MatthäusEvangelium bezeugte Wahrheit und Weisheit.19 Daher entspricht es freiheitlicher Tugend und demokratischer Toleranz, eine solche Entscheidung der adressierten Ausländer schlicht zu respektieren und zu akzeptieren. Doch die Freunde der Inklusion sind auf die Einführung eines Ausländerwahlrechts fixiert. Also müssen weitere angebliche Hindernisse weggeräumt werden.
VIII. Menschenrechtlicher Anspruch auf doppelte Staatsangehörigkeit? Die Befürworter eines weitergehenden Ausländerwahlrechts setzen in diesem Sinne auf die vermehrte Hinnahme von Mehrstaatlichkeit. Zur Begrün___________ 18 19
Vgl. C. Walter (Fn. 12), unter III.1. m.w.N. Matthäus 6,24.
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dung wird darauf hingewiesen, dass zwei Drittel der befragten türkischen Staatsangehörigen als Haupthindernis für eine Einbürgerungsentscheidung die Notwendigkeit nannten, dafür ihre bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben.20 Auch hier folgt das Begründungsmuster wiederum der eschatologischen Finalität: Aus dem zutreffenden Befund einer faktischen Entwicklung zu vermehrter Hinnahme der Mehrstaatigkeit wird der normative Schluss gezogen, entgegenstehende Regelungen des Staatsangehörigkeitsrechts abzuschaffen. Eine Regelung, bei der sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis in der Rechtsanwendung in sein Gegenteil verkehre, sei unter Gleichheitsgesichtspunkten problematisch. Wen diese Begründung nicht von den Vorzügen der Mehrstaatigkeit überzeugt, der wird mit einem propagierten „Menschenrecht auf doppelte Staatsangehörigkeit“ diskursiv in die Enge getrieben. Doch gegen die mehrfache Staatsangehörigkeit spricht nach wie vor, dass sie zu gespaltenen Loyalitäten und gegenläufigen Loyalitätspflichten führen kann. Der Hinweis, dass Loyalitätskonflikte auch sonst bei engen Bindungen von Mitbürgern in andere Staaten ohnehin nicht zu vermeiden sind, ist demgegenüber mehr als schlicht. Tatsächlich gibt es Loyalitätskonflikte, die jeder bewältigen muss. Aber die Staatsangehörigkeit bezeichnet die politische Loyalitätsbindung, deren Potential nicht in Sonnenscheinzeiten, sondern in Konfliktlagen sichtbar, relevant und entscheidend werden kann. Welches Konfliktpotential sich dabei aufbauen und entladen kann, zeigt mehr als deutlich der Aufruf des türkischen Ministerpräsidenten, der 2008 in Köln und in Gegenwart des deutschen Innenministers an „seine deutschen Landsleute“ erging, die die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben: „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Die Türken sollten auch als Staatsbürger anderer Länder zuerst ihre Muttersprache lernen und ihre Kultur beibehalten. Hier zeigt sich das Dilemma doppelter Loyalitäten in nuce: Man kann nicht zwei Herren gleichzeitig dienen. Im Ernstfall, d.h. wenn die zwei Herren sich mal in die Haare bekommen, wird die Tiefenstruktur der Staatsangehörigkeit sichtbar: Sie bezeichnet diejenige politische Gemeinschaftsbindung, der man sich im existenziellen Grenzfall verbunden weiß.21 Und dann heißt die Alternative: Entweder man ist Türke in Deutschland oder Deutscher türkischer Abstammung. Tertium non datur.
___________ 20 21
Vgl. C. Walter (Fn. 12), unter III. 2. m.w.N. Vgl. C. Schmitt, Begriff des Politischen, 1932, S. 26 ff.
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IX. Aufhebung der Staatsangehörigkeit – Allgemeines Wahlrecht der „Bevölkerung“? Der Schlussstein der rechtspolitischen Forderung, die angebliche Krise demokratischer Inklusion von im Bundesgebiet lebenden Ausländern zu bewältigen, bildet der Vorschlag, die schon weit fortgeschrittene Entbündelung des Bürgerstatus endlich zu vollenden und auch das Wahlrecht nicht mehr an den Status, sondern an den dauerhaften Aufenthalt zu knüpfen.22 Trotz der deutlichen Absage des Bundesverfassungsgerichts wird das Thema auf der rechtspolitischen Tagesordnung gehalten. Grundlage soll nunmehr die Menschenwürde des Grundgesetzes sein. Tatsächlich hat das Gericht in seiner LissabonEntscheidung einen engen Bezug zwischen Demokratie und Menschenwürde hergestellt: „Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert“.23 Doch ist es kühn, von dieser Sentenz auf eine Relativierung, wenn nicht Überwindung der Vorstellung zu schließen, nach der es einer vorrechtlich geprägten Homogenität unter einer Gruppe von Menschen bedarf, um sich im Zeichen der Demokratie zu einer politischen Einheit zusammenzuschließen.24 Denn die öffentliche Gewalt, von der das Gericht in diesem Zusammenhang spricht, ist die durch das Grundgesetz konstituierte, also diejenige, die sich – nach der Präambel – das deutsche Volk gegeben hat. Die grundgesetzliche Menschenwürde gegen die vom Deutschen Volk konstituierte Staatlichkeit, die vom Deutschen Volk sich gegebene Verfassung und die verfassungsrechtlich normierte Selbstbestimmung des Deutschen Volkes auszuspielen, ist ein schlechter verfassungsrechtlicher Taschenspielertrick. Daher geht die auf diesen Satz aufbauende Forderung in elementarer Weise fehl: „Die zentrale Bedeutung der Menschenwürde für die deutsche Verfassungsordnung müsse auch zu einer großzügigeren Herangehensweise an die Interpretation des Volksbegriffs in Art. 20 ___________ 22
So C. Walter (Fn. 12), unter III. 3. BVerfGE 123, 267 (341); Kritisch gegen einen apriorischen Gleichklang von Demokratie und Menschenrechten E.-W. Böckenförde, Das Unwahrscheinliche wollen, in: FAZ Nr. 102 vom 2. Mai 1996, S. N6. 24 Vgl. J. Isensee (Fn. 3), S. 705 (708): „Die rechtliche Einheit des Volkes ist auf Dauer nur lebensfähig, wenn sie sich auf eine reale Grundlage stützen kann: auf ein Mindestmaß effektiver Homogenität als Grundbestand an Gemeinsamkeiten, wie sie Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur und Interessen hervorbringen können [...]“; ders., Nachwort zu: Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: J. Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 122: „Ohne ein gewisses Maß an Homogenität kann kein Staat bestehen. Der Wille zur politischen Einheit, der eine Menschengruppe zum Volk als Nation und damit zum möglichen Subjekt demokratischer Selbstbestimmung werden lässt, knüpft an objektive Vorgegebenheiten an, etwa geopolitische Lage, wirtschaftliche Interessen, Geschichte, Sprache, zivilisatorische Standards, Ethos, Kultur, Religion“. 23
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Abs. 2 GG“ führen25. So wird Verfassungsinterpretation zum Modus einer rechtspolitisch erwünschten großzügigen Sozial- und Integrationspolitik.
X. Demokratie ohne Demos – Auf dem Weg in die Fremdherrschaft? Gegenüber derartigen Uminterpretationen des Grundgesetzes gilt es als normativen Bestand festzuhalten: Solange „das Volk sich als politisches Herrschaftssubjekt nicht nach dem Menschsein schlechthin, sondern nach selbst geschaffenen normativen Kriterien ein[setzt]“, bedeutet das reziprok immer auch „den Ausschluss derjenigen von der politischen Herrschaft, die nicht Bestandteil des durch demokratisches Recht definierten Volkes sind“.26 Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes entfaltet sich auf der Grundlage politischer Einheit, nicht umgekehrt. Die Demokratie des Grundgesetzes ist somit konkretisierte Menschenwürde, indem sie die Identität von Herrschern und Beherrschten etabliert und einen realen Verantwortungszusammenhang statuiert, der durch regelmäßige demokratische Wahlen etabliert und realisiert wird. Nur dann liegt „ein Verantwortungszusammenhang der wirklichen, ernsten Art [vor], in dem nicht nur Worte zu wechseln, sondern auch, von Wählern wie Gewählten, Konsequenzen des eigenen Entscheidungsverhaltens zu tragen sind.“27 Solange es ein Pluriversum von Staaten gibt, gibt es Politik, gibt es politisch zu unterscheidende Völker, zu denen man schicksalhaft gehört oder nicht gehört, gibt es die Unterscheidung von demokratischer Selbstbestimmung und undemokratischer Fremdbestimmung. Staatlichkeit als politische Schicksalsgemeinschaft lässt sich nicht menschenrechtlich unterlaufen: Mensch wird der Mensch nur in politisch kontingenter Gemeinschaft.28 Das einzigartige politische Experiment der Europäischen Union könnte hier ein neues Kapitel der Geschichte der Demokratie schreiben. Die europäischen Staaten der Gegenwart zielen auf eine wirtschaftliche und politische Union, öffnen sich gegenüber Staaten und den Bürgern anderer Staaten. Gleichwohl bewahren sie ihre Eigenständigkeit in einem durch Geburt und Herkunft verwandten Staatsvolk, einem ihm zugehörigen Raum und der kulturellen Gemeinsamkeit von Sprache, Religion, Kunst und geschichtlicher Erfahrung. Die dadurch unvermeidlich bewirkte Erosion demokratischer Substanz bei den Mitgliedsstaaten ist ebenso unübersehbar wie ein kompensierender Aufbau ___________ 25
So C. Walter (Fn. 12), unter III. 3. K. F. Gärditz/C. Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 (873). 27 BVerfG, NVwZ 2012, S. 1167 (1173) – Sondervotum G. Lübbe-Wolff. 28 Grundsätzlich zum Problem: P. Kondylis, Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, 1992, S. 114 ff. 26
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noch fehlender demokratischer Strukturen auf der Ebene der Europäischen Union. Ob sich in dieser Lage die Völker Europas in der gegenwärtigen Situation schon auf dem langen Weg zur Verschmelzung zu einem Europäischen Volk befinden, um sich als solches demokratisch selbstbestimmen zu können, oder ob sie eher noch, um wahrhaft Demokratien bleiben zu können, eine Renationalisierung von Entscheidungsbefugnissen erstreben, ist einstweilen offen. Höchst unwahrscheinlich aber dürfte sein, dass sich die Völker Europas, solange sie sich als kategoriale politische Größe begreifen, einer Form der Fremdbestimmung unterwerfen werden. Ein von Technokraten herbeigezwungenes und beherrschtes Europa wird es als legitimes nicht geben. Wohlmeinende Rechtfertigungen solcher unübersehbaren Tendenzen könnten latentes Revolutionspotential schüren, das sich beim Scheitern einer kompetenziell entgrenzten und damit demokratisch nicht legitimierten europäischen (Währungs-)Politik unversehens entladen könnte. * * *
Abstract Otto Depenheuer: Democracy and the People of a State: On Binding Suffrage to Citizenship (Demokratie und Staatsvolk: Zur Bindung des Wahlrechts an die Staatsangehörigkeit), in: National Right to Vote and International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 39-53. The militant democracy of the German constitution sees itself increasingly exposed to internal enemies. Especially the recent developments in the euro crisis reveal the de facto disempowerment of national parliaments by the perpetually complex projects of supranational problem solving to save the euro that are entrusted to increasingly technocratic subsystems with merely superficial connections to the legislative representatives of the people. Not only is the substratum of democratic decision-making processes called into question, but the subject of democracy as well. Even though the “rule of the people” is anchored in the principle of democracy itself, it becomes increasingly unclear in the age of internationalization and globalization who “the people” actually is. Increasing migration flows and international migration are associated with the development towards an increasingly closely knit European Union. They also raise the question in Germany – a country into which many people migrate – about the possibilities of political participation not only for all of its citizens, but also for the remaining parts of the population that are equally affected by the authority of the state. The “crisis” of heteronomy and lack of inclusion of non-Germans is being increasingly publicized.
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Regarding the latter, citizenship law is one point of reference. The gradual determination of one’s status as resident or foreigner – superimposed by the differentiation between EU citizens and other privileged third-country nationals – brings about a classification of statuses that was formerly determined exclusively through citizenship. The importance of citizenship status decreases correspondingly. The German Federal Constitutional Court, however, rejects political participation by non-citizens on the grounds of the difference legitimized by the constitution between the people of a state (Staatsvolk) and the population (Bevölkerung). Objections to this are ultimately not convincing. The success of legislative measures to simplify naturalization is marginal when one looks at the number of individuals taking advantage of the measures. The advent of dual citizenship introduces yet-unresolved loyalty obligations of individuals to their home states. The attempt to establish a people’s suffrage without differentiation by citizenship and under the broad definition of a “vast” folk concept likewise ultimately fails due to the clear intent of the writers of the constitution in Article 20 Paragraph 2 of the constitution. In view of the increasing heteronomy by technocratic subsystems, it remains to be seen how things will develop further. As long as the peoples of the states of Europe continue more and more to see themselves as a categorical, political entity, the facticity of tangibly undemocratic decision-making processes faces latent danger of revolution, which could be unexpectedly discharged if a borderless European (monetary) policy were to fail.
Demokratie und Staatsgebiet: Die Bedeutung des Wohnsitzes für das Wahlrecht Von Hans-Detlef Horn
I. Das Wahlrecht für Auslandsbürger als Aufgabe 1. Appelle aus der Idee der Freizügigkeit Die grenzüberschreitende Freizügigkeit, die die europäische Einigungsgeschichte den Bürgern ihrer Mitgliedstaaten von Beginn an gewährleistet,1 bleibt nicht ohne „Folgen“: Bürger des einen Unionsstaats verlegen ihren Wohnsitz in einen anderen, bleiben oder finden dort als Paar zusammen, gründen Familien, bekommen Kinder und Kindes-Kinder. Der Fortzug verändert den Lebensmittelpunkt, nicht aber die Staatsangehörigkeit. Auch die Kinder erwerben nach dem im deutschen Recht geltenden Abstammungsprinzip von Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit ihrer Eltern bzw. eines Elternteils.2 In dem Augenblick aber, in dem sie das achtzehnte Lebensjahr vollenden, erhebt sich eine für sie selbst, aber auch für die Gestalt der staatlichen Demokratie bedeutsame Frage: Sie sind zwar deutsche Staatsbürger. Aber sind oder bleiben sie auch deutsche Wahlbürger? Betroffen ist ihre Berechtigung, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen.3 Das unionale Recht auf Freizügigkeit trifft hier auf die Regeln des nationalen Wahlrechts. Diese zu bestimmen, liegt in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Nur für das Wahlrecht bei Kommunal- und Europawahlen gilt etwas anderes. Für sie gibt das Unionsrecht eigene Regeln vor, die offenkundig das Ziel verfolgen, den Auswirkungen jener Freizügigkeitsgarantie auch für den Bereich der politischen Teilhabe Rechnung zu tragen: Jedem EU-Bürger, der in ___________ 1
Heute: Art. 21, 45 ff., 49 ff. AEUV. Vgl. § 4 Abs. 1 StAG. Nach der im Rahmen der Staatsangehörigkeitsreform vom 15.7.1999 (Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15.7.1999, BGBl. I S. 1618) ergänzten Regelung muss für im Ausland geborene Kinder, deren deutsche Eltern nach dem 31.12.1999 ebenfalls im Ausland geboren wurden und sich dort auch gewöhnlich aufhalten, eigens die personenstandsrechtliche Eintragung in das Staatsangehörigkeitsregister beantragt werden, s. § 4 Abs. 4 StAG. 3 Dafür legt Art. 38 Abs. 2 GG das vollendete achtzehnte Lebensjahr als Mindestwahlalter fest. 2
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einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, seinen Wohnsitz hat, ist kraft seiner Unionsbürgerschaft4 unmittelbar das Recht gegeben, dort bei Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu (nahezu) denselben Bedingungen wie Einheimische wählen und kanndidieren zu können.5 Das Prinzip, das hier und soweit zur Geltung gelangt, lautet: „Wahlrecht folgt Wohnsitz“. Sieht man demgegenüber auf die mitgliedstaatlichen Regeln, die das Wahlrecht für nationale Wahlen bestimmen, so zeigt sich: Zwar folgen auch diese weitenteils dem Prinzip „Wahlrecht folgt Wohnsitz“ – doch der Inhalt ist ein anderer. Das Prinzip gilt hier nicht grenzüberschreitend, sondern innerstaatlich; es meint nicht das Wahlrecht für fremde Staatsangehörige, das mit der Wohnsitznahme im Inland entsteht, sondern den Inlandswohnsitz, den das Wahlrecht für eigene Staatsangehörige voraussetzt. Der Effekt für das Freizügigkeitsrecht weist damit gerade in die gegenteilige Richtung. Eine Bindung des nationalen Wahlrechts an den Nachweis eines Inlandswohnsitzes unterfängt nicht die Wahrnehmung der grenzüberschreitenden Freizügigkeit, sondern läuft dieser tendenziell zuwider. Schon vor Jahren hatte sich daher die EU-Kommission dieses Themas angenommen. Zwar sei es Sache der Mitgliedstaaten, über die Wahlberechtigung bei nationalen Wahlen zu bestimmen. Doch im Hinblick auf das unionale Freizügigkeitsrecht und die Grundidee der Unionsbürgerschaft sei es als ein Problem anzusehen, wenn Unionsbürger, die ins EU-Ausland umziehen, in Folge dessen ihr nationales Wahlrecht verlieren, weil dieses nach dem innerstaatlichen Recht an einen Inlandswohnsitz oder dauerhaften Aufenthalt im Inland geknüpft sei.6 In ähnlicher Weise hat sich auch die so genannte Venedig___________ 4
Die Unionsbürgerschaft ersetzt nicht die nationale Staatsangehörigkeit, sondern knüpft an diese an und tritt zu dieser hinzu: Art. 9 S. 1, 2 EUV, Art. 20 Abs. 1 AEUV. 5 Art. 22 AEUV; vgl. ferner für Kommunalwahlen: RiL 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994, ABl. Nr. L 368, S. 38 ff.; sowie Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG; für Europawahlen: RiL 93/109/EG des Rates vom 6.12.1993, ABl. Nr. L 329, S. 34 ff., sowie Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz – EuWG) i.d.F. der Bek. vom 8.3.1994 (BGBl. I S. 423, 555), zul. geänd. durch Art. 1 des Gesetzes vom 7.10.2013 (BGBl. I S. 3749). 6 Vgl. den Bericht über die Unionsbürgerschaft 2010 vom 27.10.2010, KOM 2010(603) endg., dem folgend den Bericht über die Unionsbürgerschaft 2013 vom 8.5.2013, KOM 2013(269) endg. Inzwischen hat die Kommission jenen Mitgliedstaaten, nach deren Rechtsvorschriften ihre Bürger das Wahlrecht verlieren können, wenn sie ihren Wohnsitz ins EU-Ausland verlegen (insofern besonders im Blick: Dänemark, Irland, Zypern, Malta und Vereinigtes Königreich), konkrete Vorschläge dazu unterbreitet, damit EU-Bürger ihr Wahlrecht bei nationalen Wahlen in ihrem Heimatland behalten können; vgl. Commission Communication addressing the consequences of disenfranchisement of Union citizens exercising their right to free movement vom 29.1.2014, COM(2014) 33 final, C(2014) 391 final, und Pressemitteilung vom 29.1.2014. Alle Dokumente abrufbar unter http://ec.europa.eu.
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Kommission des Europarats positioniert. Der im Juni 2011 angenommene „Report on Out-of-Country Voting“ enthält die ausdrückliche Empfehlung: Obwohl das Wahlrecht für im Ausland ansässige Staatsbürger weder von der EMRK gefordert werde noch zum überkommenen gemeineuropäischen Rechtsbestand gehöre, sollten die Staaten im Sinne und im Dienste der europäischen Idee bürgerschaftlicher Mobilität dazu gelangen, ihren Auslandsbürgern das nationale Wahlrecht zu erhalten.7
2. Das Auslandsdeutschenwahlrecht als prekäre Ausnahme Die Bundesrepublik Deutschland zählt zwar nicht zu den (wenigen) Staaten, die ihren Auslandsbürgern die Teilnahme an nationalen Wahlen (nach mehr oder weniger langer Abwesenheit) generell verwehren. Gleichwohl knüpft auch der deutsche Gesetzgeber, der von Verfassungs wegen (Art. 38 Abs. 3 GG) zur näheren Ausgestaltung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag aufgefordert ist, die Wahlberechtigung grundsätzlich an das Erfordernis einer aktuellen Sesshaftigkeit im Bundesgebiet. Nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 Bundeswahlgesetz (BWG) ist wahlberechtigt, wer am Wahltag seit mindestens drei Monaten in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innehat oder sich sonst gewöhnlich aufhält. Diesem Grundsatz nach wären also Deutsche im inner- oder außereuropäischen Ausland von Wahlen zum Bundestag ausgeschlossen. Doch dem Grundsatz folgt seit jeher eine Ausnahmeregelung. Zunächst waren es nur bestimmte Gruppen von Auslandsdeutschen, die vom Nachweis eines Inlandswohnsitzes entbunden waren. Späterhin wurde das Erfordernis der aktuellen Sesshaftigkeit – in Abhängigkeit von weiteren Voraussetzungen – durch die Notwendigkeit einer früheren Sesshaftigkeit im Bundesgebiet ersetzt. Die weitere Entwicklung brachte sodann eine schrittweise Lockerung dieser Bedingungen, unter denen ein solcher Voraufenthalt hinreichte.8 Im Laufe der Zeit wurde es damit immer mehr Auslandsdeutschen ermöglicht, an Bundestagswahlen teilzunehmen. Zuletzt verlangte das Bundeswahlgesetz nur noch, dass sie irgendwann einmal vor ihrem Fortzug ins Ausland mindestens drei Monate ununterbrochen im Inland gewohnt oder sich gewöhnlich aufgehalten hatten (§ 12 Abs. 2 Satz 1 BWG a.F.). Doch auch damit blieb der Kreis der wahlberechtigten Auslandsdeutschen nach wie vor begrenzt. Der Teil, der die Voraussetzung früherer Sesshaftigkeit im Inland nicht erfüllte, blieb weiterhin ausgeschlossen. So erging es kürzlich ___________ 7
Vgl. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on Out-of-Country Voting, Council of Europe, Study No. 580/2010, CDLAD(2011)022 vom 24.6.2011, abrufbar unter http://www.venice.coe.int. 8 Zur historischen Entwicklung des Auslandsdeutschenwahlrechts s. unten, Ziff. III.
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zwei in Belgien geborenen und dort ansässigen Deutschen. Die Wahlbehörden hatten ihnen die Teilnahme an der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag 2009 verwehrt, weil sie in ihrem Leben noch nie für mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten hatten. Im daraufhin angestrengten Wahlprüfungsverfahren machten sie geltend, die ihrer Ablehnung zugrunde liegende Vorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG a.F. sei verfassungswidrig, soweit diese Vorschrift nicht auch ihnen die Ausnahme vom Gebot des Inlandswohnsitzes und damit das Recht zur Teilnahme an der Bundestagswahl einräume. Das Bundesverfassungsgericht nahm sich dieser Sache mit jener Gründlichkeit und Strenge an, mit der es das deutsche Wahlrecht in jüngerer Zeit mehrfach durchleuchtet hatte.9 Dem konnte das Gesetz auch dieses Mal nicht standhalten. Das Gericht erklärte am 4. Juli 2012 die Norm des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG a.F. insgesamt für nichtig – also nicht nur in dem Umfang, in dem die Beschwerdeführerinnen dies geltend gemacht hatten.10 Die Regelung verstoße, so das Gericht, gegen den Verfassungsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG), weil sie die Wahlberechtigung für Auslandsdeutsche allein für den (Ausnahme-)Fall vorsehe, dass diese einen früheren dreimonatigen Daueraufenthalt im Bundesgebiet nachweisen könnten.11 Die umfassende Nichtigerklärung (mit Gesetzeskraft12) bedeutete zunächst, dass alle Auslandsdeutschen aus dem Kreis der Aktivbürger des Wahlvolkes herausfielen. Die Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen musste somit in Gänze überdacht und neu geregelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Gesetzgeber insoweit unter Zugzwang gesetzt, und es war Eile geboten: Der
___________ 9
Vgl. BVerfGE 121, 266 ff., sowie BVerfGE 131, 316 ff., zur Verfassungswidrigkeit des Mandatszuteilungsverfahrens nach § 6 BWG. – Bemerkenswert ist, dass die deutsche Demokratie mehrere Jahre um ein gültiges Wahlrecht gerungen hat, es ihr aber unterdessen und vergleichsweise zügig gelungen ist, eine bedeutende Reform im Wahlprüfungsrecht einschließlich einer damit verbundenen Änderung des Grundgesetzes auf den Weg zu bringen; vgl. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 93) vom 11.7.2012, BGBl. I S. 1478 sowie Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen v. 12.7.2012, BGBl. I S. 1501. 10 BVerfGE 132, 39 ff.; vgl. auch V. Heydt, Die Nichtigkeit des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG (Wahlrecht der Deutschen im Ausland) – Konsequenzen der weiten Tenorierung im BVerfG-Beschluss vom 4.7.2012, DÖV 2012, S. 974 ff. 11 Indessen hatte die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung über Jahrzehnte hinweg die früher geltenden Regelungen des BWG zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche, die allesamt an die grundsätzliche Sesshaftigkeit im Bundesgebiet anknüpften, für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten: BVerfGE 5, 2 (6); 36, 139 (141 ff.); 58, 202 (205 ff.); BVerfG Kammer, NJW 1991, S. 689 (690). 12 Gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG.
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Termin für die nächste Bundestagswahl – im Herbst 2013 – lag nicht allzu fern.13 Die praktische Bedeutung der Angelegenheit ist keineswegs gering. Zwar gibt es keine Statistik zur Gesamtzahl der im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen. Nach den Angaben des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) leben aber zumindest im europäischen Ausland insgesamt rund 1,14 Millionen Deutsche.14 Für die Bundestagswahl 2009 hatten sich 65.731 Auslandsdeutsche in die Wählerverzeichnisse eintragen lassen.15 In Zeiten der voranschreitenden Globalisierung aller Lebensverhältnisse kann indes davon ausgegangen werden, dass die Zahl der (über achtzehnjährigen) Deutschen im Ausland in Zukunft noch weiter ansteigen und sich damit auch die Zahl derer kontinuierlich erhöhen wird, die am Wahltag nicht das Erfordernis des Inlandswohnsitzes erfüllen. Das erhebt die Frage nach ihrer wahlrechtlichen Behandlung mehr und mehr zu einer Grundsatzfrage der staatlichen Demokratie.
II. Zur staats- und demokratietheoretischen Dimension des Problems 1. Das Verhältnis von staatlicher Demokratie und territorialer Staatlichkeit Die Frage nach dem Beteiligungsrecht von Auslandsbürgern an nationalen Wahlen reicht in weit tiefere Dimensionen hinein als dies ein je gegebener Einzelfall vordergründig erkennen lässt.16 Sie umgibt ein Geflecht von ganz grundsätzlichen Frage- und Problemstellungen, die sich erst bei näherem Hinsehen und beharrlichem Herantasten entdecken. Das Thema, das dann unausweichlich hervortritt, ist der Zusammenhang von Wahlrecht und Wohnsitz, von staatlicher Demokratie und territorialer Staatlichkeit, von Staatsvolk und Staatsgebiet. Auf jene Frage nach dem Wahlrecht für Auslandsbürger, namentlich für im Ausland lebende Deutsche, wird eine im Letzten befriedigende ___________ 13 Die Neuregelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG erfolgte schließlich durch das 21. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27.4.2013, BGBl. I S. 962; s. dazu unten, Ziff. V. 14 Vgl. Tabelle „Bevölkerung nach Geschlecht, Altersklasse und Staatsangehörigkeit“, Stand 2011, online abrufbar von der Eurostat-Datenbank, http://epp.eurostat.ec. europa.eu/portal/page/portal/eurostat/home (die Zahl der über Achtzehnjährigen lässt sich nicht herausfiltern); s. auch BVerfGE 132, 39 (43 Rn. 9). 15 Vgl. BT-Drs. 17/1883, S. 3; BVerfGE 132, 39 (43 Rn. 9). 16 Das Wahlrecht für Auslandsbürger „is a very complex problem“: Venice Commission, Report on Out-of-Country Voting (Fn. 7), S. 3.
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Antwort nicht gefunden werden können, ohne in die Betrachtung dieses Zusammenhangs einzutreten. Umso erstaunlicher mutet es an, dass dazu, soweit ersichtlich, grundlegende Untersuchungen noch nicht unternommen wurden. Die Lage im Schrifttum ist dürftig. Das Problem des Auslandsdeutschenwahlrechts findet sich zwar – abgesehen von der Kommentarliteratur zu § 12 BWG und Art. 38 GG – vereinzelt eingehender behandelt.17 Doch das hintergründig aufscheinende Verhältnis von Demokratie und Staatsgebiet bleibt dabei ausgeblendet. Allzu selbstverständlich erscheint die „traditionelle“18 Inlandsbindung des Wahlrechts, wie hoch oder niedrig die Anforderungen daran auch sein mögen. Dass zwischen Staats- bzw. Wahlvolk und Staatsgebiet ein Junktim besteht, wird als ein schlechthinniges, natürliches Faktum wahrgenommen. Das Denken über das Staatsvolk der Wähler hat zumeist und unwillkürlich die Menge der Staatsangehörigen im Sinn, die zugleich auf dem Territorium des Staates sesshaft ist. Diese Vorstellung ist derart vollständig, dass sie sich von einer vorhandenen, bislang freilich noch relativ niedrigen Zahl von im Ausland ansässigen Staatsbürgern nicht irritieren lässt. Ganz im Gegenteil: Im gesetzlichen Grundsatz der Bindung des Wahlrechts an einen Inlandswohnsitz (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BWG) ist sie zum normativen Prinzip erhoben. 2. Wesentlicher Territorialzusammenhang von Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk Die Quellen dieser assoziativen Festlegung scheinen unschwer auszumachen. Sie liegen letzten Endes in den Tiefen der Entwicklung des Staates von einem vormals personalen Herrschaftsgebilde hin zu dem sich in der Neuzeit ausbildenden Territorialstaat. Staat und staatliche Herrschaftsgewalt lösten ___________ 17 Vgl. vor allem J. Henkel, Wahlrecht für Deutsche im Ausland, AöR 99 (1974), S. 1 ff.; G. Lübbe(-Wolff), Überlegungen zur Erweiterung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche, insbesondere Grenzpendler, ZParl 8 (1977), S. 435 ff.; D. Blumenwitz, Wahlrecht für Deutsche in Polen?, 1999, S. 41 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 10 II 3, S. 304 (mit Fn. 95); H. Meyer, Wahlgrundsätze Wahlverfahren Wahlprüfung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. III, 2005, § 46 Rn. 5; M. Breuer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Wahlrecht der Auslandsdeutschen, 2011, S. 83 ff., insb. 134 ff.; aus der Kommentarliteratur: M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 38 Rn. 70; H.-H. Trute, in: I. v. Münch/Philip Kunig, GG, Bd. II, 2012, Art. 38 Rn. 23; S. Magiera, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 38 Rn. 82 mit Fn. 265; P. Badura, in: R. Dolzer u.a. (Hrsg.), Bonner Komm. zum Grundgesetz, Anh. z. Art. 38: BWahlG (Stand: 2007), Rn. 39 f.; W. Schreiber (K.-L. Strelen), Bundeswahlgesetz, 9. Aufl. 2013, § 12 Rn. 4, Rn. 22 ff. 18 So BVerfGE 36, 139 (142); 58, 202 (205); BVerfG Kammer, NJW 1991, 689 (690).
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sich von ihrem alten, zweiseitig-personalen Gepräge aus einer Vielfalt von Angehörigkeits- und Untertanbeziehungen, für die die Ansässigkeit (auf konkretem Grund und Boden) nur eine unter anderen Anknüpfungspunkten darstellte. Die zuvor in der Person des Herrschers verkörperte Herrschaftseinheit wurde zu einer gebietlich radizierten Einheit; die Herrschaftsgewalt erhielt ein Territorium zur Voraussetzung ihres Tatbestandes. Der Begriff vom Staat als Personalkörperschaft wurde überlagert von dem der Gebietskörperschaft mit der Folge, dass der staatliche Personalverband seither nur als ein mit einem bestimmten Territorium verbundener Verband aufscheint.19 ___________ 19
Die in der heutigen Rechtswissenschaft unternommene Unterscheidung zwischen Gebiets- und Personalhoheit übersieht zuweilen, dass das neuzeitliche Territorialkonzept der Herrschaft deren Begriff als Hoheitsgewalt über Personen weder ersetzt noch diesem irgendwie selbständig zur Seite tritt, sondern ihn – buchstäblich grundlegend – verändert. Die Herrschaft über eine Person rührt nicht mehr aus einem zweiseitigen Verhältnis, das (unter anderem) auf der Zuordnung dieser konkreten Person zu einem konkreten Grund und Boden beruht, der nach alten Patrimonial- und Feudalvorstellungen in einer Art Privateigentum des Landesherrn (oder des als juristische Person konstruierten Staates) steht. Sondern sie knüpft daran, dass die der Herrschaft unterworfene Person zu all den Personen gehört, die auf dem Staatsterritorium anwesend sind. Es ist diese gebietliche Zugehörigkeit, die zum Kriterium der Herrschaft wird. Daraus folgte in früheren völkerrechtlichen Lehren eine Verabsolutierung des Territorialkonzepts, für die auch die Reichweite der Staatsgewalt an den kartographischen Grenzen des Territoriums endete (vgl. auch F. Becker, Gebiets- und Personalhoheit des Staates, in: J. Isensee/P. Kirchhof, (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. XI, 2013, § 230 Rn. 84). Demgegenüber dient die heutige begriffliche Lösung der Personal- von der Gebietshoheit dazu, die Erstreckung der Staatsgewalt auch auf diejenigen Personen zu begründen, die kraft der statusrechtlichen Staatsangehörigkeit diesem Staat zugehören, sich aber nicht auf dessen Gebiet, sondern auf dem eines anderen Staates befinden. Doch diese Rechtsbegriffsentwicklung läuft Gefahr, staatliche Herrschaft überhaupt nurmehr als personal bestimmte Herrschaft wahrzunehmen, hingegen „deren“ Raum lediglich als katasterartig vermessene Fläche, als bloßen Herrschaftsbezirk oder Zuständigkeitsbereich, insgesamt als reflexhaftes „Objekt“ (wie noch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1913, Nachdruck 1960, S. 394 ff., 401) zu erkennen, in dem sich die staatliche Betätigung ereignet bzw. ereignen darf. Vgl. gegen die Vorstellung eines derart positivistisch-formalisierten, „leeren Raums“ und „leeren Staatsgebietsbegriffs“ das für die 4. Auflage 1941 neu eingefügte Schlusskapitel von C. Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, 3. unveränd. Aufl. 1990, S. 74 ff., das demgegenüber den „Zusammenhang von konkreter Ordnung und Ortung“ (Hervorh.i.O.), m.a.W. den wesenhaften Orts- oder Gebietsbezug der staatlichen wie jeder konkreten Gemeinschaftsordnung betont (differenziert zu der daran anknüpfenden, aber wegen der mutmaßlichen Nähe zur nationalsozialistischen Lebensraumideologie diskreditierten völkerrechtlichen Großraumtheorie Schmitts s. H. Dreier, Wirtschaftsraum – Großraum – Lebensraum. Facetten eines belasteten Begriffs, in: Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, hrsg. von dems. u.a, 2002, S. 47 ff., 66 ff.). Vgl. auch prägnant W. Graf Vitzthum, Staatsgebiet, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. II, 2004, §18 Rn. 1: Staatsgebiet als „Wesensmerkmal des Staates…; die Aussage, der Staat habe ein Staatsgebiet, ist daher ungenau“; ders., Der Staat der Staatengemeinschaft, 2006, S. 21: „in der gegenseitigen Vermittlung von Gebiets- und Personalhoheit, besitzt das Gebiet zugleich nahezu Subjektstellung“ (Hervorh.i.O.). Dass diese Hinweise die gehörige Distanz halten zu der überwundenen sachenrechtlichen Deutung der staatlichen Gebietsherrschaft, versteht
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Die Entwicklung ist so oft und gründlich nachgezeichnet worden,20 dass sie hier keiner weiteren Vertiefung bedarf. Wichtig ist, die Erkenntnis festzuhalten, die sie hervorbringt: Die drei Elemente Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk, deren schiere, gleichzeitige Faktizität für die Völkerrechtsgemeinschaft von heute die Existenz des Vierten: eines Staates anzeigt,21 stehen in einem Sinnzusammenhang, der sich durch den Bezug auf eines von ihnen herstellt: das Staatsgebiet. So gewisslich also gilt: „Ohne Staatsgebiet kein Staat“,22 so fraglos wird dies im Mitbewusstsein davon begleitet, dass es das Staatsgebiet ist, das den existentiellen Raum der beiden anderen, von Staatsvolk und Staatsgewalt, konstituiert. Der Staat zeigt sich in seiner Herrschaftsgewalt über ein Staatsvolk auf einem bestimmten Gebiet. Dieser Zusammenhang ist bis heute derart robust und stabil, dass er sich an den Phänomenen grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen und Handlungsauswirkungen nicht nur nicht stört, sondern diese mit den Instrumentarien und nach den Maßgaben des nationalen wie des internationalen Rechts weitgehend störungsfrei abarbeitet, teils sogar ausdrücklich garantiert und befördert.23 Dass Mitglieder des einen Staatsvolkes auf dem Gebiet eines anderen Staates leben und/oder dort sonst Regelungssachverhalte verursachen, trifft in der Völkergemeinschaft auf konsentierte Umgangsroutinen, die das territorialbezogene Staatsdenken weder durchbrechen noch auch nur angreifen. Dazu gehören ___________ sich von selbst (vgl. auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, S. 68 f.). Gegen ein formalrechtlich verengtes Verständnis der Staatselementelehre und damit des „Staatsgebiets“ auch der Ansatz der kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre von P. Häberle: Im Verfassungsstaat ist das Staatsgebiet „Grundlage seiner kulturellen Identität und geschichtlichen Identität“, ist nicht „Staatselement“, sondern „Verfassungswert“, s. ders., Das Staatsgebiet als Problem der Verfassungslehre, in: A. Ricklin (Hrsg.), Kleinstaat und Menschenrecht. FG für G. Batliner, 1993, S. 397 ff. (399 ff.), sowie in: Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, 2013, S. 47 ff. 20 Vgl. statt vieler R. Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973; H. Boldt/ W. Conze/G. Haverkate/D. Klippel/R. Koselleck, Staat und Souveränität, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VI, 1990, Studienausgabe 2004, S. 1 ff.; M. Kriele (Fn. 19), S. 68 ff.; F. Becker (Fn. 19), § 230 Rn. 5 f. 21 Zurückgehend auf G. Jellinek (Fn. 19), S. 394 ff.; vgl. statt vieler K. Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, § 2 I Rn. 49 f.; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht 2004, § 5 Rn. 2; M. Herdegen, Völkerrecht, 13. Aufl. 2014, § 8 Rn. 3; B. Kempen/C. Hillgruber, Völkerrecht, 2007, § 4 Rn. 2 ff.; A. von Arnauld, Völkerrecht, 2012, § 2 Rn. 70. Die umstrittene Frage, ob die Staatswerdung darüber hinaus die Anerkennung durch etablierte Staaten voraussetzt, ist hier ohne Belang. 22 W. Graf Vitzthum (Fn. 19), § 18 Rn. 1 (m.w.N.); B. Kempen, Staat und Raum, Ms. 2012, S. 4; zu Staat und Staatsgebiet s. ferner F. Becker (Fn. 20), § 230 Rn. 1 ff. 5 f.; K. Vogel, Staatsgebiet, in: EvStL, 3. Aufl. 1987, Sp. 3394 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 87 ff.; G. Jellinek (Fn. 21), S. 394 ff. 23 Vgl. näherhin statt vieler F. Becker (Fn. 20), § 230 Rn. 13 ff., 83 ff.; C. Walter, Anwendung deutschen Rechts im Ausland und fremden Rechts in Deutschland, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. XI, 2013, § 237.
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längst die gebietliche Ausdehnung der staatlichen Regelungsgewalt auf Sachverhalte in anderen Staaten oder staatsfreien Räumen (Inländersachverhalte im Ausland) ebenso wie deren personale Erstreckung auf Angehörige eines anderen Staatsvolkes oder Staatenlose (Inlandssachverhalte von Ausländern). Insoweit zeigt sich zwar die Deckungssuche von staatlicher Gebiets- und Personalhoheit partiell gelockert. Doch Anknüpfungspunkt dieser Ausweitungen bleibt letztlich immer, selbst im Falle einer höchst fortgeschrittenen Staatenintegration wie die der Europäischen Union24, der Territorialzusammenhang des Staates mit „seinem“ Staatsgebiet und „seinem“ Staatsvolk. Erst dieser gibt die Basis, von der aus jene gebietliche Ausdehnung der Personalhoheit und jene personale Erweiterung der Gebietshoheit in Betracht kommen.25 3. Kein wesensprägender Territorialbezug der Zugehörigkeit zum Staats- und Wahlvolk Doch so leistungsfähig und funktionssichernd die territoriale Codierung der Staatlichkeit ist und so evident sie die Rechtswirklichkeit der gegliederten Staatenwelt prägt, so sehr wird sie im Inneren des Staates von empfindlichen Differenzierungen bedrängt, sobald es nicht um den Herrschaftsaspekt der Staatsgewalt geht, sondern um dessen Herkunftslegitimation. Beides gilt es zu unterscheiden: Soeben war – infolge der historischen Wandlung der Herrschaftsverbände von Personal- zu Gebietskörperschaften – die Hoheit über ein Staatsgebiet als konstitutive Bedingung und wesenhaftes Element der Staatsgewalt, ihrer Souveränität und Reichweite über ein Staatsvolk herausgestellt worden. Doch lässt sich ein ebensolcher Territorialbezug zur Begründung der Inhaberschaft der Staatsgewalt nicht aufweisen. So beruft der demokratisch verfasste Staat im Gefolge der Idee der Volkssouveränität allein und exklusiv das Volk zur Innehabung und Ausübung der staatlichen Herrschaftsgewalt. Aber für die Frage, wer und wer nicht zum (Wahl-)Volk der staatlichen Demokratie gehört, wer also an der Trägerschaft der Staatsgewalt teilhat und wer nicht, fungiert in der modernen Staats- und Völkerrechtslehre nicht das Territorium des Staates, mithin weder Wohnsitz noch Aufenthaltnahme im Inland, als das wesensprägende Kriterium. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk definieren die Staaten vielmehr (in souveräner Bestimmungsmacht) über den Statusakt der Staatsangehörigkeit.26 ___________ 24 Die Europäische Union hat kein eigenes Hoheitsgebiet und keine eigene Gebietshoheit: F. Becker (Fn. 19), § 230 Rn. 70 ff.; BVerfGE 123, 267 (402 f.). 25 Vgl. auch F. Becker (Fn. 20), § 230 Rn. 111 ff.; B. Kempen (Fn. 22), S. 8. 26 Auch die so genannten Statusdeutschen nach Art. 116 Abs. 1 GG gelten völkerrechtlich als deutsche Staatsangehörige; vgl. R. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. I, 2003, § 16 Rn. 38 f.;
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Dabei knüpfen die vom Staatsrecht gesetzten Bedingungen und Kriterien, nach denen sich der Erwerb der Staatsangehörigkeit bestimmt, notwendig an vorrechtliche und vorstaatliche Faktoren an, die eine Menge von Menschen zur politischen Gemeinschaft („Nation“) zusammenführt, und diese Faktoren können sich im Laufe der Zeit auch wandeln.27 Indem hier das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, wie manch andere Staaten auch, dem Prinzip des „ius sanguinis“ folgt, trennt es die Zugehörigkeit zum Staatsvolk, von dem alle Staatsgewalt auszugehen hat (Art. 20 Abs. 2 GG), offenkundig von jeder wesenhaften Verortung im oder auf dem Gebiet des Staates. Doch selbst dann, wenn ein Staatsangehörigkeitsrecht vom Prinzip des „ius soli“ durchdrungen wird, ist es lediglich der in der Regel leichthin verifizierbare Ort des singulären und definitiven Ereignisses der Geburt, der eine territoriale Radizierung der Staatsangehörigkeit herstellt. Eine weitere, d.h. darüber hinaus gehende, kategoriale Anknüpfung der Staatsangehörigkeit an ein Territorialprinzip im Sinne einer Abhängigkeit von der Ansässigkeit im Staatsgebiet verbindet sich damit nicht. Nichts anderes ergibt sich im Grunde für die Frage nach der Innehabung der im demokratischen Staat verfassungsrechtlich vermittelten und verbürgten Staatsbürgerrechte. Zu diesen gehört zumal das Wahlrecht, also die Berechtigung, im Vorgang der Wahl an der Kundgabe des Volkswillens mitzuwirken, der der Staatsgewalt unmittelbar ihre (wiederkehrende) Grundlegitimation aus der Hand des Staatsvolks zuführt. Regelmäßig aber folgt dieses Recht der Aktivbürgerschaft dem Status der Staatsangehörigkeit nach.28 Ebenso wenig wie diese bestimmt sich daher auch die Zugehörigkeit zu den Wahlberechtigten ihrem Wesen nach in Abhängigkeit von einer Ansässigkeit im Staatsgebiet. a) Gebietszugehörigkeit statt Staatsangehörigkeit? Die vorstehende Erkenntnis trifft freilich auf jenen wiederkehrenden Einwand, der die Idee der Demokratie – ebenso wie ihren psychopolitischen Sinn – darin erkennt, dass die staatliche Herrschaft ihre Legitimation allein aus dem Willen derjenigen beziehen kann, die ihr unterworfen sind (denn: „volenti non fit iniuria“). So aber die Staatsgewalt das Kriterium ihrer Herrschaft über ein ___________ E. Klein, Status des deutschen Volkszugehörigen und Minderheiten im Ausland, in: ebd., Bd. X, 2012, § 212. 27 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (1995), in: ders., Staat Nation Europa, 2. Aufl. 2000, S. 34 ff. (54). 28 Vgl. R. Grawert (Fn. 26), § 16 Rn. 56 ff. Dieser „Zuwachs“ macht deutlich, dass Wahlvolk und Staatsvolk systematisch zu unterscheiden sind. Das Wahlvolk ist nicht das Staatsvolk, sondern repräsentiert dieses. Das Handeln des Staates wird diesem zugerechnet, nicht jenem. – Zur Frage eines Wahlrechts für Ausländer aus Herrschaftsbetroffenheit s. sogleich.
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Volk, wie aufgezeigt, in der (ontologischen Ordnungs-)Voraussetzung und der (völkerrechtlichen Grenz-)Zuordnung eines Territoriums findet, nimmt diese Demokratietheorie der Herrschaftsbetroffenheit offenbar den (Um-)Weg über die staatliche Gebietshoheit, um alle im Staatsgebiet aktuell Ansässigen – einschließlich derer, die nicht zum Volk der Staatsangehörigen zählen – zum Inhaber der Staatsgewalt zu erheben. Doch der Weg ist versperrt. Im Staatsverband der Demokratie konstituiert nicht die Betroffenheit von staatlicher Herrschaft, sondern die Zugehörigkeit zum staatlichen Verband das Subjekt der demokratischen Legitimation. Diese Differenz zwischen Staatsangehörigen und Gebietszugehörigen, zwischen dem Volk der Demokratie und der Gesellschaft des Gemeinwesens gehört zum unhintergehbaren Befund des staatsrechtlichen Demokratiebegriffs.29 Die Vorstellung von politischer Freiheit, die die staatliche Demokratie trägt und verwirklicht, ist daher nicht die, dass die Staatsgewalt aus dem freien Willen all derer hervorgeht, die ihr kraft der Gebietshoheit des Staates unterworfen sind. Der widersprechende Einwand offenbart den ganzen Irrtum der verbreiteten freiheitsideologischen Herleitung des demokratischen Teilhaberechts.30 Dass wir uns selbst beherrschen wollen, wenn wir schon beherrscht werden müssen;31 dass wir also die Herrschaftsgewalt des Staates, wenn wir sie schon brauchen – weil nur durch sie die gleiche Freiheit eines jeden von uns (vor der Willkür des anderen) gesichert werden kann –, wenigstens selbst in Händen halten wollen: diese Idee der Demokratie aus praktischer Vernunft kann nicht zugleich, will sie folgerichtig bleiben, in der normativen Vorstellung der Freiheitsverwirklichung gründen – also darin, dass wir just von dieser Ordnungsgewalt des Staates, die ihre grundlegende Rechtfertigung in der Sicherung unser aller Freiheit findet, in (vermeintlich) freiheitswidriger Weise fremdbestimmt werden und wir sie daher, wiederum zum Zwecke der Verwirklichung
___________ 29 Vgl. J. Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 15 Rn. 154 ff.; ders., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: ebd., Bd. IV, 2006, § 71 Rn. 105 ff.; H.-D. Horn, Erosion demokratischer Öffentlichkeit?, VVDStRL 68 (2009), S. 413 ff. (435 f.) m.w.N; BVerfGE 83, 37 (50 ff.). 30 Vgl. zuletzt mit der Amtsgewalt bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur: BVerfGE 123, 267 (341): „Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert“; sodann auch BVerfGE 129, 124 (169). Aus der Lit.: P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 22 Rn. 67; auch in: Der kooperative Verfassungsstaat (Fn. 19), S. 336 ff.; dem folgend H.-H. Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: W. HofmannRiem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 6 Rn. 19. 31 Vgl. H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, 2. Neudruck 1981, S. 4.
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unser aller Freiheit, unserer Selbstbestimmung unterwerfen müssen.32 Der der Freiheit von allen und jedem verpflichtete (Rechts-)Staat versetzt den (Rechts-) Unterworfenen nicht in den Status eines (Rechts-)Objekts, gegen den sich das Bewusstsein von Freiheit und Würde auflehnt. Demokratie ist daher auch keine menschenrechtlich gebotene Veranstaltung. Demokratie ist schlicht ein Projekt politischer Klugheit und Kultur – herrührend aus einer politischen Entscheidung, die der staatliche Personenverband, das Volk, in voller Souveränität getroffen hat, als es den Staat im Vorgang der Verfassungsgebung in seiner rechtlichen Grundordnung eingerichtet hat. Ihre politische Leistung liegt darin, den Verbandsmitgliedern in ihrer kollektiven Gesamtheit das Recht zu geben, was jedem einzelnen von ihnen im Status der Rechtsunterworfenheit verwehrt ist: nämlich zu herrschen, mithin die zwingende Macht zu haben, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen die eigene Freiheitsausübung vom anderen und umgekehrt zu dulden ist. Die politische Freiheit, die die Demokratie verwirklicht, ist daher das in die Rationalität der staatlichen Ordnung integrierte, natürlich verbleibende Streben eines jeden, unter dieser Ordnung auf diese selbst, also auf die Realisierungsbedingungen seiner individuellen Freiheit Einfluss zu nehmen, und die Anerkennung dieses Strebens als ein für jeden gleiches Recht, gemeinschaftlich mit allen anderen den dafür maßgeblichen, politischen Willen auszubilden. In dieser Weise aber ist die demokratische Staatsform per se auf den bürgerlichen Staatsverband bezogen, der sie – und für sich – etabliert hat. Die Inklusion, die sie leistet, umfasst nicht alle Gebietszugehörigen („Bevölkerung“), sondern ist auf die Staatsangehörigen beschränkt („Herrschaft durch das Volk“).33 Der Unterschied wird sinnfällig in der Stellung des ausländischen Mitbürgers. Dieser hat wohl Anteil an der Ausrichtung des staatlichen Handelns auf das gemeine Wohl, aber er nimmt nicht teil an der Grund- im Sinne von Herkunftslegitimation der Staatsgewalt. Die Rechtfertigung dafür liegt darin, dass der bloß Gebietszugehörige von sich aus und einseitig seine staatspolitische Beziehung jederzeit und allein dadurch aufheben kann, dass er seine Ansässigkeit im Staatsgebiet beendet.34 Das Legitimationsprogramm der Demo___________ 32
Zum Folgenden s. die eingehende Auseinandersetzung bei H.-D. Horn, Demokratie, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 743 ff. (763 ff., 767 ff.). 33 Zur Differenz von Volk und Gesellschaft als Differenz zwischen dem Subjekt (demokratische Input-Legitimation) und dem Objekt (republikanische OutputLegitimation) der staatlichen Demokratie vgl. H.-D. Horn (Fn. 32), S. 753 f., sowie Nachw. oben Fn. 29. 34 Zur Beschränkung des demokratischen Wahlrechts nach Art. 38 Abs. 1, 2 GG auf das Volk der Deutschen im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG vgl. BVerfGE 47, 253 (272); 83, 37 (50 ff.); J. Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1974), S. 49 ff. (91 ff.); ders. (Fn. 29) § 15 Rn. 121. Die Ausnahme des Kommunalwahlrechts für EU-Ausländer in Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG
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kratie aber bürgt für die politische Kontinuität der Staatlichkeit und überlässt daher die Staatsgewalt nicht der flukturierenden Gesellschaft, sondern legt sie in die Hände des Volkes der Staatsangehörigen.35 Diese demokratische Differenz birgt freilich realpolitische Brisanz, und dies umso mehr, je größer die Zahl der nicht staatsangehörigen Gebietsanwesenden tatsächlich wird. Doch der Weg, dem zu begegnen, führt nicht über das Wahl-, sondern über das Staatsangehörigkeitsrecht.36 b) Staatsangehörigkeit plus Gebietszugehörigkeit? Die demokratische Differenz von Volk und Bevölkerung und der damit verbundene Problemkreis eines Ausländerwahlrechts scheint auf den ersten Blick ebenso die hier im Mittelpunkt stehende Frage zu belasten, wie es um diejenigen Staatsangehörigen bestellt ist, die nicht im Inland ansässig, also nicht gebietszugehörig sind. Doch liegen die Dinge hier umgekehrt. Ihr Ausschluss aus dem Kreis der Wahlberechtigten würde das staatsangehörigkeitsrechtliche Ordnungssystem des Wahlrechts nicht sichern, sondern gerade durchbrechen. Zwar gibt die Staatsangehörigkeit keinen individuellen Anspruch auf die Einräumung der Wahlberechtigung. Die Verweigerung des Wahlrechts für den im Ausland ansässigen Staatsangehörigen bedeutete jedoch, die – wie auch immer zeitlich qualifizierte – Gebietszugehörigkeit zur kumulativen und damit ebenso zur konstitutiven Voraussetzung der Wahlberechtigung zu erheben. Das Staatsvolk sähe sich aufgrund dessen im Hinblick auf seine wichtigste Funktion, die Legitimation der Staatsgewalt zu bewirken, in zwei Klassen geteilt: in die wahlberechtigten (inlandsansässigen) und die nicht wahlberechtigten (auslandsansässigen) Staatsangehörigen. Hier also ist der Punkt, an dem sich jene vorerwähnte, „traditionelle“ Vorstellung von der Inlandsbindung des Wahl___________ ist Folge des vorrangigen Rechts aus der Unionsbürgerschaft gemäß Art. 22 AEUV (s. oben Fn. 5). 35 Vgl. zum Vermögen des Staatsvolkes zur politischen Kontinuität als Grund seiner demokratischen Souveränität G. Roellecke, Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität, in: D. Murswiek (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung, FS für H. Quaritsch, 2000, S. 15 ff. 36 Hier sind dem Gesetzgeber freilich von Verfassungs wegen letzte Grenzen gesetzt. Eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, das die von den bislang bestimmenden Faktoren geprägte Identität des Staatsvolkes verändert, unterliegt dem Vorbehalt der verfassunggebenden Gewalt des (bisherigen) Volkes. Vom Willen der Rechtssetzungsgewalt des vom verfassten Volk gewählten Gesetzgebers wäre dies nicht mehr legitimierbar. Die Demokratie schafft sich nicht das Volk, sondern setzt es voraus. Die Identität des deutschen Staatsvolkes nimmt daher auch teil an jenen Grundlagen und Grundsätzen der verfassungsstaatlichen Demokratie, die selbst einer Verfassungsänderung entzogen sind (Art. 79 Abs. 3 GG); näher H.-D. Horn (Fn. 32), S. 772 f.
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rechts37 als maßgeblicher Differenzierungsgrund zwar geltend macht, sogleich aber auch auf den Prüfstand gelangt. Die Tradition jedoch beschreibt keinen endgültigen Zustand. Sie unterliegt wie die Vorstellung vom Staat den beständigen Wandlungen der Geschichte. Wie die zukünftige Entwicklung verlaufen wird, lässt sich kaum verlässlich vorhersagen. In Anbetracht der Dynamik, die das Zusammenwachsen der Völker in den Vorgängen der Globalisierung entfaltet, wird jedoch die Zuordnung bzw. das Auseinandertreten von Staatsvolk und Staatsgebiet ein Gestaltfaktor sein, der die nächsten Evolutionsstufen der Staatlichkeit bestimmen wird. Das Staatsrecht der Staatsangehörigkeit hat diese Emanzipation vom Territorialbezug schon längst abgebildet. Die Frage ist, ob und inwieweit auch das Staatsrecht der Demokratie diese Entwicklung aufnimmt und der grenzüberschreitenden Freizügigkeit Rechnung trägt, die das nationale wie internationale Recht garantiert und die Wirklichkeit mehr und mehr prägt. Die überkommene Vorstellung indessen, dass das demokratische Wahlvolk notwendig seinen Wohnsitz im Inland habe, vermag das Phänomen einer zunehmenden Abwanderung des Staatsvolks in andere Staatsgebiete nicht mehr zu verarbeiten. Die weitere Entzweiung von Staatsvolk und Staatsgebiet ist für die Staatsform der Demokratie kein beiläufiges Thema von heute, sondern auf Sicht eine fundamentale Herausforderung.
III. Die historische Entwicklung 1. Aktives Wahlrecht In der deutschen Demokratiegeschichte hat die grundsätzliche Inlandsbindung des (aktiven) Wahlrechts jedoch in der Tat eine lange Tradition. An diese hatte 1949 auch das Bundeswahlgesetz (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 BWG vom 15. Juni 194938) angeknüpft und sie seither – ungeachtet mancher terminologischer Änderungen – im Grundsatz bis in die Gegenwart beibehalten (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BWG). Die Linie reicht mindestens zurück bis zu dem noch von der Nationalversammlung der Paulskirche angenommenen Reichswahlgesetz von 1849,39 ___________ 37
Siehe oben, bei Fn. 18. BGBl. I S. 21. 39 § 11 Abs. 1 Satz 1 des Reichsgesetzes über Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause (Frankfurter RWahlG 1849), verkündet am 12.4.1849 im RGBl. S. 79; abgedr. bei E. R. Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl. 1978, Nr. 108a. – Auf einen wichtigen, für die weitere Analyse der rechtsgeschichtlichen Entwicklung womöglich äußerst bedeutsamen (Wende-)Punkt im Vergleich zu vorkonstitutionellen Epochen macht allerdings M. Breuer (Fn. 17), S. 30 (m.w.N. aus den Stenographischen Berichten der Verhandlungen in der Paulskirche), aufmerksam: Nach dem RWahlG 1849 war nicht die Wahlberechtigung selbst von einer (materiellen) Voraus38
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zieht sich weiter über das preußische Wahlrecht,40 über das von den Staaten des Norddeutschen Bundes 1866 zunächst gleichlautend in Kraft gesetzte41 Reichswahlgesetz von 1849 und dem sodann erlassenen Reichswahlgesetz von 1869,42 setzt sich mit dessen Übernahme im Deutschen Reich ab 1871 fort43 und reicht schließlich bis zum Reichstagswahlrecht der Weimarer Republik44. Dass damit kehrseitig nicht-ansässigen Preußen bzw. Deutschen die Wahlteilnahme verwehrt blieb, war derart selbstverständlich und, soweit zu sehen, auch unbestritten, dass der Gesetzgeber erstmals im Reichswahlgesetz von 1920 eine singuläre Ausnahme für Staatsbeamte und Arbeiter in Staatsbetrieben (nebst deren Hausstandsangehörige), die ihren Wohnsitz im Ausland nahe der Reichsgrenze hatten, zuließ.45 Die weitere Geschichte unter dem Grundgesetz46 ist dann von einer sukzessiven Ausdehnung dieser Ausnahmeregelung geprägt.47 Das Bundeswahlgesetz von 1953 erstreckte das Wahlrecht auf Deutsche (nebst Hausstandsangehörige), die aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses auf Anordnung ihres Dienstherrn ihren Wohnsitz im grenznahen Ausland genommen hat___________ setzung des Inlandswohnsitzes abhängig, sondern allein ihre Ausübung (formell) von der Eintragung in eine Wählerliste in der Wohnsitzgemeinde; erklärtes Ziel war es vor allem, Durchreisende an der Wahlteilnahme zu hindern. 40 Art. 70, 72 der revidierten Preußischen Verfassung vom 31.1.1850 (Pr.GS S. 17, abgedr. bei E. R. Huber, Fn. 39, Nr. 194) i.V.m. Art. 2 des (fortgeltenden) Preußischen Wahlgesetzes für die Zweite Kammer vom 6.12.1848 (Pr.GS S. 399, abgedr. ebd., Nr. 191); insoweit inhaltsgleich auch die (legalisierte und daher daneben ebenfalls fortgeltende) Königliche Verordnung betreffend die Ausführung der Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer vom 30.5.1849 (Pr.GS S. 205, abgedr. ebd., Nr. 193). 41 Vgl. § 20 Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16.4.1867, BGBl. S. 2; abgedr. bei E. R. Huber (Fn. 39), Bd. II, 3. Aufl. 1986, Nr. 198; dazu auch ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl. 1988, S. 646. 42 §§ 1, 7 des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31.5.1869, BGBl. S. 145; abgedr. bei E. R. Huber, Dokumente (Fn. 41), Nr. 209. 43 § 2 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871 (Publikationsgesetz), RGBl. S. 63, abgedr. bei E. R. Huber (Fn. 41), Nr. 261. 44 §§ 1 Abs. 1, 3, 11, 12 RWahlG vom 27.4.1920 (RGBl. S. 627), ebenso i.d.F. vom 6.3.1924 (RGBl. I S. 159). Auch hier (wie im RWahlG 1849, vgl. Fn. 39) ergibt sich die Inlandsbindung des Wahlrechts allerdings nur aus der formalen Voraussetzung des Eintrags in eine Wählerliste oder Wählerkartei im Wahlbezirk des Wohnsitzes. 45 § 11 Abs. 2 RWahlG 1920, insoweit gleichlautend i.d.F. vom 6.3.1924. Gemeint waren damit namentlich deutsche Bahnbeamte und -arbeiter in ausländischen Eisenbahngrenzorten, vgl. M. Breuer (Fn. 17), S. 49 m.N. 46 Seit § 1 Abs. 1 Nr. 3 BWG vom 15.7.1949 (BGBl. S. 21) ist die Notwendigkeit, am Wahltag mindestens drei Monate im Bundesgebiet ansässig zu sein oder Aufenthalt zu haben, als grundsätzliche materielle Bedingung für die Berechtigung zur Wahlteilnahme (nicht nur als formale Wahlausübungsvoraussetzung) im Bundestagswahlrecht festgeschrieben. 47 Vgl. auch BVerfG (Fn. 10), Rn. 11.
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ten.48 Mit dem Änderungsgesetz 1985 wurde diese Ausnahme sodann auf im Ausland lebende Deutsche ausgedehnt, die vor ihrem Fortzug für mindestens drei Monate in Deutschland ununterbrochen eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten hatten, wenn der Fortzug nicht länger als zehn Jahre zurücklag; für Deutsche, die in einem der übrigen Mitgliedstaaten des Europarats lebten, entfiel diese Fortzugsfrist.49 Mit einer weiteren Änderung des Bundeswahlgesetzes wurde diese Fortzugsfrist für Deutsche außerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats auf 25 Jahre verlängert.50 Den vorläufigen Höhepunkt dieser stetigen Lockerung bildete im Jahre 2008 der gesetzgeberische Verzicht sowohl auf eine Fortzugsfrist als auch auf eine Differenzierung zwischen Auslandsdeutschen in Staatsgebieten innerhalb und außerhalb des Europarats;51 es blieb allein das bis zuletzt (2013) geltende Erfordernis eines mindestens dreimonatigen Inlandswohnsitzes zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem Fortzug.52 Eine weitergehende Ausnahme scheint auch kaum mehr denkbar, ohne dass nicht zugleich der wahlgesetzliche Grundsatz des Wohnsitzgebots im Inland (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BWG) jeden Eigensinn verlieren würde.53 2. Passives Wahlrecht Interessant, geradezu erstaunlich nimmt sich demgegenüber die Regelungsgeschichte des passiven Wahlrechts aus. Denn anders als die Wahlberechtigung unterliegt die Wählbarkeit eines deutschen Staatsbürgers zum Deutschen Bundestag nach dem geltenden Recht keinerlei Inlandsbindung (§ 15 BWG). Auch dies kann auf eine lange Tradition verweisen. Weder das Frankfurter Reichswahlgesetz von 184954 noch das preußische Wahlrecht55, ebenso wenig die im ___________ 48
§ 1 Abs. 3 BWG v. 4.7.1953, BGBl. I S. 470. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 BWG, Art. 1 Nr. 3 lit. a) des Siebten Gesetzes zur Änderung des BWG v. 8.3.1985, BGBl. I. S. 521. 50 § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BWG, Art. 1 des 14. Gesetzes zur Änderung des BWG v. 20.4.1998, BGBl. I S. 706. 51 § 12 Abs. 2 BWG, Art. 1 Nr. 4 lit. a) des Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts v. 17.3.2008, BGBl. I S. 394. 52 Die grundsätzliche Inlandsbindung nach dem Bundeswahlgesetz gilt kraft einer Verweisung auch für die Wahlberechtigung von Deutschen (entsprechend modifiziert für Auslandsdeutsche) und anderen Unionsbürgern zur Wahl des Europäischen Parlaments; vgl. § 6 Abs. 2, 3 EuWG. 53 Zur Neuregelung durch das 21. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27.4.2013, BGBl. I S. 962, s. unten, Ziff. V. 54 Vgl. § 5 RWahlG 1849 (Fn. 39). 55 Vgl. Art. 74 Preußische Verfassung 1850 (Fn. 40) i.V.m. Art. 8 Preußisches Wahlgesetz 1848 (Fn. 40); auch § 29 der Königlichen Wahlverordnung von 1949 (Fn. 40). 49
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Norddeutschen Bund56 und später im Kaiserreich57 geltenden Wahlgesetze kennen den Inlandswohnsitz als Voraussetzung dafür, in die Volksvertretungen (auf der Reichsebene) gewählt werden zu können. Lediglich mittelbar stellte sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine Wohnsitzbindung dadurch her, dass die jeweils zeitgleichen Regelungen zur Staatsangehörigkeit – ihrerseits Voraussetzung für das passive, nicht anders wie für das aktive Wahlrecht – noch teilweise dem ius soli-Prinzip Rechnung getragen hatten. Zwar galt das Prinzip zu keinem Zeitpunkt für den Tatbestand des Erwerbs. Wohl aber trat der Wegfall der Staatsangehörigkeit – und infolgedessen auch der Wählbarkeit – regelmäßig nach einem bestimmten, zumeist zehnjährigen Aufenthalt im Ausland ein.58 Indessen blieb die fehlende Territorialbindung des passiven Wahlrechts unverändert erhalten, nachdem sich das ius sanguinis-Prinzip mit dem Inkrafttreten des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 auch insofern durchgesetzt hatte und für den Verlust der Staatsangehörigkeit jeglicher Wohnsitzbezug entfallen war.59 Ebenso wie in den Vorgängergesetzen war das passive Wahlrecht auch im Weimarer Reichswahlrecht nicht an den Wohnsitz des Bewerbers im Inland gebunden.60 Die junge Bundesrepublik unterbricht diese Tradition nur für eine kurze Zeit. Von 1949 bis 1956 verlangte das Gesetz die Sesshaftigkeit im Inland nicht nur für den Wähler, sondern auch für den Wahlbewerber.61 Doch diese ___________ 56
Vgl. § 5 RWahlG 1849 (Fn. 39), § 4 RWahlG 1869 (Fn. 42). Vgl. § 4 RWahlG 1869 (Fn. 39), fortgeltend nach § 2 Abs. 2 Satz 1 des Publikationsgesetzes zur Reichsverfassung 1871 (Fn. 43). 58 Überblick bei M. Lichter/W. Hoffmann, Staatsangehörigkeitsrecht, 3. Aufl. 1966, S. 687 ff.; K. Hailbronner/G. Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, 4. Aufl. 2005, Grundlagen Rn. 7; eingehend R. Grawert (Fn. 20), S. 78 ff. Vgl. namentlich für Preußen §§ 2 Satz 1, 13, 15 Nrn. 2 und 3, 22, 23 des Untertanengesetzes vom 31.12.1842 (Pr.GS 1843, S. 15; abgedr. bei M. Lichter/W. Hoffmann, ebd. S. 719); sodann im Norddeutschen Bund und ab 1871 im Reich fortgeltend §§ 13 Nr. 3, 21 des Gesetzes über die Bundes- und Staatsangehörigkeit (BuStAG) vom 1.6.1870 (BGBl. S. 355; abgedr. bei E. R. Huber, Fn. 41, Nr. 213). 59 Vgl. § 25 RuStAG vom 22.7.1913 (RGBl. S. 583). 60 Vgl. § 4 RWahlG 1920; inhaltsgleich i.d.F. von 1924 (Fn. 44). Ebenso schon § 5 der Verordnung des Rates der Volksbeauftragten über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung (Reichswahlgesetz) vom 30.11.1918 (RGBl. S. 1345), auszugsweise abgedr. bei E. R. Huber (Fn. 39), Bd. IV, 3. Aufl. 1991, Nr. 43. Dazu auch BVerfGE 5, 2 (5). 61 Nach § 5 Abs. 1 lit a) u. b) BWG vom 15.6.1949 (BGBl. I S. 21) ebenso wie der insoweit gleichlautende § 5 Abs. 1 Nr. 1 u. 2 BWG vom 8.7.1953 (BGBl. I S. 470) war die Wählbarkeit eines Bewerbers neben der mindestens einjährig bestehenden deutschen Staatsangehörigkeit und der Vollendung des 25. Lebensjahres vom Besitz des aktiven Wahlrechts abhängig, das seinerseits nach § 1 BWG den mindestens dreimonatigen Inlandswohnsitz am Wahltag voraussetzte. Diese Wählbarkeitsvoraussetzung musste zudem nicht nur am Wahltag, sondern für die gesamte Dauer der Wahlperiode gegeben sein; vgl. BVerfGE 5, 2 (7). 57
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Regelung entsprang ausschließlich der Lage der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Verleihung des Wahlrechts an alle „Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG“ hätte auch die Deutschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in den Kreis der Wähler und Wählbaren mit einbezogen.62 Das hätte erhebliche Spannungen im deutsch-deutschen Verhältnis und möglicherweise die Gefahr gezielter Einflussnahmen seitens der DDR hervorrufen können.63 Die Deutschen jenseits der innerdeutschen Grenze sollten daher in gleicher Weise ausgeschlossen bleiben wie sonstige Auslandsdeutsche.64 Diese Einschränkung wurde erst 195665 mit der schlichten Begründung wieder aufgehoben: „Der Zweck der Regelung ist es, auch den außerhalb des Bundesgebietes wohnenden Deutschen eine Kandidatur zu ermöglichen“.66 An dieser Haltung des Gesetzgebers hat sich im Weiteren nichts geändert, so dass seither auch im Ausland lebende Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG, sofern sie auch die übrigen Wählbarkeitsvoraussetzungen erfüllen, zum Bundestag wählbar sind.67
IV. Die verfassungsrechtliche Lage 1. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Dass der Gesetzgeber demgegenüber für das aktive Wahlrecht an dem Erfordernis der Sesshaftigkeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bis heute festhält, ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Dem Grundgesetz ist keine Norm zu entnehmen, die eine solche Bedingung formuliert. Art. 38 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 GG knüpfen die Wahlberechtigung allein an die Voraussetzungen der – personenrechtlich durch die Staatsangehörigkeit hergestellten – Zugehörigkeit zum deutschen Volk und der Erreichung des Mindestwahlalters mit der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres. Alles ___________ 62
Zu deren Staatsangehörigkeit vgl. BVerfGE 36, 1 (30 f.). Insbesondere wurden Spionagetätigkeiten der DDR befürchtet; vgl. das Votum des Abg. Dr. Max Becker im Parlamentarischen Rat in der 5. Sitzung vom 29.9.1848 und der 16. Sitzung vom 13.12.1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948-1949, hrsg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, Bd. 6: Ausschuss für Wahlrechtsfragen, 1994, S. 132 und S. 452 f.; hierzu auch M. Breuer (Fn. 17), S. 60 f.; D. Blumenwitz (Fn. 17), S. 75; BVerfGE 5, 2 (6). 64 Die Wählbarkeit von Deutschen, die damals ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in West-Berlin hatten, regelte ausdrücklich § 5 Abs. 1 Satz 2 BWG 1953; zu den Hintergründen s. M. Breuer (Fn. 17), S. 61. 65 § 16 BWG vom 7.5.1956 (BGBl. I S. 383), heute § 15 BWG. 66 Bericht des Wahlrechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 14.3.1956, zu BT-Drs. 2/2206, S. 3, zu § 16 BWG. 67 Vgl. auch W. Schreiber (K.-L. Strelen) (Fn. 17), § 15 Rn. 2. 63
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Weitere überlässt die Verfassung der Regelung durch den Gesetzgeber (Art. 38 Abs. 3 GG). Das schließt die Befugnis ein, neben der schon verfassungsrechtlich festgelegten Altersgrenze noch weitere Regelungen über die Zulassung der Wahl zu treffen.68 Doch dispensiert das nicht von der Beachtung der Verfassung im Übrigen, hier vom Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG). Dieser verbürgt die (aktive und passive) Wahlberechtigung für alle Staatsbürger und verlangt daher bei der Zulassung zur (Bundestags-)Wahl deren strenge und formale Gleichheit bzw. Gleichbehandlung.69 Damit trifft die Regelung, die die Wahlberechtigung von der Voraussetzung eines Inlandswohnsitzes oder inländischen Aufenthaltes abhängig macht, eine verfassungsrechtlich höchst relevante Unterscheidung. Sie schließt diejenigen Deutschen aus, die am Wahltag im Ausland ansässig sind. Allerdings errichtet der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl kein absolutes Differenzierungsverbot. Dem Gesetzgeber verbleibt ein Regelungsspielraum. Doch dieser ist, infolge des streng formalen Charakters des Allgemeinheitsgrundsatzes, ein nur eng bemessener. Differenzierungen bei der Zuerkennung der (aktiven und passiven) Wahlberechtigung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, durch die Verfassung legitimierten Grundes, der von mindestens gleichem Gewicht ist wie die Allgemeinheit der Wahl.70 Unter dieser Maßgabe muss beides, das Ziel der Regelung und der Grundsatz der Allgemeinheit, zum Ausgleich gebracht werden. Das unterliegt der nachträglichen Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts, ist aber primär Sache des Gesetzgebers. Wie er seinen engen Spielraum ausfüllt, ist daher nur daraufhin überprüfbar, ob dessen Grenzen überschritten sind. Das Bundesverfassungsgericht stellt einen Verstoß gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nur fest, „wenn die Regelung zur Erreichung des Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet“.71 Unter Anlegung dieses Maßstabs erachtet das Gericht das (Unterscheidungs-)Kriterium der aktuellen Sesshaftigkeit im Bundesgebiet für die Zuerkennung des Wahlrechts in ständiger Rechtsprechung für verfassungsrechtlich zulässig.72 Die Literatur ist dem zwar nicht einhellig,73 aber doch überwiegend ___________ 68
Vgl. BVerfGE 132, 39 (47 f. Rn. 25). Vgl. BVerfGE 36, 139 (141); 58, 202 (205); 132, 39 (47 Rn. 24 m.w.N.); BVerfG NVwZ 2012, 33 (35). 70 Vgl. BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25 m.w.N.); std. Rspr. 71 BVerfGE 132, 39 (48 f. Rn. 27 m.w.N.). 72 BVerfGE 5, 2 (4 ff.); 36, 139 (141 ff.); 58, 202 (205 ff.); BVerfG Kammer, NJW 1991, 689 ff.; vgl. auch W. Schreiber (K.-L. Strelen) (Fn. 17), § 12 Rn. 4 (III.) m.w.N. 73 Kritisch u.a. D. Blumenwitz, H. Meyer, M. Breuer, H.-H. Trute, S. Magiera (jeweils Fn. 17). 69
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gefolgt.74 Auch die jüngste Entscheidung vom 4. Juli 2012 rüttelt daran nicht, sondern im Gegenteil: Sie beschäftigt sich zwar zentral mit der Ausnahmeregelung, die das Wahlrecht für Auslandsdeutsche allein an einen früheren Daueraufenthalt in Deutschland von mindestens drei Monaten geknüpft hatte, und verwirft diese nur deshalb, weil die von ihr bewirkte Differenzierung innerhalb der Gruppe der Auslandsdeutschen nicht durch einen zureichenden Grund gerechtfertigt sei.75 Aber im Zuge dessen wird die voraus liegende Grundregel, nach der das aktive Wahlrecht ganz grundsätzlich vom Inlandswohnsitz abhängig ist, durchaus angegangen und nachdrücklich bekräftigt. Überdies kommt hinzu: Erstens stand es für das Gericht offenbar außerhalb jeder Erwägung, dass diese Grundregel möglicherweise der Verfassung noch ferner liegen könnte als die von ihm verworfene Ausnahmeregelung; das Gericht hatte den Gesetzgeber nämlich keineswegs zu einer Neuregelung des Auslandsdeutschenwahlrechts verpflichtet.76 Zweitens war die – jetzt für nichtig erklärte – Ausnahmeregelung die in der Gesetzgebungsgeschichte77 am weitesten gehende; sämtliche vorangegangenen, weitaus restriktiver gefassten Ausnahmen hatten zuvor der verfassungsgerichtlichen Prüfung standgehalten.78 Und drittens legte es das Gericht dem Gesetzgeber in einem obiter dictum geradezu nahe, auf seine Entscheidung dadurch zu reagieren, dass er den Grundsatz der Sesshaftigkeit im Bundesgebiet wieder stärker profiliert, indem er in Anlehnung an die älteren Fassungen das Erfordernis eines früheren Inlandsaufenthalts für die Auslandsdeutschen um eine angemessene Fortzugsfrist ergänzt und außerdem mit einer Altersgrenze verbindet.79 Insgesamt: Die Inlandsbin___________ 74 Vgl. Nachw. in BVerfGE 132, 39 (64 ff. Rn. 64) – Sondervotum der Richterin G. Lübbe-Wolff. 75 BVerfGE 132, 39 (51 ff. Rn. 35 ff.); nicht diese Frage, sondern die vorausliegende Frage nach der Rechtfertigung des Grundsatzes der Inlandsbindung des Wahlrechts steht im Folgenden nicht im Vordergrund. 76 Vielmehr wird es ausdrücklich offen gelassen, ob „der vollständige oder teilweise Ausschluss der Auslandsdeutschen vom aktiven Wahlrecht… gerechtfertigt werden kann“, und zwar (scil.!) „unter Verweis auf Unterschiede hinsichtlich der Betroffenheit durch deutsche Hoheitsakte, das Fehlen einer Korrelation von Rechten und Pflichten oder potenzielle Interessen- oder Loyalitätskonflikte“. 77 Siehe oben, unter Ziff. III. 78 Vgl. Nachw. Fn. 11. Dazu erklärt das Gericht nunmehr (BVerfGE 132, 39, 50 Rn. 31), dass die Rechtfertigungsfähigkeit von Normen, die die Allgemeinheit der Wahl berühren, durch neue Entwicklungen in Frage gestellt und daher seine Aussagen zu früheren Ausgestaltungen der Wahlberechtigung von Auslandsdeutschen nicht ohne weiteres zur Beurteilung der aktuellen Rechtslage herangezogen werden könnten. 79 BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 47). Demgegenüber meint die Richterin G. Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum, dass der sukzessive Abbau der Wahlrechtsbeschränkungen für Auslandsdeutsche durch den Gesetzgeber gerade dem zunehmenden Plausibilitätsverlust zu begegnen suchte, dem die Anknüpfung des Wahlrechts an einen aktuell bestehenden oder nur wenige Jahre zurückliegenden Inlandswohnsitz infolge der modernen Entwicklung von Mobilität und Kommunikationstechnik ausgesetzt sei, und damit entsprechen-
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dung des aktiven Wahlrechts für die Bundestagswahl trifft nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auf keinerlei verfassungsrechtliche Einwände. 2. Der Inlandswohnsitz als geeignetes Mittel zu einem gleichrangigen Ziel? Auf eine nähere Auseinandersetzung der Begründung dafür hat man allerdings lange warten müssen. Das Verfassungsgericht widmete der (Grundsatz-) Frage, ob die Inlandsbindung des Wahlrechts nach seinen eigenen, vorgenannten Maßstäben überhaupt zu legitimieren sei, über lange Zeit keine vertiefte Aufmerksamkeit. Erst in einer Kammerentscheidung von 1990 legt sich das Gericht auf eine eigenständige Position fest. Auch damals hatte sich ein deutscher Staatsangehöriger, der niemals im Inland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten hatte, seinen Ausschluss vom Wahlrecht (nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWG) angegriffen. Doch ohne Erfolg. Das Gericht verneinte den geltend gemachten Verstoß gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Zum einen werde, so die Begründung, die Wahlberechtigung „seit jeher“ von dem Grundsatz bestimmt, dass nur die im Wahlgebiet ansässigen Deutschen wahlberechtigt seien. Zum anderen habe sich der Gesetzgeber von der Erwägung leiten lassen, dass als wahlberechtigte „Aktivbürger“ nur Deutsche qualifiziert werden könnten, bei denen objektive Merkmale vorlägen, die es gewährleistet erscheinen ließen, dass sie am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert mitwirken würden.80 „Diese Wertung und die – typisierende – Regelung“, dass dafür ein mindestens dreimonatiger ununterbrochener Aufenthalt in Deutschland unerlässlich sei, seien „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden“. Der zur Stimmabgabe berufene „Aktivbürger“ müsse, so heißt es schließlich, „mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland hinreichend vertraut sein“.81 Mit der Entscheidung vom 4. Juli 2012 setzt das Gericht die Fixierung auf diese ratio82 nicht nur fort, sondern baut sie aus.83 Betont wird die Kommuni___________ den verfassungsgerichtlichen Beanstandungen in der Vergangenheit zuvorgekommen sei; s. BVerfGE 132, 39 (63 Rn. 63). 80 Vgl. BVerfG Kammer, NJW 1991, 689 (690 mit Verweis auf BR-Drs. 198/82, S. 19). Die damals geltende Ausnahmeregelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG hatte das Erfordernis der dreimonatigen Sesshaftigkeit für Auslandsdeutsche mit einer Fortzugsfrist von maximal zehn Jahren verbunden, von dieser jedoch für in Europaratsstaaten Ansässige abgesehen, so dass der Europarats-Auslandsdeutsche nur zu irgendeinem Zeitpunkt seit 1949 für mindestens drei Monate seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt haben musste; vgl. oben, Fn. 49. 81 Vgl. BVerfG Kammer, NJW 1991, 689 (690). 82 Formulierung: Richterin G. Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (62 Rn. 61) – Sondervotum.
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kationsfunktion der Wahl, für die „die Möglichkeit, eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen“, unabdingbar sei. Um das zu verdeutlichen, referiert das Gericht – weit ausholend – über die Responsivität des demokratischen Prozesses,84 der für die Legitimität demokratischer Ordnung „gleichermaßen wichtig“ sei wie der Wahlakt selbst. Demokratie erschöpfe sich nicht in der formalen Zurechnung der Willensbildung des Volkes zu den Staatsorganen, durch die es die von ihm ausgehende Staatsgewalt ausübt. Vorausgesetzt werde auch ein beständiger Dialog zwischen dem Parlament und den gesellschaftlichen Kräften, in dem sich – um es mit diesen Worten auszudrücken: – der politische Wille des Volkes vor und nach der Wahl beständig ausformt. Das führt das Gericht zu diesen Schlussfolgerungen: Erstens, weil der Gesetzgeber für die Zuerkennung des Wahlrechts auf die Möglichkeit abheben könne, an diesem demokratischen Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen tatsächlich teilnehmen zu können, unternehme der damit einhergehende Wahlrechtsausschluss derjenigen Bürger, bei denen diese Möglichkeit nicht in hinreichendem Maße bestünde, eine Differenzierung innerhalb der Allgemeinheit der Wahl, die verfassungsrechtlich gerechtfertigt sei. Zweitens, im Hinblick darauf wird es vom Gericht nach wie vor für zweifelsfrei gehalten, dass die Inlandsbindung der Wahlberechtigung ein geeignetes Mittel zur Aufrechterhaltung dieser Kommunikationsfunktion der Wahl und demzufolge zur Erreichung dieser Differenzierung darstelle.85 Die Fähigkeit, am aktuellen politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess mitzuwirken, setze ein Mindestmaß an persönlich und unmittelbar erworbener Vertrautheit mit dem System der Bundesrepublik Deutschland voraus. Die Annahme des Gesetzgebers,86 eine solche Vertrautheit stelle sich erst nach einem ununterbrochenen Aufenthalt von einer – mit drei Monaten „ohnehin eher knapp bemessenen“ (sic!) – Mindestdauer ein, sei, so das Gericht, nachvollziehbar. Daher sei es insgesamt verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Allgemeinheit der Wahl bei der Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen nicht voll verwirklicht werde.
___________ 83
Siehe zum Folgenden BVerfGE 132, 39 (50 f. Rn. 32-34). Dazu E.-W. Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. III, 2005, § 34 Rn. 33 m.w.N. 85 Siehe BVerfGE 132, 39 (53 f. Rn. 39-42). 86 Vgl. BVerfGE 132, 39 (53 Rn. 40 mit Hinweisen auf BT-Drs. 13/9686, S. 5; 15/6015, S. 7 f.; 16/7461, S. 16; 17/5269, S. 4. 84
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3. Einwände gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts a) Kriterium der ortsgebundenen Kommunikationsteilhabe Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts hat indes wenig Überzeugung für sich, und zwar sowohl im Hinblick auf die Kommunikationsfunktion der Wahl als auch hinsichtlich der territorialen Lösung als dazu taugliches und erforderliches Mittel. In Anbetracht der modernen Kommunikationstechniken, wie namentlich des Internets und anderer Social-media-Dienste, die heute die zeitgleiche und realistische Nachrichtenübermittlung an und von jedem Ort der Welt erlauben, nimmt sich die Annahme, eine genügende Vertrautheit mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Vorgängen in Deutschland könne nur vor Ort ihres Geschehens erlangt werden, kaum mehr realitätsgerecht aus.87 Die Ausblendung der Wirklichkeit, die hier waltet, ist derart offenkundig, dass sie auch nicht mehr durch die Befugnis des Gesetzgebers gerechtfertigt werden kann, bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung Vereinfachungen und Typisierungen vorzunehmen.88 Mit dem Verweis auf die Entwicklung der technischen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten hatte denn auch schon der Gesetzgeber des Jahres 2008 die so genannte Europaratslösung aufgegeben, mithin die bis dahin ausnahmsweise nur für Auslandsdeutsche in Europaratsstaaten gewährte, zeitlich unbeschränkte Einräumung des Wahlrechts abgeschafft.89 Entscheidend für die Anteilnahme und kommunikative Teilhabe an den Verhältnissen in Deutschland sind vielmehr, für Inländer wie Ausländer gleichermaßen, das politische Interesse und der freie Informationsfluss.90 Inso___________ 87 So auch M. Morlok (Fn. 17), Art. 38 Rn. 70; H.-H. Trute (Fn. 17), Art. 38 Rn. 23; A. Guckelberger, Wahlsystem und Wahlrechtsgrundsätze Teil I – Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit und Geheimheit der Wahl, JA 2012, S. 561 ff. (563); U. Sacksofsky, Wer darf eigentlich wählen?, in: M. Bäuerle u.a. (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, FS für B.-O. Bryde, 2013, S. 313 (326); dies., Stellungnahme vom 9.1.2013 zur Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am Montag, dem 14. Januar 2013 zu drei Gesetzentwürfen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Innenausschuss des Bundestages, Ausschuss-Drs. 17(4)634 B, S. 5: „überholt“; T. Felten, Zur Verfassungswidrigkeit des neuen Wahlrechts für Auslandsdeutsche, DÖV 2013, S. 466 (469, 473, 474 f.): „anachronistischer Rechtfertigungsgrund“, „Plausibilität vollständig verloren“. Das Gebot der Anlegung realitätsgerechter Maßstäbe hebt das Gericht selbst ausdrücklich hervor, BVerfGE 132, 39 (49 Rn. 29), indes es gleichwohl die Einschätzung des Gesetzgebers für nachvollziehbar hält, dass es sub specie der Berechtigung zur Wahlteilnahme nicht genüge, sich mittels der technischen Möglichkeiten vom Ausland aus zu informieren: BVerfGE 132, 39 (53 Rn. 40 f.). 88 Zu dieser Befugnis BVerfGE 132, 39 (49 Rn. 28 f.); krit. dazu ebenso U. Sacksofsky (Fn. 87), S. 326. 89 Vgl. BT-Drs. 16/7461, S. 16; s. oben, bei Fn. 51. 90 Vgl. auch D. Blumenwitz (Fn. 17), S. 108.
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fern liegt es weit näher, eine typisierende Annahme dahingehend zu treffen, dass jeder, der an der Wahl teilnimmt bzw. teilnehmen will, eben gerade dadurch sein Interesse an den politischen Verhältnissen in Deutschland zum Ausdruck bringt. Es kommt doch auch für die Wahlberechtigung von Inländern, die mindestens drei Monate in Deutschland leben, in keiner Weise darauf an, ob und wie sie vom Ort ihres Wohnsitzes an der demokratischen Kommunikation tatsächlich teilnehmen und mit den politischen Verhältnissen vertraut sind. Es kann daher mit den strengen Anforderungen, die an Differenzierungen im Anwendungsbereich des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl anzulegen sind, nicht mehr vereinbar sein, die Abgrenzung von wahlberechtigten (Inlands-) und nicht-wahlberechtigten (Auslands-)Deutschen damit rechtfertigen zu wollen, dass die Kommunikationsfunktion der Wahl nur dann gewährleistet werde, wenn sie vor Ort des Wahlgebiets stattfinde. Schließlich sei in Erinnerung gerufen, dass derselbe Wahlgesetzgeber das passive Wahlrecht nicht an die Voraussetzung eines Inlandswohnsitzes bindet.91 Man wird aber sicherlich sagen müssen, dass für den Bewerber um ein Bundestagsmandat die Vertrautheit mit den politischen und gesellschaftlichen Vorgängen in Deutschland und die Fähigkeit, am Kommunikations- und Volksbildungsprozess teilzunehmen, für das demokratische Wahlgeschehen mindestens ebenso wichtig und bedeutsam ist. b) Kriterium der Kommunikationsfunktion der Wahl Abgesehen von alldem zieht das (Differenzierungs-)Kriterium der Kommunikationsfunktion der Wahl noch grundsätzliche Kritik auf sich. So meint die die Richterin Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum gegen die Mehrheitsentscheidung des Senats zunächst ganz zu Recht: „Kommunikation ist für die Demokratie in der Tat essentiell. Was den Zusammenhang, der durch demokratische Wahlen etabliert wird und etabliert werden soll, angeht, ist aber nicht der Kommunikationszusammenhang, sondern der Verantwortungszusammenhang (…) der grundlegendere… Erst durch ihn wird der demokratische Kommunikationszusammenhang überhaupt gestiftet“.92 Anders gewendet: Die demokratische Grundlegitimation der Staatsgewalt, die die Volkswahl herstellt, begründet zugleich den materiellen Verantwortungszusammenhang von Staatsvolk und Staatsorganen für den Inhalt des politischen Handelns und Entscheidens. Wenn aber die Herstellung dieses Verantwortungszusammenhangs im Vordergrund jener Funktionen steht, die demokratische Wahlen erfüllen, dann ist es niemand als die Gesamtheit der Staatsangehörigen, die dazu berufen ist. Es ___________ 91 92
Siehe oben, unter Ziff. III. 2. BVerfGE 132, 39 (66 Rn. 66).
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ist die Staatsangehörigkeit, die die Bürger zum Staatsvolk als politische Schicksalsgemeinschaft verbindet, und zwar dauerhaft und prinzipiell unauflösbar.93 Es ist dieses personenrechtliche Band, das sie in die politische Verantwortung nimmt und das deshalb den Grund bildet für ihre staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte, auch und gerade für das vornehmste Bürgerrecht des Wahlrechts. Daher scheint es zunächst gar nicht recht nachvollziehbar zu sein, dass Lübbe-Wolff im Weiteren gleichwohl für die Beibehaltung des, wenngleich nur noch minimalen, Territorialvorbehalts im Auslandsdeutschenwahlrecht votiert. Zur Erklärung führt die Richterin indessen ihr ganz anderes Verständnis jenes Verantwortungszusammenhangs an. Ein solcher der „wirklichen, ernsten Art“ entstehe vielmehr, wie sie meint, im Blick auf die Konsequenzen und die Betroffenheit von der Staatsgewalt, auf die mit der Wahlentscheidung Einfluss genommen werden wolle. Es entspräche daher, so die Schlussfolgerung, dem Sinn demokratischer Wahlen, die Wahlberechtigung nicht allein an die formelle Zugehörigkeit zum Staatsvolk zu knüpfen, sondern auch an den Gesichtspunkt, auf die politische Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse Einfluss zu nehmen.94 Doch die Argumentation kann nicht überzeugen. Ungeklärt bleibt schon, wie sich denn aus dem Gesichtspunkt, von der Staatsgewalt betroffen zu sein, soll ergeben können, dass es demnach für die Wahlberechtigung auf einen Vorwahlwohnsitz im Inland bzw. für Auslandsdeutsche auf einen inländischen Vorfortzugsaufenthalt ankomme. Denn eine derart aus Betroffenheit konstituierte Verantwortungsgemeinschaft bezieht sich notwendig auf die Zukunft (nach der Wahl), nicht auf die Vergangenheit (vor der Wahl). Sucht man hier nach einer Erklärung, so geht man vermutlich nicht fehl, sie ganz woanders aufzufinden, nämlich in jener Nähe, die das Auslandsdeutschenwahlrecht zu dem Thema des Ausländerwahlrechts aufweist. Denn der Verzicht auf den Nachweis einer Vorwahl-Anwesenheit auf dem Staatsgebiet brächte die Befürwortung eines Ausländerwahlrechts in arge Bedrängnis; würde ihr buchstäblich den Boden entziehen. Die Forderung nach einer Erstreckung des nationalen Wahlrechts95 auf Ausländer sucht ihre Rechtfertigung gerade damit zu begründen, dass der ausländische Mitbürger ebenso wie der Staatsangehörige der Gebietshoheit der Staatsgewalt unterworfen sei und daher ebenso wie dieser zum demokratischen Legitimationssubjekt gehören, also wahlberechtigt sein müsse. Jedoch wurde bereits auseinandergesetzt, dass sol___________ 93
Vgl. nur J. Isensee (Fn. 29), § 15 Rn. 121 und oben, unter Ziff. II. 3. a). BVerfGE 132, 39 (66 Rn. 66). 95 Neben dem Kommunalwahlrecht für EU-Bürger gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG; dazu oben Fn. 34. 94
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che Deutung die rechtliche Differenz zwischen Volk und Bevölkerung im verfassungsstaatlichen Programm der Demokratie verkennt.96 Eine sogar gänzliche Umkehrung bedeutete es hingegen, das Ausländerwahlrecht (ohne Staatsangehörigkeit) zu fordern, aber das Auslandsdeutschenwahlrecht (ohne Wohnsitz) abzulehnen. Der Weg, den Kreis der Wahlberechtigten zu begründen und ebenso ihn zu verändern, verläuft nach alldem nur über das Recht der Staatsangehörigkeit. Insoweit ist freilich für eine Eingrenzung des Auslandsdeutschenwahlrechts im Schrifttum noch das Argument vorgebracht worden, bei dauerhaftem Auslandsaufenthalt verlöre die Staatsangehörigkeit analog zum völkerrechtlichen Prinzip der effektiven Staatsangehörigkeit an „Effektivität“.97 Doch damit wird bei Lichte besehen lediglich die anachronistische Rechtfertigung, das Wahlrecht setze eine territoriale Verbundenheit zum Staat voraus, in ein neues begriffliches Gewand gekleidet. Wenn dem Auslandsdeutschen gesagt wird, seine Staatsangehörigkeit habe an Effektivität verloren, weil er wegen seines dauerhaften Auslandsaufenthalts typischerweise keine persönliche Bindung mehr zum deutschen Staat aufweise, dann ist die Schlussfolgerung, deshalb dürfe ihm das Wahlrecht vorenthalten werden, nichts anderes als die Wiederholung des identischen Gedankens, nämlich dass das Wahlrecht an einen bestimmten Mindestaufenthalt im Inland gebunden sei, weil dies – eben im Sinne einer „effektiven“ Staatsangehörigkeit – typischerweise die persönliche Bindung an und Vertrautheit mit dem deutschen Staat zum Ausdruck bringe. Es muss daher mit aller Deutlichkeit festgehalten werden: Wie auch immer die Erklärungs- und Differenzierungsversuche zur Salvierung der grundsätzlichen Inlandsbindung des Wahlrechts ausfallen mögen, stets resultieren sie in einer Staatsangehörigkeit unterschiedlicher Klasse oder Güte: in eine solche mit und in eine solche ohne anknüpfende Wahlberechtigung. Das aber entsubstantialisiert die Staatsangehörigkeit an ihrer innerstaatlich vornehmsten Stelle. Dafür steht eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht bereit.
V. Die Neuregelung durch das 21. Wahlrechtsänderungsgesetz 1. Gesetzgebung im Kopiermodus Dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4. Juli 2012 demgegenüber an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Sesshaftigkeitserfordernisses für das Wahlrecht im Allgemeinen und auch als Bezugspunkt für die Beurteilung des Auslandsdeutschenwahlrechts festgehalten hat, bedeutete ___________ 96 97
Siehe oben, Ziff. II. 3. a). Siehe T. Felten (Fn. 87), S. 475 f.
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freilich – wie schon gesagt – nicht, dass der Gesetzgeber auch die verfassungsrechtliche Pflicht hatte oder hat, die Wahlberechtigung an einen Inlandswohnsitz zu knüpfen.98 Doch die Chance, das Recht der Wahlberechtigung zu modernisieren und von seiner anachronistischen Territorialbindung zu befreien, hat der Gesetzgeber einstweilen verpasst. Auch das 21. Wahlrechtsänderungsgesetz vom 27. April 201399 lässt die Grundregel des dreimonatigen Wohnsitznachweises im Inland (in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWG) unberührt. Es beschränkt sich auf eine Neufassung der Ausnahmeregelung für die im Ausland lebenden Deutschen (in Art. 12 Abs. 2 Satz 1 BWG). Zu dieser partiellen Neuregelung war der Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht zwar ebenfalls – wie vermerkt100 – nicht von Verfassungs wegen verpflichtet, aber gleichwohl in politischem Sinne veranlasst worden, weil der durch die Nichtigerklärung der alten Fassung eingetretene Rechtszustand des völligen Ausschlusses aller Auslandsdeutschen vom Wahlrecht auf Dauer nicht akzeptiert werden konnte. Was dem Gesetzgeber jedoch stattdessen „eingefallen“ ist, das ist nicht viel. Um es deutlicher auszusprechen: Eigene Gedanken hat er sich kaum gemacht. Die Neuregelung des Auslandsdeutschenwahlrechts liest sich nahezu wie ein copy and paste der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung.101 Weite Teile des Gesetzestextes wie auch der Gesetzesbegründung102 übernehmen wörtlich oder sinngemäß die Rechtsauffassung des Gerichts. Die Vorschrift lautet nun: „(2) Wahlberechtigt sind bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch diejenigen Deutschen im Sinne des Art. 116 Absatz 1 des Grundgesetzes, die am Wahltag außerhalb der Bundesrepublik Deutschland leben, sofern sie 1.
nach Vollendung ihres vierzehnten Lebensjahres mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben und dieser Aufenthalt nicht länger als 25 Jahre zurückliegt oder
2.
aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind.“
Im Vergleich mit der vorherigen Rechtslage wird damit einerseits (in Nr. 1) das Wahlrecht der Auslandsdeutschen weiter als bisher eingeschränkt, andererseits aber auch (in Nr. 2) weiter als bisher ausgedehnt. In beiden Hinsichten ___________ 98
Vgl. BVerfGE 132, 39 (53 Rn. 39); auch T. Felten (Fn. 87), S. 469. BGBl. I S. 962. 100 Siehe oben, bei Fn. 79. 101 Vgl. zu Recht auch die Kritik von T. Felten (Fn. 87), S. 469: „die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts scheinbar eins zu eins in Gesetzesform gegossen“. 102 BT-Drs. 17/11820 vom 11.12.2012. 99
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folgt der Gesetzgeber den Gesetzgebungsvorschlägen des Bundesverfassungsgerichts,103 ohne diese weiter einer kritischen Überdenkung oder alternativen Erwägungen auszusetzen. Die Neuregelung kann daher geradezu als ein Paradebeispiel für eine selbst auferlegte Beschränkung demokratischer Gestaltungsbefugnis und Gestaltungsverantwortung des Gesetzgebers begriffen werden, die sich in harten Widerspruch begibt zu der bei anderen Gelegenheiten wiederholten Klage über die politische Macht des Bundesverfassungsgerichts und den schleichenden Weg in den „Jurisdiktionsstaat“.104 In gleichem Atemzug freilich muss auch an das Bundesverfassungsgericht kritisch adressiert werden, dass schon das Aufzeigen, allemal die Empfehlung von nach seiner Auffassung verfassungsrechtlich haltbaren Regelungsvarianten bei Gelegenheit eines Urteilsspruches105 (ultra petita und als obiter dicta) die Grenzen der institutionellen Zuständigkeit des Gerichts im Verhältnis von Recht und Politik mindestens strapaziert, wenn nicht gar ignoriert. Bei aller praktisch nachvollziehbaren Befürchtung des Gesetzgebers, möglicherweise – zumal im Bereich des verfassungsrechtlich vergleichsweise strikt determinierten Wahlrechts – erneut durch das Bundesverfassungsgericht korrigiert zu werden, ist es hingegen an ihm, sich auch und gerade in Anbetracht gerichtlicher Aus- und Übergriffe seiner Handlungsverantwortung im demokratischen Kompetenzgefüge gewahr zu sein und diese gestaltungsstark auszufüllen. Zu diesen prinzipiellen, funktionell-rechtlichen Einwänden treten indessen – und man möchte sagen: verschärfend – jene materiell-rechtlichen Einwände hinzu, die die Neuregelung selbst betreffen. Mit ihrer engen Anlehnung an die Vorgaben und Vorschläge des Bundesverfassungsgerichts zieht sie, zum einen, ohnehin all diejenige Kritik auf sich, die sich schon gegen jene richtet.106 Doch die konkrete Fassung wirft, zum anderen, durchaus noch weitere verfassungsrechtliche Bedenken auf, die überdies zum Teil derart offenkundig sind, dass sie den Gesetzgeber umgehend zu einer erneuten Korrektur bewegen müssten.107 ___________ 103
BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 47, 56 f. Rn. 49). Zu dieser alten Kritik aus jüngerer Zeit M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger, Das entgrenzte Gericht – Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011. 105 Siehe etwa im hiesigen Kontext die Formulierungen des Gerichts in BVerfGE 132, 39: „besser entsprechende Typisierung ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich“, „könnte der Gesetzgeber… ergänzen“; „dem Umstand… könnte Rechnung getragen werden“ (56 Rn. 47); „die Einbeziehung… erscheint… möglich“ (57 Rn. 49). 106 Dazu oben, Ziff. IV.3. 107 Die Verfassungswidrigkeit der Neuregelung nehmen ebenso an: T. Felten (Fn. 87), S. 469 ff.; U. Sacksofsky (Fn. 87). Hingegen haben die sachverständigen Stellungnahmen, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens abgegeben worden waren, mit Ausnahme derjenigen von Sacksofsky die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung bestätigt; vgl. Innenausschuss des Bundestages, Ausschuss-Drs. 17(4)634. 104
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2. Vorfortzugsbedingungen eines früheren Inlandswohnsitzes a) Fortzugsfrist Was die Befristung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche anbelangt, die durch die Voraussetzung in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWG bewirkt wird, am Wahltag dürfe die Aufgabe des früheren, mindestens dreimonatigen Inlandswohnsitzes nur maximal 25 Jahre zurückliegen, unternimmt der Gesetzgeber einen Schritt zurück in die längst überholt geglaubte Geschichte. Es ist weniger die Bemessung dieser Frist als vielmehr die Befristung an sich, die daher allemal gesetzgebungspolitische Irritation hervorruft. Überdies aber erheben sich verfassungsrechtlich relevante Einwände in der Sache, mag auch der Gesetzgeber hier schlicht der entsprechenden bundesverfassungsgerichtlichen Empfehlung Folge geleistet haben.108 Wie bereits erwähnt, hatte der Gesetzgeber im Jahre 2008, mit Wirkung bis zuletzt, die Voraussetzung einer Fortzugsfrist abgeschafft.109 Dieser Wegfall war ebenso maßgeblich wie ausdrücklich damit begründet worden, dass es der Fortschritt der technischen Kommunikationsmittel ermöglicht habe, auch unabhängig von jeder früheren örtlichen Anbindung an das Wahlgebiet eine hinreichende Vertrautheit mit den aktuellen politischen Verhältnissen in Deutschland herzustellen.110 Die Neufassung von 2013 reanimiert demgegenüber die der früheren Rechtslage bis 2008 zugrunde liegende Annahme, dass diese Vertrautheit111 ein über die Zeit abnehmendes Gut sei und daher nach Ablauf einer bestimmten, wenngleich geraumen Zeitspanne von 25 Jahren eines Lebensmittelpunktes im Ausland typischerweise nicht mehr gegeben sei. Dieser Sinneswandel binnen weniger Jahre verwundert nicht nur, sondern ist auch in höchstem Maße erklärungsbedürftig, betrifft er doch Rechtstatsachen, von deren Beurteilung die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Befristung des Wahlrechts aus dem Gesichtspunkt der Allgemeinheit der Wahl abhängt. Dem Gesetzgeber steht freilich in Bezug auf die rechtstatsächlichen Grundlagen seiner Normgebungen ein weiter Beurteilungs- und Prognosespielraum zu, der bundesverfassungsgerichtlich nur auf seine äußersten Grenzen hin ___________ 108 „Um die Aktualität der in der Bundesrepublik Deutschland erworbenen Erfahrungen zu sichern, könnte der Gesetzgeber das Erfordernis des vorherigen Aufenthalts um eine angemessene Fortzugsfrist ergänzen, wie dies bereits in früheren Fassungen des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG geschehen war“, BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 47). 109 Nachw. oben Fn. 51. 110 Vgl. BT-Drs. 16/7461, S. 16; insoweit erweckt der Verweis in BVerfGE 132, 39 (53 Rn. 40) auf diese Gesetzesbegründung (neben BT-Drs. 13/9686, S. 5, 15/6015, S. 7, und – dem Fehlzitat (!) – 17/5260, S. 4), einen irreführenden Anschein, weil er gerade zum Beleg des Gegenteils angeführt wird. 111 Zu dieser Deutung des Normzwecks s. oben, unter Ziff. IV. 2, 3.
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überprüfbar ist.112 Im Hinblick auf diesen Spielraum hatte das Gericht aber interessanterweise die bisher geltende Regelung von 2008 (ohne Fortzugsfrist) schon an schlichten „Plausibilitätserwägungen“ scheitern lassen, weil damit Generalisierungen (einerseits der Zuerkennung und andererseits der Verweigerung des Wahlrechts) einhergehen würden, die mit dem Normzweck der indizierten Vertrautheit mit den politischen Geschehnissen nicht in Einklang zu bringen seien.113 Insbesondere könne insoweit nicht der Grundsatz als Rechtfertigung herangezogen werden, dass dem Gesetzgeber „eine angemessene Zeit zur Sammlung von Erfahrungen“ gebühre, um die tatsächlichen und normativen Grundlagen für eine „realitätsgerechte“ Regelung zu ermitteln. Denn dieser Grundsatz sei auf „komplexe, in der Entwicklung begriffene Sachverhalte zugeschnitten“, wovon aber im Hinblick auf die Auswirkungen der Regelung von 2008 zu ihrem Erlasszeitpunkt nicht ausgegangen werden könne.114 Wendet man nun diesen Maßstab auf die Wiedereinführung der Fortzugsfrist 2013 an, dann erscheint es indessen ebenso wenig plausibel, dabei die tatsächliche Entwicklung außer Betracht zu lassen, die die technischen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten des Internets und der Social-mediaDienste seit 2008 genommen hat und absehbar nehmen wird. Die Kehrtwende wäre innerhalb des gegebenen Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers nur dann nachvollziehbar, wenn die zuvor angenommenen Tatsachen entfallen wären oder sich ihre Prognose sonst als irrig erwiesen hätte. Davon kann aber binnen der zwischenzeitlichen vier Jahre, auch wenn es insoweit an verlässlichen Studien fehlt,115 schwerlich die Rede sein. Es drängt sich vielmehr die Vermutung auf, dass im Gegenteil die gegenwärtige und zukünftige NetzRealität weitaus einfacher und umfangreicher als noch im Jahre 2008 die Möglichkeit gibt und geben wird, sich aus dem Ausland über die politischen Verhältnisse in Deutschland zu informieren und mit diesen auseinanderzusetzen. Die Realitätsferne wird zudem noch dadurch unterstrichen, dass die Gesetzesbegründung zur Fortzugsfrist von 2013116 auf die Begründung zum 6. BWGÄnderungsgesetz aus dem Jahre 1982117 Bezug nimmt; auf diese hatte sich die erstmalige Einführung einer Fortzugsfrist mit dem 7. BWG-Änderungsgesetz 1985118 gestützt. ___________ 112
BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 27), und oben bei Fn. 70 f. BVerfGE 132, 39 (55 f. Rn. 45 f.). 114 BVerfGE 132, 39 (57 Rn. 50). 115 Vgl. Abschlussbericht des Bundestags-Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Thema „Internet und Demokratie“, Teilprojekt „Analyse netzbasierter Kommunikation unter kulturellen Aspekten“, vom 17.10.2005, BT-Drs. 15/6015, S. 107. 116 BT-Drs. 17/11820 v. 11.12.2012, S. 5. 117 BT-Drs. 9/1913 v. 7.12.1982, S. 10. 118 BGBl. I S. 521; vgl. oben Fn. 49. 113
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Nach alldem ist eine aus faktischen Erwägungen resultierende Veranlassung zur Wiedereinführung der Befristung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche „realitätsgerecht“ weder begründbar noch ersichtlich. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Problemkreis gar nicht erst angesprochen – obgleich der gesetzgeberische Rückschritt in der Geschichte des Auslandsdeutschenwahlrechts gerade mit der „Tradition“ unter dem Grundgesetz bricht, die das Wahlrecht für die Auslandsdeutschen schrittweise erweitert hat.119 b) Altersgrenze Auch die erstmalige Einführung einer Altersgrenze in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWG entspringt keiner Eigenschöpfung des Gesetzgebers, sondern vollzieht eine dahingehende verfassungsgerichtliche Empfehlung.120 Unter der Prämisse des Inlandswohnsitzes als Indiz für politische Vertrautheit ist die Festlegung einer solchen Altergrenze durchaus plausibel. Sie rührt aus der Erwägung, dass für den Auslandsdeutschen ein dreimonatiger Vorfortzugsaufenthalt im Inland und die 25jährige Fortzugsfrist nur dann wahlrechtlich „zählen“ kann, wenn er zum Zeitpunkt jener früheren Sesshaftigkeit über eine genügende Reife verfügen konnte, um sich mit dem politischen System Deutschlands vertraut zu machen. Dass der Gesetzgeber dafür nun – das Bundesverfassungsgericht hatte insofern kein konkretes Alter benannt – die Vollendung des 14. Lebensjahres verlangt, rechtfertigt die Begründung mit dem „Interesse der Einheit der Rechtsordnung“. So würden auch die Vorschriften über den Beginn der Strafmündigkeit (§ 19 StGB) oder der vollen Religionsmündigkeit (§ 5 RelKErzG) ab diesem Alter von einer für eigenverantwortliche Entscheidungen maßgeblichen Reife und Einsichtsfähigkeit ausgehen.121 Die Analogie hinterlässt freilich die Frage, warum insofern nicht Art. 38 Abs. 2 GG in Bezug genommen wurde. Dort ist die Wahlberechtigung (auf Bundesebene) an die Voraussetzung des vollendeten 18. Lebensjahres geknüpft. Dieses Mindestwahlalter beruht wiederum auf der Verfassungserwartung der Demokratie,122 dass ab diesem Zeitpunkt typischerweise jene politische Reife gegeben ist, die für eine verständige und reflektierte Teilhabe an der ___________ 119
Vgl. oben, unter Ziff. III. 1. ab Fn. 46. „Dem Umstand, dass die Vertrautheit mit den hiesigen politischen Verhältnissen eine gewisse Reife und Einsichtsfähigkeit voraussetzt, könnte durch die Aufnahme einer zusätzlichen Altersgrenze Rechnung getragen werden“, BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 47). 121 BT-Drs. 17/11820, S. 5. 122 Allgemein H. Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartung, FS für U. Scheuner, 1973, S. 285 ff.; zu vor- und außerrechtlichen Voraussetzungen und Erwartungen der Demokratie E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 24 Rn. 58 ff. 120
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demokratischen Wahl der Volksvertretung bürgt. Im Hinblick darauf wird im Schrifttum sogar behauptet, das davon abweichende Mindestalter von 14 Jahren als Inlandsvoraussetzung für das Auslandsdeutschenwahlrecht sei verfassungswidrig.123 Doch die Behauptung übersieht zweierlei: Zum einen würde die Festlegung des Vorfortzugsalters auf 18 Jahre für den Auslandsdeutschen faktisch eine Erhöhung des Mindestwahlalters in Art. 38 Abs. 2 GG bedeuten – ein Effekt, der verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar wäre. Zum zweiten unterscheiden sich die Regelungsintentionen der beiden Altergrenzen: Art. 38 Abs. 2 GG will die Demokratiemündigkeit des Stimmbürgers zum Zeitpunkt der Wahl sichern, während § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWG lediglich die gesetzliche Prämisse plausibilisieren will, dass ein früherer Inlandswohnsitz des im Ausland lebenden Deutschen eine anhaltende „Nähe“ zu den politischen Verhältnissen in Deutschland indiziere. Hierfür die Vollendung des 14. Lebensjahres zu verlangen, bewegt sich innerhalb des Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben eingeräumt ist. 3. Sonstige Gründe der politischen Vertrautheit und Betroffenheit a) Tatsächliche statt nur vermutete Vertrautheit Als weitaus bedenklicher erweist sich die neue (Auffang-)Regelung der Nr. 2 des Art. 12 Abs. 2 Satz 1 BWG. Nach der argumentativen Logik des Gesetzgebers ebenso wie des Bundesverfassungsgerichts ist sie unabdingbar. Sie „rettet“ gleichsam die Regelung der Nr. 1. Ohne die Nr. 2 wäre die Nr. 1 – unter Anlegung der Maßstäbe des Beschlusses vom 4. Juli 2012 – ohne Zweifel verfassungswidrig. Mit anderen Worten: Das Gesetzgebungshandwerk betreibt hier Flickschusterei. Nicht zuletzt diese Einsicht hätte dazu veranlassen müssen, die Inlandsbindung des Wahlrechts für Inlands- wie für Auslandsdeutsche ganz grundsätzlich zu überdenken und als unzeitgemäß aufzugeben. Stattdessen präsentiert der Gesetzgeber nichts als eine Ausweichlösung.124 Dazu bedient er sich – in der Übernahme einer Passage aus der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung125 – einer eigentümlichen Finesse: Der implizite Sinn, der die grundsätzliche Abhängigkeit des Wahlrechts von einem Inlandswohnsitz rechtfertigen soll, wird zur expliziten Voraussetzung eines Wahlrechts erhoben, das ausnahmsweise ohne Abhängigkeit von einem Inlandswohnsitz besteht. Kurz: Der Sinn der Grundsatzregelung kehrt sich zum Tatbestand der Ausnahmeregelung. Fortan reichen auch sonstige Gründe der ___________ 123
So T. Felten (Fn. 87), S. 470 f. Treffend T. Felten (Fn. 87): „wohl in relativer Ratlosigkeit“. 125 BVerfGE 132, 39 (54 f. Rn. 43). 124
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persönlich und unmittelbar erworbenen Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen aus, um die Wahlberechtigung eines Auslandsdeutschen zu begründen. Damit ist zwar erstmals in der Geschichte des Wahlrechts der Bundesrepublik Deutschland das Erfordernis einer Sesshaftigkeit im Wahlgebiet aufgegeben. Doch an dessen Stelle ist ebenso zum ersten Mal das Erfordernis einer tatsächlichen politischen Vertrautheit (und Betroffenheit) getreten, die zuvor bzw. ansonsten lediglich die Begründung für das Sesshaftigkeitserfordernis abgab bzw. abgibt. Just mit dieser eigentümlichen Regelungstechnik gerät die Vorschrift jedoch in eine schwere verfassungsrechtliche Schieflage. Durch die Ergänzung der Nr. 2 erlangt der § 12 BWG, nach den anerkannten juristischen Interpretationsregeln, eine völlig andere Lesart. Nicht mehr die Sesshaftigkeit im Inland, sondern die Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen bildet nunmehr die tatbestandliche Grundvoraussetzung der Wahlberechtigung. Demgegenüber erscheinen die Erfordernisse eines dreimonatigen Wohnsitzes im Wahlgebiet in § 12 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWG als gesetzlich abschließend definierte Bedingungen, unter denen diese notwendige Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen unwiderleglich vermutet wird. Dieser Effekt aus der Normanalyse des § 12 BWG, die auch den politischen Aussagegehalt „hinter“ der Norm verändert, scheint vom Ergänzungsgesetzgeber nicht bedacht worden zu sein; jedenfalls lassen die Gesetzesmaterialien dafür ein Bewusstsein nicht erkennen. Und dennoch: Der Lesart kann nicht ausgewichen werden, ohne sich in interpretatorische Widersprüche zu verstricken. In rechtspolitischer Hinsicht, darauf muss am Rande aufmerksam gemacht werden, mag übrigens der Umstand, dass die Wahlberechtigung nun positivrechtlich an die Vertrautheit mit (und die Betroffenheit von) den politischen Verhältnissen geknüpft ist, von diejenigen, die für die Einführung eines Ausländerwahlrechts streiten, durchaus als eine willkommene Erleichterung ihrer Argumentationslast begriffen werden können. Akut ist hingegen das verfassungsrechtliche Problem, das die Neuregelung hervorruft. Es entzündet sich an der offenkundigen Differenzierung in den Anforderungen, die für die Wahlteilhabewilligen an den Nachweis ihrer Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in Deutschland gestellt werden. Im einen Fall genügt die rein melderechtlich-formal nachvollziehbare Tatsache eines gegenwärtigen oder früheren Wohnsitzes oder Aufenthaltes im Inland über drei Monate. Im anderen Fall verlangt das Gesetz das Vorhandensein anderer, konkret-materieller Gründe, die die notwendige Qualifikation belegen. Dass es sich bei letzterer Voraussetzung um höhere, weil im Vergleich zum schlichten Melderegisternachweis schwieriger zu erfüllende Anforderungen handelt, liegt auf der Hand. Für diese Ungleichbehandlung unter den potentiell Wahlberechtigten – innerhalb der Gruppe der Auslandsdeutschen (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 BWG) ebenso wie in der Gesamtheit aller Inlands- und Auslandsdeut
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schen (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 BWG) – steht aber ein rechtfertigender Grund nicht mehr zur Verfügung. Denn der Gesichtspunkt, die Vertrautheit des Wählers mit den politischen Verhältnissen nachvollziehbar zu sichern, bildet schon das Kriterium der Ungleichbehandlung und fällt daher als mögliche Rechtfertigung aus. Die Regelung kann daher vor dem Verfassungsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl und seinen strikten Vorgaben an jegliche einschränkende Differenzierungen keinen Bestand haben. b) Unbestimmte Gründe der Vertrautheit Schließlich und ebenso gravierend kollidiert die (Auffang-)Regelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWG mit den rechtsstaatlich-demokratischen Anforderungen an die Bestimmtheit einer Gesetzesnorm. Danach müssen gesetzliche Tatbestände und zumal gesetzliche Voraussetzungen für Eingriffe in Freiheitspositionen des Einzelnen nach „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ derart präzise gefasst sein, dass der Regelungsinhalt für die Normadressaten, für den einzelnen Bürger ebenso wie für die Rechtsanwender, voraussehbar und berechenbar ist und sie sich daher auf die Regelungsfolgen einstellen können; dass im Weiteren allgemeine Rechtssicherheit gewährleistet ist und der Gesetzgeber damit die ihm im demokratischen Staat obliegende Regelungsaufgabe auch tatsächlich selbst ausfüllt.126 Dies gilt in verschärfter Weise dort, wo die Gesetzesnorm – wie hier – unter dem Verfassungsregime der Allgemeinheit der Wahl steht und daher an den aus diesem Grundsatz herzuleitenden strengen Anforderungen an staatliche Einschränkungen zu messen ist.127 Demnach muss der Bürger aus der Norm ohne weiteres, d.h. bei verständiger Lektüre, mit hinreichender Sicherheit erkennen können, ob er wahlberechtigt ist oder nicht. Das schließt die Normierung von Generalklauseln und die Verwendung unbestimmter, auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe nicht kategorisch aus. Unter Berücksichtigung der Eingriffsintensität für die Regelungsadressaten128 sind Rechtsvorschriften (nur) so genau zu fassen, „wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist“.129 Voraussetzung bleibt allerdings, dass die Bürger in zumutbarer Weise feststellen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die angeordnete Rechtsfolge vorliegen,130 und dass die Grenzziehung dieser Voraussetzungen, soweit ___________ 126 Vgl. etwa aus der std. Rspr. BVerfGE 56, 1 (12); 108, 52 (75); 110, 33 (53 f.); allg. statt vieler m.z.N. H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 20 Rn. 57 ff. 127 Vgl. nochmals oben, unter Ziff. IV.1. Siehe auch T. Felten (Fn. 87), S. 472. 128 Dazu BVerfGE 49, 89 (133); 102, 254 (337); 110, 33 (55); std. Rspr. 129 BVerfGE 93, 213 (238); 102, 254 (337); std. Rspr. 130 Vgl. BVerfGE37, 132 (142); 102, 254 (337); 103, 332 (384).
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praktisch möglich, nicht dem Ermessen oder gar der Willkür der Gesetzesanwendungsbehörden überlassen, sondern auch der richterlichen Kontrolle zugänglich ist.131 Nur unvermeidbare, auch nicht mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln überwindbare Unklarheiten in Randbereichen sind von Verfassungs wegen hinzunehmen.132 Nach diesen Maßstäben ist zwar eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots nur in engen Ausnahmefällen gegeben. Doch kann vorliegend selbst unter Einräumung äußerster Grenzen ein Verfassungsverstoß schwerlich in Abrede gestellt werden. Der Tatbestand der „aus anderen Gründen“ erworbenen „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“, an den § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWG die Wahlberechtigung eines Auslandsdeutschen knüpft, entbehrt jeder greifbaren Präzision. Der Auslandsdeutsche vermag der Regelung nicht annähernd zu entnehmen, welche Voraussetzungen er in seiner Person erfüllen muss, um berechtigt zu sein, an der Bundestagswahl teilzunehmen. Hier sind derart mannigfaltige Sachverhaltskonstellationen denkbar, dass im Ergebnis die Gewährung oder die Verweigerung der Wahlteilhabe maßgeblich von einer wertenden Einzelfallprüfung und -entscheidung der exekutivischen Wahlbehörden abhängt. Daran ändern auch die typisierenden Fallgestaltungen nicht, die die Gesetzesbegründung133 als Beispiele anführt, in denen positiv angenommen werden könne, dass die für die Wahlteilhabe „nach Einzelfall und aufgrund eigener Erfahrung“ erworbene Nähe zu den Verhältnissen in Deutschland bestünde.134 Der behördliche Bewertungsspielraum bleibt gleichwohl – sowohl hinsichtlich dieser Beispiele als auch hinsichtlich weiterer „anderer Gründe“ – weithin unkalkulierbar135 und darin für den potentiellen Wahlbürger unzumutbar. Auch eine allmähliche Verdichtung der Rechtssicherheit durch richterliche Konkretisierung kann nicht hinreichend erwartet werden, weil eine wahlbehördliche Versagung der Wahlzulassung nach geltender ___________ 131
(53). 132
Vgl. BVerfGE 6, 32 (42); 20, 150 (158); 80, 137 (161); 110, 33 (54 f.); 114, 1
Vgl. BVerfGE 78, 205 (213); 103, 332 (384). Vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 5 f. 134 Mehr oder weniger konkret werden ebd. bezeichnet: Mitarbeiter an Goetheinstituten, an deutschen geisteswissenschaftlichen Instituten im Ausland, an deutschen Auslandsschulen, bei den Auslandsbüros der politischen Stiftungen, bei der deutschen Entwicklungsarbeit oder der Außenhandelskammer, sowie Korrespondenten deutscher Medien; ferner mit ausdrücklichem Bezug auf das Bundesverfassungsgericht die Grenzpendler mit Wohnsitz im Ausland „zumeist nahe der Bundesgrenze“, die aber ihre Arbeits- und Dienstleistung im Inland erbringen; schließlich sollen ebenso unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht Auslandsdeutsche, die in Verbänden, Parteien und „sonstigen Organisationen“ in „erheblichem Umfang am politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland teilnehmen“, aktiv wahlberechtigt sein. Rein passives Konsumverhalten deutscher Medien soll jedenfalls nicht ausreichen. 135 Auch die untergesetzliche Bundeswahlordnung (BWO) bietet keinerlei weitere Konkretisierungen. 133
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Rechtslage vor der Wahl nur in einem behördlichen Einspruchs- und Beschwerdeverfahren einer Überprüfung zugänglich ist (§ 49 BWG); eine (verfassungs-)gerichtliche Kontrolle kann erst nach der Wahl im Wege einer Wahlprüfungsbeschwerde und nach vorheriger Befassung des Deutschen Bundestages136 erreicht werden (Art. 41 GG).137 c) Kumulative Betroffenheit Die Verletzung des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots setzt sich überdies fort, nimmt man noch das weitere Tatbestandsmerkmal des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWG in den Blick, wonach der Auslandsdeutsche zudem („und“) von den politischen Verhältnissen in Deutschland „betroffen“ sein muss. Zu dieser zusätzlichen Bedingung für die Wahlberechtigung fehlt es sogar an jeder begriffsklärenden Erläuterung in der Gesetzesbegründung. Freilich, in verfassungskonformer Auslegung dürfte diesem Merkmal ohnehin keinerlei substantielle Bedeutung zukommen. Wie dargelegt, ist nicht die politische Betroffenheit von den staatlichen Verhältnissen, sondern die politische Zugehörigkeit zum deutschen Staatsvolk das maßgebliche Kriterium für das demokratische Wahlrecht.138 Den Wahlbehörden ist es daher von Verfassungs wegen verwehrt, im Wege der wertenden Ausfüllung des Betroffenheitstatbestandes in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWG die demokratiestaatliche Legitimationsordnung des Grundgesetzes zu konterkarieren.
VI. Ausblick auf Alternativen Ist man versucht, nach alldem ein Fazit zu ziehen, so drängt sich auf: Ein gänzlich überzeugender und damit verfassungsrechtlich belastbarer Grund für die – in welcher Qualifizierung auch immer – territoriale Bindung der Wahlberechtigung an die Gebietsansässigkeit scheint bisher nicht gefunden. Neben dem unbefriedigenden Verweis auf eine Tradition, von der sich der Gesetzge___________ 136
Dazu kritisch H.-D. Horn, Muß die Wahlprüfung Sache des Bundestages sein?, in: O. Depenheuer u.a. (Hrsg.), FS für J. Isensee, 2007, S. 423 ff. m.w.N. 137 Vgl. dazu aus der vielstimmigen Kritik aus dem Gesichtspunkt der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG H. Meyer (Fn. 17), § 46 Rn. 91 ff.; M. Morlok (Fn. 17), Art. 41 Rn. 11 f., 23; ders./A. Bäcker, Zugang verweigert: Fehler und fehlender Rechtsschutz im Wahlzulassungsverfahren, NVwZ 2011, S. 1153 ff.; W. Schreiber, Das Neunzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. November 2011, DÖV 2012, 125 (135); W. Schreiber (K.-L. Strelen) (Fn. 17), § 49 Rn. 3 ff. m.w.N.; auch H.-D. Horn, FAZ v. 25.1.2013, S. 7. A.A. demgegenüber das BVerfG in std. Rspr. seit BVerfGE 11, 329 f.; aus jüngerer Zeit etwa BVerfGE 83, 156 (158). 138 Vgl. nochmals oben, unter Ziff. II.3.
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ber ohnehin seit Jahrzehnten, allerdings nur bis zuletzt, immer weiter entfernt hatte, erweisen sich jedenfalls die in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung unterbreiteten, zum Teil gesetzgeberische Erwägungen aufgreifende, zum Teil vom Gesetzgeber umgesetzte Argumentationen als nicht genügend stabil, um zu rechtfertigen, dass der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl zu Lasten derjenigen Deutschen, die diese Anforderung nicht erfüllen, nicht voll verwirklicht wird. Auch die seit 2013 geltende Neuregelung sollte umgehend einer Novellierung unterzogen werden, andernfalls zu erwarten steht, dass auch sie nach der nächsten Bundestagswahl wieder einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung zugeführt wird. Freilich: Ebenso wenig wie die Inlandsbindung von Verfassungs wegen geboten ist, kann der Verfassung das Gebot entnommen werden, auch allen Auslandsdeutschen das aktive Wahlrecht einzuräumen. Sollte der Gesetzgeber sich insoweit weiterhin für eine differenzierte Behandlung der Auslandsdeutschen entscheiden, so steht aber jedes dabei angewandte Differenzierungskriterium immer unter dem Problem, dieses vor der Bedeutung des Wahlrechts und der Strenge demokratischer Egalität verfassungsfest zu plausibilisieren. Die Anerkennung eines wahlrechtlichen Gestaltungsspielraums einschließlich der gesetzgeberischen Befugnis zu Vereinfachungen und Typisierungen139 schmälert diese Last nur relativ. Uneingeschränkt zugestimmt werden kann dem Bundesverfassungsgericht allerdings darin, dass die gesetzliche Anknüpfung des Wahlrechts an einen (früheren) Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland nicht aus Gründen wahltechnischer Erfordernisse, wie etwa die Wahlkreiseinteilung, gerechtfertigt werden kann.140 Das Gleiche gilt für Belange der Wählerregistrierung oder die Organisation der Stimmabgabe.141 Dies erweist nicht zuletzt auch der immer erkenntnisfördernde Blick über die eigenen Staatsgrenzen.142 Dass es auch anders geht, zeigt z.B. die Rechtslage in Italien deutlich. Hier verbürgt schon die Verfassung das Wahlrecht der Auslandsitaliener und verlangt dafür die Einrichtung eines Auslandswahlkreises.143 Die Stimmabgabe kann dabei per Briefwahl erfolgen.144 Seit dem 7. März 2000 werden so 12 Abgeordnete der Deputiertenkammer und 6 Abgeordnete für den Senat im Wege der Auslandswahl ge___________ 139
Dazu BVerfGE 132, 39 (49 Rn. 28 f., 50). Vgl. BVerfGE 132, 39 (57 ff. Rn. 51 ff.). 141 Ebenso D. Blumenwitz (Fn. 17), S. 106 f.; M. Breuer (Fn. 17), S. 184 f.; H.-H. Trute (Fn. 17), Art. 38 Rn. 23; a.A. W. Schreiber (K.-L. Strelen) (Fn. 17), § 12 Rn. 29. 142 Siehe dazu die eindrückliche Übersicht bei M. Breuer (Fn. 17), S. 202 ff. 143 Art. 48 Abs. 3 Verfassung der Republik Italien vom 27.12.1947 i.d.F. vom 2.10.2007. 144 Gesetz Nr. 459 vom 27.12.2001 über die Ausübung des Wahlrechts der im Ausland ansässigen Italiener. 140
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wählt.145 Auch in Frankreich kann das Wahlrecht der Auslandsstaatsangehörigen auf eine längere, bis 1948 zurückreichende Tradition verweisen.146 Heute werden ähnlich wie in Italien 12 Senatoren (seit 2003)147 und 11 Abgeordnete der Nationalversammlung (seit 2012)148 von den Auslandsfranzosen gewählt. Ebenso hat die niederländische Verfassung seit 1983 die vormalige Inlandsbindung des Wahlrechts aufgegeben.149 In Österreich ist die Einführung des Aktivwahlrechts für Auslandsstaatsbürger zum Nationalrat im Jahre 1989 durch ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs erzwungen worden.150 Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Aus der Warte des Völkerrechts ist gegen solche Einbeziehungen der Auslandsstaatsangehörigen nichts zu erinnern – wie freilich das Völkerrecht auch keine Einwände gegen wahlrechtliche Sesshaftigkeitserfordernisse erhebt.151 Der rechtsvergleichende Blick vermittelt aber den Eindruck, dass die eingangs herausgestellte Herausforderung andernorts schon weit offensiver – zum Teil seit langem – aufgenommen worden ist als hierzulande, die Herausforderung nämlich, wie der demokratische Staat mit dem in Zeiten internationaler Freizügigkeit und Globalisierung zunehmend auftretenden Phänomen der buchstäblichen Entfernung von Staatsvolk und Staatsgebiet im Wahlrecht umgeht. Es liegt daher auch für den deutschen Gesetzgeber die Empfehlung nahe, das aktive Wahlrecht auf alle Auslandsdeutschen zu erstrecken – und damit auch diejenigen einzuschließen, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit allein der Fortpflanzung von ihren Vorverfahren verdanken; wer seinen Willen zur Wahlteilhabe kundtut, indem er seine Eintragung in das für ihn – nach Maßgabe einer dann noch zu gestaltenden Wahlordnung – zuständige Wählerverzeichnis beantragt, dokumentiert zur Genüge seine demokratische Verbundenheit mit dem Gemeinwesen seiner Staatsangehörigkeit. Damit würde endlich auch die bisher nicht gegebene Harmonisierung des aktiven mit dem passiven Wahlrecht hergestellt. * * *
___________ 145
Vgl. m.z.N. M. Breuer (Fn. 17), S. 211 f. Vgl. M. Breuer (Fn. 17), S. 209 f. 147 Art. 24 Abs. 3 Satz 3 der französischen Verfassung i.d.F. des Verfassungsgesetzes vom 28.3.2003, Nr. 2003-276 (abgelöst durch Art. 24 Abs. 5 des Verfassungsgesetzes vom 23.7.2008, Nr. 2008-724). 148 Art. 24 Abs. 5 der französischen Verfassung i.d.F. des Verfassungsgesetzes vom 23.7.2008, Nr. 2008-724, i.V.m. Art. L 330-1 Code électoral i.d.F. vom 29.6.2012. 149 Vgl. M. Breuer (Fn. 17), S. 206 f. 150 VerfGH EuGRZ 1990, 67 ff.; vgl. näher M. Breuer (Fn. 17), S. 214 ff. 151 Vgl. die Untersuchung von D. Blumenwitz (Fn. 17), S. 55 ff. 146
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Abstract Hans-Detlef Horn: Democracy and the Territory of a State: The Meaning of Residency for Suffrage (Demokratie und Staatsgebiet: Die Bedeutung des Wohnsitzes für das Wahlrecht), in: The National Right to Vote and the International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 55-92. The German Federal Election Act traditionally links a citizen’s right to vote to the requirement that the individual in question has, on election day, been physically resident in the territory of the Federal Republic of Germany for at least three months. Due to this tradition, German lawmakers have created – repeatedly altered – exceptions for Germans living abroad. The exceptions, however, only apply to a part of the German population living abroad, since otherwise the principle of a domestic bond to the right to vote would be unthinkable. However, both the electoral law differentiation among Germans living abroad and the overall contingency of voting rights on residency in Germany meet constitutional objections. The constitutional principle of universal suffrage requires that every German citizen is entitled to participate in German parliamentary elections. Only under very strict conditions are limitations to this universal suffrage permitted. Among the current and future conditions of a global right of abode, which ensures compliance with national, European, and international law, the exclusion of citizens living abroad from their right to vote can hardly be justified. The traditional notion, which identifies a state’s voting population as the citizens resident in that state’s territory, is outdated. The opposite verdict by Germany’s Federal Constitutional Court is anachronistic. The Venice Commission of the Council of Europe also explicitly recommends in its 2011 “Report on Out-of-Country Voting” to provide national suffrage for citizens who have moved abroad. German lawmakers should amend the parliamentary suffrage law accordingly and drop the idea of binding the right to vote on residency in Germany.
Demokratie und Minderheiten: Wahlrecht von Minderheiten Von Dietrich Murswiek
I. Minderheitenfreundliche Wahlrechtsgestaltungen 1. Teilhabe der Minderheiten an der Ausübung der Staatsgewalt durch minderheitenfreundliche Staatsorganisation Nationale bzw. ethnische Minderheiten haben typischerweise ein zusammenhängendes Siedlungsgebiet. Das Recht auf politische Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt lässt sich für sie am besten verwirklichen, wenn entweder der Staat im Ganzen eine föderale Struktur hat, die es den Minderheiten ermöglicht, in einer besonderen föderalen Einheit zu leben, oder wenn speziell für Minderheiten ein Autonomiestatus geschaffen wird. In diesen regionalen Einheiten wird das Gliedstaatsvolk in einem Parlament für die jeweilige Einheit – in den deutschen Bundesländern im jeweiligen Landtag – repräsentiert. Während auf nationaler Ebene im Parlament das Gesamtvolk repräsentiert wird, können in föderalen Staaten die Gliedstaaten, Kantone oder Regionen nicht nur ihre dezentralen Angelegenheiten selbst regeln. Es ist auch möglich, dass auf Gesamtstaatsebene ein zweites Gesetzgebungsorgan – eine „zweite Kammer“ – eingerichtet wird, in der die regionalen Einheiten ihre besonderen Interessen auch auf Gesamtstaatsebene zur Geltung bringen können.1 Das ermöglicht gegebenenfalls auch Minderheiten, auf nationaler Ebene eine starke Repräsentation zu bekommen. Wenn Minderheiten nicht so groß sind, dass für sie auf Länder- oder Kantonsebene eine eigene Einheit sinnvoll erscheint, oder wenn die Angehörigen einer Minderheit in verschiedenen Ländern oder Kantonen siedeln, wo sie aber jeweils in der Minderheit sind, gewinnt die kommunale Ebene eine besondere Bedeutung. In Staaten, in denen die kommunale Selbstverwaltung gut ausgebaut ist, können Minderheiten in ihren Siedlungsgebieten auf lokaler Ebene die Mehrheit bilden und entsprechenden politischen Einfluss gewinnen. ___________ 1 In Deutschland ist diese Funktion dem Bundesrat zugedacht, der aber in der Praxis mehr und mehr zu einem Instrument der Parteipolitik umfunktioniert worden ist.
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Föderaler Staatsaufbau, Autonomiestatus für Minderheiten und kommunale Selbstverwaltung auf Kreis- und Gemeindeebene sind staatsorganisatorische Lösungen, die den Minderheiten die Möglichkeit effektiver Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt verschaffen. Wenn das funktioniert, bedarf es keiner besonderen Wahlrechtsgestaltung, um den Interessen der Minderheiten gerecht zu werden. Schon die Staatsorganisation stellt die Teilhabe der Minderheiten sicher. 2. Teilhabe der Minderheiten an der Ausübung der Staatsgewalt durch minderheitenfreundliche Ausgestaltung des Wahlrechts In vielen Fällen wird es einer Minderheit aber nicht möglich sein, eine eigene Landesregierung zu bilden oder auch nur eigene Landräte oder Bürgermeister durchzusetzen, weil sie auch in ihrem angestammten Siedlungsgebiet und nicht lediglich im Gesamtstaat in der Minderheit sind. In solchen Fällen fragt sich, welche Gestaltungen des Wahlrechts möglich und sinnvoll sind, um den Minderheiten politische Teilhabe zu ermöglichen. Eine Möglichkeit besteht darin, Parlamentsabgeordnete und andere Vertreter in Repräsentativkörperschaften nicht oder nicht nur über Listen von politischen Parteien zu wählen, sondern in Wahlkreisen. Sind die Wahlkreise so zugeschnitten, dass Minderheiten in ihrem Siedlungsgebiet einen oder mehrere Wahlkreise haben, in denen sie die Mehrheit der Wahlberechtigten bilden, haben sie die Chance, dass ihre Kandidaten in diesen Wahlkreisen Parlamentssitze gewinnen. Insofern kann man sagen: Das Mehrheitswahlrecht ist minderheitenfreundlich. Das gilt freilich nur bedingt. Es setzt insbesondere voraus, dass die Minderheiten geschlossen siedeln und jedenfalls in lokalen Siedlungsschwerpunkten die Mehrheit haben. Auch ein Verhältniswahlsystem kann minderheitenfreundlich sein. Wenn es kein Quorum gibt, das die Zuteilung von Parlamentsmandaten von einem bestimmten Mindestprozentsatz an Wählerstimmen abhängig macht, sind die Minderheiten im Parlament, im Kreistag, in der Gemeindevertretung entsprechend ihrem Anteil an Wählerstimmen vertreten. Völlig ohne Repräsentation bleiben sie dann nur, wenn weniger Wählerstimmen auf ihre Parteien entfallen, als zur Erringung eines einzigen Mandats erforderlich sind. Auf diese Weise haben Minderheiten jedenfalls auf den unteren Stufen des Staatsaufbaus ohne weiteres die Möglichkeit, Mandate zu erringen. Derartige Wahlrechtsgestaltungen sind mit dem Demokratieprinzip in vollem Umfang kompatibel. Das für alle geltende Wahlrecht gilt auch für die Minderheiten. Sie werden nicht bevorzugt und nicht benachteiligt. Sie haben die gleiche Chance auf politische Teilhabe wie alle anderen Angehörigen des Staatsvolkes.
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In Deutschland enthält das Verhältniswahlsystem auf Bundes- und Landesebene allerdings eine 5%-Sperrklausel: Nur solche Parteien werden bei der Verteilung der Parlamentssitze berücksichtigt, auf deren Listen mindestens 5 % der abgegebenen gültigen Stimmen entfallen sind.2 Solche Sperrklauseln gibt es – in unterschiedlicher Höhe – auch in vielen anderen Staaten. Minderheiten haben dann oft von vornherein keine Chance, Parlamentsmandate zu erringen, weil sie weniger Wahlberechtigte haben als Wählerstimmen zur Erreichung des Quorums erforderlich sind. In solchen Fällen fragt es sich, ob das Wahlrecht Minderheiten privilegieren soll und darf, indem es sie von den Anforderungen der Sperrklausel freistellt. Eine andere Art von Privilegierung stellt in Deutschland die sogenannte Grundmandatsklausel dar. Nach dieser Vorschrift des Bundeswahlgesetzes ist eine politische Partei dann von der 5%-Sperrklausel befreit, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnt.3 Hier handelt es sich nicht um eine minderheitenspezifische Privilegierung, sondern um eine Privilegierung aller Parteien, die regionale Schwerpunkte haben und auf diese Weise mindestens drei Direktmandate gewinnen. Denkbar wäre auch eine Regelung, nach der schon bei Erringung eines einzigen Direktmandats die Befreiung von der Sperrklausel erfolgt. Es liegt auf der Hand, dass Minderheiten von einer solchen Wahlrechtsgestaltung profitieren können – freilich nur dann, wenn sie groß genug sind, um die erforderliche Zahl von Direktmandaten gewinnen zu können.4 Ich möchte mich jetzt auf die Befreiung der Minderheiten von Sperrklauseln konzentrieren.
II. Zur Problematik von Minderheitenprivilegien im Wahlrecht am Beispiel der Befreiung von wahlrechtlichen Sperrklauseln 1. Die Ausnahme von der Sperrklausel als Privileg Von dem Erfordernis, mindestens 5 % der abgegebenen Zweitstimmen zu erzielen, macht das Bundeswahlgesetz eine Ausnahme für Parteien nationaler Minderheiten (§ 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG). Diese Ausnahme muss sinngemäß auch auf Parteien sonstiger ethnischer Minderheiten angewendet werden. Praktische Bedeutung hat die Ausnahmeklausel bislang nicht gewonnen, da auch die größte ethnische Minderheit, selbst wenn sie geschlossen für ihre Minder___________ 2
Für die Bundestagswahlen § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG. § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG. 4 Die Grundmandatsklausel ist freilich unter dem Aspekt der Wahlrechtsgleichheit m.E. nicht zu rechtfertigen; die gegenteilige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts halte ich für verfehlt. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen. 3
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heitsliste stimmt, nicht über genügend Stimmen verfügt, um ein einziges Bundestagsmandat zu erringen.5 Theoretisch ist ein Erfolg dennoch möglich: Man muss ja nicht Angehöriger einer Minderheit sein, um bei der Wahl für eine Minderheitenpartei zu stimmen. Im Landtagswahlrecht der Bundesländer Schleswig-Holstein6 und Brandenburg7 gibt es eine Bestimmung, nach der die 5%-Sperrklausel für die dort ansässigen Minderheiten nicht gilt. In Schleswig-Holstein ist aufgrund dieser Ausnahmeklausel immer wieder die Partei der dänischen Minderheit – der Südschleswigsche Wählerverband (SSW)8 – in den Landtag eingezogen und seit der Landtagswahl 2012 sogar erstmals an einer Landesregierung beteiligt. Der Zweck dieser Regelung liegt auf der Hand: Die Minderheiten sind wegen ihrer Größe strukturell nicht in der Lage, die 5%-Hürde zu überwinden. Wegen ihrer besonderen Situation soll ihnen dennoch eine parlamentarische Repräsentation ermöglicht werden. Dies entspricht dem Grundanliegen des Minderheitenschutzes.9 Verfassungsrechtlich unproblematisch ist diese wahlrechtliche Privilegierung jedoch nicht. Denn Demokratie beruht auf dem streng formalen Gleichheitssatz und schließt Privilegien prinzipiell aus. Auch die Angehörigen der Minderheiten haben die deutsche Staatsangehörigkeit und sind als solche wahlberechtigt. Die wahlrechtliche Privilegierung gibt ihnen demokratische Teilhabechancen, die besser sind als diejenigen anderer Staatsbürger. Grundsätzlich ist es mit dem Demokratieprinzip unvereinbar, dass die Stimmen einer Gruppe von Wählern mehr zählen als die Stimmen anderer Gruppen.10 Auch die Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 3 GG ist höchst problematisch. Diese Vorschrift verbietet Ungleichbehandlungen wegen Abstammung und Sprache. Deshalb werden Wahlrechtsprivilegierungen für Minderheiten in der staatsrechtlichen Literatur als verfassungswidrig angesehen.11 ___________ 5
Zu den ethnischen Minderheiten in Deutschland mit statistischen Angaben D. Murswiek, Schutz der Minderheiten in Deutschland, in: HStR X, 3. Aufl., 2012, § 213. 6 § 3 Abs. 1 Landeswahlgesetz. 7 § 3 Abs. 1 Wahlgesetz für den Landtag Brandenburg (Brandenburgisches Landeswahlgesetz) i.d.F. vom 28. Januar 2004. 8 Der SSW versteht sich laut Satzung außerdem als Vertretung der „nationalen Friesen in Südschleswig“. 9 Zur Bedeutung des Minderheitenschutzes in der Demokratie vgl. D. Murswiek, Demokratie und Freiheit im multiethnischen Staat, in: D. Blumenwitz u.a. (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 41 ff. 10 Dies hatte das Bundesverfassungsgericht ursprünglich auch für nationale Minderheiten ausdrücklich festgestellt, BVerfGE 1, 208 (241). 11 Vgl. dazu eingehend B. Schöbener, Die wahlrechtliche Privilegierung von Minderheiten – völkerrechtliche Vorgaben und innerstaatliche Ausgestaltung in der Bundes-
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Auch das Bundesverfassungsgericht hatte in einer frühen Entscheidung betont, eine Partei könne nicht eine Sonderstellung beanspruchen, weil sie eine bestimmte Gruppe des Volkes – und sei es auch eine nationale Minderheit – vertritt. Das Parlament repräsentiere nämlich das Staatsvolk als politische Einheit. Daraus ergebe sich, dass alle politischen Parteien gleich behandelt werden müssen.12 Freilich ging es in dieser Entscheidung nicht um die Frage, ob der Gesetzgeber Parteien nationaler Minderheiten wahlrechtlich privilegieren dürfe, sondern, ob er dazu verpflichtet sei. Diese Frage wurde zutreffend verneint.13 Dass das Staatsvolk im Parlament als Einheit repräsentiert wird und dass alle Staatsbürger im Wahlrecht streng formal gleich zu behandeln sind, ist aber auch der notwendige gedankliche Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, ob der Gesetzgeber berechtigt ist, die Sperrklausel für Parteien von Minderheiten außer Anwendung zu lassen. Es fragt sich nur, ob es Gründe gibt, die insofern eine Abweichung vom Grundsatz strikter Wahlrechtsgleichheit rechtfertigen. Die Wahlrechtsgleichheit ist – ebenso wie die Chancengleichheit der politischen Parteien – eine strikt formale Gleichheit. Sie lässt nicht – wie der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) – alle gesetzlichen Differenzierungen zu, die sachlich begründet und somit nicht willkürlich sind, sondern erlaubt – im Rahmen des Verhältniswahlsystems14 – Differenzierungen nur, soweit sie aus zwingenden verfassungsrechtlichen Gründen erforderlich sind. Da die Gleichheit der Wahl eine sich aus dem Demokratieprinzip ergebende Anforderung ist, die auch dann Geltung beanspruchte, wenn sie nicht ausdrücklich im Grundgesetz normiert wäre, und das Demokratieprinzip zu den nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsprinzipien gehört, lassen sich wahlrechtliche Bevorzugungen oder Benachteiligungen nur dann rechtfertigen, wenn die sie tragenden Gründe ebenfalls aus einem unabänderlichen Verfassungsprinzip abgeleitet werden können. Und nur dann, wenn die Ungleichbehandlung zur Wahrung eines solchen Verfassungsprinzips „zwingend“ geboten ist, ist sie gerechtfertigt. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner ständigen Wahlrechtsrechtsprechung, dass nur „zwingende Gründe“ wahlrechtliche Differenzierungen zu rechtfertigen
___________ republik Deutschland, in: G. H. Gornig u.a. (Hrsg.), Justitia et Pax. Gedächtnisschrift für D. Blumenwitz, 2008, S. 455 (473 ff.) m.w.N. 12 BVerfGE 1, 208 (241). 13 Ebenso BVerfGE 4, 31 (42). 14 Gleichheitsfragen, die sich in Bezug auf unterschiedliche Wahlsysteme ergeben, spielen für die hier erörterte Fragestellung keine Rolle und bleiben außer Betracht.
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vermögen.15 Dies legt den Gedanken nahe, dass eine Differenzierung, zu deren Normierung der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verpflichtet ist, nicht rechtfertigungsfähig sein kann, weil sie nicht „zwingend“ verfassungsrechtlich geboten ist. Bei diesem Verständnis des Erfordernisses „zwingender Gründe“ könnte das wahlrechtliche Minderheitenprivileg nicht gerechtfertigt werden. Nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Verpflichtung des Gesetzgebers, für nationale Minderheiten eine Ausnahme von der Sperrklausel vorzusehen, verneint hatte, hat es jedoch in späteren Entscheidungen die Befugnis des Gesetzgebers, nationale Minderheiten in dieser Weise zu begünstigen, bejaht.16 Dies ist dann kein Widerspruch, wenn man berücksichtigt, in welcher Weise das Bundesverfassungsgericht in seiner wahlrechtlichen Rechtsprechung den Begriff des „zwingenden Grundes“ verwendet. Dieses Kriterium wird vom Bundesverfassungsgericht nämlich nicht so streng gehandhabt, wie es begrifflich erscheint. Das Gericht verlangt für einen „zwingenden“ Grund nicht, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellt. Es lässt auch Gründe ausreichen, die durch die Verfassung nur legitimiert und von einem Gewicht sind, dass sie der Wahlrechtsgleichheit die Waage zu halten vermögen, ohne dass die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen geradezu gebietet.17 Dementsprechend kommt es bezüglich des minderheitenrechtlichen Sperrklausel-Privilegs darauf an, ob dieses Privileg zur Verwirklichung eines fundamentalen Verfassungsprinzips erforderlich ist. Es kommt zunächst also darauf an, ob der Zweck dieses Privilegs auf eines der unabänderlichen Verfassungsprinzipien gestützt werden kann. 2. Mögliche Rechtfertigung des Privilegs Wie also hat das Bundesverfassungsgericht die Befreiung nationaler Minderheiten von der Sperrklausel gerechtfertigt? Das Gericht hat argumentiert, das Merkmal, das die Parteien nationaler Minderheiten von allen anderen Parteien unterscheide, liege „außerhalb des Wahlvorgangs“. Der Gleichheitssatz verbiete nicht, „Parteien wegen eines Kriteriums, das in einem anderen Bereich liegt“, trotz fehlender Überwindung der 5%-Hürde bei der Mandatsverteilung zu berücksichtigen. Wörtlich lautet die Begründung: ___________ 15 Beginnend mit BVerfGE 1, 208 (248 f.); vgl. auch z.B. BVerfGE 6, 84 (92 f.); 51, 222 (236); 95, 408 (418). 16 BVerfGE 5, 77 (83); 6, 84 (97 f.). 17 Vgl. BVerfGE 95, 408 (418) mit Nachweisen der ständigen Rechtsprechung und einer dann (S. 418 ff.) m.E. viel zu weit gehenden Aufweichung des Erfordernisses eines „zwingenden Grundes“.
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„Bei den Parteien nationaler Minderheiten liegen besondere Verhältnisse vor, die mit der Situation anderer kleiner Parteien nicht zu vergleichen sind. Die Merkmale der großen Stimmenzahl oder der Direktmandate erlangt eine Partei erst im und durch den Wahlvorgang, während das Merkmal, das die Parteien nationaler Minderheiten von allen anderen Parteien unterscheidet, außerhalb des Wahlvorgangs liegt. Es handelt sich also um nicht vergleichbare Tatbestände. Der Gleichheitssatz verbietet nicht, Parteien wegen eines Kriteriums, das in einem anderen Bereich liegt, zum Verhältnisausgleich zuzulassen, wenn Parteien mit geringer Stimmenzahl und Parteien ohne örtliche Schwerpunkte davon ausgeschlossen werden. Der Gleichheitssatz gebietet andererseits auch nicht, daß für alle Parteien, die sich durch Merkmale charakterisieren lassen, die außerhalb des Wahlvorganges liegen, eine Ausnahme gemacht wird, wenn eine Partei ausnahmsweise zum Verhältnisausgleich zugelassen wird, weil sie eine nationale Minderheit repräsentiert. Es liegt im Ermessen des Gesetzgebers, ob er eine Partei ohne Rücksicht auf die erzielte Stimmenzahl und die Erringung von Direktmandaten wegen politischer Umstände, die eine besondere Regelung gerade im Wahlverfahren rechtfertigen, für parlamentswürdig erachtet oder nicht.“ Die Lage der nationalen Minderheit, die deutsche Staatsangehörigkeit mit fremder Volkszugehörigkeit verbindet, so das Bundesverfassungsgericht, sei innerstaatlich einzigartig, da das Völkerrecht und unter Umständen ein fremder Staat, dessen Volkstum die Minderheit zugehört, Interesse an ihrem Status nehme. Es sei darum ein die wahlrechtliche Sonderregelung hinreichend rechtfertigendes Anliegen des Gesetzgebers, der nationalen Minderheit zur Vertretung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments zu eröffnen, wenn sie nur die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl aufbringt. Auch die Rücksicht auf die Behandlung deutscher nationaler Minderheiten in fremden Staaten durch den ausländischen Gesetzgeber könne es rechtfertigen, Parteien nationaler Minderheiten von der Sperrklausel beim Verhältniswahlrecht auszunehmen.18 Diese Begründung verfehlt die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Rechtfertigung der Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit in grotesker Weise. Das Bundesverfassungsgericht stellt es in das politische Ermessen des Gesetzgebers, welche Parteien er als „parlamentswürdig“ erachten will und welche nicht. Dem liegt eine vordemokratische Vorstellung von Integration zugrunde, die es der Obrigkeit ermöglicht, darüber zu entscheiden, welchen der im Staatsvolk vorhandenen Gruppen Repräsentanz im Parlament ermöglicht werden soll, ohne dass sie die für alle anderen geltenden wahlrechtlichen Voraussetzungen erfüllen. Zu entscheiden, welche Parteien würdig sind, im Par___________ 18 BVerfGE 6, 84 (97 f.); vgl. auch bereits BVerfGE 5, 77 (83). Kritisch zu dieser Rechtsprechung B. Schöbener (Fn. 11), S. 479 ff.
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lament vertreten zu sein, ist in einer Demokratie aber allein Sache der Wähler.19 Mit dem Argument, das Differenzierungskriterium liege „außerhalb des Wahlvorgangs“, ließen sich Ausnahmen für beliebige Gruppen formulieren – beispielsweise für religiöse Parteien oder für Parteien von Computerfreaks. So könnte der Gesetzgeber die Wahlchancen für von ihm gewünschte Parteienkonstellationen manipulieren. Es kann aber nicht Sache des Gesetzgebers sein, nach eigenem Gutdünken Gründe für die wahlrechtliche Bevorzugung bestimmter Parteien zu bestimmen. Deshalb ist – entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts20 – auch der Gesichtspunkt der Integration des Staatsvolkes nicht geeignet, Wahlrechtsprivilegien und andere Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit zu rechtfertigen. Die Integration des Staatsvolkes zur politischen Einheit vollzieht sich in erster Linie durch den Prozess öffentlicher Meinungsbildung außerhalb der staatlichen Institutionen. Innerhalb der Staatsorganisation ist Integration aber an die verfassungsrechtlich vorgegebenen Verfahren und Formen gebunden. Demokratische Integration erfolgt durch Wahlen auf der Basis staatsbürgerlicher Gleichheit, Chancengleichheit aller politischen Parteien und Wahlrechtsgleichheit. Es ist gerade die strikt formale Gleichheit, die allen gesellschaftlichen Kräften, allen im Volk vorhandenen politischen, kulturellen, ökonomischen Strömungen und Interessen ermöglicht, sich in den Staatswillensbildungsprozess einzubringen. Jede Bevorzugung bestimmter Gruppen ist verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig. Der Zweck, diese Gruppen zu integrieren, rechtfertigt eine wahlrechtliche Privilegierung nicht, weil er nur politischen Zweckmäßigkeitserwägungen – möglicherweise auch wahlstrategischen Überlegungen – entspringt, nicht jedoch anhand eines der Wahlrechtsgleichheit gleichrangigen Verfassungsprinzips begründet werden kann. Politisch lässt sich auch die Auffassung vertreten, dass jede Privilegierung bestimmter Gruppen und die damit verbundene Benachteiligung anderer Gruppen nicht integrierend, sondern desintegrierend wirke. Ob das eine oder das andere in Bezug auf konkrete Anwendungsfälle zutrifft, darüber kann man politisch streiten. Die Verfassung aber legitimiert ein die Wahlrechtsgleichheit und die
___________ 19
Insoweit ebenso OVG Schleswig, Beschl. vom 25. September 2002, JZ 2003, S. 519 (521) m.w.N. 20 Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere die Grundmandatsklausel, nach der eine Partei, die mindestens drei Direktmandate errungen hat, auch dann bei der Zuteilung von Mandaten nach dem Listenwahlergebnis berücksichtigt wird, wenn sie nicht 5 % der Stimmen erreicht hat, damit gerechtfertigt, dass diese Klausel der „effektiven Integration des Staatsvolkes“ diene, vgl. BVerfGE 95, 408 (420).
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Chancengleichheit der politischen Parteien durchbrechendes Integrationsverständnis nicht.21 Wer mit der Gleichheit des Stimmrechts nicht ernst macht und bestimmten Gruppen besondere Stimmrechte oder Stimmrechte mit besonderem Gewicht einräumt, untergräbt die Fundamente der Demokratie. Nur aus zwingenden Gründen, die sich aus der Verfassung selbst ergeben, lassen sich Abweichungen von der Wahlrechtsgleichheit rechtfertigen. Und diese Abweichung darf auf keinen Fall weiter gehen, als es der sie legitimierende verfassungsrechtliche Zweck erfordert. Die Privilegierung der Parteien nationaler Minderheiten kann, wie gesagt, nur dann gerechtfertigt sein, wenn der Privilegierungszweck sich aus einem mit dem Demokratieprinzip gleichrangigen Verfassungsfundamentalprinzip ergibt. In Betracht kommt hier nur das Demokratieprinzip selbst.22 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen das Minderheitenprivileg betreffenden Entscheidungen aber in keiner Weise gezeigt, dass die Privilegierung gerade der Verwirklichung des Demokratieprinzips (oder eines anderen Verfassungsfundamentalprinzips) dient. Die vom Gericht angeführten Gründe – internationales Interesse an den nationalen Minderheiten – könnten „vernünftige Gründe“ im Sinne des Willkürverbots sein, sind jedoch nicht „zwingende verfassungsrechtliche Gründe“, die zur Verwirklichung eines Verfassungsprinzips die Gleichheitseinschränkung erfordern. Ist also eine Rechtfertigung möglich, die den Anforderungen des Demokratieprinzips gerecht wird? Man könnte den besonderen Schutz autochthoner Minderheiten als notwendige Modifikation des demokratischen Prinzips ansehen, als Kompensation dafür, dass die Minderheit in ihrer eigenen Heimat der Mehrheitskultur unterworfen ist und keine Chance hat, zur Mehrheit zu werden.23 Im Nationalstaat sind Sprache und Kultur des die Nation tragenden Mehrheitsvolkes die gemeinsame Grundlage, auf der sich die verschiedenen politischen Richtungen entfalten. Nationale und ethnische Minderheiten leben sprachlich-kulturell auf einer eigenen, besonderen Grundlage, mit der sie nicht ohne weiteres durch die vom Mehrheitsvolk getragenen Parteien und ihre Abgeordneten mit repräsentiert sind. ___________ 21 Insofern greift auch das OVG Schleswig, JZ 2003, S. 519 (522), mit seiner Begründung zu kurz, die die Privilegierung von Minderheitenparteien mit dem Integrationsgedanken grundsätzlich für rechtfertigungsfähig hält. 22 Die Menschenwürdegarantie ist ebenfalls geeignet, Einschränkungen von verfassungsrechtlich vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten zu legitimieren, doch ist sie hier nicht betroffen. Niemand ist in seiner Menschenwürde verletzt, weil er bzw. die Gruppe, der er angehört, mangels einer ausreichenden Zahl von Wählerstimmen nicht im Parlament vertreten ist (sofern dieses Ergebnis nicht auf einer mit der Menschenwürdegarantie unvereinbaren Diskriminierung beruht). 23 Vgl. D. Murswiek (Fn. 9), S. 49 ff.
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Notwendig ist die Förderung und Privilegierung von Minderheiten dann, wenn und soweit dies zur Wahrung ihrer Existenz sowie ihrer ethnischen und insbesondere sprachlichen und kulturellen Besonderheiten erforderlich ist. Daraus folgt freilich noch nicht zwingend, dass sich auch wahlrechtliche Privilegien rechtfertigen lassen. Denn zur Wahrung der Existenz und der kulturellen Identität der Minderheit dürften wahlrechtliche Privilegien nicht unbedingt notwendig sein. Immerhin lässt sich die Befreiung von der Sperrklausel im Ansatz damit rechtfertigen, dass eine ethnische Minderheit die Möglichkeit erhalten soll, ihre Besonderheit, die sich aus ihrer ethnischen (sprachlichen, kulturellen) Identität ergibt, im Parlament zur Geltung zu bringen, auch wenn die Gruppe kleiner ist als der Prozentsatz der Wähler, deren Stimmen zur Überwindung der Sperrklausel erforderlich wären. Diese strukturelle Minderheitenposition macht es der Minderheit unmöglich, demokratische Teilhabe auf einer Repräsentationsebene zu erlangen, auf der auch über ihre spezifischen Minderheiteninteressen (beispielsweise Förderung von Minderheitenschulen) entschieden wird. Der Ausgleich dieses Nachteils dient der Überwindung eines strukturellen Teilhabedefizits, und zwar eines Defizits, das sich gerade aus dem Zusammenhang von Nationalstaat und Demokratie einerseits und der besonderen Stellung nationaler und ethnischer Minderheiten im Nationalstaat ergibt.24 Daher lässt sich argumentieren, dass der Ausgleich dieses Defizits die Verwirklichung demokratischer Repräsentation nicht verzerrt, sondern verbessert. So ließe sich die Ausnahme von der Sperrklausel rechtfertigen – freilich nur bei strenger Orientierung auf den Minderheitenschutzzweck. Insofern könnte man sagen, dass ein Wahlrechtsprivileg, das grundsätzlich undemokratisch ist, im Fall der Minderheitenparteien der Verwirklichung der Demokratie dient, da es ein im Nationalstaat unvermeidliches strukturelles Repräsentationsdefizit kompensiert. Voraussetzung dieses Rechtfertigungsansatzes ist es freilich, demokratischparlamentarische Repräsentation nicht nur formal als Repräsentation eines als Einheit verstandenen Volkes von gleichen Staatsbürgern zu verstehen, sondern die materiellen Gleichheitsvoraussetzungen in die Repräsentationskonzeption einzubeziehen: Die materielle (inhaltliche) Basis des demokratischen Subjekts, der Nation, sind die allen gemeinsamen sprachlich-kulturellen Vorgegebenheiten. Haben nicht alle Staatsangehörigen an diesen Vorgegebenheiten teil, wie dies bei autochthonen25 nationalen oder ethnischen Minderheiten der Fall ist, besteht für sie ein eigenständiger Repräsentationsbedarf – ein Bedarf, nicht le___________ 24
Vgl. hierzu näher D. Murswiek (Fn. 9), S. 45 ff., 50 ff. Für eingewanderte Minderheiten sehe ich keine Kompensationsnotwendigkeit, weil diesen die sprachlich-kulturelle Grundlage des Aufenthaltsstaats nicht vorgegeben ist, sondern sie sich diese durch ihre Entscheidung zur Immigration ausgewählt haben. 25
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diglich als Teil des Staatsvolkes, der sie auch sind, sondern gerade in ihrer Besonderheit repräsentiert zu werden. Eine solche Repräsentationskonzeption entspricht freilich nicht der allein auf staatsbürgerlicher Gleichheit beruhenden Parlamentarismustheorie. Ob sie mit der Verfassung vereinbar ist, könnte daher als fraglich erscheinen. Das Grundgesetz kennt – wie die Verfassungen anderer Verfassungsstaaten auch – als Subjekt der Demokratie nur das als Einheit verstandene Volk, das aus den Staatsangehörigen besteht, die alle das gleiche Wahlrecht haben.26 Das spricht dafür, die sich aus nationalen bzw. ethnischen Zugehörigkeiten ergebenden Ungleichheiten lediglich als faktische Umstände zu begreifen, die zwar für das soziologische Verständnis der Funktionsbedingungen der Demokratie eine Rolle spielen und aus denen sich auch die Notwendigkeit der Förderung von Minderheiten durch besondere Schutzmaßnahmen und staatliche Leistungen (insbesondere im Bildungs- und Kulturbereich) ergibt, die jedoch die rechtliche Gleichheit des staatsbürgerlichen Status nicht berühren und deshalb auch nicht zu Besonderheiten in der parlamentarischen Repräsentation führen können. Andererseits schließt der Verfassungstext eine den Minderheitenschutz auch bei der parlamentarischen Repräsentation berücksichtigende modifizierte Repräsentationskonzeption nicht zwingend aus. Vorgegebene faktische Ungleichheiten rechtlich zu verarbeiten und gleiche Chancen dadurch zu schaffen, dass man diesen Ungleichheiten differenzierend Rechnung trägt, ist bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes nichts Ungewöhnliches und bei der Anwendung der demokratischen Wahlrechtsgleichheit nicht ausgeschlossen, wenn die Differenzierung ihrerseits am Demokratieprinzip orientiert ist. Dass ein solcher Ansatz zugunsten von Minderheiten möglich ist, meine ich gezeigt zu haben. Dieser Ansatz rechtfertigt die Befreiung nationaler und ethnischer Minderheiten von der wahlrechtlichen Sperrklausel. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass diese Rechtfertigung gerade nicht auf dem Status staatsbürgerlicher Gleichheit beruht, sondern auf der faktisch vorgegebenen nationalen oder ethnischen Ungleichheit. Das Privileg dient dazu, gerade den vorgegebenen nationalen bzw. ethnischen Besonderheiten Repräsentanz zu verschaffen. Es gibt gute Gründe für die Ansicht, dass es nicht Aufgabe des Parlaments sei, Gruppenbesonderheiten zu repräsentieren, sondern dass die Idee der repräsentativen Demokratie davon ausgehe, dass im Parlament das Volk im Ganzen repräsentiert werde. Geht man davon aus, dass dieses Repräsentationsprinzip ausnahmslos verbindlich ist und auch das Vorhandensein autochthoner nationaler oder ethnischer Minderheiten im Nationalstaat keine Modifikation zulässt, ___________ 26 Mit bestimmten, wiederum für alle gleichen Einschränkungen, insbesondere hinsichtlich des Mindestalters als Voraussetzung der Wahlberechtigung.
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dann lassen sich Wahlrechtsprivilegien für Minderheiten nicht rechtfertigen. Die Befreiung nationaler Minderheiten von der Sperrklausel ist dann verfassungswidrig. Rechtfertigen lässt sich diese Befreiung nur dann, wenn man annimmt, dass der besondere faktische Status nationaler und ethnischer Minderheiten sich auf die verfassungsrechtliche Repräsentationskonzeption auswirkt und dass eine besondere Repräsentation der nationalen oder ethnischen Besonderheiten der betreffenden Gruppen zur Kompensation eines strukturellen Repräsentationsdefizits demokratisch legitim ist. 3. Das Auseinanderfallen von Legalität und Legitimität des Parlamentsmandats – zum Missbrauchsfall des SSW in Schleswig-Holstein Die Rechtfertigung der Minderheitenprivilegierung trägt freilich nur insoweit, wie man implizit davon ausgeht, dass die aufgrund des Privilegs gewonnenen Mandate inhaltlich beschränkt sind auf die Wahrnehmung spezifischer Minderheiteninteressen. Die Problematik wurde deutlich, als bei der Landtagswahl 2005 in Schleswig-Holstein die Partei der dänischen Minderheit, der Südschleswigsche Wählerverband (SSW),27 mit 3,6 % der Stimmen zwei Mandate errang und angesichts des Patts zwischen Rot-Grün (33 Mandate) und Schwarz-Gelb (34 Mandate) entschlossen war, die Bildung einer rot-grünen Regierung zu ermöglichen. Für eine solche Richtungsentscheidung den Ausschlag zu geben, hat eine Minderheitenpartei keine Legitimation, wenn sie ihre Mandate nicht regulär – also durch Überwinden der 5%-Hürde –, sondern aufgrund des Minderheitenprivilegs gewonnen hat. Das geltende Recht verbietet es zwar nicht, die Mandate auch zu solchen Zwecken einzusetzen. Das geltende Recht, welches die Minderheit von der Sperrklausel ausnimmt, ohne die so gewonnenen Mandate zu limitieren, gewährt ein größeres Privileg, als dies minderheitenspezifisch gerechtfertigt werden kann. Der Umfang des Mandats reicht über den Umfang seiner Rechtfertigung hinaus. Der überschießende Inhalt dieses Privilegs war solange unproblematisch, wie man darauf vertrauen konnte, dass die begünstigte Minderheit von ihrem Vorrecht nur im Rahmen seiner inneren Rechtfertigung Gebrauch macht. Die Landtagswahl im Februar 2005 hatte nun erstmals zu einer Situation geführt, in der der SSW seine Mandate strategisch für allgemeinpolitische Ziele einsetzen konnte, und er war prompt dieser Versuchung erlegen. Damals ist dieser Versuch gescheitert. Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) konnte ihr Amt nicht verteidigen, sondern scheiterte beim Versuch, mit ___________ 27 Ob der SSW heute noch angesichts Satzung und Programmatik die Voraussetzungen einer Minderheitenpartei erfüllt, muss allerdings bezweifelt werden, dazu B. Schöbener (Fn. 11), S. 476 f., 484 f.; vgl. dazu auch – mit entgegengesetztem Ergebnis – OVG Schleswig, JZ 2003, S. 519 (520).
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Hilfe des SSW erneut gewählt zu werden, weil es offenbar aus ihrer eigenen Partei Gegenstimmen gab. CDU- und FDP-Politiker hatten zuvor heftige Kritik an dem Vorhaben geübt, einen Regierungswechsel mit Hilfe des SSW zu verhindern.28 Diese Kritik ebbte aber sofort ab, als eine schwarz-gelbe Regierung installiert war. Das erleichterte nicht nur der Gegenseite, die Kritik als rein parteipolitisch motiviert darzustellen. Es wurde auch versäumt, die nötigen wahlrechtlichen Konsequenzen zu ziehen und Vorsorge gegen einen erneuten Missbrauchsversuch zu treffen. Nach der nächsten Landtagswahl vom 6. Mai 2012 kam es dann tatsächlich mit Hilfe des SSW zu einer von der SPD geführten Landesregierung. SPD, Grüne und SSW bildeten als sogenannte „Dänen-Ampel“ die neue Regierung. Mit 35 Mandaten verfügen sie über eine Stimme mehr als die übrigen Parteien. Drei Mandate hat der SSW errungen, obwohl er nur 4,6 % der Zweitstimmen erhalten hat. Ohne das Wahlrechtsprivileg wäre er an der 5%-Sperrklausel gescheitert. Die drei Mandate wären auf andere Parteien verteilt worden. Dies hätte dazu geführt, dass wahrscheinlich eine große Koalition unter Führung der CDU gebildet worden wäre, die nach dem Zweitstimmenergebnis knapp vor der SPD lag. Andere Optionen wären eine Koalition aus CDU, Grünen und FDP oder aus SPD, Grünen und FDP gewesen, wenn man davon ausgeht, dass keine der größeren Parteien mit den Piraten koalieren wollte, die sechs Mandate errungen hatten. Das Wahlrechtsprivileg der Minderheitenpartei gab also hier den Ausschlag für die Regierungsbildung. Eine Minderheitenpartei handelt zwar legal, wenn sie das rechtlich nicht limitierte Mandat zu beliebigen Zwecken einsetzt, aber indem sie sich über die legitimierende Zwecksetzung des Privilegs hinwegsetzt, entzieht sie dieser Legalität den Boden. So kann aus dem berechtigten Minderheitenschutz eine antidemokratische Überwältigung der Mehrheit durch die Minderheit werden. Die überschießende Reichweite des Mandats setzt eine am legitimierenden Zweck orientierte, vernünftige Selbstbeschränkung der begünstigten Partei zwingend voraus und verlangt von den anderen Parteien, dass sie sich in Pattsituationen nicht der Stimmen der Minderheitenpartei bedienen. SPD, Grüne und SSW haben mit ihrer Regierungsbildung jetzt das Wahlrechtsprivileg der dänischen Minderheit gründlich diskreditiert. Wer es ernst nimmt mit der Demokratie, muss nun die Abschaffung dieses Privilegs in Schleswig-Holstein verlangen. Das Privileg war nur auf der Basis eines Vertrauensvorschusses hinnehmbar – aufgrund des Vertrauens, dass die Minderheitenpartei sich auf die Wahrnehmung von Minderheiteninteressen beschränken würde, wenn es bei Parla___________ 28 Kritisch äußerten sich insbesondere Wolfgang Schäuble, der hessische Ministerpräsident Roland Koch und Bundeskanzlerin Angela Merkel, vgl. den Bericht von E. Holtmann, Dürfen die das, wo sie doch Dänen sind? Über den Umgang mit Macht und Minderheiten in Deutschland, ZParl. 2005, S. 616 (622 f.) m. N.
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mentsentscheidungen auf ihre Stimmen ankommt. Wird dieses Vertrauen enttäuscht, verliert das Privileg seine Basis.29 Die deutschen Staatsbürger dänischer Abstammung, die in SchleswigHolstein leben, haben das Wahlrechtsprivileg bekommen, damit sie ihre spezifischen Minderheitenanliegen auf Landesebene vertreten und sich zum Beispiel dafür einsetzen können, dass sie eigene Schulen in ihrem Siedlungsgebiet betreiben können, in denen die Unterrichtssprache dänisch ist, und dass diese Schulen vom Staat finanziert werden. Sie haben es nicht dafür bekommen, damit sie darüber bestimmen können, wie das Schulsystem in ganz SchleswigHolstein für die Mehrheitsbevölkerung gestaltet wird. Wenn zum Beispiel in Schleswig-Holstein eine zwischen den großen Parteien umstrittene Richtungsentscheidung darüber ansteht, ob für die Mehrheitsbevölkerung in ganz Schleswig-Holstein das dreigliedrige Schulsystem durch die Gesamtschule ersetzt wird, dann ist es eine Perversion des Minderheitenschutzes, wenn die wenigen dänischen Schleswig-Holsteiner diese Entscheidung treffen, indem sie aufgrund ihres Minderheitenprivilegs im Parlament den Ausschlag dafür geben, welche Richtung sich durchsetzt.30 Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Problem ist nicht, dass „dänische“ Stimmen den Ausschlag geben, sondern dass sie aufgrund des Minderheitenprivilegs den Ausschlag geben. Dies ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Wenn die Minderheitenpartei im Parlament wäre, weil sie – wie jede andere Parlamentspartei – mehr als 5 % der Stimmen erhalten hat, oder wenn es keine Sperrklausel gäbe, wenn also die Minderheitenpartei unter den gleichen Voraussetzungen wie alle anderen Parteien ihre Mandate errungen hätte, gäbe es kein Privileg und somit kein Demokratieproblem, wenn diese Partei in nicht minderheitenspezifischen Fragen den Ausschlag gibt. ___________ 29 In der Politikwissenschaft finden sich Stimmen, die völliges Unverständnis für die Privilegienfeindlichkeit demokratischer Legitimation zum Ausdruck bringen. So entgegnet P. Horst der vor der letzten Landtagswahl von der CDU geäußerten Kritik an der geplanten „Dänen-Ampel“, der Minderheitenstatus mache die Dänen nicht zu Bürgern zweiter Klasse, ZParl. 2012, S. 524 (528). Im selben Sinne äußert sich E. Holtmann (Fn. 28), der schon in der Überschrift seines Beitrags („Dürfen die das, wo sie doch Dänen sind?“) polemisch suggeriert, Kritiker des Privilegs wollten die Dänen wegen ihres Dänentums diskriminieren. Richtig ist, dass die Partei der Dänen nicht benachteiligt würde, wenn sie mit 4,6 % der Stimmen überhaupt nicht im Landtag vertreten wäre. Von den SSW-Abgeordneten zu erwarten, dass sie ihr Mandat nicht zu allgemeinpolitischen Richtungsentscheidungen missbrauchen, macht sie nicht zu Abgeordneten „zweiter Klasse“. Sie sind vielmehr auch dann noch privilegiert und nicht benachteiligt, wenn von ihnen erwartet wird, ihre Stimme bei knappen Parlamentsentscheidungen nur dann in die Waagschale zu werfen, wenn es um Minderheitenfragen geht. 30 In diesem Sinne auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, zit. bei E. Holtmann (Fn. 28), S. 623.
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Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Der Befreiung der Minderheitenparteien von der Sperrklausel entspricht keine gesetzliche Beschränkung der aufgrund dieses Privilegs errungenen Parlamentsmandate auf die Wahrnehmung von Minderheiteninteressen. Die Legalität des Mandats überschreitet seine innere Rechtfertigung, seine Legitimität, um ein Vielfaches. Mit dem Prinzip der Wahlrechtsgleichheit war das Privileg nur unter der Voraussetzung vereinbar, dass man darauf vertrauen konnte, dass die Abgeordneten der privilegierten Minderheitenpartei ihre Mandate nur im Rahmen der minderheitenspezifischen Legitimität ausüben und einen missbräuchlichen Einsatz des Privilegs für nicht minderheitenspezifische Zwecke unterlassen würden. Dieser Vertrauensvorschuss, den der Gesetzgeber den Minderheitenparteien entgegenbrachte, war von vornherein nicht ohne Risiko. Nachdem der SSW das Vertrauen enttäuscht hat, lässt sich das Privileg nicht mehr rechtfertigen. Es ist ein krasser Verstoß gegen das Demokratieprinzip, aber auch gegen Art. 3 Abs. 3 GG,31 einer Partei allein aufgrund der ethnischen bzw. kulturellen Besonderheit ihrer Mitglieder parlamentarische Entscheidungsbefugnisse einzuräumen, die allen anderen Parteien nicht zustehen, und den Wählern dieser Partei ein Stimmgewicht zu geben, das weit größer ist als das der Wähler anderer Parteien. In SchleswigHolstein muss das wahlrechtliche Minderheitenprivileg daher abgeschafft werden, um demokratische Zustände wiederherzustellen. Es gibt übrigens eine Möglichkeit, den Vertretern einer Minderheit Repräsentanz im Landtag (und gegebenenfalls auch im Bundestag) ohne Verstoß gegen das Demokratieprinzip zu ermöglichen: Man könnte die Befreiung von der Sperrklausel beibehalten, aber dann nur Mandate ohne Stimmrecht zuteilen. Das hätte den Vorteil, dass die Minderheit an allen parlamentarischen Debatten beteiligt wäre und sich im Forum des Parlaments Gehör verschaffen könnte, dass aber andererseits vermieden würde, dass eine Minderheit mit ihren Stimmen die Mehrheit überwältigt. 4. Minderheitenprivileg und Übermaßverbot Geht man davon aus, dass die Privilegierung nationaler oder ethnischer Minderheiten durch Befreiung von der wahlrechtlichen Sperrklausel sich grundsätzlich rechtfertigen lässt, so darf doch die Ausgestaltung des Privilegs nicht dazu führen, dass das gewährte Privileg – und somit wahlrechtliche Ungleichheit – größer ist, als sein verfassungslegitimer Zweck es erfordert. Auch Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit müssen das Übermaßverbot beachten. Soweit sie zur Verwirklichung des legitimen Zwecks nicht erforderlich sind, lassen sie sich nicht rechtfertigen und sind daher verfassungswidrig. ___________ 31
Dazu noch unten, Ziff. 5.
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Ein Anschauungsbeispiel für diese Problematik bietet wiederum SchleswigHolstein. Früher hatte bei Landtagswahlen in Schleswig-Holstein jeder Wähler eine Stimme. Mit dieser wählte er zugleich einen Direktkandidaten (Wahlkreiskandidaten) und seine Partei. Dieses System hatte zur Folge, dass politische Parteien nur in den Wahlkreisen gewählt – und bei der Mandatsverteilung nach dem Verhältniswahlprinzip berücksichtigt – werden konnten, in denen sie Direktkandidaten aufgestellt hatten. Da die Partei der dänischen Minderheit, der SSW, nur im nördlichen Landesteil Schleswig-Holsteins, im Landesteil Schleswig, Mitglieder hat und nur dort aktiv ist, hatte sie auch nur dort Direktkandidaten aufgestellt und konnte nur dort gewählt werden. Das änderte sich nach einer Wahlrechtsreform, durch die ein Zwei-StimmenWahlrecht wie bei der Bundestagswahl eingeführt wurde. Seither kann die Landesliste einer Partei in ganz Schleswig-Holstein gewählt werden – auch in Wahlkreisen, in denen sie nicht mit einem Direktkandidaten antritt. Das hat dazu geführt, dass der Stimmenanteil des SSW sich in den seither durchgeführten Landtagswahlen drastisch erhöht hat, von vor der Wahlrechtsreform zuletzt 2,5 % auf jetzt über 4 %, im Jahr 2012 sogar 4,6 %.32 Der SSW spricht mit seinem Programm nämlich die allgemeine Bevölkerung an. Nur ein sehr kleiner Teil des Wahlprogramms ist spezifischen Minderheitenthemen gewidmet, während der SSW sich überwiegend mit allgemeinpolitischen Themen beschäftigt und Positionen vertritt, die etwa zwischen SPD und FDP verortet werden können. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig hat die Auffassung vertreten, dass die Wahlrechtsreform zu einer mit dem Übermaßverbot unvereinbaren Privilegierung der dänischen Minderheitspartei geführt habe. Der Gesetzgeber, so das Oberverwaltungsgericht, hätte die Möglichkeit gehabt, die Privilegierung auf den Landesteil Schleswig einzugrenzen, ohne das Wahlsystem im Übrigen zu ändern. Es wäre lediglich erforderlich gewesen, den § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG – das ist die Privilegierungsklausel – in der Weise zu ergänzen, dass (sofern das 5%-Quorum nicht überschritten ist) nur die im Landesteil Schleswig erreichten Stimmen bei dem Verhältnisausgleich berücksichtigt werden. Werde eine Partei wegen ihrer Eigenschaft als nationale Minderheit begünstigt, dann sei es konsequent, sie nur dort zu begünstigen, wo sie diese Eigenschaft besitzt.33 Eine Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat dies anders gesehen. Sie hat angenommen, dass es eine weniger einschneidende, aber gleich geeignete Maßnahme zur Verwirklichung des legitimen gesetzgebe___________ 32
Vgl. die Statistiken bei E. Holtmann (Fn. 28), S. 618, und bei P. Horst (Fn. 29), S. 553. 33 Beschl. vom 25. September 2002, JZ 2003, S. 519 (523), sowie Beschl. vom 5. Januar 2005, NordÖR 2005, S. 63 ff.
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rischen Ziels nicht gebe.34 Das Oberverwaltungsgericht verkenne den Charakter einer bei der Wahl zum Landtag antretenden Partei, wenn es eine Beschränkung des Privilegs auf den Teil des Wahlgebiets verlange, in dem die Partei tatsächlich den Minderheitenstatus besitze. Der Landtag repräsentiere das ganze Landesvolk und sei auf das gesamte Landesgebiet ausgerichtet. Dies gelte auch in Ansehung der besonderen Interessen einer nationalen Minderheit. Denn die Rechtfertigung einer wahlrechtlichen Sonderregelung ergebe sich auch insoweit gerade aus dem Anliegen, der nationalen Minderheit zur Vertretung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments zu eröffnen. Wenn nun also einer Partei, jedenfalls in einem Teilbereich des Wahlgebiets, Funktion und Status einer anerkannten Minderheitspartei zukomme, so müsse sich diese Eigenschaft zwangsläufig im gesamten Wahlgebiet auswirken. Dieses Argument trifft zwar insofern zu, als eine Minderheitenpartei, die im Landtag vertreten ist, zwangsläufig die Politik für das ganze Land mitbestimmt. Das Bundesverfassungsgericht verwechselt hier aber die Auswirkungen des Privilegs mit seinen Voraussetzungen. Der Umstand, dass die Landtagsabgeordneten das ganze Landesvolk repräsentieren, zwingt nicht dazu, das wahlrechtliche Privileg einer Minderheitenpartei über deren Siedlungsgebiet bzw. über das Gebiet, in welchem sie über organisatorische Strukturen verfügt, hinaus zu erstrecken. Schon das Beispiel des früher geltenden schleswigholsteinischen Wahlrechts zeigt ja, dass das Wesen der parlamentarischen Repräsentation nicht einmal voraussetzt, dass eine Minderheitenpartei im ganzen Landesgebiet gewählt werden kann. Wird das Wahlrecht aber so gestaltet, dass jede Partei mit einer Landesliste antritt, dann ist es zwar eine systemimmanente Folge, dass eine Minderheitenpartei auch in den Landesteilen gewählt werden kann, in denen sie nicht organisiert ist. Dass die in diesen Landesteilen auf sie entfallenden Stimmen aber auch dann bei der Mandatszuteilung berücksichtigt werden, wenn die Partei keine 5 % der Stimmen erhalten hat, ist nicht eine Konsequenz des Prinzips der repräsentativen Demokratie, sondern der konkreten gesetzgeberischen Ausgestaltung des Wahlrechts. Dieses könnte, wie das Oberverwaltungsgericht Schleswig zutreffend gezeigt hat, so gestaltet werden, dass das Privileg nicht über das zum Zwecke des Minderheitenschutzes notwendige Maß hinaus die Wahlrechtsgleichheit beeinträchtigt.35 ___________ 34 BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. vom 14. Februar 2005 – 2 BvL 1/05, Rn. 37 ff., NVwZ 2005, S. 568 (570); dazu eingehend B. Schöbener (Fn. 11), S. 476 ff. 35 Die Annahme der Kammer des BVerfG (Fn. 34), Rn. 43, die Lösung des OVG Schleswig erfordere statt der Wahl nach einer einheitlichen Landesliste die Aufspaltung der Liste des SSW in zwei Landesteillisten, und das sei dann ein anderes als das vom Gesetzgeber legitimerweise geregelte Wahlsystem, ist für mich nicht nachvollziehbar. Es geht doch lediglich darum, dass die auf die einheitliche Liste des SSW entfallenen Stimmen im – gesetzlich zu konkretisierenden – Siedlungsgebiet der dänischen Minderheit bzw. im Organisationsgebiet des SSW separat gezählt und dass nur diese Stimmen
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In einem anderen Beschluss hatte die Kammer des Zweiten Senats argumentiert, es sei „nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die mit der Privilegierung verfolgte Integration der nationalen Minderheit in legitimer Weise auch dadurch gefördert werden kann, dass Wähler, die nicht selbst der dänischen Minderheit angehören, das Integrationsanliegen durch eine Stimmabgabe zugunsten von Parteien dieser Minderheit unterstützen. Dem integrationspolitischen Anliegen, der nationalen Minderheit eine eigene Vertretung im Landesparlament zu sichern, wäre auch mit dieser Art der Förderung gedient“.36 Diese Argumentation zeigt, wie haltlos die Auffassung ist, Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit ließen sich rechtfertigen, wenn sie der Integration des Staatsvolkes dienten.37 Die Minderheit zu fördern, mag ihrer Integration dienen. Das sagt aber noch nichts darüber, ob das konkrete Mittel der Förderung mit dem Demokratieprinzip und insbesondere mit der Wahlrechtsgleichheit vereinbar ist. Wähler, die nicht der Minderheit angehören, haben auch ohne das Wahlrechtsprivileg die Möglichkeit, die Minderheitenpartei zu wählen und auf diese Weise „das Integrationsanliegen“ der Minderheit zu unterstützen. Umgekehrt: Wenn es, wie die Kammer meint, ein verfassungsrechtlich legitimes „integrationspolitisches Anliegen“ ist, der nationalen Minderheit „eine eigene Vertretung im Landesparlament zu sichern“, dann fragt sich, warum die Verwirklichung dieses Anliegens davon abhängig sein sollte, dass nicht der Minderheit angehörige Wähler dieses Anliegen mit ihrer Stimme unterstützen. Dann müsste – konsequent weitergedacht – der Gesetzgeber auch befugt sein zu entscheiden, dass die Minderheitenpartei auf jeden Fall mit mindestens einem Abgeordneten im Landtag vertreten ist, gleichgültig wie viele Stimmen auf sie entfallen. Integrationspolitisch ließe sich dann auch rechtfertigen, für andere gesellschaftliche Gruppen eine Mindestzahl von Sitzen im Parlament zu reservieren, damit ihre parlamentarische Vertretung „sichergestellt“ ist und sie sich gut integrieren. Man kann darüber diskutieren, ob diese Art von „Integrationspolitik“ sinnvoll ist. Mit Demokratie hat dies jedoch nichts zu tun. Im Übrigen verkennt die Kammer, dass die nicht der Minderheit angehörenden Wähler, die ihre Stimme der Minderheitenpartei geben, dies in der Regel nicht tun, um die spezifischen Minderheitenschutzziele der Partei zu fördern, sondern weil sie mit den allgemeinpolitischen Zielen der Partei übereinstimmen. In seinem letzten Wahlprogramm hatte der SSW sich nur auf sechs von ___________ privilegiert sein sollen. Das ändert nichts an der einheitlichen Liste. Wenn die Partei die 5%-Hürde nicht überwindet, werden ihr von dieser Liste so viele Abgeordnete zugeteilt, wie ihr anteilmäßig nach der Zahl der im Siedlungsgebiet erreichten Stimmen zustehen. Wenn sie das Quorum erreicht, zählen bei der Mandatsverteilung nach derselben Liste die im ganzen Land abgegebenen Stimmen. 36 BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. vom. 17. November 2004 – 2 BvL 18/02, Rn. 30, NVwZ 2005, S. 205 (207). 37 Dazu bereits oben bei Fn. 20.
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82 Seiten mit Minderheitenfragen befasst und im Übrigen mit allgemeinpolitischen Aussagen, beispielsweise zur Sozialpolitik, zur Bildungspolitik oder zur Umweltpolitik um Wähler geworben.38 Der SSW trat also gar nicht nur als Interessenvertretung einer nationalen Minderheit auf, sondern vor allem auch als parteipolitische Alternative zu den übrigen Parteien. Insoweit aber ist eine Privilegierung nicht einmal durch das „Integrationsanliegen“ im Sinne der Kammerrechtsprechung gerechtfertigt. Die Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat also den Zusammenhang von demokratischer Gleichheit und spezifischer Rechtfertigung des Minderheitenschutzes gründlich verkannt. Ihre Rechtsprechung dehnt das Minderheitenprivileg mehr als erforderlich aus und lädt damit zum Missbrauch des Privilegs zur Durchsetzung nicht minderheitenspezifischer Ziele geradezu ein. 5. Minderheitenprivileg und Diskriminierungsverbot Das wahlrechtliche Minderheitenprivileg wurde zuvor unter dem Aspekt der Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip und der Wahlrechtsgleichheit untersucht. Problematisch ist außerdem seine Vereinbarkeit mit dem speziellen Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG.39 Nach dieser Vorschrift darf niemand wegen bestimmter Merkmale, zu denen auch Abstammung und Sprache gehören, benachteiligt oder bevorzugt werden. Nationale und ethnische Minderheiten zeichnen sich aber gerade durch Besonderheiten aus, die auf gemeinsamer Abstammung und besonderer Sprache beruhen. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass das Wahlrechtsprivileg gerade an Abstammung und Sprache anknüpft und der Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 3 GG somit eröffnet ist.40 Die Vorschrift verbietet nicht nur die Benachteiligung, sondern ausdrücklich auch die Bevorzugung von Einzelnen und Gruppen wegen ihrer Abstammung oder ihrer Sprache. Ob die Befreiung der Minderheitenparteien von der wahlrechtlichen Sperrklausel mit dieser Vorschrift vereinbar ist, erscheint daher sehr fraglich. Ich möchte mich mit dieser Problematik hier nicht näher befassen, sondern mich auf einige kurze Hinweise beschränken. Die schon zitierte Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich mit Art. 3 ___________ 38 Wahlprogramm zur Landtagswahl 2012, http://ssw.de/pdf/wahlprogramm/valg program2012a5-net.pdf. 39 Die neuere Rechtsprechung. des Bundesverfassungsgerichts lehnt seit BVerfGE 99, 1 (10) – in problematischer Weise – die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG auf Fragen der Wahlrechtsgleichheit in den Ländern ab. Die hierfür maßgebenden Gründe gelten jedoch nicht für Art. 3 Abs. 3 GG, der im Unterschied zum allgemeinen Gleichheitssatz nicht als Generalklausel verstanden werden kann, die hinter dem speziell wahlrechtlichen Gleichheitssatz zurücktritt. 40 Näher dazu B. Schöbener (Fn. 11), S. 473 ff.
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Abs. 3 GG nicht befasst. Burkhard Schöbener stellt zutreffend fest, dass das wahlrechtliche Minderheitenprivileg allenfalls dann mit Art. 3 Abs. 3 GG vereinbar sein könnte, wenn man diese Vorschrift nicht als absolutes Differenzierungsverbot versteht, sondern lediglich als relatives, begrenzt wertungsoffenes Gleichbehandlungsgebot.41 Geht man von letzterer Alternative aus, dann kann sich eine Bevorzugung jedoch nur anhand der Verfassung selbst legitimieren lassen42. Dieser Anforderung wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht, die zur Rechtfertigung lediglich integrationspolitische oder außenpolitische Erwägungen heranzieht, aber nicht die Erforderlichkeit des Privilegs zur Verwirklichung eines Verfassungsprinzips begründet.43 Auch die in einigen Landesverfassungen enthaltenen Minderheitenschutzklauseln können ein wahlrechtliches Minderheitenprivileg nicht rechtfertigen, wenn dieses nicht durch den Zweck legitimiert ist, den strukturellen Nachteil zu kompensieren, den eine Sperrklausel für eine autochthone Minderheit darstellt. Denn zum einen kann eine verfassungsrechtliche Minderheitenschutzklausel zwar im Prinzip als verfassungsimmanente Schranke für Grundrechte verstanden werden, aber auch wenn dies der Fall ist, dispensiert dies nicht von der Beachtung des Übermaßverbotes. Und zum anderen steht eine landesverfassungsrechtliche Minderheitenschutzklausel (z.B. in Schleswig-Holstein Art. 5 Abs. 2 der Verfassung: „Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.“44) im Rang unter dem Grundgesetz. Daher dürfen aus ihr keine Folgerungen abgeleitet werden, die mit den Anforderungen des Demokratieprinzips und der Wahlrechtsgleichheit (für die Länder Art. 28 Abs. 1 GG) oder mit dem Verbot der Bevorzugung aus Gründen der Abstammung oder der Sprache (Art. 3 Abs. 3 GG) unvereinbar sind. * * *
___________ 41
B. Schöbener (Fn. 11), S. 479 mit Literaturnachweisen für beide Auffassungen. B. Schöbener (Fn. 11), S. 479 f. m.w.N. 43 Vgl. näher dazu B. Schöbener (Fn. 11), S. 480 f. 44 In Betracht kommt bezüglich der Privilegierung nur „Förderung“. „Schutz“ ist abwehrend gemeint und richtet sich gegen Einschränkungen, Behinderungen und sonstige Eingriffe des Staates und Dritter. Daher kann auch Satz 1 von Art. 5 Abs. 2 VerfSH („Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände.“) ein Wahlrechtsprivileg nicht legitimieren. 42
Wahlrecht von Minderheiten
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Abstract Dietrich Murswiek: Democracy and Minorities: Minority Suffrage (Demokratie und Minderheiten: Wahlrecht von Minderheiten), in: National Right to Vote and International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 95-114. Even though minorities regularly settle in an interconnected fashion and they thus have opportunities to be involved at the local level, it is difficult for them to participate at the federal or state government level. German law on majority and proportional representation – with its base mandate clause and specific exemptions for national minorities in the context of the 5% electoral threshold plus the statutory deregulation of regional restrictions on the party list system – is nonetheless minority friendly. In Schleswig-Holstein, among other places, this led repeatedly to the South Schleswig Voter Federation (SSW) – as the party of the Danish minority – being elected into the state parliament and to inclusion in a government coalition since 2012. The Federal Constitutional Court approves of the legal privileges of the minorities with reference to the lawmakers' discretion to take adequate consideration of matters not related to the process of voting – in this case the status of the SSW as a minority party – and the interest of international law regarding the status of national minorities. This of course contradicts the principles of civil suffrage equality and equal opportunities for political parties. A justification is, at best, possible on the grounds of structurally-related minority-specific characteristics that require a claim to democratic representation in parliament. But even then, the exercising of the right of the limited mandates must be restricted to minority-specific interests. Through SSW’s inclusion in government and the fact that its voting behavior regularly plays a significant role in parliament – even in general political matters that no longer have anything to do with minority-specific interests – it removes all plausibility of the privilege with which it had been entrusted. Thus the minority overpowers the majority. This is not in compliance with the principle of democracy nor with Article 3 Paragraph 3 of the constitution. A solution to the conflict between representation and abuse of voting behavior could be to grant privileged (minority) parties mandates without voting rights. Add to this the fact that the SSW hardly deals with any minority-specific issues nowadays, but has become an alternative to the other parties. Contrary to the opinion of the Federal Constitutional Court in this case, the legal privileges of national minorities are therefore no longer justified.
Demokratie und Minderheiten: Status und Wahlrecht der Deutschen in Russland und der Russen in Deutschland Von Alfred Eisfeld
I. Die Russlanddeutschen in Russland seit Anfang des 20. Jahrhunderts Der Betrachtung über den gegenwärtigen Status und die Möglichkeiten der Partizipation am gesellschaftlichen und politischen Leben der deutschen Volksgruppe in der Russischen Föderation muss eine Rückblende auf deren Vergangenheit vorangestellt werden. Das Verhältnis zwischen dem russischen Staat und den Russlanddeutschen war seit dem Inkrafttreten der sog. „Liquidationsgesetze“ in den Jahren 1915– 1917 und der Deportation von ca. 190.000 Wolhyniendeutschen schwer belastet. Nach der Machtergreifung der Bolschewiki hat sich dieses Verhältnis zwischen der Sowjetregierung und den Deutschen in Sowjetrussland vorübergehend insoweit verbessert, als am 18. Oktober 1918 das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen gegründet wurde. 1924 wurde dieses zu einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) aufgewertet. Ab Mitte der 1920er Jahre erfolgte die Gründung einer Vielzahl von deutschen nationalen Dorfsowjets und mehrerer Rayons. Diese Politik wurde unter dem Motto „Der Form nach national, dem Inhalt nach sozialistisch“ betrieben. Formal wurde die deutsche Bevölkerung mit Rechten bedacht, wie die anderen Ethnien der UdSSR auch. Wenig bekannt ist allerdings, dass schon ab 1922 das Misstrauen der Partei der Bolschewiki gegenüber den im Lande 1921/22 von Deutschen gegründeten Kultur- und Bildungsvereinen, Produktions-, Handels- und Kreditgenossenschaften, die sich vor allem um die Überwindung der während des Bürgerkrieges erlittenen Zerstörungen und der Hungersnot kümmerten, so groß war, dass von Partei- und staatlicher Seite massiv gegen diese Bürgerinitiativen vorgegangen wurde, bis sie letztendlich aufgelöst wurden.1 Auch der Spionagever___________ 1
A. Eisfeld, Sowjetische Nationalitätenpolitik und Deutsche in der Sowjetunion in den 1920er Jahren, in: ders./V. Herdt/B. Meissner (Hrsg.), Deutsche in Rußland und in der Sowjetunion 1914 - 1941, 2007, S. 182 - 201.
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dacht wurde gegen die Wolhyniendeutschen ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer wieder geäußert. Im Jahre 1922 neu aufgelebt, führte er zur Überwachung aller inländischen wie ausländischen deutschen Einrichtungen. Unter Beobachtung durch die Organe der Staatssicherheit gerieten alle deutschen Reichsangehörigen, aber auch die deutschen Sowjetbürger. Die dabei gewonnenen Informationen wurden für die Verhaftungen während der sog. „Deutschen Operation“ des NKWD der Jahre 1937–1938 genutzt. Russische Historiker haben die Zahl der verurteilten Deutschen auf 69.000 bis 73.000 Personen geschätzt.2 1939 wurden alle in den 1920er Jahren gegründeten nationalen Rayons als künstlich geschaffene aufgelöst3 und 1939–1940 die ethnische Säuberung der grenznahen Gebiete, zum Teil im Zusammenwirken mit dem Dritten Reich, forciert durchgeführt.4 Nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges wurden Verhaftungen und Deportationen verstärkt fortgesetzt, wobei ab Mitte August 1941 Deutsche von der Krim, aus Teilen der Ukraine und aus der Umgebung von Leningrad allein aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit deportiert wurden.5 Die Deportation der deutschen Bevölkerung aus der ASSRdWD und den Gebieten Saratov und Stalingrad bekam zudem eine völlig neue Qualität: Gegen die Deutschen, die in den Wolgarayons wohnhaft waren, wurde pauschal der Vorwurf der Kollaboration mit dem Feind erhoben. Dieser Vorwurf sollte in den Nachkriegsjahren schwerer wiegen als der Vorwurf der erfolgten Kollaboration, den die sowjetische Führung gegen eine Reihe von ethnischen Gruppen des Nordkaukasus und der Krim erhoben und ebenfalls als Begründung für deren Deportation und die Auflösung ihrer nationalen Verwaltungsgebiete und ___________ 2 N. Ochotin/A. Roginskij, Iz istorii „nemeckoj operacii“ NKVD 1937–1938 gg. [Aus der Geschichte der „Deutschen Operation“ des NKWD der Jahre 1937–1938], in: Repressii protiv rossijskich nemcev. Nakazannyj narod. Po materialam konferencii „Repressii protiv rossijskich nemcev v Sovetskom Sojuze v kontekste sovetskoj nacional’noj politiki“, provedennoj Nemeckim kul’turnym centrom im. Gete v Moskve sovmestno s Obščestvom „Memorial“ 18–20 nojabrja 1998 goda [Repressionen gegen die Russlanddeutschen. Bestraftes Volk. Nach Materialien der Konferenz „Repressionen gegen die Russlanddeutschen in der Sowjetunion im Kontext der sowjetischen Nationalitätenpolitik“, durchgeführt vom Goethe-Institut in Moskau in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft „Memorial“ am 18.–20. November 1998], Moskva 1999, S. 71. 3 Beschluss des ZK der VKP(b) vom 16. Februar 1939. 4 Vereinbarungen der Regierung der UdSSR mit der Deutschen Reichsregierung über die „Evakuierung“ der deutschen Bevölkerung aus Ostpolen (16. November 1939), Bessarabien und der Nordbukowina (5. September 1940). 5 A. Eisfeld, Deutsche in der Ukraine in den ersten Kriegsmonaten: Juni–Dezember 1941, in: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. (Hrsg.), Keiner ist vergessen. Gedenkbuch zum 70. Jahrestag der Deportation der Deutschen in der Sowjetunion, 2011, S. 52–55; A. Ajsfel’d/V. Martynenko, Fil’tracija i operativnyj učet ėtničeskich nemcev Ukrainy organami NKVD-NKGB-MVD-KGB vo vremja Vtoroj mirovoj vojny i v poslevoennye gody, in: Z archiviv VUČK-GPU-NKVD-KGB. Naukovyj i dokumental’nyj žurnal Nr. 2 (35), Kyjiv – Harkiv 2010, S. 98–107.
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autonomen Republiken genutzt hatte. Im Gegensatz zu den meisten dieser deportierten Volksgruppen (außer den Krim-Tataren), die nach dem 20. Parteitag der KPdSU rehabilitiert und in ihre Siedlungsgebiete zurückkehren durften, blieb allen deportierten Deutschen die Rückkehr in ihre Siedlungsgebiete untersagt. Dieses Verbot wurde schrittweise erst 1974 aufgehoben. Die Deutschen in der UdSSR waren und blieben eine Volksgruppe mit einem besonderen Schicksal und minderen Rechten. Erst mit der Politik der Glasnost und Perestroika begann sich eine rechtliche und politische Rehabilitierung der Opfer des Stalinschen Terrorregimes abzuzeichnen. Die Deklaration des Obersten Sowjets der UdSSR vom 14. November 1989 „Über die Erklärung der Repressalien gegen die gewaltsam umgesiedelten Völker für ungesetzlich und verbrecherisch“ weckte bei vielen die Hoffnung auf politische Veränderungen. Sie schien auch berechtigt zu sein. So hat der Kongress der Volksdeputierten der RSFSR im Dezember 1990 einen Beschluss „Über die Opfer der politischen Repressionen in der RSFSR“6 gefasst, in dem es hieß: „Der Kongress der Volksdeputierten verurteilt den langjährigen Terror und die Massenverfolgung des eigenen Volkes, bekennt sich zu den Grundlagen des Rechtsstaates und äußert seine feste Überzeugung, dass sich eine ähnliche Tragödie der Völker und Bürger Russlands niemals wiederholen wird“. Ferner hieß es: „Der Kongress der Volksdeputierten der RSFSR beschließt: 1. Dem Obersten Sowjet der RSFSR und dem Ministerrat der RSFSR aufzuerlegen, gesetzliche Akte über die Rehabilitierung und volle Wiederherstellung der Rechte der repressierten Völker und Bürger der RSFSR auszuarbeiten und zu verabschieden“. Am 26. April 1991 unterzeichnete Boris Jelzin in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Obersten Sowjets der RSFSR das Gesetz „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“7. Art. 1 lautete: „Alle repressierten Völker der RSFSR sind zu rehabilitieren, die Repressalien gegen diese Völker sind als ungesetzlich und verbrecherisch zu erklären“. Art. 2 lautete: „Als repressiert gelten Völker (Nationen, Völkerschaften oder ethnische Gruppen oder andere historisch entstandene ethnisch-kulturelle Gemeinschaften, z. B. Kosaken), gegenüber denen nach Merkmalen der nationalen oder sonstigen Zugehörigkeit die Politik der Verleumdung und des Genozids auf staatlicher Ebene betrieben wurde, begleitet durch deren gewaltsame Umsiedlung, durch die Aufhebung ihrer national-territorialen Gebilde, Revidierung der national-territorialen Grenzen und durch die Einführung des Regimes von Terror und Gewalt in den Sondersiedlungsorten“. Außerordentlich wichtig war Art. 3: „Die Rehabilitierung ___________ 6
Vedomosti Verchovnogo Soveta RSFSR Nr. 28 vom 13. Dezember 1990, S. 533. Nachfolgend zitiert nach der Übersetzung in: Deutsche Allgemeine Nr. 8 vom 9. Mai 1991, S. 1. 7
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der repressierten Völker bedeutet die Anerkennung und Realisierung ihres Rechtes auf die Wiederherstellung der territorialen Integrität, die vor der verfassungswidrigen Politik der Revidierung von Grenzen bestanden hat, auf die Wiederherstellung der vor ihrer Abschaffung entstandenen national-staatlichen Gebilde, sowie auf den Ersatz des vom Staat zugefügten Schadens“. Die Wendejahre 1989 und 1990 haben einen grundlegenden Wandel der internationalen Beziehungen möglich gemacht. In erster Linie wären hier das Dokument des Kopenhagener Treffens über die menschliche Dimension der KSZE vom 29. Juni 1990 und die Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990 zu nennen. In diesem Kontext erfolgte die Unterzeichnung des Vertrages über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion vom 9. November 1990, in dem den Rechten der deutschen Bevölkerung in der UdSSR ein eigener Artikel gewidmet wurde. Dieser lautet: „[…] Sowjetischen Bürgern deutscher Nationalität sowie aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stammenden und ständig in der Bundesrepublik Deutschland wohnenden Bürgern, die ihre Sprache, Kultur oder Tradition bewahren wollen, wird es ermöglicht, ihre nationale, sprachliche und kulturelle Identität zu entfalten. Dementsprechend ermöglichen und erleichtern sie im Rahmen der geltenden Gesetze der anderen Seite Förderungsmaßnahmen zugunsten dieser Personen oder ihrer Organisationen“. 8 Auch im Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 wurden die Deutschen in Art. 20 berücksichtigt. Ähnliche Regelungen konnten mit Rumänien, der Tschechoslowakei und anderen Staaten getroffen werden. Vertreter der deutschen Organisationen aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, Rumänien und der GUS haben diese Politik der Bundesregierung in einer gemeinsamen Erklärung vom 12. Februar 1992 begrüßt. Das zitierte Gesetz der RSFSR „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“ sieht die politische, territoriale, soziale, kulturelle und materielle Rehabilitierung vor, die für jedes der repressierten Völker in gesonderten Gesetzesakten geregelt werden soll. Bemerkenswert ist, dass sowohl die individuelle Rehabilitierung angesprochen wurde, als auch die von Völkern. Der Ministerrat der RSFSR sollte bis zum Jahresende (1991) die Umsetzung des Gesetzes in die Wege leiten. ___________ 8
Vgl. „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ vom 9. November 1990, online abrufbar von der offiziellen deutschen Datenbank zur Dokumentation von Raub- und Beutekunst, www.lostart.de/cae/servlet/.../985/Nach barschaftsvertrag_1990.pdf.
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Gegen die territoriale Rehabilitierung, d. h. die Wiederherstellung der ASSRdWD, gab es 1989 und 1990 wiederholt Kundgebungen, die zwar von der Teilnehmerzahl nicht sehr bedeutend waren, aber medienwirksam inszeniert wurden. Man stelle sich vor, eine Kommission des Obersten Sowjets der RSFSR, der auch hochrangige Offiziere des KGB angehörten, konnte ihre Informationsreise nach Krasnoarmejsk (Balzer) nicht durchführen, weil Demonstranten ihr die Straße in die Stadt versperrt haben! Im weiteren Verlauf wurde stets darauf verwiesen, dass man ja Demokratie habe und den Willen des Volkes respektieren müsse. Der wahre Grund war die ablehnende Haltung der Partei- und Verwaltungseliten der Gebiete Saratov und Wolgograd. In der Region Altaj und im Gebiet Omsk war man am Verbleib der deutschen Bevölkerung interessiert und hat von staatlicher Seite mit hohem Aufwand darauf hingearbeitet, dass die Bevölkerung der Gründung von sog. Deutschen Nationalen Rayons jeweils in einem Referendum zustimmt. Die Rayons hatten eine deutsche Bevölkerungsmehrheit und bekamen deutsche Verwaltungsleiter (Landräte: Josef Bernhardt und Bruno Reiter). Sie hießen zwar Deutscher Nationaler Rayon, doch kennt die Verfassung der Russischen Föderation keine nationalen Rayons. Dem Statut nach sind es gewöhnliche Verwaltungsrayons. In der Gründung dieser Rayons wurde allerdings eine Abkehr von dem Ziel der Wiederherstellung der Republik vermutet. Diese Vermutung bekam neue Nahrung nach dem bekannten Auftritt des nun schon zum Präsidenten Russlands gewählten Boris Jelzin am 8. Januar 1992 im Gebiet Saratov, bei dem er das Raketentestgelände „Kapustin Jar“ als Areal für eine Wolgarepublik nannte. Auf Gegenmaßnahmen der deutschen Regierung soll hier nicht näher eingegangen werden. Unter dem Gesichtspunkt der territorialen Rehabilitierung sind hier weiter von Interesse die Erlasse Boris Jelzins über die Gründung eines Deutschen Nationalen Bezirks (Okrug) im Gebiet Wolgograd, eines Deutschen Nationalen Rayons im Gebiet Saratov und von Siedlungen der Russlanddeutschen im Wolgagebiet auf der Grundlage von Landwirtschaftskomplexen.9 Zur Gründung dieser Verwaltungseinheiten ist es aber nie gekommen. Die Landwirtschaftskomplexe wurden von einer holländischen Firma für Kartoffelanbau favorisiert und vom russischen Landwirtschaftsminister unterstützt. Mit einer territorialen Rehabilitierung der Wolgadeutschen hatten sie nichts zu tun. Am 31. März 1992 haben die Republiken, Regionen und Verwaltungsgebiete der RF den Föderationsvertrag unterzeichnet. Im Vertrag über die Kompetenzaufteilung, den die Regionen und Verwaltungsgebiete unterzeichneten, wurden der territoriale Bestand sowie die Bestätigung neuer Regionen und ___________ 9
Erlass des Präsidenten Boris Jelzin Nr. 514 vom 21. Mai 1992.
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Verwaltungsgebiete den Föderalen Organen zugewiesen. Verhandlungspartner für die deutsche Bundesregierung war demnach ab diesem Zeitpunkt die Regierung der Russischen Föderation. Als Durchbruch konnte die am 10. Juli 1992 erfolgte Unterzeichnung des „Protokolls über die Zusammenarbeit zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Russischen Föderation zur stufenweisen Wiederherstellung der Staatlichkeit der Russlanddeutschen“10 angesehen werden, doch hatte Boris Jelzin am 3. Juli 1992 das Gesetz Nr. 3198-1 „Über die Einführung einer Übergangsfrist für die staatlich-territoriale Einteilung der Russischen Föderation“ unterzeichnet. Für die territoriale Rehabilitierung der repressierten Völker wurde ein Aufschub bis zum 1. Juli 1995 vorgesehen (Art. [2]). Die territoriale Rehabilitierung jedes einzelnen Volkes sollte nach wie vor auf der Grundlage eines Gesetzes erfolgen. Noch vor Ablauf dieser Übergangsfrist wurde am 12. Dezember 1993 eine neue Verfassung der RF verabschiedet, die allerdings keine Einzelbestimmungen bezüglich der Bildung neuer Subjekte der Föderation enthielt. Erst das Gesetz „Über die Aufnahme in die Russische Föderation und die Bildung in deren Bestand eines neuen Subjekts der Russischen Föderation“ vom 17. Dezember 2001 (geändert am 31. Oktober 2005) sieht in Art. 10 die Möglichkeit der Bildung neuer Subjekte vor. Die Initiative dazu liegt bei den Subjekten, auf deren Territorium das neue Subjekt gebildet werden soll (Art. 10 Abs. 2). Die Frage nach der Bildung eines neuen Subjekts muss von den obersten Amtsträgern dieser Subjekte nach entsprechenden Konsultationen mit dem Präsidenten der RF und dessen Zustimmung in den betreffenden Subjekten der Bevölkerung zur Abstimmung per Referendum gestellt werden. Die Wiederherstellung der Wolgarepublik wäre demnach nur möglich, wenn: 1. die Gebiete Saratov und Wolgograd dies wünschen und ein Territorium zur Verfügung stellen würden; 2. der Präsident der RF dem Vorhaben zustimmen und 3. im Referendum in den Gebieten Saratov und Wolgograd eine entsprechende Mehrheit der Bevölkerung sich dafür aussprechen würde. Die Tatsache, dass die ASSRdWD am 7. September 1941 verfassungswidrig auf die Gebiete Saratov und Stalingrad aufgeteilt wurde und erst Jahre später durch einen Beschluss des Obersten Sowjets der RSFSR, aber ohne Zustimmung der Obersten Organe der ASSRdWD, als Gliedstaat nicht mehr genannt wurde, spielt dabei offensichtlich keine Rolle. Die Regierung der RF drängt vielmehr seit geraumer Zeit auf den Abschluss eines neuen Protokolls oder einer Vereinbarung über die Zusammenarbeit bezüglich der Russlanddeutschen, in der die territoriale Rehabilitierung und die Erwähnung der Republik nicht mehr vorkommen sollen. ___________ 10 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 45 (1992), S. 410 ff.
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II. Föderale Nationale Kulturautonomie der Russlanddeutschen Statt der territorialen Rehabilitierung setzte man in Russland seit 1989 immer wieder auf die Bildung eines exterritorialen Personenverbandes. Im August 1990 wurde vom ZK der KPdSU die Bildung einer Assoziation der Deutschen der UdSSR als einer Kulturautonomie ohne Territorium ins Gespräch gebracht. 85 % der Delegierten der Außerordentlichen Konferenz der Gesellschaft „Wiedergeburt“ lehnten diesen Vorschlag allerdings ab. Auf die Problematik der territorialen Rehabilitierung wurde bereits hingewiesen. Um dieser Forderung den Druck zu nehmen, hat man sich also auf ein Experiment eingelassen, das von der Partei der Bolschewiki in der Zwischenkriegszeit strikt abgelehnt wurde: eine exterritoriale nationale Kulturautonomie. Die erste Fassung des Föderalen Gesetzes ist datiert auf den 17. Juni 1996. Darin, wie auch in späteren Fassungen, wird die Kulturautonomie als Zusammenschluss von Personen definiert, die sich einer ethnischen Gemeinschaft zurechnen und die sich auf einem bestimmten (Verwaltungs-)Territorium in der Minderheit befinden (Art. 1). Ein nationales Kataster ist aber nicht vorgesehen, so dass sich die personelle Stärke und Zusammensetzung der Mitglieder eines Personenverbandes nicht zuverlässig feststellen lassen. Dieser Personenverband der Föderalen Nationalen Kulturautonomie (FNKA) hat formal weitgehende Rechte auf Mitwirkung an der Ausgestaltung der Politik staatlicher Organe in Fragen der Erhaltung der Muttersprache und der nationalen Identität (Art. 4). Als Garant der Nationalsprachen wird in Art. 8 die Verfassung der RF genannt. In Art. 9 bis 12, und insbesondere in Art. 13, werden verschiedene Aufgaben und Betätigungsfelder aufgezählt, die für eine nationale Kulturautonomie offen stehen. Dazu gehören u. a. die Gründung von Theatern, Kulturzentren, Museen, Bibliotheken, Archiven, von nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen, darunter auch für die Fortbildung von Lehrkräften, die Herausgabe von wissenschaftlichen und schöngeistigen Publikationen in der Muttersprache und in anderen Sprachen. Die Exekutiven auf gesamtstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene sollen die von den Kulturautonomien artikulierten nationalen Belange berücksichtigen (Art. 14) und können (müssen aber nicht!) diese aus ihren Budgets unterstützen (Art. 16). Da es sich bei dem Personenverband „nationale Kulturautonomie“ um nichtkommerzielle Gebilde handelt, die keine nennenswerten eigenen Einnahmen erzielen können, sind sie voll und ganz von der Finanzierung der staatlichen Verwaltungen abhängig.11 ___________ 11
Siehe dazu auch: W. Seiffert, Zur Rechtsnatur der national-kulturellen Autonomie in der Russischen Föderation, KONtakt - Kieler Ostrechts-Notizen Nr. 2 (8. Juni 1999), S. 3–6.
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Die Zusammenarbeit der deutschen und der russischen Regierungen im Rahmen der Deutsch-Russischen Regierungskommission für die Angelegenheiten der Russlanddeutschen auf der Grundlage des Protokolls vom 10. Juli 1992 hat hier dazu geführt, dass neben der Förderung durch die Bundesregierung auch von Seiten der russischen Regierung ein entsprechendes Förderprogramm auf den Weg gebracht wurde. Das „Föderale Präsidialprogramm für die Entwicklung der sozialökonomischen und kulturellen Grundlagen für die Wiedergeburt der Russlanddeutschen“ galt für die Jahre 1997 bis 2006.12 Dieses Programm sah Ausgaben und Investitionen verschiedenster Art in 21 autonomen Republiken, Regionen und Verwaltungsgebieten vor, darunter auch in solchen mit einer geringen deutschen Population. Entgegen dem Vorsatz einer paritätischen Finanzierung der in der deutsch-russischen Regierungskommission verabredeten Projekte zugunsten der Russlanddeutschen ging man schon bald aus pragmatischen Erwägungen zur getrennten Finanzierung über. Die Aufwendungen der russischen Seite sind dabei weit, sehr weit hinter den Planvorgaben zurückgeblieben. Insider sprachen von einer Finanzierung in Höhe von nur 5 % des Solls.13 Ein zweites Föderales Zielprogramm für die Jahre 2008–2012 sollte schon der sozialökonomischen und ethnokulturellen Entwicklung der Russlanddeutschen dienen.14 Mit Maßnahmen dieses Programms sollten 215.000 Personen erreicht werden. Ein weiteres Programm soll es aber nicht geben. Die Bundesregierung hat von 1990 bis Ende 2012 Hilfsmaßnahmen zu Gunsten der Deutschen Minderheit in der Russischen Föderation in einem Gesamtvolumen von ca. 543.433 Mio. Euro gefördert.15 Über die einzelnen Projekte wurde die Deutsch-Russische Regierungskommission für Angelegenheiten der Russlanddeutschen vorab informiert. Seit der Spaltung der Gesellschaft „Wiedergeburt“ im Jahre 1990 gab es mehrere miteinander konkurrierende Vereine, die, teils unter deutscher Vermittlung, wiederholt Versuche zur Bildung von Dachorganisationen unternahmen. Man kann die Vereine und deren Führungspersonal grob in eine moderate, zur Zusammenarbeit mit den Regierungen bereite Fraktion (Internationaler Verband der deutschen Kultur, kurz: IVDK, Russlanddeutsche Jugend; Hein___________ 12 Prezidentskaja federal’naja celevaja programma razvitija social’no-ėkonomičeskoj i kul’turnoj bazy vozroždenija rossijskich nemcev na 1997–2006 gody, Moskva 1997. 13 V. F. Baumgärtner, Filosofija obščiny, Moskva 2007, S. 346. 14 Federal’naja celevaja programma „Social’no-ėkonomičeskoe i ėtnokul’turnoe razvitie rossijskich nemcev na 2008–2012 gody“, in: www.base.garant.ru/6385683. 15 Ansprache des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten und Co-Vorsitzenden der Deutsch-Russischen Regierungskommission für die Angelegenheiten der Russlanddeutschen, Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, anlässlich der Eröffnung der feierlichen 19. Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission am 27. August 2012 in Sankt Petersburg.
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rich und Olga Martens) und eine radikale, „prinzipientreue“ Fraktion (Baumgärtner, Keller) einteilen. Während die Ersteren über Projektarbeit, die von beiden Regierungen finanziert wurde, an Einfluss gewannen, verstanden sich die „Prinzipientreuen“ besser auf das Verfassen von Resolutionen und Forderungen, die weder von der russischen noch von der deutschen Regierung als Grundlage für eine Zusammenarbeit angesehen werden konnten. Der Konkurrenzkampf fand sein vorläufiges Ende mit der Wahl von Heinrich Martens zum Präsidenten der Föderalen nationalen Kulturautonomie der Russlanddeutschen (9. April 2009). Die meisten regionalen Kulturautonomien mit ihren Kultur- und Begegnungszentren sind nun unter einem Dach vereint. Seit 2004 ist der IVDK Mitglied der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) und Olga Martens einer der Vize-Präsidenten. Der IVDK konnte im Mai 2012 einen Kongress der FUEV in Moskau ausrichten. Damit ist formal ein hoher Grad an internationaler Anerkennung für den IVDK erreicht. Die GIZ (früher: GTZ) hat in relativ kurzer Zeit ihre Funktion als Mittlerorganisation (tatsächlich: Projektträger in den Regionen) an die FNKA abgegeben. Man könnte sagen, die Selbstorganisation der Russlanddeutschen in der RF steht nun auf eigenen Füßen. Tatsächlich kann sie aber ohne eine wohlwollende Unterstützung, vor allem seitens der deutschen Bundesregierung, nicht existieren. Die Förderung durch die russische Regierung war in den letzten Jahren so konzipiert, dass man diese nur unter Aufbietung enormer Kräfte und mit viel Einfallsreichtum in Anspruch nehmen konnte. Projekte wurden ausgeschrieben und die Bewerber mussten bis zu 30 % des Förderbetrags als Kaution aufbringen. Im Erfolgsfall musste der Zuwendungsempfänger das Projekt vorfinanzieren, ohne sicher sein zu können, dass ihm der verwendete Betrag erstattet wird. Eine Prognose über die Fortsetzung einer deutsch-russischen Zusammenarbeit zugunsten der Russlanddeutschen in der RF kann derzeit niemand machen. Russland verabschiedet sich von gemeinsamen Werten und Rechtsnormen. Es gibt den Anspruch, ein gleichberechtigter Partner im „gemeinsamen Haus Europa“ sein zu wollen, auf. Die Eurasische Gemeinschaft mit Weißrussland und Kasachstan mit dem Wunschziel, die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken für diesen Zusammenschluss zu gewinnen, wird verstärkt propagiert. In der Innenpolitik haben mehrere Gesetze Aufsehen erregt, die auch für unser Thema von Belang sind. Dies sind die Verschärfung des Demonstrationsrechts, die Änderung der Gesetze über Nichtregierungsorganisationen und über das Internet, die Einführung eines Strafparagraphen für Verleumdung. Noch sind keine Gerichtsurteile gegen deutsche Vereine oder Aktivisten bekannt, aber die Forderung nach einer Rehabilitierung von Opfern staatlicher Repressionen kann unter Verleumdung fallen, ebenso wie Aussagen über die Deportationen und genozidalen Folgen der Zwangsarbeitslager.
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NGOs, die sich politisch betätigen und dafür Geld aus dem Ausland bekommen, gelten jetzt als „ausländische Agenten“. Als politische Betätigung kann aber alles eingestuft werden, was nicht vom Staat selbst erledigt wird: sei es Umweltschutz, Vermittlung von Kindern für die Adoption ins Ausland oder Kulturarbeit für eine nationale Minderheit, die über das vom Staat bewilligte Maß hinausgeht. Im Juni 2012 wurde beim Präsidenten Russlands ein Rat für zwischennationale Beziehungen gebildet, dem auch Heinrich Martens, der Präsident der FNKA der Russlanddeutschen, angehört.16 Die vom Rat entworfene Strategie für die Nationalitätenpolitik bis 2025 wurde vom Präsidenten Russlands am 19. Dezember 2012 bestätigt.17 Im Mittelpunkt dieser Strategie steht die Konsolidierung der russländischen (Staats-)Nation (rossijskaja nacija) und aller dazu gehörenden Völker (ethnischer Gemeinschaften). An mehreren Stellen der Strategie wird die Beibehaltung und Entwicklung der Sprachen der verschiedenen Völker bei gleichzeitigem Hervorheben der verbindenden Rolle der russischen Sprache und Kultur erwähnt. Die nationalen Kulturautonomien haben in diesem Kontext die Aufgabe, durch die Artikulation und Befriedung der ethnokulturellen Erwartungen der Bürger zur Harmonisierung der Beziehungen und der Konsolidierung des Staates und der Staatsnation beizutragen. Zur Umsetzung der Strategie soll der Rat dem Präsidenten Vorschläge über die prioritären Maßnahmen unterbreiten. Insofern kann es von Bedeutung sein, dass der Vertreter der FNKA der Russlanddeutschen eine prominente Stellung in diesem Rat zugebilligt bekommen hat. Als verbrieftes Volksgruppenrecht kann diese Konstruktion aber schwerlich gewertet werden.
III. Wahlrecht der Deutschen in der Russischen Föderation Die kleinste Gruppe dürften jene Volksdeutschen stellen, die während des Zweiten Weltkrieges die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen bekamen, nach Kriegsende in die UdSSR „repatriiert“ wurden und, aus welchen Gründen auch immer, nicht nach Deutschland ausgereist sind. Im Falle ihres Eintreffens im Bundesgebiet können sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit feststellen lassen und würden als Bundesbürger an ihrem Wohnort an Wahlen teilnehmen können. Für die Russische Föderation sind sie russische Staatsangehörige mit dem im Lande üblichen Wahlrecht. Da sie bei deutschen Auslandsvertretungen ___________ 16 Položenie o Sovete pri prezidente Rossijskoj Federacii po mežnacional’nym otnošenijam, in: http://news.kremlinru/acts/15577/print. 17 Ukraz Prezidenta Rossijskoj Federacii O strategii gosudarstvennoj nacional’noj politiki Rossijskoj Federacii na period do 2025 goda, in: news.kremlin.ru/.../ 41d4346a9150dd12eda4.pdf.
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nicht als deutsche Staatsangehörige geführt werden, stellt sich die Frage nach der Teilnahme an Bundestagswahlen nicht. Die zweite Gruppe bilden Aussiedler, die nach einem Aufenthalt in Deutschland wieder in die GUS (vor allem nach Russland und Kasachstan) zurückgekehrt sind. Sofern sie dabei die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren haben, wären sie wahlberechtigt. Dafür müssten sie im Wählerverzeichnis ihres Konsulats registriert sein. Bei den Entfernungen, mit denen man es in Russland und in Kasachstan zu tun hat, würde es sich um eine Anreise über mehrere Hundert Kilometer handeln. Die größte Gruppe von Russlanddeutschen in der RF aber sind russische Staatsbürger, die kein Recht auf Teilnahme an bundesdeutschen Wahlen haben.
IV. „Russen“ in Deutschland Eine Definition dafür, wer als „Russe“ in Deutschland im Sinne einer Population mit besonderer Bindung an Russland und einer gewissen Fürsorge seitens der russischen Regierung angesehen werden kann, ist in Art. 15 des „Vertrags über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ vom 9. November 1990 enthalten: „aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stammenden und ständig in der Bundesrepublik Deutschland wohnenden Bürgern, die ihre Sprache, Kultur oder Tradition bewahren wollen, wird es ermöglicht, ihre nationale, sprachliche und kulturelle Identität zu entfalten“. Die Zugehörigkeit zu dieser zahlenmäßig nicht definierten Population fußt demnach neben der Abstammung vom Territorium der UdSSR auf dem Bekenntnis zu einer Sprach- und Kulturgemeinschaft. Das Föderale Gesetz vom 24. Mai 1999 Nr. 99-F3 „Über die staatliche Politik der Russischen Föderation in Bezug auf die Landsleute („Sootečestvenniki“) im Ausland“18 hat auch Nachfahren von Emigranten aus dem zaristischen Russland und allen Nachfolgestaaten bis hin zur gegenwärtigen Russischen Föderation in den Wirkungskreis dieses Gesetzes einbezogen (Art. 1 Nr. 3), sofern sie sich als solche selbst identifizieren (Art. 3 Nr. 2). Demnach können zu diesem Personenkreis neben ethnischen Russen, die aus welchen Gründen auch immer ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben, und anderen ehemaligen Sowjetbürgern, die sich in Deutschland aufhalten, auch jüdische Kontingentflüchtlinge zählen. Sie gehörten zu einem großen Teil zur Bildungsschicht sowjetischer Großstädte, sind russischsprachig und partizipieren auch weiterhin am russischsprachigen Kulturbetrieb. Eine weitere, zahlenmäßig weit stärkere Personengruppe, die von russischer Seite als ihre Landsleute („Sootečestvenniki“) ___________ 18
Constitution.garant.ru/act/right/12115694.
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angesehen werden, sind die nichtdeutschen Familienmitglieder der Aussiedler aus der UdSSR und aus der GUS sowie russischsprechende Aussiedler selbst. Auf der Internetseite der Stadtregierung von St. Petersburg heißt es über diese auf ca. 3 Mio. Personen geschätzte Populationen: „Sie sind weggezogen, wollen aber nicht Fremde sein“.19 Diese These ist in Bezug auf die Aussiedler nicht leicht zu beantworten, denn schon die Differenzierung „Aussiedler und nichtdeutsche Familienmitglieder“ deutet eine Heterogenität an, die nicht nur ethnisch determiniert ist. Aussiedler, ihre Familienmitglieder und Abkömmlinge bekommen die deutsche Staatsangehörigkeit, dürfen aber auch die Pässe des Herkunftslandes temporär beibehalten. Eine größere Anzahl von Aussiedlern und ihrer Angehörigen behält ihre Pässe. Die Gründe dafür sind: 1. die hohen Kosten für die Ausbürgerung; 2. die älteren Aussiedler sehen in einer Ausbürgerung keinen Sinn; 3. ein nicht geringer Anteil von Aussiedlern hat noch Verwandte in den Herkunftsländern und spart sich durch die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit die Kosten und Mühen für die Visabesorgung für Verwandtenbesuche. Bei Beibehaltung der Staatsangehörigkeit Russlands, Kasachstans usw. und der Registrierung beim zuständigen Konsulat sind sie als Bürger dieser Länder mit ständigem Wohnsitz im Ausland registriert und können den Konsularschutz in Anspruch nehmen. Ein Recht auf kulturelle Betreuung dieser Personen kann Russland und den anderen GUS-Staaten nicht streitig gemacht werden. Die deutsche Staatsangehörigkeit steht einer kulturellen Betreuung und Rechtsberatung nicht im Wege. In Deutschland werden solche Doppelstaater ausschließlich als Deutsche behandelt und können sich gegenüber Behörden nicht auf ihre weitere Staatsangehörigkeit berufen.20 Die Botschaft und die Konsulate der Russischen Föderation haben mit Inkrafttreten des Gesetzes vom 24. Mai 1999 eine rege Tätigkeit zur Betreuung der Sootečestvenniki entfaltet. 2001 wurde ein Internationaler Rat russischer Landsleute gegründet, dessen Präsidium auch Vertreter aus Deutschland angehörten. 2006 wurden von der russischen Staatsduma drei Gesetze verabschiedet, die der Arbeit mit den Sootečestvenniki einen rechtlichen und finanziellen Rahmen bieten sollten. Dies waren ein Programm für die Arbeit mit den Sootečestvenniki in den Jahren 2006 bis 2008, ein Programm zur Förderung der freiwilligen Rückkehr nach Russland von im Ausland lebenden Sootečestvenniki und ein Föderales Programm „Russische Sprache“ für die Jahre 2006 bis 2010. ___________ 19
Metropolys.ru/artic/17/05/K-02223-07481.html. Vgl. Information des Bundesinnenministeriums, Ist es erlaubt und möglich, neben der deutschen noch eine weitere Staatsangehörigkeit zu besitzen?, online abrufbar unter: www.bmi.bund.de/SharedDocs/FAQs/DE/Themen/Migration. 20
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Daraufhin wurde die Arbeit mit den in Deutschland bereits vorhandenen Vereinen intensiviert. So fanden am 15.–17. Juni 2007 in Köln und am 6.–7. Juli 2007 in Nürnberg Kongresse der Sootečestvenniki statt, an denen hohe Würdenträger der Russisch-Orthodoxen Kirche, der Russischen Staatsduma und Diplomaten teilnahmen. Der Kongress in Köln fand unter dem Motto „Nicht verwirklichte Träume oder nicht realisierte Möglichkeiten“ statt. Als wichtigste Ziele hat der Kongress die Förderung der Integration der Sootečestvenniki in die Europäische Gemeinschaft und die Unterstützung von Rückkehrwilligen nach Russland definiert. Die 12 Punkte der Resolution lassen erkennen, dass die Sootečestvenniki nicht nur ein bilinguales Milieu bilden, sondern auch Interessen und Vorstellungen der russischen Regierung in die deutsche Öffentlichkeit kommunizieren sollen.21 Die Gründung von Vereinen hat sich als die leichtere Aufgabe erwiesen. Mit der Förderung der russischsprachigen Kultur traf man, ohne Zweifel, auf die Wünsche eines Teils der russischsprachigen Community. Mit der Rückwanderung, zumal von Hochqualifizierten, gab es dagegen nur bescheidene Erfolge zu verzeichnen. Nach Presseberichten sind 2010 nur 47 Russlanddeutsche als Teilnehmer des Rückwanderungsprogramms nach Russland zurückgekehrt und im ersten Vierteljahr 2011 nur 22 Personen.22 Die Vereinstätigkeit sollte mit der Gründung eines Gesamtdeutschen Koordinationsrates gesellschaftlicher Organisationen russischer Landsleute und russischsprachiger Bürger23 aktiviert werden. Von staatlicher Seite wurde die Tätigkeit der Vereine in verschiedenen Staaten durch die Föderale Agentur für Angelegenheiten der GUS, der im Ausland lebenden Landsleute und humanitäre Zusammenarbeit geleitet und unterstützt, die seit März 2012 von Konstantin I. Kosačev geleitet wird. Während sich diese Agentur vor allem mit der Verbesserung des Images Russlands im Ausland durch Kultur- und Bildungsangebote zu befassen hat,24 wurde am 25. Mai 2011 per Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation eine „Stiftung für Unterstützung und Schutz von Landsleuten, die im Ausland wohnhaft sind“ gegründet.25 Kuratoriums-Vorsitzender der Stiftung ist der russische Außenminister Sergei Lawrow. In den Gremien der Stiftung haben der Justizminister und mehrere hochrangige Vertreter der Russischen Staatsduma und des Föderationsrates Sitz und Stimme. ___________ 21
I s-ezd sootečestvennikov Germanii 9–10 ijunja 2007 Kёl‘n, S. 3–4. A. Kamatozov, Dorogie sootečestvenniki, in: Russkaja Germanija Nr. 42, 2011 (19. Oktober 2011), www.rg-rb.de/index.php?option=com. 23 Položenie ob OKS, in: www.russkoepole.de>OKC. 24 O Rossotrudničestve, in: http://rs.gov.ru/node/28132. 25 Fond podderžki i zaščity prav sootečestvennikov, proživajuščich za rubežom, in: http://www.russkoepole.de/index.php?view=article&catid=108:20. 22
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Wie asymmetrisch das Rollenverständnis und die Zielrichtung der Unterstützungsmaßnahmen der Bundesregierung für die Russlanddeutschen in der Russischen Föderation und der russischen Regierung für ihre Sootečestvenniki in Deutschland ist, macht folgende Gegenüberstellung deutlich: Die Bundesregierung fördert die Qualifizierung junger Russlanddeutscher, damit sie sich in Russland etablieren können und dort bleiben. Die russische Regierung ist, nach den Worten des Chefs des Departements für die Zusammenarbeit mit den Sootečestvenniki im Ausland des russischen Außenministeriums, A. A. Makarov, davon überzeugt, dass „die russischsprachige Jugend Deutschlands für die Modernisierung Russlands und des zwischenstaatlichen Dialogs sehr gefragt sein wird“.26 Dies war die Quintessenz seiner Grußbotschaft an die vom 23.–25. November 2012 veranstaltete Bundesjugendkonferenz der russischsprachigen Selbsthilfeorganisationen „Junge russischsprachige Mitbürger/Innen – Führungskräfte des modernen Europas“. Eine der Sektionen dieser Konferenz befasste sich mit dem Thema: „Teilnahme der russischsprachigen Jugend am politischen Leben/den Instituten der politischen Macht Deutschlands. Politische Bildung/Teilnahme der russischsprachigen Jugend an der Entwicklung der Zivilgesellschaft“. Zu den Rednern gehörten auch junge russlanddeutsche Mandatsträger der CDU und der SPD.
V. Wahlrecht der Aussiedler und Russischsprachigen in Deutschland Aussiedler sind nach deutschem Recht nach Erledigung einiger Formalitäten deutsche Staatsangehörige und haben das Recht, an Bundestags-, Landtags- und kommunalen Wahlen teilzunehmen. Für russische Staatsangehörige mit einem Aufenthaltstitel für Deutschland gibt es diese Möglichkeit nicht. Sie können an Präsidentschaftswahlen und den Wahlen zur Russischen Staatsduma teilnehmen. Auf die sehr heterogene Zusammensetzung der russischen Staatsangehörigen wurde weiter oben hingewiesen. Wie war nun ihre Wahlbeteiligung? Dazu teilte der Botschafter Russlands in Berlin, Vladimir Grinin, auf der 6. Gesamtdeutschen Konferenz russischer Landsleute Anfang Juni 2012 in Frankfurt a. M. mit, dass an den russischen Präsidentschaftswahlen 2012 ca. 22.000 Personen teilgenommen haben. Dieses Ergebnis erfülle ihn mit Stolz.27 Von den ca. 3 Mio. russischsprechenden Bürgern, auf die das Interesse einiger Politiker gerichtet ist, konnte demnach aber
___________ 26
http://www.russkoepole.de/index.php?view=article&catid=100:20. Rossijskie sootečestvenniki v Germanii. Čto nas ob-edinjaet?, in: MK-Sootečestvennik, Nr. 7/2012, S. 19. 27
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nur ein sehr geringer Teil an die Wahlurnen gebracht werden.28 Wer diese Wähler tatsächlich waren, kann nur indirekt anhand von Meinungsäußerungen geschlossen werden. Bekannt ist, dass Kontingentflüchtlinge in Berlin, Leipzig, München, Frankfurt a. M. und Hamburg von ihrem Wahlrecht nicht selten Gebrauch machten. Von Aussiedlern ist derlei nicht bekannt, doch kann es auch nicht ausgeschlossen werden.
VI. Zusammenfassung Die Deutschen in Russland sind im 20. Jahrhundert mehrmals unter Spionageverdacht geraten, wurden nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien deportiert. Sie haben ihr gesamtes persönliches und das gemeinschaftliche Eigentum (Grund und Boden, Bildungs- und Kultureinrichtungen) eingebüßt und mehrere Hunderttausend haben ihr Leben verloren. Eine vollständige politische, rechtliche, territoriale, soziale und kulturelle Rehabilitierung ist bislang ausgeblieben. Die vom Gesetz der RSFSR vom 26. April 1991 vorgesehene Rehabilitierung der Volksgruppe steht weiterhin auf nicht absehbare Zeit aus. Die FNKA hat nominell die Befugnis, sich um alle kulturellen und bildungspolitischen Belange der Russlanddeutschen zu kümmern. Die dafür benötigten Mittel kann sie von der Exekutive bekommen, sie hat aber keinen Rechtsanspruch. Es fehlt auch ein nationales Kataster, weshalb unklar ist, wie viele Personen dem Personenverband angehören. Volksgruppenrechte bleiben deklarativer Natur. Als russische Staatsbürger haben die Deutschen in der RF das Wahlrecht bei kommunalen, regionalen und gesamtstaatlichen Wahlen. Eine kulturelle Betreuung ist auf der Grundlage des Art. 15 des Vertrags über gute Nachbarschaft29 im Rahmen der Absprachen in der Deutsch-Russischen Regierungskommission für Angelegenheiten der Russlanddeutschen möglich. Unter dem Begriff „Russen in Deutschland“ werden von deutschen Behörden Staatsbürger der Russischen Föderation, von russischen Behörden bis zu 3 Mio. russischsprechende Personen mit unterschiedlichem Status (russische Staatsbürger, Kontingentflüchtlinge, [Spät-]Aussiedler) verstanden. Die russischen Behörden betreuen diese als Landsleute („Sootečestvenniki“) bezeichneten russischsprechenden Personen auf der Grundlage des Föderalen Gesetzes ___________ 28 In Israel, mit seiner zahlenmäßig bedeutenden russischsprachigen ImmigrantenPopulation, haben an den Wahlen des Präsidenten Russlands 11.348 Personen und an den Wahlen der Russischen Staatsduma nur 6.247 Personen teilgenommen, siehe dazu: Na vyborach prezidenta RF v Izraile otmečena rekordno vysokaja javka, in: www.baltinfo.ru/2012/03/05/Na-vyborakh-prezidenta-RF-v-I. 29 Siehe oben (Fn. 8).
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Nr. 99-F3 vom 24. Mai 1999. Dafür wurde am 25. Mai 2011 eine Stiftung gegründet, deren Kuratoriumsvorsitzender der russische Außenminister Sergei Lawrow ist. Ein Teil der Spätaussiedler konnte seine russische Staatsangehörigkeit parallel zur deutschen Staatsangehörigkeit behalten. Sie können sowohl an Wahlen in Deutschland als auch an Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Russlands teilnehmen. An Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Russlands können auch Kontingentflüchtlinge teilnehmen, die ihre russische Staatsangehörigkeit beibehalten oder erneuert haben. * * *
Abstract Alfred Eisfeld: Democracy and Minorities: Suffrage of Ethnic Germans in Russia (Demokratie und Minderheiten: Wahlrecht von Volksdeutschen), in: National Right to Vote and International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, HansDetlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 117–132. In the 20th century, Germans in Russia were suspected of espionage on several occasions and therefore deported to Siberia, Kazakhstan, and Central Asia. They lost all of their personal and common property (property, educational and cultural institutions), and several hundred thousand lost their lives. A complete political, legal, territorial, social and cultural rehabilitation has to date not taken place. Rehabilitation of the ethnic group envisaged by RSFSR legislation from 26 April 1991 remains unplanned for any time in the foreseeable future. As Russian citizens, Germans in the Russian Federation have the right to vote in local, regional and national elections. Cultural care is possible on the basis of Article 15 of the 1990 Treaty of Good Neighborliness, which was a part of agreements in the German-Russian Intergovernmental Commission on Russian German Affairs. The term “Russians in Germany” is defined by the German authorities as citizens of the Russian Federation, by Russian authorities up to 3 million Russianspeaking people of varying status (Russian citizens, quota refugees and [late] repatriates). The Russian authorities treat them as Russian-speaking “compatriots” (“Sootečestvenniki”) on the basis of the Federal Law No. 99-F3 from 24 May 1999. A foundation was established for them on 25 May 2011; its chairman of the board of trustees is Russian Foreign Minister Sergei Lavrov. Some of the repatriates were able to keep their Russian citizenship parallel to German citizenship. They are able to participate in elections in Germany and
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also in presidential and parliamentary elections in Russia. Quota refugees who have maintained or renewed their Russian citizenship can participate in the presidential and parliamentary elections in Russia.
Länderbericht Österreich – auch mit Bezug auf Südtirol Von Katharina Pabel
I. Übersicht Häufig sieht Österreich – auch in rechtlichen Fragen – zum großen Nachbarn Deutschland und sucht Anregungen und Beispiele, wie man Lösungen finden und gestalten kann. Hier geht der Blick nun in die andere Richtung. Die diskutierten Fragen des Wahlrechts in Bezug auf Staatsangehörigkeit und Wohnsitz stellen sich gleichermaßen in Österreich. Der folgende Länderbericht untersucht zunächst grundlegend, ob und inwieweit die Staatsangehörigkeit als Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts zu den gesetzgebenden Körperschaften zu sehen ist und wie hinsichtlich dieser Frage die historische Entwicklung in Österreich zu beurteilen ist (siehe unten II.). Anschließend befasst sich der Beitrag mit dem Wahlrecht der Auslandsösterreicher, das im Wesentlichen erst nach einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes aus dem Jahr 1989 eingeführt wurde (III.). Im Zusammenhang und in Folge der Einführung des Kommunalwahlrechts für EU-Angehörige wurde auch in Österreich über die Frage diskutiert, ob die Einführung eines Wahlrechts für Drittstaatsangehörige – also eines umfassenden Ausländerwahlrechts – verfassungsrechtlich zulässig ist. Die Erörterung rechtlicher Fragen zur Einführung eines solchen Ausländerwahlrechts steht am Schluss des Länderberichts zu Österreich (IV.). Abschließend erfolgt ein kurzer Exkurs zur Rechtslage in Südtirol (V.).
II. Die Wahlberechtigung des „Bundesvolks“ 1. Die Verfassungslage für die Wahl zum Nationalrat Die maßgebliche Bestimmung zur Abgrenzung des Kreises der Wahlberechtigten zum Nationalrat findet sich in Art. 26 B-VG, dem Bundesverfassungsgesetz aus dem Jahr 1920.1 Danach wird der Nationalrat vom Bundesvolk aufgrund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahl___________ 1
BGBl. Nr. 1/1920 i.d.F. BGBl. I Nr. 65/2012.
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rechts der Männer und Frauen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Art. 26 B-VG enthält also die bekannten Wahlrechtsgrundsätze, wobei als Besonderheit das persönliche Wahlrecht ausdrücklich hervorgehoben sei, auf das an späterer Stelle noch einmal eingegangen wird. Für die Frage nach der Voraussetzung der Staatsangehörigkeit für das Wahlrecht ist maßgeblich, dass Art. 26 Abs. 1 B-VG von einem aktiven Wahlrecht des „Bundesvolks“ spricht. Während für das passive Wahlrecht Abs. 4 ausdrücklich das Kriterium der Staatsangehörigkeit verlangt, fehlt es dem Wortlaut nach bei der Regelung des aktiven Wahlrechts nach Abs. 1 an einem entsprechenden Erfordernis. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes knüpft jedoch der in Abs. 1 verwendete Begriff des Bundesvolks an die österreichische Staatsbürgerschaft an.2 Zur Stützung dieses Verständnisses von Bundesvolk als jenen Personen, die die Staatsbürgerschaft besitzen, verweist der Verfassungsgerichtshof insbesondere auf den systematischen Zusammenhang mit Art. 1 B-VG.3 Danach ist Österreich eine demokratische Republik, deren Recht vom „Volk“ ausgeht. Mit dem Begriff des Volkes werde an die österreichische Staatsangehörigkeit angeknüpft.4 Abgesehen von Verweisen auf das Schrifttum,5 insbesondere auch auf Hans Kelsen, Georg Froehlich und Adolf Merkl6 – den Autoren des ersten und gewissermaßen authentischen Kommentars zum B-VG aus dem Jahr 1922 –, findet sich in den einschlägigen Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes jedoch keine tiefergehende systematische Analyse zum Zusammenhang der grundlegenden Bestimmung des Art. 1 B-VG, die in erster Linie Festlegungen zur Staatsform trifft, und der verfassungsrechtlichen Regelung des Wahlrechts in Art. 26 B-VG. Auch eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Volksbegriff in Art. 1 B-VG enthalten die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes nicht. ___________ 2 VfSlg 12.023/1989; VfSlg 17.264/2004 unter Verweis auf H. Kelsen/G. Froehlich/A. Merkl, Österreichische Bundesverfassung 1920, 1922, Art. 26 B-VG, S. 94; K. Ringhofer (Hrsg.), Die österreichische Bundesverfassung, 1977, S. 101; L. K. Adamovich/B.-C. Funk/G. Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 2, 1998, Rn. 21.002-01. 3 VfSlg 17.264/2004. 4 VfSlg 12.023/1989; 17.264/2004. 5 Verwiesen wird auf K. Ringhofer (Fn. 2), S. 102 f.; L. K. Adamovich/H. Spanner, Handbuch des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 5. Aufl. 1957, S. 104 f.; R. Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht: System, 1972, S. 135 ff.; L. K. Adamovich/B.-C. Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 3. Aufl. 1985, S. 194 f.; R. Walter/H. Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 6. Aufl. 1988, Rn. 306. 6 H. Kelsen/G. Froehlich/A. Merkl (Fn. 2), Art. 26 B-VG, S. 94: „Die Bundesbürgerschaft als Bedingung des aktiven Wahlrechts ist indirekt dadurch vorgeschrieben, dass bestimmt wird, dass die Wahl des Nationalrates durch das Bundesvolk, d.i. die Gesamtheit der Bundesbürger erfolgt (vergleiche auch die Terminologie in Art. 43 und 46)“.
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Eine Verbindung stellt der Verfassungsgerichtshof überdies zwischen Art. 26 B-VG und Art. 8 Abs. 1 des Staatsvertrags von Wien7 her. Letztere Bestimmung weist den Rang von Bundesverfassungsrecht auf. Diese gewährt ausdrücklich allen Staatsbürgern das Wahlrecht. Schließlich findet sich ein eher kurzer Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Art. 26 Abs. 1 B-VG.8 Selbst wenn man den eher knappen Begründungsstil des Verfassungsgerichtshofes in Rechnung stellt, fällt doch auf, dass für die Auslegung des Begriffs „Volk“ im Sinne von Staatsangehörigen recht wenig Argumentationsaufwand betrieben wird. Man gewinnt den Eindruck, dass das Ergebnis, die Verbindung von Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, als eine Selbstverständlichkeit angesehen wird. Die Auslegung des Begriffs „Bundesvolk“, die zu einer Beschränkung des Wahlrechts auf österreichische Staatsangehörige führt, wurde sowohl vor dem maßgeblichen ersten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes aus dem Jahr 1989 als auch nach diesem vom weitaus überwiegenden Teil der österreichischen Rechtslehre geteilt.9 Soweit ersichtlich gibt es im juristischen Schrifttum keine Stimmen, die de lege lata eine andere, weiterreichende Auslegung des Begriffs „Bundesvolk“ propagieren und damit den Kreis der Wahlberechtigten über die Staatsangehörigen hinaus ziehen. 2. Historische Anmerkungen In diesem Zusammenhang ist es interessant, einen Blick auf die historische Entwicklung des Wahlrechts, insbesondere im Hinblick auf das Erfordernis der Staatsangehörigkeit, zu werfen. Bereits nach dem Ende der Monarchie in der Zeit 1918/19 verabschiedete die Provisorische Nationalversammlung, die bereits 1911 gewählt wurde und sich nach dem Ende des Krieges 1918 konstituiert hatte, eine Wahlordnung für die Anfang 1919 ausgerufene Neuwahl zur Konstituierenden Nationalversammlung. In dieser Wahlordnung wurde allen deutschösterreichischen Staatsbürgern das Wahlrecht zuerkannt.10 ___________ 7
Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, BGBl. Nr. 152/1955 i.d.F. BGBl. III Nr. 179/2002. 8 Bezug wird auf den ersten Vorentwurf Hans Kelsens sowie auf den Entwurf von Karl Renner und Michael Mayr zu Art. 26 Abs. 1 B-VG genommen; dazu wird auf F. Ermacora, Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen, 1982, S. 176 ff., sowie dens. (Hrsg.), Quellen zum österreichischen Verfassungsrecht, 1920, 1967, S. 205, 246 und 261, verwiesen. 9 H. Schreiner, in: B. Kneihs/G. Lienbacher (Hrsg.), Rill/Schäffer Bundesverfassungsrecht, Kommentar, Stand: 2011, Art. 26 B-VG (2001), Rn. 23; G. Holzinger/ H. Unger, in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht: Textsammlung und Kommentar, Stand: 2011, Art. 26 B-VG (2009), Rn. 34. 10 Gesetz vom 18. Dezember 1918 über die Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung, StGBl. Nr. 115/1918. Gemäß § 11 dieses Gesetzes ist jeder
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Die entscheidende Frage war aber, wer nach dem Zerfall der österreichischungarischen Monarchie Deutschösterreicher war. Regelmäßig hatte derjenige die deutschösterreichische Staatsangehörigkeit, der in einer deutschösterreichischen Gemeinde „Heimatrecht“ hatte, das heißt seinen rechtmäßigen Wohnsitz hatte.11 Umgekehrt konnten heimatberechtigte Menschen erklären, zu einem anderen Staat gehören zu wollen, mit der Folge, dass sie die deutschösterreichische Staatsangehörigkeit verloren. Insgesamt lässt sich für den Zeitraum bis zum Abschluss des Staatsvertrags von Saint Germain 1919 feststellen, dass alle Regelungen über Erwerb und Verlust des Heimatrechts und damit auch der Staatsangehörigkeit als provisorisch angesehen wurden und Regelungen für den Übergang darstellten.12 Territoriale und personelle politische Zielsetzungen waren miteinander verbunden. Das zeigt sich etwa daran, dass auf Grundlage der Gegenseitigkeit auch deutsche Reichsangehörige mit Wohnsitz in Deutschösterreich zur Konstituierenden Nationalversammlung wahlberechtigt waren.13 Dieses entsprach einem kurz zuvor verabschiedeten Wahlrecht deutschösterreichischer Staatsbürger zur Konstituierenden Nationalversammlung der Deutschen Republik.14 Dahinter stand politisch ein weit verbreiteter Wunsch nach einem Anschluss Österreichs an die Deutsche Republik.15 Mit dem Staatsvertrag von Saint Germain wurden im Jahr 1919 die Staatsgrenzen der Republik Österreich festgelegt. In personeller Hinsicht regelte der Staatsvertrag die Staatsangehörigkeitsfragen, die allerdings im Einzelnen zu einer Reihe von Auslegungs- und Anwendungsproblemen führten. Grundsätzlich waren zum Erwerb der österreichischen Staatsangehörigkeit die Heimatberechtigung in einer österreichischen Gemeinde und der Nichtbesitz einer Staatsangehörigkeit eines anderen Staates erforderlich.16 Verschiedene Optionsmöglichkeiten auf die österreichische Staatsangehörigkeit ermöglichten es Personen, die durch die neuen Staatsgrenzen die österreichische Staatsangehörigkeit ___________ deutschösterreichische Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechtes wahlberechtigt, der vor dem 1. Januar 1919 das zwanzigste Lebensjahr überschritten hat. 11 Vgl. § 1 des Gesetzes vom 5. Dezember 1918 über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht, StGBl. Nr. 91/1918; vgl. R. Thienel, Österreichische Staatsbürgerschaft, Bd. 1, 1989, S. 45 f.; M. Pöschl, Wahlrecht und Staatsbürgerschaft, in: M. Akyürek (Hrsg.), FS für H. Schäffer, 2006, S. 654. Das Heimatrecht war mit dem Anspruch auf Armenfürsorge verbunden. Ziel der ersten Regelungen, die im 18. Jahrhundert entstanden, war aber nicht die Gewährleistung eines Anspruchs auf Armenfürsorge, sondern im Gegenteil die Abwehr von „fremden“ Vagabunden und Bettlern. Ein zweites Regelungsziel betraf die Stellungspflicht. 12 Vgl. R. Thienel (Fn. 11), S. 49 ff. 13 R. Thienel (Fn. 11), S. 50. 14 Abgedruckt in H. Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, 1919, Zweiter Teil, S. 76; M. Pöschl (Fn. 11), S. 656. 15 G. Holzinger/H. Unger (Fn. 9), Art. 26 B-VG Rn. 8; M. Pöschl (Fn. 11), S. 656. 16 Siehe dazu näher R. Thienel (Fn. 11), S. 51 f.
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nicht mehr besaßen, diese zu erwerben. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Frage der Neuordnung der Staatsangehörigkeit eine durchaus zentrale war. Das Wahlrecht war stets als gewissermaßen akzessorisch mit der Staatsangehörigkeit mitgedacht. Eine grundsätzliche Entkoppelung wurde – soweit ersichtlich – nicht diskutiert. Allfällige Ausnahmen von dem Grundsatz des Wahlrechts der Staatsangehörigen waren territorialpolitisch motiviert. Der Vertrag von Saint Germain sah ein Verbot des Anschlusses an die Deutsche Republik vor. Das B-VG von 1920 enthielt folglich ein Wahlrecht des Bundesvolkes, ohne nähere Regelungen über die eventuelle Einbeziehung von sogenannten Deutschösterreichern, die nicht im Staatsgebiet ansässig waren, zu treffen.17 Das Wahlrecht reichsdeutscher Staatsangehöriger wurde aufgehoben. Für die Überlegungen zur Verbindung von Staatsangehörigkeit und Wahlrecht ist die zweite Novelle des B-VG aus dem Jahr 1929 von Interesse.18 Mit dieser wurde der einfache Gesetzgeber in der relevanten Bestimmung des Art. 26 Abs. 1 dazu ermächtigt, „Personen, die nicht die Bundesbürgerschaft besitzen“, aufgrund staatsvertraglich gewährleisteter Gegenseitigkeit das Wahlrecht einzuräumen. Diese Ermächtigung an den einfachen Gesetzgeber zielte politisch wiederum auf einen Anschluss an die deutsche Republik ab, wurde allerdings, um den Anforderungen des Staatsvertrags von Saint Germain (Anschlussverbot!) zu genügen und außenpolitische Schwierigkeiten zu vermeiden, allgemein gefasst und neutral auf alle Ausländer bezogen.19 Diese Regelung blieb bis 1968 in Kraft, ohne dass der einfache Gesetzgeber jemals von der Ermächtigung Gebrauch gemacht hätte.20 Will man Schlussfolgerungen aus dieser Entwicklung des Wahlrechts in Bezug auf die Staatsbürgerschaft ziehen, darf die historische Sondersituation eines Staates, der sich nach dem Zerfall der Monarchie und dem Ende des ersten Weltkrieges nicht nur von der Staatsorganisation her neu konstituieren musste, sondern auch eine erhebliche territoriale Neuordnung erfuhr, nicht außer Acht gelassen werden. Bei der (möglichen) Einbeziehung von Ausländern in den Kreis der Wahlberechtigten ging es weniger um eine Integration von wirklich Fremden als vielmehr um die Ermöglichung der politischen Beteiligung von Personen, die eigentlich als Österreicher angesehen wurden. Gleichzeitig war ___________ 17 M. Pöschl (Fn. 11), S. 657. Die Beschränkung des Wahlrechts auf österreichische Staatsbürger erfolgte nicht, weil man einen Anschluss an die deutsche Republik nicht mehr wünschte, sondern weil ein solcher Anschluss durch den Staatsvertrag von Saint Germain verboten worden war (Art. 88 Staatsvertrag Saint Germain). 18 BGBl. Nr. 392/1929. 19 Dazu M. Pöschl (Fn. 11), S. 658. 20 H. Schreiner, in: Rill/Schäffer (Fn. 9), Art. 26 B-VG Rn. 23; G. Holzinger/H. Unger (Fn. 9), Art. 26 B-VG Rn. 11.
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das Wahlrecht ein Instrument, um den politisch vielfach gewünschten Anschluss an die Deutsche Republik zu forcieren. Dennoch lässt sich möglicherweise festhalten, dass es die Verfassung von ihrem Grundkonzept her nicht ausschließt, dass auch Personen, jedenfalls wenn sie in einem Näheverhältnis zu Österreich stehen und die Voraussetzung der Gegenseitigkeit gegeben ist, ohne die österreichische Staatsangehörigkeit zu haben, wählen können. Auf diesen Aspekt wird an späterer Stelle noch einmal eingegangen. 3. Die Vereinbarkeit der Beschränkung des Wahlrechts auf Staatsangehörige mit der EMRK Angesichts dessen, dass die EMRK und die durch Österreich ratifizierten Zusatzprotokolle in Österreich Verfassungsrang genießen, soll an dieser Stelle ein kurzer Blick auf das in Art. 3 1. ZP EMRK gewährleistete Recht auf freie Wahlen geworfen werden. Nach dieser Bestimmung sind die Hohen Vertragsparteien verpflichtet, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, die die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Organe gewährleisten. Trotz des objektiv-rechtlichen Wortlauts der Bestimmung ist inzwischen geklärt, dass dieser Artikel auch ein subjektives Recht auf Durchführung von Wahlen einräumt.21 Ähnlich wie in vielen nationalen Bestimmungen findet sich auch in Art. 3 1. ZP EMRK keine ausdrückliche Beschränkung des Rechts auf freie Wahlen auf Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaates. Allerdings ist anerkannt, dass die Beschränkung des Wahlrechts auf Staatsangehörige mit Art. 3 1. ZP vereinbar ist.22 Sprachlich wird auch hier an dem Begriff des Volkes, dessen Meinungsäußerung bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaft
___________ 21 EGMR vom 2. März 1987, Mathieu-Mohin u. Clerfayt ./. BEL, Nr. 9267/81, Z. 50 f.; EGMR (GK) vom 6. Oktober 2005, Hirst ./. VK, Nr. 74025/01, Z. 28 f.; G. Holzinger/H. Unger (Fn. 9), Art. 26 B-VG Rn. 103; C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 23 Rn. 100; A. Peters/ T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 17 Rn. 1; F. Arndt, in: U. Karpenstein/F. C. Mayer (Hrsg.), EMRK Kommentar, 2012, Art. 3 1. ZP Rn. 3. 22 R. Thienel, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht im sich einigenden Europa: Das „Volk“ im Sinne des Art. 3 1. ZP EMRK, in: FS für T. Öhlinger, 2004, S. 379; D. Richter, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 25. Rn. 15; C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 21), § 23 Rn. 103; F. Arndt (Fn. 21), Art. 3 1. ZP Rn. 7; A. Peters/T. Altwicker (Fn. 21), § 17 Rn. 2.
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zu gewährleisten ist, angeknüpft.23 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass im Hinblick auf die objektiv-rechtliche Formulierung des Art. 3 1. ZP EMRK das „Volk“ nur mittelbar als Grundrechtsträger ermittelt werden kann. Zudem erscheint es bei einem internationalen Grundrechtskatalog problematisch, aus dem Begriff des Volkes ein Abgrenzungskriterium zu entwickeln. Entscheidender als der Wortlaut ist der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang des Art. 3 1. ZP EMRK. Zum Zeitpunkt der Entstehung der EMRK war es herkömmliche Vorstellung im Völkerrecht, dass die Staatsangehörigkeit das maßgebliche Kriterium bildet, um ein Staatsvolk zu bestimmen. Typischerweise erkannten Mitte des 20. Jahrhunderts die Staaten nur ihren Staatsangehörigen das Wahlrecht zu.24 Dementsprechend erkannte auch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 politische Mitwirkungsrechte nur den Menschen in ihrem Staat zu (Art. 21 AEMR). Dass das in der EMRK gewährleistete Recht auf freie Wahlen darüber hinausgehen sollte, ist nicht ersichtlich. Art. 3 1. ZP EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten nur dazu, ihren jeweiligen Staatsangehörigen Wahlen unter den Bedingungen, die die EMRK vorschreibt, zu ermöglichen. Andererseits steht diese Bestimmung einer Erweiterung des Kreises der Wahlberechtigten auf Nicht-Staatsangehörige durchaus nicht im Wege.
III. Das Wahlrecht der Auslandsösterreicher 1. Wahlrecht und Wohnsitz Das Erfordernis eines ordentlichen Wohnsitzes im Inland hängt – inhaltlich betrachtet – in dreierlei Hinsicht mit dem Wahlrecht zusammen: Erstens im Zusammenhang mit der Staatsangehörigkeit, zweitens als Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts und drittens als Voraussetzung für die Organisation von Wahlen. Im Einzelnen: Der Wohnsitz bildet ein Kriterium, das bei der Beurteilung der Staatsangehörigkeit eine Rolle spielt und damit mittelbar auch für das Wahlrecht von Bedeutung ist. Wie bereits im Rahmen der historischen Überlegungen erwähnt, war zum Zeitpunkt der Konstituierung der Republik Österreich die Zuordnung von Personen zum österreichischen Wahlvolk eine Verknüpfung von Wohnsitz- und Staatsangehörigkeitsfragen. Staatsangehöriger ___________ 23 Vgl. EGMR (GK) vom 16. März 2006, Ždanoka ./. LET, Nr. 58278/00, Rn. 115; R. Thienel (Fn. 22), S. 361 ff.; C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 21), § 23 Rn. 100; A. Peters/T. Altwicker (Fn. 21), § 17 Rn. 1. 24 Vgl. EGMR (GK) vom 29. Oktober 1997, Matthews ./. UK, Nr. 24833/94; C. Grabenwarter/K. Pabel (Fn. 21), § 23 Rn. 103; C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 290 (334).
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wurde – sehr vereinfacht ausgedrückt –, wer „Heimatrecht“ hatte, wer also in rechtmäßiger Weise einen Hauptwohnsitz begründen konnte. Auch heute noch wird die Staatsangehörigkeit nur bei Vorliegen eines Wohnsitzes im Inland über einen bestimmten Zeitraum hinweg verliehen. Insofern spielte und spielt die Frage des Wohnsitzes durchaus eine Rolle für die Frage des Wahlrechts, wenn auch mittelbar, vermittelt über die Staatsangehörigkeit. Zweitens hatte das Wohnsitzerfordernis für die Ausübung des Wahlrechts historisch betrachtet zum Ziel, unterprivilegierte Klassen vom Wahlrecht auszuschließen. Wohnsitzklauseln waren in Verbindung mit Sesshaftigkeitsklauseln zu sehen und als solche ausdrücklich in den entsprechenden Verfassungstexten verankert. Nur wer „ordentlicher Bürger“ war und Heimatrecht hatte, dem wurde das Wahlrecht zuerkannt.25 Diese Bedeutung des Wohnsitzerfordernisses entfiel vollends mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, unabhängig von Stand und Verdienst, im Jahr 1919. Die dritte Verbindung von Wahlrecht und Wohnsitz im Inland ist verwaltungstechnischer Natur. In seiner Judikatur aus den zwanziger und dreißiger Jahren und noch 1950 hatte der Verfassungsgerichtshof gegenüber einfachgesetzlichen Regelungen, die das Wahlrecht zum Nationalrat vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes im Inland abhängig machten, keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben.26 Zur Rechtfertigung wurden eben verwaltungstechnische Gründe herangezogen. Der Verfassungsgerichtshof hatte angenommen, dass die Durchführung eines geordneten Wahlverfahrens eine genaue Wählerevidenz voraussetze. Für deren Führung könne an den ordentlichen Wohnsitz angeknüpft werden. Auf diese Weise wurde die Notwendigkeit eines ordentlichen Wohnsitzes als Voraussetzung für das Wahlrecht in einer österreichischen Gemeinde aus wahltechnischen Gründen gerechtfertigt.27 2. Ausgangslage und verfassungsrechtliche Problematik Aufgrund dieser Rechtsprechung war das Wahlrecht zum Nationalrat (wie auch zum Bundespräsidenten) entsprechend den einfachgesetzlichen Regelungen auf Staatsbürger mit ordentlichem Wohnsitz im Inland beschränkt, und waren demnach Auslandsösterreicher vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die entsprechende Regelung fand sich im sogenannten Wählerevidenzgesetz, einem einfachen Bundesgesetz, das die für die Ausübung des Wahlrechts notwendige ___________ 25
VfSlg 12.023/1989; M. Nowak, Politische Grundrechte, 1988, S. 338 f. VfSlg 999/1924; 1362/1930; 1393, 1394/1931; 1401/1931; 1994/1950. 27 Faktisch wird bei der Organisation der Wahlen ein Stichtag festgelegt, auf den bei der Erstellung der Wählerverzeichnisse abgestellt wird. Dieser liegt drei Monate vor dem Wahltermin. 26
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Eintragung des Bürgers in die Wählerevidenz regelt. Bereits in den 1980er Jahren und auch zuvor wurde verstärkt die Teilnahme von Auslandsösterreichern (das sind Österreicher, die ständig im Ausland leben und keinen ständigen Wohnsitz im Inland haben) an österreichischen Wahlen gefordert.28 Hier stellten sich jedoch nicht nur organisatorische Fragen, die auf der Ebene des einfachen Gesetzes zu lösen gewesen wären, sondern auch verfassungsrechtliche Schwierigkeiten. Die Verfassungsbestimmung des Art. 26 B-VG sieht nämlich das persönliche Wahlrecht vor, das in der österreichischen Lesart das persönliche Erscheinen des Wählers vor der Wahlbehörde verlangt.29 Die strikte Auslegung dieses Erfordernisses führte dazu, dass jegliche Formen einer Distanzwahl, insbesondere die Ausübung des Wahlrechts durch Briefwahl, verfassungsrechtlich ausgeschlossen waren. Noch im Jahr 1985 bestätigte der Verfassungsgerichtshof, dass die Durchführung einer Briefwahl mit dem Erfordernis der persönlichen Wahl (und auch dem Erfordernis der geheimen Wahl) nicht vereinbar sei.30 Damit war eine Ausübung des Wahlrechts durch Auslandsösterreicher faktisch und verwaltungstechnisch ausgesprochen schwierig zu verwirklichen.
3. Das Erkenntnis des VfGH aus dem Jahr 1989 zum Auslandsösterreicher-Wahlrecht Mit Erkenntnis vom 16. Mai 1989 hob der Verfassungsgerichtshof die Bestimmung des Wählerevidenzgesetzes, die den ordentlichen Wohnsitz im Inland als Voraussetzung für das Wahlrecht zum Nationalrat festschrieb, als verfassungswidrig auf.31 Er legte dar, dass die hier bereits mehrfach zitierte Bestimmung des Art. 26 Abs. 1 B-VG das Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes im Inland nicht als Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts zum Nationalrat vorsehe.32 Hinsichtlich der wahltechnischen Überlegungen, die in ___________ 28 Vgl. dazu R. Stein/G. Wenda, Die Wahlrechtsreform 2007, SIAK-Journal 2007, S. 61 (66). 29 G. Holzinger/H. Unger (Fn. 9), Art. 26 B-VG Rn. 54 ff.; H. Schreiner, in: Rill/Schäffer (Fn. 9), Art. 26 B-VG Rn. 54 ff.; G. Glantschnig, Briefwahl – eine demokratische Notwendigkeit, ÖGZ 2003, S. 24 f.; M. Vogl, Briefwahl und E-Voting auf Bundesebene, JRP 2004, S. 119 f.; R. Stein/G. Wenda (Fn. 28), S. 61. 30 VfSlg 10.412/1985. 31 VfSlg 12.023/1989. 32 M. Nowak/G. Strejcek, Das Wahl- und Stimmrecht, in: R. Machacek/ W. Pahr/G. Stadler (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. 3, 1997, S. 63; R. Schick, Ist der Ausschluß der Auslandsösterreicher vom Wahlrecht verfassungswidrig?, ÖGZ 1989, S. 2; R. Lippold, Möglichkeiten und Grenzen eines Wahlrechts für Auslandsösterreicher, ÖJZ 1989, S. 652 ff.; G. Holzinger/H. Unger (Fn. 9), Art. 26 B-VG Rn. 36.
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der älteren Rechtsprechung zur Rechtfertigung des Wohnsitzerfordernisses herangezogen wurden, ging der Verfassungsgerichtshof unter Verweis auf Untersuchungen des Europarates davon aus, dass es Möglichkeiten gebe, auch Personen ohne Wohnsitz im Inland unter Beibehaltung des Prinzips der Stimmabgabe und Mandatszuteilung über Wahlkreise das Wahlrecht einzuräumen. Damit war der einfache Gesetzgeber verpflichtet, auch Auslandsösterreichern die Möglichkeit der Abgabe von Stimmen zur Nationalratswahl und auch zur Bundespräsidentenwahl einzuräumen. Anderes gilt für die Wahlen zu den Landtagen und zu den Gemeindevertretungen. Für diese beschränken bereits verfassungsrechtliche Bestimmungen das Wahlrecht auf Landesbürger (Art. 95 B-VG)33 bzw. auf Personen mit Hauptwohnsitz in einer Gemeinde (Art. 117 Abs. 2 B-VG). Von der Möglichkeit, auf Landesebene ein Wahlrecht für Landesbürger, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, einzuführen, haben die Länder keinen Gebrauch gemacht. 4. Die nachfolgende Rechtsentwicklung Infolge des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes aus dem Jahr 1989 wurde die Stimmabgabe im Ausland – und zwar für alle Wähler, die sich am Wahltag voraussichtlich im Ausland aufhalten, somit nicht nur für Auslandsösterreicher – neu geregelt. Um den möglichen Widersprüchen zu dem ebenfalls durch den Verfassungsgerichtshof umfassend verstandenen Grundsätzen der Geheimheit und Persönlichkeit der Wahl entgegenzutreten, wurde eine Verfassungsbestimmung geschaffen, die die Stimmabgabe im Ausland verfassungsrechtlich absicherte.34 Nach der einfachgesetzlichen Ausgestaltung erfolgte die Stimmabgabe mittels einer Wahlkarte, wobei zur Gültigkeit der Stimme eine Bestätigung entweder durch eine notarähnliche Beglaubigungsstelle im Ausland, durch eine österreichische Vertretungsbehörde, bei entsendeten Einheiten durch die Einheitsleitung, oder schließlich durch zunächst zwei, dann im Zuge einer Rechtsänderung nunmehr durch einen volljährigen Zeugen österreichischer Staatsbürgerschaft erforderlich war.35 Schon in diesem Wahlmodus, der ___________ 33
VG). 34
Landesbürger ist, wer in einem Land seinen Hauptwohnsitz hat (Art. 6 Abs. 2 B-
BGBl. I Nr. 27/2007. Voraussetzung für die Stimmabgabe war eine Eintragung in die Wählerevidenz aufgrund eines Antrags. Da eine Briefwahl ausgeschlossen war, bedurfte das Zurücklegen des Wahlkuverts, das einen unbeeinflusst ausgefüllten Stimmzettel zu enthalten hatte, einer Bestätigung durch die Zeugen oder anderen genannten Stellen. Wegen Nichteinhaltung der Formvorschriften konnten zu Beginn bis zu 25 % der im Ausland abgegebenen Wahlkartenstimmen nicht berücksichtigt werden. Nach Erleichterungen der Formvorschriften sank diese Quote zwar, betrug aber immer noch ca. 10 %, R. Stein/G. Wenda (Fn. 28), S. 67. 35
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eben kein persönliches Erscheinen des Wählers vor der Wahlkommission erforderlich macht, wurden erhebliche Einschränkungen bzw. Modifikationen des Grundsatzes der geheimen und persönlichen Wahl gesehen.36 Gleichzeitig war faktisch die Ausübung des Wahlrechts durch Auslandsösterreicher mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. An Orten ohne diplomatische Vertretungen blieb nur der Gang zum Notar o.ä. oder die Suche nach anderen Österreichern, die die Stimmabgabe bezeugen konnten.37 Erst mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Briefwahl, die im Jahr 2007 in Art. 26 Abs. 6 B-VG eingeführt wurde,38 erleichterte sich auch das Wahlrecht für Auslandsösterreicher in praktischer Hinsicht erheblich.39 Während in deutschen Diskussionen die Briefwahlmöglichkeit stets als wesentliches Element zur Erleichterung der Stimmabgabe für den Wähler gesehen wird,40 sie dem Grundsatz der allgemeinen Wahl dient und die damit verbundene mögliche Einschränkung der geheimen Wahl in den Verantwortungsbereich des Wählers selbst legt, entspricht es hingegen der österreichischen Tradition, in erster Linie den Staat als den Garanten für die Sicherung der geheimen Wahl anzusehen.41 Die Selbstverantwortung des Wahlbürgers spielt insofern eine weitaus geringere Rolle. Insbesondere die Diskussion über das Briefwahlrecht in Österreich macht deutlich, wie sehr die Ausgestaltung des Wahlrechts in einem demokratischen Staat auch von kulturellen und traditionellen Aspekten abhängig ist.42
___________ 36 Vgl. M. Handstanger, Wahlrecht mit Auslandsbezug: Europa-, Auslandsösterreicher-, Ausländerwahlrecht, JRP 2007, S. 131 (132 ff.). 37 M. Handstanger (Fn. 36), S. 133 unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien (RV BlgNr XXIII. GP, Pkt. 1 des Allgemeinen Teils der Erläuterungen); R. Stein/ G. Wenda (Fn. 28), S. 66. 38 BGBl. I Nr. 27/2007. 39 Vgl. § 60 i.V.m. §§ 38 und 39 NRWO i.d.F. BGBl. I 2007/28 (Regelungen über den Vorgang bei der Briefwahl); G. Holzinger/H. Unger (Fn. 9), Art. 26 B-VG Rn. 87. 40 BVerfGE 21, 200 (204 ff.); 59, 119 (125 ff.); aus der Literatur siehe etwa N. Achterberg/M. Schulte, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 38 Rn. 153. 41 T. Öhlinger/H. Eberhard, Verfassungsrecht, 9. Aufl. 2012, Rn. 380. 42 R. Stein/G. Wenda (Fn. 28), S. 61; vgl. Endbericht des Österreich-Konvents vom 31. Januar 2005, 1/ENDB-K, Teil 3 Beratungsergebnisse, abrufbar unter www.konvent. gv.at oder unter www.parlament.gv.at.
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IV. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Ausländerwahlrechts 1. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zu den Wiener Bezirksvertretungen: Notwendigkeit einer Verfassungsänderung Wie alle Länder der Europäischen Union hat auch Österreich das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger eingeführt.43 Die entsprechende Bestimmung in Art. 117 Abs. 2 B-VG, die ursprünglich das Wahlrecht zum Gemeinderat ausdrücklich auf die Staatsbürger beschränkt hatte, wurde um das aktive und passive Wahlrecht der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der EU erweitert.44 Mit dieser Einbeziehung von Unionsbürgern in den Kreis der auf Kommunalebene Wahlberechtigten gewann die Diskussion, ob auch Drittstaatsangehörige zumindest auf kommunaler Ebene wahlberechtigt sein sollten, an Fahrt.45 Im Jahr 1996 wurde die Wiener Gemeindewahlordnung dahingehend geändert, dass zu den Bezirksvertretungen nicht nur Staatsangehörige und Unionsbürger, sondern auch andere Nicht-Österreicher, die am Stichtag seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen im Gemeindegebiet von Wien ihren Hauptwohnsitz hatten, wahlberechtigt sein sollten. In einem gegen die entsprechende Bestimmung eingeleiteten Normprüfungsverfahren hob der Verfassungsgerichtshof die Vorschrift auf.46 Die Begründung des Verfassungsgerichtshofes erfolgte in mehreren Schritten. Die Bezirksvertretungen in Wien ordnete der Verfassungsgerichtshof angesichts ihrer Aufgaben und Funktionen als lokale Gebietskörperschaften der Grundstufe im Sinne der EG-Kommunalwahlrichtlinie ein.47 Sie bilden Repräsentationsorgane der Gebietskörperschaften. Auf die Wahlen zu den Bezirksvertretungen finden die verfassungsgesetzlichen Regelungen, die die Wahlen zum Nationalrat, zu den Landtagen und zu den Gemeinderäten betreffen,48 unmittelbar keine Anwendung. Der Verfassungsgerichtshof sieht diese Bestimmungen allerdings als Ausgestaltung des demokratischen Grundprinzips der österreichischen Bundesverfassung an (Art. 1 B-VG), wonach Österreich eine ___________ 43
Vgl. die Kommunalwahlrichtlinie RL 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994, ABl. L 368 vom 31. Dezember 1994, geändert durch RL 96/30/EG des Rates vom 13. Mai 1996, ABl. L 122 vom 22. Mai 1996. 44 BGBl. Nr. 1013/1994. 45 B. Perchinig, Kein Wahlrecht ohne roten Pass. Das VfGH-Erkenntnis zum Ausländerwahlrecht in Wien (VfGH 30.6.2004, G 218/03), Juridikum 2004, S. 178 (180). 46 VfSlg 17.264/2004. 47 Art. 2 Abs. 1 der RL 94/80/EG (Fn. 43). 48 Art. 26, 95, 117 B-VG.
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demokratische Republik ist, deren Recht vom Volk ausgeht.49 Daraus leitet der Verfassungsgerichtshof in einem weiteren und letztlich entscheidenden Schritt ab, dass auch für die Wahlen zu den Bezirksvertretungen der Begriff des Volkes, wie er in Art. 1 B-VG verwendet wird, von Relevanz ist. Folglich bezieht sich aus verfassungsrechtlichen Gründen auch hier das Wahlrecht nur auf die Staatsangehörigen sowie auf die genannten Unionsbürger. Mit diesem Erkenntnis steht fest, dass für die Vertretungsorgane auf allen Ebenen des Staates – Bund, Länder, Gemeinden und eben auch Bezirksvertretungen – die Staatsangehörigkeit verfassungsrechtliche Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts ist. Dem Verfassungsgerichtshof wurde angesichts dieser Verknüpfung des demokratischen Konzepts Österreichs mit dem Staatsbürgervorbehalt beim Wahlrecht ein „zutiefst nationalistisches Verfassungsdenken“ vorgeworfen.50 Abgesehen von diesen und anderen eher rechtspolitisch einzuordnenden Einwürfen lässt sich durchaus die Frage stellen, ob angesichts der ausdrücklichen Verankerung von Grundsätzen für die Wahlen zum Nationalrat, zu den Landtagen und zu den Gemeindevertretungen, nicht aber zu den Wiener Bezirksvertretungen im B-VG eine Ausdehnung der Beschränkung des Wahlrechts auf diese wirklich zwingend ist. Gleichzeitig ist aber darauf zu verweisen, dass auch die Bezirksvertretungen in Wien – in anderen Bundesländern bzw. Gemeinden gibt es diese Ebene von Vertretungskörpern nicht – wie die Gemeinderäte Repräsentationsorgane sind, die eine Reihe von Aufgaben wahrnehmen, die in anderen Bundesländern durch die Gemeinderäte ausgeübt werden. 2. Gesamtänderung der Verfassung? Auf Basis der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes ist jedoch klar, dass die Einführung eines Wahlrechts für Drittstaatsangehörige bzw. für Unionsbürger auf Bundes- und Landesebene eine Verfassungsänderung erforderlich macht. Dabei kann es jedoch nicht belassen werden. Für die österreichische Verfassungslage ist weiter zu fragen, ob in der Einführung eines solchen Ausländerwahlrechts eine sogenannte Gesamtänderung der Verfassung liegt. Von einer Gesamtänderung der Verfassung ist dann auszugehen, wenn ein Grundprinzip der Verfassung – hier vor allem das demokratische Grundprinzip – in seinen wesentlichen Zügen abgeändert oder abgeschafft wird. Die Gesamtänderung lässt sich daher in gewisser Weise mit dem durch die Ewigkeits___________ 49
VfSlg 17.264/2004. Der Verfassungsgerichtshof knüpft für den in Art. 1 B-VG verwendeten Begriff des Volkes an die österreichische Staatsbürgerschaft an, vgl. VfSlg 12.023/1989. 50 B. Perchinig (Fn. 45), S. 180.
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klausel des Art. 79 Abs. 3 GG abgesicherten Bestand des Grundgesetzes vergleichen. Allerdings sieht die österreichische Verfassungslage vor, dass auch Gesamtänderungen der Verfassung zulässig sind. Zusätzlich zu dem Erfordernis eines 2/3-Quorums im Nationalrat (und allfälliger Abstimmungsquoren im Bundesrat) muss obligatorisch eine Volksabstimmung durchgeführt werden (Art. 44 Abs. 3 B-VG). Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, ob die Einführung eines Ausländerwahlrechts als Gesamtänderung der Verfassung einzuordnen wäre.51 Aus der Tatsache, dass zwischen dem Jahr 1929 und 1968 der einfache Gesetzgeber ermächtigt war, unter den Voraussetzungen einer Nähebeziehung zu Österreich und der Gewährleistung der Gegenseitigkeit Ausländer in den Kreis der Wahlberechtigten einzubeziehen, wird im Schrifttum abgeleitet, dass es jedenfalls nicht zu den Grundelementen des demokratischen Konzepts nach dem B-VG gehört, dass nur Staatsangehörige wahlberechtigt sind.52 Das würde dazu führen, dass ein Ausländerwahlrecht auf allen Ebenen durch eine „einfache“ Verfassungsänderung vorgenommen werden könnte. Dagegen wird eingewandt, dass man aus dieser historisch bedingten partiellen Öffnung des Wahlrechts über den Kreis der Staatsangehörigen hinaus keine weitreichenden Schlüsse auf die Gesamtänderungsfrage ziehen könne.53 Auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zum Wahlrecht von Ausländern zu den Wiener Bezirksvertretungen spricht mit seiner Ausdehnung des Grundsatzes des Art. 1 B-VG auf die Wahlen zu den im B-VG nicht ausdrücklich erwähnten Bezirksvertretungen eher dafür, die Verbindung von Wahlrecht und Staatsangehörigkeit als Grundessentiale des österreichischen Demokratieprinzips zu sehen. Er führt aus, dass die Bestimmungen, die das Wahlrecht zum Nationalrat, zu den Landtagen und zu den Gemeinderäten (von der diesbezüglichen Ausnahme für Unionsbürger abgesehen) österreichischen Staatsbürgern vorbehalten, insofern „ihrerseits nur eine nähere Ausgestaltung des demokratischen Grundprinzips der österreichischen Bundesverfassung darstellen. Dieses ist im Art. 1 B-VG wie folgt geregelt: ‚Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus‘“. Daher wird diese Erkenntnis dahingehend verstanden, dass es einer Einführung des Wahlrechts für Ausländer – auf
___________ 51
M. Pöschl (Fn. 11), S. 662; vgl. P. Oberndorfer, in: Rill/Schäffer (Fn. 9), Art. 1 BVG (2000), Rn. 18 unter Hinweis auf die historischen Ansätze, Ausländern in Österreich das Wahlrecht einzuräumen; weiter R. Feik, Staatsbürgerschaft als Mittel oder als Folge der Integration einer nichtösterreichischen Person?, JRP 2003, S. 96 (97 f., 101 ff.). 52 M. Pöschl (Fn. 11), S. 659; H. P. Rill/H. Schäffer, in: dies. (Fn. 9), Art. 1 B-VG (2001), Rn. 38; H. Schreiner, in: ebd., Art. 23 B-VG Rn. 23. 53 G. Strejcek/G. Posch, Das Wahlrecht der Ersten Republik, 2009, S. 57.
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welcher staatlichen Ebene auch immer – einen dauerhaften Riegel vorgeschoben hat.54 3. Rechtspolitischer Stand Ein gutes Bild über einen aktuellen Stand der rechtspolitischen Überlegungen bietet der Abschlussbericht des Österreich-Konvents.55 Der ÖsterreichKonvent hat vom 30. Juni 2003 bis zum 31. Januar 2005 über Vorschläge für eine grundlegende Staats- und Verfassungsreform beraten. Der Abschlussbericht wurde parlamentarisch beraten. Gestützt auf die Konventsergebnisse hat in der Folge ein Expertenausschuss konkrete Verfassungsreformvorschläge erarbeitet, die teilweise bereits Gesetz geworden sind.56 Auch in aktuellen Diskussionen über Verfassungsentwicklungen bilden die Berichte und Textvorschläge des Österreich-Konvents stets wichtige Bezugspunkte. Der Ausschuss 3 (Staatliche Institutionen) des Konvents befasste sich unter anderem mit dem Wahlrecht.57 Der Endbericht weist aus, dass sich der Ausschuss mit der Frage des Wahlrechts für Ausländer befasst hat, aber weder im Ausschuss noch im Präsidium Konsens erzielt werden konnte. Für eine Erweiterung des Kreises der Wahlberechtigten vor allem auf kommunaler Ebene wurde angeführt, dass allen von den Entscheidungen unmittelbar Betroffenen ein Mitspracherecht eingeräumt werden sollte. Als Gegenargument wurde vorgebracht, dass das Wahlrecht – auch das kommunale Wahlrecht – nicht vom generellen Recht der Staatsbürger auf demokratische Mitbestimmung abgekoppelt werden sollte.58 Man sieht deutlich, dass die politische Frage des Ausländerwahlrechts (zumindest in Österreich) auf ausgetretenen Pfaden geführt wird. Zwei Grundpositionen stehen sich gegenüber, eine Zwischenposition scheint nicht möglich.
V. Exkurs: Südtirol Abschließend noch eine kurze Begutachtung der Rechtslage des Wahlrechts in Südtirol. Hinsichtlich des Wahlrechts ist zu bemerken, dass hier – wie sollte es auch anders sein – die Regelungen des Staates Italien Anwendung finden. ___________ 54
M. Handstanger (Fn. 36), S. 134. Vgl. Endbericht des Österreich-Konvents (Fn. 42), 1/ENDB-K, abrufbar unter www.konvent.gv.at oder unter www.parlament.gv.at. 56 BGBl. I Nr. 1/2008 und BGBl. I Nr. 2/2008. 57 Vgl. 1/ENDB-K (Fn. 42), Teil 4A Textvorschläge, S. 65 f., 296, 329. 58 Vgl. 1/ENDB-K (Fn. 42), Teil 3 Beratungsergebnisse, S. 61. 55
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Die Einwohner Südtirols sind italienische Staatsbürger und damit auch wahlberechtigt zum italienischen Parlament. Nach Art. 48 der italienischen Verfassung steht das Wahlrecht ausdrücklich nur Staatsangehörigen zu. Bei der Teilnahme an der Sitzverteilung nach Auszählung der Stimmen bei der Wahl zur Abgeordnetenkammer sowie bei der Sitzverteilung selbst gibt es für Sprachminderheiten, wie sie in der Region Trentino-Südtirol vorkommen,59 Erleichterungen in Form von Ausnahmen von den Prozentklauseln (die im Detail sehr kompliziert sind).60 Damit soll erreicht werden, dass Angehörige einer Minderheitensprache im Abgeordnetenhaus vertreten sind. Ähnliches gilt für die Wahl zum Senat in Rom. Aktuell wird über eine Änderung des Wahlrechts diskutiert, die diese Ausnahmen für Minderheiten abschaffen soll. Bei der Wahl zum Regionalrat nach dem Autonomiestatut für die Region Trentino-Südtirol wird auf die Ansässigkeit im betreffenden Gebiet abgestellt. Für das Wahlrecht in Bozen ist dabei eine Ansässigkeit von vier Jahren, in Trient von nur einem Jahr vorgesehen.61 Im Verhältnis zu Österreich spielt die Frage des Wahlrechts keine Rolle. Immer wieder flackern Diskussionen auf, ob deutschsprechenden Österreichern aus Südtirol die Möglichkeit des Erwerbs der österreichischen Staatsangehörigkeit eingeräumt werden soll. Schwieriger Punkt dabei ist die Zuerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft. Dieser Wunsch bzw. diese politische Forderung nach der österreichischen Staatsangehörigkeit resultiert jedoch weniger aus dem Ziel einer politischen Teilhabe in Österreich als vielmehr der Verwirklichung eines „Zusammengehörigkeitsgefühls“ aus historischen, sprachlichen und kulturellen Gründen.62 Das kommt zum Ausdruck, wenn österreichische Politiker von einer „Möglichkeit der Vereinigung des Kulturkreises nördlich und südlich des Brenners“ sprechen oder wenn Südtiroler Politiker verlautbaren, die doppelte Staatsangehörigkeit diene nicht dazu, Ansprüche zu stellen, sondern sei vielmehr ein „Herzensanliegen“.63 So wird diskutiert, eine Staatsbürgerschaft ohne Wahlrecht zu etablieren.
___________ 59 Zum Minderheitenschutz in der Region Trentino-Südtirol siehe E. Alber/S. Parolari, Minderheiten und Wahlrechtsinstrumente in der regionalen Gesetzgebung, in: A. Gamper (Hrsg.), Entwicklungen des Wahlrechts am europäischen Fallbeispiel, 2010, S. 370 ff. 60 Vgl. E. Alber/S. Parolari (Fn. 59), S. 375 ff. 61 E. Alber/S. Parolari (Fn. 59), S. 383 f. 62 Vgl. „Doppelpass: Süd-Tiroler Freiheit legt Gesetzesentwurf vor“, in: Tiroler Tageszeitung, Onlineausgabe vom 15. März 2012. 63 Vgl. „Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler rechtlich möglich“, in: der Standard, Onlineausgabe vom 30. Mai 2011.
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VI. Schluss In seinem Werk „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ aus dem Jahr 1929 setzt sich Hans Kelsen in einem Kapitel mit dem „Volk“ als Anknüpfungspunkt für das demokratische Konzept auseinander: „Demokratie bedeutet Identität von Führer und Geführten, von Subjekt und Objekt der Herrschaft, bedeutet Herrschaft des Volkes über das Volk. Allein was ist dieses Volk?“64. Und später: „Das Volk als Inbegriff der politisch Berechtigten stellt auch in einer extremen Demokratie nur einen kleinen Ausschnitt des Kreises der durch die staatliche Ordnung Verpflichteten […] dar.“ Als Kriterien für den Ausschluss von politischen Rechten nennt Hans Kelsen natürliche Schranken wie Alter und Gesundheit, ferner den Ausschluss von Sklaven oder Frauen und schließlich: „[…] als völlig selbstverständlich gilt jene Privilegierung, die das Institut der Staatsbürgerschaft begründet, weil man dieses […] für eine dem Staat begriffswesentliche Einrichtung hält“65. Ein Irrtum, wie Hans Kelsen meint, und verweist dabei auf die damals neueste Verfassungsentwicklung in Sowjet-Russland, wo die Verfassung, „eine jahrtausendalte Schranke durchbrechend“, auch allen Ausländern, die sich zu Arbeitszwecken in Russland aufhalten, die volle politische Gleichberechtigung gewährt.66 Der Redlichkeit halber muss an dieser Stelle noch ein Satz zitiert werden: Nach der Würdigung „eine Tat von historischer Bedeutung“ folgt, geradezu lapidar: „Freilich ist der Rückschritt nach der anderen Richtung um so größer“67. In Bezug auf die Einräumung des Wahlrechts für Ausländer begrenzt Österreich wie Deutschland die Erweiterung über den Kreis der Staatsangehörigen hinaus auf das Kommunalwahlrecht für Ausländer. Beim Wahlrecht für Auslandsösterreicher ist Österreich großzügig. Es wird ohne jede Einschränkung durch eine Sesshaftigkeitsklausel oder einen maximalen Wegzugszeitraum eingeräumt. Wesentliche Änderungen sind in den nächsten Jahren nicht zu erwarten. Der Blick über den Zaun zeigt also, dass trotz gelegentlich abweichender verfassungsrechtlicher Grundlagen viele Diskussionen parallel geführt werden, die Ergebnisse aber manchmal unterschiedlich sind. Ein genauerer Blick auf die Argumente kann daher lohnend sein. * * *
___________ 64
H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1929, S. 14. H. Kelsen (Fn. 64), S. 17. 66 H. Kelsen (Fn. 64), S. 18. 67 H. Kelsen (Fn. 64), S. 18. 65
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Katharina Pabel
Abstract Katharina Pabel: Country Report Austria (Länderbericht Österreich), in: National Right to Vote and International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, HansDetlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 135-151. This article assesses the legal link between suffrage and nationality as well as between suffrage and a citizen’s residency in Austria. According to the Austrian Constitutional Order and the related case law of the Constitutional Court (Verfassungsgerichtshof), the link between suffrage and nationality rests on the constitutional concept of the Austrian people as the community of Austrian nationals. This concept is in line with the requirements of the European Convention on Human Rights. In light of the development of the relevant constitutional provisions since 1920, there is discussion about whether or not the extension of the right to vote to include non-citizens must be qualified as a fundamental amendment of the constitution (Gesamtänderung). As a recent development, the link between suffrage and a citizen’s residency in Austria had been determined on the basis of a decision of the Constitutional Court. Since the 1990’s, every Austrian living abroad has had the right to vote for the National Council (Nationalrat). But only with the introduction of the absentee ballot in 2007 has the right to vote for citizens living abroad come into effect.
Länderbericht Ungarn – auch mit Bezug auf die Slowakei Von Elisabeth Sándor-Szalay
I. Einführung Das Recht der Freizügigkeit auf dem europäischen Kontinent war in den vergangenen Jahrzehnten von tiefgreifender Entwicklung geprägt. Die im Völkerrecht eingetretenen Änderungen, sogar die immer öfter erwähnte Fragmentierung des Völkerrechts, stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Streben nach der Konvergenz des inneren Rechts, des Völkerrechts und des Rechts der Europäischen Union. Diese Entwicklungen werfen theoretische und praktische Fragen insbesondere im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit und dem damit verbundenen Wahlrecht auf. Die Empfehlungen verschiedener Organisationen – wie die neben dem Europarat tätige Venedig-Kommission – beschäftigen sich insofern dezidiert mit den einzelnen speziellen Erscheinungsformen der Staatsangehörigkeit und des Wahlrechts. Die Umgestaltung der Rolle des Staates, die immer ausdifferenzierteren internationalen Menschenrechtssysteme und die immer zahlreicheren transnationalen Konflikte irritieren die Grundlagen der internationalen Rechtsordnung und fordern die traditionellen Strukturund Gestaltungsprinzipien nachhaltig heraus. Unter ungarischen Politikern herrscht über die Zusammenhänge der Staatsangehörigkeit und des Wahlrechts seit mehreren Jahren Streit. In diesem Meinungsdiskurs sind die adeligsten nationalen Gefühle ebenso gegenwärtig wie Übertreibungen parteipolitischer Veranlassung. Die Diskussion flammte in den letzten zwei Jahren erheblich auf: Das Gesetz über die Doppelstaatsangehörigkeit aus dem Jahre 20101, das ungarische Grundgesetz2 und das Gesetz über ___________ 1 Gesetz Nr. XLIV. Das Gesetz ändert das Gesetz Nr. LV aus dem Jahre 1993 und ermöglicht, dass „derjenige nicht ungarische Staatsangehörige, dessen Vorfahr ungarischer Staatsangehöriger war oder der seine ungarische Abstammung glaubhaft macht und seine ungarischen Sprachkenntnisse nachweist, sich im Eilverfahren einbürgern lassen [darf]“. Vgl. www.parlament.hu/irom39/00029/00029.pdf. 2 Das ungarische Grundgesetz trat am 1. Januar 2012 in Kraft. Vgl. näher: E. Balogh (Hrsg.), Das neue ungarische Grundgesetz. Pólay Elemér Alapítvány, Szeged 2012, S. 1–40.
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das Wahlrecht3 sowie der aktuell dem Parlament vorgelegte Entwurf über die Änderung des Wahlverfahrens sowie über die Einführung der Institution der Wahlregistrierung verschärfen die innenpolitischen Streitigkeiten – bei zugleich starker internationaler Aufmerksamkeit. In Westeuropa stehen in erster Linie die Einwanderer im Allgemeinen im Mittelpunkt der Streitigkeiten, die über die mit Staatsangehörigkeit und Einbürgerung verbundenen Normen geführt werden. In der Region Ost- und Mitteleuropa sorgen demgegenüber zuvörderst die Abweichungen zwischen der kulturell-ethnischen und der politischen Nation für Spannungen. Schon zur Zeit der Wende im Jahr 1989 kam der Gedanke auf, ausländischen Staatsangehörigen ungarischer Nationalität, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, die ungarische Staatsangehörigkeit zu verleihen – sie sollten ungarische Staatsangehörige werden: Ihnen sollte also unabhängig von ihrem Wohnort die ungarische Staatsangehörigkeit zugesprochen werden. Wegen zahlreicher Zweifel wurde diese zu Beginn der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts entstandene Idee aber lange Zeit von der Tagesordnung abgesetzt. Es wurde befürchtet, dass eine Abwanderung vom Wohnort und damit eine weitere Verkleinerung der außerhalb der ungarischen Grenze lebenden ungarischen Gemeinschaften beginnen würde, was weder damals noch heute für wünschenswert erachtet wird. Inzwischen wurden die Standpunkte jedoch nuancierter – sie berücksichtigen nunmehr auch andere Aspekte, die für die Erteilung der ungarischen Staatsangehörigkeit sprechen; wenigstens in gewissen Ländern.4 Die Möglichkeit der Erteilung der Staatsangehörigkeit ohne einen Wohnort in Ungarn wird von den Befürwortern vornehmlich als eine Art Kompensation für die Minderheitenlage und für erlittene Diskriminierungen angesehen. Einer der jüngsten Begründungsansätze für die Ausdehnung der Staatsangehörigkeit auf ethnische Auslandsungarn ist neben der für sie empfundenen Verantwortung die Durchführung des Prinzips der für sie bestehenden Verantwortung auf Grundgesetzebene. Das auf ein aktives Verhalten des ungarischen Staates (statt zuvor „empfunden“ jetzt „bestehend“) gerichtete Prinzip der „Verantwortungsklausel“ wurde gegenwärtig im ungarischen Grundgesetz an einer hervorgehobenen Stelle, nämlich im Artikel D, platziert.5 ___________ 3 Das Gesetz Nr. CCIII über die Wahl der Abgeordneten des Parlaments wurde vom ungarischen Parlament am 30. Dezember 2011 angenommen. Das Gesetz hat das Parlamentswahlsystem völlig umgestaltet. Zu seiner erstmaligen Anwendung wird es anlässlich der im Jahre 2014 stattfindenden Parlamentswahlen kommen. 4 In Rumänien und Serbien ist es z.B. nicht zu befürchten, dass die Erteilung einer ausländischen Staatsbürgerschaft eine Abwanderung in großem Umfang mit sich bringen wird. Die Erteilung einer ausländischen Staatsbürgerschaft wird dort als eine Art Ausgleich ihrer Minderheitenlage angesehen. 5 Zuvor verortet in § 6 Abs. 3 der Verfassung.
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II. Staatsangehörigkeit im ungarischen Rechtssystem – mit Bezug auf das Wahlrecht Es folgt ein kurzer historischer Überblick über die Gestaltung der Staatsangehörigkeit und, daran anknüpfend, über die Ausübung des Wahlrechts nach ungarischem Recht. 1. Ungarische Staatsbürgerschaft/Staatsangehörigkeit bis 1879 Die Idee zur Regelung der Staatsangehörigkeit entstand in Ungarn schon am Anfang der Reformepoche. Damals herrschte die Ansicht vor, dass alle ungarischen Patrioten über die Zugehörigkeit zur ungarischen Nation verfügen müssten. Die politische Macht sollte der Gemeinschaft der in der Heiligen Krone vereinigten Staatsbürger zustehen. Der in der Nationalversammlung aus dem Jahre 1844 gestellte Gesetzesantrag hatte die Gleichheit der Staatsbürger trotzdem nicht anerkannt. Das Gesetz hätte – unter Begründung auf eine frühere Theorie István Werbőczy’s – lediglich die Einbürgerung ständischer Privilegierter, insbesondere Adliger, geregelt. Das heißt, zu Mitgliedern der Nation wären nach dem Gesetzesvorschlag ausschließlich die dort bestimmten Mitglieder der Stände geworden. In der ungarischen Nationalversammlung von 1847–1848 kam es dann zwar zur Behandlung des die Staatsbürgerschaft betreffenden Gesetzantrags6 von Bertalan Szemere, jedoch nicht zu dessen Beschluss. Die Beschlussfassung wurde auf später vertagt. Nach der allgemeinen konstitutionellen Umwandlung des Staates im Jahre 1848 erfolgte trotzdem eine gewisse Änderung hinsichtlich der Ausübung politischer Rechte: Nach der Auflösung der ständischen Struktur und Abschaffung der Ständeprivilegien kamen bestimmte Gesellschaftsschichten zu Befugnissen, die im heutigen Sinne zum Bereich der staatsbürgerlichen Rechte gehören. Früher stand das Wahlrecht nur den ständischen Personen und Personengruppen zu. Nach 1848 erfolgte die Ausdehnung des Wahlrechts auch auf einen Teil der intellektuellen Elite und der Wohlhabenden. Dadurch entstand eine Art Bildungs- und Vermögenszensus. Das Wahlrecht erhielten unter anderem grundbesitzende Bauern, ferner selbstständige Handelsleute, die Handwerker als Angestellte beschäftigten (Gewerbetreibende), und auch jene, die einer geistigen Beschäftigung nachgingen.7 Der Begriff der „Staatsbürgerschaft“ war zu dieser Zeit ___________ 6
In diesem Gesetzesantrag schimmert die Regelung des französischen Code Civil vom Jahre 1804 durch. Danach wird das Kind des ungarischen Staatsbürgers als ungarischer Staatsbürger geboren, auf Grund des Prinzips ius sanguinis. Das von unbekannten Eltern auf ungarischem Gebiet geborene Kind ist aber auch ungarischer Staatsbürger, auf Grund des Prinzips ius soli als subsidiärem Auffangprinzip. 7 Siehe den Gesetzesartikel Nr. V vom Jahre 1848 über die Wahl der Deputierten des Parlaments auf Grund der Volksvertretung.
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noch nicht etabliert. Vielmehr war der „Patriotismus“ weiterhin der herkömmliche Begriff für die Gruppenbezeichnung der von einem ungarischen Vater (ab)stammenden Abkömmlinge einerseits und der im Wege der Einbürgerung zum ungarischen Patriot erhobenen Personen andererseits.8 Das auch auf ungarischem Gebiet in Kraft getretene Österreichische Bürgerliche Gesetzbuch von 1853 enthielt zwar einzelne Regelungen zur Staatsbürgerschaft. Ungarn war jedoch durch diese Bestimmungen nicht verpflichtet: Die Kompetenz zur Regelung der Fragen der ungarischen Staatsbürgerschaft blieb in ungarischer Hand. Im Jahre 1879 entstand deshalb die erste diesbezügliche ungarische Rechtsvorschrift9, wodurch der in der heutigen Bedeutung verstandene Begriff der „Staatsbürgerschaft“ Gesetzesrang erhielt und den bisherigen Begriff des „Patrioten“ durch die Bezeichnung „Staatsbürger“ ersetzte. Die Regelung folgte dem Prinzip der Abstammung, des ius sanguinis. Die Grundvorschriften zum Erwerb und Verlust der ungarischen Staatsangehörigkeit hatten den folgenden gesetzlichen Wortlaut: – „In allen Ländern der ungarischen Krone ist die Staatsbürgerschaft ein und dasselbe“ (§ 1). – „Die ehelichen Kinder des ungarischen Staatsbürgers und die unehelichen Kinder der ungarischen Staatsbürgerin werden zu ungarischen Staatsbürgern, auch wenn sie im Ausland geboren waren“ (§ 3). – Der Verlust der ungarischen Staatsbürgerschaft tritt ein „durch ein Fernbleiben für 10 Jahre ohne Unterbrechung außerhalb der Grenzen der ungarischen Krone“ (§ 31) – diese Bestimmung gab Anlass zu vielen Diskussionen, u. a. kann die interne Vertreibung von Lajos Kossuth darauf zurückgeführt werden. Gemäß § 2 des genannten Gesetzes konnte die ungarische Staatsbürgerschaft10 hauptsächlich durch Abstammung (siehe § 3), Legitimation, Ehe oder ___________ 8 Als Gegenteil zu „Patriotismus“ war der Begriff des „Fremden“ zu jener Zeit gebräuchlich: Als „Fremde“ wurden zur damaligen Zeit in Ungarn die „Nichtpatrioten“ bezeichnet. Zu dieser Kategorie gehörte die in Ungarn lebende jüdische und Zigeunerbevölkerung. Die Personen von nicht ungarischer Nationalität (Slowaken, Kroaten, Dalmatiner) wurden hingegen nicht als „Fremde“ bezeichnet. Siehe dazu M. Ganczer, Az állampolgárság fogalmának történeti formái az ókortól a modern korig, Jog Állam Politika [Historische Formen des Begriffs der Staatsbürgerschaft von dem Altertum bis zur modernen Epoche], 2011, S. 74 m.w.N. 9 Gesetzesartikel Nr. L vom Jahre 1879 über den Erwerb und den Verlust der ungarischen Staatsbürgerschaft. 10 Es kam häufig zu Schwierigkeiten in der Beweisführung über das Bestehen oder den Erwerb der Staatsbürgerschaft, denn im Hinblick auf die Entscheidung von privatrechtlichen Streitigkeiten war Statusklarheit geboten: Der Betrieb von Unternehmungen fiskalischer Natur (z.B. nach Schankrecht) wurde nur im Falle des Bestehens von Hei-
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Einbürgerung erworben werden. Das Gesetz verfügte aber auch über Regelungen zur Rückgewinnung der ungarischen Staatsangehörigkeit bei Verlust, Repatriierung, Wiederaufnahme infolge massenhafter Zurücksiedlung und stillschweigende Einbürgerung.11 Im Falle der Einbürgerung wurde bereits durch das Gesetz 1879 der gewöhnliche Aufenthalt in Ungarn von mindestens fünf Jahren verlangt. Die heute gültige und gegenüber früheren Regelungen erleichterte Form zum Erhalt der ungarischen Staatsbürgerschaft ist nicht ohne Vorgeschichte im ungarischen Rechtssystem: Die Möglichkeit der in dem Gesetz von 1879 über die Staatsbürgerschaft und durch Artikel Nr. IV vom Jahre 1886 geregelte „massenhafte Zurücksiedlung“, oder besser: Rückübernahme, zeigt eine recht große Ähnlichkeit mit den gegenwärtigen Bestimmungen. Die Regelung von 1886 entstand aufgrund eines Bedürfnisses zur Repatriierung der sog. „csángó“-Ungarn aus der Provinz Bukowina: Die Beteiligung der Ortsgemeinde war nicht erforderlich und die Antragsteller hatten auch keine Gebühren zu zahlen. Zudem konnten sie sich als Familie oder Gruppe gemeinsam im Wege eines einzigen Antrags zur Einbürgerung an den Innenminister wenden. Ein weiteres interessantes Merkmal des Gesetzes von 1879 stellt das Institut der „stillschweigenden Einbürgerung“ (§ 48) dar, das eine Vermutung dahin formulierte, dass vor dem Inkrafttreten des Gesetzes keinerlei Eintragungen über die ungarischen Bürger existierten. Die als provisorisch geplante Bestimmung diente der Vorbeugung späterer Rechtsstreitigkeiten und Unsicherheiten: Jeder ausländische Staatsbürger, der mindestens seit fünf Jahren über einen Wohnsitz in Ungarn verfügte und hier Steuern zahlte, war grundsätzlich als ungarischer Staatsbürger zu betrachten. Ausgenommen war nur, wer innerhalb eines Jahres nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Beibehaltung seiner ausländischen Staatsbürgerschaft eine amtlich beurkundete Erklärung abgab.
2. Die Regelung der ungarischen Staatsangehörigkeit im 20. Jahrhundert Infolge des den Ersten Weltkrieg für Ungarn abschließenden Friedensvertrags von Trianon verlor die Mehrheit der Bevölkerung der abgetrennten Gebiete ihre ungarische Staatsangehörigkeit automatisch. Gleichzeitig erwarb sie die Staatsbürgerschaft des Nachfolgestaates – ohne Einbürgerungsverfahren
___________ matrechten genehmigt. Siehe T. Wetzel, A bevándorlás kérdése Magyarországon [Die Frage der Einwanderung in Ungarn], Budapest 2011, S. 30. 11 Die zwei letztgenannten Formen sind rechtsgeschichtlich weitgehend ohne Vorbild.
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oder sonstige amtliche Maßnahmen.12 Zur Korrektur des automatischen Verlustes der Staatsangehörigkeit haben Artikel 63 und 64 des Friedensvertrags eine Option zur Wiedererlangung der früheren ungarischen Staatsbürgerschaft innerhalb eines Jahres nach dessen Inkrafttreten eingeräumt. Später wurde die sog. Gemeinschaft jener außerhalb der ungarischen Grenzen lebenden Ungarn von Personen ungarischer Nationalität gebildet, die sich aus irgendeinem Grund nicht für die Option entschieden und ihre ungarische Staatsbürgerschaft nicht einmal durch begünstigte Repatriierung wiedererlangt hatten.13 Als Folge der „Gebiets-Rückanschlüsse“ zwischen den beiden Weltkriegen wurde ein Teil der außerhalb der alten Grenzen lebenden Ungarn wieder zu ungarischen Staatsbürgern. Ziffer 4 des Anhangs des Ersten Wiener Beschlusses vom 2. November 193814 betraf die Bevölkerung der Gebiete von Oberungarn. Der am 30. August 1940 getroffene Zweite Wiener Beschluss15 verfügte auch über die Staatsbürgerschaft der Bevölkerung der angeschlossenen siebenbürgischen Gebiete. Die ungarische Staatsbürgerschaft der in den Gebieten der Karpaten-Ukraine sowie des Südlandes lebenden Bevölkerungen wurde indes in keinem internationalen Abkommen verankert. Hierüber verfügten lediglich die Bestimmungen des innerstaatlichen ungarischen Rechts.16 Gemäß Ziffer 2 der am 20. Februar 1945 am Ende des Weltkrieges geschlossenen Vereinbarung über den Waffenstillstand hatte Ungarn hinter die vor dem ___________ 12 Dieser Zustand trat am 26. Juli 1921 automatisch ein, nämlich zu dem Zeitpunkt, als die Souveränität des alten Staates jener des neuen Staates über das (ungarische) Hoheitsgebiet weichen musste; siehe allgemein H. Kelsen, General Theory of Law and State. Harvard University Press, Cambridge 1945, S. 239, weiterhin H. Jellinek, Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der Staatensukzession, Berlin 1951. 13 Die vorliegende Studie beschäftigt sich nicht mit der Geschichte und den Einzelheiten des kollektiven Verlusts der ungarischen Staatsbürgerschaft; siehe dazu M. Ganczer, A határon túli magyarok kettős állampolgárságának nemzetközi jogi és belső jogi aspektusai: a kollektív elvesztéstől a könnyített megszerzésig. [Die völkerrechtlichen und innenrechtlichen Aspekte der Doppelstaatsbürgerschaft hinter den Grenzen lebender Ungarn: Vom kollektiven Verlust bis zum vereinfachten Erwerb.], Jog Állam Politika, 2011, S. 45–61. 14 Einige Bestimmungen des Ersten Wiener Beschlusses wurden vom ungarischen Rechtssystem übernommen, vgl. Artikel Nr. XXXIV vom Jahre 1938 über die Rückgliederung der oberungarischen Gebiete in die Ungarische Heilige Krone und ihre Vereinigung mit dem Land. 15 Artikel Nr. XXVI vom Jahre 1940 über die Wiederanbindung der von der rumänischen Macht befreiten östlichen und siebenbürgischen Landesteile an die Ungarische Heilige Krone und ihre Vereinigung mit dem Land. 16 Vgl. Artikel VI vom Jahre 1939 über die Vereinigung der zur Ungarischen Heiligen Krone zurückgekehrten Gebiete von der Karpaten-Ukraine mit dem Land (§ 5), weiterhin Artikel Nr. XX vom Jahre 1941 über die Wiederangliederung der zurückeroberten südländischen Gebiete an die Ungarische Heilige Krone und ihre Vereinigung mit dem Land (§ 4).
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31. Dezember 1937 bestehenden Grenzen zurückzukehren, bzw. war Ungarn verpflichtet, sämtliche sich auf die Gebietsangliederung beziehenden Maßnahmen der Gesetzgebung und der Verwaltung außer Kraft zu setzen. Dadurch wurde für die Mehrheit der Bevölkerung die ungarische Staatsbürgerschaft wieder aufgehoben. Die Lage der siebenbürgischen und der späteren jugoslawischen Flüchtlinge wurde in wesentlichem Maße durch die Bestimmung des § 6 des Gesetzes Nr. V vom Jahre 1957, das bis 1993 in Kraft getreten war, wie folgt gelöst: „Ohne Rücksicht auf seinen früheren Wohnsitz kann auf Antrag derjenige nicht ungarische Staatsbürger eingebürgert werden, der zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags in Ungarn wohnt oder die Absicht hat, sich hier anzusiedeln, wenn a) sein Vorfahr ungarischer Staatsbürger war oder b) seine Einbürgerung durch einen anderen außerordentlichen Umstand als begründet/gerechtfertigt gilt.“ 3. Aktuell geltende Normen des Erwerbs der ungarischen Staatsangehörigkeit Maßgebliche Rechtsgrundlagen zum Erwerb der ungarischen Staatsangehörigkeit sind gegenwärtig das Gesetz Nr. LV vom Jahre 1993 über die Staatsbürgerschaft sowie das Gesetz Nr. LXXXVI vom Jahre 1993 über die Einreise der Ausländer und ihren Aufenthalt in Ungarn bzw. ihre Einwanderung nach Ungarn. Gemäß der ungarischen Verfassung vom Jahr 1949 „ist die Republik Ungarn den außerhalb ihrer Grenzen lebenden Ungarn für ihr Schicksal verantwortlich, und sie fördert die Aufrechterhaltung ihrer Beziehungen mit Ungarn“.17 Artikel D des seit dem 1. Januar 2012 geltenden ungarischen Grundgesetzes formuliert folgendermaßen: „Ungarn trägt, geleitet vom Gedanken der einheitlichen ungarischen Nation, Verantwortung für das Schicksal der außerhalb seiner Landesgrenzen lebenden Ungarn, fördert den Fortbestand und die Entwicklung ihrer Gemeinschaften, unterstützt ihre Bemühungen zur Wahrung ihres Ungarntums, zur Geltendmachung ihrer individuellen und kollektiven Rechte, zur Schaffung von Selbstverwaltungsorganen für ihre Gemeinschaften, zu ihrem Wohlergehen im Lande ihrer Geburt und fördert ihre Zusammenarbeit miteinander und mit Ungarn.“ Die Verschiebung in der Akzentuierung ist in der ganzen, seit dem Frühling 2010 andauernden staatlichen Rechtsetzung zu beobachten: Es kam zu mehreren symbolischen Schritten, die den Begriff der „Nation“ in den Mittelpunkt ___________ 17 § 6 Abs. 3 des Gesetzes Nr. XX vom Jahre 1949 über die Verfassung der Republik Ungarn.
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der Gesetzgebung erhoben haben.18 In diese Welle der Gesetzgebung fügte sich die Änderung des Gesetzes über die Staatsangehörigkeit aus dem Jahr 2010 ein, die jedoch über den einfachen Symbolismus noch weit hinausgeht und inhaltliche Änderungen in der Begrenzung der politischen Gemeinschaft verbunden mit einer Expansion des Wahlrechts vornimmt. Die Ausdehnung der Staatsangehörigkeit und die Abschaffung des Erfordernisses des Wohnorts im Inland werfen allerdings die Frage über die doppelte bzw. mehrfache Staatsangehörigkeit auf. Mit der Neuregelung verschwand eine der für die Einbürgerung zuvor notwendig zu erfüllenden Bedingungen – die Staatsangehörigkeit und der Wohnort werden also eindeutig getrennt, wodurch der Gebrauch des Ausdrucks des sog. „Auslandsungarn“ bzw. der „Auslandsungarin“ erklärlich wird. Ziffer IV der vorliegenden Abhandlung gibt einen kurzen Überblick über diejenigen völkerrechtlichen Vorgänge und Grundlagen, die das Wahlrecht der im Ausland lebenden Staatsangehörigen betreffen. In der Frage der doppelten Staatsangehörigkeit erklingen in favorem der Erteilung der ungarischen Staatsangehörigkeit die sog. historische Gerechtigkeit und die emphatische Vereinigung der Nation als wichtigste Argumente. Es ist eine große Frage, was das Recht mit einem so schwer definierbaren Begriff wie „Nationalität“ anfangen kann. Alle sich mit diesem Themenbereich beschäftigenden Gesetze sollen bestimmen, welches seine Bedingungen und Kriterien sind. Die personale Reichweite des sog. Begünstigungsgesetzes (auch als Statusgesetz bekannt)19 erstreckt sich auf „die sich als angehörig zur ungarischen Nationalität bekennenden Personen“. Das Gesetz geht also von der Freiheit der Identitätswahl aus. Nach der früheren Staatsangehörigkeitsregelung konnte derjenige „sich als angehörig zur ungarischen Nationalität bekennende, nicht ungarische Staatsangehörige begünstigt eingebürgert werden, der zur Zeit der Antragstellung mindestens ein Jahr lang in Ungarn wohnt und sein Vorfahr ungarischer Staatsangehöriger war“. Zurzeit geltend ist das Folgende: Gemäß der Änderung vom Jahre 2010 (Art. 4 Abs. 3) ist diejenige Person zur begünstigten Einbürgerung berechtigt, „deren Vorfahr ungarischer Staatsangehöriger war oder ihre Abstammung aus Ungarn glaubhaft macht und ihre ungarischen Sprachkenntnisse nachweist“. Der früheren Staatsangehörigkeitsregelung lag also das Prinzip der Abstammung von Staatsangehörigen – im Wesentlichen als eine Ausdehnung des ius sanguinis – zu Grunde. Die neue Staatsangehörigkeitsregelung bedient sich zwar auch des Prinzips des „Vorfahrens des Staatsbürgers“, verbindet es aber mit einem territorialen Element auf Grund der „Abstammung aus Ungarn“. Weiterhin gilt ein „kulturelles Element“, nämlich die ___________ 18
So z.B. das sog. Trianon-Gedenkgesetz (Erinnerungsgesetz) oder die Erklärung über die nationale Zusammenarbeit. 19 Im Sinne des § 1 Abs. 1 des Gesetzes Nr. LXII vom Jahre 2001 über die in den Nachbarländern lebenden Ungarn.
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Sprachkenntnis, als neue Voraussetzung zum Erwerb der Staatsangehörigkeit. Auf Grund dessen scheint die Änderung von 2010 ohne ausdrückliche Berufung auf die Ethnie doch dieselbe zur Bedingung zum Erwerb der Staatsangehörigkeit zu erheben.
III. Die Regelung der Doppelstaatsangehörigkeit in der Slowakei Nach der ungarischen Gesetzesänderung 2010 dürfen die außerhalb der Staatsgrenzen lebenden Ungarn, die „Auslandsungarn“, zu ihrer ursprünglichen Staatsangehörigkeit eine ungarische Staatsangehörigkeit erwerben. So können sie zu Doppelstaatsangehörigen werden, es sei denn, dass der Staat ihrer originären Staatsangehörigkeit die Doppelstaatsangehörigkeit gesetzlich verbietet. Die Mehrheit der außerhalb der Staatsgrenzen lebenden ethnischen Ungarn sind zugleich Staatsangehörige der Nachbarstaaten. Der Bestand ihrer Doppelstaatsangehörigkeit hängt also davon ab, welchen Standpunkt die umgebenden Staaten zur doppelten Staatsangehörigkeit vertreten, d.h. ob sie von ihnen anerkannt oder verboten wird. Die Doppelstaatsangehörigkeit wird von Rumänien, Serbien, Kroatien und Slowenien anerkannt. Die Ukraine verbietet sie demgegenüber eindeutig. Deshalb verlieren die in der Ukraine lebenden Ungarn ihre ukrainische Staatsangehörigkeit, wenn sie die ungarische Staatsangehörigkeit erwerben.20 In ähnlicher Weise lehnt auch Österreich die Möglichkeit der Doppelstaatsangehörigkeit ab. Das österreichische Staatsangehörigkeitsgesetz legt fest, dass die österreichische Staatsangehörigkeit infolge des Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines anderen Staates verloren geht, wenn dem Betreffenden zuvor keine Genehmigung zur Beibehaltung der österreichischen Staatsangehörigkeit erteilt worden ist.21 Die Slowakei ist der einzige Staat, der im Anschluss an die ungarische Gesetzesänderung rechtliche Schritte einleitete. Gemäß der mit außergewöhnlicher Eile verabschiedeten Änderung des slowakischen Staatsangehörigkeitsgesetzes – die am 17. Juli 2010 in Kraft trat – verlieren automatisch jene Slowaken ihre slowakische Staatsangehörigkeit, die freiwillig eine andere Staatsangehörigkeit annehmen. Eine Ausnahme gilt nur für diejenigen, die infolge von Geburt oder Ehe den Status der Doppelstaatsangehörigkeit erwerben oder erworben haben. Auf diese Weise handelte die Slowakei entgegen ihrer früheren Praxis, die die doppelte Staatsangehörigkeit nicht nur nicht verboten, sondern anerkannt und unterstützt hatte, allein um die Doppelstaatsangehörigkeit ihrer ___________ 20
Siehe Artikel 4 der Ukrainischen Verfassung, Artikel 2 des ukrainischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom Jahre 2001. Vgl. zu dieser Problematik näher V. Kostiv, S. 175 (178 ff.) – in diesem Band. 21 Artikel 26 des Österreichischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom Jahre 1985.
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ungarischen Minderheit zu vermeiden. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob das slowakische Staatsangehörigkeitsgesetz insoweit mit Artikel 51 der slowakischen Verfassung übereinstimme, laut dessen „niemandem seine slowakische Staatsangehörigkeit wider Willen aberkannt werden [darf]“!22
IV. Wahlrecht der „Auslandsbürger“ im Völkerrecht Artikel 25 des Internationalen Pakts über die Bürgerlichen und Politischen Rechte23 sagt aus, dass „alle Staatsbürger […] ohne Unterscheidungen, beziehungsweise unvernünftige Einschränkungen berechtigt sind und die Möglichkeit haben, auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in den mit geheimer Abstimmung geführten, echten und regelmäßigen Wahlen, die die freie Willenserklärung der Wähler gewährleisten, zu wählen und gewählt zu werden“ („every citizen shall have the right and opportunity […] without unreasonable restriction […] to vote and to be elected at genuine periodic elections which shall be by universal and equal suffrage and shall be by secret ballott, guaranteeing the free will of the electors“). Artikel 2 des Paktes stellt klar, dass jeder der beteiligten Vertragsstaaten die Geltendmachung der dort anerkannten Rechte für alle sich auf seinem Gebiet aufhaltenden und zu seiner Jurisdiktion gehörenden Personen (Subjekte) gewährleistet (subject to it jurisdiction). Artikel 21 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gewährleistet zugleich, dass jeder berechtigt ist, sich an der politischen Gestaltung seiner Heimat unmittelbar oder mittelbar durch frei gewählter Abgeordneten zu beteiligen.24 Die Formulierung macht die Beziehung zwischen den politischen Rechten und der Staatsbürgerschaft eindeutig.
1. Soldaten, Diplomaten Bis zum Zweiten Weltkrieg haben es die Staaten nicht für notwendig empfunden, den im Ausland lebenden Staatsbürgern das Wahlrecht zu gewährleisten. In zahlreichen Ländern hat jedoch die unglaubliche Opferbereitschaft der bewaffneten Kräfte zur Folge gehabt, dass die Parlamente der Meinung waren, ___________ 22
Siehe ausführlicher: M. Ganczer (Fn. 13), S. 54–57. In Ungarn wurde das Abkommen durch die Gesetzesverordnung Nr. 8 aus dem Jahre 1976 verbindlich. 24 Ebenso verbürgt Artikel 3 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention der Menschenrechte das aktive und passive Wahlrecht der Staatsbürger im Rahmen gleicher und geheimer Wahlen. Siehe dazu C. Hillgruber, S. 19 (30 ff.) – in diesem Band. 23
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dass das Wahlrecht auch den im Ausland stationierten bewaffneten Kräften und dem im Ausland Dienst tuenden diplomatischen Personal gewährleistet werden müsse. Das geschah z.B. in Großbritannien, Kanada oder in Australien.25 2. Das Wahlrecht der Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund Der erste Meilenstein im Zusammenhang mit der Anerkennung des Wahlrechts der Migranten-Arbeitnehmer ist die Internationale Konvention der Vereinten Nationen (UNO) über den Schutz der Rechte der MigrantenArbeitnehmer und ihrer Familienmitglieder (International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families), die in ihrem Artikel 41 aussagt: „migrant workers and members of their families shall have the right to participate in the public affairs of their State of origin and to vote and to be elected at elections of that State“. Die Konvention wurde bis jetzt zwar nur von 34 Staaten ratifiziert. Sie drückt aber trotzdem die befürwortende Attitüde der internationalen Gemeinschaft hinsichtlich der Erhaltung der politischen Rechte der in anderen Ländern einer beruflichen Tätigkeit nachgehenden Personen aus. Hinsichtlich des Wahlrechts der im Ausland lebenden Bürger können wir über einen bedeutenden Durchbruch sprechen, seitdem sich in der überwiegenden Mehrheit der Staaten immer mehr der Gedanke durchsetzte, dass der Staat auch den zum Zwecke der Erwerbstätigkeit ins Ausland übergesiedelten Staatsangehörigen das Wahlrecht weiterhin gewährleisten muss. Die gesellschaftlichen Gründe der dahingehenden Rechtsentwicklung knüpfen einerseits an die Geschichte der europäischen Integration, andererseits an die Tatsache an, dass 12 Millionen Staatsbürger von den etwa 500 Millionen Staatsbürgern der Europäischen Union in irgendeinem anderen Staat als Erwerbstätige samt ihren Familienangehörigen leben und arbeiten. Es war daher nur plausibel, dass diese Personen ihre politischen Rechte in ihrem ursprünglichen Staat bewahren können sollen. Ähnliche Entwicklungen sind auch auf anderen Gebieten der ___________ 25 Unter Berufung auf eine britische Regelung griff ein aus eigenem Entschluss außerhalb Englands lebender Bürger das den Soldaten und den dienstleistenden Diplomaten gewährleistete Wahlrecht an. Er war der Meinung, der von ihm erlittene Nachteil, dass er als ein im Ausland lebender britischer Bürger – im Gegensatz zu den englischen Soldaten und Diplomaten im Ausland – von der Wahlberechtigung von vornherein ausgeschlossen werde, laufe den in der Europäischen Konvention der Menschenrechte gewährleisteten Rechten zuwider. Die Europäische Kommission der Menschenrechte (European Commission of Human Rights) hat jedoch entschieden, dass es nicht gegen das Verbot der Diskriminierung verstößt, wenn ein Staat nur seinen Soldaten und anderen, unmittelbar im Dienste des Staates Stehenden, z.B. Diplomaten, das Wahlrecht im Ausland gewährleistet, weil die Tatsache der unmittelbaren staatlichen Indienststellung diese – äußerst enge – Gruppe der Staatsbürger zu einer eigenen Kategorie macht.
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Welt zu verzeichnen. Hier können wir charakterisierend von einem grundlegenden Bestreben vieler Emigranten sprechen, die Erfahrungen aus ihrer im wirtschaftlich erfolgreichen Ausland durchlaufenen Karriere zu Gunsten ihrer vom Schicksal verfolgten Heimatnationen zu nutzen. Typisches Beispiel ist Mexico, dessen Emigrantenbevölkerung von mehr als 20 Millionen heute auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten im Allgemeinen in einer wirtschaftlich wesentlich günstigeren Lage lebt. Die aus Mexiko stammenden Personen haben ihre im wirtschaftlichen Leben erlangte Rolle oft auf eine lokalpatriotische Weise für den Aufschwung der Wirtschaft und der Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände an ihrem Geburtsort eingesetzt. Ein solcher Prozess begann, indem sie ihre wirtschaftlichen Rechte auch in politische Rechte wandelten. Anfangs hat Mexiko den im Ausland lebenden Mexikanern spezielle mexikanische Ausweise empfohlen, die nur mit wirtschaftlichen Rechten, mit Erbfolge, mit Eigentumserwerb und mit freiem Einreisevisum verbunden waren. Das hat jedoch die Masse der in Amerika lebenden Mexikaner nicht zufrieden gestellt, weshalb der mexikanische Staat ihnen später auch das passive Wahlrecht gewährleistete. Über ein aktives Wahlrecht verfügen die Auslandsmexikaner bislang freilich noch nicht. 3. Das Wahlrecht von Flüchtlingen Wenn das internationale Recht den freiwillig in ein anderes Land ziehenden Personen einräumt, weiterhin ihre politischen Rechte in ihrer ursprünglichen Heimat wahrzunehmen, so muss es gerade jenen durch Zwang Vertriebenen ebenso zugestanden sein. Einige Autoren beziehen sich bereits auf die rechtliche Bindungskraft des Artikel 2 über die Vermeidung der Diskriminierung jeglicher Art im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte, wonach die Staaten verpflichtet sein sollen, das Wahlrecht von Flüchtlingen in ihrem ursprünglichen Land zu gewährleisten. Die Praxis hat gezeigt, dass die im Ausland lebenden Flüchtlinge bei den Wahlen in etlichen Ländern, in Eritrea, Osttimor, Namibia, dem Irak und Bosnien berechtigt wurden, daran teilzunehmen. Dieses Recht wurde auch im Abkommen von Dayton ausdrücklich als Vertragsrecht für die wegen der Kriege aus Bosnien-Herzegowina geflüchteten Personen garantiert. In solchen Fällen wurde das Wahlrecht nicht im Heimatstaat ansässigen Personen zugestanden, die auf ethnischer und kultureller Basis mit ihrem Staat verbunden geblieben waren, obgleich das staatliche Leben als Folge einer gesellschaftlich-politischen Katharsis neu organisiert werden musste und deswegen die Betroffenen wegen ihrer persönlichen Verhältnisse eine Chance bekommen hatten, die Staatsbürgerschaft in dem neuen Staatswesen zu erlangen. So war es in den Fällen von Eritrea und dem Irak bei Personen, die keine Staatsbürger ihres Heimatlandes mehr waren und im Ausland lebten, aber die mit ihm in kultureller Hinsicht weiterhin verbunden waren.
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Auf Grundlage der im Jahr 1999 auf dem Gipfel der OSZE angenommenen Deklaration26 (OSCE’s 1999 Istanbul Summit Declaration) fördern die Mitgliedstaaten die Rechte der Flüchtlinge, sich an den Wahlen in ihrem Ursprungsland zu beteiligen („facilitate the rights of refugees to participate in elections in their country of origin“). Im sog. soft law lässt sich also die Verpflichtung zum proaktiven Verhalten seitens der Gastländer feststellen, die Gewähr dafür zu tragen, dass die Flüchtlinge in ihrem ursprünglichen Land ihre Stimmen abgeben können. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Anerkennung des Stimmrechts der ausländischen Staatsbürger auch in Europa besonders beschleunigt. Seine Gewährleistung wurde durch den im Jahr 2005 verabschiedeten Beschluss No. 1459 der Parlamentsversammlung des Europarates wirkkräftig unterstützt.27 Zurzeit können die im Ausland lebenden Staatsbürger auf dem Gebiet der europäischen Union lediglich in Griechenland, Irland, Malta und Zypern nicht zu den Wahlen gehen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Wahlen in Griechenland28 besagte, dass die Europäische Menschenrechtskonvention durch die Tatsache verletzt sei, dass – obwohl das Stimmrecht der im Ausland lebenden Staatsbürger durch die griechischen Verfassungsbestimmungen vorgeschrieben werde – die griechische Gesetzgebung keine Rechtsvorschriften zu dessen Vollziehung erlassen habe. Das Urteil wäre ohne die das Stimmenrecht der ausländischen Staatsbürger vorschreibende Bestimmung der griechischen Verfassung nicht möglich gewesen. Gleichwohl spiegelt die Entscheidung die positive Haltung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf das Stimmrecht der im Ausland lebenden Staatsbürger wider. 4. Wahlrecht von nationalen Minderheiten Nach Jeremy Grace kann das Stimmrecht der im Ausland lebenden Staatsbürger neben der obigen Kategorie auch durch die Zugehörigkeit zu der Nation bestimmt werden. Seiner Auffassung nach beruht das ausländische Stimmrecht auf drei möglichen Grundlagen.29 Erstens: das Stimmrecht der vertriebenen ___________ 26
Quelle: http://www.osce.org/mc/39569. Neben diesem Beschluss ruft auch die 1714. (2005) Empfehlung des Europarates die Mitgliedstaaten zur Anerkennung des Stimmrechts für die im Ausland lebenden Wähler (out-of-country-voters) auf. 28 Vgl. EGMR, Sitaropoulos u.a. ./. Griechenland, Urt. vom 8. Juli 2010, Kammer I, Bsw. Nr. 42.202/07. Siehe dazu: P. Pann, Keine Möglichkeit, Wahlrecht im Ausland auszuüben, NLMR 4/2010-EGMR, S. 218–220, veröffentlicht auch unter: http://www. menschenrechte.ac.at/docs/10_04/10_4_05.pdf. 29 J. Grace/J. Fischer, Enfranchising Conflict-Forced Migrants: Issues, Standards and Best Practices, PEP Discussion Paper No. 2, International Organization for Migra27
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Personen, zweitens: das Stimmrecht der Emigranten- sowie MigrantenArbeitnehmer, und drittens: die Zugehörigkeit zu irgendeiner Nation, die die Minderheitengruppen von ihrem durch ihre Nationalität bestimmten Land voraussetzen. Im Entwicklungsprozess der doppelten Staatsbürgerschaft konnten die ethnischen Gruppen, die ihre ursprüngliche staatsbürgerliche Bindung an die Mehrheitsnation infolge des Zerfalls Jugoslawiens und der Sowjetunion sowie sonstiger Entwicklungen aus Vorgängen der Staatensukzession verloren haben, ihren Status nach Zustandekommen der neuen verfassungsrechtlichen Vorschriften wiedererlangen. Dieser Prozess war auch mit der Erhaltung des ausländischen Stimmrechts verbunden. In Mittel-Osteuropa fand dieser Vorgang ohne große Wellen und ziemlich friedlich statt. Die Betroffenen konnten dies generell als eine Art persönliche Wiedergutmachung erleben. Dadurch ist das ausländische Stimmrecht von einer weiteren wichtigen, bislang entrechteten Gruppe erkämpft worden, was einen weiteren Beitrag zur europäischen Rechtsentwicklung darstellt. 5. Out-of-country voting – allgemeine rechtliche Erwartung in Europa? Im Jahr 2011 wurde von der Venedig-Kommission eine Empfehlung über das Stimmrecht der im Ausland lebenden Staatsbürger angenommen.30 In dieser wurde festgestellt, dass die Beschränkung des Stimmrechts der im Ausland lebenden Bürger gleichzeitig eine Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts bedeutet. Die Traditionen des europäischen Wahlrechts erfordern es zwar nicht, dass das Wahlrecht sämtlichen ausländischen Staatsbürgern zugesichert werde, gleichzeitig ist aber eine unterstützende Entwicklung bezüglich des Stimmrechts der im Ausland lebenden Staatsbürger in den europäischen Staaten zu beobachten. Gegenwärtig leben 150 Millionen Staatsangehörige im Ausland. Davon macht die Zahl der in einem anderen Land lebenden Arbeitnehmer etwa 100 Millionen und die Zahl der Flüchtlinge etwa 10 Millionen aus. Die sich ändernden völkerrechtlichen Verhältnisse ermöglichen es ihnen immer mehr, dass sie sich in ihrem ursprünglichen Land an der Wahrnehmung ihrer politische Rechte beteiligen können.31
___________ tion, 2003, S. 1–95, veröffentlicht auch unter: http://www.geneseo.edu/~iompress /Ar chive/Outputs/Standards_Final.pdf. 30 Bericht der Venedig-Kommission vom 17.–18. Juni 2011: Report on out-ofcountry voting, Study No. 580/2010, CDL-AD (2011) 022. 31 Siehe noch: P. Erben/B. Goldsmith/A. Shujaat, Out-of-Country Voting: A Brief Overview, IFES White Paper Series, April 2012, auch veröffentlicht unter: http:// www.ifes.org/~/media/Files/Publications/White%20PaperReport/2012/IFES_OCV_Er ben_Goldsmith_Shujat_2012.pdf.
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V. Geltende Vorschriften des ungarischen Wahlrechts Die in den vorangegangenen zwanzig Jahren praktisch unveränderte wahlrechtliche Regelung ist durch das ungarische Grundgesetz 2011 fast völlig umgewandelt worden. 1. Das aktive Wahlrecht Durch das Grundgesetz von 1949 wurden drei Voraussetzungen für die Wahlberechtigung zum Zeitpunkt der Wahl bestimmt: die Volljährigkeit, die Staatsangehörigkeit (oder der sich an den Staat knüpfende Status) sowie der Wohnsitz auf dem Gebiet Ungarns. Zwei der Bedingungen des aktiven Wahlrechts sind im Grunde genommen in dem neuen Grundgesetz unverändert geblieben: Die Volljährigkeit stellt weiterhin ein Erfordernis des Wahlrechts dar. Die andere unveränderte Bedingung ist die Staatsangehörigkeit. An den Wahlen der Parlamentsabgeordneten können weiterhin nur ungarische Staatsangehörige teilnehmen. Im Einklang mit dem Unionsrecht haben die über einen Wohnsitz in Ungarn verfügenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Recht zur Teilnahme an den Europäischen Parlamentswahlen und an den Wahlen der Abgeordneten der örtlichen Selbstverwaltungen und der Bürgermeister. Bei der Debatte über das ungarische Grundgesetz stellte sich gar nicht die Frage, ob das Recht zur Wahl der Parlamentsabgeordneten eventuell auch nicht ungarischen Staatsangehörigen zugesichert werden sollte. An den Kommunalwahlen können die als Flüchtlinge, Einwanderer oder Niedergelassene anerkannten volljährigen Personen teilnehmen, vorausgesetzt sie haben einen gültigen Aufenthaltstitel – ohne dass Ungarn durch einen internationalen Vertrag dazu verpflichtet wäre. Eine Bedingung erscheint jedoch in der Zukunft nicht auf der Verfassungsebene: Artikel XXIII Abs. 4 Grundgesetz besagt, dass ein Schwerpunktgesetz (verabschiedet mit Zweidrittelmehrheit) das Wahlrecht an einen Wohnsitz in Ungarn binden kann. Das Grundgesetz verweist also die konkrete Regelung einer grundsätzlichen und positiven Bedingung der Wahlberechtigung an ein Schwerpunktgesetz.32 Diese Regelung ist vielleicht einer der strittigsten Punkte der sich auf das Wahlrecht beziehenden Bestimmungen des Grundgesetzes. Denn einerseits sind die grundgesetzlichen Vorschriften zur Wahlberechtigung – verglichen mit den anderen im Grundgesetz bestimmten Rechten – wesentlich dichter und viel genauer formuliert. Der Grund dafür liegt offenbar in der ___________ 32
Vgl. Art. XXIII Abs. 4: „Die Ausübung des Wahlrechts oder dessen Vollständigkeit kann von einem Schwerpunktgesetz an einen Wohnsitz in Ungarn, das passive Wahlrecht an weitere Bedingungen geknüpft werden“.
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Doppelnatur des Wahlrechts: Das Wahlrecht stellt bekanntlich ein sich an die Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten anknüpfendes Grundrecht und gleichzeitig ein elementares Grundrecht zur Gestaltung und Zusammensetzung der Staatsorganisation dar. In dieser, seiner letzteren Qualität zieht die Bestimmung der Adressaten des Wahlrechts die Grenzen der politischen Gemeinschaft. Darum ist seine Bestimmung auf der Ebene des Grundgesetzes – und nicht auf der Ebene eines einfachen Gesetzes – erforderlich. Andererseits hat die Regelung wegen ihres Inhalts viel Kritik erfahren, insbesondere deshalb, weil sie die Möglichkeit der Ausweitung des Wahlrechts auch auf die außerhalb der Gebiete Ungarns lebenden Personen eröffnet hat. Mit dieser Entscheidung stellte sich auch Ungarn auf das in der internationalen Praxis immer üblicher werdende Modell um. Ungarn interpretiert die politische Gemeinschaft des Landes als die Gemeinschaft der Staatsangehörigen unabhängig davon, wo sie leben – folglich wird sie in Zukunft nicht auf die innerhalb des Landesgebietes permanent lebende und ansässige Gemeinschaft von Staatsangehörigen eingeengt. Der ständige Wohnsitz bedeutet nicht unbedingt den Maßstab der mit dem Land bestehenden „tatsächlichen Verbindung“: Ein Wahlrecht hat auch derjenige, der dauerhaft im Ausland lebt. Er gibt seinen Wohnsitz in Ungarn aus unterschiedlichen Gründen nicht auf, sei es aus einfacher Nachlässigkeit oder auch wegen einer bereits bei Wegzug bestehenden Rückkehrabsicht. Solche Personen brauchen nicht einmal am Wahltag ins Heimatland zurückzukehren. Denn seit 2004 besteht die Möglichkeit der Stimmenabgabe im Ausland an den diplomatischen Vertretungen Ungarns.33 Im Gegensatz zu den Parlamentswahlen billigt das Grundgesetz bezüglich der Kommunalwahlen seinem Wortlaut nach aber nur jenen Bürgern ein Wahlrecht zu, die auch über einen Wohnsitz oder einen Aufenthaltsort in Ungarn verfügen. Dies gilt gemäß Art. XXIII Abs. 2 Grundgesetz auch für Angehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Auch die Unionsbürger müssen daher über einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Ungarn verfügen, um an den Wahlen des Europäischen Parlaments und den Kommunalwahlen in Ungarn teilnehmen zu können. Im Sinne des Art. XXIII Abs. 6 Grundgesetz hat derjenige kein Wahlrecht in Ungarn, der wegen des Begehens einer Straftat oder aus Mangel an Einsichtsfähigkeit gerichtlich vom Wahlrecht ausgeschlossen wurde.34
___________ 33
V. Szigetvári/C. Tordai, A határon túliak választójogáról. [Über das Wahlrecht der Auslandsungarn], http://hazaeshaladas.blog.hu. 34 Vgl. zu den vier ausschließenden Kriterien der früheren verfassungsrechtlichen Regelung Art. XXIII Abs. 6 Grundgesetz.
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2. Das passive Wahlrecht Bezüglich des passiven Wahlrechts hat das Grundgesetz einerseits den Personenkreis erweitert, andererseits hat es die Möglichkeit der Einschränkung beibehalten. Die in Ungarn wohnhaften nicht ungarischen Staatsangehörigen werden von der Wahl zum Bürgermeisteramt durch das Grundgesetz nicht mehr ausgeschlossen. Angesichts dessen, dass die Einwanderer, die Niedergelassenen und die Flüchtlinge lediglich das aktive Wahlrecht haben, berechtigt diese Erweiterung ausschließlich die Unionsbürger. Sie betrifft folglich die über einen Wohnsitz in Ungarn verfügenden Staatsangehörigen aus anderen Ländern der Europäischen Union. Auf Grund der alten Verfassung von 1949 und der einschlägigen Unionsrichtlinie haben Ungarn (und Slowenien) die ungarische Staatsangehörigkeit hinsichtlich der Wahl zum Bürgermeisteramt zur Bedingung gemacht, was dadurch begründet war, dass in dem ungarischen Selbstverwaltungssystem der Bürgermeister nicht nur ein gewählter Abgeordneter, sondern auch eine Person war/ist, die Staatsverwaltungsaufgaben wahrzunehmen hat. 3. Grundprinzipien und Ausübung des Wahlrechts Die frühere Verfassung vom Jahre 1949 hat die Ausübung des Wahlrechts bei den Wahlen zur örtlichen Selbstverwaltung an den Aufenthalt in Ungarn gebunden. Die neue Regelung des ungarischen Grundgesetzes von 2011 geht darüber hinaus und sieht vor, dass jene, die an den Wahlen zur Selbstverwaltung teilzunehmen beabsichtigen, sich am Wahltag auf dem Staatsgebiet Ungarns, genauer: an ihrem Wohnsitz oder an dem angemeldeten Aufenthaltsort aufhalten müssen. Anderswo darf die Person ihr Wahlrecht nicht ausüben. Hinsichtlich der Grundsätze der Wahl werden einige inhaltliche und mehrere formelle Änderungen vom neuen Grundgesetz eingeführt. Anstatt die Wahlgrundsätze in einem getrennten Kapitel zu behalten, fanden die Grundsätze ihren systematischen Platz unter den Bestimmungen über die Gründung der Vertretungsorgane. Sie sind im Wesentlichen in den Kapiteln über das Parlament sowie über die örtlichen Selbstvertretungen verortet. Die Folge der neuen Gliederung besteht darin, dass das Grundgesetz die Anwendung der Wahlgrundprinzipien für die Wahlen zum Europäischen Parlament nicht vorsieht. Sie sind jedoch, folgend aus den Gründungsverträgen der Union, für den Gesetzgeber verbindlich.35 ___________ 35
Siehe Art. 14 Abs. 3 EUV: „Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt“.
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Das Grundgesetz bestimmt neben der Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlrechts, der unmittelbaren und geheimen Abstimmung und auch den in der alten Verfassung aus dem Jahre 1949 enthaltenen vier Grundprinzipien ein weiteres, fünftes Grundprinzip. Die Wahl soll die freie Willenserklärung der Wähler gewährleisten. Die „freie Wahl“ als Wahlgrundprinzip ist nicht ohne Beispiel. Sie erscheint einerseits auch in der Verfassung von anderen Ländern und ist andererseits in den wichtigsten einschlägigen internationalen Abkommen enthalten, u.a. in der Europäischen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt der Bürgerlichen und Politischen Rechte36 und auch in dem Ersten Ergänzungsprotokoll der Europäischen Konvention der Menschenrechte. In Anknüpfung an die Wahlgrundprinzipien lohnt es sich, noch eine weitere Bestimmung des Grundgesetzes zu erwähnen. Absatz 4 des Artikels XXIII, aufgrund dessen die gesamte Regelungsmaterie des Wahlrechts von einem das Grundgesetz konkretisierenden einfachen Schwerpunktgesetz an den Wohnsitz in Ungarn gebunden werden kann, ist eng an das Prinzip der Gleichheit des Wahlrechts gebunden. Diese Vorschrift diente ursprünglich zur Begründung eines Wahlsystems, in dem das Wahlrecht der in Ungarn nicht ansässigen Wahlbürger von dem der ansässigen Wahlbürger abweicht – sie konnten z.B. die Stimme nur für eine Liste abgeben, für Kandidaten der Einzelwahlbezirke aber nicht.37 Interessant hat sich auch die Frage über die parlamentarische Vertretung der Minderheiten gestaltet – nach dem in der Verfassung von 1949 früher gebrauchten Ausdruck: der nationalen und ethnischen Minderheiten.38 Die Änderung der Verfassung vom 25. Mai 2010 hat nämlich die parlamentarische Vertretung der Minderheiten geschaffen, und zwar so, dass sie mit der Absenkung der Zahl der Parlamentsabgeordneten (höchstens zweihundert) auch die Wahl von weiteren, höchstens dreizehn Parlamentsabgeordneten zur Vertretung der nationalen und ethnischen Minderheiten ermöglichte. Zugleich verfügt der Artikel 2 Absatz 2 des geltenden ungarischen Grundgesetzes, dass „die Teilnahme der in Ungarn lebenden Nationalitäten an der Arbeit des Parlaments durch ein Schwerpunktgesetz geregelt wird“. Diese Norm ist wahrscheinlich dazu berufen, die Freiheit des jeweiligen Gesetzgebers zu gewährleisten: Ein Schwer___________ 36 Siehe die weitere Auslegung des Grundprinzips: Compendium of International Standards for Elections. NEEDS-European Commission, Brussels 2007. 37 Dagegen das Wahlrecht auch insofern aus der Gleichheit des Wahlrechts fordernd: E. Bodnár, Wahlrecht und Wahlsystem im Grundgesetz, in: dies. (Hrsg.), Választójog és választási rendszer az Alaptörvényben, Magyar Közigazgatás, 2011/3, S. 107–108, s.a.: http://eeas.europa.eu/human_rights/election_observation/docs/compendium_en.pdf. 38 L. I. Kovács, A nemzetiségi képviselet az új választási rendszerbe. [Die Nationalitätenvertretung im neuen Wahlsystem], Quelle: http://www.valasztasirendszer.hu/?p= 1940340.
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punktgesetz kann nämlich regeln, welche der mehreren möglichen Lösungen innerhalb des vom Grundgesetz vorgegebenen Rahmens bevorzugt wird. Einerseits können die gewählten Vertreter der Minderheiten den normalen Parlamentsabgeordneten ganz gleichgestellt sein, sobald sie ihr Mandat im Rahmen der allgemeinen Parlamentswahlen bekommen haben.39 Der Wortlaut des Grundgesetzes ermöglicht jedoch auch, dass das Schwerpunktgesetz die Beteiligung der Nationalitäten an der Arbeit des Parlaments nur (!) mit Delegierten gewährleistet, die ausschließlich Rede- und Verhandlungsrechte haben, ein Stimmrecht jedoch nicht genießen. Zur Vertretung berechtigt können z.B. auch Landesselbstverwaltungen der Minderheiten sein.40 4. Die Frage der Einführung der Wählerregistrierung Ende September 2012 haben regierungsfreundliche Abgeordnete – eigentlich grundgesetzwidrig – die Gesetzesvorlage Nr. T/8405 über das Wahlverfahren als Einzelantrag dem Parlament unterbreitet. Aus den Schlussbestimmungen (Ziffer 4) des ungarischen Grundgesetzes ergibt sich zwangsläufig, dass die Vorbereitung und Vorlage sowie die Abwicklung der vorgeschriebenen fachlichen und gesellschaftlichen Diskussionen Pflicht der jeweiligen Regierung ist. 41 Zu den heftigsten Kontroversen führten die Kapitel V und VI der Vorlage. Es geht hier um „das zentrale Namensverzeichnis“ und „das Namensverzeichnis des Wahlkreises“ bzw. um ein Wahlregister, das auf der freiwilligen Anmeldung der Wahlbürger basiert, wobei nur diejenigen Wahlbürger tatsächlich wählen dürfen, die sich registriert haben. Zu diesem nur kurz als „Registrierungsverfahren“ bezeichneten Verfahren hat sich unter den Fachleuten und auch in der Presse eine breite Debatte entwickelt. Nach einigen Meinungen gäbe es keine zwingende oder triftige Begründung für die Einführung dieser Art Registrierung – die sogar zwei Wochen vor den Wahlen abgeschlossen sein soll. Im Zusammenhang mit der neuen Verfahrensregel, die hinter den Kulissen als „Bewusstseinszensur“ (ehemaliger ungarischer Präsident László Sólyom) bezeichnet wird, häuften sich mehrere rechtliche Probleme, deren Besprechung im ungarischen Parlament – und selbstverständlich auch in der Presse – stattgefunden hat. Es wurde vermutet, dass die freiwillige Vorregistrierung der Wahl___________ 39 Siehe den Beschluss des Verfassungsgerichts Nr. 22/2005 (17.06) AB über die Gleichheit des Wahlrechts bzw. über die Auslegung des Gewichts der Stimmen. 40 Zur Delegierung berechtigt könnten z. B. die Landesselbstverwaltungen der Nationalitäten sein, vgl. E. Bodnár (Fn. 37), S. 109. 41 Vorbereitung und Entwurfskompetenz der Schwerpunktgesetze/Kardinalgesetze fallen zur anschließenden fachlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung in den Aufgabenbereich der Regierung.
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bürger den wirklichen Zweck haben soll, eine Datenbank über die Auslandsungarn mit ungarischer Staatsangehörigkeit aufzubauen – um daraus politische Vorzüge welcher Art auch immer abzuleiten. Abgesehen davon scheint diese Art der Registrierung eine Einschränkung des Wahlrechts zu sein. Denn viele unsichere Wähler werden vermutlich von den Wahlen ausgeschlossen werden, da sie sich entweder aus Versehen oder weil sie nicht im Lande sind oder aus einem sonstigen Grund (z.B. zusätzliche Kosten der Anreise) nicht registrieren oder weil bei vielen das Bewusstsein zur neuerlichen Notwendigkeit einer Registrierung zur Ausübung ihres Wahlrechts noch gar nicht vorhanden ist. 5. Zusammenfassung zum Wahlsystem In Ungarn wurden die in den letzten zwanzig Jahren praktisch unveränderten Regelungen des Wahlrechts durch das neue Grundgesetz fast völlig umgestaltet. Die wesentlichen Grundlagen des gegenwärtig geltenden Wahlrechtssystems bilden das Grundgesetz, das Wahlrechtsgesetz und das Gesetz über das Wahlverfahren.42 Die geänderten Regeln sind die Folgenden: – Die Anzahl der Parlamentsabgeordneten wird von 386 auf 199 verringert – 106 Mandate kann man in den Einzelwahlbezirken erwerben, die anderen auf der Landesliste und durch die Restmandate/Fraktionsstimmen. Letztere werden auch nach den obsiegenden Einzelabgeordneten vergeben. – Wahlen mit einer Wahlrunde. – Neuzeichnung der Grenzen der Wahlbezirke. – Der Mandatsgewinn in den Einzelwahlbezirken setzt nicht mehr die absolute Mehrheit der Stimmen, sondern nur die relative Mehrheit voraus. – Wahlkandidat kann jeder werden, der 200 Unterschriften statt der früheren 750 Empfehlungsscheine gesammelt hat. Ein Wahlbürger kann eine unbegrenzte Zahl von Kandidaten mit seiner Unterschrift unterstützen. – Zur Wahrnehmung des Wahlrechts ist eine vorausgehende Registrierung erforderlich. Jeder kann sich spätestens zwei Wochen vor den Wahlen einschreiben lassen. Andernfalls wird die Zulassung zur Wahl am Wahltag nicht erteilt. – Abschaffung der campaign silence. – Die außerhalb der Grenzen lebenden Ungarn mit Doppelstaatsangehörigkeit können durch Briefwahl ihre Stimmen auf die Parteilisten abgeben. ___________ 42
Das neue Gesetz zum Wahlverfahren in Ungarn wurde am 26. November 2012 verabschiedet (T/8405/73). Einige Vorschriften wurden seitdem durch das Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben.
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– Die sieben Mitglieder der Nationalen Wahlkommission werden vom Parlament auf neun Jahre gewählt.
VI. Schlusswort Während die Staatsangehörigkeit viel mehr dazu berufen ist, die seelischgesellschaftlich-kulturelle Verbindung innerhalb einer Gemeinschaft und die politische Solidarität auszudrücken, stellt das Wahlrecht eine mit materiellen und politischen Folgen verbundene Berechtigung dar. Es ist ein schwerer Fehler, wenn darüber nicht in einem sachlich angemessenen Gesprächston diskutiert wird. Auseinandersetzungen etwa darüber, dass eine Staatsangehörigkeit ohne Wahlrecht, nur weil die Person nicht im Staatsgebiet wohnhaft ist, von niedrigerem Rang sein sollte, und eine Staatsangehörigkeit mit Wahlrecht, nur weil die Person im Lande wohnhaft ist, von höherem Rang sein dürfte – solche Auseinandersetzungen sind dem Gedanken der Staatsangehörigkeit und der Wahlen unwürdig. * * *
Abstract Elisabeth Sàndor-Szalay: Country Report Hungary (Länderbericht Ungarn), in: National Right to Vote and International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, HansDetlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 153-173. Of all the current disputes in Hungary over the Freedom of Movement on the European continent, one of the bitterest disputes revolves around the questions of citizenship and the right to vote. Along with significant territorial changes mostly to Hungary’s disadvantage, Hungary’s eventful history led to the disintegration of Hungarian cultural and ethnic populations outside of today's national borders and the political nation within its borders. According to the Hungarian constitution from 1949, “Hungarians living outside the borders of the Republic of Hungary are responsible for their fate.” As a result, Hungary’s generous naturalization policy toward culturally-ethnic “Hungarians abroad” – with its requirement of dual citizenship in the respective home countries – meets rejection, especially from Ukraine and Austria. Linked to this is also the question of suffrage for Hungarians living abroad. Though the close-knit provisions of the new constitution from 2011 no longer require residency for an active right to vote, a controversial federal law now formally binds suffrage to one’s place of residence. The link to the place of residence, however, is not linked to a permanent residence within the country’s
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borders or any true connection on the part of a Hungarian living abroad to his or her Hungarian home country. The constitution-amending lawmakers from 2011 left it up to parliament to decide on voting rights and other fundamental issues. There was a similar controversy when in 2012 a registration procedure was introduced that put enormous formal obstacles in the way of anyone attempting to vote. Against this and also against the ability of parliament to legally link suffrage to a place residence, constitutional concerns are on the rise with respect to the principle of universal suffrage.
Länderbericht Ukraine Von Viktor Kostiv
I. Staatsangehörigkeit in der ukrainischen Rechtslehre und Gesetzgebung 1. Verfassungsrechtliche Prinzipien der Staatsangehörigkeit Die Staatsangehörigkeit ist eine rechtlich-politische Bindung eines Menschen mit dem Staat, die sich entsprechend der souveränen Staatsmacht auf die Person sowohl innerhalb als auch außerhalb der Staatsgrenzen auswirkt. Sie ist statusbegründend und entfaltet daher eine Reihe gegenseitiger Rechte und Pflichten zwischen dem Bürger und dem Staat.1 Die wichtigsten Eigenschaften der Staatsangehörigkeit sind die folgenden: – Sie schafft Rechtsbeziehungen, die einerseits sowohl durch die Existenz abstrakt-generellen Rechts determiniert sind als auch andererseits die Zugehörigkeit eines jeden Menschen zu einem bestimmten Staat in konkretindividueller Weise konstituieren. Letzteres wird juristisch durch Pass oder Geburtsurkunde nach außen dokumentiert. Die Staatsbürgerschaft eines Landes wird nicht erworben dadurch, dass der Einzelne sich innerhalb eines bestimmten Staatsgebietes gewöhnlich aufhält. Vielmehr geschieht dies allein infolge dieser besonderen rechtlichen Verbindung zwischen dem Staat und seinen Bürgern. – Sie begründet stabile Verhältnisse zwischen dem Bürger und dem Staat, die permanent – grundsätzlich von Geburt an bis zum Tod – existieren. Allein das Recht der Staatsangehörigkeit enthält allgemeine Regelungen zur Unterbrechung der individuellen Staatszugehörigkeit eines Bürgers. Eine einseitige Unterbrechung dieses gesetzlich ausgestalteten Verhältnisses außerhalb dieser Regelungen ist unzulässig. – Ihr wohnt ein beiderseitiges Verhältnis zwischen Bürger und Staat inne, das sich auf gemeinsame Rechte, Pflichten und Verantwortung auswirkt. Sie ___________ 1
V. F. Godovanets, Verfassungsrecht der Ukraine, Kiew 2005, S. 75.
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stützt sich auf die Wahrung der allgemeinen Menschenrechte und Freiheiten. – Durch sie erstreckt sich die souveräne Macht eines Staates auf den Bürger sowohl innerhalb als auch außerhalb der Staatsgrenzen. Art. 4 der Verfassung der Ukraine legt fest, dass es in der Ukraine nur eine einheitliche Staatsangehörigkeit gibt, deren Begründung und Beendigung durch Gesetz vorgeschrieben wird. In der Präambel des Gesetzes der Ukraine über die Staatsangehörigkeit vom 18. Januar 20012 (im Folgenden Staatsangehörigkeitsgesetz) wird bestimmt, dass das Recht auf Staatsbürgerschaft ein unabdingbares Recht des Menschen ist. Ein ukrainischer Staatsbürger kann deshalb weder seiner Staatsangehörigkeit beraubt noch der Möglichkeit enthoben werden, die ukrainische Staatsangehörigkeit in eine andere zu ändern.3 Die Staatsangehörigkeit folgt zudem allgemeinen und speziellen Rechtsprinzipien. Unter den allgemeinen Rechtsprinzipien wird unterschieden: – Volkssouveränität; – Demokratieprinzip; – Internationalisierung; – Verwirklichung der Staatsangehörigkeit in der Staatssouveränität; – Vereinigung der Interessen des Volkes, des Staates und des Menschen; – Wahrung des Völkerrechtes. Die speziellen Prinzipien sind die in Verfassung und Gesetz verkörperten Grundlagen des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger: – Authentizität der ukrainischen Staatsangehörigkeit; – Gleichheit der Staatsangehörigkeit als Grundlage des Rechtsstatus eines Menschen; – Kombination des ius sanguinis und des ius soli; – Ablehnung des automatischen Verlustes der Staatsangehörigkeit; – Unzulässigkeit der Enthebung von der Staatsangehörigkeit; – Einheit der Staatsangehörigkeit bei Familienmitgliedern; – Ausschluss der doppelten Staatsangehörigkeit; ___________ 2
http://zakon1.rada.gov.ua/laws/show/2235-14. Vgl. aber zu den Schwierigkeiten der diesbezüglichen ukrainischen Rechtspraxis OVG Münster, Urt. v. 25. September 2008, Az. 19 A 1221/04, Rz. 36 ff., DVBl. 2009, S. 332 (Leitsatz). 3
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– Bewilligungsverfahren im Falle eines Austritts aus der Staatsangehörigkeit; – Nichtauslieferung an andere Staaten; – Freiheit und Freiwilligkeit der Auswahl der Staatsangehörigkeit; – Erhaltung der ukrainischen Staatsangehörigkeit für die Personen, die im Ausland leben. 2. Staatsangehörigkeitsregelungen im Staatsangehörigkeitsgesetz Das Staatsangehörigkeitsgesetz vom 8. Oktober 1991 war eines der ersten Gesetze der unabhängigen Ukraine. Nach sechs Änderungen und Neufassungen wurde dieses alte Gesetz durch das neue Staatsangehörigkeitsgesetz vom 18. Januar 2001 abgelöst. Das neue Gesetz wurde bereits viermal geändert, zuletzt im Juli 2011. Die Voraussetzungen zum Erwerb der ukrainischen Staatsangehörigkeit gehen nach wie vor auf die Regelungen im Staatsangehörigkeitsgesetz von 1991 zurück. Hiernach sind zunächst alle Staatsangehörigen der ehemaligen UdSSR, die zum Zeitpunkt der Verkündung der ukrainischen Unabhängigkeit (24. August 19914) dauerhaft auf ukrainischem Gebiet gelebt haben, ukrainische Staatsbürger. Die ukrainische Staatsbürgerschaft haben ferner Personen inne, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Staatsangehörigkeitsgesetzes am 13. November 1991 auf dem Gebiet der Ukraine gelebt haben und nicht im Besitz einer anderweitigen Staatsangehörigkeit sind. Dies gilt unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Ethnie, sozialer Herkunft, materiellem Stand oder dem bisherigen Wohnort. Auch Personen oder deren Nachkommen in gerader Linie (Kinder, Enkelkinder), die auf dem Gebiet der Ukraine gelebt haben oder geboren wurden und am 13. November 1991 außerhalb der Ukraine lebten, keine anderweitige Staatsangehörigkeit inne hatten und bis zum 31. Dezember 1999 einen Antrag auf Erwerb der ukrainischen Staatsangehörigkeit gestellt hatten, sind nach Staatsangehörigkeitsgesetz Staatsbürger der Ukraine geworden. Die ukrainische Staatsangehörigkeit kann im Übrigen auch aufgrund völkerrechtlicher Verträge der Ukraine beansprucht und erworben werden. Der ukrainische Staat unterstützt und schützt auch seine ukrainischen Bürger, die sich im Ausland aufhalten. Das amtliche Dokument, das die Staatszugehörigkeit zur Ukraine ausweist, ist der ukrainische Pass. Für die Personen unter 16 Jahren ist es die Geburtsurkunde.
___________ 4 Am 24. August 1991 wurde die Akte der Verkündung der Unabhängigkeit der Ukraine angenommen.
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Am 2. Oktober 2012 hat das ukrainische Parlament das Gesetz „Zu Änderungen einiger Gesetze betreffend der Staatsangehörigkeit“ (im Folgenden Änderungsgesetz) angenommen und am 15. Oktober 2012 dem Präsidenten der Ukraine zur Unterschrift vorgelegt. Der Präsident hat es noch nicht unterzeichnet. Von seiner Unterschriftsleistung ist aber auszugehen,5 denn das Gesetz wurde im Parlament von der präsidententreuen Fraktion der Regionen-Partei einstimmig angenommen. Sollte das Gesetz in Kraft treten, wird das ukrainische Staatsangehörigkeitsrecht gravierende Änderungen erhalten. Die meisten Änderungen betreffen die doppelte oder so genannte „Multistaatsangehörigkeit“. Der Begriff der „Multistaatsangehörigkeit“ wurde ebenfalls durch das Änderungsgesetz in den juristischen Sprachgebrauch der Ukraine eingeführt. Die Rechte von Personen mit einer Multistaatsangehörigkeit werden auf vielen öffentlichen Ebenen beschränkt. Vom Staatsdienst bleiben sie ganz ausgeschlossen. Es werden um die dreißig Gesetze der Ukraine den öffentlichen Dienst tangierend geändert. Von den Änderungen betroffen sind insbesondere das Gesetz über Staatsdienst, das Polizeigesetz, das Gesetz über die Staatsanwaltschaft oder das Gesetz über den Staatssicherheitsdienst. Sie alle werden dahingehend abgeändert, dass die Personen mit Multistaatsangehörigkeit aus dem Staatsdienst entfernt und auch künftig zum Staatsdienst nicht mehr zugelassen werden. Mit dem Änderungsgesetz äußert der ukrainische Staat seinen eindeutig ablehnenden Standpunkt hinsichtlich der doppelten bzw. der Multistaatsangehörigkeit. Es ist aber allgemein bekannt, dass Multistaatsangehörigkeit kein seltenes Phänomen unter ukrainischen, vor allem hochgestellten Staatsbediensteten ist. Es bestehen also Zweifel ob der zügigen und rechtskonformen Umsetzung des Änderungsgesetzes. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die allgemeine Rechtsanwendung und die Aufrechterhaltung der Rechtssicherheit in der Ukraine unter erheblichen Mängeln leidet.
II. Rechtsstatus der doppelten Staatsangehörigkeit nach ukrainischem Recht 1. Ausschluss der doppelten Staatsangehörigkeit nach Verfassungsgrundsätzen und speziellen Rechtsnormen Art. 4 der ukrainischen Verfassung lautet: „Es gibt nur eine Ukrainische Staatsbürgerschaft“. Das Staatsangehörigkeitsgesetz korrespondiert mit dieser ___________ 5 Ausweislich der Vorschriften zum ukrainischen Gesetzgebungsverfahren bedürfen die vom Parlament verabschiedeten Gesetze der Unterschrift des Präsidenten. In seltenen Fällen verweigert der Präsident die Unterschrift, was einen erneuten Parlamentslauf für das betroffene Gesetz zur Folge hat.
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Regelung und bestimmt insbesondere in seinem Art. 2 die Grundlagen der Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit. Zu den die Staatsangehörigkeit tragenden Prinzipien gehört das Prinzip der einen oder einzigen Staatsangehörigkeit. Hierdurch wird insbesondere eine gesonderte Staatsangehörigkeit zu den innerhalb der Ukraine bestehenden „administrativen Gebilde“ (vergleichbar mit regionalen Verwaltungseinheiten, genannt Oblast) ausgeschlossen.6 Da das Staatsangehörigkeitsgesetz ein ausführendes Gesetz zur Verfassung ist, wird erwartet, dass es die Verfassungsbestimmung zur Staatsangehörigkeit konkretisiert und umsetzt. Demgegenüber lässt das Staatsangehörigkeitsgesetz die Frage offen, was unter der „einen Ukrainischen Staatsbürgerschaft“ zu verstehen sei. Eine Ansicht geht dahin, dass es nur um das Verbot der doppelten Staatsangehörigkeit einzelner administrativer Teile (der Oblast) der Ukraine geht.7 Der Besitz der Staatsangehörigkeit anderer Staaten neben der ukrainischen wäre somit im Übrigen rechtmäßig. Andere sind der Meinung, dass es nur die ukrainische Staatsangehörigkeit gibt, und die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates für die ukrainischen Staatsbürger damit ausgeschlossen ist. Das Änderungsgesetz8 hat diesem Meinungsstreit die Grundlage entzogen, indem es sich gegen die Multistaatsangehörigkeit als solche ausspricht und darüber hinaus fortan Personen, welche im Besitz mehrerer Staatsangehörigkeiten sind, aus dem ukrainischen Staatsdienst ausschließt. 2. Sanktionen für die doppelte Staatsbürgerschaft Das geltende ukrainische Recht sah bis zur Verabschiedung des Änderungsgesetzes keine Sanktionen gegen eine doppelte Staatsangehörigkeit vor. Diese Tatsache hat auch dazu beigetragen, dass man die Verfassung und die Gesetze dahingehend ausgelegt hat, dass die doppelte Staatsangehörigkeit nicht rechtswidrig sei. Mit der Verabschiedung des Änderungsgesetzes hat das ukrainische Parlament nun den Tatbestand der „Unterlassung der Meldung über den Erhalt der ausländischen Staatsangehörigkeit“ als Verwaltungsrechtsverletzung geschaffen. Dies wurde mit einem neuen Artikel in das Gesetzbuch der Ukraine über Verwaltungsrechtsverletzungen eingeführt. Das gleiche Gesetzbuch beinhaltet unter anderem auch Sanktionen bei Übertretungen im Straßenverkehr. Die Sanktion für die Unterlassung der Meldung über den Erhalt der ausländi___________ 6 Vgl. den Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 UkrStBG: „Die Ukrainische Gesetzgebung über die Staatsbürgerschaft basiert auf den folgenden Prinzipien: 1) der einzigen Staatsbürgerschaft – Die Staatsbürgerschaft des Staates der Ukraine schließt die Möglichkeit der Existenz von Staatsangehörigkeiten administrativ-territorialer Einheiten innerhalb der Ukraine aus“. 7 http://sna.in.ua/archives/3111. 8 Näher siehe oben, I.2.
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schen Staatsangehörigkeit ist für ukrainische Verhältnisse ziemlich drastisch. So ziehen diesbezügliche Verstöße ukrainischer Bürger regelmäßig Ordnungsgelder in Höhe von umgerechnet 50 Euro, bei Staatsbediensteten für den gleichen Verstoß sogar in Höhe von 170 Euro nach sich. Die genannten Sanktionen stehen aber überdies in keinem Verhältnis zu der Pflicht, alle Staatsbediensteten im Besitz einer Multistaatsangehörigkeit aus dem Staatsdienst zu entlassen.
III. Ukrainisches Wahlrecht und Staatsangehörigkeit 1. Wahlsystem Der Wahlvorgang zum ukrainischen Gesetzgebungsorgan „Verchovna Rada“ wird durch das Gesetz über die Wahlen der Parlamentsabgeordneten vom 17. November 2011 geregelt (im Folgenden als Parlamentswahlgesetz bezeichnet). Das Parlamentswahlgesetz wurde weniger als ein Jahr vor den Parlamentswahlen im Oktober 2012 durch das Parlament verabschiedet, zügig vom Präsidenten der Ukraine unterschrieben, und ist am 10. Dezember 2012, dem Tag seiner Veröffentlichung, in Kraft getreten. Zuvor wurde das legislative Organ in der Ukraine durch ein Wahllistensystem gebildet, durch das fünf politische Parteien, welche die 3%-Hürde überwunden haben, in das Parlament eingezogen sind. Mit dem neuen Parlamentswahlgesetz gilt nun das kombinierte Mehrheits- und Verhältniswahlsystem. Die ukrainischen Bürger werden fortan die eine Hälfte der Mitglieder des Parlaments, also je 225 Abgeordnete, mittels direkter Mehrheitswahl und die andere Hälfte über eine parteiliche Wahlliste wählen. 2. Aktives Wahlrecht Aktiv wahlberechtigt sind alle ukrainischen Staatsangehörigen, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben und in das Wählerverzeichnis eingetragen sind. Hierbei sieht das Gesetz eine Mindestaufenthaltszeit des Wählers auf dem Staatsgebiet der Ukraine nicht vor. 3. Passives Wahlrecht Passiv wahlberechtigt sind demgegenüber all jene ukrainischen Staatsangehörigen, die aktiv wahlberechtigt sind, am Wahltage das 21. Lebensjahr vollendet haben und darüber hinaus innerhalb der letzten fünf Jahre in der Ukraine wohnhaft gewesen sind. Im Zusammenhang mit dem passiven Wahlrecht regelt das Parlamentswahlgesetz nunmehr auch explizit, was unter dem fünfjährigen Wohnen in der Ukra-
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ine zu verstehen ist. Zum Wahlzeitpunkt innerhalb der letzten fünf Jahre in der Ukraine wohnhaft sind demnach zunächst diejenigen ukrainischen Staatsbürger, die innerhalb dieses Zeitraums ununterbrochen innerhalb der Staatsgrenzen der Ukraine gelebt oder sich auf einem Schiff unter ukrainischer Flagge aufgehalten haben. Auch ukrainische Staatsangehörige samt Familienangehörige, die sich innerhalb des Fünfjahreszeitraums während einer Auslandsdienstreise in einem Land aufgehalten haben, in dem eine Auslandsvertretung der Ukraine besteht oder Organe internationaler Organisationen ihren Sitz haben, gelten ausweislich des Parlamentswahlgesetzes als in der Ukraine ununterbrochen wohnhaft. Gleiches gilt für jene Staatsbürger, die sich zeitweise oder durchgängig auf der Polarstation der Ukraine oder einer ukrainischen Militärbasis außerhalb der ukrainischen Staatsgrenzen aufgehalten haben. Ausländer und Staatenlose dürfen zum Wahlfonds der politischen Parteien keine Beiträge leisten. 4. Wahlvorgang für die Wähler im Ausland a) 10 Länder mit den meisten ukrainischen Auslandswählern9
Deutschland Moldawien Russland Israel USA Portugal Spanien Weisrussland Tschechien Canada
2.345 99.467 1.458
71.231
1.177
56.112
371
47.019
3.660
43.670 841
15.814 1.590 14.101 569 9.561 956 8.165 651 7.226
Die beteiligten Wähler Die Wählerzahl laut Wählerverzeichnis
Zum 30. September 2012 waren 451.160 Wähler im Ausland angemeldet
___________ 9 Diese Angaben basieren auf den Ergebnissen der Wahlbeteiligung der ukrainischen Staatsangehörigen im Ausland während der Parlamentswahl im Jahr 2007.
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Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind über 450.000 Wähler in den Wählerverzeichnissen der ausländischen Vertretungen der Ukraine eingetragen. Besondere Wahlrechtsbeschränkungen für Auslandsukrainer im Hinblick auf deren aktives Wahlrecht sind in der Ukraine nicht vorgesehen. Auch bei Ausübung des passiven Wahlrechts von Auslandsukrainern stellen sich in dieser Hinsicht keine Probleme, denn das Parlamentswahlgesetz sieht für die Kandidaten zum Wahlzeitpunkt eine Mindestaufenthaltszeit im Inland vor (siehe oben III. 3.). Bei näherer Betrachtung des aktiven Wahlrechts wird aber offenbar, dass es sich im Hinblick auf die Inanspruchnahme durch Auslandsukrainer nicht ohne besondere Regelungen ausüben lässt. Es geht insbesondere darum, dass die Hälfte der Mitglieder des ukrainischen Parlaments per Mehrheitswahl und die andere Hälfte per Listenwahl gewählt werden. Die Parteilisten, die für die Wahlen vorgestellt werden, sehen für alle Wahllokale in der Ukraine und in den ukrainischen Konsulaten im Ausland gleich aus. Es stellt sich aber die Frage, wie man mit den Kandidaten umgeht, die durch persönliche Mehrheitswahl gewählt werden, da die Wähler, die im Ausland leben, aus verschiedenen Gegenden der Ukraine kommen und somit die Abgeordneten aus verschiedenen Einzelkandidatenwahlkreisen wählen sollen. Dies ist mit erheblichem organisatorischem und finanziellem Aufwand verbunden. Deshalb hat der ukrainische Gesetzgeber alle im Ausland abgegebenen Wählerstimmen auf die Wahlkreise in der Stadt Kiew proportional verteilt. b) Verfassungsgerichtsentscheidung über den Wahlvorgang im Ausland Diese gesetzliche Vorschrift des Parlamentswahlgesetzes über die proportionale Verteilung von allen im Ausland abgegebenen Wählerstimmen hat der Ukrainische Verfassungsgerichtshof mit seiner Entscheidung vom 4. April 2012 für verfassungswidrig und damit unwirksam erklärt.10 Den sich im Ausland aufhaltenden ukrainischen Wählern wird nach dem ergangenen Urteil nur die Möglichkeit gegeben, über die Parteiliste zu stimmen. Die Wahl eines Mehrheitswahlkandidaten bleibt ihnen nach dem Richterspruch hingegen verwehrt. Der Gerichtshof begründete seine Entscheidung mit dem Schutz der Interessen von Kandidaten in der Stadt Kiew, denn die jeweiligen Kandidaten hätten keine Möglichkeit, die Meinung der sich im Ausland aufhaltenden Wähler zu beeinflussen. Ergänzend hat sich der Verfassungsgerichtshof auch auf den Beschluss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 7. September 1999, Hilbe ./. LIE, Nr. 31981/96, berufen.
___________ 10
http://zakon2.rada.gov.ua/laws/show/v007p710-12.
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5. Divergenzen wegen der doppelten Staatsangehörigkeit Obwohl die doppelte Staatsangehörigkeit nach Staatsangehörigkeitsgesetz nicht zulässig ist, beschränkt sie jedoch praktisch weder das passive noch das aktive Wahlrecht. Nachdem ein Wahlkandidat der Regierungspartei bei den Parlamentswahlen 2012 seinen ausländischen Pass öffentlich demonstriert hatte, erläuterte der stellvertretende Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission der Ukraine auf einer Pressekonferenz folgenden Standpunkt: „Für die Zentrale Wahlkommission ist nur wichtig, ob die Person die ukrainische Staatsangehörigkeit hat. Alle weiteren Staatsangehörigkeiten wie die israelische, russische oder amerikanische interessieren mich als Wahlkommissionsmitglied nicht“.11 Die Prüfung der Rechtswidrigkeit von mehreren Staatsangehörigkeiten fällt in den Aufgabenbereich des Ukrainischen Präsidialamts, denn „im Staatsangehörigkeitsgesetz gibt es als einer der Gründe für den Entzug der ukrainischen Staatsangehörigkeit die freiwillige Annahme der ausländischen Staatsangehörigkeit“.12 Bei der Parlamentswahl 2012 wurde also die Frage der doppelten Staatsangehörigkeit ausgeklammert. Unterzieht man aber das Änderungsgesetz13 einer näheren Betrachtung, dann sind vorwiegend die Fälle problematisch, in denen die Abgeordneten im neuen Parlament mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen. Denn das Änderungsgesetz untersagt ausdrücklich die Ausübung des Abgeordnetenamtes für die Personen mit Multistaatsangehörigkeit.
IV. Die Problematik der doppelten Staatsangehörigkeit in den ukrainischen Grenzgebieten 1. Ukrainisch-ungarische Staatsangehörigkeit in Transkarpatien Für ein grundlegendes Verständnis der zu untersuchenden Problematik ist zunächst ein kurzer Überblick zur geographischen Lage und zur Geschichte Transkarpatiens erhellend. Transkarpatien liegt im äußeren Westen der Ukraine und grenzt an vier Mitgliedsländer der EU, nämlich Polen, die Slowakische Republik, Ungarn und Rumänien an (vgl. Kartenauszug).
___________ 11
http://www.rbc.ua/ukr/vyboru/show/magera-dvoynoe-grazhdanstvo-ne-yavlyaetsya -osnovaniem-dlya-13082012183400. 12 http://www.rbc.ua/ukr/vyboru/show/magera-dvoynoe-grazhdanstvo-ne-yavlyaetsya -osnovaniem-dlya-13082012183400. 13 Näher siehe I. 2.
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KIEW
PL SK
Transkarpatien H RO
Ab dem 9. Jahrhundert war Transkarpatien ein Teil des damaligen Reiches Großmähren. Nach dessen Auflösung im Bayerisch-Ungarischen Krieg gehörte es im 10. Jahrhundert zum Königreich Ungarn. Im Jahr 1920 wurde Transkarpatien durch den Vertrag von Trianon als Karpatenukraine (Podkarpatská Rus) Teil der Tschechoslowakei. Mit dem ersten Wiener Schiedsspruch im Juli 1938 fiel Transkarpatien wieder zurück an Ungarn, von wo aus im Jahr 1939 Truppen aufmarschierten und das Gebiet vollständig besetzten. Im Jahr 1944 unterlag Transkarpatien wieder vorübergehend tschechoslowakischer Herrschaft, bis es 1946 ein Teil der Ukrainischen Sowjetrepublik geworden ist. Seit 1991, also nach Auflösung der Sowjetunion, ist Transkarpatien Teil der heutigen Ukraine. Der Anteil der in Transkarpatien lebenden ungarischen Minderheit an der Gesamtbevölkerung ist in den Jahren zwischen 1880 bis 2001 von einstmals einem Drittel auf 15,1 % zurückgegangen. Trotzdem ergibt eine diesbezügliche Betrachtung anhand der Bevölkerungsstruktur, dass die ungarische Minderheit auch heute noch mit über 150.000 Bewohnern die größte ethnische Gruppe in Transkarpatien darstellt. Ausweislich einer im Jahr 2001 durchgeführten Volkszählung wohnten in Transkarpatien 158.729 Menschen, die Ungarisch als Muttersprache angegeben haben.14
___________ 14
http://database.ukrcensus.gov.ua/MULT/Dialog/Saveshow.asp.
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Die historische Dynamik verdeutlicht die nachstehende Übersicht zur Bevölkerungsstruktur Transkarpatiens:
UKRAINER
Jahr 1880
Jahr 1930
Jahr 2001
Bevölkerung 381.830
Bevölkerung 725.357
Bevölkerung 1.254.614
244.742
59,8 %
450.925
62,17 %
1.010.100
80,5 %
105.343
25,7 %
115.805
15,96 %
151.500
15,1 %
16.713
4,1 %
12.777
1,8 %
32.000
2,6 %
-
-
-
-
31.000
2,5 %
31.745
7,8 %
13.804
1,9 %
3.500
0,3 %
JUDEN
-
-
95.000
13,10 %
-
-
ANDERE
10.428
2,6 %
37.038
5,06 %
19.600
1,6 %
+20,7 % UNGARN -10,6 % RUMÄNEN -1,5 % RUSSEN +2,5 % DEUTSCHE -7,5 %
Im Jahre 2011 hat Ungarn das Verfahren zur Einbürgerung deutlich vereinfacht. Dies gilt auch für die ukrainischen Staatsbürger. Erst wurde dafür ein gesondertes Gesetz verabschiedet, danach wurden entsprechende Änderungen zur ungarischen Verfassung angenommen, die Anfang des Jahres 2012 in Kraft getreten sind. Die dahinter stehende Hauptidee ist, den ethnischen Ungarn oder deren Nachkommen, die in anderen Staaten leben, das Recht einzuräumen, die ungarische Staatsangehörigkeit nach dem Prinzip ius sanguinis zu erwerben. Als diese Änderungen angekündigt wurden, war das Gegenstand kontroverser Diskussionen. Diejenigen, die die ungarische Staatsangehörigkeit annehmen wollten, haben bereits die Anträge an die ungarischen Konsulate gestellt oder eine sogenannte „Bescheinigung über Rückeinbürgerung“ erhalten. In einigen Fällen haben die Antragsteller die ungarischen Pässe auch schon ausgehändigt bekommen. Nach Angaben von ungarischer Seite stellen Einbürgerungsanträge nicht am häufigsten die Ukrainer, sondern Staatsbürger Rumäniens, der Slowakei oder Serbiens. Der Abgeordnete des ungarischen Parlaments, Belo Kovac, der vor kurzem sein Büro in Berohovo (Beregszaz) eröffnet hat, sagte dazu noch, dass die Anträge aus der Ukraine in halbstündigem Takt registriert werden. Der Meinung des Politikers nach wird dies die Beziehungen zwischen Un-
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garn und der Ukraine nicht beeinflussen, weil „die Ukraine die Lage versteht“.15 Die Voraussetzungen für die ungarische Einbürgerung sind minimal. Der Antragsteller muss nur nachweisen, dass seine Vorfahren oder er selbst auf dem Gebiet, das bis 1920 zu Ungarn gehörte, geboren wurden. Die Voraussetzungen erfüllt auch, wer auf diesem Gebiet innerhalb der Kriegszeit (1938–1945) geboren wurde. Sodann muss er sich einem Test der ungarischen Sprache und Kultur unterziehen. Somit können potenziell über eine Million ukrainischer Bürger, die in Transkarpatien leben, zu ungarischen Staatsangehörigen werden. 2. Ukrainisch-russische Staatsangehörigkeit auf der Halbinsel Krim
KIEW
Transkarpatien
KRIM
RUS
Die Halbinsel Krim befindet sich im Süden der Ukraine. Eine nach modernen Kategorien indigene Bevölkerung gab es nicht. Stattdessen stand die Halbinsel Krim nacheinander unter kimmerischer, taurischer, skythischer, griechischer, römischer, gotischer, byzantinischer, hunnischer, mongolisch-tatarischer,
___________ 15
http://www.bbc.co.uk/ukrainian/news/2011/02/110209_hungary_ukr_oh.shtml.
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venezianischer, genuesischer, osmanischer und schließlich russischer Herrschaft.16 Um die heutige Bevölkerungsstruktur der Halbinsel Krim nachvollziehen zu können, ist es wichtig, insbesondere die russische Herrschaft über die Halbinsel einer näheren Betrachtung zu unterziehen.17 1774 wurde die Halbinsel Krim vom Osmanischen Reich unabhängig und zunehmend vom Russischen Reich abhängig. Der von Russland veranlasste Auszug der christlichen Be völkerung (Ukrainer, Griechen, Armenier) von der Halbinsel Krim führte zum wirtschaftlichen Kollaps und zum Bürgerkrieg zwischen Khanen, bis Katharina II. die Halbinsel Krim am 8. April 1783, nachdem sie unter Grigori Potjomkin von Russland annektiert worden war, als russisch deklarierte. Administrativ unterstand die Halbinsel Krim dem Gouvernement Taurien (russ. Таврическаягуберния), zu dem auch ein Teil der östlichen Festlandküste bis zum unteren Dnepr gehörte. „Taurien“ sollte als ein neuer Name der Halbinsel Krim etabliert werden. Dieser setzte sich aber nicht durch. Nach der offiziellen Eingliederung der Halbinsel Krim in das Russische Reich begann dieses die Politik der „Enttatarisierung“, indem es der Besiedlung der Halbinsel Krim durch andere Ethnien wie Deutsche, Griechen, Bulgaren und Balten, aber auch Russen vorangetrieben hat. Letztere waren vorwiegend entlassene Soldaten oder Saporoger Kosaken. Die tatarischen Bauern, die 96 % der tatarischen Bevölkerung ausmachten, wurden in die unfruchtbaren Gebiete im Inneren der Halbinsel Krim zurückgedrängt. Große Teile der fruchtbaren Gebiete wurden ab 1784 unter der Führung von Gouverneur Grigori Alexandrowitsch Potjomkin an russische Adlige verteilt. Als Folge dieser Politik kam es zu einer Massenflucht der tatarischen Bevölkerung, bei der mehr als 100.000 Menschen die Halbinsel Krim verlassen haben. Viele von ihnen sind in die Türkei geflohen, wo sie noch heute einen Teil der Bevölkerung ausmachen. 1853 bis 1856 war die Halbinsel Krim, vor allem Sewastopol, Schauplatz des Krimkriegs. Teile der Halbinsel wurden während dieser Zeit vorübergehend von alliierten – darunter auch osmanischen – Truppen besetzt. Während und nach dem Krimkrieg kam es zu einer erneuten Massenflucht, da viele Tataren mit dem Osmanischen Reich sympathisierten und sich vor Repressalien der Russen fürchteten. In den 1870er und 1880er Jahren folgten weitere Emigrationsbewegungen, so dass die Tataren Ende des 19. Jahrhunderts auf der Krim nur noch eine kleine Minderheit von etwa 187.000 Menschen darstellten.
___________ 16
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Krim. Nachfolgende Ausführungen geben im Wesentlichen den Inhalt der unter dem Onlineportal www.wikipedia.org veröffentlichten Beiträge: „Krim“, „Schwarzmeerflotte (Russland)“ und „Bukowina“ wieder. 17
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Die Halbinsel Krim ist als ein Konfliktherd zwischen Russland und der Ukraine bekannt. Grund dafür ist, dass die Halbinsel Krim nach 1944 zehn Jahre lang zunächst eine einfache Provinz innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik war. In der Regierungszeit von Nikita Chruschtschow wurde die Halbinsel Krim 1954 an die Ukraine übertragen. Der Anlass dazu war das 300-jährige Jubiläum der Rada von Perejaslaw von 1654, bei der sich der von Polen bedrängte ukrainische Kosakenstaat dem Russischen Reich angeschlossen hat. 1967 wurden auch die Krimtataren offiziell rehabilitiert, zehn Jahre später als die übrigen deportierten Völker, aber erst ab 1988 durften sie auf die Halbinsel Krim zurückkehren. Nachstehende Übersicht zeigt die Bevölkerungsstruktur der Halbinsel Krim in der historischen Perspektive: Jahr
Russen +25 %
Ukrainer +12,5 %
Krim Tataren -23,5 %
1897
180.963
33,11 %
64.703
11,84 %
194.294
35,55 %
2001
1.180.4 41
58,32 %
492.227
24,32 %
243.433
12,03 %
Nach diesem historischen Überblick ist es verständlich, warum fast 60 % der heutigen Bevölkerung der Halbinsel Krim ethnische Russen sind. Die KrimTataren hingegen wurden im Laufe der Geschichte zu einer Minderheit. Bis 1995 kam es zudem immer wieder zu scharfen Konflikten zwischen der Ukraine und Russland. Neben der Aufteilung der Schwarzmeerflotte ging es dabei um die Staatenzugehörigkeit der Halbinsel. Durch den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag von 1997 konnte dieser Konflikt erheblich entschärft werden, wenngleich auch das wechselseitige Verhältnis bis heute nicht spannungsfrei verläuft. Russland hat seither einen Teil des Militärhafens Sewastopol für seine Schwarzmeerflotte gepachtet. Beim Streit um die Preiserhöhung russischen Gases an die Ukraine auf Marktpreisniveau 2005/2006 wurde auch eine Erhöhung der Pacht ins Gespräch gebracht. Nachdem die Schwarzmeerflotte während der Amtszeit von Wiktor Juschtschenko immer wieder zum rhetorischen Angriffsobjekt der ukrainischen Führung geworden war, einigten sich im April 2010 der russische Präsident Dmitri Medwedew und sein ukrainischer Kollege Wiktor Janukowytsch im Rahmen eines umfassenden Abkommens auf die Verlängerung der Stationierung der Schwarzmeerflotte nach Ablauf des jetzigen Vertrags im Jahre 2017 um weitere 25 Jahre. Somit bleibt die russische Schwarzmeerflotte bis 2042 auf der Halbinsel Krim stationiert. Als Gegenleistung erhält die Ukraine einen Preisrabatt in Höhe von 30 % beim Gasbezug. Die Parlamente von Russland und der Ukraine haben dem Vertrag am 27. April 2010 zugestimmt. Im ukrainischen Parlament kam es bei der Sitzung zu Schlägereien, Oppositionspolitiker warfen Rauchbomben.
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Während der letzten russischen Parlamentswahlen im Dezember 2011 haben 14.424 russische Bürger ihr aktives Wahlrecht auf der Halbinsel Krim ausgeübt.18 Während der Präsidentschaftswahlen im März 2012 haben auf der Halbinsel Krim bereits 16.940 russische Bürger ihre Stimmen abgegeben.19 Innerhalb von drei Monaten ließ sich somit eine Steigerung der Wahlbeteiligung in Höhe von 15 % verzeichnen. Manche Wähler zogen beide Pässe – den ukrainischen wie auch den russischen – und haben anschließend den „richtigen“ vorgelegt.20 Aus praktischen Gründen streben aber eher wenige Doppelstaatsangehörige danach, ihr Wahlrecht aktiv auszuüben. So fürchten die auf der Halbinsel Krim lebenden ukrainischen Staatsangehörigen, die bei russischen Wahlen als russische Staatsbürger auftreten müssen, Schwierigkeiten, weil ihre Multistaatsangehörigkeit in der Ukraine nicht anerkannt ist (siehe oben II.). Es lässt sich daher vermuten, dass die reale Anzahl der Doppelstaatsangehörigen auf der Halbinsel Krim wesentlich höher ist. Inoffiziell heißt es, dass auf der Halbinsel ca. 100.000 Einwohner den russischen Pass besitzen. 3. Ukrainisch-rumänische Staatsangehörigkeit in der Bukowina (Czernowitz Provinz)
KIEW
BUKOWINA
___________ 18
http://www.simferopol.mid.ru/. http://www.simferopol.mid.ru/. 20 http://www.bbc.co.uk/ukrainian/newsinbrief/2011/12/111204ersevastopolelections. shtml. 19
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a) Historischer Überblick über die Bukowina Die heutige Bukowina ist seit der Antike von einer sehr wechselvollen Geschichte geprägt. So war das Gebiet Bukowina bis zum Jahre 1774 Bestandteil verschiedener Reiche und Fürstentümer. Zeitweise gehörte es zum DakerReich, zum Kiewer Rus, zum Fürstentum Halitsch-Wolhynien und zum Fürstentum Moldau. In den Jahren von 1774 bis 1918 fiel die Bukowina unter österreichische Herrschaft; das Gebiet wurde ab 1918 von Österreich aber zu Gunsten Rumäniens aufgegeben, so dass es nach rumänischer Annexion in der Zeit von 1918 bis 1940 bzw. 1944 unter deren Herrschaft fiel. Nach 1944 bis zum Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1990 war die Bukowina Teil der UdSSR. Seit 1990 steht Bukowina unter ukrainischer Verwaltung. b) Die Bevölkerungsstruktur der Bukowina in der historischen Perspektive21 Jahr
Rumänen -67 %
Ukrainer + 65 %
Andere + 1,79 %
1774
64.000
85,33 %
8.000
10,66 %
3.000
4,0 %
1910
273.257
34,1 %
30.5101
38,4 %
21.6574
27,2 %
2001
171.303
18,64 %
69.4468
75,57 %
53.257
5,79 %
In der Hauptstadt Czernowitz wie auch in der gesamten Provinz Bukowina bekommen immer mehr Bürger rumänische Pässe. Der Abgeordnete des ukrainischen Parlaments, Genadiy Moskal, ist davon überzeugt, dass mindestens 50.000 Bukowina-Bewohner sowohl im Besitz der ukrainischen als auch der rumänischen Staatsangehörigkeit sind,22 obwohl dem das ukrainische Staatsangehörigkeitsgesetz entgegensteht. Rumänien hat die Einbürgerung deutlich vereinfacht, was für viele Bukowiner vorteilhaft ist. Im Jahr 2009 hat man im Einbürgerungsverfahren den zuvor erwähnten Test der rumänischen Sprache und Kultur abgeschafft. Rumänischer Staatsangehöriger kann seither jeder werden, der nachweisen kann, dass er oder seine Vorfahren bis 1940 auf dem Gebiet Rumäniens geboren wurden. Denn im Jahr 1940 wurde Bukowina und Südbessarabien an die Ukrainische Sowjetische Republik abgetreten. ___________ 21 22
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bukowina. http://www.bbc.co.uk/ukrainian/ukraine/2010/06/100630_romania_passport_ak. shtml.
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Ein anderer Abgeordneter des ukrainischen Parlaments, Grigoriy Manchulenko, ist der Ansicht, dass die ukrainische Regierung auf die Einbürgerung der ukrainischen Staatsbürger durch Rumänien nicht angemessen reagiert. „Wenn man angemessen reagieren würde, sollte es seitens des ukrainischen Außenministeriums entsprechende Noten und Äußerungen geben, um solche Praktiken zu beenden.“ Dies birgt jedoch Schwierigkeiten, weil praktisch alle politischen Parteien im rumänischen Parlament in ihren Parteiprogrammen die Wiederherstellung des „Großen Rumänien“ anstreben. Im Kern geht es um die Abtretung ukrainischer Gebiete an Rumänien. Dies betrifft die ukrainischen Provinzen des heutigen Czernowitz und Odessa sowie das ganze Moldawien. Einige rumänische Politiker streben gar nach einer sogenannten „Transmission“. Dabei geht es um die bislang ukrainischen Gebiete, die fast bis zu Kirowograd reichen.23 Wenngleich die Verwirklichung dieser parteipolitischen Ziele schwer vorstellbar erscheint, besteht für über 900.000 Einwohner des ukrainischen Teils der Bukowina bereits die Möglichkeit, den rumänischen Pass zu erwerben.
V. Fazit In der klassischen ukrainischen Rechtslehre werden zumeist zwei Problemkreise der doppelten Staatsangehörigkeit diskutiert. Zum einen geht es um die Ausübung der politischen Rechte. Dies wird gerade im Wahlrecht virulent. Es ist bei Inhabern doppelter Staatsangehörigkeit unklar, in welcher Weise diese das aktive und passive Wahlrecht ausüben können oder sollen. Von Seiten der ukrainischen Regierung wird davon ausgegangen, dass die Staatsangehörigen nur gegenüber einem Staat Inhaber politischer Rechte und Pflichten sein können. Alles andere wäre nach ukrainischem Staatsangehörigkeitsgesetz rechtswidrig. Der zweite Problemkreis betrifft die Ableistung des Wehrdienstes. Als Staatsangehöriger eines anderen Staats kann in der Ukraine der Wehrdienst nicht geleistet werden. Der Wehrdienst ist in der Ukraine aber für jeden männlichen Bürger vorgeschriebene Pflicht. Der Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Staates kollidiert mit diesem normativ abgeleiteten Pflichtenverständnis. Nachdem sich aber die Ukraine dem Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit24 von 1997 angeschlossen hat, sollte dieses Problem zumindest bezüglich der europäischen Staaten ausgeräumt sein. Die gesamte Diskussion über die doppelte Staatsangehörigkeit in der Ukraine ist überdies von dem Dilemma geprägt, dass die Anrainerstaaten einerseits hierzu grundverschiedene Positionen bezüglich des gleichen Gegenstandes haben und andererseits die Staatsangehörigen des einen Staates in großer Mehr___________ 23 24
http://www.bbc.co.uk/ukrainian/ukraine/2010/06/100630_romania_passport_ak. shtml. http://conventions.coe.int/treaty/ger/Treaties/Html/166.htm.
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heit auf dem Staatsgebiet des anderen Staates leben. Bei tatsächlicher oder vermeintlich wahrgenommener Bedrohungslage von Auslandsstaatsangehörigen auf dem Gebiet der Nachbarstaaten kann der jeweilige Heimatstaat seine Staatsbürger auch außerhalb der eigenen Staatsgrenzen schützen. Die Ergreifung solcher „Schutzmaßnahmen“ ist heutzutage nicht nur von theoretischer Bedeutung. Die Ereignisse der letzten Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion demonstrieren, dass solche Auseinandersetzungen real und die Konsequenzen hieraus schwerwiegend und tragisch sind. Als Beispiel wäre hier die „Friedenserzwingung“ durch Russland und der Kaukasische Krieg im Jahre 2008 zu nennen. Offiziell hieß es, dass Russland eigene Bürger auf dem Gebiet Südossetiens schütze. Zuvor wurden die russischen Pässe an die Bewohner von Südossetien allerdings großzügig verteilt. In der Folge hat sich Südossetien von Georgien abgespalten und einen unabhängigen Staat ausgerufen, welcher derzeit neben Russland und Venezuela auch von Nicaragua, Nauru und Tuvalu völkerrechtlich anerkannt wurde. In der Ukraine sind ähnliche Ereignisse seitens der Staaten, deren ethnische Gruppen in der Ukraine leben, sei es Ungarn, Rumänien oder der Slowakei, nur schwer vorstellbar. Dies unabhängig davon, ob solche ethnischen Gruppen neben ukrainischen auch die nationalen Pässe der jeweiligen anderen Staaten haben. Es bleibt aber die Halbinsel Krim, in deren Einzugsbereich die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, und dass russische hochrangige Politiker wiederholt die historische Gerechtigkeit und die Zugehörigkeit der Halbinsel Krim zu Russland proklamieren. * * *
Abstract Viktor Kostiv: Country Report Ukraine (Länderbericht Ukraine), in: National Right to Vote and International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 175-192. Suffrage is closely linked to provisions on citizenship. They govern the relationship between the Ukrainian state and the citizens within and outside of its borders. Since a legislative change in 2012 there has been, among other things, a ban on dual citizenship (so-called “multiple citizenship”) explicitly implemented in Ukrainian legislation, with utmost adverse consequences for anyone possessing dual citizenship. In particular, they are permanently denied access to employment as a civil servant, and any civil servant with dual citizenship is removed from civil service. Additionally, there are now heavy fines associated with it. The problem of dual citizenship is particularly difficult in certain parts of Ukraine. Especially on the Crimean peninsula, where 58% of the residents
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have both Ukrainian and Russian citizenship. The reasons for this are historical in nature and are linked to the stationing of the Russian Black Sea fleet. To this day the conflict has not been resolved. Also in the bordering Romanian province of Chernivtsi, more and more Ukrainian citizens are obtaining Romanian passports, which is in turn related to likewise controversial Romanian policy. In classical Ukrainian jurisprudence, multiple citizenship is generally a heated debate in two aspects. The issues are the exercise of political rights and compulsory military service. The predominant view considers multiple citizenship unconstitutional due to irresolvable conflicts with regard to both aspects and adheres to the legal clarification from 2012. The law does, however, come under criticism due to its strict legal consequences. In addition to the dogmatic considerations, one must also take into consideration the impact of multiple citizenship where the countries in question have diverging interests. In light of the events in South Ossetia and Georgia, with significant participation by Russia in the generous naturalization of foreign citizens – which led in 2008 to the Russo-Georgian War – it is clear that the discussion is not only theoretical but its impact is real and its consequences can be grave and tragic. There is no reason to worry about the same thing happening in Hungary. With regard to the right to vote, members of parliament are elected in Ukraine through a combined majority and proportional electoral system. One half of the members of parliament are directly elected, and the other half is appointed to parliament based on party placing. Both active and passive suffrage are linked – in addition to the possession of Ukrainian citizenship – to additional requirements, especially to age and other more specifically designated conditions. A residence is binding – at least explicitly – only with passage suffrage. For the past five years up to election day, candidates must have had a place of residence within the Ukrainian borders or fit into a more precisely designated statutory exception. But even the active right to vote is limited by a decision on binding residency made by the constitutional court in 2012 in that Ukrainians living abroad are excluded from participation in the direct election of representatives and they can only participate in the electoral list.
Länderbericht Frankreich Von Dominique Breillat
I. Einleitung Frankreich ist kein Auswanderungsland. Es ist eher ein Einwanderungsland. Das Phänomen der Auswanderung ist ziemlich neu. Inzwischen findet man immer mehr Franzosen, die im Ausland wohnen. Am 31. Dezember 2011 waren 1.594.303. Franzosen im Weltregister der Franzosen außerhalb Frankreichs aufgeführt, darunter 114.372 in Deutschland. Das sind im Vergleich zu 2010 6 % mehr.1 Aber nicht jeder Auslandsfranzose ist registriert. Man schätzt daher, dass ihre Gesamtzahl mindestens 2.200.000. beträgt. Ein Teil der Auslandsfranzosen hat sich aus rein privaten Gründen dafür entschieden, in einem fremden Land zu wohnen. Zum Beispiel wollen immer mehr Senioren in sonnigen Ländern leben, wie Spanien, Tunesien oder Marokko. Aber die meisten Franzosen, die Frankreich verlassen, sind Angestellte, die im Auftrag ihrer Arbeitgeber ins Ausland gehen. Diese Franzosen unterhalten aber oft noch enge Verbindungen zu ihrem Land und einer inländischen Gemeinde, wo sie sehr oft ein Haus besitzen oder Verwandte haben. Für diese Personen ist die Ausübung ihres Wahlrechts nicht einfach. Noch schwieriger ist dies für diejenigen, die schon lange im Ausland leben, die im Ausland geboren sind, die außer der Staatsangehörigkeit nichts mehr mit Frankreich verbindet. Wie und wo können sie wählen? Im französischen Recht setzt die Wahlbeteiligung traditionellerweise die Eintragung in eine Wählerliste voraus. Die Frage ist: Auf welcher Wählerliste kann der Auslandsfranzose eingetragen sein? Eine Zeit lang haben wir nach einer angemessenen Wählerliste gesucht und behandelten damit den Auslandsfranzosen wie einen gewöhnlichen Wähler (dazu II.). Die Lösungen, die wir in dieser Richtung gefunden hatten, waren aber nicht befriedigend. Daher war es nötig, die Auslandsfranzosen anders zu behandeln. Sie bilden heute eine besondere Wählerschaft, weil sie über ein eigenes Kontingent an Senatssitzen und Abgeordnetenmandaten in der Nationalversammlung verfügen (dazu III.). ___________ 1
Vgl. http://www.diplomatie.gov.fr/fr/les-francais-a-l-etranger.
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II. Der Auslandsfranzose als gewöhnlicher Wähler Die Ausübung des Wahlrechts war in Frankreich immer mit einem Gemeindewohnsitz in einem bestimmten Wahlbezirk verknüpft. Daher waren viele Franzosen, die diese Voraussetzung nicht erfüllten, oder sich auch nur länger oder dauerhaft außerhalb ihres Wahlbezirks aufhielten, rechtlich oder praktisch von der Wahl ausgeschlossen. Sie waren die „marginaux de la Démocratie“ – die Außenseiter der Demokratie. Bis 1958 nahmen sie daher nur selten an Gemeinderats-, Départementrats- oder Abgeordnetenwahlen teil. Nach 1958 aber gewann das demokratische Wahlrecht an Bedeutung. Die Volksabstimmungen wurden zahlreicher, ab 1962 wurde der Staatspräsident direkt gewählt, seit 1979 werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments und seit 1986 die Mitglieder des Regierungsrates direkt gewählt. Unter diesem Eindruck ist man eine allmähliche Verbesserung der Bedingungen zur Ausübung des Wahlrechts angegangen. 1. Die Feststellung eines Wahlortes für Wohnsitzlose Ein erstes Problem stellte sich mit den Franzosen, die zwar nicht im Ausland, sondern im Inland leben, aber gleichwohl nicht über einen Wohnsitz verfügen. Das sind zum einen die Obdachlosen – die „gens du voyage“ oder Wandersleute genannt – und zum anderen die Flussschiffer. Für die Obdachlosen hatte die Wohnsitzabhängigkeit der Wahlrechtsausübung gewiss diskriminierenden Charakter; sie waren bei den Franzosen nicht gut angesehen. Anders die Flussschiffer: Sie standen und stehen in gutem Ansehen. Gleichwohl verfügen auch sie nicht über einen Wohnsitz im eigentlichen Sinne. Ihr „domus“ ist schwimmend. Die Sozialgesetze lösen das Problem seit jeher, indem sie für ihre örtliche Anwendbarkeit auf das Zulassungsamt des Schiffes abstellen.2 Einen Wohnsitz im Sinne des Wahlrechts begründet das aber nicht. Erst mit dem Gesetz vom 12. April 1946 wurde den Flussschiffern die praktische Möglichkeit zu wählen eröffnet. Sie konnten sich in einer der 33 Gemeinden, die im Art. L.15 des Code électoral, dem französischen Wahlgesetzbuch, aufgelistet sind, eintragen. Diese Liste gilt auch heute noch. Die dort aufgeführten Gemeinden sind natürlich solche, die eine Schifffahrttätigkeit aufweisen, z.B. in Ostfrankreich: Vitry-le-François, Nancy, Metz, Straßburg, Colmar, Mühlhausen. Dabei handelt es sich also um eine Sonder- oder Ausnahmeregelung. Die Flussschiffer konnten demnach auch ohne ständigen Aufenthalt in einer Gemeinde, ohne Wohnsitz und ohne Eintragung in das lokale Steuerregister in eine Wählerliste aufgenommen werden. Zur praktischen Aus___________ 2
Décret-loi du 12 novembre 1938.
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übung ihres Wahlrechts konnten sie sich der Briefwahl bedienen, auf diese Weise aber nur an Nationalwahlen teilnehmen. Die Regelung wurde sodann im Jahre 1958 durch Art. 102 des Code Civil neu gefasst.3 Die Frage des Wahlrechts für die „gens du voyage“ blieb hingegen lange ungelöst. Erst das Gesetz vom 3. Januar 1969 eröffnete ihnen die Möglichkeit, auch ohne Wohnsitz sesshaft zu sein, ihr Wahlrecht auszuüben, indem sie sich seither in einer Wählerliste einer sogenannten „Anknüpfungsgemeinde“ registrieren lassen können. 2. Die Wahlausübung durch Ortsabwesende „Das Problem der Wahlteilnahme der Ortsabwesenden ist eines der kompliziertesten des Wahlrechts. Einerseits soll deren Wahlbeteiligung erleichtert werden. Andererseits darf dadurch aber nicht die Teilnahme von Scheinwählern begünstigt werden.“ Dies schrieben André und Francine Demichel vor 40 Jahren.4 Der Umgang mit den ortsabwesenden Wählern, die in Frankreich leben, beeinflusste aber auch die Entwicklung, die die wahlrechtliche Behandlung der Auslandsfranzosen genommen hat. Diejenigen Auslandsfranzosen, die schon auf einer inländischen Wählerliste eingetragen waren, konnten ihr Wahlrecht schon früh auch aus dem Ausland wahrnehmen. Mit dem Gesetz vom 12. April 1946 war die Briefwahl erlaubt worden. Zuvor war die Briefwahl nur ausnahmsweise, unter engen Voraussetzungen und nur für bestimmte Wahlen zulässig: Nur bei Vorliegen beruflicher oder gesundheitlicher Gründe, die eine örtliche Stimmabgabe hinderten, und nur bei Nationalwahlen und Volksabstimmungen. Seither, von 1946 bis 1975, galt sie als eine fast gewöhnliche Art zu wählen. Sie war bei allen Arten von Wahlen und aus vielfältigen, schließlich insgesamt 26 verbindlich geregelten Gründen erlaubt. Diese Praxis eröffnete freilich auch Wahlbetrügereien Tür und Tor. Es ist wohl dies der hauptsächliche Grund dafür, dass die Möglichkeit der Briefwahl auf das Gebiet des französischen Mutterlandes beschränkt war. ___________ 3
„Les bateliers et autres personnes vivant à bord d’un bateau de navigation intérieure immatriculé en France, qui n’ont pas le domicile prévu à l'alinéa précédent ou un domicile légal, sont tenus de choisir un domicile dans l’une des communes dont le nom figure sur une liste établie par arrêté du garde des sceaux, ministre de la justice, du ministre de l’intérieur et du ministre des travaux publics, des transports et du tourisme. Toutefois, les bateliers salariés et les personnes vivant à bord avec eux peuvent se domicilier dans une autre commune à condition que l’entreprise qui exploite le bateau y ait son siège ou un établissement; dans ce cas, le domicile est fixé dans les bureaux de cette entreprise; à défaut de choix par eux exercé, ces bateliers et personnes ont leur domicile au siège de l’entreprise qui exploite le bateau et, si ce siège est à l’étranger, au bureau d’affrètement de Paris.“ 4 A. et F. Demichel, Droit électoral, Dalloz, Paris 1973, p. 188.
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In überseeischen Départements und Gebieten war sie nicht gestattet. Auf einer französischen Insel erschien die Gefahr des Betrugs durch Scheinwähler oder den Austausch von Stimmzetteln offenbar besonders groß. Mit dem Gesetz vom 31. Dezember 1975 wurde die Briefwahl schließlich abgeschafft und durch die Wahlteilnahme mittels eines Vertreters ersetzt. Für die Auslandsfranzosen stellte dies allerdings keine Neuerung dar. Die Variante der Ausübung des Wahlrechts durch einen Vertreter war als Ausnahme schon mit der Verordnung vom 20. November 1958 (58-977) eingeräumt worden. Zu den Wählern, die auf diese Weise ihre Stimme abgeben konnten, gehörten also seit jeher die französischen Bürger, die im Ausland niedergelassen und im jeweiligen Konsulat registriert waren. Mit dem Gesetz vom 30. Juli 1963 entfiel dann die Voraussetzung der konsularischen Registrierung. Seitdem konnten also alle Auslandsfranzosen ihr Wahlrecht durch einen Vertreter im Mutterland ausüben lassen. Bis heute ist diese Art der Wahlteilnahme durchaus üblich, und zwar bei den Auslandsfranzosen ebenso wie bei den zum Wahltag Ortsabwesenden innerhalb Frankreichs; für diese ist es sehr leicht, einen Grund zu finden, um durch einen Vertreter zu wählen. Es liegt auf der Hand, dass damit die Gefahr des Wahlbetrugs keineswegs eingedämmt ist. Sie rührt freilich nicht nur aus dem Umstand der Vertretung selbst, sondern auch aus der Notwendigkeit, dass der vertretene Berechtigte in einer örtlichen Wählerliste eingetragen sein muss, also z.B. der des französischen Überseegebiets. Überdies wird man ganz grundsätzlich sagen müssen, dass die Teilhabe an einer Wahl durch eine Vertretungsperson allen Prinzipien des Wahlrechts widerspricht. Insbesondere und offenkundig beeinträchtigt sie das Wahlgeheimnis. Der Wähler muss ja seinem Vertreter vorher bekanntgeben, welchem Kandidaten oder welcher Partei dieser seine Stimme geben soll. Auch die Grundsätze der persönlichen Stimmabgabe und der Gleichheit der Wahl werden erschüttert. Denn der Vertreter, selbst ein Wähler, erscheint zweimal an der Wahlurne. Schließlich und abgesehen davon werden Wahlmüdigkeit und Wahlverdrossenheit gefördert, und zwar gerade auch bei den Auslandsfranzosen. Denn die Stimmabgabe durch einen Vertreter setzt eine enge Vertrauensbeziehung zwischen dem Wahlberechtigten und seinem Vertreter voraus. Sehr oft aber können Auslandsfranzosen keinen derartigen Vertrauten vor Ort einer Inlandsgemeinde finden, in deren Wahlliste sie sich dann eintragen lassen könnten. 3. Die Instrumentalisierung des Wahlrechts der Auslandsfranzosen Im Jahre 1978 wurde die Lage für Präsident Giscard d’Estaing – 1974 gewählt – politisch brisant. Im März sollten Parlamentswahlen stattfinden. Nach 1974 hatte aber die Opposition regelmäßig jede Wahl und besonders im Jahre 1977 die Gemeindewahlen gewonnen. Die Regierung befürchtete daher eine Niederlage in der kommenden Parlamentswahl.
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Hintergrund dieser Befürchtung ist, dass die Abgeordneten der Nationalversammlung in Frankreich nach reinem Mehrheitswahlrecht in den Wahlbezirken gewählt werden. Daher hielt die Regierung gleichsam Ausschau nach „geneigten“ oder „guten“ Wählern, die in unsicheren Wahlbezirken Unterstützung leisten könnten – und diese fand man in den Auslandsfranzosen. So diese denn überhaupt ihr Wahlrecht ausübten, hatten sie in der Vergangenheit mehrheitlich rechts oder in einer Gemeinde, in der die Rechte schon beherrschend war, gewählt. Der Innenminister meinte daher, dass es besser wäre, erstens alle Auslandsfranzosen in Wahllisten einzutragen und zweitens dafür unsichere Wahlbezirke vorzusehen. So weit kam es dann zwar nicht. Doch die Versuchung blieb. Normalerweise bedarf es für die Wahlteilnahme in Frankreich der Eintragung in eine Wählerliste in der Gemeinde, in der der Wähler seinen Wohnsitz hat oder in der er seine direkten Steuern bezahlt. Obwohl sich die Rechtsprechung zu diesen Voraussetzungen sehr liberal verhielt, konnte sie von den Auslandsfranzosen nicht oder kaum erfüllt werden. Seit 1913 gab es für sie nur die Möglichkeit, in der Gemeinde zu wählen, in der sie beim Militär eingetragen waren. Für Frauen war diese Regelung freilich ohnehin wirkungslos; sie waren überhaupt erst ab 1944 wahlberechtigt. Sodann bestimmte die Verordnung vom 7. Juni 1945, dass Auslandsfranzosen in der Gemeinde ihres letzten Wohnsitzes oder ihres letzten Aufenthalts oder in ihrer Geburtsgemeinde wahlberechtigt seien. Damit blieben aber weiterhin diejenigen außen vor, die im Ausland geboren waren und nie in Frankreich gewohnt hatten. Auch nachfolgende Gesetze, die diesem Problem abzuhelfen suchten, erfassten immer noch nicht alle Auslandsfranzosen, wie z.B. die Anknüpfung an jene Gemeinde, in der einer der Vorfahren des Auslandsfranzosen geboren oder eingetragen war. Dies ließ weiterhin etwa die „Pieds Noirs“ in Algerien unberücksichtigt, die mit der Unabhängigkeit des Landes Auslandsfranzosen geworden waren. In Algerien geboren, stammten sie sehr oft aus spanischen oder italienischen Familien und hatten nie im europäischen Frankreich gelebt. Auch die algerischen Juden, die schon durch den Crémieux-Erlass vom 24. Oktober 1970 Franzosen geworden waren, lebten bereits seit Jahrhunderten in Algerien. Solchen „ungewöhnlichen“, bislang ausgeschlossenen Auslandsfranzosen eröffnete dann das Gesetz vom 4. Dezember 1972 die Möglichkeit, sich in die Liste irgendeiner Gemeinde mit mehr als 50.000 Einwohnern einzutragen, sofern sie damit nicht die Grenze von 2 % der örtlichen Wählerschaft überschritten. Das war ein Novum. Man konnte so ohne „Wahlschnur“, also ohne innere Verbindung zu einer Gemeinde in Frankreich, an Wahlen teilnehmen. Das Prinzip wurde sodann mit dem Gesetz vom 19. Juli 1977 auf alle Auslandsfranzosen erstreckt. Diese konnten sich seither – unter der bleibenden Voraussetzung der 2%-Grenze – in einer Gemeinde ihrer Wahl mit mehr als 30.000 Einwohnern in die Wählerliste eintragen lassen.
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Die Manipulationsanfälligkeit dieser Regelung trat jedoch sogleich bei ihrer ersten Anwendung augenfällig hervor. Sie hat viel öffentliche Polemik und viele Klagen provoziert. Selbst der Verfassungsrat erkannte, dass das Gesetz den Auslandsfranzosen die Freiheit einräume, sich ihre Wahlgemeinde nach den eigenen politischen Vorzügen und den Chancen ihres Einflusses auf den Wahlausgang auszusuchen. Der Skandal war ziemlich groß, insbesondere im Hinblick auf die Franzosen der Elfenbeinküste, die, um Kandidaten in Montpellier und Paris zu unterstützen, von dort Vertreterbesuche bekommen hatten. Als die Linke im Jahre 1981 an die Regierung kam, hat sie diese Regelung erwartungsgemäß abgeschafft. Mit dem Gesetz vom 19. November 1982 wurde so zur Frage der Wahlgemeinde für Auslandsfranzosen Rechtssicherheit geschaffen. Art. L.12 des Wahlgesetzbuches verfügt: „Die Franzosen und die Französinnen, die außerhalb Frankreichs niedergelassen sind, und die im Konsulat von Frankreich registriert sind, können auf Abruf in die Wahlliste einer der folgenden Gemeinden eingetragen werden: Geburtsgemeinde, Gemeinde des letzten Wohnsitzes, Gemeinde des letzten Aufenthaltsorts unter der Voraussetzung, dass dieser Aufenthaltsort mindestens sechs Monate andauerte, Gemeinde, in der ein Vorfahr geboren war oder in der Wahlliste eingetragen ist oder war, Gemeinde, in der einer der Verwandten bis zum vierten Verwandtschaftsgrad eingetragen ist“.5 Aber ist es denn überhaupt nötig, für den Auslandsfranzosen eine Wahlgemeinde zu finden? Ist es insoweit notwendig, ihn wie einen „gewöhnlichen“ Wähler zu behandeln? Oder ist er nicht ein „besonderer“ Wähler, der anderen Bestimmungen unterworfen werden muss?
III. Der Auslandsfranzose als besonderer Wähler In Frankreich ist die Idee der Unteilbarkeit der Republik, der Einheit der Republik und des Volkes sehr wirkmächtig. Die rechtliche Lage muss für jeden Franzosen gleich sein. Nur vor diesem Hintergrund kann man verstehen, dass es in Frankreich von Rechts wegen keine Minderheit gibt. Wenn Frankreich einen Vertrag ratifizieren will und darin besondere Bestimmungen für Minderheiten enthalten sind, erklärt das Land entweder einen Vorbehalt oder fügt eine Deklaration an, um solche besonderen Rechte und damit die Existenz einer Minderheit nicht anerkennen zu müssen. Die Idee, die Auslandsfranzosen wahlrechtlich anders als die „gewöhnlichen“ Wähler zu behandeln, wird dadurch nicht gerade gefördert. Dennoch gibt es für sie Sonderbestimmungen, die etwa vor 60 oder 70 Jahren noch undenkbar waren. ___________ 5 Vor der Verordnung 2005-461 vom 13. Mai 2005 verfügte der Artikel L.12: Gemeinde, in der Abkömmlinge im ersten Verwandtschaftsgrad eingetragen sind.
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Für den Auslandsfranzosen im Inland eine Wahlgemeinde zu finden, war von vornherein kein guter Ansatzpunkt. Es galt zu akzeptieren, dass er häufig keinerlei lebendige Beziehungen zu einer Gemeinde in Frankreich hat. Daher darf er selbstverständlich auch nicht an lokalen Wahlen teilnehmen (Gemeinderat, Regionsrat). Gleichwohl ist er Franzose. Folglich muss er zumindest die Möglichkeit haben, an nationalen Wahlen teilnehmen zu können. Diese Wahlen (Präsidentschaftswahl, Parlamentswahl, Europawahl) stehen nicht in Verbindung mit einem örtlichen Gebiet (Gemeinde, Département, Region), wohl aber in Verbindung mit dem Staat selbst. Mit dieser Einsicht ist man schließlich zu neuen Lösungen gelangt. 1. Der Auslandsfranzose bei Präsidentschaftswahlen und Volksabstimmungen Der französische Wahlgesetzgeber hat zunächst einen Unterschied zwischen lokalen und nationalen Wahlen eingeführt. Für einige – nicht alle – nationale Wahlen gilt nun, dass man an ihnen auch ohne „Wahlschnur“, also auch ohne den Nachweis einer Verbindungsgemeinde, teilnehmen kann. Das betrifft diejenigen Wahlen bzw. Abstimmungen, deren Bezirk ganz Frankreich ist: Volksabstimmungen, Präsidentschaftswahlen und auch die Wahlen zum Europäischen Parlament bis zum Jahre 2004. Schon an den Volksabstimmungen von 1958, 1961 und 1962 konnten die Auslandsfranzosen vom Ausland aus mitwirken; auf einen Wahlort im Inland kam es nicht an. Diese Praxis hatte das Verfassungsänderungsgesetz von 1976 zum Prinzip gemacht. Die Franzosen, die im Ausland niedergelassen sind, können sich seither auf Abruf in einer Wahlstelle in einem fremden Land eintragen. Diese Wahlstelle wird mit der Zustimmung des Gaststaates errichtet. Einige Staaten jedoch, wie z.B. Schweiz, Deutschland und Kanada lehnen das ab, weil sie darin eine Beeinträchtigung ihres Herrschaftsbereichs sehen und zudem befürchten, dass weitere, insbesondere auswanderungsstarke Staaten, mit dem gleichen Ersuchen an sie herantreten. Solche Wahlstellen sind in den Botschaften oder Konsulaten untergebracht. Für die Nachbarstaaten Frankreichs, die nicht in dieser Weise kooperieren, gibt es Wahlstellen in den Départements, die an der Staatsgrenze liegen. Um eingetragen zu werden, muss man in dem Bezirk der Wahlstelle niedergelassen sein und natürlich im Übrigen die gleichen Bedingungen der Wahlberechtigung wie die anderen Franzosen erfüllen. Was die Wahlkampagnen und die Wahl selbst betrifft, begegnen freilich Eigentümlichkeiten. Die jeweiligen Gaststaaten schätzen die Wahlversammlungen nicht. Daher finden dort eine Wahlwerbung und ein Wahlkampf nur sehr begrenzt statt, und die Stimmenauszählung nach der Wahl findet in den eigenen, also französischen diplomatischen Gebäuden statt.
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Diese Wahlmöglichkeit hatte das vorbenannte Gesetz ausdrücklich für die Präsidentschaftswahl geregelt, sie aber dann im letzten Paragraph auch auf die Volksabstimmungen erstreckt. Beide, die Parlamentswahlen und die Volksabstimmungen waren im Jahre 1976 die einzigen Wahlen, die nur einen einzigen Wahlbezirk – ganz Frankreich – kannten. 1979 kam dann die Wahl zum Europäischen Parlament hinzu, so dass die Auslandsfranzosen auch hierbei ihre Stimme in einer der Wahlstellen im Ausland abgeben konnten. Seit 2004 ist Frankreich jedoch für die Europawahl in acht Wahlbezirke eingeteilt. Seither muss also der Auslandsfranzose, der an der Europawahl teilnehmen will, einem dieser Wahlbezirke zugeordnet werden, mithin eine Verbindungsgemeinde im Inland nachweisen. Die Alternative wäre, einen neunten Wahlbezirk für Auslandsfranzosen zu begründen; dann könnten sie sich auch insoweit an eine der ausländischen Wahlstellen begeben. Da das aber nicht der Fall ist, gibt es folglich im Ergebnis drei Arten von wahlberechtigten Auslandsfranzosen: diejenigen, die nur in den Wählerlisten der Wahlstellen eingetragen sind; diejenigen, die sowohl in den Wählerlisten der Wahlstellen als auch in denjenigen einer Gemeinde eingetragen sind; schließlich die Auslandsfranzosen, die nur in der Wählerliste einer Gemeinde vermerkt sind. Die drei Typen zeigen an, inwieweit der jeweilige Auslandsfranzose im Ausland bzw. noch im Inland integriert ist oder nicht. Ungeachtet dessen blieb freilich auch die Wahlstellenlösung bei Präsidentschaftswahlen und Volksabstimmungen nicht ohne Einwände. Der Verfassungsrat hat das Gesetz zwar in einer kurzen und bündigen Entscheidung für verfassungsmäßig angesehen.6 Im Parlament vertraten jedoch einige Abgeordnete die Auffassung, die Wählerlisten in den Wahlstellen verstießen gegen das Prinzip der Einheit der Wählerlisten. Tatsächlich haben wir es mit einer Dualität von Wahllisten zu tun. Das Gesetz nennt daher die Listen bei den Wahlstellen nicht Wählerlisten, sondern Stellenlisten. Das aber ist nicht mehr als ein begrifflicher Trick. Die Stellenlisten sind ebenso Wählerlisten. Die Einheit der Wählerlisten aber gehört nach der Meinung des Abgeordneten und Professors Jean-Pierre Cot zu einem der Grundprinzipien der Französischen Republik. Diese Prinzipien werden in der Präambel der Verfassung der IV. Republik im Jahre 1946 erwähnt und stehen seit der Präambel der Verfassung der V. Republik von 1958 auch heute noch in Verfassungsrang. Jedoch wenn es auch keine Einheit in den Wählerlisten gibt, so gilt aber jedenfalls das Prinzip der Einheit in der Wahl. Das bedeutet zumindest, dass der Auslandsfranzose, der im Ausland wählt, nicht nochmals in einer französischen ___________ 6 Décision no 75-62 DC du Conseil constitutionnel du 28 janvier 1976, Loi organique sur le vote des Français établis hors de France pour l’élection du Président de la République, Rec. p. 26; L. Favoreu et L. Philip, Chronique, Revue du droit public, 1977, p. 452.
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Gemeinde zur Wahl gehen darf. Eine mehrfache Wahlteilnahme ist selbstredend nicht erlaubt. So widersprechen die Stellenlisten zwar nicht dem Prinzip der Einheit der Wahl, bergen aber das Risiko seiner Verletzung im Einzelfall. 2. Der Auslandsfranzose mit eigenen Vertretern bei Parlamentswahlen In unserer Parlamentsgeschichte hatten wir immer wieder Ausländer als Abgeordnete: z. B. Clavière aus Genf, Thomas Paine aus England und Amerika, Anarcharsis Clootz aus Preußen. Aber wir hatten nie Abgeordnete besonders für die Auslandsfranzosen. Lediglich einige Kolonien waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg durch eigene Abgeordnete parlamentarisch vertreten. Ab 1946 wurde das anders. a) Die Senatoren der Auslandsfranzosen Die Auslandsfranzosen und die Franzosen der Kolonien spielten eine große Rolle im französischen Widerstand und im Kampf der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. In der vorläufigen beratenden Versammlung von 19437 gab es einige Sitze für die Widerstandsorganisationen außerhalb Frankreichs. Diese kamen meistens aus Kolonien, aber auch aus Protektoratsländern und dem sonstigen Ausland. In der verfassunggebenden Versammlung von 1945 bis 1946 gab es dann zwei Abgeordnete für Tunesien und drei für Marokko. Die schließlich vom Volk angenommene Verfassung der IV. Republik sah zwar keine besonderen Abgeordnetenkontingente für die Auslands- oder Protektoratsfranzosen vor. Aber im Rat der Republik (heute: Senat) wurden nicht nur für Franzosen aus Tunesien und Marokko und ab 1948 aus Indochina, sondern auch für die Auslandsfranzosen im Übrigen Sitzkontingente geschaffen. Zunächst, d.h. ab 1946, wurden sämtliche Republikräte von der Nationalversammlung gewählt. Die Wahlrechtsänderung von 1948 brachte dann besondere Bestimmungen für Tunesien, Marokko und Indochina, während es für die Räte der sonstigen Auslandsfranzosen bei der Wahl durch die Nationalversammlung blieb. Die Verfassung der V. Republik von 1958 hob dann diesen Unterschied auf. Tunesien, Marokko und Indochina waren inzwischen unabhängig geworden, und die einheitliche Vertretung von allen Auslandsfranzosen wurde zum Verfassungsbestandteil: „Die außerhalb Frankreichs ansässigen Franzosen sind im Senat vertreten“. Zu Beginn waren für sie sechs Senatorensitze vorgesehen: ___________ 7 Ordonnance du 17 septembre 1943. Cf. E. Katz-Blamont, L’Assemblée consultative provisoire, Office français d’édition, Alger 1944, pp. 27-29 und 31-32.
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drei für Afrika (zwei für den Maghreb, einer für Schwarzafrika), zwei für Amerika-Europa-Nahost und einer für Asien-Ozeanien. Zudem galt für diese Auslandssenatoren nicht mehr, dass sie wie die anderen Senatoren von der Nationalversammlung gewählt werden. Stattdessen wurden sie von dem Obersten Rat der Auslandsfranzosen vorgeschlagen. Dieser Rat bestand aus gewählten sowie aus ernannten oder Mitgliedern kraft Amtes. Da die derart – in einer Liste – vorgeschlagenen Kandidaten sodann vom Senat gewählt wurden, hatte diese Wahl mehr den Charakter einer Kooptation.8 Politisch gehörte keiner der so bestimmten Senatoren der Linken an, und einige von ihnen waren in dem schon erwähnten (oben, Ziff. III) Skandal von 1978 um die manipulative Gewinnung von Auslandsfranzosen für „unsichere“ Wahlbezirke verstrickt. So kann man verstehen, dass die Sozialisten, als sie an die Macht kamen, eine tiefgreifende Änderung des Systems der Senatorenwahl anstrebten. Die große Reform brachten das Gesetz vom 7. Juni 1982 und das Verfassungsänderungsgesetz vom 17. Juni 1983.9 In einem ersten Schritt, dem weitere Verfassungs- und Gesetzesänderungen ab 2003 folgten, wurde der Oberste Rat der Auslandsfranzosen demokratisiert. Seither trägt er die Bezeichnung Versammlung der Franzosen im Ausland. Deren Mitglieder werden direkt von den außerhalb Frankreichs ansässigen Franzosen in ihren jeweiligen Konsulaten gewählt. Zu den derart gewählten 150 Mitgliedern treten weitere 22 hinzu, die vom Außenministerium ernannt werden. Präsident der Versammlung ist kraft Amtes der französische Außenminister. Zum zweiten stehen den Auslandsfranzosen nunmehr 12 Senatorensitze zu. Sie werden von den gewählten Mitgliedern der Versammlung der Auslandsfranzosen, also mittelbar gewählt; die weiteren Mitglieder der Versammlung haben dabei nur beratende Stimme. Die Wahl erfolgt nach den Regeln des Verhältniswahlrechts10 – bei gleichzeitiger Wahrung der Geschlechterparität durch das Gebot alternierender Besetzung der Wahllistenkandidaten. Insoweit entspricht die Wahl der Auslandssenatoren der Senatorenwahl durch die Wahlkollegien (im Wesentlichen der Gemeindevertreter) derjenigen großen Départements, die mindestens vier Senatoren stellen – während in den meisten übrigen Départements mit maximal drei Senatoren in den Wahlkollegien das Mehrheitswahlrecht gilt. Insgesamt zählt der Senat heute 348 Senatoren; sie werden für eine Amtsdauer von sechs Jahren und zur Hälfte alle drei Jahre neu gewählt. ___________ 8
J. Roche, Le Sénat de la République dans la Constitution de 1958, RDP 1959, p. 1147. 9 Vgl. dazu Décision n° 83-157 DC du 15 juin 1983, Loi organique relative à la représentation au Sénat des Français établis hors de France, Rec. p. 23. 10 Art. L. 295 Code électoral.
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Von Beginn an war die politische Rechte im Senat dominierend. Mit der Reform von 1982/83 und der Einführung des Verhältniswahlsystems konnten jedoch auch für die Auslandsfranzosen vermehrt Sozialisten in den Senat einziehen. Heute werden die Auslandsfranzosen von acht Senatoren der UMP (rechts),11 drei Sozialisten12 und einem Ökologen (Grüne)13 vertreten. Seit September 2011, zum ersten Mal in der Geschichte, liegt die Mehrheit im Senat bei den Linken. Nach seiner Wahl im Jahre 2012 hatte Präsident Hollande einen Ausschuss für Erneuerung und Deontologie des öffentlichen Lebens gegründet. Den Vorsitz hatte der ehemalige Ministerpräsident Jospin.14 Dieser Ausschuss legte am 9. November 2012 einen Bericht vor,15 der einen bemerkenswerten Vorschlag enthielt, nämlich das Senatorenkontingent für die Auslandsfranzosen abzuschaffen. Denn der Senat gewährleiste, so die Begründung, nach Art. 24 der Verfassung ausdrücklich „die Vertretung der Gebietskörperschaften der Republik“, wozu die Auslandsfranzosen aber nicht zählen würden.16 Der Vorschlag konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Weiterhin bestimmt Art. 24 der Verfassung ebenso, dass „die außerhalb Frankreichs ansässigen Franzosen … im Senat vertreten [werden]“. b) Die Abgeordneten der Auslandsfranzosen Die Einführung von Abgeordneten der Auslandsfranzosen in der Nationalversammlung war die letzte große Etappe in der zusammenhängenden Geschichte ihrer politischen Beteiligung. Als Vorbild konnten schon einige andere Staaten dienen, wie z.B. Italien, Kroatien, Mazedonien und Tunesien. Die Beteiligung der Auslandsfranzosen an den Präsidentschaftswahlen und den Volksabstimmungen wie auch an den Wahlen zum Senat war zwar erreicht worden. Doch von der Nationalversammlungswahl und von der Wahl zum Europäischen Parlament waren diese Landsleute noch ausgeschlossen. Dabei schien es sich doch gerade aufzudrängen, schlicht das Modell der Senatoren zu übertragen: besondere Abgeordnetensitze für Auslandsfranzosen in der Natio___________ 11 J.-P. Cantegrit, seit 1977, C. Cointat, seit 2001, R. Del Picchia, seit 1998, L. Duvernois, seit 2001, A. Ferrand, seit 1998, C. Frassa, seit 2008, J. GarriaudMaylam, seit 2004 und C. Kammermann, seit 2004. 12 J.-Y. Leconte, seit 2011, C. Lepage, seit 2008 und R. Yung, seit 2004. 13 K. Ango Ela, seit 2012. 14 Décret n° 2012-876 du 16 juillet 2012, Journal official du 17 juillet 2012. 15 Commission de rénovation et de déontologie de la vie publique, Pour un renouveau démocratique, Documentation française, Paris 2012, und http://www.commissionrdvp.gouv.fr/Rapport_Commission_RDVP.pdf. 16 Commission (Fn. 15), p. 46.
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nalversammlung und im Europäischen Parlament. Bis heute ist ein solcher Fortschritt aber nur für die Nationalversammlung getan worden. Im Hinblick auf das Europäische Parlament ist die Lage hingegen seit der Gründung der acht französischen Wahlbezirke im Jahre 2008 schwierig geworden. Zudem ist die Zahl der Europaabgeordneten für Frankreich nach dem europäischen Vertragswerk auf 74 Abgeordnete begrenzt. Wenn demnach ein zusätzlicher Bezirk der Auslandsfranzosen gegründet würde, müsste man aus anderen Bezirken Abgeordnetensitze abziehen. Dagegen wird sich verständlicherweise Widerstand erheben. Das vergleichbare Problem bestand denn auch im Hinblick auf die Zuerkennung von Abgeordnetenmandaten für die Auslandsfranzosen in der Nationalversammlung. Aber insoweit konnte, erstmals für die Wahl von 2012, eine Regelung gefunden werden: Ausgangspunkt ist die bedeutende Verfassungsänderung von 2008. 47 Artikel wurden entweder neu geschaffen oder geändert. Die Annahme des Verfassungsgesetzes vom 21. Juli 2008 durch den Französischen Kongress (Nationalversammlung und Senat) fiel allerdings denkbar knapp aus. Die erforderliche Mehrheit von drei Fünfteln wurde mit nur einer Stimme übertroffen. Seither aber heißt es in Art. 24 der Verfassung: „Die außerhalb Frankreichs ansässigen Franzosen werden in der Nationalversammlung und im Senat vertreten“. Damit musste freilich zugleich auch das Problem gelöst werden, dass Art. 24 der Verfassung ebenso bestimmt, dass die Zahl der Abgeordneten der Nationalversammlung „höchstens fünfhundertsiebenundsiebzig betragen kann“. In Folge dessen musste also die Zahl für die Abgeordneten des Mutterlandes niedriger sein und entsprechend die Zahl der Wahlbezirke kleiner ausfallen. Allerdings waren zuvor auch wegen der Fluktuation der Bevölkerung schon einige Bezirke verschwunden. So wurde entschieden, dass im Mutterland ebenso wie im Ausland auf je 125.000 Einwohner ein Abgeordnetensitz entfallen sollte. Daraus ergaben sich für die Auslandsfranzosen elf Mandate, also weniger als im Senat! Diese Abgeordneten werden wie die Abgeordneten des Mutterlandes in ihrem Wahlbezirk nach Mehrheitswahlsystem in zwei Wahlgängen gewählt (die Linken wollten allerdings hier das Verhältniswahlsystem). Dazu hat die Regierung die ganze Welt in elf Bezirke eingeteilt: Kanada und die Vereinigten Staaten; Mittel- und Südamerika; die Britischen Inseln; Skandinavien und die Baltischen Staaten; die Benelux-Länder; die Iberische Halbinsel und Monaco; die Schweiz und Liechtenstein; Deutschland und Mitteleuropa; Italien, Griechenland, die Türkei und Israel; der Maghreb und Westafrika; Ost- und Südafrika, der Mittlere Osten und die Arabische Halbinsel; Russland und der Kaukasus; sowie Asien und Ozeanien. Wie „üblich“ folgte diese Aufteilung der Wahlbezirke nach den Prinzipien des „Gerrymandering“. Sie sollte, nach der Zielsetzung des Innenministers, die politische Rechte begünstigen.
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Wegen der räumlichen Entfernung wählen die Auslandsfranzosen ihre Abgeordneten eine Woche vor den Franzosen des Mutterlandes.17 Dafür ist das Internet ein bedeutendes Mittel. Die Auslandswähler können sowohl über das Internet als auch direkt in den Wahlstellen der Konsulate,18 mit Briefwahl. oder durch Vertreter19 wählen. Im ersten Wahlgang 2012 haben 57,4 % über das Internet gewählt. Auch die Wahlkampagnen haben sich des Internets bedient. So erhielten die Kandidaten die elektronischen Adressen der Wähler, sofern diese bei der Eintragung in die Wählerliste im Konsulat angegeben wurde. Der Nachhall auf diese neue Beteiligungsmöglichkeit war allerdings absolut gesehen sehr mäßig. Es gab 2012 insgesamt 178 Kandidaten. Aber diese relativ hohe Zahl scheint die Wähler nicht besonders angeregt zu haben. Die Wahlbeteiligung betrug lediglich 20,4 % im ersten Wahlgang und 19,07 % im zweiten Wahlgang. Die Rechte, die erwartete, dass sie fast alle Abgeordnetensitze erringen würde, war besonders enttäuscht. Die Sozialisten haben mehr Sitze gewonnen als vermutet. In der Präsidentschaftswahl erzielte zwar Nicolas Sarkozy (UMP) bei den Auslandsfranzosen schon im ersten Wahlgang den ersten Platz. Bei der Nationalversammlungswahl aber waren im ersten Wahlgang die Sozialisten und ihre Verbündeten, die Grünen, in sieben Bezirken auf dem ersten Platz gelandet; und im zweiten Wahlgang haben die Sozialisten sieben Sitze errungen, die Grünen einen Sitz,20 die Rechte (UMP) hingegen nur drei.21 Auch im siebten Bezirk, in dem Deutschland liegt, hat ein Sozialist, Pierre-Yves Le Borgn‘ gewonnen. Der Erfolg der Sozialisten 2012 wird die wahlrechtliche Lage der Auslandsfranzosen stabilisieren. Wenn die Rechte gewonnen hätte, hätten die Sozialisten das Abgeordnetenkontingent der Auslandsfranzosen wahrscheinlich abgeschafft oder wenigstens die Gliederung der Wahlbezirke modifiziert. Mit dem Wahlerfolg aber wird das Wahlrecht der Auslandsfranzosen bis auf Weiteres unverändert bleiben.
IV. Schluss – oder: Neue Einführung Wir können glauben, dass die wahlrechtliche Entwicklung für die Auslandsfranzosen mit der Zuerkennung eigener Abgeordneter in der Nationalversammlung ihren Epilog gefunden hat. Doch es bleibt noch die entsprechende Zuwei___________ 17
Im Jahre 2012 war die Wahl am 3. und 17. Juni, und, wegen des Zeitunterschieds, am 2. und 16. Juni in Nord und Südamerika. 18 Zum Beispiel gab es in Frankfurt am Main vier Wahlstellen – drei im Lycée français Victor Hugo und eine im Konsulat. 19 Ein Vertreter darf drei Vollmachten (procurations) besitzen, während ein Vertreter im Mutterland nur zwei haben darf. 20 Mittel- und Südamerika. 21 Schweiz und Liechtenstein; Ost- und Südafrika; Russland, Asien und Ozeanien.
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sung von besonderen Abgeordneten im Europäischen Parlament. Hat, abgesehen davon, damit die Freizügigkeit der Bürger bei der demokratischen Ausformung des nationalen Wahlrechts in Frankreich hinreichende Berücksichtigung erfahren? Für die Mutterlandsfranzosen stellt sich insofern ohnehin kein Problem, und den Belangen der Auslandsfranzosen ist nun einigermaßen Rechnung getragen, wenn es auch noch einige – aber wenige – Hindernisse gibt. Die bleibende, große Lücke ist hingegen das Wahlrecht für Ausländer in Frankreich. Die Debatte darüber wird seit 1981, seit der Wahl von François Mitterand zum Präsidenten, geführt. In Frankreich hing das Wahlrecht fast durchgängig mit der Staatsangehörigkeit zusammen. Nur eine Ausnahme gab es zu Beginn der Französischen Revolution: Die erste Verfassung vom 24. Juni 1793 erwähnte keine ausdrückliche Staatsangehörigkeitsbedingung für die Ausübung des Wahlrechts (wenngleich dessen Verlust bei Einbürgerung im Ausland normiert worden war). Art. 4 der Verfassung verfügte: „Jeder in Frankreich geborene und ansässige Mann, der das Alter von 21 Jahren erlangt hat, jeder Ausländer, der das Alter von 21 Jahren erlangt hat, in Frankreich seit einem Jahre ansässig ist und dort von seiner Arbeit lebt oder ein Besitztum erwirbt oder eine Französin geheiratet hat oder ein Kind annimmt oder einen Greis ernährt, jeder Ausländer endlich, von dem die gesetzgebende Körperschaft erklärt, dass er sich um die Menschheit besonders verdient gemacht hat, ist zur Ausübung der Rechte eines französischen Bürgers zugelassen.“ Tatsächlich hatten wir in unseren revolutionären Versammlungen drei ausländische Abgeordnete, unter denen den Preußen Anarcharsis Clootz. Diese Aufgeschlossenheit oder Großzügigkeit verlor sich indessen in der Folgezeit. Die Staatsangehörigkeit wurde nach und nach zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die Wahlberechtigung. In den 1970er Jahren gewannen die Erfahrungen, die man in Skandinavien mit dem Ausländerwahlrecht gemacht hatte (z. B. in Schweden in 1975) in einigen politischen Kreisen in Frankreich an Einfluss. Dabei ging es um die Beteiligung an lokalen Wahlen. Der Einfluss wirkte sich auch auf den Präsidentschaftswahlkampf 1981 aus. In dem 110-Punkte-Programm des Kandidaten Mitterand forderte der Vorschlag Nr. 80 für alle Ausländer: „Wahlrecht für die Gemeinderatswahl nach fünf Jahren Anwesenheit auf dem französischen Staatsgebiet“. Doch in Anbetracht der nahenden Gemeinderatswahl von 1983 fürchtete die Regierung diese Wahlreform. Der inzwischen gewählte Präsident Mitterand meinte, die öffentliche Meinung sei noch nicht bereit dafür, und es sei auch nötig, zuvor die Verfassung zu ändern. Im Wahlkampf von 1988 wiederholte der neuerliche Präsidentschaftskandidat François Mitterand sodann, dass er schon immer für das kommunale Ausländerwahlrecht gewesen sei, aber die Bevölkerung immer noch nicht dafür bereit sei. Der entscheidende Durchbruch kam mit dem Europäischen Vertrag von Maastricht von 1992. Der neue Art. 8 b Abs. 1 EUV (heute: Art. 20 Abs. 2 UA
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1 lit. b AEUV) bestimmte: „Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats“. Um die damit aufgeworfene verfassungsrechtliche Problematik zu entschärfen, hatte der französische Staatschef im Rahmen des Art. 54 der Verfassung den Verfassungsrat angerufen. In seiner Entscheidung vom 9. April 1992 erklärte der Rat die Verfassungswidrigkeit des Vertrages in drei Punkten, darunter auch das aktive und passive Wahlrecht der Unionsbürger bei Kommunalwahlen. Der Verfassungsrat befand, dass „das Beschlussfassungsorgan einer Gebietskörperschaft der Republik nur aus einer allgemeinen Wahl hervorgehen kann; dass der Senat in dem Maße, in dem er die Vertretung der Gebietskörperschaften der Republik wahrnimmt, von einer Wählerschaft gewählt werden muss, die selbst Ausdruck dieser Körperschaften ist; dass daraus folgt, dass die Bestimmung der Mitglieder in den Gemeinderäten Auswirkungen auf die Wahl der Senatoren hat; dass der Senat, in seiner Eigenschaft als Kammer des Parlaments, an der Ausübung der nationalen Souveränität mitwirkt; dass somit Artikel 3 Absatz 4 der Verfassung zur Folge hat, dass nur die ‚französischen Staatsbürger‘ das aktive und passive Wahlrecht bei Wahlen für die Besetzung eines Beschlussfassungsorgans einer Gebietskörperschaft der Republik und insbesondere für die Wahl der Gemeinderatsmitglieder oder der Mitglieder im Rat von Paris haben“. Was hingegen das Wahlrecht der Unionsbürger bei der Wahl zum Europäischen Parlament anbetrifft, so hatte der Rat den Vertrag von Maastricht akzeptiert. Demzufolge musste die Verfassung geändert werden, und das wurde schließlich mit dem Verfassungsgesetz vom 25. Juni 1992 bewirkt. Danach wurde der Art. 88-3 eingefügt: „Vorbehaltlich der Gegenseitigkeit und nach Maßgabe der Bestimmungen des am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrags über die Europäische Union kann Unionsbürgern mit Wohnsitz in Frankreich das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen gewährt werden. Diese Bürger dürfen weder das Amt eines Bürgermeisters oder das eines Abgeordneten ausüben noch an der Benennung der Wähler für die Senatswahlen und an der Wahl der Senatoren teilnehmen. Das Nähere regelt ein von beiden Kammern im gleichen Wortlaut beschlossenes verfassungsausführendes Gesetz“. Nach dieser Verfassungsänderung hat der Verfassungsrat erwartungsgemäß in seiner Entscheidung vom 2. September 1992 die Verfassungsmäßigkeit des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger festgestellt. Allerdings verzögerte Frankreich die Umsetzung der entsprechenden Durchführungsrichtlinie. Ausländische Unionsbürger konnten in Frankreich erst 2001 zum ersten Mal an Kommunalwahlen teilnehmen – wobei sie in ihrem passiven Wahlrecht gemäß Art. 88-3 der Verfassung begrenzt sind. Alle anderen Ausländer blieben jedoch
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generell vom Wahlrecht ausgeschlossen. Daher verabschiedete die Nationalversammlung am 3. Mai 2000 in erster Beratung ein Verfassungsgesetz, das das lokale Wahlrecht für alle Ausländer vorsah. Aber dieser Gesetzesvorschlag kam nie auf die Tagesordnung des Senats. Doch die Debatte dauert an. In ihren Wahlprogrammen schlagen die Linksparteien nach wie vor das Ausländerwahlrecht vor. Es gibt auch Stimmen in der Rechten, die sich dafür aussprechen, wie Gilles de Robien, Jean-Louis Borloo oder Nicolas Sarkozy. Im Jahre 2005 sagte er: „Ich bin mit dem Wahlrecht der Ausländer für den Gemeinderat persönlich einverstanden“, und er bedauerte, dafür „keine Mehrheit zu haben“. Im Laufe des Präsidentschaftswahlkampfes von 2012 nahm er allerdings einen ganz anderen Standpunkt ein. In einem Brief an das französische Volk schrieb er: „Das Wahlrecht kann nur den französischen Bürgern gewährt werden, weil es eine beständige und besondere Verbindung zwischen … dem Wahlrecht und … der Identität Frankreichs gibt“. Der politische Wechsel von 2011/12 scheint mehr Chancen für eine Anerkennung des Ausländerwahlrechts zu öffnen. Seit 2001 steht die politische Mehrheit im Senat links, und diese Mehrheit hat am 8. Dezember 2011 auch jenes Verfassungsgesetz, das 11 Jahre vorher von der Nationalversammlung verabschiedet worden war, ebenfalls beschlossen. Zudem hat Präsident François Hollande im Wahlkampf 2012 im Vorschlag Nr. 50 seines Wahlprogramms formuliert: „Ich werde den Ausländern, die seit 5 Jahren gesetzmäßig ansässig in Frankreich leben, das Wahlrecht gewähren“. Das Kommunalwahlrecht für (alle) Ausländer war also eines der umstrittensten Themen im Präsidentschaftswahlkampf; und das Feuer ist noch nicht gelöscht! Die Schwierigkeit des Problems rührt auch aus der Gestalt des Verfassungsänderungsverfahrens. Verfassungsänderungen benötigen die Zustimmung jeder Kammer (Nationalversammlung, Senat) – diese Etappe ist erfüllt – sowie nachfolgend eine Ratifizierung, die entweder durch eine positive Volksabstimmung oder – bei Verfassungsgesetzentwürfen aus der Exekutive – durch den Kongress (Nationalversammlung und Senat) mit einer 3/5-Mehrheit erreicht wird. Der verfassungsändernde Gesetzentwurf vom 3. Mai 2000, der am 8. Dezember 2011 auch vom Senat angenommen worden war,22 stammte aus der Nationalversammlung. In diesem Fall ist also die Ratifizierung nur im Wege einer Volksabstimmung möglich. Eine Volksabstimmung ist in Frankreich aber immer „gefährlich“. Die schon im Jahre 2005 entstandene, polemisch aufgeladene Stimmungslage besteht heute noch. Die öffentliche Meinung ist schwankend; gestern war sie dafür, heute ist sie dagegen. Wie aber würde die politische Stimmung in Frankreich am Tage der Volksabstimmung sein? Alternativ könnte der Präsident einen neuen Verfassungsänderungsentwurf unterbreiten. In ___________ 22
Eine letzte Beratung (lecture) soll noch im Abgeordnetenhaus stattfinden.
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diesem Fall bedürfte es, nach der Zustimmung in den beiden Kammern, der Ratifizierung im Kongress. Würde dann dort die notwendige 3/5-Mehrheit erreicht? Daran kann man zweifeln! Der amtierende Präsident hat zwar tatsächlich den Wunsch geäußert, dass das Wahlrecht für Ausländer im Jahre 2013 eingeführt wird. Aber in welchem Verfahren? Der Weg ist voller Hindernisse. Dennoch hat der seinerzeitige Regierungschef Jean-Marc Ayrault am 29. Januar 2013 gesagt, dass die Verfassungsänderung gemäß dem Vorschlag Nr. 50 des Präsidenten in seinem Wahlprogramm demnächst, noch im Sommer 2013, stattfinden könnte. Stattfinden „könnte“ oder stattfinden „wird“? Die Anerkennung der totalen Freizügigkeit der Menschen im Zuge der demokratischen Ausformung des nationalen Wahlrechts könnte noch lange auf sich warten lassen!23 * * *
Abstract Dominique Breillat: Country Report France (Länderbericht Frankreich), in: National Right to Vote and International Freedom of Movement (Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit), ed. by Gilbert H. Gornig, HansDetlef Horn und Dietrich Murswiek (Berlin 2014), pp. 195-211. The development of suffrage for French expatriates has come a long way. Its development also makes clear that the formulation of electoral law is always influenced by political calculation for maintaining power. Today French expatriates are recognized as a special group of voters. To exercise their right to vote, they no longer have to show proof of a domestic place of residence or a link to a community in their home country to participate in national elections (presidential elections, referenda, senate elections, elections to the national assembly). They can vote via the Internet, by absentee ballot, or by submitting their vote to an election office at their consulate or through a domestic representative. In the Senate they carry a contingent of 12 seats and in the National Assembly 11 seats. The senators of the French expatriates are indirectly elected by the members of the Assembly of the French expatriates who were elected by them. They directly elect their representatives in the National Assembly. French expatriates are only excluded from participating in the European Parliament elections if they cannot meet the voter registration requirements for registration in a municipal voters list. ___________ 23 Ich möchte mich bei Frau Ariso und Frau Morelle für die wertvolle Hilfe an der Bearbeitung dieses Textes bedanken.
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With regard to the suffrage of foreigners, France allows EU citizens to participate in local elections on the basis of European law and a corresponding constitutional amendment. Legislation granting an extension of suffrage to all foreigners has to date not been passed due to its political volatility.
Die Autoren / The Authors Prof. Dr. Dominique Breillat Persönliche Angaben / Personal Data: Dominique Breillat (geb. 1945) ist emeritierter Professor des Öffentlichen Rechts an der Universität Poitiers und Ehrendekan der Juristischen und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Er ist spezialisiert auf das vergleichende Verfassungsrecht, das Wahlrecht und die Menschenrechte und arbeitete zudem an den Beziehungen zwischen Recht und Sprachen. Er lehrte an zahlreichen ausländischen Universitäten und setzte sich sehr aktiv für die internationalen Beziehungen seiner Fakultät und seiner Universität ein. Alleine oder in Zusammenarbeit schrieb er Bücher über das Verfassungsrecht und die Menschenrechte. Ferner ist er der Verfasser eines Internetkurses in vergleichender Politikwissenschaft für die französischsprachige Jura Universität. Dominique Breillat (born 1945) is emeritus Professor in Public Law at the University of Poitiers and honorary Dean of the Faculty of Law and Social Sciences. He is a specialist of Comparative Constitutional Law, Electoral Law and Human Rights, and worked also on the relations between law and languages. He taught in numerous foreign universities and was very active for the international relations of his faculty and university. He wrote, alone or in collaboration, books on Constitutional Law and on Human Rights. He is also the author of a course in Comparative Political Institutions on internet for the frenchspeaking Law University.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Vergleichendes Verfassungsrecht; Wahlrecht; Menschenrechte; Recht und Sprache. Comparative Constitutional Law; Electoral Law; Human Rights; Law und Language.
Kontaktadresse / Contact Address: Doyen honoraire de la Faculté de Droit et des Sciences sociales de Poitiers 11 Impasse Bel Air 86000 POITIERS (FRANCE) e-mail: [email protected]
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Die Autoren / The Authors
Prof. Dr. Otto Depenheuer Persönliche Angaben / Personal Data: Otto Depenheuer (geb. 1953): Studium der Rechtswissenschaften in Bonn; 1979 Erste Juristische Staatsprüfung; 1983 Zweite Juristische Staatsprüfung; Assistent an der Universität Bonn; 1985 Promotion (Dr. iur.); 1992 Habilitation; 1991-1993 Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Münster und Halle/S.; 1993-1999 Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Mannheim; seit 1999 Lehrstuhl für Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik an der Universität zu Köln. Otto Depenheuer (born 1953): studied Law at the University of Bonn; 1979 First State Examination in Law; 1983 Second State Examination in Law; Research Assistant at the University of Bonn; 1985 Doctorate (Dr. iur.); 1992 Habilitation; 1991-1993 Replacement Professorships at the Universities of Münster and Halle/S.; 1993-1999 Head of Chair of Public Law and Legal Philosophy at the University of Mannheim; since 1999 Head of Chair of General Theory of the State, Public Law and Legal Philosophy as well as Director of the Department for Political Philosophy and Legal Policy at the University of Cologne.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staatstheorie, Staatsphilosophie und Staatsrecht; Eigentumsrecht; Recht der Inneren Sicherheit. State Theory, Political Philosophy and Public Law; Property Right; Law of Internal Security.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen. Eine verfassungsrechtliche Studie über die Grenzen sozialstaatlicher Ingerenz gegenüber freigemeinnützigen Krankenhäusern, 1986; Der Wortlaut als Grenze. Thesen zu einem Topos der Verfassungsinterpretation, 1988; Solidarität im Verfassungsstaat – Grundlegung einer normativen Theorie der Verteilung, 1991; Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1996; Öffentlichkeit und Vertraulichkeit. Theorie und Praxis der politischen Kommunikation (Hrsg.), 2001; Bericht zur Lage des Eigentums (Hrsg.), 2002; Verfassungstheorie (Mithrsg.), 2010; Wehrhafte Demokratie, in: Freistaatlichkeit, 2011; Erzählungen vom Staat. Ideen als Grundlage von Staatlichkeit (Hrsg.), 2011; Einheit – Eigentum – Effizienz (Mithrsg.), 2012; Eigentum, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2013; Vermessenes Recht, 2013; sowie zahlreiche weitere Aufsätze, Kommentarund Handbuchbeiträge.
Die Autoren / The Authors
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Kontaktadresse / Contact Address: Seminar für Staatsphilosophie und Rechtspolitik Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln e-mail: [email protected] Internet: http://www.staatsphilosophie.uni-koeln.de
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Dr. Dr. h.c. Alfred Eisfeld Persönliche Angaben / Personal Data: Alfred Eisfeld (geb. 1951 in Uva/UdSSR); Studium der Geschichte Ost- und Südosteuropas, der Politischen Wissenschaften und der Zeitungswissenschaften; 1983 Promotion in Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 1984-1987 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut München; 1987-1988 Wissenschaftlicher Referent des Göttinger Arbeitskreises e.V.; seit 1988 Geschäftsführer des Göttinger Arbeitskreises e.V.; seit 1990 Geschäftsführender Leiter des Instituts für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreises e.V.; 2002 bis 2010 Leiter der Abteilung Göttingen des Nordost-Instituts (IKGN e. V.); seit 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nordost-Institut (IKGN e. V.); 2013 Verleihung der Ehrendoktorwürde der Staatlichen Technischen Universität Saratov (Russland). Alfred Eisfeld (born 1951 in Uva/UdSSR); Study of History of East and South-East Europe, of Political Sciences and Sciences of Journalism; 1983 Doctorate in History of East and South-East Europe at the Ludwig-Maximilians-University of Munich; 19841987 Research Assistant at East-Europe-Institute Munich; 1987-1988 Research Lecturer of Göttinger Arbeitskreis e.V. (registered society – working group of Göttingen); since 1988 Executive Director of Göttinger Arbeitskreis e.V.; since 1990 Managing Director of Institute for German and East-Europe Research of the Göttinger Arbeitskreis e.V.; from 2002 till 2010 Director of the Göttingen-department at North-East-Institute (IKGN e.V.); since 2010 Research Assistant at North-East-Institute (IKGN e.V.); 2013 Awarding of the Honorary Doctorate of the State Technical University of Saratov (Russia).
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Geschichte und Kultur der Deutschen im Russischen Reich, in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten; Nationalitätenpolitik in Russland, der UdSSR und der GUS; deutsch-sowjetische, deutsch-russische und deutsch-ukrainische Beziehungen; Archivwesen in der GUS.
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Die Autoren / The Authors
History and Culture of Germans in the Russian Empire, in the Soviet Union and its Successor States; Nationalities Policy in Russia, of the UdSSR and of the GUS; German-Soviet, German-Russian and German-Ukrainian Relationships; Archives in the GUS.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Deutsche Kolonien an der Wolga 1917-1919 und das Deutsche Reich, Wiesbaden 1985; Die Aussiedlung der Deutschen aus der Wolgarepublik 1941-1957, 2003; Vom Stolperstein zur Brücke – die Deutschen in Russland, in: Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland. Bilanz und Perspektiven, 2009; Etappen eines langen Weges. Beitrag zur Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russland, 2010; Sind die Deutschen aus der UdSSR Vertriebene?, in: 70 Jahre Deportation der Deutschen in der Sowjetunion, 2011; Die Stalinschen Säuberungen der Jahre 1937-1938 und die Deutschen in der UdSSR, in: Dunkle Jahre. Zum Gedenken an die Opfer des „Großen Terrors“ und der Zwangsarbeitslager in der Sowjetunion, 2012; Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa, (Mithrsg), 2013; sowie zahlreiche weitere Beiträge.
Kontaktadresse / Contact Address: Nordost-Institut/IKGN e.V. Calsowstraße 54 D-37085 Göttingen e-mail: [email protected] Internet: http://www.ikgn.de
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Prof. Dr. Christian Hillgruber Persönliche Angaben / Personal Data: Christian Hillgruber (geb. 1963): Studium der Rechtswissenschaften in Köln; 1988 Erste Juristische Staatsprüfung; 1991 Promotion (Dr. iur.) an der Universität zu Köln. Zweite Juristische Staatsprüfung 1992; Assistent an der Universität zu Köln sowie Wiss. Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht; 1997 Habilitation an der Universität zu Köln. Zunächst Lehrstuhlvertretung, dann Professur für Öffentliches Recht an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg (1997/98), Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (1998-2002); seit 01.10.2002 Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Die Autoren / The Authors
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Christian Hillgruber (born 1963): Study of Law at the University of Cologne; 1988 First State Examination in Law; 1991 Doctorate (Dr. iur.) at the University of Cologne; Second State Examination in Law in 1992; Assistant at the University of Cologne as well as Research Assistant at the Federal Constitutional Court; 1997 Habilitation at the University of Cologne; initially Replacement Professorship, later Professorship of Public Law at the Ruprecht-Karls-University of Heidelberg (1997/98); Chair of Public Law, International Law and Legal Philosophy at the Friedrich-Alexander-University of Erlangen-Nürnberg (1998-2002); since 01.10.2002 Head of Chair of Public Law at the Rheinische Friedrich-Wilhelms-University Bonn.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staatsrecht; Völkerrecht; institutionelles Europarecht; Rechts- und Staatsphilosophie. Public Law; International Law; Institutional EU-Law; Law and State Philosophy.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992; Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz nationaler Minderheiten (zusammen mit M. Jestaedt), 1993; Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, 1998; Staat und Religion. Überlegungen zur Säkularität, zur Neutralität und zum religiös-weltanschaulichen Fundament des modernen Staates, 2007; 60 Jahre Bonner Grundgesetz - eine geglückte Verfassung?, (Mithrsg.), 2010; „Jedermann“ ist tot!, JZ 2012; GG-Grundgesetzkommentar (Mithrsg.), 2. Aufl. 2013; Mehr Rechtswissenschaften wagen!, JZ 2013; sowie weitere zahlreiche Aufsätze und Beiträge.
Kontaktadresse / Contact Address: Universität Bonn Lehrstuhl für Öffentliches Recht Lennéstr. 39 53113 Bonn e-mail: [email protected]
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Prof. Dr. Hans-Detlef Horn Persönliche Angaben / Personal Data: Hans-Detlef Horn (geb. 1960): 1980-1982 Ausbildung zum Bankkaufmann; 19821987 Studium der Rechtswissenschaften; 1987 Erste Juristische Staatsprüfung; 1989
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Die Autoren / The Authors
Promotion (Dr. iur.); 1992 Zweite Juristische Staatsprüfung; 1992-1998 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bayreuth; 1998 Habilitation (Dr. iur. habil.), Lehrbefugnis für Öffentliches Recht; 1998/1999 Lehrstuhlvertretung an der LudwigMaximilians-Universität München; seit 1999 Professor für Öffentliches Recht an der Philipps-Universität Marburg/Lahn; Gastprofessuren an der Nanjing University of Finance and Economics sowie an der Wuhan University, Volksrepublik China; ständige Gastvorlesungen an Immanuel Kant Baltische Föderale Universität Kaliningrad, Russland; 2003-2010 Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof; seit Oktober 2012 Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Hans-Detlef Horn (born 1960): 1980-1982 Training and Qualification as a Bank Clerk; 1982-1987 Studies in Law; 1987 First State Examination in Law; 1989 Doctorate (Dr. iur.); 1992 Second State Examination in Law; 1992-1998 Research Assistant at University of Bayreuth; 1998 Habilitation (Dr. iur. habil.); 1998/1999 Replacement Professorship at the University of Munich; since 1999 Professor of Public Law at University of Marburg/Lahn; Visiting Professor at Nanjing University of Finance and Economics and at Wuhan University, People’s Republic of China; current guest lecturer at Immanuel Kant Baltic Federal University Kaliningrad, Russia; 2003-2010 Judge at Superior Administrative Court of Hessen; since October 2012 Dean at Faculty of Law of the Philipps-University of Marburg.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staats- und Verfassungsrecht; Verfassungstheorie; Staatsphilosophie; Europarecht; Verwaltungsrecht; Öffentliches Wirtschaftsrecht; Sicherheits- und Polizeirecht. State and Constitutional Law; Constitutional Theory; State Philosophy; European Law; Administrative Law; Public Economic Law; Police Law.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989; Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung. Zur Dogmatik des Verhältnisses zwischen Gesetz, Verwaltung und Individuum unter dem Grundgesetz, 1999; Recht im Pluralismus (Hrsg.), 2003; Eigentumsrecht und Enteignungsunrecht – Teil 1, 2 und 3 (Mithrsg.), 2008, 2009; 2011; Erosion demokratischer Öffentlichkeit?, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 2009; Schutz der Privatsphäre in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2009; Demokratie, in: Verfassungstheorie, 2010; Zur Legitimation und Legitimität der Republik, in: Freistaatlichkeit, 2011; Die Grundrechtsbindung der Verwaltung, in: Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, 2012; Verbot von Ausnahmegerichten und Anspruch auf den gesetzlichen Richter, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2013; Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau (Mithrsg.), 2013; 20 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag (Mithrsg.) 2013; sowie zahlreiche weitere Aufsätze, Kommentar- und Handbuchbeiträge.
Die Autoren / The Authors
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Kontaktadresse / Contact Address: Institut für Öffentliches Recht Philipps-Universität Marburg Universitätsstraße 6 D-35037 Marburg e-mail: [email protected] Internet: http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/oeffrecht/horn/index.html
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Viktor Kostiv Persönliche Angaben / Personal Data: Viktor Kostiv (geb. 1978): Studium der Rechtswissenschaften in Uzhgorod (Ukraine); 2000 Abschluss mit Prädikat; 2003 Magister Legum an Juristischer Fakultät der TU Dresden (LL.M. Eur. Integration); 2004 Magister Legum am Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg; seit 2004 Doktorand am Fachbereich ebd. und selbstständiger Rechtsanwalt in der Ukraine; daneben Ausübung diverser Leitungstätigkeiten bei verschiedenen ukrainischen Unternehmen, zuletzt Managing Director bei der Investment Management Consulting LLC. Viktor Kostiv (born 1978): studied Law at the University of Uzhgorod (Ukraine); 2000 Graduation with Honours; 2003 Magister Legum at the Faculty of Law at the TU Dresden (LL.M. European Integration); 2004 Magister Legum at the Faculty of Law at the Philipps University of Marburg; since 2004 Doctoral Candidate at the same place as well as Self-Employed Attourney in Ukraine; in addition carrying out diverse Managerial Functions at various Ukrainian Companies; most recently Managing Director at Investment Management Consulting LLC.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Völkerrecht; Europarecht; Rechtsphilosophie. International Law; European Law; Legal philosophy.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Konkurrenz zwischen Positivismus und Naturrecht und die Rolle der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts für Menschenrechte im Ukrainischen Rechtssystem; Philosophische, Methodologische und Psychologische Rechtsprobleme: Materialien der IV. Internationalen wissenschaftlich-theoretischen Konferenz, Czernowitz, 2011.
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Die Autoren / The Authors
Kontaktadresse / Contact Address: Elektrozavodskast. 45/2 88000 Uzhgorod, Ukraine e-mail: [email protected]
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Prof. Dr. Dietrich Murswiek Persönliche Angaben / Personal Data: Dietrich Murswiek (geb. 1948): Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg, 1978 Promotion (Dr. iur.) in Heidelberg; nach juristischem Referendariat in Mannheim und Heidelberg von 1978-1984 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken; Habilitation 1984 in Saarbrücken; 1986-1990 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Göttingen; seit 1990 Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Deutsches und Internationales Umweltrecht an der Universität Freiburg; 1995-1997 Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Freiburg; seit 1998 Geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Öffentliches Recht. Dietrich Murswiek (born 1948): Study of Law at the University of Heidelberg; 1978 Doctorate (Dr. iur.) in Heidelberg; after Legal Clerkship in Mannheim and Heidelberg from 1978-1984 Research Assistant at the University of Saarland in Saarbrücken; Habilitation 1984 in Saarbrücken; 1986-1990 Professorship of Public Law at the University of Göttingen; since 1990 Ordinary Professor of Public and Administrative Law and at German and International Environmental Law at the University of Freiburg; 1995-1997 Dean of the Faculty of Law of Freiburg; since 1998 Managing Director of the local Institute of Public Law in Freiburg.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staatsrecht; Europarecht; Völkerrecht; Umwelt- und Technikrecht. Public Law; European Law; International Law; Environmental and Technical Law.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978; Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985; Aktuelle rechtliche und praktische Fragen des Volksgruppen- und Minderheitenschutzrechts, 1994 (zusammen mit Dieter Blumenwitz); Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung, 1999; Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz. Rechtsgutachten über die Zulässigkeit und Begründetheit verfas-
Die Autoren / The Authors
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sungsgerichtlicher Rechtsbehelfe gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und die deutsche Begleitgesetzgebung, 2. Aufl. 2008; Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unantastbares Verfassungsprinzip, in: Souveränitätsprobleme der Neuzeit 2010; Schutz der Minderheiten in Deutschland, 2012; Von der Stabilitätsunion zur Haftungs- und Transferunion, in: Festschrift Stürner, 2013; Verfassungsrechtliche Handlungspflichten zum Schutz der Verfassung, in: Beharren, Bewegen, 2013; Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau (Mithrsg.), 2013; sowie zahlreiche weitere Aufsätze, Kommentar- und Handbuchbeiträge.
Kontaktadresse / Contact Address: Universität Freiburg Institut für Öffentliches Recht Platz der Alten Synagoge 1 D-79085 Freiburg i. Br. email: [email protected]
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Prof. Dr. Katharina Pabel Persönliche Angaben / Personal Data: Katharina Pabel (geb. 1969): Studium der Rechtswissenschaften in Bonn; 1993 Erste Juristische Staatsprüfung; 1997 Zweite Juristische Staatsprüfung; Assistentin an der Universität Bonn, an der Universität Graz und an der Wirtschaftsuniversität Wien; 2000 Promotion (Dr. iur.); 2009 Habilitation; 2009-2010 Lehrstuhlvertretung an der Universität Köln; seit 2010 Professorin am Institut für Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre, Abteilung Rechtsschutz und Verwaltungskontrolle an der Universität Linz/Österreich; seit 2012 Institutsvorstand; seit 2012 Mitglied des Beratenden Ausschusses des UNMenschenrechtsrates; seit 2012 Stellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrats der Europäischen Grundrechteagentur; seit 2010 Nominierung als Ad-hoc-Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Katharina Pabel (born 1969): studied Law at the University of Bonn; 1993 First State Examination in Law; 1997 Second State Examination in Law; Research Assistant at the University of Bonn, the University of Graz and the Vienna University of Economics and Business; 2000 Doctorate (Dr. iur.); 2009 Habilitation; 2009-2010 Replacement Professorships at the University of Cologne; since 2010 Professor at the Institute for Administrative Law and Administrative Studies, Department of Legal Protection and Administrative Control at the University of Linz/Austria; since 2012 Head of the Institute; since 2012 Member of the Human Rights Council Advisory Committee; since 2012 Deputy Member of the Management Board of the EU Fundamental Right Agency; since 2010 nomination as ad hoc Judge at the European Court of Human Rights.
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Die Autoren / The Authors
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Deutsches und Österreichisches Verfassungsrecht; Österreichisches Verwaltungsrecht; Nationaler, Europäischer und Internationaler Grund- und Menschenrechtsschutz. German and Austrian Constitutional Law; Austrian Administrative Law; National, European and International Civil and Human Rights Protection.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst 2003; Parteiverbote auf dem europäischen Prüfstand, ZaöRV, 2003; Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den künftigen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Grundrechte im Europa der Zukunft, 2010; Beobachtungen zum Religionsgemeinschaftenrecht im österreichischen Staatskirchenrecht, in: Die Zukunft der Verfassung – Die Verfassung der Zukunft?, 2010; Die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips durch die Parlamente der Mitgliedstaaten, JRP 2011; Grundrechtecharta, Menschenrechtskonvention und nationale Grundrechte im Wechselspiel, Länderbericht Österreich des 25. FiDE-Kongresses 2012, in: The Protection of Fundamental Rights Post-Lisbon: The Interaction between the Charter of Fundamental Rights of the European Union, the European Convention on Human Rights and National Constitutions, 2012; Europäische Menschenrechtskonvention, München (gemeinsam mit Christoph Grabenwarter), 5. Aufl. 2012; sowie zahlreiche weitere Aufsätze und Beiträge.
Kontaktadresse / Contact Address: Johannes Kepler Universität Institut für Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre Altenbergerstraße 69 4040 Linz/Austria e-mail: [email protected] Internet: www.vwrecht.jku.at
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Prof. Dr. Elisabeth Sándor-Szalay Persönliche Angaben / Personal Data: Elisabeth Sándor-Szalay (geb. 1961 in Hatzfeld, Rumänien): 1981-1986 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Pécs/Fünfkirchen und 1982 sowie 1990 an der Universität Bayreuth; 1986-1993 Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Völ-
Die Autoren / The Authors
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kerrecht an der Universität Pécs, 1991 Promotion; 1993-1999 Wissenschaftliche Oberassistentin an der Universität Pécs; seit 1992 Gastprofessorin an den Universitäten Bayreuth, Budapest, Graz, Cluj-Napoca (Klausenburg); 1998 PhD; seit 1999 Univ.Dozentin am Lehrstuhl für Völker- und Europarecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Pécs/Fünfkirchen; 1999-2002 Bolyai Jänos-Stipendiatin der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; seit 2000 ständige Lehrbeauftragte (Europarecht) des Amtes für Richterausbildung in Budapest; seit Juli 2002 Pro-Dekanin und seit Dezember 2004 Dekanin der Juristischen Fakultät der Universität Pécs; seit 2014 Ombudsfrau für die Rechte der nationalen Minderheiten in Ungarn. Elisabeth Sándor-Szalay (born 1961 in Hatzfeld, Romania): 1981-1986 Studies in Law at the University of Pécs/Fünfkirchen as well as 1989 and 1990 at the University of Bayreuth; 1986-1993 Graduate Assistant at the Chair of International Law of the University of Pécs; 1991 Doctor Universitatis; 1993-1999 Senior Assistant at the University of Pécs; since 1992 Guest Professor at the Universities of Bayreuth, Budapest, Graz and Cluj-Napoca (Klausenburg); 1998 Doctor of Philosophy; since 1999 University Lecturer at the University of Pécs/Fünfkirchen, 1999-2002 Recipient of the Bolay Jänos Scholarship Award by the Hungarian Academy of Science; since July 2002 Vice Dean at the Faculty of Law of the University of Pécs; since December 2004 Dean at the Faculty of Law of the University of Pécs; since 2014 Deputy-Commissioner responsible for the Rights of National Minorities of Hungary,
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Minderheitenschutz; Status des Individuums im Völkerrecht sowie im Gemeinschaftsrecht; Institutionelles Recht der EU; Personenverkehrsfreiheiten im Gemeinschaftsrecht; EuGH: Verfahrensarten, Funktionsweise, Reform, Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte. Minority Protection; Status of Individuals in International and European Community Law; Institutional Law of the European Union; Free Movement of Persons in Community Law; European Court of Justice: Types of Proceedings, Functioning, Reform, Application of Community Law by International Courts.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Minderheitenschutz im Völkerrecht im 20. Jahrhundert, Budapest 2003; Rechtliche Grundlagen der Europäischen Union, I. Band, Budapest-Pécs 2003; Konvergenz der Grundrechte und Grundfreiheiten in der Europäischen Union, in: Festschrift für Prof. Antal Ádám, Pécs 2005; Rechtsschutz des Einzelnen vor dem EuGH aufgrund des Vertrages über die Verfassung für Europa: ein System des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, in: Jura 2004/1 (Pécs); Metamorphose des Grundrechtssystems der Europäischen Union, in: Europäisches Recht 2003/2 (Budapest); Minderheit – ein permanentes Konfliktpotential? Ein Mythos aus mitteleuropäischer Sicht, in: Minderheitenschutz und Demokratie, 2004; sowie zahlreiche weitere Aufsätze und Beiträge.
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Die Autoren / The Authors
Kontaktadresse / Contact Address: Universität Pécs, Rechtswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Völker- und Europarecht 48-as ter 1 H-7621 Pécs/Ungarn Tel.: 0036 72 501 599 / 3240DW e-mail: [email protected]
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Sach- und Personenverzeichnis / Subject Index and List of Names Allgemeinheit der Wahl 28 f., 33, 72 ff., 83, 87 f., 91, 170 Ausländerwahlrecht 45 ff., 79 f., 87, 146 ff., 208 ff. − Exklusion 45 f. − Inklusion 46 ff., 49 Auslandsbürgerwahlrecht − Deutschland 55 ff. − Frankreich 92, 195 ff., 201 ff., 203 ff. − Italien 92 − Niederlande 92 − Österreich 141 ff. − Ukraine 181 ff. − Ungarn 167 ff. − im Völkerrecht 162 ff. Auslandsdeutschenwahlrecht 55 ff. − als Ausnahme 57 ff., 68 − Bundesverfassungsgericht 58, 72 ff., 80 ff. − Neuregelung 80 ff. Ayrault, Jean-Marc 211 Bernhardt, Josef 121 Borloo, Jean-Louis 210 Bundesverfassungsgericht 43, 45 f., 48, 51, 58, 73 ff., 75 ff., 78 f., 80 ff., 91, 99 f., 101, 102, 110, 112 f. Chruschtschow, Nikita 188 Clavière 203 Clootz, Anarcharsis 203, 208 Cot, Jean-Pierre 202 Demichel, André und Francine 197 Demokratie − und Europäische Union 42, 52 − gegen Fremdherrschaft 42, 52 f.
− und Gebietshoheit 64 f. − und Herrschaftsbetroffenheit 46, 65, 90 − Idee 64, 65 f. − und Menschenwürde 44, 51, 52 − und Nationalstaat 40 ff. − als politische Entscheidung 66 − postnationale 41 ff. − Recht auf 20 ff., 25 ff., 30 ff., 35 − und Staatensouveränität 19 ff. − und Staatsgebiet 55 ff. − und Staatsvolk 39 ff. − und territoriale Staatlichkeit 59 ff. − im Völkerrecht 19 ff., 30 ff. − wehrhafte 39 Demokratisierung − im Völkerrecht 25 ff. Doehring, Karl 22 Einparteiensystem 23 Entdemokratisierung 36, 42 d’Estaing, Giscard 198 Eurokrise 39 f., 42 Europäische Union − und Demokratie 42, 52 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 33, 36, 165, 182 Europawahlrecht 34 f., 55 f., 205 f. Freiheit der Wahl 29, 32, 170 Freizügigkeit − europarechtliche 44, 55 f., 153 Froehlich, Georg 136 Gebietshoheit 61, 63 Gebietszugehörigkeit − und Staatsangehörigkeit 63 ff.
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Sach- und Personenverzeichnis / Subject Index and List of Names
Geheimheit der Wahl 198 Gleichheit der Wahl 29, 33, 34, 98, 99, 100, 102, 103, 105, 112, 114, 170 Grace, Jeremy 165 Grinin, Vladimir 130 Grundgesetz (Ungarn) 170 f. Grundmandatsklausel 98
− −
Hollande, François 205, 210
Nationalrat (Österreich) 135, 142 Nowak, Manfred 29
Internationaler Gerichtshof 20
Privilegien 97 ff. Rechtfertigung von Privilegien 100 ff., 106 ff. − Russlanddeutsche 117 ff. − Schutz von 104, 105, 111, 114 Mitterand, François 208 Moskal, Genadiy 190
Oberverwaltungsgericht Schleswig 110 f.
Janukowytsch, Wiktor 188 Jelzin, Boris 119, 121, 122 Jospin, Lionel 205 Juschtschenko, Wiktor 188
Paine, Thomas 203 Personalhoheit 61, 63 Petersen, Niels 21 Potjomkin, Grigori 187
Katharina II. 187 Kelsen, Hans 136, 151 Kommunalwahlrecht s. Unionsbürger Kosačev, Konstantin 129 Kossuth, Lajos 156 Kovac, Belo 185
Reiter, Bruno 121 Repräsentation 111 − demokratisch-parlamentarische 96 ff., 104, 105 f. de Robien, Gilles 210 Russlanddeutsche 117 ff. − Aussiedler 127 ff., 130 ff. − nationale Kulturautonomie 123 ff. − Rehabilitierung 119 ff. − Vertreibung 118 − Volksdeutsche 126 − Wolgadeutsche 117 ff.
Lawrow, Sergei 129, 132 Le Borgn’, Yves 207 Lübbe-Wolff, Gertrude 78, 79 Manchulenko, Grigoriy 191 Mandat 141 − Legalität und Legitimität 106 ff., 109 Martens, Heinrich und Olga 124 f., 126 Medwedew, Dmitri 188 Mehrparteiensystem 23 Menschenwürde − und Demokratie 44, 51, 52 − und doppelte Staatsangehörigkeit 48 f., 50 Merkl, Adolf 136 Minderheiten − dänische 98 − Diskriminierungsverbot 113 f. − in Frankreich 200 − nationale/ethnische 95, 101, 103, 154, 165 f., 170 f. − politische Teilhabe 96 f.
Sarkozy, Nicolas 207, 210 Scheinin, Martin 25 Schöbener, Burkhard 114 Selbstbestimmungsrecht der Völker 20 ff. Simonis, Heide 106 Sperrklausel 33, 97, 98, 101, 104, 107, 108, 180 Staatsangehörigkeit − doppelte 48 f., 50, 160, 161 f., 178 ff., 183 ff. − effektive 80 − Europäisches Übereinkommen 191 − und fremde Volkszugehörigkeit 100 ff. − Funktion 43 ff., 47 − und Gebietszugehörigkeit 63 ff.
Sach- und Personenverzeichnis / Subject Index and List of Names −
ius sanguinis 55, 64, 71, 156, 160, 176, 185 − ius soli 48, 64, 71 − Mehrfachstaatsangehörigkeiten 44, 48 f., 50 − österreichische 136, 137 f., 148, 161 − Reform 48 f., 67 − slowakische 161 f. − ukrainische 175 − ungarische 153 f., 158 ff. Staatsgebiet − und Staatsgewalt 60 ff. − und Staatsvolk 59 ff., 63 ff. Staatssouveränität 21, 40, 41 − Verlust 42 Staatsvolk − und Bevölkerung 42 f., 51 ff., 66 − Bundesvolk (Österreich) 135 − Integration 102, 112 − und Staatsangehörige 43 ff., 78 f. − und Staatsgebiet 59 ff., 63 ff. Südschleswigscher Wählerverband 98, 106, 107, 110, 113 Szemere, Bertalan 155 Unionsbürger − demokratische Mitwirkung 35 − Europawahlrecht 55 f. − Kommunalwahlrecht 55 f., 135, 146 f., 208 ff. Venedig-Kommission 56 f., 153, 166 Verfassungsgerichtshof (Österreich) 92, 136, 143 f., 146 ff. Verfassungsgerichtshof (Ukraine) 182 Verfassungsrat (Frankreich) 209 Volk s. Staatsvolk Volkssouveränität 20 f., 22, 26, 41, 63 Wahl s.a. Wahlrecht − Kommunikationsfunktion 75 f., 78 ff. − Kommunikationsteilhabe, ortsgebundene 77, 84 − Verantwortungszusammenhang 78 f., 154
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Wählerregistrierung 91, 171, 195, 199, 201 ff. Wahlgrundsätze s. Allgemeinheit; Freiheit; Geheimheit; Gleichheit der Wahl Wahlkreise − Einteilung 91, 96, 172 Wahlprüfung 90 Wahlrecht s.a. Wahlgrundsätze; Wahlkreise; Wählerregistrierung; Wahlsystem − aktives 28, 30, 32, 68 ff., 167 f., 180 − für Ausländer 45 ff., 66 f., 79 f. − für Auslandsdeutsche 55 ff. − und Aussiedler 127 ff., 130 ff. − Bestimmtheitsgebot 88 ff. − Briefwahl 91 f., 173, 197 f. − bei Europawahlen 55 f. − bei Kommunalwahlen 55 f. − im Konventionsrecht (EMRK) 30 ff., 140 f. − für Minderheiten s. dort − Mindestwahlalter 85 f. − in Österreich 135 ff. − passives 30, 32, 70 ff., 136, 169, 180 f. − und politische Vertrautheit 75 f., 77 f., 83, 86 ff. − als subjektives Recht 30 f., 168 − in Südtirol 149 ff. − in der Ukraine 180 ff. − in Ungarn 167 ff. − durch Vertreter 198 − im Völkerrecht 19 ff., 23 f., 27 ff., 92, 162 − und Volksdeutsche 126 − und (Inlands-)Wohnsitz 55 ff., 77, 84, 141 ff., 168, 169, 196, 199 f. Wahlsystem − Grundmandatsklausel s. dort − Mehrheitswahlsystem 29, 33, 199 − Sperrklausel s. dort − Ukraine 180 − Ungarn 172 − Verhältniswahlsystem 29, 33, 96, 101, 110 Wahlteilhabe s. Wahlrecht Werbőczy’s, István 155