198 49 9MB
German Pages 182 [188] Year 1880
Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen
von
Gotth. Ephr. Lessing.
Vierte Auflage.
Stuttgart.
G. I. Göschen'sche Berlagshandlung. 1879.
K. HofbuchdruSerei Zu Guttenberg (Carl Krituirrger)
in Stuttgart.
der Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen von
Gotth. Ephr. Leffing. Introite, nam et lieic Dii sunt’ Apud Qelliwn,
Schulausgabe mit Anmerkungen von den Profefforen Denzel und Kratz
in Stuttgart.
Sultan Saladin. Sittah, dessen Schwester.
Nathan, ein reicher Jude in Jerusalem. Recha, dessen angenommene Tochter.
Daja, eine Christin, aber in dem Hause des Juden als Gesell schafterin der Recha.
Ein junger Tempelherr.
Ein Derwisch.
Der Patriarch von Jerusalem. Ein Klosterbruder.
Gin Emir nebst verschiedenen Mameluken des Saladin.
Die Scene ist in Jerusalem.
Erster Aufzug. Erster Auftritt. Scene: Flur in Nathans Hause. Daja ihm entgegen»
Nathan von der Reise kommend.
§aja.
Er ist es! Nathan! Gott sei ewig Dank,
Daß Ihr doch endlich einmal wiederkommt.
Kathan.
Ja, Daja, Gott sei Dank! Doch warum endlich?
Hab ich denn eher wiederkommen wollen? Und wiederkommen können? Babylon
Ist von Jerusalem, wie ich den Weg Seitab bald rechts bald links zu nehmen bin
Genöthigt worden, gut zweihundert Meilen; Und Schulden einkassiren ist gewiß
Auch kein Geschäft, das merklich fördert, das
So von der Hand sich schlagen läßt. O Nathan»
Vaja. Wie elend, elend hättet Ihr indeß
Hier werden können! Euer Haus —
Das brannte.
Uathau.
So hab ich schon vernommen.
Gebe Gott,
Daß ich nur alles schon vernommen habe! Laja. Und wäre leicht von Grund aus abgebrannt.
Uathau.
Dann, Daja, hätten wir ein neues uns
Gebaut, und ein bequemeres. Lessing, Nathan.
1. Aufzug. 1. Austritt. Öiijst.
Schon wahr!
Doch Recha wär bei einem Haare mit
Verbrannt.
Nathan.
Verbrannt? Wer? meine Recha? sie?
Das hab ich nicht gehört.
Nun bann, so hätte
Ich keines Hauses mehr bedurft.
Verbrannt
Bei einem Haare! Ha! sie ist es wohl,
Ist wirklich wohl verbrannt! Sag nur heraus. Heraus nur! Tödte mich und martre mich Nicht länger.
Ja, sie ist verbrannt.
Wenn sie
Daja.
Es wäre, würdet Ihr von mir es hörend Kathan. Warum erschreckest du mich denn? O Recha! O meine Recha!
Daja.
Eure? Eure Recha?
Kathan. Wenn ich mich wieder je entwöhnen müßte. Dies Kind mein Kind zu nennen!
Daja.
Nennt Ihr alle-.
Was Ihr besitzt, mit eben so viel Rechte Das eure? Uathan.
Nichts mit größerm. Alles, was
Ich sonst besitze, hat Natur und Glück
Mir zugetheilt; dies Eigenthum allein Dank ich der Tugend. Daja.
O wie theuer laßt
Ihr eure Güte, Nathan, mich bezahlen,
Wenn Güt', in solcher Absicht ausgeübt, Noch Güte heißen kann! Kathan.
In solcher Absicht?
In welcher? 1 Wenn.. .hören — Wäre sie verbrannt, jo wäre auch ich Euch nie wieder unter die Augen getretm.
1. Auszug. 1. Austritt.
3
Mein Gewissen —
Vasa.
Daja, laß
Lathan.
Vor allen Dingen dir erzählen — Vaja.
Mein
Gewissen, sag ich —
Was in Babylon
Lathan.
Für einen schönen Stofs ich dir gekauft,
So reich und mit Geschmack so reich; ich bringe Für Necha selbst kaum einen schönem mit.
Doja.
Was Hilsts? Denn mein Gewissen, muß ich Euch
Nur sagen, läßt sich länger nicht betäuben. Lathan. Und wie die Spangen, wie die Ohrgehenke, Wie Ring und Kette dir gefallen werden.
Die in Damascus ich dir ausgesucht, Verlanget mich zu sehn.
So seid Ihr nun!
Vasa.
Wenn Ihr nur schenken könnt, nur schenken könnt!
Lathan. NiiNm du so gern als ich dir geb, und schweig! Vasa.
Und schweig! Wer zweifelt, Nathan, daß Ihr nicht
Die Ehrlichkeit, die Großmuth selber seid?
Und doch —
Lathan.
Doch bin ich nur ein Jude.
Geltx,
Das willst du sagen? flaja.
Was ich sagen will,
Das wißt Ihr besser. tlathau.
Nun so schweig!
vaja.
Ich schweige.
Was sträfliches vor Gott hierbei geschieht,
Und ich nicht hindern kann, nicht ändem kann, Nicht kann, komm über Euch!
1 Gelt — nicht wahr, entstanden aus „es gelte!"
4
I. Aufzug. 1. Austritt. Komm über mich!
Üathau.
Wo aber ist sie denn? wo bleibt sie? Daja, Wenn du mich hintergehst! Weiß sie es denn, Daß ich gekommen bin?
Daja.
Das frag ich Euch*!
Noch zittert ihr der Schreck durch jede Nerve.
Noch malet Feuer ihre Phantasie Zu allemwas sie malt.
Im Schlafe wacht,
Im Wachen schläft ihr Geist, bald weniger
Als Thier b, bald mehr als Engel. Armes Kind!
Lathan.
Was sind wir Menschen! Daja.
Diesen Morgen lag
Sie lange mit verschloßnem Aug und war Wie todt.
Schnell fuhr sie auf und rief: „Horch, horch!
„Da kommen die Kameele meines Vaters!
„Horch, seine sanfte Stimme selbst!" Indem Brach sich ihr Auge wieder, und ihr Haupt, Dem seines Armes Stütze sich entzog,
Stürzt auf das Kiffen.
Ich zur Pfort hinaus,
Und sieh: da kommt Ihr wahrlich, kommt Ihr wahrlicht
Was Wunder? ihre ganze Seele war
Die Zeit her nur bei Euch — und ihm.
Üathau.
Bei ihm?
Bei welchem ihm?
1 das frag ich Euch — ich frage Euch, woher sie Eure Ankunft hat voraus wissen können; mir ist es ein Räthsel. r malt — von jenem Brande her spielt bei allen Bildern ihrer Phan tasie das Feuer eine Rolle. 3 weniger als Thier — also bewußtlos wie das pflanzliche Leben. Mehr als Engel — wegen des Fernsehens.
L Aufzug. 1. Auftritt. Bei ihm, der aus dem Feuer
vaja. Sie rettete. Uathan.
Wer war das, wer? Wo ist er?
Wer rettete mir meine Necha, wer?
Vaja.
Ein junger Tempelherr, den wenig Tage
Zuvor man hier gefangen eingebracht
Und Saladin begnadigt hatte.
Uathan.
Wie?
Ein Tempelherr, dem Sultan Saladin Das Leben ließ? Durch ein geringres Wunder
War Recha nicht zu retten? Gott!
Ohn ihn,
5iiia.
Der seinen unvermutheten Gewinst Frisch wieder wagte, war es aus mit ihr.
Uathan.
Wo ist er, Daja, dieser edle Mann,
Wo ist er? Führe mich zu seinen Füßen.
Ihr gabt ihm doch fürs erste, was an Schätzen Ich euch gelassen hatte, gabt ihm alles?
Verspracht ihm mehr, weit mehr?
Wie konnten wir?
Vasa.
Uathan. Nicht? nicht? Vaja.
Er kam, und niemand weiß woher;
Er gieng, und niemand weiß wohin.
Ohn alle
Des Hauses Kundschaft1, nur von seinem Ohr
Geleitet drang mit vorgespreiztem Mantel
Er kühn durch Flamm und Rauch der Stimme nach, Die uns um Hilfe rief.
Schon hielten wir
Ihn für verloren, als aus Rauch und Flamme
Mit eins er vor uns stand, im starken Arm Empor sie tragend. Kalt und ungerührt
1 Kundschaft — Kenntniß.
5
6
Aufzug. I. Auftritt.
Vom Jauchzen unsers Danks setzt seine Beute
Er nieder, drängt sich unters Volk und ist Verschwunden. Lathan.
Saja.
Nicht auf immer, will ich hoffen.
Nachher die ersten Tage sahen wir
Ihn unter’« Palmen auf und nieder wandeln,
Die dort des Auferstandnen Grab umschatten. Ich nahte mich ihm mit Entzücken, dankte,
Erhob, entbot, beschwor, nur einmal noch Die fromme Kreatur zu sehen, die Nicht ruhen könne, bis sie ihren Dank
Zu seinen Füßen ausgeweinet.
Nun?
Lathan.
Vaja.
Umsonst; er war zu unsrer Bitte taub,
Und goß so bittern Spott auf mich besonders —
Lathan. Bis dadurch abgeschreckt —
Laja.
Nichts weniger!
Ich trat ihn jeden Tag von neuem an,
Ließ jeden Tag von neuem micb verhöhnen.
Was litt ich nicht von ihm, was hätt ich nicht
Noch gern ertragen! Aber lange schon Kommt er nicht mehr die Palmen zu besuchen,
Die unsers Auferstandnen Grab umschatten. Und niemand weiß, wo er geblieben ist. Ihr staunt? Ihr sinnt? Lathan.
Ich überdenke mir,
Was das auf einen Geist wie Rechas wohl
Für Eindruck machen muß.
Sich so verschmäht
Von dem zu finden - den man hochzuschätzen Sich so gezwungen fühlt; so weggestvßen,
Und doch so angezogen werden: traun,
Da müssen Herz und Kopf sich lange zanken.
I. Aufzug. 1. Auftritt.
7
Ob Menschenhaß *, ob Schwermuth siegen soll.
Oft siegt auch keines; und die Phantasie,
Die in den Streit sich menget, macht dann Schwärmer, Bei welchen bald der Kopf das Herz und bald Das Herz den Kopf muß spielen *