Nach dem »Großen Krieg«: Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939 [1 ed.] 9783666369742, 9783525369746, 9783647369747


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Nach dem »Großen Krieg«: Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939 [1 ed.]
 9783666369742, 9783525369746, 9783647369747

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Clemens Vollnhals Band 62

Vandenhoeck & Ruprecht

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Nach dem „Großen Krieg“ Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939 Herausgegeben von Steffen Kailitz

Vandenhoeck & Ruprecht

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Umschlagabbildung: Fackelzug in Berlin 30.1.1933, Adolf Hitler an einem Fenster der Reichskanzlei grüßt die in der Wilhelmstraße versammelte Menge. Quelle: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7459 e-ISBN PDF 978-3-647-36974-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter www.v-r.de. Mit 7 Abbildungen und 25 Tabellen. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorheri­gen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden

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Inhalt Einleitung

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I. Vergleichende Betrachtungen

25

Steffen Kailitz Nach dem „Großen Krieg“ – vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939

27

Uwe Backes Liberale Hegemonie vor 1914 und das Überleben von Demokratien der Zwischenkriegszeit

51

Jens Hacke Die Krise des politischen Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Theoriegeschichtliche Sondierungen

69

Arnd Bauerkämper Der „Große Krieg“ als Beginn: das Verhältnis zwischen traditionalen Ordnungskonzepten, Faschismus und Autoritarismus

89

Christoph Gusy Die Verfassungen der Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa

113

Jørgen Møller / Svend-Erik Skaaning Democratic Spells in Interwar Europe – the Borderline Cases Revisited

139

Ekkart Zimmermann Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre als Folge gescheiterter Globalisierung: Nachkriegsfolgen und der Untergang von Demokratien

165

Dirk Berg-Schlosser Bedingungen der Demokratie in Europa in der Zwischenkriegszeit – zentrale Befunde eines international vergleichenden Forschungsprojekts

181

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6

Inhalt

II. Überlebende Demokratien

217

Thomas Raithel Behauptung und Erosion der parlamentarischen Demokratie in Frankreich 1918 bis 1940

219

Peter Brandt Nordische Demokratie als Alternative zu Diktatur und Status-quo-Liberalismus – Nordeuropa in der Zwischenkriegszeit

243

Alan Siaroff Democratic Breakdown versus Democratic Stability A Comparison of Interwar Estonia and Finland

269

III. Gescheiterte Demokratien

291

Günther Heydemann Die faschistische Machterringung in Italien 1922 – ein welthistorisches Ereignis

293

Heidi Hein-Kircher Zum Wechselspiel von verpasster Konsolidierung, Demokratiekritik und Diskursen der Versicherheitlichung in der Zweiten Republik Polens (1918 bis 1926)

317

Ursula Büttner Die Zerstörung der Weimarer Republik

339

Everhard Holtmann Verpasste Konsolidierung. Das Scheitern der Demokratie in Österreich in der Zeit zwischen den Weltkriegen – Verlaufsmuster und Ursachen

363

Nathalie Patricia Soursos Griechenland – von der Krise des Parlamentarismus bis­ zum Scheitern der Demokratie (1922 bis 1936)

385

Sören Brinkmann Demokratie ohne Demokratie? Das Scheitern der Zweiten Republik in Spanien (1931–1936)

407

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Inhalt

IV. Anhang

7 431

Abkürzungsverzeichnis Personenverzeichnis Autorenverzeichnis

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433 436 440

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Einleitung Steffen Kailitz Was lehrt uns die Krise der Demokratie zwischen den Kriegen für die gegenwärtige Krise der Demokratie? Zwischen 1918/19 und 1939, in kaum mehr als zwei Jahrzehnten, erlebte die moderne Massendemokratie ihre größten Triumphe und ihre bittersten Niederlagen. Die Zeit zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ist die Achsenzeit1 der modernen Demokratie, in der sich alle Formen ihres Werdens und Vergehens manifestierten. Den Beginn der Achsenzeit läutete das sich abzeichnende Ende des „Großen Kriegs“ ein.2 Der Kriegsausgang war eine „kritische Weiche“3 der modernen Weltgeschichte. Monarchische Nicht-Demokratien, autokratischer und konstitutioneller Form, wurden mit dem Beginn der Februarrevolution 1917 in Russland in weiten Teilen Europas nun nach und nach hinweggefegt. Die Zahl der Demokratien „explodierte“ in diesen Jahren nahezu. Der Historiker und Politikwissenschaftler James Bryce verkündete, der weltweite Sieg der Demokratie als einzig legitime Staatsform stehe nun unmittelbar bevor.4 Mit der „Oktoberrevolution“ begann aber bereits Ende 1917 in Russland die Ära des Kommunismus. Als neu aufkommende Regimealternative von rechts formierten sich zudem in Italien, Österreich und Deutschland bald nach dem Ersten Weltkrieg faschistische und nationalsozialistische Bewegungen. Bis 1939 brachen alle Demokratien in Zentral- und Osteuropa mit Ausnahme von Finnland,

1

Den Terminus „Achsenzeit“ prägte Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949. 2 Die Bezeichnung als „Großer Krieg“ war in der Zwischenkriegszeit u. a. in Frankreich, Italien und Großbritannien gebräuchlich. Von einem Weltkrieg sprach man zunächst fast nur in Deutschland. 3 Vgl. zum im historischen Institutionalismus entwickelten Konzept der „kritischen Weichen“: Giovanni Capoccia/Daniel R. Kelemen, The Study of Critical Junctures: Theory, Narrative, and Counterfactuals in Historical Institutionalism. In: World Politics, 59 (2007) 3, S. 341–369; Hillel David Soifer, The Causal Logic of Critical Junctures. In: Comparative Political Studies, 45 (2012) 12, S. 1572–1597. 4 Vgl. James Bryce, Modern Democracies, New York 1921.

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Steffen Kailitz

der Schweiz und der Tschechoslowakei5 zusammen. In Südeuropa überlebte – ob in West oder Ost – keine einzige Demokratie. Lediglich die – in der Regel bereits relativ lange etablierten – Demokratien im Nordwesten Europas und in den angelsächsischen Siedlerkolonien Australien, Kanada, Neuseeland und USA überlebten den stürmischen Kampf der Regimealternativen im Zeichen der politisch und wirtschaftlich extrem turbulenten Zwischenkriegsperiode. Wie der Ausgang des „Großen Kriegs“ war der Zusammenbruch des sowjetkommunistischen Imperiums im „Epochenjahr“ 1989/90 eine „kritische Weiche“ der Historie. Demokratie und Kapitalismus6, so jubelte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama anlässlich des Zeitenbruchs in sinngleicher Weise wie Bryce nach dem „Großen Krieg“, seien nun alternativlos und würden sich nun nach und nach weltweit durchsetzen. Die Zukunft lässt sich allerdings wohl kaum in einer linearen Weise bis zu einem „Ende der Geschichte“ vorhersagen. Sie hängt nämlich keineswegs nur von der Entwicklung sozioökonomischer Strukturen, sondern stets und vor allem auch vom konkreten Zusammenspiel des schwer kalkulierbaren Handelns von enorm vielen Menschen ab. So überrascht es kaum, dass sich auch die Prophezeiungen Fukuyamas nicht erfüllten. Recht rasch zeigte sich nach dem „Epochenjahr“ 1989/90, dass mehr und mehr der Staaten, die gerade autokratische Strukturen abgeschüttelt hatten, auf ihrem Weg in die Demokratie stockten und stolperten. Es fiel in vielen Fällen wie Russland unter Vladimir Putin immer schwerer zu sagen, ob man eine Demokratie oder Autokratie vor sich hat.7 Spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre ist auch optimistisch gesinnten Beobachtern klar geworden, dass „hybride Regime“8, die demokratische und autoritäre Merkmale aufweisen, häufig dauerhafter Natur und keineswegs nur eine zeitweilige Zwischenstation auf der Strecke von der Autokratie zur Demokratie sind.9 Fast alle autoritären Regressionen fanden zunächst in den neuen –

5 Im Falle der Tschechoslowakei lässt sich zudem darüber streiten, ob sie zu den Ausnahmen zu zählen ist. Unumstritten ist, dass die Demokratie in der Tschechoslowakei die Zwischenkriegszeit nicht überstand. Vgl. zur Problematik der Einstufung der „Grenzfälle“ von Scheitern und Überleben der Demokratie die Beiträge von Steffen Kailitz sowie von Jørgen Møller und Svend-Erik Skaaning in diesem Buch. 6 Dies ist der von Fukuyama selbst gewählte Begriff zur Bezeichnung der Wirtschaftsordnung in den westlichen Demokratien. Während in Deutschland der Kapitalismusbegriff vor allem von Rechtsliberalen ab und an geradezu als kommunistisches Schimpfwort verfemt wird, dominiert der – wertneurtral gebrauchte – Begriff „capitalism“ in den angelsächsischen Sozialwissenschaften deutlich über den Terminus „market system“. Vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992. 7 Vgl. u. a. Petra Bendel/Aurel Croissant/Friedbert W. Rüb (Hg.), Zwischen Demokratie und Diktatur. Zur Konzeption und Empirie demokratischer Grauzonen, Opladen 2002. 8 Vgl. u. a. Alexander Schmotz, Hybride Regime. In: Raj Kollmorgen/Wolfgang Merkel/ Hans-Jürgen Wagener (Hg.), Handbuch Transformationsforschung, Wiesbaden 2015, S. 561–567. 9 Vgl. Thomas Carothers, The End of the Transition Paradigm. In: Journal of Democracy, 13 (2002) 1, S. 5–21.

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Einleitung

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und damit besonders gefährdeten – Demokratien und/oder an der wenig beachteten armen „Peripherie“ der demokratischen Welt statt. Die Entwicklung der „postimperialen“ Demokratie in Russland wies angesichts eines Traums verlorener Größe und enormer Gebiets- und Bevölkerungsverluste zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der Entwicklung der „postimperialen“ Demokratie Weimars auf. Der Fall der „postimperialen“ Demokratie in Russland markierte einen bislang unterschätzten Wendepunkt der jüngsten Geschichte.10 Von diesem Scheitern der Demokratie ging eine Signalwirkung aus. Es bedarf auch schlicht zumindest einer starken autokratischen Großmacht wie Deutschland in der Zwischenkriegszeit oder Russland unter Putin in der Gegenwart, um einen wirksamen Zug von der Demokratie in Richtung Autokratie zu entfalten. Mit Russland und China bildeten nun gleich zwei autokratische Großmächte einen Gegenpol zur demokratischen Welt.11 Die zunehmende wirtschaftliche Stärke Chinas trug zudem dazu bei, dass vor in sich entwickelnden Staaten neue Zweifel an der wirtschaftlichen Überlegenheit einer liberaldemokratischen Regimeform aufkeimten. Seit dem Beginn der „Großen Rezession“,12 deren Gipfel die Finanzkrise 2007 bis 2009 darstellt, bahnte sich dann über autoritäre Rückschritte in den EU-Mitgliedsstaaten Ungarn und Polen die Krise der liberalen Demokratie ihren Weg in die Herzkammern der liberalen Demokratie in Westeuropa und Nordamerika.13 Anfang 2017 sind die Risse in der Fassade der westlichen Demokratie kaum mehr zu übersehen.14 Die Stimmen der Warner, die die Demokratie in einer tiefen weltweiten Krise sehen, sind zu einem

10 Vgl. Steffen Kailitz/Andreas Umland, Why the Fascists Won’t Take Over the Kremlin (for Now): A Comparison of Democracy’s Breakdown and Fascism’s Rise in Weimar Germany and Post-Soviet Russia, Moscow 2010. 11 Vgl. Azar Gat, The Return of Authoritarian Great Powers. In: Foreign Affairs, 86 (2007) July/August, S. 59–69. 12 Die Nachwirkungen der „Großen Rezession“ für die gegenwärtige Demokratiekrise sind groß. Nicht wenige Ökonomen warnen zudem – was für die Beurteilung der Zukunftsprognosen der Demokratie keineswegs unerheblich ist –, dass die Lage der Weltwirtschaft wegen einer ausgebliebenen grundlegenden Reform des Bankensystems weiterhin stark durch eine neue fundamentale Wirtschaftskrise gefährdet ist. Vgl. für Beurteilungen der „Großen Rezession“ und einen Vergleich mit der „Großen Depression“ der Zwischenkriegszeit: Cristina Peicuti, The Great Depression and the Great Recession: A Comparative Analysis of their Analogies. In: The European Journal of Comparative Economics, 11 (2014) 1, S. 55–78; Peter Eigner/Thomas S. Umlauft, The Great Depression(s) of 1929–1933 and 2007–2009? Parallels, Differences and Policy Lessons, Vienna 2015. 13 Vgl. u. a. Daniel Brühlmeier/Philippe Mastronardi (Hg.), Demokratie in der Krise. Analysen, Prozesse und Perspektiven, Zürich 2016; Wolfgang Merkel (Hg.), Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015. 14 Bereits 2015 widmete das 1990 mit demokratischer Euphorie gestartete „Journal of Democracy“ ausgerechnet seine Ausgabe zum 25-jährigen Jubiläum dem Thema „Democracy in Decline“. Vgl. zur Begründung das Editorial von Marc Plattner, Is Democracy in Decline? In: Journal of Democracy, 26 (2015) 1, S. 5–10.

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Steffen Kailitz

unüberhörbaren Chor angeschwollen.15 Das mehrheitliche Votum der Briten für den Brexit, also den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union, und vor allem der Schock über den Sieg des Rechtspopulisten Donald Trump über Hillary Clinton bei den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 erschütterten das Grundvertrauen in die Beständigkeit der liberalen Demokratie in einem seit dem Zweiten Weltkrieg ungekanntem Ausmaß. Auch in Westeuropa erreichen die Wahlergebnisse rechtspopulistischer und -extremistischer Parteien neue Rekorde. Dieser Band will auf der Grundlage von Fallanalysen und vergleichenden Studien die Gründe für das Überleben und Scheitern von Demokratien in der Zwischenkriegszeit herausarbeiten. Er soll auch dazu beitragen, ein weiter reichendes Erklärungsmodell zu entwickeln, auf dessen Grundlage auch Lehren für die gegenwärtige Krise der Demokratie gezogen werden können. Trotz der grundlegenden Bedeutung der Thematik dieses Bandes für die Transformationsforschung16 ist bis in die jüngste Zeit hinein eine Vernachlässigung autoritärer Regressionen und der Übergänge von der Demokratie zur Diktatur zu verzeichnen.17 Gerade die Achsenzeit der modernen Demokratie zwischen den Kriegen findet in der Transformationsforschung noch zu wenig Beachtung.18 Immerhin gibt es aber inzwischen bereits eine ganze Reihe hervorragender Forschungsarbeiten zu einzelnen Ländern, Ländergruppen oder zur Untersuchung des Einflusses bestimmter Faktoren auf die Regimeentwicklung der Zwischenkriegszeit, vor allem aus den Geschichts-19 15 Vgl. Jakob Augstein, US-Wahl: Trump des Willens. In: Spiegel Online vom 11.11.2016; Jochen Bittner, Demokratie: Läuft ihre Zeit ab?, Die Zeit vom 2.6.2016; Josef Joffe, Oh my god! Was auf die Welt zukommt. In: Die Zeit vom 10.11.2016; Mark Mazower, From Dawn to Dusk. European democracy enters dangerous times, Financial Times vom 31.1.2015. 16 Vgl. als sehr gute Übersicht zum Stand der Forschung: Raj Kollmorgen/Wolfgang Merkel/Hans-Jürgen Wagener (Hg.), Handbuch Transformationsforschung, Wiesbaden 2015. 17 Zu den Ausnahmen zählt Gero Erdmann/Marianne Kneuer (Hg.), Regression of Democracy? Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft Sonderheft 1/2011, Wiesbaden 2011. 18 Eine Ausnahme ist etwa das hervorragende Werk von Kurt G. Weyland, Making Waves: Democratic Contention in Europe and Latin America since the Revolutions of 1848, Cambridge 2014. Derzeit bereiten Steffen Kailitz am HAIT in Dresden sowie Jørgen Møller und Svend-Erik Skaaning an der Universität Aarhus Monographien auf der Grundlage breit angelegter Projekte zur Demokratieentwicklung in der Zwischenkriegszeit vor, die zur Abhilfe beitragen sollen. 19 Vgl. statt vieler Boris Barth, Europa nach dem Großen Krieg die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit: 1918–1938, Campus 2016; Robert Gerwarth (Hg.), Twisted Paths. Europe 1914–1945, Oxford 2007; Gunther Mai, Europa 1918–1939: Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001; Horst Möller, Europa zwischen den Kriegen, München 1998; Martin Kitchen, Europe Between the Wars. A Political History, London 2006; Karl J. Newman, European Democracy Between the Wars, Notre Dame 1971; Robert Alastair Clarke Parker, Europa 1918–1945, Frankfurt a. M. 1993; Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015.

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Einleitung

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und Sozialwissenschaften,20 auf die die weitere Forschung aufbauen kann. Allerdings besteht bislang – bis auf wenige Ausnahmen21 – das Problem, dass Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften in den Geschichtswissenschaften oft nicht genügend zur Kenntnis genommen werden und umgekehrt. Dieser Sammelband will die verschiedenen Linien der gegenwärtigen Forschungen zu den Übergängen von der Demokratie zur Diktatur in der Zwischenkriegszeit aus den Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft zusammen- und weiterführen. Der erste Teil dieses Bandes umfasst vergleichend angelegte Beiträge. Der Einleitung folgt ein programmatisch angelegter Überblicksbeitrag von Steffen Kailitz (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung – HAIT, Dresden), der die Zwischenkriegszeit aus der Perspektive einer globalen Demokratiegeschichte unter die Lupe nimmt. Aus diesem Blickwinkel vereint die Zwischenkriegszeit Elemente des Aufstiegs und Triumphs der Demokratie mit Elementen ihres Niedergangs und Desasters. In der kurzen Periode von Anfang 1919 bis Mitte 1920 „explodierte“ die Zahl der Demokratien nahezu. Dem von Zeitgenossen euphorisch gefeierten Siegeszug der Demokratie folgten zunächst Ernüchterung und eine Reihe von Reautokratisierungen neuer Demokratien in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre, bevor schließlich in den 1930er-Jahren die durch die Weltwirtschaftskrise angestoßene bislang tiefste Krise der Demokratie folgte, die auch die etablierten Demokratien erfasste. Weder zuvor noch danach fielen in einem so kurzen Zeitraum wie 1933/34 so viele Demokratien, darunter erstmals auch Demokratien in fortgeschrittenen Industriestaaten wie Deutschland und Österreich. Uwe Backes (HAIT, Dresden) ordnet die Zwischenkriegszeit auf andere Weise in die globale Demokratiegeschichte ein, indem er die Bedeutung einer „liberalen Hegemonie“22 vor 1914 für die Demokratieentwicklung der Zwischenkriegszeit untersucht. Er vertritt die These, dass jene Gesellschaften, in denen das Verfassungsprogramm des liberalen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert zur vollen Entwicklung kam,23 sich ein hohes Maß an Widerstandskraft gegen einen 20 Vgl. u. a. Nancy Bermeo, Ordinary People in Extraordinary Times: The Citizenry and the Breakdown of Democracy, Princeton 2003; Giovanni Capoccia, Defending Democracy: Reactions to Extremism in Interwar Europe, Baltimore 2005; Gregory M. Luebbert, Liberalism, Fascism, or Social Democracy: Social Classes and the Political Origins of Regimes in Interwar Europe, Oxford 1991; Juan Linz/Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes: Europe, Baltimore 1978. 21 Zu den Ausnahmen zählen die wegweisenden Beiträge Karl-Dietrich Brachers, die in der Geschichtswissenschaft wie den Sozialwissenschaften hohes Ansehen genießen. Vor allem: Ders., Die Auflösung der Weimarer Republik: eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1960. 22 Vgl. zur Bedeutung einer „liberalen Hegemonie“ für die Demokratieentwicklung in der Zwischenkriegszeit auch Gregory M. Luebbert, Liberalism, Fascism, or Social Democracy: Social Classes and the Political Origins of Regimes in Interwar Europe, Oxford 1991. 23 Vgl. zur Entwicklung des liberalen Konstitutionalismus u. a. Uwe Backes, Liberalismus und Demokratie. Antinomie und Synthese. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vormärz, Düsseldorf 2000.

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Steffen Kailitz

autokratischen Rückfall ausgebildet hatte. Beispiele sind Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Norwegen, Schweden und die Schweiz. In Italien endete allerdings trotz langer parlamentarischer Praxis die Demokratie bereits wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.24 Backes folgert daraus, dass eine „liberale Hegemonie“ allein nicht genügt, sondern parlamentarische Demokratien, um über längere Zeit erfolgreich zu sein, sich auch als sozial inklusiv und responsiv erweisen müssen. Sie dürfen demnach die Partizipationsbedürfnisse größerer Bevölkerungssegmente nicht dauerhaft und systematisch zurückdrängen. Wo dies geschehe, drohe die Gefahr, dass politische Akteure eine Mobilisierungskraft entfalteten, die die parlamentarische Demokratie aus den Angeln heben will. Auch dies ist ein Befund, der für die Gegenwart sehr bedeutsam ist. So wird bereits seit etwa einem Jahrzehnt für nahezu alle OECD-Staaten eine zunehmende PartizipationsRepräsentationslücke der unteren Schichten konstatiert.25 Beschäftigt sich Backes vorrangig mit der Wirkung der Umsetzung von liberalen Ideen auf die Realgeschichte, dreht Jens Hacke (Hamburger Institut für Sozialforschung) den Tisch und untersucht die Wirkung des Verlaufs der Realgeschichte auf liberale Ideen. Er systematisiert konkret die Krisensymptome der liberalen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg und ihren Einfluss auf das liberale Denken. Die Begriffe Liberalismus und Demokratie sowie die mit ihnen verbundenen Ideen erlebten laut Hacke in Teilen Europas nach Ende des „Großen Kriegs“ einen Vertrauensverlust – zumal in den Staaten der Kriegsverlierer. Die Etablierung von Demokratie habe sich weithin als deutlich schwieriger erwiesen, als von einigen ihrer Anhänger erwartet. Für den Niedergang der Demokratie in einigen Ländern wird in dem Artikel die jeweilige politische Kultur bzw. ihre eingeübten Praxen als entscheidend angesehen. Die Rolle des Liberalismus bei diesem Prozess sei zwiespältig. Die Anfälligkeit weiter bürgerlicher Kreise für eine Abkehr von liberalen Werten und eine Hinwendung zu autoritären Lösungen habe jedenfalls die Destabilisierung parlamentarischer Demokratien in der Zwischenkriegszeit gefördert. Arnd Bauerkämper (FU Berlin) deutet den „Großen Krieg“ vor allem als Konflikt zwischen den Ordnungen des liberalen Parlamentarismus und der zentraleuropäischen Monarchien. Die Erschütterungen dieses Konflikts reichten bis in die 1930er-Jahre hinein. Das von diesem Konflikt geprägte Klima förderte laut Bauerkämper das Aufkommen von Kommunismus und Faschismus,26 aber 24 Vgl. Joseph Baglieri, Italian Fascism and the Crisis of Liberal Hegemony: 1901–1922. In: Stein Ugelvik Larsen/Bernt Hagtvet/Jan Petter Myklebust (Hg.), Who Were the Fascists: Social Roots of European Fascism, Bergen 1980, S. 318–336. 25 Vgl. Jürgen Kocka/Wolfgang Merkel, Kapitalismus und Demokratie. Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch. In: Wolfgang Merkel (Hg.), Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, S. 307–338, hier 324. 26 Zum Aufkommen des Faschismus in der Zwischenkriegszeit in vergleichender Perspektive vgl. Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006.

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Einleitung

15

auch von neuen autoritären Strömungen und Regimen, die sich auf traditionelle Werte beriefen. Die von Bauerkämper betonte große Bedeutung traditioneller Werte in der geistigen Auseinandersetzung der Zwischenkriegszeit wurde lange vernachlässigt. Die Wahrnehmung der Zwischenkriegszeit als „Zeitalter der Extreme“ dominierte. Er fordert dazu auf, die autoritären Regime der Zwischenkriegszeit, die traditionelle Werte ausbeuteten, stärker zu beachten. Vor allem in den Staaten, die als Verlierer aus dem Krieg hervorgegangen waren, gerieten die Demokratien bereits in den frühen Nachkriegsjahren unter Druck. Erst durch den Eindruck wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Krisen hätten sich die Schlüsselakteure von deren Werten und Ordnungen abgewandt. Angesichts dieser Diagnose stimmt es umso nachdenklicher, dass sich in der Gegenwart bereits allzu viele – auch im bürgerlichen Milieu – von demokratischen Werten abzuwenden scheinen, ohne dass politische und gesellschaftliche Krisen ein ähnlich großes Ausmaß erreicht haben wie in der Zwischenkriegszeit. Während Backes, Hacke und Bauerkämper in ihren Beiträgen sich vorrangig auf die Wirkung von Ideologien und von Konflikten zwischen den Anhängern der Ideologien auf die Demokratieentwicklung konzentrieren, rückt in Christoph Gusys27 Untersuchung die Verfassungsordnung der Demokratien der Zwischenkriegszeit in den Mittelpunkt der Bühne. Gusy stellt die Frage, ob die Ursachen des Niedergangs von Demokratien in der jeweiligen Verfassung zu suchen sind. Er arbeitet heraus, dass die Verfassungen der betrachteten mitteleuropäischen Staaten sehr verschieden ausgestaltet waren. Daraus folgert er, dass in vergleichender Perspektive die Anlage der Verfassung ein Scheitern von Demokratien in Mittelosteuropa weder verhindert noch verursacht haben kann. Verantwortlich zu machen für das Zusammenbrechen von Demokratien seien vielmehr ökonomische und soziale Gründe, wie etwa geringe gesellschaftliche Homogenität, mangelnde Responsivität und fehlende demokratische Tradition. Aufgrund einer multiethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung hatten neu gegründete Nationalstaaten wie Polen oder die Tschechoslowakei ebenso wie die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich, die wichtige Teile ihres Staatsgebietes verloren hatten, mit Identitäts- und Legitimationsproblemen zu kämpfen.28 Die von vorneherein gefährdete Stabilität der neuen demokratischen Ordnung, an der auch die Zerrissenheit politischer Eliten Anteil hatte, sei durch die desolate wirtschaftliche und soziale Gesamtlage dann zusätzlich belastet worden.

27 Der Autor hat u.  a. bereits einen die Forschung anregenden interdisziplinären Sammelband zur Thematik vorgelegt: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008. 28 Heidi Hein-Kircher und Steffen Kailitz betreuen derzeit ein Themenheft der Zeitschrift „Nationalities Papers“ zum Thema: The “Double” Transformation. New Perspectives on East Central European Nationalizing and Democratizing States between the Two World Wars.

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Steffen Kailitz

Jørgen Møller und Svend-Erik Skaaning (Universität Aarhus) präzisieren in ihrer Analyse die bereits in dem Beitrag von Kailitz angesprochene Grenzziehung zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit.29 Dazu sichten sie zunächst die vorhandenen sozialwissenschaftlichen Datensätze hinsichtlich der Abgrenzung demokratischer und nicht-demokratischer Perioden europäischer Länder. Bei einigen Ländern machen Møller und Skaaning Differenzen in der bisherigen Einstufung aus, ob und in welchen Zeiträumen sie in der Zwischenkriegszeit demokratisch waren: Bulgarien, Finnland, Italien, Litauen, Portugal, Rumänien, Spanien und Jugoslawien. Gestützt auf die Arbeiten von Historikern zu diesen Ländern kommen sie in den meisten Fällen zu einem klaren Urteil. Nur bei Bulgarien und Jugoslawien ist die Urteilsgrundlage zu schmal und die Informationen zu widersprüchlich, sodass sie diese Länder als tatsächliche „Grenzfälle“ einstufen. Ekkart Zimmermann (München) untersucht in seinem Beitrag die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre auf das Demokratieschicksal in den zentraleuropäischen Staaten. Er arbeitet heraus, dass die Staaten, in denen die Demokratie scheiterte, keineswegs durchweg besonders stark von der Weltwirtschaftskrise betroffen gewesen seien. Es sind daher weitere Faktoren zur Erklärung der Demokratiezusammenbrüche heranzuziehen – wie etwa die Kriegsniederlage und politisch-kulturelle Traditionen und Gegebenheiten. Wähler- und Elitenpolarisierung, die eine moderate Krisenbewältigung unmöglich machen, sind dabei nach Zimmermann die maßgeblichen Faktoren für das Scheitern von Demokratien. Auch aus diesen Ausführungen lässt sich eine Lehre für die Gegenwart ziehen. Ohne eine Bewahrung der Kompromissfähigkeit der demokratischen Politiker ist weder die Bewältigung großer wirtschaftlicher Krisen noch gar einer Demokratiekrise selbst möglich. Zeiten der Demokratiekrise sind also die falsche Zeit für Demokraten, um sich von Populisten und Extremisten in eine Rechts-LinksPolarisierung treiben zu lassen. Rechte Demokraten dürfen also nicht, wie etwa Nicolas Sarkozy in Frankreich Rechtspopulisten und -extremisten, z. B. in der Flüchtlingspolitik, nach dem Munde reden, und auch für linke Demokraten ist es ganz und gar keine gute Idee in Krisenzeiten der Demokratie eine linkspopulistische Wirtschaftspolitik, etwa im Sinne einer Verstaatlichung der Banken, zu propagieren. Der Beitrag von Dirk Berg-Schlosser (Marburg) schildert die Ergebnisse eines von ihm gemeinsam mit Jeremy Mitchell geleiteten, breit angelegten interdisziplinären und internationalen Forschungsprojekts.30 Es stellt einen wahren Meilenstein der transnationalen Demokratieforschung zur 29 Die beiden Autoren zählen international zu den produktivsten Demokratieforschern der Gegenwart. Vgl. u. a. Jørgen Møller/Svend-Erik Skaaning, Requisites of Democracy: Conceptualization, Measurement, and Explanation, London 2011. 30 Vgl. Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39: Systematic Case-Studies, New York 2000; ders. (Hg.), Authoritarianism and Democracy in Europe, 1919–39: Comparative Analyses, Basingstoke 2002.

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Zwischenkriegszeit dar. In umfassender Weise entfaltet Berg-Schlosser in diesem Buch Schritt für Schritt, anhand der Betrachtung von 18 europäischen Demokratien, die Wirkung historischer und sozialer Hintergrundbedingungen, der Auswirkungen des „Großen Kriegs“, weiterer ökonomischer und politischer Entwicklungen und der Weltwirtschaftskrise auf das Demokratieschicksal. Er berücksichtigt auch die Wirtschaftspolitiken und Handlungen zentraler Akteure. Wesentliche Erkenntnisse sind, dass bei den Bedingungen in länger etablierten Demokratien wie Großbritannien in der Zwischenkriegszeit das Positive eindeutig überwog, während in süd- und südosteuropäischen Staaten wie Portugal, Spanien, Italien, Griechenland und Rumänien die Vorzeichen für eine günstige Demokratieentwicklung sehr schlecht waren. Bei den Ländern im „mittleren Bereich“ wie etwa Finnland, Estland, Österreich, Deutschland, Tschechoslowakei und Irland war der Ausgang der Demokratieentwicklung aus struktureller Perspektive offen und hing von weiteren Faktoren ab. In den Beiträgen des folgenden Teils dominiert der Blick auf Faktoren, die das Überleben von Demokratie in der Zwischenkriegszeit bei unterschiedlich gelagerten Ausgangssituationen ermöglichten. Frankreich gehörte zu den europäischen Staaten, die das demokratische Regime trotz aller fundamentalen Erschütterungen in der Zwischenkriegszeit bewahren konnten. Thomas Raithel (Institut für Zeitgeschichte, München) beschäftigt sich detailliert mit der Demokratieentwicklung der Dritten Französischen Republik.31 Gerade der Fall Frankreich zeigt dabei, wie dünn die Linie zwischen Scheitern und Überleben einer Demokratie ist. Nachdem der traditionelle französische Parlamentarismus in den 1920er-Jahren noch einmal seine Stärken hatte entfalten können, war er in den 1930er-Jahren immer mehr unter den Druck der politischen Herausforderungen und der sich verändernden Erwartungen geraten. Die französische Demokratie war bereits vor dem militärischen Zusammenbruch von 1940 schwer angeschlagen. Dies trug laut Raithel wesentlich zur parlamentarischen Kapitulation vor Marschall Pétain und zur Etablierung des autoritären Vichy-Regimes bei. Peter Brandt (FernUniversität in Hagen) wendet den Blick vom Westen Europas in den Norden und fasst die Entwicklung in den in der Demokratiegeschichte noch immer vernachlässigten nordischen Demokratien Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland ins Auge. Unter Berücksichtigung spezifischer Besonderheiten des finnischen Falls untersucht er, warum in diesen Ländern – trotz gesellschaftspolitischer Spannungen und Polarisierung sowie dem Eintritt der Weltwirtschaftskrise mit ihren Folgen – die Demokratie überlebte. Für zentral hält Brandt dabei die Entwicklung des Selbstverständnisses einer „nordischen Demokratie“, das zunehmend auch – und das mag das Überleben dieser Demokratie mit erklären – Finnland prägte. Vor allem gegen Ende der Zwischenkriegsperiode hätten die Bürger der nordischen Demokratien das 31 Vgl. zur Thematik auch Thomas Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er-Jahre, München 2005.

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identitätsstiftende Konzept mehr und mehr verinnerlicht. Aus dieser Perspektive erschienen dann Nationalsozialismus, Faschismus und Autoritarismus, ebenso wie der stalinistische Kommunismus, zunehmend als fremde Phänomene. Alan Siaroff (University of Lethbridge, Kanada) vergleicht in seinem Artikel die Rahmenbedingungen der überlebenden Demokratie in Finnland mit jenen der gescheiterten Demokratie in Estland. Häufig wird die enorme Ähnlichkeit dieser beiden Staaten übersehen: So sind Sprache, Kultur und der Verlauf der Geschichte von Esten und Finnen vor dem Ersten Weltkrieg ausgesprochen ähnlich. Siaroff arbeitet heraus, dass sich darüber hinaus auch der Grad der Homogenität der Gesellschaft, das Regierungssystem sowie die internationalen und regionalen Rahmenbedingungen nahezu gleichen. Als Erklärung für den finnischen Erfolg der Demokratie im Vergleich zum estnischen Misserfolg benennt Siaroff letztlich eine deutlich demokratischere „Zivilkultur“. Hierzu dürfte die Erkenntnis von Brandt komplementär sein, dass sich in Finnland – im Unterschied zu Estland – die Orientierung am Konzept der „nordischen Demokratie“ durchsetzte. Vergleicht bereits der Beitrag von Siaroff eine gescheiterte mit einer überlebenden Demokratie, konzentriert sich der folgende Teil des Bandes ganz auf die Fälle, in denen demokratische Strukturen in der Zwischenkriegszeit durch nicht-demokratische, sei es autoritäre oder totalitäre, abgelöst wurden. Der Teil ist chronologisch aufgebaut. Er beginnt mit dem zeitlich ersten Demokratiezusammenbruch der Zwischenkriegszeit in Italien 1922 und endet mit dem letzten in Spanien 1936. Mit Blick auf Italien liegt zwar viel Forschungsliteratur zum Aufkommen des Faschismus vor. Erstaunlich wenige Arbeiten widmen sich aber dem konkreten Ablauf des Demokratiezusammenbruchs32 und vor allem der langen Vorgeschichte des Demokratiezerfalls. Die Untersuchung Günther Heydemanns (HAIT, Dresden) hilft, dieses Defizit zu verringern. Er nimmt die Gründe in den Blick, die in Italien in langer historischer Perspektive zum raschen Fall nach dem Schritt zur Massendemokratie von 1919 durch den faschistischen Staatsstreich im Jahre 1922 beigetragen haben. Für Heydemann gehen die Ursachen zurück bis in das 19. Jahrhundert. Es sei Italien nicht gelungen, die prekäre soziale Lage großer Teile der Bevölkerung zu verbessern und damit einer wachsenden Entfremdung zwischen einem großen Teil der Bürger und dem Staat entgegenzuwirken. Die sich nach dem Ersten Weltkrieg verschärfenden sozioökonomischen Probleme mündeten in gewalttätigen Auseinandersetzungen und der Kompromissunfähigkeit der Parteien. Dadurch konnten die Faschisten sich als Wahrer von Recht und Ordnung stilisieren und

32 Vgl. hierzu die hervorragende Arbeit von Giulia Albanese, Mussolinis Marsch auf Rom: Die Kapitulation des liberalen Staates vor dem Faschismus, Paderborn 2015.

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schließlich – mit der notwendigen politischen Unterstützung in den bürgerlichen und besitzenden Schichten – die Macht übernehmen. Sind schon systematische Untersuchungen zur Demokratieentwicklung Italiens in der Zwischenkriegszeit Mangelware, nimmt die Demokratie- wie die Autokratieforschung noch immer ganz und gar ungenügend die damaligen Regimeentwicklungen im ostmitteleuropäischen Raum in den Blick. Dies ist ein Hauptgrund dafür, dass bis heute zwar das Aufkommen totalitärer Regime in der Zwischenkriegszeit viel diskutiert wird, dagegen die Bedeutung des Entstehens neuer Formen autoritärer Regime weithin unterschätzt wird.33 Das Regime General Józef Piłsudskis34 gehört nach dem Mai-Putsch 1926 in Polen in die Reihe dieser neuen autoritären Diktaturen. Nicht zuletzt unterscheiden sich die Formen des Abgleitens einer Demokratie in eine – vergleichsweise softe – elektorale Autokratie35 wie in Polen deutlich von der Umwälzung einer Demokratie in eine totalitäre Diktatur wie in Deutschland. Heidi HeinKircher (Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg) untersucht in ihrem Beitrag detailliert die polnische Demokratieentwicklung nach dem Ersten Weltkrieg. Sie zeigt, dass es Polen angesichts schwerwiegender sozioökonomischer Hypotheken und heftiger – teils kriegerischer – Grenzstreitigkeiten mit fast allen Nachbarn nicht gelang, die parlamentarische Demokratie zu stabilisieren. Sie galt immer weniger polnischen Politikern als vereinbar mit dem vorrangigen Interesse einer Konsolidierung der nach dem „Großen Krieg“ wiedergewonnenen polnischen Staatlichkeit. Aus dieser Perspektive erschien vielen ein Sturz der Demokratie zunehmend als legitimes Mittel, um die polnische Nation vor der Auflösung zu bewahren und nach innen wie nach außen zu stabilisieren. Paradetypisch entfalten sich am polnischen Fall Argumente, die in den Beiträgen von Bauerkämper und Kailitz aus vergleichender Perspektive adressiert werden. Während der polnische Fall zu den wenig studierten Fällen von Demokratiezusammenbrüchen gehört, gilt das ganz und gar nicht für den Untergang der ersten deutschen Demokratie.36 Die Erklärungsversuche sind Legion. Laut der Untersuchung einer der besten Kennerinnen der Materie,

33 Vgl. Agnes Laba/Maria Wójtczak, „Aufbruch zur Demokratie?“ – Aspekte einer Demokratiegeschichte Ostmitteleuropas (1918–1939), In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung, 64 (2015), S. 159–173. 34 Vgl. u. a. Jerzy Kochanowski, Horthy und Piłsudski - Vergleich der autoritären Regime in Ungarn und Polen. In: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, S. 19–94. 35 Vgl. Schedler (Hg.), Electoral Authoritarianism. 36 Vgl. exemplarisch Mario R. Lepsius, Extremer Nationalismus: Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966; Ian Kershaw (Hg.), Weimar: Why did German Democracy Fail?, London 1990; Peter Fritzsche, Wie aus Deutschen Nazis wurden, München 2002; Hans Mommsen, The Rise and Fall of Weimar Democracy, Chapel Hill, NC 1996.

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Ursula Büttner37, lässt sich das Scheitern der Weimarer Republik auf das Zusammenwirken von drei Grundkomplexen zurückführen: 1. In der Revolution von 1918/19 sei die Demokratisierung der alten Machteliten im Militär, in der Bürokratie, Justiz und Wirtschaft nur ungenügend gelungen. Außerdem seien die Parteien sich ihrer veränderten Rolle in der parlamentarischen Demokratie nicht hinreichend bewusst gewesen. 2. Die mangelnde volle Akzeptanz der Kriegsniederlage habe die Demokratie mit unrealistisch hohen Erwartungen konfrontiert. Der demokratische Staat sei bei der Bewältigung der vielen neuen Aufgaben, besonders im Zuge der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen durch Krieg und Inflation, überfordert gewesen. 3. Besiegelt worden sei der Untergang der Demokratie durch den Missbrauch der demokratischen Verfassung durch aggressive Demokratiegegner, die an die Spitze des Staates gelangten. Angesichts der dominanten Bedeutung des Zusammenbruchs der Demokratie in Deutschland für die globale Geschichte wurde bislang auch das Scheitern der Demokratie in Österreich nur äußerst selten systematisch untersucht. In diese Lücke stößt Everhard Holtmann (Zentrum für Sozialforschung, Halle) mit seiner Analyse. Er untersucht Verlaufsmuster und Ursachen des Scheiterns der österreichischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit. Dabei ordnet Holtmann die Situation Österreichs in den gesamteuropäischen Kontext ein und vergleicht sie vor allem mit der deutschen Lage nach dem Ersten Weltkrieg. Für das Scheitern der österreichischen Demokratie seien letztlich die weltanschaulichen Gegensätze der politischen Kräfte maßgeblich gewesen, die nicht in der Lage waren, einen verfassungsrechtlichen Grundkonsens zu schaffen. Fehlendes politisches Vertrauen in die Institutionen und scharfe Gegensätze der politischen Lager seien über den Fall Österreich hinaus Faktoren, die maßgeblichen Einfluss auf das Überleben oder Zusammenbrechen einer Demokratie hätten. Dies ist eine Beobachtung, die sich auch auf die Krisenprozesse in Demokratien der Gegenwart übertragen lässt. Die beiden letzten Beiträge des Buches sind zwei Fällen aus der „Grenzzone“ der Demokratie gewidmet, die als durch und durch defekte Demokratien38 von Anfang an mit fundamentalen Problemen zu kämpfen hatten. Im Falle Griechenlands ist es in der Forschung sogar umstritten, ob und wie lange die Schwelle zur Demokratie überschritten wurde. Ohne den Blick auf Fälle wie Griechenland, Spanien oder auch Polen bleibt nun aber das Verständnis für die Mechanismen von Reautokratisierungen gänzlich unvollständig. Der Artikel von Nathalie Patricia Soursos (Universität Wien) analysiert den Zusammenbruch der Demokratie in Griechenland zwischen dem Ende des Griechisch-Türkischen Krieges 1922 und dem Beginn der Metaxas37 Vgl. Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008. 38 Vgl. zum Konzept der „defekten Demokratie“: Wolfgang Merkel/Hans-Jürgen Puhle/ Aurel Croissant/Claudia Eicher/Peter Thiery, Defekte Demokratie. Band 1: Theorien und Probleme, Opladen 2003.

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Diktatur. Acht Putsche fanden statt, bevor im August 1936 schließlich der frühere General Ioannis Metaxas sein Regime etablierte. Als wesentlicher Faktor zur Erklärung der andauernden politischen Krise und damit auch der ausgebliebenen Demokratieetablierung und -konsolidierung dient Soursos das auf einem fundamentalen Konflikt über die griechische Außenpolitik zwischen Premierminister Eleftherios Venizelos und König Konstantin I. im Jahr 1915/16 zurückgehende „Nationale Schisma”. Seither standen sich in Griechenland Venizelisten and Antivenizelisten unversöhnlich gegenüber. Unversöhnlichkeit zwischen politischen Strömungen bestimmte letztlich auch das „Scheitern“ der Zweiten Republik Spaniens (1931 bis 1936). Sören Brinkmann (Barranquilla, Kolumbien) zeichnet in seiner Analyse einen sich graduell verschärfenden Prozess des allseitigen politischen Legitimitätsverlustes nach. Dabei griffen strukturelle und konjunkturelle Einflussfaktoren auf komplexe Weise ineinander. Relative sozialökonomische und produktive Rückständigkeit mit entsprechend geringen Verteilungsspielräumen traf im Spanien der 1930er-Jahre nicht nur auf stark politisierte Bürger und reformunwillige Eliten, sondern auch auf eine extrem geringe Bereitschaft aller politischen Lager bei grundlegenden Fragen Kompromisse zu schließen. War nun alles in allem die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit eine Misserfolgs- oder eine Erfolgsgeschichte?39 Eine Antwort auf diese Frage muss ausgewogen ausfallen. Die demokratische Achsenzeit nach dem „Großen Krieg“ ist bei näherer Betrachtung weder eine reine Erfolgs- noch eine reine Krisengeschichte. Sie beinhaltet in dichter zeitlicher Abfolge sowohl Momente des Triumphes als auch des Desasters der Demokratie.40 Lange hatte sich viel zu einseitig in der Betrachtung die Zwischenkriegszeit bloß als eine Zeit der tiefen Krisen der Demokratie eingebrannt. Vernachlässigt wurde dabei, dass sich erst während und vor allem in der Folge des „Großen Kriegs“ von 1914 bis 1918 die Demokratie als liberale und soziale Demokratie vollständig ausbildete. Allerdings sollte man auch die positiven Elemente der Demokratiegeschichte zwischen den

39 In Deutschland wird derzeit debattiert, wie sich der Sturz der Weimarer Demokratie angemessen in eine transnationale Demokratiegeschichte integrieren lässt. Vgl. u. a. Steffen Kailitz, Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik in international vergleichender Perspektive. Eine Replik auf den Beitrag von Tim B. Müller. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 63 (2015) 3, S. 437–451; Tim B. Müller, Krieg und Demokratisierung. Für eine andere Geschichte Europas nach 1918. In: Mittelweg 36, 4 (2014), S. 30–52; Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; ders./Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015; Roman Köster, Keine Zwangslagen? Anmerkungen zu einer neuen Dabatte über die deutsche Wirtschaftspolitik in der großen Depression. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 63 (2015) 1, S. 241–257. 40 Die programmatische Perspektive dieses ambivalenten Blicks auf die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit wird in dieser Einleitung nur kurz angerissen. Entfaltet wird sie in dem folgendem Beitrag des Herausgebers (Nach dem „Großen Krieg“ – vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939).

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Kriegen nicht einseitig überbetonen, wie dies Tim B. Müller in seinem Versuch der „Revision“ der Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit vornimmt.41 Die Zwischenkriegszeit war nämlich auch das Laboratorium, in dem neue und erfolgreiche – autoritäre und (keineswegs nur) totalitäre – Gegenentwürfe zur liberalen Demokratie erfunden und verwirklicht wurden. Geschichte wiederholt sich nicht. Das bedeutet aber nicht, dass der Blick auf die Vergangenheit keinerlei Wert für die Betrachtung der Gegenwart hat. Vorsichtige Lehren aus dem Verlauf der Achsenzeit der Demokratie für die Gegenwart zu ziehen, bedarf vor allem eines weiten vergleichenden Blicks auf die Vielfalt der Demokratieentwicklungen jener Zeit. Legt man diese Messlatte an, stehen die bisherigen Lehren aus der ersten fundamentalen Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit bislang auf unzureichendem Grund. Die bisherige Demokratieforschung zur Zwischenkriegszeit hat sich, wenn es um Lehren aus der Geschichte ging, viel zu stark vom Blick auf die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland leiten lassen. Die Demokratieentwicklung in sogenannten semiperipheren42 Staaten im Süden und Osten Europas wie etwa Griechenland oder Polen wurde sträflich vernachlässigt, obgleich Erkenntnisse aus ihrer Entwicklung auf heutige „semiperiphere“ Demokratien übertragbar erscheinen. Selbst das Scheitern der Demokratie in Italien oder Österreich wurde bislang nur selten systematisch – unter Einbezug des Blicks auf die Strukturen und das Verhalten aller zentralen Akteure – detailliert unter die Lupe genommen. Durch die Konzentration auf Deutschland entsteht aber ein Bild von der Zwischenkriegszeit, in dem Demokratien in einem „Zeitalter der Extreme“43 von extremistischen Bewegungen niedergerungen wurden.44 Dies ist zwar durchaus ein sehr wichtiger Teil des historischen Bildes, aber doch nur ein Ausschnitt. Wer nur diesen Ausschnitt starr beleuchtet, übersieht, dass die meisten Demokratien eben nicht durch klar extremistische Kräfte gestürzt werden, sondern durch den demokratisch legitimierten und ideologisch in der Regel eher in einer Grauzone zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus siedelnden Regierungschef oder durch das Militär, das in einer Staatskrise eingreift.

41 Zur Kritik an der Deutung Tim B. Müllers vgl. ausführlicher Kailitz, Demokratie und Wirtschaftspolitik. 42 Vgl. u. a. Nicos P. Mouzelis, Politics in the Semi-periphery: Early Parliamentarism and Late Industrialisation in the Balkans and Latin America, Houndmills 1986. 43 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1994. 44 Tatsächlich gelang es kommunistische Kräften in der Zwischenkriegszeit im Unterschied zu Faschisten und Nationalsozialisten keine einzige Demokratie zu stürzen. Allerdings trug ihr Wirken erheblich zur gesellschaftlichen Polarisierung in einer Reihe von Demokratien bei.

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Die Lehre daraus ist überaus unbequem. Wer propagiert, die Nation oder auch die Demokratie vor Kommunisten, Faschisten oder – wie etwa um den Bogen zur Gegenwart zu schlagen – vor Islamisten retten zu wollen und die Nation zu neuer Größe führen zu wollen, dem darf keineswegs blind vertraut werden. Zwischen 1918/19 und 1939 wurden Putsche gegen die Demokratie fast immer damit gerechtfertigt, dass sie Gefahren für den Staat und/oder die Nation und/ oder die Demokratie abwenden sollten. Nun kann ein rechtspopulistischer – zu den Grundfesten der Demokratie wie etwa der Gewaltenteilung ambivalent eingestellter – US-Präsident wie Donald Trump in einer etablierten Demokratie wie den USA in normalen Zeiten keineswegs nach Belieben schalten und walten. Was aber, wenn ein islamistischer Terroranschlag vom Ausmaß des 11. September 2001 oder auch „nur“ vom 13. November 2015 erfolgt? Eine zentrale Lehre aus der Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit für die Gegenwart ist, dass während der Präsidentschaft eines Rechtspopulisten eine akute Gefahr besteht, dass in einem solchen „Notfall“ die Demokratie im Namen der Wiedererlangung der Sicherheit von Nation und Staat gestürzt wird.45 „Nach dem Versagen der liberalen Demokratie blüht uns nun ein autoritäres Zeitalter“, verkündete Jakob Augstein kurz nach dem Wahlsieg Trumps.46 Ebenso wenig wie es aber 1990 an der Zeit war, einen weltweiten Sieg der Demokratie in die Welt zu trompeten, ist es ganz und gar voreilig der liberalen Demokratie ihr Totenglöcklein zu läuten. Die Zukunft der Demokratie ist offen.47 Sie war es 1918, 1990 und sie ist es heute. Zwar erscheinen derzeit weitere Rückschritte der Demokratie in den nächsten Jahren durchaus wahrscheinlich. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass der gegenwärtige Siegesmarsch der Rechtspopulisten als Reaktion eine neue Welle der demokratischen Mobilisierung auslöst.48 Viel hängt in den kommenden Jahren davon ab, wie liberale Demokraten weltweit auf die autoritäre Herausforderung reagieren. Das wirksamste Bollwerk gegen die Entdemokratisierung, dies rufen die Beiträge dieses Buches in Erinnerung, ist eine demokratische Zivilkultur belebt von Demokraten, die visionäre Zukunftsideen haben. Für einen agilen Optimismus der Demokraten im Kampf für die Demokratie gibt es noch immer mehr Anlass

45 Vgl. Steffen Kailitz, Gefahren durch Extremismus, Gefahren im Umgang mit Extremismus - Beobachtungen aus der Hochphase des „Zeitalters der Extreme“ (1919–1939). In: Zeitschrift für Politikwissenschaft. Sonderband 2015: Wie gefährlich ist Extremismus? Gefahren durch Extremismus, Gefahren im Umgang mit Extremismus. Hg. von Eckhard Jesse, S. 115–136. 46 Vgl. Jakob Augstein, US-Wahl: Trump des Willens. In: Spiegel Online vom 11.11.2016. 47 Die Offenheit der Geschichte zeigt sich nicht zuletzt am Scheitern von Prognosen. Bekanntlich wurden 2016 etwa fälschlich noch bis zum Vortag der Entscheidungen ein mehrheitliches Votum der Briten gegen den Brexit und die Wahl Hilary Clintons zur USPräsidentin vorhergesagt. 48 Eine abwägende Erörterung der Zukunftsperspektiven der Demokratie bietet Larry Diamond, Democracy After Trump. Can a Populist Stop Democratic Decline? In: Foreign Affairs vom 14.11.2016.

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als für einen letztlich nur phlegmatisch machenden Pessimismus. Nach wie vor ist die Modernisierungstheorie49, die in ihrer geläuterten Variante von einem holprigen und keineswegs bruchlosen langfristigen Trend in Richtung von mehr Demokratie ausgeht, keineswegs widerlegt. Ob die Zukunft der Demokratie eine Erfolgs- oder eine Misserfolgsgeschichte wird, hängt vom Handeln von Menschen und damit auch von dem Handeln aller Lesern dieses Buchs ab. Nichts in der Geschichte der Menschheit ist alternativlos vorherbestimmt. Abschließend danke ich allen Autorinnen und Autoren dieses Buches und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Hannah-Arendt-Institut, die an seiner Erstellung mitgewirkt haben, namentlich Uwe Backes, Magdalena Daller, Ilona Görke, Julia Herrmann, Darya Kulinka, Kristin Luthardt, Sonja Neumann, Thomas Riedel, Carina Schatten, Saskia Weise-Pötschke und Janis Wendland, darüber hinaus allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung „Nach dem ,Großen Krieg‘. Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939“. Der Fritz Thyssen Stiftung gebührt Dank für die großzügige Förderung der Tagung, die den Grundstein für dieses Buch legte.

49 Vgl. etwa Christian Welzel, Freedom Rising: Human Empowerment and the Quest for Emancipation, Cambridge 2013.

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I. Vergleichende Betrachtungen

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Nach dem „Großen Krieg“ – vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939 Steffen Kailitz

I. Einleitung Ist die Zwischenkriegszeit eine Zeit der tiefen „Krise der Demokratie“,1 deren Sog etwa die deutsche Demokratie in einen unentrinnbaren Strudel des Niedergangs mitriss? Oder ist sie umgekehrt eine Phase „einer transnationalen Entwicklung, in deren Verlauf sich die westliche liberale und soziale Demokratie ausbildete“ (und mithin der deutsche Demokratiezusammenbruch eine ­Ausnahmeerscheinung)?2 Beide polaren Sichtweisen enthalten Bausteine des Wahren und Falschen. Dieser Beitrag soll zeigen, dass die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit Elemente des Aufstiegs und Triumphs der Demokratie einerseits wie auch des Niedergangs und Desasters der Demokratie andererseits vereinte. Erst wenn aber die zentralen Begriffe einer Untersuchung geklärt sind, ist wirklich ein stabiles Fundament für eine empirische Untersuchung gelegt.3 Die derzeit diskutierten Versuche Tim B. Müllers,4 die ­Zwischenkriegszeit

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Vgl. u. a. William E. Rappard, Crisis of Democracy, Chicago 1938; Juan J. Linz, The Crisis of Democracy after the First World War. In: Roger Griffin (Hg.), International Fascism: Theories, Causes and the New Consensus, Oxford 1998, S. 175–188; Richard Bessel, The Crisis of Modern Democracy, 1919–39. In: Democratization. Hg. von David Goldblatt, Margaret Kiloh, Paul Lewis und David Potter, Cambridge 1997, S. 71–94. Vgl. Tim B. Müller, Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 62 (2014) 4, S. 569–601, hier 572. Folgende Werke machen sich stark, die Konzeptbildung als zentrale Fundamentlegung empirischer Analysen in den Sozialwissenschaften zu betrachten: John Gerring, Social Science Methodology: A Unified Framework, Cambridge 2012; Gary Goertz, Social Science Concepts: A User’s Guide, Princeton 2006; David Collier/John Gerring (Hg.), Concepts and Method in Social Science: The Tradition of Giovanni Sartori, London 2009; Giovanni Sartori (Hg.), Social Science Concepts: A Systematic Analysis, Beverly Hills 1984. Vgl. Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; ders., Krieg und Demokratisierung. Für eine andere Geschichte Europas nach 1918. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 4 (2014), S. 30–52; ders., Die Ordnung der Krise. Zur Revision der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Ideengeschichte, 8 (2014),

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in eine transnationale Demokratiegeschichte einzugliedern, kranken aber vor allem auch daran, dass zentrale Untersuchungsbegriffe wie Demokratie oder „Entfaltung der Demokratie“ nicht klar bestimmt sind. Erst eine präzise Abgrenzung von Demokratien und Nicht-Demokratien ermöglicht aber eine tragfähige Beurteilung der Zwischenkriegszeit als Zeit der „Krise“ und/oder „Entfaltung“ der Demokratie. Die Antwort auf die Frage, wie Demokratieforscher Demokratien und Nicht-Demokratien sowie das Scheitern und Überleben von Demokratien in der Zwischenkriegszeit abgrenzen, ist konkret zum einen mit Blick auf die Frage der Verbreitung der Demokratien und Nicht-Demokratien in der Zwischenkriegszeit von großem Interesse. Zum anderen ermöglicht erst eine stichhaltige Abgrenzung zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien und dem Überleben und Scheitern von Demokratien in der Zwischenkriegszeit tragfähige Antworten auf die Fragen, warum in dieser Zeit liberale Demokratien entstanden, nicht entstanden, überlebten oder zerbrachen. Der Grund ist ganz einfach: Wir ziehen falsche Schlüsse über Hunde, wenn wir Katzen untersuchen. Je höher wir die Schwelle legen, um ein politisches Regime als Demokratie zu bezeichnen, desto weniger Regime gelten als demokratisch. Je niedriger wir die Schwelle legen, desto mehr Regime fallen in den Bereich der Demokratie. Die Höhe der Demokratieschwelle verändert dabei die Zusammensetzung des Kreises der Demokratien. Bei einer niedrigen Schwelle sind „defekte“ Demokratien enthalten, bei einer sehr hohen nur konsolidierte Demokratien. Eine ausgesprochen niedrige – minimale – Demokratieschwelle bedeutet zugleich, dass wir bestimmte Vorgänge nicht mehr als Demokratiezusammenbruch, sondern nur als eine Veränderung im Rahmen der Regimeform Demokratie interpretieren. Wer etwa die Kontrolle der Exekutive durch Parlament und Gerichte nicht als ein Definitionskriterium der Demokratie ansieht, der kann es nicht zugleich als Demokratiezusammenbruch werten, wenn die Exekutive etwa im Zuge von Notstandsgesetzen ihre Kontrolle durch das Parlament ausschaltet. Es ist also nicht unnütz, sondern eine notwendige Voraussetzung für ein präziseres Urteil über die transnationale Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit, zunächst einmal darüber zu streiten, wie Demokratien und Nicht-Demokratien und wie das Scheitern und Überleben von Demokratien sinnvoll abzugrenzen sind. Weiterhin muss eine transnationale Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit letztlich global geschrieben werden. Aufstieg und Fall der Demokratie in der Zwischenkriegszeit sind Teil des langen Prozesses der globalen Verbreitung der Demokratie. Erstaunlicherweise beschränken sich bis heute nahezu S. 119–126. Zur Diskussion vgl. Steffen Kailitz, Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik in international vergleichender Perspektive. Eine Replik auf den Beitrag von Tim B. Müller. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 63 (2015) 3 (i. E.); Claus-Dieter Krohn, Neue Geschichtsmetaphysik. Tim B. Müllers Blick auf die Weimarer Republik, http://www.ifz-muenchen.de/fileadmin/user_upload/Vierteljahreshefte/ Forum/Krohn_Müller.pdf (15.2.2015); Paul Köppen, Neue Perspektiven zur Zwischenkriegszeit – Eine Antwort auf Claus-Dieter Krohn, http://www.ifz-muenchen.de/fileadmin/user_upload/Vierteljahreshefte/Forum/­Köppen_Müller.pdf (15.2.2015).

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Nach dem „Großen Krieg“

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alle Betrachtungen zum Scheitern und Überleben der Demokratie in der Zwischenkriegszeit aber auf Europa. Wer die USA, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg eine dominante Macht war, wie die angelsächsischen Dominions aus der Niederschrift der Demokratiegeschichte ausklammert, verwehrt sich einen Blick darauf, dass die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit eben keineswegs eine reine Misserfolgsgeschichte war. Wer dagegen etwa die ostmittel- und südeuropäischen Demokratien aus-, die USA dagegen einschließt, der versperrt sich systematisch den Blick auf die Misserfolge von Demokratisierungen der Zwischenkriegszeit. Um das Scheitern und Überleben der Demokratie angemessen in die Demokratiegeschichte einzuordnen, ist eine globale Perspektive notwendig. Ich lege in diesem Beitrag zunächst dar, wie sich liberale Demokratien von Nicht-Demokratien abgrenzen lassen. Aus der Bestimmung der notwendigen Merkmale der liberalen Demokratie leite ich ab, wann eine Demokratisierung und wann ein Demokratiezusammenbruch vorliegt. Erst auf diesem soliden Fundament bewerte ich anschließend, wo Licht und wo Schatten in der Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit zu erkennen sind.

II.

Wann ist ein Land eine Demokratie und wann nicht mehr?

Eine Demokratie ist zunächst einmal eine politische Regimeform. Daher ist erst zu bestimmen, was überhaupt ein politisches Regime ist. Das politische Regime ist das „Betriebssystem“, das auf der „Hardware“ des Staats läuft.5 Ohne einen – souveränen – Staat gibt es also kein eigenständiges politisches Regime. Ein politisches Regime umfasst die Regeln darüber, wer: 1. prinzipiell die Möglichkeit hat, die Politik des Landes zu bestimmen; 2. berechtigt ist, die entscheidenden Politiker zu bestimmen; 3. unter welchen Bedingungen und Beschränkungen politische Macht ausübt.6 In Phasen, in denen ein Territorium besetzt ist, Bürgerkrieg herrscht oder aus anderen Gründen ein Staatsversagen festzustellen ist, gibt es kein souveränes politisches Regime. Diese Abgrenzung hat Folgen. Nicht als Demokratiezusammenbruch, sondern als von außen erzwungene Regimeunterbrechungen, erscheinen aus dieser Perspektive Besatzungen von demokratischen Ländern wie

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Die Analogie stammt von Patrick H. O’Neil, Essentials of Comparative Politics, New York 2007, S. 25. Vgl. Steffen Kailitz, Classifying Political Regimes Revisited: Legitimation and Durability. In: Democratization, 20 (2013) 1, S. 38–59. Zur Bestimmung des Regimebegriffs und der Abgrenzung von Regimewechseln vgl. auch Stephanie Lawson, Conceptual Issues in the Comparative Study of Regime Change and Democratization. In: Comparative Politics, 25 (1993) 2, S. 183–205; Svend-Erik Skaaning, Political Regimes and Their Changes: A Conceptual Framework, Stanford 2006.

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etwa Dänemarks und Norwegens während des Zweiten Weltkriegs.7 Weiterhin sind Transitionen als Phasen der Unsicherheit,8 in denen sich ein politisches Regime als ein Ensemble von Regeln (noch) nicht etabliert hat, von Regimephasen abzugrenzen. Teil der Transitionsphase sind Zeiten zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sich ein Politiker wie Philipp Scheidemann in Deutschland auf einen Balkon stellt und die Demokratie ausruft, und dem Zeitpunkt, an dem die Wahlberechtigten das erste Mal ihre Regierung wirklich direkt oder indirekt durch freie und faire Wahlen bestimmen können. Demokratie gehört zu den – nicht nur in den Sozialwissenschaften – umstrittenen Begriffen.9 Wir müssen nur daran denken, dass etwa die Regierenden in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gleichermaßen beanspruchten, „demokratisch“ zu regieren. Der Demokratiebegriff der „Volksdemokratien“ war jedoch ein ganz anderer als jener der westlichen Demokratien. Demokratieforscher im 21. Jahrhundert gehen in ihren Untersuchungen durchweg vom „westlichen“, „konstitutionellen“ und „liberalen“ Demokratiebegriff aus. Fast alle Abgrenzungen der Demokratie in der vergleichenden Politikwissenschaft gehen immerhin von einem gemeinsamen Kern des Begriffs aus. Die Konsensbildung ging von der Demokratiebestimmung Robert Dahls aus.10 Demokratien unterscheiden sich demnach von anderen politischen Regimen durch einen – freien und fairen – Wettbewerb und/oder einen hohen Grad der Partizipationsmöglichkeit der Bürger bei der Selektion der politischen Führer.11 Als drittes notwendiges Kernkriterium der Demokratie erscheint einer ganzen Reihe von

 7 So handhaben es etwa Renske Doorenspleet, Reassessing the Three Waves of Democratization. In: World Politics, 52 (2000), S. 384–406; Alan Siaroff, Comparing Political Regimes. A Thematic Introduction to Comparative Politics, Toronto 2009, S. 273. Huntington und Møller/Skaaning haben bei den „Wellen“ und „Gegenwellen“ dagegen Besatzungen mitgerechnet. Dadurch entsteht der Eindruck eines deutlich tieferen Einbruchs der Demokratie in der Zwischenkriegszeit als bei der hier verwendeten alternativen Berechnungsform. Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991, S. 16; Jørgen Møller/Svend-Erik Skaa­n­ing, Requisites of Democracy: Conceptualization, Measurement, and ­Explanation, London 2011, S. 72 f.  8 Vgl. u. a. Andreas Schedler, Taking Uncertainty Seriously: The Blurred Boundaries of Democratic Transition and Consolidation. In: Democratization, 8 (2001) 4, S. 1–22.  9 Den Begriff prägte: Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts. In: Proceedings of the Aristotelian Society, (1956) 56, S. 167–198. Den aktuellen Diskussionsstand entfalten David Collier/Fernando Daniel Hidalgo/Andra Olivia Maciuceanu, Essentially Contested Concepts: Debates and Applications. In: Journal of Political Ideologies, 11 (2006) 3, S. 211–246. 10 Dahl spricht lieber von „Polyarchie“, da nach seiner Einschätzung kein Land der Welt je die Schwelle zu einer wirklichen Demokratie genommen hat. 11 Vgl. Robert A. Dahl, Polyarchy: Participation and Opposition, New Haven 1971, S. 7. Vgl. auch Angel Alvarez/Michael Coppedge/Claudia Maldonado, Two Persistent Dimensions of Democracy: Contestation and Inclusiveness. In: Journal of Politics, 70 (2008) 3, S. 632–647; G. Bingham Powell, Contemporary Democracies. Participation, Stability and Violence, Cambridge 1982, S. 3; Tatu Vanhanen, The Emergence of Democracy. A Comparative Study of 119 States, 1850–1979, Helsinki 1984, S. 11.

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Demokratieforschern die institutionelle Kontrolle der demokratisch legitimierten Exekutive durch Gerichte und ein volksgewähltes Parlament.12 Ein politisches Regime, in dem kein Gericht den Regierungschef für Verletzungen der Gesetze verantwortlich machen kann und/oder der unabhängig von der Parlamentsmehrheit alle Grundlinien der Politik bestimmen kann, ist demnach nicht demokratisch. Um den Kreis der Demokratien der Zwischenkriegszeit einzugrenzen, habe ich in einem ersten Schritt die transnational vergleichend angelegte Forschungsliteratur zur Zwischenkriegszeit und die wichtigsten internationalen Regimedatensätze (CDPS, CNTS, Lexical, PIPE, PRCD, Polity IV) ausgewertet, die alle oder nahezu alle Länder der Zwischenkriegszeit erfassen. Die Einordnungen der Länder basieren bei diesem Untersuchungsschritt auf neun bis 14 Experteneinstufungen der Regimeform für einzelne Länder. Zehn der ausgewerteten Einstufungen richten sich auf alle Länder der Welt.13 Prinzipiell wurden nur vergleichende Betrachtungen herangezogen, die zumindest einen Kontinent in den Blick nahmen. An der fundierten Einordnung der Fälle war bei den internationalen Regimedatensätzen eine ganze Reihe von Forschern beteiligt, bei den qualitativen Untersuchungen stuften gewöhnlich ein bis drei Forscher die Regime ein.14 Mit relativ wenigen Ausnahmen gibt es einen sehr klaren Grundtenor, ­welche Länder in der Zwischenkriegszeit Demokratien waren; etwas größere Abweichungen gibt es bei der genauen zeitlichen Abgrenzung der demokratischen Phasen.15 Viele vom Grundtenor abweichende Einordnungen eines Landes als Demokratie oder Nicht-Demokratie sind dabei als Fehlkodierungen oder zumindest als Außenseiterbewertungen einzelner Fälle zu sehen. Tatsächlich gibt es nur bei vier Ländern nahezu ein Patt in der Beurteilung der Regime­ experten, ob es eine demokratische Phase in der Zwischenkriegszeit gab. Dies sind Bulgarien, Chile, Jugoslawien und – für manchen europazentrierten Forscher vielleicht etwas überraschend – Japan.16 12 Vgl. Hans-Joachim Lauth, Die Kontrolldimension in der empirischen Demokratiemessung. In: Hans-Joachim Lauth/Gert Pickel/Christian Welzel (Hg.), Demokratiemessung. Konzepte und Befunde im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2000, S. 49–72. 13 Darunter befinden sich einige wenige, die nicht als Datensatz online vorliegen: Doorenspleet, Reassessing the Three Waves; Huntington, The Third Wave, S. 15, Alan Siaroff, Comparing Political Regimes. A Thematic Introduction to Comparative Politics, Toronto 2009. 14 Zu den mit Blick auf die Einstufung europäischer Regime der Zwischenkriegszeit herangezogenen Werke zählen u. a. Nancy Bermeo, Ordinary People in Extraordinary Times: The Citizenry and the Breakdown of Democracy, Princeton 2003; Giovanni Capoccia, Defending Democracy: Reactions to Extremism in Interwar Europe, Baltimore 2005. 15 Vgl. dazu und vor allem zur Auseinandersetzung mit den „Grenzfällen“ zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie in der Zwischenkriegszeit den Beitrag von Jørgen Møller und Svend-Erik Skaaning in diesem Band. 16 Auf den Abdruck der Übersicht der Regimezuordnungen in diesem Beitrag wurde wegen der Überschneidung mit der ähnlichen auf Europa begrenzten Auswertung von Expertenwertungen verzichtet. Vgl. den Online-Appendix zu diesem Beitrag auf den Seiten des HAIT. Zu den Untersuchungen, die Phasen der Geschichte Japans in der Zwischenkriegszeit als demokratisch zu klassifizieren, gehören: Huntington, The Third Wave, S. 15; Alan Siaroff, Comparing Political Regimes. A Thematic Introduction to Comparative Politics, Toronto 2009.

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In einem zweiten Schritt lege ich bei der Eingrenzung des Felds der Demokratien eine einheitliche Demokratiedefinition zugrunde. Eine Demokratie zeichnen demnach sechs anspruchsvolle Merkmale aus: 1. Es gibt ein gewähltes Parlament. 2. Der Regierungschef geht direkt aus Wahlen hervor, oder er wird auf der Grundlage des Ergebnisses der Parlamentswahlen bestimmt. Die Wähler müssen bei den Wahlen wirklich auswählen können. Es muss also mindestens eine Partei geben, die nicht Staatspartei wie die KPdSU in der Sowjetunion ist oder zu einem Einheitsblock von Regimeparteien wie in der DDR zählt. Weiterhin muss der demokratisch legitimierte Regierungschef tatsächlich die Regierungsmacht ausüben. 3. Die politische Macht des Regierungschefs muss effektiv durch ein Parlament und Gerichte beschränkt und kontrolliert sein. 4. Die Wahlen müssen frei und fair sein. Die Regierung darf also nicht die Opposition unterdrücken, und es dürfen keine Stimmen gekauft oder das Wahlergebnis manipuliert werden. 5. Es sind Versammlungs-, Organisations-, Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet. Dieser fünfte Punkt bildet den Kern des Attributs „liberal“ von Demokratien.17 6. Es gilt zumindest das allgemeine Männerwahlrecht, und es gibt keine einfluss­ reichen Stimmgewichtungen. Alle politischen Regime, die zwar die ersten beiden Merkmale erfüllen, aber ganz und gar nicht das dritte und/oder vierte und/oder fünfte, sind elektorale Autokratien.18 Politische Regime, bei denen nur kleinere „Defekte“ bei den Punkten 3, 4, 5 oder 6 vorliegen, können dagegen noch als „defekte Demokratien“19 gelten. Alle politischen Regime, die nur das sechste Kriterium des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts nicht erfüllen, sind elektorale Oligarchien. Ein Beispiel für eine elektorale Oligarchie ist Großbritannien vor 1918. 17 Faktisch impliziert Punkt 4 bereits Punkt 6. Die explizite Benennung der Freiheitsrechte in einem eigenem Punkt betont aber doch deutlich besser das starke Gewicht der Freiheitsrechte zur Charakterisierung der liberalen Demokratie. Die Charakterisierung von Staaten als „illiberale Demokratien“ (u. a. Fareed Zakaria, The Rise of Illiberal Democracy. In: Foreign Affairs, 76 [1997] 6, S. 22–43; ders., The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad, New York 2003) zeigt an, dass elektorale Regime empirisch nicht mit einer Verwirklichung der Bürgerrechte einhergehen müssen. Vgl. zum definitorischen Fehlschluss, dass ein Regime mit Mehrparteienwahlen eine Demokratie sein muss u. a. Terry Lynn Karl, Electoralism. In: Richard Rose (Hg.), The International Encyclopedia of Elections, Washington 2000, S. 95 f. 18 Vgl. zum Konzept der elektoralen Autokratien bzw. (synonym verwendet) des elektoralen Autoritarismus: Andreas Schedler (Hg.), Electoral Authoritarianism. The Dynamics of Unfree Competition, Boulder 2006. 19 Vgl. Wolfgang Merkel, Embedded and Defective Democracies. In: Democratization, 11 (2004) 5, S. 33–58; Aurel Croissant/Wolfgang Merkel, Formale Institutionen und informale Regeln in defekten Demokratien. In: Politische Vierteljahresschrift, 41 (2000), S. 3–30.

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Aus demokratietheoretischer wie aus heutiger Perspektive lässt sich bezweifeln, ob Länder bereits durch ein allgemeines Männerwahlrecht und nicht erst durch ein universelles Wahlrecht aller Erwachsenen die Grenze zur liberalen Demokratie überschreiten. Ein Ausschluss aller Frauen von Wahlen erscheint nämlich ebenso unvereinbar mit einer liberalen Demokratie wie der Ausschluss aller Schwarzen von den Wahlen in Südafrika zu Zeiten der Apartheid. Wenn wir in der Zwischenkriegszeit das universale Wahlrecht als notwendiges Demokratiekriterium ansehen, dann führt dies dazu, dass wir die USA erst ab 1920, Großbritannien erst ab 1928 und etwa Belgien, Frankreich und die Schweiz in der Zwischenkriegszeit zu keinem Zeitpunkt als Demokratien einstufen können. Wer diese Staaten aber für die gesamte Zwischenkriegszeit als Nicht-Demokratien einstuft, setzt sich in ein fundamentales Spannungsverhältnis zur zeitgenössischen Einordnung dieser politischen Regime in der Zwischenkriegszeit. Daher ist in den sauren Apfel zu beißen und als notwendiges Kriterium für Demokratien der Zwischenkriegszeit lediglich das allgemeine Männerwahlrecht zu setzen. Zugleich zwingt der Pragmatismus auch dazu, über faktische rassistische Einschränkungen des Wahlrechts in den Südstaaten der USA hinwegzusehen. Bereits diese wenigen beiläufigen Bemerkungen zeigen, dass es in der Zwischenkriegszeit so etwas wie vollendete Demokratien nicht gab.20 Die moderne Massendemokratie war Anfang der 1920er-Jahre noch ein historisch neues Phänomen. Die Ergebnisse der inhaltlichen Abgrenzung des Kreises der Demokratien auf der Grundlage der sechs Kriterien harmonisiert mit der Abgrenzung des Kreises der Demokratien auf der Grundlage des Tenors der bisherigen Expertenwertungen. Die Grenzfälle Chile und Japan lassen sich nach inhaltlicher Betrachtung den Nicht-Demokratien zuweisen, während bei Bulgarien und Jugoslawien Zweifel bleiben, ob diese eher Gerade-so- oder eher Gerade-so-nicht-Demokratien sind. Einige Fälle wie Argentinien, Griechenland und Portugal rücken dagegen erst durch diese systematische Prüfung der Defini­ tionsmerkmale der Demokratie deutlich in einen Grenzbereich zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie. Bei den Zweifelsfällen wurde letztlich pragmatisch der bisherige vorherrschende Tenor der Entscheidung als Grundlage der Zuordnung zu Demokratie und Nicht-Demokratie genutzt. Argentinien, Griechenland und Portugal firmieren daher als Demokratien, Bulgarien und Jugoslawien als Nicht-Demokratien. Es sei aber klar unterstrichen, dass mit dieser Grenzziehung nicht vernebelt werden soll, dass diese Regime weit mehr miteinander gemeinsam haben als die demokratischen Phasen Griechenlands und ­Großbritannien einerseits sowie die nicht-demokratischen Phasen Deutschlands (also 1933 bis 1945) und Jugosla­wiens andererseits. 20 Insofern ist es aus der Perspektive des transnationalen Vergleichs kaum hervorhebenswert, dass die deutsche Demokratie „unvollendet“ war. Dieser Punkt wird aber in der Geschichtsschreibung zur deutschen Demokratie der Zwischenkriegszeit noch immer sehr stark betont. Vgl. u. a. Horst Möller, Die Weimarer Republik: Eine unvollendete Demokratie, München 2006.

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Nachdem inhaltlich bestimmt ist, wann ein Staat eine liberale Demokratie ist, lässt sich im Umkehrschluss daraus ableiten, wann wir eine Demokratisierung und wann wir einen Demokratiezusammenbruch vor uns haben. Bei der Bestimmung des Begriffs Demokratisierung ist zwischen zwei möglichen Begriffsinhalten zu unterscheiden: Mit Demokratisierung im Sinne eines Prozesses kann jede Bewegung in Richtung mehr Demokratie, etwa durch Wahlrechtserweiterung in einem politischen Regime, gemeint sein. Das Ereignis der Demokratisierung eines Staats, also nicht bloß eine Bewegung in Richtung der Demokratie, liegt aber erst dann vor, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt mindestens ein vorher fehlendes notwendiges Merkmal der Demokratie hinzukommt und damit alle notwendigen Merkmale der Demokratie erfüllt sind. Für eine Demokratisierung genügen also Worte nicht. So begann, als Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die deutsche Republik ausrief, die Transition zur Demokratie, aber Deutschland war damit noch nicht demokratisch. Das Ereignis eines Demokratiesturzes liegt dann vor, wenn mindestens eines der notwendigen Merkmale einer Demokratie außer Kraft gesetzt wird. Dies ist der Fall, wenn: 1. ein Regierungschef das Parlament ohne verfassungsrechtliche Grundlage und ohne klare Bestimmung eines Termins für Neuwahlen auflöst. 2. der Regierungschef nicht mehr demokratisch legitimiert ist. Dies ist etwa immer dann der Fall, wenn politische Oppositionsbewegungen und/oder das Militär mit Gewalt oder ihrer Androhung erzwingen, dass Personen ohne demokratische Legitimation die Regierung übernehmen. Zu beachten ist dabei, dass Regierungschefs in parlamentarischen Demokratien ihre demokratische Legitimation verlieren, wenn sie ohne verfassungsmäßige Grundlage das Parlament auflösen und/oder sich durch Wahlen im Amt bestätigen lassen, die nicht mehr frei und fair sind. 3. die Exekutivmacht nicht mehr effektiv durch das Parlament und/oder Gerichte kontrolliert wird. Dies geschieht, wenn Regierungschefs die verfassungsmäßigen Kontrollen der Exekutive aushebeln. 4. sich ein Regierungschef durch gefälschte Wahlen im Amt bestätigen lässt oder sich durch gefälschte Wahlen eine Parlamentsmehrheit verschafft. Auch der Beginn einer systematischen Benachteiligung der Opposition markiert das Ende einer Demokratie. Dies kann etwa durch ein Verbot aller Opposi­ tionsparteien oder zumindest der stärksten Oppositionspartei geschehen. 5. die Regierung die Vereinigungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit nicht nur – mit guter Begründung wie einem Kriegsfall und zeitlich begrenzt – einschränkt, sondern weitgehend und unbefristet abschafft. 6. das allgemeine Wahlrecht wieder abgeschafft wird oder Stimmgewichtungen eingeführt werden. Der Begriff der „Demokratiekonsolidierung“ ist für die folgende Betrachtung bedeutsam, aber im Vergleich zu den Begriffen „Demokratisierung“ und ­„Demokratiezusammenbruch“ nachgeordnet. Im Kern verweisen die folgen-

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den ­Betrachtungen in mancher Hinsicht gar auf die Problematik des Begriffs der „Demokratiekonsolidierung“. Eine Demokratie gilt in der Demokratieforschung gewöhnlich als konsolidiert, wenn aufgrund ihres Zustands, im Kern ihrer Demokratiequalität, ihr Sturz als extrem unwahrscheinlich angesehen werden kann.21 Konsolidierte Demokratien brechen demnach (nahezu) per definitionem nicht zusammen. Wenn eine Demokratie zusammenbricht, scheiterte also zuvor bereits die Konsolidierung der Demokratie.

III. Von der ersten langen „Welle“ der Demokratisierung zur ­ „Explosion“, dem „Rückstoß“ und der „Krise“ der Demokratie in der Zwischenkriegszeit Zur Beschreibung der historischen Entwicklung der Verteilung zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien nutzte Samuel Huntington die Metapher der „Welle“. Eine „Welle“ der Demokratisierung umfasst demnach eine Gruppe von Transitionen von der Nicht-Demokratie zur Demokratie in einem abgegrenzten Zeitraum. Die Zahl der Transitionen von der Nicht-Demokratie zur Demokratie muss in diesem Zeitraum deutlich die Zahl der Transitionen von der Demokratie zur Nicht-Demokratie übertreffen.22 Laut Samuel Huntington zog sich die „erste Welle“ der Demokratisierung über einen Zeitraum von fast genau 100 Jahren hin, von 1828 bis 1926. Die erste autokratische „Rückwelle“ dauerte laut Huntington von 1922 bis 1942. Das Ende der „ersten Welle“ der Demokratisierung überlappt damit bei Huntington in der Endphase mit der ersten autokratischen „Rückwelle“.23 Es erscheint konzeptionell wenig überzeugend zu behaupten, dass ein bestimmter Zeitraum zugleich von einer „Welle“ der Demokratisierung und einer „Gegenwelle“ der Entdemokratisierung charakterisiert gewesen sein soll. Sinnvoller erscheint es, solche Phasen, in denen sich Transitionen zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien die Waage halten, als Phasen der Stagnation und/oder relativ gleichmäßigen Fluktuation zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien weder einer „Welle“ der Demokratie noch einer „Gegenwelle“ zuzurechnen. Solche Phasen haben schlicht keinen klaren Trend.

21 Vgl. u. a. Andreas Schedler, Measuring Democratic Consolidation. In: Studies in Comparative International Development, 36 (2001) 1, S. 66–92; ders., What is Democratic Consolidation? In: Journal of Democracy, 9 (1998) 2, S. 91–107; Harald Waldrauch, Was heißt demokratische Konsolidierung? Über einige theoretische Konsequenzen der osteuropäischen Regimewechsel, Wien 1996; Stephen E. Hanson, Defining Democratic Consolidation. In: Postcommunism and the Theory of Democracy. Hg. von Richard Anderson, M. Steven Fish, Stephen E. Hanson und Philip G. Roeder, Princeton 2001, S. 126–151. 22 Vgl. Huntington, The Third Wave, S. 15. 23 Vgl. ebd., S. 16.

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Huntingtons Abgrenzung der „ersten Welle“ der Demokratie von 1828 bis 1926 erscheint auch in anderer Hinsicht korrekturbedürftig. Huntington vermengt in seiner „ersten Welle“ die frühen Demokratien mit ihren überaus langen Demokratisierungsprozessen wie in Großbritannien und den USA mit den Demokratien, die sich erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs mit einem radikalen Schritt neu etablierten. Eine analytische Trennung der langsamen Demokratisierungen im Zuge der „ersten Welle“ der Demokratie und jener Demokratisierungen im Zuge einer rasanten explosionsartigen Verbreitung der Demokratie während eines kurzen „liberalen Moments“ der Geschichte erscheint aber notwendig. Wie lässt sich auf dieser Grundlage die Demokratiegeschichte bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammenfassen? Wenn das erste Überschreiten der Schwelle zur Demokratie von Ländern als Ausgangspunkt der „Welle“ zählt,24 beginnt also die „erste Welle“ erst deutlich später als von Huntington angegeben. Die erste lange „Welle“ der Demokratisierung reicht demnach „nur“ von 1870 bis 1920.25 Vor dem Ersten Weltkrieg überquerten nach langen Prozessen, die keineswegs ohne Rückschläge und Umwege verliefen, die USA und Frankreich bis 1870,26 die Schweiz bis 1879, Neuseeland bis 1889, Kanada bis 1898, Australien bis 1903, Norwegen bis 1905 und Belgien bis 1909 die Schwelle zur liberalen Demokratie. Als der Erste Weltkrieg begann, gab es weltweit erst acht liberale Demokratien. Nur vier europäische Staaten waren darunter: Belgien, Frankreich, Norwegen und die Schweiz. Eine Reihe weiterer europäischer Staaten bewegte sich wie Großbritannien bereits seit sehr langer Zeit in Richtung Demokratie, ohne aber die Schwelle zur liberalen Demokratie bereits überschritten zu haben. Vorreiter der demokratischen Entwicklung waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere die angelsächsischen Siedlerkolo­ nien Australien, Kanada, Neuseeland und die USA. Typisch für die Staaten der „ersten Welle“ der Demokratisierung ist, dass diese Staaten politischen Wettbewerb ermöglichten und Bürgerrechte gewährleisteten, lange bevor sie (zumindest) die erwachsene (männliche) Bevölkerung an der Auswahl ihrer politischen Vertreter beteiligten. Weiterhin waren auf dem Weg hin zur Demokratie in fast allen Ländern wie etwa in Großbritannien, den USA und allen lateinamerikanischen Wahlregimen massive Wahlmanipulationen üblich.27 Bereits in der Zeit des Ersten Weltkriegs nahm die Verbreitung der Demokratie in Europa deutlich zu. Nach ihren langen Bewegungen in Richtung Demokratie überquerten nun auch Dänemark 1915, die Niederlande

24 Gerade Huntingtons „Wellen“-Definition verlangt dieses Vorgehen. Es gibt nach seiner Definition nämlich keine „Welle“ ohne abgeschlossene Transitionen zur Demokratie. 25 Vgl. den Online-Appendix dieses Beitrags zu den historischen Marksteinen der Demokratisierung in den Demokratien der Zwischenkriegszeit. 26 In den beiden ersten modernen Demokratien dauerte der Demokratisierungsprozess mithin rund 100 Jahre. 27 Vgl. John Garrard, Democratization in Britain. In: John Garrard/Vera Tolz/Ralph ­White (Hg.), European Democratization since 1800, Basingstoke 2000, S. 27–49.

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und Schweden 1917 sowie Großbritannien 1918 die Demokratieschwelle. In den europäischen Staaten erfolgten diese langsamen Übergänge zur Demokratie durch eine allmähliche Ausweitung des Wahlrechts und/oder dadurch, dass der Monarch nach und nach seine Exekutivmacht an den demokratisch legitimierten Regierungschef verlor. Argentinien und Uruguay überschritten 1916 die Schwelle zur Demokratie auch durch eine Ausweitung der Partizipation, vor allem aber durch eine – weitgehende – Sicherung der Fairness der Wahlen.28 Aus der Perspektive der „ersten Welle“ war Demokratisierung ein langwieriger historischer Schleichweg zu mehr und mehr Demokratie. Den erfolgreichen Demokratisierungen stand aber während der „ersten Welle“ der Demokratisierung mit Portugal nur ein Land gegenüber, in dem die Demokratisierung scheiterte.29 Portugal stellt allerdings mit Blick auf die geringe tatsächliche Wahlbeteiligung und das hohe Maß der Gewalt in der portugiesischen Politik einen Grenzfall zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie dar. Es spricht fast genauso viel dafür, Portugal keine gelungenen Transitionen zur Demokratie zu attestieren. Wenn wir Portugal unterhalb der Schwelle der liberalen Demokratie einordnen, dann gab es während der gesamten „ersten Welle“ der Demokratisierung keine einzige Transition von einer liberalen Demokratie zu einer Nicht-Demokratie. Es ist höchst beliebt und durchaus naheliegend, den Ersten Weltkrieg jedenfalls mit Blick auf Europa als einen wesentlichen Katalysator der ­Demokratisierung anzusehen.30 Kriegseinsatz und Ausweitung des Wahlrechts waren bereits im Zuge der Französischen Revolution untrennbar verbunden. So legte das Dekret vom 3. August 1792 fest, dass jeder Franzose der im „Freiheitskrieg“ gekämpft hatte, das Wahlrecht erhielt.31 Der Erste Weltkrieg war nun ein Krieg der nach Millionen zählenden Massen. Eric Hobsbawm nennt dies – etwas zynisch – eine „Demokratisierung des Kriegs“.32 War also der Durchbruch der Massendemokratie eine Folge des bis dahin größten Massenkriegs der Geschichte?

28 Vgl. u. a. Anne L. Potter, The Failure of Democracy in Argentina 1916–1930: An Institutional Perspective. In: Journal of Latin American Studies, 13 (1981) 1, S. 83–109; Philip B. Taylor, The Uruguayan Coup d’Etat of 1933. In: Hispanic American Historical Review, 32 (1952), S. 301–320. Im Falle Argentiniens lässt sich allerdings durchaus darüber streiten, ob angesichts deutlicher Mängel bei der Kontrolle der Exekutive und lokalen Wahlmanipulationen die Grenze zur liberalen Demokratie wirklich überschritten wurde. 29 Dies allerdings gleich zweimal, am 25. 1. 1915 und am 12. 5. 1917. Beide portugiesischen Demokratiezusammenbrüche finden sich, wohl weil sie sich im Schatten des Weltkriegs in einem Staat an der südwestlichen Peripherie Europas ereigneten, bislang in keiner Auflistung von weltweiten Demokratiezusammenbrüchen. 30 Vgl. u. a. Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 63 (2014), S. 321–348, hier 323–326. 31 Vgl. Adam Przeworski, Conquered or Granted? A History of Suffrage Extensions. In: British Journal of Political Science, 39 (2009) 2, S. 291–321, hier 303. 32 Eric Hobsbawm/Yvonne Badal, Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1994, S. 48.

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Bei den Demokratisierungen zur Zeit des Ersten Weltkriegs – auf dem Gipfel der „ersten Welle“ – war nur in einem Fall der Erste Weltkrieg eine mögliche Hauptursache der Ausweitung des Wahlrechts: Großbritannien. Beim Blick auf die britische Demokratiegeschichte gilt es vielen als ausgemacht, dass die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer ein Tauschgut für deren Kriegseinsatz gewesen sei. Hierfür gibt es auch einige Anhaltspunkte. So deutet die nach Kriegsbeginn einsetzende britische Diskussion um „one rifle, one vote“ klar in diese Richtung.33 Auch an diesem Punkt zeigt sich aber, dass die europäische Perspektive unzureichend ist, weil dadurch mit Scheuklappen auf die Geschichte geblickt wird. Aus der globalen Perspektive war das „Mutterland“ der Parlamentarisierung inzwischen nämlich bei der Wahlrechtserweiterung auf alle Männer von seiner ehemaligen Kolonie USA und seinen Dominions Australien, Kanada und Neuseeland bei der Demokratisierung überholt worden. In Europa hatten selbst autoritäre Mächte wie das Deutsche Kaiserreich und das Habsburger Reich bereits längst das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt. Es war aus der globalen Perspektive also überfällig, dass auch Großbritannien endlich (zumindest) alle erwachsenen Männer ihre parlamentarischen Vertreter bestimmen ließ. Es erscheint unwahrscheinlich, dass das Wahlrecht auch ohne den Krieg den Männern Großbritanniens noch sehr lange verwehrt worden wäre. Bei Dänemark, den Niederlanden, Schweden, Argentinien und Uruguay sowie auch Portugal kommt eine direkte demokratisierende Wirkung des Ersten Weltkriegs ohnehin kaum als vorrangiger Erklärungsfaktor infrage. Alle diese Staaten waren im Ersten Weltkrieg neutral oder wie Portugal Kriegsteilnehmer mit einer nur marginalen Beteiligung. Zumindest bei den Demokratisierungen auf dem Gipfel der „ersten Welle“ war der Erste Weltkrieg also nicht die entscheidende Ursache. Die Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses während des Ersten Weltkriegs erscheint bis zur russischen Februarrevolution 1917 eher als eine zeitliche Koinzidenz denn als eine Folge des Ersten Weltkriegs. Der Erste Weltkrieg hatte sogar im Sinne einer Machtkonzentration bei der Exekutive und einer Beschränkung der Freiheitsrechte der Bürger deutlich weniger demokratie- als autokratieförderliche Wirkungen, etwa in Frankreich und Großbritannien.34 Der erste moderne Massenkrieg, der massiv die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zog, förderte im Zuge der Kriegspropaganda aller Seiten zudem völkische Klischees und damit rechtsextremes imperialistisches Denken. Der Erste Weltkrieg war zunächst ganz und gar kein kriegerisches Kräftemessen zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien. Er begann vielmehr als geradezu familiärer Konflikt zwischen der parlamentarischen Monarchie Großbritannien, der konstitutionellen Monarchie des Deutschen Kaiserreichs und 33 Vgl. Jörn Leonhard, Gewalt und Partizipation. Die Zivilgesellschaft im Zeitalter des Bellizismus. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 14 (2005) 4, S. 49–69, hier 62. 34 Vgl. u. a. David Edgerton, Warfare State: Britain, 1920–1970, Cambridge 2005.

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der absoluten Monarchie des Russischen Kaiserreichs. Erst nach der Februarrevolution 1917 in Russland und dem Eintreten der USA in den Weltkrieg am 6. April 1917 konnte US-Präsident Woodrow Wilson die Verbreitung der Demokratie als Kriegsziel propagieren.35 Die angelsächsischen Großmächte USA und Großbritannien nutzten zusammen mit den in ihrer Bedeutung im Ersten Weltkrieg häufig unterschätzten Dominions Australien, Kanada und Neuseeland nun die Formeln vom „demokratischen“ oder „progressiven“ Krieg, um die Massen zu mobilisieren. Besonders stark in Europa, aber auch – häufig bei ­eurozentrischem Blick übersehen – in Lateinamerika und sogar Asien zeigte sich in der Endphase des Kriegs, konkret mit dem Kriegseintritt der USA, ein starker Rückenwind für die Demokratie.36 Der konkrete Auslöser des Rückenwinds war dabei die Demokratisierung Russlands im Zuge der Februarrevolu­ tion. Zuvor mochte die USA nicht an der Seite der autokratischsten europäischen Macht, dem Russischen Zarenreich, in den Krieg ziehen. Erst jetzt schlug sich der demokratische „Zeitgeist“ vehement in den internationalen Debatten nieder. So war in Deutschland bereits die „Friedensresolution“ von Linksliberalen, SPD und Zentrum im Juli 1917 von diesem neuen „Zeitgeist“ getragen. Der Ausgang des Ersten Weltkriegs war ein „kritischer Augenblick“37 der Weltgeschichte. Mit dem Habsburger Reich, dem Deutschen Kaiserreich, dem Russischen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich verschwanden die letzten Großmächte Europas mit regierenden Monarchen von der Weltbühne.38 Die mit Abstand wichtigste politische und ökonomische Großmacht der Welt war die demokratische USA. Überall dort, wo Monarchien wie in Großbritannien oder den skandinavischen Staaten auch nach dem Ersten Weltkrieg überdauerten, hatten die Monarchen fast nur noch zeremonielle Funktionen und kaum mehr politische Macht.39

35 Vgl. E. M. Hugh-Jones, Woodrow Wilson and American Liberalism, London 1947. 36 Aus eurozentrischer Sicht gehen wichtige Facetten der Demokratiegeschichte verloren. So galt Uruguay in den 1920er-Jahren Zeitgenossen – vor allem in den USA – als eine geradezu vorbildliche „progressive“ Demokratie. Vgl. u. a. Harry A. Franck, Uruguay: A Progressive Republic. In: Century Magazine, (1921) 101, S. 737–744. 37 Zur Bedeutung „kritischer Augenblicke“ in der Geschichte vgl. u. a. Hillel David Soifer, The Causal Logic of Critical Junctures. In: Comparative Political Studies, 45 (2012) 12, S. 1572–1597; Giovanni Capoccia/R. Daniel Kelemen, The Study of Critical Junctures: Theory, Narrative, and Counterfactuals in Historical Institutionalism. In: World Politics, 59 (2007) 3, S. 341–369. 38 Regierende Monarchien sind Regime, in denen ein Monarch die Exekutivgewalt direkt oder indirekt über eine von ihm eingesetzte Regierung ausübt und nicht bloß wie in Großbritannien das Staatsoberhaupt ist. Bei einer Verlagerung des Blickpunkts von den liberalen Demokratien hin zur Monarchie mit regierendem Monarch lässt sich die Periode von 1905 bis 1920 als Periode des Niedergangs der Monarchien in Europa charakterisieren. Vor allem in der Phase 1905 bis 1918 glich der langsame Niedergang der regierenden Monarchien geradezu spiegelbildlich dem langsamen Aufstieg der liberalen Demokratie. 39 Vgl. Edmond Taylor, The Fall Of The Dynasties: The Collapse of the Old Order 1905– 1922, New York 1963.

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Hinter der monarchischen Idee standen noch bedeutende gesellschaftliche Kräfte, vor allem der Adel. Der Kampf der Ideen war für die Monarchisten aber verloren. Die politischen Debatten dominierten die Anhänger der Demokratie. Den nationenübergreifenden demokratischen Impuls für die deutsche Demokratiegründung fasste etwa der sozialdemokratische Reichskanzler Gustav Bauer so zusammen, dass die deutschen Demokraten einen „Ruf von jenseits der Grenzen“ aufnahmen, „einig im Glauben an die Unbesiegbarkeit der Demokratie“.40 Auch in Ostmitteleuropa nahmen die führenden Politiker den Ruf von jenseits der Grenzen auf, sie waren aber weit skeptischer, was die Frage einer „Unbesiegbarkeit“ der Demokratie anging. Tomáš Masaryk fragte sich und seine Landsleute etwa kritisch, ob sie „für die Freiheit, für die Verwaltung und den Erhalt des selbstständigen Staates“41 wirklich reif seien. Er bejahte dies letztlich, hielt eine Stabilisierung der Demokratie aber nur für möglich unter der Voraussetzung, dass die Demokratie in ganz Europa weiter gestärkt würde. Gerade beim Blick auf die osteuropäischen Staaten, die in der Zwischenkriegszeit Teil von Europas „Dritter Welt“42 waren, dürfte der nationenübergreifende demokratische „Zeitgeist“ eine entscheidende Triebfeder für die Einführung der Demokratie gewesen sein. Der „demokratische Moment“ 1918 bis 1920 war im Kern wenn schon kein „Wilsonscher Moment“43 so doch zumindest ein wesentlich von US-Präsident Wilson ausgelöster „Moment“. Wilson zündete mit seinen 14 Punkten die Lunte, die zur „Explosion“ der Demokratisierungen in Zentral- und Osteuropa in diesem Zeitraum führte.44 Zwischen Anfang 1919 und Mitte 1920 stieg die Zahl der Demokratien in kurzer Zeit massiv an. Es handelte sich um eine „Explosion“45 der Demokratie

40 Vgl. Verhandlungen der Verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung, Band 328, Berlin 1920, S. 1852. 41 Masaryk zitiert nach Eva Broklova, Die Tschechoslowakische Republik, 1918. In: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmitteleuropa 1919–1944, Mainz 1995,­ S. 125–135, hier 132. 42 Vgl. dazu den hervorragenden Überblick von Derek Howard Aldcroft, Europe’s Third World: The European Periphery in the Interwar Years, Aldershot 2006. 43 Vgl. Erez Manela, The Wilsonian Moment: Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007. 44 Tatsächlich wird bei den 14 Punkten stark von der Wirkung auf die Absicht geschlossen. In den Punkten von der Absicht einer Verbreitung der Demokratie in Europa ist allerdings keine Rede. Die artikulierte Kernforderung war vielmehr die – im ökonomischen Interesse der USA liegende – Durchsetzung des Freihandels: „The removal of all economic barriers and the establishment of equality of trade conditions among all the nations consenting to the peace and associating themselves for its maintenance.“ 45 Die Metapher der „Explosion„ wurde nach meiner Kenntnis in folgendem Beitrag für die Phase 1989 bis 1991 geprägt: Ronald Inglehart/Christian Welzel, Human Development and the „Explosion“ of Democracy: Variations of Regime Change across 60 Societies, Berlin 2001. Leicht abweichend spricht Dirk Berg-Schlosser für die Jahre 1918/19 von einer „Konjunktur“ der Demokratie. Die unterschiedlichen Abgrenzungen kommen wohl dadurch zustande, dass bei Berg-Schlosser der Bezugspunkt die Ausrufung der Demokratie ist, hier aber der Zeitpunkt der ersten freien und fairen Wahlen. Dirk

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oder – weniger martialisch ausgedrückt – um einen „demokratischen Moment“46 der Geschichte. Es entstanden durch Regimewechsel und/oder Staatsgründungen neue Demokratien mit den Wahlen 1919 in Deutschland (19. Januar), Polen (26. Januar), Österreich (16. Februar), Finnland (1. März), Estland (15. April) sowie 1920 in Litauen (14. April), Lettland (17. April) und der Tschechoslowakei (18. April). Im Unterschied zu den revolutionsartigen Demokratisierungen z. B. in Deutschland und Österreich bewegte sich etwa Italien seit 1912 im Schneckentempo in Richtung der Demokratieschwelle und überquerte sie endlich mit den Parlamentswahlen im November 1919. Auch die Redemokratisierung Portugals ist kein Teil des explosiven Ausbruchs der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Es handelt sich vielmehr um Ausläufer der „ersten Wellen“ der Demokratisierung. Die neuen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg lösten im Zuge eines fundamentalen Regimewechsels monarchische Regime ab und/oder gingen einher mit einer neuen Staatsgründung. Vier Jahrzehnte (von 1870 bis 1910) hatte es gedauert, bis acht liberale Demokratien auf der Erde zu finden waren. Nun schien der Knoten durchschlagen. In weniger als sechs Jahren, zwischen 1914 und 1920, verdreifachte sich die Zahl der Demokratien auf der Welt nahezu. Neben den Staaten, denen die Demokratisierung gelang, bewegte sich während des „demokratischen Moments“ 1919/20 noch eine Reihe weiterer ­Staaten in Richtung Demokratie, ohne dass ihnen die Transition zur Demokratie ­vollständig glückte. Immerhin änderte sich in diesen Staaten wie in Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien aber die Regimeform von einer Autokratie ohne Wahlen in Richtung einer kompetitiven Autokratie.47 Besonders in den Fällen Bulgarien und Jugoslawien lässt sich auch darüber streiten, ob nicht zumindest zeitweilig die Schwelle zur Demokratie überschritten wurde.48 Elektorale Autokratien ähneln in ihrem Institutionenaufbau und vor allem mit ihren Wahlen Demokratien auf den ersten Blick stark. Die wesentlichen Unterschiede sind aber – wie bereits erläutert –, dass die Wahlen nicht frei und fair sind und/oder die Exekutivmacht des Regierungschefs gar nicht oder gänzlich

Berg-Schlosser, Long Waves and Conjunctures of Democratization. In: D ­ emocratization. Hg. von P. Bernhagen, Christian W. Haerpfer, Ronald Inglehart und Christian Welzel, Oxford 2009, S. 41–54, hier 46. 46 Vgl. mit Blick auf den „Moment“ 1989 bis 1991: Marc F. Plattner, The Democratic Moment. In: Journal of Democracy, 2 (1991) 4, S. 34–46. Alternativ lässt sich synonym von einem „liberalen Moment“ sprechen. Daniel M. Green, Liberal Moments and Democracy’s Durability: Comparing Global Outbreaks of Democracy – 1918, 1945, 1989. In: Studies in Comparative International Development, 34 (1999) 1, S. 83–120. 47 In historischer und globaler Perspektive interessant ist, dass ganz ähnlich auch nach der ersten „Explosion“ der Zahl der Demokratien 1989 bis 1991 eine Vielzahl kompetitiver Autokratien wie etwa in Kasachstan oder Georgien entstand. Vgl. Schedler (Hg.), Electoral Authoritarianism; Steven Levitsky/Lucan A. Way, The Rise of Competitive Authoritarianism. In: Journal of Democracy, 13 (2002) 2, S. 51–65. 48 Vgl. dazu den Beitrag von Jørgen Møller und Svend-Erik Skaaning in diesem Band.

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unzureichend durch das Parlament beschränkt ist. Dass elektorale Autokratien neu entstehen, erscheint als ein typisches Nebenprodukt „demokratischer Momente“. Elektorale Autokratien formieren sich vor allem wohl, wenn politische nicht-demokratische Akteure in einem Land aufgrund eines internationalen demokratischen „Zeitgeistes“ den Anschein erwecken wollen, eine Demokratie zu errichten, ohne die Unsicherheiten und Beschränkungen einer Demokratie für politische Bewegungen akzeptieren zu wollen. Der Grund für den Aufbau einer demokratischen „Fassade“ ist häufig, dass erwartet wird, dadurch vergrößerten sich die Chancen auf Hilfeleistungen demokratischer Mächte wie der USA deutlich. Der Auslöser für dieses Handeln war zu Beginn der Zwischenkriegszeit konkret die Kombination einer wirtschaftlich desolaten Lage in Ostmitteleuropa einerseits, der wirtschaftlich dominanten Stellung der USA und dem Werben des US-Präsidenten Wilson für Demokratie und Freihandel andererseits. Einen „kritischen Augenblick“ und in diesem Fall konkret einen „demokratischen Moment“ der Weltgeschichte bemerken zeitgenössische Beobachter nicht nur, sie überschätzen solche „kritischen Augenblicke“ in ihrer Bedeutung sogar noch. Zeitgenossen glauben beim Überqueren der historischen Weiche häufig gar, der Zug der Geschichte steuere nun unaufhaltsam auf seinem Gleis Richtung Ende der Geschichte. So dachten zu Beginn der 1920er-Jahre die meisten sozial­wissenschaftlichen Beobachter der politischen Welt – ganz ähnlich wie zu Beginn der 1990er-Jahre,49 – der weltweite Sieg der Demokratie als einzig legitimer Staatsform sei nun bereits zu feiern oder er stünde doch zumindest unmittelbar bevor. Wenn der Erste Weltkrieg wirklich zu einer grundlegenden Erschütterung des Glaubens an den stetigen Fortschritt der Menschheit geführt haben sollte, wie manche heutigen Beobachter verkünden, dann war diese Erschütterung Anfang der 1920er-Jahre zumindest nicht in den vorherrschenden Äußerungen zu erkennen. James Bryce verkündete im bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Werk jener Tage: „Within the hundred years that now lie behind us what changes have passed upon the world! Nearly all the monarchies of the Old World have been turned into democracies. […] The old question, ,What is the best form of government?‘ is almost obsolete because the centre of interest has been shifting. It is not the nature of democracy, nor even the variety of the 49 Vgl. als Äquivalent zu dem einflussreichen Buch von James Bryce für den „liberalen“ und „demokratischen“ Moment 1989 bis 1991: Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992. Beide Bücher gleichen sich in ihren Kernargumenten erstaunlich, obgleich mehr als sieben Jahrzehnte zwischen ihrer Entstehung liegen. Sie stehen nicht als monolithische Blöcke, sondern geben zugespitzt den Tenor der vorherrschenden Meinung wieder. Während des zweiten „liberalen“ und „demokratischen“ Moments fasste etwa 1991 Marc Plattner, einer der Herausgeber des einflussreichen, zu dieser Zeit gerade frisch gegründeten Journal of Democracy: „Indeed, today it is the liberal democracies that are widely regarded as the only truly and fully modem societies.“ Plattner, The Democratic Moment, S. 38. Es ließen sich Dutzende weitere Exempel anführen. Hier sei nur festzuhalten, dass die vorherrschenden Aussagen während des ersten und zweiten „liberalen Moments“ inhaltlich nahezu identisch waren, obgleich sieben Jahrzehnte zwischen ihnen liegen.

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shapes it wears, that are today in debate, but rather the purposes to which it may be turned, the social and economic changes it may be used to effect“.50 Die Quintessenz seiner Ausführungen war: „[The] trend toward democracy now widely visible, is a natural trend, due to a general law of social progress.“51 In Deutschland sprach der Theologe Ernst Troeltsch etwa zur gleichen Zeit analog von der Demokratie als einer „notwendigen und unumgänglichen Entwicklung aller modernen Staaten“. Zugrunde lag den Prognosen die Erwartung, dass Demokratisierung ein unvermeidlicher Teil der Modernisierung sei. So war für Troeltsch die „Demokratie die natürliche Konsequenz der modernen Bevölkerungsdichtigkeit, verbunden mit der zu ihrer Ernährung notwendigen Volksbildung, Industrialisierung, Mobilisierung, Wehrhaftmachung und Politisierung“.52 Noch 1931 verfasste Otto Hintze seine bis heute bedenkenswerten Beobachtungen zu den „Weltgeschichtlichen Bedingungen der Repräsentativverfassung“.53 William Rappard beschrieb noch 1938 im Rückblick die allgemeine Stimmung Anfang der 1920er-Jahre so: „No fact seemed better established than the reign of democracy in the modern world. […] [T]he triumph of democracy seemed as easy to explain as impossible to avoid.“54 Der „demokratische Moment“ nach dem Ersten Weltkrieg war ausgesprochen wirkmächtig, ging aber rasch vorüber. Nach Mitte des Jahres 1920 demokratisierten sich in der Zwischenkriegszeit lediglich noch Griechenland 1926 und Spanien 1931. Beide Länder hatten zuvor bereits gescheiterte Transitionsphasen hin zur Demokratie erlebt. Sie waren also keine ganz so neuen Demokratien mehr, gingen vielmehr bereits mit schweren Hypotheken über die Schwelle zur Demokratie. Portugal und Griechenland versuchten zudem jeweils – erfolglos – nach dem Scheitern der Demokratie noch einen weiteren Anlauf. Von Mitte 1920 bis Herbst 1922 stagnierte die Entwicklung hin zur Demokratie. Der erste Demokratiezusammenbruch der Zwischenkriegszeit in Portugal am 19. Oktober 1921 markierte noch keineswegs eine Trendwende. Angesichts der andauernd politisch-chaotischen Verhältnisse und der peripheren Lage des Landes nahm von diesem Demokratiezusammenbruch wie schon von den zwei

50 James Bryce, Modern Democracies, New York 1921, S. 3 f. 51 Vgl. ebd., S. 24. 52 Zitate: Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Band 15: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), Berlin 2002, S. 211, 215. 53 Vgl. Otto Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung. In: Historische Zeitschrift, 134 (1931), S. 1–47 54 Vgl. Rappard, Crisis of Democracy, S. 1. Bereits 1934, als sich klar der Trend zur Diktatur abzeichnete, trugen Autoren die optimistischen Zukunftsprognosen von Anfang der 1920er-Jahre nur noch als schöne Erinnerung vor. So heißt es in einem Standardwerk, das sich mit der Trendwende von der Verbreitung der Demokratie zur Verbreitung der Diktatur beschäftigt: „It was assumed that with the spread of popular elections the principles and methods of democracy would eventually prevail among all enlightened people.“ New Governments in Europe. The Trend Toward Dictatorship. Hg. von Vera Micheles Dean, Bailey W. Diffie, Malbone W. Graham und Mildred S. Wertheimer, New York 1934, S. 1.

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Demokratiezusammenbrüchen Portugals während des Ersten Weltkriegs kaum jemand außerhalb des Landes Notiz. Mit guten Gründen lässt sich – wie bereits dargelegt – auch argumentieren, dass Portugal immer wieder bereits über die Schwelle zur Demokratisierung stolperte und fiel. Irland vergrößerte wiederum seit den ersten Parlamentswahlen nach der Unabhängigkeit am 16. Juni 1922 den Kreis der Demokratien. Ebenso wie aus dem portugiesischen Demokratiezusammenbruch lässt sich aber aus der irischen Demokratiegründung kein Trend der Geschichte mehr ablesen. Als Teil Großbritanniens war Irland bereits 1918 vor der Unabhängigkeit über die Demokratieschwelle geschritten.55 In Konkurrenz zur „westlichen“ Demokratie zeichnete sich am europäischen Horizont nach der kommunistischen Oktoberrevolution im November 1917 allmählich eine neue Regimealternative ab. Erst im November 1920 endete allerdings im europäischen Teil der Sowjetunion der Bürgerkrieg, im asiatischen Teil sogar erst 1922 mit der Besetzung von Wladiwostok. Anfang der 1920er-Jahre gewann die Kommunistische Internationale langsam an Bedeutung. Die Trendwende der Regimeentwicklung der Zwischenkriegszeit wird aber durch keinen kommunistischen Umsturz einer Demokratie markiert. Vielmehr begann der „Rückstoß“ der Nachkriegsexplosion der Demokratien im Oktober 1922 mit dem faschistischen „Marsch auf Rom“.56 Der Faschismus nahm dabei bereits 1914 im Zuge des beginnenden Kriegs in Italien mit einer neuartigen Kombination aus nationalistischen, korporatistischen und sozialistischen Ideologieelementen Gestalt an. Der bolschewistische Umsturz mit seinen internationalen Folgen stimulierte das Anwachsen der faschistischen Bewegung beträchtlich. Doch blieb Italien zunächst die einzige Demokratie, der eine neuartige Diktatur von rechts folgte. In Spanien löste die dem italienischen Faschismus sehr ähnliche Diktatur Primo de Riveras 1923 eine elektorale Autokratie ab.57 1922 begann mithin die historisch sehr kurze, aber wirkmächtige Zeit der Regimephase des Faschismus.58 Im Unterschied zum NS-Regime handelte es sich bei diesen beiden südeuropäischen Regimen noch weit stärker um Mischformen zwischen Elementen einer traditionalen rechten Autokratie, die sich stark auf Kirche und Monarchie stützte, und einer neuen sozialrevolutionären rechten Autokratie, die gegen diese Autoritäten aufbegehrte. Charakteristisch für die neuen Formen der Diktatur von rechts und links war, dass sie ganz im Unterschied zu den regierenden Monarchien auf eine Mobilisierung und Beteiligung

55 Vgl. Allan Zink, Ireland: Democratic Stability without Compromise. In: Dirk BergSchlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39: Systematic Case-Studies, New York 2000, S. 263–293. 56 Vgl. u. a. Angelo Tasca, The Rise of Italian Fascism, 1918–1922, New York 1966 (1938). 57 Vgl. u. a. Shlomo Ben-Ami, Fascism from Above: The Dictatorship of Primo de Rivera in Spain, 1923–1930, Oxford 1983. 58 Vgl. u. a. Michael Mann, Fascists, Cambridge 2004; Ernst Nolte, Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen, München 1968; Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006.

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der Massen setzten.59 Sie waren pseudodemokratisch, antidemokratisch und antiliberal zugleich.60 Die erste Phase der Entdemokratisierung der Zwischenkriegszeit erreichte bereits 1926 ihren Höhepunkt, als in kurzer Folge die Demokratien in Polen und Litauen gestürzt wurden.61 Die Demokratien, die dieser „Rückstoß“ dahinraffte, waren sich recht ähnlich. Unter ihnen war Italien noch der modernste Staat. Aber selbst Italien lag in der sozioökonomischen Entwicklung weit hinter Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Tschechoslowakei zurück. Alle Demokratien, die zwischen 1922 und 1926 scheiterten, hatten im Vergleich der Demokratien eine stark überdurchschnittliche Analphabetenquote, ein markant unterdurchschnittliches Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und waren ­katholisch. Trotz aller Umsturzversuche überlebte dagegen vor allem auch die deutsche Demokratie das Krisenjahr 1923 mit extremistischen Massenrebellionen von links und rechts. Der Putsch von Hitler und Ludendorff scheiterte allerdings um wenig mehr als um Haaresbreite. Auch Österreich überstand die politisch turbulente und wirtschaftlich ausgesprochen schwierige Nachkriegsphase, obgleich die Mehrheit der Bevölkerung gar kein eigenständiges Österreich wollte. Konsolidieren konnte sich in dieser Phase allerdings keine der neuen Demokratien in Ostmitteleuropa. Den Fortschrittsoptimismus musste zumindest das Scheitern der Demokratie in Ländern wie Portugal, Litauen oder Polen nicht fundamental erschüttern. Aus Sicht der Fortschrittsoptimisten ließ sich nämlich argumentieren, der Trend weg von der Demokratie in diesen Ländern sei lediglich einem Mangel an ­sozioökonomischem Fortschritt in einem „rückständigen“ Teil Europas geschuldet. Bei näherem Hinsehen war da schon deutlich schwerer zu erklären, warum die faschistische Massenrebellion gegen die Demokratie ausgerechnet vor allem vom recht entwickelten Norden und dem Zentrum Italiens und nicht vom rückständigen Süden ausging. Zudem präsentierte sich in Italien Mitte der 1920er-Jahre unübersehbar eine moderne Diktaturform als neue Regimealternative zur liberalen Demokratie. Diese wurde prompt auch als Alternative zur Demokratie diskutiert.62 Die Gegner der Demokratie waren nun in den politischen Diskussio­nen wieder offensiver als Anfang der 1920er-Jahre.63

59 Vgl. u. a. Sven Reichardt, Faschistische Beteiligungsdiktaturen. Anmerkungen zu einer Debatte. In: José Brunner (Hg.), Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen, Göttingen 2014, S. 133–157. 60 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien: eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982. 61 Vgl. zum Sturz der Demokratie in Polen den Beitrag von Heidi Hein-Kircher in diesem Band. 62 Vgl. als Beispiel für die deutsche zeitgenössische Rezeption: Fritz Schotthöfer, Il Fascio: Sinn und Wirklichkeit des italienischen Fascismus, Frankfurt a. M. 1924. 63 Vgl. u. a. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1992.

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Bereits zwischen 1927 und 1929 wurde die geistige Atmosphäre aber wieder empfänglicher für die Demokratie. Eine neue Trendwende zugunsten der Demokratie schien möglich, zumal sich die wirtschaftliche Lage in vielen Staaten wie Deutschland und Österreich seit Mitte der 1920er-Jahre zunehmend verbesserte. 1928 erhielt etwa die NSDAP in Deutschland nur noch 2,6 Prozent der Stimmen, in Österreich spielte bei den Wahlen vor 1930 ohnehin weder die kommunistische noch eine totalitäre rechte Partei eine bedeutende Rolle. Anders als das faschistische Italien waren die Autokratien in Polen und Litauen recht „soft“ und hielten sogar – wenn auch nicht freie und faire – Parlamentswahlen ab.64 Für den weniger aufmerksamen Beobachter unterschieden sich diese „konstitutionellen Diktaturen“65 mit Wahlen kaum von Demokratien. Unter den Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Erholung und einer politischen Entspannung der Beziehungen zu den Nachbarländern schien eine Rückkehr zu den Spielregeln der Demokratie in diesen Ländern in naher Zukunft möglich. Auf internationaler Ebene zeigte sich zwischen 1927 und 1931 kein beobachtbarer Trend der Regime­entwicklung. Es herrschte Stagnation. In globalhistorischer Perspektive lässt sich die Bedeutung des Einschnitts der Weltwirtschaftskrise für die Demokratiegeschichte kaum überschätzen. Diese Krise war der größte Stresstest, dem alle modernen Demokratien zugleich, wenn auch nicht in gleichem Maße, ausgesetzt waren. Nur in der Hochphase der Weltwirtschaftskrise brach nahezu weltweit die Wirtschaftsleistung massiv ein. Wirtschaftliche Krisen münden aber häufig in soziale und politische ­Krisen.66 Eine gängige Kausalhypothese zur Erklärung von Demokratiezusammenbrüchen unabhängig von Zeit und Raum lautet: Je schlechter die wirtschaftliche Entwicklung ausfällt, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Demokratie zusammenbricht. Ab 1929 provozierte die Weltwirtschaftskrise tatsächlich auf direktem Wege in zahlreichen Demokratien tiefe politische Krisen.67 Sie begann mit dem

64 Vgl. Jerzy Kochanowski, Horthy und Piłsudski – Vergleich der autoritären Regime in Ungarn und Polen. In: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, S. 19–94. 65 Vgl. Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies, Princeton 1948. 66 Vgl. u. a. Mark J. Gasiorowski, Economic Crisis and Political Regime Change: An Event History Analysis. In: American Political Science Review, 89 (1995) 4, S. 882–897; Milan W. Svolik, Learning to Love Democracy: Electoral Accountability and the Success of Democracy. In: American Journal of Political Science, 57 (2013) 3, S. 685–702. 67 Vgl. u. a. Ekkart Zimmermann, Government Stability in Six European Countries during the World Economic Crisis of the 1930s: Some Preliminary Considerations. In: European Journal of Political Research, 15 (1987), S. 23–52; ders., Political Breakdown and the Process of National Consensus Formation: On the Collapse of the Weimar Republic in Comparative Perspective. In: Research on Democracy and Society, 1 (1993), S. 267– 299; Thomas Saalfeld, The Impact of the World Economic Crisis and Political Reactions. In: Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy in ­Europe, 1919–39: Comparative Analyses, Basingstoke 2002, S. 208–232.

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„Schwarzen Donnerstag“ am 24. Oktober 1929. Als letztes Jahr der Weltwirtschaftskrise gilt in der Regel 1939.68 In einer langen historischen Zeitreihe ist diese Abgrenzung auch sinnvoll. Der Tiefpunkt der „Großen Depression“ lag aber bereits in den Jahren 1933/34. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise gerieten Demokratien, die wie Deutschland und Österreich wirtschaftlich noch durch die Kriegsfolgen angeschlagen waren, jäh in eine „Staatskrise“.69 Lediglich in Argentinien – aus europäischer Sicht am Ende der Welt – fiel die Demokratie bereits 1930 mit den ersten deutlichen Anzeichen der Weltwirtschaftskrise.70 Darüber, ob die sich abzeichnende Weltwirtschaftskrise wirklich der grundlegende Faktor war, der den Putsch gegen die Demokratie auslöste, lässt sich zudem streiten. In Deutschland hatte trotz des fulminanten Aufstiegs der NSDAP und der Zugewinne der KPD bei den Parlamentswahlen von 1930 die „Große Koalition“ aus SPD, DDP, Zentrum, BVP und DVP mit 48,3 Prozent der Parlamentssitze durch Tolerierung weiterer Parteien noch faktisch eine Parlamentsmehrheit. Die nächsten Reichstagswahlen standen erst für 1934 an, und die Demokratie schien in Deutschland nach den Wahlen zunächst nicht mehr in akuter Gefahr. Mit der Demokratisierung Spaniens 1931 nach der faschistischen Diktatur Primo Riveras schien sogar noch nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise ein Einbruch der Demokratie keineswegs unvermeidlich. Die heftige zweite Phase der Entdemokratisierung in der Zwischenkriegszeit von 1933 bis 1936 setzte erst nach dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1931 ein. Mit Deutschland und Österreich scheiterte die Demokratie nun auch in zwei recht modernen Industriestaaten. Beide Länder gehörten zu den am stärksten von der Weltwirtschaftskrise betroffenen Staaten. Der Verlauf der Wechselwirkungen von sozioökonomischer und politischer Krise in beiden Staaten lässt kaum einen Zweifel daran, dass die Weltwirtschaftskrise der wesentliche Auslöser – wenn auch keineswegs die alleinige Ursache – für die Demokratiezusammenbrüche in diesen Ländern war. Im Unterschied zu den anderen derart stark von der Weltwirtschaftskrise betroffenen Staaten waren Deutschland und Österreich bereits durch Nachkriegskrise und Reparationen sozioökonomisch stark erschüttert. Die Zeit der wirtschaftlichen Erholung von 1924 bis 1929 war zu kurz, um ein ausreichendes wirtschaftliches Krisenpolster auszubauen. Der deutsche Demokratiezusammenbruch war nun aber nicht einfach einer unter vielen. Leicht eingeschränkt auf die zweite Hälfte des Jahres 1933 und auf die europäisch-atlantische Welt lässt sich das folgende Urteil von Martin Gilbert unterstreichen: „Für einen

68 So grenzt die Zeit der Weltwirtschaftskrise etwa folgendes Standardwerk ein. Vgl. Charles P. Kindleberger, The World in Depression, 1929–1939, Berkeley 1986. 69 Vgl. u. a. Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930–1933: Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992. 70 Vgl. Potter, The Failure of Democracy in Argentina; Peter H. Smith, The Breakdown of Democracy in Argentina, 1916–30. In: Juan Linz/Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes: Latin America, Baltimore 1978, S. 110–137.

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Großteil der Welt wurde das Jahr 1933 beherrscht von der Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland und den bangen Erwartungen, was daraus folgen würde.“71 Der deutsche Demokratiezusammenbruch veränderte nämlich die Machtbalance in Europa deutlich zuungunsten der Demokratien und hatte weltweit eine negative Signalwirkung. Besonders stark war dieser Effekt aber auf Ostmitteleuropa. In Estland und Lettland scheiterte 1934 die Demokratie weniger als Folge der Weltwirtschaftskrise denn als Folge einer mit dem deutschen Demokratiezusammenbruch einsetzenden Trends zur militanten Demokratie mit fließender Grenze zur konstitutionellen Diktatur.72 In Estland wie Lettland hatte die Weltwirtschaftskrise aber deutlich geringere Auswirkungen als in Deutschland, Österreich und in überlebenden Demokratien wie USA und Belgien. Ähnlich wie in Finnland war die wirtschaftliche Entwicklung in diesen beiden Ländern in den Jahren nach den Unabhängigkeitskriegen erstaunlich gut verlaufen. Zudem hatten Estland und Lettland die wirtschaftliche Talsohle 1934 bereits durchschritten und befanden sich schon weit in der Phase der wirtschaftlichen Regeneration. So waren die Arbeitslosenzahlen fast auf den Vorkrisenstand gefallen. Das Grundproblem der beiden Demokratien war 1934 vielmehr, dass sie seit Januar 1933 zwischen dem Hammer Hitler und dem Amboss Stalin steckten. Das machte einen Teil der führenden Politiker sehr nervös. Zum einen vereinfachte es die Lage, in der Bevölkerung Schritte weg von der Demokratie mit der Bedrohung durch extremistische Bewegungen von rechts und links zu rechtfertigen. Zum anderen glaubte eine wachsende Zahl von Politikern in Ostmitteleuropa, angesichts der außenpolitischen Bedrohung durch Nationalsozialismus und Bolschewismus für langwierige demokratische Entscheidungsprozesse nicht die Zeit zu haben. Der deutsche Demokratiezusammenbruch begünstigte mithin weniger als Vorbild denn als Schreckbild eine kurze, aber wirkmächtige Folge von Demokratiestürzen. In wenig mehr als einem Jahr fielen nach der Demokratie in Deutschland auch die Demokratien in Österreich, Estland und Lettland. Ebenso wie demokratische „Diffusion“73 ist auch diktatorische „Diffusion“ keine Illusion. Der deutsche Demokratiezusammenbruch löste eine Kettenreakti-

71 Martin Gilbert, Geschichte des 20. Jahrhunderts, Band III: 1933–1941, München 1999, S. 19. 72 Vgl. zum klar demokratischen Konzept von Karl Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights. In: American Political Science Review, 31 (1937), S. 417–432, 638–658. In der Praxis der Zwischenkriegszeit wurden in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre aber eine Reihe von antidemokratischen Maßnahmen mit Demokratie-, vor allem aber mit notwendigem Staatsschutz gerechtfertigt. 73 Vgl. Daniel Brinks/Michael Coppedge, Diffusion Is No Illusion. Neighbor ­Emulation in the Third Wave of Democracy. In: Comparative Political Studies, 39 (2006) 4, S. 463– 489. Vgl. auch Harvey Starr, Democratic Dominoes: Diffusion Approaches to the Spread of Democracy in the International System. In: Journal of Conflict Resolution, 35 (1991), S. 356–381; Zachary Elkins/Beth Simmons, On Waves, Clusters, and Diffusion: A Conceptual Framework. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 598 (2005) 1, S. 33–51.

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Nach dem „Großen Krieg“

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on aus. Innerhalb kurzer Zeit fielen nun auch die Demokratien in Österreich, Estland und Lettland. Der Demokratiezusammenbruch in Uruguay 1933 fiel nicht als Dominostein in dieser Reihe.74 Auch er wurde aber durch die global wahrgenommene Signalwirkung des deutschen Demokratiezusammenbruchs begünstigt. Der historische Zug zur Demokratie schien auch den Optimisten spätestens mit dem Demokratiezusammenbruch in Deutschland entgleist.

IV. Zusammenfassung Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hat sich in der Demokratieforschung als eine Zeit der „Krise der Demokratie“75 zwischen den Weltkriegen eingebrannt. Darüber droht in Vergessenheit zu geraten, dass erst während des Ersten Weltkriegs die meisten „alten“ Demokratien der „ersten Welle“ die Schwelle zur liberalen Demokratie passierten und es nach dem Ersten Weltkrieg eine „Explosion“ der Zahl der Demokratien gab. Erstmals entstanden nun auch außerhalb Europas etwa in Argentinien und Uruguay Demokratien oder wie in Chile und Japan Wahlregime, die an der Schwelle zur Demokratie standen. Die Phase von Herbst 1922 bis 1926 war ein „Rückstoß“ dieser Explosion. In dieser Phase fielen „nur“ neue und arme Demokratien. Ein gewisser „Rückstoß“ ist nach einer „Explosion“ der Zahl der Demokratien nahezu unvermeidlich, wenn die anspruchsvolle Regimeform der Demokratie auf sozioökonomische Verhältnisse stößt, in denen sie kaum gedeihen kann. Eine wirklich massive „Krise der Demokratie“ zeigt sich bei näherer Betrachtung tatsächlich nur kurz nach dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1933/34. In keiner anderen Phase der Geschichte gab es einen derartig starken Rückschlag bei der globalen Verbreitung der Demokratie. In nur zwei Jahren brachen fünf Demokratien zusammen. Die Weltwirtschaftskrise verursachte wesentlich den Prozess der letztlich zum Demokratiezusammenbruch in Deutschland führte, in Österreich trug die Weltwirtschaftskrise zumindest bei zur Demokratiekrise. In globaler Perspektive war die Signalwirkung des deutschen Demokratiezusammenbruchs verheerend. Sie begünstigte stark, dass nun in Österreich, Estland und Lettland zur Demokratie ambivalent eingestellte konservativ bis rechtsautoritäre Politiker einschritten und die Demokratie stürzten, um sie angeblich zu retten. In der Zwischenkriegszeit gab es 14 Demokratiezusammenbrüche in zwölf Ländern.76 Die Frage, ob die Demokratie überlebte oder scheiterte, lässt sich in den meisten Fällen relativ leicht beantworten. Niemand würde etwa behaupten, die deutsche Demokratie habe überlebt oder die britische Demokratie sei ­gescheitert. Der tschechoslowakische und der finnische Fall zeigen aber,

74 Vgl. u. a. Taylor, The Uruguayan Coup d’Etat. 75 Vgl. u. a. Linz, The Crisis of Democracy; Bessel, The Crisis of Modern Democracy. 76 Vgl. für eine tabellarische Übersicht den Online-Appendix zu diesem Beitrag.

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dass sich Demokratien in einer Grauzone zwischen Scheitern und Überleben bewegen können.77 Im Falle Frankreichs liegt formal recht eindeutig ein Demokratiezusammenbruch vor, und zwar ein Exekutivputsch. Nachdem der demokratisch legitimierte französische Präsident Albert François Lebrun General Philippe Pétain zum Premierminister ernannte hatte, ließ Pétain im Zeichen der sich anbahnenden Kriegsniederlage gegen Deutschland und einer drohenden Besatzung Frankreichs das französische Parlament seine diktatorischen Vollmachten und das Ende der Demokratie absegnen.78 Rasch wurde mittels einer rechtsautoritären Verfassung die nachfolgende Diktatur etabliert. Wenn wir die Demokratien in der Tschechoslowakei und Frankreich als in der Zwischenkriegszeit gestürzt betrachten, dann verlängert sich diese Phase der ­„Krise der Demokratie“ bis 1940. Mit Blick auf die historische Einordnung des Kapitels der Zwischenkriegszeit in die Demokratiegeschichte fallen Tim B. Müllers Essays deutlich zu positiv aus. Dies kommt durch eine schiefe Fallauswahl zustande. Müller nimmt erstaunlicherweise nur den deutschen Sturz der Demokratie in der Zwischenkriegszeit zur Kenntnis, ignoriert alle anderen Demokratiezusammenbrüche und nimmt die USA – obgleich ansonsten der Blick auf Europa fokussiert ist – als leuchtendes Demokratiebeispiel in die Betrachtung der Zwischenkriegszeit auf. Seine Ausklammerung von allen ostmittel- und südeuropäischen Demokratien und sogar der österreichischen Demokratie aus dem Kreis der Demokratien lässt sich dabei inhaltlich nicht rechtfertigen.79 Die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit zeigt neben dem gleißenden Licht des Aufbruchs zur Demokratie 1919/20 auch den dunklen Schatten der tiefsten historischen Krise der Demokratie in den 1930er-Jahren. Aus welthistorischer, globaler Perspektive gab es nur in der Zwischenkriegszeit kurze Phasen, 1922 bis 1926 und 1931 bis 1936, in denen tatsächlich die Zahl der Demokratiezusammenbrüche die Zahl der neuen Demokratisierungen überschritt. Es ist ebenso falsch, die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit als eine reine Krisengeschichte wie als eine reine Erfolgsgeschichte zu erzählen.

77 Vgl. zur Entwicklung in Finnland: Risto Alapuro/Eric Allardt, The Lapua Movement: The Threat of Rightist Takeover in Finland, 1930–1932. In: Juan Linz/Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes: Europe, Baltimore 1978, S. 122–141; Lauri Karvonen, Finland: From Conflict to Compromise. In: Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39: Systematic Case-Studies, New York 2000, S. 129–156. Vgl. zur Entwicklung in der Tschechoslowakei: Vera Olivová, The Doomed Democracy: Czechoslovakia in a Disrupted Europe 1914–38, Montreal 1972; Radomir Luza/Victor S. Mamatey (Hg.), A History of the Czechoslovak Republic, 1918–1948, Princeton 1973; John Bradley, Czechoslovakia: External Crises and Internal Compromise. In: Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39: Systematic Case-Studies, New York 2000, S. 85–105. 78 Vgl. Ivan Ermakoff, Democratic Breakdowns and the Politics of Self-Servitude, University of Chicago, Chicago 1997, S. 66–83. 79 Vgl. Müller, Demokratie und Wirtschaftspolitik; ders., Krieg und Demokratisierung.

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Liberale Hegemonie vor 1914 und das Überleben von Demokratien der Zwischenkriegszeit Uwe Backes Im 19. Jahrhundert bildeten sich in Europa die institutionellen und politisch-­ prozeduralen Grundlagen der modernen Verfassungsstaaten. Die Französische Revolution hatte die alten Institutionen der absoluten Monarchie zum Einsturz gebracht und die Fundamente der übrigen Staaten erschüttert. Das in der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ verkündete verfassungspolitische Programm mit Grundrechtssicherung und Gewaltenkontrolle fand zunehmende Anerkennung, auch wenn diese Entwicklung keineswegs geradlinig verlief. Die Beteiligungsgrundlage der alten Repräsentativsysteme gewann insbesondere durch Wahlreformen an Breite, während ständische und korporative Bestellungsmodi an Boden verloren. So entstand die „strenge Verknüpfung einer politischen Klasse und einer allgemeinen Bürgerschaft, besonders in der Gestalt der politischen Parteien und der Wählerschaft“.1 Bald waren die (meist monarchischen) Regierungen „nicht nur bei der Verabschiedung von Steuern, sondern auch in der Gesetzgebung und beim Budget auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen“.2 Wo sich „parlamentarische Regierungen“ in einem (wie in Großbritannien) früh praktizierten (und theoretisch spät reflektierten) Prozess etablierten, entstanden höchst komplexe politische Systeme, in denen die Regierung in Abhängigkeit von der parlamentarischen Mehrheit geriet und

1

2

Dolf Sternberger, Die neue Politie. Vorschläge zu einer Revision der Lehre vom Verfassungsstaat. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 33 (1984), S. 1–40, hier 39. Siehe zur Verfassungsgeschichte Europas im 19. Jahrhundert: Elisabeth Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815–1871, München 1992; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2001; Lothar Gall, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890, 4. Auflage München 2004; Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, 2. Auflage München 1989; Hans-Dietrich Loock/Hagen Schulze (Hg.), Parlamentarismus und Demokratie im Europa des 19. Jahrhunderts, München 1982; Charles Seignobos, Politische Geschichte des modernen Europa. Entwicklung der Parteien und Staatsformen 1814–1896, deutsch nach der 5. Auflage des Originals, Leipzig 1910. Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999, S. 52.

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Uwe Backes

spezifische Muster der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung mit einem organisierten Parteiwesen, einer politisch-kulturell verankerten systemloyalen Opposition und entsprechenden Prozeduren des Aushandelns und der Kompromissbildung entstanden.3 Die zentrale These dieses Beitrags lautet: Wo das Verfassungsprogramm des liberalen Konstitutionalismus zur vollen Entfaltung kam und in ein politisches System mit starker parlamentarischer Kontrollgewalt mündete, das über einen längeren Zeitraum mit wechselnden Mehrheiten funktionierte, bildete sich ein hohes Maß an Robustheit gegenüber der Gefahr autokratischer Rückfälle aus. Dies erklärt, warum extremistische Bewegungen in jenen Staaten, in denen vor dem Ersten Weltkrieg bereits die parlamentarische Regierungsweise institutioneller Standard geworden war, schwächer blieben und auf stärkere Gegenwehr stießen. Diese These lässt sich auf knappem Raum nicht in einer ins Detail gehenden komparativen Analyse empirisch untermauern. Ihre Plausibilität soll vor allem durch die Zusammenführung verstreuter Befunde der Forschung unter Beweis gestellt werden. Dazu wird zunächst der vieldeutige Begriff der „liberalen Hegemonie“ geklärt. Daran schließt sich eine Bilanz zu den bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits parlamentarisierten Regierungssystemen Europas an. Nur ­eines von ihnen brach in den ersten Jahren nach 1918 zusammen: das italienische. Die italienische Ausnahme ist daher näher zu betrachten. Sie scheint – wie so oft – die Regel zu bestätigen.

I.

Liberale Hegemonie

Der Begriff „liberale Hegemonie“ könnte im Sinne Antonio Gramscis als Teil eines Machteroberungskonzeptes verstanden werden, das darauf zielt, alle anderen politischen Strömungen auf mehr oder weniger subtile Weise zu marginalisieren und deren Regierungsübernahme für alle Zukunft auszuschließen.4 Eben dies ist die Intention vieler Hegemonialparteien, die in meist autoritären Regimen oppositionelle Gruppierungen zwar zulassen, aber systematisch dafür sorgen, dass diese keine echte Machtoption erhalten.5 Liberale Hegemonie ­nähert sich in der Verfassungspraxis mitunter derartigen Formen, soll aber hier zunächst im Sinne der Dominanz des Verfassungsprogramms des europäischen Liberalismus verstanden werden, einer antiabsolutistischen Strömung, für die das Recht auf Opposition und Teilhabe an den politischen Angelegenheiten von 3 4 5

Vgl. Klaus von Beyme, Die parlamentarische Demokratie. Entstehung und Funktionsweise 1789–1999, 3. Auflage Opladen 1999, S. 29–46. Vgl. die Beiträge in folgendem Band: Sonja Buckel/Andreas Fischer-Escanto (Hg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden 2007. Vgl. Giovanni Sartori, Parties and party systems. A framework for analysis, Cambridge 1976, S. 230–238.

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Liberale Hegemonie und Überleben von Demokratien

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zentraler Bedeutung war.6 Gewiss ist der Liberalismus bei europaweiter Betrachtung weit gefächert. Und selbst in Deutschland lassen sich in der Zeit des Vormärz erhebliche Unterschiede etwa zwischen nord- und süddeutschen Vertretern feststellen.7 Außerdem verändern sich die Forderungen im Zeitablauf, unter dem Eindruck der politischen Entwicklung der im Sinne des Liberalismus besonders weit fortschreitenden Länder, allen voran Großbritannien und Frankreich. Und so ist auch das konkrete Verständnis der zentralen Forderungen und Prinzipien ständig in der Diskussion und im Fluss. Aber es gibt doch zugleich schon in den Anfängen Kernforderungen, die eine Art Grundkonsens bilden: Gewaltenkontrolle, Grundrechtssicherung und „Volksrepräsentation“ sind drei miteinander in enger Verbindung stehende programmatische Säulen, auch wenn sich deren konkrete Inhalte wandelten.8 Die Forderung nach Gewaltenkontrolle richtete sich gegen die Machtzusammenballung in den Händen der – meist monarchisch besetzten – Exekutiven und bedeutete keineswegs notwendigerweise die strenge Separierung der staatlichen Institutionen, sondern die Verteilung und Balancierung legislativer, exekutiver und judikativer Kompetenzen zwischen verschiedenen Machtträgern. Dies zielte auf die Sicherung individueller Freiheiten, also von verbrieften Rechten, die dem Zugriff der Staatsgewalt Grenzen setzten. Um diese Rechte notfalls in geregelten Verfahren erstreiten zu können, bedurfte es einer unabhängigen Judikative, deren Gerichte idealerweise mit Geschworenen, also vereidigten Volksrepräsentanten, besetzt waren, um den Einfluss der Exekutive auf die richterliche Gewalt zu minimieren. „Volksrepräsentation“ bedeutete Vertretung der – männlichen und „selbstständigen“ – Bevölkerung auf überwiegend nicht-ständische Weise. Die Privilegien des Adels sollten beseitigt, die Menschen aus feudalen Fesseln befreit werden. Dabei war der gemäßigte Liberalismus zu vielfältigen Kompromissen bereit. In einer „gemischten Verfassung“ war das Nebeneinander ständischer und nicht-ständischer Elemente aus der Sicht der meisten Liberalen des 19. Jahrhunderts legitim. Jedoch musste das „volkstümliche“ Element eine starke Säule bilden, wofür in Deutschland der Begriff der „­ Kopfrepräsentation“ gebräuchlich wurde, also der individuellen Vertretung nach der Volkszahl, losgelöst von korporativen Bindungen.9 Hier kam das demokratische Element des liberalen Verfassungsstaates zum Ausdruck. In der „Volksrepräsentation“ ­begegneten

6 7 8 9

Vgl. etwa J. Salwayn Schapiro, Was ist Liberalismus. In: Lothar Gall (Hg.), Liberalismus, 2. Auflage Königstein/Ts. 1980, S. 20–36; Guido de Ruggiero, Geschichte des Liberalismus in Europa, Neudruck der Ausgabe München 1930, Aalen 1964. Vgl. im Überblick: Hans Fenske, Der deutsche Liberalismus 1815–1848. In: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft, 1 (1988), S. 27–49. Vgl. Uwe Backes, Liberalismus und Demokratie. Antinomie und Synthese. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vormärz, Düsseldorf 2000. Vgl. zum Begriff etwa Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflussfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied 1968, S. 201.

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Uwe Backes

sich die Gewählten auf Augenhöhe, hier zählte grundsätzlich nicht die Herkunft, sondern das Gewicht der Fakten und Argumente. Allerdings hat ein Teil der deutschen Liberalen den von allen befürworteten Konstitutionalismus dem Parlamentarismus britischen Stils entgegengesetzt. Sie waren insofern an der Bildung einer Verfassungsideologie beteiligt („deutscher Konstitutionalismus“), die einer Parlamentarisierung des Kaiserreiches im Wege stand.10 Andere Liberale leisteten dagegen wichtige Beiträge zu deren Überwindung. Hervorzuheben ist der kurhessische Liberale Friedrich Murhard, der das parlamentarische System Englands – lange vor Robert von Mohl – in seinen Funktionsmechanismen erkannt und beschrieben hat und es als eine mögliche Weiterentwicklung des konstitutionellen Systems empfahl.11 Das geschah zu einer Zeit, als sich der Begriff „parlamentarische Regierung“ auf dem Kontinent zu etablieren begann, während er in England selbst noch lange mit Bezeichnungen wie „constitute government“, „mixed government“ oder besonders „responsible government“ konkurrierte, auch nachdem sich der „Coburger Regierungsstil“ der Königin Viktoria nach dem letzten Ringen zwischen Parlament und Monarch ab 1834 durchgesetzt hatte.12 Immerhin kann man sagen, dass es meist – nach eigenem wie fremdem Verständnis – Liberale waren, die nach der Revolution von 1848/49 für eine Parlamentarisierung der konstitutionellen Monarchien nach englischem Vorbild eintraten. Und so ist es nicht allzu weit hergeholt, wenn man das Plädoyer für ein parlamentarisches System für die letzten Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur „liberalen Hegemonie“ rechnet, zumal das Vorbild der USA weit weniger bedeutend wurde als das Großbritanniens (und Frankreichs) und die Schweiz immer als Sonderfall betrachtet worden ist, dessen Nachahmung in anderen europäischen Ländern weit weniger in Betracht kam. „Liberale Hegemonie“ entwickelt sich überall dort besonders erfolgreich, wo das liberale Verfassungsprogramm Akzeptanz auch bei seinen anfänglichen Gegnern fand. Bei europaweiter Betrachtung war die Forderung nach einer parlamentarischen Regierungsweise bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht die exklusive Domäne liberaler Parteien.13 Vergleichsweise leicht 10 Wegweisend in diesem Sinne: Friedrich Julius Stahl, Das Monarchische Princip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Heidelberg 1845, S. IV. Allerdings hatte dieser Interpretation schon das erste liberale Handbuch des Konstitutionalismus den Weg gebahnt. Vgl. Johann Christoph Frhr. von Aretin/Carl von Rotteck, Staatsrecht der constitutionellen Monarchie, Band 1, 2. Auflage Leipzig 1838, S. 165–172. 11 Vgl. Friedrich Murhard, Englands Staatsverfassung. In: Carl von Rotteck/Carl Theodor Welcker (Hg.), Staats-Lexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften, Band V, Altona 1837, S. 84–171. 12 Vgl. Beyme, Die parlamentarische Demokratie, S. 30–33. 13 Dieser Eindruck entsteht in der sehr anregenden, aber in der sozialstrukturellen Analyse zu grobflächigen Arbeit von: Gregory M. Luebbert, Liberalism, Fascism, or Social Democracy: Social Classes and the Political Origins of Regimes in Interwar Europe, Oxford 1991. Siehe zur Haltung der Parteien zum parlamentarischen System stattdessen: Klaus von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 2. Auflage München 1973, S. 429–463.

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Liberale Hegemonie und Überleben von Demokratien

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waren pragmatische Konservative angesichts erfolgreicher Praxis dafür zu gewinnen, während sich die dogmatischen Gruppen der Linken damit schwertaten. Wo eine anhaltende Konsolidierung des Verfassungsstaates erreicht wurde, war dies nicht zuletzt die Konsequenz einer erfolgreichen Integration breiter Teile der Arbeiterbewegung in das parlamentarische Kräftespiel – und der damit verbundenen Verbreiterung der sozialen Trägerschichten. Unbestritten ist, dass „liberale Hegemonie“ bis ins 20. Jahrhundert hinein faktisch auch die politische Dominanz eines Bürgertums bedeutete, das sich innerhalb der neu geschaffenen gewaltenkontrollierenden Institutionen gegen den wachsenden Partizipationsdruck „von unten“ mit regulären (Wahlrecht) wie irregulären Mitteln (Korruption) zur Wehr setzte, um die liberalen Institutionen und die soziale Stellung der eigenen Klientel nicht zu gefährden. Wo dies die Inklusivität und Integrationsfähigkeit des parlamentarischen Systems über längere Zeit hinweg schwächte, konnte das zu einer nachhaltigen Delegitimierung beitragen und seinen Bestand langfristig infrage stellen.

II.

Parlamentarische Regierungssysteme 1914

Im Schicksalsjahr 1914 war der Absolutismus in Europa in den meisten Ländern überwunden. Stattdessen hatten sich fast überall konstitutionelle Formen durchgesetzt und verankert. Aber nur in wenigen Ländern hatte der Verfassungsstaat so tiefe Wurzeln geschlagen, dass er als konsolidiert gelten konnte. Dies war lediglich dort der Fall, wo sich parlamentarische Systeme – oder um die Schweiz nicht zu vergessen: Systeme mit einem Parlament, an dem nicht vorbeiregiert werden konnte, da dessen Zustimmung zum Haushalt und bei der Gesetzgebung verpflichtend war – aus konstitutionellen Formen entwickelt und längere Zeit als funktionsfähig erwiesen hatten. Dies galt nicht für das Deutsche Reich, aber ebenso wenig für Spanien, Portugal und Griechenland, in denen das parlamentarische System zwar formell eine Zeit lang bestanden hatte, aber überwiegend einen nachahmenden oder vortäuschenden Charakter besaß, wo politische Konflikte häufig mit der Waffe ausgetragen, Korruption und Wahlmanipulation mit hoher Intensität und Systematik betrieben wurden.14 Wegen der durch Fremdherrschaft stark eingeschränkten politischen Handlungsfreiheit müssen auch Finnland (bis 1917), Island (bis 1917/18) und Polen (bis 1918) ausgeklammert bleiben. In Tabelle 1 sind jene Länder aufgeführt, in denen sich das parlamentarische System bis 1914 mehr oder weniger fest etabliert hatte – oder wo das Parlament (wie in der Schweiz) eine über die in konstitutionellen Regimen hinausreichende Rolle spielte. An erster Stelle ist Großbritannien zu erwähnen, das bereits im

14 Vgl. im Überblick Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2001, S. 516–523.

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18. Jahrhundert über längere Zeit parlamentarisch regiert worden war und vielen anderen europäischen Staaten als Vorbild gedient hatte. Bereits im 18. Jahrhundert war das System der Kabinettsregierung ausgebildet worden – mit mehr oder weniger ausgeprägter parlamentarischer Tendenz. Die Phasen, in denen die faktische Abhängigkeit der Regierung von den Kräfteverhältnissen im Parlament aufgehoben war, wurden kürzer und verschwanden im 19. Jahrhundert während der langen Regierungszeit der Königin Viktoria völlig. Wenn man nicht allzu strenge Maßstäbe anlegt, kann aber die britische Monarchie für den gesamten Zeitraum vom Ende der napoleonischen Kriege bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs als parlamentarisches System gelten.15 Tabelle 1: Autokratisches Erbe und parlamentarische Erfahrung in Europa, 1815 bis 1914

Land Belgien Dänemark Deutschland

Autokratie­ jahre 1815–1914

Jahre ohne Autokratie 1815–1914

parl. System-­ erfahrung 1815–1914

Dauer des parl. Systems vor 1914

0

99

68

68

33

66

9

9





1

0

Frankreich

18

81

47

37

Groß­ britannien

0

99

99

99

Italien





44

44

Niederlande

0

99

13

13

Norwegen

0

99

30

30

Schweden

0

99

7

7

Schweiz









Erläuterung: Parlamentarisches System im engeren Sinne: Abhängigkeit der Regierung von der Mehrheitsbildung im Parlament. Gedankenstrich: eindeutige Jahresangabe wegen divergierender Entwicklung in den Einzelstaaten (oder Bundesstaaten) nicht möglich.

15 Vgl. ebd., S. 509–511. Siehe auch: Roland Kleinhenz, Königtum und parlamentarische Vertrauensfrage in England 1689–1841, Berlin 1991; Karl Loewenstein, Der britische Parlamentarismus. Entstehung und Gestalt, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 63–88; Hans Setzer, Wahlsystem und Parteienentwicklung in England. Wege zur Demokratisierung der Institutionen 1832 bis 1948, Frankfurt a. M. 1973.

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Liberale Hegemonie und Überleben von Demokratien

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Nach der Länge der parlamentarischen Periode vor 1914 folgt an zweiter Stelle Belgien, das als Teil der Niederlande bereits lange Zeit konstitutionell regiert worden war, nach seiner Unabhängigkeit aber unter günstigen Bedingungen alsbald Merkmale des parlamentarischen Systems entwickelte. Das hing vor allem damit zusammen, dass der erste Monarch des 1830 neu gegründeten Königreichs, Leopold I., wegen seiner ausländischen Herkunft (Haus Sachsen-Coburg) und der anfangs noch mangelnden Absicherung des neuen Staates durch internationale Verträge zu einem integrativen Regierungsstil unter Einbeziehung der Liberalen und Katholiken gezwungen war, sodass sich die politischen Richtungen früh ausprägten und einen Verfassungskonsens ent­ wickeln konnten, der ab etwa 1846 zu einem echten parlamentarischen System mit ­alternierenden Regierungen unter Berücksichtigung der wechselnden Mehrheitsverhältnisse führte.16 Die seit Langem konstitutionell regierten Niederlande wurden viel später parlamentarisiert. In der Rangliste liegen sie hinter Frankreich und Norwegen, auf einer Höhe mit Dänemark. Nach der Abspaltung Belgiens stand Wilhelm I. unter Reformdruck und konzedierte 1840 das Gegenzeichnungsrecht der Legislative, die strafrechtliche Ministerverantwortlichkeit und eine Verkürzung der Haushaltsperiode auf zwei Jahre. Sein Nachfolger musste 1848 weitere Konzes­ sio­nen (u. a. Verringerung der Haushaltsperiode auf ein Jahr) machen und unter Wilhelm III., der nicht zum persönlichen Regiment neigte, entwickelten sich seit 1868 deutliche parlamentarische Tendenzen. Aber erst ab 1901 wurden die Niederlande im strengen Sinne parlamentarisch regiert.17 Lange vorher hatten sich Frankreich und Norwegen zu parlamentarischen Systemen entwickelt, wobei Norwegen durch hohe Verfassungskontinuität, Frankreich hingegen seit der Französischen Revolution durch eine Vielzahl abrupter Verfassungswechsel gekennzeichnet war. Frankreich hatte sich dadurch zu einem wahrhaftigen politischen Laboratorium entwickelt, in dem an verfassungsstaatlichen wie autokratischen Formen vieles erprobt wurde, was anderswo Nachahmung fand. Bereits unter der Charte und in der Julimonarchie hatte das Regierungssystem parlamentarische Tendenzen gezeigt – und war von dem Konservativen Chateaubriand verfassungstheoretisch entsprechend gedeutet worden. Daran knüpfte die nach dem Deutsch-Französischen Krieg durch mehrere Verfassungsgesetze begründete III. Republik nach 1877 an. Von da an bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs besaß Frankreich ein parlamentarisches System, das auch während der Boulanger-Krise (1888/89) und der Dreyfus-­ Affäre nicht nachhaltig infrage gestellt wurde.18 Norwegen wies im Vergleich zu Frankreich eine weit kontinuierlichere und ruhigere verfassungspolitische Entwicklung auf. Nach Erlangung der Unabhängigkeit von Dänemark konnte das Land noch in der Zeit der Kronunion mit 16 Vgl. Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, S. 325. 17 Vgl. ebd., S. 328–331, 519. 18 Vgl. ebd., S. 212–234.

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Schweden ein hohes Maß an Unabhängigkeit erlangen und nach 70-jähriger konstitutioneller Herrschaft 1884 nach einem nicht allzu heftig ausgetragenen Konflikt zwischen Regierung und Storting zum parlamentarischen System finden. In Dänemark und Schweden wurde dies erst viel später erreicht. Noch dazu war die dänische Regierungspraxis bis 1848 absolutistisch. Und auch die kon­stitutionelle Periode danach war in der Zeit zwischen 1872 und 1894 von schweren Konflikten zwischen Regierung und Folketing geprägt. Erst ab 1905 wurde Dänemark parlamentarisch regiert. Schweden wies in der Zeit nach 1815 keine absolutistische Periode auf – und war bereits im 18. Jahrhundert (in der sogenannten Freiheitszeit zwischen 1718 und 1771) zeitweilig parlamentarisch regiert worden. Aber an diese Praxis knüpfte das Königreich erst ab 1907 wieder an. Mit sieben und neun Jahren wiesen Schweden und Dänemark 1914 wesentlich kürzere Erfahrungsperioden im Umgang mit der parlamentarischen Regierungsweise als Norwegen auf.19 Die Schweiz war 1914 kein parlamentarisches System, weil das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament auf Bundesebene seit 1848 dualistisch angelegt war, ohne dabei dem Beispiel der USA mit einem vom Volk gewählten Präsidenten zu folgen. Die Exekutive wurde aber vom Parlament gewählt und war zudem – im Unterschied zu den konstitutionellen Monarchien – bei der Verabschiedung des Haushaltes wie bei der Gesetzgebung auf das Parlament zwingend angewiesen. Autokratische Erblasten gab es – neben genuin demokratischen Traditionen in den Landsgemeinden – auch in der Schweiz, denkt man etwa an manche autoritär-oligarchischen Stadtregime des 18. Jahrhunderts. Vom Ende der napoleonischen Herrschaft bis zum Ende des Sonderbundkrieges besaß die Schweiz auf Bundesebene eine – allerdings sehr lose – konstitutionelle Verfassung, während die politischen Verhältnisse auf kantonaler Ebene bis 1830 sehr verschieden blieben, oft mit stark autoritär-oligarchischer Prägung. Erst danach setzte ein Liberalisierungsschub ein.20 Alle genannten Staaten hatten sich bis 1914 zu parlamentarischen Verfassungsstaaten entwickelt (oder wie die Schweiz zu einem System, in dem das Parlament im politischen Entscheidungsprozess eine zentrale Stellung einnahm), hielten den vom Ersten Weltkrieg ausgelösten Stürmen und Erdbeben stand und erlitten bis 1939 keine autokratische Systemtransformation. Die Begründung dafür scheint geradezu auf der Hand zu liegen: Offenbar müssen, damit ein parlamentarisches System über einen längeren Zeitraum leidlich funktioniert, so anspruchsvolle Bedingungen erfüllt sein, dass das Erreichen dieses Entwicklungsstandes in der Regel mit einem hohen Maß an Robustheit und Krisenfestigkeit einhergeht. Funktionierende parlamentarische Systeme setzen

19 Vgl. Nils Andrén, Five Roads to Parliamentary Democracy. In: Folmer Wisti (Hg.), Nordic Democracy. Ideas, Issues, and Institutions in Politics, Economy, Education, Social and Cultural Affairs of Denmark, Finland, Iceland, Norway, and Sweden, Kopenhagen 1981, S. 44–52. 20 Vgl. Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, S. 312–316.

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einen Verfassungskonsens zwischen den wichtigsten Elitensegmenten voraus. Es dürfen keine Vetoakteure (wie extrakonstitutionell agierendes Militär) existieren, die wechselnde Mehrheitsbildungen unterbinden.21 Die relevanten gesellschaftlichen Gruppen sollten sich darauf verständigt haben, Konflikte gewaltfrei in einem geregelten Verfahren auszutragen. Einerseits muss die Bildung stabiler, politisch handlungsfähiger Regierungen möglich, andererseits die politische Opposition anerkannt und befähigt sein, die Regierung in freien Wahlen abzulösen. Dies setzt die Existenz einer systemloyalen Opposition voraus, die grundsätzlich bereit ist, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wahlen müssen die Partizipation der gestaltungswilligen Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Damit all dies einigermaßen funktioniert und notfalls juristisch erstritten werden kann, ist die Existenz einer unabhängigen Rechtspflege zwingend erforderlich. Nach allem Anschein hatten die genannten Staaten auf diesen Feldern bis 1914 einen hohen Entwicklungsstand erreicht.

III. Die italienische Ausnahme Wie Tabelle 1 zeigt, gibt es nur eine Ausnahme von dieser Regel. Sie betrifft nicht Deutschland, das nur zum Vergleich mit aufgeführt ist. Hier gab es vor 1914 parlamentarische Systeme im engeren Sinne nur in Bundesstaaten (wie dem liberalen „Musterland“ Baden), nicht aber auf nationaler Ebene. Der Reichstag hatte einen „durchaus gewichtigen Anteil an der Macht, aber keinen Anteil an der Regierung“.22 Dies war in Italien anders. Das konstitutionelle ­Königreich wurde, von Piemont-Sardinien ausgehend, seit 1861 parlamentarisch regiert – sicher mit Verfassungskrisen (wie in anderen Staaten), aber ohne echten autokratischen Rückfall. Das parlamentarische System bestand 1914 sogar längere Zeit als in Dänemark, den Niederlanden, Norwegen und Schweden. Mehr noch: Die Legitimität politischer Opposition war weithin anerkannt, und es mangelte keineswegs an der Existenz einer systemloyalen Opposition, auch wenn sich ein organisiertes Parteiwesen – wie in anderen Verfassungsstaaten – erst allmählich entwickelte und die entstehende Arbeiterbewegung zu beacht­ lichen Teilen revolutionär-sozialistischen oder -anarchistischen Ideen anhing.23

21 Dieser Befund und alle anderen erwähnten Robustheitsbedingungen werden für die Zwischenkriegszeit herausgearbeitet bei: Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy in Europe, 1919–39. Comparative Analyses, Houndmills 2002. 22 So treffend Kurt Kluxen, Britischer und Deutscher Parlamentarismus im Zeitalter der industriellen Massengesellschaft. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich. In: Adolf M. Birke/ders. (Hg.), Deutscher und Britischer Parlamentarismus. British and German Parliamentarism, München 1985, S. 21–43, hier 24. 23 Vgl. Fulvio Cammarano, Storia politica dell’Italia liberale. L’età del liberalismo classico, 1861–1901, Rom 1999, S. 226–269.

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Aber das war im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert in den europäischen Verfassungsstaaten oft der Fall. Bei langfristiger historischer Betrachtung verfügte kein anderer europäischer Staat über so reiche verfassungsstaatliche Traditionen wie Italien – ein kulturelles Füllhorn, aus dem sich Anhänger liberaler und demokratischer Reformen bedienen konnten. Es ist also auf den ersten Blick erstaunlich, dass der italienische Verfassungsstaat trotz günstiger Ausgangsbedingungen anders als die übrigen parlamentarisierten Staaten Europas wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg einer Massenbewegung zum Opfer fiel, die nach dem „Marsch auf Rom“ ein ideokratisches System mit totalitärem Anspruch auf längere Zeit erfolgreich zu etablieren und zu stabilisieren vermochte.24 Mehrere Faktoren, welche zur Erklärung der italienischen Ausnahme beitragen, sind nicht zuletzt von der vergleichenden Faschismus- und Totalitarismusforschung herausgearbeitet worden. In kultureller Hinsicht verdient Beachtung, dass Italien wie Deutschland über eine lebendige imperiale Tradition mit missionarischen Zügen verfügte, die in den Krisenjahren nach 1918 aufflammte, getragen von einer verbreiteten Stimmung, um die Früchte des Sieges betrogen worden zu sein.25 Der Mythos von der „vittoria mutilata“ entfaltete ähnliche Wirkung wie die Dolchstoßlegende in Deutschland. Hier boten sich geradezu ideale psychologische Anknüpfungspunkte für eine ultranationalistische Mobilisierung.26 Wie Deutschland ist Italien als „verspätete Nation“ beschrieben worden – eine Einschätzung, der aus der Perspektive vergleichender Verfassungsgeschichte mit guten Argumenten widersprochen werden kann.27 Weithin Konsens scheint jedoch darin zu bestehen, dass beide Kulturnationen erst spät einen „institutionell geschlossenen Nationalstaat“ entwickelten und dazu ausgeprägte „interne Fragmentierungen“28 zu überwinden hatten. Diese Bemühungen wurden in Italien noch durch den administrativen Zentralismus erschwert, der dem entstehenden Nationalstaat von Turin aus übergestülpt worden war.29 Vor allem aber war das Ungleichgewicht der italienischen Territorialstaaten noch weitaus größer als das der deutschen. Norditalien bildete in verfassungspolitischer

24 Vgl. nur Lorenzo Santoro, Legitimation, Cooptation and Repression in Fascist Italy. In: Uwe Backes/Steffen Kailitz (Hg.), Ideokratien im Vergleich. Legitimation – ­Kooptation – Repression, Göttingen 2014, S. 145–159. 25 Vgl. im Überblick Marcel Gauchet, L’Avènement de la démocratie, Band III: À l’épreuve des totalitarismes 1914–1974, Paris 2010, S. 290. 26 Vgl. Ernst Nolte, Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg. Vorträge und Aufsätze 1964– 1976, Stuttgart 1977, S. 196. 27 Vgl. für Deutschland: Wolfgang Bialas, Politischer Humanismus und „verspätete ­Nation“. Helmut Plessners Auseinandersetzung mit Deutschland und dem Nationalsozialismus, Göttingen 2010. 28 Michael Stolleis, Italien und Deutschland als „verspätete Nationen“. In: Vigonianae, 1 (2010) 2, S. 77–84, hier 78 f. 29 Vgl. Rudolf Lill, Geschichte Italiens vom 16. Jahrhundert bis zu den Anfängen des ­Faschismus, Darmstadt 1980, S. 183 f.

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Hinsicht einen mit Nordwest- und Mitteleuropa vergleichbaren Kulturraum, während der Süden viel stärker von autoritär-feudalen Traditionen geprägt war – und lange Zeit blieb. Dazu kam der autokratische Einfluss, den fremde Mächte – Frankreich unter Napoleon III. und vor allem die bis 1867 absolutistisch regierenden Habsburger – auf weite Teile Italiens ausgeübt hatten.30 Auch in sozialökonomischer Hinsicht war das Entwicklungsgefälle Italiens beträchtlich – und vergrößerte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch. Die später als in Deutschland einsetzende Industrialisierung führte vor allem in den Zentren der Lombardei, Liguriens und des Piemont zu beachtlicher ökonomischer Dynamik, die auch (insbesondere in der Poebene) zu einer Modernisierung der Landwirtschaft beitrug, während der Mezzogiorno südlich von Rom weithin von einer rückständigen, auf Latifundienbesitz basierenden Landwirtschaft „mit Heerscharen fast rechtloser Tagelöhner und Halbpächter“31 beherrscht blieb. Die früh parlamentarisch regierenden Liberalen standen mithin vor Problemen, wie sie in dieser Komplexität kaum in einem anderen europäischen Land zu lösen waren: Sie „mussten in relativ kurzer Zeit und gleichzeitig das leisten, was andere nation- und statebuilders in früheren Perioden und nacheinander hatten leisten können“.32 Mit diesem Aufgabenkomplex war die im Parlament dominierende Elite ­liberaler Notabeln33 strukturell überfordert. Auch erwies sie sich lange Zeit als unfähig, den politischen Prozess für breitere, nach Partizipation strebende Bevölkerungsgruppen zu öffnen. Kein anderes der 1914 bestehenden parlamentarischen Systeme war so elitär-oligarchisch geprägt wie das italienische. Noch im Jahr 1910 besaßen lediglich 8,3 Prozent der Bevölkerung das Wahlrecht. Allgemeines Männerwahlrecht hätte einen Bevölkerungsanteil von 20 bis 25 Prozent bedeutet. Dies war in Frankreich und Norwegen der Fall – in Norwegen wurde das Wahlrecht 1913 sogar erstmals auf die Frauen ausgedehnt. In den ältesten parlamentarischen Systemen, Großbritannien und Belgien, war die Partizipationsgrundlage schmäler, aber selbst im noch stark aristokratisch geprägten Vereinigten Königreich hatten die Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts zu einem wahlberechtigten Bevölkerungsanteil von 18 Prozent geführt. Italien lag also zehn Prozentpunkte darunter. Wahlrechtsbeschränkungen blieben im konstitutionellen Europa des 19. Jahrhunderts politisch folgenlos, solange die exkludierten Bevölkerungsteile

30 Vgl. Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, S. 516 f. 31 Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 24. 32 Hartmut Ullrich, Der italienische Liberalismus von der Nationalstaatsgründung bis zum Ersten Weltkrieg. In: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 378–414, hier 378. 33 Vgl. Maurizio Cotta/Alfio Mastropaolo/Luca Verzichelli, Parliamentary Elite Transformations along the Discontinuous Road of Democratization: Italy 1861–1999. In: Heinrich Best/Maurizio Cotta (Hg.), Parliamentary Representatives in Europe 1848–2000. Legislative Recruitment and Careers in Eleven European Countries, Oxford 2000, S. 226–269, hier 230.

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keinen starken, organisierten Partizipationsdruck ausübten. Der aber nahm in Italien im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durch die Entstehung einer organisierten Arbeiterbewegung beträchtlich zu. 1894 wurde das Wahlrecht als Reak­tion auf den Aufstand der Landarbeiter in Sizilien nicht etwa ausgeweitet, sondern als Mittel zur Bekämpfung des aufkeimenden Sozialismus weiter eingeschränkt. Die von der liberalen Linken dominierte Regierung, die ohnehin alle Mittel der rechtlichen wie widerrechtlichen Wahlbeeinflussung (wie Gerrymandering, Wählerlistenmanipulation und Stimmenkauf) zur Sicherung ihrer Machtbasis nutzte,34 bereitete damit neuen Unruhen den Boden, statt inklusiv auf die wachsenden Partizipationsforderungen zu reagieren. Noch dazu begegneten die parlamentarischen Regierungen Unruhen nicht selten mit exzessiver Gewalt. Gewiss war deren Einsatz gegen protestierende, demonstrierende oder streikende Zivilisten durch die Sicherheitsorgane des Staates im Europa des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Meist wurden Gewalt­ exzesse verzeichnet, wenn Militär oder Polizei gegen illegale, aber friedliche Protestkundgebungen einschritten und auf diese Weise eine Gewalteskalation hervorriefen. Goldstein hat solche Ereignisse systematisch erfasst. Exzessive und willkürliche Gewalt dieser Art registriert er für die sich parlamentarisierenden Staaten allerdings nur in Belgien, Frankreich, Irland und Italien. Und Italien sticht wiederum aus dieser Gruppe heraus, wenn man die Spitzen der Gewaltexzesse herausfiltert und lediglich solche Fälle erfasst, bei denen mehr als 25 Zivilisten durch Sicherheitskräfte getötet wurden. Nur in Italien werden fünf Jahre mit derartigen Ereignissen registriert. Sie ereigneten sich 1864 in (Antiregierungsdemonstrationen) Turin, 1868/69 in mehreren Städten (Steuer­ ausschreitungen), 1893 auf Sizilien (Streiks, Demonstrationen) und 1898 in Mailand (Antiregierungsausschreitungen).35 Die parlamentarischen Regierungen Italiens beantworteten die wachsenden Partizipationsbedürfnisse mithin vielfach mit harter Repression. Ihre Politik beruhte lange Zeit auf einer ungeschriebenen „conventio ad excludendum“.36 Nur solche Kräfte erhielten Zugang zur Regierung, die den ökonomischen, sozialen und politischen Status quo im Großen und Ganzen akzeptierten und sich in klientelistische Netzwerke einbinden ließen. Zwar zeichnete sich das parlamentarische System durch eine hohe Frequenz der Regierungswechsel aus. Doch in den 1880er-Jahren etablierte sich ein System, das als „trasformismo“ in die

34 Vgl. Markus Schacht, Wahlen zwischen Recht und Beeinflussung: Zur Wahlkultur in Italien um die Jahrhundertwende im Vergleich zu Preußen. In: Martin Kirsch/Anne G. Kosfeld/Pierangelo Schiera (Hg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002, S. 197–221. 35 Vgl. Robert J. Goldstein, Political Repression in 19th Century Europe, London/Canberra/Totowa 1983, S. 65. 36 Alfio Mastropaolo, Electoral Processes, Political Behaviour, and Social Forces in Italy from the Rise of the Left to the Fall of Giolitti 1876–1939. In: Otto Büsch (Hg.), Wählerbewegung in der Europäischen Geschichte, Berlin 1980, S. 97–124.

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2,2

16

21

29

16

9,1

6,5

9,8

6

22

Land

Belgien

Dänemark

Deutschland

Frankreich

Großbritannien

Italien

Niederlande

Norwegen

Schweden

Schweiz

22

7

20

11

6,9

16

29

21

17

22

Bevölkungsanteil Unter­ hauswahl 190038

22

19

33

14

8,3

18

29

22

17

23

66

4

16

0

2

0

66

33

0

0

0

0

0

1

5

0

0

0

0

0





14

9

28

10

33





10

Jahre mit Streiks, Bevölkungs­ Dauer Geltung Demonstrationen, Zahl der Regieanteil allg. Männerwahl- Aufständen mit mehr rungsauflösungen ­Unterhauswahl recht 191440 als 25 Toten, 1864– 1884–191442 191039 191441

37 Robert J. Goldstein, Political Repression in 19th Century Europe, London 1983, S. 4 f. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Auflage Opladen 2014, S. 42. 41 Goldstein, Political Repression, S. 65. 42 Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, S. 876 f.

Bevölkungsanteil Unter­ hauswahl 189037

Tabelle 2: Wahlbeteiligung, Dauer der Wahlrechtsgeltung, unkonventionelles politisches Verhalten und Regierungsstabilität in europäischen Staaten, bis 1914

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italienischen Enzyklopädien eingegangen ist. Don Sturzo, der Anführer der ­katholischen Volkspartei nach dem Ersten Weltkrieg, beschrieb es im Londoner Exil 1926 rückblickend wie folgt: „Mit dem Wort ‚Transformismus‘ pflegt man in Italien eine parlamentarische Methode zu bezeichnen, die in England unbekannt ist. Man versuchte mit ihr die Gegensätze der Ideen und Parteien abzustumpfen und aufzuheben und zu vorwiegend persönlichen Abmachungen und zu solchen von Cliquen zu kommen, die sich vorübergehend oder dauernd in den Kabinetten oder in den Wandelgängen des Parlamentes bildeten. Die alten Unterscheidungen zwischen rechts und links, zwischen Konservativen und Fortschrittlichen verloren ihre Bedeutung auch für die politische Tätigkeit und die Wahlen. Die Mehrheiten und Oppositionen bildeten sich in bestimmten Augenblicken und für bestimmte Gegensätze aus einzelnen Abgeordneten und Gruppen, um dann aufs Neue zu wechseln, je nachdem die Opportunität, die Eitelkeit oder das Interesse einen Anlass oder einen Vorwand abgaben.“43

In der Zeit des „trasformismo“ hatten sich drei neue politische Kräfte in Italien gebildet, die nach Teilhabe strebten: „die Arbeiterpartei, die sich später sozialistische Partei nannte, die Organisation der Industrie […] und die soziale katholische Strömung, die durch zahlreiche Arbeiter- und Bauernvereine verstärkt wurde und sich im Anschluss an die Enzyklika Leos XIII. ‚De conditione opificum‘ vom 15. Mai 1891 ‚christliche Demokratie‘ nannte.“44 Diese Kräfte, vor allem Sozialkatholiken und Sozialisten, wurden unter dem „trasformismo“ zunächst trickreich aus der politischen Verantwortung herausgehalten, was ihr Hineinwachsen in den Verfassungsstaat erschwerte. Mehr noch: In Teilen gerieten sie in eine Daueroppositionsattitüde gegenüber dem italienischen Staat und trugen so zu einer Hypothek bei, die sich nach 1918 als wesentlicher Destabilisierungsfaktor des krisengeschüttelten italienischen Verfassungsstaates erweisen sollte.45 Die Integrationspolitik der „Ära Giolitti“ zeitigte nicht zuletzt aufgrund des „Maximalismus“ in der sozialistischen Bewegung und der mangelnden politischen Integrationsbereitschaft weiter Teile der Katholiken nur bescheidene Erfolge. Immerhin wurde der Repressionskurs gegenüber der organisierten Arbeiterschaft beendet und deren Rechtsstellung in Arbeitskämpfen verbessert.46 Allerdings blieb der „trasformismo“ auch zwischen Jahrhundertwende und Weltkrieg vorherrschende Regierungspraxis. Die Tendenz zur Korrumpierung der Parlamentsmehrheit wurde zuspitzend gar als „liberale Parlamentsdiktatur“ abqualifiziert.47 Dennoch gab es in dieser Zeit bedeutende sozialpolitische und

43 Luigi Sturzo, Italien und der Faschismus, Köln 1926, S. 58 f. 44 Ebd., S. 59. 45 Vgl. Joseph Baglieri, Italien Fascism and the Crisis of Liberal Hegemony: 1901–1922. In: Stein Ugelvik Larsen/Bernt Hagtvet/Jan Petter Myklebust (Hg.), Who Were the Fascists. Social Roots of European Fascism, Bergen 1980, S. 318–336. 46 Vgl. Lill, Geschichte Italiens, S. 243–249. 47 Vgl. Maximilian Claar, Giovanni Giolitti (1842–1928) und die liberale Parlamentsdiktatur in Italien. In: Zeitschrift für Politik, 18 (1929), S. 231–239.

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institutionelle Reformen. Dazu zählte die Demokratisierung des Wahlrechts. Sie erfolgte allerdings erst spät (1912) und kam dem integrativen Sozialliberalismus aufgrund anhaltend schwacher sozialer Verankerung, notorischer Unfähigkeit zu konzentrierter Parteibildung und nachhaltiger parlamentarischer Fragmentierung nicht zugute.48 Stattdessen gewann eine strategische Linie mächtig an Boden, die auf innere Kohäsion durch äußere Expansion setzte. In allen anderen Verfassungsstaaten, in denen sich vor 1914 ein parlamentarisches System hatte etablieren können, verbreiterten die Folgen des Ersten Weltkriegs und die Weltwirtschaftskrise ebenfalls den Entfaltungsraum für extremistische Bewegungen – doch in geringerem Maße und mit weit weniger systemgefährdender Wirkung. Vom Bolschewismus inspirierte linksextremistische Formationen wurden von den reformistischen, die Grundprinzipien des liberalen Verfassungssystems zumindest in der Praxis mittragenden Parteien bei Weitem überflügelt. Gemäßigt linke Regierungen prägten in Großbritannien und den skandinavischen Ländern zeitweilig die Politik und trugen zur Verbreiterung des liberalen Verfassungskonsenses bei.49 Das galt auch für Norwegen, wo sich die – in der Frage der Revolution zeitweilig innerlich zerrissene – Arbeiterpartei Ende der 1920er-Jahre mäßigte und begann, „nicht nur die Verfassung, sondern auch die ungeschriebenen überkommenen Regeln zu akzeptieren“.50 Wo die linksextreme Mobilisierung kräftiger ausfiel, blieb sie zum Teil (wie in Schweden) am rechten Flügel sehr schwach, sodass keine Gefahr des Hochschaukelns (anders als in Deutschland und Italien) bestand. Die italienische Situation wird allerdings unzureichend deutlich, wenn man die eher von Depolarisierung geprägten Wahlen des Jahres 1921 betrachtet (siehe Tabelle 3). Zum einen nahmen Teile der großen Parteien (Sozialisten, Popolari) eine unklare bis ablehnende Haltung gegenüber dem Verfassungsstaat ein. Zum anderen kam die Dynamik der 1919 entstandenen faschistischen Bewegung in ihnen noch nicht zum Ausdruck. Die nächsten Wahlen (1924) aber waren bereits nicht mehr als „weitgehend frei“ zu bezeichnen. Immerhin wird deutlich: In der „liberalen“ Ländergruppe konnten sich vom italienischen Faschismus oder dem deutschen Nationalsozialismus beeinflusste rechtsextremistische Bewegungen weniger stark entfalten und bei Wahlen keine entscheidenden Durchbrüche erzielen. Die belgischen Rexisten unter Léon Degrelle erreichten 1936 mit 11,5 Prozent der Stimmen in den „parlamentarisierten“ Ländern das

48 Vgl. Hartmut Ullrich, Die italienischen Liberalen und die Probleme der Demokratisierung 1876–1915. In: Geschichte und Gesellschaft, 4 (1978), S. 49–76; Paolo Farneti, Social Conflict, Parliamentary Fragmentation, Institutional Shift, and the Rise of Fascism: Italy. In: Juan J. Linz/Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes: Europe, Baltimore 1978, S. 3–33. 49 Was Gregory Luebbert als „social democracy“ bezeichnet, dokumentiert die Ausdehnung des liberalen Verfassungskonsenses auf die (gemäßigte) Linke. Siehe vor allem Luebbert, Liberalism, S. 267–271. 50 Hans-Dietrich Loock, Norwegen. In: ders./Hagen Schulze (Hg.), Parlamentarismus und Demokratie im Europa des 19. Jahrhunderts, München 1982, S. 68–86, hier 85.

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höchste Wahlergebnis,51 während die französischen rechtsextremen Parteien hochgradig zersplittert blieben und vor allem Druck auf den Straßen ausübten.52 Die Volksfrontregierung unter Léon Blum betrieb dazu Gegenmachtbildung auf liberaler Verfassungsgrundlage, auch wenn sie zeitweilig auf die Unterstützung der Kommunisten angewiesen war. Doch geriet der französische Verfassungsstaat in weitaus größere Gefahr als Großbritannien oder die Schweiz, ein Opfer politischer Extremismen zu werden. Tabelle 3: Höchste Stimmenanteile links- und rechtsextremistischer Parteien bei weitgehend freien nationalen Parlamentswahlen, 1919–194053 Land

linksextreme Parteien

rechtsextreme Parteien

Belgien

  6,1 (Kommunisten, 1936)

11,5 (Rex, 1936)

Dänemark

  2,4 (DKP, 1939)

  1,8 (DNASP, 1939)

Deutschland

16,9 (KPD, Nov. 1932)

37,3 (NSDAP, Juli 1932)

Frankreich

 11,8 (PCF, 1936)

 –

Großbritannien

  0,3 (Kommunisten, 1931)

  0,2 (New Party, Mosley, 1931)

Italien

  4,6 (Kommunisten, 1921)

  0,4 (PNF, 1921)

Niederlande

  3,4 (CPN, 1937)

  4,2 (NSB, 1937)

Norwegen

  6,1 (NKP, 1924)

  2,2 (NS, 1933)

Schweden

  8,3 (Kommunisten, 1932)

  0,6 (Nationalsozialisten, 1936)

Schweiz

  2,6 (PdA, 1939)

  1,5 (Frontisten, 1935)

Abkürzungen: CPN: Communistische Partij van Nederland; DKP: Danmarks Kommunistiske Parti; DNASP: Danmarks Nationalsocialistiske Arbejderparti; KPD: Kommunistische Partei Deutschlands; NKP: Norges Kommunistiske Parti; NS: Nasjonal Samling; NSB: Nationaal Socialistische Beweging; NSDAP: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; PCF: Parti Communiste Français; PdA: Partei der Arbeit der Schweiz; PNF: Partito Nazionale Fascista.

IV. Fazit Der vom Liberalismus maßgeblich geprägte Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts bildete die Grundlage für die Entwicklung freiheitlicher ­Demokratien im 20. Jahrhundert. Wo das Verfassungsprogramm des Konstitutionalismus 51 Vgl. nur Daniéle Wallef, The Composition of Christus Rex. In: Larsen/Hagtvet/Myklebust (Hg.), Who Were the Fascists, S. 517–523. 52 Vgl. Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 467–506. 53 Dieter Nohlen/Philip Stöver (Hg.), Elections in Europe. A Data Handbook, Baden-Baden 2010.

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zu voller Entfaltung kam und in Systeme mit starker Stellung des Parlaments mündete, die parlamentarische Regierungsweise über einen längeren Zeitraum leidlich funktionierte, entwickelte sich ein hohes Maß an Robustheit gegenüber autokratischen Rückfallrisiken. Die demokratische Komponente des Verfassungsstaates ist dabei nicht zu vernachlässigen, aber das allgemeine Wahlrecht war keine zwingende Voraussetzung für die Etablierung eines funktionierenden parlamentarischen Systems. Von ihm konnten sogar Gefahren für den Konstitutionalismus ausgehen. Bekanntlich wurde die Demokratisierung des Wahlrechts von antiparlamentarischen Kräften („Bonapartismus“) als Instrument autoritärer Machtbefestigung missbraucht.54 Wie die italienische Ausnahme zeigt, müssen sich parlamentarische Systeme jedoch, um über längere Zeit erfolgreich zu sein, als sozial inklusiv und responsiv erweisen, dürfen also die Partizipationsbedürfnisse größerer Bevölkerungssegmente nicht dauerhaft und systematisch zurückdrängen. Wo statt Partizipationspolitik eine undifferenzierte Exklusionsstrategie dauerhaft betrieben wurde, konnte sich kein hinreichend breiter Verfassungskonsens entwickeln und bestand die Gefahr, dass politische Akteure in einer sich belebenden zivilen (oder eher unzivilen) Gesellschaft ­Mobilisierungskraft entfalteten,55 die das parlamentarische System und mit ihm den Verfassungsstaat aus den Angeln hoben.

54 Vgl. nur Manfred Wüstenmeyer, Demokratische Diktatur. Zum politischen System des Bonapartismus im Zweiten Empire, Köln 1986. 55 Vgl. Dylan Riley, The Civic Foundations of Fascism in Europe. Italy, Spain, and Romania, 1870–1945, Baltimore 2010, S. 23–71.

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Die Krise des politischen Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Theoriegeschichtliche Sondierungen Jens Hacke

I.

Der Weg der Demokratie – Woodrow Wilson als Regent des Neuanfangs

Eine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, seinen politischen Parteien und seiner politischen Theorie führt ins Zentrum der Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit. Es gilt als ausgemacht, dass die Destabilisierung der Mitte, die Panik des Mittelstandes, ja sogar der Extremismus der Mitte zu den wesentlichen Faktoren des Niedergangs zählten, die sich allenthalben beobachten ließen.1 Ist man geneigt, den Liberalismus als Ideologie des Bürgertums zu verstehen, und erklärt das Bürgertum zum Garanten von Mitte und Maß, also der Stabilität von Demokratien, dann bedeutet die Krise des Liberalismus zugleich die Krise der Demokratie, und das eine bedingt das andere.2 Doch so einfach ist es nicht, denn sowohl das Verständnis von Demokratie als auch die inhaltliche Bestimmung des Liberalismus als Ideologie waren in den 1920er-Jahren weniger eindeutig, als es dem heutigen Urteil entsprechen mag. Um die damaligen Konflikte um die Demokratie im Allgemeinen, die parlamentarische, liberale Demokratie im Besonderen zu verstehen – so eine Überlegung, die ich in diesem Beitrag verfolgen will –, muss man das Kongruenz- und Spannungsverhältnis von Demokratie und Liberalismus entwirren. Wenn es 1918/19 einen Triumph der Demokratie gegeben haben sollte, dann war dieser kurzlebig. Vor allem löste er gerade unter den Besiegten keine den späteren Epochenjahren 1945 und 1989 vergleichbaren Befreiungsgefühle aus. Die Alliierten waren gegen die Mittelmächte noch nicht im Namen der Demokratie angetreten. Die Idee der westlichen Demokratie hatte sich 1

2

Vgl. insbesondere Heinrich August Winkler, Vom Protest zur Panik. Der gewerbliche Mittelstand in der Weimarer Republik. In: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 99–109; ders., Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung. In: ebd., S. 205–217. Vgl. als frühen Forschungsüberblick Rudolf von Thadden (Hg.), Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978.

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erst im ­Propagandakrieg herausgebildet. Möglicherweise war der „Wilsonian Moment“, der Kriegseintritt der USA mit dem bald darauf folgenden 14-Punkte-Plan der Höhepunkt einer demokratischen Verheißung. Es war der britische Jurist und Politiker James Bryce, der in seinem Standardwerk über „Modern Democracies“ im Jahr 1921 die „universelle Akzeptanz der Demokratie als normale und natürliche Form der Regierung“3 diagnostizierte und die Hoffnung auf eine umfassende Demokratisierung in Europa ausdrückte. Er wies aber zugleich darauf hin, dass dies nicht unbedingt deswegen der Fall war, weil man die Demokratie für die beste politische Ordnung hielt oder die von ihr verkörperten Werte absolut setzte, sondern weil sich die meisten von der Demokratie versprachen, dass sie das Mittel für eine bessere Zukunft sei: „It is now valued not for what it is, but for what it may be used to win for the masses.“4 Die Demokratie war also eher ein Erwartungs- als ein Erfahrungsbegriff der Praxis, jedenfalls für all jene Staaten, die nach dem Großen Krieg einen politischen Systemwechsel vornahmen. Welches politische Ordnungsmodell damit verbunden war, blieb in vielerlei Hinsicht unklar. Bryce wusste als Brite, wie sehr eine funktionierende Demokratie auf die Verankerung in einer freiheitlichen politischen Kultur angewiesen war. Auch die Aufgabe der Demokratie und der Rückfall in oligarchische oder autokratische Regierungsformen geschahen nie ohne aktive oder passive Zustimmung der Bevölkerung. So beobachtete Bryce bereits: „[O]ligarchy springs up every­ where as by law of nature: and so many strange things have happened in our time that nothing can be pronounced impossible. Few are the free countries in which freedom seems safe for a century or two ahead.“5 In Europa gab es zweifellos große Hoffnungen, dass aus dem Krieg die richtigen zivilisatorischen und politischen Lehren gezogen würden – zu ihnen zählte die Demokratie. Aber es stellte sich auch bald heraus, dass die Gewalterfahrung des Krieges zugleich schwere sozialpsychologische Folgeschäden in den Nachkriegsgesellschaften hinterlassen hatte und eine Verrohung der politischen Kultur nach sich zog. Politische Gegensätze formierten sich in kampfbereiten Bürgerkriegsfronten, die politische Auseinandersetzung zielte nicht auf Argumentation und Kompromiss, sondern auf die gewaltsame Schwächung, wenn nicht sogar die Vernichtung des Gegners. Erschwerend hinzu trat die ernüchternde Einsicht, dass die weitgehenden Forderungen der Alliierten nach Reparationen und Gebietsabtretungen das nationalistische und revanchistische Klima bei den Kriegsverlierern, insbesondere in Deutschland, anheizten. Diese Entwicklungen verdeutlichten das moralische Dilemma, in dem sich die Siegermächte befanden: Zu Zeiten des Krieges waren die massiven Propagandaanstrengungen mit den eigenen unverhohlenen

3 4 5

James Bryce, Modern Democracies, Volume 1, New York 1921, S. 4. Ders., Modern Democracies, Volume 2, New York 1921, S. 603. Ebd., S. 603.

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Machtinteressen in Konflikt geraten. Vor allem deutsche Liberale und Sozialdemokraten, die auf einen gerechten Frieden gehofft hatten, wurden schwer enttäuscht. So fatal der Kriegseintritt der USA im Februar 1917 für die militärischen Aussichten gewesen war, so sehr hatten die Kritiker der Obersten Heeresführung und Vertreter eines Verständigungsfriedens darauf gesetzt, dass der amerikanische Einfluss dazu führen würde, einen Frieden ohne Sieger herbeizuführen. Bei jenen Intellektuellen, die für Parlamentarisierung und Demokratisierung stritten und die eine friedliche Nachkriegsordnung erhofften, genoss Woodrow Wilson einen besonderen Nimbus. An Wilson schieden sich die Geister, denn er gab zu positiver Mythisierung ebenso Anstoß wie zur Verteufelung.6 Nicht umsonst war der Wilsonianismus bzw. der Anti-Wilsionianismus ein Leitbegriff der Epoche, der in Deutschland die Befürworter der Demokratie und des Verständigungsfriedens von den Advokaten des Siegfriedens und des autoritären Staates trennte. Man darf nicht vergessen, dass sich an die Person des amerikanischen Präsidenten die Erwartung von Völkerverständigung und Demokratie knüpfte. Der Ökonom Moritz Julius Bonn, einer der Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und laut eigener Auskunft der „führende Exponent von Präsident Wilsons Politik“7 in Deutschland, hatte in vielfacher Weise für die Ideen Wilsons, für die innere Demokratisierung und für Friedensverhandlungen geworben. Eine solche Position wurde umso schwieriger, als sich abzeichnete, dass sich die Inhalte von Wilsons 14-Punkte-Plan kaum mehr im Vertragswerk der Pariser Vorortverträge wiederfanden und dass die Vereinigten Staaten weder dem Völkerbund beitraten noch gewillt waren, eine aktivere Rolle in Europa zu spielen. Auch Bonn musste mit Blick auf Versailles feststellen, dass die alliierten Sieger die großen Grundsätze „sehr viel schneller vergessen, als wir sie lernen“.8 Ziemlich rasch wurde deutlich, dass dem Sieg der Demokratie jede triumphale Attitüde fehlte. Von einem Triumph des Liberalismus hätte ohnehin niemand gesprochen.9 Nirgends wähnte sich ein Zeitdiagnostiker am Ziel der Geschichte, zumal mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Gewalt in Europa noch nicht beendet war, sondern Bürgerkriege, unübersichtliche Kriegshandlungen

6

Vgl. Ernst Fraenkel, Das deutsche Wilsonbild. In: ders., Gesammelte Schriften. Band 4: Amerikastudien. Hg. von Hubertus Buchstein/Rainer Kühn, Baden-Baden 2000, S. 374–440; Wolfgang Schivelbusch, Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, 2. Auflage Berlin 2001, S. 26, 237. 7 Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte? Bilanz eines Lebens, München 1953, S. 181; siehe weiterhin ders., Amerika als Feind, München 1917; ders., Was will Wilson?, München o. J. [1918]. 8 Moritz Julius Bonn, Gerechtigkeit, München 1919, S. 40. 9 Dies einschränkend gegen die ansonsten überaus gelungene Darstellung bei Mark ­Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, S. 18. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Liberalismus als einer Ideologie von gestern siehe Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 97 f.

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und Pogrome weiterhin die Szene beherrschten. Die USA zogen sich mit Wilson resigniert aus Europa zurück. Der Missionsauftrag im Namen der Demokratie, „Macht die Welt sicher für die Demokratie!“ („Make the world safe for democracy!“), war rhetorisch artikuliert, geriet aber realpolitisch rasch wieder ins Hintertreffen. England und Frankreich waren materiell ausgezehrt und bangten um ihre weltpolitische Bedeutung. Ihr imperiales Selbstverständnis vertrug sich ohnehin nicht mit den von Wilson entworfenen normativen Grundsätzen eines demokratischen Zeitalters. Von der Alternativlosigkeit des Ordnungsmodells der Demokratie ließ sich kaum reden, vor allem weil die Russische Revolution und alsbald der italienische Faschismus neue bedrohliche Herausforderungen bedeuteten, die ideologisch weit gefährlicher schienen, als die autokratischen Mittelmächte es je waren. Bolschewismus und Faschismus teilten das Bewusstsein, wie der Historiker Enzo Traverso schreibt, „in einem bewaffneten Jahrhundert zu leben, einem Jahrhundert des Krieges, das der Ära des Friedens, des Liberalismus, des Parlamentarismus und des friedlichen Fortschritts ein Ende bereitet habe“.10 Sie verkörperten eine alternative Modernität und präsentierten aus dem Krieg erwachsene Antworten auf das neue Massenzeitalter. Nicht zuletzt gaben sie ein anderes demokratisch-egalitäres Versprechen, offerierten Gemeinschaft und Bindung, kanalisierten antiliberale und antikapitalistische Affekte und vereinfachten das politische Handeln in einer komplexer gewordenen Moderne durch die Legitimation einer Praxis der Gewalt, die sich ideologischen Zwecken unterordnete.

II.

Das Dilemma der 1920er- und 1930er-Jahre: Die Erwartungen an die ­Demokratie

Die dargelegte Konstellation ist weithin bekannt und wenig umstritten. Gleichwohl ist es wichtig, daran zu erinnern, dass der vermeintliche Triumph der Demokratie von Anfang an ein – jedenfalls für die Besiegten – nicht erfülltes Versprechen war, dass schnell von ganz anderen Kräften überlagert wurde. Wir haben es also mit einem Paradoxon zu tun: Zum einen waren es vermeintliche Modernisierungszwänge, die für liberale und vernunftrepublikanische Denker wie z. B. Ernst Troeltsch die Entwicklung hin zur Demokratie unausweichlich erscheinen ließ. Troeltsch war im Herbst 1919 der Auffassung, „dass ein seit lange[m] sich vorbereitendes Schicksal unabänderlich die Demokratisierung gebracht“ habe. Er wollte in diesem Kontext auch eine gängige Auffassung widerlegen, nämlich, dass die Deutschen „ein autoritativ gewöhntes, zur Selbst-

10 Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945, Berlin 2008, S. 256.

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regierung nicht befähigtes oder nicht gewilltes Volk, eine Demokratie ohne Demokraten, eine Republik ohne Republikaner“11 seien. Troeltsch war genau gegenteiliger Auffassung und sah die Deutschen politisch und kulturell zum Westen zugehörig. Dieses Bewusstsein, dass eine Demokratisierung zur wesentlichen Bedingung für eine gesellschaftliche Modernisierung gehörte, findet sich auch in der Demokratiedebatte während des Ersten Weltkriegs.12 Max Webers epochaler Text „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“,13 im Sommer 1917 zum ersten Mal als Artikelserie in der „Frankfurter Zeitung“ erschienen, ist das prominenteste Beispiel dieser Demokratisierungsbewegung aus liberalem Geist. Zum anderen hatte der „Große Krieg“ die Welt vor 1914 entzaubert und mit ihr scheinbar auch den Liberalismus delegitimiert, der als Weltanschauung des Bürgertums, ja des nun zu Ende gehenden bürgerlichen Zeitalters generell galt. Diese Entwertung des Liberalismus war, angewandt auf deutsche Verhältnisse, besonders misslich. Gehörte es doch zum berechtigten kritischen Repertoire fortschrittlicher Liberaler, die demokratischen und eben auch liberalen Defizite von Politik und Gesellschaft im Kaiserreich einzuklagen, besonders natürlich die fehlende Macht des Parlaments, das eben nicht an der Regierung mitgewirkt hatte.14 In diesem Antagonismus – Telos der Demokratisierung und Liberalisierung im Zeichen der Moderne einerseits, Schuld des Liberalismus am Weg in die Katastrophe und am allgemeinen Werteverlust andererseits – begegnet uns ein Dilemma der 1920/30er-Jahre. Es war also keineswegs natürlich, Liberalismus und Demokratie zusammen zu denken; die uns selbstverständlich gewordene liberale Demokratie war als Modell nur vereinzelt akzeptiert oder vorgedacht, sie war nur eine Möglichkeit unter vielen. Am präzisesten hat Carl Schmitt das damals empfundene Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie auf den Punkt gebracht – indem er nämlich in einer seiner berühmtesten Schriften, „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen P ­ arlamentarismus“15

11 Ernst Troeltsch, Aristokratie. In: Kunstwart und Kulturwart, 33 (1919), S. 49–57, hier 50 f. Es ist interessant, dass sein Diktum von der „Demokratie ohne Demokraten“, der „Republik ohne Republikaner“ contra intentionem so oft für die Sonderwegsthese bzw. für den Beleg für Weimars Scheitern herangezogen worden ist. 12 Vgl. Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im ­Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. 13 Vgl. Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. In: ders., Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918. Hg. von Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1984, S. 202–302. 14 Vgl. zur Geschichte des Liberalismus im Kaiserreich immer noch James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983, S. 259–332; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 128–232. 15 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Auflage Berlin 1996.

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von 1923, einen offenen Gegensatz zwischen beiden konstruierte. Laut ­Schmitt waren die vermeintlich leitenden Prinzipien des liberalen Parlamentarismus, Öffentlichkeit und Diskussion, an die Voraussetzung gebunden, dass eine homogene Klasse, nämlich das Bürgertum, herrsche. Nicht nur hätte sich im Zeitalter unversöhnlicher Klassen- und Interessengegensätze die Hoffnung auf Kompromisse erübrigt; auch sei die liberale Hoffnung naiv, öffentlich deliberierend vernünftige Entscheidung herbeizuführen oder gar Anspruch auf Wahrheit geltend zu machen. „Der Glaube an den Parlamentarismus, an ein ‚government by discussion‘“, gehörte aus Schmitts Sicht „in die Gedankenwelt des Liberalismus“ und „nicht zur Demokratie“.16 Für Schmitt widersprach der demokratische Gleichheitsgedanke, verbunden mit der Forderung nach Homogenität (er ließ offen, ob diese national, ethnisch, religiös oder sozial definiert werden müsse), dem pluralistischen Freiheitsgedanken des Liberalismus. Von demokratischer Repräsentation und Volkssouveränität unter den Bedingungen des parlamentarischen Systems zu reden, hatte sich aus Schmitts Sicht erübrigt. Er entwickelte bekanntlich die Vorstellung einer auf Homogenisierung beruhenden Führerdemokratie, deren Legitimation per Akklamation zu beschaffen sei: „Das Volk kann nur Ja oder Nein sagen; es kann nicht beraten, deliberieren oder diskutieren; es kann nicht regieren und nicht verwalten; es kann auch nicht normieren, sondern nur einen ihm vorgelegten Normierungsentwurf durch sein Ja sanktionieren.“17 Es ist in diesem Kontext nicht notwendig, sich im Einzelnen mit Schmitts polemischen Verkürzungen zu befassen: Weder interessierte ihn das normative Anliegen des Liberalismus, noch ließ er einen Sinn für die institutionellen Arrangements der Gewaltenteilung erkennen, wie zeitgenössische Kritiker früh bemerkten.18 Das ist nicht weiter überraschend. Liberale Denker zielten auf Herrschaftskontrolle und die Eindämmung staatlicher Macht; ­Schmitt hingegen wollte die souveräne Dezision einer starken Staatsspitze. Gleichwohl traf Schmitts Analyse den Liberalismus – dem er, wie er in einem Brief an seinen deutschnationalen Kollegen Rudolf Smend schrieb, die Totenmaske abnehmen müsse – ins Mark.19 Was Schmitt gerade im deutschen Fall erspürte, war die Schwierigkeit des Rollenwechsels. Was tun liberale Demokraten, wenn sie nicht nur Kontrolle und Kritik ausüben, sondern gestalten müssen? Wie begegnen Liberale – zumeist parteilich als Honoratioren organisiert – den neuen Anforderungen der Massendemokratie? Wie öffneten sie

16 Ebd., S. 13. Hervorhebung im Original. 17 Ders., Legalität und Legitimität, 6. Auflage Berlin 1996, S. 86. 18 Vgl. etwa Richard Thoma, Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 53 (1925), S. 212–217; Ferdinand Tönnies, Demokratie und Parlamentarismus. In: ders., Soziologische Studien und Kritiken, Dritte Sammlung, Jena 1929, S. 40–84. 19 Vgl. Carl Schmitt an Rudolf Smend (17.10.1927). In: Reinhard Mehring (Hg.), „Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts“. Briefwechsel Carl Schmitt – Rudolf Smend 1921–1961, Mit ergänzenden Materialien, Berlin 2010, S. 65.

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sich neuen sozialen Fragen, die in der ökonomischen und gesellschaftlichen Krise der Nachkriegszeit immer drängender wurden? Und schließlich: Wie schützt sich die liberale Demokratie vor Feinden? Wie kann sie verhindern, dass die Verfassungsordnung mit demokratischen Mitteln oder den Mitteln des „parlamentarischen Legalitätssystems“ ausgehebelt werden kann?20 Wenn im Folgenden von der Krise des politischen Liberalismus die Rede ist, erscheint die Themenstellung natürlich hybrid, erst recht wenn damit der Anspruch eines europaweiten Vergleichs erhoben werden sollte. Gerade hier gilt, dass der „Liberalismus“, auch wenn man ihn nicht als politische Philosophie, sondern eher als Praxis liberaler Politik auffasst, allein in Frankreich, Großbritannien und Deutschland in ganz unterschiedlichen Lagen ist.21 Verstünden wir nur die liberalen Parteien als Gegenstand einer solchen Untersuchung, begegneten wir dem Problem, dass sich in Frankreich dem Selbstverständnis und dem Namen nach gar keine liberale Partei findet. In England erfährt die liberale Partei aufgrund des Mehrheitswahlrechts zwar einen massiven Bedeutungsverlust, doch verschwindet der Liberalismus in der politischen Kultur natürlich keineswegs. In Italien wird die liberale Opposition mit dem Faschismus marginalisiert und schließlich unterdrückt. Eine solche additive Geschichte liberaler politischer Strömungen kann an dieser Stelle also nicht geleistet werden. Stattdessen soll der Versuch unternommen werden, die Krisensymptome der liberalen Demokratie und ihren Einfluss auf das liberale Denken ansatzweise zu systematisieren. Einige zeitgenössische Stimmen belegen, dass diese Perspektive einer gesamteuropäischen Problemwahrnehmung kein nachträgliches Konstrukt ist. Bereits der Italiener Guido De Ruggiero, ein Schüler Benedetto Croces, favorisierte in der Zwischenkriegszeit eine synthetisierende Sicht des Liberalismus, um Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Dass die Lage kritisch war, hielt ihn nicht davon ab, den Höhepunkt der zivilisatorischen Entwicklung im „liberalen Staat“ zu sehen, der bürgerliche, soziale und politische Freiheiten gewährte. De Ruggiero glaubte weiterhin an den Sieg der Vernunft und an die „Dauer der liberalen Formen, Methoden, Institutionen, die beim gegenwärtigen Stand unserer Kultur noch als das Beste dastehen, das der menschliche Geist im Bereich der politischen Beziehungen hat schaffen können“.22

20 Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 87. 21 Einen wichtigen vergleichenden Überblick zum amerikanischen und westeuropäischen Liberalismus bietet Edmund Fawcett, Liberalism. The Life of an Idea, Princeton 2014. 22 Guido De Ruggiero, Geschichte des Liberalismus in Europa, München 1930, S. 418.

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III. Demokratie als Paradigma: Konturen und Variationen Die Problematisierung der Demokratie mitsamt den zugehörigen Krisendiagnosen führt implizit schon eine normative Vorannahme mit sich, die unsere heutige Sichtweise beeinflusst: Wir machen die liberale Demokratie, wie wir sie nach 1945 kennengelernt haben, zum Maßstab für Abweichungen. Dabei scheint die liberale Demokratie als Paradigma durchaus nicht so trivial, wie die heutige Perspektive einen zu glauben verleitet. Das fängt mit dem Begriff der Demokratie an, der natürlich keineswegs auf die parlamentarisch, gewaltenteilige Variante beschränkt war. Der Historiker Hans Boldt hat mit Recht auf die Vielfalt und Unvereinbarkeit von mindestens einem halben Dutzend unterschiedlicher Begriffe von Demokratie in der Zwischenkriegszeit hingewiesen: Rätedemokratie, sozialistische Demokratie, soziale Demokratie, autoritäre oder Führerdemokratie, parlamentarische oder formale Demokratie und nationale Demokratie.23 Insofern ist das Label „demokratisches Denken“, das Christoph Gusy in seinen wichtigen Anstößen zur ideengeschichtlichen Erforschung der Weimarer Republik in den Fußstapfen Kurt Sontheimers verwendet hat, nicht besonders präzise. Es verkompliziert manche Sachverhalte eher, als dass damit Klarheit geschaffen würde.24 Die Verwirklichung der Demokratie konnte in den 1920/30er-Jahren vieles bedeuten und wurde oft gegenüber einer defizitären, nur „formalen“ Demokratie eingeklagt.25 Bereits Hans Kelsen hatte festgestellt, dass der Demokratiebegriff fast jede Unterscheidungsfähigkeit verloren hatte, weil die Demokratie im 19. und 20. Jahrhundert zum „fast allgemein beherrschende[n] Schlagwort“26 avanciert war. Es war auch den verschiedenen politischen Strömungen konservativ-revolutionärer Observanz möglich, sich – wie Arthur Moeller van den Bruck – positiv auf den Demokratiebegriff zu berufen und die existente parlamentarische Demokratie mit aller Schärfe zu bekämpfen.27 In ähnliche Unklarheiten stürzt uns die Pluralität all dessen, was man nach 1918 als Liberalismus zu identifizieren glaubte. Zwar war der Liberalismus

23 Vgl. Hans Boldt, Demokratie in krisengeschüttelter Zeit. In: Christoph Gusy (Hg.), ­Demokratisches Denken, S. 608–634, hier 609 f. 24 Vgl. Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, ­Baden-Baden 2000; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 4. Auflage München 1994. 25 Dass die Weimarer Republik nur eine „formale“, aber eben keine wirkliche (gemeint war eine soziale/sozialistische) Demokratie sei, gehörte zum Standardrepertoire ­ihrer Kritiker von links. Vgl. etwa Otto Kirchheimer, Weimar – und was dann? Analyse ­einer Verfassung. In: ders., Politik und Verfassung, Frankfurt a. M. 1964, S. 9–56; sowie die Ausführungen zur Formaldemokratie bei Hermann Heller, Die Souveränität. In: ders., Gesammelte Schriften. Band 2: Recht, Staat, Macht, 2. Auflage Tübingen 1992, S. 31–202, hier 61. 26 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie. In: ders., Die Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, Tübingen 2006, S. 1–33, hier 1. 27 Vgl. Kurt Lenk, Deutscher Konservatismus, Frankfurt a. M. 1989, S. 151 ff.

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schon immer „a broad family with loose connections“,28 wie der Ideenhistoriker Michael Freeden es einmal nannte. Selten war aber sein Erscheinungsbild so verschwommen wie in den ideologisch bewegten Jahren der Zwischenkriegszeit. Allein der Blick auf den deutsch-österreichischen Raum zeigt dies: Ehemals Natio­nalliberale wahrten Distanz zur sogenannten Massendemokratie und betrauerten den Verlust nationaler Größe, ohne ein tieferes Verständnis für die sozialen Umbrüche, die der Krieg mit sich gebracht hatte. Orthodoxe Wirtschaftsliberale wie Ludwig von Mises verteidigten die reine Lehre gegen jedwede sozialstaatliche Verwässerung – für sie blieb der Sozialismus Hauptfeind Nummer eins. Um ihn zu bekämpfen, waren auch autoritäre Mittel recht.29 Diese geistige Dis­position sorgte in Teilen des bürgerlichen Lagers für Sympathien gegenüber dem Faschismus, der sich als Bollwerk gegen die bolschewistische Revolution präsentierte.30 Zentristische liberale Denker, die unter dem etwas ungenauen Label des Vernunftrepublikanismus rubriziert werden, hatten ganz unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie, die keineswegs immer die Verteidigung des Parlamentarismus beinhalten mussten.31 So trat Friedrich Meinecke zwar durchaus für die Demokratie als Staatsform ein, warnte aber den Liberalismus davor, sich zu sehr mit dem parlamentarischen System zu identifizieren. Im Jahr 1927 plädierte Meinecke für eine „starke liberale Reformbewegung“, um „der bedenklichsten der demokratischen Konven­ tionen“ den Krieg zu erklären, nämlich „dem Glauben, dass der reine Parlamentarismus die beste Freiheitsbürgschaft sei“.32 Der wohl angesehenste deutsche Historiker seiner Zeit war in der Lage, gleichzeitig das parlamentarische Regierungssystem abzulehnen, die Parteien zu bejahen und darüber hinaus für eine den Pluralismus überwindende Volksgemeinschaft einzutreten.33 Auch der

28 Tagungsbericht: Liberalismus im 20. Jahrhundert (Theodor-Heuss-Kolloquium 2013), 10.4.–12.4.2013 Esslingen. In: H-Soz-Kult, 3.6.2013 (http://www.hsozkult.de/conference ­report/id/tagungsberichte-4827; 22.4.2015). 29 Vgl. Ludwig von Mises, Liberalismus, Jena 1927. 30 Zu den prominenten Sympathisanten des Faschismus zählen Erwin von Beckerath, Carl Schmitt und Robert Michels. Aber auch Rudolf Smend und sein Schüler Gerhard Leibholz gewannen der italienischen Entwicklung positive Seiten ab. Die Bewunderung für Mussolini konnte allerdings auch weit ins liberaldemokratische Lager reichen, wie die Publizistik von Emil Ludwig und Theodor Wolff belegte. Vgl. Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik. In: ders., Italienbilder-Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze, Köln 1999, S. 212–248. 31 Einen neuen, positiv akzentuierten Blick auf den häufig zu Unrecht geschmähten Begriff des Vernunftrepublikanismus werfen die Beiträge in Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008. 32 Friedrich Meinecke, Einige Gedanken über Liberalismus. In: ders., Werke, Band II: Politische Schriften und Reden. Hg. von Georg Kotowski, 4. Auflage Darmstadt 1979, S. 414–417, hier 417. 33 Vgl. dazu auch Walter Bussmann, Politische Ideologien zwischen Monarchie und Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Weimarer Republik. In: Historische Zeitung, 190 (1960), S. 55–77, hier 76.

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­ eichspräsidentschaftskandidat der DDP von 1925, Willy Hellpach, verband R emphatisches Demokratiestreben mit einer harschen Parlamentarismus-Kritik, die nicht nur die Weimarer Verhältnisse ins Visier nahm, sondern darüber hinaus grundsätzliche Zweifel am Parlamentarismus als Methode demokratischen Regierens anmeldete.34 Alfred Weber wiederum hielt es für unausweichlich, dass der Weg vom unübersichtlichen und entscheidungsschwachen Parlamentarismus zu einer oligarchischen „unegalitären, ganz modernen Führerdemokratie“35 eingeschlagen werde. Sogar der zeitgenössische Links- und Sozialliberalismus vertrat alles andere als homogene Anschauungen. Zwar war den meisten klar, dass der Staat von nun an eine aktivere, interventionistische Rolle spielen müsse, um Wirtschafts- und Sozialpolitik mitzugestalten, aber die Meinungen darüber, wie weit der Liberalismus seine ursprüngliche Staatsskepsis überwinden sollte, um planend und lenkend einzugreifen, gingen weit auseinander. Für die einen waren Staatseingriffe nötig, um eine Neo-Feudalisierung und die Bildung von Monopolen gerade deswegen zu verhindern, damit der Kapitalismus seine segensreiche Wirkung entfalten könne; für die anderen ging es um eine soziale Einhegung des Kapitalismus und wohlfahrtsstaatliche Umverteilung – mit fließenden Grenzen zur Sozialdemokratie.36

IV.

Moritz Julius Bonn: Krisenfaktoren der Demokratie im Europa der ­Zwischenkriegszeit

Im Kontext dieses Beitrags ist es mir nicht möglich, den politischen Liberalismus mit seinen Akteuren umfassend zu berücksichtigen; stattdessen argumentiere ich hinsichtlich der Krise des Liberalismus vornehmlich ideengeschichtlich. Der Abstieg der liberalen Parteien in die Bedeutungslosigkeit allein für das deutsche Beispiel ist so offensichtlich, dass ein Bündel von Gründen schnell genannt ist: die Erosion des bürgerlichen Milieus durch Inflation und Wirtschaftskrise, der Zangengriff der politischen Extremismen, die ungünstigen ökonomischen Bedin-

34 Vgl. Willy Hellpach, Politische Prognose für Deutschland, Berlin 1928, S. 143–237; sowie ders., Parlamentsdämmerung. In: Die Neue Rundschau, 38 (1927), S. 337–349. 35 Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925, S. 138. 36 Als ein Manifest des akademischen Linksliberalismus gilt ein Sammelwerk der Brentano-Schule: Moritz Julius Bonn/Melchior Palyi (Hg.), Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Neunundzwanzig Beiträge über den Stand der deutschen und ausländischen sozialökonomischen Forschung nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, 2 Bände, München 1925. Für den Rezensenten Walter Eucken war es „natürlich kein Zufall, dass in einer Brentanofestschrift besonders stark die Probleme, die mit dem Liberalismus zusammenhängen, behandelt werden“. Eucken hob überdies das ausgeprägte Krisenbewusstsein und die Reformbereitschaft innerhalb dieses Kreises liberaler Denker hervor, vgl. seine Rezension in: Historische Zeitung, 138 (1928), S. 550–552.

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gungen und die Legitimationskrise des Kapitalismus, die fehlende Bereitschaft der Eliten in Bürokratie, Wirtschaft und Wissenschaft, sich mit der Republik zu identifizieren etc. Allerdings musste der Niedergang der liberalen Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) sowie der letzte linksliberale Sammlungsversuch in der Deutschen Staatspartei (DStP), die allesamt auf das Label „liberal“ im Parteinamen bewusst verzichteten, noch nicht das Scheitern der liberalen Demokratie bedeuten. Die parlamentarische Demokratie ist nicht auf die Existenz einer oder mehrerer liberaler Parteien angewiesen, und zur Weimarer Koalition gehörten auch die Sozialdemokratie und das Zentrum. Gleichwohl galt die Weimarer Republik samt ihrer Verfassung ganz besonders als ein Werk liberaler Schöpfer. Das hing damit zusammen, dass die Mitbegründer der DDP wie Hugo Preuß oder Max Weber darin besondere Spuren hinterlassen hatten, aber auch mit der vielfach vorgebrachten Kritik, die Weimarer Reichsverfassung sei ein Produkt des Relativismus und „eine Verfassung ohne Entscheidung“,37 die gesellschaftspolitische Richtungsbestimmungen der künftigen politischen Entwicklung überließ. In den 1920er-Jahren avancierte der Liberalismus zum vorherrschenden Feindbild,38 zum Symbol einer untergegangenen bürgerlichen Welt. Er wurde zugleich für die Defizite und Probleme der jungen Republik verantwortlich gemacht. Die Gründe für eine breitere Wirkung seiner Ablehnung – und damit auch für seine innere Krise – betrafen nicht unbedingt die Demokratie im Allgemeinen, ganz sicher jedoch die existente parlamentarische Demokratie. Die Hypotheken des Liberalismus sind von den Zeitgenossen bereits klar erkannt und benannt worden. In diesem Beitrag soll darum der Versuch unternommen werden, die Erkenntnisse, Einsichten und theoretischen Reflexionen der liberalen „Verlierer der Geschichte“ in Erinnerung zu rufen. Es wäre nämlich voreilig, wenn man die fehlende Resonanz, die mangelnde Durchschlagskraft und den Niedergang des politischen Liberalismus zum Gradmesser für die Bedeutung des Liberalismus insgesamt oder die Qualität seiner theoretischen Konzeptionen machen würde. Nicht allein mag hier an das von Reinhart Koselleck aufgestellte Verlierer-Theorem erinnert werden, nach dem die Unterlegenen oft schärfer sehen als die Sieger und auf lange Sicht Recht behalten können. Dies zeigt sich auch daran, dass ihre Ideen zu einem späteren Zeitpunkt wieder attraktiv erscheinen.39 Denn vieles von dem, was krisengeplagte Liberale in diesen turbulenten Zeiten gedacht und entworfen haben, konnte nach 1945 durchaus Wirkung entfalten.

37 Kirchheimer, Weimar – und was dann?, S. 52 ff. 38 Vgl. die Beiträge von Jens Hacke, Ewald Grothe und Reinhard Mehring in Ewald ­Grothe/Ulrich Sieg (Hg.), Liberalismus als Feindbild, Göttingen 2014. 39 Vgl. Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze. In: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, S. 27–77, hier 68.

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Der bereits erwähnte Moritz Julius Bonn beschäftigte sich 1925 ausführlich mit der „Krisis der europäischen Demokratie“,40 in einer Zeit, als die Stabilisierung der Demokratie eigentlich wieder möglich erschien. Sein Denken offeriert besonders scharfsichtige Einblicke, weil er einer der wenigen modernen, kosmopolitischen und demokratischen Liberalen war, deren normative Prämissen uns heute immer noch aktuell erscheinen.41 Bonn sah fünf wesentliche Krisenfaktoren für die europäische Demokratie: 1. Er erkannte die Belastung von psychosozialen Verwerfungen bei den Verlierernationen, deren neu gebildete demokratische Regierungen das Erbe der Niederlage und das Stigma des nationalen Versagens trugen. Bonn beschrieb das folgendermaßen: „Wer an der Macht war, ist verantwortlich, und weil er verantwortlich war, muss er gehen. Und wenn diejenigen, die an seine Stelle treten, das Unheil nicht sofort wieder ungeschehen machen, so wird ihnen eine doppelte Verantwortung aufgebürdet: die Verantwortung für den Eintritt in die Katastrophe und die Verantwortung für ihre Wirkungen. Wo die Demokratie das Erbe des Weltkrieges angetreten hat, wird sie mit der Verantwortung für seine Folgen belastet.“42 Zudem kritisierte Bonn, dass der Aspekt der Selbstrechtfertigung, die Abwehr der Kriegsschuld und die Suche nach Sündenböcken die politische Kultur bestimmte, während es vielmehr geboten gewesen wäre, sich mit den akuten und praktischen politischen Fragen zu beschäftigen.43 2. Bonn sah, ähnlich wie Schmitt, den Parlamentarismus vor einer besonderen Belastungsprobe. In Zeiten ökonomischer und sozialer Krise verlangten die Bürger nach schnellen Lösungen und verlören die Geduld mit den Prozeduren parlamentarischen Verhandelns. Anders als Schmitt warb Bonn weiterhin für die notwendig integrative Funktion des parlamentarischen Kompromisses und hielt nichts von souveräner Dezision. Wie für Hans Kelsen war für Bonn die Demokratie nur als parlamentarische denkbar; dazu gehörte allerdings eine allein dem Parlament verantwortliche Regierung. Insofern ging es ihm – anders als zweifelnden Liberalen – vor allem um eine Aufwertung des Parlaments, um eine Erziehung zur parlamentarischen Demokratie.44 Bonn stellte klar, „dass Demokratie ein Zustand ist, in dem der Willen des Volkes sich auf mittelbare Weise vollzieht, nicht, in dem jeder berät und mittut – das

40 Moritz Julius Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925. 41 Vgl. zu Leben und Werk von Bonn: Jens Hacke, Moritz Julius Bonn – ein vergessener Verteidiger der Vernunft. Zum Liberalismus in der Krise der Zwischenkriegszeit. In: Mittelweg 36 (2010), S. 26–59. 42 Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, S. 139 f. 43 Vgl. Moritz Julius Bonn, Flagellantentum. In: Münchener Neueste Nachrichten vom 23.12.1918, Abendausgabe. 44 Vgl. Moritz Julius Bonn, Die Krise des Parlamentarismus. In: Interparlamentarische Union (Hg.), Die gegenwärtige Entwicklung des repräsentativen Systems. Fünf Antworten auf eine Rundfrage der Interparlamentarischen Union, Berlin 1928, S. 95–106; sowie Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Wien 1926.

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ist urgemeindlicher Dilettantismus –, sondern indem sie die Vollstrecker ihres Willens verantwortlich macht.“45 3. Der Erfolg der Demokratie und ihre fast übergangslose Institutionalisierung brachten eine neue bisher ungekannte Erwartungshaltung an den Staat hervor. Dass die Staatsquote allgemein mit dem Ersten Weltkrieg gestiegen war, hatte Bonn ebenso beobachtet wie das neue demokratische Verlangen, dass der Staat von nun an für Wohlfahrt, Sicherheit und das Glück seiner Bürger sorgen sollte. „Die von der Demokratie gewählte und beherrschte Maschine muss jetzt die wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben lösen, die diese Demokratie von ihr verlangt.“ Dabei wolle die Demokratie „diesem sozialdemokratischen Staat die Allmacht über das ganze menschliche Leben zusichern“.46 Bonn kritisierte den neuen Glauben an die staatliche Machtvollkommenheit, den er vor allem in der Sozialdemokratie verortete: „Grenzenlos waren die Aufgaben, die die deutsche Sozialdemokratie dem Staat stellte, unbeschränkt das Vertrauen – trotz aller Kriegserfahrungen –, das sie der Möglichkeit von Regierungseingriffen entgegenbrachte.“47 Dieses Dilemma eines de facto uneinlösbaren sozialen Heilversprechens zieht eine Desillusionierung von Übererwartungen nach sich und wird aus der Sicht des Liberalen Bonn zum Keim für die Unzufriedenheit der breiten Masse mit jeder Wirtschafts- und Sozialpolitik, die im Rahmen des kapitalistischen Systems operiert. Der Staat, auch und gerade der erfolgreiche Sozialstaat, bleibt somit stetig wachsenden Ansprüchen ausgesetzt, die ihn unter Druck setzen und überfordern. 4. Dieses Heilsversprechen von Wohlfahrt, Gemeinschaft und Sicherheit angesichts der Modernisierungskrisen – und damit das Versprechen einer Entlastung von bürgerlicher Selbstverantwortung und eine Erlösung vom Parteienstreit – nahmen die neuen Ideologien der Gewalt auf. Der kommunistischen und faschistischen Massenmobilisierung für einfache Lösungen hatte der Liberalismus wenig entgegenzusetzen. Das Eintreten für Bürgerund Freiheitsrechte, für Mäßigung und pragmatische Vernunft, so musste Bonn erkennen, verhallte zumeist ungehört. Vergeblich warb Bonn für eine aktive Bürgergesellschaft. Er verteidigte die Nüchternheit des Parlamentarismus gegen den Mythos des Staates und gegen den Wunderglauben an politische Heilslehren. Er warb im positiven Sinne für eine „Entseelung der Politik“ als neue Wende zu Rationalität und Pragmatismus. Bürger und Parteien müssten nun lernen, „dass die praktischen Möglichkeiten der Politik heute weiter und größer sind, als sie je zuvor waren, und dass die Aufgabe, den eigenen Volksgenossen und den Bürgern dieser Welt ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen – nicht durch bloßes Vertrauen auf die Wunderleistung einer Idee, sondern in zäher, praktisch gestaltender Arbeit – eine Aufgabe ist, die die politische Betätigung wohl lohnt. Mit innerer Hingebung ausgeübt, 45 Moritz Julius Bonn, Die Auflösung des modernen Staates, Berlin 1921, S. 23. 46 Ebd., S. 12–14. 47 Ders., Die Krise des deutschen Staates. In: Die Neue Rundschau, 33 (1922), S. 561– 572, hier 562.

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kann sie vollen Ersatz für die Leidenschaftlichkeit bieten, mit der man einmal Politik als Teil des Glaubens betrieb.“48 In einer Mischung aus Vertrauen und Hoffnung beschwor Bonn die Fähigkeit der Bürger, sich und ihre Institutionen durch Einsicht und Vernunft selbst zu verbessern. 5. Bonn wusste aber auch, dass es nicht nur antiliberalen und antikapitalistischen Extremismus, sondern auch einen antidemokratischen Kapitalismus gab. Mit großer Sorge beobachtete Bonn die Tendenz innerhalb der Industrie, immer mehr wirtschaftspolitische Fragen der Verantwortlichkeit parlamentarisch-demokratischer Politik zu entziehen. Das deutlichste Signal für eine solche Entwicklung sah Bonn in einem konjunkturellen Aufschwung ständestaatlicher Ideologie, die bestimmte Privilegien gleichsam einfrieren und das Wirtschaftsleben zu entpolitisieren suchte. Dahinter verbarg sich aus seiner Sicht die verbreitete Sehnsucht nach starker Führung. Dem begegnet Bonn mit der Vorstellung von einem demokratischen Kapitalismus, der in der Lage sei, alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen am erwirtschafteten Wohlstand zu beteiligen. Zum Vorbild nahm Bonn die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er eine breite Verankerung des Kapitalismus in einer Gesellschaft der Anteilseigner und kaufkräftigen Konsumenten identifizierte. In Amerika würde sichtbar, so argumentierte Bonn immer wieder, dass die Dynamik des Kapitalismus eben doch eine Hebung des Lebensniveaus aller Bevölkerungsschichten bewerkstelligen könne, auch wenn die ökonomische Entwicklung mit Krisen verbunden bleibe, die nun einmal zum Wesen der freien Marktwirtschaft gehörten. Allerdings meinte Bonn in Amerika den wahren „Triumph des Liberalismus“ zu sehen, denn die amerikanische Zivilisation beginne, „sich in eine altruistisch-soziale umzubiegen, ohne die individualistischen Grundlagen zu verlassen. Sie erstrebt eine Gesellschaft, die nicht länger durch Furcht, sondern durch Gemeinschaftsstreben zusammengehalten wird.“49 Bonns Hoffnung auf die Lösung der „großen Probleme der materiellen Welt“ gründete sich darauf, „den privaten Kapitalismus als soziales System im Interesse der Volksgemeinschaft zu verwenden“.50 Diese für Liberale überraschende Gemeinschaftssemantik bietet einen weiteren Beleg dafür, wie vielfältig die Wege waren, um hergebrachte Vorstellungen von Individualismus und Kapitalismus zu überwinden.51 Bonn wollte nicht lediglich Auskunft über deutsche Verhältnisse geben, sondern ihm ging es darum, gemeineuropäische Bedrohungsfaktoren für die li48 Ders., Die Entseelung der Politik. In: Frankfurter Zeitung vom 15.5.1928; vgl. auch den ganz ähnlichen Appell in Bonn, Die Krise des Parlamentarismus, S. 106. 49 Ders., Geld und Geist. Vom Wesen und Werden der amerikanischen Welt, Berlin 1927, S. 185 f. 50 Ebd., S. 189. Hervorhebung im Original. 51 Zur verbreiteten Verwendung des Begriffs „Volksgemeinschaft“ im liberalen und demokratischen Lager der 1920er-Jahre vgl. Wolfgang Hardtwig, Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat. In: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938, Köln 2013, S. 227–253.

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berale Demokratie zu beschreiben, während er eine Rückbesinnung auf ihr ­Wertefundament und ihre praktischen Vorteile einforderte. Zugleich war ihm klar, dass der Liberalismus als politische Kraft nicht ohne Verantwortung für die gegenwärtige Misere der Demokratie war. Wie wenige andere hatte Bonn als Kolonialismus­experte und Kritiker des Imperialismus einen Blick für liberale Doppelstandards. Sie waren ein besonderes Problem, wenn es um die moralische Legitimation des Liberalismus als Ideologie ging: Von der allgemeinen Akzeptanz von Menschen- und Bürgerrechten war man noch weit entfernt, das Frauenwahlrecht galt noch als revolutionär, die theoretischen Prämissen einer auf Kooperation und supranationaler Integration ausgerichteten internationalen Politik hatten noch nichts mit der Praxis zu tun.

V.

Die fünf Höhepunkte der liberalen Selbstverständigungsdebatte

Es war nicht nur, aber besonders in Deutschland erforderlich, den Liberalismus selbstkritisch zu erneuern, zu reformieren und zu modernisieren. Bonn nahm teil an einer intellektuellen Debatte, die gleichsam im Schatten des parteipolitischen Niedergangs stattfand, aber deswegen doch Aufschluss über die Strukturprobleme liberaler Politik gibt.52 Ohne Weiteres ist zuzugeben, dass diese Form liberaler Selbstverständigung keine ausreichende politische Wirkung entfaltete. Sie ist darum eher Defizitanalyse als Problembehebung. Es zeigt sich aber auch, dass im Schatten der Niederlage nicht selten ideengeschichtlich relevante Vorgänge zu entdecken sind, die späterhin durchaus Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen. So hatte das Ideal der sozialen Demokratie eben auch im Lager des Liberalismus – als Sozialliberalismus – eine wichtige Brutstätte. Abermals fünf Punkte dieser liberalen Selbstverständigungsdebatte möchte ich nennen: 1. Der Abschied vom „Manchestertum“: Symptomatisch liest sich die Kritik am klassischen Liberalismus, die der Nationalökonom Götz Briefs im Jahr 1932 vorlegte. Briefs nimmt vor allem den „providentiellen Finalismus“ des Marktglaubens aufs Korn, ein aus seiner Sicht haltloses Vertrauen in „prästabilierte Harmonie“, die dazu geführt habe, dass der „Liberalismus […] aus dem Stadium der geglaubten Prophetie in das des Mythos getreten“ sei. Seine Folgerung ist vernichtend: „So mündet der klassische Liberalismus, das erste umspannende System einer modernen Sozialphilosophie, in eine[r] Anzahl von Faustregeln für Börsenjobber und Cottonspinner“, in „Faustregeln für die Starken im Spielfeld gegen jeden Schwachen“.53 Gegen diese Verengung 52 Seine entschiedene Positionierung als Liberaler findet sich in: Moritz Julius Bonn, Die Zukunft des deutschen Liberalismus. In: Europäische Revue, 2 (1926), S. 260–268. 53 Götz Briefs, Die sozial- und wirtschaftsphilosophischen Ideen des kapitalistischen Zeitalters. Der klassische Liberalismus. In: ders. (Hg.), Die Wandlungen der Wirtschaft im kapitalistischen Zeitalter. Ein Sammelwerk der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Wirtschaftsphilosophie, Berlin 1932, S. 1–35, hier 28 f.

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auf einen ökonomischen Dogmatismus wandten sich auch progressive Liberale wie Leopold von Wiese, Moritz Julius Bonn oder Alfred Weber, um ein neues Gewicht auf gesellschaftspolitische und moralische Leitlinien liberalen Denkens zu legen. Selbst Ludwig von Mises, der im Rückblick als Hohepriester des wirtschaftspolitischen Dogmas gilt, betonte in seinem Liberalismus-Manifest von 1927 die untrennbare Angewiesenheit auf die demokratische Staatsform und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Kooperation.54 2. Die Öffnung für die soziale Frage: Die soziale Frage ist für den Liberalismus spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Tagesordnung. Auch Friedrich Naumanns Nationalsozialer Verein hatte in seiner eigentümlichen Verbindung von Protestantismus, Monarchismus und Kathedersozialismus den Ausgleich mit der Arbeiterschaft gesucht.55 Diese eher paternalistisch orientierte Tradition des deutschen Liberalismus hatte vom Kaiserreich herkommend noch kaum den Sprung in die Moderne einer pluralistischen Gesellschaft bewerkstelligt. Deutlich wird dies auch im Blick auf den New Liberalism in Großbritannien. Hier hatte der selten rezipierte Leonard T. Hobhouse schon seit der Jahrhundertwende eine geistige Reform des Liberalismus angestrebt und eine Besinnung auf den Zusammenhang von Freiheit und Gerechtigkeit gefordert. Er hatte vornehmlich auf die soziale Bedingtheit des Eigentums verwiesen, das nicht allein durch persönliches Verdienst, sondern nur unter dem Schutz und mithilfe der Ressourcen von Staat und Gesellschaft gebildet wird.56 Beispielgebend für eine produktive Rezeption dieses New Liberalism und für eine programmatische Neuausrichtung, warb der Nationalökonom Heinrich Herkner für einen sozialpolitischen Liberalismus, der sich von alten Einstellungen befreit und zugleich für eine Humanisierung und Ethisierung der Politik sorgt. Im Gegensatz zum alten Liberalismus, „der sich vor allem um die Beseitigung hemmender Fesseln bemühte“, ging es nun um „ein positives, konstruktives Programm“.57 3. Ein „positives, konstruktives Programm“ erforderte die Neubestimmung der Rolle des Staates, der nun zur gestaltenden Kraft erklärt wurde. Dieser Gestaltungsanspruch gab sich als Signum eines neuen Denkens zu erkennen, das stilbildend für eine in der Zwischenkriegszeit beginnende Ära des Sozialliberalismus wurde. Liberale suchten mithilfe neuer Staatskonzeptionen nach „dritten Wegen“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Daran ändert die Tatsache nichts, dass sozialliberale Modelle überwiegend scheiterten und 54 Vgl. Ludwig von Mises, Liberalismus, S. 34–37. 55 Vgl. Jürgen Frölich, „Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht“. Friedrich Naumann und der Liberalismus im ausgehenden Kaiserreich. In: Detlef Lehnert (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wien 2012, S. 135–157; sowie Thomas Hertfelder, Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013. 56 Vgl. Leonard T. Hobhouse, Liberalism and other Writings, Cambridge 1994, insbesondere S. 90–102. 57 Heinrich Herkner, Sozialpolitischer Liberalismus. In: Bonn/Palyi (Hg.), Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege, Band 1, S. 31–52, hier 38, 47.

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(vom schwedischen Fall abgesehen) keine dauerhaften politischen Mehrheiten fanden.58 Liberale entdeckten die steuernde Macht des Staates, der zum Hüter des Gemeinwohls und zum Dompteur des Kapitalismus werden sollte. Planung, konjunkturelle Steuerung, Ankurbelung des Arbeitsmarktes und Sozialfürsorge avancierten auch für Liberale zu politischen Kernbegriffen. Umstritten blieb, welche Akteure die Liberalen in der Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft favorisieren sollten: die demokratische Verwaltung, die bürgerliche Gesellschaft oder die Exekutive? Die Debatte um einen ­„autoritären Liberalismus“ (Hermann Heller)59 zeigte schon an, wo die Fallstricke lagen. Spätere Ordoliberale waren nicht davor gefeit, liberale Werte zugunsten autoritärer Wirtschaftsplanung zu opfern.60 Andere setzten auf die Vernunft der Verwaltung,61 und diejenigen, die auf eine zivilgesellschaftliche Austragung und Regelung von Interessen- und Gruppenkonflikten hofften, gerieten immer weiter in die Defensive. 4. Kaum weniger dringlich war weiterhin die Anpassung liberaler Politik nicht nur an neue Inhalte, sondern auch an neue mediale und kommunikative Formen. Die veralteten Debattier- und Entscheidungsmodi eines klassenmäßig homogenen Honoratiorenliberalismus passten nicht mehr in die Zeit der sogenannten Massendemokratie. Die Selbstverpflichtung des Liberalismus auf den Geist der Vernunft und der Rationalität fand angesichts der Übermacht ideologischer Heilsversprechen von links und rechts und einer an Bürgerkriegslogiken orientierten Politik der Gewalt immer weniger Anklang. Wollten Liberale nicht ihre zivilisierenden Werte von Frieden und Kooperation aufgeben, von Chancengleichheit und Minderheitenschutz, durften sie sich nicht auf den militarisierten Parteienkampf einlassen. Gleichwohl mussten sie Wege und Methoden breiter Mobilisierung finden. Es blieb ihnen nur, auf politische Bildung und die Einübung in demokratische Kultur zu setzen, sich dafür zu engagieren und auf Lerneffekte zu hoffen.62 5. Schließlich beförderte die Krisendebatte eine Rückbesinnung auf das normative Anliegen des Liberalismus. Es waren die Infragestellung der Verfassungsordnung, die aggressiven Attacken gegen die liberale Demokratie und der Antiindividualismus grassierender Gemeinschaftskulte, die zumindest unter 58 Vgl. Roman Köster, Nationalökonomie und die ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik. In: Werner Plumpe/Joachim Scholtyseck (Hg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 43–60. 59 Vgl. Hermann Heller, Autoritärer Liberalismus? In: Die Neue Rundschau, 44 (1933), S. 289–298. 60 Vgl. Walter Eucken, Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus. In: Weltwirtschaftliches Archiv, 36 (1932), S. 297–323. 61 Dazu zählen einige bedeutende Vertreter der liberaldemokratisch orientierten Weimarer Ministerialbürokratie wie Arnold Brecht, Julius Hirsch oder Hans Schäffer. Siehe zu diesem Aspekt Tim B. Müller, Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik. In: VfZ, 62 (2014), S. 569–601, hier 580 ff. 62 Ein Beispiel für die Anstrengungen in der politischen Bildung lieferte die Deutsche Hochschule für Politik. Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge in Manfred Gangl (Hg.),

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liberalen Denkern zu einer neuen Selbstbewusstwerdung freiheitlicher Werte führten. Der gemeinsame Nenner für die Parteigänger der liberalen Demokratie war die unbedingte Verteidigung des Rechtsstaates. Die Stellung zum Rechtsstaat, die Bereitschaft, in ihm ein unantastbares Gut, den Garanten zum Schutz der Persönlichkeits- und Freiheitsrechte, aber auch den unhintergehbaren politischen Gestaltungsrahmen zu sehen – diese Überzeugung bleibt das Kriterium für die Glaubwürdigkeit jedes Liberalen. Das lässt sich übrigens sehr leicht zeigen: Wer mit Mussolinis Faschismus sympathisierte, Rechtsbrüche und politische Pression verharmloste, der hatte in Wahrheit bereits das Inventar des Liberalismus preisgegeben. Rechtsstaatlichkeit als Kernprinzip der liberalen Demokratie, und zwar in der Doppelfunktion der Begrenzung sowie der Gewährleistung staatlichen Handelns – auf diesem common ground trafen sich die Weimarer Republikaner, ob liberale Sozialdemokraten, Liberale oder Sozialliberale.

VI. Schlussbetrachtung Es ist unstreitig, und die Ergebnisse des vorliegenden Bandes zeigen dies aufs Neue eindrucksvoll, dass die Stabilität der liberalen Demokratie vor allem von den eingeübten Praxen einer demokratischen politischen Kultur abhängt. Weder ist es die Konsistenz einer Idee noch die Härte einer ökonomischen und sozialen Krise, aus denen sich das Scheitern einer demokratischen Institutionenordnung nach bestimmten Parametern erklären lässt.63 Viel entscheidender scheint das Element einer geteilten demokratischen Kultur, das Vertrauen in die bestehenden Institutionen und die soziale Kohäsion einer wie auch immer weit gefassten kollektiven Identität. Die Rolle des politischen Liberalismus bleibt zwiespältig, zumal der ökonomische nicht selten mit dem politischen Liberalismus in Konflikt geriet. Nimmt man dessen angestammte, damals in Auflösung befindliche Trägerschicht, das Bürgertum, so bleibt es dabei, dass die Anfälligkeit weiter bürgerlicher Kreise für eine autoritäre Überwindung der Demokratie und ihre Abkehr von liberalen Werten maßgeblich zur Destabilisierung der parlamentarischen Demokratie beigetragen haben. Die ökonomische und soziale Basis war dem Liberalismus weggebrochen. Es scheint deswegen müßig, über Handlungsspielräume und Alternativen von Liberalen nachzudenken, denen die politischen Wirkungsmöglichkeiten weitgehend genommen waren. Es wäre aber auch unredlich, liberale Denker nur an der vermeintlichen Realisierbarkeit Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2008; sowie Erich Nickel, Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, Berlin 2004. 63 „In vergleichender europäischer Perspektive“, so der Historiker Lutz Raphael, „lässt sich jedenfalls kein Modell finden, das zufriedenstellend alle Fälle von Erfolg oder Scheitern der Demokratien erklären könnte.“ (Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation, S. 124).

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ihrer Ideen oder an der Praxisrelevanz ihres Strebens zu messen. Wenn Enzo Traverso behauptet, dass sich in den 1930er-Jahren „das politische Engagement der liberalen Intellektuellen […] nur noch innerhalb der antifaschistischen Bewegung entfalten“64 konnte, dann verkennt er die intellektuelle Zuständigkeit für Reflexion und Kritik. Aus ideengeschichtlicher Perspektive jedoch bleibt die Zwischenkriegszeit gerade für den Liberalismus eine entscheidende Transformationsphase: Man könnte die These von einer zweiten Sattelzeit des Liberalismus aufstellen. Sie war durch eine Wende zur Skepsis gekennzeichnet. Der Liberalismus hatte das Vertrauen in den Fortschritt verloren. Er machte die schmerzhafte Bekanntschaft mit alternativen politischen Ordnungsversuchen, die seine eigene Existenz bedrohten. Gerade erst in der Gegenwart mit politischer Verantwortung konfrontiert, galt er schon als Auslaufmodell, während die Massendiktaturen – ob bolschewistisch oder faschistisch – für die Zeitgenossen ein Zukunftsmodell alternativer Moderne verkörperten. Es ist eine Pointe, dass liberale Denker bereits in den 1920er-Jahren durch die Auseinandersetzung mit Moskau und Rom eine Totalitarismustheorie avant la lettre konzipieren, die – wie ich bereits erwähnte – notwendigerweise eine Rückbesinnung auf das normative Grundgerüst liberalen Denkens mit sich brachte.65 Ein Nebenprodukt dieser Reflexion auf politische Gegner war das Konzept einer „wehrhaften Demokratie“, das die Konsequenzen aus der Möglichkeit demokratischer Autodestruktivität zog. Es war eine Frage des Prinzips, die Grenzen liberaler Demokratie so zu ziehen, dass die Feinde der liberalen Ordnung in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt wurden. Die Weimarer Debatten um die Verteidigungsfähigkeit der Demokratie, die sich vor allem an Hans Kelsens theoretischem Reinheitsgebot entzündeten, dass die Demokratie die Möglichkeit ihrer Selbstabschaffung zulassen müsse,66 wurden insbesondere unter deutschen Exilanten in den 1930er-Jahren weitergeführt. So dachten diverse Autoren in Auseinandersetzung mit Kelsen über eine robuste Demokratietheorie nach.67 Dieser Diskurs prägte das Selbstverständnis der westlichen Demokratien in den Zeiten des Kalten Krieges in markanter Weise, wie jüngere Forschungen betont haben.68 64 Traverso, Im Bann der Gewalt, S. 301. 65 Vgl. Jens Hacke, „Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten“. Liberale Faschismusanalysen in den 1920er-Jahren und die Wurzeln der Totalitarismustheorie. In: Mittelweg 36, 23 (2014), S. 53–73. 66 Vgl. Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie. In: ders., Verteidigung der Demokratie, S. 229–237. 67 Dazu gehörte nicht nur der in diesem Zusammenhang gern angeführte Urheber der „militant democracy“ Karl Loewenstein, sondern eine Vielzahl weiterer Exilautoren (u. a. Carl J. Friedrich, Felix Weltsch, Wladimir Astrow, Thomas Mann, Hermann Broch, Moritz Julius Bonn, Karl Mannheim). 68 Vgl. Augustin Simard, Das Erbe von Weimar aus transatlantischer Perspektive. Der Schutz der Demokratie bei Karl Loewenstein und Carl J. Friedrich. In: Manfred Gangl (Hg.), Die Weimarer Staatsrechtsdebatte. Diskurs- und Rezeptionsstrategien, Baden-­ Baden 2011, S. 259–287; Alexander Gallus/Axel Schildt (Hg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011.

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Es liegt natürlich nahe, die Geschichte des Liberalismus als eine Abfolge von Lernerfahrungen und Selbstverbesserungen zu erzählen. Eine solchermaßen didaktische Volte sollte man nicht überstrapazieren. Gleichwohl ist der jüngsten Ideengeschichte des Liberalismus von Edmund Fawcett zuzustimmen, wenn er in der Zwischenkriegszeit den entscheidenden Schritt zur Versöhnung des ­Liberalismus mit der Demokratie erblickt, zumindest aus theoretischer Perspektive.69 Was solcherlei Ankunftsgeschichte für den Wandel und die Belastbarkeit eines mit dem Liberalismus verbundenen kapitalistischen Ordnungsmodells bedeutet, entzieht sich den Lehren, die man aus dem von radikalen und mitunter vereinfachenden Gegensätzen geprägten totalitären Zeitalter ziehen kann. Es bleibt offen, ob – wie Ulrich Herbert in seiner monumentalen „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“70 vermutet – der liberale Kapitalismus bei Abwesenheit einer ideologischen Herausforderung seinerseits eine selbstzerstörerische Dynamik entwickelt. Diese würde sich allerdings nur noch schwer im Raster ideologiepolitischer Muster beschreiben lassen, weil dieser aufgrund globaler Zusammenhänge hyperkomplexe Krisencharakter schwer entzifferbar wäre. Der Blick in die Zwischenkriegszeit präsentiert uns in jedem Fall ­Diskurse einer kontroversen liberalen Ideeninventur, deren Einsicht in die Fragilität demokratischer Ordnung und ökonomischer Steuerung einerseits gegen jede Selbstgewissheit immunisieren sollte, andererseits aber auch den engen Horizont heutigen liberalen Denkens weiten kann.

69 Vgl. Fawcett, Liberalism, S. 21 sowie 146 ff. 70 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 1250 f.

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Der „Große Krieg“ als Beginn: das Verhältnis zwischen traditionalen Ordnungskonzepten, Faschismus und Autoritarismus Arnd Bauerkämper*

I. Einleitung Auf den ersten Blick führte der Erste Weltkrieg einen fundamentalen Umbruch des internationalen Systems und der politischen Ordnung herbei, in Europa, aber auch darüber hinaus. Das Ende der ersten Phase der ökonomischen Globalisierung, der tief greifende Wandel im Verhältnis der Großmächte und die Krise des Fortschrittsoptimismus in den bürgerlichen Gesellschaften gehörten zu den einschneidenden Folgen des „Großen Kriegs“. Nicht zuletzt entzog der Kollaps der multiethnischen Imperien (Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Russisches Zarenreich) 1918 absolutistischen und konstitutionellen Monarchien weitgehend ihre Legitimität und Attraktivität. Diesen Erosionsprozess besiegelte auch aus der Sicht vieler Zeitgenossen der Aufstieg faschistischer Bewegungen, der untrennbar mit den Folgelasten des Ersten Weltkriegs verbunden war. Allerdings hatte sich schon mit dem Krisendiskurs um 1900, vor allem aber in den Jahren von 1914 bis 1918 gleichfalls ein neuer Autoritarismus herausgebildet, an den in den 1920er- und 1930er-Jahren antidemokratische und illiberale Gruppen, Bewegungen und Regimes anknüpften. Der Aufstieg des Autoritarismus und Faschismus in der Zwischenkriegszeit setzte aber auch die Abwendung von den neuen Demokratien voraus, die in den 1930er-Jahren deutlich hervortrat, als 1938 in Europa nur noch Großbritannien, Frankreich, die Tschechoslowakei, die skandinavischen Staaten und die Schweiz demokratisch verfasst waren. Die autoritären und faschistischen Politiker nahmen jedoch die Partizipations­ansprüche der Bevölkerung auf und nutzten auch traditionale Ordnungsvorstellungen und Stabilitätserwartungen, um ihren Diktaturen Legitimität zu verleihen.1 Der Erste

* 1

Geringfügig von dieser Fassung abweichender Aufsatz veröffentlicht in: Totalitarismus und Demokratie, 12 (2015) 1, S. 73–96. Vgl. Roger Eatwell, The Concept and Theory of Charismatic Leadership. In: ders./ António Costa Pinto/Stein Ugelvik Larsen (Hg.), Charisma and Fascism in Interwar Europe, London 2007, S. 3–18, hier 5 f. Vgl. auch David Reynolds, The Long Shadow. The Great War and the Twentieth Century, London 2013, S. 42.

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Weltkrieg, der als Konflikt zwischen den Ordnungen der zentraleuropäischen Monarchien und des liberalen Parlamentarismus des englischen Typs verstanden werden kann, verstärkte damit zwar Entwicklungen, die im späten 19. Jahrhundert eingesetzt hatten; er war aber in diese Prozesse eingebettet, die sich bis in die 1930er-Jahre erstreckten und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg grundsätzlich noch durchaus offen waren. Die blutige Auseinandersetzung eröffnete damit einen kontingenten Ermöglichungshorizont.2 Im Hinblick auf die Entwicklung politischer Ordnungen wirkte sich der Erste Weltkrieg grundsätzlich ambivalent aus. So war der Zerfall vieler zunächst kräftiger Demokratien in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren durchaus nicht a priori festgelegt, denn besonders die umfassende Mobilisierung im Ersten Weltkrieg hatte auch Debatten und Maßnahmen zur sozialen Stabilisierung von Demokratien ausgelöst. Insofern trieb der globale Konflikt zunächst die Demokratisierung voran, von Deutschland bis Japan.3 Jedoch sind auch die erheblichen Belastungen der neuen demokratischen Ordnungen angesichts der Kriegsfolgen nicht zu unterschätzen. Sie müssen in die Geschichtsschreibung einbezogen werden, ohne auf teleologische Deutungen zurückzufallen. So mutierten Demokra­ tien im 20. Jahrhundert wiederholt zu „konstitutionellen Diktaturen“, indem ihre Eliten im Namen der Sicherheit grundlegende Freiheiten einschränkten.4 Zudem begünstigte die beschleunigte Demokratisierung auch illiberale Ideologien und Gruppen. Der Verlauf und Ausgang des Ersten Weltkriegs ermöglichten nicht nur die Bildung neuer Demokratien, sondern stärkten zugleich autoritäre Mentalitäten. Überdies verfestigte der Konflikt politische Kulturen, die – im Gegensatz zum Faschismus – ihrerseits traditionale Werte, Normen und Vorstellungen aufnahmen. Insgesamt führte der Erste Weltkrieg zu einer Transformation, nicht aber zum Zusammenbruch des Traditionalismus und Autoritarismus als Konzepte und Formen politisch-gesellschaftlicher Ordnungen.5

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„[T]he Great War resolved far less than it set in train.“ Zit. nach John Horne, The Great War and its Centenary. In: Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, Band 3: Civil Society, Cambridge 2014, S. 618–639, hier 635. Zur langfristigen Perspektive: Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 63 (2014), S. 321–348, hier 323–326. Vgl. auch Elise Julien, Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2014, S. 104–108. Vgl. Frederick Dickinson, Toward a Global Perspective of the Great War: Japan and the Foundations of a Twentieth-Century World. In: American Historical Review, 119 (2014), S. 1154–1183, hier 1160, 1165–1167, 1171 f., 1182. Vgl. Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies, Princeton 1948. Vgl. auch Karl Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights. In: American Political Science Review, 31 (1937), S. 638–658. Zur Diskussion: Bernd Greiner, Konstitutionelle Diktatur. Clinton Rossiter und Notstandspolitik in modernen Demokratien. In: Mittelweg 36, 22 (2013) 1, S. 24–40; Gior­gio Agamben, State of Exception, Chicago 2005. Die Chancen der Demokratisierung nach dem Ersten Weltkrieg werden überbetont und die Ambivalenzen der Prozesse unterschätzt in Tim B. Müller, Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 62 (2014), S. 569–601, hier 571–575, 601; ders., Krieg und Demokratisierung. Für eine

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Dieser Beitrag soll den Ersten Weltkrieg in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einordnen, besonders hinsichtlich der Auflösung, Neuformierung und Kontinuität von Konzepten und Formen politisch-gesellschaftlicher Ordnung. Unter diesen Gesichtspunkten konzentriert sich der Aufsatz auf den Faschismus und Autoritarismus als Herausforderungen traditionaler Ordnungskonzepte und deren Funktionen für den Zerfall demokratischer Systeme. Die sozial-ökonomischen Verwerfungen der Nachkriegszeit wirkten dabei wie ein Katalysator auf die autoritären und faschistischen Kräfte, die das ordnungspolitische Desiderat für ihre Zwecke instrumentalisieren konnten. Eine fundamentale Herausforderung der Demokratien ging schon seit 1917 von der bolschewistischen Revolution aus, deren führende Vertreter (besonders Wladimir Iljitsch Lenin) weltweit einen Umsturz der „bürgerlich-kapitalistischen“ Gesellschaften propagierten und auch eine fundamentale Umwälzung des Systems der internationalen Staatenbeziehungen anstrebten. Unmittelbar um die Gestaltung der Nachkriegsordnungen konkurrierten aber nicht zuletzt die Anhänger des Faschismus und Autoritarismus, auf die sich die folgende Darstellung konzentrieren wird. Faschistische Bewegungen und Regimes waren zweifellos die fundamentalste Herausforderung der Demokratien, die im „Wilsonian Moment“ 1918/19 z. T. – so in neuen Staaten Ostmitteleuropas – erst aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren.6 Jedoch behauptete sich der neue Autoritarismus, der gegen die Demokratie und den Liberalismus ebenso wie gegen den aufkommenden Kommunismus gerichtet war, in den 1920er-Jahren in vielen Staaten Europas gegenüber dem Faschismus. Im darauffolgenden Jahrzehnt wie auch im Zweiten W ­ eltkrieg konnten in Ländern wie Spanien, Rumänien und Ungarn (bis 1944) autoritäre Diktatoren ihre Macht sogar gegen faschistische Bewegungen verteidigen. Hier hatte die oligarchische Herrschaft fragmentierter traditionaler Eliten zwar wiederholt politische Skandale und politische Krisen herbeigeführt, in denen breite Bevölkerungsgruppen von faschistischen Bewegungen mobilisiert worden waren. Der demokratische Anspruch des Faschismus wurde aber von den jeweiligen autoritären Diktatoren in ihre Regimes eingebunden.7 Nach dem Zweiten Weltkrieg verlieh der Antikommunismus diesen Systemen in Südeuropa (so in Spanien Francisco Francos Regime bis 1975, dem Estado Novo António de Oliveira Salazars und Marcelo Gaetanos in Portugal bis 1974 sowie

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andere Geschichte Europas nach 1918. In: Mittelweg 36, 23 (2014) 4, S. 30–52, hier 41. Zum Konzept der „politischen Kultur“, das hier nicht detailliert erläutert werden kann, vgl. Arnd Bauerkämper, Politische Kultur. Überlegungen zur Erneuerung eines Konzepts in transnationaler Perspektive. In: Wim van der Meurs/Dietmar Müller (Hg.), Institutionen und Kultur in Südosteuropa, München 2014, S. 41–67. Vgl. Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007. Hier folgt die Darstellung z.T. Überlegungen Dylan Rileys, der aber den demokratischen Anspruch der Faschisten überbetont. Vgl. Dylan Riley, The Civic Foundations of Fascism in Europe. Italy, Spain, and Romania, 1870–1945, Baltimore 2010, S. 16–18, 21, 194.

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dem Obristen-Regime in Griechenland von 1967 bis 1974) im Kontext des Kalten Krieges nochmals Auftrieb.8 In den folgenden Ausführungen ist zunächst eine begrifflich-konzeptionelle Reflexion und Erläuterung unabdingbar. Daran anschließend sollen Grundzüge politisch-gesellschaftlicher Ordnungen im 20. Jahrhundert vermittelt werden. Der dritte Abschnitt widmet sich der autoritär-etatistischen Umformung mo­ narchischer und demokratischer Systeme im Ersten Weltkrieg. Anschließend wird anhand des Regimes, das Ion Antonescu in Rumänien errichtete, gezeigt, dass sich in der Zwischenkriegszeit der Autoritarismus auch angesichts der He­ rausforderung des Faschismus zumindest in einigen Staaten durchaus behauptete. Der Beitrag schließt mit allgemeineren Überlegungen zu den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf autoritäre und faschistische Konzepte und Strukturen politisch-gesellschaftlicher Ordnung.

II.

„Traditionalismus“, „Autoritarismus“, „Faschismus“ und „defekte Demokratien“

Max Weber hat „Traditionalismus“ als Form gesellschaftlichen Bewusstseins und Verhaltens, vor allem aber als Typ legitimer Herrschaft und sozialer Ordnung gefasst. Nach dem deutschen Soziologen beruht traditionale Herrschaft „auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legalität der durch sie zur Autorität Berufenen“. Sie rechtfertigt sich aus dem Glauben an überlieferte Traditionen und der Legitimität der sich auf diese berufenden Befehlsgewalt.9 Ebenso wie die charismatische und die rational-bürokratische Herrschaft bietet sie damit die „Chance, für einen Befehl angebbaren Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.10 Weber unterscheidet dazu eine „Herrschaft kraft Interessenkonstellation (insbesondere kraft monopolistischer Lage)“ – so eines Unternehmers auf dem Markt – und „Herrschaft kraft Autorität (Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht)“. Diese erkannte

 8 Vgl. Martin Blinkhorn, Fascism and the Right in Europe, 1919–1945, Harlow 2000, S. 31–93; ders., Introduction: Allies, Rivals, or Antagonists? Fascists and Conservatives in Modern Europe. In: ders. (Hg.), Fascists and Conservatives. The Radical Right and the Establishment in Twentieth-Century Europe, London 1990, S. 1–13. Dazu jetzt auch die Beiträge in António Costa Pinto/Aristotle Kallis (Hg.), Rethinking Fascism and Dictatorship in Europe, New York 2014.  9 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 2. Halbband, 5. Auflage Tübingen 1976, S. 124. Vgl. auch Siegfried Wiedenhofer, Tradition, Traditionalismus. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 6, Stuttgart 1990, S. 607–650, hier 644; Petra ­Neuenhaus/Max Weber: Amorphe Macht und Herrschaftsgehäuse. In: Peter Imbusch (Hg.), Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theo­rien, Opladen 1998, S. 77–93, hier 80. 10 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. Dazu als Überblick: Neuenhaus/Max Weber, S. 87.

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er besonders in der „autoritären Gewalt eines an die schlechthinige Pflicht des Gehorchens appellierenden Hausvaters oder Monarchen“.11 Damit band Weber Autorität – ebenso wie schon Thomas Hobbes in seiner Schrift „Leviathan“ (1651) – eng an die Souveränität einer „rein dezisionistischen Befehlsgewalt“, ungeachtet der „materiellen Gerechtigkeit“12 von Befehlen. Letztlich legte der deutsche Soziologe einerseits eine enge Affinität von autoritärer und traditionaler Herrschaft nahe. Andererseits hat er autoritäre Ordnungen auf ausgeprägt asymmetrische Machtverhältnisse zurückgeführt. Allerdings hatte Weber seine Überlegungen zur autoritären Herrschaft ohne Kenntnis der neuen Diktaturen verfasst, die sich nach dem Ersten Weltkrieg herausbildeten, sodass seine Darstellung im Hinblick auf die autoritäre und faschistische Herrschaft ergänzt werden muss. Dazu sind die Überlegungen von Juan Linz weiterführend, der autoritäre Regimes typologisch besonders von faschistischen Mobilisierungsdiktaturen abgegrenzt hat. Diese zielten nach dem Konzept des spanisch-amerikanischen Politikwissenschaftlers nicht auf eine Bewahrung, sondern auf eine Überwindung des politisch-gesellschaftlichen Status quo. Dafür gewannen faschistische Führer vor allem marginalisierte und deklassierte ­Gruppen. Die Faschisten waren auf „mobilisierende Kräfte“13 – so ein ausgeprägtes Krisenbewusstsein – angewiesen. Im Gegensatz zu auto­ritären Herrschern stützten sie sich dabei auf Massenparteien und paramilitärische Organisatio­nen. Faschisten strebten nach politisch-sozialer Integration und Partizipation, auch indem sie das vergesellschaftende Potenzial bürgerlicher Vereine nutzten. Letztlich beanspruchten faschistische Diktaturen eine lückenlose Erfassung der Gesellschaft. Sie strebten auch die Zerstörung von Demokratien an, nahmen aber deren partizipatorische Angebote in Dienst, gingen von der erreichten politischen Mobilisierung aus und täuschten eine demokratische ­Beteiligung des Volkes an den politischen Entscheidungen vor. Faschistische

11 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 977, 979. 12 Zit. nach Horst Rabe, Autorität. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 1972, S. 382–406, hier 392. 13 Zit. nach Robert Paxton, Anatomy of Fascism, New York 2004, S. 81–118. Vgl. auch António Costa Pinto, The Nature of Fascism Revisited, New York 2012, S. 219; Sven Reichardt, Faschistische Tatgemeinschaften. Anmerkungen zu einer praxeologischen Analyse. In: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.), Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung, München 2014, S. 73–88, hier 80; Michael Mann, Fascists, Cambridge 2004, S. 51, 358; Jerzy W. Borejsza, Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa, Frankfurt a. M. 1999, S. 149 f., 209; Kevin Passmore, Fascism. A Very Short Introduction, Oxford 2002, S. 27. Zu weitgehend die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Demokratien und dem Faschismus verwischend: Sven Reichardt, Faschistische Beteiligungsdiktaturen. Anmerkungen zu einer Debatte. In: José Brunner (Hg.), Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen, Göttingen 2014, S. 133–157, hier 136–139. Ähnlich überzogen die Deutung des Faschismus als „authoritarian democracy“ in: Riley, Foundations, S. 3, 18. Riley, der „Demokratie“ letztlich auf Mobilisierung und Partizipation reduziert, reproduziert zu unkritisch die Perspektive der Faschisten, besonders deren demokratischen Anspruch.

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­ ewegungen waren damit gleichermaßen antidemokratisch, pseudodemokraB tisch und postdemokratisch.14 Demgegenüber stützten sich autoritäre Kräfte nach Linz auf überkommene Eliten wie die Monarchie, das Militär und die katholische Kirche, um die traditionale gesellschaftliche Hierarchie zu konservieren, z. B. mittels eines weitreichenden Zusammenschlusses in einer „organischen“, korporativen Staatsorganisation. Dabei ließen autoritäre Regimes zumindest einen begrenzten politischen Pluralismus zu, der allerdings nicht institutionalisiert und ausschließlich von den Machthabern bestimmt und reglementiert worden sei. Schließlich unterscheiden sich autoritäre Herrscher durch ihre Bindung an kulturelle Traditionen (z. B. Religionen) von der antibürgerlichen Ideologie faschistischer „Führer“ und ihrer Gefolgschaft, die ihren plebiszitären politischen Aktivismus gegen etablierte Autoritäten richteten. Dazu propagierten sie auch Utopien wie den „neuen Menschen“. Nach Linz sollten autoritäre Regimes demgegenüber letztlich bestehende gesellschaftliche und politische Ordnungen einfrieren, in denen Partizipation deshalb ebenso eingedämmt wurde wie die Aktivität von Parteien. Damit hätten „bureaucratic-military or organic-statist regimes“15 schließlich die Bewahrung gesellschaftlicher Hierarchien und der politischen Vorherrschaft einer oligarchischen Elite angestrebt. Zunächst ausschließlich eine Selbstbezeichnung der italienische Faschisten unter Benito Mussolini, dem König Vittorio Emanuele III. am 29. Oktober 1922 in Rom die Macht übertrug, avancierte der „Faschismus“ schon in den 1920er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer fundamentalen politischen Herausforderung. Nachdem die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 in Deutschland die Macht errungen hatten, nahm der politische Einfluss faschistischer Bewegungen auch in anderen europäischen Staaten weiter zu. Obgleich die Anziehungskraft des italienischen Vorbilds in den 1930er-Jahren zurückging, spie-

14 Vgl. Eckhard Jesse, Die Totalitarismusforschung und ihre Repräsentanten. Konzeptionen von Carl J. Friedrich, Hannah Arendt, Eric Voegelin, Ernst Nolte und Karl Dietrich Bracher. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 20/98, S. 3–18, hier 4. Vgl. auch Karl Dietrich Bracher, Nationalsozialismus, Faschismus und autoritäre Regime. In: Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturenvergleichs, Paderborn 1996, S. 357–381, hier 363. 15 Zit. nach Juan J. Linz, The Crisis of Democracy after the First World War. In: Roger Griffin (Hg.), International Fascism. Theories, Causes and the New Consensus, London 1998, S. 175–188, hier 184. Vgl. auch ders., Some Notes Toward a Comparative Study of Fascism in Sociological Historical Perspective. In: Walter Laqueur (Hg.), Fascism. A Reader’s Guide, London 1976, S. 3–121; Juan J. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime. Hg. von Raimund Krämer, Berlin 2000. Ergänzend und zur Differenzierung autoritärer Regimes: Audunn Arnórsson, Totalitäre und autoritäre Machtformen. Versuch einer Typologie. In: Ludger Kühnhardt u. a. (Hg.), Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. Drittes Reich und DDR – ein historisch-politikwissenschaftlicher Vergleich, Frankfurt a. M. 1994, S. 199–211; Roger Eatwell, Introduction: New Styles of Dictatorship and Lead­ership in Interwar Europe. In: ders./Costa Pinto/Larsen (Hg.), Charisma, S. XXIII f.

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gelte die semantische Ausweitung des „Faschismus“ zu einem Gattungsbegriff letztlich die zeitgenössische Erkenntnis wider, dass sich die damit bezeichneten Bewegungen und Gruppen in verschiedenen europäischen Staaten insgesamt zu einer fundamentalen Bedrohung der Demokratie entwickelt hatten.16 In der historischen Forschung hat sich inzwischen ein weitgehender Konsens über einen generischen Faschismusbegriff herausgebildet. Damit wird nicht mehr vorrangig die Singularität von Bewegungen und Regimes betont, die lange analytisch voneinander getrennt worden sind. Vielmehr sind sie zunehmend miteinander verglichen worden. Darüber hinaus haben Beziehungen und Verflechtungen verstärkt Aufmerksamkeit gefunden.17 Die einzelnen faschistischen Bewegungen teilten in ideologischer Hinsicht eine scharfe Ablehnung der Demokratie. Sie verlangten eine radikale Einschränkung individueller Freiheit, die Beseitigung des gesellschaftlichen Pluralismus und die Unterordnung aller gesellschaftlichen Gruppen unter die uneingeschränkte Herrschaft der Parteiführung und der von dieser dominierten Staatsinstitutionen. Da sie sich als Kraft der Erneuerung verstanden, grenzten sich die Faschisten durchweg scharf von den traditionalen Parteien mit ihren (tatsächlich oder vermeintlich) erstarrten Strukturen ab. Auch kennzeichnete faschistische Bewegungen und Regimes ein spezifischer politischer Stil, der Aktionismus, Willenskraft und Uniformierung betonte. Erst die politische Aktion verankerte die Programmatik des Faschismus im Alltag ihrer Mitglieder und Anhänger, aber auch großer Gruppen der übrigen Bevölkerung. Zu diesem Adaptionsprozess trugen Mythen, die Gewalt­ ästhetik, paramilitärische Organisationsformen und der Gemeinschaftskult bei. Sie dienten dem inneren Zusammenschluss durch Abgrenzung nach außen und der Demonstration von Entschlossenheit und Kampfkraft. Ebenso ­wichtig

16 Vgl. Fernando Exposito, Faschismus und Moderne. In: Schlemmer/Woller (Hg.), Faschismus, S. 45–57, hier 54. Allgemein zur Analyse von Krisen als Formen gesellschaftlicher Selbstwahrnehmungen, als Narrationsprozess und Diskursstrategie: Carla Meyer/ Katja Patzel-Mattern/Gerrit Jasper Schenk, Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive – eine Einführung. In: Dies. (Hg.), Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 9–25, bes. 12; Thomas Mergel, Einleitung: Krisen als Wahrnehmungsphänomene. In: ders. (Hg.), Krisen verstehen, Frankfurt a. M. 2010, S. 9–22, bes. 14, 18 f. 17 Vgl. Thomas Schlemmer/Hans Woller, Politischer Deutungskampf und wissenschaftliche Deutungsmacht. Konjunkturen der Faschismusforschung. In: dies. (Hg.), Faschismus, S. 7–15, hier 12; Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa, 1918–1945, Stuttgart 2005, S. 13–46, 166–182; ders., A New Consensus? Recent Research on Fascism in Europe, 1918–1945. In: History Compass, 4 (2006), S. 1–31 (http://www. blackwell-compass.com/subject/history/section_home?section=hico-europe); Constantin Iordachi, Comparative Fascist Studies: an Introduction. In: ders. (Hg.), Comparative Fascist Studies. New Perspectives, London 2010, S. 1–50; Sven Reichardt, Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung. In: Mittelweg 36, 16 (2007), S. 9–25, hier 25; ders., Was mit dem Faschismus passiert ist. Ein Literaturbericht zur internatio­nalen Faschismusforschung seit 1990, Teil 1. In: Neue Politische Literatur, 49 (2004), S. 385– 406, hier 398 f.

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waren charismatische Führerpersönlichkeiten, die eine permanente Mobilisierung sicherten und den „neuen Menschen“ verkörpern sollten. Selbst wenn sie dabei nicht nur von der Anerkennung der Mitglieder und Wähler, sondern auch von außeralltäglichen Ereignissen (wie Krisen) abhängig waren, unterschied die charismatische Ausstrahlungskraft zumindest idealtypisch faschistische Parteien und Diktaturen von autoritären politischen Kräften und Herrschaftsordnungen.18 In beziehungsgeschichtlicher Sicht ist darüber hinaus hervorzuheben, dass der Erfolg der faschistischen Partei in Italien ebenso wie die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten die Gründung ähnlicher Bewegungen und Organisa­ tionen in anderen europäischen Staaten anregte. Der Faschismus kann daher als nationalistische, aber transnational verflochtene politische Strömung der europäischen Zwischenkriegszeit gefasst werden. Sie ging aus einer Krise im Übergang zur voll entfalteten, pluralistischen Industriegesellschaft, zur Massenpolitik und zur supranationalen Organisation der Staatenwelt hervor, oszillierte zwischen den Organisationsprinzipien einer Bewegung und einer Partei und trat für eine radikale politisch-kulturelle Erneuerung unter reaktionären Auspizien ein. Faschistische Bewegungen und Regimes suchten über traditionale Milieuabgrenzungen hinweg unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, aber vor allem Jugendliche zu gewinnen, und sie inszenierten sich als verschworene Gemeinschaft eines Kampfbundes. Der Faschismus konstituierte einen europäischen Erfahrungs- und Handlungsraum. Er gewann zwar auch außerhalb des Alten Kontinents Anhänger – so in Südamerika –, blieb aber letztlich an die krisenhaften Folgen des Ersten Weltkriegs in Europa gebunden.19 Während sie einzelne Elemente traditionaler und autoritärer Ordnungen aufnahmen, lehnten Faschisten demokratische Systeme kategorisch ab. Demokratie kann dabei definiert werden als rechtsstaatliche Herrschaftsform, die im

18 Vgl. António Costa Pinto/Stein Ugelvik Larsen, Conclusion: Fascism, Dictators and Charisma. In: Costa Pinto/Eatwell/Larsen (Hg.), Charisma, S. 131–137, hier 132 f. Differenzierung des „Charisma“-Konzepts in: Eatwell, Concept, S. 6. Vgl. Mann, Fascists, S. 13–17; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002; ders., Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs. In: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 129–153; Christoph Kühberger, Emotionaler Rausch: Zu den Mechanismen der Gefühlsmobilisierung auf faschistischen und nationalsozialistischen Festen. In: Árpád von Klimó/Malte Rolf (Hg.), Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen, Frankfurt a. M. 2006, S. 177–192; Emilio Gentile, Der „neue Mensch“ des Faschismus. Reflexionen über ein totalitäres Experiment. In: Schlemmer/Woller (Hg.), Faschismus, S. 89–106, bes. 97 f., 101. 19 Vgl. Armin Nolzen/Sven Reichardt (Hg.), Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005; Arnd Bauerkämper, Interwar Fascism in Europe and Beyond: Toward a Transnational Radical Right. In: Martin Durham/Margaret Power (Hg.), New Perspectives on the Transnational Right, Houndmills 2010, S. 39–66.

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Prinzip eine Selbstbestimmung für alle ermöglicht, da sie die wesentliche Beteiligung von allen in freien (damit kompetitiven) und fairen Verfahren (z. B. Wahlen) und als relevant erachteten In- und Output-Prozessen des politischen Systems sichert und damit wiederum eine Kontrolle der politischen Herrschaft gewährleistet. Demokratien gewinnen ihre Legitimität besonders, indem sie Probleme effizient lösen (Output-Legitimation) und Partizipation gewährleisten (Input-­Legitimation). Zwischen voll entfalteter und nicht existenter Demokratie (Diktatur oder Autokratie) können hinsichtlich der Zielsetzung, des Institutionendesigns und der Funktionsweise verschiedene Typen unterschieden werden. Im Hinblick auf die Funktionsweise ist zwischen funktionierenden und defekten Demokratien zu differenzieren. Für voll entfaltete, deliberative oder dialogische Demokratien sind die politische Gleichheit der Bürger, Freiheit und eine Kontrolle der Herrschaft konstitutiv. Fehlt eine dieser Dimensionen oder eine rechtsstaatliche Ordnung, muss von einer „defekten“ bzw. „delegativen Demokratie“ gesprochen werden. Sie ist gekennzeichnet durch „fehlende Kontrolle der Exekutive […], Begrenzung der bürgerlichen Gleichheit und mangelnde Rechtsstaatlichkeit […], die Ignorierung intermediärer Institutionen […] und die Rückbindung der Legitimation an plebiszitäre Akte“.20 Diese Konzeption vermag die Vielfältigkeit von Demokratie und ihre Dynamik ebenso zu erfassen wie Übergänge zwischen demokratischen und diktatorischen Herrschaftsformen. Wie die Machtübertragung an Mussolini und Hitler in Italien bzw. Deutschland, aber auch an autoritäre Diktatoren in anderen Ländern Europas nach dem Ersten Weltkrieg zeigt, bergen delegative Demokratien die Gefahr eines Rückfalls in Diktaturen. Dabei ist das Verhalten der Eliten entscheidend.21 Zudem wird in der folgenden Darstellung argumentiert, dass zwar typologisch zwischen traditionaler, autoritärer und faschistischer Herrschaft unterschieden werden kann, in empirischer Hinsicht aber Überschneidungen und Wechselbeziehungen unverkennbar sind. 20 Zit. nach Hans-Joachim Lauth, Dimensionen der Demokratie und das Konzept defekter und funktionierender Demokratien. In: Jörg Jacobs/Gert Pickel/Susanne Pickel (Hg.), Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Frankfurt (Oder) 1997, S. 33–53, hier 46, 47 f.; vgl. auch Hans-Joachim Lauth/Gert Pickel/Christian Welzel, Grundfragen, Probleme und Perspektiven der Demokratiemessung. In: Dies. (Hg.), Demokratiemessung. Konzepte und Befunde im internationalen Vergleich, Opladen 2000, S. 7–26, hier 9, 13, 18; Gert Pickel/Susanne Pickel, „Demokratie im interkulturellen Vergleich“ – Komparatistik mit Äpfeln und Birnen? In: dies./ Jacobs (Hg.), Demokratie, S. 9–16. Umfassend zu den Grundlagen, Merkmalen und Typen der Demokratie: Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, 3. Auflage Opladen 2000, S. 226–374; Hans Vorländer, Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien, München 2003, bes. S. 93–105. 21 Vgl. Wolfgang Merkel/Hans-Jürgen Puhle, Von der Diktatur zur Demokratie. Transformationen, Erfolgsbedingungen, Entwicklungspfade, Wiesbaden 1999, S. 51–57; Wolfgang Merkel, Die Konsolidierung postautoritärer und posttotalitärer Demokratien: Ein Beitrag zur theorieorientierten Transformationsforschung. In: Hans Süssmuth (Hg.), Transformationsprozesse in den Staaten Ostmitteleuropas 1989–1995, Baden-Baden 1998, S. 39–61, hier 50, 59.

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III.

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Politisch-gesellschaftliche Ordnungen in Europa im 20. Jahrhundert

Schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten sich neue Herausforderungen entwickelt, die Konzepten und Praxen der Gesellschaftskonstruktion in Europa kräftig Auftrieb verliehen. Angesichts der sich schrittweise ausweitenden politischen und gesellschaftlichen Partizipation auch der Unterschichten, der Erweitung des Wahlrechts und der Auseinandersetzungen über Verfassungen mussten die Machthaber ihre Herrschaft zunehmend legitimieren. Zugleich drohte die wachsende wirtschaftliche Dynamik, die besonders von neuen Sektoren wie der Chemie- und Elektroindustrie ausging, gesellschaftliche Spannungen und politische Konflikte zu verschärfen. Nicht zuletzt förderte die zunehmende Mächterivalität im Zeitalter des Hochimperialismus in den einzelnen Nationen Forderungen nach einem umfassenden politisch-gesellschaftlichen Zusammenschluss. Die industrielle Klassengesellschaft, die sich in Europa schrittweise und regional unterschiedlich entfaltete, erschütterte die Sicherheit, welche die ständische Ordnung vermeintlich gewährleistet hatte. Damit öffnete sich zwischen „Erfahrungsraum“22 und „Erwartungshorizont“23 in der „klassischen Moderne“24 bzw. „Hochmoderne“ eine Kluft, die überbrückt werden musste. So dementierte die Dauerpräsenz politisch-sozialer Auseinandersetzungen im Deutschen Kaiserreich nahezu permanent die noch weitverbreiteten Ideale von Konsens, Einheit und Homogenität. Zur Jahrhundertwende erreichten vor allem in den europäischen Monarchien „unter dem Anprall eines erneuten Modernisierungsschubes die Unsicherheit und Verstörung über die Gegenwart und Zukunft der eigenen Gesellschaft einen neuen Höhepunkt“.25 Vor diesem Hintergrund entwickelten, vertraten und verbreiteten individuelle und kollektive Akteure in Europa im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Vorstellungen künftiger Ordnung, die spezifische politisch-soziale Handlungspraktiken auslösten. Prozesse der Gesellschaftskonstruktion schlugen sich in den einzelnen Nationen zuvörderst in staatlichen Interventionen in wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse nieder. So übernahmen Staatseinrichtungen Aufgaben im Bereich der öffentlichen Sicherheit, der Wirtschaft (einschließlich

22 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 359, 364, 372. Dazu: Anders Schinkel, Imagination as a Category of History: An Essay Concerning Koselleck’s Concepts of Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. In: History and Theory, 44 (2005), S. 42–54, bes. 42, 45, 47 f., 52–54. 23 Koselleck, Zukunft, S. 359, 364, 372. 24 Detlev K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. Dazu auch: Rüdiger vom Bruch/August Nitschke/Gerhard A. Ritter (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Reinbek 1990. James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the ­Human Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 164; Ulrich Herbert, Europe in High ­Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century. In: Journal of Modern European History, 3 (2006), S. 5–21. 25 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 395.

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des Finanz- und Steuerwesens), der Sozialfürsorge, Bildung und Kultur. Damit weiteten sich direkte Eingriffe in gesellschaftliche Prozesse aus, die reguliert und kontrolliert werden sollten. Sicherheit durch vorausschauende Planung avancierte zu einem wichtigen Feld nationalstaatlicher Politik. Der Erste Weltkrieg beschleunigte diesen Prozess erheblich. Er konfrontierte alle politischen und administrativen Institutionen mit präzedenzlosen Herausforderungen, vor allem im Hinblick auf ihre Durchsetzungsfähigkeit und Legitimität. Die Mobilisierung und Verteilung von Personal, Rohstoffen und enormen finanziellen Mitteln erforderten eine straffe Organisation. Damit entstand der moderne Wohlfahrtsstaat, der zur Kriegführung gerüstet war, die europäischen Gesellschaften aber auch nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 anhaltend prägte.26 Mit dem Faschismus und dem Kommunismus verliehen der Erste Weltkrieg und der anschließende Friedensvertrag zwei Ordnungskonzepten Auftrieb, welche die bürgerliche Gesellschaft fundamental herausforderten und infrage stellten. Die Faschisten strebten ebenso wie die kommunistischen Bewegungen eine umfassende politische und sozioökonomische Neugestaltung an, um die jeweiligen Bevölkerungen auf ihre diktatorische Herrschaft auszurichten. Dieses Konzept schloss auch die Erziehung der einzelnen Menschen ein. Dabei rekurrierten die Bolschewiki auf die humanistische Tradition, und sie vertraten einen universellen Anspruch. Demgegenüber hoben die Nationalsozialisten auf das Überleben der Deutschen als „arische“ Rasse ab. Die Führungen der Diktaturen in der Sowjetunion und im „Dritten Reich“ verfolgten mit der Formierung des „neuen Menschen“ aber gleichermaßen ein totalitäres Projekt, das enorme d ­ estruktive Energien freisetzte. Dieses war im Ersten Weltkrieg begründet, als der Zwang zur Mobilisierung von Soldaten und Zivilisten die Erneuerungsvisionen der Jahrhundertwende zu einer umfassenden Erziehungspolitik radikalisierte. Der „neue Mensch“ sollte den nun stigmatisierten liberalen Individualismus a­ blegen und sich vorbehaltlos in die „Volksgemeinschaft“ bzw. in das „Kollektiv“ einordnen.27

26 Mit Bezug auf Großbritannien David Edgerton, Warfare State: Britain, 1920–1970, Cambridge 2005. Vgl. auch Horne, Great War, S. 632. 27 Vgl. Peter Fritzsche/Jochen Hellbeck, The New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany. In: Sheila Fitzpatrick/Michael Geyer (Hg.), Beyond Totalitarianism, Cambridge 2009, S. 302–341, bes. 302 f., 305, 309, 339, 341; Arnd Bauerkämper, Die Utopie des „neuen Menschen“ und die Herrschaftspraxis in modernen Diktaturen. Persönlichkeitsformung im NS- und SED-Regime. In: Klaus Geus (Hg.), Utopien, Zukunftsvorstellungen, Gedankenexperimente. Literarische Konzepte von einer „anderen“ Welt im abendländischen Denken von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2011, S. 203–227, hier 204–208; Eva-Maria Stolberg, The Soul of Mankind. Das Konzept des „neuen Menschen“ in der Sowjetunion und den USA. In: Zeitschrift für Weltgeschichte, 13 (2012) 1, S. 165–185, hier 164–176. Zum übergeordneten Deutungsrahmen Anselm Doering-Manteuffel, Einleitung: Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In: ders. (Hg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 1–17, hier 16; ders., Geschichte, S. 326, 329 f.; Wolfgang Schieder, Die Umbrüche von 1918, 1933, 1945 und 1989 als Wendepunkte deutscher Geschichte. In: Dietrich Papenfuß/Wolfgang Schieder (Hg.), Deutsche

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Auch in den Demokratien nutzten die jeweils zuständigen und interessierten politischen und administrativen Akteure nach 1918 für die Praktiken der Sozialkonstruktion durchweg Expertenwissen, das seit der Jahrhundertwende im Zuge der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ generiert worden war. Den Sozialexperten oblag vorrangig, Risiken zu identifizieren und die gesellschaftliche Entwicklung zu steuern. Dabei hoben sie nicht nur auf Disziplinierung und Repression ab, sondern auch auf die (Selbst-)Konditionierung der Menschen.28

IV.

Die autoritäre Aufladung monarchischer und parlamentarischer ­Ordnungen im Ersten Weltkrieg: Mobilisierung, Kontrolle und ­ forcierte Staatsintervention

Im August 1914 löste der Beginn der militärischen Auseinandersetzung, die nahezu alle Regierungen zu einem nationalen Verteidigungskampf stilisierten, in den beteiligten Staaten eine breite Solidarisierung aus. Die Erwartung eines kurzen Krieges stärkte die Zustimmung zur Politik der jeweiligen Regierungen, und sie festigte vorübergehend auch die monarchischen Ordnungen, die sich auf einen breiten Konsens stützen konnten. Ebenso zementierten die hohen Opfer, die sich vor allem in der schnell wachsenden Zahl der Gefallenen niederschlug, zumindest bis 1915 den nationalen Konsens. Der weitreichende Zusammenschluss ließ in dieser Phase offene politische und gesellschaftliche Konflikte kaum zu. Auch deshalb blieben Zwangsmaßnahmen zunächst begrenzt. Dies galt für die Rekrutierung neuer Soldaten, die Sicherung des gesellschaftlichen und politischen Engagements für die Nation und die wirtschaftliche Organisation der Kriegführung. Allerdings wurden vor allem Feindstaatenangehörige und Dissidenten, die sich gegen die Kriegführung des eigenen Landes wandten, schon frühzeitig aus den jeweiligen nationalen Gemeinschaften ausgeschlossen. Freiheits- und Menschenrechte fielen – soweit sie vor 1914 in Form von humanitären Anforderungen bereits gewährleistet waren – schon in diesem Stadium autoritären Ordnungskonzepten zum Opfer.29

­ mbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 3–18, bes. 11. Allgemein Lutz Raphael, U Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000, S. 94–144. 28 Vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S. 165–193, hier 166–185; ders., Das Ende des Deutschen Reiches als Zäsur nationaler Expertenkulturen? Überlegungen zu den Folgen des politischen Umbruchs 1945 für Technik und Wissenschaft in Deutschland. In: Doering-Manteuffel (Hg.), Strukturmerkmale, S. 181–195. Vgl. auch Moritz Föllmer, Der „kranke Volkskörper“. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik. In: Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001), S. 41–67. 29 Vgl. John Horne, War and Conflict in Contemporary European History, 1914–2004. In: Konrad H. Jarausch/Thomas Lindenberger (Hg.), Conflicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories, New York 2007, S. 81–95, hier 90; Wolfgang Mommsen,

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Nachdem die Offensive der deutschen Armeen an der Marne gestoppt worden war und sich die Hoffnung auf einen kurzen Krieg als Illusion erwiesen hatte, musste die Mobilisierung von Ressourcen erheblich ausgeweitet und beschleunigt werden, auch in anderen kriegführenden Staaten. So setzte die liberale Regierung unter Premierminister Herbert Asquith in Großbritannien 1916 die Wehrpflicht durch. Auch die Kriegswirtschaft war zu organisieren, zumal schon im Herbst 1914 in wichtigen kriegführenden Staaten – so in Deutschland – die Munition knapp geworden war. Die Notwendigkeit, die gesamte Gesellschaft zu mobilisieren und die Aktivitäten der einzelnen Bürger auf die Kriegswirtschaft auszurichten, verlieh technokratischen und autoritären Konzepten politisch-sozia­ler Ordnung kräftig Auftrieb. Zugleich gewannen Forderungen nach nationaler Integration – in Deutschland unter dem erstmals in den 1860er-Jahren von Antisemiten verbreiteten Konzept der „Volksgemeinschaft“ – erheblich Auftrieb.30 Der „process of totalization“31 stärkte den Einfluss autoritärer Konzepte, die auf eine umfassende Kontrolle und Reglementierung gesellschaftlicher Prozesse „von oben“ zielten, ohne dabei aber ganz auf eine Mobilisierung „von unten“ verzichten zu können. Dieses Reglement war eingebettet in ein neues Konzept des Regierens, das im totalen Krieg auf eine umfassende Nutzung aller Ressourcen – darunter auch der Bevölkerung – und der Isolierung innerer „Feinde“ zielte. Dazu wurde die Kontrolle und Überwachung von Dissidenten, Zivilinter­ nierten und Kriegsgefangenen in vielen europäischen Ländern 1915/16 deutlich verstärkt, sodass sich Ansätze eines „nationalen Sicherheitsstaats“ herausbildeten. Ins­­gesamt nahm die „positive“ und „negative“ Staatsintervention in allen Krieg führenden Staaten enorm zu. Dieses Management bereitete dem Social Engineering die Bahn, das sich in den 1920er- und 1930er-Jahren in verschiedenen Regierungssystemen – von parlamentarischen Demokratien bis zu den modernen Diktaturen – in unterschiedlichen Varianten herausbildete.32 Kriegsalltag und Kriegserlebnis im Ersten Weltkrieg. In: ders., Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2004, S. 137–154, hier 142. Vgl. auch Wolfgang Kruse, Zur Erfahrungs- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges. In: ders. (Hg.), Eine Welt von Feinden, Frankfurt a. M. 1997, S. 159 ff. 30 Vgl. Gunther Mai, „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900–1925). In: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg, München 1994, S. 583–602, hier 587, 590, 596; Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. 31 Vgl. Anne Rasmussen, Science and Technology. In: John Horne (Hg.), A Companion to World War I, Oxford 2012, S. 307–322, hier 308. 32 Vgl. Peter Holquist, “Information is the Alpha and Omega of Our Work”: Bolshevik Surveillance in Its Pan-European Context. In: Journal of Modern History, 69 (1997), S. 415–450, hier 417–419, 443, 445 (Zitat 443). Zu den internierten Feindstaatenangehörigen: Annette Becker, Captive Civilians. In: Winter (Hg.), Cambridge History, S. 257– 281. Zu Russland: William C. Fuller, The Foe Within. Fantasies of Treason and the End of Imperial Russia, Ithaca 2006, S. 116–214, 257–264.

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So koordinierte in Deutschland das neu eingerichtete Kriegsrohstoffamt die Rüstungsproduktion von Unternehmen, die sich in mehr als 200 Gesellschaften zusammengeschlossen hatten. Das „Hindenburg-Programm“ weitete 1916 schließlich nicht nur die Kriegsproduktion aus, sondern unterstellte auch die Arbeiterschaft staatlicher Kontrolle. Darüber hinaus wuchs die Macht der Obersten Heeresleitung und des preußischen Kriegsministeriums gegenüber den 25 Stellvertretenden Generalkommandos der Armee. Schließlich gerieten die Reichsleitung unter Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg und sogar Kaiser Wilhelm II. zunehmend in den Schatten der 1916 gebildeten Dritten Obersten Heeresleitung, mit der Paul von Hindenburg und Erich von Ludendorff faktisch eine Militärdiktatur errichteten. Allerdings war die Zentralisierung entscheidender Kompetenzen keineswegs durchweg effektiv. Vielmehr führte die überbürokratisierte staatliche Kontrolle wiederholt zu Reibungsverlusten, welche die Organisation der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft für die Kriegführung behinderten.33 In Großbritannien belastete die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die liberale Regierung unter Asquith 1915 so nachhaltig, dass David Lloyd George, der als Schatzkanzler zuvor die Produktion von Munition organisiert hatte, Ende 1916 schließlich ein Kriegskabinett bilden konnte. Auch im Mutterland des Parlamentarismus traten politische Entscheidungskriterien zugunsten von technokratisch-autoritären Konzepten zurück, die sich z. T. dem Einfluss und der Kontrolle des Unterhauses entzogen. Im Rahmen eines Kommandosystems bildete sich dabei eine enge Verflechtung von Kriegswirtschaft, Wissenschaft und Militärbehörden heraus. Allerdings setzten sich in Großbritannien mittelfristig keineswegs autoritäre Strukturen durch. Vielmehr beherrschte nach 1918 der Ruf nach einer Rückkehr zur „Normalität“ der (glorifizierten) Vorkriegszeit die Innenpolitik der britischen Regierungen, vor allem nach dem Scheitern des Kabinetts unter Premierminister Lloyd George 1922. Dennoch blieben autoritäre Ordnungskonzepte auch hier virulent, wie die Mobilisierung paramilitärischer Gruppen während des Generalstreiks 1926 und die anfängliche Zustimmung zeigen, auf die Oswald Mosleys British Union of Fascists in der Krise des parlamentarischen Systems in den frühen 1930er-Jahren bei den konservativen Eliten des Inselreichs traf.34

33 Vgl. Gerhard Hirschfeld, Germany. In: Horne (Hg.), Companion, S. 435–439. 34 Vgl. Bernhard Dietz, Neo-Tories. Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929–1939), München 2012; Martin Pugh, ‘Hurrah for the Blackshirts!’. Fascists and Fascism in Britain between the Wars, London 2005; Arnd Bauerkämper, Die „radikale Rechte“ in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991, S. 127, 184. Grundlegend zur unmittelbaren Nachkriegszeit noch immer: Kenneth O. Morgan, Consensus and Disunity. The Lloyd George Coalition Government 1918–1922, Oxford 1979; Kathleen Burk (Hg.), War and the State. The Transformation of British Government, 1914–1919, Boston 1982. Vgl. auch Rasmussen, Science, S. 312.

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Die Herausbildung korporativer Strukturen und die Stärkung der Exekutive ermöglichten auch in anderen europäischen Staaten die Weiterführung des Krieges. Entgegen den späteren Interpretationen neoliberaler Politiker und Ökonomen wie Friedrich A. von Hayek ist der beschleunigte Übergang zur staatlichen Planung und Steuerung sozioökonomischer Prozesse weniger dem Druck von Wählern in Demokratien geschuldet als in den Zwängen des Ersten Weltkrieges verwurzelt. Dieser Prozess vertiefte gesellschaftliche Gegensätze und Konflikte zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, vor allem in den multiethnischen Imperien. So verbreitete sich in Russland, wo bis 1921 insgesamt rund 30 Millionen Menschen dem Krieg und seinen Folgen zum Opfer fielen, angesichts der Kämpfe in den westlichen Regionen Unruhe unter den dort lebenden Minderheiten. Inflationäre Tendenzen, Hunger und Mangel verliehen 1917/18 auch in den ungarischen, böhmischen und polnischen Gebieten der Habsburgermonarchie Forderungen nach einer Lösung vom Reich und der Gründung eigener Nationalstaaten Auftrieb. In Italien war die Unsicherheit der Machteliten über die Rolle des Landes in der internationalen Politik im „Syndrom von 1915“ (dem Kriegseintritt auf der Seite der alliierten Mächte) kulminiert. Auch in Demokratien prägte der „warfare state“ dauerhaft die politische und gesellschaftliche Ordnung, denn die Staatsquote war infolge des Krieges deutlich gewachsen. Zudem führten die Versorgung der Kriegsversehrten und die Ansprüche der zurückgekehrten Soldaten eine Ausweitung der staatlichen Sozialpolitik herbei. Insgesamt stärkte die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Organisation der Kriegführung technokratische Dispositionen und Strukturen. Sie brachten demokratische Wohlfahrtsstaaten, aber auch autoritäre Ordnungen hervor, die ihre Legitimität nicht mehr – wie die Monarchien – vorrangig aus Traditionen bezogen, sondern aus dem technokratischen Ziel, die Kriegführung zu stärken.35

V.

Die Herausforderung des Faschismus

Der Faschismus knüpfte unmittelbar an den Erfahrungs- und Deutungshorizont des Ersten Weltkriegs an. In Italien traten 1919 die Folgelasten des bewaffneten Konflikts hervor. Das Land hatte nicht nur 700 000 Soldaten verloren, sondern auch den Übergang zur Kriegswirtschaft nicht bewältigt. So war

35 Vgl. Horne, Great War, S. 633 f. Vgl. zu Italien Mario Isnenghi, Italien. In: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, P ­ aderborn 2003, S. 97–104, hier 101; Enrico Rusconi, Das Hasardspiel des Jahres 1915. Warum sich Italien für den Eintritt in den Ersten Weltkrieg entschied. In: Johannes Hürter/ Gian Enrico Rusconi (Hg.), Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, München 2007, S. 13–52, hier 18, 39 f., 41. Zu Russland: Dittmar Dahlmann, Russland. In: Hirschfeld/ Krumeich/Renz (Hg.), Enzyklopädie, S. 87–96, hier 92 f., 96. Zur Habsburgermo­ narchie Manfred Rauchensteiner, Österreich-Ungarn. In: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hg.), Enzyklopädie, S. 64–86, hier 80, 83 f. Zu Japan Dickinson, Perspective, S. 1159.

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die ­demütigende Niederlage bei Caporetto gegen deutsche und österreichische Truppen Ende Oktober 1917 auf erhebliche organisatorische und logistische Mängel zurückzuführen. Nach dem Ende des Kriegs, als die Enttäuschung über den „verstümmelten Sieg“ („vittoria mutilata“) wuchs, erwies sich die Demobilisierung der zurückkehrenden Soldaten als schwierig. Ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Reintegration vollzog sich nur langsam. Vor allem an den umstrittenen Nordgrenzen Italiens breitete sich paramilitärische Gewalt aus. Inspiriert und geführt von dem Dichter Gabriele D’Annunzio, eroberten meuternde Soldaten, denen die Gesellschaft im Frieden fremd geblieben war, 1920 vorübergehend die Stadt Fiume (Rijeka). Zugleich radikalisierten die wachsende Inflation und zunehmende Beschäftigungslosigkeit die Arbeiterschaft in den landwirtschaftlichen Betrieben und in den Industrieunternehmen. Nachdem sich 1919/20 vor allem in Norditalien Streiks sprunghaft ausgebreitet hatten, setzten Großgrundbesitzer die Fasci di Combattimento, die der frühere Sozialist Benito Mussolini 1919 gebildet hatte, als gegenrevolutionäre Kampfgruppen ein. Während die Gewalt dieser Squadri in den folgenden beiden Jahren ganz Norditalien erfasste, führte Mussolini in Rom Gespräche mit den Regierungsparteien, die in den Neuwahlen vom Mai 1921 mit dem Konzept gescheitert waren, die Sozialisten in die Koalition zu zwingen. Nachdem der Generalstreik, den die sozialistischen Gewerkschaften am 1. August 1922 erklärt hatten, niedergeschlagen worden war, riefen die faschistischen Führer am 24. Oktober in Neapel zum „Marsch auf Rom“ auf. Zugleich beruhigte Mussolini in Rom die Armee und den König, der den Duce schließlich am 29. Oktober 1922 beauftragte, eine neue Regierung zu bilden. Die Doppelstrategie, den Protest einer sehr ungleichen Allianz aus Ober- und Unterschichten gegen die liberalen Nachkriegsregierungen zu mobilisieren und zugleich die traditionalen Eliten Italiens durch Konzessionen und Druck zum Einlenken zu bewegen, kennzeichnete auch die Durchsetzung der Einparteiendiktatur Musso­linis von 1922 bis 1925. Im Gegensatz zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933/34 konnte der Duce in diesem Prozess den Einfluss des Establishments in der Monarchie, Staatsverwaltung und Armee aber nie vollends beseitigen, obgleich ihm der König 1940 auch den Oberbefehl über Italiens Streitkräfte übertrug.36 Auch der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland war einerseits auf langfristig wirksame Belastungen zurückzuführen, die vor allem der ungleichmäßige Modernisierungsprozess seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verursacht hatte. Andererseits sind – ebenso wie in Italien – die Krisen in Rechnung zu stellen, die sich erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs herausgebildet hatten. Während die Hochkonjunktur im wilhelminischen Kaiserreich mit einem 36 Einen Überblick bietet Brunello Mantelli, Kurze Geschichte des italienischen Faschismus, Berlin 1998, S. 61–71; Bauerkämper, Faschismus, S. 51–54. Zum Trauer- bzw. Heldenkult Oliver Janz, Trauer und Gefallenenkult nach 1918. Italien und Deutschland im Vergleich. In: Politische Kultur und Medienwirklichkeit in den 1920er-Jahren. Hg. von Ute Daniel, Inge Marszolek, Wolfram Pyta und Thomas Welskopp, München 2010, S. 257–278, bes. 269–271.

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neuen Industrialisierungsschub einhergegangen war, hatten sich die Gegensätze in der expandierenden Klassengesellschaft verschärft. Vor allem aber blieb der politische Wandel weit hinter der sozioökonomischen Modernisierung zurück. Zwar war 1871 das allgemeine und gleiche Stimmrecht für Männer ab 25 Jahren in Wahlen zum Reichstag eingeführt worden; die Macht des Parlamentes blieb jedoch bis 1918 gegenüber der monarchischen Herrschaftsspitze gering. Allenfalls in den kommunalen Vertretungskörperschaften bildeten sich Ansätze einer parlamentarischen Mitsprache heraus. Das angestaute Konfliktpotenzial entlud sich schließlich in der Endphase des Ersten Weltkrieges, als der im Sommer 1914 von Kaiser Wilhelm II. verkündete „Burgfrieden“ vollends zerbrach. Die Organisation und Mobilisierung der Gesellschaft für die Kriegswirtschaft überdehnte trotz der schnellen Abfolge von Kriegsanleihen die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Verstärkt durch das Embargo, das Großbritannien gegen das Deutsche Reich verhängt hatte, nahmen seit 1916 Not und Verzweiflung zu. Insgesamt wuchsen die sozialen Spannungen und politischen Gegensätze. Sie traten 1917 in der „Friedensresolution“ des Reichtags offen hervor. Im September 1918 musste die Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff schließlich die militärische Niederlage eingestehen. Als Wilhelm II. am 9. November als Kaiser abdankte und der Waffenstillstand zwei Tage später unterzeichnet wurde, waren rund zwei Millionen deutsche Soldaten gefallen, 4,2 Millionen verwundet und über eine Million vermisst.37 Der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 erlegte der in den Wirren der Revolution gegründeten Weimarer Republik hohe Reparationszahlungen auf. Zudem mussten Elsass-Lothringen, Eupen-Malmedy die östlichen preußischen Provinzen (Posen und Westpreußen), Schleswig, einzelne Gebiete Oberschlesiens und alle überseeischen Kolonien abgetreten werden. Darüber hinaus zwangen die siegreichen Alliierten die deutsche Verhandlungsdelegation in Versailles, einer weitgehenden Entwaffnung zuzustimmen. Nicht zuletzt – und besonders demütigend – legte der oktroyierte Friedensvertrag fest, dass „Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Kriegs erlitten haben“. Auch die Prozesse, die von 1921 bis 1927 vor dem Reichsgericht in Leipzig gegen deutsche Kriegsverbrecher geführt wurden, schürten nach 1918 nationalistische Ressentiments.38

37 Angaben nach Jay Winter, Victimes de la Guerre. Morts, blessés et invalides. In: Stéphane Audoin-Rouzeau/Jean-Jacques Becker (Hg.), Encyclopédie de la Grande Guerre 1914–1918. Histoire et culture, Paris 2004, S. 1075–1085, hier 1077. Bilanz der neueren Forschung im internationalen Vergleich in Arnd Bauerkämper/Elise Julien (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010. 38 Vgl. Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse, Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003. Jürgen Matthäus, The Lessons of Leipzig. Punishing German War Criminals after the First World War. In: Patricia Heberer/Jürgen Matthäus (Hg.), Atrocities on Trial. Historical Perspectives

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Nachdem die Weltwirtschaftskrise einen deutlichen Rückgang der Produktion und eine schnelle Zunahme der Arbeitslosigkeit herbeigeführt hatte, stellte der im März 1930 zum Reichskanzler ernannte Heinrich Brüning, dessen Regierung ab Juli auch von den Sozialdemokraten toleriert wurde, seine Deflationspolitik weitgehend in den Dienst des außenpolitischen Revisionismus. Damit verschärfte er die ökonomische Krise, sodass besonders die sprunghaft zunehmende Beschäftigungslosigkeit die Republik fortschreitend diskreditierte. Dagegen verlieh der wirtschaftliche Zusammenbruch in den frühen 1930er-Jahren den konservativen Parteien – besonders der Deutschnationalen Volkspartei –, aber auch der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der 1919 gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) kräftig Auftrieb. Zugleich schaltete Brüning in Zusammenarbeit mit Reichspräsident Paul von Hindenburg das Parlament durch die autoritäre Regierung weitgehend aus der politischen Entscheidungsfindung aus. Die Weimarer Republik wurde damit zu einer defekten Demokratie. Da auch die autoritären Kabinette, die seit Juni 1932 die Reichskanzler Franz von Papen und Kurt von Schleicher gebildet hatten, scheiterten, ernannte Hindenburg schließlich am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler. Weil außer dem „Führer“ zunächst nur zwei Nationalsozialisten als Minister amtierten, hofften Hitlers Koalitionspartner, die NSDAP „zähmen“ zu können. Ebenso wie die traditionalen Eliten in Italien erkannten sie zu spät, dass die führenden Nationalsozialisten keineswegs nur auf eine dauerhafte autoritäre Umformung der parlamentarischen Regierungssystems und die Revision des Versailler Vertrags zielten, sondern auf eine uneingeschränkte Diktatur, eine geschlossene „Volksgemeinschaft“ und letztlich einen Vernichtungskrieg. Der Vergleich des Übergangs von der Bewegungs- zur Regimephase des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus verweist damit auf den Stellenwert einer spezifischen Konfiguration traditionaler, autoritärer und faschistischer Eliten.39

VI. Radikal-autoritäre Ordnungsmodelle als Konkurrenz des ­Faschismus: das Regime Ion Antonescus in Rumänien und die „Eiserne Garde“ Auch nach dem Aufstieg des italienischen Faschismus und der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten in Deutschland behaupteten sich in Europa jedoch autoritäre Regimes, vor allem in Spanien und in Rumänien. Hier verfügten faschistische „Führer“ nicht über den politischen Raum, den eine umfassende politisch-gesellschaftliche Mobilisierung erforderte. Im Gegensatz zu den fa-

on the Politics of Prosecuting War Crimes, Washington 2008, S. 3–23. Zit. nach Harold James, Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914–2001, München 2004, S. 67. 39 Vgl. Paxton, Anatomy, S. 6–8.

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schistischen Diktaturen, welche an die Radikalisierung und die gewalttätigen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit anknüpften, strebten die autoritären Eliten nach dem Zweiten Weltkrieg vorrangig an, die jeweiligen Gesellschaften stillzulegen. Im Rahmen einer korporativ-autoritären Ordnung sollten alle sozialen und politischen Gruppen in den „organischen“ Nationalstaat integriert werden, der als Leitbild propagiert wurde.40 So kann Francos autoritäres Regime allenfalls bis 1945 als „semifaschistische“41 oder „faschisierte“42 Diktatur interpretiert werden. Die Faschisten beeinflussten vor allem bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus die Entwicklung des „Neuen Staates“, der aber von Francos Autoritarismus geprägt blieb. Der Caudillo verfügte zwar nicht über Charisma, aber über eine erhebliche Anerkennung, die sich vor allem aus seinem Sieg im Bürgerkrieg speiste. Schon 1937 hatte er die faschistische Falange in seine Einheitspartei integriert. Zwar bestand in Spanien bis zum Tod Francos am 20. November 1975 eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen der traditionalen konservativen Rechten und der Falange; das Verhältnis wurde seit den 1950er-Jahren aber zusehends asymmetrischer. Letztlich blieb die faschistische Bewegung in der Einheitspartei gebunden und der Autorität der staatlichen Institutionen unterworfen.43 Noch deutlicher obsiegten von 1918 bis 1945 autoritäre Modelle politisch-­ gesellschaftlicher Ordnung in Rumänien. Mit der Bildung des nationalen Einheitsstaats 1918 hatte das Land, das als Sieger aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war, weite Gebiete hinzugewonnen, besonders die Bukowina, Bessarabien, das östliche Banat und Siebenbürgen. Zugleich waren jedoch starke Minderheiten in den neuen Staat einzugliedern, in dem die Rumänen nur rund 70 Prozent der Bevölkerung stellten. Sie herrschten in der Staatsverwaltung vor. Demgegenüber dominierten die Minoritäten – vor allem Juden – im Kleinhandel und Gewerbe. Die Gegensätze zwischen den Volksgruppen und erhebliche sozioökonomische Disparitäten verliehen in Rumänien den radikalen Nationalisten Auftrieb, die sich nicht nur gegen den Liberalismus, sondern auch gegen den ­Konservatismus und die Bauerntumsideologie des agrarischen Populismus richtete. In dieser Konstellation bildeten sich Stoßtrupps ehemaliger Soldaten, radikaler Nationalisten und überzeugter Antisozialisten heraus. Aus diesen Gruppen ging die „Legion Erzengel Michael“ hervor, die der junge Rechtsanwalt Corneliu Zelea Codreanu 1927 gründete. Zunächst fungierte der italienische Faschismus als Vorbild, bevor Codreanu ab 1932 zu einem Bewunderer der deutschen Nationalsozialisten wurde. Dabei kultivierte er offen Gewalt, mit der 40 Vgl. Paul H. Lewis, Latin Fascist Elites. The Mussolini, Franco, and Salazar Regimes, London 2002, S. 199 f. 41 Stanley G. Payne, The Franco Regime 1936–1975, Madison, WI 1987, S. 622. 42 Ismael Saz Campos, Fascism, Fascistization and Developmentalism in Franco’s Dictatorship. In: Social History, 29 (2004), S. 342–357, hier 344 f. 43 Vgl. Stanley G. Payne, Franco, the Spanish Falange and the Institutionalisation of Mission. In: Totalitarian Movements and Political Religions, 7 (2006) 2, S. 191–201, hier 196 f.

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eine „quasireligiö­se Neufundierung der gesellschaftlichen Ordnung“44 erzwungen werden sollte. Am 9. Dezember 1933 verbot die nationalliberale Regierung unter Ion G. Duca aber die in „Eiserne Garde“ umbenannte „Legion Erzengel Michael“, der zu Recht terroristische Aktivität vorgeworfen wurde. Obgleich der Premierminister daraufhin am 29. Dezember von drei „Legionären“ erschossen wurde, konnte Codreanus Organisation ab 1935 erneut unter dem Namen „Alles für das Land“ als politische Partei auftreten. Nach dem Zusammenbruch der nationalliberalen Regierung 1937 löste die tiefe politische Krise und der damit einhergehende schnelle Aufstieg der „Legion Erzengel Michael“ schließlich im Februar 1938 einen Staatsstreich aus, den König Carol II. „von oben“ betrieben hatte. Da­raufhin wurden zahlreiche Führer der „Legion“ am 16. und 17. April 1938 verhaftet und Codreanu sogar ermordet. Ein Attentat auf den Ministerpräsidenten Armand Călinescu im September 1939 führte darüber hinaus zur Hinrichtung von rund 250 Anhängern des neuen Faschistenführers Horia Sima. Die harte Repressionspolitik drängte die verbliebenen Mitglieder der Bewegung, die nach ihrer 1930 gebildeten Miliz auch „Eiserne Garde“ genannt wurde, schließlich in den Untergrund. Erst im Zuge der Annäherung Rumäniens an das nationalsozialistische Deutschland wurde sie im September 1940 in die Regierung des neuen „National­ legionären Staats“ aufgenommen, mit dem General Ion Antonescu die Königsdiktatur Carols II. beseitigte. Jedoch konnte der neue Machthaber Horia Sima schon im Januar 1941 entmachten, zumal Adolf Hitler dem Kriegsbündnis mit Rumänien Priorität gegenüber der ideologischen Affinität zu den rumänischen Faschisten einräumte. Damit scheiterte das Konzept der „Eisernen Garde“, die traditionalen Institutionen zu unterwandern und die autoritären Strukturen zu durchdringen. Auch hatte sich die Organisation nicht dauerhaft eine Massenbasis gesichert, obgleich ihr ausgeprägter Führerkult und die Mystifizierung des ländlichen Lebens durchaus auf Resonanz getroffen war. Zudem hatte die „Eiserne Garde“ den populären romantischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts an die politischen und sozioökonomischen Bedingungen angepasst, die in Rumänien in den 1920er- und 1930er-Jahren vorherrschten. Letztlich unterstützte jedoch vor allem die orthodoxe Kirche die traditionalen Autoritäten. Auch die Korruption und der Klientelismus in dem schwach institutionalisierten politisch-gesellschaftlichen System Rumäniens hatten die Macht der alten Eliten konserviert, sodass

44 Armin Heinen, Rituelle Reinigung. Politische, soziale und kulturelle Bedingungsfaktoren faschistischer Gewalt in Rumänien. In: Christof Dipper/Rainer Hudemann/Jens Petersen (Hg.), Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Köln 1998, S. 263–272, hier 271. Vgl. auch Radu Ioanid, Romania. In: Bosworth (Hg.), The Oxford Handbook of Fascism, Oxford 2009, S. 398–413, hier 401–403; Zigu Ornea, The Romanian Extreme Right. The Nineteen Thirties, Boulder 1999, S. 265–277; Armin Heiden, Die Legion „Erzengel Michael“ in Rumänien. Soziale Bewegung und politische Organisation. Ein Beitrag zum Problem des internationalen Faschismus, München 1986, S. 151–256.

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die „Eiserne Garde“ ihren auf Wandel zielenden Herrschaftsanspruch nicht durchsetzen konnte.45 Insgesamt verweist das spezifische Verhältnis von autoritären und faschistischen Elementen in den Diktaturen Antonescus und Francos auf den Einfluss politischer Führer, ihrer Parteien, der staatlichen Verwaltung und traditionaler Institutionen wie der Generalität und Kirchenleitungen. Nur wo ihre Partei eng an die jeweiligen Führer gebunden war und im Übergang zum Regime ihren Herrschaftsanspruch gegen autoritäre Kräfte durchsetzte, konnten die Faschisten eine Diktatur errichten.46

VII. Der Erste Weltkrieg, traditionale Ordnungsvorstellungen und die ­Herausforderung der Demokratie durch autoritäre ­Organisationen und faschistische Bewegungen Obgleich wichtige ideologische Wurzeln des europäischen Faschismus in den Hochimperialismus des späten 19. Jahrhunderts, in den radikalen Nationalismus und Kulturpessimismus des Fin de Siècle zurückreichen, führte erst der Erste Weltkrieg eine radikale politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Mobilisierung herbei, die autoritären und faschistischen Ordnungskonzepten und Gruppen Auftrieb verlieh. Vor allem in den Nationalstaaten, die als Verlierer aus dem Krieg hervorgegangen waren, gerieten die Demokratien schon in den frühen 1920er-Jahren unter Druck. So errang Mussolinis faschistische Partei bereits 1922 in Italien die Macht, wenngleich erst 1925 das Herrschaftsmonopol. Deutlich schneller konnte Hitler nach seiner „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 seine nationalsozialistische Diktatur durchsetzen. Auch in anderen Staaten trat das totalitäre politische Potenzial hervor, das der totale Erste Weltkrieg geschaffen hatte. Faschistische Bewegungen strebten durchweg eine Überwindung parlamentarisch-liberaler Demokratien an. Dabei nahmen sie Formen demokratischer Partizipation für sich in Anspruch und forderten eine ­plebiszitäre

45 Vgl. Constantin Iordachi, Charisma, Politics and Violence: The Legion “Archangel Michael” in Interwar Romania, Trondheim 2004, S. 117, 129; ders., God’s Chosen Warriors: Romantic Palingenesis, Militarism and Fascism in Modern Romania. In: ders. (Hg.), Comparative Fascist Studies, S. 316–357; Radu Ioanid, The Sword of the Archangel. Fascist Ideology in Romania, Boulder 1990, S. 98–198; Traian Sandu, A Model of Fascism in European Agrarian Peripheries: the Romanian Case. In: Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2010, S. 204–222; Florin Müller, Autoritäre Regime in Rumänien 1938–1944. In: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittelund Südosteuropa, Paderborn 2001, S. 471–498. 46 Vgl. António Costa Pinto, Elites, Single Parties and Political Decision-Making in Fascist-Era Dictatorships. In: Contemporary European History, 11 (2002), S. 429–454; ders., Ruling Elites, Political Institutions and Decision-Making in Fascist-Era Dictator­ ships: Comparative Perspectives. In: ders. (Hg.), Rethinking the Nature of Fascism, New York 2011, S. 197–226, hier 198, 219, 221; Robert Paxton, The Five Stages of Fascism. In: Journal of Modern History, 70 (1998), S. 1–23, hier 18.

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­ egitimation. Der Faschismus war als Konzept und Praxis politisch-gesellschaftliL cher Ordnung gleichermaßen antidemokratisch und postdemokratisch.47 Jedoch beherrschten faschistische Bewegungen in Europa in den 1920erund 1930er-Jahren keineswegs uneingeschränkt die rechtsnationalistische Politik, die sich gegen die Demokratien richtete. Vielmehr blieben autoritäre Regimes vor allem in Südwest- und Südosteuropa noch im Zweiten Weltkrieg durchaus einflussreiche konkurrierende Ordnungsmodelle. Ihre Exponenten grenzten sich in den Bal­kanstaaten ebenso von der traditionalen Herrschaft in den Königs- oder Militärdiktaturen ab wie von den faschistischen Herausforderern. Zugleich nahmen sie traditionale Legitimationsbezüge und faschistische Stilelemente durchaus auf. So bezeichnete sich Admiral Miklós Horthy, der 1920 in Ungarn ein autoritäres Regime etablierte, im Rekurs auf die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie als „Reichsverweser“. Damit sollten Traditionsbindungen als Legitimitätsressource genutzt werden. Horthy behauptete seine Herrschaft bis 1944, bevor unter der Kuratel der deutschen Besatzungsmacht die faschistischen „Pfeilkreuzler“ unter Ferenc Szálasi die Macht übernahmen und ihre Terrorherrschaft errichteten.48 Insgesamt waren die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf traditionale und autoritäre Konzepte und Strukturen politisch-gesellschaftlicher Ordnung ambivalent. Der Zwang, die Kriegführung zu organisieren und alle Ressourcen zu mobilisieren, hatte vor allem in Frankreich und Deutschland staatliche Institutionen enorm gestärkt. Auch in Großbritannien war die Staatsintervention gewachsen, vor allem nach der Ernennung Lloyd Georges zum Premierminister 1916. Obgleich die Regierungen dieser drei Staaten die Eingriffe in die Gesellschaft bereits vor 1914 ausgeweitet hatten – besonders im Bereich der Rüstungs- und Sozialpolitik –, ging aus dem Ersten Weltkrieg letztlich der moderne Wohlfahrtsstaat hervor. Er war zunächst begleitet von der Herausbildung sozialer Demokratien, deren Zerfall ebenso wenig absehbar oder sogar determiniert war wie der Zweite Weltkrieg. Nicht nur in Europa, sondern auch in Ostasien wurden liberale Ordnungen etabliert, deren Eliten – so in Japan – in den 1920er-Jahren eine weitreichende Politik innenpolitischer Reformen und außenpolitischer Friedenssicherung initiierten. Erst unter dem Eindruck wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Krisen wandten sich Schlüssel­ akteure grundsätzlich von demokratischen Werten und Ordnungen ab. Dabei ist die Rolle traditionaler Eliten hervorzuheben. In einer Konstellation, in der sie schwach legitimiert waren und nicht mehr über die kulturelle Hegemonie

47 Vgl. Adrian Lyttelton, Concluding Remarks. In: Pinto (Hg.), Rethinking, S. 271–278, hier 273. 48 Vgl. Tim Cole, Ebenen der „Kollaboration“: Ungarn 1944. In: Tatjana Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa ­1939–1945, Göttingen 2003, S. 55–77. Überblick in Philip Morgan, Fascism in Europe, 1919–1945, London 2003, S. 81; Mark Pittaway, Hungary. In: Bosworth (Hg.), Handbook, S. 380–397.

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verfügten, erlagen sie der folgenschweren Illusion, faschistische Bewegungen an der Macht kontrollieren zu können. Diese hatten aber bereits zivilgesellschaftliche Strukturen – so Vereine – unterwandert und sich zu Fürsprechern breiter politischer und sozialer Partizipation erklärt.49 Die Krise der Politik, die das Handeln der überkommenen Führungsgruppen widerspiegelte, war aber auch im Ersten Weltkrieg verwurzelt. Von 1914 bis 1918 hatten die kriegführenden Staaten breite gesellschaftliche Gruppen der umfassenden Regelungspraxis staatlicher Behörden unterworfen. Autoritäre Ordnungskonzepte begründeten dabei – in unterschiedlichem Ausmaß – den Primat des Militärs und begünstigten die Einschränkung parlamentarischer Macht. In anderen europäischen Ländern – besonders in Ungarn, Deutschland und Italien – ging mit der „Vergötzung von Staat oder Nation“, welcher der Erste Weltkrieg enorm Auftrieb verliehen hatte, eine „Entgrenzung als Zerstörung rechtlich moralischer Ordnung“ einher. Ein ungebremster Voluntarismus und die Verherrlichung der Gewalt erhöhten einerseits die Attraktivität autoritär-hierarchischen Ordnungskonzepte, zersetzten aber letztlich die staatliche Ordnung, deren Stärkung nach dem Kriegsende die gewalttätigen Aktivisten paramilitärischer Gruppen beanspruchten. Obwohl die Zahl der demokratisch regierten Länder in Europa nach dem Kriegsende zunächst deutlich wuchs, waren damit Keime totalitären Strebens nach Eindeutigkeit, Authentizität und Sicherheit gelegt.50 Allerdings hatte der Erste Weltkrieg auch den Einfluss traditionaler und autoritärer Ordnungsvorstellungen und Herrschaftssysteme nicht gebrochen. So vollzog sich nach 1918 keineswegs eine zunehmende „charismatische Aufladung“ politischer Herrschaft und Führerschaft.51 Vielmehr bildeten sich neben den demokratischen Regierungssystemen, den faschistischen Diktaturen und dem bolschewistischen Regime in Russland in der Zwischenkriegszeit autoritäre Herrschaftsordnungen heraus. Sie setzten die Erfahrungen des staatlichen Kriegsreglements voraus und basierten auf traditionalen Stabilitäts- und Sicherheits­erwartungen. Anders als die viel zitierte Denkfigur vom „Zeitalter der Extreme“ und die dichotomische Interpretation vom globalen Konflikt zwischen den neuen totalitären Diktaturen und Demokratien suggeriert, blieben traditionale Ordnungsvorstellungen auch nach dem Ersten Weltkrieg einflussreich, ­obgleich sie z. T. in andere Herrschaftssysteme diffundierten. So nutzten sie faschistische Bewegungen und Diktaturen ebenso wie autoritäre Gruppen und Regimes als Ressourcen zur Legitimation und Stabilisierung ihrer Herrschaft. Auch wenn sie eine weitergehende Umgestaltung anstrebten, beriefen

49 Vgl. Reynolds, Shadow, S. 51; Riley, Foundations, S. 21 f., 197, 203; Dickinson, Perspective, S. 1160, 1165, 1167, 1171 f., 1182. 50 Zit. nach Peter Krüger, Der Erste Weltkrieg als Epochenschwelle. In: Hans Maier (Hg.), Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt a. M. 2000, S. 70– 91, hier 81, 83. 51 Demgegenüber: Eatwell, Introduction, S. XXVII f.

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sie sich auf die Wiederherstellung von Sicherheit und Stabilität. Gerade mit ihrer Indienstnahme traditionaler Ordnungskonzepte wurden Autoritarismus und Faschismus in der Zwischenkriegszeit zu einer fundamentalen Herausforderung von Demokratien. Ohne die gravierenden Unterschiede zu verdecken, sollte die Forschung autoritäre und faschistische Ordnungskonzepte deshalb deutlicher aufeinander beziehen und dabei berücksichtigen, dass diese ihrerseits traditionaler Herrschaft und demokratischer Systeme zur Abgrenzung und damit auch zur Legitimation bedurften.52

52 Vgl. António Costa Pinto, Introduction: Fascism and the other ‘-isms’. In: ders. (Hg.), Rethinking, S. 1–9, hier 3 f.; ders./Aristotle Kallis, Conclusion: Embracing Complexity and Transnational Dynamics: The Diffusion of Fascism an the Hybridization of Dictatorships in Inter-War Europe. In: dies. (Hg.), Rethinking Fascism, S. 272–282.

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Die Verfassungen der Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa Christoph Gusy

I. Vorbedingungen Die Zwischenkriegszeit war für die Staatenwelt Mitteleuropas eine Krisenzeit.1 Nicht nur die Verfassungen, sondern die Staaten selbst waren im Umbruch. Mit dem Kriegsende war die im sogenannten langen 19. Jahrhundert errichtete europäische politische Ordnung zusammengebrochen. Der Kosmos der Vielvölkerstaaten, vieler konstitutioneller Monarchien, der Kämpfe um parlamentarische Mitwirkung an der Gesetzgebung ging unweigerlich zu Ende. Und zu Ende ging auch die europäisch geprägte Weltordnung, die sich schon im Krieg durch das Auftreten der neuen Weltmacht USA allmählich zu globalisieren begann. Staaten und Staatsformen waren auf der Suche nach Neuorientierung.

II.

Nationalstaaten in der Krise

a) Formal war ein großer Teil der mitteleuropäischen Staaten auf der Seite derjenigen gewesen, die den Krieg verloren hatten. Das deutsche Kaiserreich und die Habsburgermonarchie mussten in den Friedensverträgen von Versailles (28. Juni 1919) und von Saint-Germain (10. September 1919) schwere Bedingungen akzeptieren.2 Das waren nicht nur Reparationen. Vielmehr ordneten die Verträge die staatliche Gestalt Mitteleuropas neu. Die Habsburgermonarchie wurde aufgelöst; auf diesem Territorium konstituierten sich vier neue Staaten: Ungarn, die Tschechoslowakei, (Deutsch-)Österreich und (partiell) Polen. Weitere territoriale Verluste Österreich-Ungarns in

1

2

Vgl. Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007; Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008 (beide mit umfassenden Nachweisen und weiteren Länderstudien); Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015. Vgl. zur Ordnung der Friedensverträge Horst Möller, Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998, S. 18.

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Südosteuropa und in Italien sollen hier nur erwähnt, aber nicht weiterverfolgt werden. Deutschland blieb territorial intakt, doch fanden Grenzverschiebungen zum neu gegründeten Polen statt. Die Abgabe praktisch aller mehrheitlich von Polen bewohnter (und einiger anderer) Territorien wurde in Deutschland und namentlich in Preußen als schwerer Verlust empfunden. Wo bislang in Mitteleuropa zwei große Mächte (Deutschland und Österreich) die Hegemonie ausgeübt hatten, fanden sich in der Nachkriegsordnung nun fünf Staaten. Die dargestellte staatliche und territoriale Neuordnung blieb nicht auf Mitteleuropa beschränkt; sie erfasste auch zahlreiche angrenzende Staaten wie Jugoslawien, Litauen, Rumänien, Russland und z. T. sogar Dänemark. Die neu konstituierten Staaten Polen, Tschechoslowakei und Ungarn3 hatten infolge des Krieges ihre lange angestrebte, zuvor vergeblich erkämpfte Souveränität erlangt. Sie waren zwar aufseiten der Kriegsverlierer, profitierten auf Kosten der bisherigen Hegemonialmacht Österreich aber maßgeblich von den Friedensverträgen. Österreich war Hauptverlierer der Friedensverträge, da der Staat auf weniger als ein Viertel seines bisherigen Territoriums und seiner Einwohner reduziert wurde. Hier stellte sich die Frage, ob das neue Staatsgebilde lebensfähig war. Deutschland war fortan der größte Einzelstaat in Mitteleuropa. Die Beschränkungen im wirtschaftlichen und militärischen Bereichen, die der Versailler Vertrag dem Deutschen Reich auflegte, führten aber zum Verlust des Großmachtstatus. b) Alle genannten Staaten standen von Anfang an vor Identitätsproblemen. Die ideologische Grundlage der Neuordnung in den Friedensverträgen bildete der Nationalgedanke des 19. Jahrhunderts. In seinem Namen hatten Polen, Ungarn und Tschechen im 19. Jahrhundert ihre staatliche Unabhängigkeit und die Auflösung der österreichischen Vielvölkermonarchie angestrebt. Nun war jener mit erheblicher Verspätung durchgesetzt. Interessanterweise fühlten sich die neuen Staaten aus unterschiedlichen Gründen nicht als Sieger, sondern als Verlierer der Friedensverträge. Die Erwartungen waren höher gewesen, die Ergebnisse blieben hinter den früheren (Maximal-)Forderungen zurück. Zudem zeigte sich sehr rasch, dass das Prinzip des Nationalstaats nicht ausreichte, um für die neu entstandenen politischen Einheiten eine hinreichende staatsbildende Identifikationskraft zu entwickeln. Dabei sollen territoriale Auseinandersetzungen – wie z. B. die Versuche ihrer

3

Vgl. die Beiträge in Wilhelm Brauneder/Norbert Leser (Hg.), Staatsgründungen 1918, Frankfurt a. M. 1999: Norbert Leser, Gab es 1918 eine österreichische Revolution?, S. 9–25; Manfried Welan, Erinnerungen an 1918. Von der Monarchie zur Republik. Kontinuität und Diskontinuität, S. 27–40; Günther Schefbeck, Staatsgründung durch ein Parlamentsprovisorium, S. 41–81; Jozef Klimko, Die Entstehung der Tschechoslowakei, S. 83–94; Christoph Gusy, Die Verfassungssituation in Deutschland 1918/19, S. 113–133; Feliks J. Bister, „Majestät, es ist zu spät!“ – Die Slowenen und der Zerfall der Monarchie, S. 95–112; Wilhelm Brauneder, Staatsgründungsakte um 1918: Österreich im Vergleich, S. 135–181.

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Verfassungen der Zwischenkriegszeit

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Arrondierung etwa in kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Polen und der Ukraine – hier nicht weiterverfolgt werden. Wichtiger ist ein anderer Aspekt: Die Nationen lebten nicht nebeneinander in ethnisch homogenen Territorien. Überall fanden sich erhebliche Minderheiten: in Polen Deutsche, Österreicher, Russen und – dort als Minderheiten gezählt – Millionen von Juden; in der Tschechoslowakei Deutsche (fast ein Viertel der Bevölkerung), Österreicher und Ungarn; in Ungarn Österreicher, Rumänen und Slowaken. Umgekehrt waren Ungarn Minderheiten in praktisch allen Nachbarstaaten. Diese Minoritäten fanden sich als Teile des Volkes der neuen Staaten wieder, rechneten sich aber nicht zur jeweiligen Nationalität und wurden ohne Weiteres dazugerechnet. Ob diese Haltung berechtigt war, kann hier offenbleiben. Fest steht, dass sie damals bewusstseinsbildend wirkte. Hinzu kamen soziale Disparitäten: In einzelnen Staaten zählten Angehörige der neuen Minderheiten tendenziell zur sozialen Oberschicht, die Angehörigen der neuen nationalen Mehrheiten hingegen eher zur Mittel- bzw. Unterschicht (Tschechoslowakei, Litauen),4 während in Polen und Ungarn die Oberschicht „nationaler“ geprägt war. Wo solche Disparitäten auftraten, erwies sich die nationale Frage zugleich als soziale Frage. Eine verbleibende Oberschicht wurde von der Bevölkerungsmehrheit zum Teil als Fortsetzung der alten Fremdherrschaft empfunden. Aus der Perspektive der neuen nationalen Mehrheiten war dann der Kampf um Selbstbestimmung noch nicht abgeschlossen, sondern hatte lediglich sein Schlachtfeld von der Außen- auf die Innenpolitik verlagert. Für die tradierten Oberschichten blieben dann zwei Wege: entweder der Kampf um die Vorherrschaft (wie anfangs in Litauen) oder die Bildung von Parallelgesellschaften (ansatzweise in der Tschechoslowakei). Die Völker der neuen Nationalstaaten stellten sich demnach im Innern nicht als homogen, sondern als gespalten dar. Die Integrationsfähigkeit solcher gespaltener Nationen für die Begründung neuer, positiver Identität musste sich in Herausforderungen und Krisen erst entwickeln. c) Für Österreich stellten sich die Probleme seiner staatlichen Identität anders. Das Land war durch den Friedensvertrag vom Vielvölkerstaat auf das deutsch-österreichische Kernland reduziert worden. Dadurch büßte es nicht nur mehr als drei Viertel seiner Fläche und seiner Bevölkerung ein, sondern verlor auch seinen Rang als europäische Macht. Die oft mit den Oberschichten Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns verflochtenen Eliten fanden in dem verbliebenen Reststaat für ihre Ambitionen keine ausreichende Basis mehr. Zudem war für viele Zeitgenossen nicht mehr recht erkennbar, worin das Spezifikum des neuen Staates liegen könne. Vor 1918 hatte die

4

Vgl. zur hier nicht behandelten Verfassung Litauens Jacob Robinson, Der litauische Staat und seine Verfassungsentwicklung. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 21 (1928), S. 295. Weiterer Vergleich: Dimitrios Parashu, Die WRV und die Verfassung der II. Hellenischen Republik 1927, Berlin 2012.

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­ taatsidee auf der Vorstellung ethnischer und kultureller Suprematie basiert. S Nach 1918 stellte sich die Frage, was eigentlich „österreichisch“ sei, wenn die alte Vielfalt wegfiel und stattdessen allein ein zwar wichtiger, aber eben doch nur ein Teil der deutschen Kultur und Nation übrigblieb. Deutsch-Österreich erschien dann nicht mehr als Kern einer – wie auch immer gedachten – Donaunation, sondern als ein Bestandteil der deutschen Nation. Von daher drohte das neue Kleinösterreich zu einem Nationalstaat ohne Nation zu werden. Zudem war die wirtschaftliche Einheit des alten Staatsgebietes durch neue Grenzen zerschnitten. Dieser Zustand hatte nahezu ausschließlich negative Rückwirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Wien war fortan eine Metropole ohne Hinterland: Das früher auch österreichische, jetzt tschechische, ungarische oder polnische Umland begann allmählich, sich auf die neuen staatlichen Gegebenheiten und die je eigenen Metropolen umzustellen. Umgekehrt war das verkleinerte Österreich nicht in der Lage, die durch die staatliche Teilung eintretenden Verluste zu ersetzen. Es war nicht zuletzt die Suche nach neuer Größe und wirtschaftlicher Kraft, welche die anfangs starken Beitrittsbestrebungen an die neue deutsche Republik speiste. Doch waren solche Bestrebungen nur für wenige Momente der Verunsicherung die gleichsam offizielle Staatsidee. Schon im Jahre 1919 wurde der Beitrittsgedanke zur Idee von Minderheiten bzw. der Opposition und stellte keine realistische Alternative mehr dar. So war das Beitrittsverbot des Friedensvertrages von Saint-Germain jedenfalls nicht der einzige Grund, warum es Österreich nach 1919 als eigenständigen Staat überhaupt noch gab. d) Wieder anders stellte sich der Übergang in Deutschland dar.5 Das Reich hatte Krieg, Kriegsniederlage und den Friedensvertrag von Versailles ohne Einbußen hinsichtlich seiner staatlichen Identität überstanden. Im ­Zentrum Europas war es nach wie vor ein wichtiger Staat. Die Abtretung von Gebieten bezog sich auf Randgebiete, die allerdings symbolträchtig waren: Kolonien; wesentlich von fremdsprachigen Bevölkerungsteilen (Polen, Dänen, Belgier usw.) bewohnte Gebiete; einige mehrheitlich von Deutschen besiedelte Gebiete an der Ostsee, die dem neuen Staat Polen den Zugang zum Meer sichern sollten und dadurch Ostpreußen vom Reich abtrennten; schließlich Grenzkorrekturen zu unterschiedlichen Nachbarstaaten. Das waren fühlbare, aber keine existenzbedrohenden Verluste. Existenzprobleme stellten sich aus zwei anderen Gründen. Da war zunächst der Wandel des staatlichen Selbstbewusstseins. Das Deutschland, welches vor dem Krieg Weltgeltung beansprucht hatte, war eine Monarchie gewesen. Das Deutschland, welches kapituliert und den als demütigend empfundenen Friedensvertrag abgeschlossen hatte, war eine durch Revolution entstandene Republik. Als

5

Zur Sonderwegsthesenkritik Hans Boldt, Deutschland. Ein europäischer „Sonderfall“? In: Gusy, Demokratie, S. 354–370.

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Verfassungen der Zwischenkriegszeit

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spaltendes Element sollte sich die Frage erweisen: War die Kriegsniederlage die Ursache der Revolution? Oder war die Revolution die Ursache der Kriegsniederlage? Die Diskussion in der Zwischenkriegszeit war nicht primär eine historische, sondern eine politische. Von der Antwort hing die Legitimität der neuen Republik wesentlich ab. In der Parteinahme zu dieser Frage äußerte sich eine fundamentale Spaltung des Volkes. Damals ging es nicht zentral um Ermittlung von Ursachen, sondern viel eher um Verteilung von Schuld. Deutschland war gesellschaftlich eine zerrissene, gespaltene ­Nation.6 Das Hauptproblem lag in der Tatsache, dass die neue demokratische Republik gerade ihre wichtigste Aufgabe nur unzulänglich erfüllte: Sie konnte die gespaltene Nation nicht wirkungsvoll zusammenführen. Sie konnte die Zerrissenheit auch kaum überwinden, weil jene Spaltung sich gerade auf die Verfassung bezog. So blieb der Wille zur Republik stets Angelegenheit von Teilen des Volkes, denen andere wichtige Teile gegenüberstanden. Das waren namentlich jene alten Eliten, die sich als Revolutionsverlierer sahen und schon deshalb keinen Grund sahen, sich auf den Boden der neuen Ordnung zu stellen. Aus ihrer Sicht fielen Vergleiche regelmäßig zulasten der neuen Republik aus. Viel zu oft wurde das Vorkriegsreich mit seinem Weltmachtanspruch, seiner Größe und seiner relativen wirtschaftlichen Prosperität mit der Nachkriegsrepublik verglichen, ihrem verzweifelten Streben nach internationaler Gleichberechtigung, ihrer relativen Kleinheit und Schlichtheit sowie der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung. Als bedrohlich erwies sich die Spaltung des Volkes, weil sie ein Dissens ohne Alternative war. Eine neue Monarchie war keine Alternative zur demokratischen Republik. Dazu bedurfte es der Haltung der Siegermächte kaum, die eine republikanische Staatsform begünstigten. Im Jahre 1918 gab es in Deutschland keine Dynastie, welche die Monarchie als zukunftsträchtig hätte erscheinen lassen können. So brachten die Friedensverträge weiteres Konfliktpotenzial, denn sie führten letztlich dazu, dass die Zahl der Verlierer die der eigentlichen Kriegsverlierer übertraf. Zu den Kriegsverlierern kamen die Friedensverlierer. Auf ihrer Seite wurden Widerstand und Revisionsbemühungen gegenüber Friedensverträgen als Notwehr angesehen. Und innerstaatlich sahen viele den Notwehrfall auch gegenüber eigenen Regierungen und Parteien, die (auch nur zeitweilig oder aus taktischen Gründen) die Erfüllung der Friedensverträge praktizierten. Die alte Spaltung im Krieg setzte sich nun im Staatsinnern fort.7

6 7

Vgl. ausführlicher Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 4. Auflage München 2014, S. 997 ff., 1000 ff.; Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2014, S. 563 ff., 593 ff., 790 ff. Vgl. Leonhard, Pandora, S. 939 ff., 997 ff. Für die Weimarer Republik Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 285 ff.

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III. Vom Krieg zum Bürgerkrieg Dort vollzog sich der Übergang von der alten zur neuen Ordnung nicht bruchlos.8 Wo eine Monarchie durch eine Republik abgelöst wurde, geschah dies im Zuge einer Revolution. Ihnen war gemeinsam, die monarchischen Verfassungen und die noch fortbestehenden Reste adeliger Vorherrschaft zu beseitigen und durch neue Staatsformen zu ersetzen. Letzteres beschreibt schon ein Problem: Die positiven Ziele der Revolutionäre waren teils unklar, teils schon untereinander kontrovers. Die Vielfalt der heterogenen Strömungen lässt sich gegenwärtig kaum noch ausmachen. Eine von ihnen war eher auf Räteverfassungen gerichtet, die nicht selten vor der Folie von Vorgängern aus der russischen ­Oktoberrevolution (1917) gedeutet wurden. Die Berechtigung dieser Deutung wird heute zu Recht in Zweifel gezogen. Doch war sie für Zeitgenossen und deren politisches Selbstverständnis prägend. Eine andere Hauptrichtung war eher auf Parlamentarismus gerichtet, der sich an westlichen Verfassungen orientierte. Zu deren Trägern zählten namentlich Sozialisten und Gewerkschaften. So fanden sich Ende 1918 mehrere Fronten: Die Träger der neuen Ordnung waren zersplittert, sodass Auseinandersetzungen zwischen ihnen – etwa in Deutschland und Ungarn – zu bürgerkriegsähnlichen Kämpfen führten. Eine Revolution ist dann am stärksten gefährdet, wenn die alte Ordnung beseitigt, aber noch nicht durch eine neue Ordnung ersetzt ist. In den Kämpfen bedeutete dies: Der Übergang wurde nicht selten als Verlust wahrgenommen. Verloren schien nicht nur die alte, sondern jede Ordnung. Aus mancher Perspektive ging es weniger um die Alternative „alter oder neuer Staat“, sondern vielmehr um „Staat oder Nicht-Staat“. Diese Instabilität beeinträchtigte die Leistungsfähigkeit und Legitimität der neuen Staatsorgane. Wo sie in den Bürgerkriegen siegten, drohte Anerkennungsverlust durch die Besiegten; wo sie unterlagen, drohte Anerkennungsverlust durch die eigenen Anhänger; und wo länger gekämpft wurde, drohte deren Verlust durch beide Seiten. Das Ende der Räte kam zum Teil unter erheblichen Verlusten an Menschenleben und wirtschaftlichen Werten, besonders in Ungarn. Hier setzten sich die alten Eliten in neuer Form durch, die Revolution war ein Misserfolg. Andern­orts trugen die Kämpfe zum Vertrauensverlust der neuen Staatsordnungen bei, etwa in Deutschland. Wo junge Republiken Verbündete suchten, fanden sie diese kaum unter Anhängern der Rätesysteme, eher – vor allem in Deutschland und Österreich – unter den Anhängern der alten Ordnung. Dort konnte sich der Parlamentarismus schlechter durchsetzen als in anderen Republiken. Republi­ kanisches und demokratisches Staats- und Selbstbewusstsein gerieten so von Anfang an in die Defensive. Und der Krieg nach außen wurde allzu oft von bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Innern abgelöst – etwa in Deutschland.

8

Vergleichender Überblick bei Dominic Lieven, Abschied von Macht und Würden – Der europäische Adel 1815–1914, Frankfurt a. M. 1995.

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Verfassungen der Zwischenkriegszeit

IV.

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Wirtschaftliche und soziale Belastungen

Der Erfolg eines Staates und einer Verfassung basiert auf ökonomischen, sozia­ len und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Die politische Akzeptanz einer Staatsform ist kaum zu erlangen, wenn eine relevante Zahl von Bürgern im Elend lebt oder dorthin abzusinken droht. Für die These vom Zusammenhang zwischen der Akzeptanz der eigenen wirtschaftlichen und der politischen Situation ist die Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa ein einleuchtender Beleg.9 So unterschiedlich sich die Fragen der politischen Identität nach 1918 im Einzelnen stellten, gemeinsam war doch allen mitteleuropäischen Staaten der Zwischenkriegszeit die krisenhafte wirtschaftliche und soziale Gesamtlage. Sie erfasste nahezu die gesamte industrialisierte Welt, auch die Siegermächte des Krieges. Die Folgen der Wirtschaftskrisen zeigten sich zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlicher Intensität. Bei den Verlierern des Weltkriegs überlagerten sich die allgemeinen, weltweiten Probleme, welche alle trafen, mit besonderen Schwierigkeiten, die nur sie trafen. Weitere für die Nachfolgestaaten der Kriegsverlierer spezifische Krisenursachen kamen hinzu. Alle hatten aufgenommene Kriegskredite mit späteren Reparationsleistungen begleichen wollen. Über solche Möglichkeiten verfügten die Verliererstaaten aber nicht. Ihre Anleihen mussten entweder aus dem Staatshaushalt bezahlt oder aber für wertlos erklärt werden. Letzteres hätte einen großen Teil der eigenen Bürger – und zwar gerade den „national“ gesinnten Teil – um ihr Vermögen gebracht. Die Staaten machten einen solchen Schritt daher nur in der Situation äußerster Bedrängnis. Was für den vergangenen Krieg zurückgezahlt wurde, konnte für den zukünftigen Frieden nicht noch einmal ausgegeben werden. Und dabei waren Kosten für die Versorgung der Kriegsopfer und die Lasten der Konversion von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft noch gar nicht eingerechnet. Da waren weiter die Reparationsverpflichtungen. Auch die Siegermächte hatten im Krieg keine Beute gemacht. Umso wichtiger erschien es, diese nach dem Krieg zu erlangen. Sie sollte die Siegermächte nicht zuletzt in die Lage versetzen, eigene Verpflichtungen untereinander, namentlich gegenüber den USA, und gegenüber privaten Gläubigern erfüllen zu können. Die Zahlungsfähigkeit mancher Siegermacht basierte in den 1920er-Jahren auf der Tatsache, dass die Reparationen in voller Höhe und rechtzeitig eingingen.10 Was für die Gläubiger Grundlage der Sicherung ihrer Kreditwürdigkeit war, war für die Schuldner Basis nahezu permanenter Kreditunwürdigkeit. Sie mussten nicht nur ihre eigenen Schulden aus dem Krieg tragen, sondern auch noch

 9 Vgl. Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistungen und Versagen in Staat, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008. 10 Vgl. ausführlich hierzu Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Band 2:. Deutschland am Vorabend der großen Krise, Berlin 1987, S. 19 ff., 35 ff.

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die Kosten der Siegermächte. Da sie aber selbst bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit verschuldet waren, überstiegen die Reparationsleistungen ihre Zahlungsfähigkeit bei Weitem. Kurz: Es fehlte überall das Geld, den politischen Neuanfang auch ökonomisch und sozial als Erfolg erscheinen zu lassen. Da waren schließlich die wirtschaftlichen Bestimmungen der Friedensverträge. In der ökonomisch nahezu aussichtslosen Situation der Nachkriegszeit versuchten die meisten Staaten, sich selbst Vorteile zu verschaffen, und zwar auch auf Kosten der anderen Staaten. Alle strebten danach, Ausfuhren zu fördern und Einfuhren zu drosseln. Ökonomischer Protektionismus gestaltete den wirtschaftlichen Wettbewerb von vornherein asymmetrisch. Hinzu kamen Beschränkungen der wirtschaftlichen Tätigkeit und ungelöste Devisenfragen. Diese Bestimmungen erwiesen sich als widersinnig. Denn die Angewiesenheit auf Außenhandelsüberschüsse war für Staaten mit hohen Zahlungspflichten noch größer als für jene mit geringen Verpflichtungen, am größten war sie die Reparations­schuldner. Sie waren am stärksten auf freien Warenaustausch und die Möglichkeit angewiesen, Geld, zu dessen Zahlung sie verpflichtet waren, ohne es schon zu besitzen, durch Außenwirtschaft zu verdienen. Der Protektionismus der Nachkriegsordnung war geeignet zu verhindern, was der Friedensvertrag forderte: Reparationszahlungen der Kriegsverlierer. Diese Selbstwidersprüchlichkeit der Nachkriegsordnung strangulierte nicht nur die Wirtschaft der Reparationsschuldner. Zugleich brachte sie die Reparationsgläubiger in eine fatale Abhängigkeit von ihren leistungsunfähigen Schuldnern. Dies schadete allen europäischen Volkswirtschaften in unterschiedlichem Umfang, nutzte aber keiner. Die Friedensverträge konnten auch in wirtschaftlicher Hinsicht keine Ordnung begründen. Eine solche würde vielmehr erst möglich, wenn die Verträge jedenfalls teilweise geändert würden. Damit enthielt die Form des angestrebten Friedens bereits den Keim des neuen Konflikts. Lange fanden die ehemaligen Kriegsgegner keinen Weg aus dem Gegeneinander des Krieges zu einem Miteinander der Politik und namentlich der Wirtschaftspolitik. Zu unterentwickelt waren die Ansätze zwischenstaatlicher Krisenbewältigung. Und zu dominant war die Vorstellung, sich aus eigenen wirtschaftlichen Problemen auf Kosten der anderen befreien zu können. Insgesamt erwies sich das Wirtschaftssystem in den meisten Staaten als instabil. Phasen mit vergleichsweise hoher Prosperität wurden abgelöst von Phasen tiefer Depressionen. Auch Zeiten relativer Stabilität waren von Erinnerungen an gerade vergangene oder von Befürchtungen im Hinblick auf bevorstehende Einbrüche geprägt. So gerieten Österreich und die Staaten im östlichen Mitteleuropa nach dem Weltkrieg in eine längere ökonomische Schwächephase, welche sich – mit zeitlichen Verschiebungen – erst allmählich besserte. Deutschland überstand hingegen die Kriegsniederlage wirtschaftlich zunächst besser, doch war die ökonomische Krise nur aufgeschoben. Sie erfasste die Republik seit 1921 immer rascher bis zur Hyperinflation des Jahres 1923. Nach Inflation und Deflation (1924/25) verschlechterten sich die Bedingungen in ganz Mitteleuropa in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre wieder, bis die nationalen Probleme durch die Auswirkungen der

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Verfassungen der Zwischenkriegszeit

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Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 überlagert und in den Katastrophen der Jahre 1931/32 potenziert wurden. Diese Entwicklung konnte nicht ohne Rückwirkungen auf die politische Legitimität und Stabilität der Staaten bleiben. Immer weniger wurden die ökonomischen Krisen in der Bevölkerung auf Krieg und Kriegsausgang zurückgeführt. Immer stärker wurde hingegen der Eindruck, die neuen Regierungen und Parlamente seien nicht in der Lage, die Entwicklung wirksam zu steuern. Und partiell – etwa in Deutschland – mag sogar der Eindruck entstanden sein, die Politiker wollten dies auch gar nicht. Die Erosion der Erwartungen konnte gerade in demokratischen Staaten nicht ohne Rückwirkungen auf die Verfassung bleiben.

V.

Neue Verfassungen

In allen hier genannten Staaten – bis auf Ungarn – wurden unmittelbar nach dem Weltkrieg neue, demokratische Staatsformen eingeführt. Doch bis auf die Tschechoslowakei wurden überall die Demokratien durch rechtsautoritäre Regimes abgelöst. 1.

Deutschland

Nach der Ablösung der Monarchie kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinan­ dersetzungen zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Revolutionären um die zukünftige Ordnung. Dabei setzten sich die Anhänger einer parlamentarisch-demokratischen Verfassung mit Unterstützung von Armee und Polizei aus der Monarchie durch. Die Wahlen zur Nationalversammlung erbrachten Anfang 1919 ein leichtes Übergewicht der heterogenen bürgerlichen Parteien gegenüber den sozialistischen Fraktionen. Die Constituante verabschiedete in Weimar mit großer Mehrheit die „Weimarer Reichsverfassung“ (WRV).11 Die neue Verfassung basierte auf den Grundgedanken von Republik, Demokratie, Bundesstaat und Menschenrechten. Sie stand in der Tradition der bürgerlich-liberalen Verfassung von 1849, sozialistische Elemente fanden sich nur ansatzweise. Das Verfassungswerk bemühte sich um eine anspruchsvolle Synthese von Altem und Neuem. Die aus der Monarchie übernommenen Politiker, Parteien, Beamten, Gemeinden und Länder sollten in eine neue, republikanisch-demokratische Ordnung eingebracht werden. Dabei blieben Bundesstaat und Selbstverwaltung weitgehend unangetastet. Die Länder wurden trotz ihrer ganz unterschiedlichen Größe und Leistungskraft zunächst nicht und später kaum neu gegliedert. Geschwächt wurden allerdings die Finanzen von Ländern 11 Verfassung vom 11.8.1919, Reichsgesetzblatt I (1919), S. 1383. Kommentar: Gerhard Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, 14. Auflage Berlin 1933. Historisch Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997.

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und Gemeinden zulasten des Reiches und die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung im Reichsrat. Die Staatsordnung der Republik basierte auf dem demokratischen Gedanken der Volkssouveränität (Art. 1 Abs. 2 WRV). Die Bürger waren zugleich Träger und oberstes Organ der Staatsgewalt sowie Träger der Grundrechte und Grundpflichten (Art. 109 ff. WRV). Die Weimarer Verfassung sah Freiheits- und Gleichheitsrechte nicht nur als Rechte der Menschen gegen den Staat, sondern zugleich als Rechte am und im Staat. So enthielt der zweite Hauptteil das anspruchsvolle Programm einer umfassenden Gesellschaftsverfassung, die auch wirtschaftliche, soziale und politische Ziele formulierte. Die Verfassung versuchte die Gedanken materieller Gerechtigkeit und prozeduraler Demokratisierung in Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung skizzenhaft zu formulieren. Solche Formulierungen mussten notwendig weit und offen sein.12 Sie waren als Zielvorgaben konzipiert und auf Umsetzung durch die Gesetzgebung angelegt. Darin lagen zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche: Einerseits war die Verfassung inhaltlich anspruchsvoll und zukunftsorientiert, andererseits war sie auf loyale Ausgestaltung durch andere Staatsorgane angewiesen, sollte sie nicht rhetorisch bleiben. Volksabstimmungen waren nur für Einzelfälle und nur über Gesetze vorgesehen. Das Wahlrecht basierte auf den Gedanken der Allgemeinheit (auch für Frauen), der Unmittelbarkeit, der Gleichheit und der Verhältniswahl (Art. 17 WRV). Die Bürger wählten sowohl den Reichspräsidenten (Art. 41 WRV) als auch den Reichstag (Art. 22 WRV). Der Reichstag sollte den Schwerpunkt seiner Tätigkeit auf den Gebieten der Gesetzgebung (Art. 68 ff. WRV) und der Kontrolle der Exekutive haben. Dagegen standen dem Reichspräsidenten besondere Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Exekutive (Oberbefehl über das Militär, Art. 47 WRV), Ernennungsrecht für den Reichskanzler (Art. 53 WRV) und für den Notstandsfall (Art. 48 WRV) zu. Abgrenzungsschwierigkeiten ergaben sich bei Kompetenzüberschneidungen zwischen beiden. Das galt namentlich für drei Fälle. Erstens: Bei der Regierungsbildung war nicht ausdrücklich geregelt, wer die Kandidaten für das Amt des Reichskanzlers auswählen durfte. Dies konnte sowohl der Reichspräsident, der ihn ernannte (Art. 53 WRV), als auch der Reichstag, dessen Vertrauen er bedurfte, sein (Art. 54 WRV). Zweitens: Das Recht des Staatsoberhaupts zur Parlamentsauflösung war zwar eingegrenzt (Art. 25 WRV), doch war die Bestimmung entgegen der Erwartung ihrer Verfasser nicht in der Lage, klare und eindeutige Linien zu ziehen. Drittens: Das

12 Vgl. etwa Art. 148 WRV: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, dass die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden. Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen.“; Art. 151 WRV: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern.“

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Verfassungen der Zwischenkriegszeit

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Notstandsrecht des Reichspräsidenten unterlag zwar parlamentarischer Kon­ trolle (Art. 48 Abs. 3 WRV), doch hielt die Rechtswissenschaft es mithilfe des Art. 25 WRV für möglich, den Reichstag aufzulösen und so das Notstandsrecht der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen. Die drei genannten Probleme fanden ihre Wurzel in der Idee vom „Gleichgewicht“ zwischen den beiden unmittelbar volksgewählten Organen. Diese vom Entwurfsverfasser Hugo Preuß aus missverstandenen ausländischen Lehren übernommene Idee war Ausdruck des Misstrauens namentlich der Liberalen gegen eine zu weitreichende Parlamentarisierung. Gleichwohl dominierte in der Nationalversammlung die Vorstellung, eine auf dem Prinzip des Parlamentarismus basierende Staatsordnung geschaffen zu haben. Das angestrebte Gleichgewicht bewirkte eine doppelte politische Abhängigkeit der Regierung vom Staatsoberhaupt und der Mehrheit des Reichstages. Solange beide Seiten loyal gesinnt waren, war eine stabile Regierung möglich. Im Falle einer Konfrontation zwischen Präsident und Parlament geriet die Regierung zwischen die Fronten. Die Weimarer Verfassung war inhaltlich anspruchsvoll und offen formuliert. Umso größere Bedeutung kam ihrer Auslegung und Anwendung in der Praxis zu. Die Verfassungsinterpretation13 erreichte seinerzeit einen nie gekannten theoretischen und inhaltlichen Höhepunkt. Der staatsrechtliche Positivismus, der etwa bis zur Jahrhundertwende unangefochten dominiert hatte, entwickelte sich fort und versuchte soziologische und philosophische Strömungen der Zeit zu integrieren. Die neuen Einsichten von Hans Kelsen, Richard Thoma und Gerhard Anschütz waren geeignet, die Inhalte der Weimarer Verfassung zu entfalten und ihre Geltungskraft zu stärken. Die Zeit der Republik war aber auch eine Blütezeit geisteswissenschaftlicher Methoden. Deren Ziel war, mit der Monarchie und ihrer Verfassung auch deren spezifische Methode, eben den Rechtspositivismus, zu überwinden. Ihre gemeinsame Grundidee bestand darin, die Weimarer Verfassung nicht isoliert, sondern aus ihrem Gegenstand zu verstehen. Die dabei versuchte Gesamtanalyse von Staat, Politik und Recht ging allerdings nur vereinzelt (Hermann Heller) empirisch vor. Vielmehr vollzog sich die Fundierung der neuen Anschauungen zumeist philosophisch, namentlich bei so unterschiedlichen Autoren wie Carl Schmitt, Rudolf Smend14 und Erich Kaufmann. Solche Ideen waren geeignet, allgemeine Staatstheorien zu entwickeln. Sie waren aber mindestens ebenso geeignet, das Spezifikum gerade der Weimarer Verfassung zu verfehlen, ihre besonderen Inhalte zu relativieren und ihre Geltungskraft zu schwächen. Der Richtungsstreit war so überaus prädestiniert, die Staatsrechtswissenschaft theoretisch neu zu ­fundieren

13 Vgl. zur Staatsrechtswissenschaft der Zwischenkriegszeit im deutschsprachigen Raum Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3, München 1999. 14 Vgl. insbesondere Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934; Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928; Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928.

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und zu ­positionieren. Er war ­hingegen weniger brauchbar, der neuen Verfassung möglichst konsensuelle Theorien zu unterlegen und sie so zu erklären, zu legitimieren und zu stärken. Solche Impulse gingen auch nur in geringem Maße von der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs aus, der den Streit der Staatsrechtswissenschaft ausblendete, seine Rechtsfindung an den allgemeinen Methoden der Gesetzesanwendung orien­tierte und nur vereinzelt zu spezifisch verfassungsrechtlichen Ansätzen fand. Die Entwicklung der Republik war wesentlich geprägt von sämtlichen dargestellten belastenden Vorbedingungen. In der von wirtschaftlichen Schwierigkeiten und latentem Bürgerkrieg (bis 1923) geprägten Gründungskrise der Republik verloren die verfassungstragenden Parteien (SPD, Deutsche Demokratische Partei, Zentrum) schon bei der ersten Reichstagswahl ihre parlamentarische Mehrheit und sollten sie nie mehr zurückgewinnen. Zudem fanden sich nur unter Schwierigkeiten Politiker, die freiwillig bereit waren, das Amt des Reichskanzlers zu übernehmen. So musste Reichspräsident Friedrich Ebert15 zu Beginn Kandidaten suchen und präsentieren. Kanzlerauswahl und Kanzlerauswahlrecht ging so faktisch auf ihn über. Die zunehmende Zersplitterung des Reichstags und die geringe Bereitschaft der Fraktionen zu Kooperation und Koalitionen führten zu einer weiteren Schwächung des parlamentarischen Systems. Als die Republik in ihre Stabilisierungsphase (1924–1929) kam, waren so die Wurzeln eines Präsidialsystems bereits gelegt. Sie verstärkten sich, als mit der Wahl des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1925)16 die Idee präsidialer Machtausübung, notfalls auch gegen den Reichstag, Einzug in die Staatspraxis hielt. Diese Ideen fanden umso eher Gefolgschaft, als auch in der Stabilisierungsphase die politische Schwäche des Reichstags andauerte. Minderheitskabinette und die wenigen auf politisch kaum integrationsfähige Koalitionen gestützten Mehrheitsregierungen waren ebenso wie der Reichstag nur sehr selten in der Lage, die Ideen der Verfassung zu verwirklichen und beim Ausbau der demokratischen Repu­blik sichtbare Fortschritte zu erzielen. Als sich die Weltwirtschaftskrise auch in Deutschland auswirkte, war das Vertrauen in die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des parlamentarischen Systems bereits stark geschwächt. Umso größere Gefolgschaft fand die Idee der Präsidialkabinette, deren Anhänger seit der Kanzlerschaft Heinrich Brünings (1930) auch in die Reichsregierung einzogen. Als deren Legitimation verbraucht war, gab es nur noch zwei Möglichkeiten: Verfassungsreform oder Rückkehr zum parlamentarischen Regierungssystem. Der widersprüchliche Versuch, beide Wege miteinander zu verbinden, führte zur Übertragung der Kanzlerschaft an Adolf Hitler und damit zum Ende der Republik und ihrer Verfassung.

15 Zur Biografie Friedrich Eberts vgl. Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, 2. Auflage Bonn 2007. 16 Zur Biografie Paul von Hindenburgs vgl. Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007.

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Verfassungen der Zwischenkriegszeit

2.

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Österreich

In Österreich war die Monarchie im November 1918 nahezu gewaltlos gestürzt worden. Infolge der Auflösung der Donaumonarchie geriet das verbliebene Deutsch-Österreich in eine Existenzkrise. Sie wurde rasch dadurch beendet, dass die deutschsprachigen Länder ihren Willen bekundeten, Teile eines neuen Österreichs bleiben zu wollen. Die verbliebenen Abgeordneten dieser Gebiete im alten Reichsrat bildeten eine vorläufige Nationalversammlung, welche mit der provisorischen Verfassung den Weg für die Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung ebnete. Sie verabschiedete das Bundes-Verfassungsgesetz (BVG) vom 1. Oktober 1920,17 das fast ausschließlich Fragen der Staatsorganisation regelte. Hinsichtlich der Garantie der Menschenrechte blieb das Staatsgrundgesetz von 1867 in modifizierter Form in Kraft. Zudem wurde das neue Staatsgrundgesetz schon in den 1920er-Jahren mehrfach geändert und durch weitere Regelungen ergänzt. Dadurch war das Verfassungsrecht in zahlreiche Verfassungsgesetze zersplittert. Das neue Verfassungsrecht basierte auf den Grundgedanken von Diskontinui­ tät, Föderalismus, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit. Mit der habsburgischen Monarchie und dem alten Österreich sei die neue Republik staatsrechtlich nicht identisch. Diese Auffassung fand im Verkehr mit anderen Staaten aber nur teilweise Anerkennung. Namentlich der Friedensvertrag von Saint-Germain sah die Republik partiell in der Nachfolge der Monarchie. Der Föderalismus hatte in der neuen Verfassung zentrale Bedeutung (Art. 2 BVG): Die Einzelstaaten waren vor der neuen Republik dagewesen und hatten sich durch ihren Zusammenschluss zur österreichischen Identität bekannt. Doch verstand sich die Republik nicht als Zusammenschluss der Länder, sondern der Bürger. So blieb der österreichische Föderalismus ambivalent. Da war auf der einen Seite eine weitgehende Garantie der Länderrechte in Legislative, Exekutive und Justiz einschließlich ihrer Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung durch den Bundesrat (Art. 34 ff. BVG). Doch war auf der anderen Seite unübersehbar, dass die einzelnen Länder und die ihnen weitgehend gleichgestellte Hauptstadt Wien (Art. 108 ff. BVG) klein und in ihrer Fähigkeit zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben begrenzt waren. So war die föderalistische Rhetorik in Verfassung und Gesetzen oft stärker als die bundesstaatliche Realität. In der Wirklichkeit entwickelten sich unitarisierende Tendenzen. Dazu trugen die führende Rolle des gewählten Nationalrats bei der Gesetzgebung, die republikweit 17 Vgl. BGBl. I (1920). Kommentar: Hans Kelsen/Georg Froehlich/Adolf Merkl, Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich, 1919/1922, Wien 1920; zur historischen Betrachtung vgl. Günther Steinbach, Kanzler, Krisen, Katastrophen, Berlin 2006; Klaus Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich. Band II: 1918–1933, Wien 1998; Wilhelm Brauneder, Österreich 1918 bis 1938: „Erste“ oder wie viele „Republiken“? In: Gusy, Demokratie, S. 304–322; komplette Textausgabe des österreichischen Verfassungsrechts bei Michael Holoubek, Verfassungsrecht, 2. Auflage Wien 1999.

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organisierten Parteien und die faktische Alternativlosigkeit der Republik bei. Zentrifugale Tendenzen waren chancenlos. Der Gedanke der Republik war in der Verfassung nur vergleichsweise schwach ausgeprägt. Das Staatsoberhaupt wurde nicht unmittelbar vom Volk, sondern von der Bundesversammlung aus Nationalrat und Bundesrat gewählt. Seine Kompetenzen blieben gering, wie bei indirekt gewählten Staatsoberhäuptern üblich. Er vertrat die Republik nach außen, nahm Ernennungen und Ehrungen vor und beurkundete das verfassungsgemäße Zustandekommen von Gesetzen (Art. 47 BVG). Bei der Regierungsbildung wirkte er ebenso wenig mit wie am Oberbefehl über das Heer. Prägender Grundzug der Verfassung war ihr ausgeprägter Parlamentarismus. Die Erste Kammer, der Nationalrat, wurde vom Volk in allgemeiner, freier und unmittelbarer Wahl nach dem Verhältniswahlrecht gewählt (Art. 26 BVG). Angesichts nur schwach ausgeprägter plebiszitärer Elemente kam der Volksvertretung der Primat bei der Vermittlung demokratischer Legitimation zu. Der Nationalrat übte die gesetzgebende (Art. 41 ff. BVG) und die verfassungsändernde Gewalt (Art. 44 BVG) aus. Der Zweiten Kammer, dem Bundesrat, kamen nur Mitwirkungs-, aber keine Vetorechte zu (Art. 42 BVG). Der Nationalrat wählte und kontrollierte die Regierung ohne Mitwirkung anderer Staatsorgane, namentlich des Präsidenten (Art. 50 ff., 69 ff. BVG). Zudem bestimmte er den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die Hälfte der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes (Art. 147 BVG). Der rechtsstaatliche Charakter der Verfassung kam namentlich in der breit ausgebauten justizförmigen Kontrolle durch den Verfassungs- und den Verwaltungsgerichtshof zum Ausdruck (Art. 137 ff., 129 ff. BVG). Die Staatsrechtswissenschaft Österreichs machte in der Republik eine ambivalente Entwicklung durch. Infolge der Reduzierung des Staates auf Deutsch-­ Österreich nahm die Zahl der Universitäten stark ab. Die geringe Zahl der Staatsrechtler erschwerte die Neuorientierung der Disziplin. Auf jener schmalen Basis konnte die Rechtswissenschaft an die rechtsstaatliche Tradition aus der Monarchie anknüpfen. Zudem machte sie unter dem Einfluss der „Reinen Rechtslehre“ methodische Fortschritte: Der staatsrechtliche Positivismus wurde auf neue erkenntnistheoretische Grundlagen gestellt und für die Beantwortung zahlreicher alter und neuer Verfassungsrechtsfragen fruchtbar gemacht. Doch war gleichzeitig nicht zu verkennen, dass unter den relativ wenigen Staatsrechtlern kaum Pluralismus bestand, um den methodischen auch inhaltliche Neuerungen an die Seite zu stellen. So blieb manches bloß formal: Zur Entfaltung einer Verfassungstheorie der demokratischen Republik kam es am ehesten durch den überragenden Hans Kelsen, der im Jahre 1930 nach Köln wechselte. Die Verfassung vom 1. Oktober 1920 war mit breiter Mehrheit verabschiedet worden. Entgegen einer verbreiteten Geschichtsschreibung war die junge Republik kein „Staat, den niemand wollte“.18 Doch war die Entwicklung der Republik geprägt durch Identitätskrisen und tiefe innere Spaltung im Volk. Am

18 Brauneder, Österreich 1918 bis 1938, S. 314.

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Verfassungen der Zwischenkriegszeit

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Anfang stand die Alternative: Beitritt zur jungen deutschen Republik oder Konstituierung österreichischer Eigenstaatlichkeit. Später äußerte sie sich in scharfen Gegensätzen zwischen landwirtschaftlich bzw. mittelständisch geprägten Interessen einerseits und industriell bzw. dienstleistungsorientierten Belangen andererseits. Diese Kluft wurde überlagert vom Gegensatz zwischen der Stadt Wien und allen anderen Bundesländern sowie zwischen den in ihnen jeweils vorherrschenden Parteien: den Sozialisten in Wien und der Christlichen Volkspartei auf dem Lande. Trotz des Verhältniswahlrechts kam es nicht zu einer Parteienzersplitterung im Nationalrat. Doch blieben die Mehrheiten knapp und die Regierungen integrationsschwach. So verlagerten sich wesentliche Entscheidungen immer mehr aus den eigentlich legitimierten Gremien heraus, immer stärker wirkten Unternehmer und Gewerkschaften unmittelbar in die Politik hinein. Solche korporatistischen Ansätze waren aber nicht in der Lage, gelegentlichen gewaltsamen Entladungen der politischen Spannungen wirksam vorzubeugen. Seit dem spektakulären Brand des Justizpalasts (1927) erlangten bewaffnete Parteinebenorganisationen, insbesondere die ländliche „Heimwehr“, steigenden Einfluss. Deren zunehmende Bedeutung erschwerte Koalitionsbildungen. Angesichts der Paralyse von Parlament und Regierung sowie zunehmender nationalsozialistisch motivierter Unruhen kam es 1932 zu einem Minderheitskabinett, das 1933 putschte und eine autoritär-ständische Regierungsform einführte. Danach war die Verfassung von 1920 faktisch außer Kraft gesetzt. Als 1934 der Ministerpräsident Engelbert Dollfuß durch Nationalsozialisten ermordet wurde, setzte sich der autoritäre Kurs mit faschistischen Zügen in der Form einer grundlegenden Verfassungsänderung (30. April 1934) fort, bis der Staat 1938 an das nationalsozialistische Deutschland angeschlossen wurde. 3.

Polen

Polen hatte durch die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg seine staatliche Selbstständigkeit wiedererlangt. Doch waren seine Grenzen zunächst nicht eindeutig festgelegt worden. Dadurch entstanden bewaffnete Auseinandersetzungen an der Westgrenze zu Deutschland, der Ostgrenze zur Ukraine und der Nordgrenze zu Litauen, die erst 1921 und endgültig 1923 durch weitere Verträge bzw. Abstimmungen beigelegt wurden. Unter diesen ungünstigen äußeren Umständen konstituierte sich nach einer provisorischen staatsrechtlichen Neuordnung durch die sogenannte Kleine Verfassung die verfassunggebende Nationalversammlung. In ihr dominierte eine bürgerlich konservative Mehrheit, während die sozialistischen Parteien in der Minderheit und die zahlreichen nationalen Minderheiten unterrepräsentiert blieben. Die Konstituante schuf eine republikanische Verfassung,19 ­welche sich 19 Verfassung vom 17.3.1921, Dziennik Ustaw Nr. 44 vom 1.6.1921, S. 633; dazu Walter Schätzel, Entstehung und Verfassung der polnischen Republik. In: Jahrbuch des

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auf französische Vorbilder stützte. Daneben ließ sich aber auch eine Nähe der polnischen Rechtstradition zur deutschen und österreichischen Entwicklung erkennen. Jedenfalls wiesen die Verfassungstexte weitgehende Ähnlichkeiten auf. Während der formale Aufbau der polnischen Konstitution eine größere Nähe zum deutschen Recht aufwies, fanden sich inhaltlich größere Übereinstimmungen mit der österreichischen Verfassung. Die Verfassung basierte auf den Prinzipien von Republik, Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Die Republik fand ihren obersten Ausdruck im Amt des Staatspräsidenten, der von den zur „Nationalversammlung“ versammelten beiden Kammern des Parlaments gewählt wurde (Art.  39). Auf eine Volkswahl wurde verzichtet. Die Zuständigkeiten des Staatsoberhauptes waren, wie bei indirekt gewählten Präsidenten üblich, eng begrenzt: Er vertrat den Staat nach außen, ernannte Beamte, fertigte Gesetze und Verordnungen aus und führte de jure den Oberbefehl über die Streitkräfte. Seine Amtshandlungen bedurften stets der Gegenzeichnung des Ministerpräsidenten und des zuständigen Ministers (Art. 44). Grundlage des Demokratieprinzips war das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht zur 1. Parlamentskammer, dem Sejm. Die Volksvertretung wurde in einem gemischten Wahlverfahren bestimmt: Während die meisten Abgeordneten nach dem Mehrheitswahlrecht bestimmt wurden, wurde eine Minderheit nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Die gesetzgebende Gewalt lag beim Parlament, wobei dem indirekt gewählten Senat, der Zweiten Kammer, wie in Österreich und Deutschland nur ein aufschiebendes Vetorecht zukam. Weniger klar waren die Vorschriften über die parlamentarische Kontrolle der Regierung: Zwar wurde nach deutschem Vorbild der Gedanke der parlamentarischen Verantwortlichkeit statuiert (Art. 56 f.): Jeder Minister musste zurücktreten wenn ihm die Volksvertretung das Vertrauen entzog (Art. 57). Dagegen war die Auswahl des Ministerpräsidenten nicht näher geregelt: Eine parlamentarische Wahl war ebenso wenig ausdrücklich normiert wie die Mitwirkung des Parlaments bei der Auswahl der Minister. Hier fehlten konkrete Bestimmungen ebenso wie in Deutschland und anders als in Österreich. Die Exekutive – und nur sie – basierte auf dem Grundsatz der Dekonzentration: Verwaltungsbezirke (Wojewodschaften), Kreise und Gemeinden hatten das Recht der Selbstverwaltung (Art. 65 ff.). Ausführliche Bürgerrechte und Bürgerpflichten (Art. 87 ff.) regelten die Rechtsstellung der Bürger im Staat. Dagegen blieben Vorschriften über die Wirtschaft hinter den Regelungen der Weimarer Verfassung zurück.

­ ffentlichen Rechts , 17 (1923/24), S. 289; Sigmund Cybichowski, Die Entwicklung des ö polnischen Staatsrechts in den Jahren 1921–1934. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 28 (1935), S. 527. Zur historischen Betrachtung Jörg K. Hoensch, Geschichte Polens, 3. Auflage Stuttgart 1998, S. 259; Adam Krzeminski, Polen im 20. Jahrhundert. Ein historischer Essay, München 1993; Marian K. Dziewandowski, Poland in the Twentieth Century, New York 1977.

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Die Rechtsstaatlichkeit fand ihren Ausdruck nicht zuletzt in den Normen über die Unabhängigkeit der Justiz. Den Gerichten war die Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entzogen (Art. 81). Die Entwicklung der Verfassung der jungen Republik verlief von Anfang an krisenhaft. So erlangte das neue Verfassungsrecht nur wenig Wirksamkeit im politischen Leben. Zu groß waren die innen- und außenpolitischen Probleme des ungefestigten Staatswesens. Nicht selten, namentlich auf dem Lande des nach wie vor überwiegend agrarischen Staates, bestanden die alten, spätfeudalen und die neuen, verfassungsrechtlich vorgesehenen Machtstrukturen nebeneinander. Sie agierten teils miteinander, teils unabhängig voneinander, nicht selten aber auch gegeneinander. Hinzu kam die führende Rolle des Militärs, das gerade in den Gründungskämpfen die Last der Staatsgründung wesentlich getragen hatte. Seine Loyalität galt weniger der neuen Republik als vielmehr ihrem früheren Befehlshaber Piłsudski. Er nahm bis 1923 hohe Regierungsämter sowie die Position des Oberbefehlshabers der Armee ein. Im Jahre 1926 kam es nach inneren Unruhen zu einem Putsch Piłsudskis, der die Verfassung beiseiteschob und eine neue, auf die Armee gestützte autoritäre Regierung bildete. Er selbst amtierte nur zweimal für wenige Jahre als Ministerpräsident, sonst als Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber. Doch war Piłsudski die politisch dominierende Person. Infolge starken Widerstands bei den Minderheitsfraktionen des Sejm und in der Bevölkerung gelang es aber nicht, die Verfassung von 1921 durch eine neue, autoritäre Konstitution zu ersetzen. Deren demokratische Elemente blieben aber weitgehend Fassade. In der extrem krisenanfälligen Mittellage zwischen der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland geriet das System mit dem Tod Piłsudskis (1935) in eine schwere Krise, bestand aber bis zur deutschen Okkupation (1939) fort. 4.

Tschechoslowakei

Die Tschechoslowakei hatte nach dem Weltkrieg ihre staatliche Souveränität erlangt. Im Unterschied zu Polen war ihr Gebietsbestand vergleichsweise rasch konsolidiert und in den Friedensverträgen von Saint-Germain anerkannt. Mit dem Nachbarstaat vergleichbar war hingegen die recht hohe Zahl von Minderheiten. Die Staatsgründung stand jedoch stark im Zeichen des nationalen Gedankens: Einheit, Einzigkeit und Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk wurden in der Verfassung gleich zu Beginn betont (Art. 3, 4). Von daher waren u. a. Integrationsprobleme mit der großen deutschen Bevölkerungsminderheit, die 28 Prozent ausmachte, von vornherein programmiert. Unmittelbar nach Kriegsende, als die habsburgische Monarchie formal noch bestand, hatte die Tschechoslowakei bereits eine provisorische Verfassung und einen eigenen Präsidenten (Masaryk). Amt und Person des Staatsoberhaupts sollten sich in der Folgezeit als wichtige Integrationsfaktoren erweisen. Die von

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der Nationalversammlung einstimmig verabschiedete neue Verfassung20 basierte auf den Grundgedanken der Einheit des Staates und der Nation. Dieser Gedanke äußerte sich in einem ausgeprägten Zentralismus der Staatsgewalt. Nur das Gebiet der Podkarpatská Rus, dessen Grenzen noch nicht festgelegt waren, sollte eine eigene Volksvertretung haben (Art. 3). Aber auch hier kam es nicht zu einer nennenswerten Autonomie. Die Republik fand ihren Ausdruck in einem starken Präsidentenamt. Der indirekt von beiden Kammern gewählte Präsident (Art. 56) hatte eher weit gezogene Zuständigkeiten. Er sollte nicht nur die üblichen formellen Aufgaben wahrnehmen, etwa völkerrechtliche Vertretung nach außen, Prüfung (Art. 47), Ausfertigung der Gesetze sowie die Ernennung von Beamten (Art. 64). Die Stärke seiner Stellung kam vor allem bei der Regierungsbildung zum Ausdruck: Er bestimmte die Regierungsmitglieder, die dann aus ihrer Mitte den Regierungschef wählten (Art. 70 ff.). Er war berechtigt, an Kabinettssitzungen teilzunehmen und die Regierung einzuberufen (Art. 82 f.). Seine parlamentarische Kontrolle beschränkte sich im Wesentlichen auf das Absetzungsrecht (Art. 75 ff.). Ungeachtet der indirekten Präsidentenwahl war so nahezu das System einer Präsidialregierung verwirklicht. Ein Umstand, welcher der Stabilität des Staates aber infolge der Persönlichkeiten ihres ersten Präsidenten Masaryk und einer gewissen Konsensschwäche im Parlament förderlich war. Der demokratische Gedanke äußerte sich namentlich im Wahlrecht des Volkes. Die Verfassung verwirklichte ein Zweikammersystem aus Abgeordnetenhaus und Senat (Art. 6 ff., 13 ff.). Allerdings war dieses unecht: In­folge des Fehlens föderalistischer Elemente wurden beide Kammern vom ganzen Volk nach der Verhältniswahl gewählt. Unterschiedlich war allein die Wahl­periode: sechs Jahre für die erste, acht Jahre für die zweite Kammer. Unterschiede gab es auch bei den Kompetenzen: Nur das Abgeordnetenhaus kontrollierte die Regierung, der Senat war nur an der Gesetzgebung beteiligt. Hier kamen ihm Vetorechte zu, die allerdings vom Abgeordnetenhaus mit unterschiedlichen Mehrheitsquoren überstimmt werden konnten. Den Rechten und Pflichten der Bürger war ein ausführlicher Abschnitt gewidmet. Die Stellung der Richter und namentlich des Verfassungsgerichts war weit gezogen. Der Rechtsstaat fand seinen Niederschlag nicht zuletzt in der Tatsache, dass dem Verfassungsgericht ein umfassendes Normenkontrollrecht zugewiesen war. Die Entwicklung der Verfassung in der Tschechoslowakei zeichnete sich gegenüber allen anderen hier behandelten Staaten durch eine Besonderheit aus.

20 Vgl. Verfassungsurkunde der tschechoslowakischen Republik vom 29.2.1920, Gesetzblatt Nr. 121. Dazu František Weyr, Der Tschechoslowakische Staat – Seine Entwicklung und Verfassung. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 15 (1922), S. 351; Max Adler, Das tschechoslowakische Verfassungsrecht in den Jahren 1922–1928. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 22 (1929), S. 239; zur Geschichte Victor S. Mamatey/Radomir Luza (Hg.), Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918–1978, Wien 1980; Jörg K. Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakei, 3. Auflage Stuttgart 1992; Freia Anders, Verfassungswirklichkeit und Verfassungskritik in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. In: Gusy, Demokratie, S. 229–262.

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Die konstitutionell niedergelegte Demokratie war mehrfach gefährdet, wurde aber nie preisgegeben. Bis zur deutschen Besetzung 1938 blieb die parlamentarische Republik erhalten. Zu dieser Zeit war das Land fast der einzige demokratische Staat, den es in Mitteleuropa noch gab. Bis dahin erwies sich die starke Präsidialgewalt als ausreichend, den zentrifugalen Kräften in Volk und Parlament entgegenzuwirken. Die Stärke des nationalen Gedankens erwies sich als hinreichend, die Minderheitenprobleme zu bewältigen. Nicht zu verkennen waren allerdings starke separatistische Bestrebungen bei der deutschen Minorität, namentlich seit dem Machtantritt Hitlers. Hier überlagerten sich zwei Tendenzen: die auseinanderstrebenden Kräfte in der Tschechoslowakei und der Expansionsdrang des nationalsozialistischen Deutschland. 5.

Ungarn

Ungarn schlug von Anfang an einen Sonderweg ein. Das Land zählte zu den Gewinnern und Verlierern des Friedens zugleich. Es hatte einerseits seine staatliche Souveränität erlangt. Andererseits war es im Vertrag von Trianon (4. Juni 1920) erheblich dezimiert worden. Nicht weniger als fünf Staaten erhielten über die Hälfte der traditionell ungarischen Gebiete und etwa ein Drittel seiner bisherigen Volksteile. Nach dem Krieg gelang die staatliche Konsolidierung nicht. Während des Interregnums wurde erst eine revolutionäre Volksregierung (Oktober 1918), sodann eine proletarische Diktatur errichtet (März 1919), die im nachfolgenden Bürgerkrieg rumänischen Truppen und mit ihnen verbündeten Emigrantenverbänden unterlag. Diese installierten eine neue Regierung ­(August 1919), die ihre Legitimität aus der Rückkehr zur Verfassung von 1867 zog. Sie sah man fortan als staatsrechtliche Grundlage des neuen, nun souveränen Ungarn an. Es wurde also keine neue Verfassung erlassen, doch ergingen zur Anpassung der alten Ordnung an die neuen Verhältnisse mehrere (einfache) Gesetze, die regelten, was in anderen Staaten Verfassungen bestimmen.21 Theo­ retisch basierte die staatliche Ordnung auf der Basis des monarchischen Prinzips mit der Krone als Trägerin aller staatlichen Rechte und Pflichten. Da aber das habsburgische Kaiserhaus ausfiel, wurde von der Nationalversammlung das

21 Gesetz über die Wiederherstellung der Verfassungsmäßigkeit vom 28.2.1920, Orzagos Törvenytar vom 29.2.1920; Gesetz über die Wahl des Herrn Nikolaus Horthy zum Reichsverweser vom 5.3.1920, Orzagos Törvenytar vom 6.3.1920; Gesetz über das Erlöschen der Herrscherrechte vom 6.11.1921, Orzagos Törvenytar vom 6.11.1921; Gesetz über die Wahl der Reichstagsabgeordneten vom 14.8.1925, Orzagos Törvenytar vom 23.8.1925; dazu Stephan Csekey, Ungarns Staatsrecht nach dem Weltkrieg. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 19 (1926), S. 409; zur Geschichte Jörg K. Hoensch, Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984; Janos Hauszmann, Bürgerlicher Radikalismus und demokratisches Denken im Ungarn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1988, S. 193 ff.; István Szabó, Die beschränkte Demokratie. Ungarn 1920–1944. In: Gusy, Demokratie, S. 295–303.

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Erlöschen der Herrscherrechte, das Recht auf freie Königswahl und zugleich die Vertagung dieser Wahl statuiert. Schon zuvor war der Befehlshaber der siegreichen Bürgerkriegsarmee, Miklós Horthy, durch Gesetz für unbestimmte Zeit zum Reichsverweser bestimmt worden. Er übte die Rechte des abwesenden Monarchen aus. Die Volksvertretung war allein an der Gesetzgebung beteiligt. Sie wurde von den wahlberechtigten Männern nach Wahlkreisen gewählt: Große Wahlkreise bestimmten nach dem Verhältniswahlrecht mehrere, kleine Wahlkreise nur einen Abgeordneten. In Letzteren war die Wahlhandlung noch öffentlich. Parlamentarische Verantwortung der Regierung war unbekannt, stattdessen wurde die konstitutionelle Ministeranklage fortgeführt. Die Grundrechte, namentlich die Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, waren durch Gesetze aus der Zeit unmittelbar nach dem Bürgerkrieg stark eingeschränkt. Die Entwicklung der Verfassung zeigte rasch: Verfassung und Ausführungsgesetze erlangten nur geringe Wirksamkeit. Zu einer eigenen Verfassungsrechtswissenschaft kam es kaum. Die autoritär regierende Führung unterdrückte mithilfe der Staatsschutzgesetze demokratische und sozialistische Bewegungen, soweit sie die bestehende Regierungsform infrage stellten. Es gelang Horthy in den 1930er-Jahren, sich mit den rasch aufsteigenden Rechtsextremen zu arrangieren. In Anlehnung an Hitler-Deutschland hielt er sich bis Ende 1944 im Amt.

VI. Vergleich Die Darstellung der Einzelstaaten hat manche Unterschiede, aber auch einige Parallelen aufgezeigt. Am Ende des Niedergangs der demokratischen ­Republiken in Mitteleuropa stand die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, welche den halben Kontinent verwüsten und über 50 Millionen Tote durch Krieg, Kriegsverbrechen und den nationalsozialistischen Völkermord an Juden und an anderen Bevölkerungsgruppen hinterlassen sollte. Hier stellte sich gleich nach 1945 die Frage nach den Ursachen. Aus verfassungsrechtlicher und verfassungstheoretischer Sicht lässt sich fragen: Haben die Verfassungen versagt? Oder hatte das Versagen seine Ursachen in hinter der Verfassung liegenden politischen, ökonomischen oder sozialen Gründen? Angesichts der Unterschiedlichkeit der geschilderten Verfassungen liegt der Eindruck nahe: Wenn die unterschiedlichen Verfassungen in nahezu allen dargestellten Staaten nicht in der Lage waren, die Krise der Demokratie zu stoppen, so spricht viel dafür, dass die Verfassungen nicht sämtlich mangelhaft waren. Deshalb soll hier die verfassungstheoretische Problematik angesprochen werden: Gibt es politische oder soziale Verfassungsvoraussetzungen, die notwendig sind, damit eine demokratische Republik mittelfristig bestehen kann? Wo der permanente Ausnahmezustand herrscht, kann sich eine Verfassung, die für einen Normalzustand konzipiert ist, nicht entfalten. Aber was ist das Gegenstück zum Ausnahmezustand, eben jener vorausgesetzte

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Normalzustand? Er beschreibt die vom Verfassungsgeber vorausgesetzte, aber nirgends explizierte Summe an Vorbedingungen für die Funktionsfähigkeit der jeweiligen Verfassung. Die teils implizite, teils explizite Diskussion über jene staatsrechtliche Normallage soll im Folgenden näher reflektiert werden.22

VII. Soziale Homogenität als Voraussetzung funktionsfähiger ­Demokratie Schon in der Zwischenkriegszeit wies die deutsche Staatslehre auf die Notwendigkeit sozialer Homogenität im Volk als Voraussetzung funktionsfähiger Demokratie hin.23 Schwieriger zu bestimmen ist allerdings die Frage danach, wie diese Homogenität beschaffen sein muss. Richtig ist zunächst, dass eine möglichst breite soziale Mittelschicht vorhanden sein sollte. Sie darf wirtschaftlich nicht allein vom Staat abhängig sein, vielmehr muss sie ihre wirtschaftliche Basis aus eigener Kraft finden, um zur Staatsgewalt ein soziales Gegengewicht bilden zu können. Wo der Staat der einzige wirtschaftliche Faktor ist, fehlt die annähernd gleichgewichtige soziale Machtverteilung, welche die Staatsgewalt wirksam begrenzen und Demokratie überhaupt erst begründen kann. Die notwendige Homogenität bildet demnach eine solche der Mittelschicht. Eine Homogenität, in welcher die Mehrheit der Bevölkerung im Elend lebt bzw. abzusinken droht, ist eine schlechte Basis für die Demokratie. Hier besteht auch die Gefahr, dass Gegner dieser Staatsform mit wirtschaftlichen oder sozial­en Argumenten die Zustimmung der Mehrheit erlangen und damit die Demokratie paralysieren oder abschaffen können. Weiteres Element der Homogenität ist insbesondere, dass die Bevölkerung nicht durch einzelne Gegensätze existenziell gespalten ist. Eine solche Spaltung kann etwa durch konfessionelle, ethnische oder sozioökonomische Gegensätze entstehen, welche die Gesellschaft in zwei oder mehr Lager einteilt. Dies kann dazu führen, dass alle Bürger ihr politisches Verhalten allein von ihrer Lagerzugehörigkeit abhängig machen. Diese totale Identifikation mit einem Lager führt zur Herrschaft einer homogenen Gruppe über andere, also nicht zu ei22 Dies ist bislang in der deutschen Verfassungstheorie kaum geschehen. Es gibt noch nicht einmal einen etablierten Begriff, der das hier als „Normallage“ bezeichnete Phänomen umschreiben könnte. Bekannt ist aber folgendes Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht – Staat – Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berlin 1991, S. 112. Was dort für den „freiheitlichen, säkularisierten Verfassungsstaat“ gesagt wurde, gilt ganz besonders für die Demokratie, welche die Zustimmung ihrer Bürger nicht erzwingen kann. 23 Unterschiedlich akzentuiert bei Heller, Staatslehre, S. 181; Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht. In: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Auflage Berlin 1994, S. 119, 138; Hans Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, 2. Auflage Tübingen 1929, S. 66 ff.; Schmitt, Verfassungslehre, S. 234 f. Schon früher Georg Jellinek, Das Recht der Minoritäten, Wien 1898, S. 28 f.

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ner gleichberechtigten und annähernd chancengleichen Teilhabe aller Bürger an der Ausübung der Herrschaft. Diese ist jedoch Funktionsbedingung jeder Demokratie. Das heißt nicht, dass konfessionelle oder ethnische Unterschiede stets demokratieabträglich sein müssen. Demokratie basiert auf Verschiedenheit, nicht auf Uniformität. Optimal ist eine Differenzierung, welche die Bevölkerung in unterschiedliche Gruppen mit heterogenen Merkmalen einteilt: Wenn also Personen, die einzelnen Mehrheitsgruppen angehören, zu anderen Minderheitsgruppen zählen oder aber sich verschiedenen Mehrheits- bzw. Minderheitsgruppen zurechnen. Probleme entstehen hingegen, wo etwa ethnische, wirtschaftliche und soziale Spaltungen entlang derselben oder ähnlicher Bruchlinien verlaufen, sodass es homogene privilegierte und homogene unterprivilegierte Gruppen gibt. Diskutiert wurde in der Zwischenkriegszeit die Frage, unter welchen Voraus­ setzungen ein Volk das erforderliche Maß an Homogenität aufweise. Ein solches kann auch nicht einfach begrifflich vorausgesetzt werden. Die Herstellung von Homogenität und Überwindung gesellschaftlicher Spaltung sind eine ständige Aufgabe der Politik, namentlich der Bildungs-, der Kultur-, der Sozial- und der Wirtschaftspolitik. Diese Aufgabe muss der Staat leisten. Dabei sollte er möglichst mit sozialen Organisationen etwa Religionsgemeinschaften, Parteien, Verbänden usw. zusammenarbeiten.

VIII. Responsivität als Funktionsbedingung der Demokratie Die Staatsform der Demokratie verlangt von den Bürgern ständig Leistungen. Sie sollen Maßnahmen der Staatsgewalt auch dann akzeptieren, wenn sie ihnen nicht zugestimmt haben. Sie sollen dennoch an der Legitimation der Staatsform mitwirken und sie erforderlichenfalls gegen ihre Gegner verteidigen. Und sie sollen an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen, und zwar möglichst auch dann, wenn ihre eigenen Belange nicht unmittelbarer Abstimmungsgegenstand sind. Demokratie bringt für die Bürger nicht nur Vorteile, sondern auch Pflichten. Diese werden die Bürger auf Dauer nur dann tragen, wenn ihnen auch ein erkennbarer Nutzen gegenübersteht. Demokratie darf also nicht nur fordern, sie muss auch etwas bieten. Das gilt umso mehr, als sie die Zustimmung ihrer Bürger nicht erzwingen will und nicht erzwingen kann. Wenn das Volk also zustimmt und seine Leistungen erbringt, so muss die Demokratie ihrerseits Leistungen erbringen. Demokratie ist nicht nur eine Leistung. Sie hat auch ihr Preis-Leistungs-Verhältnis.24 Dieser Gedanke mag auf den ersten Blick überraschen, wird doch gemeinhin bereits das bloße Vorhandensein der Demokratie als ein Wert an sich bezeichnet, der seinen Preis wert sei. Doch ist diese

24 Dies zeigt eindrucksvoll Friedrich Müller, Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie. Elemente einer Verfassungstheorie VI, Berlin 1997.

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Betrachtungsweise jedenfalls vordergründig. Denn ihre unbestreitbaren Leistungen kommen den Bürgern in ganz unterschiedlichem Maße zugute. Dass etwa die Bürger die Regierenden selbst auswählen dürfen, ist für die Regierten nur dann ein Vorteil, wenn die Gewählten die Belange der Wähler überhaupt berücksichtigen. Ein Bürger, der nicht erwarten kann, dass sich auch nur ein einziger von allen Kandidaten für seine Interessen einsetzen würde, hat kaum einen Grund, an der Wahl teilzunehmen. Umgekehrt müssen Kandidaten und Parteien, wenn sie gewählt werden wollen, auf die Interessen der Bürger eingehen. Bloß verbale Bekenntnisse reichen höchstens kurzfristig aus. Und wer nur folgenlose Versprechungen abgibt, wird mittelfristig geringere Wahlchancen haben. Funktionsvoraussetzung der Demokratie ist also ihre Responsivität, also die Bereitschaft von Gewählten, Parteien und Kandidaten, die Wünsche und Interessen der Wähler zur Kenntnis zu nehmen, sich mit ihnen argumentativ auseinanderzusetzen, sie politisch zu vertreten und Niederlagen zu erklären. Es darf in einer Demokratie keine relevante Gruppe geben, die den Eindruck gewinnt, ihre Belange würden von keiner Partei oder Wählervereinigung vertreten. Denn diese Gruppen hätten keinen Grund, ihre Leistungen für die Demokratie zu erbringen. Aus ihrer subjektiven Sicht kann es sogar günstiger sein, für nicht-demokratische Kandidaten oder Parteien zu stimmen, die sich ihrer Belange anzunehmen versprechen.25

IX. Tradition und Stabilität politischer Institutionen als ­Funktionsbedingung der Demokratie Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Zwischenkriegszeit erscheint als Funktionsbedingung der Demokratie auch die Tradition und Stabilität ihrer Institutionen.26 Danach wird eine Ursache des Scheiterns der meisten Verfassungen darin gesehen, dass die nach dem Weltkrieg geschaffene politische Ordnung in den Staaten keine eigene demokratische Tradition besaß. Die Völker verfügten regelmäßig über keine oder nur geringe Erfahrungen mit demokratischen Regeln und Institutionen. Insbesondere der Parlamentarismus war nicht eingeübt. Daher seien an die neue Staatsform nicht zu hohe Erwartungen geknüpft worden, welche diese nicht hätte einlösen können. So sei etwa das Volk nicht daran gewöhnt gewesen, durch selbst gewählte Vertreter auch Verantwortung für Nachteile oder Belastungen tragen zu müssen. Zudem sei die erhoffte ­Prämie

25 Dieser Aspekt ist in Deutschland namentlich von der Regierung Brüning in der Weltwirtschaftskrise nicht ausreichend bedacht worden. Er war einer der zentralen Gründe für den massiven Zustrom von Wählern zur NSDAP in den Jahren 1930–1932. 26 Vgl. Andreas Wirsching, Verfassung und Verfassungskultur im Europa der Zwischenkriegszeit. In: Gusy, Demokratie, S. 371–389; Theodor Eschenburg, Die improvisierte Republik. In: ders. u.a., Der Weg in die Diktatur 1918–1933, München 1962, S. 7.

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für die Einführung der Demokratie gerade in den Staaten ausgeblieben, die den Krieg verloren hatten. Mit der Einführung der neuen Staatsform sei wenig besser geworden, im Gegenteil: Vieles habe sich verschlechtert. Diese Entwicklung sei aber nicht den früheren Monarchien oder äußeren Bedingungen, sondern den demokratischen Republiken zur Last gelegt worden. Insbesondere sei zu selten die Erwartung entstanden, mittelfristig könnten sich die Lebensbedingungen wegen der neuen demokratischen Verhältnisse verbessern. Angesichts der fehlenden Aussicht auf Besserung sei aber auch die Bereitschaft, die vorübergehenden Nachteile zu tragen, gering gewesen. Wo Kriegsniederlage, Staatsbildung und Demokratisierung zeitgleich kamen, sind die neuen Verfassungen vielfach wieder beseitigt worden. Umgekehrt erwiesen sich England und, mit Einschränkungen, Frankreich27 als Hort demokratischer Stabilität.28 Das Vorhandensein demokratischer Erfahrungen und Traditionen verbessert die Chancen der Selbstbehauptung und Durchsetzung der Demokratie. Je stabiler die Institutionen, desto eher waren sie auch in der Lage, Herausforderungen und Krisen wie diejenigen der Zwischenkriegszeit zu bewältigen. Ein wichtiges Element demokratischer Stabilität ist die freiwillige Identifikation der politischen Eliten mit der Verfassung. Wo sich Eliten gegen die Verfassung stellen, haben Republik und Demokratie nur geringe Durchsetzungschancen.29 Das gilt namentlich dann, wenn solche Gegner der Verfassung hohe Ämter in Staat und Regierung einnehmen. Dies zeigte sich an zahlreichen Beispielen: etwa der Indifferenz weiter Teile der Armee und des Mittelstandes gegenüber der neuen Verfassung in Polen und der Übernahme höchster Staatsämter durch Gegner der Republik in Deutschland (seit 1930). Wo sich Angehörige von Traditions- oder Funktionseliten nicht freiwillig auf den Boden einer neuen Staatsform stellen, kann dies nur durch Überzeugung gelingen.30 Dazu bedarf es erkennbarer Leistungen der Demokratie und aus ihnen ableitbarer Argumente für diese Staatsform. 27 Vgl. dazu Christoph Schönberger, Die Krise der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit. Französische Dritte Republik und Weimarer Republik im Vergleich. In: Gusy, Demokratie, S. 263–280; Thomas Raithel, Krise und Stabilisierung des Parlamentarismus in Frankreich 1918–1926. In: Wirsching, Herausforderungen, S. 87. 28 Doch war die neue Staatsform auch in den jungen demokratischen Republiken nicht zum Untergang verurteilt. Das Beispiel der Tschechoslowakei zeigt, dass es nach dem Weltkrieg auch ohne demokratische Traditionen und Erfahrungen möglich war, eine lebensfähige demokratische Republik aufzubauen. Unentbehrliche Funktionsbedingungen waren also auch damals tradierte Regeln und Erfahrungen mit der Demokratie nicht. 29 Zu Krisenerscheinungen am Beispiel Englands vgl. Karina Urbach, „Moscow in Making War on England“. Politische Ängste und antidemokratische Konzepte britischer Eliten in der Zwischenkriegszeit. In: Gusy, Demokratie, S. 144–154. Zu England vgl. Matthias Reiß, Staat, Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit in Deutschland und Großbritannien in den 1920er- und 1930er-Jahren. In: Wirsching, Herausforderungen, S. 169. 30 Dies hat in Deutschland die Unterscheidung zwischen den relativ wenigen Politikern und Intellektuellen, die sich aus politischer Gesinnung auf den Boden der Republik gestellt haben („Herzensrepublikaner“), und denjenigen, die dies aus vernunftmäßigem Kalkül taten („Vernunftrepublikaner“), gezeigt. Dazu Andreas Wirsching/Jürgen Eder

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Verfassungen der Zwischenkriegszeit

X.

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Selbsterhaltung der Demokratie durch Verfassungsrecht?

Insbesondere in der Zeit nach 1945 ist eine weitere Funktionsbedingung der Demokratie diskutiert worden. Sie betraf tatsächliche oder vermeintliche Mängel der Verfassungen, vor allem der Weimarer Verfassung.31 Die ­Verfassungen seien nicht in der Lage gewesen, die neuen Demokratien stabil zu organisieren. Insbesondere hätten sie die Elemente der Mitbestimmung des Volkes und der demokratischen Rechtfertigung überbetont. Hingegen hätten sie Stabilität von Parlament und Regierung nicht ausreichend gesichert. Die Kritik richtet sich zum Teil gegen ein Verhältniswahlrecht ohne einschränkende Elemente; fehlende Sperrklauseln für den Einzug von Parteien in die Volksvertretung; ein unbegrenztes Recht des Parlaments, der Regierung das Vertrauen zu entziehen; das zu weitreichende Recht der Exekutive zur Auflösung des Parlaments; das teils zu eng, teils zu weit gefasste Staatsschutz- bzw. Notstandsrecht der Verfassungen und schließlich die mehr oder weniger unbegrenzte Befugnis zur Abänderung oder Aufhebung der Verfassungen. Hier kann und soll nicht geklärt werden, ob solche Kritik wirklich berechtigt war. Auffällig ist, dass sich die Kritik stark an der Ausgestaltung der Weimarer Verfassung orientiert und andere Verfassungen weitgehend ausblendet. Dabei herrschte unter den mitteleuropäischen Verfassungen, die hier dargestellt worden sind, nicht Uniformität, sondern Vielfalt. Aufschlussreich ist, dass unterschiedliche Ausgestaltungen – etwas mehr oder etwas weniger Parlamentarismus, mehr oder weniger Verhältniswahlrecht – das Scheitern der Verfassungen nicht verhindert haben. Im Gegenteil: Trotz differierender Ausgestaltung der Konzepte von Demokratie und Parlamentarismus sind die Verfassungen in insgesamt 14 europäischen Staaten untergegangen.32 Aus vergleichender Sicht erscheint die introvertierte deutsche Diskussion daher wenig plausibel. Gewiss können demokratische Republiken durch ihre Verfassungen mehr oder weniger funktionsgerecht ausgestaltet sein. Dadurch kann die Staatsform tendenziell stabilisiert oder destabilisiert werden.33 Eine andere Frage ist, wie (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008; kritisch zu dieser Differenzierung Christoph Gusy, Vernunftrepublikanismus in der Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Republik. In: Wirsching/ Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus, S. 195. 31 Zur Diskussion im Parlamentarischen Rat vgl. Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Republik zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, 3. Auflage Berlin 1999. Kontrovers Gerd Roellecke, Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung. In: Der Staat, 35 (1996), S. 599; dazu auch Horst Dreier, Rechtskolumne. Die drei gängigsten Irrtümer über die Weimarer Reichsverfassung. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 63 (2009) 727, S. 1151. 32 Vgl. Christoph Gusy, Verfassungsumbruch bei Kriegsende. In: ders., Demokratie, S. 15, 17–45. 33 Zum Thema vgl. Martin Morlok, Demokratische Verfassungen. Leistungsmöglichkeiten und Grenzen. In: Gusy, Demokratie, S. 390–416; zu Wert und Wirkung der WRV für die Demokratie vgl. Die Weimarer Verfassung. Hg. von Friedrich-Ebert-Stiftung, Erfurt

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weit der Selbstschutz von Republik und Demokratie durch Recht reichen kann und reichen darf. Als Ausgangspunkt kann festgehalten werden: Gegen eine gewaltsame Revolution oder einen Putsch – wie in Polen oder in Österreich – kann sich keine Verfassung schützen. Umgekehrt gilt auch: Gerade demokratische Staaten müssen die Zustimmung ihrer Bürger voraussetzen. Wenn das Volk keine demokratische Regierung mehr will und deshalb eine andere Staatsform wählt, gerät die Demokratie zwar nicht an ihre juristischen, wohl aber an ihre sozialen Grenzen. Was der demokratische Souverän nicht will, kann eine demokratische Verfassung ihm nicht vorschreiben. Auch in diesem Sinne sind rechtsstaatliche Demokratien „riskante Ordnungen“.34 Eine Verfassung kann demnach den Willen des Volkes zur Demokratie zwar fördern, aber nicht ersetzen. Selbstschutz der Demokratie ist wichtig, aber langfristig gegen den Willen des Volkes unmöglich. Damit ist die Selbsterhaltung der Demokratie primär eine politische und erst sekundär eine juristische Aufgabe. Daher wäre es zu oberflächlich, aus der größeren Stabilität der europäischen Verfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg auf die höhere Qualität ihrer Verfassungen zu schließen. Sie konnten sich in vergleichsweise ruhiger Atmosphäre entwickeln und waren derart intensiven ökonomischen, sozialen und politischen Herausforderungen, wie sie die Zwischenkriegszeit mit sich brachte, bislang nicht ausgesetzt. Die Leistungsfähigkeit des Rechts zur Selbsterhaltung einer Demokratie ist nach 1945 bislang glücklicherweise noch nicht ernsthaft auf die Probe gestellt worden.

2009, mit aufschlussreichen Anmerkungen zur Wahrnehmung der WRV in Südamerika von José Martinez-Soria, Daheim geschmäht – im Ausland geachtet. Die Rezeption der Weimarer Verfassung in Lateinamerika, S. 265–281. 34 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung. In: Rechtswissenschaft 1 (2010) 1, S. 11–38.

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Democratic Spells in Interwar Europe – the Borderline Cases Revisited Jørgen Møller / Svend-Erik Skaaning

I. Introduction Since the advent of modern democracy there has only been one large-scale demo­cratic rollback in the overall tally of democracies.1 This rollback took place in a hugely interesting context, that of interwar Europe. Interwar Europe is charac­terized by a fascinating variation in a series of socio-economic, cultural, and political factors, all wrapped up in a particular region with a limited number of ­countries.2 That the issue of democratic breakdown and survival in interwar Europe has been subjected to a number of comparative studies is therefore unsurprising.3 However, these comparative studies have been burdened by a particular problem: the relatively poor quality of cross-national data on regime change. The only four extant democracy measures covering the interwar period4 are

1 2 3

4

See Jørgen Møller/Svend-Erik Skaaning, Democracy and Democratization in Comparative Perspective. Conceptions, Conjunctures, Causes, and Consequences, London 2013, Chapter 5. Cf. Dirk Berg-Schlosser, Introduction. In: Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (eds.), Authoritarianism and Democracy in Europe, 1919–39. Comparative Analyses, Hampshire 2003, pp. 1–39. See Berg-Schlosser/Mitchell (eds.), Authoritarianism and Democracy in Europe, 1919– 39. Comparative Analyses; Nancy Bermeo, Ordinary People in Extraordinary Times. The Citizenry and the Breakdown of Democracy, Princeton 2003; Giovanni Capoccia, Defending Democracy. Reactions to Extremism in Interwar Europe, Baltimore 2005; Christoph Gusy, Auf dem Weg zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichte der Zwischenkriegszeit – Ein Tagungsbericht. In: Id. (ed.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, pp. 417–439; Lauri Karvonen, Fragmentation and Consensus: Political Organization and the Interwar Crisis in Europe, Boulder 1993; Gregory M. Luebbert, Liberalism, Fascism, or Social Democracy. Social Classes and the Political Origins of Regimes in Interwar Europe, Oxford 1991; Richard Overy, The Inter-War Crisis 1919–1939, New York 1994; Dietrich Rueschemeyer/Evelyne H. Stephens/John Stephens, Capitalist Development and Democracy, Chicago 1992. See Carles Boix/Michael K. Miller/Sebastian Rosato, A Complete Data Set of Political Regimes, 1800–2007. In: Comparative Political Studies, 46 (2012), pp. 1523–1554; Michael Bernard/Timothy Nordstrom/Christopher Reenock, Economic Performance, Institutional Intermediation, and Democratic Survival. In: Journal of Politics, 63 (2001)

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Jørgen Møller / Svend-Erik Skaaning

out of sync with each other and with respect to a number of countries they also fit poorly with the descriptions of regime change we find in more qualitative overviews of democratic breakdowns.5 This is somewhat surprising considering that most of these measures are based on a crisp distinction between democratic breakdown and survival. One would imagine that the relatively modest ambitions of these datasets make for high validity and reliability. The datasets do indeed display consensus with respect to the status of the countries that entered the interwar period with a substantial pre-World War I democratic legacy. These were the “old” democracies of Northwestern Europe and they were consistently democratic up until the outbreak of World War II. However, as Michael Mann6 points out, in this period, there were “two Europes”. The second Europe was made up of the new democracies in Southern, Central, and Eastern Europe. And with respect to this cluster of countries, we find some stark incongruities both among the extant datasets and when comparing these to other attempts to provide general accounts of interwar regime change. As we show below, no less than eight European countries are scored in strikingly different ways and therefore make up what we term borderline cases of demo­cracy in the interwar period. In this article, we revisit these cases in order to set the record straight. Our reassessment is based on a thorough review and discussion of the qualitative, country-specific accounts of historians and social scientists working on interwar Europe. Instead of merely scratching the surface – as many coders of cross-national datasets have done due to the large number of cases that had to be coded – we establish a more valid scoring of these borderline cases based on a deeper acquaintance with the relevant historiography. Our vantage point is a minimalist, Schumpeterian definition where democracy is solely equated with competition among leadership groups that vie for a relatively broad electorate’s approval during recurring elections.7 Thus, our scoring is not premised on fully free and fair elections, high respect for the political liberties of freedom of speech and association, and equal and universal suffrage.8 All that is required to pass the bar is genuine competition over political power based on elections which are regularly repeated.9 This can be translated into two more particular requirements:

5 6 7 8 9

3, pp. 775–803; Ted Robert Gurr/Keith Jaggers/Monty Marshall, The Polity IV Pro­ject. Political Regime Characteristics and Transitions, 1800–2012 – Dataset Users’ Manual, 2013 (http://www.systemicpeace.org/inscri/p4manualv2012.pdf); Tatu Vanhanen, Democratization. A Comparative Analysis of 170 Countries, London 2003. See, e.g. Bermeo, Ordinary People; Capoccia, Defending Democracy. Cf. Michael Mann, Fascists, Cambridge 2004, Chapter 2. See Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, London 1974 (1942). Cf. Robert A. Dahl, Democracy and Its Critics, New Haven 1989. See Michael E. Alvarez/José A. Cheibub/Fernando Limongi/Adam Przeworski, Democracy and Development. Political Institutions and Well-Being in the World, New York 2000, pp. 16–18; Jørgen Møller/Svend-Erik Skaaning, Regime Types and Democratic Sequencing. In: Journal of Democracy, 24 (2013) 1, pp. 142–155.

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Democratic Spells in Interwar Europe

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– With respect to elections, what matters is whether violations reach a level where competition – the potential possibility of incumbents losing the elections to opposition parties and the powers-that-be accepting the results – is absent, i.e., whether what Adam Przeworski et al. term ex post uncertainty and ex ante irreversibility are a reality or not.10 – With respect to the designation of government, what matters is whether the executive power is either directly responsible to the electorate or indirectly responsible via approval in parliament. There are two virtues of using such a minimalist definition. First, and theoretically, it arguably captures the most important distinction between different political regimes, to wit, the distinction between regimes were power is accessed via genuine competition based on recurring elections with contending parties and regimes where no such genuine competition exists, whether or not there are recurring elections and contending parties. A number of scholars have identified this as the crucial distinction both with respect to causes and consequences of democracy.11 Second, and empirically, all else equal the difficulty of categorizing an empirical case correctly increases as the definition is augmented with additional attributes. The more minimalist the definition, the lesser the risk that we miscode particular cases and thereby establish erroneous similarities or differences across cases.12 Upon inspection, it turns out that some of the borderline cases are difficult to categorize even based on such a minimalist definition. To reflect that these cases are borderline cases in an even more literal sense, we propose both a preferred coding and an alternative coding grounded in our review of the secondary sour­ces. However, other cases are easier to make sense of and our article therefore serves to establish with greater confidence which countries were democratic in interwar Europe and, if so, when they obtained this status. Furthermore, we identify a number of shorter spells of democracy, sometimes interspersed with undemocratic spells, which have largely been ignored by the coders of extant datasets.

10 Cf. Alvarez/Cheibub/Limongi/Przeworski, Democracy and Development, p. 16. 11 See, e.g., Schumpeter, Capitalism, Socialism; Milan Svolik, The Politics of Authorita­ rian Rule, New York 2012; Alvarez/Cheibub/Limongi/Przeworski, Democracy and Development; Boix/Miller/Rosato, A Complete Data Set of Political Regimes. 12 Cf. Giovanni Sartori, Concept Misformation in Comparative Politics. In: American Political Science Review, 64 (1970), pp. 1033–1053; Jørgen Møller, Composite and Loose Concepts, Historical Analogies, and the Logic of Control in Comparative Historical Analysis, unpublished manuscript (2014).

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II.

Jørgen Møller / Svend-Erik Skaaning

Extant Datasets Compared

We have identified four indices and a general overview that attempt to score interwar patterns of regime change based on categorical differences between democratic survival and breakdown. The first is Michael Bernhard et al.’s dataset.13 Bernhard et al.’s scoring is premised on Robert A. Dahl’s concepts of competitiveness and inclusiveness.14 It includes four criteria: that the poli­tical regime is characterized by competitive elections without vote fraud affecting the general outcome; the absence of extensive or extreme violence that inhibits voters from expressing themselves; that there is no banning of political parties representing a substantial portion of the electorate; that suffrage is extended to at least 50 percent of adult citizens. The second measure is the recently introduced Complete Data Set of Political Regimes constructed by Carles Boix et al.15 It identifies years when the executive is directly or indirectly elected in popular elections and is directly responsible to voters or to an elected legislature; when the legislature (or the executive if elected directly) is chosen in free and fair elections; and when a majority of adult men have the right to vote. The third is the well-known Polity IV dataset.16 This measure builds on indicators on executive recruitment, political competition, and executive constraints that reflect the presence of institutions and procedures through which citizens can express effective preferences about alternative policies and leaders, on the one hand, and the existence of institutionalized constraints on the exercise of power by the executive, on the other. It follows from these requirements that the extent of suffrage only enters the Polity IV codings to a minor extent. Countries are scored on a 21-point polity scale, ranging from −10 to 10. We use the standard procedure, suggested by the people behind the Polity measure, to distinguish between democracies and non-democracies, i.e., a polity scoring at least 6 on the polity scale is considered democratic. The fourth measure is Tatu Vanhanen’s dataset on democracies.17 His measure is a fine-grained scale, constructed by multiplying the ratio of opposition seats in parliament with the level of electoral participation. We use Vanhanen’s own threshold to make a distinction between democracies and autocracies. To qualify as democratic, a case needs to score at least 30 percent on the Competition indicator, at least 10 percent on the Participation indicator, and at least 5 on the Index of Democracy.

13 14 15 16 17

Cf. Bernhard/Nordstrom/Reenock, Economic Performance. Cf. Robert A. Dahl, Polyarchy: Participation and Opposition, New Haven 1971. Cf. Boix/Miller/Rosato, A Complete Data Set. Cf. Gurr/Jaggers/Marshall, The Polity IV Project. Cf. Vanhanen, Democratization.

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Democratic Spells in Interwar Europe

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We supplement these datasets with a general overview constructed by Nancy Bermeo.18 Unfortunately, Bermeo does not link her coding to an explicit definition of democracy or particular coding criteria so it is difficult to establish whether disagreements with her overview are due to differences in the definitions of democracy. Table 1 presents a general overview of the years between 1918 and 1939 for which European countries figure as democracies according to these sources. As already mentioned, there is a lot of agreement among the datasets. Virtually all the “old” democracies of Northwestern Europe produce little in the way of incongruities. Only France and Switzerland stick out in the data provided by Bern­ hard et al.19 and this is solely because they did not introduce universal (female) suffrage until after World War II. Moreover, as illustrated in Table 1, a number of “new” democracies, such as Czechoslovakia, Estonia, Poland, and Ireland, are scored in consistent ways across the five accounts. The small differences we find between the codings of these cases are mainly due to the fact that some datasets score countries based on the status at the beginning of a year whereas others choose the ending of a year to categorize. The year of a democratic transition or a democratic breakdown therefore sometimes differs. For instance, in the polish case some datasets code 1918 as the first democratic year whereas others opt for 1919. Similarly, in the Czechoslovak case some datasets identify 1938 as the year of breakdown with others opting for 1939. However, in more than a handful of cases, there is no consensus about whether democratic breakdowns occurred at all. Most conspicuous are the salient disagreements with respect to the scoring of six countries: Bulgaria, Italy, Lithuania, Portugal, Romania, and Yugoslavia. Bermeo considers all of these six countries democratic at some point in the interwar period.20 The other accounts only assign a democratic status to some of these cases and, for several of the cases, the years tallied as democratic differ. On top of this, Spain and Finland also stand out because the Polity IV scores indicate that they experienced democratic breakdowns in 1923 and 1930, respectively, while the other accounts only identify a democratic collapse in Spain at the time of the civil war (1936–1939) and score the Finnish case as a democratic survivor throughout the period in question. Several of the inconsistencies that emerge in Table 1 are due to the fact that the distinctions are based on different conceptions of democracy. As mentioned above, some of the overviews are based on different suffrage criteria. Even

18 Cf. Bermeo, Ordinary People in Extraordinary Times, p. 23; cf. Berg-Schlosser/­Mitchell, Authoritarianism and Democracy. Bermeo’s overview is almost identical to those provided in other comparative overviews of democratic breakdowns in the interwar years, e.g. those of Capoccia, Defending Democracy; Gusy, Auf dem Weg; Stephen Lee, The European Dictatorships 1918–1945, London 1994; and Overy, The Inter-War Crisis. 19 Cf. Bernhard/Nordstrom/Reenock, Economic Performance. 20 Cf. Bermeo, Ordinary People in Extraordinary Times.

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Italy

1922–1939

Ireland

1919–1922

1922–1939

1926–1936

1926–1936

1918–1939

Greece

1919–1939

Finland

1919–1934

1919–1933

1919–1934

Estonia

1918–1939

1919–1933

1918–1939

Denmark

1918–1939

Germany

1920–1939

Czechoslovakia

1918–1939

1919–1920

Bulgaria

1918–1939

1920–1933

Boix et al.

France

1920–1939

1919–1933

Austria

Belgium

Bernhard et al.

Country

1921–1939

1926–1936

1919–1933

1918–1939

1918–1930

1919–1933

1918–1939

1918–1939

1918–1939

1920–1933

Polity IV

Vanhanen

1919–1925

1922–1939

1924–1936

1919–1934

1918–1939

1918–1939

1919–1934

1918–1939

1920–1939

1918–1939

1919–1934

Table 1: European countries identified as democracies by different datasets, 1918–1939

1919–1922

–1939

1926–1936

1919–1933

–1939

–1939

1919–1934

–1939

–1938

1919–1923

–1939

1919–1933

Bermeo

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Yugoslavia

1921–1929

1918–1939

1918–1939

United Kingdom

1918–1939 1918–1939

1919–1939

Sweden

1931–1937

1918–1926

1918–1926

1918–1939

1918–1939

1920–1926

1920–1934

Switzerland

1931–1936

Spain

Romania

Portugal

1919–1926

Poland

1919–1939

Netherlands

1918–1939

1920–1926

Lithuania

Norway

1922–1934

Latvia

1918–1939

1918–1939

1918–1939

1918–1923, 1931–1939

1918–1926

1918–1926

1918–1939

1918–1939

1920–1934

1920–1929

1918–1939

1919–1939

1918–1939

1931–1939

1919–1926

1918–1939

1918–1939

1920–1926

1920–1934

1920–1929

–1939

–1939

–1939

1931–1936

1919–1938

1919–1926

1919–1926

–1939

–1939

1920–1926

1920–1934

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146

Jørgen Møller / Svend-Erik Skaaning

­ isregarding the “old” democracies of France and Switzerland with no female d suffrage, seven of the controversial cases highlighted were not characterized by universal adult suffrage in the interwar period. In fact, only one of the disputed cases, Finland, had introduced universal suffrage before the end of World War I.21 That said, different suffrage criteria are obviously not the sole reason for the disagreements as indicated by the fact that Polity IV, although considering Spain as democratic from 1918 to 1923, is one of the most restrictive datasets even though it does not take the extension of suffrage into account. Moreover, Bernhard et al.22 – the most restrictive in terms of assigning democratic status to the interwar European cases – consider Bulgaria 1919–1920 as democratic, which the other indices do not. One reason for these disagreements might be that the basic understanding of competitiveness differs across the datasets. Another possibility is that some of the cases have been miscoded in some of the datasets. The suspicion about miscoding is supported by the relatively long democratic spells that we find in all columns of Table 1. Apart from the Italian democra­ tic breakdown in 1922, there is only one instance of a short post-World War I democratic spell, namely Bernhard et al.’s aforementioned scoring of Bulgaria 1919–1920 as democratic. This runs counter to an established point in the historiography of especially East-Central Europe between the wars, namely that a virtually ubiquitous, genuine democratic competition in the immediate aftermath of World War I was repeatedly suffocated when the popularly elected governments began to threaten elite interests.23 If correct, this would indicate that many datasets have been too quick to either deem most of the 1920s a democratic spell or as constantly undemocratic, instead of appreciating the possibility of shorter democratic spells discontinued or interspersed by undemocratic spells. We return to this observation below. In what follows, we revisit the eight borderline cases to create more valid categorizations for the interwar period. In most cases, we start with a narrative of the key political developments from 1918 up until World War II, followed by a discussion about the status of the political regimes. We concentrate on the pe­riods of which there is debate about the democratic status of each country.

21 Indeed, it was the first European case to do so, in 1906, i.e., in a period when the parliamentary principle was not in operation due to tsarist control of the appointment of government in Finland. 22 Cf. Bernhard/Nordstrom/Reenock, Economic Performance. 23 See Alan Palmer, The Lands Between: A History of Eastern Europe, 1815–1968, London 1970; Joseph Rothschild, East Central Europe between the World Wars, Seattle 1974.

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Democratic Spells in Interwar Europe

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III. Bulgaria Competitive elections were held in Bulgaria in the immediate aftermath of World War I. The outcome was a clear defeat for the “bourgeois” parties that had dominated pre-war Bulgarian political life and a corresponding victory for the leftwing anti-war parties. Alexander Stamboliski’s Agrarian Union won 85 of 236 mandates, followed by the Communists with 47 seats, and the Socialists with 38 seats. Stamboliski formed a coalition government, but already in 1920 called for new elections based on compulsory voting (to bring out the peasant vote). The Agrarians increased their vote share dramatically – to 38 percent – but still fell short of a majority. Stamboliski proceeded by annulling the election of 13 ­opposition mandates on technical grounds, turning the Agrarian share into a slim majority of 110 versus 106. New elections were called for again in April 1923 and this time the Agrarians won a large majority (212 out of 245 seats in the legislature). However, this result – in conjunction with Stamboliski’s increasingly aggressive anti-elite policies – drove his enemies, including the Military League of army officers, IMRO (a Macedonian terrorist organization), and the National Alliance (consisting of the old, hitherto dominant parties) to carry out a coup d’état on June 9, with the tacit blessing of Tsar Boris. A multi-party electoral authoritarian regime followed with elections that were not genuinely competitive, held in November 1923 and again in 1927.24 However, new elections in 1931 were won by a successor party to the Agrarians. A coalition government – accepted by Tsar Boris – ensued, but was stopped short by a second military coup in May 1934. In 1935, Tsar Boris seized power himself. After this, there were to be no more democratic experiments in interwar Bulgaria. To what extent do we find democracy, premised in our minimalist definition, in the period reviewed here? The big difference to neighboring Romania (described below) is that the monarch did not play a very active role in politics until 1934.25 The operation of the parliamentary principle is therefore less shrouded in ambiguity and the main problem is to establish whether elections were competitive and their outcome determined who would govern. There is no evidence in the sources we have surveyed that the 1919 elections were systematically violated by the state apparatus. To the contrary, the old regime parties that before the war had been wont to rely on substantial election manipulation were routed. A compelling piece of evidence here is that the

24 Cf. Tatiana Kostadinova, Bulgaria 1879–1946. The Challenge of Choice, Boulder 1995, pp. 56–64; Nikolaj Poppetrov, Flucht aus der Demokratie: Autoritarismus und autoritäres Regime in Bulgarien 1919–1944. In: Erwin Oberländer (ed.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, pp. 379–402, here pp. 385–388. 25 Cf. Misha Glenny, The Balkans: Nationalism, War, and the Great Powers, 1804–1999, London 2001, pp. 438 f.

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Broad Socialists, controlling the Interior Ministry, and as a consequence 52 out of 84 police districts, only came in third in the election. Before the war, holding sway of this position would surely have been capitalized to secure a better outcome.26 Moreover, as a consequence of the electoral outcome, Stamboliski assembled a coalition government with majority backing in parliament.27 With respect to the 1920 election, matters are more complicated. The Agrarians used a paramilitary force, the so-called Orange Guard, to first break a national strike organized by the Communists and then to harass opponents during the elections.28 Gaining more than 38 percent of the popular vote, the Agrarians handily won the election. But they did not achieve an absolute majority. This in itself indicates minimalist competition. However, Stamboliski used his governmental power in several illegitimate ways to first secure and then bolster his victory. To ensure ‘reliable’ local authorities, scores of oppositional municipal councils were disbanded before the elections, and to intimidate voters Stamboliski’s government used coercive measures such as the arrest of opposition activists in municipalities controlled by the Agrarians.29 Next, as mentioned above, Stamboliski subsequently turned his plurality into a majority by having thirteen opposition mandates, including nine communists, three Democrats, and one Progressive Liberal, declared invalid. He did so based on a very selective reading of the election laws, a reading that was not without precedence (it had been employed before the war), but which was based on clauses that had usually not been enforced – and with the measures only targeting opposition members.30 According to Richard J. Crampton, “[t]his, plus the fact that the agrarians had not been averse to the use of pressure during the elections, showed that however much Stamboliski might rail against the iniquities of the old system he was not averse to borrowing some of its more dubious methods”.31 We consider these problems as de facto violations of the principles of uncertainty and irreversibly of elected mandates, therefore rendering Bulgaria undemocratic after the 1920 election. The final set of elections under Stamboliski – in April 1923 – clearly does not pass our uncertainty criterion. This time, there is evidence of even more systematic electoral manipulation. Stamboliski jailed the leading liberal and conservative politicians before the campaign, and

26 Cf. Kostadinova, Bulgaria 1879–1946, p. 44. 27 Cf. Rothschild, East Central Europe, p. 334; Ivan T. Berend, Decades of Crisis: Central and Eastern Europe before World War II, Berkeley 2001, pp. 130 f. 28 Cf. Berend, Decades of Crisis, pp. 130 f.; Frederick B. Chary, A History of Bulgaria, Santa Barbara 2011, p. 59. 29 Cf. Todor Galunov, The 1920 Parliamentary Elections in Bulgaria and Their Violation. In: Bulgarian Historical Review, 3–4 (2009), pp. 115–124. 30 Cf. Galunov, The 1920 Parliamentary Elections, pp. 130–136; John D. Bell, Peasants in Power. Alexander Stamboliski and the Bulgarian Agrarian National Union, 1899–1923, Princeton 1997, p. 224; Chary, A History of Bulgaria, p. 59; Berend, Decades of Crisis, pp. 130 f.; Rothschild, East Central Europe, p. 335. 31 Richard J. Crampton, Bulgaria, Oxford 2007, p. 224.

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the Orange Guard systematically harassed all opposition parties. These violations were effective as the Agrarians secured a landslide victory of 212 mandates against 31 to the opposition, albeit only on the basis of 53 percent of the popular vote.32 Stamboliski’s electoral authoritarian regime was then cut short by the coup on June 9, 1923. However, we find a second potential democratic episode in the early 1930s. Here, an undemocratic government under Lyapchev had to call an election after having lost support in parliament. The new elections took place before a new government was appointed, making it more difficult for a particular party to “arrange” the elections. The sources we have perused agree that the election of 1931 was open33 and “inaugurated the only peaceful and constitutional governmental transition that Bulgaria was to experience in the interwar period”.34 Tsar Boris accepted the outcome and a coalition government under the Democratic leader Malinov formed a cabinet on June 29, 1931. This democratic spell was terminated by the second coup d’état on May 19 in 1934. Accordingly, we consider 1919–20 and 1931–1934 as democratic periods, while 1920–1923 (until the April elections, not the June coup d’état) are fairly close to crossing our threshold.

IV. Romania Universal suffrage for men was introduced in the first Romanian national election after the war, which was held on November 8, 1919. The most influential of the old Romanian parties, the Liberals under Brătianu, conducted the election but lost the vote. Based on the electoral results, a coalition government headed by the Transylvanian Nationalist Vaida-Voevod and incorporating the Peasant Party of the Old Kingdom was formed. After a mere four months, King Ferdinand ousted this government over the issue of land reform. Ferdinand first installed a caretaker government under General Averescu, which conducted – and handily won – the election of May 1920. In December 1921, Averescu fell out with the king and was dismissed. New elections were conducted by the Liberal Party in March 1922, the result of which was a landslide victory for Brătianu. The Liberals proceeded to implement a new constitution in 1923 in which the Crown retained a number of important prerogatives, including the right to dissolve parliament and to dismiss cabinets at will. This was followed up by

32 Cf. Berend, Decades of Crisis, pp. 130 f.; Chary, A History of Bulgaria, p. 65; Crampton, Bulgaria, pp. 232 f.; Rothschild, East Central Europe, p. 340. 33 Cf. Crampton, Bulgaria, p. 241; Nissan Oren, Bulgarian Communism. The Road to Power, New York 1971, p. 8. 34 Rothschild, East Central Europe, p. 347; see also Kostadinova, Bulgaria 1879–1946, p. 65; Nissan Oren, Revolution Administered. Agrarianism and Communism in Bulgaria, Baltimore 1973, p. 13.

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a an electoral “bonus” law on March 28, 1926 which ensured that any party receiving more than 40 percent of the votes would gain a clear majority. The Liberals dominated Romanian politics – at times heading government, at other times hiding behind frontmen such as General Averescu – until the end of 1928. But on November 10, 1928, the regency (King Ferdinand had died in July 1927) dismissed Brătianu and appointed a National-Peasant government under Iuliu Maniu. New elections took place on December 12, 1928, with Maniu as the clear victor. During his spell in government, Maniu accepted the return of Prince Carol who became king in June 1930. Later in 1930, Maniu and Carol fell out, Maniu was dismissed, and after a short period with another prime minister from the peasant party, Carol proceeded to appoint a new government under the historian Iorga. This caretaker government conducted – and won – new elections on June 1, 1931. After this point in time, Carol was the dominating force in Romanian politics and all subsequent elections were clearly arranged to suit the wishes of the monarch. Was this democracy according to our minimalist standards? If we look at the interwar period as a whole, the answer is clearly no. The evidence we have processed agrees that most interwar Romanian elections were arranged. Having dismissed a particular government, the king or regency would normally designate a new government which conducted elections. This gave the caretaker government an enormous advantage, and the usual pattern was that it won landslide victories. The result of some of these elections is almost a caricature: General Averescu swept the elections of March 15, 1920 with a brand new People’s party; in the March 1922 elections, the Liberal caretaker government increased their tally of seats from 17 to 260, while Averescu’s tally fell from 209 to 11; in the elections of May 1926, Averescu, again conducting the elections, won 292 mandates whereas the Liberals received 16, a pattern which was turned upside down at the election of 1927 where the now-governing Liberals won 318 seats with Averescu’s party receiving none.35 On top of this, both before and after the implementation of the 1923 constitution, the king had the prerogative and actual ability to dismiss governments at will. So, the general pattern is one of systematical electoral fraud in the absence of parliamentarism.36

35 See Rothschild, East Central Europe, pp. 297–299. 36 Cf. Palmer, The Lands Between, pp. 197–200; Rothschild, East Central Europe, pp. 296– 305; Stephen Fischer-Galati, Twentieth Century Rumania, New York 1970, pp. 35–47; Stephen Fischer-Galati, Romania: Crisis without Compromise. In: Dirk Berg-Schlosser/ Jeremy Mitchell (eds.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–1939. Systematic Case Studies, Basingstoke 2000, pp. 381–395, here pp. 390–393; Keith Hitchins, Rumania 1866–1947, Oxford 1994, pp. 377–414; Mattei Dogan, Romania, 1919–1938. In: Ergun Özbudun/Myron Weiner (eds.), Competitive Elections in Developing Countries, Durham 1987, pp. 369–389; Klaus P. Beer, Zur Entwicklung des Parteien- und Parlamentssystems in Rumänien 1928–1933, Frankfurt a. M. 1983, pp. 175–178.

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However, there is a danger that this general pattern may disguise particular exceptions: short-lived spells of minimalist democracy. Two such episodes are repeatedly singled out in the country-specific literature: the 1919 election and the subsequent Vaida-Voevod cabinet and the 1928 elections and the subsequent Maniu cabinet. Even though the hitherto dominant Liberals seemingly planned to steal the 1919 elections, they were unable to follow through on this design because the administration in Bucharest did not have sufficient infrastructure to control newly incorporated Transylvania (the electoral stronghold of Vaida-Voevod’s Romanian National Party).37 Moreover, “[t]he king was not prepared to risk an open clash with the western powers, and he thus refused to support the Liberals in the e­ lections of autumn 1919, which were thus subject to little official interference”.38 Hence, the elections were – against the design of the ‘incumbents’ – characterized by genuine competition as “the government’s administrative apparatus had failed to deliver an absolute majority to the party running the elections”.39 The elections of December 12, 1928 are also repeatedly singled out as “genuinely free”.40 Whether this is correct is difficult to ascertain with confidence. We lack the suggestive evidence of 1919 – that the government which had a royal blessing and conducted the elections lost. On the contrary, the regency entrusted Maniu with holding new elections, which he won by a landslide, taking 78 percent of the popular vote and a consequent 316 seats.41 This result came a mere year after Brătianu had attempted to close a deal with Maniu, which would give the Liberals 55 percent of the vote and Maniu’s National-Peasants 45 percent of the vote. Had we attempted to assign democratic status to the Romanian case based on objective indicators such as electoral outcomes, the 1928 elections would clearly conform to the prevailing undemocratic pattern. Meanwhile, the regency retained the undemocratic right to dismiss both the cabinet and the parliament at will, and it is therefore problematical that we lack the “least likely” logic of 1919 when the king backed the losing side in an election, but nonetheless appointed a government consisting of the winning side. Had

37 Cf. Hitchins, Rumania 1866–1947, p. 406. 38 Antony Polonsky, The Little Dictators. The History of Eastern Europe since 1918, London 1975, p. 82. 39 Hitchins, Rumania 1866–1947, p. 406; Palmer, The Lands Between, pp. 174, 197; Hans-Christian Maner, Romania’s Parliament in the Interwar Period. In: Id./Sorin Radu (eds.), Parliamentarism and Political Structures in East-Central and Southeastern Europe in the Interwar Period, Sibiu 2012, pp. 137–160, here 144. 40 See Rothschild, East Central Europe, p. 301; Palmer, The Lands Between, p. 200; Fi­ scher-Galati, Twentieth Century Rumania, p. 41; Hitchins, Rumania 1866–1947, p. 414; Polonsky, The Little Dictators, p. 84. 41 Cf. Rothschild, East Central Europe, p. 301; Fischer-Galati, Twentieth Century Rumania, p. 41; Hitchins, Rumania 1866–1947, p. 414.

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one chosen to err on the side of caution, the 1928–1930 episode could have been coded as undemocratic. However, the case for the 1928 elections being competitive rests on a strong agreement in the literature we have processed that they were in fact free. To quote Keith Hitchins at some length: “The elections of December 1928 were the most democratic in Rumanian history, and for the first time the decision of the monarch (the regency) and the choice of the electorate coincided. To be sure, Maniu took the usual pre-election measures. He appointed new prefects in the judete from among the leaders of his party’s local organizations and replaced many communal councils with interim bodies composed of National Peasant supporters. But at the same time, on 19 November, he abolished censorship on all publications and limited the interference of administrative personnel and the police in the voting. The National Peasants were swept into power by an enthusiastic electorate convinced that a new era had begun in the history of their country and that the rights and liberties long promised would finally become a reality.”42

Against this background, we opt for coding both the 1919–1920 and the 1928– 1930 spells as democratic. But hesitations about the 1928 elections can be marshalled in favor of a more restrictive perspective in which only the 1919–1920 episode would be coded as democratic.

V. Yugoslavia In the first two years after the creation of the new Yugoslav state, the Serbian core was fully in charge of government. The only lip-service paid to democracy was the creation of a Provisional National Assembly (March 1919 till November 1920), which was unrepresentative. For instance, it did not include the strong Croatian Peasant Party. Elections to a Constituent Assembly were held on November 28, 1920. This assembly proceeded to create the so-called Vidovdan Constitution of June 28, 1921, which was to be the formal-institutional framework for the political life of Yugoslavia up until the royal coup d’état in 1929. The Constituent Assembly doubled as the first elected parliament. Under the Vidovdan constitution, further elections were held in 1923, 1925 and 1927. The consequent governments were dominated by the two major Serbian parties, the Serbian Radicals and the Serbian Democrats (later split into two). The overshadowing personality was the Radical leader Pašić. But King Alexander also repeatedly weighted in, both with respect to government formation and with respect to policy. Meanwhile, the Slovene and Croatian districts consistently voted for their own parties (the Slovenian People’s Party and the Croatian Peasant Party, respectively), the former dominated by the Catholic minister Korošec, the

42 Ibid.

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latter by the peasant leader Radić, and the Serbian areas in the old Habsburg domains never came round to fully support the Radicals. A series of governments were appointed in the following years. But it is telling that only one government was headed by a non-Serb, namely the short-lived coalition government under the above-mentioned Korošec in 1928. The Serbian dominance was to some extent facilitated by Radić’s refusal to enter regular parliamentary competition, including prolonged episodes when representatives of the Croatian Peasant Party simply boycotted parliament (including the Constituent Assembly). The parliamentary decade was cut short by Alexander’s suspension of the Vidovdan Constitution and the dissolution of parliament and ban on several trade unions and political parties on January 6, 1929. Parliamentary competition, shifting governments, royal meddling, and regular boycotts of parliaments by opposition parties: Was this democracy according to our minimalist formula? We have already seen that the dominant datasets disagree. Likewise, in the literature we have reviewed we find some strikingly different views on this issue. At one end of the spectrum, Alan Palmer chee­ rily declares that the Vidovdan Constitution was a “fundamentally democratic ­instrument of government, with a single-chamber parliament elected by manhood suffrage and with the principle of ministerial responsibility firmly established. Moreover, Prince-Regent Alexander (who only succeeded to the throne on King Peter’s death in August 1921) honestly desired to act as a constitutional monarch serving as trustee for all his peoples.”43 Less sweepingly, Joseph Rothschild describes most of the period from the election of the Constituent Assembly in 1920 until the coup of 1929 as one characterized by genuine competition for power based on relatively free elections and also characterizes the Vidovdan Constitution as democratic.44 Others have been less sanguine about the interwar Yugoslavian polity. Laslo Sekelj and Mark Bion­dich have virtually the opposite description of Palmer, depicting the Vidovdan Constitution as relatively undemocratic due to royal prerogatives and describing King Alexander as an autocrat-in-waiting.45 Moreover, different accounts testify to irregularities during some or all the elections.46

43 Palmer, The Lands Between, p. 190. 44 Cf. Rothschild, East Central Europe, pp. 213–235; see also Alex N. Dragnich, The First Yugoslavia: Search for a Viable Political System, Stanford 1983, Chapters 2–3. 45 Cf. Laslo Sekelj, Diktatur und die jugoslawische Gemeinschaft – von König Alexander bis Tito. In: Erwin Oberländer (ed.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, pp. 507 f.; Mark Biondich, The Historical Legacy: The Evolution of Interwar Yugoslav Politics, 1918–1941. In: Leonard Cohen/Jasna Drago­vicSoso (eds.), State Collapse in South-Eastern Europe. New Perspectives on Yugoslavia’s Disintegration, West Lafayette 2008, pp. 55 f. 46 Cf. John Lampe, Yugoslavia as History. Twice There Was a Country, Cambridge 1996, p. 136; Rothschild, East Central Europe, p. 124.

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Can we act as an umpire between these starkly different readings of the period? There is no doubt that the Yugoslavian parliamentary system would not survive any threshold based on high integrity of elections and a completely neutral constitutional monarch. All elections were characterized by irregularities, especially in the Southern parts of the country, and these irregularities seem to have increased from election to election. On top of this, the Communist Party, which had done well in the 1920 elections, was outlawed on August 2, 1921. Finally, as already mentioned, King Alexander played an active part in political life throughout the period, but especially after the election of 1925 and the subsequent death (in December 1926) of the political figure who had dominated Serbian politics for more than a generation, namely, the Radical leader Pašić, who “had been the one politician with sufficient authority to block a royal or military dictatorship”.47 However, we can use the “least likely” logic employed in the Bulgarian and Romanian cases to say a bit more about the nature of electoral competition in the surveyed period. The irregularities of the 1920 election notwithstanding, the results bear testimony to the existence of genuine competition. First, and most generally, no political camp received anything in the way of a working majority, the Croatian and Slovene parties swept the Northern district in spite of their opposition to the old Serbian regime in Belgrade, and the Communist party also did well, receiving 12.4 percent of the vote. Second, and more particularly, Pašić’s Radical party, which had dominated the Provisional National Assembly and the interim government, did worse than its main Serbian competitor, the Serbian Democrats (receiving 17.7 percent of the popular vote against 19.9 for the Democrats). This testifies to the nonuse or the inability of the state apparatus to seriously twist electoral outcomes, at least outside of Montenegro and Macedonia, probably due to the ethnic and religious cleavages which tended to create regional bastions for different parties. The Radicals did better in the subsequent elections, but only by coalescing with a splinter party of the Democrats (the so-called Independent Democrats) in the 1925 elections did they achieve an actual majority in parliament, based on 43.4 percent of the popular vote. Meanwhile, the Croatian Peasant Party and the Slovene People’s Party held on to their ethnic bastions in the North. In fact, both parties – though vehemently in opposition to the Serbian core – increased their support in both 1923 and 1925.48 Regarding cabinet responsibility, the Serbian Radicals’ ability to obtain a working majority was enhanced by the Croatian Peasant’s boycott of parliament in some periods and by the imprisonment of Radić and other leaders of the Croatian Peasant Party in other periods. Nonetheless, the clear norm in the

47 Ibid., p. 227. 48 Cf. ibid., pp. 215–224.

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entire “Vidovdan” period of 1920–1929 was that the shifting governments rose and fell as a consequence of their ability to gain support in parliament.49 For instance, in 1924, government rotated between the Radicals and the Democrats (the latter buttressed by the Slovene People’s Party, the Bosniak Muslims, and in a period also supported by the Croatian Peasant Party), after the king had refused Pašić’s wish for new elections in the summer of 1924.50 However, there is a partial exception to this norm. This is the period between the 1925 and 1927 elections when the king meddled more actively than both in the periods 1920–1925 and 1927–1929. First, the king was very active in convincing Pašić’s Radicals to co-opt Radić’s Croatian Peasant Party, in spite of the fact that the Radicals had a working majority with the Independent Democrats.51 Second, on April 17, 1927, King Alexander appointed a government that did not seek a mandate in parliament for the simple reason that it did not stand a chance of obtaining such a mandate. The king proceeded to dissolve the assembly, to allow the new government to function during the spring and summer, and to conduct the elections on September 11, 1927.52 Next, the outcome of the 1925 elections is also suspicious in that the Radical-Independent Democrats coalition, which conducted the elections, received a majority of the mandates. The opposition cried foul,53 and it is clear that the 1925 outcome differs in a qualitative sense from the outcomes of 1920, 1923, and 1927. Though the 1927 elections were also characterized by more irregularities than those in 1920 and 1923,54 we thus find no similar clear-cut victory for a consolidated Serbian core in this election. On top of this, the king seems to have tampered less with the principle of cabinet responsibility in the period between the elections of 1927 and 1929.55 On this basis, our preference is to consider the entire period from 1920 to 1929 as democratic. However, we are open to the notion that the democratic episode was interspersed with an undemocratic spell that began with the 1925 elections and ended with the 1927 election. In any case, we emphasize that the Yugoslav case is notoriously difficult to categorize and that the main reason for genuine competition seems to have been the composite character of the postWorld War I Yugoslav state, which made it much more difficult for singular parties to steal elections and also made it well-nigh impossible for the king to solely invest one particular political camp with government.

49 50 51 52 53 54 55

See, e.g., Dragnich, The First Yugoslavia, pp. 28 f., 30 f., 42, 45–48. Cf. Rothschild, East Central Europe, p. 221. Cf. Dragnich, The First Yugoslavia, Chapter 3. Cf. Rothschild, East Central Europe, p. 228; Dragnich, The First Yugoslavia, p. 46. Cf. Dragnich, The First Yugoslavia, p. 36. Cf. Rothschild, East Central Europe, p. 228. Cf. Dragnich, The First Yugoslavia, Chapters 2–3.

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VI. Portugal Portugal entered the interwar period with a bang, in the form of the assassination of the recently appointed dictator, Pais, in December 1918. An armed conflict between monarchists and republicans ensued. The republicans won the struggle, secured a hold on government, and the major republican party, the Democrats, won an absolute majority in the elections held on May 11, 1919. Soon after taking government power, the Democrats splintered as a Liberal Republican party was formed by some of the more moderate forces in the party. The following years saw an oscillation between unstable Liberal and Democrat cabinets. New elections on July 10, 1921 were won by the Liberal government, but instability continued. The Liberal Prime Minister, Granjó, was killed during an insurrection headed by army officers who were dissatisfied with the dismissal of the Democratic government headed by Pinto. Additional elections were held on January 29, 1922, and this time the Democrats won a majority. The consequent Democrat government – under Prime Minister Silva – lasted from February 1922 to October 1923. It was followed by yet another period of instability, including several short-lived governments headed by army officers. However, from this point up until the coup carried out on May 28 in 1926, the main pattern was one of a succession of short-lived Democrat cabinets.56 Let us take a step back and try to get an overview of the democratic credentials of Portugal between 1918 and 1926. We have already seen that three of the reviewed datasets consider Portugal to be under democratic rule during the entire period from 1919 to 1926. Many indications do indeed speak in favor of Portugal being a minimalist democracy throughout the period. Multiple parties competed in the elections, there was no king to interfere with government formation, cabinet turnover was extremely high, different parties assumed government responsibility, the otherwise dominant republican Democratic Party lost the parliamentary election in 1921 and did not achieve a clear majority in 1922, and the president from 1919 to 1923 was not a Democrat. That said, other pieces of evidence point in a different direction. Most importantly, the multiparty system that we find in the period 1918–1926 was one that revolved around a single dominant party, i.e., the Democratic Party. This party had inherited the pre-war Republican Party electoral machine and it normally held sway of government. This gave it a string of key electoral advantages. First, its closeness to the state apparatus made it the main supplier of patronage, especially in rural areas. Second, it was the only party with a strong and rea-

56 Cf. Stanley Payne, A History of Spain and Portugal, Vol. 2, Madison 1973, pp. 568–570; Douglas Wheeler, Republican Portugal. A Political History 1910–1926, Madison 1978, Chapters 11–12.

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sonably stable national party structure. This facilitated not only its attempt to secure votes during elections, but also its ability to arrange extra-parliamentary street protests – often marked by systematic violence – which were conducive to bringing down presidents or governments not to its liking.57 It is telling that the only elections lost by the Democratic Party were characterized by the Liberal government abusing its grip on the administration to secure an electoral victory through manipulation.58 The upshot of these things was that fair elections were never held in interwar Portugal. Via its formidable political machinery, the Democrats were adept both at silencing opposition parties using threats and violence and at buying votes via local patronage networks.59 This pattern was especially pronounced in rural areas, where Democrats controlled local administration and patronage.60 So, ­despite rampant internal divisions – sometimes producing actual splits – the Democrats remained the dominant party of the system. The party could survive the loss of urban votes exactly because its clientelist machine ensured that the rural vote was garnered and that urban votes could be intimidated.61 The only genuine threat to the Democrats’ hold on power was therefore political intervention by the armed forces.62 Needless to say, these repeated acts of intervention do not enhance the democratic status of Portugal in 1918–1926. On this basis, our main preference is to code the entire period 1918–1926 as undemocratic. This verdict is based on reservation about both the competitiveness of the elections and severe limits to the operation of the parliamentary principle. Regarding the former, the Democratic Party’s electoral machine – based on patronage and violence – suffocated genuine political competition. Regarding the latter, the Democratic Party and its supporters used extra-parliamentary threats and violence. Coupled with recurring military interventions in politics, this means that the fate of cabinets was often not decided in parliament. The result of this combination was instability, political violence, and misgovernment. Democracy in our minimalist conception can coexist with all of these. But this was not the case in Portugal.

57 Cf. Antonio Costa Pinto, Portugal: Crisis and Early Authoritarian Takeover. In: Berg-Schlosser/Mitchell (eds.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–1939. Systematic Case Studies, pp. 354–380, here p. 364. 58 Cf. Wheeler, Republican Portugal, p. 203. 59 Cf. ibid., p. 227; Philippe Schmitter, The Impact and Meaning of ‘Non-Competitive, Non-Free and Insignificant’ Elections in Authoritarian Portugal, 1933–74. In: Guy Hermet/Richard Rose/Alan Rouqié (eds.), Elections without Choice, Basingstoke 1978, pp. 145–168, here p. 150. 60 Cf. Costa Pinto, Portugal. Crisis and Early, pp. 364 f. 61 Cf. ibid., pp. 365–375. 62 Cf. Payne, A History of Spain and Portugal, p. 571.

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VII. Less Problematic Cases: Italy, Finland, Lithuania, and Spain We have seen that there is also significant disagreement with respect to the scoring of Italy, Finland, Lithuania, and Spain across the five accounts presented at the outset of this paper. However, our reading on these cases reveals that it is somewhat easier to make relevant distinctions here. For this reason, we will refrain from producing narratives of political development and will simply describe the lay of the land. Italy clearly had competitive elections up until the fascist takeover in 1922. Furthermore, the principle of cabinet responsibility to parliament was the guiding rule of the political system. In fact, to a large extent the parliamentary principle had operated ever since 1848.63 But until the introduction of universal suffrage in 1913, the political elite had been able to manipulate the elections.64 Even after 1913, the results were not always pretty, partly due to minor irregularities, especially on the local level, but mostly due to the state of flux which, as a consequence of the absence of consolidated political parties, often characterized the ‘shifting sands’ pattern of alliances in parliament. This also tended to give the king a large say “because there were never majority parties in the House upon whom the choice to form a Cabinet had unsuitably to fall”.65 Nonetheless, the erratic character and personalist basis of most Italian governments should not be taken as the expression of an undemocratic regime, at least not according to our minimalist definition. On the contrary, the immediate post-war period exhibits a number of government turnovers, in each case based on the loss of support in parliament.66 In fact, the November 1919 elections are highlighted as the freest in Italy’s history. The Nitti government, which conducted the elections, “declined to use the government’s traditional electoral weapons and had ordered his prefects to remain impartial”.67 The competitiveness was reflected in the result, as the “pre-war parties” lost out to the two new mass parties, the Socialists and the Catholic Popolari. The Nitti government was able to remain in power, but only by securing Popolari support. The 1921 election,

63 Cf. Stefano Bartolini, The Political Mobilization of the European Left, 1860–1980. The Class Cleavage, Cambridge 2007, pp. 346–348. 64 Cf. Stanley Payne, A History of Fascism, 1914–1945, Madison 1995, p. 88. 65 Cf. Samuel E. Finer, Mussolini’s Italy, New York 1935, p. 62; see also Bartolini, The Political Mobilization, pp. 346–348. 66 See Marco Tarchi, Italy: Early Crisis and Fascist Takeover. In: Berg-Schlosser/Mitchell (eds.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–1939: Systematic Case Studies, pp. 294–320; Christopher Seton-Watson, Italy from Liberalism to Fascism 1870–1925, London 1967, pp. 509, 536, 547–550, 559. More generally, the literature we have reviewed repeatedly mentions examples of governments falling after coming in minority in the House. This even goes for Finer (Mussolini’s Italy; see e.g. p. 135) and it runs counter to his assertive claim that “Italy from 1879 to 1922 had a Parliament but no parliamentarism” (ibid., p. 62). This assertion is quite obviously based on a somewhat tacit comparison with the much more consolidated – and well-structured – English party system. 67 Cf. Seton-Watson, Italy from Liberalism, p. 549.

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conducted by Giolitti’s government, was characterized by the renewed use of some of the old (pre-war) tactics to secure votes, especially in the South. But the general outcome of the election virtually mirrored that of 1919, a strong evidence of the existence of genuine competition.68 We therefore code Italy as democratic from the first postwar elections of September 1919 up until Mussolini’s takeover in 1922. In Finland, some would argue that democracy broke down with the anti-communist laws of 1930 or the subsequent clamp-down on the Lapua Movement in 1932. In fact, as mentioned earlier in the paper, one of the datasets surveyed – Polity IV – only scores Finland as a democracy in the period 1918–1930. However, based on our reading, there is little reason to disqualify Finnish democracy in the 1930s. It is not only among extant measures, but also in the case-specific literature that the majority opinion is that Finnish democracy survived throughout the interwar period. The main reason being that genuine electoral competition between contending political camps survived both the 1930 and 1932 occurrences and that – among the parties that remained legal – the parliamentary principle decided who would take charge of government; all of this in the context of high electoral integrity, a consolidated party system, and equal and universal suffrage.69 Coding Lithuania is in some ways even less troublesome than e.g. Italy. The reason for this is that it had no monarch to potentially tamper with the parliamentary principle. The Christian Democratic Party played a dominant role in Lithuanian politics from independence until 1926. However, it mostly shared government responsibility with other groups – both when it had a majority in 1920–1922, and after the party lost its majority in the national elections in October 1922. In May 1926, it finally had to relinquish government power when a number of opposition parties won the national elections and formed a coalition government.70 The literature we have processed gives a clear impression of competitive elections and cabinet responsibility in the period from the election of the constituent assembly in 1920 to the coup in December 1926.71 68 Cf. ibid., pp. 587 f. 69 Cf. Risto Alapuro/Erik Allardt, The Lapua Movement. The Threat of Rightist Takeover in Finland, 1930–32. In: Juan J. Linz/Alfred Stepan (eds.), The Breakdown of Democratic Regimes. Europe, Baltimore 1978, pp. 122–141; Lauri Karvonen, Finland. From Conflict to Compromise. In: Berg-Schlosser/Mitchell (eds.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–1939: Systematic Case Studies, pp. 129–156. 70 Cf. Manfred Hellmann, Litauen zwischen Demokratie und autoritärer Staatsform. In: Hans-Heinrich Volkmann (ed.), Die Krise der Parlamentarismus in Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen, Marburg 1967, pp. 156–167, here pp. 161–164; Stanley V. Vardys, Democracy in the Baltic States, 1918–1934: The Stage and the Actors. In: Journal of Baltic Studies, 10 (1979) 4, pp. 320–336, here pp. 324 f. 71 Cf. Vardys, Democracy in the Baltic States; Raimundas Lopata, Die Entstehung des autoritären Regimes in Litauen 1926. In: Erwin Oberländer (ed.), Autoritäre Regime in Ost­mittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, pp. 95–142; Hellmann, Litauen zwischen Demokratie, pp. 161–164; Georg von Rauch, The Baltic States: The Years of Independence, Berkeley 1974, pp. 79, 120; Rothschild, East Central Europe, pp. 377–381.

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Moving on to the case of Spain between 1918 and Primo de Rivera’s putsch in 1923, the king retained considerable political powers, including the appointment of governments. What is more, the conservatives and the liberals colluded to manipulate election results as they took turns with government power. According to Raymond Carr, this “turno pacífico came into play when a ministry was ‘exhausted’ and the king appointed an alternative ministry of the party in opposition. The minister of the interior of the new ministry could obtain an overwhelming majority for the incoming ministry by a judicious use of the ‘moral influence’ provided by his control, in a highly centralized system, over judges, civil governors, and mayors.”72 The dominant parties were basically “called to office by the king in order to ‘make’ elections for themselves and guarantee themselves a parliamentary majority for several years”.73 What is more, in the national elections in 1923, 146 of 409 seats were assigned without election because there were no official competitors in these electoral districts, and republicans were only ‘allowed’ to hold a maximum of 4 percent of the seats in the legislature.74 Even though elections slowly became more contested in the larger cities, and third parties were increasingly allowed to participate, elections and governments before 1931 never reached the point where one could justify that they reflected the political will of the voting citizens.75 This means that Spain cannot be considered even a minimalist democracy from 1918 to 1923.

VIII. How Do We Know Democratic Competition When We See It? Several of our borderline cases highlight the difficulty of a crisp scoring of democracy, even based on minimalist Schumpeterian criteria. This is probably the place to present some more general considerations about what we have learned with respect to drawing boundaries after having surveyed the borderline cases. How do we know democratic competition when we see it in the interwar period? In the borderline cases we have examined, the only clear evidence is this: opposition parties not favored by the head of state (normally the king) and not in charge of conducting the elections win. The problem is that it is much more difficult to tell when regime-supported parties prevail based on actual competition rather than on stolen elections. The Romanian election of 1928 is one

72 Raymond Carr, Liberalism and Reaction, 1833–1931. In: Id. (ed.), Spain. A History, Oxford 2000, pp. 205–242, here p. 223. 73 Stanley Payne, Spain’s First Democracy. The Second Republic, 1931–1936, Madison 1993, p. 10. 74 Ibid., p. 11. 75 Cf. Walter L. Bernecker, Spain: The Double Breakdown. In: Berg-Schlosser/Mitchell (eds.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–1939: Systematic Case Studies, pp. 396–425, here p. 402.

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Democratic Spells in Interwar Europe Table 2: Spells of minimalist democracy for the disputed interwar cases Cases

Interwar spells of minimalist democracy Preferred coding

Alternative coding

Bulgaria

1919–1920 & 1931–1934

1919–1923 & 1931–1934

Finland

1918–1939

Italy

1919–1922

Lithuania

1920–1926

Portugal Romania

1919–1920 & 1928–1930

Spain

1931–1936

Yugoslavia

1920–1929

1919–1920 1920–1925 & 1927–1929

among several examples of this conundrum, the Yugoslav election of 1925 is another. In this situation, additional evidence is necessary. One way of traversing this testing terrain is to present two different scorings of the borderline cases: one that prioritizes coding some systems that are in fact democracies as non-democracies, and one that prioritizes avoiding coding some systems that are in fact non-democracies as democracies.76 The consequent assignments of democratic status to the discussed cases are reported in Table 2 below. We should make clear, however, that in each of the cases we have a preferred coding, which we find most valid based on the secondary sources we have perused. This is the coding that we inclined to in the discussion of the cases above and it is reported in column the second of the table. But we are open to an alternative coding, also mentioned in the country analyses above, which is the one reported in column the third. This procedure could be extended to some of the remaining cases of interwar Europe, where particularly the timing of breakdown is sometimes disputable based on secondary sources. For instance, some argue that Weimar democracy broke down in 1930 with the introduction of “presidential governments”, whereas others (including all the surveyed datasets) point to the subsequent Nazi Machtergreifung in 1933 as the cutoff-point.

76 See Alvarez/Cheibub/Limongi/Przeworski, Democracy and Development, pp. 23 f.

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Jørgen Møller / Svend-Erik Skaaning

IX. Conclusions In this paper, we have drawn attention to eight cases which have been coded in strikingly different ways in the extant datasets: Bulgaria, Finland, Italy, Lithuania, Portugal, Romania, Spain, and Yugoslavia. To shed light on the disagreements, we have employed a crisp, Schumpeterian minimalist definition which only emphasizes genuine competition for political power via competitive elections. Finland, Lithuania, Italy, and Spain turned out to be relatively easy to code on this basis. Not so with Bulgaria, Portugal, Romania, and Yugoslavia which are definitely borderline cases, given the crisp minimalist definition of democracy we have proposed. As with beauty, whether these cases were democratic is very much in the eye of the beholder. One way of dealing with this is to present two different scores, one the most preferred and the other the alternative one. We have done so, and we suggest that there might be benefits in extending this logic to some of the European cases which the datasets agree on. While this article only deals with descriptive inference, its findings are still of quite some consequence. The disagreements among the extant datasets are not small potatoes. Just to single out one striking incongruity, two of the five accounts we have surveyed do not count Italy as a democracy in the period 1919–1922 and one codes the period until 1925 as democratic, meaning that Mussolini’s takeover of power in 1922 did not represent a democratic breakdown according to any of these accounts. Italy is obviously a crucial case for many theories of democratic breakdown in the interwar period, and the lack of consensus therefore does little to strengthen our confidence in some of the extant findings. More generally, much of what we know about the causes (and consequences) of interwar regime change might be sensitive to changes in coding. Furthermore, all the datasets ignore some interesting trends in the borderline cases, especially the presence of a number of short democratic spells, discontinued by or interspersed with undemocratic spells. There has been little attempt to theorize the causes of these oscillations which were pronounced in the immediate aftermath of World War I. These cases – concentrated in Southern and East-Central Europe – seem to anticipate what has been written about post-communist “pluralism by default”.77 More particularly, in the context of an immediate post-World War I “international liberal hegemony” strikingly similar to the one after 1989–91,78 democracy was established in cases such as Bulgaria, Romania, and Yugoslavia, at least partially because the state apparatus was unable to manipulate elections

77 Cf. Lucan Way, Pluralism by Default in Moldova. In: Journal of Democracy, 13 (2002) 4, pp. 127–141. 78 Cf. Steven Levitsky/Lucan Way, Competitive Authoritarianism, New York 2010.

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in large parts of the country. In Romania and Yugoslavia this seems to have been a consequence of the composite character of the new states, brought about by the incorporation of areas from the politically, administratively, and economically more advanced Habsburg Empire. Seen from this vantage point, the main difference with cases such as Moldova in the 1990s was that the state apparatus, organized around the relatively assertive monarchs of these countries, soon consolidated its power, rooting out the “pluralism by default” in favor of some interwar version of what in the post-communist literature is termed as “dominant-power politics”.79 Taken together, our analysis thus shows that “mere description” serves a number of crucial functions of social science, including getting hold of reality, creating a more valid basis for causal inference, and potentially formulating new hypotheses about regime change.80

79 See Thomas Carothers, The End of the Transition Paradigm. In: Journal of Democracy, 13 (2002) 1, pp. 5–21. 80 See John Gerring, Mere Description. In: British Journal of Political Science, 42 (2012) 4, pp. 721–746.

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Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre als Folge gescheiterter Globalisierung: Nachkriegsfolgen und der Untergang von Demokratien Ekkart Zimmermann

I. Einleitung Man kann die im Titel dieses Beitrags1 angeschnittenen Fragestellungen in sechs Faktorenbündel zu unterschiedlichen Ergebnissen in aufeinanderfolgenden Phasen untergliedern: 1. die Faktoren, die wirtschaftliche Globalisierung im Zeitraum von 1875 bis 1913 begünstigt haben; 2. die Faktoren, die ungeachtet der gestiegenen weltwirtschaftlichen Verflechtungen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beigetragen haben; 3. die Folgen des Ersten Weltkriegs und damit 4. die Entstehung bzw. die Ursachen der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932; 5. die wirtschaftlichen und politischen Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise; 6. deren Ergebnis mit Blick auf das Überleben oder Scheitern von Demokratien.2 Dabei ist aber selbstverständlich auch auf vorhergehende Entwicklungen Rücksicht zu nehmen, vor allem solche in Phase III. Dementsprechend liegt der Schwerpunkt der nachfolgenden Ausführungen auf Phase III bis VI.

1 2

Steffen Kailitz und Uwe Backes danke ich für die kritische Durchsicht und Anregungen, die ich oft nur verkürzt aufgenommmen habe. Unsere bisherigen Arbeiten haben sich auf die Phasen V und VI konzentriert. Vgl. Ekkart Zimmermann, The Puzzle of Government Duration. Evidence from Six European Countries during the Interwar Period. In: Comparative Politics, 20 (1988), S. 341–357; ders., Government Stability in Six European Countries during the World Economic Crisis of the 1930s: Some Preliminary Considerations. In: European Journal of Political Research, 15 (1987), S. 23–52; ders., The 1930s World Economic Crisis in Six European Countries. A First Report on Causes of Political Instability and Reactions to Crisis. In: Paul M. Johnson/William R. Thompson (Hg.), Rhythms in Politics and Economics, New York 1985, S. 84–127; Ekkart Zimmermann/Thomas Saalfeld, Economic and Political Reactions to the World Economic Crisis of the 1930s in Six European Countries. In: International Studies Quarterly, 32 (1988), S. 305–334.

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II.

Ekkart Zimmermann

Ein Phasen- und partielles Kausalmodell: das Scheitern der ­Demokratien in Mitteleuropa als Folge gescheiterter Globalisierung

Typisch für die Phase I der fortschreitenden Globalisierung (1875 bis 1913) sind u. a.: Abbau der Zölle zwischen den wirtschaftlichen Großmächten (Vereinigtes Königreich, USA, Deutschland, Russland, Frankreich), Verringerung der Transportkosten durch den Bau von Dampfschiffen und Frachtern, Eisenbahnlinien, den Kanalbau u. a., Beschleunigung der Informationsdienste durch Telegraf, Telefon und internationale Nachrichtenagenturen sowie vor allem die Etablierung des Gold- bzw. Gold-Devisenstandards. Dabei wurden die Handelsbilanzdefizite durch den Abfluss von Gold (und anderen Währungsgeldern) automatisch beglichen, außenwirtschaftliche Gleichgewichte also vermieden. Dies führte im Empfängerland zu einer leichten Inflation, da nunmehr durch die größere Deckungsmenge in Gold mehr Geld geschaffen werden konnte und die Nachfrage stieg. Umgekehrt schrumpfte, dem Einfuhrüberschuss entsprechend, die Gold- und Geldmenge der Länder. Dies ließ die Preise tendenziell fallen und machte die Staaten schrittweise wieder konkurrenzfähig. Damit setzte eine automatische Handels- und Zahlungsbilanzsaldierung und -sanierung ein. Die internationalen Regeln der Golddeckung in der Verrechnung von Soll und Haben wurden nicht angerührt. Dieser Goldstandard war so erfolgreich, dass das relative Ausmaß der Kapitalinvestitionen im Ausland unter den großen Wirtschaftsnationen (im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) bis heute nicht wieder erreicht worden ist. Mit der Zuspitzung der Aufrüstungs- und Modernisierungswettläufe ab November 1912 in Russland, der britischen Antwort auf die Flottenaufrüstung Deutschlands in den Jahren 1902 bis 1910 und neuen Koalitionsbildungen setzte Phase II, also jene des unmittelbaren Kriegsausbruchs, ein.3 In den Kalkülen der führenden Politiker und mehr noch der Militärs spielten Einkreisungs- und Kontrollmechanismen, Strategien des Präventivkrieges und Überlegungen zur Balancierung des internationalen Kräftegleichgewichts eine

3

Hier sind in der Politikwissenschaft u. a. die Theorien des Machtübergangs (J. Kugler und A. F. K. Organski, The Power Transition. A Retrospective and Prospective Evaluation. In: Manus Midlarsky (Hg.), Handbook of War Studies, Boston 1989, S. 171–194), umgekehrt die Theorie des hegemonialen Abstiegs (Robert Gilpin, War and Change in World Politics, Cambridge 1981; Robert O. Keohane, After Hegemony, Princeton 1984), des offensiven Realismus (John Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, New York 2001), der Multipolarität (Kenneth Waltz, Theory of International Politics, New York 1979, Brendam Simms, Europe: The Struggle for Supremacy. 1453 to the Present: A History of the Continent Since 1500, London 2013) von Bedeutung. Vieles aus diesem Bereich würde die Aussagen der Historiker zum Ersten Weltkrieg stark beleben. Vgl. John A. Vasquez, The First World War and International Relations Theory: A Review of Books on the 100th Anniversary. In: International Studies Review, 16 (2014), S. 623–644; Andreas Wirsching, Die Gegenwart eines alten Traumas. In: Süddeutsche Zeitung vom 16.7.2014, S. 13.

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immer größere Rolle. Die Überschätzung der eigenen Ressourcen im Falle der Mittelmächte, zugleich aber die Furcht, durch Nachrüsten und Modernisieren der russischen Seite und neue feindliche Bündnisse (England, Russland und Frankreich) ins Hintertreffen zu geraten, machen deutlich, warum der Schlieffen-Plan mit der Idee eines „Blitzkriegs“ und einer separaten Kriegsführung im Westen die Köpfe der deutschen Politik und des Militärs beherrschte. Nach dem Scheitern des Zangengriffs um Paris und dem „Wunder an der Marne“, wo die deutschen Truppen durch französische und englische Kräfte gestoppt werden konnten, gab es weder einen Plan B noch erfolgte das frühzeitige Eingeständnis eines Fehlschlags. Der Erste Weltkrieg brachte für die autokratischen, multikulturellen und multi­kolonialen Regime eine vernichtende Niederlage (s. Abb. 1 im Folgenden, Pfad 1–Phase III) Letztlich hatten die demokratischen Länder diesen Krieg gewonnen. Das lag zum einen an ihren überlegenen materiellen Ressourcen, aber auch an ihrer breiteren Legitimationsbasis. Die vergleichende Kriegsforschung geht davon aus, dass Demokratien, ob als Angreifer oder Angegriffener, in Kriegsfällen mehrheitlich als Sieger hervorgehen.4 Russland als autokratischer Verbündeter der Westmächte hatte den Krieg gegen das weniger autokratische Deutschland verloren und musste im Friedensvertrag von Brest-Litowsk 1918 einen Diktatfrieden hinnehmen. Das deutsche Kaiserreich ebenso wie die Habsburgermonarchie sind als Regime mit ihrer Unabhängigkeit der Justiz und zunehmender parlamentarischer Kontrollgewalt keine reinen Vertreter autokratischer Herrschaft. Im Systemvergleich sind sie aber noch am ehesten diesem Typus zuzuordnen. Diese Niederlage im Ersten Weltkrieg führte vor allem für den Hauptverlierer, Deutschland, zu einer großen Wirtschaftskrise, die bis weit in die 1920er-Jahre (Pfad 2) hineinreichte und mit starken nationalistischen Ressentiments einherging. Diese Krise ist geprägt durch die Erschöpfung der Ressourcen, die Demobilisierung der Streitkräfte, die Kosten für die Kriegsopfer, die Destabilisierung der Finanzen durch die gewaltige Steigerung der Staatsausgaben, das Weg­brechen von ausländischen Absatzmärkten sowie schließlich durch die Reparationskosten. Die Reparationen im Vertrag von Versailles betrugen bis 1921 20 Milliarden Goldmark und wurden dann immer wieder neu verhandelt. Verglichen mit anderen historischen finanziellen Herausforderungen, etwa den Kosten der deutschen Einheit nach 1990, sind diese Zahlungen als gering einzuschätzen.5 Zur damaligen Zeit lehnte man jedoch diesen Vertrag mehrheitlich als „Versailler Diktat“ ab. So trugen Niederlage und Wirtschaftskrise zur

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Vgl. Kevin Wang/James Lee Ray, Beginners and Winners: The Fate of Initiators of Interstate Wars Involving Great Powers since 1495. In: International Studies Quarterly, 38 (1994), S. 139–154. Vgl. Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934: Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002.

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Abb. 1: Vier Phasen in der Analyse der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Weltwirtschaftskrise und das Scheitern der Weimarer Republik

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­ olitischen Radikalisierung bei (Pfade 3 und 4). Ferner sind politisch-kulturelle p Faktoren wie die obrigkeitsstaatliche Tradition und die Ablehnung westlicher Werte der Zivilisation zugunsten eines deutschen Sonderwegs anzuführen. Nicht zuletzt, um diese politischen Radikalisierung aufzufangen, dehnte der Weimarer Staat seine Sozialausgaben (Pfad 5) über das vertretbare wirtschaftliche Maß hinaus aus. Dies ist zumindest die These von Knut Borchardt,6 der damit einen starken binnenwirtschaftlichen Faktor für den Ausbruch der Wirtschaftskrise ab 1929 benennt.7 Gebietsabtretungen infolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg (Pfad 6) erfolgten oft unter Verletzung der von Präsident Woodrow Wilson in seinen 14 Punkten aufgestellten Prinzipien der nationalen Selbstbestimmung (Punkte 5 und 9–13). Alte Minderheiten wurden zu neuen Mehrheiten und behandelten die neuen Minderheiten so schlecht, wie sie einst behandelt wurden und oft noch schlechter. Die in vielen Fällen willkürlich festgelegten Grenzen bewirkten die Verteilung von Völkern auf verschiedene Staaten, und dies begünstigte politischen Revanchismus (Pfad 7). Ähnliches lässt sich für die nach der Niederlage diktierten Reparationen (Pfade 8 und 9) sagen. Die Neuaufteilung der staatlichen Gebiete bzw. Neubegründung von Staaten führte zu einer allgemeinen Kleinstaaterei (Pfad 10) mit entsprechenden Zollmauern und eigenständigen Währungen (Pfad 11), also einem entgegengerichteten Schritt zu der vor dem Ersten Weltkrieg erreichten Integration der internationalen Güter- und Finanzmärkte. Ein weiteres Bündel von Faktoren richtete sich auf die außenwirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges. Mit Ländern wie Argentinien, Kanada, Australien und Neuseeland traten neue Agrarproduzenten auf (Pfad 12). Diese investierten ihre Gewinne aus der Lieferung von Nahrungsmitteln an die Entente zum Teil in die Industrialisierung des eigenen Landes und begünstigten damit die spätere Überproduktion im Agrarsektor ab Mitte der 1920er-Jahre und dem Industriesektor zum Ende der 1920er-Jahre. Hinzu kam die Inflexibilität in der angemessenen Aufrechterhaltung der bisherigen weltwirtschaftlichen Währungsordnung, des Goldstandards (Pfad 13). Für ein Funktionieren der im Goldstandard angelegten wirtschaftlichen Austauschmechanismen waren neue Zölle und Beschränkungen in währungspolitischer Hinsicht konträr (Pfad 14). Die Vielfalt der neuen Währungen, die auferlegten Zölle und Handelsrestriktionen und die nicht einsetzende Anpassung

6

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Vgl. Knut Borchardt, Wege aus der Arbeitslosigkeit: Die Diskussion in Deutschland in den frühen dreißiger Jahren. In: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, 1 (1984), S. 6–16; ders., Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Borchardt-These vgl. Albrecht Ritschl, Reparation Transfers, the Borchardt Hypothesis, and the Great Depression in Germany 1929–1932: A Guided Tour for Hard-headed Keynesians. In: European Review of Economic History, 2 (1998), S. 49–72.

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an diese neuen Umstände in einer Weltwährungsordnung, wie sie der Goldstandard noch vor dem Ersten Weltkrieg geboten hat, verschärften die Krise. So kam es in Deutschland infolge der Kriegsschulden und staatlichen Ausgabeninflation in den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1923 zur Hyperinflation (Pfad 15 und 16), die zum Ruin der Mittelschicht beitrug und deren bis dahin gering entwickeltes Vertrauen in die neue Demokratie grundsätzlich erschütterte.8 Wendet man sich den unmittelbaren Faktoren für den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 zu, der Phase IV in unserem grafisch-historischen Überblick, so sind zunächst die zunehmend sorglose Kreditausdehnung in den USA, aber auch die langfristigen Investitionen kurzfristig ausgeliehener Gelder aus den USA in Deutschland zu nennen (Pfad 17). Hinzu kommt die Überproduktion im Agrar- und Industriesektor durch die neu am Weltmarkt anbietenden überseeischen Länder bei gleichzeitig fehlerhafter „Steuerung“ der internationalen Wirtschafts- und Währungsordnung (Pfade 18 bis 20). Aus der Vielzahl der Einflussfaktoren auf die Entstehung der Weltwirtschaftskrise von 1929 seien hier noch die Schuldeninflation, der Produktivitätsschock in der amerikanischen Landwirtschaft (mit weiterer Freisetzung von Arbeitskräften) und die Ungleichheit der Einkommen erwähnt. Für Deutschland ist bereits auf die Überlastung der Finanzsituation durch überhöhte Sozialleistungen in der Weimarer Republik (Pfad 21) hingewiesen worden. Das heißt natürlich nicht, dass die Ausdehnung von Sozialausgaben in Deutschland die Weltwirtschaftskrise allgemein ausgelöst hat. Sie trug aber zu deren Verschärfung in Deutschland bei. Als Überreaktion auf die Kreditausweitungen erfolgten seitens der US-Amerikaner Zinserhöhungen sowie die massive Drosselung der Geldmenge durch die Federal Reserve (FED)9 (Pfad 22) und damit Rückrufaktionen von Krediten. Dies löste in Deutschland im Juli 1931 die Banken- und Finanzkrise aus. Ähnlich prozyklisch wirkten die Ausgaben- und Gehaltskürzungen um bis zu einem Drittel im Zuge der Krisenpolitik von Brüning (Pfad 23). Ferner wurden in vielen Staaten die Zölle massiv erhöht (Pfad 24), so in den USA im Schnitt um über 20 Prozent (Smoot-Hawley Tariff Act 1930). Nunmehr kommen wir zu den näher analysierten wirtschaftlichen und politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise in den Ländern Deutschland, Österreich, Belgien, Niederlande, Frankreich und Vereinigtes Königreich (Phase V in Abb. 1). Dabei sind für einzelne Befunde weitere Länder berücksichtigt wor-

8 9

Dies wird bei den Wahlen ab 1930 in einer erhöhten Wählerwanderung hin zur NSDAP deutlich, mit Ausnahme des katholischen und weniger stark des sozialdemokratischen Milieus. Vgl. Jürgen Falter, Hitlers Wähler, München 1991. Vgl. Milton Friedman/Anna Schwartz, A Monetary History of the United States 1867– 1960, Princeton 1963.

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den, etwa die USA und Schweden. Die Auswahl der Länder ist vorwiegend auf Zen­traleuropa und vor allem den Zeitraum von 1929 bis 1938 konzentriert. Auf diese Weise sind zumindest einige Faktoren eher kontrollier- und vergleichbar,10 als wenn die Stichprobe zu einer Vollerhebung aller möglichen „demokratischen“ Systeme – gar weltweit – unter Einschluss weiterer Zeitperioden ausgeweitet worden wäre. Auch lassen sich (mehrfache) Paarvergleiche mit einer bewussten Auswahl eher gewinnbringend durchführen. Zunächst einmal waren die Indikatoren für den wirtschaftlichen Kriseneinbruch keinesfalls einzigartig dramatisch für Deutschland. Ohne hier die Vielfalt der Befunde auch nur anzudeuten, lässt sich anhand der Tabelle 1 und nachfolgender Ausführungen doch ein knapper Überblick über die empirischen Befunde und theoretischen Implikationen gewinnen. Acht wirtschaftliche Krisenindikatoren sind in vergleichender Perspektive nach dem Ausmaß ihrer Ausprägung zusammengestellt.11 Auf Fragen der Vergleichbarkeit kann hier im Detail nicht eingegangen werden. Deutschland liegt auf jeden Fall nicht durchgehend an der Spitze. Es wird deutlich, dass alle sechs Länder nachhaltig von der ökonomischen Krise betroffen waren, das Vereinigte Königreich und Frankreich in etwas geringerem Ausmaß je nach der Analyseperiode. Deutschland erfuhr den größten wirtschaftlichen Abschwung, aber auch die schnellste Erholung, dann jedoch schon unter einem totalitären Regime. Frankreich war von der Krise eher später und gradueller betroffen, hat sich dann aber nie voll erholt. Dies schwächte stark die Position der Dritten Republik in internationalen Konflikten nach 1938. Das höchste Ausmaß der Arbeitslosigkeit erreichten die Niederlande im Jahre 1936, drei bis vier Jahre nach den anderen Ländern. Bei einigen ökonomischen Indikatoren, z. B. der Indus­trieproduktion, weist Österreich Muster auf, die denen in Deutschland vergleichbar sind, allerdings mit geringeren Amplituden. Die Raten des ­wirtschaftlichen Niedergangs sind auch besonders stark in Belgien

10 Vgl. Alan de Bromhead/Barry Eichengreen/Kevin H. O’Rourke, Political Extremism in the 1920s and 1930s. In: Journal of Economic History, 73 (2013), S. 371–406. Wenn hier in einer logistischen Regressionsanalyse das relative Erklärungsgewicht von fünf Faktoren (wirtschaftliche Krisenindikatoren, soziale Spannungslinien, externe Einflüsse, Wahlsysteme und institutionell-kulturelle Erbschaften) auf den Anteil „antifaschistischer Systemparteien“ im Gefolge der andauernden Weltwirtschaftskrise von 1929 erklärt werden soll, so verbleiben gegenüber der dort gewählten Forschungsstrategie erhebliche Zweifel. Die Überfülle an Dummy-Variablen, die ungeklärten Folgen des Kovariierens und der Zusammenhänge unter den erklärenden Faktoren lassen, wenn überhaupt, nur das Vorzeichen der Prädiktorvariablen als nennenswert erscheinen. Für deskriptive Zwecke ist die dortige Datensammlung von 28 Ländern über den Zeitraum von 1920–1939 allerdings durchaus nützlich. Die beiden wesentlichen Befunde lauten, dass die Stimmengewinne für linke Antisystemparteien weit hinter denen der rechtsextremen zurückbleiben und dass der extreme Stimmengewinn mit dem Anhalten der Krise zunimmt. 11 Vgl. Zimmermann, The 1930s World Economic Crisis, S. 113.

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Vereinigtes Königreich

Frankreich

Frankreich

Österreich

Vereinigtes Königreich

Niederlande

Niederlande

Belgien

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Niederlande

Vereinigtes Königreich

Frankreich

Belgien

Österreich

Belgien

Österreich

Einbruch der Regierungsausgaben

Deutschland Deutschland

Einbruch der Indus­ trielöhne

Deutschland

Einbruch der Industrie­ produktion

Belgien

Vereinigtes Königreich Vereinigtes ­Königreich

Niederlande

Österreich

Frankreich

Frankreich Niederlande

Belgien

Deutschland

Einbruch der Industrieproduktion (Rate der Veränderung)

Österreich

Deutschland

Einbruch des Bruttosozialprodukts Belgien

Frankreich

Frankreich

Österreich

Vereinigtes Königreich

Vereinigtes ­Königreich Österreich

Deutschland

Belgien

Österreich

Vereinigtes ­Königreich

Deutschland

Niederlande

Frankreich

Belgien

Großhandels­ Relativer preisindex Zuwachs der (invers ange­Arbeitslosigkeit ordnet)

Deutschland Niederlande

Niederlande

Arbeits­ losigkeit

Tabelle 1: Rangtabelle für sechs europäische Länder nach dem Ausmaß ausgewählter Indikatoren der Wirtschaftskrise (1927–1938)

172 Ekkart Zimmermann

Deutschland

1937/38

1935/36

1933/34

1931/32

Juli 1932: 21,4 Nov. 1932: 8,3

1929/30 1930: 18,8

verglichen mit 1927/28 1924 1928: 12,1

Periode

1935: 17,9

1931: 44,3

verglichen mit 1924 1929: 25,15

Vereinigtes ­Königreich

1936: 14,2

1932: 19,1

verglichen mit 1924 1928: 10,8

Frankreich

1930: 5,4

verglichen mit 1923 1927: 6,1

Österreich

Belgien

1936: 14,9

1932: 6,9

verglichen mit 1925 1929: 6,95

Tabelle 2: Ausmaß der Wechselwählerschaft in den Wahlen zwischen 1927 und 1938 in Prozent

1937: 12,0

1933: 8,0

verglichen mit 1925 1929: 3,0

Niederlande Weltwirtschaftskrise als Folge gescheiterter Globalisierung

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ausgeprägt, vor allem mit Blick auf Arbeitslosigkeit, Industrieproduktion und Industrielöhne. Zugleich erhöhte sich in den Ländern Deutschland, Österreich, Belgien, Niederlande, Frankreich und im Vereinigten Königreich das Ausmaß der Wechselwählerschaft gleichermaßen parallel zur Verschärfung der Wirtschaftskrise (Pfad 25, Tabelle 2).12 Entscheidend war aber, wohin die Wechselwähler (und auch die bisherigen Nichtwähler) letztlich gingen. In Deutschland waren dies vor allem die Antisystemparteien (Pfad 26), wobei die NSDAP von 1930 bis zur Juli-Wahl im Jahre 1932 eine der höchsten Zuwachsraten einer politischen Partei im 20. Jahrhundert erzielte. Allerdings verlor sie bei den Reichstagswahlen im November 1932 gegenüber den Juliwahlen 4,2 Prozent der Stimmen. Die KPD legte dagegen auch in dieser Wahl – wie seit 1918 – zu. Seit 1932 hatten die Antisystemparteien, NSDAP und KPD, eine „negative“ Mehrheit. Von Bedeutung war dabei zunächst nicht die mit dem Anhalten der Krise13 gestiegene Wechselwählerschaft – diese hatte in allen hier untersuchten Ländern zugenommen –, sondern die damit verbundene antisystemische Polarisierung der Wähler in Deutschland und das Verschwinden des demokratischen Zutrauens der Wähler in der Mitte der Gesellschaft. Dies ist der erste der beiden entscheidenden Faktoren, die grundlegend für das Verständnis des Scheiterns der Demokratie an der Weltwirtschaftskrise sind. Aus der gestiegenen Wechselwählerschaft resultierte in Deutschland, Österreich, Frankreich und Belgien, aber nicht in den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich, eine hohe Instabilität der Regierungen. In den 14 Jahren der Weimarer Republik dauerten die 20 Regierungskabinette im Schnitt fast achteinhalb Monate. Die 40 Regierungen der Dritten Französischen Republik in der Zwischenkriegszeit hielten im Durchschnitt sechseinhalb Monate. In der ersten Österreichischen Republik fanden sich 20 Regierungen mit einer Durchschnittsdauer von circa acht Monaten. In Belgien währten die 13 Regierungen in der Zeit von 1927 bis 1938 im Schnitt fast zwölf Monate. Die Regierungen in Österreich und Deutschland waren mithin am instabilsten. Regierungsinstabilität war somit eine notwendige Bedingung für den Zusammenbruch der politischen Ordnung in Deutschland und Österreich. Andererseits stellte sie aber keine hinreichende Bedingung für den Zusammenbruch des politischen Gemeinwesens dar, wie an den Fällen Frankreich und Belgien deutlich wird. Demnach geraten andere Erklärungsursachen für eine zufriedenstellende Deutung des Zusammenbruchs demokratischer Herrschaft in den Blickpunkt. Wenngleich die Regierungsinstabilität besonders in Deutschland nachhaltig durch die Wirtschaftskrise mitbegründet wurde, kam

12 Vgl. ebd., S. 118. 13 Allerdings sind hier auch nicht-ökonomische Motive der Wechselwählerschaft bedeutend.

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der Todesstoß für die demokratische Ordnung erst durch die besondere Form der Elitenkoalition. Alle Regierungen gleichermaßen brachten mangels hinreichender Legitimierung durch die Wähler und/oder in Unkenntnis neuerer wirtschaftstheoretischer Entwicklungen nicht die Kraft für antizyklische Regierungsausgaben auf und verschärften durch ihre Sparpolitik somit allgemein die Krise in den betroffenen Ländern. Dies zeigte sich besonders deutlich in den Staaten, die über 1931 hinaus am Goldstandard festhielten (Frankreich, Niederlande, Belgien u. a.), als das Vereinigte Königreich sich bereits von der Bindung an den Goldstandard gelöst hatte und Schweden ihm mit der Abwertung der Krone folgte.14 Bis in die frühen 1930er-Jahre und manchmal länger sind die Regierungen in allen sechs Ländern deflationären politischen Entscheidungen gefolgt.15 Man suchte das Vertrauen in die Wirtschaft durch das Festhalten am Goldstandard (Frankreich, Niederlande) oder an einer stabilen Währung (Deutschland, Österreich) zu konservieren. Dies war eines der vorrangigen Ziele der Regierungen in dieser Periode. Antizyklische Staatsausgaben, wie von Keynes im Jahre 1936 und Vorläufern angeraten, sind in den europäischen Ländern nicht zu erkennen gewesen. Mit dieser Verschärfung der Wirtschaftskrise hatten die Regierungen in Deutschland und in Österreich zu einer Polarisierung der politischen Eliten beigetragen (Pfad 27). Das ist der zweite entscheidende Faktor zum Verständnis des Scheiterns dieser beiden Demokratien (Pfade 28 bis 30), der sich aus der Differenzialdiagnose der wirtschaftlichen und politischen Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise in benachbarten europäischen Ländern und auch den USA ergibt. In aller Kürze können die Differenzialfaktoren (s. Abb. 2) zusammengefasst werden, wobei die gestrichelten Linien die notwendigen Vermittlungsmechanismen zu dem Versagen hervorheben, einen nationaldemokratischen Konsens16 zu bilden.

14 Vgl. Barry Eichengreen/Jeffrey Sachs, Exchange Rates and Economic Recovery in the 1930s. In: Journal of Economic History, 45 (1985), S. 925–946. 15 „All of them had taken some sort of action to alleviate the depression: usually a combination of devaluation, exchange control, default on debts, import substitution and tariff increases.“ Peter Fearon, The Origins and Nature of the Great Slump 1929–1932, New Jersey 1979, S. 56 f. 16 Diese theoretische Konzeption ist verschiedentlich in der vergleichenden Literatur aufgenommen worden, z. B. bei Gerd-Rainer Horn, European Socialists Respond to Fascism. Ideology, Activism, and Contingency in the 1930s, New York 1996; Mario Rainer Lepsius, Machtübernahme und Machtübergabe. Zur Strategie des Regimewechsels 1918/19 und 1932/33. In: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 80–94, hat Ähnliches mit der Bemerkung hervorgehoben, die deutschen Eliten hätten ihr jeweiliges Lager nicht im Konsens überbrücken können.

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Ekkart Zimmermann

Abb. 2: Die Weltwirtschaftskrise und der Zusammenbruch demokratischer R ­ egime: spezifizierende Variablen

Es ist unbestritten, dass neben den differenziellen Faktoren im Sinne der Logik eines Matching17 auch andere Faktoren zu einem Scheitern der Demokratie in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre beigetragen haben. Da aber eine Vielfalt von Faktoren wie z. B. die prozyklischen Sparprogramme in verschiedenen Ländern ähnlich gewirkt haben und es auf die Bestimmung der näheren Umstände des Machtverfalls, der Machtabgabe und Machtübergabe in Deutschland ankommt,18 ist die Herausarbeitung der beiden hier bezeichneten differenziellen Faktoren unverzichtbar.19 Die als Demokratie überlebenden Vergleichsländer waren, bis auf die USA und Frankreich, konstitutionelle Monarchien. Seymour

17 Das Matching dient dazu, andere Ursachen auf die untersuchte abhängige Variable gleichzusetzen, z. B. Länder mit ähnlich großer homogener Bevölkerung. Auf diese Weise können weitere Kausalfaktoren mit Wirkung auf die abhängige Variable kontrolliert werden, um die erklärenden Variablen von zusätzlicher Bedeutung herauszuarbeiten. Das bedeutet aber nicht, dass in diesem Sinne gleichgesetzte Faktoren in sich keine Kausalwirkungen auf die abhängige Variable hätten. Findet man in den untersuchten Ländern Unterschiede im Ergebnis, so können diese, soviel lässt sich mit Sicherheit sagen, nicht auf gleichgesetzte Faktoren (allein) zurückgeführt werden. Vgl. dazu die hiesigen Überlegungen sowohl inhaltlich wie auch an einer breiteren Stichprobe weiterführend Jørgen Møller/Alexander Schmotz/Svend-Erik Skaaning, Economic Crisis and Democratic Breakdown in the Interwar Years: A Reassessment. In: Historical Social Research, 40 (2015), S. 301–318. 18 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 6. Auflage Königstein 1984. 19 Zahlreiche andere Kausalwirkungen und Rückkopplungen, etwa von den Reparationen zur Wirtschaftskrise oder von den massiv gesteigerten Sozialausgaben zur Hyperinfla­ tion, sind hier aus Gründen der größeren Übersichtlichkeit für die Hauptzusammenhänge weggelassen worden, ebenso wie Rückkopplungseffekte z. B. auf den Ablauf der Wirtschaftskrisen.

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Weltwirtschaftskrise als Folge gescheiterter Globalisierung

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Martin Lipset weist dabei auf die Flexibilität früherer Ober- und Führungsschichten hin, die ihr historisches Überleben durch Eingehen auf Forderungen neuer sozialer und politischer Gruppen sichern konnten.20 In der Zusammenfassung der breiten Forschungen über das Entstehen und Überleben von Demokratien argumentiert Lipset,21 dass in wirtschaftlichen und politischen Krisenzeiten alte und neue Eliten zu einem Kompromiss finden müssen, wenn Gewaltausbrüche und der kostspielige Zusammenbruch des bisherigen politischen und wirtschaftlichen Systems vermieden werden sollen. Die alten Eliten müssen zu dem Schluss kommen, dass die neuen Eliten möglicherweise Fähigkeiten besitzen, über die sie selbst nicht verfügen, und dass diese Fähigkeiten für das eigene Überleben und das System insgesamt zuträglich sein können. Zugleich muss den Alteliten die Chance gewährt werden, in einem offenen Wahlverfahren zu einem späteren Zeitpunkt wieder den Regierungsstatus zu erwerben.22 Umgekehrt dürfen die neuen Eliten nicht mit der Ausschaltung und auch physischen Beseitigung der alten Eliten drohen. Verfolgt man unter diesem Gesichtspunkt den Machtverfall in der Weimarer Republik, schon mit dem zunehmenden Regieren durch den Notstandspara­ grafen 48 der Reichsverfassung seit der ersten Regierung Brüning im Jahre 1930,23 so wird ein gezieltes Spiel von alten und neuen Eliten erkennbar, das „Bündnis der Eliten“.24 Freilich erschloss sich dieses den damals beteiligten Alt­ eliten nicht unmittelbar bzw. haben selbige ihre Machtbasis überschätzt. Der vorletzte Reichskanzler der Weimarer Republik, Franz von Papen, überzeugte den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg davon, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, weil man diesen in eine nationale Koalition mit der Deutschnatio­ nalen Volkspartei (DNVP) „einrahmen“ könne. Der „Trommler“ sollte sich als nützliches Bollwerk gegenüber Kommunisten und auch Sozialdemokraten erweisen, bis Weihnachten 1933 seine Aufgaben erledigt haben und entlassen werden. Im Unterschied zu Brüning drohte er auch nicht, in die Korruptions­ affären der ostelbischen Agrarier Einblick zu nehmen. Man glaubte also, den „Juniorpartner“ bei nächster Gelegenheit wieder loswerden zu können. Die Bonapartismus-Theorie von August Thalheimer25 20 Vgl. Seymour Martin Lipset, The Social Requisites of Democracy Revisited. In: American Sociological Review, 59 (1994), S. 1–22. In Deutschland sind diese politischen und sozialen Oberschichten mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg bedeutungslos geworden. Vgl. auch Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965; Barrington Moore, Jr., Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966. 21 Vgl. Lipset, Social Requisites of Democracy Revisited. 22 Vgl. Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, New York 1991. 23 Vgl. Bracher, Auflösung der Weimarer Republik, S. 335–346. 24 Vgl. Fritz Fischer, Das Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945, Düsseldorf 1979. 25 Vgl. August Thalheimer, Über den Faschismus. In: Wolfgang Abendroth (Hg.), Faschismus und Kapitalismus. Theorie über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt a. M. 1972, S. 9–19.

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kommt diesem Gedankengang recht nahe. Allerdings hat man sich in der Kräftebasis und Rücksichtslosigkeit der neuen „Junior“-Machthaber grundlegend getäuscht. Die NSDAP stellte zwar nur drei Minister, verfügte aber de facto über die große Mehrheit gewaltsamer Ressourcen (solange die Reichswehr still hielt). Eben diese sozialen Gruppen um die DNVP, also die Steigbügelhalter für Hitlers Regierungskoalition, bedeuteten in der Salamitaktik Hitlers das letzte Opfer unter den politischen „Gegnern“, was sich ihnen aber erst mit zunehmender Verschlechterung der Lage im Zweiten Weltkrieg verdeutlichte.

III. Schlussfolgerungen Entscheidend bei dieser vergleichenden Analyse ist, dass die Wähler in den überlebenden und im Ersten Weltkrieg obsiegenden Demokratien die Opposition innerhalb der parlamentarischen Systemgrenzen gewählt haben und nicht system-oppositionelle Parteien schlechthin. Damit ließen sich gemäßigtere Maßnahmen mit einem breiteren Konsens verabschieden. So bildeten sich nationale Regierungen in Großbritannien unter einem Labour-Premierminister Ramsay MacDonald, der sich besonderer Wertschätzung des Königs erfreute und von diesem um eine Führung der Konservativen Partei, die der große Wahlsieger von 1931 war, gebeten wurde.26 Ähnlich bildeten sich große Gewinnkoalitionen in den Niederlanden in den Jahren 1933 bis 1939 unter Hendrikus Colijn, wie auch in Belgien unter Paul van Zeeland in den Jahren 1935 bis 1937. Man kann diese das System bewahrenden Koalitionen spieltheoretisch weitgehend als „assurance game“, also von Vertrauen gespeiste Kooperation, abbilden. Im deutschen Falle herrschen dagegen Koalitionsspiele nach dem Muster des Gefangenendilemmas vor. Im Falle der Kooperation verzichtet jeder Partner auf den sicheren und kleineren alleinigen Gewinn zugunsten der Erhöhung der Chancen eines für beide deutlich höheren Gewinns. Dies setzt Vertrauen vo­raus und bildet im Falle des Gelingens weiteres Vertrauen. Die Orientierung auf den alleinigen Gewinn unabhängig vom Wohlergehen des möglichen Partners führt dagegen zum Gefangenendilemma mit Kooperationsverweigerung und unter­ optimaler Auszahlung.27 Ein solches Vertrauen schaffendes Reaktionsmuster kommt aber nur zustande, wenn sich politische Eliten und die hinter ihnen stehende Wählerschaft auf

26 Harold Macmillan hat dies 1932 beispielhaft gegenüber Oswald Mosley und seinen Schwarzhemden ausgedrückt: „You must be mad. Whenever the British feel strongly about anything, they wear grey flannel trousers and tweed jackets.“ Zit. nach http:// www.telegraph.co.uk/culture/books/3651771/Menacing-but-comical.html; 27.5.2015. 27 Vgl. Ekkart Zimmermann, Coalition Games as Stabilizing or Destabilizing Factors during the Great Depression: Preliminary Evidence from Germany, Sweden, Great Britain, France and Germany. In: Stein Larsen (Hg.), The Challenges of Theories on Democracies. New York 2000, S. 285–308.

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ein grundlegendes politisches Regime, in diesem Falle die parlamentarische Demokratie, einigen. Sind politische Eliten und Wechselwähler, wie auch vormalige Nichtwähler, über das politische System hinaus in einer Polarisierung befangen, so sind die Chancen für ein Überleben der bisherigen politischen und oft auch wirtschaftlichen Ordnung gering entwickelt. Die Folgekosten, im deutschen Fall der verlorene Zweite Weltkrieg mit Völkermord, können immens werden. Große Wirtschaftskrisen müssen also nicht ein Scheitern der politischen Ordnung zur Folge haben. Der Politik verbleibt ein Spielraum, den sie nutzen kann. Dies gilt sogar angesichts der Tatsache, dass zu Beginn der 1930er-Jahre zahlreiche alternative Ordnungen wie Kommunismus, Nationalsozialismus, andere Formen der Autokratie und ständestaatlicher Lösungen lebhaft proklamiert worden sind und somit die Überlebenschancen der Demokratie schon nachhaltig eingeschränkt waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit der Reform des internationalen Währungssystems in Bretton Woods, dem sukzessiven Abbau von Zoll- und Handelshemmnissen, der großzügigen Gewährung von Krediten an den großen europäischen Gegner Deutschland und dem militärischen Schutzmantel des Sicherheitsbedürfnisses in Form der North Atlantic Treaty Organization (NATO) eine gegenteilige und dann entsprechend erfolgreiche Strategie entwickelt. Angesichts des heutigen Export- und Importanteils von Deutschland gibt es schlichtweg keinerlei Alternative zur wirtschaftspolitischen Globalisierung. Dass diese entgegen der Freihandelstheorie den Konflikt in Form des Ersten Weltkrieges nicht verhindert hat,28 gehört zu den Erschütterungen menschlicher Erkenntnis.

28 Die Theorie des demokratischen Friedens (Bruce M. Russett/John R. Oneal, Triangulating Peace. Democracy, Interdependence, and International Organizations, New York 2001) mit den der Reihe nach wichtigsten Erklärungsfaktoren: Demokratische Nationen­ paare, Außenhandel und Mitgliedschaft in internationalen Organisationen kommen für die Erklärung des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht infrage, da zwei der Ursache­ faktoren nicht greifen. Man könnte das natürlich auch als Beleg für diese Theorie sehen, käme damit aber einer logischen Erschleichung nahe.

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Bedingungen der Demokratie in Europa in der Zwischenkriegszeit – zentrale Befunde eines international vergleichenden Forschungsprojekts Dirk Berg-Schlosser

I. Einleitung Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krisen, die gegenwärtig viele Teile der Welt erfassen, gibt es ein erneutes Interesse an der Frage, wie größere Länder und Regionen früher solche Herausforderungen bewältigten, um aus diesen Erfahrungen zu lernen. Das Ende des Kalten Krieges und die Demokratisierungswelle, die dieses in zahlreichen osteuropäischen und Dritte-­WeltLändern nach sich zog, hat angesichts des Fehlens einer übergreifenden und vorherrschenden Konkurrenz der Supermächte auch die Aufmerksamkeit auf die internen Faktoren gelenkt, welche die Demokratisierungsprozesse in jedem Einzelfall beeinflussten.1 Dabei kann eine Analyse der gesellschaftlichen und politischen Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise während der Zwischenkriegszeit in Europa nicht nur Einsichten vermitteln, die für Krisentheorien2 und eine empirische Theorie der Demokratie3 im Allgemeinen von Bedeutung sind, sondern auch für aktuelle politische Überlegungen relevant sein können. Im Folgenden berichte ich über ein großes internationales, systematisch vergleichend angelegtes Forschungsprojekt, an dem mehr als 20 Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Disziplinen beteiligt waren. Die einzelnen Befunde wurden in zahlreichen internationalen Zeitschriftenartikeln4 und in 1

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Vgl. Axel Hadenius, Democracy and Development, Cambridge 1992; Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991; Tatu Vanhanen, Prospects of Democracy. A Study of 172 Countries, London 1997; Dirk Berg-Schlosser (Hg.), Democratization. The State of the Art, 2. Auflage Opladen 2007. Vgl. Gabriel Abraham Almond/Scott C. Flanagan/Robert J. Mundt, Crisis, Choice and Change. Historical Studies of Political Development, Boston 1973; Michel Dobry, Sociologie des Crises politiques. la Dynamique des Mobilisations multisectorielles, Paris 1986. Vgl. Robert A. Dahl, Democracy and its Critics, New Haven 1989; Manfred Gustav Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, 4. Auflage Wiesbaden 2008. Vgl. Dirk Berg-Schlosser/Gisèle De Meur, Conditions of Democracy in Inter-War Europe. A Boolean Test of Major Hypotheses. In: Comparative Politics, 26 (1994), S. 253– 279; dies., Comparing Political Systems. Establishing Similarities and Dissimilarities.

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Dirk Berg-Schlosser

zwei umfassenden Buchpublikationen5 vorgestellt. Der erste Band enthält 18 detaillierte Einzelfallstudien, die zehn Zusammenbruchsfälle und acht Fälle des Überlebens von Demokratien in Folge der politischen und ökonomischen Krisen der 1920er- und 1930er-Jahre behandeln. Der zweite Band befasst sich mit systematischen Querschnittsanalysen unterschiedlicher Aspekte. An dieser Stelle muss ich mich auf einige zentrale Befunde beschränken. Dabei gehe ich zunächst auf das Forschungsdesign ein und erläutere dann die eingeschlagenen Schritte und ihre Ergebnisse im Einzelnen. Die Schlussfolgerungen beziehen sich auf weitere Untersuchungen und verbleibende Forschungsdesiderate sowie zu ziehende Lehren.

II. Forschungsdesign Unser Forschungsdesign unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von früheren und verwandten Projekten. Zuerst betrachten wir die europäischen Krisen während der Zwischenkriegszeit als genuin politische. Sie hatten sicherlich ihre wirtschaftlichen und sozialen „Gründe“, im Wesentlichen aber waren es politische Entscheidungen und politische Faktoren in ihrem Verhältnis zu sowohl den institutionellen und den kulturellen Mustern der jeweiligen politischen Systeme als auch ihren politischen Akteuren, die die verschiedenen „Inputs“ zu einem Krisenergebnis zusammenfügten. Der Einfluss der politischen Faktoren ist daher abhängig von einer komplexen Wechselwirkung zwischen Strukturen, Kulturen und Vorbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und den historischen Entwicklungen, die solche Konfigurationen entstehen ließen. Diese allgemeinen Faktoren werden sowohl durch die Handlungen intermediärer Gruppen und individueller Akteure als auch durch die besonderen Entscheidungen dieser Personen und Gruppen, einschließlich der Möglichkeit der Bildung neuer politischer Allian­ zen in einem kritischen Moment, zu einem spezifischen Ergebnis verknüpft. In diesem Sinne ist unsere Forschungsstrategie – in den Worten Charles C. Ragins6 – sowohl „fallorientiert“ (im Gegensatz zu „variablenorientiert“) und

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In: European Journal for Political Research, 26 (1994), S. 193–219; dies., Conditions of Authoritarianism, Fascism and Democracy in Inter-War Europe. Systematic Matching and Contrasting of Cases for ‘Small N’ Analysis’. In: Comparative Political Studies, 29 (1996), S. 423–468; dies., Reduction of Complexity for a Small-N Analysis – A Stepwise Multi-Methodological Approach. In: Comparative Social Research Yearbook, 16 (1997), S. 133–162; Dirk Berg-Schlosser, Conditions of Authoritarianism, Fascism and Democracy in Inter-war Europe. A Cross-Sectional and Longitudinal Analysis. In: International Journal of Comparative Sociology, 39 (1998), S. 335–377. Vgl. Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Conditions of Democracy in Europe 1919–39. Systematic Case-Studies, Basingstoke 2000; Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy in Europe 1919–39. Comparative Analyses, Basingstoke 2002. Vgl. Charles C. Ragin, The Comparative Method. Moving Beyond Qualitative and Quantitative Strategies, Berkeley 1987.

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

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historisch (im Gegensatz zu abstrakt kausal). Sie lässt „multiple“ oder „konjunkturale“ Verursachungszusammenhänge zu, die über einfache „Stimulus-­ Reaktions“-Muster oder bloße allgemeine, multivariate Korrelationsanalysen hinausgehen. Dieses Verfahren entspricht auch dem, was Hubert Morse ­Blalock als „analytische Induktion“7 bezeichnet. Das heißt, man beginnt mit einer kleinen Anzahl komplexer Fälle und gelangt durch systematische Vergleiche dann zu einer umfassenderen Theorie, statt wenige Variablen auszuwählen und sie dann mit den üblichen statistischen Verfahren über eine große Fallzahl hinweg zu testen. Unser Forschungsdesign ist explizit vergleichend.8 Wir gehen dabei von ­einer umfassenden „System“-Perspektive aus, um keine potenziell bedeutsamen Faktoren a priori zu vernachlässigen oder um die analysierten Variablen nicht falsch zu spezifizieren. Diese Perspektive wird jedoch schnell durch einige systematische Methoden, die die anfängliche Komplexität reduzieren, konkretisiert. Damit nimmt sie eine mittlere Abstraktionsebene, zwischen vorwiegend deskriptiven Fallstudien und makro-quantitativen statistischen Analysen mit großen Fallzahlen, ein. Historische Studien werden so einem „scharfen Säurebad des Vergleichs“9 ausgesetzt, für das neuere makro-qualitative bzw. „konfiguratio­nelle“ Methoden bei kleineren und mittleren Fallzahlen am ehesten geeignet sind.10 Das Forschungsdesign hat insgesamt einen „quasi-experimentellen“ Charakter.11 Vor dem Hintergrund relativ klar eingrenzbarer Ausgangsbedingungen hinsichtlich der neu entstandenen politischen Landschaft in Europa nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mit zahlreichen neu entstandenen Staaten und neuen Demokratien kann die Weltwirtschaftskrise nach 1929 als ein alle Staaten mehr oder weniger beeinflussender externer Stimulus angesehen werden. Dieser stellte das Überleben von Demokratien angesichts unterschiedlicher ­autoritärer und totalitärer Einflüsse und Alternativen auf eine harte Probe. Der Zeitpunkt des Zusammenbruchs einzelner Demokratien bzw. der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der erneut die politische Landschaft radikal veränderte, begrenzt den hier zugrunde gelegten Untersuchungszeitraum.

 7 Vgl. Hubert Morse Blalock, Basic Dilemmas in the Social Sciences, Beverly Hills 1984.  8 Vgl. Arendt Lijphart, Comparative Politics and the Comparative Method. In: American Political Science Review, 65 (1971), S. 682–693; Frank Aarebrot/Pal H. Bakka, Die vergleichende Methode in der Politikwissenschaft. In: Dirk Berg-Schlosser/Ferdinand Müller-Rommel (Hg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1999, S. 51–69; David Collier, The Comparative Method. In: Ada W. Finifter (Hg.), Political Science. The State of the Discipline II, Washington 1993, S. 105–119.  9 Hans-Ulrich Wehler, Deutscher Sonderweg oder allgemeine Probleme des westlichen Kapitalismus. In: Merkur, 35 (1981), S. 478–487, hier 487. 10 Vgl. Benoit Rihoux/Charles C. Ragin (Hg.), Configurational Comparative Methods. Qualitative Comparative Analysis (QCA) and Related Techniques, Los Angeles 2009; Carsten Schneider/Claudius Wagemann, Set-Theoretic Methods for the Social Sciences. A Guide to Qualitative Comparative Analysis, Cambridge 2012. 11 Vgl. Thomas D. Cook/Donald Thomas Campbell, Quasi-Experimentation. Design & Analysis Issues for Field Settings, Boston 1979.

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Dirk Berg-Schlosser

Zunächst werden die allgemeinen, historischen, sozialstrukturellen usw. Hintergrundbedingungen der einzelnen Staaten vorgestellt. Anschließend werden die unmittelbaren Folgen des Ersten Weltkrieges und der jeweiligen Friedensverträge betrachtet. Im darauf folgenden Abschnitt behandele ich die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Nachkriegskrisen, die bereits zu einer Reihe von Systemzusammenbrüchen von kürzlich entstandenen demokratischen Regimen führten. Nach einer stabilisierenden Zwischenperiode trat die eigentliche Weltwirtschaftskrise ein, deren Ausmaß wie auch deren so­ziale und politische Folgen näher dargestellt werden. Der letzte Abschnitt nimmt dann eine umfassendere Perspektive ein, um das dynamische Wechselspiel der wesentlichen Faktoren und deren besonderer Muster im Zeitverlauf einzuschätzen. Einige abschließende Bemerkungen weisen auf methodologische und theoretische, aber auch praktische politische Konsequenzen solcher Unter­ suchungen hin.

III. Hintergrundbedingungen Der Zusammenbruch oder das Überleben jedes politischen Regimes wird letztlich durch eine große Vielfalt historischer, sozialstruktureller, politisch-kultureller, institutioneller und äußerer Faktoren bedingt. Diese sind innerhalb des europäischen Kontexts in zahlreichen Perspektiven analysiert worden. Zu den überzeugenderen Analysen zählen zweifelsohne die von Barrington Moore, Charles Tilly und Stein Rokkan entwickelten. Moore untersuchte die besonderen sozialstrukturellen Dynamiken einer Reihe von Fällen, wobei er sich vornehmlich auf die verschiedenen Übergänge vom Feudalismus zur Moderne oder – in seinen Worten – auf die „Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt“12 konzentrierte. Tilly skizzierte die allgemeinen Prozesse der Staatenbildung und einige spezifischere Faktoren, die dabei mitwirkten, wie z. B. die Rolle des Militärs und der Kriegsführung.13 Rokkan entwarf eine umfassende Karte der bedeutenderen sozialen Konfliktlinien innerhalb der Staaten Europas, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelt hatten.14 Dazu zählen die Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie, Kirche und Staat, ländlichen und städtischen Regionen sowie zwischen Kapital und Arbeit. In ähnlicher Weise wurde das allgemeine Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung und „Modernisierung“, wie beispielsweise von Seymour M. Lipset

12 Barrington Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966. 13 Vgl. Charles Tilly, Coercion, Capital, and European States. AD 990–1990, Cambridge 1990. 14 Vgl. Stein Rokkan, Dimensions of State-Formation and Nation-Building. A Possible Paradigm for Research on Variations within Europe. In: Charles Tilly (Hg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975, S. 562–600.

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

185

und Tatu Vanhanen, hervorgehoben.15 Ebenso wurden Aspekte von autoritären oder demokratischen politischen Kulturen im Anschluss an Gabriel Abraham Almond und Sidney Verba betont.16 Ein weiterer Gesichtspunkt betrifft den Einfluss intermediärer Organisationen, der zum Beispiel von Juan Linz17 und Giovanni Sartori18 hervorgehoben wurde. Dies schließt Faktoren wie die ­Stärke von Interessengruppen und sozialen Bewegungen sowie die Fragmentierung und Polarisierung von Parteiensystemen ein. Zusätzlich wurden einige besondere institutionelle Merkmale wie die von Robert Dahl19 publizierten in Betracht gezogen: die Rolle der Exekutive, die Gewaltenteilung, die Gewährleistung der Bürgerrechte und der politischen Freiheiten, die Stärke der Bürokratie und die politische Rolle des Militärs. Schließlich wurden besondere Muster sowohl der wirtschaftlichen als auch der politischen äußeren Beziehungen – einschließlich der Überlegungen von Richard Rosecrance in Hinblick auf „Handelsstaaten“20 – berücksichtigt. Im ersten Schritt wurde diese große Vielfalt an Faktoren und spezifischen ­Variablen mithilfe von sieben größeren Kategorien im Rahmen eines Systemmodells operationalisiert. Dann wurde die ursprüngliche Gesamtzahl von 63 verschiedenen Variablen in einer Reihe systematischer, ergebnisbezogener Schritte reduziert, wobei sowohl quantitative Verfahren wie die Diskriminanzanalyse als auch qualitative Verfahren wie die „Qualitative Comparative Analysis“21 (QCA) angewandt wurden. Insgesamt kristallisierten sich acht „Super-Variablen“, die in großem Maße die beobachtete Varianz erklärten, heraus. Positiv in Bezug auf das Überleben von Demokratie in der Zwischenkriegszeit formuliert, beziehen sich diese auf: die Existenz eines demokratischen Regimes vor dem Ersten Weltkrieg, das Fehlen bedeutsamer feudaler Elemente in der Gesellschaft und einen hohen Grad an ethnisch-linguistischer und religiöser Homogenität. Alternative Variablen sind in diesen Fällen: das Vorhandensein bedeutender übergreifender „konkordanzdemokratischer“ Strukturen, ein hohes sozioökonomisches Entwicklungsniveau, starke Elemente einer partizipatorischen, eher egalitären und toleranten politischen Kultur, ein niedriger Grad an Aktivität neuerer sozialer

15 Vgl. Seymour Martin Lipset, Political Man. The Social Bases of Politics, New York 1960; Tatu Vanhanen, Prospects of Democracy, London 1997. 16 Vgl. Gabriel Abraham Almond/Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Western Nations, Princeton 1963. 17 Vgl. Juan J. Linz, Political Space and Fascism as a Late-Comer. In: Stein Ugelvik Larsen/ Bernt Hagtvet/Jan Petter Myklebust (Hg.), Who Were the Fascists? Social Roots of European Fascism, Bergen 1980, S. 153–189. 18 Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems. A Framework for Analysis, Cambridge 1976. 19 Vgl. Robert A. Dahl, On Democracy, New Haven 1998. 20 Vgl. Richard Rosecrance, Der neue Handelsstaat. Herausforderungen für Politik und Wirtschaft, Frankfurt a. M. 1987. 21 Vgl. Dirk Berg-Schlosser/Gisèle De Meur, Reduction of Complexity, S. 133–162.

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Dirk Berg-Schlosser

Abb. 1: Analytische Landkarte Europas in der Zwischenkriegszeit

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

187

Bewegungen und Milizen, die Abwesenheit politischer Einflussnahme durch das Militär und die Beachtung von bürgerlichen und politischen Rechten. Eine Zusammenstellung dieser Faktoren für unsere 18 Fälle zeigt Abbildung 1. So konnten nur fünf Fälle vor dem Ersten Weltkrieg zu den etablierten Demokratien gerechnet werden. Sieben neue Staaten waren aus den Überresten des ehemaligen Habsburgerreiches und des Zarenreiches entstanden, und in sechs anderen waren neue demokratische Systeme unmittelbar nach dem Krieg (wie in Deutschland) oder kurz vor dem Krieg (wie in Italien und Spanien) errichtet worden. Wie aus dieser Darstellung hervorgeht, überwogen in den länger etablierten Demokratien (Großbritannien, Niederlande, Schweden, Belgien) eindeutig die eher positiven Hintergrundbedingungen. Umgekehrt sahen die Bedingungen für eine positive Demokratieentwicklung in Staaten wie Griechenland, Italien, Polen, Portugal, Rumänien oder Spanien eher ungünstig aus. Für Länder im Zwischenbereich wie Deutschland, Estland, Finnland, Irland, Österreich oder die Tschechoslowakei war der Ausgang stärker unbestimmt und hing von weiteren Faktoren ab.

IV.

Auswirkungen der Nachkriegskrise

Soweit am Krieg beteiligt, waren sieben unserer Fälle unter den Siegern und sieben weitere erfuhren bedeutende territoriale Veränderungen. Aber der Krieg hatte auch auf andere Weise seine Spuren hinterlassen. Diese betrafen das alltägliche wirtschaftliche und politische Leben in großen Teilen Europas, was zu einer kritischen Periode der Anpassung führte. Politisch hatten der Krieg und die Pariser Vorortverträge einen Großteil der europäischen Landkarte verändert. Insbesondere waren das Habsburgerreich, das Osmanische Reich und das Zarenreich zusammengebrochen, eine Reihe neuer unabhängiger Staaten entstand. Außerdem hatten einige der älteren Staaten bedeutende Veränderungen in Hinblick auf ihr Territorium und ihre Bevölkerung erfahren. Fläche und Bevölkerung Rumäniens verdoppelten sich; andere Länder, wie z. B. Ungarn oder Deutschland, erlitten gravierende Verluste an Territorium und Bevölkerung.22 Diese Veränderungen betrafen auch ihre ethnische Zusammensetzung als „zu groß“ oder „zu klein“ geratene Nationalstaaten.23 Die Nachwirkungen des Krieges hatten überdies in einer Reihe der älteren Staaten bedeutende innenpolitische Veränderungen mit sich gebracht. Neue demokratische Regime waren, wenn wir eine etwas „großzügige“ Definition von Demokratie zugrunde legen, die von regelmäßig abgehaltenen Wahlen ausgeht, in elf der 18 Fälle errichtet worden. Einige litten anfangs jedoch

22 Vgl. Jerzy Holzer, The Heritage of World War I. In: Berg-Schlosser/Mitchell (Hg.), ­Authoritarianism and Democracy, S. 7–19. 23 Vgl. Mark Thompson, Building Nations and Crafting Democracies. In: Berg-Schlosser/ Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy, S. 20–38.

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Dirk Berg-Schlosser

­ nter erheblichen politischen Unruhen, die in sieben Ländern in Perioden u von revolutionären Erhebungen und Bürgerkriegen kulminierten. In vielen dieser ­Fälle spielten Kriegsheimkehrer und deren Organisationen eine größere Rolle. Gleichzeitig kam es zu einer beträchtlichen Polarisierung in den Parteiensystemen, mit einem starken Anstieg der Stimmenanteile für antidemokratische, extrem rechte und extrem linke Parteien.24 Aber auch in den älteren Demokratien wurden eine Reihe von inneren politischen Reformen und die Ausweitung des Wahlrechts, das in einigen Ländern erstmals auch das Wahlrecht für Frauen einschloss, durchgeführt. Trotz der beträchtlichen wirtschaftlichen und politischen Unruhen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren überlebte die parlamentarische Demokratie in den meisten Ländern, oft jedoch auf sehr turbulente Weise. Die Ausnahmen waren die „legale“ faschistische Machtübernahme durch Mussolini in Italien 1923 und die eher „konventionellen“ Militärputsche durch Primo de Rivera in Spanien 1923, Piłsudski in Polen 1926 sowie Gomes da Costa in Portugal.25 Nach den unmittelbaren Turbulenzen der Nachkriegsperiode und den ersten Zusammenbrüchen demokratischer Systeme kamen die Verhältnisse zumindest in der Mehrzahl der Fälle zur Ruhe. In Deutschland war die Hyperinflation durch die erfolgreiche Währungsreform im November 1923 beendet worden. Im April 1924 kam es zur Einigung über den Dawes-Plan, um die deutschen Reparationszahlungen nach dem Versailler Vertrag zu regeln und die französischen Kriegsschulden auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Vertrag von Locarno 1925 leitete eine Entspannungsperiode in den französisch-deutschen Beziehungen ein; in Verbindung mit Deutschlands Mitgliedschaft im Völkerbund wurde eine Garantie für die bestehenden Nachkriegsgrenzen und die Einrichtung eines kollektiven internationalen Sicherheitssystems erreicht.26 Wirtschaftlich wendeten sich die Dinge im Allgemeinen ebenfalls zum Besseren. Im Großen und Ganzen nahm die Industrieproduktion zu, stiegen die Pro-Kopf-Einkommen an, gingen die Inflationsraten zurück, und die Arbeitslosenraten konnten auf noch handhabbaren Niveaus gehalten werden. Ein bedrohliches Zeichen war jedoch die negative Handelsbilanz der meisten hier betrachteten Länder, die in gewissem Umfang durch den Zustrom amerikanischen Kapitals, überwiegend in Form von Krediten, ausgeglichen wurde. Der Grad der Auslandsverschuldung blieb in einer Reihe von Ländern, z. B. Frankreich und Portugal, extrem hoch. Auf der politischen Bühne kehrte ebenfalls relative Ruhe ein. In den überlebenden Demokratien fanden in regelmäßigen Abständen Wahlen statt, obwohl die Anzahl der Regierungswechsel in einigen Ländern wie Finnland, Frank-

24 Vgl. Lauri Karvonen, Electoral Systems, Party Fragmentation, and Government Instability. In: Berg-Schlosser/Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy, S. 131–162. 25 Vgl. die entsprechenden Fallstudien von Tarchi, Bernecker, Holzer und Costa Pinto. In: Berg-Schlosser/Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy. 26 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Krise Europas 1917–1945, Berlin 1976, S. 85 ff.

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

189

reich, Deutschland, Estland und Griechenland groß blieb. Antisystemparteien erreichten weiterhin große Stimmenanteile, insbesondere in Deutschland, Griechenland und der Tschechoslowakei. Die Streikaktivitäten waren in einigen Ländern ebenfalls ausgeprägt – der Generalstreik im Vereinigten Königreich 1926 ist hier ein herausragendes Beispiel –, doch schwächten die Ergebnisse in der Regel die Gewerkschaftsorganisationen. Mehrheitlich herrschte so eine etwas unruhige wirtschaftliche und politische Stabilität vor, die zugrunde liegenden Spannungen, insbesondere in Hinblick auf die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, blieben ungelöst.27

V.

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise

Am 24. Oktober 1929, den man später als „Schwarzen Donnerstag“ bezeichnete, setzte an der New Yorker Börse Panik ein: Aktien wurden in Rekordzahlen verkauft. Panikverkäufe beherrschten die folgenden Wochen. Der DowJones-­Index für Industriewerte erreichte am 13. November einen Tiefstand von 198, was fast nur noch der Hälfte des am 3. September notierten Wertes von 381 entsprach. Der Zusammenbruch war jedoch nicht allein eine Angelegenheit, die Banken und Spekulanten betraf. Die nachfolgende Liquiditätskrise erfasste schnell die Hypothekenmärkte. Eine Folge davon war, dass viele Hausbesitzer, die ihre Hypotheken erneuern mussten, mit Zwangsversteigerungen konfrontiert wurden. Die Immobilienpreise fielen daher stark. Andere Güterpreise und Importe gingen ebenfalls auf Rekordtiefstände zurück, während die Industrieproduktion in den USA innerhalb von nur zwei Monaten um zehn Prozent sank.28 Andere Länder spürten die Auswirkungen ebenfalls. Bis Ende Dezember waren die Aktienkurse um ein Drittel in Kanada sowie in Belgien und um 16 Prozent in Deutschland sowie in Österreich zurückgegangen. Die weiteren Folgen erwiesen sich als noch verheerender. Der internationale Handel wurde beträchtlich reduziert, Sozialprodukt und Pro-Kopf-Einkommen gingen zurück, die Industrieproduktion fiel, und die Arbeitslosigkeit stieg stark an. Dieser Prozess erzeugte seine eigene innere Dynamik und wurde durch einschneidende Haushaltskürzungen und andere restriktive Politiken aufseiten der meisten Regierungen weiter verschärft. Ähnliche Effekte wurden durch die „Sankt-Florians“-Maßnahmen nahezu aller Zentralbanken hervorgerufen, die kurzfristige Eigeninteressen vor langfristige Bedenken um internationale Koopera­ tion und Stabilität stellten. Nachdem die Auswirkungen der Nachkriegskrise

27 Vgl. Gilbert Ziebura, Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24–1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, Frankfurt a. M. 1984, S. 83 ff. 28 Für eine detaillierte Schilderung vgl. Charles Poor Kindleberger, The World in Depression 1929–1939, London 1973, S. 18 ff.

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3,3 %

−8,7 %

0,6 %

GBR

CZE

IRL

−3,6  %

NLD

−9,5 %

0,8  %

BEL

FRA

−5,9  %

FIN

0,5 %

−12,0 %

3,1 %

−11,4 %

−10,9  %

−2,8  %

−8,0  %

−3,5  %

1929

1935

1929

1936

1933

1934

1931

1932

30,8 %

26,2 %

11,3 %

15,0 %

27,1  %

21,8  %

11,1  %

13,1  %

37,6 %

27,7 %

22,5 %

15,5 %

32,7  %

23,5  %

12,1  %

23,7  %

1935

1933

1932

1936

1936

1932

1933

1934

Krisenhöhepunkt

−31,3 %

−12,2 %

−15,1 %

−40,4 %

−14,0  %

−12,4  %

14,0  %

−13,6  %

Handelsbilanz

−62 %

–72 %

–50 %

−70 %

–66  %

−56  %

−29  %

−40 %

Export

1 %

−58 %

−8 %

−26 %

−18  %

−51  %

−27 %  

−9  %

Industrieproduktion

0,09

−1,43

1,17

−0,27

−0,55

−0,42

1,03

1,13

Depressionsindex

Z: Zusammenbruchsfall

29 Anmerkungen: Länderabkürzungen nach ISO-3166-1; Legende: – fehlende Werte, *−10 Prozent Schätzung, Ü: Überlebensfall,

Ü

−2,1  %

Durchschnitt

Spitzenwert

Krisenhöhepunkt

Pro Kopf konst. Preise

Konst. Preise

SWE

Land

Arbeitslosigkeit

Nettoinlandsprodukt

Tabelle 1: Krisenindikatoren (Veränderungen zwischen 1928 und ­Krisenhöhepunkt)29

190 Dirk Berg-Schlosser

−0,6 %

−24,6 %



−2,8 %

−5,5 %

HUN

ROU

EST

ESP

GRC

1930 –

−8,9 %

1932

1930

1934

1932

1934

−8,6 %

−10,0 %*

−26,6 %

−4,8 %

−22,4 %

−24,3 %

5,0 %

15,0 %

16,5 %

15,8 %

5,8 %

21,7 %

18,9 %





24,5 %

18,1 %

7,6 %

30,1 %

34,8 %

1933



1930

1932

1932

1932

1933

Krisenhöhepunkt

−3,5 %

−6,0 %

−1,1 %

12,3 %

29,4 %

−12,9

7,1 %

Handelsbilanz

−34 %

−73 %

2 %

−17 %

−35 %

−8 %

−49 % −66 %

−16 %

−44 %

−55 %

Industrieproduktion

−60 %

−84 %

−65 %

Export

1,68

−0,10

−0,36

0,09

0,78

−1,60

−1,25 

Depressionsindex

Quellen: Brian R. Mitchell, European Historical Statistics 1750–1975, 3. Auflage London 1983; International Labour Office (ILO), Statistical Yearbook, Geneva 1947; League of Nations, Statistical Yearbook of the League of Nations, 1940/41, Geneva 1941; NPD-Daten für Belgien enthalten in Stefaan Peeters Reconstruction of the Belgian National Income, 1920–1939, Methodology and Results, Leuven 1986; Peter Flora, State, Economy and Society in Western Europe 1815–1975: A Data Handbook in two Volumes, Frankfurt 1983/1987; Statistisches Reichsamt, Statistisches Handbuch der Weltwirtschaft, Berlin 1936.

Z

−20,8 %

−23,0 %

Durchschnitt

Spitzenwert

Krisenhöhepunkt

Pro Kopf konst. Preise

Konst. Preise

DEU

AUT

Land

Arbeitslosigkeit

Nettoinlandsprodukt

Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

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191

192

Dirk Berg-Schlosser

­ berwunden waren, wurde jetzt deutlich, dass das „Versailler System“, das ein ü gewisses Maß an Wohlstand geschaffen und die internationale wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit während des größten Teils der 1920er-Jahre gefördert hatte, endgültig zusammengebrochen war.30 Um die Folgen der Wirtschaftskrise in jedem Fall einzuschätzen, verwendeten wir 1928 als Basisjahr und stellten die prozentualen Veränderungen für jeden wichtigen Wirtschaftsindikator (Bruttoinlandsprodukt, Industrieproduktion, Beschäftigung, Außenhandel und Lebenshaltungskosten) bis zum Höhepunkt bzw. Tiefpunkt vor Beginn der wirtschaftlichen Erholung fest. Dann fassten wir vier dieser Indikatoren – Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in konstanten Preisen, Industrieproduktion, Exporte und Anstieg der Arbeitslosigkeit – mit einer konfirmatorischen Faktorenanalyse zu einem einzigen „Depressions­ index“ zusammen. Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Man kann sehen, dass der Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens in konstanten Preisen in Rumänien, Deutschland und Österreich am größten war. Die Industrieproduktion wurde mehr als halbiert in der Tschechoslowakei, Österreich und Belgien. Die Arbeitslosigkeit stieg am dramatischsten in Irland, den Niederlanden und der Tschechoslowakei an. Sie erreichte absolute Spitzenwerte von über 30 Prozent der Erwerbsbevölkerung (einschließlich der Arbeitslosigkeit vor 1928) in Irland, Österreich, den Niederlanden und Deutschland. Die Exporte fielen am drastischsten in Deutschland (auf 16 Prozent [!] des Wertes im Basisjahr) und pendelten sich bei ungefähr einem Drittel in Ländern wie den Niederlanden, Frankreich, der Tschechoslowakei, Österreich und Estland ein. Gemessen an unserem Index, war der wirtschaftliche Rückgang am stärksten in Deutschland, der Tschechoslowakei und in Österreich; danach folgten die Niederlande, Belgien und Estland. Er war am geringsten in Griechenland, das beinahe überhaupt nicht betroffen war, und blieb im Vereinigten Königreich, Schweden, Finnland und Ungarn relativ gering. Da Fälle des Überlebens und des Zusammenbruchs von Demokratie an beiden Enden des Indexes vertreten sind, folgt daraus, dass das endgültige Schicksal eines politischen Systems nicht allein mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise erklärt werden kann, sondern in einem weiteren gesellschaftlichen und politischen Kontext gesehen werden muss. Wir richteten unsere Aufmerksamkeit daher auf die spezifischeren gesellschaftlichen und politischen Reaktionen auf die Wirtschaftskrise.

30 Vgl. Gilbert Ziebura, Weltwirtschaft und Weltpolitik; Gerhard Kümmel, External Factors. In: Berg-Schlosser/Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy, S. 176–207.

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

193

VI. Gesellschaftliche und politische Reaktionen Die nüchternen ökonomischen Zahlen bedeuteten schweres Leid und häufig unmittelbares Elend für Millionen von Personen und Familien, die von der Krise betroffen waren. Selbst in den hoch industrialisierten Ländern waren Sozialversicherungssysteme häufig schwach. In Ländern, in denen Arbeitslosenunterstützung und ähnliche Leistungen gesetzlich garantiert waren, gerieten die zuständigen Institutionen und deren Haushalte schnell an ihre Grenzen. Je länger die Krise, entgegen aller Erwartung, andauerte, desto mehr beschleunigte sich dieser Prozess. Sinkende Einkommen und steigende Arbeitslosigkeit führten zu heftigen sozialen und politischen Reaktionen in einer Situation, die sich zunehmend zu verschlechtern schien und mit der die politisch Verantwortlichen offenbar nicht fertig wurden. Viele Menschen gingen, zumeist friedlich, auf die Straßen. Gleichwohl kam es gelegentlich auch zu gewalttätigen Demonstrationen, bei denen die Teilnehmer entweder mit den Kräften von „Recht und Ordnung“ oder militanten Anhängern des gegnerischen Lagers zusammenstießen. Die Streikhäufigkeit ging jedoch allgemein zurück, da die noch Erwerbstätigen ihren Arbeitsplatz nicht weiter mehr gefährden wollten. Die Organisationskraft der Gewerkschaften ging als Folge beträchtlicher Mitgliederverluste ebenfalls zurück. Die Gewalt in der Öffentlichkeit wurde häufig durch uniformierte Parteimilizen der extremen Rechten und Linken oder durch „Veteranenbewegungen“ wie in Estland verstärkt. Diese Gruppen versuchten, ihre politischen Ziele durch undemokratische Mittel zu erreichen, und stellten mehr und mehr das bestehende parlamentarische System infrage. Auf der Ebene der Wählerschaft konnte in vielen Fällen eine zunehmende Polarisierung beobachtet werden, die sowohl rechte wie linke Antisystempar­ teien stärkte. Abhängig vom Wahlsystem, den Zeitpunkten und der Häufigkeit von Wahlen brachte dies starke Antisystemkräfte in die Parlamente, die manchmal sogar eine „negative“ Mehrheit bildeten. Der Konsens der Befürworter parlamentarischer Verfahren und demokratischer Normen wurde auf eine ernste Probe gestellt. In einigen Fällen brach er zusammen – wie z. B. in Deutschland, wo die letzte demokratisch gewählte Große Koalition aus liberalen Parteien, Parteien der Mitte und Sozialdemokraten im März 1930 wegen der Frage der Aufrechterhaltung von Sozialleistungen auseinanderfiel. Während viele dieser Ereignisse für die Einzelfälle gut dokumentiert sind, sind streng vergleichbare Daten schwerer erhältlich. Wahlergebnisse und Streikdaten sind z. B. für die große Mehrzahl unserer Fälle verhältnismäßig gut dokumentiert. Dagegen sind etwa Daten über das Ausmaß von Demonstrationen, politisch motivierte Gewaltakte usw. und deren Veränderung im Zeitverlauf nicht verfügbar. Auch hier mussten wir häufig auf die qualitativen Einschätzungen unserer Länderexperten vertrauen. Einige der bedeutendsten sozialen und politischen Reaktionen sind in Tabelle 2 wiedergegeben. Straßendemonstrationen und politisch motivierte Gewalttaten waren beispielsweise relativ häufig in Fällen wie Finnland, Frankreich, der T ­ schechoslowakei,

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0

1

0

GBR

CZE

IRL

0

NLD

1

0

BEL

FRA

1

FIN

−87,9 %

−72,2 %

−1,4 %

0

1

0

−82,3 %

0

−70,9 %

−69,2 %

1

1

25 %

−83,0 %

1

143 %

70 %

89 %

56 %

72 %

175 %

311 %

−67,4 %

Mittelwert 1930er-

0

Veränderung

Streiks

−1 %

−4 %

0 %

4 %

3 %

4 %

1 %

−3 %

Stimmen

−1 %

−4 %

0 %

10 %

4 %

3 %

2 %

−1 %

Sitze

Extreme Linke Veränderung Anteil

0 %

11 %

0 %

0 %

4 %

0%

11 %

0%

0%

4%

15 %

7 %

8 % 15 %

0 %

Sitze

2 %

Stimmen

Extreme Rechte Veränderung Anteil

Quellen: Flora et al. 1983, 1987; Mackie und Rose 1991; Sternberger und Vogel 1969.

Ü

0

Politische Gewalt

SWE

Land

Demonstrationen

−1 %

7 %

0 %

4 %

6 %

19 %

1 %

−1 %

Stimmen

–1 %

7%

0%

10 %

6%

18 %

2%

−1 %

Sitze

0,0 %

26,6 %

0,2 %

11,8 %

7,0 %

22,8 %

7,0 %

2,2 %

max. Stimmen

Antisystemparteien Veränderung Anteil

Tabelle 2: Soziale und politische Reaktionen (Veränderungen zwischen 1928 und ­Krisenhöhepunkt)

–1,45

0,14

–1,36

0,38

–0,98

0,13

0,48

–1,62

Index der Antisystemreaktion

194 Dirk Berg-Schlosser

1

0

1

1

1

1

DEU

HUN

Z ROU

EST

ESP

GRC

1

1

1

0

0

1

1

Demonstrationen

−53,8 %

69,8 %

−66,5 %

−28,9 %

−7,7 %

−90,1 %

−95,0 %

Veränderung



419 %

3 %

16 %

31 %

59 %

13 %

Mittelwert 1930er-

4 %

4 %

−2 %

0 %

0 %

6 %

0 %

Stimmen

5 %

29 % 18 %

16 %

0 %

27 %

15 %

25 %

16 %

Sitze

29 %

22 %

−9 % 4 %

24 %

15 %

26 %

21 %

Stimmen

Extreme Rechte Veränderung Anteil

0 %

0 %

6 %

0 %

Sitze

Extreme Linke Veränderung Anteil

20 %

30 %

20 %

24 %

15 %

30 %

21 %

Stimmen

23 %

30 %

−9 %

27 %

15 %

30 %

16 %

Sitze

27,3 %

32,3 %

27,0 %

27,1 %

15,2 %

60,5 %

16,4 %

max. Stimmen

Antisystemparteien Veränderung Anteil

0,93

1,20

0,67

0,16

−0,85

1,37

0,81

Index der Antisystemreaktion

Anmerkung: – fehlende Werte; FRA: Streikdaten ohne Streikwelle von 1936; EST: Die Veränderungen der Stimmanteile extrem rechter Parteien beziehen sich auf Kommunalwahlen; ESP: Die fehlenden Angaben über die Veränderungen der Stimmanteile der Antisystemparteien wurden durch die entsprechenden Werte für ihre Sitzanteile ersetzt; GRC: Der fehlende Wert für die Veränderung der Streikrate wurde durch den Mittelwert ersetzt.

1

Politische Gewalt

AUT

Land

Streiks

Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

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195

196

Dirk Berg-Schlosser

Österreich, Deutschland und Estland vorzufinden. Die Streiktätigkeit war am ausgeprägtesten in Spanien, Schweden, Irland und Belgien. Der Sonderfall eines „doppelten Zusammenbruchs“ in Spanien wird nach der Wiedererrichtung eines demokratischen Systems 1930/31 wieder berücksichtigt. Die erfassten Streikaktivitäten standen jedoch meistens in Zusammenhang mit inneren politischen Auseinandersetzungen. Insgesamt ging die Streikhäufigkeit verglichen mit den 1920er-Jahren während der 1930er-Jahre in den meisten Fällen auf weniger als ein Drittel zurück. Spanien, Irland und Ungarn stellten Ausnahmefälle dar. Auf der Ebene der Wählerschaft waren die Veränderungen zugunsten extremistischer Parteien zwischen 1928 und dem Krisenhöhepunkt in Deutschland, Spanien, Rumänien, Österreich, Griechenland, Estland und Belgien am größten. Im Allgemeinen wurde diese Entwicklung wegen der jeweiligen Wahlverfahren auf parlamentarischer Ebene etwas abgemildert. Dieses war jedoch in Deutschland, wo die Repräsentation in hohem Maße proportional war, nicht der Fall und trifft auch nicht für Rumänien und Griechenland zu, wo die Rechtsextremen in gewissem Ausmaß gestärkt wurden.31 Dies führte zu absoluten Spitzenwerten der Stimmenanteile für Antisystemparteien (einschließlich des Niveaus vor der Krise) von mehr als 60 Prozent (!) im deutschen Fall, einem Drittel in Spanien und ungefähr einem Viertel in Rumänien, Estland, der Tschechoslowakei und Belgien. Dabei erhielten faschistische und ähnliche Parteien fast 40 Prozent in Deutschland und ungefähr ein Fünftel der Stimmen in Fällen wie Estland, Belgien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn. Mittels einer Faktorenanalyse konnten zwei der sozialen Krisenindikatoren (Demonstrationen und politische Gewalt) mit den Veränderungen der Stimmenanteile für extrem rechte und linke Parteien zusammen zu einem einzigen Index der „Antisystemreaktionen“ kombiniert werden. Das Auftreten von Streiks beruhte nicht auf demselben Faktor und erwies sich für das Endergebnis der Krise als relativ bedeutungslos. So kann gezeigt werden, dass die allgemeinen Antisystemreaktionen in Deutschland und Spanien eindeutig am heftigsten waren, gefolgt von Griechenland, Österreich, Estland und Finnland. Von diesen Fällen überlebte das demokratische System nur in Finnland, wenn auch mit einigen Einschränkungen. Wir stehen hier wieder vor der Notwendigkeit einer weiteren Erklärung, die man bei einer Analyse der verfolgten Wirtschaftspolitiken und der Wirkung der Handlungen einiger zentraler Akteure finden kann.

VII. Wirtschaftspolitische Reaktionen Anfangs nahmen die meisten Teilnehmer und Beobachter den Zusammenbruch an der New Yorker Börse als rein finanzielles und „konjunkturelles“ Phänomen wahr. Als große Teile der betroffenen Bevölkerung die Auswirkungen der Krise 31 Für nähere Einzelheiten vgl. Lauri Karvonen, Electoral Systems. In: Berg-Schlosser/ Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy, S. 131–162.

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

197

allmählich immer ernsthafter spürte, wurde allerdings mehr und mehr klar, dass auch wichtige strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft stattfanden. Die Dynamik dieser Veränderungen und ihre Interaktionen wurden weiter dadurch verkompliziert, dass die internationale Wirtschaft immer noch durch die Kriegsschulden und die Reparationsleistungen, wie sie im Versailler Vertrag und im Dawes-Plan von 1924 vereinbart worden waren, belastet wurde. Dies führte zu schweren Konflikten zwischen Schuldner- und Gläubigernationen. Solche Konflikte entstanden nicht nur zwischen den Alliierten und Deutschland, das nach dem Dawes-Plan jährlich 2 500 Mio. Goldmark Reparationen zahlen musste, sondern auch zwischen den Vereinigten Staaten (als Hauptgläubiger) und dem Vereinigten Königreich und Frankreich, die jeweils Kriegsschulden von mehr als 4 000 Mio. Dollar aufgenommen hatten.32 Das internationale Geldsystem beruhte außerdem auf dem etwas fiktiven „Goldstandard“, der die Konvertibilität jeder Hauptwährung in Gold nach festen Wechselkursen zur Voraussetzung hatte. Er setzte auch ein gewisses Maß an gegenseitiger Zusammenarbeit und wechselseitigem Vertrauen bei den beteiligten Regierungen und Zentralbanken voraus. Mit der Verschlechterung der internationalen wirtschaftlichen Situation nach 1929 ließ die für das Funktionieren des Systems erforderliche Zusammenarbeit mehr und mehr nach, da zentrale Akteure und Institutionen zunehmend ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellten.33 Die Hauptmaßnahmen, die von den meisten Regierungen zur Bekämpfung der Krise ergriffen wurden, bestanden aus konventionellen „Austeritäts“-Politiken. Solche Politiken zielten insbesondere darauf ab, in Zeiten sinkender Einnahmen die öffentlichen Haushalte ausgeglichen zu halten, das heißt, öffentliche Beschäftigung, Sozialleistungen und andere Ausgaben so weit als möglich zu reduzieren. Auf der Geldseite verfolgten viele Länder eine Hochzins- und eine restriktive Kreditpolitik, um die internationale Zahlungsfähigkeit und die Konvertierbarkeit ihrer Währungen zu festen Wechselkursen aufrechtzuerhalten. Im Nachhinein kann man natürlich leicht folgern, dass die meisten dieser Maßnahmen kontraproduktiv waren und nur dazu dienten, die Krise noch weiter zu verschärfen. Damals wurde dies jedoch nur von wenigen erkannt, vor allem natürlich durch John Maynard Keynes, dessen Hauptwerk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ von 1936 zwar noch nicht vorlag, der aber wirtschaftspolitisch bereits stark in Erscheinung trat. Im Großen und Ganzen nahmen Regierungen und Zentralbanken allerdings immer noch Inflationen als Hauptfeind wahr und versuchten zur internationalen Stabilität der Vorkriegsperiode zurückzukehren, indem sie am Goldstandard festhielten. Erst im Laufe der Krise leuchtete es einem Teil dieser Akteure – einigen früher als anderen – ein, dass konventionelle Politiken nicht länger wirkungsvoll

32 Für Einzelheiten siehe Charles Poor Kindleberger, The World in Depression, S. 34 ff. 33 Vgl. Barry Eichengreen, Golden Fetters. The Gold Standard and the Great Depression 1919–1939, Oxford 1992.

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−114 %

−27 %

−85 %

−23 %

FRA

GBR

CZE

IRL

−32 %

NLD

20 %

−4 %

−10 %

−6 %

182 %

55 %

−24 %

−20 %

74 %

248 %

−29 %

−8 %

−2 %

„Defizitfinanzierung“

129 %

19 %

55 %

öffentliche Schulden

31,8 %

20,3 %

31,8 %

56,6 %

19,2 %

28,2 %

41,8 %

35,7 %

Veränderung

9/1931

10/1931

9/1931

9/1936

9/1936

3/1935

10/1931

9/1931

Datum

Abwertung

23

24

23

84

84

66

24

23

0

5

0

6

3

4

1

3

Dauer der Geschwindigkeit Krise (Jahre) (Monate)

−0,75

−0,63

0,81

2,05

−0,25

−0,59

−0,38

−0,36

Stärke der wirtschaftspolitischen Reaktionen

34 Anmerkung: 10 % Schätzung; DEU Abwertung nach den Paritäten der „Kreditsperrmark“ und „Effektensperrmark“.

Ü

−174 %

−234 %

−14 %

Deflation

BEL

FIN

SWE

Land

Tabelle 3: Wirtschaftspolitische Reaktionen (Veränderungen zwischen 1928 und Krisenhöhepunkt)34

198 Dirk Berg-Schlosser

GRC

ESP

EST

ROU

−200 %

−2 %

−25 %

−2000 %

94 %

92 %

20 %

73 %

43 %

20 %

40 %

öffentliche Schulden

−61 %

−10 %

−6 %

−11 %

−18 %

−27 %

−16 %

„Defizitfinanzierung“

56,4 %

45,2 %

40,1 %

25,6 %

0,9 %

51,5 %

20,8 %

Veränderung

9/1931

1/1930

11/1931

5/1932

7/1931

3/1931

3/1931

Datum

Abwertung

23

3

25

31

21

17

17

0

3

2

1

4

2

4

Dauer der Geschwindigkeit Krise (Jahre) (Monate)

1,31

−0,52

−0,47

−0,27

−1,12

−1,13

−0,60

Stärke der wirtschaftspolitischen Reaktionen

Quellen: League of Nations, Statistical Yearbook of the League of Nations, 1940/41, Geneva 1941; Brian R. Mitchell, ­European Historical Statistics 1750–1975, 3. Auflage London 1983; CCC-Datensatz; International Labour Office (ILO), Statistical Yearbook, Geneva 1947; Peter Flora, State, Economy and Society in Western Europe 1815–1975: A Data Handbook in Two Volumes, Frankfurt 1983/1987; Statistisches Reichsamt, Statistisches Handbuch der Weltwirtschaft, Berlin 1936. Definitionen: Öffentliche Schulden: Maximum der gesamten öffentlichen Schulden als Anteil am Sozialprodukt nach 1928; „Deficit Spending“: Maximum des Defizits als Anteil an den Staatseinnahmen nach 1928; Abwertung: Differenz zwischen der Goldparität 1928 und der niedrigsten Parität innerhalb von drei Jahren nach der ersten Abwertung.

Z

−24

−26 %

DEU

HUN

−6 %

Deflation

AUT

Land

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199

200

Dirk Berg-Schlosser

und angesichts der sozialen Kosten und der politischen Folgen, die sie mit sich brachten, unvertretbar geworden waren.35 Die wesentlichen politischen Reak­ tionen aufseiten der hier untersuchten Länder sind in Tabelle 3 dokumentiert. Wie man sehen kann, litten alle Länder außer Spanien (was angesichts der dort herrschenden besonderen Lage von geringerer Bedeutung war) unter Deflation. Die Deflation erreichte ein Ausmaß von 2 000 Prozent (!) in Rumänien und Raten von über 100 Prozent in Finnland, Griechenland, Belgien und den Niederlanden. In einigen Ländern wie Griechenland, Belgien und Frankreich wurde 1931/32 ein innenpolitischer Wendepunkt erreicht, als das „Deficit Spending“ zunehmend akzeptiert oder jedenfalls in großem Umfang praktiziert wurde. In Deutschland wurde im Januar 1932 vom Reichspräsidenten ein neues Kabinett unter Reichskanzler Franz von Papen ernannt, das die Austeritätspolitik der Regierung Brüning ablöste, die die Regelung von Reparationsfragen zu einer vorrangigen Frage gemacht hatte. Das Reparationsproblem war bis zu einem bestimmten Grad durch die Annahme des Young-Plans im April und das Hoover-Memorandum vom Juni 1931, das einen Aufschub aller Reparationszahlungen für den Zeitraum von einem Jahr vorsah, erleichtert worden. Im Juli 1932 kam eine internationale Konferenz in Lausanne schließlich – trotz französischen Widerstandes – zu dem Schluss, dass Deutschland unter den herrschenden welt- und binnenwirtschaftlichen Bedingungen nicht länger in der Lage sei, seine Zahlungen fortzusetzen. Dies kam jedoch nicht nur für Brünings Anstrengungen zu spät, sondern, wie sich herausstellen sollte, auch für von Papen und dessen Nachfolger, General Kurt von Schleicher, der nach seinem Amtsantritt im Dezember 1932 großangelegte öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme zur Linderung der Arbeitslosigkeit initiiert hatte. Auf internationaler Ebene begann man ebenfalls zunehmend, den Goldstandard zu verlassen. Der Druck auf das britische Pfund war so stark geworden, dass seine Konvertibilität zu einem festen Kurs in Gold ernsthaft bedroht war. Die Bank von England suspendierte daher am 19. September 1931 die Konvertibilität und wertete das Pfund im Laufe der folgenden Jahre um über 30 Prozent ab. Andere Länder mit engen Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien wie Irland, Schweden und Finnland folgten bald nach. In Deutschland wurden scharfe Devisenkontrollen und neue Kategorien der faktisch abgewerteten Reichsmark für internationale Transaktionen (Kapitaltransfers, Reisen usw.) eingeführt, obwohl der offizielle Kurs weiterhin aufrechterhalten wurde. Lediglich Belgien, die Niederlande und Frankreich hielten länger stand, aber letztlich (1935 und 1936) mussten auch sie den Goldstandard verlassen und ihre Währungen abwerten. Inzwischen war im April 1933 der US-Dollar von der Golddeckung abgekoppelt worden und durfte freier fluktuieren. Entgegen den meisten Erwartungen und der damals herrschenden Lehrmeinung führten

35 Thomas Saalfeld, The Impact of the World Economic Crisis and Policy Reactions. In: Berg-Schlosser/Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy, S. 208–232.

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

201

diese Schritte nicht zu einer Serie von Abwertungen auf Kosten anderer internationaler Konkurrenten. Stattdessen bedeuteten sie einen wichtigen Schritt in Richtung wirtschaftlicher Erholung. Auf Grundlage unserer Daten und mithilfe einer Faktorenanalyse war es möglich, einen Index zu konstruieren, der die Stärke der wirtschaftspolitischen Reaktionen angibt. Dieser Index vereint das Ausmaß des „Deficit Spending“, öffentlicher Verschuldung und der Abwertung der Währungen. Es zeigt sich, dass Länder wie Griechenland und Frankreich einschneidende wirtschaftspolitische Maßnahmen durchführten – Griechenland anscheinend unbeabsichtigt, da es kaum von der Krise betroffen war. Im Gegensatz dazu blieben die kombinierten politischen Maßnahmen, die man in Ungarn und Deutschland betrieb, relativ schwach. Wir müssen jedoch auch die Geschwindigkeit berücksichtigen, mit der solche Reaktionen stattfanden. Hier stellt sich heraus, dass Griechenland verhältnismäßig früh ein großes Haushaltsdefizit und einen hohen öffentlichen Schuldenstand hatte. Dies half sehr wahrscheinlich bei der Abmilderung der möglichen Krisenfolgen. Frankreich und, in geringerem Maße, die Niederlande sowie Belgien waren im Gegensatz dazu mit ihrer Reaktion auf die Krise relativ spät, insbesondere hinsichtlich der Abwertung ihrer Währungen. Dies scheint beträchtlich zur Verlängerung der Krise in den genannten Ländern beigetragen zu haben. Der Befund entspricht auch Eichengreens Argumenten.36 Zusammengenommen scheinen wirtschaftspolitische Reaktionen allein das Schicksal eines Regimes ebenfalls nicht zu erklären. In Deutschland konnte beispielsweise der relativ frühe wirtschaftspolitische Kurswechsel nicht verhindern, dass Hitler knapp ein Jahr später an die Macht gelangte. Die starken deflationären Maßnahmen in Belgien, den Niederlanden und Frankreich sowie die Verspätung der Abwertung führten wiederum nicht zum Zusammenbruch dieser parlamentarischen Regime.

VIII. Politische Akteure und Handlungen Bis jetzt haben wir uns auf die sozialen und politischen Hintergrundbedingungen, die Nachkriegskrise, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die sozialen und elektoralen Reaktionen auf die Krise und die durchgeführten wirtschaftspolitischen Maßnahmen in jedem einzelnen Fall konzentriert. Es waren trotzdem nicht diese Strukturen, das Ausmaß der Krise, soziale und politische Reaktionen im weiteren Sinne allein, die das endgültige Schicksal der Demokratien bestimmten. Zusätzlich gab es eine Vielfalt konkreter Akteure, die zusammen mit ihren Schlüsselentscheidungen an kritischen Wendepunkten berücksichtigt werden müssen. Personen wie Paul von Hindenburg, Franz von Papen und Adolf Hitler in Deutschland, Tomáš Garrigue Masaryk in der Tschechoslowakei, Pehr Evind Svinhufvud in Finnland und Konstantin Päts in 36 Vgl. Eichengreen, Golden Fetters.

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0

0

1

GBR

CZE

IRL

0

NLD

1

1

BEL

FRA

1

FIN

0

0

0

0

0

1

0

0

Kirche

0

0

0

0

0

0

0

0

1

1

0

0

0

1

1

0

Politische FührungsMilitär persönlichkeit

1

1

0

0

0

0

1

0

Notstandsmaßnahmen

0

1

1

1

1

1

1

1

Breite demokratische Koalition

37 Berg-Schlosser/Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy, S. 304.

Ü

0

SWE

Land

Soziale Bewegungen

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

Intervention Militär Autoritäre Faschisten

–0,91

–0,36

–0,07

–0,59

–0,07

–1,37

–0,89

–0,7

0,71

–0,85

–1,45

–0,49

–1,45

–0,25

0,11

–1,45

1932

1934

1931

1934

1937

1937

1932

1934

Faktor KrisenInterventionen höhe„mil./ „anti-dem./ punkt fasch.“ autoritär“

Tabelle 4: Wichtigste Akteure und Handlungen (Veränderungen zwischen 1928 und Krisenhöhepunkt)37

202 Dirk Berg-Schlosser

1

1

1

1

1

1

0

AUT

DEU

HUN

Z ROU

EST

ESP

GRC

Land

Soziale Bewegungen

0

–1

0

0

0

0

0

Kirche

1

1

0

1

0

1

0

1

0

1

1

1

1

0

Politische FührungsMilitär persönlichkeit

1

1

1

1

1

1

1

Notstandsmaßnahmen

0

0

0

0

0

0

0

Breite demokratische Koalition

1

1

0

1

0

0

0

1

1

1

1

1

1

1

0

1

0

1

0

1

0

Intervention Militär Autoritäre Faschisten

1,54

1,97

–0,44

1,55

–0,44

0,76

–0,61

–0,36

0,18

1,28

0,54

1,28

0,97

1,22

1936

1936

1934

1938

1936

1933

1934

Faktor KrisenInterventionen höhe„mil./ „anti-dem./ punkt fasch.“ autoritär“

Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

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203

204

Dirk Berg-Schlosser

Estland, um nur einige zu nennen, hatten offensichtlich etwas damit zu tun, was sich in den jeweiligen Ländern schließlich an Entwicklungen ergab. Es sind selbstverständlich nicht nur Männer (oder Frauen), die „Geschichte machen“. Aber es wäre ebenso einseitig – und häufig auch falsch – sie per definitionem als bloße „Charaktermasken“ im Sinne von Karl Marx zu begreifen. Es ist vielmehr das Zusammenwirken zwischen einer struktur- und einer akteursorientierten Perspektive, die für eine Analyse wie die unsere am Erfolg versprechendsten erscheint. Nachdem wir den eher objektiv definierten Handlungsspielraum (oder, in den Worten Jon Elsters, das „opportunity set“38) und die messbaren Reak­ tionen institutioneller Akteure wie Regierungen oder Zentralbanken bestimmt ­haben, müssen wir unsere Aufmerksamkeit jetzt auf die individuellen Akteure und deren Entscheidungen richten. Dabei werden wir zumindest in einem gewissen Umfang versuchen zu messen, welche Bedeutung diese Persönlichkeiten und ihre besonderen Entscheidungen und Handlungen für das endgültige Schicksal eines politischen Regimes gehabt haben. Dazu haben wir einen schematischen Überblick über einige der bedeutenden Akteure und die von ihnen getroffenen Maßnahmen zusammengestellt. Zu den Akteuren zählen politische Führer, vor allem in den Fällen, in denen nach dem Urteil unserer Länderexperten starke Persönlichkeiten das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung verändert haben. Hinzu kommen die Spitzen des Militärs (auch wenn sie sich einer regelrechten Einmischung enthielten), die Anführer wichtiger politischer (insbesondere faschistischer) Bewegungen, oder hohe Geistliche, die in dem einen oder anderen Fall eine wichtige Rolle spielten. Unter den Maßnahmen, die von diesen Akteuren ergriffen wurden, waren die Anwendung von Notstandsverordnungen jenseits der normalen parlamentarischen Verfahren, die Bildung neuer und breiter fundierter demokratischer Koalitionen und das unmittelbare Eingreifen militärischer, autoritärer oder faschistischer Kräfte. Diese Aspekte sind in Tabelle 4 dokumentiert. An dieser Stelle wurde wieder eine Faktorenanalyse zur weiteren Aggrega­ tion dieser Variablen durchgeführt. Zwei charakteristische Faktoren, die wir als „militärisch/faschistisch“ und „antidemokratisch/autoritär“ bezeichnen, stellten sich heraus. Auf der „militärisch/faschistischen“ Skala stehen die Länder Spanien, Rumänien und Griechenland an der Spitze. Dies bedeutet allerdings nicht, dass in diesen Fällen notwendigerweise militärische und faschistische Akteure gemeinsam agierten. Auf der „anti-demokratisch/autoritären“ Skala erwiesen sich Ungarn, Estland und Österreich als die herausragendsten Fälle. Ebenfalls bemerkenswert ist die Tatsache, dass Deutschland als einziges Land auf beiden Skalen relativ hoch rangierte. Dies deutet auf eine unselige „faschistisch-autoritäre“ Allianz hin, die von Hitler und von Papen und ihren Anhängern zum Zeitpunkt der Machtübernahme gebildet wurde. Von den Ländern, in denen das demokratische System überlebte, haben Schweden, die Niederlande und das Vereinigte Königreich die niedrigsten Werte hinsichtlich einer autori38 Vgl. Jon Elster, Nuts and Bolts for the Social Sciences, Cambridge 1989.

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

205

tären Intervention. In Belgien wurde die Wirkung der starken faschistischen „Rexisten“-Bewegung durch die Intervention des Kardinals – dem „coup de crosse“, wie er genannt wurde – abgeschwächt.

IX. Übergreifende dynamische Analysen Wir konnten bis jetzt Schritt für Schritt die allgemeinen Hintergrundbedingungen, die Wirkung der Nachkriegskrise, die Gründe für die frühen Zusammenbrüche, die Auswirkungen der zwischenzeitlichen Stabilisierung, die Konsequenzen der Weltwirtschaftskrise, die darauf folgenden sozialen und politischen Reaktionen, die verfolgten Wirtschaftspolitiken und die politischen Schlüsselentscheidungen der Hauptakteure nachzeichnen und in ihrer relativen Bedeutung erfassen. Es konnte gezeigt werden, dass die Stärke der Weltwirtschaftskrise als solche den Ausgang der politischen Krise nicht erklären kann. Die Wirtschaftskrise war in der Tschechoslowakei, einem Überlebensfall, nahezu ebenso schwerwiegend wie in Deutschland, dem fatalsten Fall des Zusammenbruchs eines demokratischen Systems. Griechenland, ein anderer Zusammenbruchsfall, blieb von der Wirtschaftskrise nahezu verschont. Genauso wenig führten die verschiedenen wirtschaftspolitischen Reaktionen zu bedeutenden Veränderungen auf der politischen Ebene. Einige Länder erholten sich, je nach den durchgeführten wirtschaftspolitischen Maßnahmen (vor allem frühe Abwertung und Übernahme „keynesianischer“ Politiken) früher als andere. Trotzdem gehörten sowohl Überlebensfälle wie Belgien, Frankreich und die Tschechoslowakei als auch Zusammenbruchsfälle wie Österreich und Ungarn zu den Ländern, in denen die Krise am längsten andauerte. Die sozialen und elektoralen Reaktionen auf die Wirtschaftskrise ergeben ein deutlicheres Bild. Antisystemreaktionen waren bei Weitem am heftigsten in Deutschland und Spanien, aber sie waren ebenso beträchtlich in einem Überlebensfall wie Finnland und recht schwach in einem Zusammenbruchsfall wie Ungarn. In Bezug auf kollektive Akteure übten starke soziale Bewegungen und eine aktive politische Rolle des Militärs einen großen Einfluss in Rumänien, Spanien und Griechenland aus. Sie führten dort zu dem Typ von Zusammenbruch, den wir als „militärisch/faschistisch“ bezeichnet haben. Der eher traditionelle „autoritäre“ Typ des Zusammenbruchs kam im Gegensatz dazu in Österreich, Ungarn und Estland vor. Die Bildung demokratischer Koalitionen auf breiterer Basis wie in Schweden, Finnland und Belgien stellte einen wichtigen Schritt in Richtung Bewältigung der politischen Krise dar. Eindeutig ist auch, dass Persönlichkeiten wie die Präsidenten Svinhufvud in Finnland und Masaryk in der Tschechoslowakei eine bedeutende Rolle im positiven Sinne spielten, während die Präsidenten Hindenburg in Deutschland und Päts in Estland einen eindeutig negativen Einfluss ausübten. Wenn wir die Wechselwirkungen zwischen bestimmten Faktoren mithilfe einfacher bivariater und partieller Korrelationsanalysen etwas genauer betrachten, können wir sie in folgendem Modell zusammenfassen (s. Abb. 2).

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Dirk Berg-Schlosser

Wir sehen, dass die direkte Beziehung zwischen den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und dem Schicksal der Demokratien ziemlich schwach ist (r = .10). Sie ist sogar noch schwächer (r = −.05) in denjenigen Fällen, in denen es zu starken wirtschaftspolitischen Maßnahmen kam. Wenn die Abwertung allerdings zu einem sehr späten Zeitpunkt stattfand, steigt diese Korrelation etwas an (r = .21). Für sich allein bleiben alle diese Korrelationen ziemlich unbedeutend. Die Beziehungen werden dagegen ausgeprägter, wenn wir einen zusätzlichen Faktor, gesellschaftliche und elektorale Antisystemreaktionen, berücksichtigen. Hier kann man erkennen, dass das Ausmaß der Weltwirtschaftskrise hoch mit den Antisystemreaktionen korreliert (r = −.39) und dass diese wiederum sehr eng (r = .59) mit dem Schicksal des politischen Regimes verknüpft sind. Wenn diese Zusammenhänge weiter kontrolliert werden, dann steigt die Korrelation zwischen Depression und Antisystemkräften in Verbindung mit einer späten Abwertung (r = −.43) und starken wirtschaftspolitischen Reaktionen (r = −.51) noch weiter an. Die Korrelation zwischen den Antisystemreaktionen und dem Schicksal des politischen Regimes steigt ähnlich an (r = −.67), wenn starke wirtschaftspolitische Reaktionen kon­ trolliert werden. Die Hintergrundbedingungen von Demokratie, die für sich genommen die höchste positive Korrelation mit dem Ergebnis (r = .78) aufweisen, dämpfen im Gegenzug die Antisystemreaktionen (r = −.31).

Antisystemreaktionen +0,39 Kontrollvariablen: wirtschaftspolitische Reaktionen +0,51 Geschwindigkeit +0,43

−0,59 Kontrollvariablen: wirtschaftspolitische Reaktionen +0,51 Geschwindigkeit +0,43 −0,55

Weltwirtschaftskrise

−0,10 Kontrollvariablen: wirtschaftspolitische Reaktionen −0,05 Geschwindigkeit −0,24

Krisenergebnis

+0,75

Hintergrundbedingungen von ­Demokratie Abb. 2: Faktoren-Interaktionen

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Wenn wir die Gesamtsituation im Längsschnitt betrachten, kann dies mit Überlebens- und Ereignisdatenanalysen auf der Grundlage von Regressionsmodellen nach David Cox geschehen.39 Im Unterschied zu den üblichen statistischen Querschnittsanalysen, die nur Momentaufnahmen einer gegebenen Situation sind, sind Längsschnittanalysen besser geeignet, Veränderungsprozesse und kausale Beziehungen, die über die Zeit wirken, aufzudecken. Die Cox-Regression basiert auf Längsschnittdaten und berechnet Überlebensfunktionen und dazugehörige Hazard-Raten, bei deren Berechnung auch Fälle eingeschlossen werden, in denen das Ereignis (noch) nicht eingetreten ist (sogenannte zensierte Fälle). Wir haben einen Datensatz für alle unsere 18 ursprünglichen Fälle mit den wesentlichen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen auf Jahresbasis zusammengestellt. Die berücksichtigten dynamischen Faktoren waren im Bereich der Wirtschaft Veränderungen des Bruttosozialproduktes (BSP) pro Kopf und der Industrieproduktion, Inflations- und Arbeitslosenraten und Export-Import-Raten; im politischen Bereich waren es die von extrem rechten Parteien im Besonderen und von Antisystemparteien im Allgemeinen erzielten Wahlergebnisse, die Fragmentierung der parlamentarischen Parteiensysteme und die Anzahl der Regierungen. Wir prüften zunächst jede Variable für sich, um mögliche Einflüsse auf die Überlebensfunktion zu entdecken. Nur die Höhe des BSP pro Kopf, die Arbeitslosenquote, der Sitzanteil von Antisystemparteien und die Anzahl der Regierungen erschienen in irgendeiner Weise als bedeutsam. Bei gleichzeitiger Berücksichtigung dieser Variablen ergab sich folgendes Ergebnis (siehe Tabelle 5). Bei einem schrittweisen Vorgehen – gleichgültig ob durch Ein- oder Ausschluss von Variablen – bleiben nur der Sitzanteil von Antisystemparteien und die Anzahl der Regierungen übrig. Das Ergebnis unterstreicht somit die Bedeutung einiger der zentralen politischen Faktoren gegenüber den ökonomischen Faktoren, wobei der Stärke von Antisystemparteien das größte Gewicht zukommt (R-Werte können hier ähnlich wie partielle Korrelationen interpretiert werden). Das ist ein interessanter Befund, der sich bis zu einem gewissen Grad mit unseren anderen Ergebnissen deckt, die die Bedeutung von sozialer Unruhe und antidemokratischen Kräften unterstrichen. Aber wie bei allen generalisierenden Verfahren bleibt ein relativ hohes Maß an Allgemeinheit, manche würden auch Oberflächlichkeit sagen, dass das mehr oder weniger Offensichtliche betont. Auch die Stärke der Beziehung ist nicht beeindruckend. Daher sollten wir wie zuvor nicht nur auf die verallgemeinernden Aspekte achten, sondern auch versuchen, einige Variationen aufzudecken.

39 Vgl. Hans-Peter Blossfeld/Götz Rohwer, Techniques of Event History Analysis. New Approaches to Causal Analysis, Mawah 1995.

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.4567

.5054

.7334

Stimmenanteile von Antisystemparteien

Anzahl neuer Regierungen (jährlich)

Stimmenanteile von Antisystemparteien .2165

.1820

.2388

.1992

4.2785

.0305

S. E.

1

1

1

1

df

11.4749

7.7099 1

1

(b) schrittweise Einschluss

3.6575

3.7970

2.6755

4,3531

Wald

.0007

.0055

.0558

.0513

.1019

.0369

Sig

.3061

.2376

.1280

.1333

−.0817

−.1525

R

2.0821

1.6576

1.5789

1.4744

9.13E-04

.9384

Exp(B)

Anmerkungen: Der Wirtschaftsindex beruht auf dem Index des Pro-Kopf-Einkommens oder – wenn nicht verfügbar – auf dem Index der Industrieproduktion. Fehlende Werte für die Variablen Wirtschaftsindex und Arbeitslosenrate wurden durch lineare Interpolation ergänzt.

.3882

−6.9984

Arbeitslosenrate

Anzahl neuer Regierungen (jährlich)

−.0636

B

Wirtschaftsindex

Variable

(a) gleichzeitiger Einschluss

Tabelle 5: Ereignisdatenanalyse 1919–1939, Cox-Regressionen

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Bedingungen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit

X.

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Synoptischer Überblick, erkennbare Muster

Unsere Analyse der konstanten Hauptfaktoren über unsere sieben Kategorien hinweg, die das mögliche Überleben oder den Zusammenbruch eines demokratischen Regimes betreffen, resultiert in einer „Analytischen Karte Europas in der Zwischenkriegszeit“ (vgl. auch Abb. 1). Bereits hier können die Niederlande, Schweden, Belgien, das Vereinigte Königreich und Frankreich (auf der linken Seite der Abbildung) zu den verhältnismäßig „sicheren“ Kandidaten unter unseren Fällen gezählt werden. In all diesen Ländern bestand die Demokratie den Test der Weltwirtschaftskrise. Im Gegensatz dazu waren Rumänien, Spanien, Polen, Portugal und Italien alle auf der ungünstigen Seite. Tatsächlich waren alle Fälle eines frühen Zusammenbruchs darunter (Rumänien war von Anfang an ein ziemlich fragwürdiger Fall einer „Demokratie“). Es bleiben die interessantesten „kritischen“ Fälle in der Mitte, wo es der Tschechoslowakei, Irland und Finnland gelang, ihre neuen Demokratien zu stabilisieren, und wo Estland, Deutschland, Ungarn, Griechenland und Österreich sich autoritären und/oder faschistischen Kräften beugten. Die Variationen zwischen diesen Fällen und die Wirkung der dynamischen Faktoren werden jetzt etwas näher untersucht. Dies geschieht auf eine illustrative und teilweise metaphorische Art und Weise, gleichwohl die entsprechenden Elemente dieser Darstellung auf systematische und quantifizierbare Weise zusammengestellt worden sind. Zu diesem Zweck halten wir es für hilfreich, die gesamte Situation als „Küste“ zu begreifen, die von einer großen Flutwelle („Tsunami“) bedroht wird. Hierbei spielen sowohl die Topografie der Küste, die durch einige vorangegangene Fluten geformt worden ist, als auch menschliche Bauwerke wie „Deiche“ und „Schleusen“ eine Schlüsselrolle. Diese lassen sich als die jeweiligen historischen und strukturellen Bedingungen begreifen, die die Situation in jedem Einzelfall bestimmen. In Bezug auf diese müssen dann das tatsächliche Auftreffen der Flutwelle und die durch das Beben ausgelöste Sekundärreaktionen, die unter Umständen deren zerstörerische Wirkung steigern, berücksichtigt werden. Schließlich kommen die individuellen Gruppen und Akteure, die die „Deiche“ besetzen und deren verschiedene Aktionen in der Krisensituation ins Spiel: die Bekämpfung der Flut oder unzureichendes Reagieren und das Eintreten der Überflutung. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich all diese Elemente mit unseren Daten quantifizieren. Die Stärke des ursprünglichen Bebens wird mit unserem „Depressions­index“ gemessen. Die vorangegangenen Wirkungen der Nachkriegskrise und der anschließenden Periode relativer Ruhe sind berücksichtigt worden, indem die wesentlichen wirtschaftlichen und politischen Indikatoren für diese Perioden herangezogen und ihre Beziehung zum Endergebnis geprüft wurden. Von allen berücksichtigten Variablen zeigten nur einige politische Faktoren (die Stärke extrem rechter Parteien und die Stärke von Antisystemparteien, die Anzahl der Regierungen) durchgängig eine Beziehung zum Endergebnis. Diese wurden durch eine konfirmatorische Faktorenanalyse für jede Periode zu einem ­„politischen

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Abb. 3a: Dynamisches Krisen-Histogramm – Überleben von Demokratien

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Abb. 3b: Dynamisches Krisen-Histogramm – Zusammenbruchsfälle

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Krisenindex“ zusammengefasst. Zusätzlich verwendeten wir unseren Index der sozialen und elektoralen Reaktionen, der die Wucht des Aufpralls des „Tsunami“ anzeigt, und unsere kombinierten Hintergrundvariablen als Maß für die Höhe und Festigkeit der „Deiche“. Schließlich wurde berücksichtigt, ob einige der Hauptakteure und Persönlichkeiten zugunsten oder zuungunsten der Demokratie eingriffen oder nicht. Diese Faktoren wurden anschließend mit den Koeffizienten der kanonischen Diskriminanzfunktion, einer Diskriminanzanalyse bei gleichzeitigem Einschluss aller Variablen standardisiert und gewichtet. Das Ergebnis für jeden unserer verbleibenden 15 Fälle für das Ende der untersuchten Periode zeigen Abbildung 3a und 3b. Die Stärke des ursprünglichen Bebens (das heißt die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise) wird durch den ersten (weißen) Balken symbolisiert. Die Topografie der Küste, die während der zwei vorausgegangenen Perioden, das heißt die Nachkriegskrise und die Zeit unmittelbar vor der Weltwirtschaftskrise, geprägt worden ist, wird durch die nächsten zwei (schraffierten) Balken dargestellt. Ein positiver Wert kann hier als „Riff“ verstanden werden, das vorangegangene Fluten überstanden hat und weiter als Küstenschutz dienen kann, ein negativer Wert als „Durchlass“, der von früheren Fluten geschaffen wurde und der jetzt das Auftreffen der neuen begünstigt. Die tatsächliche Flutwelle, die die sozialen und elektoralen Reaktionen in jedem Land widerspiegelt, wird durch den vierten (schwarzen) Balken angezeigt. Gegenüber den Auswirkungen dieser Kräfte müssen dann die Stärke und die Höhe der bestehenden „Deiche“ als Ausdruck der Hintergrundbedingungen für Faktoren, die günstig oder ungünstig für Demokratie sind (hier durch senkrecht linierte Balken dargestellt), gesehen werden. Schließlich erhöhen (z. B. durch das Hinzufügen einiger „Sandsäcke“) oder verringern (indem sie das Durchlaufen der Flut begünstigen) bestimmte Akteure die Höhe der „Deiche“ (die dunkel schattierten letzten Balken für jeden Fall). Wenn wir diese Balkendiagramme näher betrachten, können wir interessante Konstellationen dieser Faktoren und ihrer dynamischen Interaktion für jeden Einzelfall in40 einer stark zusammengefassten Form entdecken. Wenn wir zunächst die Überlebensfälle betrachten, dann zeigen die Muster auf der rechten Seite von Abbildung 3a die stabilen Demokratien der Niederlande, Schwedens und des Vereinigten Königreichs. Dort beeinflussten die Krisenfaktoren der verschiedenen Perioden das Endergebnis nur unwesentlich. Die „Deiche“ blieben durchgängig hoch und stabil und bedurften keines besonderen Eingriffs durch einen relevanten Akteur. Verhältnismäßig unbedeutend waren die Krisen auch in Irland. Aber auch der „Deich“ war in dem relativ armen katholischen Land ohne vorherige unabhängige Staatlichkeit und Demokratie etwas niedriger. Er wurde jedoch beträchtlich durch die unterstützenden Aktionen von Premier­minister Éamon de Valera und seiner Fianna-Fáil-Anhänger verstärkt, nachdem ihr Wahlsieg von 1932 die früheren „Anti-Vertrags“-Kräfte auf eine gemeinsame Linie gebracht hatte. 40 Der Konflikt bezog sich auf die Abmachungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem „Irischen Freistaat“ nach dem Bürgerkrieg von 1922/23.

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Im Gegensatz dazu war die Lage in Belgien und Frankreich sehr viel kritischer. In Belgien hatten die antidemokratischen Kräfte, die vor allem durch die (frankophonen) Rexisten und den „Vlaamsch Nationaal Verband“ sowie „Verdinaso“ auf flämischer Seite repräsentiert wurden, eine beträchtliche Stärke erlangt. Obwohl die „Deiche“ in dieser hoch industrialisierten alten Demokratie sehr hoch gewesen waren, wurden die Spannungen in der Krisensituation 1937, als Rexistenführer Léon Degrelle das System herausforderte, beträchtlich durch die positiven Interventionen des Kardinal Jozef-Ernest van Roey und die Bildung einer demokratischen Koalition auf größerer Basis unter Ministerpräsident Paul van Zeeland reduziert. Ähnlich hatten in Frankreich die Antisystemkräfte, repräsentiert durch rechtsgerichtete Gruppen wie die „Action Française“ und die „Ligues“, vor allem die „Croix-de-Feux“ unter Oberst François de la Rogue, eine bedenkliche Stärkung erfahren, die beinahe die Krone des „Deiches“ erreichte. Nach dem gescheiterten Putschversuch im Februar 1934 und der Bildung einer Volksfrontregierung unter Léon Blum, die erstmals die kommunistische Partei als Teil einer demokratischen Koalition einschloss, wurde die Lage etwas gefestigter, doch blieben die parlamentarischen Regierungen bis zur deutschen Invasion und der Errichtung des Vichy-Regimes 1940 sehr labil. Der tschechoslowakische und der finnische Fall weisen ein Muster auf, bei dem die endgültige Flutwelle, verstärkt durch die Nachkriegskrise und die Zwischenperiode, über die „Deiche“ getreten wäre (im Falle Finnlands sogar sehr deutlich), wenn nicht die entschlossenen prodemokratischen Interventionen der Präsidenten Masaryk in der Tschechoslowakei und Svinhufvud in Finnland entgegengewirkt hätten. Letzterer ließ den Aufstand der faschistoiden Lapua-Bewegung bei Mäntsälä unter Einsatz des Militärs niederschlagen, nachdem die Kommunistische Partei, die aufgrund ihrer engen Verbindungen zu Moskau als Bedrohung durch die extreme Linke wahrgenommen wurde, 1930 verboten worden war. Die Bildung einer „rot-grünen“ (das heißt sozialistisch-agrarischen) Koalition auf breiter Basis stabilisierte die Lage nach 1936 dann endgültig. Die erkennbaren Muster unter den beobachteten Zusammenbruchsfällen, die in Abbildung 3b dargestellt sind, sind gleichfalls aufschlussreich. In Ländern wie Ungarn, Rumänien und Spanien waren die demokratischen „Deiche“ von Anfang an sehr niedrig oder praktisch nicht vorhanden und die Antisystemkräfte hatten ihre Stärke erhalten oder zurückgewonnen. In Ungarn, in der „Quasi-Monarchie“ oder „Fassaden-Demokratie“ unter der Herrschaft von Admiral Miklós Horthy, hatten die konservativ-autoritären Kräfte mit gewissen Schwankungen immer die Oberhand behalten bis das Regime schließlich dem äußeren Druck des faschistischen Deutschland im Zweiten Weltkrieg nachgab. In Rumänien war es König Carol II. selbst, der 1938 eine Diktatur errichtete, die den Weg für die Eiserne Garde und die Diktatur des Marschalls Ion Antonescu, der 1941 ein Bündnis mit Hitler schloss, ebnete. In Spanien besiegelte der Bürgerkrieg nach 1936 das Schicksal der zweiten demokratischen Republik und brachte Generalissimo Francisco Franco und seine autoritären und falangistischen Anhänger an die Macht.

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In Österreich, Deutschland und Estland war die Stärke der Antisystemkräfte ebenfalls überwältigend und überschritt eindeutig die bestehenden „Deiche“. In diesen Fällen hatten die Nachkriegskrise und in gewissem Maße das Fehlen einer politischen Stabilisierung in der Zwischenperiode auch ihre Spuren hinterlassen. In Österreich und Griechenland gaben die demokratischen Regime nach beträchtlichen inneren Unruhen autoritären Regimen unter Engelbert Dollfuß 1934 beziehungsweise unter Ioannis Metaxas 1936 nach. Der amtierende Präsident, Konstantin Päts, kam 1934 in Estland einer angenommenen faschistischen Bedrohung durch die „Veteranenbewegung“ zuvor, schaffte das Parlament ab und errichtete ein autoritäres System. Deutschland bleibt natürlich der interessanteste Fall mit den mit Abstand weitreichendsten Auswirkungen. Aus unserer dynamischen Perspektive muss festgehalten werden, dass Deutschland unter allen Fällen der Fall mit den turbulentesten Ereignissen während der gesamten Zwischenkriegszeit gewesen ist. Die fortdauernden Auswirkungen der Nachkriegskrise41 waren besonders heftig und nicht wesentlich durch die Zwischenperiode abgemildert worden. Die sehr starken Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ließen schließlich ein ohnehin fragiles demokratisches System zusammenbrechen und gaben den Weg frei für die stärksten Antisystemkräfte (über 60 Prozent der Wähler) in allen unseren Fällen. Diese zweifach verstärkte Welle überschritt eindeutig den b ­ estehenden „Deich“, und tatsächlich können bereits die ab 1930 von Hindenburg ernannten Präsidialregierungen, die über keine parlamentarischen Mehrheiten mehr verfügten, als das Ende der ersten Erfahrungen mit einer Demokratie in Deutschland begriffen werden.42 Der „Tsunami“ wurde dann schließlich in eine anti­ demokratische und letztlich faschistische Richtung gelenkt, als Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 die Macht an Hitler und seine nationalsozia­ listische Partei sowie den ehemaligen deutschnationalen Kanzler von Papen „übergab“. Es bleibt zweifelhaft (und selbstverständlich nur spekulativ), ob eine andere Intervention das Regime noch hätte retten können. In Bezug auf unsere Daten erscheint dies ziemlich unwahrscheinlich. Im „günstigsten“ Fall wäre vielleicht noch eine autoritäre Intervention mit starker Unterstützung durch das Militär nach dem Muster Österreichs und Estlands erfolgreich gewesen. Der Welt wäre dann vielleicht eine ihrer schlimmsten Erfahrungen erspart geblieben, aber die Weimarer Demokratie hätte dennoch nicht überlebt. Wenn wir als letzten Schritt die Faktoren unseres „Tsunami“-Szenarios gleichzeitig bei Berücksichtigung logisch möglicher Konfigurationen in QCA analysieren, erhalten wir die folgenden am weitesten reduzierten Formeln für unsere 15 Fälle: Überlebensfälle: schwache Nachkriegskrise und starke „Deiche“ (Belgien, Frankreich, Irland, Niederlande, Schweden, Tschechien, Vereinigtes König41 Dazu zählten Meutereien in der Armee, örtliche linksgerichtete Aufstände, rechtsgerichtete Putschversuche und eine Periode der Hyperinflation. 42 Vgl. Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993; Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955.

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reich) oder schwache Weltwirtschaftskrise und prodemokratische Intervention (Finnland, Irland). Zusammenbruchsfälle: schwache „Deiche“ und antidemokratische Interventionen (Deutschland, Estland, Griechenland, Österreich, Rumänien, Spanien, Ungarn) oder starke Nachkriegskrise und starke Weltwirtschaftskrise (Deutschland, Estland, Österreich). Die starken bzw. schwachen „Deiche“ unterstreichen noch einmal die Bedeutung der allgemeinen gefestigten bzw. fragilen Hintergrundbedingungen für die große Mehrzahl der Fälle. Für eine kleinere Zahl von Fällen gelten dann aber spezifische Konstellationen, konkret die Interventionen von Akteuren und die Kombination mehrfacher starker Krisen.

XI. Schlussfolgerungen und Perspektiven Aus unserem Projekt ergab sich so ein komplexes, aber in allen Phasen transparentes, systematisch-komparatives Bild, das sich auch in Einklang mit wichtigen Ansätzen der empirischen Demokratietheorie bringen ließ. Sowohl im übergreifenden theoretischen Sinne als auch fallspezifisch und in der Verlaufsanalyse erscheinen die Resultate plausibel. Darüber hinaus wurde in der Verknüpfung unterschiedlicher statistischer und konfigurationeller Verfahren z. T. auch methodisches Neuland betreten, das hier im Einzelnen nicht ausgeführt werden konnte.43 Selbstverständlich ist auch in diesen Hinsichten nicht das letzte Wort gesprochen. So haben eine Reihe neuerer Studien z. T. einzelne Aspekte vertieft oder erweitert.44 Andere Untersuchungen haben auf einer statistischen Basis eine noch größere Zahl von Fällen auch außerhalb Europas in der Zwischenkriegszeit einbezogen.45 Neuere empirisch-theoretische Arbeiten schließen noch größere Räume und Zeithorizonte ein.46 Auch methodisch sind weiter Fortschritte zu verzeichnen.47 43 Vgl. Dirk Berg-Schlosser, Mixed Methods in Comparative Politics. Principles and Applications, London 2012. 44 Vgl. Nancy Bermeo, Ordinary People in Extraordinary Times. The Citizenry and the Breakdown of Democracy, Princeton 2002; Giovanni Cappocia, Defending Democracy. Reactions to Extremism in Interwar Europe, Baltimore 2005. 45 Vgl. Steffen Kailitz, Necessary and Sufficient Conditions for the Breakdown/Survival of Electoral Regimes and Fascist Takeover/Non-Takeover in the Interwar World. Paper presented at the symposium “Conditions of Democracy in Interwar Europe-CCC Revisited”, University of Marburg 2009; Svend Erik Skaaning, Democratic or Autocratic Victory in Interwar Europe?; paper presented at the symposium “Conditions of Democracy in Interwar Europe-CCC Revisited”, University of Marburg 2009. 46 Vgl. zum Beispiel Daron Acemoglu/James A. Robinson: Economic Origins of Dictatorship and Democracy, Cambridge 2006; Daron Acemoglu/James A. Robinson, Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity, and Poverty, London 2012; Jan Teorell, Determinants of Democratization. Explaining Regime Change in the World 1972–2006, New York 2010. 47 Vgl. Benoit Rihoux/Charles C. Ragin (Hg.), Configurational Comparative Methods, Los Angeles 2009; Carsten Schneider/Claudius Wagemann, Set-Theoretic Methods, Cambridge 2012.

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Dirk Berg-Schlosser

Hinsichtlich der aktuellen Weltwirtschaftskrise („Great Recession“) lassen sich ebenfalls einige vergleichende Schlussfolgerungen ziehen: 1. Die jetzige Krise ist erheblich, aber dennoch in ihrem Ausmaß geringer als in den 1930er-Jahren (z. B. Rückgang des BSP, der Industrieproduktion, der Exporte, Zunahme der Arbeitslosigkeit usw.). 2. Jedoch ist die Krise jetzt tatsächlich global, nicht länger vorwiegend auf die Industriestaaten beschränkt. 3. Gleichzeitig gibt es neue Zentren in den „Schwellenländern“ (China, I­ ndien, Brasilien), die z. T. weniger von der Krise betroffen sind. 4. Die OECD-Staaten und, insbesondere, die EU-Mitglieder sind mittlerweile ökonomisch so verflochten, dass Einzelmaßnahmen auf Kosten anderer („beggar thy neighbour policies“) keinen Sinn mehr machen. 5. Die Reaktionen auf die Krise sind stärker koordiniert (EU, G8, G20), nationale Einzelmaßnahmen wirken sich in allen verflochtenen Ökonomien aus. 6. Unsere Kenntnisse über Ursachen und Mechanismen der Krise sind gewachsen, ein „Neo-Keynesianismus“ auf internationaler Ebene ist möglich geworden. Allerdings fehlen immer noch effektive internationale Kontrollen, um erneute spekulative „Blasen“ und Exzesse zu verhindern. 7. Die politischen Auswirkungen, zumindest in den etablierten Demokratien, sind viel geringer. Es sind keine extremistischen sozialen und politischen Reaktionen zu verzeichnen, in diesen Ländern überwiegen heute deutlich die längerfristigen strukturellen und kulturellen Faktoren. Eine verstärkt zu beobachtende „Politikverdrossenheit“ hat andere Ursachen. 8. Die Lage in den Demokratien der letzten „Welle“ ist prekärer, dort wirken sich ökonomische Maßnahmen und Akteurseffekte stärker aus. Externe Einflüsse und Unterstützung spielen eine bedeutendere Rolle. 9. Bislang hat es keine starke „Gegenwelle“ zur Demokratisierung gegeben. Einzelfälle wie Guinea, Honduras oder Niger sind länderspezifisch und nicht auf die aktuelle Krise zurückzuführen. 10. Die öl- und mineralienexportierenden autoritären „Rentier-“staaten sind scheinbar stabiler, aber von sinkenden Exporterlösen betroffen, die z. T. durch Nachfrage aus den Schwellenländern kompensiert wird. 11. Kapitalistische Demokratien sind nicht unbedingt mehr das „only game in town“, China und andere Staaten, die eine kontrollierte Marktwirtschaft mit autoritärer Herrschaft verbinden, stellen möglicherweise eine neue ­Alternative dar. Diese ermöglicht es auch „rogue states“ wie Simbabwe oder Sudan sich zu behaupten. 12. Ein neues „national-autoritäres“ Modell in Russland und anderen GUS-Staaten ist eine weitere Alternative. Dennoch erscheint die „Exportfähigkeit“ solcher Modelle sehr beschränkt. Die empirische Demokratieforschung und die Vergleichende Politikwissenschaft insgesamt stehen so vor neuen, zunehmend globalen Herausforderungen. Es bleibt viel zu tun.

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II. Überlebende Demokratien

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Behauptung und Erosion der parlamentarischen Demokratie in Frankreich 1918 bis 1940 Thomas Raithel

I. Einleitung Die Dritte Französische Republik besaß im Vergleich zu den meisten anderen demokratischen Systemen ihrer Epoche eine relativ lange Lebensdauer: Von der Ausrufung der Republik im September 1870 bis zur Gründung des Vichy-Regimes im Juli 1940 waren es fast 70 Jahre. Die Dritte Republik gehörte somit zu den demokratischen Systemen Europas, die den Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebten. Nach der militärischen Katastrophe, die Frankreich im Frühjahr und Sommer 1940 unter dem Ansturm deutscher Truppen erlitten hatte, nahm die Dritte Republik allerdings am 10. Juli 1940, fast ein Jahr nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, ein schnelles und unrühmliches Ende: Die Assemblée nationale verabschiedete in Vichy mit großer Mehrheit ein weitreichendes Ermächtigungsgesetz für den 84-jährigen Marschall Henri-Philippe Pétain, der wenige Wochen zuvor von Staatspräsident Albert Lebrun zum Regierungschef ernannt worden war. Mehrere „actes constitutionnels“ legten daraufhin die Verfassungsgrundlagen des autoritären „Etat français“. Wichtigster Drahtzieher war Pierre Laval, der von 1931 bis 1936 mehrfach Ministerpräsident in Mitte-rechts-Kabinetten gewesen war (s. Tabelle 2). Sicher, die Dritte Republik war 1939 bei Kriegsbeginn eine überlebende Demokratie. Warum das so war, wird im Folgenden zu behandeln sein. Allerdings ist auch die Frage zu beantworten, in welchem Zustand sich 1939/40 der Überlebende befand und ob er nicht schon vor der deutschen Invasion schwer angeschlagen war. Beide Frageperspektiven werden meine Ausführungen bestimmen. Nach kurzen Skizzen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Frankreichs in der Zwischenkriegszeit (II.) und der Eigenheiten der traditionellen französischen Demokratie (III.) sollen daher ihre Stärken (IV.) und Problemfelder (V.) in der Zwischenkriegszeit benannt und in ihren wichtigsten Kausalbezügen erläutert werden. Das parlamentarische System, das sich in den 1870er- und 1880er-Jahren zum Rückgrat der Demokratie und zu einem Kernelement des dominierenden republikanischen Selbstverständnisses entwickelt hatte, steht dabei im Mittelpunkt. Daran a­ nschließend erfolgt ein Blick auf die wichtigsten Ansätze einer Systemveränderung (VI.).

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Thomas Raithel

„Stärken“ und ­„Problemfelder“ sind als heuristisch-interpretative Kategorien zu verstehen, die zum einen auf die Effektivität fundamentaler parlamentarischer Funktions­prozesse verweisen und zum anderen auch die zeitgenössischen Systembewertungen und Krisenperzeptionen spiegeln. Es versteht sich von selbst, dass die nachfolgenden Überlegungen vieles nur sehr knapp skizzieren können und dass die komplexe politische und parlamentarische Ereignisgeschichte Frankreichs zwischen den Weltkriegen nur andeutungsweise präsent sein wird. Zur späten Dritten Republik gibt es inzwischen eine reichhaltige wissenschaftliche Literatur.1 Dennoch muss festgestellt werden, dass die Forschung zur Demokratie und zum Parlamentarismus der Zwischenkriegszeit bislang nur eine brüchige Grundlage bietet. Der stark thesenhafte Charakter der folgenden Skizze ist daher nicht allein der Breite des Themas geschuldet. Er resultiert auch aus dem eben angeführten Befund. Dass die Erforschung der parlamentarischen Demokratie weiterhin zahlreiche weiße Flecken zeigt, liegt nicht zuletzt wohl auch daran, dass der traditionelle französische Parlamentarismus im präsidialen Frankreich der Fünften Republik lange Zeit zu den Randthemen der Geschichtswissenschaft gehörte. Die Arbeit von Nicolas Roussellier zur Abgeordnetenkammer nach Ende des Ersten Weltkriegs ist die wichtigste Ausnahme.2

1

2

Diese kann hier nur in sehr begrenztem Maße angeführt werden. Zur Politikgeschichte vgl. vor allem Jean-Marie Mayeur, La vie politique de la Troisième République 1870– 1940, Paris 1984, S. 251–403; Wilfried Loth, Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 21–114; Serge Berstein, La France des années 30, 2. Auflage Paris 1993; Christian Delporte, La IIIe République 1919–1940. De Raymond Poincaré à Paul Reynaud, Paris 1998; Jens Ivo Engels, Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870–1940), Köln 2007. – Die nachfolgenden Überlegungen stützen sich primär auf die Ergebnisse eines vergleichenden Forschungsprojekts zur deutschen und französischen Demokratie zwischen den Weltkriegen, das im Institut für Zeitgeschichte München-Berlin durchgeführt worden ist. Vgl. generell Horst Möller/ Manfred Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002. In besonderer Weise baue ich auf meiner eigenen Studie auf: Thomas Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflations­ krisen der 1920er-Jahre, München 2005. Zu weiteren Projektarbeiten vgl. unten die Anmerkungen 8, 12, 13, 40, 51, 53. Vgl. Nicolas Roussellier, Le parlement de l’éloquence. La souverainité de la délibération au lendemain de la Grande Guerre, Paris 1997; vgl. auch Fabienne Bock, Un parlementarisme de guerre: 1914–1919, Paris 2002. Auffallend ist, dass der Schwerpunkt der jüngeren parlamentarismusgeschichtlichen Forschung zur Dritten Republik eher im Bereich der Prosopografie von Abgeordneten liegt. Vgl. Jean-Marie Mayeur/Jean-Pierre Chaline/Alain Corbin (Hg.), Les parlementaires de la Troisième République, Paris 2003. Die ­Frage nach der Leistungsfähigkeit des Systems wird dabei weitgehend ausgespart.

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Behauptung und Erosion der Demokratie in Frankreich

II.

221

Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich zwischen den Weltkriegen

Frankreich war in der Zeit zwischen den Weltkriegen immer noch ein relativ stark agrarisch und kleinbürgerlich geprägtes Land.3 So arbeiteten Anfang der 1920er-Jahre über 42 Prozent der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft, bis 1936 fiel der Anteil nur leicht auf 36,5 Prozent. In Deutschland lagen die entsprechenden Werte zur selben Zeit jeweils bereits um etwa zehn Prozent niedriger.4 Der Industrialisierungsprozess war in Frankreich, insbesondere auch wegen seiner sehr ungleichmäßigen räumlichen Verbreitung, bis in die Zwischenkriegszeit hinein begrenzt geblieben. Einzelne starke Industriebranchen wie der Automobilbau sind als Ausnahmeerscheinungen zu bewerten. Dementsprechend war auch die Ausbildung einer Industriearbeiterschaft nur langsam vorangekommen. Trotz einer vorübergehenden Beschleunigung der industriellen Entwicklung in den 1920er-Jahren, in deren Verlauf die Einschnitte des Krieges rasch wettgemacht wurden, änderte sich an diesem wirtschaftlichen Gesamtbild auch in der Zwischenkriegszeit nichts Wesentliches. Mit der relativ schwachen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsdynamik korrespondierte schon seit dem 19. Jahrhundert eine im europäischen Vergleich ungewöhnlich stagnierende Bevölkerungsentwicklung. 1870 lebten in Frankreich 38 Millionen Menschen, 1921 39,2 Millionen und 1939 41,9 Millionen. Dass es überhaupt einen geringen Zuwachs gab, beruhte vor allem auf einer starken Einwanderung.5 Der Urbanisierungsprozess wurde zwar von einer anhaltenden Landflucht („exode rurale“) vorangetrieben, auch er blieb freilich – sieht man von der Weltstadt Paris mit ihren knapp drei Millio­ nen Einwohnern ab – relativ beschränkt. So gab es Mitte der 1920er-Jahre in Frankreich 17 Städte, in denen über 100 000 Einwohner lebten. In Deutschland waren es zum selben Zeitpunkt 45 und in Großbritannien 46.6 Die französische Wirtschaft erwies sich in der Zwischenkriegszeit im Vergleich zu Deutschland, aber auch zu Großbritannien als weniger krisenanfällig. Deutlich wurde dies vor allem in der relativ niedrigen Arbeitslosigkeit. Auch wenn die überlieferten amtlichen Zahlen als zu niedrig gelten müssen, handelte es sich in den 1920er-Jahren nur um ein marginales Problem. Signifikant höher wurde das Ausmaß der Arbeitslosigkeit erst ab etwa 1932 mit einer registrierten Spitze von 470 000.7 Von dem deutschen und auch britischen Ausmaß der

3

4 5 6 7

Vgl. zum Folgenden Andreas Wilkens, Das ausgebliebene Wachstum. Zur demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und Frankreich 1918–1939. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich, S. 11–30; Loth, Geschichte Frankreichs, S. 48–59, 74–77. Vgl. Wilkens, Das ausgebliebene Wachstum, S. 15, 17. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in 20 Bänden, Band 4, Leipzig 1929, S. 627, Band 6, Leipzig 1930, S. 454; Band 7, Leipzig 1930, S. 674. Vgl. Wilkens, Das ausgebliebene Wachstum, S. 18, 20.

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Thomas Raithel

­ rbeitslosigkeit Anfang der 1930er-Jahre war dies weit entfernt. MassenarbeitsA losigkeit als ein das Wahlverhalten radikalisierender Faktor spielte in Frankreich wohl nur punktuell in großen Städten und insbesondere in Paris eine Rolle.8 Als wesentliche Ursachen für die Beschränkung der Arbeitslosigkeit in Frankreich gelten die demografische Stagnation, die Arbeitskräfte absorbierende Stärke des agrarischen Sektors sowie die schwache Ausprägung von Konzentrationsund Rationalisierungsprozessen in der Industrie.9 Ein weiteres Indiz für relativ hohe Krisenresistenz der weniger modernen und vom Weltmarkt weniger abhängigen französischen Wirtschaft bildet der Umstand, dass die Weltwirtschaftskrise sich in Frankreich erst mit einer gewissen Verzögerung und in einem beschränkten Maß bemerkbar machte. So sank der Index der Entwicklung des realen Sozialprodukts in Frankreich – gemessen am Jahr 1913 – während der Weltwirtschaftskrise auf einen Tiefstwert von 114,7 (1932). In Deutschland lag die Talsohle hingegen bei 92,8 (1932) und in Großbritannien bei 105,4 (1931).10 Allerdings war die Weltwirtschaftskrise in Frankreich außergewöhnlich langwierig. Gesellschaft und Politik blieben in Frankreich auch nach dem Ersten Weltkrieg noch in hohem Maße von regionalen bzw. lokalen bürgerlichen Honoratioren dominiert. Die Grundzüge der „Notabelngesellschaft“ des 19. Jahrhunderts waren noch lange wirksam.11 Zwar existierte ein breites weltanschaulich und ökonomisch motiviertes Verbandswesen, doch auch in diesem Bereich waren die organisatorischen Strukturen lange Zeit meist diffus bzw. fragil, wie sich etwa in der Gewerkschaftsbewegung der 1920er-Jahre deutlich zeigte.12 Insgesamt waren die Erosionskräfte industriegesellschaftlicher Konflikte infolge der langsamen sozioökonomischen Modernisierung bis in die 1930erJahre beschränkt. Die wichtigste gesellschaftliche Kluft wurde auch in der Zwischenkriegszeit noch von dem Gegensatz zwischen einem bewusst katholischen und einem laizistischen Frankreich bestimmt. Pathetisch überhöht wurde diese Dichotomie in der bereits zeitgenössischen Formel von den „deux France“.13

 8 Vgl. Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 368–369.  9 Vgl. Wilkens, Das ausgebliebene Wachstum, S. 21. 10 Zit. nach ebd., S. 22. 11 Vgl. Heinz-Gerhard Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt a. M. 1989, S. 207. 12 Vgl. Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/39), München 2010, S. 438–456. 13 Vgl. zum Themenkomplex Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000, S. 38–68; ders., Les „deux France“ und der deutsche Bikonfessionalismus im Vergleich. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich, S. 33–56.

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Spätestens seit der im frühen 20. Jahrhundert konsequent durchgeführten Trennung von Staat und Kirche war der Laizismus jedoch zu einem dominierenden Prinzip der Dritten Republik geworden. Laizistische Ängste vor einer Verschiebung dieses Machtverhältnisses bildeten im Übrigen einen wichtigen Faktor dafür, dass die Einführung des Frauenwahlrechts und damit eine weitergehende Demokratisierung Frankreichs in der Zwischenkriegszeit mehrfach scheiterten.14 Im politischen Raum waren die Vertreter eines konservativen ­Katholizismus teils in den außerparlamentarischen Bereich abgedrängt worden, teils hatten sie seit dem frühen 20. Jahrhundert eine politische Heimat in der rechtsliberal-konservativen Sammlungspartei der Fédération républicaine (s. Tabelle 1) gefunden. Tabelle 1: Die wichtigsten Parteien der Dritten Französischen Republik 1918 bis 1940 Name (Gründung)

Tendenz

Parti communiste français (PCF) (1920)

kommunistisch

Section française de l’internationale ­ouvrière (SFIO) (1905)

sozialistisch

Parti républicain socialiste (1911) (1934 aufgelöst)

linksliberal

Parti républicain radical et radical-­ socialiste (1901)

linksliberal („radical“)

Alliance républicaine démocratique (1901)

rechtsliberal („modéré“)

Fédération républicaine (1903)

konservativ („modéré“)

Inwieweit man für die Dritte Republik schichtenübergreifend von einer „republikanischen Synthese“ sprechen kann, ist in der Forschung umstritten.15 Zweifellos aber entfaltete die Republik spätestens seit den 1880er-Jahren eine relativ hohe Integrationskraft, etwa über das staatliche Schulsystem, das Militärwesen

14 Vgl. Christine Bard, Les luttes contre le suffrage unisexuel sous la Troisième Ré-mi-publique. In: Modern & Contemporary France, [N. S.] 3 (1995), S. 141–148; Siân Reynolds, France Between the Wars. Gender and Politics, London 1996, S. 204–212. 15 Vgl. die Skizze in Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs, S. 227 f.; ebd., S. 227–229, auch eine abgewogene Gesamteinschätzung der Integrationskraft der Dritten Republik.

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und die geschickte Inszenierung nationaler Symbole und Rituale. Die Geschichte der Dritten Republik kann über weite Phasen als Integrationsgeschichte geschrieben werden. Dies meint zunächst, für die ersten Jahrzehnte der Repu­ blik, vor allem die weitgehende Einbeziehung der konservativ-monarchistischen Strömungen und des politisch aktiven Katholizismus in einen breiten Minimalkonsens, der die republikanische Staatsform und die parlamentarischen Spielregeln zumindest akzeptierte. Der Erfolg dieser Entwicklung zeigte sich nicht zuletzt auch im Ersten Weltkrieg, der in Frankreich ein hohes Maß an nationalem Konsens offenbarte.16 Der sozialkonservative Grundzug, welcher der Dritten Republik fast von Anfang an, d. h. seit der Niederschlagung der Pariser Kommune im Frühjahr 1871, anhaftete und der im Laufe der Zeit auch den starken linksliberalen Parti radical (s. Tabelle 1) prägte, war diesem Integrationsprozess insgesamt zuträglich. Bezeichnend hierfür ist die Aufnahme des Begriffs „republikanisch“ in den Parteinamen der konservativen Fédération républicaine.

III. Grundzüge und Besonderheiten der parlamentarischen ­Demokratie in der Dritten Französischen Republik Der französische Parlamentarismus wies zu Beginn der Zwischenkriegszeit bereits eine lange und erfolgreiche Geschichte auf. Ausgehend von den parlamentarischen Anfängen in der Epoche der Französischen Revolution hatte sich nach 1815 zunächst eine konstitutionelle Monarchie entwickelt. Bereits während der „Julimonarchie“ des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe in den 1830er- und 1840erJahren bildeten sich in der Praxis Züge eines parlamentarischen Systems aus, die mit einer starken politischen Verantwortung des Kabinetts vor dem Parlament verbunden waren. Nach der Revolution von 1848, der Zweiten Republik, der Machtgewinnung Napoleons III. und dem Deuxième Empire konnte hieran dann die Dritte Republik anknüpfen. Die Verfassungsgebung dieses Systems war allerdings ein komplizierter Prozess, der sich bis ins Jahr 1877 hinzog. Vor dem Hintergrund eines Machtkampfes zwischen Republikanern und Monarchisten wurden die beiden grundlegenden Verfassungsgesetze erst im Jahr 1875 verabschiedet. Sie schufen ein Zweikammersystem mit einer im allgemeinen Männerwahlrecht formierten Abgeordnetenkammer (Chambre des Députés) und einem politisch nahezu gleichgewichtigen Senat, dessen Zusammensetzung über Wahlmännergremien aus regional- und kommunalpolitischen Funktionsträgern bestimmt wurde. Ein

16 Dies betrifft grundlegende Aspekte wie den Sinn des Krieges und die Konstruktion von Feindbildern und wird im deutsch-französischen Vergleich besonders deutlich. Vgl. Thomas Raithel, Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996, S. 311–415.

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Grundstock an Senatoren war zunächst auch lebenszeitlich durch die Abgeordnetenkammer entsandt worden. Tagten beide Kammern gemeinsam – bei Verfassungsänderungen und bei der Wahl des Staatspräsidenten –, so hieß das Gremium Assemblée nationale. Die Dritte Republik war von ihrer Verfassungsgrundlage her insofern ein parlamentarisches System, als eine politische Verantwortlichkeit der Minister vor den Kammern festgeschrieben und eine Abberufung der Regierung durch das Parlament möglich war: Artikel 6, Satz 1, des Gesetzes vom 25. Februar 1875 besagt in deutscher Übersetzung: „Die Minister sind gemeinsam für die generelle Politik der Regierung und individuell für ihr persönliches Handeln vor den Kammern verantwortlich.“17 Dem Staatspräsidenten war ursprünglich eine starke Stellung zugedacht worden, die Marschall Patrice de MacMahon, der zweite Präsident der Dritten Republik, auch aktiv nutzen wollte. In der Verfassungskrise vom Mai 1877 kam es zum Machtkampf zwischen Staatspräsident und Abgeordnetenkammer, durchaus mit Analogien zum preußischen Verfassungskonflikt in den 1860er-Jahren.18 Im Gegensatz zu Preußen setzte sich in Frankreich allerdings die Abgeordnetenkammer weitgehend durch. Das formal fortbestehende präsidentielle Recht zur Auflösung der Abgeordnetenkammer war fortan für lange Zeit diskreditiert, ja tabuisiert. Erst jetzt gewann die Dritte Republik ihren strikt parlamentarischen Charakter – wenngleich das präsidentielle Potenzial weiter in ihr schlummerte. Die Praxis des parlamentarischen Regierungssystems entwickelte sich in Frankreich bereits vor der Ausbildung von Parteien. Dies hatte weitreichende Folgen. Zwar gab es auch schon in der frühen Dritten Republik ein parlamentarisches Fraktionswesen, das die politischen Tendenzen in etwa widerspiegelte.19 Doch dem Individualismus der Abgeordneten, ihrer durch das Mehrheitswahlsystem20 intensivierten Bindung an den Wahlkreis und dem Stellenwert freier parlamentarischer Deliberation kam auch im weiteren Verlauf der Republik hohe Bedeutung zu. Der Glaube an die Kraft dieses Systems und das damit verbundene Misstrauen gegenüber intermediären, zwischen Wahlvolk und

17 „Les ministres sont solidairement responsables devant les chambres de la politique générale du Gouvernement, et individuellement de leurs actes personnels.“ Zit. nach http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/la-constitution/ les-constitutions-de-la-france/constitution-de-1875-iiie-republique.5108.html; 2.4.2015. Zum entscheidenden Kriterium der Abberufbarkeit der Regierung vgl. Winfried Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen 1979, S. 39 f. 18 Vgl. Thomas Raithel, Der preußische Verfassungskonflikt 1862–1866 und die französische Krise von 1877 als Schlüsselperioden der Parlamentarismusgeschichte. In: Stefan Fisch/Florence Gauzy/Chantal Metzger (Hg.), Machtstrukturen im Staat in Deutschland und Frankreich – Les structures de pouvoir dans l’Etat en France et en Allemagne, Stuttgart 2007, S. 29–50. 19 Vgl. Rainer Hudemann, Fraktionsbildung im französischen Parlament. Zur Entwicklung des Parteiensystems in der frühen Dritten Republik (1871–1875), München 1979. 20 Vgl. hierzu Anm. 35.

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­ arlament stehenden Parteien wurden prägend für den traditionellen französiP schen Parlamentarismus.21 An den Grundzügen dieses Systems, das sich immer mehr zu einem Kernelement der Republik entwickelte, änderte sich auch dann nichts Wesentliches, als nach der Jahrhundertwende mehr oder weniger organisierte Parteien entstanden22 (s. Tabelle 1) – allesamt im republikanischen Spektrum, da dem Monarchismus inzwischen nur noch eine marginale Rolle zukam. Generell kann grob zwischen einer linksliberal-„radikalen“ und einer rechtsliberal-konservativ „gemäßigten“ („modéré“) Spielart der Republikanismus unterschieden werden. Beiden Varianten lassen sich jeweils zwei Parteien zuordnen. Hinzu kamen eine sozialistische und später auch eine kommunistische Partei. Eine parlamentarisch relevante rechtsradikale Partei konnte sich bis in die Zwischenkriegszeit nicht etablieren. Die verschiedenen Kräfte im autoritär-faschistischen Spektrum blieben weitgehend auf das außerparlamentarische Terrain beschränkt.23 Der Organisationsgrad der Parteien wurde – grob gesagt – von links nach rechts immer schwächer: • Die 1920 entstandene kommunistische Partei (Parti communiste français oder auch Section française de l’internationale communiste) war relativ straff organisiert. • Die 1905 aus Vorläuferparteien fusionierte sozialistische Section française de l’internationale ouvrière (SFIO), oft Parti socialiste genannt, zeigte von Anfang an Ansätze einer modernen Partei, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss der deutschen Sozialdemokratie. • Der kleine Parti républician socialiste, der sich im linksliberalen Bereich formiert hatte, blieb bis zu seiner Auflösung 1934 eine lose Gruppierung mit bescheidenen Wahlerfolgen. • Der im Jahrzehnt vor 1914 politisch dominante, überwiegend linksliberale Parti républicain radical et radical-socialiste (kurz meist Parti radical oder auch „Radicaux“ genannt) ist von den Strukturen her relativ gut greifbar, politisch umfasste er allerdings ein breites und wenig kohärentes Spektrum.

21 Vgl. Stefan Grüner, Zwischen Einheitssehnsucht und pluralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deutschen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich, S. 219–249, vor allem 234–241. 22 Vgl. Rudolf von Albertini, Parteiorganisation und Parteibegriff in Frankreich 1789–1940. In: Historische Zeitschrift, 193 (1961), S. 529–600. Zu den verschiedenen Tendenzen vgl. Pierre Lévêque, Histoire des forces politiques en France, Band 2: 1880–1940, Paris 1994. 23 Vgl. – aus einer Fülle an Literatur zur französischen Rechten – vor allem Jean-François Sirinelli (Hg.), Histoire des droites en France, Paris 1992. Der Faschismusbegriff ist für Frankreich umstritten. Vgl. die Skizze zu unterschiedlichen Interpretationsansätzen in Klaus-Jürgen Müller, „Faschismus“ in Frankreichs Dritter Republik. Zum Problem der Überlebensfähigkeit der französischen Demokratie zwischen den Weltkriegen. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich, S. 91–130, hier 91–96.

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• Die beiden großen Parteien der rechten Mitte und des Konservativismus – die Alliance démocratique und die Fédération républicaine – waren nach deutschen Maßstäben extrem lose und diffuse Honoratiorenparteien. Da die Parteien organisatorisch meist schwach blieben, konnten sie auch im Parlament nur sehr bedingt eine strukturierende und gestaltende Kraft entwickeln. Die Gliederung in Fraktionen war deshalb bis in die Zwischenkriegszeit vor allem in der Mitte und auf der Rechten nur teilweise von der Parteizugehörigkeit bestimmt. Verlässliche, von der Fraktions- und Parteidisziplin getragene Regierungsmehrheiten waren lange Zeit undenkbar, und das Verständnis von Regierung und Parlament blieb weitgehend von einem traditionellen Dualismus geprägt. Insgesamt konservierte die parlamentarische Demokratie in Frankreich so eine gewisse Archaik, die sich einer einfachen typologischen Zuordnung entzieht. Eng verbunden mit den angedeuteten Merkmalen des französischen Parlamentarismus war traditionell eine hohe Instabilität der Regierungen. Allerdings war diese über weite Strecken gar nicht so schädlich. Vielmehr herrschte, was das Personal der Minister betrifft, eine gewisse Stabilität24 und – so ist positiv zu ergänzen – eine hohe Flexibilität hinsichtlich politischer Kurskorrekturen. Mit dem parlamentarischen Sturz bzw. dem Rücktritt von Regierungen, der oft durch einfache Abstimmungsniederlagen der Regierung herbeigeführt wurde, korrespondierte zunächst in der Regel eine rasche und wenig krisenhafte Neubildung. Manchmal wurden bei Regierungswechseln nur wenige Minister ausgetauscht, einige Politiker kamen immer wieder von Neuem in das Amt des Ministerpräsidenten („président du conseil“). Lange Zeit wurde diese Art der Wechselbeziehung zwischen Parlament und Regierung, der sich eine gewisse Effektivität nicht absprechen lässt, im Großteil des politischen Spektrums keineswegs als besonders problematisch und krisenhaft angesehen. Die rückblickende Pauschalkritik an der „Schwäche“ der Regierung gegenüber einem übermächtigen, ja „absoluten“ „régime ­d’assemblée“, wie sie in der französischen Geschichtsschreibung zur Dritten Republik oftmals geäußert wurde,25 erscheint daher nicht zuletzt auch als eine der Historisierung zu unterwerfende Einschätzung aus Perspektive der Fünften Republik. Einzuräumen ist allerdings, dass die ministerielle Instabilität in den 1930er-Jahren zu einem wachsenden Krisenphänomen wurde; hierauf wird später zurückzukommen sein.

24 Vgl. Auguste Soulier, L’instabilité ministérielle sous la Troisième République 1871– 1938, Paris 1939, hier vor allem S. 480–484. 25 Besonders deutlich wird dies in der Verfassungsgeschichtsschreibung. Vgl. Jean Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 14. Auflage Paris 1995, S. 482–488.

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IV.

Fortwirkende Stärken des französischen Parlamentarismus: die Kraft der Tradition

1919 befand sich die parlamentarische Demokratie in Frankreich in doppelter Hinsicht auf der Siegerseite.26 Frankreich hatte mit seinen Verbündeten den Weltkrieg siegreich beendet und damit auch die lang ersehnte Wiedereingliederung Elsass-Lothringens erreicht, und das parlamentarische System hatte trotz mancher Probleme seine Bewährungsprobe im „Großen Krieg“ bestanden. Beide Parlamentskammern hatten im Krieg ihre funktionale Stellung gegen die Machtansprüche von Regierung und militärischer Führung behaupten können27 – auch in der Endphase, als der charismatische Georges Clemenceau als Ministerpräsident agierte. Der Dualismus von Regierung und Parlament wurde infolge eines Machtgewinns der parlamentarischen Kommissionen und des Ausbaus der parlamentarischen Kontrollfunktion weiter bestärkt. Hinzu kam, dass der im August 1914 geschlossene Burgfriede der Union sacrée die Ausbildung eines Gegensatzes von Regierungslager und Opposition blockierte – wenngleich das Ausscheiden der Sozialisten aus der nationalen Einheitsregierung im Herbst 1917 einen ersten markanten Riss bildete. Die patriotische Konsenspolitik suspendierte gleichzeitig weitgehend die gewohnte ministerielle Instabilität.28 Schon bald nach Kriegsende aber zeigte sich, dass das parlamentarische System auch in Frankreich vor großen Herausforderungen stand. Die Probleme, mit denen das Land konfrontiert war, lagen sicher deutlich unter den enormen Schwierigkeiten, mit denen insbesondere die Weimarer Republik zu kämpfen hatte. Dennoch waren sie auch in Frankreich erheblich. Hervorgehoben seien in sozioökonomischer Hinsicht der Wiederaufbau im Norden und Osten, die Versorgung von Kriegsopfern, die interalliierten Kriegsschulden sowie die Nachkriegsinflation, die in Frankreich in den Jahren 1924 bis 1926 ihren Höhepunkt erreichte, dabei aber nicht das desaströse Ausmaß einer Hyperinflation annahm. Das Sicherheitsbedürfnis gegenüber dem im Krieg geschlagenen Deutschland konstituierte das größte außenpolitische Problemfeld, virulent insbesondere in der Reparationsfrage, die 1923 in der französischen und belgischen Besetzung des Ruhrgebiets kulminierte. Im Inneren zeigte sich auch in Frankreich der europäische Trend einer Radikalisierung auf der Linken und auf der Rechten. 26 Zur Entwicklung der parlamentarischen Demokratie Frankreichs in den 1920er- und 1930er-Jahren vgl. im Folgenden vor allem Roussellier, Le parlement de l’éloquence; Raithel, Das schwierige Spiel, S. 349–523, 559–564; ders., Krise und Stabilisierung des Parlamentarismus in Frankreich 1918–1926. In: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007, S. 87–110; Christoph Schönberger, Die Krise der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit. Französische Dritte Republik und Weimarer Republik im Vergleich. In: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 263–280. 27 Vgl. Bock, Parlementarisme de guerre. 28 Lediglich das Kabinett Painlevé I wurde – am 13.11.1917 – von der Abgeordnetenkammer gestürzt. Alle anderen Kabinette waren von selbst zurückgetreten.

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Tabelle 2: Kabinette und Regierungskonstellationen der Dritten Französischen Republik 1918 bis1940 Kabinett

Regierungskonstellation

(1917) bis 1920: Clemenceau II

Nationale Einheitsregierung: Union sacrée (seit 1917 ohne Sozialisten) (1 Kabinett)

Wahlen 1919: 1920 bis 1924: Millerand I–II, Leygues, Briand VII, ­Poincaré II–III, François-Marsal

Mitte-rechts: Bloc national (7 Kabinette)

Wahlen 1924: 1924 bis 1926: Herriot I, Painlevé II–III, Briand VIII–X, Herriot II

Mitte-links: Cartel des gauches (7 Kabinette)

Wahlen 1928: 1926 bis 1929: Poincaré IV–V

Mitte-rechts: Union nationale (2 Kabinette)

1929 bis 1932: Briand XI, Tardieu I, Chautemps I, Tardieu II, Steeg, Laval I-III, Tardieu III

Mitte-rechts (9 Kabinette)

Wahlen 1932: 1932 bis 1934: Herriot III, Paul-Boncour, Daladier I, Sarraut I, Chautemps II, Daladier II

Mitte-links: Union des gauches (6 Kabinette)

1934 bis 1936: Doumergue II, Flandin I, Bouisson, Laval IV, Sarraut II

Mitte-rechts: Union nationale (5 Kabinette)

Wahlen 1936: 1936 bis 1938: Blum I, Chautemps III–IV, Blum II

Mitte-links: Front populaire (4 Kabinette)

1938 bis 1940: Daladier III–V, Reynaud

Mitte-rechts (4 Kabinette)

1940: Pétain

Rechts (1 Kabinett)

Trotz der sich erneut einstellenden Instabilität der Regierungen – in den Jahren 1918 bis 1940 gab es 46 Kabinette unter 20 Politikern (s. Tabelle 2) – und trotz einiger ernster Krisen, kamen die traditionellen Stärken des französischen Parlamentarismus unter den eben skizzierten Bedingungen noch relativ gut zur Geltung. Teilweise halfen sie auch über die Probleme hinweg. Jean-Marie Mayeur hat deshalb sogar von einem „wahrhaftigen ‚Altweibersommer‘“29 des parlamentarischen Regimes gesprochen. Angeführt seien hier fünf besonders wichtige Aspekte:

29 Mayeur, La vie politique, S. 402 [„un véritable ‚été de la Saint-Martin’’].

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• Erstens ist auf das hohe Niveau der parlamentarischen Kommunikation zu verweisen. Traditionell herrschte in den französischen Kammern eine kollegiale Art des Umgangs auch zwischen politischen Gegnern, eine geschliffene, vielfach juristisch geschulte Rhetorik und angesichts schwacher Parteibindungen auch eine gewisse Offenheit von Debatten. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte diese deliberative parlamentarische Kultur noch einmal ihren Glanz entfalten. „Das Parlament der Redegewandtheit“ („Le Parlement d’éloquence“) hat Roussellier daher sein Buch über den Parlamentarismus der Jahre 1919 bis 1924 betitelt, in dem er auch so etwas wie die Abenddämmerung einer parlamentarischen Epoche zeichnet.30 • Der zweite Aspekt hängt eng mit dem ersten zusammen: Gemeint ist die bereits erwähnte hohe Flexibilität, ja Geschmeidigkeit traditioneller parlamentarischer Verfahren und Verhandlungen – im Plenum, in den Ausschüssen und Fraktionen, aber auch in den Büros, den Wandelgängen des Palais Bourbon sowie in den umliegenden Cafés und Restaurants. Mit Ausnahme der Linken brauchten sich die Abgeordneten in diesen Kommunikationsprozessen31 kaum um einengende Parteitagsbeschlüsse oder um bestimmte Erwartungen der „Parteibasis“ zu kümmern. Die parlamentarische Flexibilität zeigte sich in den komplexen Gesetzgebungsverfahren, aber auch in den häufigen Um- und Neubildungen von Regierungen, die auch in der Zwischenkriegszeit immer wieder notwendig waren. Die führenden Politiker reagierten meist sehr genau auf Veränderungen in den parlamentarischen Konstellationen und banden Kontrahenten bzw. Gegner oft geschickt ein. Ein Meister, ja geradezu eine Personifikation dieses fluiden Parlamentarismus war etwa Aristide Briand, der dem kleinen Parti républicain socialiste angehörte. Briand, der das Amt des Ministerpräsidenten im Zeitraum von 1909 bis 1929 elfmal bekleidete, wurde von Clemenceau einmal boshaft als Monster an politischer Geschmeidigkeit („monstre de souplesse“) bezeichnet.32 Aber auch der rechtsliberale Raymond Poincaré, der während des Ersten Weltkriegs Staatspräsident gewesen war (1913 bis 1920) und der in Deutschland meist in außenpolitischer Verengung als Hardliner perzipiert wurde, beherrschte das flexible parlamentarische Instrumentarium ganz hervorragend. Dies kam ihm insbesondere in der ökonomischen und politischen Krisenlage des Jahres 1926 sowie bei der anschließenden Stabilisierung des Franc zugute.

30 Roussellier, Le parlement de l’éloquence. 31 Bis auf die Protokolle der Plenardebatten gibt es hiervon kaum schriftliche Spuren. Auch Fraktionsprotokolle sind sehr selten überliefert bzw. wohl meist überhaupt nicht angefertigt worden. 32 Vgl. Art. „Briand“. In: Dictionnaire des ministres (1789–1989). Hg. von Benoît Yvert, Paris 1990, S. 387–389, hier S. 388.

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• Als dritter Aspekt sei die Fähigkeit des parlamentarischen Systems hervorgehoben, der politischen Öffentlichkeit immer wieder über eine loyale Opposition systemimmanente Alternativen anzubieten und damit die Abwanderung von Wählern zu radikalen, systemfeindlichen Kräften einzudämmen.33 Dies gilt in besonderer Weise für die Epoche zwischen den Weltkriegen, wie ein Blick auf die wechselnden Regierungskonstellationen zeigt (s. Tabelle 2): 1924 folgte auf den rechtslastigen Bloc national das linke von Radicaux, Republicains-socialistes und Sozialisten getragene Linkskartell (Cartel des gauches). Die politischen und ökonomischen Turbulenzen der Kartellzeit zogen eine Verschiebung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse nach sich. 1926 formierte sich unter Poincaré als Regierungschef eine erneute Mitte-rechts-Regierung im Zeichen einer breiten Union nationale. Eine „erste Welle“34 des außerparlamentarischen, in straffen Verbänden – sogenannten Ligen – organisierten Rechtsradikalismus, die während der Kartellzeit entstanden war, ebbte daraufhin rasch wieder ab. Die seit Ende der 1920er-Jahre ausgebildete Agonie von Mitte-rechts-Regierungen wurde 1932 durch den Wahlsieg der Union des gauches beendet, ein loses Wahlbündnis von Radicaux und Sozialisten. Nach der dramatischen Krise vom Februar 1934, als erstmals in der Dritten Republik antiparlamentarische Straßenproteste ein bedrohliches und auch blutiges Ausmaß annahmen, folgte die Neuauflage einer Union-nationale-Regierung. 1935/36 mobilisierte die sich formierende „Volksfront“ von Radicaux, Sozialisten und Kommunisten und weiteren kleineren Gruppierungen des Mitte-links-Spektrums erneut linke Hoffnungen und kanalisierte gleichzeitig das infolge der Weltwirtschaftskrise entstandene Protestpotenzial, 1936 führte ihr Wahlerfolg zum deutlichsten innenpolitischen Umschwung der Zwischenkriegszeit. Die Sozialisten waren erstmals seit der Union sacrée der Jahre 1914 bis 1917 wieder im Kabinett vertreten und stellten mit Léon Blum anfangs sogar den Regierungschef. Auf das politische Scheitern der Volksfront folgte 1938 dann erneut eine Verlagerung der Regierung in den Mitte-rechts-Bereich. Der französische Parlamentarismus war demnach zwischen den Weltkriegen von einem geradezu lehrbuchmäßigen Alternieren der Regierungslager gekennzeichnet. Eine Voraussetzung hierfür bildete die Breite des systemloyalen Spektrums, was der Regierungsbildung – anders etwa als in der Weimarer Republik – stets weite Spielräume eröffnete. Eine wesentliche Grundlage

33 Generell zur parlamentarischen „Alternativfunktion“ vgl. Raithel, Das schwierige Spiel, S. 20 f. Zu Formen und Aufgaben parlamentarischer Opposition vgl. Juan Linz, The Breakdown of Democratic Regimes. Band 1: Crisis, Breakdown & Reequilibration, Baltimore 1978, S. 27–38, sowie Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, S. 207–249. 34 Robert J. Soucy, French Fascism. The first wave 1924–1933, New Haven 1986; Vgl. auch den Überblick in Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, S. 271–298.

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war zweifellos auch das traditionell in der Dritten Republik praktizierte Mehrheitswahlrecht,35 das in seiner alternativen Polarisierung systemloyaler Kräfte einer Radikalisierung der Wählerschaft entgegenstand. • Als vierter Aspekt sei schließlich das hohe parlamentarische Selbstbewusstsein erwähnt, das sich auch auf die lange Zeit als Erfolgsgeschichte perzipierte Entwicklung des französischen Parlamentarismus stützte und das wesentlicher Teil des breiten republikanischen Selbstverständnisses geworden war. Besondere Bedeutung für die Stabilisierung des bestehenden Systems erlangte dieser Aspekt in den Jahren 1924 und 1926. Betrieben jeweils von Ministerpräsident Poincaré stand, wie in anderen europäischen Demokratien auch, das Regieren mit Verordnungsgesetzen („décrets-lois“) auch in Friedenszeiten zur Debatte. Der Widerstand hiergegen war – anders als in der Weimarer Republik – in Frankreich zunächst riesig. Die von Poincaré eingeforderten Ermächtigungsgesetze blieben daher sehr eng begrenzt und zogen trotzdem auf der Linken heftige Warnungen vor einer Diktatur nach sich. Die Entparlamentarisierung der Gesetzgebung, die in zahlreichen Staaten zu einem Krisenphänomen der Zwischenkriegszeit wurde, konnte so in Frankreich zunächst kaum Fuß fassen. • Die fünfte und wichtigste Stärke des traditionellen parlamentarischen Systems, die über weite Strecken auch noch die Zeit zwischen den Weltkriegen prägte, war seine integrative Kraft. Teils lässt diese sich als Funktion der eben genannten Stärken des französischen Parlamentarismus verstehen, teils resultierte sie auch generell aus der bereits skizzierten breiten Akzeptanz des französischen Republikanismus. Im Hinblick auf die politische Rechte und das katholische Frankreich trieben die Union sacrée des Krieges und auch die Entwicklungen der Zwischenkriegszeit, insbesondere die 1926 bekanntgegebene Verurteilung der rechtsextremen Action française durch den Papst, diesen Prozess weiter voran.36

35 1919 wurde das auf Wahlkreise bezogene Mehrheitswahlsystem („scrutin d’arrondissement“) durch ein kompliziertes Mischsystem von Mehrheits- und Verhältniswahl abgelöst. 1927 kehrte man mit Modifikationen zum alten Verfahren zurück. 1937 wurde ein Verhältniswahlsystem eingeführt, das aber nur in einigen Nachwahlen zur Geltung kam. Vgl. Alistair Cole/Peter Campbell, French electoral systems and elections since 1789, Aldershot 1989, S. 63–70; Raymond Huard, Le suffrage universel en France (1848– 1946), o. O. 1991, S. 231–238. 36 Vgl. Michael Hoffmann, Ordnung, Familie, Vaterland. Wahrnehmung und Wirkung des Ersten Weltkriegs auf die parlamentarische Rechte im Frankreich der 1920er-Jahre, München 2008; vgl. auch das Urteil in Jean-Marie Mayeur, Les catholiques français face au défi de l’extrémisme politique. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich, S. 71–77, hier 76: „Un regard sur l’attitude des catholiques français dans les années de l’entre-deux-guerres convainc que ceux-ci pour le plus grand nombre, à la suite de l’Union sacrée, puis de la condamnation de l’Action française, acceptent le régime et la République. La différence avec les premières décennies du régime est manifeste.“

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Die Integrationskraft der republikanischen politischen Kultur im Allgemeinen und des parlamentarischen Systems im Besonderen reichte aber auch nach links. Sie sorgte in den 1920er-Jahren dafür, dass sich die Sozialisten trotz eines klassenkämpferischen Linkskurses in das parlamentarische Spiel einfügten.37 Zwar schloss die SFIO nach dem Intermezzo der Union-sacrée-Regierung und infolge der Konkurrenz zum PCF eine erneute Regierungsbeteiligung zunächst aus. Sie gehörte dann aber 1924 bis 1926, ohne eigene Minister zu stellen, dem parlamentarischen Regierungslager des Cartel des gauches an. Der Schritt zum Kabinettseintritt der SFIO folgte, wie erwähnt, 1936 bei der Konstituierung des ersten Volksfrontkabinetts. Die kommunistische Partei hatte sich infolge innerer Bolschewisierung und unter dem Eindruck der „ultralinken“ Strategie der Kommunistischen Internationale zeitweise selbst marginalisiert.38 1935/36 beteiligte sie sich jedoch an der Formierung des „Front populaire“, und ab 1936 stützte sie die Mitte-links-Regierungen parlamentarisch. Dieser Wandel lag einerseits in dem seit 1934/35 verfolgten Volksfront-Kurs der Komintern begründet.39 Andererseits resultierte die Einbeziehung der Kommunisten in das parlamentarische Regierungslager aber auch aus der Logik des innenpolitischen Integrationsprozesses und aus der Sogkraft einer republikanisch geprägten politischen Nationalkultur, die auch die Erinnerung an die revolutionäre Tradition Frankreichs pflegte.40

V.

Problemfelder und Erosionserscheinungen des französischen ­Parlamentarismus

Dominierten in den 1920er-Jahren trotz mancher Ambivalenzen noch die Stärken des traditionellen parlamentarischen Systems in Frankreich, so traten in den 1930er-Jahren Probleme und Erosionserscheinungen deutlich hervor. Die folgenden Ausführungen knüpfen zunächst an das eben skizzierte Schema traditioneller Stärken an und werden jeweils markieren, inwieweit es in der Endphase der Dritten Republik eine Entwicklung zum Negativen gegeben hat:

37 Die Unterschiede zur SPD markiert Heinrich August Winkler, Klassenkampf versus Koalition. Die französischen Sozialisten und die Politik der deutschen Sozialdemokraten 1928–1933. In: Geschichte und Gesellschaft, 17 (1991), S. 182–219. 38 Vgl. Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, S. 262–264, 378. 39 Vgl. ebd., S. 559. 40 Vgl. ebd., S. 334–342. Die integrative Kraft dieses Faktors lässt sich z. B. auch in den Berichten erkennen, die französische Linksintellektuelle über ihre Reisen in die Sowjet­ union verfassten und in denen sie immer wieder auf die französische Revolutionsgeschichte rekurrierten. Vgl. Eva Oberloskamp, Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917–1939, München 2011.

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• Insgesamt ist erstens davon auszugehen, dass das Niveau und auch die Inklusionskraft der parlamentarischen Kommunikation im Laufe der 1930er-Jahre infolge des wachsenden politischen Drucks und des Einflusses radikaler ­Strömungen auf die französischen Kammern abgesunken ist. Mehr als eine thesenhafte Andeutung ist hier freilich kaum möglich, denn systematische Untersuchungen liegen zu dieser Frage noch nicht vor. Allerdings lassen sich zahlreiche Indizien finden, die diese These stützen: Erwähnt sei hier nur die wachsende Bedeutung des Antisemitismus in Redebeiträgen rechter Kammerabgeordneter, insbesondere seit dem Regierungsantritt der Volksfront.41 • Zweitens hat auch die parlamentarische Flexibilität im Laufe der Zwischenkriegszeit gelitten. Die Gegensätze wurden schroffer und die Schwankungen in der politischen Positionierung der Regierungslager größer. Mit dem Erstarken der Sozialisten und Kommunisten gewannen parteipolitische Bindungen auch im französischen Parlamentarismus ein höheres Gewicht, was vor allem in der politischen Mitte vielfach mit Unverständnis und scharfer Parteienkritik aufgenommen wurde. Die rasche Erosion der als Parteienkoalitionen gebildeten linken Regierungsbündnisse 1924 bis 1926 und 1936 bis 1938 schuf zudem ein neuartiges Potenzial für politische Enttäuschungen. Die Frequenz der Kabinettswechsel beschleunigte sich seit den späten 1920er-Jahren weiter, und die Instabilität der Regierungen wurde nun in Frankreich – gerade auch im Vergleich zu benachbarten Diktaturen – immer mehr als schwerwiegendes Krisenphänomen begriffen. Gleichzeitig gerieten die langwierigen Gesetzgebungsverfahren unter den Druck wachsender ideologischer sowie wirtschafts-, sozial- und außenpolitischer Herausforderungen. Genannt seien nur die Weltwirtschaftskrise sowie die bedrohliche Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschland. • Drittens hat Ende der 1930er-Jahre offenbar die Fähigkeit des französischen Parlamentarismus nachgelassen, immer wieder systemimmanente Alternativen anzubieten. Nach dem Scheitern der Volksfront regierte Édouard Daladier vom Parti radical mit Unterstützung des Mitte-rechts-Spektrums – und jetzt auch mit Hilfe weitreichender Ermächtigungsgesetze, während das innenpolitische Leben wie gelähmt erschien. Dies lag wohl nicht nur am Schatten der deutschen Bedrohung, sondern unter anderem auch daran, dass der mobilisierende Glaube an eine neue Regierungskonstellation nun erschöpft war. • Von erheblicher Bedeutung war viertens auch, dass das parlamentarische Selbstbewusstsein schon vorher stark gelitten hatte. Besonders deutlich wird dies im Ausbau des Instrumentariums der Ermächtigungsgesetze und dem

41 So begrüßte Xavier Vallat (1881–1872), ein führender Abgeordneter der Fédération républicaine, im Juni 1936 die Regierung Léon Blum unter dem Beifall der politischen Rechten mit antisemitischen Tiraden. Vgl. Laurent Joly, Antisémites et antisémitisme à la Chambre des députés sous la IIIe République. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine, 54 (2007), S. 63–90, hier 83.

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damit verbundenen Regieren mit décrets-lois. Diese Entwicklung war in den 1920er-Jahren noch auf heftigen Widerstand gestoßen. Doch 1933 setzte sie erneut ein, wobei der Umfang der Ermächtigungen immer breiter wurde. Die französischen Kammern verloren so nach und nach ihre legislative Hegemonie, was letztlich zu einer massiven parlamentarischen Schwächung führte.42 • Unter dem Eindruck der ökonomischen und politischen Herausforderungen und der angedeuteten Erosionserscheinungen des parlamentarischen Systems schwächte sich fünftens in den 1930er-Jahren auch seine integrative Kraft ab, während gleichzeitig die gesellschaftlichen „Desintegrationstendenzen“ infolge der Weltwirtschaftskriese eine „rapide Beschleunigung“43 erfuhren. Der Verlust parlamentarischer Integrationsfähigkeit manifestierte sich weniger in den Wahlergebnissen als vielmehr in der Massenmobilisierung radikaler Bewegungen, im Ansteigen politischer Gewalt44 und in der wachsenden Bedeutung der Straße als politischer Aktionsraum, der nun in gewisser Weise in Konkurrenz zum Parlament trat, dem traditionellen Ort der Repräsentation des Volkes. Dennoch war die Entwicklung bei genauerer Betrachtung komplex und von mehrfachen Ambivalenzen gekennzeichnet: Eine „zweite Welle“45 rechtsradikaler politischer Mobilisierung erreichte Mitte der 1930er-Jahre zeitweise ein größeres Ausmaß als 1924 bis 1926. Sie verlor aber rasch wieder an Kraft, bis sie durch das Ligenverbot der Volksfrontregierung 1936 zumindest teilweise abgeblockt wurde. Gleichzeitig rückte die etablierte konservative Partei der Fédération républicaine seit 1936/37 stark nach rechts und kooperierte sogar mit faschistischen Kräften. Doch auch jetzt noch zeigten sich auf der Rechten gewisse integrative Effekte des politischen Systems. Mit den Croix de feu („Feuerkreuzler“) wandelte sich seit 1936 die größte rechtsextreme Liga in eine neue rechtskonservative Partei, den Parti social français, der in den Wahlen zur Abgeordnetenkammer 1936 sowie danach bei diversen Nachwahlen eine Reihe von Kammersitzen erobern konnte. Trotz einer äußerlichen republikanischen Adaptation und einer parlamentarischen Annäherung an den Parti radical blieb

42 Den Zusammenhang von Ermächtigungsgesetzen und parlamentarischer Schwäche betont vor allem Sandro Guerrieri, L’affaiblissement du Parlement français dans la dernière législature de la Troisième République (1936–1940). In: Parliaments, Estates and Representation, 23 (2003), S. 195–207. 43 Loth, Geschichte Frankreichs, S. 74. 44 Diese blieb – hierauf hat Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, S. 610, hingewiesen – im Vergleich zur Weimarer Republik freilich relativ beschränkt, da „die Bildung der Volksfront und die spezifische politische Kultur der Hauptstadt den politischen Ex­ tremismus beider Seiten nicht unerheblich domestizierten“. Vgl. auch ders., Politische Gewalt in der Krise der Demokratie im Deutschland und Frankreich der Zwischenkriegszeit. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich, S. 131– 150. 45 Robert Soucy, French Fascism. The Second Wave 1933–1939, New Haven 1995; Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, S. 467–506.

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der PSF allerdings weiterhin einem autoritären und fremdenfeindlichen Weltbild verhaftet.46 Was die Integrationskraft nach links betrifft, so erreichte diese in den 1930er-Jahren ihren Höhe-, aber auch ihren Kulminationspunkt. Die Einbeziehung der Kommunisten in die parlamentarische Stützung der Volksfront 1936 mobilisierte heftige innenpolitische Widerstände und einen aggressiven Antikommunismus im Mitte-rechts-Lager, der in einer dialektischen Radikalisierung letztlich auf die Exklusion der Kommunisten aus dem politischen Leben zielte. Bereits Ende 1938 forderten über 400 Zeitungen in einem Appell an Daladier das Verbot des PCF.47 Nach dem Hitler-Stalin-Pakt, dem Umschwenken der moskautreuen Kommunisten zur Kriegsgegnerschaft, dem Einsetzen eines parteiinternen Desintegrationsprozesses und dem Kriegsbeginn im September 1939 wurde diese Forderung von der Regierung Daladier schließlich umgesetzt. Tausende Kommunisten verloren nun ihre kommunalen oder nationalen Abgeordnetenfunktionen, viele von ihnen wurden inhaftiert. Generell ist festzustellen, dass die Stärken des französischen Parlamentarismus in den 1930er-Jahren deutlich an Substanz verloren. Begleitet war dieser Prozess von einem massiven Anwachsen der Parlamentarismuskritik.48 Diese reichte von der Forderung nach einer die Exekutive stärkenden Verfassungsreform bis hin zu einem strikten Antiparlamentarismus. Letzterer hatte erstmals in der Zeit des Linkskartells 1924 bis 1926 einen, wenn auch nur vorübergehenden, Aufschwung genommen.49 Seit Ende der 1920er-Jahre intensivierte sich diese Entwicklung erneut, wozu neben den skizzierten Problemen des französischen Parlamentarismus auch eine Häufung von Skandalen beitrug, in die führende Politiker verwickelt waren. Am bekanntesten ist die Affäre um den Tod des Finanzbetrügers Alexandre Stavisky, die direkt in die Krise vom Februar 1934 mündete. Die Verbreitung antiparlamentarischer Stimmungen war in den 1930er-Jahren vor allem im Bereich der rechtsextremen Ligen zu finden, sie griff aber auch auf einzelne etablierte Parlamentarier über. Ein Beispiel hierfür ist der dreifache Ministerpräsident (1929 bis 1932) André Tardieu, der sich 1934 aus dem aktiven politischen Leben zurückzog und als scharfer Kritiker der vermeintlichen Übermacht des Parlaments auftrat.50

46 Dies betont Sean Kennedy, Reconciling France against Democracy. The Croix de Feu and the Parti Social Français 1927–1945, London 2007, gegen eine Forschungstendenz, die eher die republikanische Integration des PSF in den Vordergrund stellt. Vgl. ebd., S. 269. 47 Vgl. Berstein, La France des années 30, S. 152. 48 Vgl. Jean Defrasne, L’antiparlementarisme en France, Paris 1990, S. 59–77. 49 Vgl. Jean-Etienne Dubois, De l’anticartellisme à l’antiparlementarisme dans la France des années Vingt. In: Siècles, 32 (2010) (http://siecles.revues.org/987n; 28.4.2015). 50 Vgl. André Tardieu, La révolution à refaire, Band 1: Le souverain captif, [Paris] 1936. Zu Tardieu vgl. François Monnet, Refaire la République. André Tardieu: une dérive réactionnaire (1876–1945), Paris 1993.

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VI. Ansätze des Systemwandels Auch wenn das System der späten Dritten Republik auf den ersten Blick als statisch erscheinen mag, gab es doch Ansätze des Wandels, die freilich insgesamt heterogen, ja widersprüchlich blieben. Im Folgenden sollen fünf Veränderungstendenzen unterschieden werden: • In die frühen 1920er-Jahre fällt der Versuch, die seit 1877 weitgehend brach liegende Macht des Staatspräsidenten wiederzubeleben und ihm eine führende politische Rolle zuzuweisen. Diese Bemühungen, die auch darauf zielten, nach dem Weltkrieg das Wiederaufleben der traditionellen innenpolitischen Instabilität zu vermeiden, blieben eine Episode der Jahre 1920 bis 1924, die sich mit dem Namen des damaligen Präsidenten Alexandre Millerand verbindet. Millerand ging es unter anderem auch um eine Reaktivierung des seit 1877 diskreditierten präsidentiellen Rechts der Kammerauflösung, was nicht nur auf der Linken, sondern auch bei führenden Rechtsliberalen wie Poincaré auf Widerstand stieß. Nach einem Konflikt mit der neugewählten Kartellmehrheit in der Abgeordnetenkammer, die – ähnlich wie 1877 – die politische Kooperation mit dem Staatspräsidenten verweigerte, trat Millerand 1924 von seinem Amt zurück. • In eine völlig andere Richtung wies der zweite Ansatz: Hier ging es um den Versuch, eine für Frankreich neuartige Koalitionspolitik zwischen einzelnen Parteien zu praktizieren und der Regierung bzw. dem Ministerpräsidenten durch eine Stabilisierung des parlamentarischen Regierungslagers eine stärkere Stellung zu verschaffen. Sowohl das Cartel des gauches von 1924 als auch die Volksfront von 1936 lassen sich in diesem Sinne interpretieren. In beiden Fällen scheiterte das Experiment, nicht zuletzt auch am archaisch diffusen Charakter des Parti radical, der angesichts des wachsenden innenpolitischen Krisendrucks jeweils mitten in der Legislaturperiode in Teilen seiner Abgeordnetenschaft eine Umorientierung hin zu einem Mitte-rechts-Bündnis vollzog.51 Eine Disziplinierung und Modernisierung des französischen Parlamentarismus durch eine enge Verzahnung von Regierung und parlamentarischem Regierungslager konnte schon deshalb nicht gelingen, weil die Ausbildung kohärenter Parteien über die sozialistische Linke nicht hinausgekommen war. • Ein dritter Ansatz blieb innerhalb des seit 1877 bestehenden Verfassungsrahmens und eines Parlamentarismusverständnisses, in dem moderne Parteien keine Rolle spielten. Er zielte weniger auf einen tiefgreifenden Wandel als auf eine schrittweise Modifikation des Systems. Dabei ging es darum, die

51 Allgemein zu den Problemen der Linksbündnisse vgl. Daniela Neri-Ultsch, Sozialisten und Radicaux – eine schwierige Allianz. Linksbündnisse in der Dritten Französischen Republik 1919–1938, München 2005.

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l­angwierigen parlamentarischen Verfahrensweisen zu beschränken bzw. – wie es zeitgenössisch hieß – zu „rationalisieren“.52 Über Korrekturen der parlamentarischen Geschäftsordnung sollten beispielsweise die Redezeiten verkürzt oder die Möglichkeit von Änderungsanträgen im Gesetzgebungsprozess beschränkt werden. Dieser Ansatz wurde insbesondere von Poincaré bereits in den 1920er-Jahren durchaus mit Erfolg forciert, wobei er sein Charisma gleichzeitig dazu einsetzte, als Ministerpräsident eine sehr aktive politische Rolle zu spielen. Allerdings blieb der Erfolg weitgehend personengebunden d. h. auf die Amtszeiten Poincarés als Ministerpräsident (1922 bis 1924 und 1926 bis 1929) beschränkt. • In den 1930er-Jahren gingen derartige Vorstellungen in die breiten politischen und staatsrechtlichen Debatten um eine Verfassungsrevision und eine Stärkung der Exekutive ein,53 die durch das vor allem im Mitte-rechts-Spektrum anzutreffende Ungenügen an den parlamentarischen Zuständen getragen wurden. Höhepunkt derartiger Bestrebungen war die Zeit unmittelbar nach den gewalttätigen Demonstrationen vom 6. Februar 1934, als das parlamentarische System akut bedroht erschien und unter dem bereits 70-jährigen Gaston Doumergue, wie Poincaré ein ehemaliger Staatspräsident (1924 bis 1931), erneut eine breite Regierung der Union nationale gebildet wurde. Die Abgeordnetenkammer setzte eine „Commission de la Réforme d’Etat“ ein, die diverse Veränderungen der Verfassung von 1875 vorschlug. Daran angelehnt legte Doumergue im November 1934 ein Reformprojekt vor, das unter anderem die Reaktivierung der Kammerauflösung durch den Staats­ präsidenten und die Aufwertung des in den Verfassungsgesetzen gar nicht existenten Regierungschefs („président du conseil“) zu einem „Premier ministre“ vorsah. Mit dem bald darauf erfolgten Sturz von Doumergue fand dieser Anlauf zu einer Verfassungsrevision ein rasches Ende. Zu groß war insbesondere im Mitte-links-Spektrum die damit verbundene Furcht vor einer autoritären Umgestaltung der Dritten Republik. Trotz der Modifikationen im Sinne eines „parlementarisme rationalisé“, zu denen seit Mitte der 1930er-Jahre auch der Aufbau einer institutionellen „Présidence du conseil“ im Matignon-Palast gehörte, blieben die Grundstrukturen des traditionellen französischen Parlamentarismus bis 1940 erhalten. Die gescheiterten Versuche seiner Veränderung riefen bei den Anhängern einer Umgestaltung angesichts des Immobilismus der Dritten

52 Vgl. Nicolas Roussellier, Gouvernement et parlement en France dans l’entre-deux-guerres. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich, S. 253–267. Das Veränderungspotenzial dieser Entwicklung wird von Roussellier m. E. überbetont. 53 Vgl. ders., La Contestation du modèle républicain dans les années 30. La réforme de l’État. In: Serge Berstein/Odile Rudelle (Hg.), Le modèle républicain, Paris 1992, S. 319–335; Stefan Grüner, Paul Reynaud (1878–1966). Biographische Studien zum Liberalismus in Frankreich, München 2001, S. 223–239.

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Republik zweifellos eine gewisse Resignation hervor.54 Inwieweit dies dann in der Krisensituation von 1940 die Bereitschaft zu einem Bruch mit den Grundlagen der französischen Demokratie beförderte, bedürfte der weiteren Klärung. • Erwähnt sei schließlich noch eine fünfte Tendenz der Veränderung, die eher diffus erscheint, insgesamt aber wohl von erheblicher Bedeutung war: die offenbar wachsende Sehnsucht nach einer starken Persönlichkeit als „Retter“ aus innenpolitischen Wirren und Krisen und damit das Erstarken einer bonapartistischen Traditionslinie. Erstmals in der Zwischenkriegszeit manifestierte sich diese Entwicklung im Jahr 1926 in Form des Personenkults um Poincaré, der es als Ministerpräsident in kurzer Zeit schaffte, die innenpolitische Krisenlage und die Nachkriegsinflation zu beenden. Angesichts des traditionalistischen Verfassungsverständnisses Poincarés blieben die Potenziale der Systemveränderung zu diesem Zeitpunkt jedoch gering. Acht Jahre später, in der Krise des Jahres 1934, fiel die Rolle des Retters kurzzeitig Gaston Doumergue zu, der freilich rasch parlamentarisch scheiterte. Nur vier Jahre später, nach dem endgültigen Zerbrechen der Volksfront im Jahr 1938, trat erneut eine ähnliche Konstellation ein. Daladier regierte nun in autoritärer, auf seine Person zentrierter Manier. Dabei setzte er beispielsweise auch auf Masseninszenierungen – etwa beim Staatsbesuch des englischen Königspaares im Juli 1938 oder bei den Erinnerungsfeierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Waffenstillstands von 1918 und zum 150. Jahrestag des Beginns der Französischen Revolution 1939.55 Auch das moderne Medium der Radioansprache nutzte Daladier – ähnlich wie später Pétain und de Gaulle – intensiv.56 Folgt man den Überlegungen von Jessica Wardhaugh, dann suchte Daladier in seiner eigenen Rolle als nationaler Führer eine Lösung für die Krise der Repräsentation, die im Konkurrenzkampf zwischen dem Parlament und den Massen auf der Straße entstanden war.57 Doch letztlich blieb auch Daladier ein Politiker der Dritten Republik, der im März 1940 sofort von seinem Amt als Regierungschef zurücktrat, als seine parlamentarische Vertrauensbasis erodierte.

54 Vgl. Grüner, Reynaud, S. 238. 55 Vgl. Jessica Wardhaugh, Between Parliament and the people. The problem of representation in France 1934–39. In: Parliaments, Estates and Representation, 27 (2007), S. 207–225, hier 223 f. 56 Ebd., S. 223. 57 Vgl. ebd., S. 225. Der Bogen zur bonapartistischen Tradition wird in Wardhaughs anregender Interpretation nicht geschlagen. Vgl. Robert Gildea, The Past in French History, New Haven 1994, S. 62–111.

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VII. Resümee und Ausblick Zu den Ursachen des militärischen und politischen Zusammenbruchs der Dritten Französischen Republik sind in der Geschichtsschreibung zwei Erklärungsansätze zu erkennen, die sich kontrastieren oder auch kombinieren lassen. Einerseits existiert die Annahme eines tiefgreifenden Krisenprozesses der Republik in den 1930er-Jahren, der folgerichtig in die Tragödie des Jahres 1940 gemündet sei und der teilweise auch direkt für den militärischen Kollaps verantwortlich gemacht wird.58 Damit verbinden sich nicht selten weitergehende Vorstellungen von einer geistigen Krise Frankreichs, in der – so etwa das Urteil Serge Bersteins – die Annahme eines „déclin national“ und ein Bewusstsein „de l’inadéquation entre les structures nationales et l’évolution du monde du XXe siècle“ eine wichtige Rolle spielten.59 Andererseits stehen die militärischen Ursachen der Niederlage gegen Deutschland im Mittelpunkt, wobei vor allem das Gewicht strategischer Fehlentscheidungen betont und der These einer umfassenden Krise der Republik teilweise widersprochen wird.60 Eine Diskussion dieser weitgespannten Fragen würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.61 Aus parlamentarismus- und demokratiegeschichtlicher Perspektive lassen sich jedoch resümierend einige Schlüsse ziehen, die zur Präzisierung des Bildes beitragen können: Als der Zweite Weltkrieg begann, lebte die französische Demokratie noch. Sie war aber schon vor der deutschen Invasion erodiert.62 Das System der Dritten Republik war – vereinfacht gesprochen – in die Jahre gekommen. In den 1920er-Jahren hatte es noch einmal seine Stärken entfalten können, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass die „Krisenjahre der klassischen Moderne“63 in Frankreich relativ schwach ausgeprägt waren. Insbesondere gelang es, die Krise des Jahres 1926 und die Überwindung der Nachkriegsinflation weitgehend mit den traditionellen Methoden des französischen Parlamentarismus zu meistern. In den 1930er-Jahren gerieten das parlamentarische System und damit auch das Prestige der Republik aber immer mehr unter den Druck der politischen

58 Dieser Deutungsansatz findet sich bereits bei Marc Bloch, Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge, Frankfurt a. M. 1992 [zuerst franz. 1946], S. 180–232, und prägt Teile der Forschung. Vgl. z. B. Berstein, La France des années 30. 59 Ebd., S. 170 f. 60 Vgl. insbesondere Karl-Heinz Frieser, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 1995, vor allem S. 404–406; Hans-Jürgen Heimsoeth, Der Zusammenbruch der Dritten Französischen Republik. Frankreich während der „drôle de guerre“ 1939/1940, Bonn 1990, vor allem S. 363. 61 Eine differenzierte Abwägung findet sich bei Engels, Kleine Geschichte, S. 204–212. 62 Vgl. Mayeur, La vie politique, S. 403: „La défaite allait porter le coup décisif à un régime miné de l’intérieur.“ 63 Hier ist insbesondere auf den Gegensatz zu Deutschland zu verweisen. Vgl. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987.

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Behauptung und Erosion der Demokratie in Frankreich

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Herausforderungen und der sich verändernden Erwartungen, die auch von der Vorbildwirkung scheinbar erfolgreicher autoritärer Regime bestimmt waren. Die Instabilität der Regierungen und die Langwierigkeit der parlamentarischen Verfahren wurden so in der Wahrnehmung durch die französische Politik und Öffentlichkeit immer mehr zu einem Krisenphänomen. Hinzu kam das Pro­ blem, dass konträre Tendenzen des Systemwandels keine tiefgreifenden Veränderungen bewirken konnten, sondern die um sich greifende Verunsicherung eher noch steigerten. Weder gelang der Übergang in ein stärker von modernen Parteien beherrschtes System, noch konnte über Verfassungsänderungen eine wesentliche Aufwertung der Exekutive erreicht werden. All dies erklärt nicht den militärischen Zusammenbruch. Vielmehr bildete dieser eine notwendige Voraussetzung für die sang- und klanglose Kapitulation der meisten Parlamentarier gegenüber den Intrigen, die im Sommer 1940 Marschall Pétain, dem mythisierten „Retter von Verdun“, zur Macht verhalfen. Verständlich wird diese Kapitulation aber nur, wenn auch die skizzierten Problemfelder des französischen Parlamentarismus berücksichtigt werden. Das traditionelle parlamentarische System Frankreichs war allerdings mit dem Debakel von 1940 noch keineswegs am Ende. Nach der Libération von 1944 und der Wiederbegründung der jetzt auch auf Frauen ausgedehnten Demokratie wurden die Strukturen der Dritten Republik bei der Gründung der Vierten Republik trotz mancher Modifikationen noch einmal in Kraft gesetzt. Erst nach den Krisenerfahrungen der 1950er-Jahre kam es zu einer massiven Veränderung der französischen Demokratie. Mit der de Gaulle’schen Umgestaltung zur Fünften Republik konnte sich schließlich die präsidentielle Reformoption durchsetzen, verbunden mit einer strikten „Rationalisierung“ des französischen Parlamentarismus.

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„Nordische Demokratie“ als Alternative zu Diktatur und Status-quo-Liberalismus – Nordeuropa in der Zwischenkriegszeit Peter Brandt Im Europa der Zwischenkriegszeit gehörten die nordischen Länder mit Ausnahme Finnlands zu den relativ sicheren Bänken der repräsentativen Demokratie. Auch die Herausforderungen des Zweiten Weltkriegs setzten die parlamentarisch-demokratische Regierungsform allein in Norwegen für die ganze Dauer der deutschen Besatzung außer Kraft; immerhin blieb dort die aktiv kollaborierende Quisling-Regierung weitaus stärker isoliert als etwa das – allerdings formal besser legitimierte – Vichy-Regime in Frankreich. In dem ebenfalls deutsch besetzten Dänemark, das, anders als Norwegen, angesichts völliger Aussichtslosigkeit nach zwei Stunden auf militärische Gegenwehr verzichtet hatte, konnte bis zum August 1943 ein sozialdemokratisch dominiertes Kabinett weiter amtieren und sogar freie Wahlen durchführen.1 Schweden vermochte seine im Krieg neutrale Position zu bewahren, wobei, ähnlich wie im Fall der Schweiz, in der ersten Kriegshälfte Anpassungsleistungen nicht nur in der Außenwirtschaftspolitik zugunsten NS-Deutschlands unvermeidlich schienen.2 Finnland kämpfte 1941 bis 1944 sogar Seite an Seite mit der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetarmee, um die im Winterkrieg 1939/40 von der UdSSR erzwungenen Gebietsabtretungen rückgängig zu machen und günstigenfalls Ostkare­ lien hinzuzugewinnen.3 In allen vier Fällen waren bei Kriegsbeginn infolge des deutschen Angriffs auf Polen Allparteienregierungen gebildet worden, die nur kommunistische und (wiederum mit Ausnahme Finnlands) faschistische Gruppierungen ausschlossen. Das galt dann auch für die norwegische Exilregierung in London. Alles in allem wird man sagen können, dass die nordeuropäische

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Vgl. Danske tilstander. Norske tilstander. Forskjeller og likheter under tysk okkupasjon 1940–1945. Hg. von Hans Fredrik Dahl, Hans Kirchhoff, Joachim Lund und Lars-Erik Vaale, Oslo 2010; Magne Skodvin, Krig og okkupasjon 1939–1945, Oslo 1990; Hans Kirchhoff, Samarbeide og motstand under besættelsen, Odense 2001. Vgl. Klaus Wittmann, Schwedens Wirtschaftsbeziehungen zum Dritten Reich 1933– 1945, München 1978; Om Sveriges förhållande till nazismen. Nazityskland och förintelsen, en forskningsöversikt. Hg. vom Vetenskapsrådet, Stockholm 2001. Vgl. Tiina Kinnunen/Ville Kivimäki (Hg.), Finland in World War II. History, Memory, Interpretations, Leiden 2012.

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Demokratie nicht nur die schwierigen 1920er- und 1930er-Jahre gut überstand, nach der Weltwirtschaftskrise sich sogar festigte und ein spezifisches Modell ausbildete, sondern auch die Anfechtungen der Jahre 1940 bis 1945 erstaunlich gut meisterte, eine der Voraussetzungen für die Blütezeit dieses Modells im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts.

I.

Finnlands spezifischer Weg zur „Nordischen Demokratie“

Doch Nordeuropa war in den 1920er-Jahren und frühen 1930er-Jahren durchaus keine Idylle, sondern eine gesellschaftspolitisch, hauptsächlich zwischen Arbeit und Kapital, stark polarisierte, von großen Streiks und Aussperrungen betroffene Großregion. Dazu kamen ältere soziokulturelle Konfliktlinien, die das parteipolitische Leben weiterhin stark beeinflussten.4 Auch im Norden gab es im bürgerlich-bäuerlichen Spektrum antisozialistische und antiparlamentarische Bestrebungen von keineswegs nur marginaler Bedeutung. Aufseiten der Arbeiterbewegung waren in Finnland und Norwegen zeitweilig Positionen in der Mehrheit, die nicht nur den Kapitalismus, sondern auch zugunsten eines Rätesystems die „bürgerliche Demokratie“ überwinden wollten. Diese war in Finnland das Ergebnis eines veritablen Bürgerkriegs, der im Anschluss an die Erlangung der Unabhängigkeit infolge der Russischen Revolution im Januar 1918 ausbrach.5 Zuvor hatte das Land mit einem Sonderstatus zum Zarenreich gehört, und schon während der revolutionären Ereignisse 1905/06 hatte sich der traditionelle Vierstände-Reichstag selbst abgeschafft und stattdessen ein Einkammerparlament auf der Grundlage des erstmals in Europa zur Anwendung gelangenden allgemeinen, gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen installiert. Obwohl die neue parlamentarische Ordnung im Zuge der Rekonsolidierung der Zarenmacht faktisch suspendiert wurde, bot sie 1917 den naheliegenden Anknüpfungspunkt für beide, hinsichtlich ihrer Wählerschaft annähernd gleich starken, zunehmend verfeindeten Lager der „Weißen“ und der „Roten“.

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Dazu gehörte maßgeblich der Sprachenstreit zwischen Finnisch und Schwedisch in Finnland sowie zwischen Riksmål und Nynorsk in Norwegen. Nynorsk war Mitte des 19. Jahrhunderts von nationalbewussten Philologen aus dem mittelalterlichen Norwegisch und einigen der Dialekte des Landesinnern kreiert worden – in Opposition zu dem (bis heute von der Mehrheit gebrauchten) stark dänisch geprägten Riksmål. Vgl. Heikki Ylikangas, Der Weg nach Tampere. Die Niederlage der Roten im finnischen Bürgerkrieg 1918, Berlin 2002. Zur Geschichte Finnlands im 19. und 20. Jahrhundert allgemein vgl. Osmo Jussila/Seppo Hentilä/Jukka Nevakivi, Politische Geschichte Finnlands seit 1809. Vom Großfürstentum zur Europäischen Union, Berlin 1999; Seppo Zetterberg, Finnland ab 1917, Helsinki 1991; Krister Wahlbäck, Från Mannerheim till Kekkonen. Huvudlinjer i finländsk politik 1917–1967, Stockholm 1967. Die hier relevante Periode beleuchtet außerdem pointiert Johanna Rainio-Niemi, Die finnische Demokratie in der Zwischenkriegszeit. In: Tim B. Müller/Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem ersten Weltkrieg, Hamburg 2015, S. 392–420.

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„Nordische Demokratie“ als Alternative

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Der Sieg der Weißen im Frühjahr 1918 begründete mit der gewaltsamen Unterdrückung der Geschlagenen und dem Verbot der aus dem linken Flügel der Sozialdemokratie hervorgegangenen Kommunistischen Partei (Ersatzformationen konnten in den 1920er-Jahren zu Wahlen antreten) eine defizitäre Demokratie, nachdem sich 1919 die Anhänger der bürgerlichen Republik gegen die konservativen Monarchisten durchgesetzt hatten. Das innenpolitische Klima blieb repressiv, auch die gemäßigten Sozialisten standen permanent unter Druck. Die starke Stellung des indirekt volksgewählten Präsidenten in der Verfassung – ähnlich der des französischen Präsidenten der Fünften Republik – schlug sich in einem suspensiven Veto gegen beschlossene Gesetze, in dem Recht, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, in der Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen sowohl des Staatsoberhaupts als auch der Volksvertretung sowie in weitgehenden Notstandsbefugnissen nieder.6 Diese, 1930 mit der Zielrichtung gegen die radikale Linke ergänzend beschlossenen Ausnahmegesetze wurden von dem konservativen Präsidenten Peter Evind Svinhufvud im Februar 1932 genutzt, um nach einem Putschversuch die bäuerliche, extrem antikommunistische, nationalistische, antidemokratische und pogromistische Lapua-Bewegung aufzulösen. Neben der großen Autorität Svinhufvuds als eines Veteranen des Bürgerkriegs war der präsidiale Oberbefehl über die ca. 80 000 Mann umfassende Freiwilligentruppe der „Schutzkorps“ entscheidend, die weitgehend loyal blieb. Nachdem die Lapua-Bewegung zunächst Sympathien und Unterstützung in den wirtschaftlichen und administrativen Eliten gefunden hatte, war sie 1931 im Zuge ihrer Radikalisierung, die (unblutige) terroristische Aktionen selbst gegen prominente Liberale einschloss, zunehmend in die Isolierung geraten. Die äußerste Rechte organisierte sich nach ihrem außerparlamentarischen Scheitern nun parteiförmig als „Vaterländische Volksbewegung“, anfangs im Wahlbündnis mit der konservativen Sammlungspartei, welche sich erst nach der schweren Niederlage bei den Reichstagswahlen 1933 von den im Stil wie im Inhalt faschistischen Vaterländischen mit bis zu 8,3 Prozent der Stimmen, zu distanzieren begann. Selbst in den kritischen Phasen der finnischen Republik um 1920 und 1930 wurden die repressiven und autoritären Kräfte, von den Verbänden der weißen Veteranen forcierten Tendenzen von den bürgerlichen bzw. bäuerlichen Kräften der politischen Mitte gebremst, die während des Bürgerkriegs ebenfalls auf die Seite der Weißen getreten waren. Sie akzeptierten die Sozialdemokraten als eine legitime Partei und waren (in zunächst begrenztem Maß) bereit, mit ihnen zu kooperieren. 1926/27 kam sogar eine sozialdemokratische Minderheitsregierung zustande. In der Mitte bis in die moderate Rechte war die legalistische Tradition der Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit, ein Erbe der 700-jährigen Schwedenzeit, ungebrochen lebendig und bildete eine hohe H ­ ürde gegen 6

Vgl. Text der Verfassung von 1919. In: Dieter Gosewinkel/Johannes Masing (Hg.), Die Verfassungen in Europa 1789–1949, München 2006, S. 1810–1823.

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­ iktatorische Versuchungen. Während sich das Verhältnis zwischen den Soziald demokraten und den Mittelparteien schon im Lauf der 1920er-Jahre entspannte, blieben die Arbeitsbeziehungen in den in nachholender Industrialisierung verstärkt neu errichteten Fabriken feindselig und gewissermaßen vorkonstitutionell; die kommunistisch beeinflussten Gewerkschaften waren kaum geduldet. Erst mit der Gründung sozialdemokratischer Konkurrenzverbände und der nach und nach einsetzenden Verselbstständigung der Gewerkschaften insgesamt – gegenüber der illegalen Kommunistischen Partei angesichts der ultraradikalen Wende der Dritten Internationale 1928/29, einige Jahre später dann mit der allgemein mehr auf Konsens gerichteten inneren Entwicklung samt der Wende der Kommunisten zur „Volksfront“ –, begann sich die Lage in Finnland auch diesbezüglich zu bessern. Mit Verzögerung kam 1937 im besonders stark landwirtschaftlich geprägten Finnland eine parteipolitische Konstellation zustande, die Finnland den Anschluss an die skandinavischen Nachbarn mit dem charakteristischen Kurs der staatsinterventionistischen Wirtschaftssteuerung und des Ausbaus der Sozialgesetzgebung finden ließ; die finnische „Roterde“-Mehrheit stand aber, anders als dort, unter Führung der Agrarpartei. Diese war nach dem Bürgerkrieg frühzeitig für nationale Versöhnung eingetreten und wenig anfällig für autoritäre Konzepte. Erst jetzt, in den späten 1930er-Jahren, konnte in Finnland von einer Sicherung und Erweiterung der Demokratie die Rede sein. Während die Verfolgung der Kommunisten (ohne Aufhebung des Verbots) weitgehend zum Erliegen kam, standen die Vaterländischen und der rechte Flügel der Konservativen zunehmend im Abseits. Die politische Kultur normalisierte sich gewissermaßen, und auch in der Außenpolitik schlug Finnland einen „nordischen“ Kurs ein, schon 1934/35 vorbereitet von einem kleinen (konservativen) Kreis an der Spitze des Staates. Mit dieser knappen Skizze dürfte deutlich geworden sein, warum der finnische Fall gegenüber allen drei anderen Ländern des Nordens beträchtliche Besonderheiten aufweist. Mehrere Faktoren rückten Finnland während der Zwischenkriegszeit in mancher Hinsicht näher an das Baltikum als an Skandinavien: die späte Nationalstaatsgründung und die danach andauernde, teilweise nachholende Nationsbildung, verkompliziert durch die Traumatisierungen des Bürgerkriegs und die Sprachenfrage in dem von einer etwa zehnprozentigen, besonders in den oberen sozialen Schichten konzentrierten schwedischsprachigen Minderheit mitbewohnten, infolge bis 1809 andauernder staatlicher Zugehörigkeit kulturell stark von Schweden beeinflusstem Land. Finnland ging schließlich den Weg der „Nordischen Demokratie“, aber sowohl im Anschluss an den Bürgerkrieg als auch in der Periode von 1929 bis 1932 schien der Übergang in ein autoritäres Regime, etwa in der Form einer konstitutionellen Präsi­dialdiktatur, eher wahrscheinlich als die Demokratisierung. Das finnische Beispiel belegt die simple Wahrheit, dass es in Entscheidungssituationen stets auch auf das kon­ krete Handeln der Akteure ankommt.

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„Nordische Demokratie“ als Alternative

II.

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Demokratisierung des Wahlrechts und Parlamentarisierung der ­Regierung in Dänemark, Norwegen und Schweden

Die parlamentarische Regierungsform auf der Grundlage eines demokratischen Wahlrechts war in den übrigen Ländern des Nordens, von denen im Folgenden allein die Rede sein soll, aus der Perspektive der Zwischenkriegszeit betrachtet, noch recht jung. Dänemark war (monarchischer) Verfassungsstaat seit 1849, das „Grundgesetz“ als eines der Ergebnisse der europäischen Revolutionsbewegung, verbunden mit einem den ganz überwiegenden Teil der männlichen Bevölkerung über 30 Jahre einschließenden Wahlrecht für die Zweite Kammer, das „Volksthing“ (Folketing). Dieses nach den Maßstäben der Zeit weit gefasste und gleiche Männerwahlrecht konnte auch in der langen Periode des Verfassungskonflikts des Folketings mit der Exekutive von 1875 bis 1894 erfolgreich verteidigt werden. Die formal gleichberechtigte Erste Kammer des „Landes­ things“ (Landsting) diente mit seinen vor allem den großen Landbesitz privilegierenden Bestimmungen als retardierendes und den Volkswillen ausbalancierendes Gremium. Dieser Funktion diente auch die indirekte Wahl, das höhere Wahlalter (35 Jahre), die Ernennung eines Teils der Abgeordneten durch den König und eine Legislaturperiode von doppelter Länge. Im Zuge einer 1915 im Parteienkonsens beschlossenen neuen Verfassung, in Kraft getreten endgültig 1920, wurde das Wahlrecht für das Folketing von noch bestehenden Einschränkungen befreit (Stimmrecht jetzt auch für Frauen, Gesinde und junge Erwachsene). Das verschaffte der Volkskammer gegenüber dem Landsting die Legitimität als künftig gewichtigeres Organ. Für Letzteres wurde nun ebenfalls die Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlkörpers bestimmt. Eine formelle Einführung des Parlamentarismus enthielt die neue Verfassung nicht; auf dem Papier blieb die Stellung des Königs recht stark (Auflösungsrecht, suspensives Veto).7 Faktisch stand der Parlamentarismus nach einem letzten, an der Drohung der Sozialdemokraten mit Generalstreik gescheiterten Versuch Ostern 1920, eine Beamtenregierung einzusetzen,8 nicht mehr infrage. In der dänischen Historiografie gilt schon das Jahr 1901 diesbezüglich als entscheidende Zäsur. In Norwegen hatte sich, ohne Bruch mit der 1814, in der Übergangsphase von der napoleonischen Hegemonie zur „Restauration“ in Europa, ­beschlossenen

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Vgl. Text des 1915 beschlossenen Grundgesetzes. In: Gosewinkel/Masing, Verfassungen in Europa, S. 1699–1711. Dieses und Folgendes ausführlicher und mit weiterer Literatur in Peter Brandt, Vom endgültigen Durchbruch der parlamentarischen Demokratie bis zu den Anfängen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats – Nordeuropa in der Zwischenkriegszeit. In: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 155–228, hier insb. 164 f.; ders., Mit der „Volksregierung“ zum demokratischen Wohlfahrtsstaat. Dänemark 1900–1940. In: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938, Köln 2013, S. 257–282; vgl. auch Bo Stråth (Hg.), Democratisation in Scandinavia in Comparison, Göteborg 1987. Vgl. Tage Kaarsted, Påskekrisen 1920, Aarhus 1968.

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Verfassung,9 diese vielmehr interpretierend, die De-facto-Parlamentarisierung der Regierung 1884 vollzogen, engstens verknüpft mit der Auseinandersetzung mit Schweden, dem stärkeren Partner der 90-jährigen (Personal-)Union bis 1905. Das norwegische „Großthing“ (Storting) war ein prozedural in zwei Abteilungen gegliedertes Einkammerparlament; für eine Erste Kammer fehlten die sozialen Voraussetzungen. Das (indirekte) Wahlrecht erfasste ein Drittel bis die Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung. 1897/9810 wurde das allgemeine Männerwahlrecht, 1913 auch das Frauenwahlrecht eingeführt. Schweden, konstitutionelle Monarchie seit 1809, besaß bis 1866 eine noch ständisch gewählte, dabei die Bauernschaft einschließende Vertretungskörperschaft, seitdem einen Zweikammer-Reichstag, dessen Zweite Kammer nach ­einem Zensuswahlrecht zustande kam.11 Eine hartnäckige, zwei „Volksreichstage“ und einen Generalstreik einschließende Kampagne resultierte 1907/09 in der Demokratisierung des Männerwahlrechts (nunmehr fast allgemein und gleich). Die Jahre davor gelten als Periode des Übergangs vom negativen zum positiven Einfluss des Reichstags auf die Regierungsbildung, zweifellos befördert durch das dänische und vor allem norwegische Voranschreiten, ohne dass von einer regelrechten Parlamentarisierung gesprochen werden konnte; die ­Widerstände, auch in der Gesellschaft, waren beträchtlich. Erst nach einer regulären Neuwahl und unmittelbar vor der folgenden Beauftragung eines Vertreters der Mehrheitsfraktionen mit der Regierungsbildung bekannte sich der K ­ önig im Herbst 1917 informell und nicht öffentlich zur Respektierung der Regeln des Parlamentarismus. Nicht vor 1920/21 wurde das parlamentarische System staatsoffiziell anerkannt, nachdem auch in Schweden letztmalig mit nichtparlamentarischen Kabinetten experimentiert worden war. Inzwischen waren als Begleiterscheinung der mitteleuropäischen Revolutions­ welle vom Herbst 1918 und unter der akuten Befürchtung, der Funke könne überspringen, der Widerstand gegen die Demokratisierung des Wahlrechts auf der Kommunalebene und für die wie in Dänemark gleichberechtigte, aber sukzessive an Bedeutung einbüßende Erste Kammer (Abschaffung der plutokratischen Pluralstimmen und des Unternehmensstimmrechts) sowie gegen die Einführung des Frauenwahlrechts gebrochen. Die gegenüber der Zweiten Kammer doppelt so lange Legislaturperiode – bei sukzessiver jährlicher Erneuerung – blieb bestehen, ebenso die Altershürde bei 35 Jahren (und sogar noch ein Wählbarkeitszensus nach Einkommen); dieses alles fiel 1929/33. Die komplette Anpassung des Wahlkörpers an den der Zweiten Kammer kam in zwei Schritten bis 1937/39 zustande. In allen drei Ländern setzte sich nach dem 9 Vgl. Text des Grundgesetzes von 1814. In: Gosewinkel/Masing, Verfassungen in Europa, S. 714–736. 10 Die Jahreszahl vor dem Schrägstrich bezieht sich auf das Jahr der parlamentarischen Entscheidung und die Jahreszahl nach dem Schrägstrich auf das Jahr der Umsetzung der Entscheidung. 11 Vgl. Text der Verfassung von 1809 bzw. 1866. In: Gosewinkel/Masing, Verfassungen in Europa, S. 642–698.

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Ersten Weltkrieg Verhältniswahlrecht durch, verbunden mit einer Absenkung der Wahlberechtigung. Keinen wesentlichen Einfluss auf das Überleben und die Festigung der Demokratie in Nordeuropa zwischen 1918 und 1940 dürften die je spezifischen konstitutionellen Regelungen des Parlamentarismus gehabt haben; diese waren nicht einheitlich, wenngleich in der Verfassungswirklichkeit jedenfalls für die 1920er- und frühen 1930er-Jahre gleichermaßen von einem eindeutigen Übergewicht der Volksvertretungen gegenüber König und Regierung auszugehen ist. In Norwegen fehlte etwa ein monarchisches Auflösungs- wie auch ein Selbstauf­ lösungsrecht des Stortings. Ein positives Vertrauensvotum war in keinem der Länder für die Regierungsbildung bzw. -arbeit erforderlich; was als Misstrauensvotum zu gelten hatte und ob sich daraus ein Zwang zur Demission ergab, kristallisierte sich erst heraus. Eine spezielle Verfassungsgerichtsbarkeit gab es nicht, wohl aber Regelungen für entsprechende Konfliktfälle. Als begünstigender Faktor darf indessen gewiss die Nichtbeteiligung am Ersten Weltkrieg, zumindest im militärischen Sinn, gelten; das schloss, obwohl noch Teil des Russischen Reiches, sogar Finnland ein, das keine Armee unterhielt und keine Truppen stellen musste. Die Anschauung des „Völkermordens“ und dann des Bürgerkriegs in Russland verstärkte im Norden die gemäßigt pazifistische Grundstimmung.12 Alle drei Staaten rüsteten nach 1918 ab und wurden loyale Mitglieder und vorbehaltlose Anhänger des Völkerbunds, dessen Schiedssprüche sie auch in eigener Sache akzeptierten.13 Als dieser sich in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre immer ohnmächtiger zeigte, erhielten die gesamtskandinavische Zusammenarbeit und die „nordische Orientierung“ einen vorrangigen Stellenwert. Auch das Mitte-links-Spektrum hielt nun vermehrte Verteidigungsanstrengungen für geboten.

III. Die althergebrachte politische Kultur der skandinavischen Länder – ­Anlagen zur „Nordischen Demokratie“ Gemäß dem Selbstbild der skandinavischen Völker bzw. dem ihrer Intellektuellen, betont gegenüber den totalitären Tendenzen der 1920er- bis 1940er-Jahre, hatte die „Nordische Demokratie“ ihre Wurzeln tief in der Geschichte. Diese Wurzeln der „Nordischen Demokratie“ seien zurückzuführen bis in die urgermanische Vorzeit und im Lauf der Entwicklung zwar wiederholt beschädigt, aber niemals gekappt worden. Obwohl diese Sicht selbstverständlich einem idea­ lisierenden Mythos entspricht, steckt mehr als ein wahrer Kern darin. Jeder 12 Vgl. dazu Karen Gram-Skjoldager, Der Demokratische Frieden in Dänemark vor dem Zweiten Weltkrieg: Theorie und Praxis. In: Jost Dülffer/Gottfried Niedhart (Hg.) Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters, Essen 2011, S. 125–143. 13 Schiedssprüche des Haager Gerichtshofs bekräftigten 1921 die Zugehörigkeit der schwedischsprachigen Åland-Inseln zu Finnland und 1933 (gegen Norwegen) Dänemarks grönländischen Besitz.

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Versuch, die Behauptung der parlamentarischen Demokratie in Nordeuropa in der Zwischenkriegszeit zu erklären, wird die damit angesprochenen, in der Vormoderne zu verortenden Faktoren einzubeziehen haben:14 Ein, nicht zuletzt naturgeografisch gebremster, schwacher Feudalisierungsprozess beließ den Bauern in Norwegen und Schweden durchgehend die persönliche Freiheit. In Dänemark setzte sich allerdings eine mildere Variante der Gutsherrschaft mit einer Art Erbuntertänigkeit durch. Einem zahlenmäßig und sozial relativ schwachen Adel (namentlich in Norwegen, wo dieser im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit praktisch vollständig ausstarb oder „verbauerte“ und 1815/21 vom Storting abgeschafft wurde) und einem nach dem Vorbild der Hanse verfassten, von einigen Metropolen wie Kopenhagen und Stockholm abgesehen, bescheidenen Städtewesen stand ein starkes Königtum gegenüber. Dies bekam den Ruf, die bäuerliche Bevölkerung gegen Auswüchse adeliger Privilegien und Übergriffe lokaler Beamter zu schützen. Seit dem 17. Jahrhundert traten die Monarchen wiederholt als Agrarreformer hervor. Der Adel wurde gezielt domestiziert und für die Krone funktionalisiert. Gegenüber den lange dominierenden Pachtverhältnissen wurde das volle bäuerliche Eigentum mehr und mehr vorherrschend. Die große unterbäuerliche Schicht der Häusler und des Gesindes, das im 19. Jahrhundert jahrzehntelang gravierendste soziale Problem, konnte indessen erst mit der Industrialisierung und vor allem durch Massenauswanderung nach Nordamerika als Landarmut weitgehend eliminiert werden. Jedenfalls stabilisierte sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert die selbstständige Bauernschaft als eine in hohem Maß gesellschaftsprägende Klasse. Dazu trug maßgeblich die Tradition bäuerlicher Mit-

14 Vgl. für das Folgende Hilde Sandvik (Hg.), Demokratisk teori og historisk praksis. Forutsetninger for folkestyre 1750–1850, Oslo 2010; Niels Kayser Nielsen, Bonde, stat og hjem. Nordisk demokrati og nasjonalisme – fra pietisme til 2. verdenskrig, Aarhus 2009; Bernd Henningsen, Die Politik des Einzelnen. Studien zur Genese der skandinavischen Ziviltheologie: Ludvig Holberg, Søren Kierkegaard, N. F. S. Grundtvig, Göttingen 1977; Sirkka Ahonen/Jukka Rantala (Hg.), Nordic Lights. Education for Nation and Civic Society in the Nordic Countries, 1850–2000, Helsinki 2001; Stale Dyrvik/Tore Gronlie/ Knut Helie/Edgar Hovland/Rolf Danielsen, Norway. A History from the Vikings to our own Times, Oslo 1995; Thomas K. Derry, A History of Modern Norway, 1814–1972, Oxford 1973; Edvard Bull, Sozialgeschichte der norwegischen Demokratie, Stuttgart 1969; Peter Brandt, Nationalrepräsentation und Demokratisierung. Norwegen als europäischer „Musterfall“. In: Detlef Lehnert (Hg.), Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2011, S. 209–226; Roar Skovmand/ Vagn Dybdahl/Erik Rasmussen, Geschichte Dänemarks 1830–1939. Die Auseinandersetzungen um nationale Einheit, demokratische Freiheit und soziale Gleichheit, Neumünster 1972; Tim Knudsen, Fra enevælde til folkestyre. Dansk demokratihistorie indtil 1973, Kopenhagen 2007; Hans Christian Johansen, En samfundsorganisation i opbrud 1700–1870, Kopenhagen 1979; Sten Carlsson/Jerker Rosén, Svensk historia, 2 Bände, Stockholm 1980; Heiko Droste, Das schwedische Volksheim – ein Erbe der frühneuzeitlichen Staatsbildung. In: Ute Schneider/Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a. M. 2008, S. 129–148; Steven Koblik (Hg.), Sweden’s Development from Poverty to Affluence, 1750–1970, Minnea­ polis 1975.

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wirkung am Gerichtswesen und kommunaler Selbstverwaltung bei, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in moderner Form gesetzlich verankert wurde. Sowohl in der dänisch-norwegischen, vom Kopenhagener Reformabsolutismus des späten 18. Jahrhunderts gekennzeichneten, als auch in der schwedischen, trotz absolutistischer Abschnitte stärker libertär-ständisch geprägten Monarchie – die Bauern waren seit jeher am Reichstag beteiligt – spielte der verwaltungsmäßig relativ gut und korruptionsfrei organisierte Staat eine dezidiert modernisierende Rolle. Die homogene Machtstruktur bei recht großer Autonomie der Verwaltungsbeamten gegenüber der monarchischen Spitze verband sich mit einer lange und fest verankerten Rechtsstaatstradition und einer bestimmten Variante quasi „westlichen“ theologischen und philosophischen Denkens, die vor allem auf lebenspraktische Erfahrungen abhob und mit einem naturrechtlichen Gesellschafts- und Staatsverständnis konnotiert war. Einer frühen und durchgreifenden Alphabetisierung entsprach die Ausbildung einer ausgeprägten Debattenkultur. Die gesicherte Rechtsstellung der Bauern begünstigte die Akzeptanz einer im europäischen Vergleich bemerkenswert weit ausgedehnten Meinungsfreiheit. Besonders für den dänisch-norwegischen Absolutismus des späten 18. Jahrhunderts wird von einer kontrollierenden und sogar steuernden Funktion der öffentlichen Meinung ausgegangen. Bereits in vorkonstitutioneller Zeit übte die staatliche Obrigkeit Dänemark-Norwegens wie Schwedens Methoden nichtautoritärer Konfliktbewältigung ein. An alles das konnte der 1809, 1814 und 1849 begründete monarchische Konstitutionalismus anknüpfen, der sich in ethnisch und konfessionell beinahe homogenen Gemeinwesen entfaltete. Im 20. Jahrhundert stellte sich die Monarchie mehr und mehr als ein rein staatsrepräsentatives Bürgerkönigtum in einfachen, zivilen Formen dar, das dann auch von den Republikanern und Sozialisten akzeptiert wurde. In den Parlamenten, wo, verglichen mit anderen Staaten, die sozialen Oberschichten und die Berufspolitiker weniger überrepräsentiert waren, förderte die, vorwiegend in den Ausschüssen stattfindende, intensive parteiübergreifende Arbeit Sachbezogenheit, Nüchternheit, Pragmatismus und Kompromissbereitschaft. Zur politischen Kultur der Länder des Nordens gehörten die sozialen und vorpolitischen sogenannten Volksbewegungen.15 Ein bedeutender Faktor war das laienkirchliche Element innerhalb der evangelisch-lutherischen Staatskirchen. Außerdem existierten kulturnationale und nationalpädagogische Bestrebungen sowie nicht zuletzt – für Norwegen und Schweden sowie Finnland – die Vereinigungen zur Bekämpfung des Alkoholismus. Die großen Volksbewegungen und Interessenverbände modernen Zuschnitts entstanden seit den 1880er-Jahren und hatten bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichende Vorläufer wie die

15 Vgl. Inger Furseth, A Comparative Study of Social and Religious Movements in Norway, 1780s–1905, Lewiston 2002; Harry Haue/Michael Tolstrup (Hg.), Folkelige bevægelser i Danmark. Selvmyndiggørelse og samfundsengagement, Odense 2011; Hilding Johansson, Folkrörelserna i Sverige, Stockholm 1980.

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r­ eligiösen Erweckungsbewegungen. Sie waren untereinander und zugleich mit den sich etablierenden liberalen Parteien, dann auch mit den sozialistischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften sowie mit den Bauernparteien eng verbunden und blieben es in hohem Maß. Diese „Bewegungen“ drückten sich somit in einem Ensemble fester Organisationen aus, das für Skandinavien in noch höherem Maß charakteristisch geworden ist als für Deutschland und Österreich. Dazu passten die Aufgeschlossenheit der bäuerlichen Bevölkerung für die Genossenschaftsform und ein breites berufliches Verbandswesen. Dieses erreichte in der Zwischenkriegszeit, vermehrt in den 1930er-Jahren, eine einmalige Ausdehnung und Dichte. Die neben Parteien und Gewerkschaften als dritte und vierte Säule der Arbeiterbewegung entstehenden Genossenschafts-, insbesondere Konsumgenossenschafts- und Arbeiterbildungsverbände konnten an entsprechende ältere bürgerlich- bzw. bäuer­ lich-liberale Einrichtungen anschließen. Die Aktivisten der Volksbewegungen trugen maßgeblich dazu bei, der Politik den typischen kollektiven und reformistischen Zug zu verleihen. Von dieser Kultur wurde namentlich der Liberalismus stark beeinflusst, der früh die soziale Verantwortung des Staates befürwortete und den Gleichheitsaspekt fast ebenso stark betonte wie den Aspekt der persönlichen Freiheit. Er fand seine soziale Basis in länderspezifischen Variationen hauptsächlich in der Bauernschaft und im städtischen Kleinbürgertum sowie unter Intellektuellen und in Teilen der Arbeiterschaft, wurde aber auch von Teilen der eigentlichen Bourgeoisie getragen. Tendenziell verstand er sich lange als Vertretung der kleinen Leute gegen die administrativen und ökonomischen Eliten.16

16 Vgl. zum Parteiensystem allgemein und zum politischen Liberalismus Sten Berglund/ Ulf Lindström, The Scandinavian Party System(s), Lund 1978; Hans Fredrik Dahl u. a., Krisen og det politiske liv. In: Sven A. Nilsson/Karl-Gustaf Hildebrand/Bo Öhngren (Hg.), Kriser och krispolitik i Norden under mellankrigstiden. Nordiska historikermøtet, Uppsala 1974, S. 71–103; Sten Berglund/Søren Risbjerg Thomsen, Modern Political Ecological Analysis, Åbo 1990; Rüdiger Wenzel, Das Parteiensystem Dänemarks. Entwicklung und gegenwärtige Struktur, Neumünster 1982; Ronald Bahlburg, Die norwegischen Parteien von ihren Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1989; Peter Brandt, „Es gibt nicht einen Liberalismus, sondern viele“ – Sozialliberalismus in Skandinavien 1890–1940. In: Detlef Lehnert (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wien 2012, S. 221–238; Jørgen Herman Monrad, Et land bygges op. 1901–1939, Kopenhagen 1970; Claus Bjørn, Venstre – the Party of the Rural Population in Denmark. In: Heinz Gollwitzer (Hg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 147–168; Eric Rasmussen/Roar Skovmand, Det radikale Venstre. 1905–1955, Kopenhagen 1955; Ottar Grepstad/Jostein Nerbøvik (Hg.), Venstres hundre år, Oslo 1984; Rune Slagstad, De nasjonale strateger, Oslo 1998, Kap. 2; Øystein Sørensen, Kampen om Norges sjel, Oslo 2001, S. 265–342; Håkan Holmberg (Hg.), För frihet och rättvisa. Liberalismen i Sverige, 1902–1982, Stockholm 1982; Gösta Johanson, Liberal splittring, skilsmässa – och återförening 1917–1934, Stockholm 1980. Allgemein zur politischen Entwicklung in der Zwischenkriegszeit vgl. Åke Thulstrup, Svensk politik 1905–1939. Från unionsupplösningen till andra världskriget, Stockholm 1968; Hans Fredrik Dahl,

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Diese Parteien enthielten auch ein links- und sogar sozialliberales urbanes Element, das sich in Dänemark 1905 in Verbindung mit der Häusler-Bewegung auf dem Lande als Partei verselbstständigte, sowie einen besitzbürgerlichen bzw. großbäuerlichen Flügel. Ein kulturkämpferisches Element überdauerte noch die 1920er-Jahre, indem ein Teil der Liberalen – vor allem in Norwegen – einen gegen die großstädtischen Metropolen gerichteten antizentralistischen Protest der sozial relativ egalitären Landgemeinden und Kleinstädte einiger Regionen artikulierte. Dieser spielte noch bei den negativen Voten in den Plebisziten 1972 und 1994 über die EWG- bzw. EU-Mitgliedschaft Norwegens eine Rolle. In Schweden waren die Liberalen von 1923 bis 1934 hauptsächlich über die Frage des staatlichen Umgangs mit dem Alkohol gespalten, mit der aber allgemeinere soziokulturelle Differenzen verbunden waren. Um 1900 war die Frontstellung der Liberalen gegenüber den beharrenden Kräften der hohen Beamtenschaft, des Hofes und des Offizierskorps, soweit noch vorhanden des Adels und Großgrundbesitzes, sowie Teilen der Großbourgeoisie dominierend. Deshalb konnten sie mit der noch jungen und hinsichtlich der Wählerunterstützung noch minder bedeutenden sozialistischen Arbeiterbewegung bis zur Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie, wenn auch nicht ganz problemlos, kooperieren. Gegen Venstre (die Linke) stand Højre/Høyre/Högern, die Rechte, die ursprünglich von der konservativen Spitzenbürokratie angeführt wurde. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hin, als sich ein festes Parteiensystem herausbildete, stemmte man sich in den drei Ländern den verstärkt erhobenen Forderungen nach Parlamentarisierung der Regierung und Demokratisierung des Wahlrechts entgegen, konnte ihre Verwirklichung aber letztlich nur verzögern. Beginnend ungefähr mit der Jahrhundertwende und sich hinziehend bis in die 1920er-Jahre, erweiterten die konservativen (überwiegend noch Honoratioren-)Parteien sowohl ihre Wählerbasis in bäuerliche und kleinbürgerliche Schichten hinein als auch ihre Mitgliedschaft und Führung. Die Reste der dänischen Rechten konstituierten sich 1915 ganz neu als Konservative Volkspartei. Dort wie in den Schwesterparteien wurde das großbürgerliche Element mehr

Norge mellom krigene, Det norske samfunnet i krise og konflikt 1918–1940, Oslo 1971; Rasmus Vennekilde Andresen/Conni Paldam/Martin Paldam/Camilla Skovbjerg Paludan, Mellemkrigstiden – litteratur, billedkunst, historie, økonomi, Aarhus 2006; Francis Sejersted, The Age of Social Democracy. Norway and Sweden in the Twentieth Century, Princeton 2011; Stig Hadenius, Schwedische Politik im 20. Jahrhundert, Stockholm 1990; Lars-Arne Norborg, Sveriges historia under 1800- och 1900-talen. Svensk samhällsutveckling 1809–1986, Stockholm 1988; Koblik, Sweden’s Development; zur ökonomischen Entwicklung vgl. Lennart Jörberg, The Industrial Revolution in Scandinavia 1850–1914. In: The Fontana Economic History of Europa, Band 4, London 1970, Kap. 8; ders./Olle Krantz, Ekonomisk utveckling i de nordiska länderna 1914–1970, Lund 1975; Hans Christian Johansen, Hovedlinier i den økonomiske udvikling i de nordiske lande i mellemkrigstiden. In: Nilsson/Hildebrand/Öhngren, Kriser, S. 13–26.

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und mehr bestimmend, was sich auch in einer wirtschaftsliberalen Programmatik ausdrückte.17 Die Konservativen Schwedens taten sich noch schwerer als ihre Gesinnungsgenossen in Norwegen und Dänemark, den Übergang zur parlamentarischen Demokratie zu akzeptieren. Das großagrarische Element verlor innerparteilich (wie in der Gesamtgesellschaft) zwar an Gewicht, wurde aber nicht ganz irrelevant. Entsprechendes gilt für den traditionellen Akademiker- und Beamtenkonservatismus. Während in Norwegen ein adeliges bzw. „junkerliches“ Element fehlte, wurde in Dänemark das jahrzehntelange Ringen zwischen der liberalen Venstre-Partei und den Verteidigern des politischen Status quo beeinflusst durch den sozialökonomischen Wandlungsprozess der dänischen Landwirtschaft: Mit dem genossenschaftlich organisierten Übergang der bäuerlichen Betriebe zur tierischen Veredelungswirtschaft gelang eine weltmarktkonforme Umstellung, die zusammen mit einer letzten großen Bodenreform nach 1918 zugunsten der Häusler und Kleinbauern den Großgrundbesitz bis in die frühe Zwischenkriegszeit fast zur Bedeutungslosigkeit reduzierte.18 Für die Hinnahme und spätere Aneignung der parlamentarischen Demokratie namentlich durch die schwedischen Konservativen war es wichtig, dass die diesbezüglichen Veränderungen zwischen 1905 und 1921 im formalen Rahmen der alten, dualistisch-konstitutionalistischen Verfassung geschehen waren, deren Symbolik durch die Monarchie und die anderen Institutionen sowie durch die Staatsrechtslehre weitertransportiert wurde. Die auf Konsens gerichtete und an der Lösung von Sachfragen orientierte Tradition der schwedischen politischen Elite aus dem späten 19. Jahrhundert wurde trotz der verfassungspolitischen Turbulenzen 1918/19 letztlich in der Demokratie als eine viel breiter fundierte politische Kultur erneuert. Sie beruhte nach allgemeinem Verständnis auf dem Respekt vor Andersdenkenden und dem Glauben an die Verlässlichkeit von Verabredungen mit ihnen, auf der allgemeinen Verbindlichkeit formaler Prozeduren und Verhaltensnormen. Zu den beiden bürgerlich-bäuerlichen Formationen der „Rechten“ und der „Linken“ kamen seit den 1870er- bzw. 1880er-Jahren eigene sozialistische Arbeiterparteien hinzu, die bei den Wahlen zwischen 1900 und 1925 überall im Norden erst zum gleichrangigen Faktor und dann zur deutlich stärksten Kraft aufstiegen. Bei allen Verschiebungen in der Wählergunst blieb das nordeuropäische Vier- bis Fünf-Parteien-System in der Zwischenkriegszeit bemerkenswert stabil.

17 Zum politischen Konservativismus vgl. Jørgen Hatting/Karl Olsen, Det konservative folkepartis historie i et halvt århundrede, 1915–1965, 5 Bände, Kopenhagen 1966; Alf Kaartvedt, Drømmen om borgerlig samling 1884–1918 (Høyres historie, Band 1), Oslo 1984; Rolf Danielsen, Borgerlig oppdemmingspolitikk, 1918–1940 (Høyres historie, Band 2), Oslo 1984; Ivar Anderson, Arvid Lindman och hans tid, Stockholm 1956; Stefan Olsson, Den svenska högerns anpassning till demokratin, Uppsala 2000. 18 Vgl. Fridlev Skrubbeltrang, Agricultural Development and Rural Reform in Denmark, Rom 1953; Svend Aage Hansen/Ingrid Henriksen, Sociale brydninger. 1914–39, Kopenhagen 1980, insb. S. 104 ff.

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IV.

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Vom Erstarken der Arbeiterbewegung während der ­Hochindustrialisierung zur flächendeckenden ­Demokratisierung

Die Hochindustrialisierung brachte auch in den skandinavischen Ländern mit der Fabrikindustrie den Klassengegensatz von Arbeit und Kapital hervor, der sich in schneller und fast kontinuierlich ausgeweiteter Organisierung beider Seiten sowie in zahlreichen und heftigen Arbeitskämpfen äußerte. Massenstreiks und Aussperrungen mit wechselndem Ausgang begleiteten die ganze Periode bis teilweise in die 1930er-Jahre. Insbesondere in der Durchbruchphase der Industrialisierung war der Staat den Arbeitern auch im Norden als Klassenstaat gegenübergetreten, der vor allem die Interessen der Besitzenden verteidigte. Wie fast überall in Europa bildeten die letzten beiden Jahre des Ersten Weltkriegs und die ersten zwei Nachkriegsjahre eine Aufschwungphase für die Arbeiterbewegung: zunächst mit Protesten gegen Lebensmittelknappheit, dann erfolgreichen Lohnbewegungen und der Durchsetzung des Achtstundentages. In Dänemark war die Industrialisierung früher gestartet, aber weniger stürmisch verlaufen und hatte eine gewerbliche Struktur geschaffen, die durch einen relativ geringen Konzentrationsgrad und die vorrangige Ausrichtung auf die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte gekennzeichnet war. Gemessen an Mitgliederzahlen, Organisationsdichte und -vielfalt war die dänische Arbeiterbewegung am Vorabend des Ersten Weltkriegs die stärkste der Welt; bei Beginn des Zweiten Weltkriegs war es die schwedische vor der dänischen.19 Als in der Zielsetzung gleichermaßen auf die Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft durch Wählervotum startende, stark von der deutschen Sozialdemokratie beeinflusste Formationen entwickelten sich ­ rbeiterpartei der Sozialdemokratische Bund in Dänemark, die Norwegische A

19 Dazu und zum Folgenden vgl. William M. Lafferty, Economic Development and the Response of Labor in Scandinavia. A Multi-Level Analysis, Oslo 1971; ders., Industri­ alization, Community Structure and Socialism. An Ecological Analysis of Norway, 1875–1924, Oslo 1974; Walter Galenson, The Danish System of Labor Relations. A Study in Industrial Peace, Cambridge 1952; Nils Elvander, Skandinavisk arbetarrörelse, Stockholm 1980; Jorunn Bjørgum u. a., Krisen og arbeiderbevegelsen. In: Nilsson/ Hildebrand/Öhngren, Kriser, S. 247–293; Oluf Bertolt/Ernst Christiansen/Poul Hansen (Hg.), En bygning vi rejser. Det politiske arbejderbevægelsens historie i Danmark, 3 Bände, Kopenhagen 1954/55; Lars K. Christensen/Søren Kolstrup/Anette Eklund Hansen (Hg.), Arbejdernes historie i Danmark 1800–2000, Kopenhagen 2007; Per Maurseth, Gjennom kriser til makt (1920–1935), Oslo 1987; Tore Pryser, Klassen og nasjonen (1935–1946), (Arbeiderbevegelsens historie i Norge, Bände 3 und 4), Oslo 1988; Yvonne Hirdman, Vi bygger landet. Den svenska arbetarrörelsens historia från Per Götrek till Olof Palme, Stockholm 1988; Klaus Misgeld/Karl Molin/Klas Åmark (Hg.), Socialdemokratins samhälle. SAP och Sverige under 100 år, Stockholm 1988; Herbert Tingsten, Den svenska socialdemokratins idéutveckling, 2 Bände, Stockholm 1941; Timothy A. Tilton, The Political Theory of Swedish Social Democracy. Through the Welfare State to Socialism, Oxford 1990; für Schweden zusammenfassend: Peter Brandt, Die schwedische Arbeiterbewegung bis 1940. Solidargemeinschaft, Interessenvertretung, Bündnispolitik. In: Lehnert, ­Gemeinschaftsdenken in Europa, S. 75–103.

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(DNA) und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) Schwedens im politischen Agieren und in ihrer Einstellung zur repräsentativen Demokratie seit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auseinander. In Dänemark wurde eine sehr gemäßigte und theorieferne, beinahe praktizistische Linie verfolgt, und in Schweden nahm unter Führung Hjalmar Brantings ein reformstrategisches Konzept Gestalt an. In Norwegen, wo die frühe Gewährung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung in einem auffälligen Spannungsverhältnis zu den Herrschaftsverhältnissen im Erwerbsleben stand, setzte sich dagegen 1918/19 eine radikale Linke durch, die sowohl vom revolutionären Syndikalismus als auch von der russischen Oktoberrevolution beeinflusst war. Fast zehn Jahre lang verstand sich die Arbeiterpartei als „kommunistisch“, auch nach dem frühen Bruch mit der Moskauer Dritten Internationale, und erst 1933 kehrte sie definitiv zu der Maxime zurück, es gelte, die Mehrheit der gesamten Bevölkerung (und nicht nur das „ganze arbeitende Volk“) zu gewinnen. Eine zeitweise nach „rechts“ abgespaltene Gruppierung und ebenso beträchtliche Teile der 1923 separierten Moskau-orientierten Kommunisten (NKP) kehrten 1927 zur Mutterpartei zurück; die verbliebene NKP spielte fortan keine große Rolle mehr. In Schweden mussten die Sozialdemokraten schon im Ersten Weltkrieg eine organisatorische Spaltung hinnehmen, als sich eine der deutschen USPD ähnliche linkssozialistische und pazifistische Gruppierung als eigene Partei konstituierte. Aus ihr ging die kommunistische Parteibildung hervor mit einem, anders als in Dänemark, nicht unbeträchtlichen Wähler- und Einflusspotenzial, welches jedoch früh von inneren Brüchen gekennzeichnet war, sodass schon in den frühen 1920er-Jahren ein Trend zur Rückwendung zur SAP einsetzte. In keinem der Länder nahmen die politischen Kontro­versen innerhalb der Arbeiterbewegung dermaßen erbitterte Formen an wie insbesondere in Deutschland. Der reformistische und gradualistische Politikansatz der Sozialdemokratie Dänemarks und Schwedens veranlasste diese bereits 1916 bzw. 1917 zur Regierungsteilnahme und 1924 bzw. 1920 zur alleinigen Übernahme der Regierung bei klarer gesamtbürgerlicher Parlamentsmehrheit. Dies schränkte die Möglichkeiten, selbst begrenzte eigene Ziele durchzusetzen, stark ein. Zumal die Liberalen auf die Staatseingriffe der Kriegszeit, vor allem in Dänemark, die Offensive der Gewerkschaften in den Folgejahren und die schwere Wirtschaftskrise von 1920 bis 1922 mit einer Rückwendung zu traditionellen Richtlinien (Goldparität der Währungen, Geldwertstabilität, unternehmerische Freiheit) reagierten. Doch erleichterte die Bereitschaft der Sozialdemokraten, auch unter kapitalistischen Verhältnissen sowohl Verantwortung im demokratischen Staat als auch für ihn zu übernehmen, es den einflussreichsten Kräften der bürgerlichen Politik und Ökonomie, die Mitwirkung der Vertreter der Arbeiterschaft im politischen System als legitim anzusehen. Anders bei der Bildung der ersten sozialistischen Minderheitsregierung Norwegens im Jahr 1928, als die DNA gerade erst am Anfang ihres Sozialdemokratisierungsprozesses stand und eine „Kampfregierung“ ankündigte. Sofort einsetzende Kapitalflucht und ein ­Ränkespiel an der Spitze

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der staatspolitischen Institutionen und der Nationalbank führten dazu, dass diese Regierung nach einigen Wochen im Storting gestürzt wurde.20 Die nordeuropäischen Gesellschaften wurden in der Zwischenkriegszeit, mehr noch als davor, in hohem Maß politisch mobilisiert. Das lässt sich zunächst an der Wahlbeteiligung ablesen, die sich mit insgesamt aufsteigender Tendenz bei gewissen Schwankungen in Dänemark zwischen 77 und 82 Prozent, in Norwegen zwischen 68 und 84 Prozent und in Schweden zwischen 55 und 67 Prozent bewegte. Diese sukzessive höhere Wahlbeteiligung rekrutierte sich neben dem zunehmenden Frauenanteil vor allem aus den unteren Schichten der Landbevölkerung, die jetzt mehr und mehr von den großen Arbeiterparteien gewonnen werden konnten. Der zweite generelle Trend war somit das weitere Anwachsen des sozialistischen Stimmenanteils in dieser Periode, ungeachtet gelegentlicher Rückschläge, auf Werte bis über 50 bzw. nahe 60 Prozent unter Einschluss der Kommunisten und Linkssozialisten, so 1940 in Schweden. Die Wahlerfolge der 1920er- und 1930er-Jahre resultierten noch überwiegend aus der Ausschöpfung des Potenzials der gewerblichen und agrarischen Handarbeiter; am weitesten stießen die dänischen Sozialdemokraten schon in größerem Ausmaß in Kreise der Kleinbauernschaft, des selbstständigen städtischen Kleinbürgertums und der Angestellten vor. Charakteristisch für Nordeuropa waren die relativ hohen Mitgliederzahlen der Parteien. Davon profitierten insbesondere die Jugendorganisationen, vor allem die der sozialistischen Arbeiterparteien. Die vergleichsweise dichte parteipolitische Durchdringung des öffentlichen Lebens, so im Pressewesen, sowie die stärkere Bindung der Parteien an die jeweiligen Interessenorganisationen, die ihre Einflussnahme unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechts nicht mehr auf den einzelnen Kandidaten, sondern auf die Gesamtorganisation bzw. den spezifischen Nominierungsprozess richteten, prägten die nordeuropäische politische Kultur. Die deutliche Reduzierung des einst mächtigen Liberalismus bei den Parlamentswahlen als ein durchgängiger Zug der Entwicklung im Norden zwischen den Weltkriegen und die Etablierung der Konservativen als führende, aber auf mittlere Sicht ebenfalls schrumpfende bürgerliche Formation korrespondierten mit der Entstehung spezieller Bauernparteien und dem erwähnten großen Zuwachs der Arbeiterparteien, ohne dass für Letztere zunächst eine eigene Mehrheit in Sicht war. In dieser Konstellation behielten die Liberalen in Schweden und Norwegen als Partei der Mitte eine Schlüsselstellung, indem sie sich sowohl einem antisozialistischen Bürgerblock als auch einem sozialliberalen Bündnis verweigerten. In der Tendenz konnten sie in wirtschafts- und manchen gesellschaftspolitischen Fragen eher mit den Fraktionen rechts von ihnen, in

20 Vgl. Rolf Danielsen, Borgerlig oppdemmingspolitikk, Oslo 1984, S. 166; Ivar Arne Roset, Det norske Arbeiderparti og Hornsruds regjeringsdannelse i 1928, Oslo 1964, insb. S. 98.

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v­ erteidigungs- und außenpolitischen Fragen eher mit den Gruppierungen der sozialistischen Linken zusammengehen. In Dänemark hatte sich schon im Lauf der Jahrzehnte seit 1905 ein noch lockeres Reformbündnis von Sozialdemokraten und Radikalliberalen (Radikale Venstre) herausgebildet, dem die beiden großen bürgerlich-bäuerlichen Parteien getrennt gegenüberstanden. 1929 endete dort die Zeit der Minderheitsregierungen, die für dieses Jahrzehnt in Nordeuropa das Übliche waren. Der Gedanke einer Parteienkoalition oder einer verbindlichen Tolerierungsvereinbarung hatte sich in den 1920er-Jahren noch nicht durchgesetzt, obwohl in den instabilen, nach Bedarf um Unterstützung werbenden Minderheitsregierungen die jeweiligen spezifischen Ziele der Parteien naturgemäß in noch geringerem Maß verwirklicht werden konnten. Dass die Dauer der Minderheitsregierungen in Dänemark schon in den 1920er-Jahren mit teilweise nur einem Viertel der Parlamentssitze als feste Basis durchschnittlich höher lag als in Norwegen und Schweden, deutet auf eine festere Verankerung eines auch positiven Parlamentarismus hin. Die doppelte Herausforderung durch die Weltwirtschaftskrise seit Herbst 1929 und den Aufstieg, dann die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland bewirkte oder beschleunigte in den drei Ländern eine regelrechte Umgruppierung der innenpolitischen Faktoren und einen Strategiewechsel der Arbeiterparteien. Die größte Gefahr von rechts ging im Norden nicht von denjenigen Parteien aus, die ein nationalsozialistisches oder faschistisches Programm vertraten, obwohl die norwegische „Nationale Sammlung“ (Nasjonal Samling, NS) zeitweise eine gewisse Bedeutung erlangte. Bei den Stortingswahlen erreichte sie 1933 2,2 Prozent, 1936 1,3 Prozent der Stimmen. Dann zerfiel die Partei in internen Streitereien praktisch. Eigentlich hatte der NS-Führer Major Vidkun Quisling, Verteidigungsminister in der Regierung der Bauernpartei 1931 bis 1933, einen weit gefassten antisozialistisch-antiliberalen „Nationalen Block“ im Auge gehabt. Trotz einiger Listenverbindungen auf kommunaler Ebene kam nichts dergleichen zustande. Noch in seiner Ministerzeit hatte Quisling samt einem Zirkel von Offizieren und Beamten sogar mit einem Staatsstreich geliebäugelt.21 Noch bedenklicher schien die, nicht allein in Norwegen, unter dem Eindruck Hitler-Deutschlands zunächst gesteigerte Attraktivität autoritär-­korporatistischer, 21 Vgl. Hans Olaf Brevig, NS – fra parti til sekt, 1933–37, Oslo 1970; Hans Fredrik Dahl, Vidkun Quisling. En fører blir til, Oslo 1991; Lars Borgersrud, Vi er jo et militært parti (Den norske militærfascismens historie 1930–1945, Band 1), Oslo 2010; Jorunn Bjørgum, Arbeidsløshet og fascisme. Et perspektiv på Quisling og Nasjonal Samlings politik i begynnelsen av 1930-årene. In: Tidsskrift for arbeiderbevegelsens historie, 7 (1983), S. 107–153; Tormod Valaker, „Litt fascisme, hr. Statsminister!“ Historien om den borgerlige pressen og fascismen, Oslo 1999; Øystein Sørensen, Solkors og solidaritet. Høyreautoritær samfunnstenkning i Norge ca. 1930–1945, Oslo 1991. Zusammenfassende Darstellung und Analyse bei Ulf Lindström, Fascism in Scandinavia, Stockholm 1985; Kayser Nielsen, Bonde, stat og hjem, S. 365–426; Matthias Hannemann, Die Freunde im Norden. Norwegen und Schweden im Kalkül der deutschen Revisionspolitik 1918– 1939, Berlin 2011, S. 451–468. Zu rechtsextremen Organisationen und Tendenzen in Schweden und Dänemark vgl. außerdem Eric Wärenstam, Fascismen och nazismen i Sverige 1920–1940, Stockholm 1970; Jesper Vang Hansen, Højreekstremister i Dan-

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quasi „volksgemeinschaftlicher“ und gegenüber der Arbeiterbewegung offen repressiver Ansätze. Sympathien für solche Tendenzen waren in den agrarischen und konservativen Parteien, vor allem deren Presse, den Jugend- und Studentenorganisationen, zumindest bis Mitte der 1930er-Jahre weit verbreitet. Mitgliederstarke Streikbrecherorganisationen und in Norwegen der die bürgerliche „Sammlung“ und ein Verbot der Arbeiterpartei propagierende, schon 1925 unter Beteiligung des Nationalhelden Fridtjof Nansen gegründete „Vaterlandsbund“ (Fedrelandslaget) ließen seitens der Arbeiterbewegung den Eindruck aufkommen, es existiere so etwas wie eine faschistische Bedrohung, zumindest als Möglichkeit. Dabei fiel zusätzlich ins Gewicht, dass überall im Norden eine militante agrarische Protestbewegung entstand, die nach rechts außen tendierte. In der politischen, auch der stärker theoretischen Debatte wurde der Vorrang des wie auch immer definierten Volkswillens kaum noch bestritten – das demokratische Wahlrecht schien unhintergehbar –, wohl aber gab es vielfach Kritik am Parlamentarismus, nicht nur seitens der Extreme des politischen Feldes, sondern auch aus dem Mitte-rechts- und gelegentlich sogar aus dem Mittelinks-Spek­trum, wo im Großen und Ganzen die Unterstützung und Verteidigung der parlamentarischen Demokratie am eindeutigsten war. Der Begriff der Demokratie war noch nicht fest mit der repräsentativen Demokratie verbunden.22 Die konservativen Parteien mit ihren weiterwirkenden Vorbehalten gegen die „Tyrannei“ der Parlamentsmehrheit in der Demokratie gingen letztlich klar auf Distanz zum deutschen Nationalsozialismus und seinen einheimischen Lobrednern in den eigenen Reihen. Insbesondere die Führung der norwegischen Høyre, die sich schon in den 1920er-Jahren autoritären Strömungen, etwa im erwähnten Vaterlandsbund, nach anfänglichem Zögern verweigert hatte, aber auch die Parteivorsitzenden der Konservativen in Dänemark und Schweden, positionierten sich abgrenzend. Neben dem Antisemitismus und dem inneren Terror des „Dritten Reiches“ stießen auch die wirtschaftsdirigistischen Tendenzen der einheimischen Rechtsextremisten auf Ablehnung.

V.

Die Wirtschaftskrise und der Weg in den Interventionsstaat

Im internationalen Vergleich wurde Nordeuropa eher schwach und relativ spät von der Weltwirtschaftskrise erfasst; am schwersten traf sie Norwegen und dort besonders die ostnorwegische Forstwirtschaft. Die städtischen Mittelschichten blieben weitgehend verschont, wenn auch Staatsbeschäftigte und Angestellte gewisse Reallohneinbußen hinnehmen mussten. Die staatlichen Institutionen mark 1922–45. En bibliografi over „genrejser“-bevægelsernes blade og tidsskrifter, Odense 1982; Alex Quaade/Ole Ravn, Højre om! Temaer og tendenser i den antiparlamentariske debat 1930–1939, Kopenhagen 1979. 22 Vgl. für Dänemark Jeppe Nevers, Fra skældsord til slagord. Demokratibegrebet i dansk politisk historie, Odense 2011, insb. S. 174–195; ders., Demokratiekonzepte in Dänemark nach dem Ersten Weltkrieg. In: Müller/Tooze, Normalität, S. 379–391.

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waren bei allen Mängeln weit von einer Existenz- bzw. existenziellen Legitimationskrise entfernt. Es waren die beiden größten Gesellschaftsklassen, die hauptsächlich von der Wirtschaftskrise betroffen waren und deren Lage diese zu einer tiefen sozialen Krise machte: zunächst die Landwirte, vor allem die Kleinbauern. Die Einkünfte aus agrarwirtschaftlicher Betätigung gingen in einem dramatischen Ausmaß und Tempo zurück; in Norwegen geriet rund ein Drittel der Bauern in die Verschuldung. Auf dem Höhepunkt der Krise wurden in allen drei Ländern Tausende Zwangsversteigerungen vollzogen. Die Involvierung der bäuerlichen Bevölkerung machte den Hauptunterschied zu früheren ernsten Wirtschaftskrisen, so der von 1920 bis 1922, aus. Zudem waren die Arbeiter, besonders die erwerbslosen bzw. unmittelbar von Erwerbslosigkeit bedrohten Arbeiter, aufgrund der Krise ihrerseits einem verstärkten Druck der Kapitalseite ausgesetzt. Immerhin wirkten der Einfluss der Gewerkschaften und die Geschwindigkeit des Preisverfalls dahin, dass die Reallöhne nicht ins Bodenlose fielen.23 Bereits in den 1920er-Jahren war die Massenarbeitslosigkeit von den Sozia­ listen immer wieder thematisiert und als Versagen der bestehenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung attackiert worden. In der Krise bzw. auf dessen Höhepunkt, war nun ein Drittel und mehr, in einigen Branchen zeitweise die Mehrzahl der Arbeiter beschäftigungslos, vor allem in den unteren Segmenten. Die Krise beinhaltete aus der Sicht der Arbeiterbewegung mit der Schwächung ihrer Aktionsmöglichkeiten somit die Gefahr chronischer materieller und moralischer Verelendung großer Teile ihrer Basis. Und auf der anderen Seite des sozialen Spektrums erschien der Selbstmord des schwedischen „Zündholzkönigs“ und Finanzmagnaten Ivar Kreuger im März 1932 nach dem Zusammenbruch seines Konzerns vielen Menschen auch im Bürgertum so, als würden dem Liberal-Kapitalismus die Totenglocken läuten. Dieser Vorgang betraf zudem die staatspolitische Sphäre, da der liberale Ministerpräsident Carl Gustaf Ekman zurücktreten musste, nachdem ihm (zunächst geleugnete) finanzielle Unterstützung durch Kreuger nachgewiesen worden war.24 In allen politischen Parteien Nordeuropas und in der Publizistik hatte sich Anfang der 1930er-Jahre der Eindruck verbreitet, dass es nicht wie bisher weitergehen könne und dass es einer neuartigen politischen Antwort auf die Wirtschaftskrise bedürfe. Diese müsse die Stärkung der Regierungsmacht einschließen. Sowohl der Minderheitsparlamentarismus als auch die Prämissen des tradierten Wirtschaftsliberalismus, denen die bürgerlichen Parteien (und in manchen Grundannahmen auch die Arbeiterparteien) während der 1920er-Jahre gefolgt waren, schienen angesichts der Realität der großen Krise überholt.

23 Vgl. zur sozialen und wirtschaftlichen Krise insb. Nilsson/Hildebrand/Öhngren, Kriser. Dort auch die Analyse der anderen Aspekte der Krise der frühen und mittleren 1930er-Jahre in Skandinavien. 24 Vgl. Lars-Erik Thunholm, Ivar Kreuger. The Match King, Stockholm 2002, insb. S. 230 ff., 251 f.

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Dass in dem Dänen Thorvald Stauning und in dem Schweden Per Albin Hansson, weniger in dem Norweger Johan Nygaardsvold, als den herausragenden Gestalten an der Spitze der sozialdemokratischen Parteien und Regierungschefs über lange Perioden sanft-patriarchalische, höchst populäre Führungsfiguren bereit standen, gab dem Gezeitenwechsel einen zusätzlichen Akzent und gewissermaßen ein Gesicht. Zu den politischen Voraussetzungen der Neuorientierung gehörten – teilweise dramatische – Wahlerfolge der Arbeiterparteien Anfang und Mitte der 1930er-Jahre, ebenso ein Generationswechsel in der Führung der Bauernverbände und der in Schweden und Norwegen neben den Konservativen und Liberalen entstandenen, mittlerweile fest etablierten Bauernparteien, der deren Öffnung nach links im Sinne einer stärker pragmatischen Interessenpolitik ermöglichte. Die Unruhe unter der eigenen Klientel veranlasste die tradierten, eher rechtsorientierten, in Dänemark wirtschaftsliberalen Bauernorganisationen, alte Verhaltensweisen und Rezepte zu überprüfen, um im Rahmen des bestehenden politischen Systems für die Landwirtschaft einen Ausweg aus der Krise zu suchen. Die neuen Regierungen konnten auf jene zwangskartellartigen Einrichtungen zurückgreifen und diese erweitern, die – zuerst ab 1929/30 in Norwegen entstanden – auf den existierenden genossenschaftlichen Organisationen aufbauen. Die im Einzelnen unterschiedlichen marktregulierenden Maßnahmen verhinderten den Zusammenbruch der Agrarpreise und verbesserten über Preisfestsetzungen sowie andere gezielte Eingriffe wieder die Einkommenslage der Bauern.25 Organisationen des Wirtschaftslebens nahmen im Lauf der 1930er-Jahre mehr und mehr öffentlich-rechtlichen Charakter an, zumindest de facto. Deren Vertreter wurden nicht nur, ebenso wie die der Parteien, von der Regierung zu Konferenzen über wirtschafts- und sozialpolitische Fragen, sondern auch in diverse staatliche Untersuchungskommissionen eingeladen und dadurch frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess einbezogen. Insofern lässt sich von einer Erweiterung der Verfassungswirklichkeit um eine korporative Komponente sprechen. Nach der Regierungsübernahme im April 1929, Ende 1932 bzw. im März 1935, gestützt auf den neu geschlossenen Pakt mit der jeweiligen Bauernpartei (in Dänemark war das der „Kanzlerstraßenvergleich“ vom 29./30. Januar 1933 mit der agrarliberalen Venstre), ging es – auf eine Formel gebracht – um Agrar­ protektionismus einerseits, öffentliche Beschäftigungsprogramme auf26 der Grundlage marktgemäßer Entlohnung andererseits. Dazu kamen dann eine ­erweiterte Sozialgesetzgebung27 und die verstärkte systematische 25 Zur politischen bzw. wirtschaftspolitischen Wende im Norden zwischen 1932 und 1935 vgl. Nilsson/Hildebrand/Öhngren, Kriser; Karin Hansen/Lars Torpe, Socialdemokratiet og krisen i 30’erne, Aarhus 1977. 26 Synoptische Gegenüberstellung der wesentlichen Bestandteile der drei Krisenabkommen bei Lindström, Fascism, S. 137. 27 In Ergänzung der ausgedehnten, teilweise schon älteren freiwilligen Versicherungen, so im Bereich der von den Gewerkschaften betriebenen Erwerbslosenversicherung.

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s­taatliche ­Intervention in den Wirtschaftsablauf. Für Dänemark mit seiner freihändlerisch-wirtschaftsliberalen Tradition bedeutete, nach diversen Einzelmaßnahmen im Sommer und Herbst 1931, schon die Einführung der sogenannten Valutazentrale Ende Januar 1932 einen großen Schritt zum Interven­ tionsstaat und zur Staatskontrolle über den Außenhandel, ja einen regelrechten Paradigmenwechsel. Die neue Wirtschaftspolitik wies dem Staat einen zentralen Platz bei der Stimulierung und Regulierung der Produktion zu, ohne die Eigentumsverhältnisse im Industrie- und Finanzwesen anzutasten. Das konnte als eine unideologische, rein pragmatische Antwort auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verstanden werden. Es wurde von berufenen Sprechern der Arbeiterparteien indessen durchaus auch als eine Reformulierung, nicht eine Aufgabe, der sozialistischen Programmatik gedeutet. Seit jeher gab es in den Gewerkschaften und den mit ihnen verbundenen Parteien neben der klassenkämpferischen Linie und nicht unbedingt davon geschieden eine produktivistische, den technischen Fortschritt, die Rationalisierung und das Kriterium der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bejahende Einstellung, die jetzt verstärkt zum Tragen kam. Der Produktionsdiskurs dominierte nun eindeutig den Sozialisierungsdiskurs. Der Akzeptanz der neuen Wirtschaftspolitik kam zugute, dass – parallel zu Keynes und teilweise auch schon von ihm angeregt – verschiedene, nicht unbedingt der Arbeiterbewegung verbundene Nationalökonomen wie Ragnar Frisch in Oslo, Bertil Ohlin und Gunnar Myrdal in Stockholm über Möglichkeiten nachdachten, den kapitalistischen Krisenzyklus politisch zu beeinflussen. Dabei wurden typisch „keynesianische“ Instrumente wie das Deficit-Spending noch kaum eingesetzt. Die Finanzierung der zusätzlichen Ausgaben erfolgte hauptsächlich über Steuern und Abgaben. Für die Veränderung des politischen Klimas generell von einem – jedenfalls in Norwegen und Schweden – zwischenzeitlich konfrontativ zu einem konsensual getönten, spielte eine wichtige Rolle die monatelange und gegen einen der großen Streiks als Machtkampf geführte Massenaussperrung von 1931 in Norwegen. Sie offenbarte die Unfähigkeit der einen wie der anderen Seite, ihre Forderungen durchzusetzen. Gewaltsame Zusammenstöße wie zwischen Arbeitern, Streikbrechern und Polizeikräften („Menstad-Schlacht“ im Juni 1931) und ein Militäreinsatz in Schweden (Ådalen) im Vormonat gegen streikende und demonstrierende Arbeiter mit mehreren Todesopfern erregten die Öffentlichkeit auch außerhalb der Arbeiterbewegung, welche in landesweiten Protesten eine Abkehr von unangemessen repressivem Vorgehen verlangte.28 Dem entsprach in der Grundtendenz ein sukzessives Umdenken im Unternehmerlager hin zu einem eher kooperativen Umgang mit den Gewerkschaften. Bereits Ende der 1920er-Jahre deutete sich bei den Unternehmern Schwedens 28 Vgl. Hans-Dietrich Loock, Quisling, Rosenberg und Terboven. Zur Vorgeschichte und Geschichte der nationalsozialistischen Revolution in Norwegen, Stuttgart 1970, S. 75 ff. Zu Ådalen vgl. Roger Johansson, Kampen om historien. Ådalen 1931, Stockholm 2001.

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und Norwegens ein Stimmungsumschwung an. Der Einbruch der Wirtschaftskrise und die gegensätzlichen Auffassungen über ihre Bekämpfung ließen dann 1930/31 auf beiden Seiten noch einmal vorübergehend das konfrontative Denken und Verhalten Oberhand gewinnen. Aufseiten der Arbeiterbewegung wirkten sich der enttäuschende Ausgang der Reichstagswahlen in Schweden 1928 und der Stortingswahl 1930 in Norwegen im Sinne der Bereitschaft zu programmatischer Mäßigung und stärkerer Hinwendung zum Pragmatismus der Dänen aus. In beiden Fällen war man mit einer relativ radikalen Plattform in den Wahlkampf gezogen und hatte damit eine maximale gegnerische Mobilisierung der Anhängerschaft der bürgerlichen Parteien provoziert, sodass trotz absoluter Stimmengewinne, vor allem in Schweden, prozentuale Einbußen übrig blieben.29 Das Zentralabkommen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen in Norwegen, dort noch unter der liberalen Vorgängerregierung in einer kleinen Kommission vorbereitet, in der die Vorsitzenden des Gewerkschaftsdachverbandes und der Arbeitgebervereinigung unter Vorsitz eines liberalen Juristen vertrauensbildend zusammenarbeiteten, war dann 1935 gewissermaßen das Pendant zu dem Krisenvergleich der Arbeiter- und der Bauernpartei. Zusammen mit der simplen Tatsache, dass die „Vertrauensmänner des werktätigen Volkes“ jetzt in der Regierung saßen, wurde eine der streik- und aussperrungsgeneigtesten Regionen der Welt eine Region mit vorwiegendem Wirtschaftsfrieden.30 Das 1938 im Seebad Saltsjöbaden vereinbarte Zentralabkommen war jahrzehntelang eine Art Grundgesetz der Arbeitsbeziehungen in Schweden. Es bestätigte die Tarifautonomie, beinhaltete aber ein hohes Maß an Selbstbindung der Vertragspartner, indem es die Tarifverhandlungen zentralisierte. So war es möglich, über einen längeren Zeitraum die Arbeitslosen und die unteren Einkommensgruppen gezielt zu bevorzugen („solidarische Lohnpolitik“, wie sie auch in Dänemark und Norwegen verfolgt wurde) und Arbeitskämpfe einem strikten Reglement zu unterwerfen, sodass während der Dauer von Rahmenabkommen keine Kampfmaßnahmen gestattet waren. Die Integration der Arbeiterbewegung in den Staat beinhaltete also zugleich ihre Zähmung. In der damit verbundenen Berechenbarkeit lag der entscheidende Vorteil für die Kapitalseite. In Dänemark war schon 1899 eine Zentralvereinbarung zur Regulierung

29 Vgl. dazu Klas Åmark, Sammanhållning och intressepolitik. Socialdemokratin och fackföreningsrörelsen i samarbete och på skilda vägar. In: Misgeld/Molin/Åmark, Socialdemokratins samhälle, S. 57 ff.; Danielsen, Oppdemmingspolitik, S. 206; Bengt Schüllerqvist, Från kosackval till kohandel. SAP’s väg till makten (1928–33), Stockholm 1992; Finn Olstad, Det farlige demokratiet. Om folkestyrets vilkår i Norge gjennom to hundre år, Oslo 2014, insb. S. 149–157. 30 1936 (in Dänemark mit 3 Millionen verlorenen Arbeitstagen), 1937 (in Norwegen mit 1 Million) und 1938 (in Schweden mit 1,3 Millionen) kam es nochmals zu beträchtlichen, meist spontanen und von Gewerkschaften nicht kontrollierten Streikwellen. Vgl. die Tabelle bei Elvander, Skandinavisk arbetarrörelse, S. 69–71. Der Inhalt des Saltsjöbaden-Abkommens wird zusammenfassend referiert von Bernd Henningsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden, Baden-Baden 1986, S. 245 f.

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des Arbeitsmarkts getroffen worden. Im Jahr 1910 waren ein einflussreiches Schlichteramt und ein Arbeitsgerichtshof hinzugekommen. In den 1930er-Jahren griff der dänische Staat direkt massiv in die Arbeitsbeziehungen ein. Das sollte in Norwegen und Schweden vermieden werden. Die wirtschaftlichen Effekte der Krisenpolitik sind kaum zu quantifizieren, weil die Region am internationalen Konjunkturaufschwung teilnahm und namentlich Schweden stark von der deutschen Aufrüstung profitierte, außerdem von der Unterbewertung der Krone. Trotz der zusätzlichen Belebung des Binnenmarkts und der Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums gegenüber den 1920er-Jahren blieb die Sockelarbeitslosigkeit mit 10 bis 20 Prozent hoch. Und das meiste von dem, was die Arbeiterregierungen wirtschafts- und sozialpolitisch in Gang setzten, hatte Vorläufer in den 1920er-Jahren, teilweise davor, oder fußte auf Planungen und Entwürfen der Vorgängerregierungen, detaillierten Vorarbeiten von Parlaments- und anderen Kommissionen. Besonders die zur betreffenden Zeit liberalen Regierungen Norwegens und Schwedens hatten in bescheidenerem Umfang auf die Weltwirtschaftskrise schon mit Gegenmaßnahmen wie verbesserten Unterstützungszahlungen und öffentlicher Arbeitsbeschaffung reagiert. Der im Norden in den 1890er-Jahren startende Prozess der Sozialgesetzgebung war zeitweise verlangsamt, aber niemals zum Stillstand gekommen. Vor allem in Dänemark waren schon die Spätphase des Ersten Weltkriegs (in einer ersten sozialliberalen Koalition, damals noch unter Führung der Radikalliberalen) und während einer agrarliberalen Minderheitsregierung in den frühen 1920er-Jahren diesbezüglich wichtige Schritte unternommen worden. Für die Sozialpolitik der Arbeiterregierungen ab 1929/1932/1935 wurde die universalistische Zielsetzung wesentlich, die von der objektiven Bedürftigkeit ausging und den diskriminierenden Charakter der überkommenen Armenfürsorge überwinden wollte. Es expandierte der öffentliche Sektor weit überproportional, doch erst gegen Ende der 1930er-Jahre nahmen die nordeuropäischen Sozial­ systeme als Ganzes Form an und zeigten sich imstande, Einkommensausfälle systematisch und einigermaßen effektiv auszugleichen. Es setzte sich definitiv die Auffassung vom Recht der Staatsbürger auf Sicherung der Existenzgrundlage und von der Pflicht des Gemeinwesens durch, diese zu gewährleisten.31 Unbestreitbar ist die Leistung des Übergangs zu einer neuen handlungsfähigen politischen Konstellation und eines psychologischen Umschwungs.

31 Zur Ausbildung des nordeuropäischen Wohlfahrtsstaats vgl. Jorn Henrik Petersen/ Klaus Petersen, Shake, Rattle and Roll! From Charity to Social Rights in the Danish Welfare State, 1890–1933. In: Steven King (Hg.), Welfare Peripheries. The Development of Welfare States in Nineteenth and Twentieth Century Europe, Oxford 2007, S. 149–179; Niels Ploug/Ingrid Henriksen/Niels Kærgård (Hg.), Den danske velfærdsstats historie, Kopenhagen 2004; Klas Åmark, Hundra år av välfärdspolitik. Välfärdsstatens framväxt i Norge och Sverige, Umeå 2005. Als umfassende Darstellung und Analyse der schwedischen Gesellschaft in deutscher Sprache mit starken historischen Bezügen vgl. zudem Henningsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden.

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VI. Die Herausbildung einer „volklichen“ Demokratie im Norden Für Dänemark, für Schweden und mehr noch für Norwegen bedeutete das Zustandekommen der Arbeiter-Bauern-Bündnisse eine Befestigung der parlamentarischen Regierungsweise und damit der Verfassungsordnung. Die Zeit des alten Minderheitsparlamentarismus war vorbei. Während in Dänemark eine stabile Koalitionsregierung amtierte und in Schweden die Arbeiter-Bauern-­ Kooperation 1936 zu einer Koalition ausgeweitet wurde, wurde für die norwegische Arbeiterregierung die Tolerierung durch die Liberalen zunehmend wichtiger. Man kann den politischen Ansatz der drei Arbeiterparteien in den 1930er-Jahren (und dann noch deutlicher nach 1945) als ein Projekt der Integra­ tion der (sozial gesehen) unteren zwei Drittel der städtischen und ländlichen Bevölkerung in die nationale Demokratie deuten. Die Umwidmung des Verfassungsstaates in eine soziale Demokratie mit korporativen Zügen durch die Arbeiterparteien wurde dementsprechend flankiert von einer Erweiterung der politischen Sprache und Symbolik, in denen jetzt nationalpatriotische Elemente einen wesentlichen Stellenwert erhielten. Die Krisenpolitik fand ihren ideologischen Ausdruck in der Ergänzung und tendenziellen Ersetzung des Klassenbegriffs durch den Begriff des „Volkes“. Dieser Volksbegriff war nicht nur vordergründig und bündnispolitisch relevant. Er war darüber hinaus geeignet, eine semantische Brücke zu gedanklichen Ansätzen anderer Herkunft zu schlagen, nicht nur zum popularen Flügel des Liberalismus und den vorpolitischen Volksbewegungen, sondern auch zu den agrarromantisch-kulturnationalen Strömungen, die parteipolitisch unterschiedlich konnotiert sein konnten. Mit der Aufnahme der ursprünglich liberal oder konservativ konnotierten Wortschöpfung des „Volksheims“ (Folkhem), also der Verheißung, Staat und Gesellschaft Schwedens zu einem Heim des ganzen Volkes zu machen, neben dem des „Mitbürgerheims“ (Medborgarhem), womit an alte, bis in die Antike zurückreichende Haus- und Familienmetaphern angeknüpft wurde, gelang es der schwedischen Sozialdemokratie, trotz der politisch ganz unterschiedlichen Konnotationen des „Volkes“ wie des „Heims“, schlagwortartig einen zivilgesellschaftlichen und partizipatorischen Inhalt zu transportieren, der egalitäre Brüderlichkeit, Empathie und Gemeinschaftsgefühl mit einem sozialen Pflichtgedanken verknüpfte.32 Zu einem regelrechten 32 Vgl. Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001; Valeska Henze, Das schwedische Volksheim: Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodels, Berlin 1999; Hans Dahlqvist, Folkhemsbegreppet: Rudolf Kjellén vs. Per Albin Hansson. In: Historisk Tidsskrift (S), 162 (2002), S. 445–465. Vgl. auch Kayser Nielsen, Bonde, stat og hjem, S. 429–579; Lehnert, Gemeinschaftsdenken in Europa; Urban Lundberg, „Volksheim“ oder „Mitbürgerheim“? Per Albin Hansson und die schwedische Demokratie. In: Müller/Tooze, Normalität, S. 344–377, weist zu Recht darauf hin, dass manche führenden SAP-Politiker der 1930er-Jahre nie und andere nur selten vom „Volksheim“ sprechen. Derjenige, der die Vokabel 1928 aufgriff, Per Albin Hansson, tat das in Abgrenzung zum organologisch-volksgemeinschaftlichen Verständnis, wie es

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g­ esellschaftspolitischen Konzept wurde das Volksheim bzw. Mitbürgerheim indessen erst in Verbindung mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats und mit der auf Veränderung und längerfristig durchaus noch auf Überwindung des Kapitalismus gerichteten Perspektive von Ernst Wigforss und mit den bevölkerungs- bzw. familien- und wohnungspolitischen Initiativen von Alva und Gunnar Myrdal. Insofern stand das schwedische Modell auch für ein Gesellschaftsbild, das von Funktionalität, Rationalität und Sauberkeit geprägt war. Die bewusste Nutzung der modernen Medien, auch des Radios, für die Verbreitung von kontrovers angelegten, zentralen gesellschaftlichen Diskussionen diente der Herausbildung einer demokratischen Massenöffentlichkeit.33 Konzeptionell weniger elaboriert, erhielt das „Volk“ und mit ihm die tradierte nationale Symbolik auch in Norwegen und Dänemark seinen prominenten Platz. Vor allem, aber nicht nur in Dänemark spielte der Grundtvigianismus mit seinem seit den 1840er-Jahren entstandenen ländlichen, nicht zuletzt der politischen Bildung dienenden Heimvolkshochschulwesen eine andauernde Rolle; Grundtvig hatte auch und nicht zuletzt die politische Linke des Nordens mitgeprägt. In seinem unagressiven Konzept von Dänentum und „Volklichkeit“ (Folkelighed) wurde eine gefühlsbetonte Bindung an Volk und Nation mit antielitärer, dezidiert demokratischer Tendenz ausgedrückt. Und Demokratie wurde in der Zwischenkriegszeit vermehrt als „Volksregierung/Volksherrschaft“ (Folkestyre) bezeichnet. „Volklich“ (folkelig) wollten in Nordeuropa mittlerweile alle Parteien sein.34 etwa Rudolf Kjellén zueigen war und in seiner sozialdemokratischen Variante im Sinn des von Hansson häufiger gebrauchten „Mitbürgerheims“ verstanden werden muss. Lundberg geht es in dem oben genannten Aufsatz vor allem um die Zurückweisung einer mit denunziatorischer Tendenz einseitigen Betonung der unbestreitbaren, aber außerhalb NS-Deutschlands eben nicht allein schwedischen, vielmehr epochenspezifischen „dunklen Seite“ der Sozial-, Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik, etwa in Gestalt der Zwangssterilisation, durch Autoren der fachwissenschaftlichen wie journalistischen Publizistik der vergangenen drei Jahrzehnte. In meiner eigenen Argumentation steht nicht das spezifische „Volksheim“ (ein Begriff, der allerdings die Angelegenheit, um die es geht, durchaus trifft) im Zentrum, sondern die Aufwertung des Begriffs des Volkes in seinen unterschiedlichen Variationen und Ableitungen. Dieser Gedankenstrang, der sämtliche nordischen Länder und namentlich die dortigen sozialistischen Arbeiterparteien betrifft, bleibt von Lundbergs Relativierung des Volksheim-Schlagworts unberührt. Zu den problematischen Seiten des nordischen Wohlfahrtsstaats vgl. Thomas Etzemüller, Sozialstaat, Eugenik und Normalisierung in skandinavischen Demokratien. In: Archiv für Sozialgeschichte, 43 (2003), S. 492–510. 33 Vgl. Thomas Etzemüller, Die Romantik der Rationalität: Alva & Gunnar Myrdal – Social Engeneering in Schweden, Bielefeld 2010; Petter Tistedt, Visioner om medborgerliga publiker. Medier och socialreformism på 1930-talet, Höör 2013; Tilton, The Political Theory of Swedish Social Democracy, S. 39–69; Arne Helldén, Ernst Wigforss. En idébiografi om socialdemokratins kultur- och samhällsideal, Stockholm 1990; Leif Lewin, Planhushållningsdebatten, Stockholm 1970. 34 Vgl. Nevers, Skældsord, insb. S. 174–195; ders., Demokratiekonzepte in Dänemark nach dem Ersten Weltkrieg. In: Müller/Tooze, Normalität, S. 378–390. Zum Grundtvigianismus, der, neben und vor dem Erbe der Gebrüder Brandes, wichtigsten ideengeschichtlichen Wurzel der dänischen (und nicht nur der dänischen) bürgerlichen wie sozia­

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Die fast allgemeine Vorstellung, Freiheit, Gleichheit, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie seien etwas uralt und typisch Nordisches, wirkte sich in allen drei Ländern zugunsten der bestehenden Verfassungsordnung aus, indem es mit den Neujustierungsvorgängen der frühen und mittleren 1930er-Jahre, die das politische System handlungsfähig zeigten, gelang, dem Selbstbild einer nordischen Demokratie wichtige Komponenten hinzuzufügen. Die Berufung auf Volk und Nation unter Betonung der mythologisch überhöhten Tradition des freien Bauerntums schuf einen ideologischen Ankerpunkt für die seit Mitte der 1930er-Jahre parallel propagierten Formel von der „Nordischen Demokratie“,35 zunehmend auch Finnland einschließend. Im August 1935 inszenierten die schwedischen Sozialdemokraten in Malmö, am anderen Ufer der Ostsee dicht bei Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen gelegen, einen „Tag der Nordischen Demokratie“ unter Beteiligung von hochrangigen Genossen aller Nachbarländer.36 Der kühne Anspruch der nordeuropäischen Sozial­ demokraten, als Verteidiger der demokratischen Verfassungsordnung und Hüter des nordischen Erbes an erster Stelle zu stehen, stieß bei den anderen politischen Parteien, insbesondere rechts der Mitte, hier wie auch sonst auf erzürnten Widerspruch. Und doch erleichterte es die auf Besonderheiten der betreffenden Länder abhebende Norden-, Volks- und Gemeinschafts­ terminologie auch vielen Konservativen, die heimische parlamentarische Demokratie als etwas dem Eigenen entsprechendes, spezifisch Geprägtes ohne

listischen Linken vgl. N. F. S. Grundtvig, Schriften zur Volkserziehung und Volkheit. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von J. Tiedje, 2 Bände, Jena 1927; Christian Thodberg/Anders Pontoppidan Thyssen (Hg.), N. F. S. Grundtvig, Tradition und Erneuerung. Grundtvigs Visionen von Mensch, Volk, Erziehung und Kirche und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Kopenhagen 1983; Henningsen, Die Politik des Einzelnen; Kayser Nielsen, Bonde, stat og hjem; Fridlev Skrubbeltrang, Die Volkshochschule, Kopenhagen 1950; Peter Brandt, Folkelighed – et oversættelseproblem? In: Jørn Møller (Hg.), Folk – om et grundbegreb i demokrati og kultur, Aarhus 2004, S. 33–46; Aslak Torjusson, Den norske folkehøgskulen, Oslo 1977. Zu Norwegen, wo die Arbeiterpartei neben anderen volksbezogenen Parolen 1933 das dann auch in Dänemark übernommene Schlagwort „Norwegen dem Volk“ propagierte, vgl. Hans Fredrik Dahl, Fra klassekamp til nasjonal samling. Arbeiderpartiet og det nasjonale spørsmål i 30-årene, Oslo 1969. 35 Vgl. etwa Herbert Tingsten, Demokratins seger och kris. Den forfattningspolitiska utvecklingen 1880–1930, Stockholm 1933; Hal Koch/Alf Ross (Hg.), Nordisk demokrati, Oslo 1949; Jan Hecker-Stampehl, Vereinigte Staaten des Nordens. Integrationsideen in Nordeuropa im Zweiten Weltkrieg, München 2011, S. 151–208; Jussi Kurunmäki/ Johan Strang (Hg.), Rhetorics of Nordic Democracy, Helsinki 2010; Øystein Sørensen/ Bo Stråth, The Cultural Construction of Norden, Oslo 1997; Kazimierz Musial, Roots of the Scandinavian Model. Images of Progress in the Era of Modernisation, Baden-Baden 2002. 36 Die Reden der anwesenden sozialdemokratischen Spitzenpolitiker des Nordens, darunter drei Regierungschefs, wurden in einer Broschüre veröffentlicht: Fyra tal om nordisk demokrati, Stockholm 1935. Analyse der Veranstaltung bei Jussi Kurunmäki, „Nordic Democracy“ in 1935. On the Finnish and Swedish Rhetoric of Democracy. In: ders./ Strang, Rhetorics of Nordic Democracy, S. 37–82, insb. 37–43.

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­ itschleppen allzu vieler der alten Kautelen der Rechten anzuerkennen. Die M übergreifende Akzeptanz und Bekräftigung gemeinsamer Werte als eine wesentliche Grundlage lebendiger Demokratie charakterisierte das Ende der Periode weitaus mehr als die Anfangs- und etliche der Zwischenjahre. Nationalsozialismus, Faschismus und Autoritarismus erschienen, ebenso wie der stalinistische Kommunismus, mehr und mehr als fremdartiges, selbst für viele ehemalige Sympathisanten gänzlich unpassendes Gebilde. In dieser Auffassung wurden die Nordeuropäer von einer Publizistik, vor allem in den angelsächsischen Ländern, bestärkt, die in den 1930er-Jahren den Norden, besonders Schweden, als einen bewunderten Realtypus einer „den Kapitalismus kontrollierenden“37 Demokratie entdeckten. Umgekehrt nahmen die Architekten und Verkünder der „Nordischen Demokratie“ ähnliche Ansätze im Ausland wahr, namentlich Roosevelts New Deal in den USA. Seit jeher hatte man die internationale Publizistik verfolgt und Anregungen für die Gestaltung des Gemeinwesens und der Staatsverfassung aufgenommen. So steht am Ende der Schilderung des nordeuropäischen Eigenwegs dessen Relativierung.

37 So Marquis W. Childs, Sweden. Where Capitalism is Controlled, New York 1934; vgl. auch ders., Sweden. The Middle Way, New Haven 1936; ders., This is Democracy. ­Collective Bargaining in Scandinavia, New Haven 1938; Margaret Cole/Charles Smith (Hg.), Democratic Sweden. A Volume of Studies prepared by Members of the New Fabian Re­search Bureau, Londen 1938; Ernest Darwin Simon, The Smaller Democracies, London 1939. Die Prominenz Schwedens gegenüber dem Avantgardisten Dänemark in der internationalen Wahrnehmung verdankt sich nicht zuletzt diesen Schriften.

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Democratic Breakdown versus Democratic Stability A Comparison of Interwar Estonia and Finland Alan Siaroff *

I.

Introduction: The Sources of Stable Democracy

Within the theoretical literature on democratization, certain requisite factors are frequently or even continually stressed. However, it is also generally accepted that no one single factor is sufficient, that having a combination of various factors is desirable if not indeed necessary, and that this combination can vary from one successful democratizer to another.1 A standard list of such “favourable factors” can be grouped into four main areas. First of all, a high level of socio-economic development correlates very closely with the presence, or the persistence, of democracy.2 More precisely, Robert Dahl has termed the combination of high and growing income, education, occupational diversity, urbanization, private property, and autonomous social and economic organizations as constituting a modern dynamic pluralist (MDP) society.3 An MDP society is favourable to democracy because it disperses power, authority, financial ability and knowledge (what Vanhanen has called “power resources”) amongst many individuals and groups rather than concentrating these resources.4 Phrased *

1 2

3 4

Alan Siaroff, Democratic Breakdown versus Democratic Stability: A Comparison of Interwar Estonia and Finland, Canadian Journal of Political Science, Vol. 32, No. 1, pp. 103–124, 1999, © Canadian Political Science Association, published by Cambridge University Press, reproduced with permission, with additions. Cf. Samuel P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991, pp. 37–38. The relationship between development and democratization is most associated with the work of Seymour Martin Lipset, going back to his Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy. In: American Political Science Review, 53 (1959), pp. 69–105. However, Przeworski and Limongi have concluded (for the post1945 era) that whereas the level of economic development relates to the stability of a democratic regime, it does not affect the probability of a transition to democracy. Adam Przeworski/Fernando Limongi, Modernization: Theories and Facts. In: World Politics, 49 (1997), pp. 155–183. Cf. Robert A. Dahl, Democracy and Its Critics, New Haven, 1989, p. 251. Cf. ibid., pp. 251–52; Tatu Vanhanen, The Emergence of Democracy: A Comparative Study of 119 States, 1850–1979, Helsinki, 1984, p. 33. Cf.  Tatu Vanhanen, The Process of Democratization: A Comparative Study of 147 States, 1980–88, New York 1990, pp. 50–65.

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differently, an organized civil society of voluntary associations not only limits (excessive) state power, but also encourages participation, accommodation and political accountability.5 Secondly, democracy is obviously favoured by a democratic political culture, that is, one in which tolerance, willingness to compromise, trust, pragmatism, moderation and civility of discourse are central values and beliefs.6 These values tend to be more likely to occur in Protestant or secular societies which emphasize individualism rather than collectivism.7 In any case, political leaders may or may not choose to emphasize these values in their behaviour and dis-­ course.8 For Dahl, what is crucial is the legitimacy of democracy, particularly in the minds of political elites and activists.9 Legitimacy is more likely where democracy evolves slowly and with the agreement or acquiescence of predemocratic elites, rather than arising because of a sudden collapse of the old regime.10 The policy choices and outcomes of a new democracy are also crucial, since a new democracy has no legacy of long-term efficacy which produces a reserve of legitimacy.11 Yet without a strong belief that democratic procedures are the only legitimate ways to govern and to transfer power, the possibility of military intervention in politics will always remain.12 Dahl also feels that democratic values are generally more likely to arise if competition precedes participation, that is, if participation is first restricted to a small elite who are more likely to trust each other (even if they disagree politically), then slowly expanding and incorporating, indeed, assimilating, more heterogeneous groups as time goes on. In contrast, if the growth of participation precedes or parallels that of competition, either heterogeneous elites have to socialize themselves quickly into democratic behaviour or, much more likely, democratic norms will be weakly supported or opposed by some or all of these elites.13 Thirdly, the more heterogeneous the society, the harder will it be to achieve mutual tolerance, trust, and so forth. Thus stable democracy is more likely if a society is homogeneous. Failing this, some sort of agreed-upon federalism, or else “consociationalism” among the political elites, will favour democracy,

 5 Cf. Larry Diamond/Juan J. Linz/Seymour Martin Lipset, Introduction: What Makes for Democracy? In: Diamond/Linz/Lipset (eds.), Politics in Developing Countries: Comparing Experiences with Democracy, 2nd ed.; Boulder, 1995, pp. 27–29.  6 Cf. ibid., p. 19.  7 Cf. Huntington, The Third Wave, pp. 37, 39.  8 Cf. Diamond/Linz/Lipset, Introduction, pp. 16–19.  9 Cf. Robert A. Dahl, Polyarchy: Participation and Opposition, New Haven 1971, pp. 129–62; Dahl, Democracy and Its Critics, pp. 260–262. 10 Cf. Dahl, Polyarchy, pp. 40–43. 11 Cf. Juan J. Linz, The Breakdown of Democratic Regimes: Crisis, Breakdown, and Re-equilibration, Baltimore 1978, p. 21. 12 Cf. Samuel E. Finer, The Man on Horseback: The Role of the Military in Politics, 2nd ed.; Boulder, 1988, pp. 78–80. 13 Cf. Dahl, Polyarchy, pp. 33–39.

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whereas subcultural polarization will hinder it.14 Even if not polarized, a highly fragmented society will simply find it difficult to achieve effective democratic government. Democracy thus is favoured by a party system which is neither polarized nor highly fluid, but rather involves ideally no more than a few institutional, autonomous, moderate parties.15 Fourth and finally, international and regional factors can affect democratization and democratic stability in a nation. In terms of direct effects, foreign powers and agencies can lend support to democratization, or alternatively seek to undermine it. Indeed, democracies with “everything internal going for them” can still be conquered by nondemocratic powers, thus ending their democracy.16 Less consequentially, the democratic developments (positive or negative) of a country’s neighbours, homologues and protectors will have demonstration and possibly spillover effects, maybe even producing what Huntington calls a “snowballing” pattern.17 Furthermore, there is an “institutional” debate – rather than an academic consensus – regarding the comparative effects on democratization of presidential and parliamentary systems. In particular, Juan Linz has concluded that “presidentialism seems to involve greater risk for stable democratic politics” due to various flaws in most presidential systems.18 He is also sceptical about semipresidential systems,19 seeing in these the threat of either instability or

14 Cf. Dahl, Democracy and Its Critics, pp. 254–260; Arend Lijphart, Democracy in Plural Societies: A Comparative Exploration, New Haven 1977. 15 Cf. Diamond/Linz/Lipset, Introduction, pp. 33–36. 16 Robert A. Dahl, On Democracy, 2nd ed.; New Haven and London 1998/2015, pp. 147– 148. 17 Cf. ibid., pp. 48–52; Dahl, Democracy and Its Critics, p. 263; and Huntington, The Third Wave, p. 100. 18 Eight flaws noted are: the individual president is by definition elected in a zero-sum “winner-take-all” contest; often with only a plurality of (public) support; the losing candidate(s) lose more, and they lack the position of an opposition parliamentary leader; the president is elected for a fixed term, usually of six years, and cannot be removed if unpopular or incompetent; in the case of death, the presidency is immediately transferred to the then-vice president, who may be similarly flawed, or even more so; the president and the congress can be hostile forces, yet each can claim the legitimacy of democratic election; the inability to re-elect a given president makes that person unaccountable, and may also be frustrating in the case of a good president; and a presidential system – like single-member plurality voting – effectively “compresses” the party system into less than three main parties, which is not desirable for heterogeneous societies. Juan J. Linz, Presidential or Parliamentary Democracy: Does It Make a Difference? In: Juan J. Linz/ Arturo Valenzuela (eds.), Comparative Perspectives, vol. 1 of The Failure of Presidential Democracy, Baltimore 1994. The cited conclusion is from p. 70. 19 The classic definition of semipresidentialism is that of Duverger, who defines it as having three elements: “(1) the president of the republic is elected by universal suffrage; (2) he possesses quite considerable powers; [and] (3) he has opposite him, however, a prime minister and ministers who possess executive and governmental power and can stay in office only if the parliament does not show its opposition to them.” Maurice Duverger, A New Political System Model: Semi-Presidential Government. In: European Journal of Political Research, 8 (1980), p. 166.

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­imbalance.20 Moreover, as Mainwaring has stressed, the combination of presidentialism and multiparty politics is especially inimical to stable democracy, since this combination is likely to lead to deadlock, polarization and difficulties in coalition building.21

II.

The Estonian-Finnish Contrast

The neighbouring cases of Estonia and Finland provide an interesting application of democratization theory, inasmuch as these two nations shared many features. Indeed, in their 18-country analysis of democratic survival versus breakdown in interwar Europe, Gisèle De Meur and Dirk Berg-Schlosser found interwar Estonia and Finland to be the two “most similar” cases.22 Both countries arose out of the old Russian Empire and were two of the most developed and “Western” parts of that empire. Each nation, for example, had close to full literacy and each was essentially Protestant in religion. However, the circumstances of their respective foundings were very different. In Estonia, the War of Liberation (against both Imperial Germany and Revolutionary Russia) was a unifying factor. Estonia was also basically a homogeneous nation, whose only pressing political issue was land reform of the traditional Baltic German estates. In Finland, on the other hand, political divisions led to an all-out civil war in 1918, involving some 6,794 battle deaths.23 To these casualties one must add the more than 1,500 murdered during the “Red terror” of the winter of 1917–1918, the 8,380 similarly murdered in the “White terror” after their victory in the war and the more than 9,000 Communists who later died in White prisoner-of-war camps. For a nation of only 3.3 million people, this brutal civil war left a bitter legacy for the new nation-state. Moreover, the civil war – with the Red side almost exclusively Finnish-speaking – only served to complicate further the tension between the Finnish and Swedish in Finland.24 In summary, the Finnish situation in 1919 did not bode well in terms of national unity and political stability, at least in comparison with its Estonian neighbour. Yet it proved to be Estonia, and not Finland, where democracy ultimately broke down in the 1930s. This article seeks to compare and contrast these two new nations in order to show how and why democracy proved more resilient in Finland. In so doing, it adds to the theoretical debate about the factors relating to democratic stability – important given that many theories do not fit 20 Cf. Linz, Presidential or Parliamentary Democracy, pp. 48–55. 21 Cf. Scott Mainwaring, Presidentialism, Multipartism, and Democracy: The Difficult Combination. In: Comparative Political Studies 26 (1993), pp. 198–228. 22 Gisèle De Meur/Dirk Berg-Schlosser, Comparing Political Systems: Establishing Similarities and Dissimilarities. In: European Journal of Political Research, 26 (1994), p. 198. 23 Cf. D. G. Kirby, Finland in the Twentieth Century, Minneapolis 1979, p. 64. 24 Cf. Pekka K. Hamalainen, Revolution, Civil War, and Ethnic Relations: The Case of Finland. In: Journal of Baltic Studies, 5 (1974), pp. 117–25.

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the ­Finnish outcome.25 First, the constitutional and party political structures of these two cases as they functioned during the peaceful 1920s are considered. Next, the rise of right radicalism in these nations – that is, the Veterans movement in Estonia and the Lapua movement and the Isänmaallinen Kansanliike (IKL) in Finland, and the respective responses of the established political actors to these regime crises are examined. Finally, the differences in regime outcomes are explained in terms of several key factors that should be stressed in any general analysis of the causes of democratic breakdown versus democratic stability.

III. Constitutional Structures and Party Politics In 1919, Estonians voted for a Constituent Assembly. Public desire for land reform helped produce a left-centre majority at the expense of both the conservative Agrarian League (founded in 1917 to represent the traditional peasant proprietors) and the far left. In 1920, the Social Democrats and the liberal centre parties produced a Basic Law which has been called “the most liberal constitution in the world.26 Civil liberties, standard freedoms, minority rights and even the autonomy of cultural minorities were all recognized.27 Power was centred in the Estonian Riigikogu, or National Assembly, which consisted of 100 members elected by universal suffrage and proportional representation for a fixed three-year term. The Riigikogu not only had legislative powers and control over the budget, but it also elected the members of the Supreme Court and, above all, had the right to appoint as well as dismiss the government. Indeed, the Estonian government was totally dependent on the graces of the National Assembly, since the Constitution did not grant the government any corresponding power to dissolve parliament and call new elections, as in the British tradition. The cabinet thus became, in practice, little more than a committee of the Assembly.28 The main restriction on parliamentary power was an even more popular method of control: the right of referendum. The support of only 25,000 voters was needed to demand a referendum on the modification, passing or repeal of any law. This was in addition to obligatory referenda on all constitutional changes.29 25 When Berg-Schlosser and De Meur assessed nine theoretical hypotheses across their 18 countries of interwar Europe, Finland’s democratic survival turned out to be the country most at odds with these theories, confirming none of them and contradicting three. Cf. Dirk Berg-Schlosser/Gisèle De Meur, Conditions of Democracy of Interwar Europe: A Boolean Test of Major Hypotheses. In: Comparative Politics, (1994), pp. 253–279, here p. 275. 26 Cf. Imre Lipping, The Emergence of Estonian Authoritarianism. In: Arvids Ziedonis, Jr. et al. (eds.), Baltic History, Columbus 1974, p. 209. 27 Cf. Henn-Jilri Uibopuu, The Constitutional Development of the Estonian Republic. In: Journal of Baltic Studies, 4 (1973), p. 13. 28 Cf. ibid., p. 14; Jackson, Estonia, p. 166. 29 Cf. Uibopuu, Constitutional Development, p. 12.

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There was no head of state in Estonia; instead, the office of Riigivanem or “State Elder” was established. The Riigivanem led the activities of the government and signed all Acts, but – like the government collectively – could not veto legislation, nor dismiss the Assembly, nor even submit a bill for referendum.30 In contrast to the Estonians, the Finns did not start “from scratch” in 1919. Under the Russian Empire, Finland had enjoyed constitutional autonomy as a Grand Duchy, and in 1906 the Diet of Estates was replaced by a unicameral assembly of 200 members, the Eduskunta. Suffrage thus jumped from about four per cent of the population to universal suffrage for both sexes. In this new parliament, elected by proportional representation with no national threshold starting in 1907, the Social Democrats were always the largest party. The Finns were thus able to build on a parliamentary tradition when it became time to draft a constitution for the new independent nation. Moreover, the struggle for the use of the Finnish language had produced in 1860 the first political party: the Finnish Party. In response, the Swedish-speaking elites formed their own political party, so one can in fact speak of a Finnish party system dating back to the 1860s.31 Committee work on a new constitution began with Finnish independence in 1917, but was soon interrupted by the civil war. The victorious White forces then split bitterly, but not violently, between those who wished to keep the new nation a republic and those who wanted a monarchy with extensive powers. A republican, semipresidential constitution for Finland was finally approved in July 1919.32 In response to the events of 1918–1919, and in contrast to the new constitutions of Estonia and Latvia, a strong executive was created in the office of the Finnish president. The presidency was, in part, seen as a brake on a traditionally leftist parliament. However, universal suffrage, the Eduskunta proper, and its election by proportional representation were all unchanged by the 1919 constitution. In 1919, the Progressive lawyer and professor of public administration, K. J. Ståhlberg, was elected by the Eduskunta as the first president of Finland, defeating the White civil war leader Gustaf Mannerheim by a wide margin (143 votes to 50) on the first ballot.33 The new republic was thus led by a strong liberal, rather than by an authoritarian conservative such as Mannerheim, as might have seemed more likely given the reaction after the civil war. Though both multi-party systems, Estonia and Finland differed in terms of their parliamentary histories and party system institutionalization. Finland ex30 Cf. ibid., p. 15. 31 Cf. David Arter, Politics and Policy-Making in Finland, Brighton 1987, pp. 6–8; Francis Jacobs, Finland. In: Francis Jacobs (ed.), Western European Political Parties: A Comprehensive Guide, Harlow 1989, pp. 520 ff. 32 Cf. Finland is thus the “oldest of the [ongoing] semi-presidential regimes.” Duverger, A New Political System Model, p. 174. 33 The Finnish president serves a six-year renewable term; from 1925 until 1988 the standard procedure was a national vote for an electoral college of 300 party-affiliated electors who then voted in multiple ballots until someone had an absolute majority. Parties were free to “make deals” and to change their support between ballots. Only in 1919, 1944, 1946 and (effectively) 1974 was the president selected by parliament rather than an electoral college. Cf. Arter, Politics and Policy-Making in Finland, pp. 80–82.

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cepted, parties in the Russian Empire – thus including Estonia – were only permitted after the 1905 Revolution. Yet aside from branches of all-Russian parties, there was in fact only a single, truly Estonian party before February 1917: the liberal bourgeois Estonian National Progressive People’s Party.34 After February 1917 a fluid and highly fragmented party system soon developed in Estonia. Table 1: Estonian Election Results, 1919–1932 (by seats)35 Constituent Assembly

Party

1919

State Assembly (Riigikogu) 1920

1923

1926

1929

1932

23

23

24

4

14

14

} 42a

Right Agrarian Union

8

21

Settlers Centre Christian ­Democrats

5

7

8

5

4

Populists (Nationalists)

25

10

8

8

9

Labour

30

22

12

13

10

1

8

2

3

1

1

4

3

2

5

3

4

3

2

3

3

41

18

15

7

11

5

} 24

25

22

11

5

5

10

6

6

5

100

100

100

100

100

Others

} 23

b

Minorities Russian German

c

Left Social Democrats Independent ­Socialists Communistsd far left Total seats

7 120

Legend: a = United Agrarian Party, b = National Party (included ex-Houseowners Party), c = and Swedish in 1929, d = banned after 1924 Putsch, succeeded by Estonian Workers’ Party 34 Cf. Rein Taagepera, Estonia: Return to Independence, Boulder 1993, p. 37; and Alvin Isberg, Med demokratin som insats: Politiskt-konstitutionellt maktspel i 1930-talets Estland, Studia Baltica Stockholmiensia 4, Stockholm 1988, p. 13. 35 Royal Institute of International Affairs, The Baltic States, Oxford 1938, p. 46; Allan Siik, Estonia. In: Dieter Nohlen/Philip Stöver (eds.), Elections in Europe: A Data Handbook, Baden-Baden 2010, pp. 565–592.

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In the 1923 election to the Estonian Riigikogu, 26 parties ran, and 14 won seats (see Table 1). The main party on the right was the Agrarians, led by Konstantin Päts, a nationalist lawyer and newspaper publisher. The party was backed by the urban elites as well as by rural voters. The centre of Estonian politics was occupied by the National Progressives (or Nationalists) who in March 1919 renamed themselves the Populists. They drew support from liberal intellectuals and professionals. Jaan Tõnisson, the well-known and respected Populist, had been a key leader in the struggle for liberal democracy and Estonian autonomy. In the centre-left was the secular, reformist, Labour Party, and on the left were the Social Democrats, Independent Socialists and Communists. Finally, there were also various small parties representing economic actors, religious interests, and the Russian, German and Swedish ethnic minorities.36 The centre-right, however, remained dominant throughout the democratic period. The agrarian reforms of the Constituent Assembly created a new class of peasant proprietors from the formerly landless. This large group was soon represented by the Homesteaders’ or Settlers Party, founded in 1923. The Riigikogu began with a centre-right majority, and the growth of the Settlers Party only reinforced this. Consequently, of the 20 coalition governments between 1919 and 1934, the Social Democrats participated in only six, compared to 16 for the Labour Party, and 17 each for the Populists and the Agrarians.37 In the first Finnish election after its civil war, in 1919, the Social Democrats still led with a respectable 80 seats. In the political centre were the Finnish Agrarian Union, the liberal Progressives of Ståhlberg and the linguistically based, multiclass, Swedish People’s Party. On the political right was the National Coalition, with conservative and monarchist roots. After the split between the communists and the socialists, parliamentary support for the various Finnish parties remained quite stable throughout the 1920s, as is shown in Table 2. Indeed, for the Finnish elections from 1922 to 1929 (three pairs of elections), the mean total vote volatility (Pedersen index) was a very low 5.1. In contrast, for the Estonian elections from 1920 to 1929 (also three pairs of elections); this value was 15.1 – though low by the end of the decade. This period was thus one of consolidation for Finland. Mention has already been made of the moderate and democratic influence of President Ståhlberg. Yet perhaps the key factors for democratic consolidation were party political: first, the centrist nature of the Agrarians, and second, the moderate role played by the Social Democrats under their pragmatic leader, Väinö Tanner. The pivotal role in Finnish politics was to be played by the Agrarian Union, founded in 1906. The Agrarian Union stood on radical democratic ground, 36 Cf. Henry de Chambon, La république d’Estonie, Paris: Éditions de la revue parlementaire (1936), p. 119; Royal Institute of International Affairs, The Baltic States, Oxford 1938, pp. 45–48. 37 Cf. Tonu Panning, The Collapse of Liberal Democracy and the Rise of Authoritarianism in Estonia, Beverly Hills 1975, p. 10; Royal Institute of International Affairs, The Baltic States, pp. 46–47.

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which involved opposition to the elites and the educated classes, and to the dominance of city life. In short, the Finnish Agrarian Union had many common interests with the Social Democrats; however, it also included rightist members who were most comfortable working with the bourgeois parties.38 More generally, the Agrarian Union (as well as the smaller Progressive Party) believed in the goal of reconciliation with the working class and the Social Democrats. However, the 1925 presidential victory of the right-wing Agrarian Lauri Kristian Relander led to increased co-operation with the political right. Thus during the late 1920s the Agrarian Union became in practice a centre-right party, distancing itself from social democracy.39 Table 2: Finnish Election Results, 1919–1939 (by seats; total: 200)40 Party

1919 1922 1924 1927 1929 1930 1933 1936 1939

Right IKL National ­Coalition

14

14

8

28

35

38

34

28

42

18

20

25

Swedish ­People’s Party

22

25

23

24

23

20

21

21

18

Progressives

26

15

17

10

7

11

11

7

6

Agrarian Union

42

45

44

52

60

59

53

53

56

1

5

2

2

78

83

85

Centre

Left Rural populists Social ­Democrats

80

Communistsa Others

53

60

60

59

66

27

18

20

23

(banned until 1945)

2

 1

Legend: a = Socialist Workers’ Party 38 Cf. W. E. Nordström, Agrarförbundets Uppkomst. In: Granskaren, (September 1937), pp. 110–14; Kari Hokkanen, Die finnischen Bauernparteien. In: Heinz Gollwitzer (ed.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, pp. 169–206. 39 Cf. Hokkanen, Die finnischen Bauernparteien, pp. 180–183; W. E. Nordström, Agrarpartiet under Självständighetstiden. In: Granskaren, (April 1938), pp. 58–62. 40 Jaakko Nousiainen, The Finnish Political System, trans. by John H. Hodgson (Cambridge, MA 1971), pp. 180–181; Kari Hokkanen, Die finnischen Bauernparteien. In: Heinz Gollwitzer (ed.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, pp. 190–191; cf. Dag Anckar/Carsten Anckar, Finland. In: Dieter Nohlen/Philip Stöver (eds.), Elections in Europe: A Data Handbook, Baden-Baden 2010, pp. 593–638.

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Within the Social Democrats, a minority in fact opposed the revolutionary coup in January 1918. This minority had been defeated by the more radical socialists in the interparty rivalries of the 1910s. Väinö Tanner belonged to this moderate group, and he soon reconstructed a Social Democratic Party committed to parliamentary democracy and willing to operate in a bourgeois Finland. The Social Democrats gave tacit support to minority centrist governments in the 1920s, and from December 1926 to December 1927 formed a minority government of their own. This peaceful transfer of power between the bourgeois and socialist blocs was an important step for the Finnish political system.41 In summary, Finnish parliamentary democracy was functioning well in the 1920s, with the Social Democrats on working terms at least with the centre parties. In Estonia, the ideological gaps, not to mention the founding tensions, were doubtless not as great – yet in this case parliamentary government developed much less smoothly. The average duration of Finnish and Estonian cabinets in the 1920s was about the same, around 300 days.42 However, what differentiated the two cases was the nature of cabinet instability. Finnish cabinets were frequently minority ones, as the parties were often split over various policy issues. In contrast, from 1925 to 1933 every Estonian cabinet initially enjoyed majority support in the Riigikogu. The problem was that parties would continually desert the cabinet in the hopes of striking a better bargain with other groups.43 Such self-interested behaviour in Estonia tended to be reinforcing. In contrast, the Finnish parties rarely deserted each other merely for the sake of gamesmanship. Moreover, it should be noted that in the 1920s Finland had only two presidents, as both Ståhlberg and Relander served full terms. A further crucial difference between these two nations that should be emphasized is the parliamentary experience of the Finnish political elite. Tanner was first elected to parliament in 1907; Ståhlberg was a cabinet minister back in 1905.44 Many Finns had personally participated in the struggle for rights under Imperial Russia. By the end of the 1920s, Finland thus seemed to have moved from the right to the centre. The National Coalition was losing support, and the Agrarians were gaining. However, aspects of the right were still very much in evidence. The nationalist Academic Karelia Society continued to draw support from intellectuals desiring a “Greater Finland.” The paramilitary civil guard (Suojeluskunta) was supported by all of the bourgeois parties, and was still four times the size of the

41 Cf. John Coakley, Political Succession and Regime Change in New States in Interwar Europe: Ireland, Finland, Czechoslovakia and the Baltic Republics. In: European Journal of Political Research, 14 (1986), p. 200. 42 Cf. Linz, The Breakdown of Democratic Regimes, p. 111. 43 Cf. Artur Mägi, Das Staatsleben Estands während seiner Selbständigkeit: 1. Das Regierungssystem, Uppsala 1967, pp. 234–243; Panning, The Collapse of Liberal Democracy, pp. 14–17; J. Hampden Jackson, Estonia, 2nd ed.; London 1948, pp. 180–181. 44 Cf. Marvin Rintala, Four Finns: Political Profiles, Berkeley Press 1969, pp. 50, 76.

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Finnish army. Estonia also had a civil guard; however, in Finland there was also a legal strike-breaking organization called Vientirauha (Export Peace). This was established in 1920 by the woodworking industry, and dealt with many strikes involving unskilled labour.45 Thus Finland, more so than Estonia, seemed to have the potential for right-wing radical­ism. Yet both experienced regime crisis.

IV.

Regime Crisis in Estonia

In Estonia, the central regime question was that of constitutional reform. After the failed communist putsch of 1924, further proposals to create a presidency were made – especially by the Agrarian Union and (in a secret memorandum) by the army – but nothing concrete was done. Soon, other parties besides the Agrarian Union began to favour constitutional change.46 Matters came to a head with the economic downturn brought on by the world depression, regarding which the deputies in the Riigikogu could not quickly agree on any decisive action.47 Public discontent with the workings of the Riigikogu, which had of course always existed and had led to public protests, now grew sharply. However, the most important pressure came from the veterans’ association. The Central League of the Veterans of the War of Independence (Vabadussôjalaste Keskliit or, popularly, the VABS) was founded in 1929, coalescing various small veterans’ groups. From 1932 onwards, however, the VABS lost its character as a veterans’ association and became an openly political, populist, fascist-oriented organization. Artur Sirk, an ambitious, demagogic young lawyer, became its dominant force. The VABS had a paramilitary aspect, with the requisite uniforms, parades, salute, propaganda and centralized leadership typical of right-radical movements in interwar Europe. The Veterans could not, and did not, claim that there was a communist threat in Estonia, but they did soon start attacking the Social Democrats.48 Mainly, though, the Veterans were a single-­ issue group, demanding a strong executive. Specifically, the VABS proposed a directly elected president with a five-year term who would select the rest of the government, who could freely dissolve a 50-member assembly and who could

45 Cf. Risto Alapuro, State and Revolution in Finland, Berkeley 1988, pp. 206–207; and Jorma Kalela, Right-Wing Radicalism in Finland during the Interwar Period: Perspectives from and an Appraisal of Recent Literature. In: Scandinavian Journal of History, 1 (1976), p. 112. 46 Cf. Royal Institute of International Affairs, The Baltic States, p. 46; Lipping, The Emergence of Estonian Authoritarianism, p. 210. 47 For example, it was not until July 1933 that the Estonian kroon was finally devalued and this measure was only narrowly passed. Cf. Panning, The Collapse of Liberal Democracy, p. 43. 48 Cf. Georg von Rauch, Geschichte der baltischen Staaten, Stuttgart 1970, pp. 128–129; Lipping, The Emergence of Estonian Authoritarianism, p. 212; Panning, The Collapse of Liberal Democracy, pp. 39–40.

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invoke vaguely defined powers of rule by decree. To be eligible for election to this presidency, one had to be at least 40 years old and be nominated by at least 10,000 citizens of voting age.49 In March 1932, the Riigikogu had in fact adopted a bill which created an office of president along Weimar German or Finnish lines, and which also reduced the number of deputies to 80. As required, this constitutional change was submitted for public confirmation in August. Both the Veterans and the Social Democrats actively campaigned against it. The VABS felt that the new office would not be powerful enough, whereas the Social Democrats had always been opposed to the idea of a president. In the end, the electorate rejected this proposal by a narrow margin (330,236 opposed; 315,900 in favour). Undaunted, and hoping to forestall the Veterans’ initiative, a similar proposal to that of March 1932 was put to a public vote in June 1933. This time the vote was a clear two-to-one against. The Veterans’ proposal was finally scheduled for an October 1933 referendum, when it was accepted by 73 per cent of the voters.50 With this result the then-Tõnisson government resigned, and Konstantin Päts took over at the head of what was supposedly a transitional cabinet. Amid great controversy, the Social Democrats supported this government, in an apparent understanding with Päts that the Veterans would somehow be kept out of power.51 The new constitution went into force on January 24, 1934, with elections for a new Riigikogu and the newly created president scheduled for April. In the meantime, however, Päts became acting president according to the new constitution. He thus enjoyed very broad powers and was no longer responsible to the Assembly. Päts was no doubt pleased with this new constitutional situation. At the Fifth Agrarian Congress in 1926, Päts, to enthusiastic agreement, had explicitly called for a directly elected president and a strong government. And in 1933, at the Eighth Congress of the Agrarian Union, he spoke in favour of the VABS’ constitutional proposal.52 The Veterans, for their part, now agitated against the Päts government and the other parties, announced their possession of arms and began a campaign of intimidation. In the local elections of January 1934, Veterans candidates did surprisingly well, taking 42 per cent of the total urban vote. Momentum was apparently with the VABS, who had clearly become the favoured party of the urban middle classes – the social group seemingly most concerned with constitutional change. Even more crucially, the VABS figurehead, (retired) General Andres Larka, was the clear leader in the required collection of signatures for

49 Cf. Isberg, Med demokratin som insats, p. 33. 50 Cf. Jackson, Estonia, pp. 189–190; Panning, The Collapse of Liberal Democracy, pp. 41–42, 51–55; Uibopuu, Constitutional Development, p. 17. 51 Cf. Isberg, Med demokratin som insats, pp. 40, 158; Toivo U. Raun, Estonia and the Estonians, Stanford 1987, p. 119. 52 Cf. Hellmuth Weiss, Bauernparteien in Estland. In: Gollwitzer (ed.), Europäische Bauern­ parteien im 20. Jahrhundert, pp. 207–222.

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the presidential ballot. Given this lead, and the success of the VABS’ demagogic and populist propaganda, they appeared likely to win the national elections set for April 1934, as they had done in the January local elections. In short, the prospect of the Veterans coming to power in Estonia was a real one.53 However, on 12 March 1934, a month before the elections – for which, incidentally, Päts had not yet collected the necessary minimum number of signatures even to stand as a candidate54 – Päts suddenly invoked the emergency powers granted to the president by the new constitution. Parliament was suspended and all political parties were banned. The Veterans were disbanded, their leaders arrested and their victories in the January local elections annulled. Resistance from the VABS and from their presumed sympathizers was surprisingly minimal for an armed group with supposed mass appeal. The April elections were postponed indefinitely even though this particular step was clearly unconstitutional. Päts quickly consolidated his authoritarian regime, aided by the use of generous agricultural and industrial subsidies. The army was supportive, a planned coup by the Veterans in December 1935 having been thwarted even before it was attempted. Opposition to the Päts regime soon consisted only of staunch democrats such as Tõnisson. In 1935, Päts founded the Fatherland League, based on the old agrarian parties, as his new national party. Päts’ authoritarianism was, however, of a comparatively mild nature: there were no political murders, the courts remained independent, religious observance remained free and even the autonomy of cultural minorities was totally respected – unlike after the coup in neighbouring Latvia. Nevertheless, the press was controlled, the traditional parties were banned and, of course, democracy ceased to exist in Estonia.55 Päts next sought to legitimize his rule through a new constitution. In February 1936, a referendum approved his calling of a new constituent assembly. Control of propaganda ensured that this Constituent Assembly was dominated by Päts’ followers in the Fatherland League, although opposition leaders were also elected to it.56 A new constitution was thus drawn up and proclaimed in 1937, combining a very strong presidency, much stronger than the VABS’ 1933

53 Cf. Isberg, Med demokratin som insats, pp. 45, 51; Panning, The Collapse of Liberal Democracy, p. 55; Lipping, The Emergence of Estonian Authoritarianism, pp. 212, 215–216. 54 As of 12 March, Päts was a distant third in signatures, behind Larka and General Laidoner, the candidate of the Settlers and the centrist Populists. Cf. Toomas Varrak, Estonia: Crises and ‘Pre-Emptive’ Authoritarianism. In: Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (eds.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39: Systemic Case Studies, Basingstoke 2000, pp. 106–128, here pp. 121, 126. 55 Cf. Panning, The Collapse of Liberal Democracy, pp.56–57; V. Stanley Vardys, The Rise of Authoritarian Rule in the Baltic States. In: V. Stanley Vardys/Romuald J. Misiunas, (eds.), The Baltic States in Peace and War, 1917–1945, Baltimore 1978, p. 79. 56 Cf. De Chambon, La république d’Estonie, p. 121; Jackson, Estonia, pp. 203–204.

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version, with a new bicameral parliament. Of course, since Päts had created a pliant assembly, he did not have to use the full range of presidential powers.57 The new House of Representatives had 80 members, elected as individuals in single-member districts rather than by the traditional system of parties and proportional representation. Elections for the new House of Representatives occurred in February 1938 with the Fatherland League the only national party allowed to campaign. Other candidates had to stand as individuals, either on a pro-regime or an anti­regime platform. After a semi-open campaign, supporters of Päts won 63 seats against 15 for opposition candidates (such as Tõnisson) and two independent Russians. In April 1938, the new electoral college officially elected Päts (the only candidate) as the first president of the Estonian Republic.58 Constitutionality was thus restored a full four years after Päts assumed control in his coup d’état. The new regime was thus authoritarian rather than totalitarian. In this way, Estonia was similar to Latvia (1934) and Poland (1926), and Päts may well have drawn inspiration from the latter regime. A political amnesty was proclaimed in 1938, but the state of emergency remained in effect. The universities were basically free but the press was not, and there was a State Propaganda Service. Perhaps most telling was Päts’ speech of February 1940, in which he opposed the return of party politics.59 Estonian democracy did break down in 1934. Thus, even setting aside the Soviet occupation in 1940, these events make it hard to imagine how a peaceful transfer of power away from Konstantin Päts could ever have taken place.

V.

Regime Crisis in Finland

In contrast to Estonia, the democratic regime in Finland was able to survive the threat of a breakdown in 1930–1932. By the late 1920s, some of the scars of the civil war had healed. In particular, the Social Democrats were on reasonable terms with the centre parties. However, the communist Socialist Workers Party and the other communist-front organizations such as the main trade unions were all deeply disliked by the entire bourgeois bloc. The coming of the depression only added to the tensions in the economic and political climate. These tensions culminated in an incident in November 1929: on a Sunday, Finnish Communist youth paraded in the small town of Lapua, in conservative, religious Ostrobothnia. This provocation so angered the local White small farm57 Cf. Taagepera, Estonia: Return to Independence, pp. 55–56, 75. 58 The upper house, or senate, was a corporatist body of 30 interest representatives including leaders of the military, churches and universities, plus 10 direct presidential appointees. Both houses served a five-year term. Also, the voting age was raised to 22 from a comparatively low 20. Cf. Uibopuu, Constitutional Development, pp. 23–24, 33 n. 198, 34 n. 217; Jackson, Estonia, pp. 205–208. 59 Cf. Parming, The Collapse of Liberal Democracy, p. 60.

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ers that they responded with a physical attack. From this was born the popular anti-communist movement named after the town. In the summer of 1930, 12,000 Lapua members marched on Helsinki, where their demands were heard sympathetically by the conservatives Mannerheim and Pehr Evind Svinhufvud, and by the Agrarian president Relander.60 Members of the National Coalition party and right-wing Agrarians had leading positions in the Lapua movement. The centre-right parties themselves were supportive of the demands of the movement: White speakers such as Mannerheim laid great stress on its “patriot­ism.” Indeed, at the end of 1928, the government had already drafted anti-communist legislation. In June 1930, despite lacking legal authority, the Agrarian-Progressive government of Prime Minister Kyösti Kallio banned all communist newspapers. The Communist deputies in the Eduskunta were all arrested on grounds of treason. The Communist-led union confederation was soon banned as well. Nevertheless, certain centrists – in particular, deputies of the Swedish People’s Party – joined with the Social Democrats to stop the immediate passage of the anti-Communist laws.61 In order to get the necessary two-thirds majority for such constitutional changes, the Svinhufvud government called new elections in 1930 in which the Communists could not take part. This election produced a major victory for the National Coalition party (see Table 2). The anti-Communist laws were now passed, as no centrist deputy dared vote against them a second time. Attention now turned to the polarized presidential election of 1931. Here, the Lapua movement saw Prime Minister Svinhufvud as its own presidential candidate and strongly backed him. With the votes of the Agrarian delegates to the electoral college proving to be decisive, the leader of the civil guards contacted the Agrarian leadership and warned of violence should Ståhlberg be elected over Svinhufvud. In these circumstances, the Agrarians decided to support Svinhufvud on the third ballot; he thus narrowly won (151 votes to 149 for Ståhlberg).62 In the summer of 1930, Lapua violence had begun to escalate, including a campaign of kidnapping opponents and dumping them over the Soviet border. Over 1,000 people were victims of this terror, including even (or especially) K. J. Ståhlberg.63 The outrage at this particular action led the centrist parties – in particular, the Agrarian Union – to distance themselves from the Lapua movement, once again thus splitting the bourgeois forces.64 From 1930 onwards there was

60 Cf. Kirby, Finland, pp. 85–87; Risto Alapuro/Eric Allardt, The Lapua Movement: The Threat of Rightist Takeover in Finland, 1930–32. In: Juan J. Linz/Alfred Stepan (eds.), The Breakdown of Democratic Regimes: Europe, Baltimore 1978, p. 132. 61 Cf. Krister Wahlbäck, Från Mannerheim till Kekkonen: Huvudlinjer i finländsk politik 1917–1967, Stockholm 1967, p. 115; Kirby, Finland, pp. 85–87. 62 Cf. ibid., p. 241; Kirby, Finland, p. 89. 63 Cf. Alapuro/Allardt, The Lapua Movement, p. 131. 64 Cf. Lauri Karvonen, Finland: From Conflict to Compromise. In: Dirk Berg-Schlosser/ Jeremy Mitchell (eds.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39: Systemic Case Studies, Basingstoke 2000, pp. 129–156, here pp. 152–153.

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a “lawfulness front” in the Eduskunta, consisting of the Swedish People’s Party, the Progressives, the Agrarians and the Social Democrats, with the first three parties being in the government majority. Only the National Coalition stuck with the Lapua movement, as the conservatives increasingly became a “disloyal opposition.”65 In February-March 1932 an uprising occurred at Mäntsälä, a small town 60 kilometres north of Helsinki. Lapua reinforcements poured in from throughout the country, with the rebels demanding a new “patriotic” government. However, the state responded strongly with emergency measures. Svinhufvud appealed to the rebels to disperse, and forbade Suojeluskunta (civil guard) units from supporting them. The army was split over the uprising, but Aarne Sihvo, the commander-in-chief, was opposed to it, and in the end the armed forces remained loyal to the government. Nor did the leadership of the civil guard back the rebels at this crucial moment, although some individual members did join the revolt. In the end, the uprising failed to gain mass support, and by 6 March 1932 the rebels had all surrendered. The Lapua organization was subsequently banned.66 The Lapua movement had thus clearly overstepped its limits. Suppression of the Communists was popular in interwar Finland, yet there was, more generally, strong support for the concepts of parliamentary government and law and order, dating back to the struggles against Tsarist autocracy. Svinhufvud himself had been imprisoned and exiled for his defence of the Finnish parliament, and had in his view spent all his life working for a legal social order.67 The “law of Lapua,” that is, the “law” of arbitrary violence, was bound to prove unpopular in a nation that had a ‘’paternalistic’’ stress on law, order and obedience.68 For its part, the Agrarian Union was initially split apart by the rural Lapua movement. Yet in practice, the Lapua movement was ultimately supported mainly by the larger farmers, as well as by right-wing professionals and academics. The movement’s unquestioned support of the capitalist order meant that it was of little practical help to the debt-ridden smaller farmers. The debt problem of Finland’s farmers further widened the gap between the Lapua movement and the Agrarian Union, which withdrew from the government in 1932 when it became clear that the other bourgeois parties would not support credit reflation. Similar tensions within the Agrarian Union led to the formation of two new splinter parties: the Finnish Smallfarmers Party (formed 1929) and the People’s Party (formed 1932) were both populist agrarian parties, the programmes of which drew from social democracy as well as the Agrarian movement. Their

65 This is Linz’s term in his The Breakdown of Democratic Regimes, p. 27 ff. 66 Cf. Kirby, Finland, pp. 89–90. 67 Cf. Marvin Rintala, Three Generations: The Extreme Right Wing in Finnish Politics, Bloomington 1962, p. 192. 68 Dag Anckar notes that the Finnish political culture at the tum of the century was a paternalistic one. See his Liberalism, Democracy and Political Culture in Finland, Åbo [Turku] 1983, p. 10.

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support peaked in the 1933 election, when they won three and two seats respectively.69 In this election (see Table 2), the Agrarian Union lost six seats, a result which showed the effects of appearing insufficiently progressive. More generally, this notion of centre-left agrarianism had clear parallels in Scandinavia but, as we have seen, was alien to Estonia. One should not, however, conclude that Finnish right-radicalism vanished after 1932. In fact, only three weeks after the Mäntsälä revolt, various right-wing figures, including President Svinhufvud, met in an attempt to continue the spirit of Lapua by legal means. On 10 April 1932 a new far-right party, the People’s Patriotic Movement – the Isänmaallinen Kansanliike (IKL) – was established. In its leadership principle and foreign policy, the IKL was clearly a fascist party.70 The IKL had links with the Estonian Veterans, and gave support to the latter’s planned 1935 Putsch. The Lapua movement had been a farmers’ movement which had managed, for a while, to capture broad popular support. The IKL, in contrast, was an elitist party, the vehicle of the Finnish-speaking educated classes. It drew strong support from the clergy and the Academic Karelia Society, with unilingualism and the concept of a “Greater Finland” being carried over from the Society.71 Although the IKL did win 14 seats in both the 1933 and 1936 elections, it remained on the fringes of Finnish politics until being banned in 1944. In the mid-1930s, Finland was governed by minority centrist cabinets with tacit Social Democratic support. After Svinhufvud’s defeat by the Agrarian Kallio (aided by Social Democratic votes) in the presidential election of February 1937, the way was clear for the Social Democrats to re-enter the cabinet. In March 1937, a centre-left coalition government of Progressives, Agrarians and Social Democrats was thus formed. A stable Finnish parliamentary democracy had been established, and would continue.

VI. Conclusions and Theoretical Implications Despite a far more chaotic and divisive separation from Imperial Russia in 1917, democracy ultimately survived in Finland but failed in Estonia. In their study of interwar Europe, De Meur and Berg-Schlosser noted that the greatest discrepancy between the two “most similar” cases of Finland and Estonia occurred “within the area of political culture, indicating that one should investigate this aspect

69 Cf. Alapuro, State and Revolution in Finland, pp. 212–214; and Kalela, Right-Wing Radicalism in Finland, p. 120; Hokkanen, Die finnischen Bauernparteien, p. 184. 70 Cf. Göran Djupsund/Lauri Karvonen, Fascismen i Finland: Högerextremismens förankring hos väljarkåren 1929–1939, Åbo [Turku] 1983, p. 18–19. 71 Cf. Kirby, Finland, pp. 90–91; F. L. Carsten, The Rise of Fascism, 2nd ed.; Berkeley 1980, pp. 164–169.

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and its different components (including their historical roots) more closely.”72 Indeed, as this article has shown, a central part of the explanation for the difference in outcomes involves the presence versus absence of a democratic civic culture in the two nations. In turn, this relates to the long history of democratic rights in Finland, which confirms Dahl’s analysis of the superiority of having competition develop before mass participation,73 rather than both occurring simultaneously, as in Estonia. In a comparative sense, those new interwar nations whose citizens and elites had even limited previous experience with democracy and with public office fared much better in terms of democratic stability than those new nations lacking such a background.74 David Kirby also stresses the importance of the long constitutional traditions in Finland compared to the Baltic states.75 The Finnish elites remained strongly committed to their parliament, and knew how to work within it. Estonian politicians, in contrast, had to learn parliamentary government as they went along, and some never did - or, even tried: for example, the Veterans’ demagogue, the lawyer Artur Sirk, never served in the Riigikogu. However, one should not focus solely on individuals. If Finland had its Ståhlberg, then Estonia had its Tõnisson. Rather, stress should also be placed on the behaviour of political parties. Moderation and a sense of compromise were traits much more evident in the Finnish than in the Estonian parties. Clearly, one good example of this is the contrasting behaviour of the socialist parties. The Finnish Social Democrats accepted the political system that arose after the civil war, and did their best to aid the success of this regime, often by tacitly supporting or at least not obstructing cabinets with conservative, pro-business policy goals. This was of course not always an easy or palatable task – yet Tanner certainly did not want another civil war. When right-radicalism arose in Finland, the Social Democrats minimized polarization by eschewing the revolutionary counter-mobilization adopted by other European socialists in similar situations, thus avoiding the resulting centrifugal breakdown.76 In contrast, the Estonian Social Democrats showed little interest in being in cabinet, and were generally disinclined to cooperate with the centre parties.77 Moreover, they maintained their uncompromising opposition to an executive right to the end, ensuring that the resulting regime change would be far more dramatic than need have been.

72 De Meur/Berg-Schlosser, Comparing Political Systems, pp. 210. 73 Cf. Dahl, Polyarchy, pp. 33–39. 74 Cf. Coakley, Political Succession and Regime Change; and Taagepera, Civic Culture and Authoritarianism, pp. 408–409. 75 Cf. David Kirby, The Baltic World, 1772–1993, Harlow 1995, pp. 328–329. 76 Cf. Alapuro, State and Revolution in Finland, p. 217; Linz, The Breakdown of Democratic Regimes, p. 76. 77 Cf. Vincent E. McHale, The Party Systems of the Baltic States: A Comparative European Perspective. In: Journal of Baltic Studies, 17 (1986), p. 308.

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An even more crucial difference was the contrasting views and behaviour of the ultimately democratic Finnish Agrarians with their Estonian counterparts. The view of the countryside in each country was crucial, given its support for key parties and, more generally, its numerical dominance. It should not be forgotten that Finland was one of the most rural nations in interwar Europe. ­Indeed, in 1930 its share of the economically active population involved in agriculture was higher than that of Estonia and exceeded only by Yugoslavia, Bulgaria, Rumania, Lithuania and Poland, all of which failed at stable democracy. The Finnish Agrarian Union started out as a left-leaning party, moved to the right in the 1920s, but then shifted back leftwards beginning in 1932. In part, this pattern reflected the pragmatic response of a “hinge” party to the situation in each period.78 In part, this also reflected the tensions and divisions within the party. Yet in the end, the clear majority of Finnish Agrarians held certain beliefs about democracy and social justice from which they could not be shaken. In contrast, the Estonian Agrarian Union started out as the effective conservatives on the political spectrum, and always remained right of centre. Moreover, Estonian farmers – whether they supported the Agrarians or their smallholder allies – were primarily interested in a strong government that could deliver specific economic benefits. They did not share the urban population’s broader concerns with the nature of the regime. Post-independence land reform had changed a landowner/peasant economy into an economically modern rural sector without equally “modern” democratic beliefs. As Risto Alapuro argues, the sudden changes in 1917–1919 Estonia produced “an incongruity between the political system and the social structure,” in that authoritarian beliefs carried over into the new regime.79 In summary, both the centre and the dominant left in Finland – unlike in Estonia – were very “Western” in their primary commitment to democracy. Equally, leadership and elites also left their mark, especially on the authoritarian side in Estonia. Contrasting Finland with the Baltic States and Poland, Alapuro notes that “peasant parties [in East­-Central Europe] were largely manipulated by their non-peasant leaders and were less autonomous than the Agrarian Union in Finland.”80 Konstantin Päts, the lawyer-publisher turned Agrarian leader, was a good example of such a political opportunist. In contrast, the Finnish conser­ vative elites proved to be largely bulwarks of democracy, symbolized in Svinhufvud’s radio broadcast to the Mäntsälä rebels: “I have fought throughout my whole long life for law and rights, and I cannot allow that the law now be trampled on.” In 1937, after his bid for presidential re-election failed, Svinhufvud willingly retired to his country estate. This was hardly Päts’ personal choice

78 Cf. David Arter, The Finnish Centre Party: Profile of a ‘Hinge Group.’ In: West European Politics, 2 (1979), pp. 108–10. 79 Alapuro, State and Revolution in Finland, p. 258. 80 Ibid.

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or behaviour.81 Returning to the original theoretical listing of factors favouring democratic development and stability, a comparison of interwar Finland and Estonia thus confirms the importance of (1) a democratic political culture and (2) a strong legitimacy of democracy felt by elites. Democratic stability in Finland was also aided by (3) an institutionalized party system that, while obviously multiparty, was centripetal rather than centrifugal, and which involved organized, disciplined parties with stable support. This, in turn, can be related to the fact that the main Finnish parties had been in existence since before independence, in some cases for decades, whereas the Estonian parties and party system more or less “appeared” in 1917–1919. In addition, (4) the slow progress towards full democracy in Finland allowed the political elites to establish themselves organizationally as well as become comfortable with parliamentarianism. Generally, though, the international and regional environment does not seem to have been crucial for democratic stability in these cases, although it did relate to what followed - that is, Stalin’s successful imposition of Soviet hegemony over Estonia, but failure to do so to Finland in 1940 and unwillingness to do so to Finland in 1944–1945, presumably in part due to the much greater challenge of imposing totalitarian control over a democratic people.82 Moreover, (5) institutions also mattered. The presidency in Finland was an important factor of continuity, and a clear contrast with the three Baltic States and their ultra-democratic systems.83 This conclusion seems to contradict the mooted superiority of parliamentary over presidential systems, yet the reality is more subtle: democratic breakdowns have been most likely in those cases where the president has been very powerful within the political system.84 This, however, was not the case in Finland, where the role of head of government was until 2000 shared between president and prime minister, thus producing what Duverger calls a “balanced” semipresidentialism.85 Indeed, of the eight potential flaws of a presidential system noted by Linz, the post-1919 Finnish system was “flawed” only in terms of the basic definitional features of a single individual (point 1) being elected for a fixed term (point 4). Having the choice, through 1988, made ultimately by interparty bargaining rather than by the national campaign (to the extent there even was one), allowed much more parliamentary-like flexibility.

81 Cf. Panning, The Collapse of Liberal Democracy, pp. 65–66; L.A. Puntila, Politische Geschichte Finnlands 1809–1977, trans. by C.-A. von Willebrand, Helsinki 1980, pp. 160–161; Kirby, Finland, p. 105. The quotation is given in Puntila, Politische on p. 161 (my translation). 82 Cf. Dahl, Polyarchy, pp. 192–193. 83 Cf. Coakley, Political Succession and Regime Change, p. 201; Alapuro, State and Revolution in Finland, p. 259. 84 Cf. Matthew Soberg Shugart/John M. Carey, Presidents and Assemblies: Constitutional Design and Electoral Dynamics, Cambridge 1992, p. 157. 85 Cf. Duverger, A New Political System Model, pp. 173–176.

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A Comparison of Interwar Estonia and Finland

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Equally, not all parliamentary systems are the same. The system arising out of the 1920 Estonian constitution clearly produced a situation of excessive parliamentarianism,86 rendering governments unstable and frustrating the timely passage of legislation. “Pure” proportional representation also ensured that this all-powerful parliament would contain several significant parties. Yet the 1937 Estonian constitution was also quite imbalanced but in the opposite way-towards the executive. Ironically given their fascistic nature, the VABS-inspired constitution of 1933 was not a particularly bad document. If this had been the original constitution – with more mature behaviour by the political parties – then the interwar political evolution of Estonia may well have turned out differently. The rules of the game do shape political behaviour, especially for new players. The comparative history of interwar Estonia and Finland supports the views of Sartori that semipresidentialism – that is, parliamentarianism with a relevant president – is preferable to either pure presidentialism or pure parliamentarianism.87 More generally, the different outcomes of Estonia and Finland show that democratic political culture, a slow transition to democracy, cooperative elite behaviour, an institutionalized and non-polarized party system, and institutional structures are all relevant factors in democratization and democratic consolidation. Comparative analysis should thus stress their interaction as part of the ongoing study of the causes of democratic breakdown versus democratic stability.

86 Cf. Uibopuu, Constitutional Development, pp. 26–27. 87 Cf. Giovanni Sartori, Neither Presidentialism nor Parliamentarism. In: Linz/Valenzuela (eds.), The Failure of Presidential Democracy, pp. 109 f.

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III. Gescheiterte Demokratien

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Die faschistische Machterringung in Italien 1922 – ein welthistorisches Ereignis Günther Heydemann Mussolinis Marsch auf Rom („marcia su Roma“) am 28. Oktober 1922 stellt keineswegs nur ein epochales Datum in der italienischen Geschichte dar, es ist zweifellos auch ein Epochendatum der Weltgeschichte. Denn damit kam eine faschistische Bewegung zum ersten Mal an die Macht. Der politisch riskante Coup d’État, schon bald von den Faschisten selbst zum heroischen Mythos erhoben, wurde nur drei Tage später vom italienischen König Viktor Emanuel III. legitimiert, indem er den Usurpator des Staatsstreiches zum Ministerpräsidenten und gleichzeitig auch zum Innen- und Außenminister ernannte. Auch wenn die Verfassung weiterhin bestand und das von Mussolini gebildete Kabinett eine Koalitionsregierung war, konnte wenig Zweifel daran bestehen, dass sich der neue, faschistische Regierungschef mit der bereits enormen Machtfülle, die ihm die Krone zugestanden hatte, zufriedengeben würde. Das galt auch für die von ihm geführte Bewegung, zumal das bisherige politische Vorgehen der „fasci di combattimento“ (der faschistischen Kampfbünde)1 von hoher Gewalttätigkeit geprägt war. Schließlich hatten die fasci zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele, vor allem der Erringung der Macht, auch vor Repressalien, Folter und Mord nicht zurückgeschreckt. Nach der Machtübernahme in Rom, die ja zugleich eine permanente Besetzung der Hauptstadt durch die ­„squadre“ (Mannschaften, Einheiten) darstellte, ging jedenfalls die Verfolgung von Sozialisten und Kommunisten weiter, wobei auch Angehörige des katholischen „Partito Popolare“ nicht ausgespart wurden. Dass übrigens Adolf Hitler mit seinem Putschversuch in München am 9. November 1923 nur ein Jahr später Mussolinis Marsch auf Rom zu imitieren suchte, ist in Deutschland bis heute so gut wie unbekannt geblieben.2 Bereits zwei Monate nach dem erfolgreichen Putsch erfolgte im Dezember 1922 in Italien eine erste, tiefgreifende Änderung der Verfassung durch die Bildung des faschistischen Großrates, der, aus den Spitzen der faschistischen Bewegung gebildet, zu einem entscheidenden Machtorgan im Staat wurde und

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Vgl. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002. Vgl. Ernst Deuerlein (Hg.), Der Hitler-Putsch. Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923, Stuttgart 1962, S. 316–329.

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den Einfluss des Parlaments erheblich reduzierte. Ein weiterer schwerer Schlag gegen die Verfassung resultierte aus der Reform des Wahlrechts im Juli 1923, wodurch die stärkste Partei automatisch zwei Drittel der Sitze erhielt, was wiederum der faschistischen Partei zu Gute kam. Wenig überraschend errangen die Faschisten im April 1924 daher die absolute Mehrheit. Doch noch immer regte sich Widerstand. Die massive Kritik, die der sozialistische Oppositionsführer Giacomo Matteotti gegenüber dem faschistischen Regime und nicht zuletzt Mussolini selbst wegen schweren Amtsmissbrauchs und fortdauernder Korruption im Parlament geäußert hatte, führte nach dessen Ermordung durch faschistische squadre am 10. Juni 1924 zu einer tiefen Krise des neuen Regimes. Nach heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen des ­„Partito Nazionale Fascista“ (PNF) machte Mussolini Tabula rasa, indem er jeden, auch innerparteilichen, Widerstand gegen seine Führungsrolle beseitigte, alle Parteien bis auf den PNF verbot, die Meinungs- und Pressefreiheit aussetzte sowie jegliche kommunale Selbstverwaltung aufhob. Im Januar 1925 war die Transformation von einer Demokratie zu einer faschistischen Diktatur mit totalitärem Anspruch abgeschlossen. Die Erringung, Durchsetzung und Etablierung einer faschistischen Diktatur innerhalb von wenig mehr als zwei Jahren in Italien war der erste, spektakuläre Zusammenbruch einer Demokratie im Europa nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Bedeutung zu sehr in den Schatten der nationalsozialistischen Machterringung elf Jahre später geraten ist. Dies ist zweifellos auf die noch einmal gesteigerte Radikalität und die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus zurückzuführen. Tatsächlich ist aber dessen Aufstieg in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland und die „Auflösung der Weimarer Republik“ nicht ohne die Vorbildwirkung des italienischen Faschismus zu denken.3

I.

Grundzüge der Forschungsentwicklung

Die Erforschung des italienischen Faschismus stand längere Zeit unter dem Eindruck seiner raschen Durchsetzung und Machterringung. Insofern waren die ersten Darstellungen und Analysen, oft von Emigranten verfasst, vor allem auf die Jahre seiner Entstehung und Herausbildung als politische Bewegung zwischen

3

Vgl. Karl-Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955, seither mehrfache Auflagen. Zur Perzeption der faschistischen Bewegung während der Weimarer Demokratie vgl. hierzu jüngst Matthias Damm, Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2013. Zu den außenpolitischen Beziehungen des faschistischen Italiens mit Weimar und den Kontakten zwischen der faschistischen Partei und der NSDAP s. Federico Scarano, Mussolini e la Repubblica di Weimar: le relazioni diplomatiche tra Italia e Germania dal 1927 al 1933, Neapel 1996.

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März 1919 und Oktober 1922 fokussiert.4 Die nationalsozialistische Machterringung 1933 führte zwar erneut zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Faschismus insgesamt, doch die internationale geschichts- und politikwissenschaftliche Forschung war nun stärker auf den Nationalsozialismus fokussiert. Eine zweite Phase der Faschismusforschung nach 1945 bis etwa 1980 war einerseits stark von der Auseinandersetzung mit der Totalitarismustheorie geprägt, die „im Zeichen des Kalten Krieges rasch zu einem konkurrierenden Interpretationsmodell des Faschismus avancierte“.5 Andererseits entstanden in den 1960er- und 1970er-Jahren geradezu geschichtswissenschaftliche Klassiker zum Faschismus, auch wenn deren implizite Deutungen bis heute kontrovers diskutiert werden, wie z. B. Renzo De Felices Monumentalwerk „Mussolini il fascista“,6 die zwölfbändige Geschichte Italiens von Giorgio Candeloro7 sowie die vergleichende angelegte Darstellung Ernst Noltes „Der Faschismus in seiner Epoche“.8 In der Tat unterlag die Faschismusforschung in Italien bis Anfang der 1960erJahre einem subkutanen politisch-ideologischen Verdikt. Eine antifaschistische

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Vgl. z. B. Gaetano Salvemini, The Facist Dictatorship in Italy, New York 1927; dessen umfassende Darstellung ders., The Origins of Fascism in Italy, New York 1973, posthum erschienen; sowie die allerdings orthodox-marxistische Darstellung von Angelo Tasca, La naissance du fascisme. L’Italie de 1918 à 1922, Paris 1938. Bis heute herausragend ist die kompakte Darstellung von Federico Chabod, die auf Vorlesungen beruht, welche er in den 1940er-Jahren erarbeitete und 1950 an der Pariser Sorbonne hielt; vgl. ders., L’Italia contemporanea (1918–1948), Torino1961. So zutreffend Thomas Schlemmer/Hans Woller, Politischer Deutungskampf und wissenschaftliche Deutungsmacht. Konjunkturen der Faschismusforschung. In: dies., Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung, München 2014, S. 7–16, hier 8. Siehe auch Rainer Behring, Italien im Spiegel der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung. Ein Literaturbericht (2006–2013). In: Archiv für Sozialgeschichte, 54 (2014), S. 345–394. Einen guten Überblick über die Faschismusdiskussion gibt auch Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006, S. 13–46. Dort insgesamt jeweils weitere detaillierte Literaturhinweise. Vgl. Renzo De Felice, Band 1: Mussolini il rivoluzionario, 1883–1920, 1. Auflage Torino 1965 (neueste Ausgabe 2005); Band 2.1.: Mussolini il fascista: La conquista del potere, 1921–1925, 1. Auflage Torino 1966 (4. Auflage 2005); Band 2.2.: Mussolini il fascista: L’organizzazione dello stato fascista, 1925–1929, 1. Auflage Torino 1968 (neueste Ausgabe 2008); Band 3.1.: Mussolini il duce: Gli anni del consenso, 1929–1936, 1. Auflage Torino 1974 (5. Auflage 2007); Band 3.2.: Mussolini il duce: Lo stato totalitario 1936–1940, 1. Auflage Torino 1981 (5. Auflage 2007); Band 4.1.1.: Mussolini l’alleato: L’Italia in guerra, 1940–1043. Dalla guerra „breve“ alla guerra lunga, 1. Auflage Torino 1990 (4. Auflage 2008); Band 4.1.2.: Mussolini l’alleato: L’Italia in guerra 1940–1943. Crisi e agonia del regime, 1. Auflage Torino 1990 (4. Auflage 2008); Band 4.2.: Mussolini l’alleato: La guerra civile 1943–1945, Torino 1. Auflage 1997 (3. Auflage 2008). Vgl. Giorgio Candeloro, Storia dell’Italia moderna, aus gemäßigt marxistischer Sicht, siehe zum Faschismus die Bände VIII: La prima guerra mondiale, il dopoguerra, l’avvento del fascismo (1914–1922), Milano 1978; Band IX: Il fascismo e le sue guerre (1922–1939), Milano 1981; Band X: La seconda guerra mondiale, la Resistenza, la Repubblica (1939–1948), Milano 1984. Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française, der italienische Faschismus, der Nationalsozialismus, 1. Auflage München 1963 (6. Auflage 2008).

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Grundeinstellung herrschte in der Gesellschaft und der Geschichtswissenschaft vor, sodass sich liberale wie marxistische Historiker und Politologen scheuten, sich mit dem Faschismus als historische Entität im eigenen Land und in der eigenen Geschichte wissenschaftlich näher auseinanderzusetzen. Emilio Gentile hat dies in einer historiografischen Rückschau prägnant auf den Punkt gebracht: „Violence, class interests and opportunism were the only valid categories for defining fascism.“9 Diese gleichsam kanonische Interpretation des Faschismus erfuhr erst durch De Felices Werke und eine Generation jüngerer Forscher ab Mitte der 1960erJahre eine Absage, da sie zu Recht für zu schematisch und undifferenziert gehalten wurde. Zunehmend rückten Fragen nach der besonderen Spezifik des italienischen Faschismus, seinem Vergleich mit anderen Faschismen, nicht zuletzt dem Nationalsozialismus, der Bedeutung, Rolle und Funktion der Persönlichkeit Mussolinis für den Faschismus und besonders die Frage in den Vordergrund, ob der Faschismus wirklich nur bloßes Instrument eines bürgerlichen Klasseninte­resses gewesen sei.10 Die jüngere Faschismusforschung geht inzwischen, was den letztgenannten Punkt betrifft, nicht zuletzt auch aufgrund einer seither ebenfalls erheblich breiteren Quellenbasis und -exegese davon aus, dass der Faschismus zwar seine Ursprünge im städtischen Bürgertum hatte, aber seine rasche Entwicklung zu einer politisch dominierenden Bewegung in Italien ab Ende 1920 vor allem durch große und kleine Landbesitzer gewann, die sich gegen die wirtschaftlichen und sozialen Forderungen von Lohnarbeitern und Tagelöhnern zu wehren begannen (fascismo agrario). Weit weniger wurde der Faschismus hingegen durch Unternehmer und Fabrikbesitzer unterstützt: „The objective of the industrial and financial bourgeoisie on the eve of the march on Rome was a liberal-conservative fascism and not the fusion of the powers of the State with the powers of the Fascist Party.“11 Davon abgesehen habe die faschistische Bewegung sowohl in Opposition zum Sozialismus und gewerkschaftlichen Vereinigungen als auch gegenüber der herrschenden Oberschicht gestanden, mit dem erklärten Ziel, das liberale System abzuschaffen. Zugleich war der italienische Faschismus ein in der europäischen Geschichte neues politisches Phänomen: „Fascism was the first mass movement of revolutionary nationalism to seize power in a liberal democracy, the first to function as an ,armed party‘ and explicitly assert its will to organize the nation in a totalitarian manner.“12 Seither stellt die Einbettung des Faschismus in Italien in den historischen Kontext nach dem Ersten Weltkrieg und seine Historisierung als elementarer Bestandteil der italienischen Geschichte einen zentralen Forschungsansatz dar, dem eine Fülle

 9 Emilio Gentile, Fascism in Italian Historiography: In Search of an Individual Historical Identity. In: Journal of Contemporary History, 21 (1986), S. 179–208, hier 180 f. 10 Diese Debatte zusammenfassend vgl. z. B. Renzo De Felice, Le interpretazioni del fascismo, Bari 1969. 11 Gentile, Fascism, S. 189. 12 Ebd., S. 202.

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von regional- und lokalgeschichtlich ausgerichteten Studien zugrunde liegen, welche den bisherigen Stand der Forschung zur Entstehung und Entwicklung des Faschismus erheblich erweiterten. Für ein Land, das bis heute stark von seinen Regionen und lokalen Traditionen geprägt ist, war bzw. ist dies ein wichtiges historiografisches Korrelat. Nicht zuletzt erstellten aber auch angloamerikanische Historiker und Politologen umfassende Analysen, wobei insbesondere Roger Griffins Definition, der zufolge Faschismus „eine politische Ideologie [sei], deren mythischer Kern in seinen diversen Permutationen eine palingenetische Form von populistischem Ultra-Nationalismus ist“13, überwiegend Zustimmung fand.Es waren vor allem angloamerikanische Historiker und Politologen, die eingehende Untersuchungen zum italienischen Faschismus vorlegten, so z. B. Walter Laqueur,14 Stanley Payne,15 Robert Paxton,16 Adrian Lyttelton,17 Tim Mason,18 Philip Morgan19 sowie der bereits genannte Roger Griffin.20 Besonders auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung des Faschismus und der sozialen Lage der agrarischen Bevölkerung ist die Untersuchung von Dahlia Sabina Elazar fokussiert.21 Ein bis heute kontrovers diskutierter Punkt ist die Persönlichkeit, Rolle und Funktion des „Duce“ Benito Mussolini im italienischen Faschismus.22 Doch schon aufgrund der historischen Parallelität, der ähnlichen Ideologien und der politisch-militärischen Kooperation der Faschismen südlich und nördlich der Alpen stand der italienische Faschismus auch kontinuierlich im Blickfeld der deutschen Forschung. Hier gab es neben der Einzelforschung immer wieder stark beachtete wissenschaftliche Debatten, in denen die Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen italienischem Faschismus und Nationalsozialismus breit diskutiert wurden.23 13 Roger Griffin, Palingenetischer UItranationalismus. Die Geburtswehen einer neuen Faschismusdeutung. In: Schlemmer/Woller (Hg.), Faschismus in Europa, S. 17–34, hier 17. 14 Vgl. Walter Laqueur (Hg.), Fascism: A Reader’s Guide. Analyses, Interpretations, Bibliography, Berkeley 1976. 15 Vgl. Stanley Payne, Fascism: Comparison and Definition, Wisconsin 1980. 16 Vgl. Robert Paxton, The Anatomy of Fascism, New York 2004 (dt. Übersetzung München 2006). 17 Vgl. Adrian Lyttelton, The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919–1929. Rev. Edition Princeton 2004 (First Edition 1973). 18 Vgl. Jane Caplan (Hg.), Nazism, Fascism, and the Working Class. Essays by Tim Mason, Cambridge 1995. 19 Vgl. Philip Morgan, Italian Fascism, Houndmills 2004. 20 Vgl. Roger Griffin, The Nature of Fascism, London 1991, sowie ders./Matthew Feldman, Fascism, 5 Bände, London 2004. 21 Vgl. Dahlia Sabina Elazar, The Making of Fascism. Class, State, and Counter-Revolution, Italy 1919–1922, Westport 2001. 22 Siehe hierzu Richard J. Bosworth, The Italian Dictatorship. Problems and Perspectives in the Interpretation of Mussolini and Fascism, London 1998; neueste Biografie in deutscher Sprache siehe Hans Woller, Mussolini, Der erste Faschist, München 2016. 23 Vgl. Wolfgang Schieder, Faschismus und kein Ende? In: NPL, 15 (1970), S. 166–187; sowie ders. (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung, Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976; ders., Italien in der zeitgeschichtlichen Forschung Deutschlands. In:

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Eine dritte Etappe der Faschismusforschung setzte in den 1980er-Jahren ein, die vor allem auf drei Feldern aktiv wurde, insbesondere einer erneut komparativen Erforschung weiterer „Faschismen“ bzw. faschistischer Bewegungen in Europa, dann der Kriegführung des faschistischen Italiens, seiner Innen- und Rassenpolitik sowie der Außenpolitik des italienischen Faschismus.24 In jüngerer Zeit sind die Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung wieder stärker in den Fokus gerückt. Das hat zur Folge gehabt, dass die temporäre Herauslösung des Nationalsozialismus aus dem Faschismus und die parallel dazu dominierende historiografische Einschätzung seiner Ausnahmestellung als extrem radikale faschistische Diktatur gerade durch weitere Forschungen zum italienischen Faschismus wieder ein Stück weit relativiert wurde,25 zumal in einer Reihe von eingehenden Studien nachgewiesen werden konnte, dass Rassismus, Antisemitismus, Radikalität und Gewaltbereitschaft auch im italienischen Faschismus prägende Wesensmerkmale waren.26 Auch haben neuere Forschungen ergeben, dass die Gesellschaft im faschistischen Italien der Partei und den Massenorganisationen sowie den staatlichen Behörden durchaus zugearbeitet hat.27 Gleichwohl werden der Vergleich von italienischem Faschismus und Nationalsozialismus, das Beziehungsverhältnis zwischen Faschismus und Moderne sowie „die Einordnung des faschistischen Regimes in die Kontinuität der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Italiens im Gesamtzusammenhang des 20. Jahrhunderts“ weiter Forschungsschwerpunkte bilden.28



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NPL, 38 (1993), S. 373–391, und ders., Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008; sowie ders., Der italienische Faschismus, 1919–1945, München 2010. In diesen Zusammenhang gehört auch die Veröffentlichung der Debatte des Instituts für Zeitgeschichte: Der Italienische Faschismus. Probleme und Forschungstendenzen, München 1983; sowie Jens Petersen/Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat, Wirtschaft, Kultur, Köln 1998. Hierzu maßgeblich auch die Arbeiten von Hans Woller, Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 1996; ders., Rom, 28. Oktober 1922. Die faschistische Herausforderung, München 1999; und ders., Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010. Siehe auch Sven Reichardt/Armin Nolzen (Hg.), Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005; sowie Petra Terhoeven (Hg.), Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2010. Zum Faschismus siehe auch die ausgewogene Analyse und Beurteilung in der bis heute besten deutschen Gesamtdarstellung der Geschichte Italiens von Rudolf Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, 4., durchgesehene Auflage Darmstadt 1988 (Erstauflage 1980), dort zum Faschismus, S. 290–385. Vgl. die bei Schlemmer/Woller (Hg.) genannte Literatur, Faschismus in Europa, S. 11–14. Hierzu besonders Emilio Gentile, La via italiana al totalitarismo. Il partito e lo stato nel regime fascista, Roma 1995; sowie Michael Ebner, Terror und Bevölkerung im italienischen Faschismus. In: Reichardt/Nolzen (Hg.), Faschismus in Italien, S. 201–224. Siehe z. B. Giorgio Fabre, Mussolini Razzista. Dal socialismo al fascismo: la formazione di un antisemita, Milano 2005; Michele Scarfatti, The Jews in Mussolini’s Italy. From equality to persecution, Madison 2006; dazu erneut Schlemmer/Woller (Hg.), Faschismus in Europa, S. 13. Vgl. Alberto Aquarone/Maurizio Vernassa (Hg.), Il regime fascista, Bologna 1974; sowie besonders Giulia Albanese, Marcia su Roma, Bari 2006. So zutreffend Behring, Italien, S. 393 f.

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Seit mehr als drei Jahrzehnten beruht die Faschismusforschung inzwischen auf einer breiten Quellenbasis, zu der vor allem auch die intensiv betriebene Regional- und Lokalgeschichtsforschung enorm beigetragen hat. Ebenso wichtig ist aber auch, dass die frühe Faschismusforschung, die längere Zeit eng auf die Entstehungs- und frühen Entwicklungsjahre fokussiert gewesen ist, abgelöst wurde von einer sehr viel breiteren und historisch weiter zurückreichenden Pers­pektive. Der Marsch auf Rom Ende Oktober 1922 war kein „Betriebsunfall“, keine bloße Ausnahmeerscheinung der italienischen Geschichte, wie es noch Benedetto Croce formuliert hat, sondern ging auch und nicht zuletzt auf politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und psychologisch-mentale Defizite und Fehlentwicklungen zurück, welche die Apenninen-Halbinsel teilweise schon Jahrhunderte zuvor negativ geprägt hatten. Erst wenn solche Makrostrukturen herausgearbeitet und angemessen berücksichtigt werden, wird man zu einer ausgewogenen Beurteilung des italienischen Faschismus gelangen. Insofern ist Rainer Behrings Feststellung zuzustimmen, dass das Königreich Italien vor 1922 „nicht allein als Beispiel eines nationalstaatlichen Entwicklungspfades im Europa des Imperialismus sowie des Ersten Weltkriegs und seiner Nachwirkungen und schon gar nicht als bloße Vorgeschichte des Faschismus […] eine neue, unbefangene und offene Betrachtung verdient“, sondern vielmehr unter der leitenden Fragestellung, „welche Chancen und welchen Eigenwert dieses liberale Italien im Hinblick auf sein politisches und gesellschaftliches System, seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung hatte“.29

II.

Strukturelle Vorbedingungen und Belastungen

Die Entwicklung des Parlamentarismus und der Demokratie war in der Geschichte Italiens ein schwieriger, letztlich nur partiell geglückter Prozess, der das Aufkommen des Faschismus erheblich begünstigt hat, ohne einem historischen Determinismus das Wort zu reden. Tatsächlich standen der Herausbildung einer integrativen Demokratie und der Entwicklung einer modernen Industriegesellschaft von Anfang an gewichtige strukturelle Probleme gegenüber, die bereits mit der Landesnatur, der spezifischen Geografie und Topografie der lang gezogenen Halbinsel, beginnen. Das gilt sowohl für die landwirtschaftliche Bebauung als auch für die Infrastruktur und die Entwicklung der Industrialisierung. Zunächst ist Italien, abgesehen von der Po-Ebene, ein durch und durch gebirgiges Land. Das gilt vom Nordrand der Apenninen bis zur Südspitze Siziliens. Nur 20 Prozent ist tatsächlich fertiler, landwirtschaftlich nutzbarer Boden, 80 Prozent liegen auf hügeligem oder gebirgigem Gebiet.30 Der Kampf um die

29 Ebd., S. 392. 30 Vgl. Federico Chabod, L’Italia contemporanea (1918–1948), 27. Auflage Torino 1961, S. 32.

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­ utzung von Anbauflächen durchzieht die Geschichte Italiens daher wie ein N roter Faden – und dies seit der Antike; denn von anbaufähigem Landbesitz hing nicht nur die sozioökonomische Lage sozialer Schichten ab, sondern auch deren jeweilige Positionierung in der Stratifikation der Gesellschaft. Doch was die Besitzverhältnisse angeht, herrschte im Italien des 19. Jahrhunderts und teilweise bis einige Jahre nach 1945 ein massives Ungleichgewicht vor. Neun Zehntel der agrarischen Bevölkerung, die zugleich die Masse der italienischen Bevölkerung bildete, war beim Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg 1915 ohne jeglichen Landbesitz, während ein Zehntel über Großgrundbesitz oder zumindest Mittelund Kleinbesitz verfügte. Der größte Teil der Gesellschaft befand sich somit in einer von Anfang an – und das seit Jahrhunderten – prekären, sozioökonomischen Lage. Der soziale Unterschied zwischen Halbpächtern (mezzadri), Landarbeitern (braccianti) und Tagelöhnern (salariati) bzw. Saisonarbeitern war dabei relativ gering. Ihr Überleben hing letztlich von den jeweiligen saisonalen Ernteerträgen ab. Unter der ländlichen Bevölkerung existierte daher ein ständiger Hunger nach Landbesitz (fame di terra). Insofern bildete das 1915 gegebene Versprechen seitens der Regierung an die Landbevölkerung, nach Gewinn des Krieges eine Bodenreform mit entsprechender Umverteilung vorzunehmen, ein gewichtiges Motiv für viele Italiener, die Waffen zu ergreifen.31 Daneben erschwerten die verschiedenen Gebirgsketten, die das Land durchziehen, je nach geografischer Ausrichtung auch die Mobilität der Bevölkerung. Zugleich verteuerten sie die Kosten der Infrastruktur, da aufwendige Baumaßnahmen die schwierige Topografie des Landes erst überwinden mussten. So konnte z. B. eine durchgehende Bahnverbindung zwischen Venedig und Brindisi erst in den 1920er-Jahren fertiggestellt werden. Sicher ist jedenfalls, dass auch die spezifischen geografischen Bedingungen Italiens den im Vergleich zu England, Frankreich oder Belgien erheblich später einsetzenden Industrialisierungsprozess zu Ende des 19. Jahrhunderts erschwert haben. Noch unmittelbar vor Kriegsausbruch 1914 waren 55 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig.32 Nur 28 Prozent der Italiener waren in der Industrie beschäftigt.33 Erst in den späten 1920er-Jahren, also zu einem Zeitpunkt, als der Faschismus längst an der Macht war, wurde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erstmals zu mehr als 50 Prozent von der Industrie erwirtschaftet, was gemeinhin als Kriterium für die Ausbildung eines Industrie­ staats gilt. Der italienische Industrialisierungsprozess selbst ist wiederum dadurch stark behindert worden, dass die entscheidenden Rohstoffe, nämlich Eisenerz und Kohle, nicht vorhanden waren, sondern permanent eingeführt werden mussten. Zu der späten und vergleichsweise langsamen Industrialisierung des Landes

31 Zur Sozialgeschichte Italiens zwischen 1861 und 1914 siehe umfassend Jonathan Dunnage, Twentieth Century Italy: A Social History, London 2002, S. 4–37. 32 In Deutschland waren es im Vergleich dazu im gleichen Jahr noch 35 %. 33 Vgl. Dunnage, Twentieth Century Italy.

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kommt hinzu, dass sich diese zu gut drei Viertel auf das Städtedreieck Turin, Mailand, Genua im Nordwesten konzentrierte. Ansonsten entwickelten sich industrielle Inseln nur um größere Hafenstädte, mit abnehmender Tendenz nach Süditalien (mezzogiorno), das bis heute stärker agrarisch als industriell geprägt geblieben ist. Dieses sozioökonomische Ungleichgewicht bestand bereits vor der ersten Industrialisierungswelle ab den 1860er-Jahren, wurde aber noch einmal verstärkt durch den zweiten Industrialisierungsschub vor und durch den Ersten Weltkrieg. Das „Mezzogiorno-Problem“ ist bekanntlich bis heute nicht gelöst, sondern existiert weiter fort. Dieses Ungleichgewicht hatte nicht nur massive Auswanderungswellen zur Folge, im Übrigen die größten innerhalb Europas mit insgesamt ca. 16 Millionen Menschen zwischen 1861 und 1920,34 sondern nach wie vor resultieren daraus beträchtliche Unterschiede hinsichtlich des Einkommens, der Lebensumstände, des politischen Verhaltens und nicht zuletzt der Mentalitäten zwischen Nord- und Süditalienern. Insofern trifft die Feststellung von Frank M. Snowden zu, dass Italien ein Jahr nach dem Ersten Weltkrieg „should be characterized neither as industrialized nor as underdeveloped, but as slowly and very unevenly industrializing“.35

III. Das Risorgimento im 19. Jahrhundert – ein defizitärer ­„Nation-building“-Prozess Der italienische Nationalstaatsbildungsprozess im 19. Jahrhundert, das „Risorgimento“ (Wiederauferstehung), durch den zunächst die Jahrhunderte lange politische Fragmentierung der Halbinsel überwunden wurde, ist ganz überwiegend das Werk einer bürgerlich-aristokratischen Elite gewesen. Seit 410, seit dem Ende des spätrömischen Reiches, hatte es keine staatliche Einheit Italiens mehr gegeben. Doch die breite Masse der sozialen Unterschichten, insbesondere der Bauernschaft, Tagelöhner und Hilfsarbeiter mit einem Anteil von 70 bis 80 Prozent an der Gesamtgesellschaft, hatte am Prozess der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert so gut wie keinen Anteil. Das Interesse der Bauern am Prozess der Nationalstaatsbildung basierte vielmehr auf der Hoffnung, eigenes Land zu bekommen. Zugleich wollten sie von den drückenden, spätfeudalen Lasten, die ihnen die Großgrundbesitzer, die „padroni“, nach wie vor auferlegten, befreit werden. Diese Hoffnung hatte jedoch bereits der dem Sozialismus nahestehende Garibaldi beim „Zug der Tausend“ in den Jahren 1859/60 schwer enttäuscht. Und als 1861 der vorläufige italienische Einheitsstaat erstmals entstanden war (noch immer fehlten das österreichische Venedig und seine Terra ferma sowie der Kirchenstaat, die jeweils

34 Vgl. Peter Hertner, Italien 1850–1914. In: Handbuch der Europäischen Wirtschaftsgeschichte, Band 5, S. 705–776, hier 720 f. 35 Vgl. Frank M. Snowden, On the Social Origins of Agrarian Fascism in Italy. In: European Journal of Sociology, 13 (1972), S. 268–295, hier 268.

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1866 und 1870/71 zum Nationalstaat hinzutraten und den Nation-building-Prozess abschlossen), musste schon 1863 das Kriegsrecht gegen die aufständische Landbevölkerung vor allem im Süden Italiens angewendet werden, um den neu geschaffenen nationalen (Rumpf-)Staat nicht sogleich wieder instabil werden zu lassen.36 Tief enttäuscht, dass der neue Nationalstaat piemontesisch-sardinischer Prägung keine Bodenreform durchführte, ihnen gleichzeitig aber die Wehrpflicht auferlegte, kam es bereits zwei Jahre nach Gründung des italienischen Nationalstaats zu bürgerkriegsähnlichen Aufständen der Bauern und Tagelöhner, die mit Gewalt niedergeschlagen wurden. Das hat bereits zu einem Zeitpunkt, als der italienische Nationalstaatsprozess noch nicht einmal abgeschlossen worden war, zu einer massiven Entfremdung zwischen der breiten Masse der fast durchweg analphabetischen bäuerlichen Schichten und dem neuen Staat geführt. Nicht umsonst wurden sie mit dem umgangssprachlichen Begriff „cafoni“ (Bauerntölpel bzw. Bauernrüpel) tituliert. Bekannt ist der Ausspruch des Grafen Massimo d’Azeglio, der nach der ersten Erreichung des italienischen Einheitsstaates trocken feststellte: „Italien ist nun geschaffen, aber jetzt müssen wir erst noch Italiener schaffen!“ („Fatta l’Italia, adesso dobbiamo fare gli Italiani!“) Ein weiterer, durchaus entscheidender politisch-mentaler Faktor, welcher zur Nicht-Integration bzw. zur Distanz breiter Schichten, nun aber auch unter Einschluss von Teilen des Bürgertums, zum neuen Einheitsstaat geführt hat, war die intransigente Haltung des Papsttums und der katholischen Kirche zum neuen Nationalstaat. Schon um die Eigenstaatlichkeit des Patrimonium Petri und damit jegliche Gefährdung des kirchenstaatlichen Territoriums nicht zu gefährden, widersetzte sich der Heilige Stuhl allen Bestrebungen, einen natio­nalen italienischen Einheitsstaat zu schaffen. Seit der Einnahme und Besetzung des Kirchenstaates am 20. September 1870 und damit der eigentlichen Vollendung des italienischen Nationalstaates betrachtete sich Papst Pius IX. als Gefangener des neuen Staates und verbot mit der Enzyklika „Non expedit“ aus dem Jahr 1874 allen Katholiken bei Strafe der Exkommunizierung die politische Mitwirkung am neuen Einheitsstaat. In einem tief katholischen Land wie Italien resultierte daraus, dass die große Mehrheit der katholischen Gläubigen diesem Gebot Folge leistete und dadurch an der politischen Gestaltung des neuen Italien jahrzehntelang nicht mitwirkte.37 Immerhin milderte Papst Pius X. die Enzyklika „Non expedit“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts insoweit ab, als er erstmals eine katholische Wählerorganisation zuließ, die bei den Wahlen von 1904 und 1909 auch einige Abgeordnete ins Parlament entsenden konnte.38 Aber erst mit den Lateran-Verträgen, die der Faschismus 1929 mit dem Vatikan abschloss, ist dieses Hindernis aus dem Weg geräumt worden. Dadurch wurde, nach mehr als einem halben Jahrhundert, die Aussöhnung des italienischen Nationalstaates mit 36 Vgl. Salvatore Scarpino, Il brigantaggio dopo l’unità d’Italia, Milano 2000. 37 Vgl. Lill, Geschichte Italiens, S. 194 f. 38 Vgl. ebd., S. 248.

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dem Papsttum und der katholischen Kirche vollzogen; doch zugleich bewirkte das Abkommen auch eine erhebliche Stärkung der Akzeptanz des Faschismus in der italienischen Gesellschaft.

IV.

Mangelnde Integration durch Verfassung und Wahlrecht

Nicht zuletzt haben aber auch Verfassung und Wahlrecht die Integration und Partizipation der Masse der italienischen Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg blockiert. Die im Zuge der ersten Revolutionswirren des Jahres 1848 erlassene Verfassung in Piemont-Sardinien, das „Statuto Albertino“ (4. März 1848) von König Karl Albert, die stark an die französische Charte von 1830 angelehnt war, sollte, obwohl sie der königlichen Macht nach wie vor die entscheidende Prärogative sicherte, eine erstaunliche Lebenskraft entwickeln. Denn nahezu 100 Jahre lang bildete sie die konstitutionelle Grundlage der italienischen Verfassung bis zum Jahr 1946.39 Das „Statuto“ hätte somit durch entsprechende Änderungen durchaus als Verfassung „die Entwicklung vom konstitutionellen zum parlamentarischen Regierungssystem“40 Italiens ermöglichen können und dadurch den – wenn auch langen Weg – zu demokratischen Strukturen. Das Wahlrecht war jedoch „durch Alters-, Vermögens- und Bildungsklauseln außerordentlich eingeengt“.41 Wahlberechtigt waren demzufolge nur „die mindestens 25-jährigen, männlichen, lese- und schreibkundigen Bürger, die einen jährlichen Zensus an direkten Steuern von mindestens 40 Lire überschritten“.42 Im Statuto selbst erhielten faktisch nur die maßgeblichen politischen und wirtschaftlichen Träger des piemontesisch-sardinischen Staates die Zugangsrechte, das heißt der Adel im Senat und das Besitzbürgertum in der Kammer. Es handelte sich somit um eine oligarchische Elite, „die einerseits Träger eines liberalen Modernisierungsprojektes für alle war, andererseits zugleich ein monopolitisches Konzept der Machtausübung vertrat“.43 Vier Fünftel dieser Elite waren zudem Landbesitzer. Bei einer Gesamtbevölkerung Italiens von 22 Millionen im Jahre 1861 besaßen daher nur rund 418 000 Bürger das Wahlrecht. Das waren 1,9 Prozent.44 Damit wurde gleich mit der Gründung des italienischen 39 Hierzu umfassend Giorgio Candeloro, Storia dell’Italia moderna. Volume terzo: La rivoluzione nazionale 1846–1849, Milano 1979, S. 130–133. 40 Vgl. Lill, Geschichte Italiens, S. 131. 41 Reinhold Schumann, Geschichte Italiens, Stuttgart 1983, S. 211. 42 Marco Sagrestani, Parlamentarische Partizipation und Repräsentation in Italien in den beiden Jahrzehnten nach der Vereinigung. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 16 (2004), S. 89–101, hier 91. 43 Ebd., S. 90. 44 Allerdings erhöht sich das Zahlenverhältnis, wenn man die Relation zwischen volljährigen männlichen Bürgern und Wahlberechtigten in Betracht zieht auf ca. 8 %. Vgl. ebd., S. 91, Anm. 4. Zwischen 1861 und 1881 waren im Vergleich zu Italien 5,7 % in Spanien, 5,9 % in Österreich, 8,8 % in Großbritannien, 19 % in Preußen, im Deutschen Kaiserreich 20,6 % und in Frankreich 26,9 % männliche Wähler wahlberechtigt; vgl. ebd., S. 93, Anm. 18.

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­ ationalstaats die breite, das heißt ländliche Masse der Bevölkerung ausgeN schlossen und sollte es auch noch für einige Jahrzehnte, auch nach dem abgeschlossenen Nationalstaatsprozess 1871, bleiben. Zu berücksichtigen ist allerdings gleichzeitig, dass die Analphabetenquote bei den sozialen Unterschichten außerordentlich hoch war. So waren 1861 noch 78 Prozent der Gesamtbevölkerung Analphabeten mit steigenden Raten von Nord- nach Süditalien. Erst 1877 wurde die allgemeine Schulpflicht mit zwei Klassen Volksschule eingeführt und gesetzlich vorgeschrieben, ohne freilich überall befolgt zu werden. Noch 1921 waren mehr als ein Drittel der italienischen Gesamtbevölkerung des Lesens und Schreibens unkundig.45 1882 ist das Wahlgesetz erstmals reformiert worden, wobei aber grundsätzlich an Besitz und Bildung als Wahlrechtskriterien festgehalten wurde. Der Zensus, das heißt das jährliche Steueraufkommen, wurde halbiert, das Alter der Wahlberechtigung auf 21 Jahre herunter- und der Besuch von zwei Jahren Volksschule vorausgesetzt. Dadurch stieg die Zahl der Wahlberechtigten auf über 2 Millionen und erhöhte sich somit von 2 auf nahezu 7 Prozent hinsichtlich der Gesamtbevölkerung; bezogen auf die volljährigen Männer ergab sich ein Anteil von 24,3 Prozent. Das bedeutete zwar eine Erweiterung der Wahlberechtigten um mehr als das Dreieinhalbfache, schloss aber nach wie vor rund drei Viertel der männlichen Wählerschaft aus.46 Das nun erweiterte Wählerpotenzial wurde jedoch niemals völlig ausgeschöpft, da sich viele Wahlberechtigte nicht an den Wahlen beteiligten und weiter in politischer Abstinenz („assenteismo“ = Abwesenheits- bzw. Verweigerungshaltung) verharrten.47 Abgesehen von dem nach wie vor weit verbreiteten Desinteresse am politischen Leben war dies auch eine Folge des päpstlichen bzw. kirchlichen Diktums, sich nicht am politischen Leben beteiligen zu dürfen. Zudem existierte aufgrund der gegebenen Verhältnisse auch noch keine katholische Partei. Erst im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende entstanden gegen die liberalen Honoratiorenparteien, die weiter die Macht in der Hand hielten, die sozialistische Partei sowie Anfänge einer katholischen Wählerorganisation im Gefüge des bestehenden politisch-liberalen Klassensystems, einschließlich ihrer Subkulturen und Milieus. Somit lässt sich in Italien erst ab Ende der 1880er-Jahre von einem zwar langsam entstehenden, aber noch keineswegs ausgebildeten Parteiensystem sprechen. Insofern bestanden massive politische Partizipations- und soziale Integrationsdefizite des jungen italienischen Nationalstaats fort. 45 Erst 1961 war die Analphabetenrate auf 8 % gesunken. Vgl. Gabriele Ballarino, Das italienische Bildungs- und Ausbildungssystem. In: Karoline Rörig/Ulrich Glassmann/Stefan Köppl (Hg.), Länderbericht Italien, Bonn 2012, S. 160–183, hier 163. 46 Vgl. ebd., S. 97 f. Die Wahlbedingungen wurden 1882 ebenfalls geändert, indem die bisherigen Einmannwahlkreise durch Listenwahlkreise ersetzt wurden; vgl. ebd., S. 98 f. 47 Vgl. Lill, Geschichte Italiens, S. 211. Immerhin hat die Erweiterung des Wahlrechts in Städten und Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern zwei Jahre später (1889) dazu geführt, dass die Gemeinderäte die Bürgermeister wählen konnten; vgl. ebd., S. 226.

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Es dauerte ein Vierteljahrhundert, bis das bestehende Wahlrecht im Jahre 1912 erneut reformiert wurde, indem nun alle Männer, die über 30 Jahre alt waren oder ihren Militärdienst abgeleistet hatten, wahlberechtigt wurden, das heißt also auch die Masse der noch immer überwiegend analphabetischen Bevölkerung. Die Zahl der Wahlberechtigten stieg dadurch von 3,3 auf 8,6 Millionen. In diesem fast allgemeinen Wahlrecht für Männer war zumindest erstmals ein Viertel der Gesamtbevölkerung Italiens wahlberechtigt.48 Die in vergleichsweise langen Intervallen erfolgende Ausweitung des Wahlrechts in Italien vor dem Ersten Weltkrieg wurde jedoch im Süden des Landes kaum umgesetzt, da dort die herrschende, Land besitzende aristokratisch-bürgerliche Oberschicht weiter an „sozialer Konservierung“, das heißt an der Fortsetzung der bestehenden ausbeuterischen Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnisse, interessiert war.49

V.

Politische, wirtschaftliche und soziale Gesamtkrise nach dem Ende des Ersten Weltkrieges

Die bereits seit Längerem bestehenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturprobleme Italiens verschärften sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu einer Gesamtkrise, die in den Jahren 1919 bis 1922 in einer bürgerkriegsähnlichen Lage kulminierten. De facto handelte es sich, so Wolfgang Schieder, um eine kumulative Krise, nämlich „um die relative Gleichzeitigkeit von unvollendeter Nationsbildung, ungelösten Verfassungskonflikten und unbewältigten wirtschaftlichen Wachstumskrisen“.50 1.

Zur verfassungs- und innenpolitischen Entwicklung

Nach dem Ersten Weltkrieg war das aus der Vorkriegszeit stammende Wahlrecht von 1912 überholt und konnte nicht mehr zur Anwendung kommen. Im November 1919 wurde daher das Verhältniswahlrecht im Rahmen eines nun nicht mehr eingeschränkten Männerwahlrechts eingeführt, zeitigte jedoch statt der erwarteten Folgen einen gegenteiligen Ausgang. Gedacht als klassenübergreifendes Integrationsinstrument sollte es mit der erwarteten Zustimmung einer gesellschaftlichen Mehrheit die Machtposition des von einer liberalen Elite weiterhin regierten Staates stützen. Doch das Wahlergebnis zog stattdessen die Erosion der bisherigen Machtverhältnisse nach sich. Zudem war eine knappe Hälfte wahlberechtigter Wähler nach wie vor nicht zu den Urnen gegangen und hatte damit erneut ihre große Distanz zum bestehenden politischen System 48 Vgl. ebd., S. 250. Detailliert hierzu Giorgio Candeloro, Storia dell’Italia moderna. Volume settimo: La crisi di fine secolo e l’età Giolittana 1896–1914, Milano 1981, S. 300–308. 49 Vgl. Lill, Geschichte Italiens, S. 157. 50 Wolfgang Schieder, Der italienische Faschismus, 1919–1945, S. 12.

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­ ekräftigt. So erhielten erstmals die sozialistischen Parteien und die katholische b Partei zusammen mehr als die Hälfte der 508 Stimmen im Parlament (­Vereinigte Sozialisten 156, Unabhängige Sozialisten 26 und die Katholische Volkspartei 100 Stimmen). Doch verweigerten sie sowohl gegenüber den liberalen Honoratiorenparteien als auch untereinander jede Art politischer Zusammenarbeit. Hinzu kam, dass die stark geschwächten Liberalen nicht mehr über den notwendigen Rückhalt im Parlament verfügten, um eine konstruktive Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben. Zwischen Kriegsende 1918 und der faschistischen Machterringung im Oktober 1922 kam es zu sechs Kabinettswechseln. Wie ­Rudolf Lill festgestellt hat, haben sich damals die „beginnende Agonie des liberalen Staates und der Aufstieg des Faschismus […] gegenseitig bedingt“.51 2.

Zur wirtschaftlich-sozialen Lage

Die Rückführung von Heer und Marine führte zu einer nachkriegsbedingten Überfüllung des Arbeitsmarktes mit den Folgen hoher und anhaltender Arbeitslosigkeit. Die soziale Lage einer breiten Mehrheit der italienischen Gesellschaft wurde davon unmittelbar betroffen; dadurch wurden die bereits bestehenden politischen und sozioökonomischen Konflikte in Italien enorm verstärkt. Eine Folge der Kriegswirtschaft war die Überproduktion der Eisen- und Stahlindustrie, deren Reduzierung ebenfalls zum weiteren Abbau von Arbeitsplätzen führte. Das durch die Kriegskosten entstandene Staatsdefizit konnte nur zu einem Drittel durch Einnahmen gedeckt werden. Erhebliche Steuererhöhungen waren die Folge, welche wiederum die soziale Lage vor allem der Unterschichten weiter erschwerte. Schließlich trat eine nachkriegsbedingte Inflation ein, die zu einer massiven Abwertung der Lira führte. Gegenüber dem letzten Vorkriegsjahr verlor die italienische Währung bis 1921 um nahezu 80 Prozent an Wert. Hinzu kam das nicht eingehaltene Versprechen einer umfassenden Landreform, was vor allem die Landbevölkerung und damit den nach wie vor größten Teil der italienischen Bevölkerung zutiefst erbitterte und enttäuschte. Doch den in der Industrie Beschäftigten ging es kaum besser. Im Herbst 1920 entlud sich die fundamentale wirtschaftliche und soziale Krise in einer Serie von Streiks und Fabrikbesetzungen. Auch die während des Weltkrieges gestoppte Emigration stieg aufgrund der bestehenden politischen und sozioökonomischen Krise jäh wieder an, sodass 1919/20 insgesamt 610 000 Italiener ihre Heimat verließen.52 3.

Zur außenpolitischen Lage

Der erst kurz vor Kriegsende mühsam errungene Sieg gegen Österreich erfüllte nicht die – nationalistisch überspannten – Erwartungen der Siegermacht Italien. 51 Lill, Geschichte Italiens, S. 290. 52 Vgl. ebd., S. 289.

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Zwar erhielt es Südtirol, neben Julisch-Venetien und Teilen Istriens, das Trentino und Triest, zugesprochen, was durchaus eine beträchtliche Arrondierung des italienischen Staatsgebietes bedeutete. Letztlich waren das beachtliche Territorialgewinne. Doch die in dieser Hinsicht bestehenden und im Grunde überzogenen Aspirationen breiter Teile in der Bevölkerung wurden dadurch nicht erfüllt. Das betraf vor allem die Hafenstadt Fiume, das heutige Rijeka, das Italien nicht zugesprochen bekam. Fiume sollte sich rasch zu einem Symbol dafür entwickeln, dass Italien von den Alliierten um seine Kriegsanstrengungen betrogen worden sei. Dies wurde zur Grundlage für den negativ konnotierten Mythos des „verstümmelten Sieges“ („vittoria mutilata“).53 Ähnlich wie der Versailler Friedensvertrag in Deutschland wurde in Italien der Frieden von St. Germain (10. September 1919) als ein von den Alliierten aufgezwungener, ungerechter Frieden abgelehnt und jene bürgerlichen Politiker, die „classe dirigente“ (Orlando und Sonnino), die den Frieden unterzeichnet hatten, wie in Deutschland als „Erfüllungspolitiker“ stigmatisiert.54 Daraus entwickelte sich ein nahezu alle Schichten übergreifendes revanchistisches Ressentiment, das bei einer allmählichen, nicht zuletzt auch wirtschaftlich-sozialen Konsolidierung der vorrevolutionären Gesamtlage womöglich nachgelassen hätte, aber durch eine spektakuläre Aktion weiter intensiviert wurde. Nur zwei Tage nach Unterzeichnung des Friedensschlusses von St. Germain besetzte der Dichter Gabriele D’Annunzio mit einem Freikorps Fiume, errichtete dort einen Freistaat und konnte erst im Dezember 1920 von der italienischen Regierung mit Waffengewalt zum Rückzug gezwungen werden, um den Friedensvertrag zu erfüllen. Doch nicht nur unter den Nationalisten, sondern auch in weiten Teilen der italienischen Gesellschaft fand sein Handstreich breite Unterstützung. Noch entscheidender aber war zweifellos, dass ihn die Monarchie ebenso wie das immer noch an der Macht befindliche liberale Ancien Régime einfach gewähren ließ und ihn Militär und Bürokratie zum Teil offen unterstützt hatten.

VI. Anfänge der faschistischen Bewegung In der im Entstehen begriffenen faschistischen Bewegung wurde aufmerksam die Passivität der nach wie vor an der Macht befindlichen liberalen Systemträger, einschließlich der Krone selbst, registriert. Diese Erkenntnis sollte drei Jahre später, im Oktober 1922, dazu beitragen, das Wagnis des Marsches auf Rom, der zur faschistischen Machtergreifung führte, einzugehen. Doch im Herbst 1919 war die erst im März von Mussolini gegründete faschistische Bewegung

53 Vgl. hierzu H. James Burgwyn, The Legend of the Mutilated Victory. Italy, the Great War, and the Paris Peace Conference, 1915–1919, Westport 1993. 54 Zur italienischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit ders., Italian Foreign Policy in the Interwar Period 1918–1940, Westport 1997.

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noch keine Gruppierung von größerer politischer Bedeutung. Zahlenmäßig erheblich stärker waren die Nationalisten und die sozialistische Partei mit einem kleineren Anteil gemäßigter Sozialisten (Riformisti) und einer größeren linkssozialistischen Gruppierung, den sogenannten Maximalisten (Massimalisti). Bei den Wahlen im November 1919, bei denen Mussolinis „Fasci di combattimento“ allerdings nur in Mailand antraten, erhielten sie von 270 000 möglichen nur 4 650 Stimmen. Das waren verschwindend geringe 1,7 Prozent. Zu sehr war ihr Wahlprogramm von sozialistischen und zugleich nationalistischen Positionen durchsetzt und wirkte daher nicht überzeugend.55 Eine Folge war, dass sich Mussolini noch stärker als bisher nationalistischen und revanchistischen Positionen verschrieb und eine zunehmend antisozialistische Haltung einnahm.56 Das schlug sich nieder in den „Postulati del programma fascista“ des II. Faschistischen Kongresses vom Mai 1920 (24./25. Mai 1920), worin allerdings die nicht weiter spezifizierte Verteidigung des Proletariats (difesa del proletariato) noch beibehalten wurde, um für das Wählerpotenzial der Arbeiterschicht attraktiv zu bleiben.57 Nur wenig später machten die fasci jedoch erstmals durch größere „Aktionen“ auf sich aufmerksam: In Rom brannten sie die Druckerei der sozialistischen Parteizeitung „Avanti“ nieder; in Triest stürmten sie den Sitz slowenischer Organisationen. Beide Aktionen spiegelten die nun deutlich zutage tretende politische Stoßrichtung des Faschismus wider: antisozialistisch und nationalistisch-revanchistisch. Wie Roberto Franzosi detailliert nachgewiesen hat, stieg die Zahl faschistischer Übergriffe auf Sozialisten und Mitglieder von gewerkschaftlichen Landarbeiterkooperativen ab Januar 1921 steil an und setzte sich über die Machterringung Ende Oktober 1922 bis ins Jahr 1923 fort.58 Die Zuspitzung der umfassenden sozioökonomischen Krisensituation in der zweiten Jahreshälfte 1920 im Verlauf des „biennio rosso“ begünstigte nicht nur das Anwachsen der faschistischen Bewegung, sondern führte zu einem in der Folge immer „systematischeren“ Vorgehen der fasci. Ihre Mitglieder glichen „eher den deutschen Freikorps als der SA“,59 da in ihnen vorwiegend Studenten und Angestellte aus der bürgerlich-städtischen Mittelschicht Mitglieder waren, unter ihnen meist enttäuschte Kriegsfreiwillige bzw. Kriegsteilnehmer („Arditi d’Italia“). In ihrem rücksichtslosen Gewalt und Brutalität nachgerade zelebrierenden Vorgehen fanden sie zunehmend Unterstützung. Zu ihrer eigentlichen Kernregion sollte sich die Emilia sowie die angrenzenden Gebiete der Po-Region entwickeln, weil hier große Landgüter vorherrschten mit Tausenden von meist selbst landlosen Landarbeitern, die einen Arbeitsvertrag besaßen und zahlrei-

55 56 57 58

Vgl. Lill, Geschichte Italiens, S. 293. Vgl. Woller, Mussolini, S. 67–90. Vgl. Candeloro, Band VIII, S. 344 f. Vgl. Roberto Franzosi, The Rise of Italian Fascism (1919–1922): Changing Social Relations in Revolutionary Periods, Paper of the Emory University and Italian Academy of Columbia University, September 2013, S. 1–47, hier 10. 59 So zutreffend Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 716.

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chen Tagelöhnern und Hilfsarbeitern, die nur nach Bedarf beschäftigt wurden. Ihr Zusammenschluss nach Kriegsende unter der Ägide des „Partito Socialista Italiano“ (PSI) hatte zu gewerkschaftsähnlichen Landarbeitervertretungen geführt, die seither auch eine Reihe von Lohnerhöhungen und Verbesserungen ihrer sozialen Lage gegen die „padroni“ bzw. „agrari“ hatten durchsetzen können. Zugleich gehörte ein nicht geringer Teil der agrarischen Unterschicht radikalen anarchosyndikalistischen Vereinigungen an. Dieser für die Großgrundbesitzer letztlich neue bzw. ungewohnte Widerstand begann, ihre traditionelle Machtstellung zu gefährden, und führte zu deren Verunsicherung. Besonders vehement gegen die „Sozialisten“ innerhalb der Landarbeitervertretungen wehrten sich jedoch die kleinen Landbesitzer, zumal sie selbst Land oft nur mühsam aus kirchlichem Besitz oder von Großgrundbesitzern erworben hatten. Sie wollten ihre neu errungene sozioökonomische Stellung auf keinen Fall gefährden, geschweige denn eventuell wieder sozial absteigen.60 Wie Dahlia Sabina Elazar auf regional-lokaler Ebene minutiös nachgewiesen hat, gab es ein Muster im gewaltsamen Vorgehen der faschistischen squadre gegen die gewerkschaftlich organisierten sozialistischen Landarbeiter: „Their struggle aimed specifically at provinces where the workers’ organizations seemed to show a high level of insurgency and political mobilization. […] The Fascists’ violence was not ‘chaotic’; rather it had a distinct pattern determined by the province’s level of insurgency and its threat to the landlord’ interest.“61 Auf diese Weise formierten sich antisozialistische Interessenidentitäten zwischen ländlichen Mag­naten und kleinen Landbesitzern, die in der faschistischen Bewegung eine für ihre persönliche Interessendurchsetzung willkommene Unterstützung suchten und politische Hilfe fanden, ohne immer mit ihnen politisch übereinzustimmen. Nicht selten übernahmen dabei Landbesitzer selbst die Führung der squadre, deren Aktionen sich vornehmlich gegen die ländliche, das heißt landlose Unterschicht richteten, die aufgrund ihrer prekären Lage meist dem Sozialismus anhing oder sich sozialistischen Kooperativen angeschlossen hatte. „The result was“, wie Frank M. Snowden konstatiert hat, „the bitter antagonism between the landless rural workers, who aspired to revolution, and the ,middle‘ peasents who had a niche in the status quo. It was largely on this antagonism that the mass support of the agrarian fasci was built.“62 Das gewalttätige Vorgehen gegen Sozialisten insgesamt, gegen sozialistische und anarchosyndikalistische Landarbeiterorganisationen, teilweise aber auch gegen katholische Kooperative, entwickelte sich zunächst in der Po-Ebene und den Regionen um Bologna, Ferrara und Modena, dem Kernland der faschistischen Bewegung, griff aber dann zunehmend auch

60 Hierzu detailliert Snowden, Agrarian Fascism, S. 279 f. 61 Dahlia Sabina Elazar, Electoral democracy, revolutionary politics, and political violence: the emergence of Fascism in Italy, 1920–1921. In: British Journal of Sociology, 51 (2000) 3, S. 461–488, hier 483. 62 Snowden, Agrarian Fascism, S. 283.

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auf die Toskana, Umbrien bis hinunter nach Apulien im Süden über.63 Von Apulien abgesehen blieb indes der Süden Italiens von diesen Übergriffen verschont, da die dort nach wie vor unterentwickelte Landwirtschaft mit ihren traditionellen Eigentums- und Arbeitsverhältnissen kaum Raum für die Entstehung faschistischer Kampfbünde bot.64 Da es in dieser allgemeinen Krisenlage auch zu Ausständen, Arbeitsniederlegungen und Streiks von Arbeitern in Industriebetrieben kam, wurden auch deren Eigentümer zunehmend verunsichert. Nun begannen auch einige Unternehmer die squadre zu unterstützen, ohne sich allerdings an deren Spitze zu stellen, wie es viele „padroni“ auf dem Lande machten. Wie Franklin Hugh Adler auf der Basis einer eingehenden Untersuchung von italienischen Unternehmern und Firmeninhabern festgestellt hat, waren „Industrialists […] not directly responsible for Fascism’s transition from an insignificant movement into a national political force; responsibility here lies with the agrarians and liberal politicians“.65 Doch erhielten die squadristi vonseiten der Unternehmerschaft hie und da auch finanzielle Unterstützung. Die faschistischen Strafaktionen („spedizioni punitive“) waren durchweg kriminell und führten teilweise auch zum Tode der Betroffenen. Oft wurden die squadre von staatlichen und militärischen Stellen nicht nur gedeckt, sondern erhielten auch zurückbehaltene Kriegswaffen und Fahrzeuge aus dem Ersten Weltkrieg zum Transport. Von einer polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Verfolgung wurde meist abgesehen, sodass sie nicht selten nahezu unbehindert agieren konnten.66 Eine „Legitimierung“ ihrer Aktionen bestand in der tief sitzenden Angst der großen und kleinen Landbesitzer vor dem Sozialismus bzw. Bolschewismus. Nicht unähnlich zur Lage auf dem Land war die Situation in den Städten und ländlichen Kommunen, wo Handwerker und Gewerbe treibendes Kleinbürgertum zunehmend gegen sozialistische Kooperative in Konkurrenz standen; auch hier bildete sich eine anwachsende antisozialistische ­Gegnerschaft heraus. Aber auch das liberale Ancien Régime des Ministerpräsidenten Giolitti unternahm, trotz schwerer Bedenken gegen das kriminelle Vorgehen der squadristi, letztlich zu wenig gegen deren strafrechtliche Verfolgung. Ein Entwaffnungsbefehl der fasci scheiterte daran, dass die Polizei in den einzelnen Regionen häufig mit den squadre sympathisierte und diese entsprechend schützte. Zudem standen die liberalen Nachkriegsregierungen permanent unter der Gefahr, die bestehende bürgerkriegsähnliche Situation könne sich zu einer Revolution ausweiten. So kam es, bei einer nicht einmal vollständigen Erfassung aller ­Straftaten,

63 Vgl. hierzu auch William Brustein, The ‘Red Menace’ and the Rise of Italian Fascism. In: American Sociological Review, 56 (1991), S. 652–664. 64 Vgl. Snowden, Agrarian Fascism, S. 287 f. 65 Franklin Hugh Adler, Italian Industrialists from Liberalism to Fascism. The political development of the industrial bourgeoisie, 1906–1934, Cambridge 1995, S. 264. 66 Vgl. Candeloro, Band VIII, S. 346 f.

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allein zwischen dem 8. April und 15. Mai 1920 zu 105 Toten und 431 Verletzten. Im ungefähr gleichen Zeitraum wuchs die Anzahl der faschistischen Mitglieder zwischen 1. April und 31. Mai 1920 von gut 80 000 auf 187 000.67 In der Tat begann der Faschismus vor allem durch seine Gewalttaten jetzt zu einer bestimmenden politischen Größe in Italien zu werden.

VII. Der Weg zur faschistischen Machterringung In dieser Situation suchte Giolitti dem erstarkenden Faschismus die Spitze zu nehmen, indem er ihn in seine „blocchi nazionali“ aufnahm und dessen Mitgliedern den Weg ins Parlament ebnete.68 Bei den Wahlen im Mai 1921 errangen die Faschisten allerdings erneut nur 35 Sitze von insgesamt 535, darunter ­Mussolini selbst. Bezeichnend für das Selbstverständnis des Faschismus war, dass er immer noch „Bewegung“ und keine Partei war und mehrheitlich auch nicht sein wollte. Zur Parteigründung als „Partito Nazionale Fascista“ ist es erst ein halbes Jahr später im November 1921 gekommen – gegen Widerstand in den eigenen Reihen!69 Giolittis linksliberale Partei selbst konnte aber ­keine Regierungsmehrheit erringen, weil die Rechtsliberalen unter Salandra k­ eine ­Koalition mehr mit ihm eingingen. Da die Sozialisten und die Katholische Volkspartei mit jeweils 123 und 108 Sitzen ungefähr annähernd stark blieben, beide selbst aber keine Koalition mit Giolitti eingingen, musste er im Juli 1921 zurücktreten. Damit war die beabsichtigte „Einhegung“ der Faschisten gescheitert.70 Insofern war aber auch die traditionelle Herrschaftspraxis der liberalen Honoratiorenpartei, durch Klientelismus die entscheidenden Machtpositionen zu sichern, an ihr Ende gekommen.71 Giolittis Nachfolgern, Bonomi und Facta gelang es nicht mehr, diese zurückzuerobern. Vielmehr wurden sie zu weiteren Zugeständnissen gezwungen, da sich die Gewaltexzesse der fasci steigerten und die paramilitärischen squadre inzwischen auch nicht mehr vor Rathausbesetzungen zurückschreckten. Symptomatisch dafür war z. B., dass die gewaltsame Absetzung des liberalen Präfekten von Bologna durch faschistische Kampfeinheiten von Facta hingenommen wurde. Darüber hinaus verschärften die sich weiter 67 Vgl. ebd., S. 353; dort weitere Zahlenangaben. 68 Zur Politik Giolittis die neuere Darstellung von Alexander De Grand, The Hunchback’s Tailor. Giovanni Giolitti and Liberal Italy from the Challenge of Mass Politics to the Rise of Fascism, 1882–1922, Westport 2001. 69 Vgl. hierzu ausführlich Morgan, Italian Fascism, S. 59–68. 70 Vgl. Candeloro, Band VIII, S. 369 f. 71 Treffend die Gesamteinschätzung der Politik Giolittis und deren Scheitern durch Ale­ xan­der De Grand: „Giolitti tried to extend the life of the parliamentary regime that emerged from the Risorgimento. He firmly believed that representative government was the best way to reconcile competing interests and ambitions. But his very commitment to maintain the hegemony of the old liberal political elite made it difficult for him to undertake fundamental reforms of the system of taxation or to reduce the great gap between northern and southern Italy.“ De Grand, The Hunchback’s Tailor, S. 272.

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v­ erschlechternden sozioökonomischen Rahmenbedingungen die politische Krise. Allein die Zahl der Arbeitslosen versechsfachte sich zwischen Dezember 1920 und Januar 1922 (von 102 000 auf 600 000).72 Im dreitägigen Generalstreik vom August 1922 (1. bis 3. August 1922), ursprünglich organisiert von der Sozialistischen Partei als landesweite Demonstration gegen das gewalttätige Vorgehen der faschistischen squadre, kam es zu einer Wende, in der die inzwischen veränderten Machtverhältnisse zum Ausdruck kamen: Es gelang den Faschisten, in einem kombinierten Schlag eine ganze Reihe von Städten und Gemeinden gewaltsam zu besetzen und sozialistische Kooperativen zu zerstören. Italien befand sich im Sommer des Jahres 1922 nicht nur in einer Phase akuter Destabilisierung seines Staatswesens, sondern auch am Rande eines Bürgerkriegs.73 Der vor allem von exzessiver Gewalt geprägte Weg des Faschismus zur Macht ist aber nicht nur dadurch begünstigt worden, dass die Sozialisten und die Katholische Volkspartei (die Popolaren) unter Don Sturzo aus politisch-ideologischen Gründen keine Koalition eingingen, obwohl sie zusammen mit den Linksliberalen eine solide Mehrheit gehabt hätten. Auch die Trennung zwischen Sozialisten und Kommunisten im Januar 1921 und die darauf folgende Bildung zweier Parteien schwächte den Widerstand gegen die faschistische Bewegung von links, wobei hinzukam, dass Sozialisten und Kommunisten weiterhin permanentes Ziel der squadre blieben. Nach dem Generalstreik von Anfang ­August 1922 hatte sich die Situation so zugespitzt, dass eine Beteiligung der Faschistischen Partei an der Regierung das letzte Mittel schien, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Auch König Viktor Emanuel III. schloss sich widerstrebend dieser Meinung an.74

VIII. Die gewaltsame Usurpierung der Macht am 28. Oktober 1922 Der „marcia su Roma“, der Marsch auf Rom vom 27. bis zum 31. Oktober 1922, ist somit kein revolutionärer Überraschungscoup gewesen, wie ihn die faschistische Bewegung unmittelbar danach stilisiert und mythologisiert hat. Bereits zuvor waren, von Cremona, Florenz und Perugia ausgehend, Besetzungen von Rathäusern, Stadtparlamenten, Bahnhöfen, Post- und Telegrafenhäusern durch die squadre erfolgt, um den Auf- und Einmarsch nach Rom abzusichern. Zudem war ein letzter Versuch, mittels Erklärung des Ausnahmezustandes die faschistische Machteroberung zu verhindern, daran gescheitert, dass der König 72 Vgl. ebd., S. 364. 73 Vgl. Salvemini, Facist Dictatorship, S. 362–364. 74 Entsprechenden Ausdruck findet dies in einem Telegramm an Ministerpräsident Facta: „Poiché il solo efficace mezzo di evitare scosse pericolose è quello di associare il fascismo al governo nelle vie legali.“ [„Weil das einzig wirksame Mittel, um gefährliche Erschütterungen zu vermeiden, jenes ist, den Faschismus auf legalen Wegen an die Regierung anzugliedern.“] Vgl. ebd., S. 409; zitiert nach A. Repaci, La marcia su Roma, Milano 1972, S. 808.

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Die faschistische Machtergreifung in Italien

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sich weigerte, dazu seine Unterschrift zu leisten, zumal die Spitzen des Militärs, die mehrheitlich auf der Seite des Faschismus standen oder damit sympathisierten, zu erkennen gegeben hatten, dass sie nicht mit Waffengewalt gegen die heranziehenden Marschkolonnen vorgehen würden. Nur drei Tage nach dem Einmarsch in Rom ist Mussolini vom König zum Ministerpräsidenten ernannt worden. An der von Mussolini vorgeschlagenen Regierung waren zwar noch Mitglieder anderer Parteien beteiligt,75 aber deren Zugehörigkeit zur ersten faschistischen Regierung war nur von kurzer Dauer. Hier lässt sich durchaus eine Parallele zur nationalsozialistischen Machterringung am 30. Januar 1933 ziehen, bei der die „Einrahmung“ der nationalsozia­ listischen Mitglieder im Kabinett Hitler/von Papen ebenfalls misslungen ist. Ganz eindeutig bedeutete der faschistische Marsch auf Rom im Oktober 1922 einen Staatsstreich, der nur nachträglich und sich den Umständen beugend durch die Krone „legalisiert“ wurde. Von da an wurde das seit 1861 bestehende parlamentarische Verfassungssystem Zug um Zug ausgehebelt, obwohl das „Statuto Albertino“ von 1848, wie übrigens auch die Weimarer Verfassung im NS-Staat, im faschistischen Staat niemals abgeschafft wurde. Mit der Legitimierung des faschistischen Staatsstreichs blieb allerdings die Monarchie – über das Ende des Faschismus hinaus – als entscheidendes Verfassungselement erhalten. Die Absetzung Mussolinis durch König Viktor Emanuel III., 21 Jahre später am 25. Juli 1943, ist durch den König als weiter existentes Verfassungsorgan erfolgt – ein Vorgang, der im nationalsozialistischen Deutschland völlig unmöglich gewesen wäre, nachdem Hitler, nach dem Tod von Reichspräsident Hindenburg im Jahre 1935, auch dessen Machtbefugnisse an sich gerissen hatte.

IX. Die Wegbereiter des Faschismus Der Faschismus ist nicht nur durch seine exzessive Gewaltausübung an die Macht gekommen. Seine Machtübernahme war durch „eine[…] nach Jahren des Chaos auf einen stärkeren Staat hoffende[…] Mehrheit getragen und erfolgte im Bündnis mit maßgeblichen Kräften des alten Staates: Krone, Armee, Bürokratie“.76 Zum Steigbügelhalter wurden große und kleine Landbesitzer, welche die Befürchtung hatten, dass die mittellose und von ihnen abhängige Landarbeiterschaft, die sich in sozialistisch, anarchosyndikalistisch oder katholisch ausgerichteten gewerkschaftlichen Vereinigungen zu organisieren begonnen hatte, die Eigentumsverhältnisse auf dem Land grundlegend zu ihrem Nachteil umstoßen könnten. In dieser Situation war für sie das Aufkommen des Faschismus ein willkommenes Mittel, paramilitärisch organisierte Kampfverbände an der Seite zu haben, die mit exzessiver Gewalt gegen die revoltierenden agrarischen Unterschichten vorgingen. Die in dieser Zeit erfolgende Spaltung der Sozialistischen 75 Vgl. ebd., S. 416. 76 Lill, Geschichte Italiens, S. 299.

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Partei schwächte den Widerstand gegen die faschistischen squadre, wobei noch hinzukam, dass sich die Partei „nicht zwischen konstruktiver parlamentarischer Politik und außerparlamentarischer Massenpropaganda entscheiden konnte“.77 Außerdem fanden sich die beiden großen Parteien, die Sozialistische Partei und die Katholische Volkspartei aus politisch-ideologischen und religiösen Gründen nicht zur Zusammenarbeit und damit zur Übernahme der Regierungsverantwortung bereit. Als großes, historisch weiter zurückliegendes Defizit des politischen Systems Italiens erwies sich, dass auch nach der Vollendung des Nationalstaats 1861 bis 1871 eine Oligarchie liberaler Politiker an der Macht blieb, welche das bestehende parlamentarische Regierungssystem nahezu ausschließlich weiter steuerte und den Zugang zum Parlament durch Klientelismus kontrollierte. Schon die Einigung Italiens war das Werk einer aristokratisch-bürgerlichen Elite gewesen, die jedoch für die breite Masse der Bevölkerung auf dem Lande gleichsam „von oben“ durchgeführt worden war, ohne dass ihre essenziellen sozioökonomischen Interessen adäquate Berücksichtigung gefunden hätten. Dabei hatte das „Statuto Albertino“ von 1848 im Königreich Piemont-Sardinien bereits vor der Einigung Italiens die Entwicklung zu einem parlamentarischen Regierungssystem genommen. Insofern waren die Möglichkeiten zu einer weiteren Demokratisierung durchaus vorhanden. Gleichwohl hinkte die sukzessive Erweiterung des Wahlrechts der gesellschaftlichen Entwicklung in Italien immer hinterher; erst ab 1919 kann von einer breiteren politischen Partizipation gesprochen werden. Gleichwohl war noch immer eine knappe Hälfte der italienischen Bevölkerung nicht in das parlamentarisch-demokratische System integriert. Symptomatisch ist dafür der nach wie vor hohe „assenteismo“ der ländlichen Unterschichten, die sich auch deshalb nicht am politischen Leben beteiligten, weil ihre Interessen so gut wie keine Berücksichtigung fanden. Die besonders schwere Krise, die Italien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges durchlief, ließ daher den Ruf nach einer grundsätzlichen Veränderung des nach wie vor von einer liberalen Oligarchie regierten Landes immer lauter werden. Die nach 1918 zutage tretenden ökonomischen, finanziellen und sozialen Probleme, hervorgerufen durch die unvermeidliche Umstellung von Krieg- auf Friedenswirtschaft, die Eingliederung von Millionen von Soldaten in einen völlig überfüllten Arbeitsmarkt und zugleich in eine mental veränderte Gesellschaft, die horrende Abwertung der Lira, die zu erheblich höheren Nahrungsmittelpreisen führte, ein über Jahre hinweg andauerndes Staatsdefizit mit der Folge von sozial unverträglichen Steuer­erhöhungen u. a. m., hätten auch ein gefestigteres parlamentarisch-demokratisches System an den Rand seiner Stabilität geführt. Denn mehr als an der Teilhabe am bestehenden politischen System war die agrarische Unterschicht vor allem an Landbesitz und dementsprechend der Umverteilung von Grund und Boden interessiert. Ihre massiv geäußerte Kritik hing

77 Schieder, Der italienische Faschismus, S. 19.

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Die faschistische Machtergreifung in Italien

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nicht zuletzt damit zusammen, dass die politischen und wirtschaftlichen Interessen der besitzenden Schichten des Landes aus ihrer Sicht auch nach dem Krieg offenbar identisch geblieben waren und kaum Veränderungen zu ihren Gunsten zuließen. Die großen Landmagnaten saßen eben auch weiterhin im Parlament. Daher hatte sich auch keine politische Überzeugung vom grundsätzlichen Wert des parlamentarischen Systems in der Mehrheit der Gesellschaft herausbilden können. Vielmehr war die Überzeugung virulent, dass die Interessen der ländlichen Unterschichten, z. T. auch der Industriearbeiterschaft, nach wie vor keine angemessene Beachtung fänden. Zudem hatte die schwere politische und wirtschaftliche Krise zwischen Kriegsende 1918 und der faschistischen Machterringung im Herbst 1922 gezeigt, dass das traditionelle, liberale Herrschaftssystem nicht mehr konsensfähig war (in dieser Zeit gab es allein sechs Kabinette) und auch nicht mehr den entschiedenen Willen besaß, das immerhin seit 60 Jahren bestehende parlamentarische System gegen den Ansturm von rechts und links, vor allem aber gegen den Faschismus, zu verteidigen. Die Ausweitung des Wahlgesetzes nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im Jahre 1919 durch die traditionellen liberalen Regime kam zu spät und konnte angesichts der sich zunehmend verschränkenden und gleichzeitig intensivierenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht mehr die beabsichtigte Integrations- und Partizipationswirkung entfalten. Auch waren die politischen Entscheidungsträger zu wenig imstande, die tatsächliche Gefahr der faschistischen Bewegung realistisch einzuschätzen. Hinzu kam, dass in den Regierungen selbst wie in der Beamtenschaft, der Polizei und dem Militär Sympathisanten des Faschismus standen und die mannigfachen, eindeutig kriminellen Übergriffe auf sozialistische Organisationen und Mitglieder mehr oder minder offen billigten. Das „alte System“ hatte sich nicht nur überlebt, es war auch politisch kraftlos geworden. Das öffnete jenen Kräften, welche die Etablierung eines starken Staates, einer Diktatur wollten, Tür und Tor. Zudem war die von links getragene Opposition spätestens nach der Matteotti-Krise von 1924/25 entweder ausgelöscht oder zum Schweigen gebracht worden. Italien hat bis zum Ende des Ersten Weltkrieges einen langen Modernisierungsprozess durchlaufen, dessen politische und wirtschaftlich-sozialen Proble­ me durch den Weltkrieg noch einmal verschärft wurden. Zugleich hat dieser lang andauernde Modernisierungsprozess nicht dazu geführt, dass eine weiter fortschreitende Demokratisierung und dadurch größere politische Partizipation breiter Bevölkerungsschichten eingetreten ist. Zudem fing der wirtschaftliche Aufschwung mit einer Verbesserung der sozialen Lage zumindest eines Teils der italienischen Bevölkerung erst ein, als die faschistische Diktatur bereits existierte und nun auch davon zu profitieren vermochte. Keineswegs zu unterschätzen für die Stabilisierung und „Legitimierung“ des Faschismus sind darüber hinaus die Lateran-Verträge von 1929 gewesen, welche die Diktatur bei breiten konservativen, noch immer skeptischen Bevölkerungskreisen akzeptabel werden ließen. In dieser Hinsicht verstärkend wirkte auch noch das gewachsene

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i­nternationale Gewicht, das der Faschismus in den 1930er-Jahren erhielt und der bis dahin „schwachen Großmacht“ Italien ein erheblich höheres Gewicht zukommen ließ als bisher; entsprechend selbstbewusst hat das faschistische ­Italien am Münchner Abkommen von 1938 mitgewirkt.78 Letztlich ist die faschistische Bewegung in Italien keineswegs zwangsläufig – als erste derartig politisch ausgerichtete und namensgebende Bewegung weltweit – zur Macht gekommen. Doch die seit Langem bestehenden strukturellen Vorbelastungen, politischen Defizite und gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Nachkriegszeit auf der Apenninen-Halbinsel ­schufen eine Krisenlage, die den Aufstieg des Faschismus und die Errichtung einer Diktatur ermöglichten.

78 Vgl. dazu Patrizia Dogliani, Das faschistische Italien und das Münchner Abkommen, S. 53–68 sowie Hans Woller, Vom Mythos der Moderation. Mussolini und die Münchner Konferenz 1938, S. 211–215. Beide in: Jürgen Zarusky/Martin Zückert (Hg.), Das Münchner Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive, München 2013.

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Zum Wechselspiel von verpasster Konsolidierung, Demokratiekritik und Diskursen der Versicherheitlichung in der Zweiten Republik Polens (1918 bis 1926) Heidi Hein-Kircher

I. Einleitung Die staatliche „Wiedergeburt“ („odrodzenie“) Polens 1918 stellte die politischen Akteure vor gewaltige Herausforderungen: Der Staatsgründungsprozess führte weder zu einer innenpolitischen Konsolidierung noch zu ­einem unumstrittenen Grenzverlauf, sodass sich das ohnehin schwierige Erbe der Teilungszeit potenzierte und zu einer weiteren Schwächung des jungen Staats führte. Bis Mitte der 1920er-Jahre gelang es den politischen Akteuren nicht, diese sich g­ egenseitig bedingenden „Geburtswehen“ zu überwinden und einen nach innen und außen gleichermaßen gefestigten Staat mit einer parlamentarischen Demokratie aufzubauen. Aus der Wechselwirkung von verpasster Konsolidierung und dem damit einhergehenden Empfinden, dass die Staatlichkeit gefährdet sei, entwickelte sich eine tief gehende Ablehnung der parlamentarischen Demokratie. Diese drückte sich auch in Diskursen der „Versicherheitlichung“ („securitization“) aus, durch die das politische System diffamiert und weiter in die Krise getrieben wurde. So führten sie nach Abschluss der territorialen Staatsbildung und des Aufbaus der Zentralmacht zu der letztlich paradoxen Situation: Um eine Sicherung der Staatlichkeit zu erreichen, wurde parteiübergreifend das demokratische Regime infrage gestellt und ein Klima des Umsturzes herbeigeredet. Die zu erläuternden, seit 1923 verstärkt auftretenden Diskurse über die „Sanierung“ („sanacja“) der Republik waren gleichermaßen ein Symptom der Krise und Ursache des Scheiterns der Demokratie, weil sie sich lediglich auf den Erhalt der Staatlichkeit und nicht auf den des demokratischen Regimes fokussierten. Sie können als Diskurse der Versicherheitlichung interpretiert werden, die einen Prozess charakterisieren, in dem verschiedene Akteure, Ereignisse oder Prozesse als Sicherheitsprobleme darstellen und daraus Handlungsanleitungen deduzieren.

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Mit dieser neuen Deutung möchte ich keine Zwangsläufigkeit des Scheiterns der parlamentarischen Demokratie Polens in der Zwischenkriegszeit1 behaupten, sondern eine Akzentverschiebung in der Diskussion um dessen Bewertung anbieten: In der bisherigen Forschung stand der Mai-Putsch Piłsudskis im Fokus.2 Vernachlässigt wurde die Frage nach den übergreifenden mentalen Prädispositio­nen, die einen Ansatzpunkt zur Erklärung bieten können, warum ein landesweiter Widerstand gegen den Putsch ausblieb.3 Der von mir gewählte Zugriff bietet somit eine andere Sicht auf die Krise und ihre Bewältigung. Am polnischen Beispiel kann somit gezeigt werden, dass es Wechselwirkungen von ausbleibender politischer und gesellschaftlicher Konsolidierung, von Krisen(-empfinden) und Diskursen der Versicherheitlichung gibt und dass letztere instrumentalisiert werden, um eigene Zielsetzungen durchzusetzen und zu legitimieren. Insofern ist dieser Beitrag auch als Impuls zu verstehen, das Scheitern der Demokratien in der Zwischenkriegszeit und sicherlich darüber hinaus vergleichend vor der Folie der Versicherheitlichungsdiskurse zu erklären. Um dieses Wechselspiel nachzuvollziehen, wird im Folgenden anhand der Grenzziehung und des inneren Staatsaufbaus zunächst erläutert, warum der Staatsbildungsprozess nicht zu einer inneren und äußeren Stabilität der parlamentarischen Demokratie, sondern zu einer inneren Zerrissenheit Polens führte. Anschließend soll exemplarisch gezeigt werden, wie die Symptome der Krise und Bedrohungsvorstellungen gedeutet wurden und wie Demokratiekritik und Versicherheitlichungsdiskurse in den Jahren vor dem Putsch miteinander verwoben waren.

1

Zu den Desiderata einer Demokratiegeschichte Ostmitteleuropas vgl. Agnes Laba/Maria Wójtczak, Aspekte einer Demokratiegeschichte in Ostmitteleuropa und im Baltikum im Nachklang des Ersten Weltkriegs. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung, 64 (2015). Ich danke Sebastian Paul für einige wichtige Hinweise. 2 Nach wie vor maßgeblich: Andrzej Garlicki, Przewrót majowy (Der Mai-Umsturz), 3. Auflage Warszawa 1987. Hier verweist der Titel auf die Linie der Interpretation: „Mai-Umsturz“ wirkt deutlich milder als das erst in der neueren Forschung verwendete „zamach stanu“ (Staatsstreich, so etwa: Zbigniew Kapuś/Grzegorz Radomski [Hg.], Zamach stanu Józefa Piłsudskiego i jego konsekwencje w interpretacjach polskiej myśli politycznej XX w. [Der Staatsstreich Józef Piłsudskis und seine Konsequenzen in der Interpretation des polnischen politischen Denkens des 20. Jahrhunderts], Warszawa 2008), während „Putsch“ (pucz) in der polnischen Forschung nach wie vor nicht verwendet wird. Erst nach der politischen Wende Ende der 1980er-Jahre gelangte die Zweite Republik zunehmend in den Fokus der historischen Forschung. Bis dahin wurden schwerpunktmäßig soziale Probleme behandelt. Es wurde gerade die Zeit des autoritären Regimes tabuisiert, was Rückwirkungen auf die Entstehung des oben genannten Werks Garlickis hatte. 3 Überblicksdarstellungen zur polnischen Geschichte stellen die Krisen zwar als strukturelle Rahmenbedingungen dar, jedoch nicht die daraus resultierenden mentalen Prädis­ positionen.

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Zweite Republik Polen (1918 bis 1926)

II.

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Die Realisierung des Traums: die „Wiedergeburt“ Polens

Die Wiedererrichtung der Staatlichkeit war trotz des gescheiterten Freiheitskampfes im 19. Jahrhundert und trotz vorhandener Arrangements von Teilen der politischen Eliten mit der jeweiligen Teilungsmacht ein Sehnsuchtsort der polnischen Nationalbewegung geblieben. Spätestens nach der Deklaration der Mittelmächte Anfang November 1916, nach der Polen als konstitutionelle Monarchie begründet werden sollte,4 nahm die „Polnische Frage“ im Ersten Weltkrieg internationale Virulenz an. Seit der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts hatte sich das „Unabhängigkeitslager“ unter der Führung Józef Piłsudskis zu entwickeln begonnen. Dieser als „Aktivisten“ bezeichnete Personenkreis sah zu Beginn des Weltkriegs die sich eröffnende Chance, beteiligte sich zunächst aufseiten der Mittelmächte am Kampf gegen Russland und wandte sich in der ersten Jahreshälfte 1917 gegen sie. Auch die konservative, prorussische Nationaldemokratie verstärkte ihr Engagement bezüglich einer Wiedererrichtung des polnischen Staats. Ihre politische „Auslandsaktion“ unter Führung Roman Dmowskis und Ignacy Paderewskis sorgte dafür, dass im Kriegsverlauf die Wiederrichtung Polens schließlich als Kriegsziel der Entente wahrgenommen wurde. Gerade durch dieses Agieren und eine entsprechende Positionierung der polnischen Akteure vertiefte sich die Kluft zwischen den großen politischen Lagern. Dieser Zwist sollte die Republik prägen.5 Zunächst bekamen die „Aktivisten“ Oberhand: Als sich im Frühherbst 1918 der baldige Zusammenbruch der Mittelmächte abzuzeichnen begann, bildeten sich in einigen Städten Polens Gruppierungen, die sich als Übergangsregierungen sahen. Sie unterstellten sich der sich bildenden polnischen Regierung unter dem Obersten Staatschef Piłsudski, nachdem dieser vom Regentschaftsrat – ohne Mandat der mit sich selbst beschäftigten Mittelmächte – am 11. November 1918 zunächst die militärische, dann wenige Tage später auch die zivile Macht übertragen bekommen hatte. Die fehlende politische Präsenz der nationaldemokratischen Akteure im Land spielte dem Piłsudski-Lager, das zu Kriegsbeginn über eine nur geringe Anhängerschaft verfügt hatte, in die Hände: Piłsudski war nicht zuletzt durch die Propaganda seiner Anhänger während seiner Inhaftierung zur Symbolfigur des Unabhängigkeitskampfes für die Parteien der Linken und in einem gewissen Grade auch des Zentrums geworden. Daher ­triumphierten im

4

5

Vgl. Stephan Lehnstaedt, Imperiale Ordnungen statt Germanisierung. Die Mittelmächte in Kongresspolen 1915–1918. In: Osteuropa, 64 (2014) 2–4, S. 221–232; analysiert die Politik der Mittelmächte und verdeutlicht, dass sie provisorische Lösungen ergriffen und daran interessiert waren, ethnopolitische Konflikte zu vermeiden. Zur Besatzungspolitik und sich daraus ergebenden institutionellen Vorprägungen der Verwaltung siehe Marta Polsakiewicz, Warschau im Ersten Weltkrieg. Deutsche Besatzungspolitik zwischen kultureller Autonomie und wirtschaftlicher Ausbeutung, Marburg 2015. Vgl. Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 53–96.

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Heidi Hein-Kircher

Spätherbst 1918 die „Aktivisten“, die ihre „bewaffnete Tat“ („czyn zbrojny“) und ihren Spiritus Rector Piłsudski propagandistisch ­verklärten.6 Wenn auch auf einigen institutionellen Ansätzen aus der Besatzungszeit aufbauend, war mit der Übernahme der Regierungsvollmachten durch Piłsudski der Staatsbildungsprozess begonnen worden. Außer Frage stand dabei, dass der wieder zu errichtende Staat demokratisch geprägt sein würde.7 Denn die Akteure wollten einerseits an die demokratischen Traditionen der späten „Adelsrepu­ blik“,8 also an die Verfassung vom 3. Mai 1791, andererseits auch an Impulse der Kriegsjahre wie den „Wilsonian Moment“9 und ersten Konzepten für eine polnische Staatlichkeit anknüpfen.

III. Vom Traum zum Trauma: die Errichtung des polnischen ­Staatsterritoriums Bereits direkt nach Kriegsende war klar, dass angesichts der Bestrebungen der benachbarten Nationalitäten, einen eigenen Staat zu bilden, und des Ausgreifens Sowjetrusslands nach Westen das polnische Staatsgebiet im Osten erkämpft werden musste. Dies hatte massive Rückwirkungen auf den parallel verlaufenden inneren Staatsbildungsprozess. Um eine polnische Staatlichkeit mit festen Konturen zu erreichen, standen die politischen Akteure somit vor der gewaltigen Herausforderung, zeitgleich demokratische Strukturen zu etablieren, zur Sicherung des Staats und seiner territorialen Etablierung eine Armee aufzustellen und schließlich die Grenzen nach Osten hin auszukämpfen.10 Diese Entwicklung brachte keine innere Stabilisierung mit sich, sondern traumatisierte die Gesellschaft nicht zuletzt durch Kriegserfahrungen und -folgen.11

 6 Vgl. Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat, Marburg 2002, S. 44–49.  7 Vgl. Andrzej Ajnenkiel, Spór o model parlamentaryzmu polskiego do roku 1926 (Streit um das Modell des polnischen Parlamentarismus bis 1926), Warszawa 1972, S. 14–164; Stephanie Zloch, Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, Köln 2010, S. 35–53.  8 Vgl. Präambel der Märzverfassung, zit. nach Heidi Hein-Kircher (Bearb.), Themenmodul Zweite Polnische Republik (http://www.herder-institut.de/resolve/qid/13.html; 14.12.2014) mit dem Bezug auf die „glänzende Überlieferung“ der Verfassung vom 3.5.1791; Dekret Piłsudskis vom 14.11.1918. In: ebd. (http://www.herder-institut.de/ go/o0-c26998; 1.2.2015).  9 Erez Manel, The Wilsonian Moment: Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, New York 2007. Vgl. die Proklamation des Regentschaftsrates vom 7.10.1918. Zit. nach Hein-Kircher, Zweite Republik (http://­www.herder-­institut. de/go/tv-7dc0cf; 2.2.2015). 10 Vgl. Borodziej, Geschichte, S. 99. 11 Am Beispiel Lembergs vgl. exemplarisch Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt: Lemberg 1914–1947, Wiesbaden 2010, S. 69–316.

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Bereits im Spätherbst 1918 vertieften die auseinanderklaffenden Vorstellungen von der territorialen Gestalt Polens die Kluft zwischen den politischen Lagern, weil sie sehr unterschiedliche Territorialkonzepte entwickelt hatten: Das Piłsudski-Lager legte einen Fokus auf die östlichen multiethnischen Gebiete der Adelsrepublik und intendierte, diese Kresy – ähnlich der Adelsrepublik – in den neuen Staat einzubeziehen. Dagegen konzentrierten sich die Nationaldemokraten auf die mehrheitlich von Polen bewohnten Gebiete, ohne die Kresy einbeziehen zu wollen.12 Es kam daher nicht zu einer Einigung über die Territorialkonzepte zwischen den Lagern, sondern nur zu einem auf das tagesaktuelle politische Handeln ausgerichteten Kompromiss ohne inhaltliche Festlegungen. In der Folge verschärften sich die ideologischen Differenzen und das daraus resultierende politische Handeln und Klima weiter. Dmowski führte die polnische Delegation an, die an den Friedensverhandlungen in Paris teilnahm, und konnte dort sein inkorporationistisches Territorialkonzept eines polnischen Nationalstaats vertreten, der die auf seinem Gebiet wohnende nichtethnische polnische Bevölkerung polonisieren wollte.13 Piłsudski erhielt wiederum freie Hand, das entstandene Machtvakuum im Osten zu nutzen. Er zielte darauf ab, durch militärische Eroberungen Faits accomplis zu schaffen und das polnische Territorium nach Osten auszudehnen, um so die Kresy der untergegangenen Adelsrepublik wiederzugewinnen. Für die Interpretation der territorialen Staatsbildung durch die politischen Lager in späteren Jahren ist es von Belang, dass die Grenzfestlegung nach Westen bzw. Süden über das Oktroi des Versailler Vertrags und das Eingreifen der Alliierten in Bezug auf Oberschlesien und auf Teschen geregelt wurde, während im Osten das eigene militärische Vordringen Polens und das Kräfteverhältnis zu den Nachbarstaaten ausschlaggebend waren. Da die Ansprüche auf Ostgalizien und das Wilna-Gebiet noch auf einem parteienübergreifenden Konsens beruhten, begann bereits knapp zwei Wochen nach Weltkriegsende der Kampf mit den Ukrainern um Ostgalizien und insbesondere um dessen Hauptstadt Lemberg, Anfang 1919 auch um Wilna. Parallel dazu entwickelten sich im Westen zur Jahreswende Kämpfe um den Besitz Posens; Anfang der 1920er-Jahre schließlich um Oberschlesien. Die Ansprüche auf das Wilna-Gebiet und Ostgalizien wurden in den folgenden knapp zwei Jahren militärisch ausgefochten. Dies endete für Polen, angesichts des Vormarsches der Roten Armee im Sommer 1920, beinahe in einer Katastrophe, schließlich aber im Triumph über die Rote

12 Diese beiden Konzepte wurden mit Blick auf die ehemalige territoriale Gestalt Polens als „jagiellonische Idee“ resp. als „piastische Idee“ gekennzeichnet. Vgl. insbesondere zur östlichen Grenzkonzeption Alexandra Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten. Polnische Ostkonzepte der späten Teilungszeit (1890–1918), Marburg 2014; Werner Benecke, Die Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik. Staatsmacht und öffentliche Ordnung in einer Minderheitenregion 1918–1939, Köln 1999, S. 7–26. 13 Vgl. Hans Roos, Geschichte der polnischen Nation. Von der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, 4. Auflage Stuttgart 1986, S. 53.

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Armee durch das „Wunder an der Weichsel“. Außenpolitisch bedeutsam war, dass als langfristige Folge der Grenzkriege lediglich die Grenzen zu Rumänien und Lettland politisch nicht umstritten waren.14 Das Empfinden, von feindlichen Nachbarn eingekreist zu sein, wurde durch die im Rahmen der Territorialbildung entstehende Minderheitenproblematik noch erheblich verstärkt. Durch den Frieden von Riga 1921 entstand ein „Natio­nalitätenstaat mit nationalstaatlichen Begriffen“15 mit rund einem Drittel Minderheitenbevölkerung. Insbesondere stellte die Integration der stark unterentwickelten und durch den Krieg zerstörten Kresy eine Herausforderung dar, zumal sich dort die polnische Landbevölkerung in der Minderheit befand und die Skepsis gegenüber Polen virulent blieb. So konnte sich dort die Staatsmacht nur langsam etablieren. In Verbindung mit der wirtschaftlichen Schwäche und mit den sich entwickelnden Nationalisierungsprozessen der dort ansässigen Bevölkerungsgruppen wurden sie zunehmend zu unruhigen Gebieten, die insbesondere durch kommunistische Gruppen, die über die Grenze nach Polen eindrangen, gefährdet schienen.16 Aber auch die deutsche Bevölkerungsgruppe, vor allem in Oberschlesien, bildete nicht nur ein bedeutsames innenpolitisches Konfliktpotenzial.17 Insgesamt blieb daher die Minderheitenproblematik stets ein wichtiger Gesichtspunkt polnischer Außenpolitik18 und bewirkte in einer brisanten Wechselwirkung zwischen Minderheiten- und Außenpolitik ein ständiges Gefühl außen- wie auch innenpolitischer Bedrohung. Sie führte somit zu innenpolitischen Reaktionen und in Verbindung mit den sich aus der Grenzziehung ergebenden übrigen außenpolitischen Pro­ blemen zu einer weitestgehenden Isolation Polens von seinen direkten Nachbarn.19 Insbesondere herrschte seit der Grenzfestlegung ständig ein Gefühl der Bedrohung durch Deutschland und Sowjetrussland vor. Verstärkt wurde diese Bedrohungswahrnehmung durch die weitere außenpolitische Entwicklung in Europa bis zur Mitte der 1920er-Jahre, insbesondere durch die Verträge von Rapallo und Locarno. Die aus diesen Prozessen resultierenden Bedrohungsszenarien zeigten somit der polnischen politischen Öffentlichkeit, dass die Unabhängigkeit Polens kei-

14 Vgl. Benjamin Conrad, Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923, Stuttgart 2014. 15 Roos, Geschichte, S. 98 f. 16 Vgl. Benecke, Die Ostgebiete, S. 41–80. Bedeutsam war, dass erst 1924 ein Grenzschutz eingerichtet wurde. 17 Vgl. Christhardt Henschel/Stephan Stach, Nationalisierung und Pragmatismus. Staatliche Institutionen und Minderheiten in Polen 1918–1939. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung, 62 (2013), S. 164–186. 18 Damit war der „triadic nexus“ wirksam. Vgl. Rogers Brubaker, Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1996, S. 8 und Kapitel 3, S. 55–78. 19 Joseph Rothschild, East Central Europe between the Two World Wars, 7. Auflage London 1992, S. 34.

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neswegs gesichert war. Weil die „brennenden Grenzen“20 im Westen wie im Osten ein permanentes Sicherheitsrisiko darstellten, führte die Wiedererrichtung des polnischen Staats zu massiven Gewalterfahrungen21 und damit zur Traumatisierung und Verunsicherung der polnischen Gesellschaft. Diese schwere Hypothek wurde nach Abschluss des Staatsaufbaus in besonderer Weise virulent, indem die permanente Gefährdung zu einem Leitthema in den parteipolitischen Diskursen über den Zustand des Staats wurde.

IV.

Vom Triumph zur Krise: Grundprobleme beim inneren ­Staatsaufbau

Die ersten innenpolitischen Maßnahmen Piłsudskis zeugen von dem Bemühen, das letztlich alle politischen Akteure teilten: dem entstehenden Staat auch im Inneren feste Konturen zu geben. Noch im November 1918 definierte Piłsudski, nun als Oberster Staatschef, durch Dekrete die Machtverteilung zwischen ihm und der von ihm ernannten Regierung und die Wahlordnung zur verfassungsgebenden Nationalversammlung. Die Wahlen zur Konstituante fanden Anfang 1919 nur in den ethnisch unumstrittenen polnischen Gebieten des ehemaligen Kongresspolens und Westgaliziens statt. Das aufständische Posener Gebiet blieb ebenso von den Wahlen ausgeschlossen wie die umkämpften Gebiete im Osten. Dies führte dazu, dass nur Deutsche und Juden mit knapp vier Prozent der Abgeordneten in der Konstituante vertreten waren. Rund ein Drittel der Mandate erhielten die Rechte, die sich als Parteienblock (Związek Ludowo-­ Narodowy) unter Führung der Nationaldemokratie zusammengeschlossen hatte, und die Parteien der Mitte. Dennoch übertrug die Konstituante im Februar 1919 in der „Kleinen Verfassung“ Piłsudski bis zur Verabschiedung einer Verfassung die Staatsführung. Sie schränkte aber seine innenpolitischen Vollmachten im Vergleich zur vorherigen Machtfülle erheblich ein. In der folgenden Phase der Verfassungsgebung war der Antagonismus der Lager deutlich zu spüren: Erst nach langen Verhandlungen zwischen den politischen Lagern wurde die Verfassung im März 1921 verabschiedet. Sie war letztlich insofern ad personam auf Piłsudski fokussiert, als sich die Rechte mit einer massiven Beschneidung der präsidialen Rechte durchsetzte, um einen starken Präsidenten Piłsudski zu verhindern. Mit der Märzverfassung des Jahres 1921, den Grenzziehungen, der Sejmwahl und der Wahl des Staatspräsidenten 1922 war der

20 Nach dem gleichnamigen Film von Erich Waschnek (1926/27) über den Oberschlesien-­ Konflikt. 21 Vgl. pointiert Jochen Böhler, Europas „Wilder Osten“. Gewalterfahrungen in Mitteleuropa 1917–1923. In: Osteuropa, 64 (2014) 2–4, S. 141–157. Die Gewalterfahrungen im Weltkrieg und während der Grenzkriege führten jedoch zu dem für die Identität des Staats wichtigen Narrativ, das über die Opfer der Soldaten für den Staat berichtete.

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­ taatsbildungsprozess formal abgeschlossen, betraf aber lediglich die oberste S Ebene der staatlichen Hierarchie.22 Die ehemaligen Teilungsgebiete waren wegen der unterschiedlichen Herrschaftssysteme in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht sehr asymmetrisch entwickelt und nur ansatzweise wirtschaftlich und politisch modernisiert worden. So gab es auf den unteren Ebenen der staatlichen Hierarchie vier unterschiedliche Zivil-, Strafrechts- und Bildungssysteme,23 und die insgesamt geringe Wirtschaftsentwicklung war strukturell auf die Ökonomie des jeweiligen Imperiums ausgerichtet worden.24 Dieser höchst unterschiedliche Entwicklungsgrad hatte insgesamt zahlreiche bedeutende politisch-rechtliche und soziale Folgen in Bezug auf die Konsolidierung der Staatsmacht und damit auf die Stabilität der Republik. Die „aus der Teilungszeit geerbte Ungleichzeitigkeit“,25 also der höchst unterschiedliche Entwicklungsstand der Teilungsgebiete, begründete, dass trotz der Errichtung des parlamentarischen Systems die gesellschaftlichen und regionalen Segmentierungen fortbestanden. Die politische, administrative, wirtschaftliche, soziale und nicht zuletzt ethnisch-nationale Integration der Teilungsgebiete war folgerichtig ein Hauptanliegen des Staatsbildungsprozesses, wurde aber nur unzureichend umgesetzt, da rasch klar wurde, dass wegen der strukturell unterschiedlichen Ausgangslage die Staatsmacht zunächst nur partiell und schrittweise etabliert werden konnte. Hierin liegen wesentliche strukturelle Ursachen für die verpasste gesellschaftliche Konsolidierung, die zusehends in zerreißenden politischen Konflikten mündete. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des demokratischen Regimes war, dass aufgrund des zentralistischen Staatsaufbaus die Wojewodschaftsebene nicht durch Wahlen besetzt und die Kommunalordnung erst 1928 (und dann auch nur partiell) reformiert wurde. Dies führte zur paradoxen Situation, dass es teilweise ein Jahrzehnt lang keine kommunalen Neuwahlen gab, weil diese ansonsten nach den Vorkriegsregelungen hätten erfolgen müssen.26 Dies ist umso schwerwiegender, als gerade die lokale Demokratie eine hohe integrative Bedeutung hat.

22 Vgl. Andrzej Kulig, Kształtowanie rządów u progu niepodległej Polski (1917–1926) (Die Gestaltung der Regierungen an der Schwelle des unabhängigen Polen [1917–1926]), Warszawa 2013, S. 115–258; Borodziej, Geschichte, S. 124–127. 23 Vgl. ebd. 24 Insgesamt war der Grad der Industrialisierung mit Ausnahme der Textilstadt Łódź, der Erdölförderung in Ostgalizien und dem Bergbau in Oberschlesien gering. Unter dem Damoklesschwert der Inflation folgte eine Wirtschaftskrise auf die andere. Weiterhin konnte die sozialpolitisch drängende Agrarfrage nicht hinreichend gelöst werden. 25 Ebd., S. 160. 26 1919 fanden daher in Warschau Kommunalwahlen statt, aber in den erst später zum Staatsgebiet hinzukommenden Gebieten wurden diese nicht nachgeholt. Beispielweise amtierte etwa der Lemberger Rat, der vor dem Ersten Weltkrieg nach einem Kurialsystem des Jahres 1870 gewählt worden war, bis 1928. In den südöstlichen Wojewodschaften wurden die Städtestatute erst 1934 eingeführt.

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Darüber hinaus gab es ein gegenseitiges Unverständnis von Repräsentanten der Zentralregierung und den Bewohnern der ehemaligen Teilungsgebiete, aber auch zwischen diesen, weil sie unterschiedliche Interessen und Gewohnheiten herausgebildet hatten. Dies führte auch zur mangelnden Akzeptanz des Zentralstaats und vor allem der Verwaltung als Herrschaft vor Ort. Besonders spürbar war das Problem bei der administrativen Erschließung des Landes durch galizische Beamte, da es polnische Beamte aus den anderen Teilungsgebieten kaum gab. Sie wurden dabei argwöhnisch betrachtet, zumal es auch ein grundsätzliches, traditionelles Misstrauen der lokalen Eliten gegenüber den Repräsentanten des Zentralstaats gab. Die „Galizier“ wurden wegen ihrer „fremden“ Rechtskenntnisse und Gewohnheiten beargwöhnt, nicht zuletzt wegen ihrer zur Habsburgermonarchie loyalen Haltung. Insbesondere die Nationaldemokratie warf ihnen vor, „unpolnisch“ zu sein.27 Umgekehrt ließen sie sich ihrerseits kaum auf die regionalen Besonderheiten jenseits ihrer Heimat ein und sahen mit einer gewissen Arroganz auf die ihrer Meinung nach unterentwickelte Intelligenz der Bürger der übrigen Teilungsgebiete, vor allem auf die „hauptstädtischen Amateure der Regierungskunst“,28 herab. Die Identifikation mit der polnischen Staatsmacht und deren Konsolidierung vor Ort wurde somit durch ein gegenseitiges Unverständnis zwischen den zentralstaatlichen Eliten und der lokalen Bevölkerung ebenso wie mit der parlamentarischen Demokratie erschwert. Somit wurden die demokratischen Strukturen auf der lokalen Ebene nicht implementiert, geschweige denn stabilisiert. Der unvollendete Staatsaufbau auf den unteren Ebenen brachte in der Frühphase der Republik daher nicht die notwendige demokratische Durchdringung aller staatlichen Ebenen und keine Identifikation mit der neuen parlamentarischen Demokratie mit sich.

V.

Parteienzank statt Konsolidierung

Ein weiteres für die parlamentarische Demokratie problematisches Erbe der Teilungszeit war insbesondere die Fragmentierung der Parteienlandschaft. Jede der Parteien hatte einen unterschiedlichen regionalen Schwerpunkt, der sich aus der Teilungszeit ergab, und sich entsprechend divergent entwickelt. Das Parteien­system wurde durch die sehr unterschiedlichen – von sozialistisch bis nationalistisch orientierten – Minderheitenparteien noch komplizierter und für die „Demokratie lernende“ Bevölkerung noch undurchsichtiger: Es war ein

27 Ebd., S. 149 ff. Im wirtschaftlich rückständigen Galizien entstand aufgrund des Ausgleichs von 1867 auf der Landes- und Kommunalebene eine polonisierte Verwaltung. So konnte sich in Galizien bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine bedeutende Zahl von polnischen Verwaltungsbeamten, Juristen und Lehrern entwickeln, auf die der junge Staat zurückgreifen konnte. 28 Hugo Steinhaus zit. ebd., S. 149 f.

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„Spiegelbild der Zerrissenheit des Landes“,29 wobei der tiefe Graben zwischen linkem und rechtem Lager die öffentlichen Diskurse dominierte. Die chauvinistische und antisemitische Nationaldemokratie30 war vielleicht die die meisten Teilungsgebiete umfassende Partei, hatte aber auch eine eigene Ausprägung in Galizien entwickelt. Die Bauernparteien waren programmatisch nicht einheitlich, da sie eine konservativere Partei in Galizien und eine eher linksorientierte Partei in Kongresspolen bildeten.31 Während die Polnische Sozialistische Partei (PPS)32 auf rund drei Jahrzehnte des illegalen Kampfes in Kongresspolen und einige Jahre legaler politischer Arbeit in Galizien zurückblicken konnte, hatte sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gespalten. Ihr Mitbegründer Piłsudski hatte sich bereits vor dem Kriegsausbruch von ihr ideell zu entfernen begonnen, weil seine Anhängerschaft im Unabhängigkeitslager neben Sozialisten und Sozialdemokraten auch liberale und bürgerliche Vertreter des Unabhängigkeitsgedankens umfasste.33 So gab es nach 1918 zahlreiche personelle, ideologische und sicherlich auch emotionale Bindungen, etwa die Erinnerung an den aktiven Kampf während des Ersten Weltkriegs. Die linksorientierten Gruppierungen betonten den Patriotismus und die Fokussierung auf die Staatlichkeit. Sie lehnten gleichermaßen radikal die Nationaldemokratie ab, unterschieden sich aber in Bezug auf sozioökonomische Lösungsansätze und die Interpretation des Verhältnisses von Legislative und Exekutive. Eine massive Belastung war vor allem der unüberwindbare parteipolitische Gegensatz zwischen den Vertretern des linken und rechten Spektrums bzw. personell zugespitzt zwischen Piłsudski und Dmowski, der alle übrigen parteipolitischen Konflikte überlagerte und die politische Mitte letztlich neutralisierte. Er zementierte sich in der Staatsgründungsphase und den nachfolgenden politischen Krisen zunehmend. Im Gegensatz zu Dmowski34 verfügte Piłsudski

29 Hugh Seton-Watson, Osteuropa zwischen den Kriegen, Paderborn 1948, S. 186. Rothschild (East Central Europe, S. 31) zählt für das Jahr 1926 26 polnische und 33 Minderheitenparteien. 30 Vgl. Włodzimierz Mich, Obcy w polskim domu. Nacjonalistyczne koncepcje rozwiązania problemu mniejszości narodowych 1918–1939 (Fremde im polnischen Haus. Nationalistische Konzepte zur Lösung des Problems der nationalen Minderheiten 1918–1939), Lublin 1994, der sich insbesondere auf den Antisemitismus konzentriert. 31 Vgl. Gerhard Doliesen, Die polnische Bauernpartei „Wyzwolenie“ in den Jahren 1918–1926, Marburg 1995; vgl. zur moderateren Bauernpartei Ryszard Szaflik, Polskie Stronnictwo Ludowe Piast 1926–1931 (Die Polnische Bauernpartei Piast 1926–1931), Warszawa 1970. 32 Z. B. vgl. Kazimierz Wiech, Polska Partia Socjalistyczna 1918–1921 (Die Polnische Sozialistische Partei 1918–1921), Warszawa 1978; Józef Soroka, Polska Partia Socjalistyczna wobec problemów kulturalno-oświatowych 1918–1939 (Die Polnische Sozialistische Partei angesichts der Kultur- und Bildungsprobleme 1918–1939), Wrocław 1995. 33 Zum ideologischen Werdegang Piłsudskis bis 1914 vgl. Hein, Piłsudski-Kult, S. 34–42. 34 Zur nach ihren Initialen benannten Endecja (ND) gibt es nur wenige umfassende Studien: Roman Wapiński, Narodowa Demokracja 1893–1939. Ze studiów nad dziejami nacionalistycznej (Die Nationaldemokratie 1893–1939. Aus den Studien zur nationalistischen Geschichte), Wrocław 1980.

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nicht über eine parteipolitische Hausmacht. Dieses Defizit wurde im Zuge seiner schrittweisen Entmachtung bis 1923 immer deutlicher. Weil er eine stabile politische Basis benötigte, griff er, ohne zunächst eine Partei zu gründen, auf die ehemaligen Legionäre, unter ihnen zahlreiche Intellektuelle, zurück und gründete den Legionärsverband (Związek Legionistów Polskich).35 Er band hierdurch seine ihm im Krieg treu ergebene Anhängerschaft an sich, die meist ohne fundierte Ausbildung und wirkliche Perspektive in das staatliche Leben der jungen Republik integriert werden musste. Die Legionäre waren nicht nur von der bisherigen Entwicklung enttäuscht, sondern fühlten sich, wie bereits im Kriege, von der polnischen Gesellschaft verraten.36 Hierdurch entwickelte sich eine für die politische Kultur und die parlamentarische Demokratie gefährliche außerparlamentarische Opposition, auf die Piłsudski später beim Putsch 1926 zurückgreifen konnte. Zu Lackmustests für die junge Demokratie und für den Integrationswillen der Parteien wurden im Herbst 1922 vor diesem Hintergrund die Parlamentswahlen und die wenige Wochen später stattfindenden Präsidentenwahlen durch Sejm und Senat. Allein der Zeitpunkt der Wahlen macht deutlich, wie wenig die Parteipolitiker der Konstituante die Regeln demokratischer Arbeit internalisiert hatten. Es herrschte 1921 die Sorge vor, der durch die Grenzziehung neu inkorporierten Minderheitenbevölkerung das Wahlrecht zuzugestehen und damit politische Unwägbarkeiten eingehen zu müssen.37 Somit verzögerten die Abgeordneten der Konstituante die eigentlich nach der Verfassungsverabschiedung anstehenden Wahlen um mehr als ein Jahr. Ziel war es, möglichst zahlreiche grundlegende Regelungen ohne Mitsprache der dann zu erwartenden höheren Zahl an Minderheitenvertretern im Sejm beschließen zu können. Bei den Wahlen im Herbst 1922 erhielt die Rechte rund 28 Prozent, die politische Mitte insgesamt 29,9 und die Linke 22,1 Prozent.38 Die Wahlen führten mit 17 im Sejm vertretenen Parteien zu einer Fragmentierung des Sejms. Zudem hatte es selbst die ethnische Polen bevorzugende Wahlordnung nicht verhindern können, dass die Minderheitenparteien bei den Wahlen 1922 rund 20 Prozent der Stimmen erhielten, obwohl die ostgalizischen Ukrainer die Wahlen boykottiert hatten.39

35 Vgl. Andrzej Garlicki, Józef Piłsudski, Warszawa 1988, S. 240–247, S. 285. 36 Vgl. Jerzy Kochanowski, Horthy und Piłsudski – Vergleich der autoritären Regime in Ungarn und Polen. In: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, S. 19–94, hier 34. 37 Vgl. Cornelia Schenke, Nationalstaat und nationale Frage. Polen und die Ukrainer 1921–1939, München 2004, S. 44. 38 Vgl. Juliusz Bardach, Dzieje Sejmu Polskiego (Geschichte des polnischen Sejm), Warszawa 2011, S. 153. 39 Hierdurch wollten die galizischen Ukrainer zeigen, dass sie die Inkorporation Ostgaliziens nach Polen nicht akzeptierten. Anders verhielten sich dagegen die im ehemaligen Kongresspolen lebenden Ukrainer, in dem sie die sich aus den Wahlen ergebenden Chancen ergreifen wollten. Vgl. Schenke, Nationalstaat und nationale Frage, S. 44 f.

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Aus der sich im Wahlergebnis manifestierenden parteipolitischen Zersplitterung und dem die politische Kultur prägenden Konflikt zwischen den politischen Lagern ergaben sich in den folgenden Jahren zahlreiche Regierungskrisen mit 13 Kabinettswechseln bis zum Mai-Putsch 1926. Nachdem bereits der Machtkampf der Lager in der Konstituante das Ansehen der Parlamentarier massiv beschädigt hatte, führte das Agieren der meisten Abgeordneten zu einem weiteren Vertrauensverlust in die Arbeit des Parlaments. Das dem Druck der Erwartungshaltungen der jeweiligen Klientel nicht standhaltende Gebaren der politisch kaum erfahrenen, nicht durch eine Fraktionsdisziplin einhegbaren Abgeordneten paralysierte die legislative Arbeit des Sejms. Er konnte seine integrative Rolle40 nicht wahrnehmen. Somit waren die folgenden Jahre von einem fortschreitenden Akzeptanzverlust der parlamentarischen Demokratie und Demoralisierung der Politiker gekennzeichnet. Besonders deutlich wurde das mangelnde demokratische Verständnis bei den Präsidentenwahlen durch Sejm und Senat im Herbst 1922. Sowohl Piłsudski als auch sein Kontrahent Dmowski verzichteten wegen der rein repräsentativen Aufgaben des Staatspräsidenten auf eine Kandidatur. Die Aufstellung der fünf Kandidaten und die fünf für die Findung einer absoluten Mehrheit notwendigen Wahlgänge zeigten die Borniertheit und die fehlende Kompromissbereitschaft der Fraktionen:41 So war für die Abgeordneten der Bauernpartei beispielsweise der nationaldemokratische Großgrundbesitzer Graf Maurycy Zamoyski nicht wählbar. Nachdem die Minderheitenvertreter sich für Gabriel Narutowicz, der ursprünglich ein Verlegenheitskandidat der linken Bauernpartei gewesen war, ausgesprochen hatten, überrundete dieser Zamoyjski mit den Stimmen der Linken, der Bauernpartei und der Minderheitenvertreter mit 289 zu 227 Stimmen. Es kam bereits vor der Vereidigung von Narutowicz zu gewalttätigen Demons­ trationen seitens des rechten Blocks gegen das Wahlergebnis, da die Rechte das Mitbestimmungsrecht der Minderheiten nicht akzeptieren wollte und somit die Legitimität des Präsidenten anzweifelte. Nach wenigen Tagen im Amt wurde Narutowicz von einem nationaldemokratischen Einzeltäter ermordet. Polen befand sich an der Schwelle zu einem Bürgerkrieg.42 Angesichts des aufgeheizten politischen Klimas ließ die Rechte von weiteren Zusammenstößen ab und verzichtete auf Polemik, als der vergleichsweise wenig bekannte Kandidat des Zentrums Stanisław Wojciechowski nur elf Tage nach der Ermordung von Narutowicz zum Präsidenten mit der gleichen Stimmenverteilung wie dieser

40 Vgl. Andrzej Ajnenkiel, Sejm jako czynnik integracji narodu i państwa (Der Sejm als Faktor der Integration des Volks und des Staats). In: Andrzej Zakrzewski (Hg.), Sejmy Drugiej Rzeczypospolitej, Warszawa 1990, S. 9–53, hier 41 f. 41 Vgl. ebd., S. 127 f. 42 Vgl. Cat (Stanisław Mackiewicz), Dziś i jutro (Heute und morgen). In: Słowo (Das Wort) vom 19.12.1922, zit. nach Daria Nałęcz (Hg.), Nie szablą, lecz piórem. Batalie publistyczne II Rzeczypospolitej (Nicht mit dem Säbel, aber mit der Feder. Publizistische Schlachten der 2. Republik), Warszawa 1993, S. 47–49. Cat verweist auf die Haltung der Minderheiten, die im Mord ein Signal zum Bürgerkrieg erkennen würden.

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gewählt wurde.43 Die erste tief greifende Krise der Demokratie schien überwunden, das schlechte Ansehen des Parlaments jedoch nicht. Der erste politische Mord der Republik wurde zu einem Trauma der politischen Eliten, das gerade die Linke immer wieder in der Publizistik thematisierte und als Argument der Versicherheitlichung nutzte.44 Dem formalen Abschluss des Staatsaufbaus folgten weitere Machtproben: 1923 wurde Piłsudskis als Generalstabschef und Vorsitzender des Engeren Kriegsrates durch ein Mitte-rechts-Bündnis entmachtet. Dies hatte zur Folge, dass er von da an als Privatier beleidigt gegen das System wetterte und die öffentliche Meinung gegen das verächtlich als Parlamentsherrschaft („Sejmokratie“) diffamierte politische System aufzubringen versuchte.45 Aufgrund der durch die Hyperinflation und Wirtschaftskrise hervorgerufenen, teilweise gewaltsam beendeten Streiks und Demonstrationen wurde deutlich, dass weder eine Mitte-rechts-Regierung Durchsetzungskraft hatte, noch eine Mitte-links-Koalition oder ein Bündnis der Linken mit den Minderheitenparteien realisierbar war. Die Linke demonstrierte aber stets, dass ohne oder gar gegen sie nicht regiert werden könne. 1924 setzte sich angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse im Parlament der Nationaldemokrat Władysław Grabski mit einem Kabinett von nicht parteipolitisch profilierten Fachleuten durch und regierte knapp zwei Jahre. Er trat mit dem Ziel an, die ruinierte und von Inflation bedrohte Wirtschaft zu sanieren. Bedeutsam für seine relativ stabile Regierung war vor allem das Jahr 1924, weil der Sejm sich für ein halbes Jahr selbst entmachte und Grabski freie Hand für die geplanten Wirtschaftsreformen erhielt. Auch die auf Grabskis Kabinett folgende einzige große Koalition im Polen der Zwischenkriegszeit scheiterte an der Wirtschaftskrise. Die Anfang Mai 1926 eingesetzte Mitte-rechts-Regierung forderte die Linke wieder heraus.46 Der Staat war um die Mitte der 1920er-Jahre also von einer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stabilisierung weit entfernt. Das politische Klima wurde angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krise, des unüberwindbaren Parteienzanks, der resultierenden gesellschaftlichen wie politischen Verunsicherung und der daraus entwachsenden Demokratiekritik zusehends vergifteter.

43 Aufruf von Stanisław Stroński, Ciszej nad trumną (Leiser am Sarg). In: Rzeczpospolita (Republik) vom 17.12.1922, zit. nach ebd., S. 31–34. 44 So etwa Tadeusz Hołówko, Brońmy Polski przed prawicowym Bolszewizm (Lasst uns Polen vor dem rechten Bolschewismus verteidigen). In: Robotnik (Der Arbeiter) vom 14.12.1922, zit. nach ebd., S. 38 f. Ein Stichwortgeber war Piłsudski, vgl. Józef Piłsudski, Wspomienia o Gabrielu Narutowiczu (Erinnerungen an Gabriel Narutowicz). In: ders., Pisma zbiorowe (Gesammelte Schriften), Band 6, Warszawa 1937, S. 36–59. 45 Vgl. Hein, Piłsudski-Kult, S. 51. 46 Vgl. Borodziej, Geschichte, S. 142–162.

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VI.

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Demokratiekritik und Versicherheitlichungsdiskurse

Praktisch alle Auseinandersetzungen um innenpolitische Fragen wurden in den Anfangsjahren der Republik, in verstärktem Maße gegen Mitte der 1920er-Jahre, zum Spiegel des sich weiter vertiefenden Grabens zwischen den politischen Blöcken und gesellschaftlichen Gruppen sowie ihrer Protagonisten. Die Phase nach Abschluss des formalen Staatsgründungsprozesses, die eigentlich zur Konsolidierung des politischen Systems hätte genutzt werden können, zeichnete sich durch eine stetige Abfolge politischer und wirtschaftlicher Krisen aus; die ausbleibende außen-, vor allem aber innenpolitische und gesellschaftliche Konsolidierung korrelierte daher mit einer tief gehenden Kritik an der politischen, ökonomischen und nicht zuletzt gesellschaftlichen Schwäche des Staats und des parlamentarischen Systems. Diese Kritik lässt sich im Wesentlichen damit in zwei inhaltliche Schwerpunkte untergliedern.47 Seitens der Rechten wurden zunächst intensiv die Position und Rechte der nationalen Minderheiten im Staat kritisiert. Hier ist das nationalitätenpolitische Dilemma, das durch die Territorialbildung entstanden war, deutlich zu spüren. Die Regierung, an der fast immer die Nationaldemokraten beteiligt waren, versuchte, nationalstaatliche Ambitionen gegen die Minderheitenbevölkerung durchzusetzen, die durch den mit dem Versailler Vertrag abgeschlossenen Minderheitenschutzvertrag mit einem besonderen internationalen Schutz versehen war. Diese Politik führte dazu, dass sich die Minderheiten zunehmend von der Repu­ blik entfremdeten. Die innenpolitisch motivierten Diskurse über die Rolle der Minderheiten erfolgten auch vor dem Hintergrund des oben skizzierten triadic nexus (Rogers Brubaker), der Abhängigkeit von Minderheiten- und Außenpolitik. Hierbei spielte die nationaldemokratische Publizistik eine entscheidende Rolle, sah sie doch den polnischen Charakter des Staats und letztlich die Staatlichkeit insgesamt dadurch gefährdet. Diese Haltung hatte bereits im Rahmen der Konstituante und der ersten Wahlen zu minderheitenfeindlichen Diskursen geführt, die ihren Höhepunkt nach der ersten Präsidentenwahl erreichten.48 In der zu diesem Zeitpunkt verdichteten Form charakterisieren sie deutlich die Haltung der Rechten. Sie warfen Narutowicz vor, unter den Polen keine Mehrheit zu haben, und hielten daher seine Wahl mit Stimmen der Minderheiten für ungültig. Symp­tomatisch sind hierfür die Äußerungen über „Ihr[en] Präsident[en]“49 durch einen der Hauptwortführer, den Publizisten Stanisław

47 Repräsentative Quellentexte in Tomasz Nałęcz, Spór o kształt demokracji i parlamentaryzmu w Polsce w latach 1921–1926 (Streit um die Gestalt der Demokratie und des Parlamentarismus in Polen in den Jahren 1921–1926), Warszawa 1994. 48 Vgl. Zloch, Polnischer Nationalismus, S. 53–94. 49 Stanislaw Stroński, Ich Prezydent (Ihr Präsident). In: Rzeczpospolita (Republik) vom 10.12.1922, zit. nach Nałęcz (Hg.), Nie szablą, S. 16–18. Vgl. auch Andrzej Ajnen­kiel, Od rządów ludowych do przewrotu majowego. Zarys dziejów politycznych Polski 1918– 1926 (Von den Volksregierungen zum Mai-Umsturz. Abriss der politischen Geschichte Polens 1918–1926), Warszawa 1978, S. 330 f.

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Stroński: Seiner Ansicht nach gab es selten eine gleichermaßen klare und tiefe Entehrung Polens, gegen die die polnische Mehrheit kämpfen und keinesfalls die Arbeit am Staat (praca państwowa) aufgeben müsse. Er zweifelte somit vor allem die politischen Beteiligungsrechte der Minderheiten an, da sie sich überhaupt nicht um das Wohl und die Stärke Polens kümmerten. Er bezichtigte sie der Illoyalität, beispielsweise in dem er den Deutschen vorwarf, die Entnatio­ nalisierung (wynarodowienie) der Polen zu fordern.50 Narutowicz’ Wahlsieg interpretierte er als polnische Niederlage und als Sieg der Minderheiten, sodass die gewalttätigen Demonstrationen gegen diese Wahl gerechtfertigt seien. Denn das Volk, „in dessen Adern Blut und nicht Jauche fließt“, müsse „in Aufruhr geraten“, also sich verteidigen, wenn „fremde Nationalitäten feindlich gegen das Polentum auftreten“.51 Daraus folgerte er, dass die „polnische Allgemeinheit [das Ergebnis der Präsidentenwahl] als Gefahr [niebezpieczeństwo] und als Erniedrigung [poniżenie] empfinden muss“.52 In der publizistischen Aufarbeitung der auf der politischen Rechten als Schmach empfundenen Wahl des Präsidenten mit Unterstützung der parlamentarischen Vertreter der Minderheiten werden also die politischen Beteiligungsmöglichkeiten der Minderheiten als Loyalitäts- und vor allem als Sicherheitsproblem für den polnischen Staat und die polnische Nation dargestellt. Die Auseinandersetzung um die Präsidentenwahl ist somit eine wichtige Etappe der aufkommenden Demokratiekritik seitens der politischen Rechten, die zeigt, dass sich die Rechte nicht mit der Verfassungsordnung identifizierte. Während die Nationaldemokratie versuchte, die Linke als Interessenvertreter der Minderheiten darzustellen, und gegen deren politischen Beteiligungsrechte polemisierte, rief einer der wichtigsten Publizisten der Linken, Tadeusz Hołówko, dazu auf, „Polen vor dem rechten Bolschewismus [zu] verteidigen“,53 also vor dem Diktat der rechten, nationaldemokratischen Ideologie zu schützen, da es der Nationaldemokratie nicht um Polen, sondern nur um die eigenen Interessen gehe. Bereits hier wird das Motiv deutlich, den politischen Gegner als Gefahr für den Staat zu diffamieren.54 Zunehmend wurde das parlamentarische System als Sicherheitsproblem für die Staatlichkeit wahrgenommen. Hierbei wurde einerseits der politische Gegner diffamiert, andererseits die parlamentarische Demokratie und zumindest seitens der Rechten die Verfassungsordnung mit ihren Beteiligungsrechten für die natio­nalen Minderheiten angeprangert. Die fast zweijährige, damit

50 Ders., Winowajcy (Täter). In: Rzeczpospolita (Republik) vom 15.12.1922, zit. nach Nałęcz (Hg.), Nie szablą, S. 26–29, hier 27. 51 Ders., Obłuda, S. 20 und ders., Prawo i jego istota (Das Recht und sein Charakter). In: Rzeczpospolita (Republik) vom 13.12.1922, zit. nach ebd., S. 21–24, hier 22. 52 Ebd., S. 23. 53 Hołówko, Brońmy, S. 34–39. 54 Damit spielt Hołówko auch auf den nach dem „Wunder an der Weichsel“ insbesondere seitens des Piłsudski-Lagers gepflegten Mythos von Polen als Bollwerk gegen den Bolschewismus an. Hierin impliziert er eine Beschützerrolle seines Lagers für Polen.

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vergleichsweise dauerhafte Regierung Grabskis hatte schließlich der politischen Öffentlichkeit gezeigt, dass die Republik auch ohne Sejm auskommen konnte, was die Kritik an der parlamentarischen Demokratie weiter steigerte. Leitthemen auf allen Seiten waren die Korruption und die Unfähigkeit des Staatsapparats. Deutlich wird dies etwa bei dem Leitartikel des einflussreichen konservativen „Ilustrowany Kurier Codzienny“ („Illustrierter Täglicher Kurier“) aus dem Jahr 1925, der die legislative Arbeit des Sejm als fast gar nicht vorhanden darstellte. Die Abgeordneten würden sich, anstelle zu arbeiten, lieber in der Kantine aufhalten und wie „schreckliche Kinder“55 intrigieren. Angeheizt wurde sie durch Äußerungen der beiden einflussreichsten Politiker des Landes. So zeigte sich Dmowski von der bisherigen Entwicklung enttäuscht. Er charakterisierte sie als „Wettlauf an die Futtertröge“56 und sprach sich gegen das demokratische System aus. Um „die Gesellschaft aus diesem gefährlichen Traum aufzuwecken“,57 begann er öffentlich über einen Staatsstreich, eine Diktatur oder sogar eine autokratische Monarchie in Polen nachzudenken. Er wünschte sich eine faschistische Organisation wie in Italien und für Polen einen „Mann, der einen Wert wie ein halber Mussolini“58 besäße, den er als „zweifellos größten Mann im heutigen Europa“59 bezeichnete. Die Presseorgane beider Lager griffen diese Gedankenspiele in ihrer Weise auf, diskutierten und reflektierten sie ausführlich: So kam der „Ilustrowany Kurier Codzienny“ kurz vor dem Rücktritt Grabskis zum Schluss, dass „sich der Sejm selbst ausstreicht“. Es sei nicht verwunderlich, dass überall in der Bevölkerung deutlich werde: Es gehe um die „Rettung der staatlichen Existenz vor den aggressiven Krallen der Räuber und Taugenichtse“. Daher verspüre man überall die Sehnsucht nach einer „starken Hand, welche uns Rettung bringt“ und nach einer „grundlegenden Änderung der heutigen Verhältnisse“.60 In sehr ähnlicher Weise kritisierte die Linke, jedoch aus ihrer Perspektive, die parlamentarische Demokratie. Wie Dmowski gerierte sich auch Piłsudski, der seit seinem Rückzug ins Privatleben 1923 ein politisches Problem aller Regierungen war, als „Souffleur“ für seine Gefolgsleute. Seine stetige Polemik gegenüber den Institutionen der parlamentarischen Demokratie steigerte sich schrittweise. Die Regierung sah er als Symbol der „kranken“, korrupten „Sejmokratie“.61 Er

55 NN, Nieustający wiec przy ul. Wiejskiej (Nichtzureichende Zusammenkunft an der Wieska-Straße). In: Ilustrowany Kurier Codzienny vom 8.11.1922. 56 Roman Dmowski, Sny i rzeczywistość (Träume und Realität, Serie von vier Artikeln im Dezember 1925 in der Gazeta Warszawa), (http://chomikuj.pl/bzbij/Dmowski+­ Roman/SNY+A+RZECZYWISTOSC,3179463220.doc; 30.9.2014). 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ilustrowany Kurier Codzienny vom 11.11.1925, vgl. auch Borodziej, Geschichte Polens, S. 145. 61 Rede Piłsudskis auf dem Legionärskongress am 6.8.1923, zit. nach Piłsudski, Pisma, Band 6, S. 79–82, hier 80, auch im Interview vom 24.4.1926. In: Ebd., Band 8, S. 330.

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machte schließlich seinen politischen Erzgegner, die Nationaldemokraten, für das Versagen der parlamentarischen Demokratie verantwortlich und stellte sie als Verkörperung der Missstände im Staat dar.62 Die Lügen seiner Gegner – und dazu zählte er nach dem Bündnis der „Bauernpartei – Piast“ mit den Nationaldemokraten auch deren Vertreter – brächten „unsere Existenz als Staat und Nation in Gefahr“.63 So war für Piłsudski insbesondere der Regierungsantritt der Regierung Witos im Mai 1926 Anlass, einen Kampf gegen das Hauptübel im Staat anzukündigen, gegen die „Herrschaft der ungezogenen Parteien über Polen“.64 Die von der bisherigen Entwicklung Enttäuschten im Lager der politischen Linken und teilweise auch der politischen Mitte konnte er ebenso von dieser „Krankheit“ des Staats überzeugen wie von seiner Auffassung, diese sei nur ein Vorbote einer Machtergreifung durch die Rechte, wobei Dmowskis Gedankenspiele Wasser auf seine Mühlen waren. Die Kritik an der Verfassungsordnung der parlamentarischen Demokratie ist somit ein Symptom für die verpasste Konsolidierung des polnischen Staats: Die Schwäche der parlamentarischen Demokratie wurde dafür verantwortlich gemacht, dass die strukturellen Grundprobleme aus der Teilungszeit und Kriegszeit nicht überwunden worden waren. Allen waren zwar die desaströsen Folgen des Weltkriegs und der nachfolgenden Grenzkriege – also von insgesamt sechs Jahren gewalttätiger und kräftezehrender Auseinandersetzungen – bewusst, doch wurden sie in der politischen Auseinandersetzung nicht zugunsten der parlamentarischen Demokratie in die Waagschale geworfen. Vielmehr wurden die Probleme vor allem der lediglich mangelhaft funktionierenden parlamentarischen Demokratie angelastet. Die Kritik an der parlamentarischen Demokratie steigerte sich so in Wechselwirkung mit den skizzierten politischen und wirtschaftlichen Krisen und kulminierte in den Monaten vor dem Mai-Putsch 1926. Hierbei wurde die parlamentarische Demokratie für die politischen und publizistischen Akteure als die Ursache der geschwächten, gefährdeten Staatlichkeit wahrgenommen und zum Sicherheitsproblem für diese stilisiert. Durch diese Diskurse verstärkte sich wiederum die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, indem immer wieder Szenarien einer inneren, durch Korruptheit und Fehlentwicklungen des parlamentarischen Systems entstandenen Bedrohungslage entwickelt wurden und die Staatlichkeit in Verbindung mit außenpolitischen Bedrohungsszenarien als gefährdet dargestellt wurde. Die innen- wie außenpolitische Schwäche Polens wurde somit als umfassendes Sicherheitsrisiko für die Staatlichkeit wahrgenommen. Diese Versicherheitlichungsdiskurse zielten nicht auf den Erhalt der parlamentarischen Demokratie, sondern auf die

62 Vgl. Hein, Piłsudski-Kult, S. 51–53. Deutlich wird in der Retrospektive, dass seine verstärkte Präsenz in der Presse seit 1925 zumeist in Formen von Interviews der mentalen Vorbereitung des Putsches diente. 63 Interview vom 24.4.1926. In: Piłsudski, Pisma, Band 8, S. 330. 64 Interview im Kurier Poranny (Morgenkurier) vom 11.5.1926. In: Piłsudski, Pisma, Band 8, S. 336.

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„Gesundung“ des Staats und damit auf eine starke Staatlichkeit. Hierbei ist zu beachten, dass die Diskurse auf beiden politischen Seiten durchaus eine deutliche Reminiszenz an die zeitgenössische Bewertung der Teilungen ausdrückten, wonach die innere Schwäche und die Reformunfähigkeit zur Teilungssituation geführt hatten. Insgesamt wurde durch diese Wahrnehmung das Empfinden der Krise(n) und staatlichen Schwäche kanalisiert. Die Beantwortung der Frage, wie die Staatlichkeit gesichert werden könne, war damit zum Zankapfel zwischen beiden Lagern geworden.

VII. „Moralische Gesundung“ nach dem Mai-Putsch Das skizzierte diskursive Hochrüsten der politischen Lager spiegelt den Kampf der Lager um die Deutungshoheit der Krise wider. Sie implizierte das Streben nach Durchsetzung der eigenen politischen Bestrebungen. Piłsudski, der nach wie vor hohe Autorität im Land besaß, begann am 12. Mai 1926 gegen die „Sejmokratie“ unter dem bereits während des diskursiven Hochrüstens durch den Publizisten Adam Skwarczyński geprägten Schlagwort der „moralischen Gesundung“ („sanacja moralna“) zu putschen.65 Anlass dafür waren Gerüchte, Piłsudski solle verhaftet werden und er sei in seinem Haus außerhalb Warschaus beschossen worden. Einige ihm loyal gesinnte Regimenter rückten aus, um ihn zu beschützen, und zogen mit ihm am Nachmittag nach Warschau. Auf der Poniatowski-Brücke traf er mit dem Staatspräsidenten zusammen, der da­rauf bestand, das bisherige politische System beizubehalten. Nach dem Scheitern der Verhandlungen organisierten sich die Kräfte, und am 13. Mai kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen, die auch auf andere Garnisonsstädte übergriffen. Durch den Generalstreik der Warschauer Arbeiter und Angestellten, insbesondere der Eisenbahner, wurden die Kämpfe am 14. Mai zugunsten Piłsudskis entschieden. Die Regierung und der Staatspräsident traten zurück, sodass am 15. Mai ein Waffenstillstand geschlossen werden konnte. In den folgenden Wochen und Monaten musste die errungene Macht konsolidiert werden. Piłsudski selbst begnügte sich mit den Ämtern des Kriegsministers und Generalinspekteurs der Streitkräfte und übernahm nur zweimal für wenige Monate selbst das Amt des Ministerpräsidenten. Auch wenn er sich gegen eine schrankenlose Diktatur aussprach, hatte er faktisch die Position eines Diktators inne. Trotz seiner verächtlichen Haltung gegenüber dem Sejm war er aber bemüht, im Rahmen der Verfassung zu handeln. Daher ließ er seit August 1926 schrittweise das Verfassungssystem umbauen, ohne den gesellschaftlichen Pluralismus zu beseitigen. Er suchte einerseits den Schulterschluss mit den nicht-nationaldemokratischen Konservativen und entfernte sich andererseits zunehmend von der Lin-

65 Zur Forderung einer Koalition für eine gesellschaftliche Gesundung vgl. Głos Prawdy (Stimme der Wahrheit) vom 1.5.1926.

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ken. Erst 1928 wagte das nun als „Sanacja“ titulierte Regime, die überfälligen Parlamentswahlen durchzuführen. Der von Piłsudski begründete „Parteilose Block der Zusammenarbeit mit der Regierung“ („Bezpartyjny Blok Współpracy z Rządem“, BBWR) sollte die Opposition neutralisieren. Jedoch wuchs seitdem die politische Opposition gegen das Regime immer stärker, auch weil es sich durch politische Affären selbst in Misskredit brachte. Im November 1930 wurde schließlich die politische Opposition ausgeschaltet. Erst die Verabschiedung der Aprilverfassung kurz vor dem Tod Piłsudskis 1935 schloss den Umbau der Verfassungsordnung ab.66 Das politische Schlagwort der moralischen Gesundung wurde nach 1926 zum Namensgeber des „Sanacja-Regimes“, das letztlich nur durch seinen Spiritus Rector und Führer Piłsudski sowie durch den dieser Parole inhärenten Antiparlamentarismus und die Fixierung auf einen starken Staat zusammengebunden wurde. Diese Entwicklung griffen die nationaldemokratischen Publizisten meist auf, indem sie „sogenannt“ („t.zw.“) vor „Sanacja“ setzten und deren Gefolgsleute als „Sanierer“ („sanatorzy“) bezeichneten. Dies deutete eine kritische, gegnerische Haltung an, ohne dass sie außer einer Würdigung Dmowskis nun alternative Handlungsoptionen aufzeigten. Dass Polen ihrer Meinung nach von einer „Sanierung“ weit entfernt sei, wird etwa in einem Artikel der Gazeta Warszawska (Warschauer Zeitung) zum dritten Jahrestag des Mai-Umsturzes deutlich, in dem darauf hingewiesen wird, das Problem einer „moralischen ­Gesundung“ sei brennender denn je. Die „moralische Gesundung“ blieb das zentrale diskursive Motiv des Regimes. Diese Parole findet sich direkt oder zumindest in entsprechenden Anspielungen und Umschreibungen in den politischen Diskursen des Regimes nach 1926 stets als selbst legitimierendes Argument. Deutlich wird dies bei einer Rede Piłsudskis vor dem Sejm, in der er den Putsch mit seinem Antiparlamentarismus rechtfertigte. Er sah Egoismus und Parteienzank als Hauptursachen „des Elends, der inneren und äußeren Schwäche“, wodurch „keine Wiedergeburt der Volksseele“ erfolgt sei, sodass es sein Ziel gewesen sei, die herrschenden Schurkereien zu vermindern und den Weg für ehrliche Arbeit freizumachen.67 „Sanacja moralna“ kann man daher auch als Parole der Versicherheitlichung interpretieren, die einerseits das wahrgenommene Sicherheitsproblem für die Staatlichkeit metaphorisch, aber gerade dadurch einprägsam umschrieb, und andererseits den Lösungsweg für dessen Rettung vorgab: eine grundlegende „moralische Gesundung“ des Staats als Bekämpfung des Hauptübels, die innere Zerrissen- und Korruptheit sowie die Parlamentsherrschaft. Es wurde als Hauptargument bei der Errichtung und Legitimierung der Diktatur genutzt.68

66 Vgl. Hein, Piłsudski-Kult, S. 53–61. 67 Vgl. Rede vor dem Sejm am 29.5.1926. In: Hein-Kircher, Zweite Republik (http://www. herder-institut.de/resolve/qid/21.html; 12.2.2015). 68 Vgl. Interview im Kurier Poranny (Morgenkurier) vom 11.5.1926. In: Piłsudski, Pisma, Band 8, S. 336.

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Deutlich wird dies beispielsweise in einem Leitartikel des sozialistischen „Robotnik“ („Der Arbeiter“), der die „moralische Gesundung“ mit dem „Sieg der Demokratie“ in Verbindung bringt.69 Ziel war es, ein neues staatsbürgerliches Bewusstsein zu schaffen, in dem das private Interesse zurücktreten und die Gesellschaft moralisch gereinigt werden sollte.70 Mit der Implementierung dieser Parole als Hauptziel des Putsches und des nachfolgenden politischen Handelns des neuen „Sanacja“-Regimes wurde somit das Scheitern des parlamentarischen Systems auch diskursiv festgeschrieben.

VIII. Fazit „Der soeben entstandene nationale Massenmarkt der politischen Bewegungen füllte sich rasch mit Verdächtigungen und Hass.“71 Dieses ernüchternde Fazit des polnischen Historikers Włodzimierz Borodziej bezüglich des aufgeheizten politischen Klimas in den Anfangsjahren der Zweiten Republik ist mit der Feststellung zu ergänzen, dass die politischen Akteure auf diesem Massenmarkt zunehmend Kritik an der parlamentarischen Demokratie äußerten und sie damit infrage stellten. Die tief greifende Kritik an der parlamentarischen Demokratie, die in ihre Verachtung mündete, war Ausdruck einer letztlich alle Schichten umfassenden Verunsicherung aufgrund umfassender struktureller Probleme und eines in Misskredit stehenden politischen Systems. Ausgehend von der Wahrnehmung der Demokratie als Sicherheitsproblem, war dieser Kritik immer die Forderung inhärent, die deutlich empfundene Schwäche der parlamentarischen Demokratie zu überwinden, um die staatliche Existenz Polens nicht zu gefährden.72 Durch das Wechselspiel von verpasster Konsolidierung, Demokratiekritik und mitschwingenden Versicherheitlichungsdiskursen wurde das demokratische System zunehmend als Hauptproblem für die innere und äußere Schwäche des Staats verantwortlich gemacht. Die Diskurse von links und rechts weisen daher auf Handlungsanleitungen respektive Lösungsansätze hin, die Krisen und in den Diskursen entwickelten Bedrohungsszenarien durch eine grundlegende „Gesundung“73 des Staats und der polnischen Gesell69 Vgl. Sanacja moralna i zwycięstwo demokracji (Die moralische Gesundung und der Sieg der Demokratie). In: Robotnik (Der Arbeiter) vom 29.5.1926. 70 Vgl. das Leitmotiv des Głos Prawdy (Stimme der Wahrheit) vom 15.5.1926: „Zwycięski przewrót moralny“ (Der siegreiche moralische Umsturz). 71 Borodziej, Geschichte S. 144, vgl. auch ebd., S. 144–149. 72 Vgl. Tadeusz Holówko, Ostatnia Okupacja (Die letzte Besatzung). In: Droga (Der Weg) vom 1.1.1916, zit. nach Nałęcz, Spór, S. 71–80, hier 74, 80. Vgl. Kochanowski, Piłsudski, S. 41, verweist darauf, dass diese Parole die Ablehnung des vorhergehenden demokratischen Regimes als Conditio sine qua non für die Errichtung eines autoritären und totalitären Regimes implizierte. 73 Dies ist nach ebd. (S. 43) eine herausragende Möglichkeit, sich und den Gegner nach den Kategorien „gut“ und „böse“ darzustellen und mit konkreten politischen Zielsetzungen zu verschmelzen.

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schaft zu überwinden. Die Bedrohung der Staatlichkeit könne, so das Credo der Diskurse, nur durch eine notwendige innere Konsolidierung und Stärkung überwunden werden, wobei sich der jeweilige Interpret der „Gesundung“ die alleinige Kompetenz zur Einleitung der notwendigen Maßnahmen zuschrieb. Damit schwingen in den Diskursen über die als krank wahrgenommene parlamentarische Demokratie und die daraus resultierende Forderung einer „moralischen Gesundung“ immer wieder Motive der „Versicherheitlichung“ mit. Sie kanalisierten die Demokratiekritik zunehmend in der Art, dass es weder um den Erhalt der durch die Krisen bedrohten demokratischen Ordnung ging noch um die Stärkung des parlamentarischen Systems. Vielmehr zielten sie lediglich auf die Rettung und Schaffung eines starken polnischen Staats – nach innen und außen gleichermaßen. Infolgedessen begründeten sie, warum die parlamentarische Demokratie für alle politischen Lager an Kredit verspielt hatte. Damit heizten sie den Wettlauf um die Deutungshoheit der Krisen und Schwäche des Staats an. Aus diesem diskursiven Hochrüsten hatte sich bis 1926 ein Wettlauf um die Legitimierung von Machtansprüchen und die Erringung der Macht im Staate entwickelt, dem die parlamentarische Demokratie geopfert wurde.

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Die Zerstörung der Weimarer Republik Ursula Büttner

I.

Weimars Ende in der Forschung

Von Anfang an stand bei der historischen Beschäftigung mit der Weimarer ­Republik die Frage nach den Gründen ihres Scheiterns im Mittelpunkt. Schon die ins Exil getriebenen oder in der „inneren Emigration“ zum Schweigen gebrachten Republikaner, die sich in ersten Gesamtdarstellungen mit der Geschichte Weimars befassten, suchten nach Erklärungen für den Untergang dieses einmal mit viel Hoffnung begrüßten Staates. Je nach politischer Orientierung sahen sie die Ursachen eher in grundlegenden Strukturmängeln oder in Fehlern der politischen Akteure und vor allem Intrigen und Angriffen der Gegner. Linkssozialisten wie Arthur Rosenberg und Carl Herz betonten die Versäumnisse in der deutschen Revolution von 1918/19, durch die zu viele gesellschaftliche Machtstrukturen erhalten geblieben waren.1 Der sozialdemokratische Chefredakteur Friedrich Stampfer und die liberalen Kommunalpolitiker Ferdinand Friedensburg und Erich Eyck richteten den Blick dagegen besonders auf die Leistungen der Republik und nahmen ihre Träger gegen die Schmähungen ihrer Verächter in Schutz. Für sie war der gewissenlose Ansturm der Feinde der Demokratie das entscheidende Moment.2 Damit zeigten sich bereits die beiden konträren Positio­ nen, zwischen denen sich bis heute alle Erklärungen für den Zusammenbruch der Weimarer Republik bewegen. Auch bei rein wissenschaftlichen Untersuchungen von Historikern und Politologen über die Weimarer Republik stand zunächst die Endphase im Zentrum. Bezeichnenderweise bezog sich die erste große Kontroverse über

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Vgl. Wolfgang Niess, Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 150–163; Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Hg. v. Kurt Kersten, Frankfurt a. M. 1955, 20. Auflage Hamburg 1991 (in 2 Bänden zuerst 1928 bzw. 1935). Herz fand für seine scharfe Abrechnung mit der Politik der SPD keinen Verleger, vgl. Christian Hanke, Selbstverwaltung und Sozialismus. Carl Herz. Ein Sozialdemokrat, Münster 2006. Vgl. Erich Eyck, Geschichte der Weimarer Republik. Band 1–2. Erlenbach 1954/1956, 5. Auflage Stuttgart 1972/73; Ferdinand Friedensburg, Die Weimarer Republik. Berlin 1946, 2. Auflage Hannover 1957; Friedrich Stampfer, Die 14 Jahre der Ersten Deutschen Republik, Offenbach 1947, 3. Auflage Hamburg 1953 (zuerst 1936 in den USA).

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diese ­Geschichtsperiode auf die Funktion des Präsidialregimes und die Rolle Brünings in den Jahren 1930 bis 1932. Wie Werner Conze 1954 argumentierte, war die weitgehende Entmachtung des Reichstags die unvermeidliche Reaktion auf die Selbstlähmung des deutschen Parteienstaates. Dagegen kam Karl Diet­ rich Bracher im folgenden Jahr aufgrund einer gewaltigen Forschungsleistung zu dem Schluss, dass fundamentale Strukturfehler und eine gezielte antidemokratische Politik konservativer Eliten zur „Auflösung der Weimarer Republik“ führten.3 Fast 30 Jahre später ging es bei einer zweiten heftigen Kontroverse erneut um die Ära Brüning. Die Wirtschaftspolitik des Kanzlers hatte bis in die Mitte der 1960er-Jahre bei Historikern als sachgerecht gegolten. Doch dann setzte sich die Sicht der Ökonomen durch, die unter Berufung auf die Erkenntnisse von John Maynard Keynes der Überzeugung waren, Brünings Deflationspolitik habe durch ihre prozyklischen Wirkungen die Krise unnötigerweise verschärft und die Radikalisierung der Bevölkerung gefördert.4 Strittig war nur, ob dies mangels besseren Wissens oder in der bewussten Absicht geschehen war, die Annullierung der scheinbar unbezahlbaren Reparationen zu erreichen.5 Diesem Konsens von Historikern und Ökonomen widersprach nun Knut Borchardt: Wegen der zu hohen Kostenlast der deutschen Wirtschaft habe es zu Brünings hartem Sanierungskurs keine Alternative gegeben.6 Er löste damit einen jahrelangen Disput aus, der am Ende ohne eine Einigung verebbte.7 Die leidenschaftliche Debatte zeigt, wie sehr das Ende der Weimarer Republik die Gemüter bewegt. Auch als sich der Fokus der Forschung in den 1960er-Jahren von der letzten Phase weg auf die Revolution von 1918/19 richtete, war im Anschluss an Rosenberg und Bracher die Frage leitend, ob der Demokratie durch tiefer reichende Strukturveränderungen eine bessere Über-

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Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955, 6. Auflage Königstein 1978. Vgl. auch Werner Conze, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland. In: Historische Zeitschrift, 178 (1954), S. 47–83. 4 Entscheidend für dieses Umdenken war ein Aufsatz von Horst Sanmann, Daten und Alternativen der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Ära Brüning. In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 10 (1965), S. 109–140. 5 Vgl. Wolfgang J. Helbich, Die Reparationen in der Ära Brüning. Zur Bedeutung des Young-Planes für die deutsche Politik, 1930–1932, Berlin 1962. 6 Vgl. Knut Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1979, abgedruckt in Knut Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982, S. 165–182. 7 Anhänger und Gegner der Borchardt-These meldeten sich mit zahlreichen, zum Teil polemischen Aufsätzen zu Wort; vgl. die Nachweise bei Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008, S. 661 f., Anm. 87. Als Erster widersprach Carl-Ludwig Holtfrerich, Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise, Wiesbaden 1982.

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Die Zerstörung der Weimarer Republik

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lebenschance hätte gesichert werden können und warum das nicht geschah.8 Immer spielt bei Arbeiten über die Weimarer Republik der Gedanke an ihr Ende im Hintergrund eine Rolle. Das gilt z. B. für ein großes Forschungsprojekt über die Inflationszeit, bei dem die Untersuchung der sozialen und sozial­ psychischen Auswirkungen von dem Interesse mitbestimmt war, Gründe für die Abkehr eines Großteils des Mittelstands von Liberalismus und Demokratie zu erkennen.9 Das gilt auch für alle Gesamtdarstellungen, selbst wenn sich die Autoren und Autorinnen sehr bemühen, der Weimarer Republik als einer Epoche von eigenständiger Bedeutung gerecht zu werden. Viele Titel zeigen das: Als „Selbstpreisgabe einer Demokratie“ umschreiben Karl Dietrich Erdmann und Hagen Schulze das Versagen der Demokraten.10 „Die verspielte Freiheit“ von Hans Mommsen weist in die gleiche Richtung.11 Dagegen unterstreicht der von Michael Stürmer gewählte Untertitel „Belagerte Civitas“ die Bedrohung der Republik durch ihre Gegner.12 Horst Möller hebt mit dem Untertitel „Die unvollendete Demokratie“ zwar die Defizite der Weimarer Staatsordnung hervor, deutet aber einen vorzeitig abgebrochenen Prozess an, der auch die Möglichkeit des Erfolgs enthielt.13 Seine Formulierung erinnert an Theodor Eschenburgs frühe Interpretation der Weimarer Republik als „improvisierte Demokratie“, deren Schwächen aus ihrer für die Protagonisten überraschenden Entstehung zu erklären seien.14 Ich selbst habe mit dem Titel „Weimar – die überforderte

 8 Als wichtige Beispiele für den Paradigmenwechsel seien genannt: Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 bis 1919, Düsseldorf 1962, 2. Auflage 1978; Peter von Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution, Düsseldorf 1963, 2. Auflage 1976; Reinhard Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wiesbaden 1968; Erich Matthias, Zwischen Räten und Geheimräten. Die deutsche Revolutionsregierung 1918/19, Düsseldorf 1970.  9 Vgl. Larry E. Jones, The Shadow of Stabilization: German Liberalism and the Legitimacy Crisis of the Weimar Party System, 1924–1930. In: Gerald D. Feldman (Hg.), Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924–1933, München 1985, S. 21–41; Martin H. Geyer, Verkehrte Welt: Revolution, Inflation und Moderne. München 1914–1924, Göttingen 1998. 10 Vgl. Karl Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980, 2. Auflage 1984. 11 Vgl. Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Frankfurt a. M. 1990; seit der 2. Auflage mit verändertem Titel: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar: 1918–1933, München 2001. 12 Vgl. Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Meisenheim am Glan 1980, 4. Auflage Königstein 1993. 13 Vgl. Horst Möller, Weimar. Die unvollendete Demokratie, München 1985, 7. Auflage 2004. 14 Vgl. Theodor Eschenburg, Die improvisierte Demokratie. Gesammelte Aufsätze zur Weimarer Republik, München 1963, 2., überarbeitete Auflage unter dem Titel: Die Republik von Weimar. Beiträge zur Geschichte einer improvisierten Demokratie, München 1984.

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Republik“ eine weitere Erklärung für ihr frühes Ende beigesteuert. Obwohl die Deutungen in diesen Werken und unzähligen Spezialstudien weit auseinan­ dergehen, ist allen gemeinsam, dass sie vom Wissen um den Untergang der Republik beeinflusst werden. Um die Ursachen für das Scheitern der Weimarer Demokratie umfassend und mit allen Facetten darzustellen, müsste ich deshalb die gesamte Weimar-Forschung heranziehen. Ich müsste über die weiterwirkenden Vorbelastungen aus der Zeit des Kaiserreichs nachdenken, über Fehler der Verfassungskonstruktion, Probleme des Parteiensystems und Verbandswesens, gesellschaftliche Verwerfungen, aktuelle Krisen und Politiken, im Grunde eine komprimierte Geschichte der Weimarer Republik liefern. Das ist im Rahmen eines Aufsatzes nicht möglich. Ich beschränke mich deshalb darauf, einige besonders oft als Ursachen für eine vermeintliche Grundschwäche der Weimarer Republik genannte Strukturmerkmale zu erörtern und darüber hinaus einige bisher weniger beachtete Aspekte und Zusammenhänge hervorzuheben.

II.

Fortbestand wilhelminischer Machtstrukturen

Es kann kein Zweifel bestehen, dass Machtgruppen der alten Gesellschaft nach der Revolution von 1918/19 mehr Einfluss behielten, als dem neuen Staat guttat. Nach dem verlorenen Krieg waren extrem schwierige Aufgaben zu bewältigen: Mehr als drei Millionen Soldaten mussten in drei Wochen aus Frankreich und Belgien zurückgebracht und eine noch größere Zahl anschließend in die zivile Gesellschaft wieder eingegliedert werden. Die Versorgung der Städte mit den nötigsten Lebensgütern war stark gefährdet. Die landwirtschaftliche und industrielle Produktion musste wieder aufgebaut oder auf Friedensbedarf umgestellt werden. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden und, nicht weniger wichtig, die öffentliche Sicherheit zu erhalten oder wiederherzustellen, brauchten die Arbeiter- und Soldatenräte, die überall die Entscheidungsgewalt beanspruchten, die Unterstützung der sachkundigen Offiziere und Beamten, Unternehmer, Kaufleute und Landwirte. Ihre loyale Mitarbeit war aber nur um den Preis der Garantie ihrer bisherigen Rechte zu bekommen. Allerdings waren die Funktionseliten auch auf die Räte angewiesen, die nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung allein in der Lage waren, ihren Anweisungen die erforderliche Autorität zu verschaffen. Diese gegenseitige Abhängigkeit bildete die Grundlage für die zahlreichen Vereinbarungen, die auf Gemeinde-, Länder- und Reichsebene zwischen den alten Amtsträgern und den Vertretern der revolutionären Macht geschlossen wurden. Dazu gehörte auch die Absprache zwischen dem SPD-Vorsitzenden und Volksbeauftragten Friedrich Ebert und dem Mitglied der Obersten Heeresleitung, General Wilhelm Groener, vom 10. November 1918, die als „Bündnis“ oder sogar „Pakt“ zwar überschätzt wird, aber doch die nach dem Abschluss der Demobilmachung notwendige demokratische Neuorganisation des Militär-

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sektors erschwerte.15 Alle Beamten wurden aufgefordert, ihren Dienst fortzusetzen, und die meisten taten es, zum Teil nur mit bedingter Loyalität gegenüber dem neuen Staat.16 Um der Rechtssicherheit willen wurde die Unabhängigkeit der Richter gewahrt. Die Folgen machten sich besonders bei politischen Strafprozessen in vielen skandalösen Urteilen bemerkbar: im ungenügenden Schutz der demokratischen Politiker gegen Beleidigungen und tätliche Angriffe, in ex­ trem harten Strafen gegen die linken Gegner und ausgesprochener Milde gegen die rechten Feinde der Republik.17 Im Bereich der Wirtschaft schützte ein Abkommen zwischen den Freien Gewerkschaften und Vertretern der Großindustrie vor grundlegenden Strukturveränderungen, indem es den Arbeitnehmern den Acht-Stunden-Tag, Tarifverträge und Koalitionsfreiheit zusicherte und den Unternehmern die Anerkennung ihrer Eigentumsrechte verhieß.18 Dennoch taugt es nicht als Beispiel dafür, dass die Sozialdemokratie für sozialpolitische Fortschritte auf revolutionäre Ziele verzichtete. Entscheidend für ihr großes Zögern bei der Verwirklichung ihres alten Programmpunkts: Sozialisierung von Schlüsselindustrien war nicht dieser sozialpolitische Vorteil, sondern die Furcht, durch eine Lähmung der Kohlen-, Stahl- und Güterproduktion die Bevölkerung ins Elend zu stürzen.19 In ähnlicher Weise verhinderte die Sorge um die Ernährungssituation alle Eingriffe in die Besitzverhältnisse und Machtstrukturen auf dem Land. Es kam weder zur Überführung der großen ostelbischen

15 Den Anstoß gab Wolfgang Sauer: Das Bündnis Ebert-Groener. Eine Studie über Notwendigkeit und Grenzen der militärischen Macht. Diss. FU Berlin 1957; zurückhaltender seit den 1970er-Jahren neben anderen: Ulrich Kluge, Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19, Göttingen 1975, S. 136–143. 16 Vgl. Bracher, Auflösung, S. 174–191; Rudolf Morsey, Beamtenschaft und Verwaltung zwischen Republik und „Neuem Staat“. In: Erdmann/Schulze (Hg.), Weimar, S. 151– 168; Hans Fenske, Rechtliche Verpflichtung auf den demokratischen Staat – innere Bindung an die Monarchie? Zur Lage der Beamtenschaft in der Weimarer Republik. In: Friedrich Gerhard Schwegmann (Hg.), Zwischen Gehorsamspflicht und Widerstandsrecht: ein unlösbares Dilemma der deutschen Beamtenschaft?, Gelsenkirchen 1989, S. 101–136. 17 Vgl. Heinrich Hannover/Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918–1933, Frankfurt a. M. 1966; Gotthard Jasper, Justiz und Politik in der Weimarer Republik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 30 (1982), S. 167–205; Christoph Gusy, Weimar – die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, Tübingen 1991. 18 Vgl. Gerald D. Feldman/Irmgard Steinisch, Industrie und Gewerkschaften 1918–1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft, Stuttgart 1985; Michael Schneider, Unternehmer und Demokratie. Die freien Gewerkschaften in der unternehmerischen Ideologie der Jahre 1918 bis 1933, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 37–49; Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft – gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918– 1933/39), München 2010, S. 191–200. 19 Vgl. Hans Schieck, Die Behandlung der Sozialisierungsfrage in den Monaten nach dem Staatsumsturz. In: Eberhard Kolb (Hg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972, S. 138–164; Manfred Behrend, „Der Wandschirm, hinter dem nichts geschieht“. Bildung, Tätigkeit und Ende der ersten deutschen Sozialisierungskommission. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 40 (1998) 4, S. 18–35.

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Güter in Gemeineigentum, wie es die SPD seit ihrem Erfurter Programm gefordert hatte, noch wurde mit der Parzellierung und Verteilung der Latifundien an Landarbeiter und Kleinbauern begonnen, noch erhielten andere Bodenreformpläne eine Chance.20 Ein vollkommener Austausch der Eliten, wie er in klassischen Revolutionsmodellen gefordert wird, ist in modernen, hoch arbeitsteiligen Gesellschaften, in denen ein Großteil der Bevölkerung existenziell vom Funktionieren des Staates und der Infrastrukturen abhängig ist, nicht mehr möglich.21 Charakterisierungen der deutschen Revolution als „unvollendete“, „stecken gebliebene“, „gebremste“ Revolution22 beziehen sich auf die Norm einer Revolution in vorindustriellen Gesellschaften und werden den Bedingungen in Deutschland im Jahr 1918 nicht gerecht. Für die Furcht der verantwortlichen Politiker vor dem „Chaos“ gab es gute Gründe.23 Dennoch wären weiter reichende Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse möglich und für die Stabilität der Republik von Vorteil gewesen. Darüber herrscht in der historischen Forschung Einigkeit. Energischere Maßnahmen zur Verwirklichung der alten SPD-Forderungen: Sozialisierung und Demokratisierung hätten vielleicht auch die enttäuschte Abwendung eines Teils der linken Sozialisten verhindern können. Unklar ist jedoch, wo die Grenzen des Machbaren lagen. Bot das in den Räten der ersten Revolutionsphase gewiss vorhandene demokratische Poten­ zial tatsächlich genügend Rückhalt für eine radikale Demokratisierungspolitik? Diese Räte verstanden sich überwiegend als Kontrollorgane und als Nothelfer in einer Übergangszeit bis zur Wahl allgemeiner demokratischer Parlamente, aber nicht als Gründer eines neuen Staates. Außerdem hatten sie nur wenige Wochen im November und Dezember 1918 Zeit. In den Räten der zweiten Revolutionsphase von Anfang bis Mitte 1919 kam vor allem sozialer Protest und

20 Vgl. Mechthild Hempe, Ländliche Gesellschaft in der Krise. Mecklenburg in der Weimarer Republik, Köln 2002; Martin Schumacher, Land und Politik. Eine Untersuchung über politische Parteien und agrarische Interessen 1914–1923, Düsseldorf 1978. 21 Vgl. Richard Löwenthal, Die Sozialdemokratie in Weimar und heute. Zur Problematik der „versäumten“ demokratischen Revolution. In: ders., Gesellschaftswandel und Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, Frankfurt a. M. 1979, S. 197–211; ders., Vom Ausbleiben der Revolution in der Industriegesellschaft. In: Historische Zeitschrift, 232 (1981), S. 1–24. 22 Diese Bezeichnungen bei Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 1983, S. 22, 8. von Dirk Schumann überarbeitete Auflage 2013; Reinhard Rürup, Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichte, Bonn 1993, S. 16; Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, 3. Auflage 1998. 23 Dies bestreitet Detlef Lehnert, Sozialdemokratie und Novemberrevolution. Die Neuordnungsdebatte 1918/19 in der politischen Publizistik von SPD und USPD, Frankfurt a. M. 1983, während Conan Fischer der deutschen Revolution wegen der Bereitschaft der SPD zur Zusammenarbeit mit kooperationsbereiten Teilen der militärischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Elite ein ausgesprochen gutes Zeugnis ausstellt: „A Very German Revolution“? The Post-1918 Settlement Re-Evaluated. In: German Historical Institute Bulletin, 28 (2006) 2, S. 6–32.

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nicht der Wille zu politischer Neuordnung zum Ausdruck.24 Auch die Frage, wie viel Widerstand eine weniger auf Integration und Ausgleich bedachte Politik aufseiten des Bürgertums hervorgerufen hätte, lässt sich wissenschaftlich ­exakt nicht beantworten. Die Übergriffe heimkehrender Truppen gegen örtliche Räte, auch bürgerliche Demonstrationen, Streiks und Boykotts,25 die bewusste Instrumentalisierung des Antisemitismus für die Massenagitation26 und die brutale Abrechnung der Freikorps mit politischen Gegnern sprechen für die Entschlossenheit eines Teils des Bürgertums, sich mit allen Mitteln zu behaupten.

III. Zu viel Macht für den Reichspräsidenten und das Volk? Bei der Suche nach den Gründen für das Scheitern Weimars wurde besonders in der politischen Diskussion den Fehlern der Verfassung große Bedeutung beigemessen. Diese Vorstellungen wurden 1949 bei der Beratung des Bonner Grundgesetzes historisch wirksam, indem vermeintlich verhängnisvolle Regelungen im Werk von 1919 diesmal vermieden werden sollten. Vor allem zwei Vorwürfe wurden der Weimarer Verfassung gemacht: Sie habe den Reichspräsidenten mit zu viel Macht ausgestattet, und sie habe dem Wahlvolk zu große Partizipationsrechte zugestanden. Diese Kritik ist nur mit Einschränkungen richtig. Die Weimarer Verfassungsväter ließen sich von der Idee der Volkssouveränität leiten; aber sie wollten sie nicht unbegrenzt zur Geltung bringen. Das Wahlvolk, alle Männer und Frauen im Alter von mindestens 20 Jahren, erhielt das Recht, alle vier Jahre den Reichstag und alle sieben Jahre den Reichspräsidenten zu wählen. Darüber hinaus konnte es selbst durch Volksbegehren und Volksentscheid die Gesetzesinitiative ergreifen und sogar die Verfassung ändern. Aber diese plebiszitären Befugnisse wurden durch die geforderten hohen Beteiligungsquoten wesentlich eingeengt. Im Reich wurden in der gesamten Weimarer Zeit acht Volksbegehren eingeleitet und drei realisiert, von denen nur zwei auch zu Volksentscheiden führten. Bei beiden wurde die notwendige Beteiligung von 50 Prozent nicht annähernd erreicht. Am Entscheid über die entschädigungslose Enteignung der Fürsten, die nach den Verlusten weiter Bevölkerungskreise in der Inflation ein sehr brisantes Thema war, nahmen 1926 39 Prozent der 24 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die deutsche Revolution 1918–1920. Politische Revolution und soziale Protestbewegung: In: Geschichte und Gesellschaft, 4 (1978), S. 362–391; Eckhard Jesse/Henning Köhler, Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B45/78, 11.11.1978, S. 3–23; Reinhard Rürup, Demokratische Revolution und „dritter Weg“. Die deutsche Revolution von 1918/19 in der neueren wissenschaftlichen Diskussion. In: Geschichte und Gesellschaft, 9 (1983), S. 278–301. 25 Vgl. Hans-Joachim Bieber, Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918–1920, Hamburg 1992. 26 Vgl. Werner Jochmann, Die Ausbreitung des Antisemitismus in Deutschland 1914– 1923. In: ders., Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870–1945, Hamburg 1988, S. 99–170, speziell 121–124, 128–140.

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Stimmberechtigten teil, und bei dem von der extremen Rechten mit großem Propagandaeinsatz betriebenen Entscheid gegen die Reparationsregelung des Young-Plans waren es 1929 sogar nur 15 Prozent. In den Ländern kamen bei 60 Versuchen lediglich zwölf Volksabstimmungen zustande, von denen nur eine, im April 1932 zur Auflösung des Oldenburger Landtags, erfolgreich war.27 Der Reichspräsident sollte auch kein „Ersatzkaiser“ sein, wie damals und später gelegentlich polemisch behauptet wurde. Im Gegenteil ging es bei der Ausgestaltung seines Amtes um Gewaltenteilung und Machtbalance. Er sollte Parlamentsallmacht und Parteienherrschaft verhindern28 und als Reserveorgan für den Fall des Versagens der anderen demokratischen Institutionen zur Verfügung stehen. Der Reichspräsident hatte das Recht, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben, den Reichskanzler und die Reichsminister zu ernennen und zu entlassen. Er war dabei aber nicht autonom, weil alle Regierungsmitglieder des Vertrauens des Reichstages bedurften. Er hatte den Oberbefehl über die Streitkräfte und vertrat das Reich nach außen; aber über Krieg und Frieden und internationale Verträge entschied der Reichstag. Von besonderer Bedeutung waren die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Verfassung.29 Sie gingen sehr weit. Doch auch sie hatten nur bei unverzüglicher nachträglicher Zustimmung des Reichstags Bestand, und sie sollten nur bei einer sehr ernsten äußeren oder inneren Bedrohung des Reichs gelten. Kein Verfassungsorgan sollte absolute Macht besitzen, nicht einmal in schweren Krisenzeiten. Tatsächlich sicherten die Verbindung der verschiedenen Rechte und die lange Amtsdauer von sieben Jahren dem Reichspräsidenten eine überlegene Stellung. Das war unproblematisch, solange der Amtsinhaber loyal zur Verfassung stand. Schon Friedrich Ebert erließ in den Krisen der Nachkriegs- und Inflationszeit 136 Notverordnungen (bis Anfang 1925), aber wie es der Intention der Verfassung entsprach, mit dem Ziel, die demokratische Ordnung zu schützen. Erst sein Nachfolger, Paul von Hindenburg, nutzte seine Befugnisse, um die in Weimar geschaffene Demokratie im autoritären Sinn zu verändern. Doch das war nicht der Fehler der Verfassung.

27 Vgl. Reinhard Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, Düsseldorf 1971; Ulrich Schüren, Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926, Düsseldorf 1978; Otmar Jung, Direkte Demokratie in der Weimarer Republik. Die Fälle „Aufwertung“, „Fürstenenteignung“, „Panzerkreuzerverbot“ und „Youngplan“, Frankfurt a. M. 1989. 28 Vgl. Christoph Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, Baden-­ Baden 1993. 29 Vgl. Hans Boldt, Der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung. Sein historischer Hintergrund und seine politische Funktion. In: Stürmer (Hg.), Weimarer Republik, S. 288–309; Achim Kurz, Demokratische Diktatur? Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung 1919–1925, Berlin 1992; Ludwig R ­ ichter, Das präsidiale Notverordnungsrecht in den ersten Jahren der Weimarer Republik. ­Friedrich Ebert und die Anwendung des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung. In: Eberhard Kolb (Hg.), Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, München 1997, S. 207–257.

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Neben der latenten Gefahr des Missbrauchs barg Artikel 48 der Verfassung einen anderen, weniger beachteten Nachteil. Die Tatsache, dass im Notfall der Reichspräsident als Reserveinstanz zur Verfügung stand, führte dazu, dass sich die Parteien im Reich leichter der politischen Verantwortung entzogen und durch Verweigerung von Kompromissen die Regierung lähmten. In den Ländern, in denen es einen solchen Ersatz für parlamentarische Entscheidungen nicht gab, wurden sie ihrer Funktion oft besser gerecht, so z. B. in Preußen30 oder auch in Hamburg. Selbstbewusst hatten die Hamburger Legislatoren dem für die Weimarer Verfassung maßgebenden Gedanken der Gewaltenteilung eine Absage erteilt und jede Beschränkung der Parlamentssouveränität durch einen mit ähnlichen Rechten wie im Reich ausgestatteten Staatspräsidenten ausdrücklich abgelehnt. Sie wollten „eine parlamentarische Demokratie im Gegensatz zu einer gewaltentrennenden Demokratie“ gründen.31 Stabile Regierungsverhältnisse während der ganzen Zeit der Weimarer Republik gaben ihnen recht.32

IV.

Schwächen des Parteiensystems

Im Reich dagegen wechselten die Regierungen meistens nach wenigen Monaten. Die Verankerung in einer parlamentarischen Mehrheit war seit Juni 1920 die Ausnahme.33 Die am längsten, von Ende Juni 1928 bis Ende März 1930, währende Regierung des sozialdemokratischen Kanzlers Hermann Müller war zugleich die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik. Sie stützte sich auf eine Große Koalition von der SPD bis zur Deutschen Volkspartei (DVP), die mit 58,6 Prozent der Wählerstimmen stark aussah, aber wegen der scharfen Gegensätze zwischen den Flügelparteien, der Arbeitnehmerinte­ ressen verpflichteten SPD und der an Unternehmerinteressen orientierten DVP, oft handlungsunfähig war.34 Die starke Zersplitterung des Parteiensystems als Folge des reinen Verhältniswahlrechts, die nach 1945 in der politischen Debatte

30 Vgl. Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985; Dietrich Orlow, Weimar Prussia, Band 1: 1928–1925. The Unlikely Rock of Democracy, Band 2: 1925–1933. The Illusion of Strength, Pittsburgh 1986, 1991. 31 Bericht des Bürgerschaftsausschusses zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung, September 1920. In: Protokolle und Ausschussberichte der Bürgerschaft, Hamburg 1920, Nr. 53, S. 4; Ursula Büttner, Politischer Neubeginn in schwieriger Zeit. Wahl und Arbeit der ersten demokratischen Bürgerschaft Hamburgs 1919–1921, Hamburg 1994, S. 56 f. Die Bürgerschaft (Parlament) konnte nur selbst über ihre vorzeitige Auflösung beschließen. Alle Rechte eines Staatspräsidenten wurden dem Gesamtsenat (Regierung) übertragen; der Senatspräsident wurde als Primus inter Pares für ein Jahr vom Senat und bewusst nicht von der Bürgerschaft gewählt, damit er sich nicht zu einem Staatspräsidenten entwickeln konnte. Notstandsvollmachten gab es nicht. 32 Vgl. Ursula Büttner, Politische Gerechtigkeit und sozialer Geist. Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik, Hamburg 1985. 33 Vgl. die Übersicht bei Büttner, Weimar, S. 802 f. 34 Vgl. ebd., S. 391–395.

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über das Scheitern der Weimarer Republik als einer ihrer Kardinalfehler ausgemacht wurde, war kein wesentliches Problem. Auch in Weimar verteilte sich die große Masse der Stimmen nur auf fünf bis sechs Parteien, und eine Fünf-Prozent-Hürde, die als „Lehre aus Weimar“ ins Grundgesetz gelangte, hätte den Aufschwung der NSDAP nicht verhindert. Viel gravierender war die enge Verzahnung der politischen Parteien mit organisierten Interessen und ihre starke Abhängigkeit von deren Finanzquellen. Trotz gewisser Ansätze zur Verbreiterung ihrer sozialen Basis blieb die SPD in der Weimarer Republik die Partei der qualifizierten, gewerkschaftlich organisierten Arbeiter.35 In allen Parlamentsfraktionen der SPD stellten die Freien Gewerkschaften zusammen mit sozialistischen Konsumgenossenschaften eine große Gruppe von Abgeordneten, und auch die zahlreichen Arbeiter-Kulturund Freizeitvereine, die in der Weimarer Republik ihren Höhepunkt erlebten, verlangten von der Partei eine klassenbewusste Ausrichtung.36 Den Gegenpol bildete die nationalliberale Deutsche Volkspartei, die sich nach anfänglicher Ablehnung „aus Vernunft“ zur Republik bekannte, die Demokratie jedoch als „gleichmacherisch“ ablehnte und Liberalismus in erster Linie als rigorosen Wirtschaftsliberalismus verstand. Sie fand Unterstützung bei mittelständischen Gewerbetreibenden, kaufmännischen Angestellten, bäuerlichen Familien und der beamteten akademischen Elite. Aber vor allem unterhielt sie enge Beziehungen zu allen einflussreichen Wirtschaftsverbänden, von den Banken über den Handel und die verarbeitende Industrie bis zur Schwerindustrie. Die Syndici und „Schlotbarone“ brachten die Interessen „der Wirtschaft“ in der DVP von Anfang an energisch zur Geltung, und nach dem Tod des charismatischen Parteivorsitzenden Gustav Stresemann 1929 bestimmten sie einseitig den Kurs.37 Von den Parteien in der Mitte war die Deutsche Zentrumspartei eng an die katholische Kirche gebunden. Eine sozial vielschichtige Mitglieder- und Anhängerschaft ermöglichte ihr, die Brücke sowohl nach links als auch nach rechts zu bilden. Dadurch gelangte sie in eine Schlüsselposition und konnte, obwohl sie nur etwa 13 Prozent der Wähler und Wählerinnen hinter sich vereinigte, mehrmals den Kanzler stellen. Auch die Deutsche Demokratische Partei konnte sich ursprünglich auf eine breite soziale Basis stützen, gestärkt von wortmächti-

35 Ebd., S. 68–70. 36 Vgl. Gerhard A. Ritter (Hg.), Arbeiterkultur, Meisenheim am Glan 1979; Peter Lösche/ Franz Walter, Zur Organisationskultur der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. Niedergang der Klassenkultur oder solidargemeinschaftlicher Höhepunkt? In: Geschichte und Gesellschaft, 15 (1989), S. 511–536; Dieter Langewiesche, Politik – Gesellschaft – Kultur. Zur Problematik von Arbeiterkultur und kulturellen Arbeiterorganisationen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. In: Archiv für Sozial­geschichte, 22 (1982), S. 359–402; Adelheid von Saldern, Arbeiterkulturbewegung in Deutschland in der Zwischenkriegszeit. In: Friedhelm Boll (Hg.), Arbeiterkulturen zwischen Alltag und Politik. Beiträge zum europäischen Vergleich in der Zwischenkriegszeit, Wien 1986, S. 29–71. 37 Vgl. Ludwig Richter, Die Deutsche Volkspartei 1918–1933, Düsseldorf 2002.

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gen Intellektuellen. 1919 schien sie die nichtkatholische Volkspartei zu werden. Neben der SPD war sie die einzige Partei, die sich eindeutig zur Weimarer parlamentarischen Demokratie bekannte, wie sie es schon im Namen zum Ausdruck brachte. Doch bereits 1920 verlor sie etwa die Hälfte ihrer Mitglieder und Wähler. Seither war auch die DDP von den finanziellen Zuwendungen aus Wirtschaftskreisen stark abhängig, und der wirtschaftsliberale Flügel gewann die Oberhand über die sozialliberalen Kräfte.38 Eine Mittlerfunktion zwischen den politischen Vertretungen der Arbeitnehmer und der Unternehmer konnte sie nicht mehr ausüben. Die sehr ausgeprägte Interessenbindung der Parteien machte sie unflexibel und gehörte zu den wichtigen Strukturschwächen des Weimarer politischen Systems.39 Erschwerend kam hinzu, dass sie sich zumindest im Reich ihrer veränderten Aufgaben in der parlamentarischen Demokratie nicht genügend bewusst waren. Sie verstanden sich nicht als Träger der Regierung – oder einer Opposition, die nach der Übernahme der Regierung strebt –, sondern sahen sich noch immer wie im Bismarck’schen Obrigkeitsstaat als Widerpart und Kontrolleure einer von ihnen unabhängigen Regierung, der gegenüber sie die Interessen ihrer Anhänger zu vertreten hatten. Parteien, Politiker und Politikerinnen, die ihre Rolle im neuen Staat erst finden mussten, hatten in der Weimarer Republik in kurzer Zeit ungewöhnlich schwierige Situationen und extreme Krisen zu bewältigen. Schon ein Jahr nach der Gründung der parlamentarischen Demokratie verloren ihre Befürworter dramatisch an Rückhalt. Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 hatten die Parteien der Weimarer Koalition, SPD, DDP und Zentrum, noch eine Dreiviertelmehrheit (konkret 76 Prozent) errungen. Das war kein aus Kriegsmüdigkeit und vorübergehender Revolutionsbegeisterung entstandenes Zufallsergebnis. Es entsprach vielmehr ziemlich genau den Stimmanteilen der entsprechenden Parteien in der Vorkriegszeit, obwohl sich die Wählerschaft inzwischen durch die Einführung des Frauenwahlrechts und die Herabsetzung des Wahlalters wesentlich verändert hatte. Das Ergebnis zeugte also von sehr stabilen politischen Überzeugungen in großen sozialen Gruppen.40 Trotzdem verloren die Weimarer Parteien schon im Juni 1920 die absolute Mehrheit (43,6 Prozent). Die SPD fiel von 37,9 auf 21,7 Prozent zurück, und die DDP, die weithin als die Verfassungspartei galt, wurde mit einem Rückgang von 18,5 auf 8,3 Prozent geradezu halbiert. Die drei Parteien konnten die Mehrheit nie wieder gewinnen. Offensichtlich waren viele Deutsche, die große Erwartungen mit der demokratischen Neuordnung verbunden hatten, von der real existierenden Demokratie enttäuscht.

38 Vgl. Büttner, Weimar, S. 88–91, mit weiterführenden Literaturangaben, S. 540 f. 39 Hier sind nur wenige knappe Andeutungen möglich; genauer zum Weimarer Parteiensystem vgl. ebd., S. 65–104. 40 Vgl. ebd., S. 103 f., 802 f.

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V.

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Die Hypothek des Ersten Weltkriegs und der verdrängten ­Niederlage

Entscheidend für die enttäuschte Abwendung vieler, die dem demokratischen Neuanfang ursprünglich aufgeschlossen gegenübergestanden hatten, waren die aktuellen Erfahrungen: die bürgerkriegsähnlichen Konflikte und die Gefahren für die öffentliche und persönliche Sicherheit in den ersten Jahren der Republik, die Umsturzversuche von rechts und links in jener Zeit, die in immer rasanterem Tempo galoppierende Inflation von 1921 bis 1923, die lähmende und zu politischer Verzweiflung treibende Deflation von 1931 bis 1933 und viele weniger aufregende Ereignisse. Neben diesen konkreten Anlässen gab es noch eine tiefer gehende Ursache für die Unzufriedenheit mit der realen Demokratie Weimars: Sie wurde durch die Erwartungen, die an sie gestellt wurden, grundlegend überfordert. Eine der schweren Hypotheken der Weimarer Republik war der Erste Weltkrieg mit seinen materiellen, finanziellen, sozialen und mentalen Auswirkungen.41 Dabei war es besonders folgenschwer, dass die große Mehrheit der Deutschen die Niederlage in ihrer vollen Bedeutung nicht erkennen wollte und die demokratischen Politiker nicht wagten, ihnen die ganze Wahrheit zu sagen. Die Demokraten verloren dadurch die Möglichkeit, die Verantwortung des alten Regimes, das den Krieg mit verschuldet und in aussichtsloser Lage fortgeführt hatte, für die Nöte der Nachkriegszeit herauszustellen. Stattdessen wurden sie selbst mit den Problemen belastet, die sie nicht verursacht hatten. Auch war die Notwendigkeit, die traditionellen Eliten radikal zu entmachten, schwerer zu begründen, wenn das katastrophale Ausmaß der Niederlage im Dunkeln blieb. Die als „Dolchstoßlegende“ bekannt gewordene Propagandalüge der Rechten, dass Deutschland, „im Felde unbesiegt“, allein wegen verräterischer Umtriebe in der Heimat die Waffen habe strecken müssen,42 konnte nur wegen der verbreiteten Leugnung der Niederlage ihre Wirkung entfalten. Der Versailler Friedensvertrag wurde nicht nüchtern als Folge des schlechten Kriegsausgangs, sondern als schreiendes Unrecht betrachtet. Alle politischen Parteien, mit Ausnahme der USPD, lehnten ihn vehement ab, obwohl er nach den gewaltigen Verlusten und der Aufpeitschung der Leidenschaften auch bei den Kriegsgegnern durchaus als maßvoll gelten konnte.43 Die „Revision“ des 41 Vgl. Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 38–82; Matthew Stibbe, Germany 1914–1933. Politics, Society and Culture, Harlow 2010, S. 12–68. 42 Vgl. Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933, Düsseldorf 2003; Rainer Sammet, „Dolchstoß“. Deutschland und die Auseinandersetzung mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg (1918–1933), Berlin 2003. 43 Vgl. Gerd Krumeich/Silke Fehlemann (Hg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001; Manfred Franz Boemeke (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, New York 1998; Andreas Hillgruber, Unter dem Schatten von Versailles. Die außenpolitische Belastung der Weimarer Republik: Realität und Perzeption

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Versailler „Diktats“ hatte infolgedessen für alle Weimarer Regierungen einen hohen Stellenwert. Sie erstrebten damit ein zu ihrer Zeit unerreichbares Ziel, bei dem Spannungen mit den ehemaligen Kriegsgegnern und Enttäuschungen im Innern über die Misserfolge vorprogrammiert waren.44 Zwar machte es einen großen Unterschied, ob die Leiter der deutschen Außenpolitik „Versailles“ in Konfrontation oder wie Walther Rathenau 1921/22 und Gustav Stresemann von 1924 bis 1929 durch Verständigung mit den Siegern überwinden wollten. Welche Chancen sich bei einer Anerkennung der Kriegsfolgen eröffnen konnten, zeigten der Vertrag von Locarno 1925 und die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund 1926.45 Aber auch Stresemann wagte es nicht, die neue deutsche Ostgrenze und die Verluste an Polen zu akzeptieren.46 Insbesondere die Reparationen riefen heftigen Widerstand hervor. Sie waren nicht wirklich untragbar.47 Aber als Symbol für die vermeintlich generationenlange „Versklavung“ Deutschlands eigneten sie sich hervorragend, alle, die den Krieg nachträglich gewinnen wollten, gegen die republikanischen Politiker aufzuhetzen. Die Regierung Brüning ließ ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik vom Herbst 1930 bis zum Frühjahr 1932 wesentlich von dem Ziel bestimmen, die Streichung der Reparationen zu erreichen und Deutschland zumindest ökonomisch wieder in eine Großmachtstellung wie vor dem Krieg zu bringen.48 Durch die Vereinbarung einer deutsch-österreichischen Zollunion wollte sie 1931 das durch den Versailler Vertrag verhängte Anschlussverbot aushebeln.49 Um „natio­naler“, revisionistischer Ziele willen riskierte sie inmitten einer bedrohlichen Finanz- und Währungskrise einen außenpolitischen Eklat.

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bei den Deutschen. In: Erdmann/Schulze (Hg.), Weimar, S. 51–67; erneut mit sehr negativer Bewertung: Hans-Christof Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933, Berlin 2013, S. 15–33. Vgl. Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, S. 219–253; Peter Krüger, Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung, München 1986. Vgl. Ralph Blessing, Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929, München 2008. Vgl. Ralph Schattkowsky, Deutschland und Polen von 1918/19–1925. Deutsch-polnische Beziehungen zwischen Versailles und Locarno, Frankfurt a. M. 1994; Bastiaan Schot, Stresemann, der deutsche Osten und der Völkerbund, Stuttgart 1984. Vgl. William C. McNeil, Could Germany Pay? Another Look at the Reparations Problem of the 1920’s, Berkeley 1982; guter Gesamtüberblick bei Heike Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik. Eine Einführung in Ökonomie und Gesellschaft der ersten deutschen Republik, Göttingen 2010, S. 94–114. Siehe unten, S. 168 f. Vgl. Hermann Graml, Zwischen Stresemann und Hitler. Die Außenpolitik der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher, München 2001, S. 89–111; Andreas Rödder, Stresemanns Erbe. Julius Curtius und die deutsche Außenpolitik 1929–1931, Paderborn 1996, S. 186–222; Rolf Steininger, „… Der Angelegenheit ein paneuropäisches Mäntelchen umhängen …“ Das deutsch-österreichische Zollunionsprojekt von 1931. In: Michael Gehler (Hg.), Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996, S. 441–478.

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Zum „Kampf gegen Versailles“ gehörte auch das ständige Drängen der militärischen Führung nach Wiederaufrüstung. Zeitweise wurden ihre illegalen Aktivitäten auf diesem Feld von republikanischen Politikern insgeheim gebilligt.50 Wegen ihrer rüstungspolitischen Interessen mischten sich die Militärs fortwährend in die Innenpolitik ein und entschieden seit 1930 unter Hindenburgs Präsidialregime über das Schicksal der Regierungen mit. Um die Hindernisse des Versailler Vertrags zu umgehen, stellten Offiziere sogar ideologische Hemmungen zurück und arbeiteten illegal mit den „Bolschewisten“ der Roten Armee in Russland zusammen.51 In Deutschland förderten sie die nationalen Wehrverbände, duldeten die „Fememorde“ der „Schwarzen Reichswehr“ und sahen selbst in der SA trotz ihrer offensichtlichen Gewaltbereitschaft vor allem soldatische Kader für ein künftiges größeres Heer.52 Die Reichswehr trug auf diese Weise stark zur Militarisierung eines Teils der deutschen Gesellschaft bei.53 Einige Hunderttausend Männer beteiligten sich an Freikorps und Einwohnerwehren und nach deren Auflösung an Kampfbünden und Wehrverbänden. Unter Einschluss der mehr auf Traditionspflege und Versorgungsfragen bedachten Kriegervereine gehörten sogar mehrere Millionen solchen militärnahen Organisationen an. 1924 entschlossen sich auch Republikaner und Linke, den rechten Marschierern mit eigenen uniformierten Kolonnen, dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und dem Roten Frontkämpferbund, entgegenzutreten.54 Obwohl die Militarisierung nur einen Teil der

50 Vgl. Michael Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit. Die Reichswehr in der Krise der Machtpolitik 1924–1936, Wiesbaden 1980; Jost Dülffer, Weimar, Hitler und die Marine. Reichspolitik und Flottenbau 1920–1939, Düsseldorf 1973; Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933, München 2012. 51 Vgl. Manfred Zeidler, Reichswehr und Rote Armee 1920–1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 1993; Sergej A. Gorlow, Geheimsache Moskau – Berlin. Die militärpolitische Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich 1920–1933. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 44 (1996), S. 133–165. 52 Vgl. Irmela Nagel, Fememorde und Fememordprozesse in der Weimarer Republik, Köln 1991; Bernhard Sauer, Schwarze Reichswehr und Fememorde. Eine Milieustudie zum Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, Berlin 2004; Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989; Richard Bessel, Political Violence and the Rise of Nazism. The Storm Troopers in Eastern Germany 1925–1934, New Haven 1984, S. 67–73. 53 Vgl. Klaus-Jürgen Müller/Eckart Opitz (Hg.), Militär und Militarismus in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978; Hans Mommsen, Militär und zivile Militarisierung in Deutschland 1914–1938. In: Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 265–276. 54 Vgl. Karl Rohe, Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1966; Benjamin Ziemann, Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-RotGold 1924–1933, Bonn 2011; Kurt G. P. Schuster, Der Rote Frontkämpferbund 1924– 1929. Beitrag zur Geschichte und Organisationsstruktur eines politischen Kampfbundes, Düsseldorf 1975.

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Gesellschaft erfasste, die große Mehrheit der ehemaligen Soldaten ziviles Leben und Denken durchaus vorzog und auch die Reichsbannerleute sich eher notgedrungen auf die Mittel ihrer Gegner einließen, zeugt das Gefallen an militärischen Formen der Propaganda und Selbstdarstellung in der Weimarer Republik doch von der starken mentalen Nachwirkung des Krieges.55 Vieles spricht dafür, dass die Gewalterfahrung im Krieg auch die Bereitschaft zur gewaltsamen Austragung innenpolitischer Konflikte förderte; andere in der Forschung diskutierte Ursachen wie die Furcht vor dem Bolschewismus waren eher auslösende Momente.56 Die Weigerung, die Kriegsniederlage zu akzeptieren, hatte noch andere, auf den ersten Blick weniger offensichtliche Auswirkungen. Sie reichten tief in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben hinein: Alle Wirtschafts- und Sozialstatistiken bezogen sich auf 1913 als letztes „normales“ Jahr. Industrien suchten ihre Fertigungskapazitäten auf den Vorkriegsstand zu bringen, obwohl der Inlandsmarkt infolge der Gebietsverluste inzwischen kleiner und die internationale Konkurrenz infolge des Aufbaus neuer Industrien außerhalb Europas größer geworden war.57 Unternehmer klagten über ihre im Vergleich zu früher zu geringe Eigenkapitalbildung und suchten die Schuld bei den Gewerkschaften und der republikanischen Sozialpolitik, aber kaum bei Krieg und Inflation.58 Weil die Wirtschaftsergebnisse an der Friedenszeit gemessen wurden, erschien es als Manko, dass nur 1928/29 bei den meisten Daten wieder der Vorkriegsstand erreicht wurde. Dabei war es eigentlich ein Erfolg, dass nur zehn Jahre nach dem Zusammenbruch die Kriegsverluste schon wieder ausgeglichen waren.

55 Vgl. George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993; Raphael, Imperiale Gewalt, S. 42–46, 52–65; Thomas Balistier, Gewalt und Ordnung. Kalkül und Faszination der SA, Münster 1989; Petra Maria Schulz, Ästhetisierung von Gewalt in der Weimarer Republik, Münster 2004. 56 Vgl. Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Wolfgang Hardtwig, Gewalt in der Stadt 1917–1933. Erfahrung – Emotionen – Deutung. In: Friedrich Lenger/ Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Kollektive Gewalt. Europa 1890–1939, München 2013, S. 1–23; Mosse, Gefallen, S. 195–222; Bernd Weisbrod, Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 43 (1992), S. 391–404. 57 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte, S. 21–26; Jan-Otmar Hesse/Roman Köster/Werner Plumpe, Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Frankfurt a. M. 2014, S. 26–28, 59. 58 Vgl. Johannes Bähr, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik. Tarifpolitik, Korporatismus und industrieller Konflikt zwischen Inflation und Deflation 1919–1932, Berlin 1989; Hans-Hermann Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik, Berlin 1967; Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft, S. 764–818.

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VI. Grundlegende Überforderung des Staates und der politischen Klasse Die im Kaiserreich benachteiligten Schichten erwarteten sogar mehr als bloß die Wiederherstellung der alten Verhältnisse. Nachdem sie im Krieg große Opfer gebracht hatten, verlangten sie zum Ausgleich nicht nur die volle politische Gleichstellung, sondern vor allem auch die Anhebung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage. Die Demokratie sollte ihnen eine bessere Zukunft bringen. Sozialpolitik statt Revolution! Nach der gewaltigen Wertevernichtung im Krieg wurde der SPD und der Republik mit dieser Forderung eine schwere Last aufgebürdet. Die Löhne und Sozialleistungen waren in der Weimarer Republik nicht zu hoch.59 Dennoch ist festzuhalten, dass bei der Auseinandersetzung über die Verteilung des Volkseinkommens und des Wohlstands die Kriegsverluste auf allen Seiten kaum bedacht wurden. Es wurde versucht, gleichzeitig zu den wirtschaftlichen Verhältnissen von 1913 zurückzukehren und die Arbeitnehmer und sozial benachteiligten Schichten besserzustellen. Diese unrealistische Zielsetzung war eine wichtige Ursache für die Dauerprobleme der öffentlichen Etats, die häufigen Haushalts- und Kassendefizite.60 Die sozialen Spannungen wurden verschärft, weil die Kontrahenten die Verschlechterung der Ausgangslage seit dem Krieg zu wenig bedachten. Diese gesellschaftlichen Konflikte waren für den Staat brisanter als früher. Seit er im Krieg immer mehr Aufgaben im Bereich der Wirtschaft und der sozialen Fürsorge hatte übernehmen müssen, wurde er in weit stärkerem Maß als vorher für das Wohlergehen der Wirtschaft und der Bürger verantwortlich gemacht. In den ökonomischen Krisen der Weimarer Republik verstärkte sich dieser Prozess. Die Schicht der Rentiers, der Alten, die von Kapitalerträgen lebten, wurde in der Inflation vernichtet. Sie waren fortan wie ehemalige Arbeitnehmer auf öffentliche Leistungen angewiesen.61 Die Zahl der Arbeitslosen erreichte auf dem Höhepunkt der Inflation 1923 und in der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er-Jahre bis dahin unbekannte Dimensionen. Auch sie mussten aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden. Zur Nothilfe kamen die Anstrengungen zum Ausbau eines modernen Sozialstaats.62 Nach der Vermö59 So mit Carl-Ludwig Holtfrerich und anderen gegen Knut Borchardt und seine Schule; vgl. Anm. 6 und 7. 60 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte, S. 158–168; Wolfgang Heindl, Die Haushalte von Reich, Ländern und Gemeinden in Deutschland von 1925 bis 1933, Frankfurt a. M. 1984; Theo Balderston, Economics and Politics in the Weimar Republic. Cambridge 2002. 61 Vgl. Robert Scholz, „Heraus aus der unwürdigen Fürsorge“. Zur sozialen Lage und politischen Orientierung der Kleinrentner in der Weimarer Republik. In: Christoph Conrad/Hans-Joachim von Kondratowitz (Hg.), Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters, Berlin 1983, S. 319–350. 62 Vgl. Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 3., erweiterte Auflage München 2010; David F. Crew, Germans on Welfare. From Weimar to Hitler, New York 1998.

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gensvernichtung durch Krieg und Inflation, in deren Folge private Investoren und Stiftungen weitgehend ausfielen, waren sie zum Teil ebenfalls zwangsläufig, so z. B. das öffentliche Engagement im sozialen Wohnungsbau, im Gesundheitswesen und bei der Altenversorgung. Durch die Weimarer Verfassung wurden die hohen Erwartungen an den Staat gestützt.63 Im Grundrechte-Teil garantierte sie die Freiheit der Wirtschaft und den Bestand des Eigentums, aber auch „ein menschenwürdiges Dasein für alle“, das Recht auf Arbeit und Versorgung bei Arbeitslosigkeit, die Erhaltung und Förderung des selbstständigen Mittelstands. Obwohl diese Programmsätze keinen einklagbaren Rechtsanspruch verbürgten, wurden sie gern benutzt, um dem Staat sein Versagen vorzuwerfen. Bei der Bewertung des neuen Staatsinterventionismus, den alle Gruppen zugunsten der eigenen Belange forderten, gingen die Meinungen diametral aus­einander. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung begrüßte die neue Zuständigkeit des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft und legitimierte sie mit ihrem Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ als Etappe auf dem Weg zum Sozia­lismus.64 Rechtsliberale und konservative Kreise hielten dagegen am vordemokratischen Ideal des über den Parteien und sozialen Gruppen stehenden, neutralen Staates fest, der sich aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen heraushalten sollte. Die Ausweitung der Staatsaufgaben machte ihnen die Mitwirkung der unteren Schichten in der Demokratie noch unerträglicher. Andere, vor allem viele Angehörige der „Frontkämpfergeneration“ des Bürgertums, suchten nach einem dritten Weg. Sie verlangten vom Staat, die partikularen Kräfte so, wie es vermeintlich im Schützengraben geschehen war, in einer starken „Volksgemeinschaft“ unter einem charismatischen „Führer“ zu integrieren und diese zu neuer nationaler Größe zu führen.65 Auch auf dem Gebiet der Kultur musste der Staat Aufgaben übernehmen, die früher private Förderer erfüllt hatten. Auch hier stießen bei allen wesentlichen Fragen scharfe Gegensätze aufeinander:66 Während die einen aus dem 63 Vgl. Friedrich Völtzer, Der Sozialstaatsgedanke in der Weimarer Reichsverfassung, Frankfurt a. M. 1993. 64 Vgl. Horst Thum, Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung. Von den Anfängen bis zum Mitbestimmungsgesetz 1976, Köln 1991; Rudolf Kuda, Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie. In: Heinz Oskar Vetter (Hg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung, Köln 1975, S. 253–274; Günter Könke, Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat. Eine Studie zur Ideologie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik (1924–1932), Stuttgart 1987; mit erweiterter Perspektive: Tim B. Müller, Demokratie, Kultur und Wirtschaft in der deutschen Republik. In: Tim B. Müller/Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015, S. 259–293. 65 Vgl. Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, 4. Auflage 1994. 66 Vgl. Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur der Weimarer Zeit, 1918–1933, Frankfurt a. M. 2004 (1., amerikanische Auflage 1968); Jost Hermand/Frank Trommler, Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1989; Walter Laqueur, Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt a. M. 1976.

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­ assenhaften Sterben im technisierten Krieg den Schluss zogen, dass nur der m Pazifismus und Anstrengungen zur Versöhnung der Völker noch legitim seien, dienten die Opfer der Soldaten den anderen zur Begründung ihrer nationalistischen und revisionistischen Ziele.67 Die einen erfüllte nach dem Fall des ­Kaiserreichs Aufbruchsstimmung; die anderen trauerten um das Verlorene und sahen in der Revolution nur Treuebruch und Verrat. Die einen feierten die Dynamik der Großstadt und die modernen technischen Errungenschaften trotz ihres im Krieg sichtbar gewordenen furchtbaren Zerstörungspotenzials; die anderen ergingen sich in Antiurbanismus, Kulturpessimismus und Zivilisationskritik.68 Genauso gespalten waren die Künste, die Künstler und ihr Publikum. Avantgarde und Anhänger der Tradition standen sich unversöhnlich gegenüber. „Kulturbolschewismus“, „Asphaltliteratur“ schimpften die einen, „reaktionärer Kitsch“ die anderen.69 Beide Lager hatten ihre besonderen Zeitschriften, Verlage, Theater, Kinos. Der Staat sollte bei Stellenbesetzungen, Investitionen und der Förderung von Kultureinrichtungen jeweils exklusiv die eigene Richtung bedenken. Die illiberale Rechte rief darüber hinaus nach Verboten und Zensurmaßnahmen gegen ihre Gegner.70 Angesichts solcher konträren Anforderungen konnten die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen bei dem Versuch, sie zu befriedigen, nur scheitern. Die Avantgarde hatte die Revolution überwiegend begeistert begrüßt und anfangs gehofft, dass im neuen Staat den Geistigen die Führung zufallen werde. Als sich diese Erwartung nicht erfüllte, wandten sich viele Künstler und Intellektuelle enttäuscht von der Weimarer Demokratie ab und bedachten sie mit bitterer, auch hämischer und überzogener Kritik. Ungewollt trugen sie damit zur Schwächung der Republik bei.71

VII. Verfassungstreue und verfassungsbeugende Krisenstrategien Unrealistisch hohe Anforderungen an den neuen Staat auf allen Seiten führten dazu, dass die Erfolge, die unter schwierigen Bedingungen nach dem verlorenen „Großen Krieg“ in wenigen Jahren erzielt wurden, zu wenig Anerkennung 67 Vgl. Mosse, Gefallen; Benjamin Ziemann, Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014. 68 Vgl. Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970; Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt a. M. 1999; Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999. 69 Vgl. Björn Laser, Kulturbolschewismus! Zur Diskurssemantik der „totalen Krise“ 1929–1933, Frankfurt a. M. 2010. 70 Vgl. Klaus Petersen, Zensur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1995. 71 Vgl. Jenö Kurucz, Struktur und Funktion der Intelligenz während der Weimarer Repu­ blik, Köln 1967; Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005; Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S. 539–565.

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fanden. Dazu gehörten: die Schaffung einer liberal-demokratischen Verfassung, deren Kern sich 30 Jahre später im Grundgesetz als zukunftsfähig erwies; die Grundlegung eines modernen Sozialstaats, das heißt konkret: die Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages als Norm, Tarifverträge und Ansätze betrieblicher Mitbestimmung, Verbesserungen des Arbeitsschutzes, die Errichtung von Arbeits- und Verwaltungsgerichten, die Schaffung einer öffentlichen Arbeitslosenversicherung, die Wandlung der „Armenpflege“ zur Sozialfürsorge, ein beachtlicher sozialer Wohnungsbau, der erschwingliche Mieten und architektonische Qualität zu verbinden versuchte, Schulreformen, um die Bildungschancen für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu verbessern. Der großartige Aufschwung der Kultur gehörte dazu und einige bedeutende außenpolitische Erfolge wie die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund 1926 und die vorzeitige Räumung des gesamten Rheinlands von alliierten Truppen 1930. Zu den Leistungen der jungen Republik gehörte es auch, dass sie die ersten fünf Jahre mit den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen, den Umsturzversuchen von rechts und links und der seit 1922 immer verheerender wirkenden Hyperinfla­tion überhaupt überlebte. Im Herbst 1923 war die Situation gewiss nicht weniger dramatisch als 1932: Das Währungschaos machte jede geordnete Wirtschaftstätigkeit unmöglich, ließ die Erwerbslosigkeit gewaltig emporschnellen, brachte gut situierte Angehörige des Bürgertums um ihre Vermögen und Wertvorstellungen.72 Gewaltige Massenstreiks, Putschversuche und separatistische Bestrebungen gefährdeten den Zusammenhalt des Staates und seinen territorialen Bestand. Außenpolitisch war er durch die Konfrontation mit den Westmächten im „Ruhrkampf“ gelähmt. Die Republik überlebte diese fundamentale Krise, weil die verantwortlichen Politiker rechtzeitig, bevor die Verzweiflung überhandnahm, das Steuer herumwarfen. Für einige Monate durch eine Große Koalition abgesichert, brach Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) den „Ruhrkampf“ ab und ergriff Maßnahmen zur Währungsstabilisierung. Reichspräsident Friedrich Ebert unterstützte ihn mit seinen Notstandsvollmachten, aber, und das ist entscheidend, sie wurden nur, wie es der Intention der Verfassung entsprach, für kurze Zeit zur Überwindung der aktuellen Notsituation eingesetzt. Das war in den letzten Jahren der Republik ganz anders. Jetzt diente der Artikel 48 der Verfassung einem rechten Reichspräsidenten, Paul von Hindenburg, dazu, die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung, ein Kern­element der Weimarer Demokratie, zu beseitigen und die stärkste Partei, die SPD, von

72 Vgl. Fritz Blaich, Der schwarze Freitag. Inflation und Wirtschaftskrise, München 1985; Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914–1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin 1980; Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, 1914–1924, New York 1993; Knortz, Wirtschaftsgeschichte, S. 35–75; Bernd Widdig, Culture and Inflation in Weimar Germany, Berkeley 2001; Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft, S. 501–536, 558–607.

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der Regierung fernzuhalten. Eine vom Vertrauen des ­Reichspräsidenten statt des Reichstags abhängige Regierung nahm auf den durch die Parteien vermittelten Willen des Volkes und die Stimmung in der Bevölkerung nur noch sehr wenig Rücksicht.73 Von Ende März 1930 bis Ende Mai 1932 regierte ein Minderheitskabinett unter dem Zentrumskanzler Heinrich Brüning mit ­Notverordnungen, die seit dem spektakulären und beängstigenden Wahlerfolg der ­NSDAP am 14. September 1930 von der SPD geduldet wurden. Sie bezahlte diese „Politik des kleineren Übels“ mit der Abwendung vieler Anhänger und Anhängerinnen zur KPD oder zu den Nichtwählern und mit der Abspaltung ihres linken Flügels.74 Die stärkste Stütze der Demokratie wurde dadurch geschwächt. Brüning nutzte den Spielraum, den die weitgehende Lösung vom Parlament bot, um eine rigorose Spar- und Deflationspolitik zu betreiben. Das Ziel war zunächst, den Ausgleich der öffentlichen Haushalte zu erzwingen, dann, darüber hinaus, durch bewusste Forcierung der Deflation das Krisentief schneller als die konkurrierenden Industriestaaten zu erreichen, um Deutschland einen Vorsprung im Augenblick des Wiederaufschwungs der Weltwirtschaft zu verschaffen. In einer schweren weltweiten Depression, die der durch Krieg und Inflation geschwächten deutschen Wirtschaft besonders hart zusetzte, verfolgte er eine krisenverschärfende Politik. Die Auswirkungen waren verheerend: Die Industrieproduktion schrumpfte bis 1932 um 40 Prozent. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg auf 5,6 Millionen, die Quote auf 30 Prozent; dazu kamen viele „unsichtbare“ Erwerbslose. Die Unterstützungen der Arbeitslosen – wie auch der Kriegsopfer und Rentner – wurden immer drastischer gesenkt, die Unterstützungszeiten immer stärker verkürzt. Schließlich mussten fast 60 Prozent der Erwerbslosen mit den dürftigen Leistungen der kommunalen Fürsorge auskommen, die nur das Verhungern verhinderten.75 Auch Menschen, die noch in Beschäftigung waren, mussten sehr spürbare Lohn- und Gehaltskürzungen hinnehmen. Einzelhändler und Handwerker erlebten Umsatzrückgänge um bis zu 60 Prozent; manche benötigten ebenfalls öffentliche Unterstützung. Schulkinder waren wieder unter­ ernährt wie am Ende des Krieges.76 Im Sommer 1931 musste das Reich mehrere Großbanken vor dem Bankrott retten. Auch die Kommunen und mehrere Länder, die den Gemeinden notge73 Zu diesem Abschnitt: Büttner, Weimar, S. 391–463; Hesse/Köster/Plumpe, Große Depression, S. 53–78, die Brünings Handlungsspielraum geringer einschätzen. 74 Vgl. Hanno Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1965; Dietmar Klenke, Die SPD-Linke in der Weimarer Republik. Eine Untersuchung zu den regionalen organisatorischen Grundlagen und zur politischen Praxis und Theoriebildung des linken Flügels der SPD in den Jahren 1922–1932, Band 1–2, Münster 1983, 2. Auflage 1987. 75 Vgl. Büttner, Weimar, S. 438, 826 f.; Hesse/Köster/Plumpe, Große Depression, S. 54– 58. 76 Vgl. Büttner, Weimar, S. 439; dies., Hamburg in der Staats- und Wirtschaftskrise 1928– 1931, Hamburg 1982, S. 267.

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drungen zu Hilfe gekommen waren, darunter Preußen, drohten unter der Fürsorgelast zusammenzubrechen. Beim Reich fanden sie wenig Verständnis; denn die Regierung wollte ihre finanzielle Bedrängnis nutzen, um die Selbstverwaltung der Gemeinden zu beschneiden. Auch dies war ein Versuch, verfassungsrechtliche Ergebnisse der Revolution von 1918/19 rückgängig zu machen. Demokratische Oberbürgermeister waren über diese Politik des Kabinetts Brüning verbittert. Bei ihnen, so schrieb der Berliner Bürgermeister Fritz Elsas warnend, sei ein „Maß von Arbeitsverdrossenheit“ entstanden, das zur „staatspolitischen Gefahr“77 zu werden drohe. Der Wunsch nach Aufgabe der krisenverschärfenden Finanzpolitik war seit dem Sommer 1931 weit verbreitet und dringend. Viele Zeitgenossen erkannten den Zusammenhang zwischen der Verelendung großer Teile der Bevölkerung und dem Anwachsen der extremen Parteien, insbesondere der NSDAP. Der linksliberale Reichstagsabgeordnete Anton Erkelenz (jetzt SPD) brachte es auf den Punkt: „Deflation führt zur Revolution.“78 Es gab Alternativen: Angebote für französische Anleihen; die Abwertung der Reichsmark, zu der die englische Regierung im Herbst 1931 ermutigte; vor allem von dem englischen Wirtschaftsprofessor John Maynard Keynes inspirierte Vorschläge, die Konjunktur durch eine bewusste Kredit- und Geldschöpfungspolitik und umfangreiche Staatsaufträge anzukurbeln. Wissenschaftler, Publizisten, Wirtschaftsleute, Gewerkschaftler und einige hohe Beamte bemühten sich verzweifelt, eine solche Wende durchzusetzen.79 Aber Brüning weigerte sich, diesen Schritt zu früh zu tun. Zuvor wollte er die schwere Wirtschaftskrise ausnutzen, um die Streichung der Reparationen zu erreichen, Deutschland wieder in die Position einer wirtschaftlichen Großmacht zu bringen und die angeblich übersteigerte Demokratie abzubauen.80 Außenund innenpolitisch strebte das Kabinett Brüning danach, Folgen des Zusammenbruchs von 1918 zu überwinden. Es wollte die beiden Grundgesetze der Weimarer Republik korrigieren: den Versailler Vertrag und die Verfassung. Angesichts 77 Schreiben an Hermann Fischer vom 5.4.1932, Bundesarchiv Koblenz: Nachlass Hermann Dietrich, Nr. 254. Elsas verlor im Januar 1945 im Widerstand gegen Hitler sein Leben. 78 So der Titel eines undatierten Manuskripts; Ursula Büttner, „Deflation führt zur Revolution“. Anton Erkelenz’ vergeblicher Kampf für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel und die Rettung der Demokratie in der Ära Brüning. In: Rainer Hering/Rainer Nicolaysen (Hg.), Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky. Wiesbaden 2003, S. 365–383. 79 Vgl. Ursula Büttner, Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs. Ein Beitrag zur Diskussion über „ökonomische Zwangslagen“ in der Endphase von Weimar. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 37 (1989), S. 209–251; Hak-Ie Kim, Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik. Die konjunkturpolitische Diskussion in der Endphase der Weimarer Republik 1930–1932/33, Berlin 1997. 80 Vgl. Wolfgang J. Helbich, Die Reparationen in der Ära Brüning. Zur Bedeutung des Young-Planes für die deutsche Politik, 1930–1932, Berlin 1962. Das revisionistische Streben auf wirtschafts- und verfassungspolitischem Gebiet hat bisher weniger Beachtung gefunden; dazu Büttner, Weimar, S. 426, 438.

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dieser hehren Ziele glaubte Brüning, dem Volk schwere Entbehrungen zumuten zu dürfen. Über die wachsende Proteststimmung und politische Radikalisierung beklagte er sich: Es gehöre „zu den Eigenheiten des deutschen Volkes, kurz vor der Erreichung des Zieles den Mut zu verlieren und zusammenzuklappen“. Das war eine abgeschwächte Version der „Dolchstoßlegende“. Sein Finanz-Staats­ sekretär Hans Schäffer widersprach: Nach seiner ­Beobachtung seien „die ­Ziele, die von den Führern gesetzt wurden, [...] über die vorhandenen Kräfte des Volkes“ hinausgegangen und deshalb immer wieder „aus möglichen Einigungen deutsche Kapitulationen“81 geworden.

VIII. Überforderung und Missbrauch der Weimarer Demokratie So erging es Brüning. Ende Mai 1932 wurde er gestürzt. Seine Nachfolger Franz von Papen und Kurt von Schleicher gingen von der missbräuchlichen Umdeutung von Verfassungsbestimmungen zum offenen Missbrauch der politischen Macht im Interesse der vordemokratischen Eliten über: der „Junker“, der Wirtschaft und des Militärs. Papens Staatsstreich gegen Preußen am 20. Juli 1932, die Absetzung der demokratisch gewählten geschäftsführenden Regierung mit Hilfe des Artikels 48, war ein eklatanter Verfassungsbruch. Die beiden letzten Kanzler der Republik hatten die große Mehrheit des Reichstags gegen sich. Sie regierten nicht ohne, sondern gegen das Parlament. Dabei hatten sie das Modell eines „organischen“ Staates vor Augen, in dem „Stände“ gemäß ihrer vermeintlichen Bedeutung entschieden, die Stimmen nicht wie in der angeblich rein „mechanischen“ parlamentarischen Demokratie gezählt, sondern gewogen werden sollten.82 Die Missachtung der Demokratie war bei ihnen Programm. Die konservativen Retter Deutschlands wollten das Volk einen und trieben es an den Rand des Bürgerkriegs. Sie wollten den Staat aus dem Griff der Parteien und Interessengruppen befreien und lieferten ihn dem skrupellosesten Parteiführer, Adolf Hitler, aus. Brüning war dagegen ein kluger, gewissenhafter und strategisch denkender Politiker. Aber sein Orientierungspunkt war nicht der Erhalt der Demokratie, sondern das Wohl Deutschlands, das er in den Händen des Reichspräsidenten und der Regierung besser aufgehoben sah als bei Parteien und parlamentarischen Mehrheiten. Überforderung und Missbrauch, das scheinen mir die Schlüsselbegriffe zu sein, um das Schicksal der Weimarer Republik zu erklären. Es gab belastende strukturelle Schwächen, weil die Demokratisierung 1918/19 nur unvollkommen gelungen war. Aber das machte eine erfolgreiche Entwicklung nicht unmöglich,

81 Hans Schäffer, Entlassungsgesuch vom 19.3.1932. In: Ilse Maurer/Udo Wengst (Hg.), Politik und Wirtschaft in der Krise 1930–1932. Quellen zur Ära Brüning, Düsseldorf 1980, S. 1344. 82 Vgl. Bracher, Auflösung, S. 533–545; zur Ära Papen-Schleicher, S. 529–685.

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Die Zerstörung der Weimarer Republik

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wie die Fortschritte in den wenigen relativ guten Jahren zeigten. Die großen, in vieler Hinsicht unrealistischen Erwartungen waren eine schwere Bürde für den Weimarer Staat und die Politiker und Politikerinnen, die Verantwortung in ihm trugen. Doch erst der Missbrauch der Verfassung brachte die Republik zu Fall. Dazu gehörte die zynische Ausnutzung der in ihr gewährten Rechte und Freiheiten, deren sich die NSDAP rühmte. Mit seiner höhnischen Bemerkung, Reichstagsabgeordnete seien für sie vor allem „IdIs“ und IdFs“, Inhaber der Immunität und der Freifahrkarte, brachte Joseph Goebbels das auf den Punkt.83 Wichtiger war aber der Missbrauch der Verfassung an der Spitze des Staates. Die Wahl eines Hauptverantwortlichen des alten Regimes für die militärische und politische Katastrophe von 1918 in das Reichspräsidentenamt stellte 1925 eine tiefe Zäsur dar. Die reaktionären Gegner der Demokratie bekamen dadurch einen bequemen, unkontrollierten Zugang zur Macht. Der unredliche Umgang mit der Verfassung begann schon im März 1930 bei der Ablösung der letzten parlamentarischen Regierung der Republik, als Signale des Reichspräsidenten, dass er eine neue Regierung ohne die SPD mit seinen Notstandsbefugnissen stützen werde, mitentscheidend waren. Der Missbrauch setzte sich nach der Wahl vom 14. September 1930 fort, als trotz des starken Anwachsens der NSDAP eine Regierung der Großen Koalition noch immer möglich war, aber wegen des Widerstands des Reichspräsidenten gegen die SPD nicht zustande kam. Von nun an diente der Abbau von demokratischer Partizipation zur Durchsetzung einer Politik, die den Interessen der großen Mehrheit der Wähler und Wählerinnen widersprach und mit dem Parlament nicht zu machen gewesen wäre. Der Missbrauch der Verfassung und die Überforderung des Staates und des Volkes verschränkten sich in unheilvoller Weise. Erst diese Verbindung der drei Faktoren, strukturelle Vorbelastung, Überforderung durch teils unrealistische Erwartungen sowie rigide politische Entscheidungen und Missbrauch der demokratischen Institutionen, besiegelte das Schicksal der Republik.

83 Vgl. Albrecht Tyrell (Hg.), „Führer befiehl …“. Selbstzeugnisse aus der „Kampfzeit“ der NSDAP. Dokumentation und Analyse, Düsseldorf 1969, S. 228.

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Verpasste Konsolidierung. Das Scheitern der Demokratie in Österreich in der Zeit zwischen den Weltkriegen – Verlaufsmuster und Ursachen Everhard Holtmann

I.

Die untersuchungsleitende Frage

Die zentrale Frage dieses Beitrags lautet, welche Chancen, Risiken und Hindernisse die „Durchsetzung des demokratischen Prinzips“ (Hans Mommsen) in Österreichs Erster Republik beeinflusst, das heißt gefördert oder gehemmt und letztlich vereitelt haben.1 Warum ist das Projekt Demokratiegründung in Österreich spätestens mit dem kalten Staatsstreich des autoritären Dollfuß-Regimes im März 1933, der zunächst noch als „Selbstausschaltung“ des nationalen Parlaments scheinlegal verbrämt wurde, und schließlich offen mit Ausbruch des Bürgerkriegs im Februar 1934 gescheitert? 1.

Ein Krisen-Zusammenbruchs-Zyklus?

Aus Sicht der neueren vergleichenden Transformationsforschung schält sich als ein Zusammenhangsmuster des Scheiterns der europäischen Demokratien während der Zeit zwischen beiden Weltkriegen ein „Krisen-ZusammenbruchsZy­klus“ heraus: Die Politik versagt bei der Lösung wichtiger wirtschaftlicher, sozia­ler und politischer Probleme. Die noch nicht konsolidierte Demokratie kann kein ausreichendes „Polster“ an genereller Systemunterstützung aufbauen. „Hyperpolitisierung“ und wachsende politisch motivierte Gewalt(-bereitschaft) bestimmen das innenpolitische Klima. Die Eliten arbeiten gegen die demokratische Ordnung. Das Parlament wird geschwächt. Es kommt zum Aufstieg autoritärer Strömungen und Bewegungen.2

1 2

Der Beitrag ist Hans Mommsen gewidmet, dem Österreichforscher und Mittler zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft. Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Opladen 1999, S. 179.

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Everhard Holtmann

In dieses Zusammenhangsmuster fügt sich der österreichische Fall auf den ersten Blick bruchlos ein. Das krisenhafte Ineinandergreifen der genannten Faktoren beschreibt auch die Entwicklung in der Ersten Republik Österreich. Es lässt, rückblickend betrachtet, die Zerstörung der Demokratie des Alpenstaates, wie desselben Regimetypus in fast ganz Mitteleuropa, als unausweichlich erscheinen. Vom Endpunkt ihres Scheiterns her gesehen, treten die den demokratischen Verfassungsstaat unterhöhlenden und schließlich zerstörenden Wirkkräfte deutlich zutage. Angesichts dessen erwies es sich im Nachhinein als eine „Illusion, dass unter den Bedingungen der Zwischenkriegszeit demokratische Politik wirkliche Chancen hatte“.3 Andererseits ist die Erklärungskraft des Krisenzyklus-Szenarios für den Einzelfall Österreich begrenzt. Es stellt lediglich eine lose Kopplung von Faktoren dar und beschreibt nur andeutungsweise ein Verlaufsmuster. Es bildet keinesfalls, wie Merkel selbst einräumt, kausale Beziehungen ab. Vor allem aber sagt es nichts über das Wirken und über das Gewicht jener Faktoren aus, die den Niedergang der Demokratie zumindest retardiert haben. So betonte Hans Mommsen 1972: „[D]ie Frage muss lauten, warum hat das parlamentarische System bei allen Schwächen in der Ersten österreichischen Republik überhaupt so lange existieren können?“4 – Folgerichtig gabelt sich die untersuchungsleitende Frage in zwei Teilfragen. Erstens: Was brachte die parlamentarische Demokratie auf die abschüssige Bahn des antidemokratischen Systemwechsels? Und zweitens: Was trug zur temporären Festigung der Demokratie bei? 2.

Unsicher, unbestimmt, handlungsoffen – Attribute von Systemwechseln

Eine solche (nichtstatistische) Faktorenanalyse verträgt sich nicht mit der Annahme eines historischen Determinismus der Art, dass die Entwicklung der Nachkriegsdemokratien der 1920er- und 1930er-Jahre „notwendig“ in ihre Auflösung habe einmünden müssen. Vielmehr ist sich die Transformationsforschung weitgehend einig darüber, dass Unsicherheit ein allgemein kennzeichnendes Merkmal von Zeiten des Systemwechsels ist. „Transitionsphasen sind Momente großer politischer Ungewissheit: Die genauen Machtverhältnisse sind den Akteuren unbekannt, politische Regeln (rules of the game) und Strategien verändern sich ständig.“5 Diese Beschreibung der Handlungsbedingungen lässt sich auf Österreich Ende 1918 übertragen6 und trifft auf die Umschaltphase von politischen Systemwechseln generell zu. 3 4 5 6

Hans Mommsen, Diskussionsbeitrag. In: Ludwig Jedlicka/Rudolf Neck (Hg.), Österreich 1927 bis 1938. Protokoll des Symposiums in Wien 23. bis 28. Oktober 1972, Wien 1973, S. 24. Ebd., S. 44. Merkel, Systemtransformation, S. 104. Ebenso beispielsweise auch auf den Systemumbruch in Ostdeutschland 1989/90. Vgl. Heinrich Best/Everhard Holtmann (Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frankfurt a. M. 2012, S. 9–39.

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Wenn Unsicherheit ein kennzeichnendes situatives Momentum von Übergangszeiten „zwischen den Systemen“ ist, so bedeutet dies, dass in Österreich die Ausgangslage in den Monaten des Umbruchs 1918/19 im Hinblick auf die Bestimmung ihrer künftigen Entwicklungsrichtung handlungsoffen war. Der ­rasche Legitimationsverlust der alten Autoritäten und der ebenso rapide Machtverfall zentraler staatlicher Institutionen der Monarchie öffnete den politischen Akteuren, die jetzt in das Machtvakuum nachrückten, Freiräume, um alterna­ tive bzw. konkurrierende strategische Handlungsoptionen zu verfolgen. Konkret waren dies die in der Provisorischen Nationalversammlung vereinigten drei Altparteien der Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen. Der Wettstreit der bevorzugten Modelle des Systemwechsels wurde in der dramatisierten Form eines fundamentalen politischen Glaubenskrieges ausgetragen. Die programmatischen Kampfparolen lauteten: für oder gegen eine bürgerliche oder sozialistische Demokratie, Räterepublik oder Parlamentarismus, Sozialisierung oder kapitalistische Wirtschaft. Die Unbestimmtheit dessen, was kommen würde, begleitete die Phase des revolutionären Übergangs von 1918/19 wie die Zeit danach. Unsicherheit unterlag den subjektiven Lageeinschätzungen und dem strategischen Handeln der Akteure in hohem Maße. Die Akteure waren nur begrenzt imstande, nicht intendierte Folgen ihrer Entscheidungen (und Nicht-Entscheidungen) im Vor­ hinein abzuschätzen und unter Kontrolle zu halten. Daher wurden die Akteure in gewissem Grade auch zu Gefangenen ihres eigenen Handelns. Die Handlungsoffenheit, die in den Monaten des Umbruchs 1918/19 in ­Österreich gegeben war, bedeutet indessen nicht, dass die gegeneinander in Stellung gebrachten Modelle des Systemwandels gleiche Realisierungsaussichten besessen hätten. Wie die Durchsetzungschancen tatsächlich verteilt waren, war zunächst unsicher. Solange dies aber in der Schwebe blieb, muteten Interimslösungen wie ein „Burgfrieden“ oder provisorische Vereinbarungen allen Beteiligten vorteilhaft an. Immerhin war man sich parteiübergreifend dahingehend einig, dass es zur Demokratie keine Alternative gab. Damit waren Bedingungen gegeben, um jenen Mechanismus in Gang zu setzen, der in Situationen des demokratischen Systemwechsels als logisches Handeln erscheint: „Demokratisierung bedeutet daher die Umwandlung dieser politisch-institutionellen ‚Ungewissheiten‘ in ‚Gewissheiten‘, indem häufig – explizit oder implizit – konstitutive Pakte zwischen den relevanten Akteuren geschlossen werden, in denen die Demokratisierungsinhalte und -grenzen definiert werden.“7 Ebenso „setzt eine erfolgreiche Demokratisierung häufig voraus, dass sich die gemäßigten Akteursgruppen des alten Regimes und die moderaten Kräfte der demokratischen Opposition auf konstitutionelle und politische Pakte einigen, die die Ungewissheit der Transformationsentwicklung begrenzen“.8

7 8

Merkel, Systemtransformation, S. 104. Ebd., S. 106.

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Diese Zustandsanalyse beschreibt die „österreichische Revolution“ (Otto Bauer) von 1918 recht treffend. Zu den seinerzeit neu geschaffenen „Machttatsachen“ (Hans Mommsen) gehörte insbesondere der konstitutive Akt der Gründung einer parlamentarischen Demokratie. Die zunächst von einer breiten Zeitströmung getragene Anerkennung der Demokratie, so wie sie aus dem Übergang als eine institutionell richtungsweisende Signatur der neuen Zeit in Österreich hervorging, war insofern ein Ergebnis rationaler Wahl der politischen Eliten, als das ausgehandelte Verfassungskonstrukt einen historischen Kompromiss darstellte, der das damalige Machtgleichgewicht zwischen den beiden tonangebenden politischen Lagern der Sozialdemokratie und der bürgerlich-bäuerlichen Christlichsozialen Partei widerspiegelte. So wie der Verfassungsgebungsprozess auf eine relativ offene Situation verweist, in der die politischen Gegenspieler über beträchtliche Handlungsspiel­ räume verfügten, so gab die im Oktober 1920 in Kraft gesetzte Verfassung einen Rahmen vor. Dieser Rahmen war aber so weit gefasst und so auslegungsfähig, dass ein Raum für Machtkämpfe und Deutungskonflikte geöffnet blieb, welche die Grenzen der Verfassung austesteten und ihren Geist von verschiedenen ­Seiten her infrage stellten. 3.

Analytische Schlussfolgerungen und Thesen

Wie andere mitteleuropäische Demokratien der Zwischenkriegszeit war die ­erste österreichische Demokratie nicht lange eine effektiv „arbeitende“. Sie wurde 1934 von einem autoritären Regime abgelöst, das wiederum nur ein kurzes historisches Zwischenspiel vor dem „Anschluss“ Österreichs an die NS-Diktatur des Deutschen Reiches blieb. Was bedeuten nun die bisherigen Ausführungen für die Analyse der Ursachen des Scheiterns dieser Demokratie? – Folgende Punkte erscheinen wichtig und weiterführend: 1. Die Ausgangslage des Systemwechsels in Österreich war entscheidungsoffen. Sie öffnete den Akteuren einen Handlungskorridor für unterschiedliche strategische Entwürfe. 2. Die Handlungsbedingungen waren und blieben einerseits durch das Handeln behindernde bzw. blockierende Restriktionen, also die sogenannten constraints, und zum anderen ebenso durch „Freiheitsgrade und Gestaltungsmöglichkeiten“,9 das heißt „opportunities“, geprägt. 3. Daraus folgt, dass Faktoren, die eine Konsolidierung der ersten österreichischen Demokratie begünstigten, durchaus vorhanden waren. Allerdings sind diese Faktoren in ihrer Wirkmächtigkeit, zusehends schwächer geworden. Als stärker erwiesen sich letztlich die demokratiezerstörenden Kräfte.

9

Ebd., S. 108.

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Verpasste Konsolidierung

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Meine These ist, dass: 1. in der Ausgangssituation von 1918 die Chancen für eine Konsolidierung der Demokratie in Österreich in manchem günstiger waren als in Deutschland, 2. andererseits, so wie in Deutschland, von Anfang an Umstände und Kräfte gegeben waren, die einer Festigung der Demokratie entgegenwirkten, 3. dieses systemkritische Potenzial, das der neuen Ordnung bereits während der Phase der Transition als Morgengabe eingepflanzt worden war, seine anti­ demokratische Blockade- und Zerstörungskraft im Zusammenwirken mit später auftretenden krisenhaften Entwicklungsfaktoren hat voll entfalten können.

II.

Die zyklische Verlaufsform der Ablösung und Wiederkehr ­autokratischer politischer Regime in Österreich

Das historische Geschehen zwischen den beiden Eckdaten des Oktober 1918 und des Februar 1934 liest sich wie ein Zyklus der Ablösung und Wiederkehr einer nichtdemokratischen Form politischer Herrschaft. Der mehrfache Wechsel und Wandel des politischen Regimes fand in vier Stufen statt: Die erste Stufe brachte Ende 1918/Anfang 1919 den Systemwechsel von der Autokratie zur Demokratie. Die Verfassung von 1920 markiert den Eintritt in die zweite Stufe, diejenige des Ordnungsmodells der parlamentarischen Demokratie. Mit der sogenannten Selbstausschaltung des Nationalrates Anfang März 1933 beginnt die dritte Phase eines schleichenden Systemwandels zu einer „defekten“ Demokratie, die im Februar 1934 in die vierte Phase des dann offen autoritären Regimes, eines „christlichen“ Ständestaates mit einer austrofaschistischen Beimischung in Gestalt der Heimwehrbewegung, mündet. Der abermalige Systemwechsel von der einen zur anderen Diktatur, der mit dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich im März 1938 einherging, kann hier ebenso wie die Phase des Ständestaates außer Betracht bleiben, da die Zerstörung der ersten österreichischen Demokratie zu diesem Zeitpunkt bereits eine vollendete Tatsache war. Die ersten drei Phasen dieses autokratischen Zyklus, in welchen die Errichtung und die Zerstörung der Demokratie geschah, werden im Folgenden in ­ihrem Verlauf knapp skizziert. Dies geschieht aus der erweiterten Perspektive des Systemvergleichs. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Entwicklungsverläufe, welche die Erste Republik Österreich und die Weimarer Republik genommen haben, werden dabei mit in den Blick genommen. Um die deskriptiv dargestellten Geschehnisse systematisch zu strukturieren und theoretisch ­einzubetten, wird der typenbildende Erklärungsansatz der sozialwissenschaft­ lichen Systemwechsel- bzw. Transformationsforschung herangezogen.10

10 Vgl. Wolfgang Merkel/Aurel Croissant, Formale und informale Institutionen in defekten Demokratien. In: PVS, 41 (2000), S. 3–30.

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Prozess- und Strukturmerkmale des demokratischen Umbruchs 1918

Am Ende des Ersten Weltkriegs ging aus der militärischen Niederlage und dem Zerfall der autokratischen Habsburgermonarchie die parlamentarische Demokratie der Ersten Republik hervor. Der Systemwechsel als solcher war ebenso wie die Novemberrevolution in Deutschland eine einschneidende ­historische Zäsur. Manche Prozessmerkmale des Umbruchs von 1918 stellen sich in ­Österreich und Deutschland auffallend ähnlich dar: Hier wie dort hatte die zen­ tralistisch gesteuerte und militarisierte Kommandowirtschaft des Kriegsregimes die revolutionäre Dynamik im Innern, vor allem unter der Arbeiterschaft, beschleunigt. Hier wie dort sahen sich die Eliten und gesellschaftlichen Schichten, welche die alte Ordnung getragen hatten und ihr immer noch anhingen, in den Monaten, die dem Umsturz folgten, in die Defensive gedrückt. In beiden Ländern kam es auf der Ebene der institutionell geregelten Arbeitsbeziehungen früh zu paritätischen Arrangements der organisierten Kräfte von Unternehmen und Arbeiterschaft, deren sozialpolitischer Reformertrag zunächst beachtlich war. In beiden Ländern waren die institutionellen Gehäuse dieser frühen Form von Sozialpartnerschaft bald leergezogen. Die ausgehandelten sozialpolitischen Errungenschaften wurden, soweit sie Zugeständnisse der Arbeitgeber enthielten, später als „Revolutionsschutt“ diffamiert und Schritt für Schritt revidiert. In seiner Typenlehre der Systemtransformation schreibt Wolfgang Merkel, von einem Systemwechsel könne erst dann gesprochen werden, „wenn sich konstitutive strukturelle und prozedurale Elemente eines politischen Systems grundsätzlich verändern“.11 Dieses Kriterium trifft auf den Umbruch in Österreich von 1918 zweifellos zu. Dort folgte der Auflösung der alten Staatsmacht der Aufbau einer neuen politischen Herrschaftsstruktur. Anders aber als in der Sphäre der Politik verliefen die Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die gleichfalls als Schlüsselgrößen für die Radikalität des Systemwechsels bzw. für die Reichweite der Transformation anzusehen sind: Im ökonomischen Sektor kam es nach dem Ende der kriegsbedingten Kommandowirtschaft zu einer Restitution des Kapitalismus. Obwohl es sich formal um einen Wechsel von einer „Plan- und Kommandozur Marktwirtschaft“ handelte, was nach Merkels Definition ein Kennzeichen für eine ökonomische Transformation ist,12 kann im Falle Österreichs nicht vom Übergang zu einem grundsätzlich anderen Ordnungssystem gesprochen werden. Die kapitalistische Betriebsform blieb im Kern bewahrt. Lediglich die private Verfügungsgewalt der Unternehmer wurde – zuvor militärisch und hernach sozialrechtlich – eingeschränkt. Zwar war die – zunächst in paritätischen Gremien informell ausgehandelte und sodann parlamentarisch durchgesetzte –

11 Merkel, Systemtransformation, S. 18. 12 Ebd., S. 15.

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Bilanz der nach-revolutionären Sozialgesetzgebung beachtlich ausgefallen.13 Dieses Reformwerk wurde jedoch teilweise wieder zurückgenommen, wobei der hinhaltende Widerstand von sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaften in Österreich vergleichsweise erfolgreich war. Erst recht sind, wie in Deutschland, so auch in Österreich, die Anläufe zu einer Sozialisierung von Unternehmen alsbald im Sande verlaufen.14 Auch auf gesellschaftlicher Ebene blieb die Transformation stecken. Es kam nicht zu jenem „Wandel von geschlossenen zu offenen Gesellschaften“,15 der laut Merkel eine notwendige Voraussetzung für einen sozialen Systemwechsel zur Demokratie ist. Wenn unter einer offenen Gesellschaft zum einen Schichtdurchlässigkeit, die vertikale Mobilität zulässt, und zum anderen horizontal ein generalisiertes Vertrauen, das einen Schichten und Weltanschauungen überbrückenden sozialen Umgang möglich macht, verstanden wird, dann waren im Österreich der Zwischenkriegszeit beide Bedingungen, so wie in Deutschland, nicht gegeben. Vertikal war die österreichische Gesellschaft infolge ihrer Selbst­ organisation in sozialmoralisch geschlossenen Milieus extrem undurchlässig konstituiert.16 Horizontal wirkte sich das Denken in durch die ideologischen Lager gezogenen Konfliktlinien als wechselseitige gesellschaftliche Abschottung sowie im Feld der Innenpolitik als ausgeprägtes Freund-Feind-Denken aus. Für eine demokratische Staatskultur abträglich war, wie Rudolf Neck schreibt, „dass die sozialen Schichten in der Ersten Republik, was ihre parteipolitische Stellung bzw. Bindung anbelangt, viel homogener waren und damit einander in viel fundamentaleren Gegensätzen gegenüberstanden“.17 Verstärkt wurde diese Polarisierung dadurch, dass nach dem Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft die für kapitalistische Ökonomien damals typischen, in Kategorien des Klassenkampfes befangenen Konfliktlinien der Vorkriegszeit zwischen den Kräften von Arbeit und Kapital wieder erstanden. Offen, das heißt in sich beweglich, entwickelte sich die österreichische Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit gleichwohl. Allerdings nahm sie dabei vornehmlich die Richtung eines prekären sozialen Wandels. Schon bald baute sich ein Sockel struktureller Arbeitslosigkeit auf, der auch in der Phase der relativen wirtschaftlichen Stabilisierung (1924 bis 1929) die Zehn-Prozent-Schwelle

13 Vgl. Emmerich Talos, Staatliche Sozialpolitik in Österreich, Wien 1981. 14 Vgl. Eduard März/Fritz Weber, Sozialdemokratie und Sozialisierung nach dem Ersten Weltkrieg. In: Isabella Ackerl (Hg.), Österreich November 1918. Die Entstehung der Ersten Republik. Protokoll des Symposiums in Wien am 24. und 25. Oktober 1978, Wien 1986, S. 101–123; Hans Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924, Wien 1987. 15 Merkel, Systemtransformation, S. 15. 16 Vgl. Rudolf Steininger, Polarisierung und Integration. Eine vergleichende Untersuchung der strukturellen Versäulung in den Niederlanden und Österreich, Meisenheim 1975. 17 Rudolf Neck, Von der Koalition zur Konfrontation. Die erste Etappe. In: ders./Adam Wandruszka (Hg.), Die Ereignisse des 15. Juli 1927. Protokoll des Symposiums in Wien am 15. Juni 1977, Wien 1979, S. 13.

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nicht unterschritt.18 Wie in Deutschland waren weite Teile der Mittelschichten von Arbeitslosigkeit, verschlechterten Lebensbedingungen sowie der Entwertung ihrer Sparvermögen betroffen. Mit Anerkennung der Genfer Protokolle zur Budgetsanierung verpflichtete sich die Regierung, 100 000 Angehörige des Staatsdienstes, der einschließlich der Angehörigen rund 13 Prozent der Bevölkerung stellte, bis Mitte 1924 zu entlassen.19 Im Jahr 1925 kamen die vom Völkerbund bestellten Wirtschaftsexperten zu folgender kritischer Einschätzung: „Sehr viele Angehörige des Mittelstandes haben eine lange und schwere Periode der Armut durchgemacht.“ Die „psychologische Wirkung der andauernden Herabdrückung der Lebensumstände“ sei „zweifellos einer der Gründe der im Mittelstand herrschenden Depression“.20 2.

Relative Konsolidierung einer defizitären liberalen Demokratie: die Entwicklung zwischen den Verfassungskompromissen von 1920 und 1929

Mit der Verabschiedung der Bundesverfassung im Oktober 1920 war eine entscheidende innenpolitische Weichenstellung der Nachkriegspolitik getätigt. Nach langwierigen Verhandlungen hatten sich beide Großparteien, die faktisch „Österreichs pouvoir constituant“21 stellten, auf einen Kompromiss verständigt. Er schien die Demokratie dauerhaft zu institutionalisieren. Der christlichsoziale Bundeskanzler Ignaz Seipel legte der konstituierenden Nationalversammlung den Verfassungsentwurf am 29. September 1920 mit den Worten vor: „Wir haben einhellig festgestellt, dass unsere Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muss.“22 Verfassungsrechtliches Ergebnis des demokratischen Systemwechsels war ein Typus der Gesetzgebungstätigkeit und des Regierens, der aus heutiger Sicht als Parlamentsabsolutismus beschrieben werden kann. Für ein knappes Jahrzehnt erwies sich der Parlamentarismus in Österreich trotz aller Erschwernisse, die aus der Polarisierung der politischen Lager erwuchsen, als insgesamt arbeitsfähig. Mit gewissen Parallelen zur innenpolitischen Entwicklung im Deutschen Reich lassen sich die Jahre von 1920 bis 1929 als eine Phase relativer Konsolidierung bezeichnen. Gleichwohl verharrte die Republik zur selben Zeit in einem Zustand defizitärer liberaler Demokratie. Der Grund dafür ist nicht

18 Vgl. Österreichs Volkseinkommen 1913–1963. Hg. vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, Wien 1965, S. 5. 19 Vgl. Peter Seeburger, Die Entwicklung des Arbeitsmarktes zur Zeit der 1. Republik 1918–1938, Wien 1972, S. 26. 20 Walter T. Layton/Charles Rist, Die Wirtschaftslage Österreichs. Bericht der vom Völkerbund bestellten Wirtschaftsexperten, Wien 1925, S. 66. 21 Anton Pelinka/Manfried Welan, Demokratie und Verfassung in Österreich, Wien 1971, S. 10. 22 Zit. nach ebd., S. 35.

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nur, dass es an einem hinreichenden Maß an Systemunterstützung vonseiten der Eliten und weiter Teile der Bevölkerung von Anfang an mangelte. Vielmehr blieb der im Oktober 1920 in Kraft gesetzte Verfassungskompromiss ein Gegenstand andauernder, die parlamentarisch-demokratische Architektur transzendierender Revisionsbegehren. Nachdem sich nach dem 15. Juli 1927, dem Tag des Brandes des Justizpalastes in Wien, die innenpolitischen Machtverhält­nisse zugunsten des konservativen Lagers verschoben hatten, erhöhte diese Seite den Druck zur Revision der Bundesverfassung. Die Absichten der regierenden Mehrheit zielten laut Seipel darauf ab, ein „durch Parteienherrschaft depossediertes Parlament“23 in seinen Befugnissen erheblich zu beschneiden. Noch zeigte sich die Sozialdemokratie aber stark genug, diese Versuche abzuwehren. Die Verfassungsänderung von 1929 weitete zwar unter anderem die Befugnisse des Bundespräsidenten aus. Sie blieb jedoch, was das exekutive Widerlager zum Parlament betrifft, deutlich hinter dem semipräsidentiellen Verfassungstypus des Deutschen Reiches zurück. 3.

Der Weg in die defekte Demokratie: vom ersten Testfall des ­Notverordnungsregimes im Oktober 1932 bis zur Errichtung des ­autoritären Regimes nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934

Dies änderte sich grundlegend, als sich die Regierung Dollfuß Anfang Oktober 1932 erstmals daran machte, ein Notverordnungsregime zu errichten und damit die Grenzen der Legalität zu überdehnen. Als Testfall erging eine Verordnung, mit welcher das Direktorium der zusammengebrochenen Großbank Creditanstalt für den Bankrott in Haftung genommen wurde. Ausgegraben wurde hierfür das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917. Obwohl längst vergessen, war es formal nicht aufgehoben worden und sei deshalb, wie der Verfassungsdienst des Kanzleramtes soufflierte, „seit dieser Zeit wohl losgelöst von einem Zusammenhang mit dem Weltkrieg“ als allgemeines wirtschaftliches Ermächtigungsgesetz anzusehen.24 Damit ging die rechtskonservative Regierung aus Christlichsozialen, Landbund und austrofaschistischem Heimatblock, die im Parlament über die äußerst knappe Mehrheit von einer Stimme verfügte, schon Monate vor dem kalten Staatsstreich den ersten Schritt in die Richtung einer defekten Demokratie. Die „Selbstausschaltung“ des Nationalrats am 5. März 1933 förderte diese Entwicklung nur weiter. In den folgenden Monaten wurde die gouvernementale Selbstermächtigung mehr und mehr ausgeweitet. Es folgten unter anderem

23 Zit. nach ebd., S. 39. 24 Protokolle des Ministerrats der österr. Bundesregierung 1932 bis 1934, Ministerrat vom 5. Oktober 1932, Protokoll Nr. 828, S. 5 (Allg. Verwaltungsarchiv Wien, Bestand K 153–183).

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erste Einschränkungen der Pressefreiheit,25 das Verbot politischer Streiks,26 die Verbote von KPD und NSDAP, die Einsetzung von Sicherheitsdirektoren in den Ländern, das Verbot der Ausschreibung von Wahlen für Landtage und Gemeinderäte,27 ferner ein als „Weihnachtsfrieden“ deklariertes befristetes allgemeines Versammlungs- und Vereinsverbot Ende 1933 und schließlich am 9. Februar, wenige Tage vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, ein Änderungsbeschluss zur Gerichtsverfassung, der das Prinzip richterlicher Unversetzbarkeit und der Unabhängigkeit der Gerichte durch mögliche ministerielle Kontrollen der Geschäftsverteilung aushöhlte.28 Schon im Sommer 1933 legte die Regierung den Verfassungsgerichtshof lahm, indem sie genügend viele von den Regierungsparteien in das höchste Gericht entsandte Mitglieder bewog zurückzutreten. Dies machte das Organ beschlussunfähig.29 Gleichzeitig wurde eine Verfassungsreform vorangetrieben, die zunächst auf eine partielle und alsbald auf eine vollständige Entmachtung des Parlaments zugunsten ständischer Vertretungskörper hinauslief.30 Kennzeichnend für die Vorbereitung einer autoritären Verfassung war, so schreibt Peter Huemer, „das klein- und ruckweise Fortschreiben der Verfassungspläne“, das „mit dem steigenden Erfolg der Regierung Dollfuß beim Abbau der demokratischen Grundrechte korrespondierte“. Je mehr Befugnisse die Regierung usurpierte, „desto weiter wurden auch die Verfassungsziele hinausgeschoben“.31 Was laut Heeresminister Vaugoin im März 1933 als „eine Art Gegenrevolu­ tion gegen das Jahr 1918“32 betrieben wurde, zeigt im Rückblick alle Systemmerkmale, die für eine „defekte“ Demokratie, und hier speziell ihren Unterfall der „illiberalen“ Demokratie, typisch sind. Wolfgang Merkel und Aurel ­Croissant beschreiben diesen Subtypus wie folgt: Er „löst den komplementären Zusammenhang von privater und öffentlicher Autonomie, Rechtsstaat, Gewaltenkontrolle und Demokratie einseitig auf. Die Beschädigung rechtsstaatlicher Prinzipien, die partielle Ausschaltung der Gewaltenhemmung und die eingeschränkte Wirksamkeit bürgerlicher Freiheits- und Schutzrechte sind die definierenden Merkmale illiberaler Demokratien. […] Das Entstehen illiberaler Demokratien kann partiell mit der Verdrängung formaler Institutionen des Rechts- und Verfassungsstaates durch informale Regeln und Institutionen er-

25 26 27 28 29

Vgl. Bundesgesetzblatt (BGBl.) der Republik Österreich 41/1933. Vgl. BGBl. 138/1933. Vgl. BGBl. 172/1933. Vgl. Ministerratsprotokolle Nr. 881, 908, 921. Vgl. Everhard Holtmann, Zwischen Unterdrückung und Befriedung. Sozialistische ­Arbeiterbewegung und autoritäres Regime in Österreich 1933–1938, München 1978, S. 56; ausführlich Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich, München 1975. 30 Vgl. Huemer, Sektionschef Robert Hecht, S. 278. 31 Zit. nach ebd. 32 Zit. nach ebd., S. 281.

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klärt werden.“33 Selbst eine contra legem wirkende Informalisierung des Machthandelns lässt sich für die präautoritäre Regimephase 1933/34 in Österreich feststellen. Strukturtypisch waren damals nicht die informellen Auswüchse heutiger defekter Demokratien, wie „Personalismus, Klientelismus, endemische Korruption oder extrakonstitutionelle Entscheidungskartelle“,34 wohl aber die pseudolegale Aufwertung des Ministerrates zu einem zentralen informalen und die Gewaltenteilung missachtenden Machtzentrum der Exekutive.

III. Der Demokratiebildung förderliche Faktoren in der Ausgangslage 1918 und danach Bei einem Vergleich der österreichischen Ausgangslage mit jener Deutschlands wird deutlich, dass die erste österreichische Demokratie nicht von vornherein gänzlich ohne Chancen der Festigung ihrer selbst war. Ich nenne zehn Punkte, an denen gemessen sich die Bedingungen in Österreich günstiger als in Deutschland darstellten. 1. Für die Weimarer Republik erwies sich der seitens der politischen Rechten zur „Schmach von Versailles“ wirkungsvoll stilisierte Friedensvertrag als eine schwere psychologische Hypothek, die deren Legitimationsgrundlage von Anfang an untergrub. Die junge Republik Deutschösterreich blieb von einer den Nationalismus vergleichbar schürenden vertraglichen Erblast verschont. Der neu gegründete Staatsrat überließ es klugerweise dem Monarchen und dessen noch amtierender Regierung, die Verantwortung für die Bedingungen des Waffenstillstands zu übernehmen, „sehr im Unterschied zu Deutschland, wo Dynastie und Heerführung sich dieser undankbaren Aufgabe zu entziehen wussten und sie den demokratischen Repräsentanten überließen“.35 2. Das Militär hat weder in der Entstehungszeit der österreichischen Republik noch in den Jahren danach eine Rolle als eigenständiger, politisch unkontrollierter und in Krisensituationen der Demokratie aktiv restaurativ agierender Faktor gespielt. Anders als die Reichswehr umgab das österreichische Bundesheer nicht eine Aura der vorgeblich „im Feld unbesiegten“ und durch den „Dolchstoß“ revolutionärer Vaterlandsfeinde verratenen Wehrmacht. So hatte die Armee auch keinen ähnlichen Sonderstatus wie in Deutschland, der ein eigenständiges Handeln außerhalb des demokratisch kontrollierten staatlichen Gewaltmonopols als legitim hätte absichern können. Noch im Herbst 1918 begann der zum Unterstaatssekretär für Heerwesen ernannte sozialdemokratische Wehrpolitiker Julius Deutsch damit, eine r­ epublikanische Miliz

33 Merkel/Croissant, Defekte Demokratien, S. 3. 34 Ebd., S. 17. 35 Hans Mommsen, Diskussionsbeitrag. In: Isabella Ackerl (Hg.), Österreich November 1918, S. 18.

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aufzubauen. Die Verbände wurden einschließlich der aus dem Mannschaftsstand gezielt beförderten „Volkswehrleutnants“36 anschließend in das neu formierte Berufsheer überführt. Der politische Stabilisierungsertrag der Heeresreform war ein doppelter. Zum einen handelte es sich nicht um einen machtpolitischen Alleingang der Arbeiterpartei. „Einvernehmlich, obschon mit einer initiativen Sozialdemokratie, […] sind die Regierungsparteien von Anfang an gewillt, der Volkswehr einen demokratischen Ansatz zu geben.“37 Zum anderen wurden durch diesen Schritt der Institutionenbildung früh Bedingungen geschaffen, die dem Risiko vorbeugten, dass sich das Militär als eine „extrakonstitutionelle Entscheidungsdomäne“38 nach dem Vorbild der Reichswehr hätte verselbständigen können. Als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) 1920 in die Opposition geht, „hinterlässt sie ein sozialdemokratisch orientiertes Bundesheer“.39 Zwar entwickelte sich, wie die Wahlen der Vertrauensleute zeigten, in der Folgezeit der sozialdemokratische Einfluss unter den Soldaten aufgrund der „politischen Umpolung“,40 die der christlichsoziale Heeresminister Carl ­Vaugoin betrieb, beständig rückläufig. Dies hatte zur Folge, dass aus dem von Otto Bauer entworfenen, der Verteidigung der Republik dienen sollenden Konzept der außerparlamentarischen „funktionellen Demokratie“, „die die Regierungsgewalt bei den wichtigsten Regierungsakten vom Einverständnis und von der Mitwirkung proletarischer Organisationen abhängig machte“,41 ein Stück Gegenmacht herausgelöst wurde. Doch der Primat der Politik wurde seitens der österreichischen Heeresführung bis zum Ende der Republik nicht ernsthaft infrage gestellt. 3. Im Unterschied zu Deutschland kam es in Österreich im Gefolge von Weltkrieg und Revolution nicht zur parteipolitischen Spaltung der Arbeiterbewegung. Nach dem Tode Victor Adlers gelang es der Sozialdemokratie, die Einheit der Partei im Sinne seines Vermächtnisses so lange zu wahren, bis die SDAP im Februar 1934 gewaltsam aufgelöst wurde. Die Kommunistische Partei Österreichs blieb während der gesamten Dauer der Ersten Republik, gemessen in Mitgliederzahlen und Wähleranteilen, eine Randgröße. Erst ab 1933 erhielt sie aus den Reihen radikalisierter und von der Defensivpolitik der SDAP-Führung enttäuschter Sozialdemokraten nennenswerten Zulauf.42 Anders als in Deutschlands Transformationsphase hatte sich in Österreich, aufgrund der innerhalb der Arbeiterschaft unangefochtenen Autorität der 36 Hautmann, Rätebewegung, S. 253. 37 Karl Haas, Zur Wehrpolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. In: Jedlicka/Neck (Hg.), Österreich 1927 bis 1938, S. 77. 38 Merkel, Systemtransformation, S. 26. 39 Haas, Wehrpolitik, S. 82. 40 Ebd., S. 83. 41 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Wien 1923, S. 804. 42 Vgl. Holtmann, Zwischen Unterdrückung und Befriedung, S. 65 f.

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sozialdemokratischen Parteispitze um Victor Adler, Friedrich Adler und Otto Bauer, kein sozialistischer „Bruderkampf“ entfaltet, der das Binnenklima im linken Lager nachhaltig vergiftete und die republiktreuen Kräfte entscheidend geschwächt hätte. Der SDAP-Führung gelang es, während der Übergangsphase 1918/19 sowohl die linksradikalen Strömungen der Rätebewegung zu kanalisieren als auch „spontanen“ Sozialisierungsbestrebungen die Spitze abzubrechen. Nach der Logik des austromarxistischen „Zweiphasen-Konzepts der Revolution“ musste „nämlich zuerst die Etappe der politischen Revolution mit der Errichtung eines demokratisch-parlamentarischen Systems abgeschlossen werden, ehe man das Werk der sozialen Umwälzung in Angriff nehmen konnte“.43 Diesem Konzept ist die österreichische Arbeiterschaft in ihrer überwältigenden Mehrheit gefolgt. 4. Die Tatsache, dass die Sozialdemokratie die stärkste politische Kraft verkörperte, geschlossen auftrat und links von sich wenig Raum ließ, hatte zur Folge, dass sich in den Arenen der politischen Entscheidungen ein bis etwa Ende der 1920er-Jahre relativ stabiles Gleichgewicht der Kräfte einpendelte. Infolge der ideologischen Polarisierung und der dadurch freigesetzten zentrifugalen Tendenzen wirkte sich die Blockbildung innenpolitisch zwar einesteils lähmend aus. Andererseits ermöglichte sie jedoch, dass sich in der Gründerzeit der Ersten Republik die politisch organisierten Kräfte von Arbeiterschaft, Bürgertum und Bauern auf eine in wechselseitiger Vetomacht gründende Koexistenz in der demokratischen Republik verständigen konnten. Am Beispiel der heftig umkämpften Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik haben Eduard März und Fritz Weber dies veranschaulicht: Während die SDAP-Führung „die elementare, nach Sozialisierung drängende Kraft der Arbeiterklasse“, so ein Zitat Otto Bauers, erfolgreich als Hebel benutzte, um dem politischen Gegner im Parlament große Zugeständnisse bei der Sozialgesetzgebung abzuringen, gelang es den Sozialdemokraten in Fragen der Sozialisierung nicht, den hinhaltenden Widerstand der konservativen Seite zu brechen. „Es waren gerade die ‚bäuerlichen‘, christlichsozial dominierten Bundesländer, die eine maßgebliche Rolle bei der Verhinderung der drohenden Sozialisierungsmaßnahmen spielten.“44 5. Das Parteiensystem der Ersten Republik Österreich – und damit ebenso das Spektrum der im Nationalrat wie in den gewählten Ländervertretungen repräsentierten Parlamentsparteien – war zwar ideologisch stark polarisiert, aber doch im Vergleich mit dem „zersplitterten“ Reichstag der Weimarer Republik weniger fragmentiert. Sozialdemokraten und Christlichsoziale standen sich im Nationalrat als zwei ungefähr gleich große Parteien gegenüber, zu denen rechts der Mitte noch als kleinere Parteien die Großdeutschen und der Landbund, später auch eine Fraktion der austrofaschistischen ­Heimwehren

43 März/Weber, Sozialdemokratie und Sozialisierung, S. 106. 44 Ebd., S. 116.

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kamen. In den 1920er-Jahren war die Regierungsmehrheit der bürgerlichen Parteien und desgleichen ihre Fähigkeit, Koalitionen zu bilden, trotz knapper parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse, nicht wirklich gefährdet. 6. Anders als im semipräsidentiellen Verfassungsmodus der Weimarer Republik, wo der direkt gewählte Reichspräsident und die von ihm berufenen Regierungen ein den Reichstag partiell überspielendes Element exekutiver Eigenmacht darstellten, das ab 1930 den Parlamentsvorbehalt zugunsten ­eines Präsidialregimes unterlief, blieben in Österreich die Machträume – und Machtträume – für „exekutive Führerschaft“ (Rolf-Richard Grauhan) auch nach der Verfassungsrevision von 1929 substanziell schwächer ausgestattet. Die Erste Republik hatte im November 1918, wie Bauer hervorhob, für eine klare „Parlamentsherrschaft“ Zeichen gesetzt: „Der Präsident der Nationalversammlung versah die Funktionen eines Staatsoberhauptes, die Regierung wurde vom Nationalrat gewählt, der Hauptausschuss der Nationalversammlung wirkte unmittelbar an Verwaltungsakten mit, die Nationalversammlung verfügte über das Heer.“45 Obwohl nicht alle diese Positionen einer sehr weitgehenden Parlamentssouveränität in die Bundesverfassung Eingang fanden, stellte auch der abgeschwächte „extreme Parlamentarismus“46 mehr als ein Jahrzehnt lang eine konstitutionelle Garantie dar für die vorrangige Geltung des Willens der parlamentarischen Mehrheit. Auch die spätere Obstruktionspolitik der sozialdemokratischen Parlamentsopposition hat die Funktionsfähigkeit des Parlamentarismus nicht ernsthaft gefährdet. Und schließlich: Ein die Parlamentsherrschaft aushebelndes Regime, das auf exekutive Notverordnungen zurückgriff, wurde in Österreich erst im März 1933, also Jahre später als in Deutschland, eingeführt. 7. Der Stabilisierung des parlamentarischen Systems förderlich war zudem, dass, im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung, im österreichischen Verfassungswerk Instrumente direkter Demokratie, wie Volksbegehren und Volksentscheid, nicht vorgesehen waren (wie erwähnt, wurde die volksunmittelbare Wahl des Bundespräsidenten erst 1929 eingeführt). Denn in „der stiefmütterlichen Behandlung der plebiszitären Komponenten waren sich die beiden Großparteien letztlich einig“.47 Man kann sich unschwer vorstellen, dass, hätten solche Instrumente zur Verfügung gestanden, sie von beiden Lagern genutzt worden wären, um plebiszitären Druck aufzubauen. Ähnlich wie in der Weimarer Republik, hätte dies wahrscheinlich das innenpolitische Klima zusätzlich aufgeheizt.48

45 46 47 48

Bauer, Österreichische Revolution, S. 778. Pelinka/Welan, Demokratie und Verfassung, S. 26. Ebd., S. 34. Mit Blick auf die negativen Mobilisierungseffekte ist der in einer in der deutschen Politikwissenschaft später ausgetragenen Debatte gegebene Hinweis müßig, die während der Weimarer Republik nur wenigen Volksbegehren hätten zum Scheitern der Demokratie in allenfalls geringem Maße beigetragen.

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8. Ein ausgeglichener Staatshaushalt war in der Ersten Republik stark abhängig von Anleihen und Kreditzusagen des Völkerbundes und damit indirekt der westlichen Siegermächte Großbritannien und Frankreich. So sehr die damit verbundenen Auflagen zur Budgetsanierung inländische Wachstumskräfte hemmten und mit dazu beitrugen, die chronische Unterbeschäftigung zu verstetigen, so bedenkenswert ist andererseits der Hinweis Hans Mommsens auf die damit indirekt einhergehenden, außenpolitisch induzierten Stabilisierungseffekte für die österreichische Demokratie.49 9. Otto Bauer zufolge herrschte als ein Ergebnis der österreichischen Revolu­ tion während der 1920er-Jahre „ein Zustand, in dem die kämpfenden Klassen einander das Gleichgewicht halten“.50 Diese Zustandsbeschreibung einer revolutionären „Pause“, die eine gedankliche Anleihe bei Friedrich Engels’ Wendung vom Gleichgewicht der Klassenkräfte war, verband Bauer mit der Bemerkung, dass jede Klasse das Patt zu überwinden trachte, „zu einem Zustand hin, in dem sie herrschen kann“.51 Da die Ansage dieser finalen Kraftprobe jedoch zeitlich im Ungefähren blieb, jedenfalls in die Zukunft verschoben wurde, so wie einige Jahre später ebenfalls in der berühmt gewordenen Formel des Linzer Programms von 1926, stellte sie keine politische Drohgebärde dar, sondern war im Gegenteil eher ein Versuch, Druck aus dem erhitzten Kessel innenpolitischer Machtkämpfe zu nehmen. Im Kern enthielt Bauers revolutionstheoretisch überformte Botschaft das Konzept eines österreichischen Weges zumindest befristeter Tolerierungspolitik. ­ ­Deren defensive Grundtendenz wird zeitgleich zweifach erkennbar, nämlich einmal in der erklärten Verbindung mit dem austromarxistischen Deutungsmuster der „funktionellen Demokratie“, also jenem Rückzugsraum, den das Proletariat in Zeiten der „Teilung der Staatsgewalt zwischen den Klassen“52 besetzt hält, und zum anderen in Bauers Angebot an die Gegenseite, eine Konstellation der „proletarischen Defensive“, in welcher eine sozialdemokratische Beteiligung an einer Koalitionsregierung der Verteidigung des politischen Besitzstandes diene, sei durchaus denkbar.53 Das Signal der Befriedung, das damit, wenn auch verklausuliert, ausgesandt wurde, hätte von der konservativen Seite als ein Zeichen der Entspannung aufgegriffen werden können – wäre sie dazu bereit gewesen. Aber auch indem sie „nur“ die eigene ­Gefolgschaft in den Bahnen der Legalität hielt, leistete die sozialdemokratische Gleichgewichtsdoktrin einen Beitrag zur inneren Stabilisierung der demokratischen Republik.

49 50 51 52 53

Vgl. Mommsen, Redebeitrag. In: Jedlicka/Neck (Hg.), Österreich 1927 bis 1938, S. 44. Bauer, Österreichische Revolution, S. 802. Ebd., S. 807. Ebd., S. 804. Vgl. ebd., S. 858.

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10. Deutschland und Österreich hatten in der Existenz bundesstaatlich dominanter territorialer Schwergewichte in Gestalt der sozialdemokratisch regierten Länder Preußen und Wien eine Gemeinsamkeit. Dass die demokratische Republik überhaupt so lange Bestand hatte, ist in beiden Staaten wesentlich auch der Tatsache zu verdanken, dass im Schutze derart großer Formate von Länderautonomie ein verfassungstreues regionales Gegengewicht lange aufrechterhalten werden konnte. Dabei war die politische und gesellschaftlich prägende Vormachtstellung der Sozialdemokratie im geschlossenen Mesokosmos des „Roten Wien“54 und dessen Gewicht als ein Schutzfaktor der gesamten Republik eindeutiger und unangefochtener, als das von einer Weimarer Koalition regierte Bollwerk Preußen. Das „Rote Wien“, in dem die sozialdemokratische Stadtregierung ein wegweisendes Modell eines munizipalen Sozialismus schuf, wurde zugleich als eine republiktreue Bastion ausgebaut. „Municipal government in Vienna“, schreibt Anson Rabinbach, „became a counterpoint to the hegemony of the bourgeois parties in the First Republik, a substitute for the party’s exclusion from political efficacy at the national level.“55 Die sozialdemokratisch regierten Länder Preußen und Wien blieben als Trutzburgen republikanischer Gegenmacht bis in die 1930er-Jahre hinein erhalten. Geschliffen wurden sie in Deutschland mit dem sogenannten Preußenschlag Papens im Juli 1932, in Österreich acht Monate später beginnend und vorangetrieben im Zuge der ab März 1933 sukzessive erfolgenden auto­ ritärstaatlichen Gleichschaltung, die systematisch auf ein finanzpolitisches Aushungern des Wiener kommunalen Sozialstaates setzte.

IV.

Der Konsolidierung der Demokratie abträgliche Faktoren in der ­Ausgangslage von 1918 und danach

In der politischen Öffentlichkeit und der zeitgeschichtlichen Forschung mehr beachtet worden sind jene Faktoren, welche die erste österreichische Demokratie destabilisiert und zu ihrem Scheitern aktiv beigetragen haben. Hierzu zählen insbesondere einesteils die ungünstigen strukturellen Rahmenbedingungen in Wirtschaft, Arbeit und Finanzen, ferner die Eigendynamik, die von paramilitärisch organisierten antidemokratischen Bewegungen ausging, sowie zum anderen strategische Schlüsselentscheidungen des Regierungshandelns, wie der von Dollfuß nach der Wende der 1930er-Jahre betriebene Kurs außenpo-

54 Everhard Holtmann, Die Organisation der Sozialdemokratie in der Ersten Republik 1918–1934. In: Wolfgang Maderthaner/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Organisation der österreichischen Sozialdemokratie 1889–1995, Wien 1996. 55 Anson Rabinbach, The Crisis of Austrian Socialism. From Red Vienna to Civil War 1927–1934, Chicago 1983, S. 27; Vgl. Wolfgang Maderthaner, Kommunalpolitik im Roten Wien. Ein Literaturbericht. In: Archiv für Sozialgeschichte, 25 (1985), S. 239–250.

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litischer Annäherung an das faschistische Italien. Nicht zuletzt arbeiteten auch politisch-kulturelle Handlungsorientierungen, die sich sowohl in der Masse der Bevölkerung als auch auf der Ebene der Eliten zu sozialen Feindbildern, restaurativen politischen Ordnungsentwürfen und destruktiven Konfliktmustern verdichteten, einer Konsolidierung der Demokratie erfolgreich entgegen. Der politische Katholizismus etwa, der seit 1920 das Regierungshandeln maßgeblich bestimmte, näherte sich zunehmend korporatistischen Ordnungsmodellen an. Diese wurden gegen die moderne Massendemokratie in Stellung gebracht und dienten 1934 als weltanschauliche Grundlage des autoritären Ständestaates. Die Militarisierung der politischen Auseinandersetzung hatte ihren Gründungsimpuls, den bewaffneten nationalen Selbstschutz bei Grenzlandkämpfen zu gewährleisten, die im Gefolge der Auflösung der kaiserlichen Armee in Kärnten, Steiermark und Tirol ausbrachen, überdauert und sich in Gestalt der Heimwehren, des Frontkämpferverbandes sowie auf sozialdemokratischer Seite des Republikanischen Schutzbundes, organisatorisch verstetigt.56 Seither verfügten nicht nur alle paramilitärischen Formationen über versteckte Waffenlager,57 sie praktizierten Gewalt auch als ein Mittel der inneren Politik. Dies geschah vorzugsweise von rechts, wie die zahlreichen politisch motivierten Überfälle und mehrfachen Putschversuche, häufig mit Todesfolge, bezeugen.58 Die austrofaschistische Heimwehrbewegung, ihre Programmatik und gesellschaftliche Basis, ihre diversen territorialen Verzweigungen und ideologischen Strömungen sowie ihre Rolle als treibende Kraft der autoritären Umformung der Demokratie sind in der Zeitgeschichtsforschung vergleichsweise ausführlich behandelt worden.59 Konkurrierende Faschismen traten als ein Faktor, welcher der antidemokratischen Bewegungsdynamik zusätzlichen Auftrieb verlieh, erst relativ spät offen zutage, nämlich nach den für die österreichische NSDAP spektakulären Wahlerfolgen bei den Landtags- und Gemeinderatswahlen vom April 1932. Spätestens seitdem wurde deutlich, dass auch die Reste der protestantischen bürgerlichen Mitte, die bis dahin den Landbund gewählt hatten, dem Schwenk des deutschnationalen Lagers und der elektoral nunmehr pulverisierten Großdeutschen Partei hin zur NSDAP gefolgt waren. In der Folge gewann auch die Alternative des „Anschlusses“ an Deutschland an neuer und die system­überwindende Grundstimmung zusätzlich verstärkender Kraft, da diese – die staatliche Selbstständigkeit beseitigende Perspektive – nun unter erklärtermaßen antidemokratischen Vorzeichen stand.

56 Vgl. Herbert Gieler, Die Wehrverbände in der Ersten Republik Österreich, Wien 1965. 57 Vgl. Adam Wandruszka, Die Erbschaft von Krieg und Nachkrieg. In: Jedlicka/Neck (Hg.), Österreich 1927 bis 1938, S. 20–31. 58 Vgl. Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918–1934, München 1976. 59 Vgl. Francis L. Carsten, Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler, München 1977; Lajos Kerekes, Abenddämmerung einer Demokratie. Mussolini, Gömbös und die Heimwehr, Wien 1966.

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Deutsches Reich

Österreich

Abb. 1 Arbeitslose je 1 000 der Bevölkerung in Deutschland und Österreich 1921– 1931. Quelle: Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938, Berlin 1979, S. 20.

Zu den „constraints“, welche die demokratische Ordnung seit Gründung der Republik belastet hatten, gehörten „geerbte“ strukturelle Verwerfungen im Wirtschaftssektor und eine damit eng verknüpfte chronische Finanz- und Beschäftigungskrise. Infolge der Auflösung des habsburgischen Vielvölkerstaates waren gewachsene Produktionsketten etlicher Schlüsselindustrien, die auf dem Territorium der Republik Deutschösterreich lagen, unterbrochen worden. Den Unternehmen der Alpenrepublik brachen die traditionellen Absatzmärkte in den nunmehr eigenständigen Nachfolgestaaten schlagartig weg. „Durch den Zerfall der Donaumonarchie war ein großer organischer Wirtschaftsraum auseinandergerissen worden: Das steirische Eisenerz war von der tschechischen Kohle getrennt; Einzelbetriebe vertrusteter Unternehmen lagen in verschiedenen Nachfolgestaaten.“60 Überdies verblieb dem österreichischen Reststaat ein völlig überdimensioniertes Bankensystem als Erblast. Eine Auswirkung der mit Exporthürden kämpfenden und von Schrumpfung betroffenen industriellen Wirtschaft war die chronische Unterbeschäftigung. Die Industrie war, das sahen auch sozialdemokratische Parteiführer mit Sorge, dauerhaft außerstande, einen großen Teil der arbeitssuchenden Bevölkerung zu beschäftigen.61 Rationalisierungsmaßnahmen der Betriebe haben die Krise 60 März/Weber, Sozialdemokratie und Sozialisierung, S. 111. 61 Vgl. Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938, Berlin 1979, S. 19.

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des Arbeitsmarktes noch weiter verschärft. Selbst in der Phase relativer ökonomischer Stabilisierung zwischen 1924 und 1929 blieben die Arbeitslosenraten, anders als im benachbarten Deutschland, wo die Kurve stärkere Ausschläge zeigte (s. Abb. 1), konstant hoch. Einiges spricht für die Annahme, dass der generell nachweisbare Zusammenhang, der zwischen der Leistungsfähigkeit von Volkswirtschaften und demokratischer Stabilität besteht,62 auf die 1920er-Jahre der Ersten Republik – wie ebenso in Deutschland – rückprojiziert werden kann, nur eben unter umgekehrten, negativen Vorzeichen. Zwar fehlen für die Zwischenkriegszeit Daten empirischer Umfragen generell. Dennoch sprechen zahlreiche Indizien dafür, dass der permanent eingetrübte wirtschaftliche Horizont, die massenhafte Verarmung, das Erleben bzw. das Risiko sozialen Abstiegs und die damit einhergehenden Unsicherheiten und Ängste in den Mittelschichten, einschließlich der Intelligenz, die Anfälligkeit für demokratie- und republikfeindliche Parolen, auch für antikapitalistische Töne faschistischer Einfärbung, gefördert haben. Seitens der Wert- und Positionseliten des Landes konnte die demokratische Republik, wie ihre deutsche Schwester von Weimar, ohnedies nur spärliche Unterstützung erwarten. Immerhin gelang es der Sozialdemokratie und den Freien Gewerkschaften, einen Teil der Arbeitslosen innerhalb ihrer Organisationen zu halten. Aufgrund des ständig hohen latenten Risikos, den Arbeitsplatz zu verlieren, wurde auch die Moral und Konfliktfähigkeit vieler noch Beschäftigter untergraben. Auch aus diesem Grund ist der Verkehrsstreik, zu dem die Freien Gewerkschaften im März 1933 aufriefen, um die endgültige Lahmlegung des Parlaments zu verhindern, weitgehend ins Leere gelaufen. Dennoch wurde die Massenbasis der Linken, und damit auch der politische Aktionsradius der republiktreuen Kräfte, mit anhaltender Wirtschaftskrise erheblich geschwächt. Die genannten Faktoren erklären in ihrer Gesamtheit, weshalb sich in der österreichischen Gesellschaft während des Bestehens der Ersten Republik nicht ein hinreichendes Ausmaß an genereller Unterstützung der politischen Ordnung (diffuse support) aufbauen konnte, das für die stabile soziale Verankerung und die Funktionsfähigkeit eines demokratischen Systems notwendig ist. Letztlich waren jene Rahmenbedingungen, die für instabile Verhältnisse in Wirtschaft, Politik und sozialem Leben sorgten, im Verein mit jenen Kräften, welche auf die Zerstörung der Demokratie tatkräftig hinarbeiteten, stärker als deren Unterstützer und Verteidiger.

62 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 67.

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V.

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Legale Transformation des Systems – konservative und ­sozialistische Ausdrucksformen defizitärer Demokratie

Besondere Aufmerksamkeit verdienen jene normativ angeleiteten politischen Handlungsorientierungen, die, eingebettet in weltanschaulich gefestigte Grund­ überzeugungen, sich zwar auf den Boden der geltenden politischen Ordnung stellten, diese aber von entgegensetzten Standorten aus legal zu transzendieren trachteten. Solche politischen Ausprägungen finden sich in Österreich nach 1918 auf konservativer wie auch auf sozialistischer Seite. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass die Erste Republik sich als eine defizitäre liberale Demokratie entwickelte, aber eben als solche auch relativ lange bestand. Kennzeichnend für Bestrebungen einer legalen Systemtransformation war die spezifische Verbindung von Programmatik und Pragmatik: Während in programmatischen Aussagen der Antagonismus der Weltanschauungen und die Unvereinbarkeit der konkurrierenden Überzeugungen offensiv gepflegt wurden, blieben andererseits Spielräume für Koexistenz und defensive Kooperation zumindest zeitweise geöffnet. Die Gleichzeitigkeit von ideologischer Kampfansage und situativer Bereitschaft zur Verständigung war für diese politische Handlungsorientierung typisch. Sie stützt überdies die Annahme einer prinzipiell handlungsoffenen historischen Konstellation. Ein Beispiel für derartige Gedankenspiele und Bestrebungen einer legalen Systemüberwindung ist das damalige Manövrieren beider großer Parteien zwischen Verfassungsgehorsam bzw. Verfassungsduldung und auf Revision setzendem Verfassungsdenken. Christlichsoziale und Sozialdemokraten verständigten sich bekanntlich auf den Kompromiss der Verfassung von Oktober 1920. Damit schien in der zentralen Frage der Systementscheidung ein Ende der Unsicherheit erreicht. Der Boden war bereitet für eine politische Konsolidierung, wie sie die moderne Theorie des Systemwechsels beschreibt: „Die wichtigsten Akteure des politischen Systems beginnen ihre Strategien, ihr Verhalten und ihre Entscheidungen nunmehr nach den institutionell abgesicherten demokratischen Normen auszurichten.“ Und: „Politik beginnt, wieder berechenbarer zu werden.“63 Tatsächlich gibt es viele Belege dafür, dass die Demokratie arbeitsfähig war. Indes blieb die Einigung über die Verfassungsarchitektur der neuen Ordnung weitgehend lediglich formal. Beiden großen Parteien konnten sich nicht auf einen materiellen Basiskonsens über Grundwerte und prozedurale Grundregeln verständigen, die „nicht abstimmbar“ bzw. nicht änderbar waren. Es bestand kein allgemeines Einverständnis über die Anerkennung eines „nichtkontroversen Sektors“ (Ernst Fraenkel) des Verfassungswerkes, vor dem das Austragen politischer Streitfragen Halt macht und der den Fortbestand einer pluralistischen Demokratie erst ermöglicht. Weil die, wie Anton Pelinka und Manfried Welan schreiben, „religionsähnliche Gegnerschaft“ der beiden Großparteien

63 Merkel, Systemtransformation, S. 143.

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Verpasste Konsolidierung

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einen solchen Konsens blockierte, blieb die Demokratie „improvisiert“ und instabil. Der Verfassungskompromiss bedeutete nur eine „Einigung an der Oberfläche“.64 Der „Kampf um die österreichische Verfassung“ wurde beiderseits hochstilisiert. „Die Sozialdemokraten betrachteten die demokratische Republik teils als Übergang von der Demokratie zum Sozialismus, teils als ihre Republik, übernahmen aber immer mehr die Rolle einer permanenten Oppositionspartei und betrieben Opposition zum System, nicht im System. Die Christlichsoziale Partei hatte in ihrer Mehrheit nur mit innerem Vorbehalt der demokratischen Republik, dem Kind der Schande, ihre Zustimmung gegeben.“65 Verfassungspatriotismus war in der Ersten Republik Österreich folglich dünn gesät. Der Streit über Systemfragen der Demokratie blieb auf der Agenda der österreichischen Innenpolitik ein Dauerthema. Dies hatte zur Folge, dass die demokratische Verfassung von breiten Teilen der Bevölkerung und Eliten nicht vorbehaltlos und nachhaltig verinnerlicht worden ist. Der mühsam ausgehandelte Verfassungskompromiss stand niemals wirklich außer Zweifel. So blieb ein Element von Unsicherheit auch während der nachrevolutionären Periode ein ständiger Begleiter der ersten österreichischen Demokratie. Dieser verfassungspolitische Revisionismus ist eine Ursache dafür, dass die Konsolidierungschancen der Demokratie verspielt worden sind und stattdessen die Konsolidierungsprobleme über Hand genommen haben. Dabei wirkten die systemkritischen Fliehkräfte auf der Rechten des politischen Spektrums durchwegs stärker und aggressiver als aufseiten der sozialdemokratischen Linken. Die konterrevolutionäre Herausforderung der Demokratie kam von rechts. In diesem Bereich des politischen Spektrums wurde, gewaltbereit und gewalttätig, die Systemfrage gestellt. Die Lesart einer „geteilten Schuld“ für den Untergang der Ersten Republik, wie sie in der Koalitionsgeschichtsschreibung der 1950er- und 1960er-Jahre gelegentlich vertreten worden ist, hält der historischen Wirklichkeit jedenfalls nicht stand. Ein anderes Lehrbeispiel für ein Denken in den Kategorien legaler Systemtransformation lieferte gleichwohl in der Zwischenkriegszeit auch die Sozialdemokratie. Die Partei, die sich, wie im benachbarten Deutschland, de facto als die eigentliche Stütze der parlamentarischen Demokratie erwies, bekannte sich im Linzer Programm von 1926 in der berühmt gewordenen austromarxistischen Formel der legalen Revolution zu einer sozialistischen Spielart einer partiellen Systemüberwindung, wenn auch „in den Bürgschaften der Demokratie“. Gespeist wurde diese Position, Norbert Leser zufolge, aus „fatalistischer Interpretation des Marxismus“.66 Der Zusammenbruch

64 Pelinka/Welan, Demokratie und Verfassung, S. 33, 36. 65 Ebd., S. 39. 66 Norbert Leser, Das Linzer Programm und der 15. Juli 1927 als Höhepunkte austromarxistischer Politik. In: Die Ereignisse des 15. Juli 1927, S. 155; ders., Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus in Theorie und Praxis, Wien 1968.

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Everhard Holtmann

der kapitalistischen Ordnung wurde als naturnotwendig erwartet. Sofern sich dann die Bourgeoisie den gesellschaftlichen Umwälzungen widersetze, „wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen“.67 Eindeutig wurde im Linzer Programm ein Szenario „defensiver Gewalt“ für den Fall einer Konterrevolution entworfen. Zugleich wurde die seit 1920 abgesteckte ideologische Linie der Distanz zur bürgerlichen Demokratie fortgeschrieben. Dem von Otto Bauer auf dem Parteitag 1920 verkündeten Lehrsatz zufolge war „die natürliche Stellung des Proletariats gegenüber dem bürgerlichen Staat, auch in seiner republikanischen Form, die Stellung der Opposition“.68 Dieser selbst gewählte Rückzug in eine „attentistische“ austromarxistische Teleologie war in doppelter Weise folgenreich: Die Handlungsfreiheit, welche die SDAP mit ihrer wiederholt (etwa 1922 und 1929) bekundeten Bereitschaft, eine Koa­lition einzugehen, zu gewinnen suchte, wurde durch die Binnen- und A ­ ußenwirkung der Linzer Revolutionsrhetorik psychologisch blockiert. Bestärkt ­wurde ferner ­ rsten Republik darin, gegenüber die Parteiführung in den späten Jahren der E den wachsenden Provokationen des politischen Gegners, der eine autori­täre Umwandlung der Demokratie tatsächlich betrieb, in einer Haltung passiven ­Abwartens zu verharren.

VI. Schlussbemerkung Wie selbst noch die beiden geschilderten Vorbehaltsmuster einer legalen Systemtransformation zeigen, waren Chancen zur Konsolidierung der Demokratie durchaus gegeben. Dass sie verspielt worden sind, gründet, auch das dokumentieren die beiden Fallbeispiele, wesentlich in dem dramatischen Mangel an politischem Vertrauen. Ein hinreichendes Vorhandensein von Vertrauen („trust“) wird in der heutigen Politikforschung als eine wichtige Ressource bürgerschaftlicher politischer Kultur, und somit einer stabilen Demokratie, angesehen. In der Ersten Republik Österreich hat es an einem solchen Vertrauenskapital in doppelter Hinsicht gemangelt: einmal im Verhältnis zu den republikanischen Institutionen und zum anderen im Umgang mit dem politischen Wettbewerber. Dies hat die Widerstandsfähigkeit des parlamentarischen Systems gegenüber den Feinden der Demokratie entscheidend geschwächt.

67 Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages 1926. Abgehalten in Linz vom 30. Oktober bis 3. November 1926, Wien 1926, S. 176. 68 Leser, Das Linzer Programm, S. 154.

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Griechenland – von der Krise des Parlamentarismus bis zum Scheitern der Demokratie (1922 bis 1936) Nathalie Patricia Soursos

I. Einleitung General Ioannis Metaxas1 setzte am 4. August 1936 die Verfassung außer Kraft und errichtete mit Unterstützung des griechischen Königs, Georgs II., das „Regime des Vierten August“. Einen Monat später gab Metaxas ein Interview in der Tageszeitung „I Kathimerini“, in welchem er über die Gründe für die Errichtung seiner Diktatur sprach. Aufgrund der ruinösen „Tyrannei des politischen Systems“ habe er mit „Genehmigung des Königs“ und mit „dem Gefühl, dass eine Unterstützung aus dem Volk gegeben sei“,2 beschlossen, einen Systemwandel herbeizuführen. Der „Wandel“ sei das Ergebnis einer „direkten und spontanen Notwendigkeit“, denn neben der politischen Ausweglosigkeit hätten sich die Kommunisten zu einer „blutigen Gefahr“ entwickelt, die man bannen müsse. Wichtige Stützen seines Regimes seien die Monarchie, das griechische Volk und die Streitkräfte. Wie in der Türkei, im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland werde man auch in Griechenland eine „nationale Regierung unterstützt vom Volk“ aufbauen. Beim Lesen dieser vom Diktator angeführten Multikausalität stellt sich die Frage, ob die genannten Beweggründe für die Errichtung der Diktatur tatsächlich auch die Ursachen für das Scheitern der Demokratie waren oder ob es sich nur um Scheingründe handelte, um die Ausrufung eines Notstandes zu rechtfertigen. 1

2

Zur Biografie von Ioannis Metaxas vgl. Panagiotis Vatikiotis, Mia politiki biografia tou stratigou Ioanni Metaxa; Filolaiki apolytarchia stin Ellada 1936–1941, Athen 2005; Panagiotis Vatikiotis, Metaxas – The Man. In: Robin Higham/Thanos Veremis (Hg.), The Metaxas Dictatorship. Aspects of Greece 1936–1940, Athen 1993, S. 179–192; Joachim G. Joachim, Ioannis Metaxas. The Formative Years 1871–1922, Mannheim 2000; Gunnar Hering, Rache am Vaterland? Anmerkungen zur Persönlichkeit des Ioannis Metaxas. In: Wolfram Hörandner/Herbert Hunger (Hg.), Byzantios. Festschrift für Herbert Hunger zum 70. Geburtstag, Wien 1984, S. 121–136; Ioannis Metaxas/Christos Christidis (Hg.), Ioannis Metaxas. To prosopiko tou imerologio. Band 1: 1896–1906, Athen 2005; dies., Band 3: 1910–1920 und Band 4: 1933–1941; Ioannis Metaxas/Panagiotis Sifnaios (Hg.), Ioannis Metaxas. To prosopiko tou imerologio, Band 2: 1921–1932, Athen 2005. Vgl. I Kathimerini, 1. September 1936, S. 1.

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Erstens ist zu fragen wie sich die neu etablierten autoritären Regime in Europa, die Weltwirtschaftskrise und der nahende Krieg auf die demokratische Stabilität des Landes auswirkte. Zweitens ist innenpolitisch nicht nur die Rolle des wenige Monate zuvor zurückgekehrten Königs sondern auch die Mitverantwortung der Nationalversammlung, welcher der Antiparlamentarismus ­Metaxas’ bekannt war, zu beleuchten. Schließlich sollen drittens, ausgehend vom Endpunkt, dem letztlichen „Gelingen der Diktatur“, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge untersucht werden, die zum „Scheitern der Demokratie“ in Griechenland führten.

II.

Die Spaltung der Nation

Die griechische Parteienlandschaft der Zwischenkriegszeit3 charakterisierte ein ausgeprägter Klientelismus, eine Zentralisierung um einzelne Personen sowie die Trennung in zwei politische Lager, die sogenannten „Venizelisten“ um Eleftherios Venizelos4 und dessen Liberale Partei (Komma ton Fileleftheron) und seine der Monarchie treuen konservativen Gegner, die „Antivenizelisten“. Die „Nationale Spaltung“ gründete in einem Konflikt am Vorabend des Ersten Weltkrieges zwischen dem liberalen Premierminister Eleftherios Venizelos und König Konstantin I., die sich nicht über den außenpolitischen Kurs Griechenlands einigen konnten.5 Venizelos entschied die Kontroverse für sich, und ­Griechenland trat schließlich im November 1917 auf der Seite der Entente in 3 Als Zwischenkriegszeit wird in der griechischen Historiografie meist die Zeit von 1922/23 bis zur Metaxas-Diktatur 1936 definiert. Nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne im Juli 1923 waren sowohl die territorialen Grenzen als auch die Bevölkerungsgrenzen Griechenlands festgesetzt. Im selben Jahr wurde außerdem der gregorianische Kalender in Griechenland eingeführt. Gunnar Hering gliedert die Zwischenkriegszeit in vier Phasen: 1923–1928, 1928–1933, 1933–1935 und 1935–1936. Zur Zwischenkriegszeit vgl. die Überblickswerke: Gunnar Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, 1821–1936, Band 2, München 1992; George Mavrogordatos, Stillborn Republic. Social Coalitions and Party Strategies in Greece 1922–1936, Berkeley 1983; Christos Chatziiosif, Koinovoulio kai diktatoria. In: Christos Chatziiosif (Hg.), Istoria tis Elladas tou 20ou aiona, Band B2: 1922–1940, Athen 2007, S. 37–124; Ioannis Zelepos, Kleine Geschichte Griechenlands. Von der Staatsgründung bis heute, München 2014. 4 Zu Eleftherios Venizelos vgl. Paschalis Kitromilides (Hg.), Eleftherios Venizelos. The Trials of Statesmanship, Edinburgh 2006; Mark Mazower, The Messiah and the Bourgeoisie. Venizelos and Politics in Greece 1909–1912. In: The Historical Journal, 4 (1992), S. 885–904; Hagen Fleischer, Post bellum. Das deutsche Venizelos-Bild nach dem Ersten Weltkrieg. In: Gunnar Hering/Pavlos Tzermias (Hg.), Dimensionen griechischer Literatur und Geschichte. Festschrift für Pavlos Tzermias zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1993, S. 209–250; Thanos Veremis (Hg.), Eleftherios Venizelos. Koinonia, oikonomia, politiki stin epochi tou, Athen 1989; Giannis Kyriopoulos (Hg.), Dimosia ygeia kai koinoniki politiki. O Eleftherios Venizelos kai i epochi tou, Athen 2008. 5 Metaxas und Venizelos tauschten 1934–1935 ihre Meinungen über die Gründe der „Nationalen Spaltung“ in der Presse aus. Die Artikel von Metaxas wurden 1935 gesammelt vom Verlag der Tageszeitung I Kathimerini herausgegeben. Vgl. Ioannis Metaxas, I istoria tou ethnikou dichasmou kai tis Mikrasiatikis Katastrofis, Athen 1935.

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den Krieg ein. Als Siegermacht wurden Griechenland mit dem Vertrag von Sèvres (10. August 1920) große Gebietsgewinne im Norden sowie die Verwaltung des Regierungsbezirks von Smyrna in Kleinasien zugesprochen. Die Gelegenheit für eine Erweiterung des griechischen Territoriums mit dem Ziel der Verwirklichung der „Großen Idee“ („Megali Idea“)6 schien gekommen. Die griechischen Truppen okkupierten einen großen Teil Kleinasiens. Der Kleinasienkrieg dauerte bis 1922, als das griechische Heer eine katastrophale Niederlage gegen die Truppen Kemal Paschas erlitt und mehr als eine Million Flüchtlinge ihre Heimat verlassen mussten. Der Friedensvertrag von Lausanne (24. Juli 1923) sowie der mit der Türkei vereinbarte Bevölkerungsaustausch (30. Januar 1923) versammelten erstmals das Griechentum innerhalb der Grenzen des neugriechischen Staates.7 Die notwendige Integration der 1,2 Mio. Flüchtlinge, die nach Ende des Krieges, insbesondere aus Kleinasien, Thrakien und Anatolien, in Griechenland ­Zuflucht suchten, hatten weitreichende Folgen für die griechische Gesellschaft.8 Das Bürgertum, das bisher zu einem Großteil außerhalb Griechenlands in ­Konstantinopel, Smyrna, Alexandria, Odessa und in Europa verstreut war, versammelte sich im griechischen Staat und verband sich mit den traditionellen Eliten, den Landbesitzern und Reedern.9 Die „Refugee Settlement Commission“ wurde zur Verwaltung der 1924 vom Völkerbund gewährten Mittel und zur Abwicklung der Vergabe von Agrarland an Flüchtlinge gegründet. Ein großer Teil der Flüchtlinge siedelte sich in den Städten an und veränderte ­somit die Verteilung der griechischen Bevölkerung hin zu einer Urbanisierung.10 Die ­Verstädterung wurde von einem Anstieg des Bildungsniveaus begleitet, die ­Analphabetenrate sank von 41 Prozent (1928) auf 27 Prozent (1940).11

 6 Die „Große Idee“ war der Leitsatz der griechischen Nationalisten, der die Vereinigung aller Teile der antiken und byzantinischen griechischen Welt mit der Hauptstadt Konstantinopel forderte. Vgl. Ioannis Zelepos, Die Ethnisierung griechischer Identität 1870–1912. Staat und private Akteure vor dem Hintergrund der „Megali idea“, München 2002.  7 Vgl. Dimitri Pentzopoulos, The Balkan Exchange of Minorities and its Impact on G ­ reece, 2. Auflage London 2002; Christos Chatziiosif, To prosfygiko sok, oi statheres kai oi metavoles tis ellinikis koinonias. In: Christos Chatziiosif (Hg.), Istoria tis Elladas tou 20ou aiona. Band B2: 1922–1940, Athen 2007, S. 8–57; Michael Llewellyn Smith, Venizelos’ Diplomacy, 1910–1923. From Balkan Alliance to Greek-Turkish Settlement. In: Paschalis Kitromilides (Hg.), Eleftherios Venizelos. The Trials of Statesmanship, Edinburgh 2006, S. 134–194.  8 Griechenlands Bevölkerung stieg von 1920 bis 1940 von 5 Mio. auf 7,2 Mio. Einwohner. Zu den Zahlen und der Herkunft der Flüchtlinge vgl. Pentzopoulos, The Balkan Exchange of Minorities and its Impact on Greece, S. 95–99.  9 Vgl. Allan Zink, Greece: Political Crisis and Authoritarian Takeover. In: Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39. Systematic Case Studies, Basingstoke 2000, S. 213–241, hier 215–217. 10 Vgl. Pentzopoulos, The Balkan Exchange of Minorities and its Impact on Greece, S. 114 f. 11 Vgl. Susanne-Sophia Spiliotis, Transterritorialität und nationale Abgrenzung. Konstitu­ tions­prozesse der griechischen Gesellschaft und Ansätze ihrer faschistoiden Transformation, 1922/24–1941, München 1998, S. 110.

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Außerdem führte der Bevölkerungsaustausch zu einer Homogenisierung der ­griechischen Bevölkerung, ihrer Religion und Sprache: Nach einer Volkszählung von 1928 waren 93,8 Prozent der Bevölkerung orthodoxe Griechen. Größere Minderheitengruppen waren türkische Muslime (1,39 Prozent), slawische Makedonen (1,32 Prozent), sephardische Juden (1,02 Prozent) sowie Aromunen (0,32 Prozent) und albanischsprachige Tschamen (0,3 Prozent).12 Die Minderheitenpolitik der Regierungen der Zwischenkriegszeit hatte einerseits die Assimilierung zum Ziel, andererseits strebte sie eine Abkoppelung der Minderheiten von den „Mutterländern“ an. Erst unter der Metaxas-Diktatur wurde die Diskriminierung der Minderheiten hin zu Zwangsassimilierung und Sprachverboten verschärft.13 Trotz ihres relativ kleinen Anteils waren die Wählerstimmen der Minderheiten und Flüchtlinge wichtig für die Parteien der Zwischenkriegszeit.14 Die Majorität der Flüchtlinge wählte venizelistische Parteien, da diese im Wahlsieg der Antivenizelisten 1920 und in der Rückkehr König Konstantins I. die Hauptgründe für die Niederlage im Kleinasienkrieg und den Verlust ihrer Heimat sahen.15 Doch nicht nur die Minderheiten und Flüchtlinge polarisierten die Politik, die „Nationale Spaltung“ zog sich durch die gesamte griechische Gesellschaft. Sozia­le Konfliktlinien verliefen weniger zwischen „oben“ und „unten“ als vielmehr zwischen Antivenizelisten und Venizelisten. Geografisch war die antivenizelistische Wählerschaft in den „alten Gebieten“ (Peloponnes, Zentralgriechenland, Thessalien), die noch einem traditionellen Klientelismus verhaftet waren, während sich die venizelistischen Wähler in den Städten und in den „neuen Gebieten“ im Norden Griechenlands konzentrierten.16 Die Polarisierung der griechischen Wähler ermöglichte es den Parteien, durch die Abänderung der Verwaltungsgrenzen bei der Einteilung der Wahlkreise, das Wahlergebnis zu beeinflussen.17 Eine zweite Möglichkeit der Manipulation war die Änderung des

12 Vgl. Mavrogordatos, Stillborn Republic, S. 227. 13 Vgl. Philip Carabott, The Politics of Constructing the Ethnic „Other“. The Greek State and its Slav-Speaking Citizens, ca. 1912 – ca. 1949. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas, 5 (2003), S. 141–159, hier 155. 14 Zu der Verteilung der Stimmen der Minderheiten auf die beiden Blöcke vgl. Mavrogordatos, Stillborn Republic, S. 226–272. 15 Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 884. 16 Die Bauern im Norden Griechenlands hatten von Venizelos’ Landreform von 1917 und der Aufteilung von Großgrundbesitzen profitiert. Vgl. Zink, Greece: Political Crisis and Authoritarian Takeover, S. 223. 17 Als Beispiel nennt Hering die Separation der Juden in Saloniki und der Muslime in Thrakien in eigene Wahlkollegien (1923, 1928), damit das Gewicht ihrer Stimmen nicht den Antivenizelisten zugute käme bzw. umgekehrt die Integration der religiösen Minderheiten in die Wahlkreise um das Wahlergebnis zugunsten der Antivenizelisten zu entscheiden (1934–1936). Wahlentscheidend konnte außerdem die Sonderstellung der Inseln Hydra, Spetses und Psara sein, deren insgesamt fünf Mandate meist den Liberalen zufielen. Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 714, 915.

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Wahlsystems in ein Mehrheitswahlsystem, um den als sicher angenommenen Wahlsieg zu verstärken, oder in ein Verhältniswahlsystem, um durch den Einzug vieler kleiner Parteien ins Parlament die Mandate des Gegners zu verringern.18 Tabelle 1: (Manipulative) Wahlrechtsänderungen 1923–193619 Datum der Wahl

Mandate gesamt

16.12.1923

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Mehrheitswahl

Venizelisten

250

98

7.11.1926

286

Verhältniswahl Antivenizelisten

127

40

19.8.1928

250

Mehrheitswahl

Venizelisten

226

98

25.9.1932

250

Verhältniswahl

Venizelisten

131

43

5.3.1933

248

Mehrheitswahl Antivenizelisten

135

100

9.6.1935

300

Antivenizelisten

300

38

26.1.1936

300

Wahlsystem Mehrheitspartei

Mehrheitswahl

20

Mandate Mehrheit

Keine Mehrheit Verhältniswahl Antivenizelisten Venizelisten

Wahl­ kreise

38 143 141

Als dritte Option wurde bei einem sicheren Wahlverlust der Boykott der Wahl angewendet. Hinterher konnte so die Rechtmäßigkeit der Wahl angezweifelt werden. Schließlich wurde durch die Verhängung des Ausnahmezustandes gemäß Artikel 91.2 der Verfassung mehrfach das Parlament außer Kraft gesetzt.21 Die Folgen dieser Manipulationen waren die Vertiefung der Gräben zwischen Venizelisten und Antivenizelisten und die Schwächung des Grundprinzips der demokratischen Willensbildung. Die Spaltung ermöglichte keine ungehinderte Tätigkeit der Nationalversammlung, da man ständig fürchtete, die andere Gruppe könnte die Macht an sich reißen. Erst mit der letzten Wahl im Januar 1936 begann sich die Versäulung der Gesellschaft zwischen den zwei Blöcken der „Nationalen Spaltung“ aufzulösen, Parteien wie die Kommunistische Partei (Kommounistiko Komma) und die Bauernpartei (Agrotiko Komma) wurden

18 Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 915. 19 Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 916; Mavrogordatos, Stillborn Republic, Tabellen 3, 4, 6, 8, 10, 12. 20 Die Wahl am 9. Juni 1935 war gefälscht. 21 Hering nennt die Verhängung des Ausnahmezustandes 1915 und 1922 unter dem Hinweis auf den Krieg. 1925 verhängte der Diktatur Pangalos den Belagerungszustand. Ebenso verfuhren die Regierungen Tsaldaris 1935, Kondylis 1935 und Ioannis Metaxas 1936. Zu den einzelnen Gründen der Verhängung des Ausnahmezustandes und der Einschränkung der Freiheitsrechte vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 906–909.

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g­ ewählt. Dennoch waren die minimalen Grundvoraussetzungen einer Demokratie gegeben. Erst gegen Ende der Zwischenkriegszeit wurde die griechische Gesellschaft der permanenten politischen Instabilität und der Putsche überdrüssig. Sie „lehnten nun aber mit Putschen und Gewaltakten mehr und mehr politische, soziale und wirtschaftliche Interessenskonflikte, die differenzierte moderne Gesellschaft und divergierende Wertehaltungen überhaupt ab“.22

III. Republik und Diktatur Die Konfliktlinien zwischen den beiden Lagern der „Nationalen Spaltung“ wurden im politischen Leben Griechenlands nach der „Kleinasiatischen Kata­ strophe“23 verstärkt, denn die antivenizelistischen Parteien, die Militärs und die Monarchie, wurden für das Scheitern des Kleinasiatischen Feldzuges verantwortlich gemacht. Als der Putsch von General Stylianos Gonatas und Oberst Nikolaos Plastiras im September 1922 scheiterte, ging König Konstantin I. ins Exil wo er kurze Zeit später starb. Sein Sohn Georg II. folgte ihm auf den griechischen Thron.24 Ein außerordentliches Militärgericht rechnete im Oktober 1922 öffentlich mit antivenizelistischen Offizieren ab, sechs der Angeklagten wurden hingerichtet.25 Der „Prozess der Sechs“ („Diki ton Exi“) führte in den nachfolgenden Jahren zu einer weiteren Vertiefung des Grabens zwischen den beiden politischen Lagern und deren Unterstützern in den Streitkräften, was eine lange Serie von Interventionen nach sich zog.26 Die griechischen Militärs wurden zu einem bedeutenden Machtfaktor der Innenpolitik, so versuchten die Militärs Wahlen zu vereiteln, sicherten gleichzeitig jedoch auch deren Durchführung.27 Zwischen 1922 und 1935 dominierten die Venizelisten die Streitkräfte. Erst in der Folge eines misslungenen Putsches am 1. März 1935 und der anschließenden Säuberungen änderte sich das Machtverhältnis zugunsten der „Antivenize-

22 Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 898. 23 Der Ausdruck „Kleinasiatische Katastrophe“ ist bis heute Teil des kulturellen Gedächtnisses Griechenlands. Vgl. Zelepos, Kleine Geschichte Griechenlands, S. 122 f. 24 Auch Ioannis Metaxas beteiligte sich an dem Putsch („Bewegung Leonardopoulos-Gargalidis“). Er floh nach dessen Scheitern nach Rom und dann weiter nach Paris und wurde zum zweiten Mal in absentia zum Tode verurteilt. Sein zweites Exil dauerte bis zum April 1924. 25 Darunter fünf Zivilisten: Dimitrios Gounaris, Nikolaos Stratos, Petros Protopapadakis, Nikolaos Theotokis, Georgios Baltatzsi und der letzte Oberkommandierende in Kleinasien: G. Chatzianestis. 2010 wurden die Einsetzung des Militärtribunals und das Verfahren vom Areopag für gesetzeswidrig erklärt und die sechs nicht schuldig gesprochen. Vgl. Georgios K. Stefanakis, I diki ton okto kai i ektelesi ton exi, Athen 2010. 26 Vgl. Thanos Veremis, The Military in Greek Politics from Independence to Democracy, London 1997. 27 Vgl. Yannis Andricopoulos, The Power Base of Greek Authoritarianism. In: Larsen Stein Ugelvik/Gerhard Botz (Hg.), Who Were the Fascists? Social Roots of European Fascism, Bergen 1980, S. 568–885, hier 570.

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listen“. Dies führte zu einem ideologisch homogenen Militär als einer wichtigen Machtbasis für die Metaxas-Diktatur.28 Der gescheiterte Kleinasienfeldzug wirkte sich auch auf das Wählerverhalten aus. In den Wahlen am 16. Dezember 1923 erreichten die Antivenizelisten nur sieben Mandate, die venizelistischen Parteien dagegen 377 von 398 Sitze.29 Nach der Exilierung König Georgs II., zwei Tage nach der Wahl, wurde im Parlament über eine Änderung der Staatsform diskutiert.30 Der Liberale Alexandros Papanastasiou brachte nach längeren Debatten die Ausschreibung eines doppelten Plebiszits in der Nationalversammlung durch. In der Sitzung am 25. März 1924 stimmten alle 283 anwesenden Abgeordneten für die Proklamation einer Republik. Es folgte eine Volksbefragung am 13. April, bei welcher 69,99 Prozent der Wähler für eine Republik und 30,01 Prozent für das Königtum votierten.31 Die Glücksburg-Dynastie wurde abgesetzt und die Republik proklamiert. Die Antivenizelisten fochten das Ergebnis sogleich an, die Volkspartei (Laiko Komma) unter Panagis Tsaldaris akzeptierte die Entscheidung erst 1932. Die neue Republik stand jedoch auf einem wackeligen Fundament. Trotz der klaren Mehrheit in der Nationalversammlung kam es innerhalb der Venizelisten zu keiner Einigung. Nach mehreren Regierungswechseln übernahm im Oktober 1924 Andreas Michalakopoulos das Amt des Premierministers.32 Bereits am 25. Juni 1925 putschte General Theodoros Pangalos. Zwar verweigerten die liberalen Parteien eine Zusammenarbeit mit dem Diktator, doch wurde die Vertrauensabstimmung in der Nationalversammlung auch nicht verhindert.33 Pangalos erhielt eine Mehrheit von 185 der 208 der anwesenden Stimmen. Die Nationalversammlung wurde im September aufgelöst und Pangalos ließ sich im April 1926 in einer manipulierten Wahl zum Präsidenten wählen. Die Herrschaft von Pangalos-Diktatur war der erste Präzedenzfall einer autoritären Diktatur in Griechenland. Im August 1926 gelang es schließlich dem Führer der Nationalrepublikanischen Partei (Ethnikon Dimokratikon Komma), Georgios Kondylis, den Diktator zu stürzen. Der Schock der Pangalos-Diktatur ermöglichte erstmals die Überwindung der „Nationalen Spaltung“. Die Wahlen am 7. November 1926 28 Bei der Diktatur von Ioannis Metaxas handelte es sich im Unterschied zu der griechischen Militärjunta der Jahre 1967–1974 nicht um eine Militärdiktatur. Oberbefehlshaber des Militärs blieb mit Unterstützung des Generalstabs König Georg II. Metaxas, der sich bereits in den 1920er-Jahren für eine zivile Karriere entschieden hatte, übernahm das Außenministerium und die Ministerien für Militär, Marine und Luftfahrt. Vgl. Close, The Character of the Metaxas Dictatorship, S. 37. 29 Vgl. Mavrogordatos, Stillborn Republic, S. 31. 30 Vgl. Victor S. Papacosma, The Republicanism of Eleftherios Venizelos. Ideology or Tactics? In: Byzantine and Modern Greek Studies, 7 (1981), S. 168–202. 31 Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 929; Mavrogordatos, Stillborn Republic, S. 32. 32 Am 25.3.1924 wurde Alexandros Papanastasiou zum Ministerpräsidenten ernannt, im Juli 1924 übernahm Themistoklis Sofoulis den Vorsitz, im Oktober 1924 wurde schließlich Andreas Michalakopoulos zum Ministerpräsidenten, bis er von Pangalos im Juni 1925 gestürzt wurde. 33 Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 932.

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wurden nach dem Verhältniswahlsystem abgehalten.34 Danach war zum ersten Mal eine große Koalition unter dem Vorsitz des gemäßigten Antivenizelisten Alexandros Zaimis möglich. Gegenseitiges Misstrauen bestand weiterhin, doch wurde gemeinsam regiert. Eine neue Verfassung wurde am 2. Juni 1927 verabschiedet.35 Auch Metaxas war inzwischen aus seinem zweiten Exil zurückgekehrt und wurde mit seiner Partei der Freisinnigen (Komma ton Elefthero­fronon) Teil der neuen „Ökumenischen Regierung“. An der – neben der Ausarbeitung der Verfassung – zweiten wichtigen Aufgabe der Regierung, der Sanierung des Staatshaushaltes, scheiterte die Koalition. Zwar konnte Finanzminister Georgios Kafantaris die Drachme durch die Anbindung an das Pfund stabilisieren und das Notenprivileg der 1928 neu gegründeten Bank von Griechenland (Trapeza tis Ellados) übertragen, doch riefen seine finanzpolitischen Entscheidungen die Kritik der Volkspartei, aber auch der Liberalen Partei hervor.36 So trat Kafantaris als Parteichef zurück.37 Venizelos nahm seinen Platz ein und rief zugleich Neuwahlen unter dem Mehrheitswahlsystem für den 19. August 1928 aus. Die Liberale Partei erlangte einen unerwartet hohen Sieg und erhielt 178 der 250 Mandate. Insgesamt standen damit 226 Mandate der venizelistischen Parteien 24 Antivenizelisten gegenüber.38 1928 begann ein „Jahrviert“ (Tetraetia) der politischen Stabilität unter Eleftherios Venizelos. Das einzige Mal in der Zwischenkriegszeit wurde eine Legislaturperiode voll ausgeschöpft. Venizelos setzte eine Politik der Investitionen und Modernisierungen durch, mit der Vervollständigung des Versicherungssystems,39 der Gründung des Verwaltungsgerichtshofes und mit Bildungsreformen. Zudem verabschiedete sich Venizelos vom Irredentismus und schloss eine Reihe außenpolitisch wichtiger

34 Die liberalen Parteien erhielten 31,7 Prozent der Stimmen und 108 von 286 Mandate. Andere Venizelisten erhielten 9,64 Prozent der Stimmen und 18 Sitze. Die Antivenizelisten erhielten insgesamt 41,95 Prozent, was 127 Mandaten entsprach. Die Kommunistische Partei erhielt zehn Sitze, die Bauernpartei fünf. In der Regierung stellten die Venizelisten sechs Minister, die Antivenizelisten fünf. Zu den Wahlergebnissen vgl. Mavrogordatos, Stillborn Republic, S. 35. 35 Die Verfassung beruhte auf dem Entwurf einer Kommission, die bereits 1924 an einem neuen Entwurf, basierend auf der Verfassung von 1911, gearbeitet hatte. Die Änderungen von Pangalos wurden am 22.9.1926 wieder rückgängig gemacht. Neu waren u. a. die Position des Präsidenten der Republik, nach dem Vorbild des französischen Verfassungsgesetzes von 1875, und die Zweiteilung der Legislative in Nationalversammlung und Senat. Die Verfassung hielt nur acht Jahre. Vgl. Nikos K. Alivizatos, To syntagma kai oi echroi tou sti Neoelliniki Istoria, 1800–2010, 2. Auflage Athen 2001, S. 264; Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 934–942; Efymeris tis Kyverniseos (FEK) A 107/3.6.1927, S. 765–780. 36 Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 942–944. 37 Die Liberale Partei hatte sich am 21.3.1924 in die Partei der Progressiven Liberalen unter Kafantaris, die Liberale Partei unter Sofoulis und die Partei der Konservativen Demokraten unter der Leitung von Michalakopoulos gespalten. 38 Zu den Wahlergebnissen vgl. Mavrogordatos, Stillborn Republic, S. 28. 39 Versicherungskassen für freie Berufe wurden gegründet. Das Sozialversicherungsgesetz wurde 1933 besprochen, trat jedoch erst 1937 unter der Metaxas-Diktatur in Kraft.

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Übereinkünfte ab, wie den Freundschaftsvertrag mit Italien (1928) und das griechisch-türkische Freundschaftsabkommen (1930).40 Ein weiterer Schwerpunkt der Liberalen lag auf der Wirtschaftspolitik.

IV.

Reformen und Wirtschaftskrise

Nach zehn Jahren Krieg war die griechische Wirtschaft zu Beginn der Zwischenkriegszeit am Boden. Der Staatshaushalt war überschuldet, die Inflation hatte 23 Prozent erreicht. Zwangsanleihen waren zur Finanzierung des Kleinasienfeldzuges erhoben worden, was den Kurswert der Drachme halbierte. Die Arbeitsmigration wurde aufgrund der restriktiven Einwanderungspolitik der USA seit 1921 erschwert.41 In der Landwirtschaft resultierten veraltete Anbaumethoden, der geringe Einsatz von Düngemitteln und eine unzureichende Anzahl an landwirtschaftlichen Maschinen in einer verhältnismäßig geringen Ertragsmenge.42 Angebaut wurden Getreide sowie Weintrauben und Tabak. Der Tabakanbau war jedoch stark vom Export abhängig. Im Dezember 1924 wurde Griechenland vom Völkerbund eine Anleihe in Höhe von 7,5 Mio. Pfund genehmigt. Die damit ermöglichte Landwirtschaftsreform, fixierte einerseits die notorische öffentliche Verschuldung.43 Die Pro-Kopf-­ Verschuldung in ­Griechenland erreichte während des liberalen „Jahrvierts“ den höchsten Wert in Osteuropa.44 Andererseits wurde mit dieser Reform eine

40 Das im Oktober 1930 geschlossene Freundschaftseinkommen brachte den griechischen Flüchtlingen Entschädigungszahlungen ein. Zum Freundschaftsvertrag mit der Türkei vgl. u. a. Ifigeneia Anastasiadis, O Venizelos kai to ellinotourkiko Symfono filias tou 1930. In: Thanos Veremis/Odysseas Dimitrakopoulos (Hg.), Meletima gyro apo ton ­Venizelo kai tin epochi tou, Athen 1980, S. 309–426. 41 In den 1920er-Jahren umfasste die griechische Diaspora in den USA 400 000 Personen. Meist wanderten die Migranten – zum Großteil Männer zwischen 14 und 45 Jahren – in die USA aus. Insbesondere die Rücküberweisungen der Auslandsgriechen waren für das volkswirtschaftliche Wachstum wichtig. Susanne Spiliotis führt den Anteil der Rimessen am griechischen Nationaleinkommen der Zwischenkriegszeit mit 3,9 Prozent (1927) und 3,3 Prozent (1936) an. Vgl. Spiliotis, Transterritorialität und nationale Abgrenzung, S. 52, Tabelle VII: Umfang und Entwicklung der Rücküberweisungen nach Griechenland, 1914–1938. 42 Zur griechischen Agrarwirtschaft in der Zwischenkriegszeit vgl. Seraphim Seferiades, Small Rural Ownership. Subsistence Agriculture and Peasant Protest in Interwar Greece. The Agrarian Question Recast. In: Journal of Modern Greek Studies, 17 (1999), S. 277–323; Sokratis Petmezas, I agrotiki oikonomia sto mesopolemo. I exelixi ton makro-megethon kai ton perifereiakon anisotiton. In: Dimitris Panagiotopoulos/Dimitris P. Sotiropoulos (Hg.), I elliniki agrotiki koinonia kai oinomia kata ti venizeliki periodo, Athen 2007, S. 77–88; Christine Agriantoni, Venizelos and Economic Policy. In: Kitromilides Paschalis (Hg.), Eleftherios Venizelos. The Trials of Statesmanship, Edinburgh 2006, S. 284–318. 43 Eine zweite Anleihe erhielt Griechenland 1927. Vgl. Mark Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, Oxford 1991, S. 76 f. 44 Vgl. hierzu die Tabelle bei Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, S. 112.

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partielle ­Modernisierung des griechischen Agrarsektors ermöglicht. Produk­ tionsgenossenschaften und die Agrarbank (Agrotiki Trapeza), zur Gewährung von günstigen Agrarkrediten, wurden gegründet. Die Aufteilung der großen landwirtschaftlichen Flächen in kleinere Parzellen führte zu einer großen Zahl an Kleinbauern und gab der landwirtschaftlichen Produktion neuen Aufwind.45 Außerdem wurde die Fläche von kultivierbarem Land durch Landgewinnungsmaßnahmen, wie die Trockenlegung des Flussdeltas von Strymon und Axios, von 1922 bis 1938 mehr als verdoppelt. 1928 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die heimische Weizenproduktion schützte und den Import von Getreide zurückgehen ließ.46 Aus britischen und US-Geldern wurden verschiedene Straßen-, Elektrizitäts- und Infrastrukturprojekte finanziert. Auch in die Industrie – zum Großteil Chemie-, Lebensmittel- und Textilindustrie – wurde investiert. Der Aufstieg der Industrie wurde überdies durch das Angebot an billigen Arbeitskräften infolge der Flüchtlingskatastrophe, durch die Massenentlassungen von Soldaten nach dem Krieg, die Zwölf-Stunden-Arbeitstage und durch die Arbeit von Frauen und Kindern ermöglicht.47 1933 konnte die heimische Industrie 76,1 Prozent des griechischen Bedarfs decken, ein Wert, der 1928 noch bei 58,61 Prozent gelegen hatte.48 Meist handelte es sich um kleine Familienbetriebe, größere Betriebe mit mehr als 25 Arbeitern machten nur ein Prozent der Industrieunternehmen aus.49 Der Aufschwung war jedoch nicht von einer Modernisierung begleitet. Eine Schwerindustrie fehlte weiterhin. Seit dem Ersten Weltkrieg wuchs zudem der öffentliche Dienst an, was den Staat nach und nach zum wichtigsten Arbeitgeber werden ließ.50 Die Weltwirtschaftskrise von 1929 wirkte sich zunächst wenig auf die Wirtschaft Griechenlands aus.51 Als 1929 der Exportmarkt für Tabak und Wein einbrach, der 60 bis 70 Prozent der griechischen Exporte ausmachte, hatte das nicht nur gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Politik, da die Tabakanbaugebiete im Norden Griechenlands zu den Kernregionen der liberalen Wähler gehörten.52 Erst mit der Aufgabe des

45 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 77. Vgl. Agriantoni, Venizelos and Economic Policy, S. 303. Ebd., S. 93–97. Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 890. Vgl. Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, S. 95. Vgl. Zelepos, Kleine Geschichte Griechenlands, S. 133. Vgl. Agriantoni, Venizelos and Economic Policy, S. 302 f. Zu Verbindungen der Tabakarbeiter mit der Kommunistischen Partei vgl. Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, S. 128; Lito Apostolakou, „Greek“ Workers or Communist „Others“. The Contending Identities of Organized Labour in Greece, 1914–36. In: Journal of Contemporary History, 3 (1995), S. 409–424.

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­ oldstandards in Großbritannien 1931 – die Drachme war an das englische G Pfund, das vom Goldstandard abhing, gekoppelt – geriet die griechische Währung an den Rand des Zusammenbruchs.53 Im Mai 1932 musste Griechenland den Staatsbankrott erklären, die Arbeitslosenzahlen verdoppelten sich.54 Als die Liberalen die Ziele ihres Modernisierungsprogramms nicht erreichten, führte die Krise zu einem drastischen Eingreifen der Regierung in die griechische Wirtschaft und Landwirtschaft.55 1932 beschloss Venizelos, die Bindung an den Goldpreis aufzugeben, und ebnete damit den Weg für eine Autarkie, eine „ebenso grundlegende wie folgenreiche Neubestimmung der Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft“.56 Insgesamt wirkte sich die Weltwirtschaftskrise auf Griechenland weniger katastrophal aus als auf andere Länder. So schwächte sie zwar die Modernisierung des Landes ab, brachte die wirtschaftliche Entwicklung jedoch nicht zum Stillstand.57 Trotz der Krise und der hohen Schuldenlasten erwirtschaftete der griechische Staatshaushalt in den Jahren zwischen 1933 und 1936 einen Überschuss. Die Abhängigkeit von Importen ging zurück.58 Der durch die Weltwirtschaftskrise stark in Mitleidenschaft gezogene Tabakanbau erholte sich 1935, bedingt auch durch den Export nach Österreich und Deutschland.59 In einem Bericht des League Loans Committee von 1938 wurde der finanzielle Zustand Griechenlands dergestalt beschrieben: „Post-default budget figures show a healthy underlying condition and a growing measure of prosperity [...] but the external debt has little share of expanding revenues.“60

53 54 55 56

57 58 59

60

Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1017. Vgl. ebd., Hering, S. 888. Vgl. Agriantoni, Venizelos and Economic Policy, S. 303. Zelepos, Kleine Geschichte Griechenlands, S. 133. Auch Mark Mazower geht in seiner Analyse der griechischen Wirtschaftskrise davon aus, dass die Periode von 1929 bis 1932 ein Wendepunkt in der Geschichte Griechenlands gewesen sei. An der Metaxas-Diktatur könne man die positiven und negativen Auswirkungen dieser Wende erkennen. Vgl. Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, S. 1. Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1017. Vgl. die Budgettabelle bei Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, S. 200, Tabelle 7.3. und S. 237. Die Exporte nach Deutschland und Österreich wurden über ein Clearing-Abkommen, welches im August 1932 unterschrieben wurde, abgewickelt. 1938 gingen mehr als die Hälfte der griechischen Tabakexporte nach Deutschland und Österreich. Vgl. Mogens Pelt, The Establishment and Development of the Metaxas Regime in the Context of Nazi Fascism, 1936–1941. In: Totalitarian Movements and Political Religion, 2 (2001), S. 143–172, hier 112. FO 371/22358 R 1265/169, Bewley (Treasurey) – FO, „Greek Budget Default“ (Note by the LLC), 11.2.1938. Zit. n. Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, S. 202.

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V.

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Die Angst vor der „kommunistischen Gefahr“

Fataler waren die politischen Folgen der Krise, die zu einer weiteren Destabilisierung des Systems führten, denn die soziale Armut der Arbeiterschicht, deren Verbitterung sich in Streiks und Demonstrationen äußerte, wurde politisch interpretiert und unter dem Schlagwort der „kommunistischen Gefahr“ subsumiert. 1929 wurde das Gesetz zum Schutz der Sozialordnung, das sogenannte Idionymon-Gesetz 4 229, von der liberalen Regierung unter Venizelos verabschiedet.61 Das Idionymon-Gesetz erlaubte der Polizei große Freiheiten in der Interpretation dessen, wer wegen der „Anwendung von Ideen, die den Umsturz des herrschenden Sozialsystems durch gewaltsame Mittel oder die Lostrennung eines Teils des Staatsterritoriums zum Ziel haben“62 belangt werden konnte. Zwischen 1929 und 1937 wurden auf Basis dieses Gesetzes 3 031 Personen verurteilt. Die Strafen reichten von einem sechsmonatigen bis zu einem fünfjährigen Freiheitsentzug. Im Juli 1931 wurde eine bis zu zweijährige Deportation als mögliche Strafe hinzugefügt.63 Tabelle 2: Verurteilungen anhand des Idionymon-Gesetzes, 1929--193764 Jahr

Anzahl der Verurteilungen

1929

72

1930

410

1931

518

1932

544

1933

407

1934

320

1935

181

1936

173

1937

406 Gesamt:

3 031

Die Auflistung der Verurteilungen zeigt, dass das Idionymon-Gesetz nicht nur während der Diktaturen von Pangalos und Metaxas, während derer die Kommunistische Partei verboten wurde, angewandt wurde, auch in den demokrati61 Gesetz 4229/24.7.1929 (FEK 245/Band 1/25.7.1925), Gesetz 5174/18.7.1931 (FEK 219/ Band 1/18.7.1925) und Notverordnung 117/15.9.1936 (FEK 402/Band 1/18.9.1936). 62 Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 910. 63 Vgl. Ioannis D. Stefanidis, Venizelos’ Last Premiership, 1928–32. In: Paschalis Kitromilides (Hg.), Eleftherios Venizelos. The Trials of Statesmanship, Edinburgh 2006, S. 193–233, hier 199. 64 Alivizatos, To syntagma kai oi echroi tou sti Neoelliniki Istoria, S. 272, Tabelle 5.

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schen Regierungen der Zwischenkriegszeit gängige Praxis war. Die Mehrheit der Idionymon-Verurteilten wurde nicht wegen spezifischer Delikte gegen die nationale Sicherheit angeklagt, sondern in erster Linie aufgrund ihrer Teilnahme bei Streiks und Demonstrationen bzw. wegen ihrer Mitgliedschaft in Gewerkschaften. Viele der Verurteilten waren keine Mitglieder der Kommunistischen Partei. Die 1928 als Sozialistische Arbeiterpartei Griechenlands gegründete, ab 1924 umbenannte Kommunistische Partei war 1934 mit gerade einmal 2 000 Mitgliedern eine Randpartei.65 Die erfolgreichsten Wahlergebnisse der Zwischenkriegszeit erreichte sie bei den Wahlen 1926 (4,38 Prozent), 1932 (4,97 Prozent) und 1936 (5,76 Prozent).66 Der Vorschlag der Partei für ein autonomes Makedonien erregte jedoch viel Aufmerksamkeit und machte es ihren Gegnern leicht, die Kommunisten als „Gefahr für die Nation“ zu diffamieren.67 Gunnar Hering erklärt die sehr harten Angriffe der Liberalen gegen die Kommunistische Partei damit, dass „die Liberalen u. a. in Gebieten mit hoher Analphabetenrate und unterdurchschnittlicher ärztlicher Versorgung überrepräsentiert waren, d. h. dort, wo ihnen die Kommunisten nach 1931 Stimmen abnahmen“.68 Politisch relevant für die Regierungsbildung wurde die Kommunistische Partei erst nach der Wahl 1936. Ein erneutes Aufkommen der „kommunistischen Gefahr“ wurde in Folge der Streikwellen, die im Mai und Juni 1936 durch die Intervention des Militärs zu zwölf Toten und über 200 Verletzten führten, heraufbeschworen.69 Die Ankündigung eines landesweiten Streiks der Gewerkschaften für den 5. August 1936 lieferte Metaxas schließlich eine Rechtfertigung, um den Notstand auszurufen.70

65 Die Kommunistische Partei hatte 1929 in Athen und Piräus 150 bzw. 70 eingeschriebene Mitglieder. Die Parteizeitung „Rizospastis“ erschien 1928 in 4 250, 1930 in 1 666 Exemplaren. Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 911. Vgl. Ale­ xandros Dagkas, Kommounistiko Komma Ellados, elliniko tmima tis Kommounistikis Diefthnous. In: Christos Chatziiosif (Hg.), Istoria tis Elladas tou 20ou aiona. Band B2: 1922–1940, Athen 2007, S. 155–202. 66 1926 und 1932 erhielt die Kommunistische Partei zehn, 1936 15 Mandate in der Nationalversammlung. Alle drei Wahlen fanden unter dem Verhältniswahlsystem statt. 67 Vgl. Adamantios Skordos, Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas 1945–1992, Göttingen 2012. 68 Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 919. Vgl. zudem die entsprechenden Tabellen zu Wählerschaft, ärztlicher Versorgung und Analphabetismus in Mav­ rogordatos, Stillborn Republic, S. 292 f. 69 Vgl. Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, S. 286 f. 70 Der Streik richtete sich gegen die Einführung der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit in Tarifkonflikten. Es handelte sich nicht um einen kommunistischen Umsturzversuch. Für die Streikenden waren Forderungen nach Lohnerhöhungen zentral. Die Ausweitung der Streiks kann man als Reaktion auf die Ausschreitungen der Polizei verstehen. Die Kommunistische Partei konnte die Streikwelle nicht kontrollieren, was sich auch an der zurückhaltenden Berichterstattung der kommunistischen Tageszeitung „Rizospastis“ zeigte. Vgl. Spyros Marketos, I elliniki aristera. In: Christos Chatziiosif (Hg.), Istoria tis Elladas tou 20ou aiona. Band B2: 1922–1940, Athen 2007, S. 125–154.

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VI. Demokratie oder Diktatur? Wie der Umgang mit den Kommunisten in der Zwischenkriegszeit zeigt, unterschieden sich die Methoden der demokratischen und diktatorischen Regierungen in Griechenland oftmals kaum. So begann gegen Ende der liberalen Alleinregierung der Führungsstil von Venizelos zunehmend autoritäre und antiparlamentarische Formen anzunehmen. Der Parteichef der Liberalen äußerte sich verächtlich über die demokratischen Institutionen und Prozeduren, begann die Pressefreiheit zu beschneiden und versuchte eine Verfassungsrevision zur Ausweitung der Kompetenzen des Ministerpräsidenten umzusetzen. Dies führte zu heftigen Streikwellen und Protesten. Gründe für die autoritäre Wende des liberalen Politikers können in den internationalen Entwicklungen, der Etablierung faschistischer und autoritärer Diktaturen in Europa, gesehen werden. Zunächst war insbesondere das faschistische Italien Vorbild für die griechischen Politiker, später auch das nationalsozialistische Deutschland sowie Salazars Regime in Portugal.71 Durch deren scheinbar erfolgreiche wirtschaftliche Handhabung der Wirtschaftskrise wuchs in Griechenland die Bewunderung für den Faschismus, und zwar in beiden Lagern der „Nationalen Spaltung“. Diskus­ sionen über die Vor- und Nachteile der demokratischen Regierungsform fanden in der Presse aber auch im Parlament und an den Universitäten statt.72 Die Tageszeitung „I Kathimerini“ druckte im Januar 1934 eine Serie unter dem Titel „Diktatur oder Parlamentarismus“.73 Die Meinungen der Diskutanten gingen 71 Der Faschismus und auch der Nationalsozialismus fanden zwar Anhänger in Griechenland, doch formierten sich nur einige wenige faschistische Organisationen, mit geringem politischen Einfluss und wenigen Mitgliedern. Zwar kam es insbesondere während der Pangalos-Diktatur (1925–1926) zu gegenseitigen Besuchen, doch war man in Italien weder überzeugt von den Diktatoren Pangalos und Metaxas, noch glaubte man an die Möglichkeit einer Massenbewegung. Zudem muss bedacht werden, dass Mussolini nach dem Angriff auf die Insel Korfu (1923) und durch die seit 1912 andauernde Besetzung der Dodekanes-Inseln außenpolitisch als Feind Griechenlands galt. Vgl. Spyros Marketos, Pos filisa ton Moussolini. Ta prota vimata tou ellinikou favismo, Athen 2006, S. 22; Dimitris E. Filippis, Profasismos, ekfasismos, psevdofasismos. Ellada, Italia kai Ispania ston Mesopolemo, Thessaloniki 2010, S. 228–231; Philip Carabott, The Temporary Italian Occupation of the Dodecanes. A Prelude. In: Diplomacy & Statecraft, 4 (1993), S. 285–312. 72 Eine öffentliche Diskussion, geleitet vom Erziehungsminister G. Papandreou und den Professoren des Institutes für Politische Bildung und Öffentliches Recht, fand 1932 in der Panteion-Universität in Athen statt. Folgende Fragen standen im Fokus: 1. ob der Parlamentarismus die geeignete Regierungsform für die damalige Gesellschaft sei, 2. ob der Parlamentarismus das beste System für das griechische Volk sei, 3. ob es Umstände gebe, welche die Entfernung des Parlamentarismus empfehlenswert machen, und 4. ob die damaligen Diktaturen in Europa geeignet seien, den Parlamentarismus zu ersetzen. Vgl. Vlachopoulos, I krisi tou koinovouleftismou ston mesopolemo kai to telos tis B’Ellinikis Dimokratias to 1935, S. 120–122. 73 Auch die Tageszeitungen I Proia und Elefthero Vima veröffentlichten in der Zwischenkriegszeit Interviews und Kommentare griechischer und ausländischer Politiker zum Thema Faschismus und Diktatur. Vgl. Spyros Vlachopoulos, I krisi tou koinovouleftismou ston mesopolemo kai to telos tis B’Ellinikis Dimokratias to 1935. Oi thesmikes opseis mias oikonomikis krisis, Athen 2012, S. 123 f.

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auseinander, doch äußerten sich wenige offen für eine dauerhafte Etablierung einer Diktatur74, unter Ihnen Ioannis Metaxas.75 Der Großteil der Diskussionsteilnehmer sah in einer autoritären Herrschaftsform eine mögliche Übergangslösung, der man im Fall der Bedrohung Griechenlands unter der Führung eines charismatischen Diktators zustimmen würde.76 Die Liberalen verloren die Wahlen im September 1932. Nach einer kurzweiligen Koalition unter Tsaldaris, gefolgt von einer zweimonatigen Regierungszeit unter Venizelos, wurden für den 5. März 1933 Neuwahlen unter dem Mehrheitswahlsystem ausgerufen. Als die erneute Wahlniederlage Venizelos’ feststand, entschloss sich Nikolaos Plastiras zu seinem zweiten Putsch.77 Dieser scheiterte aufgrund der mangelnden Resonanz im Offizierskorps. Der Antivenizelist und Parteichef der Volkspartei Panagis Tsaldaris übernahm den Regierungsauftrag und blieb bis zum Oktober 1935 Regierungschef Griechenlands. Diese neue Regierung hatte nach der Einschätzung von Gunnar Hering eine gute Perspektive, die Demokratie in Griechenland zu retten. Denn dadurch, dass die ranghöchsten Generäle den Putsch missbilligten, hatte Tsaldaris gute Chancen, gestützt auf das eindeutige Votum der Wähler, ungefährdet zu regieren. Der Unmut über Putsche und Offizierskonspirationen war quer durch Schichten und Klassen, Altersgruppen und Regionen so verbreitet, dass die konservative Position, wie sie Tsaldaris definierte, von den Wählern offenbar als plausible Antwort auf die Probleme des Landes verstanden wurde.78

74 Die Meinungen reichten von einer klaren Befürwortung des Parlamentarismus über Möglichkeiten der vorübergehenden Übertretung der Verfassung im Ausnahmezustand zu einer Stärkung der Exekutive bis zur Diktatur. Einige Diskutanten waren für die Etablierung einer Diktatur unter der Voraussetzung, dass diese unter einem charismatischen Führer organisiert sei. Ebd., S. 123 f. 75 „Folglich ist das Problem für uns Griechen nicht, wie wir beim Parlamentarismus bleiben können, sondern durch welche Tür wir diesem entkommen können. Durch die Tür des Kommunismus oder durch die Tür des Nationalstaates“ (Ioannis Metaxas). I Kathimerini, 6.1.1934. Abgedruckt in Metaxas/Vranas, Ioannis Metaxas. To prosopiko tou imerologio, Band 4, S. 593–595. Vgl. zudem die Einträge in Metaxas’ Tagebuch (7.9.1934, 28.3.1934, 17.4.1934, 7.9.1934); Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1060. 76 Venizelos schwebte z. B. eine Verfassungsänderung vor, die ein autoritäres Präsidialsystem unter einem zivilen Präsidenten etablieren würde. Er wollte die „Antivenizelisten“ dauerhaft aus dem Staatsapparat entfernen. Zudem sollte die Exekutive gestärkt werden. Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1066; Vlachopoulos, I krisi tou koinovouleftismou ston mesopolemo kai to telos tis B’Ellinikis Dimokratias to 1935, S. 123 f. 77 Der erste Putsch, an dem Plastiras beteiligt war, fand im September 1922 statt. Die Beteiligung von Venizelos an diesem Coup d’État ist unklar. Venizelos musste sich in einer Parlamentsdebatte zu seiner Mitschuld äußern. Er gab an, dass er von einer Unterstützung des griechischen Generals abgeraten habe, weil er diesen für ungeeignet halte, dass er jedoch einem Mussolini als Diktator zustimmen würde. Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1047–1050. 78 Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1051.

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Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der neuen Regierung verzeichnete, dank der Dollar-Abwertung und einer Reduktion der Zinsen der Völkerbundanleihen, Erfolge. Am 9. Februar 1934 wurde außerdem der Balkanpakt mit der Türkei, Jugoslawien und Rumänien unterzeichnet.79 Ihren erneuten Höhepunkt erreichte die politische Krise in dem Attentatsversuch auf Venizelos am 6. Juni 1933, dessen verschleppte Aufklärung der Regierung Tsaldaris vorgeworfen wurde.80 Schließlich verübte Venizelos mit Unterstützung einiger Militärs am 1. März 1935 selbst einen Putsch. Dieser misslang, woraufhin das Oberhaupt der Liberalen ins Exil nach Paris ging.81 Ministerpräsident Tsaldaris rief daraufhin den Ausnahmezustand aus, löste das Parlament auf, schaffte den Senat ab und säuberte die Streitkräfte und sogar die Universitäten.82 Politiker, Militärs und Presse standen sich erneut unversöhnlich gegenüber. Als Neuwahlen unter dem Mehrheitswahlsystem für den 9. Juni 1935 ausgerufen wurden, entschlossen sich die venizelistischen Parteien zu einem Boykott. Trotz der staatlichen Beeinflussung der Wähler war die Wahlbeteiligung um nur 4,9 Prozent geringer als 1933, auch wenn 5,6 Prozent der Stimmen ungültig waren.83 Tsaldaris, dessen Volkspartei mit 254 Sitzen die Wahl gewann, kündigte eine Volksbefragung über die Staatsform an. Die Restitution der konstitutionellen Monarchie versprach in der Person des Monarchen einen politisch unbelasteten Stabilitätsanker, ein Symbol für die Einheit der Nation und einen Garanten für die außenpolitische Sympathie Großbritanniens.84 ­Georg II., der seit zwölf Jahren im Exil in London lebte, ließ verkünden,

79 Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1058 f. 80 Für den versuchten Mord machte man den Chef der Kriminalpolizei, Ioannis Polychronopoulos, verantwortlich, der mit dem Vorsitzenden der Volkspartei, Tsaldaris, in Verbindung gebracht wurde. Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1052. 81 Venizelos verstarb ein Jahr später im Exil. Zu den Ereignissen um den 1. März 1935 vgl. Vlachopoulos, I krisi tou koinovouleftismou ston mesopolemo kai to telos tis B’Ellinikis Dimokratias to 1935. Bis zum 14.5. wurden 1 130 Soldaten, Politiker und einfache Zivilisten vor provisorischen Militärgerichten verurteilt. Zwei der aufständischen Offiziere wurden hingerichtet, während Venizelos und Plastiras in ihrer Abwesenheit – beide waren ins Ausland geflüchtet – zum Tode verurteilt wurden. Vgl. Sefis Anastasakos, O Plastiras kai i epochi tou. 1933–1953, Athen 2009, S. 105 f. 82 Zu den vier am 1.4.1935 erlassenen Verfassungsakten und den Säuberungen in den Universitäten vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1077–1080. 83 Zu der Wahlbeteiligung in absoluten Zahlen vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1084. 84 Der außenpolitische und militärische Bereich galt traditionell als Domäne des Königs in Griechenland, wobei zu bedenken ist, dass der Monarch zwar außenpolitische Einflussmöglichkeiten besaß, jedoch im Konfliktfall nicht gegen das Parlament und die Regierung handeln konnte. Vgl. Edda Binder-Iijima, Ausländischer Monarch und Konstitution. Die monarchische Herrschaft in Griechenland, Rumänien und Bulgarien im 19. Jahrhundert. In: Maria A. Stassinopoulou/Ioannis Zelepos (Hg.), Griechische Kultur in Südosteuropa in der Neuzeit, Wien 2008, S. 45–64, hier 61.

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dass er an Tsaldaris als Premierminister festhalten wolle und die Auflösung des Parlaments ablehne.85 Aus Machtgier erklärte jedoch ein „Revolutionskomitee“ unter der Führung des Royalisten Georgios Kondylis am 10. Oktober 1935 die Regierung für abgesetzt und rief den Notstand aus. De facto wurde eine Diktatur etabliert, die republikanische Staatsform aufgehoben und die Verfassung von 1911 wieder eingesetzt. Am 3. November 1935 entschied ein Plebiszit über die Rückberufung des Königs mit einem fragwürdigen Ergebnis von 97,8 Prozent für die Monarchie. Die massive Wahlfälschung der Volksabstimmung, die von den Venizelisten, von denen einige Vertreter bereits interniert waren, boykottiert wurde, war offensichtlich.86 Wenige Tage nach seiner Rückkehr entließ Georg II. den Vizekönig Georgios Kondylis und ernannte Konstantinos Demertzis zum Premierminister. Geprägt von den Jahren in England, strebte der Monarch demokratische Prinzipien an. Zwar wollte Georg die Fehler seines Vaters vermeiden und überparteilich regieren, doch verkörperte die Monarchie für einen Großteil der griechischen Bevölkerung die „Nationale Spaltung“. Der König, von den Venizelisten 1923 vertrieben und von den Antivenizelisten 1935 zurück an die Macht geholt, blieb ein Repräsentant des antivenizelistischen Lagers. An den letzten Wahlen der Zwischenkriegszeit nahmen alle Parteien teil. Die Wahlen wurden am 26. Januar 1936 korrekt abgehalten, führten jedoch aufgrund des Verhältniswahlsystems zu keiner klaren Mehrheit: Die Venizelisten erhielten 141, die Antivenizelisten 143 Mandate. Metaxas’ Partei der Freisinnigen erhielt nur sieben Mandate. Die 15 Mandate der Kommunistischen Partei wurden zum Zünglein an der Waage. Mit Bekanntgabe der Vereinbarung zwischen den Liberalen unter Themistokles Sofoulis und der Kommunistischen Partei unter Stelios Sklavainas (Symfonia Sofouli-Sklavaina) verlautbarten die Streitkräfte unter der Leitung von Alexandros Papagos gegenüber König Georg II., man werde ein solches Kabinett nicht dulden. Der Monarch ernannte daraufhin eine außerparlamentarische Regierung unter Konstantinos Demertzis mit Metaxas als Heeresminister, später auch als Vizepremierminister. In den folgenden Monaten verstärkten eine Reihe von Todesfällen von Politikern, die die Zwischenkriegszeit dominiert hatten, die politische Ausweglosigkeit und festigten die Position von Metaxas.87

85 Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1088. Zu Georg II. vgl. Everett J. Marder, The Second Reign of George II. His Role in Politics. In: Southeastern Europe, 1 (1975), S. 53–69. 86 Zum Ausmaß der Wahlfälschung vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1091 f. 87 Am 31.1.1936 starb Georgios Kondylis, am 18.3.1936 starb Eleftherios Venizelos in Paris, einen Monat später am 14.4.1936 erlitt der Premierminister Konstantinos Demertzis einen tödlichen Herzinfarkt, und am 17.5.1936 starb Panagis Tsaldaris, der Vorsitzende der Volkspartei.

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Tabelle 3: Wahlen für die Nationalversammlung (26. Januar 1936)88 Venizelisten

Anzahl der Stimmen

Partei der Liberalen Demokratische Allianz

126 11

Andere Venizelisten

4

Antivenizelisten Volkspartei

72

Partei der Freisinnigen Allgemeine Radikale Volksunion Nationalradikale Partei Nationale Volkspartei Gruppe Rallis/Stratos

7 12 38 10

Reformpartei

4

Andere Parteien Bauernpartei (Sofianopoulos)

1

Kommunistische Partei (KP)

15

Mandate gesamt

300

Nach dem Tod von Demertzis wurde Metaxas vom König zum Premierminister ernannt. Am 25. April 1936 beauftragte eine überwältigende Mehrheit der Parlamentsabgeordneten Metaxas mit der Regierungsbildung.89 Das Parlament wurde anschließend vom 1. Mai bis zum 30. September 1936 vertagt. Metaxas sollte einstweilen mit Notverordnungen regieren, denen jedoch ein Parlamentsausschuss zuzustimmen hatte. Ende Juli verständigte sich Spyros Theotokis – Parteivorsitzender der Nationalen Volkspartei – mit dem Vorsitzenden der Liberalen Partei, Themistoklis Sofoulis, über eine Koalitionsregierung und unterrichtete am 22. Juli 1936 König Georg II. Eine solche Koalitionsregierung hätte wohl die venizelistischen Offiziere rehabilitiert und somit die proroyalistische Homogenität der Streitkräfte revidiert, was für den König eine Machteinbuße bedeutet hätte. Kurz nach diesem Gespräch gab Georg II. daher Premierminister Ioannis Metaxas für den 4. August 1936 grünes Licht, um der parlamen-

88 Mavrogordatos, Stillborn Republic, S. 52. Vgl. außerdem Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1108. 89 Es gab nur 16 Gegenstimmen, vier Parlamentarier enthielten sich ihrer Stimmen. Vgl. Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, S. 1112.

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tarischen Lösung durch die Errichtung einer Diktatur zuvorzukommen.90 Die Diktatur von Ioannis Metaxas, die am 4. August 1936 etabliert ­wurde, dauerte bis zum Tod des Diktators am 29. Januar 1941 an.91

VII. Die verhinderte Demokratie Das Scheitern der Demokratie in der griechischen Zwischenkriegszeit wirkt zunächst wie das Ergebnis einer kontinuierlichen Krise. Zwischen 1922 und 1940 gab es in Griechenland 22 Regierungen, achtmal wurde geputscht, drei Coups d’État waren erfolgreich, dreimal etablierten sich autoritäre Diktaturen. Die seit 1843 in Griechenland bestehende konstitutionelle Monarchie wurde 1924 abgesetzt, und die griechische Staatsform wechselte zu einer parlamentarischen Demokratie, nur um elf Jahre später restituiert zu werden. Es scheint, als hätte die griechische politische Elite systematisch gegen eine demokratische Ordnung gearbeitet und damit den Aufstieg autoritärer Machthaber begünstigt. Doch kann das letztliche „Gelingen der Diktatur“ von Ioannis Metaxas weniger als ein Zeichen der Schwäche des demokratischen Systems in Griechenland denn als Folge von dessen Erschöpfung und Perspektivlosigkeit, hervorgerufen durch die Jahrzehnte andauernde „Nationale Spaltung“, interpretiert werden? Tatsächlich ist die „Nationale Spaltung“, welche seit 1915/16 die griechische Politik in zwei Lager trennte, einer der Kerngründe des Scheiterns. Metaxas erkannte dies im Januar 1941, als er in sein Tagebuch schrieb: „Gott möge uns verzeihen [...]! Schuld tragen wir alle! Sogar Venizelos! – Erst jetzt erkenne ich, wie sehr ich schuld war!“92 Die Verantwortung aller Akteure der beiden Blöcke für

90 Ebd., S. 1120. Bei der Metaxas-Diktatur handelte es sich um eine autoritäre Diktatur. Metaxas regierte mit Notverordnungen. Eine Änderung der Verfassung war geplant, ein Verfassungstext wurde jedoch erst posthum (1941) veröffentlicht und nie umgesetzt. Zum Verfassungsentwurf vgl. Procopis Papastratis, Metaxas. A Dictator of Compromise. In: Portuguese Journal of Social Science, 1 (2005), S. 27–37. 91 Zur Metaxas-Diktatur vgl. David Close, Conservatism, Authoritarianism and Fascism in Greece, 1915–1945. In: Martin Blinkhorn (Hg.), Fascists and Conservatives. The Radical Right and the Establishment in Twentieth-Century Europe, London 1990, S. 200–217; David Close, The Character of the Metaxas Dictatorship. An International Perspective. In: Centre of Contemporary Greek Studies, 3 (1991), S. 1–42; Victor S. Papacosma, The Metaxas Dictatorship. Aspects of Greece 1936–1940. In: Journal of Modern Greek Studies, 1 (1997), S. 143–145; Marina Petrakis, The Metaxas Myth. Dictatorship and Propaganda in Greece, London 2006; Robin Higham/Thanos Veremis (Hg.), The Metaxas Dictatorship. Aspects of Greece 1936–1940, Athens 1993, S. 147–178; Susanne-Sophia Spiliotis: Die Metaxas-Diktatur in Griechenland 1936– 1941. Ein faschistoides Regime. In: Erwin Oberländer/Rolf Ahmann (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, S. 403–430; Thanos Veremis (Hg.), O Metaxas kai i epochi tou, Athen 2009. 92 Metaxas/Vranas, Ioannis Metaxas. To prosopiko tou imerologio (5. Januar 1941), Band 4, S. 556.

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die Eskalation der „Nationalen Spaltung“ ist evident. Die Angst der Politiker vor einem Wahlgewinn der Gegner ließ sie nicht vor Änderungen der Wahlsysteme und der Wahlbezirke, dem Wahlboykott, der Verhängung des Ausnahmezustandes und der Exilierung und Verbannung der Gegner zurückschrecken. Dennoch liefen alle Wahlen bis auf die Wahl von 1935 und das Plebiszit von 1935 ohne eine Manipulation der Wähler oder der Stimmzettel ab. Selbst die letzte Wahl der Zwischenkriegszeit im Januar 1936 verlief fair. Wie bei den kurzzeitigen Diktaturen der Zwischenkriegszeit handelt es sich bei Metaxas’ Wandlung (Metavoli) um einen Umsturz von oben, der wenig Zustimmung im Volk fand. Metaxas’ Partei der Freisinnigen erreichte bei den letzten demokratischen Wahlen ein halbes Jahr vor dem Umsturz gerade einmal 3,94 Prozent. Das Scheitern der Demokratie war zudem dadurch begründet, dass ihre Repräsentanten selbst nicht an den Parlamentarismus glaubten. Nicht nur der spätere Diktator Metaxas äußerte sich öffentlich für eine Diktatur, auch andere Politiker spielten mit dem Gedanken der kurzfristigen Bündelung der Exekutive und Legislative unter einer Person. Dass schließlich Metaxas Diktator wurde hatte weniger mit dessen Charisma oder seiner Unterstützung durch das Volk zu tun, als damit, dass er ein der Monarchie treuer ehemaliger General war. Es gab vielmehr personelle Alternativen. Zu bedenken ist zudem, dass die parlamentarische Vertrauensabstimmung im April 1936 die Entscheidungsbefugnis der Nationalversammlung nur für wenige Monate außer Kraft setzte. Die dauerhafte Etablierung einer Diktatur nach dem Vorbild der autoritären Diktaturen Europas entsprach nicht der Intention der Politiker. Die griechische Innenpolitik reflektierte die Lage in Europa. Das Erwägen einer autoritären Diktatur ist vor dem Hintergrund des Angriffs Italiens auf Abessinien im Oktober 1935 und des Ausbruchs des Spanischen Bürgerkrieges im Sommer 1936 zu sehen. Beide Ereignisse versetzten die griechische Politik in Alarmbereitschaft. Der Angst vor einem drohenden Angriff wurde auch durch den Ankauf von Waffen in Deutschland begegnet, welcher mit einem Clearing-Abkommen abgegolten wurde. Die Streitkräfte, durch die „Kleinasiatische Katastrophe“ in einer Identitätskrise, konzentrierten sich in der Zwischenkriegszeit auf die griechische Innenpolitik und mischten sich bei mehreren Gelegenheiten in diese ein. Ein Wahlgewinn hatte oft eine Säuberung innerhalb des Militärs zur Folge. Dennoch ließen sich die Offiziere nicht immer auf die Forderungen der Machthaber ein. Putsche scheiterten aufgrund der fehlenden Unterstützung vonseiten der Militärs. Die griechische Gesellschaft befand sich in einer Phase des Umbruchs, die insbesondere durch den Bevölkerungszuwachs seit den Balkankriegen bedingt war, aber auch erste Anzeichen der Modernisierung trug. Die Wirtschaftskrise wurde von Metaxas selbst nicht als Grund für die Diktatur genannt. Doch werden die durch die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes bedingten sozialen Probleme Mitte der 1930er-Jahre evident. Dass die Kommunistische Partei am 5. August 1936 einen Umsturz des Systems geplant habe, was die

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Rhetorik einer „Kommunistischen Gefahr“ zumindest gerechtfertigt hätte, verneinte Metaxas in einem Interview im September 1936.93 Schließlich ist der Einfluss des „Stabilitätsankers“, des griechischen Monarchen, ein nicht zu unterschätzender Faktor. Sowohl Georg II. als auch dessen Vater Konstantin I. nahmen jede Gelegenheit war, die demokratische Ordnung zu destabilisieren und sich entgegen ihrer in der Verfassung verankerten R ­ olle in die Politik einzumischen. Ohne die Unterstützung Georgs II. hätte das ­„Regime des Vierten August“ keinen Bestand gehabt.

93 Vgl. I Kathimerini, 16. September 1936. Abgedruckt in Metaxas/Vranas, Ioannis ­Metaxas. To prosopiko tou imerologio, Band 4, S. 232 f.

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Demokratie ohne Demokraten? Das Scheitern der Zweiten Republik in Spanien (1931–1936) Sören Brinkmann

I.

Die Zweite Republik: historische Einordnung und strukturelle Erblasten

Obgleich in vielerlei Hinsicht in die europäische Demokratisierungswelle nach 1918 eingebunden, verhielt sich die politische Chronologie in Spanien wohl nicht zuletzt aufgrund der Neutralität des Landes während des Ersten Weltkrieges in gewisser Weise kontrazyklisch zum restlichen Europa. Während für weite Teile des Kontinents das Kriegsende zum Startschuss für den Aufbau von Demokratien bzw. neuen, demokratisch verfassten Nationalstaaten wurde, waren die 1920er-Jahre in Spanien geprägt von der Militärdiktatur unter General Miguel Primo de Rivera (1870–1931). Ihre Funktion bestand vor allem darin, den drohenden Zusammenbruch des bourbonischen Restaurationssystems von 1874 hinauszuzögern, denn auch in Spanien war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geprägt von wachsenden Unruhen und politischer Instabilität. Das erste massendemokratische Experiment auf spanischem Boden, die Zweite Republik, startete hingegen erst zu Beginn der 1930er-Jahre, genauer am 14. April 1931. Es währte zumindest formal fast genau acht Jahre, bis zum 1. April 1939, jenem Tag, an dem General Francisco Franco (1892–1975) nach drei blutigen Kriegsjahren den propagandistisch zum „Kreuzzug“ stilisierten Spanischen Bürgerkrieg in der Rolle des militärischen Siegers für beendet erklärte. Gescheitert war die Zweite Republik als massendemokratischer Rahmen zur friedlichen Vermittlung gesellschaftlicher Interessengegensätze freilich schon lange zuvor, das heißt spätestens mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges am 17./18. Juli 1936, der – als Reaktion auf die gesellschaftspolitische Krise – von einem partiell gescheiterten Staatsstreich der spanischen Streitkräfte ausgelöst worden war. Für die spanische Gesellschaft hat der Bürgerkrieg als Zäsur einen ähnlich hohen Stellenwert wie der Zweite Weltkrieg für die übrigen europäischen Gesellschaften. Die unauflösliche Verbindung der Republik mit der Katastrophe des Bürgerkrieges ist eine weitere spanische Besonderheit und überschattet – vor allem aufgrund der anhaltend heiklen Schuldfrage – zum Teil bis heute nicht nur die öffentliche

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Erinnerung, sondern bisweilen auch die historiografische Deutung der ersten spanischen Demokratie.1 Die folgenden Ausführungen beschränken sich ausschließlich auf die Republik in Friedenszeiten, das heißt auf jene rund fünf Jahre, die zwischen ihrer Proklamation im Frühjahr 1931 und dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Juli 1936 lagen. Dabei werden neben den zentralen politischen Entwicklungslinien vor allem die wichtigsten strukturellen Konfliktfelder, aber auch konjunkturelle Einflussfaktoren sowie die Verhaltensweisen von individuellen und kollektiven Akteuren in den Blick gerückt, um auf diese Weise die vielschichtige Legitimitätskrise der Zweiten Republik am Vorabend des militärischen Staatsstreiches zu erhellen. Gemessen an den enormen Erschütterungen der folgenden Jahre war der Regimewechsel von der Monarchie zur Republik zu Beginn der 1930er-Jahre geradezu sanft und auch in demokratischer Hinsicht nahezu vorbildlich verlaufen: Nach dem unfreiwilligen Abtritt von Diktator Primo de Rivera im Januar 1930 und mehreren politisch nicht tragfähigen Provisorien sollten Kommunalwahlen am 12. April 1931 gleichsam als Stimmungstest die Möglichkeiten für eine Rückkehr zu den konstitutionell-oligarchischen Verhältnissen vor der Diktatur sondieren. Das überraschend gute Abschneiden antimonarchischer bzw. republikanischer Parteien, die sich zuvor in einem Bündnis für die Republik, dem Pacto de San Sebastián, zusammengeschlossen hatten und nun in allen größeren Städten des Landes klare Mehrheiten errangen, überzeugten König Alfons XIII. (1886–1941) und seinen engsten Beraterkreis allerdings rasch davon, dass die Zeit für die Monarchie nun endgültig abgelaufen war. Des Königs überstürzte Flucht sowie die Zurückhaltung des Militärs machten dann zwei Tage später den Weg frei für die Republik. Ihre Ausrufung wurde vielerorts mit spontanen Massendemonstrationen begrüßt. Diesem friedlichen Regimewechsel und den mit ihm verbundenen Hoffnungen zum Trotz sollten die folgenden fünf Jahre für Spanien zu einer der turbulentesten Etappen der jüngeren Geschichte werden. Üblicherweise unterteilt man diese Periode – den, in ungefähr gleichen Abständen vollzogenen Wahlgängen zum spanischen Parlament (Cortes) entsprechend – in drei Etappen, die von einer politischen Pendelbewegung von links nach rechts und wieder zurück und damit einhergehend von einer sukzessiven Polarisierung und Lagerbildung sowie einer fortschreitenden Radikalisierung und Brutalisierung des politischen Klimas auf der Straße geprägt waren. Eine wichtige Ursache technischer Art für die politische Pendelbewegung lag in den Besonderheiten des republikanischen Wahlrechts, das – als eine Sonderform des Mehrheitswahlrechts – Wahlbündnisse und parteiübergreifende Kandidatenlisten stark begünstigte. Dies führte dazu, dass die realen politischen Kräfteverhältnisse in allen drei Wahlgängen zugunsten eines der beiden Lager 1

Zur Erinnerungsgeschichte des Spanischen Bürgerkrieges vgl. Walther L. Bernecker/ Sören Brinkmann, Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2010, Nettersheim 2011.

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Scheitern der Zweiten Demokratie in Spanien

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beträchtlich verzerrt wurden. Angesichts der Zersplitterung des Parteienspektrums von links bis rechts entschied somit nicht nur der Wählerwille, sondern auch der jeweilige Organisationsgrad der konkurrierenden Lager über Sieg und Niederlage. In den ersten Wahlen zu den verfassunggebenden Cortes vom Juni 1931 standen die treibenden Kräfte des Regimewechsels, die Sozialistische Partei sowie eine breite Allianz aus linksliberalen und gemäßigten republikanischen Parteien einer noch von dem plötzlichen Ende der Monarchie überraschten und unorganisierten Rechten gegenüber, die im Ergebnis nicht einmal 80 der 470 Mandate des spanischen Abgeordnetenhauses erobern konnte. Eine ähnliche Situation unter genau umgekehrten Vorzeichen ergab sich bei den Wahlen vom November 1933, als sich die mittlerweile zerstrittenen Regierungsparteien nicht auf ein gemeinsames Wahlbündnis einigen konnten. Im gegnerischen Lager hatte sich dagegen eine große katholisch-konservative Sammelpartei gebildet, die – begünstigt durch die Inkraftsetzung des Frauenwahlrechts2 – auf Anhieb zur stärksten Kraft im Parlament avancierte. Die wohl größten Verzerrungen durch das Wahlsystem offenbarten schließlich die Wahlen vom Februar 1936. In einem Klima äußerster sozialer Anspannung führte der denkbar knappe Stimmenunterschied von 46 zu 47 Prozent der im sogenannten Volksfrontbündnis organisierten Parteien zu einem ungleich größeren Vorsprung von 263 zu 156 Parlamentssitzen. Das republikanische Wahlrecht verstärkte allerdings nur eine Tendenz zur gesellschaftspolitischen Polarisierung, die ihre eigentliche Nahrung aus dem Streit um eine Reihe von sozialökonomischen und kulturellen Strukturreformen bezog, die mit der Proklamation der Republik plötzlich wie nie zuvor auf der politischen Tagesordnung standen. Unstrittig ist, dass in Spanien ein beträchtlicher, im europäischen Maßstab vielleicht sogar einzigartiger Reformbedarf herrschte, wenngleich die genauen Prioritäten und das jeweilige Ausmaß der Veränderungen selbst im Lager der Reformkräfte sehr umstritten blieben. Abgesehen von einer „wahrhaften“ Demokratisierung des politischen Systems ging es demnach, um nur die wichtigsten Bereiche zu nennen, um die Trennung von Staat und Kirche, den Ausbau und die Säkularisierung des Bildungswesens, eine Reform der Streitkräfte, eine Neuordnung der Beziehungen zwischen Zentralstaat und Regionen, sozialpolitische Reformen und eine Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen in Landwirtschaft und Industrie sowie, wohl an erster Stelle, um eine grundlegende Reform des Agrarsektors. Denn dieser wies nicht

2

Hatte das provisorische Wahlgesetz für die Wahlen von 1931 Frauen lediglich das passive Wahlrecht zugestanden, so sanktionierte die neue Verfassung auch das aktive Frauenwahlrecht. Umstritten war allerdings dessen sofortige Inkraftsetzung, da insbesondere die Linksrepublikaner aufgrund der katholischen Identität vieler bürgerlicher Frauen wohl nicht zu Unrecht ein deutliches Wachstum des katholisch-konservativen Votums befürchteten. Vgl. Roberto Villa García, The Limits of Democratization: Elections and Political Culture. In: Manuel Álvarez Tardío/Fernando del Rey Requillo (Hg.), The Spanish Second Republic. From Democratic Hopes to Civil War (1931–1936), Brighton 2012, S. 114–131, hier 120 f.

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nur eine niedrige Produktivität auf und war somit für die vergleichsweise hohen Lebenshaltungskosten verantwortlich, sondern stellte auch durch die extrem ungleiche Landverteilung insbesondere in der Südhälfte der Iberischen Halbinsel den mit Abstand größten sozialen Brennpunkt dar. Zu Beginn der 1930er-Jahre war Spanien trotz einiger industrieller Entwicklungspole in der geographischen Peripherie – der vor allem von Textil- und Lebensmittelindustrien geprägten Region Katalonien, den Bergbaugebieten Asturiens und dem Baskenland mit seinen Stahlhütten und Werften – noch immer ein wesentlich von der Landwirtschaft geprägtes Land. So lag der Beschäftigungsanteil im Primärsektor im Jahr 1930 auf nationaler Ebene noch bei rund 45 Prozent. Die Agrarstruktur wies dabei dramatische Ungleichgewichte auf. Während in manchen Regionen des Nordens, insbesondere Galicien, die Realteilung den bäuerlichen Besitz schon seit dem 19. Jahrhundert in wirtschaftlich kaum mehr überlebensfähige Einheiten fragmentiert hatte, kämpfte vor allem in den Latifundiengebieten des südlichen Kastiliens, Andalusiens und der Ex­ tremadura ein gewaltiges Heer von bis zu zwei Millionen landlosen Tagelöhnern oftmals ums nackte Überleben. 1930 nahmen die Latifundien mit Flächengrößen von über 250 Hektar, die zugleich nur 1 Prozent aller Betriebe ausmachten, zwischen 40 und 60 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche ein, während 90 bis 98 Prozent aller Betriebe mit Flächengrößen unter 10 Hektar als Minifundien galten. Sie verfügten landesweit nicht einmal über 25 Prozent des Bodens.3 Dort wo die riesigen Landgüter dominierten, kontrollierten die Gutsbesitzer das politische und soziale Leben. Der Arbeitskräftebedarf beschränkte sich in der Regel auf Aussaat- und Erntezeiten und die Löhne waren zumeist so gering, dass sie kaum ausreichten, um das Überleben der Familien während der restlichen Monate zu gewährleisten. Krisenverschärfend wirkten seit Beginn der 1930er-Jahre außerdem konjunkturelle Faktoren wie etwa der durch die Weltwirtschaftskrise bedingte Exportrückgang von wichtigen Agrarprodukten wie Oliven, Wein und Orangen und die gleichzeitige verstärkte Rückkehr von in Übersee freigesetzten Arbeitsmigranten. Heikel war die soziale Misere auf dem Land aber auch deshalb, weil diese längst politischen Ausdruck in Gestalt der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) gefunden hatte. Sie nämlich lehnte den Reformismus der zeitgenössischen Sozialdemokratie kategorisch ab und strebte stattdessen im Sinne eines „libertären Kommunismus“ die revolutionäre Umwälzung der überkommenen Herrschafts- und Besitzverhältnisse an. Dabei konnte sie in ihren beiden regionalen Hochburgen Andalusien und Katalonien zu Beginn der 1930er-Jahre auf eine Anhängerschaft von mehr als einer halben Million zählen.4 3

4

Vgl. Gabriele Ranzato, El eclipse de la democracia. La Guerra Civil española y sus orígenes, 1931–1939, Madrid 2006, S. 148. Zur Agrarfrage im Spanien der 1930er-Jahre vgl. außerdem die klassische Studie von Edward Malefakis, Reforma agraria y revolución campesina en la España del siglo XX, Barcelona 1971. Eine Besonderheit der historischen Arbeiterbewegung in Spanien besteht in ihrer ideologisch-geografischen Spaltung: Während Madrid bzw. das kastilische Zentrum sowie

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Scheitern der Zweiten Demokratie in Spanien

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Struktureller Reformbedarf herrschte – gemessen an mitteleuropäischen Standards – auch in vielen anderen Bereichen: Vor allem in Katalonien, in geringerem Maße aber auch im Baskenland sowie in Galicien, hatte das bereits im 19. Jahrhundert begonnene regionalistische Erwachen längst machtvolle politische Massenbewegungen generiert, die dem traditionellen Madrider Zentralismus die Forderung nach Autonomie und politischer Dezentralisierung gegenüberstellten. Die spanischen Streitkräfte litten nicht nur unter technischer Rückständigkeit und einem überdimensionierten Offizierskorps, sondern hatten sich durch Kolonialkriege und Diktatur zu einem politischen Faktor entwickelt, der die zivile Hegemonie bedrohte. Die Industriearbeiter in Spaniens Großstädten kämpften noch immer um vielerorts längst selbstverständliche soziale Rechte wie die Durchsetzung des Acht-Stunden-Tages sowie Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung; und schließlich ist die landesweite Analphabetenrate zu nennen, die um 1930 bei über 32 Prozent lag und somit einen im westeuropäischen Vergleich geradezu erschütternden Bildungsrückstand offenbarte.

II.

Republikanische Reformpolitiken: zwischen Maximalismus und Empörung

In der historiografischen Deutung des, in der Nahsicht bisweilen labyrinthisch anmutenden, politischen Prozesses der folgenden Jahre mit seiner immensen Ereignisfülle, den vielfältigen Fort- und Rückschritten, Krisen und Spannungsmomenten haben sich zwei in entscheidenden Punkten divergierende Narrative kristallisiert. Dabei handelt es sich einerseits um eine, bereits seit den 1960erJahren unter dem Einfluss der Modernisierungstheorie entwickelte und zuletzt kulturgeschichtlich erweiterte Lesart, die die Geschichte der Zweiten Repu­blik – in Anlehnung an den klassischen Topos der „zwei Spanien“ – wesentlich als Ringen zwischen progressiv-modernen, in der Arbeiterschaft und den urbanen Mittelschichten verwurzelten Kräften einerseits und jenem traditionellen „Machtblock“ aus Kirche, Militär, Agraroligarchie und Großbürgertum (Tuñón de Lara) andererseits deutet. Ihre gegenseitige politische Blockade sei letztlich erst durch den Bürgerkrieg gewaltsam aufgelöst worden.5 Dagegen steht ein

5

die Industrie- und Bergbaugebiete an der Nordküste vor allem marxistisch-sozialistisch geprägt waren, hatte sich unter den Arbeitern in den Latifundiengebieten Andalusiens sowie in der Industrie- und Handelsmetropole Barcelona in erster Linie der Anarchosyndikalismus durchgesetzt. Zu den historischen Hintergründen vgl. etwa Walther L. Bernecker, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 52–61. Vgl. etwa die klassischen Darstellungen von Gabriel Jackson, La República Española y la Guerra Civil, Barcelona 1976; Manuel Tuñón de Lara, La España del siglo XX. De la Segunda República a la guerra civil (1931–1936), Barcelona 1981; Paul Preston, The Coming of the Spanish Civil War: Reform, Reaction and Revolution in the Second Spanish Republic 1931–1936, London 1978; sowie in jüngerer Zeit Julián Casanova, República y Guerra Civil, Barcelona 2007; Helen Graham, Der Spanische Bürgerkrieg, Stuttgart 2008; oder auch Bernecker, Geschichte Spaniens.

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zweites, besonders in jüngerer Zeit durch viele Detailstudien untermauertes Deutungsangebot, das die Geschichte der Republik vor allem als Krisengeschichte liberaler Demokratie im Kontext der europäischen Zwischenkriegszeit erzählt. Das Augenmerk richtet sich dabei stärker auf die Bedingungen und Hindernisse für die gesellschaftliche Konsolidierung des republikanischen Regierungssystems. Dabei fällt der Blick neben dem militanten Widerstand der „alten“ Mächte auch auf politische Defizite in Verfassung und Wahlrecht, vor allem aber auf den Maximalismus der Reformkräfte sowie den allseits beobachtbaren Mangel an Respekt vor demokratischen Verfahrensweisen.6 Ohne einer der beiden Deutungsvarianten von vornherein den Vorzug geben zu müssen, ist festzustellen, dass die Reformregierungen der ersten republikanischen Legislaturperiode zwar einerseits ein für die jüngere spanische Geschichte geradezu beispielloses Modernisierungsprogramm auf den Weg brachten, zugleich aber in wachsendem Maße mit dem Dilemma einer doppelten Gegnerschaft konfrontiert waren. Denn während es in der auch ökonomisch schwierigen Situation der frühen 1930er-Jahre letztlich nicht gelingen sollte, die unterprivilegierten Schichten in Stadt und Land durch soziale Reformen und eine spürbare Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse für die Sache der Republik zu gewinnen, erhoben sich zugleich aus entgegengesetzter Richtung vielstimmige Proteste. Diese gingen allerdings nicht allein von den traditionellen Eliten aus, sondern wurden in wachsendem Maße auch von Teilen der für die Konsolidierung der Republik unverzichtbaren Mittelschichten in Stadt und Land getragen. Während die Sozialistische Partei, die mit 115 Abgeordneten übrigens die größte Fraktion in den verfassunggebenden Cortes darstellte und mit ihrer Gewerkschaft Unión General de Trabajadores (UGT) außerdem über eine gut organisierte Massenbasis verfügte, vor allem auf sozialökonomische Reformen abzielte, ging der stärkste Reformimpuls von den Linksrepublikanern aus. Sie waren im Partido Radical Socialista (55) und der Acción Republicana (26) organisiert. Diese beiden auf nationaler Ebene vergleichsweise schwach institutionalisierten Gruppierungen fanden ihre soziale Basis vor

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Vgl. Stanley Payne, Spain’s First Democracy. The Second Republic, 1931–1936, Madison 1993; Ranzato, Eclipse de la democracia, Nigel Townson, The crisis of democracy in Spain. Centrist politics under the Second Republic, 1931–1936, Brighton 2000; ders., The Second Republic, 1931–1936. In: José Álvarez Junco/Adrian Shubert (Hg.), Spanish History Since 1808, London 2000, S. 135–212; Manuel Álvarez Tardío/Roberto Villa García, El precio de la exclusión. La política durante la Segunda República, Madrid 2010; sowie die Beiträge der Sammelbände von Fernando del Rey Requillo (Hg.), Palabras como puños. La intransigencia política en la Segunda República española, Madrid 2011; und von Manuel Álvarez Tardío/Fernando del Rey Requillo (Hg.), The Spanish Second Republic Revisited. From Democratic Hopes to Civil War (1931–1936), Brighton 2012. Für eine frühe Version dieser Deutung vgl. außerdem Juan José Linz, From Great Hopes to Civil War. The Breakdown of Democracy in Spain. In: ders./Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes, Baltimore 1978, S. 142–215.

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allem im urbanen Bildungsbürgertum (Lehrer, Professoren, Freiberufler etc.) und zielten – unter der energischen Führung des Rechtsanwalts und Publizisten Manuel Azaña (1880–1940) – darauf ab, das Land nach dem Idealbild der französischen Dritten Republik gleichsam über Nacht mit durchgreifenden Strukturreformen in die westeuropäische Moderne zu katapultieren. Ein deutlich geringerer Reformeifer herrschte dagegen im politischen Zentrum, das vor allem vom Partido Republicano Radical (89) unter der Führung des Politikveteranen Alejandro Lerroux (1864–1949) sowie von der, von den ehemals monarchistischen Politikern Niceto Alcalá Zamora (1877–1949) und Miguel Maura (1887–1971) gegründeten Derecha Liberal Republicana (27) – der einzigen katholischen Partei im pro-republikanischen Spektrum – besetzt wurde. Besonders die Radikalen, die aufgrund ihres guten Abschneidens in den ersten Parlamentswahlen rasch zum Sprachrohr von Unternehmerschaft und Besitzbürgertum avancierten, betrachteten die politische Konsolidierung der Republik als Kernaufgabe und sahen darüber hinaus nur wenig Notwendigkeit für weitergehende Strukturreformen. Trotz der anfänglichen Bildung einer breiten all-republikanischen Koalitions­ regierung unter der Führung des Katholiken Alcalá Zamora kristallisierte sich als politikbestimmend rasch eine Zweckallianz aus Sozialisten und Linksrepublikanern, die bei der Durchsetzung ihres Maximalprogramms nur wenige Rücksichten nahm. Offenkundig wurden die innerrepublikanischen Differenzen bereits im Verlauf der Verfassungsdebatte zwischen Juli und Dezember 1931. Zum größten Streitpunkt avancierte die Neuregelung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Die religiöse Landschaft Spaniens zu Anfang der 1930er-Jahre war vielschichtig. Die katholische Kirche verfügte trotz der militant kirchenfeindlichen Einstellungen weiter Teile der organisierten Arbeiterschaft über beträchtlichen sozialen Einfluss und Rückhalt. Abgesehen von der amtskirchlichen Hierarchie mit ihren rund 34 000 Priestern und einem starken katholischen Milieu, das große Teile der bürgerlichen Mittelschichten vor allem in den ländlichen Gebieten Nordspaniens umfasste, existierten landesweit mehr als 5 000 Klöster mit rund 8 300 Mönchen und mehr als 35 000 Nonnen. Sie unterhielten mildtätige Einrichtungen und lebten von landwirtschaftlichen Aktivitäten sowie von dem Unterhalt zahlloser Bildungseinrichtungen. Zu Beginn der 1930er-Jahre wurden schätzungsweise bis zu 400 000 Mädchen und Jungen in katholischen Grund- und Mittelschulen unterrichtet, während rund 1,5 Millionen Kinder staatliche Schulen besuchten und eine weitere Million überhaupt keinen Zugang zu Schulbildung hatte. Die Bildungsfrage und die Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus war ein Kern­ anliegen der bildungsbürgerlichen Linksrepublikaner. Sie entdeckten hierin zugleich den entscheidenden Ansatzpunkt, um den öffentlichen Einfluss der katholischen Kirche auf breiter Front zurückzudrängen. Denn die spanische Kirche galt nicht nur in den Reihen der Arbeiterschaft, sondern auch in den progressiven Teilen des urbanen Bürgertums als Symbol der überwundenen Monarchie und Hort des Antiliberalismus und somit als inkompatibel mit dem

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Wertesystem und der staatsbürgerlichen Kultur, die die neue Republik definieren sollten.7 Entsprechend radikal waren daher auch die letztlich verabschiedeten Verfassungsbestimmungen, die alle Hoffnungen des katholischen Lagers zerstörten, für die gerade in Spanien so traditionsreiche Institution eine wie auch immer geartete Sonderstellung innerhalb des säkularen Staates zu bewahren. Abgesehen von der strikten Trennung zwischen Staat und Kirche sowie der Einführung von Zivilehe und Scheidungsrecht verfügte der heftig umstrittene Artikel 26 ein Ende der bisherigen staatlichen Alimentierung des weltlichen Klerus binnen zwei Jahren und zielte außerdem darauf ab, allen Ordensgemeinschaften de facto die Existenzgrundlage zu entziehen, indem er diesen nicht nur die Tätigkeit in Handel und Gewerbe, sondern auch die Betätigung im Bildungswesen grundsätzlich untersagte. Im Januar 1932 verfügte die Regierung sodann die vollständige Auflösung des einflussreichen Jesuitenordens, dessen Besitztümer konfisziert wurden. Wenig später folgte die Säkularisierung aller Friedhöfe, die mit der Möglichkeit einherging, vor Ort religiöse Trauerprozessionen in der Öffentlichkeit zu verbieten. Spürbare Einschnitte in das vor allem für den Unterhalt der Priesterschaft benötigte Kirchenbudget, das neue Ordensgesetz vom Mai 1933, das nun ernst machte mit der Schließung aller kirchlichen Bildungseinrichtungen, sowie weitere Einschränkungen auf kommunaler Ebene wie etwa das mancherorts durchgesetzte Verbot des Kirchläutens unterstrichen den offen antiklerikalen Charakter dieser Gesetzgebung, die auch im internationalen Vergleich das Maß eines liberalen Laizismus deutlich überstieg. Die politische Wirkung dieses Kulturkampfes war verheerend und kontraproduktiv, insofern das gesamte katholische Milieu bis hin zum Heiligen Stuhl in Rom in Aufruhr versetzt wurde, die Fronten sich weiter verhärteten und selbst die wenigen kompromissbereiten Katholiken in die Opposition gedrängt wurden. Prominente Beispiele hierfür waren Miguel Maura und Niceto Alcalá Zamora, die als einzige Vertreter katholischer Interessen bereits im Dezember 1931 aus Protest ihre Kabinettsposten räumten, wenngleich dieser Verlust wenig später in gewisser Weise durch die Wahl von Alcalá Zamora zum Präsidenten der Republik kompensiert wurde. Dessen ungeachtet avancierte die Forderung nach einer Verfassungsrevision mit Blick auf die religiöse Frage in den folgenden Jahren zur einigenden Formel des katholisch-konservativen Lagers. Kontraproduktiv war die Attacke auf die Kirche aber auch mit Blick auf die Säkularisierung des Bildungswesens. Nach amtlichen Schätzungen fehlten zu Beginn der 1930er-Jahre landesweit mehr als 27 000 Schulen mit einer entsprechenden Anzahl an Lehrkräften. Die Schließung kirchlicher Bildungseinrichtungen verschärfte das Problem zusätzlich. Und obgleich es der Regierung gelang,

7

Zur religiösen Landschaft Spaniens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vgl. Frances Lannon, Privilegio, persecución y profecía. La Iglesia Católica en España 1875–1975, Madrid 1990, S. 81–142.

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trotz klammer Kassen mit einer beachtlichen Bildungsoffensive in den Jahren 1932 und 1933 beinahe 10 000 neue Schulen zu eröffnen, blieb dennoch ein beträchtliches Defizit, das über Jahre hinaus den faktischen Fortbestand vieler kirchlicher Institutionen ermöglichte.8 Die Durchsetzung radikaler Positionen in der Verfassungsdebatte zementierte die sozialistisch-linksrepublikanische Allianz unter der Führung des neuen Regierungschefs Azaña und führte noch im Dezember 1931 zu einer weiteren Aufsplitterung des republikanischen Gründungskonsenses, insofern nun auch die Radikalen als wichtigste Partei des politischen Zentrums die Regierung verließen. Die Hoffnung Azañas aber, die Republik allein mit Unterstützung der Sozialisten durch besonders tiefe Eingriffe in die überkommenen sozialökonomischen Strukturen zu konsolidieren, sollte sich auch in den kommenden Jahren nicht erfüllen, und dies, obgleich viele Teile des Reformwerkes auch aus der Rückschau durchaus angemessen und zeitgemäß erscheinen.9 Dies galt für die politische Dezentralisierung des spanischen Staates ebenso wie für die von Azaña im Amt des Kriegsministers noch vor der Verfassungsdebatte in Gang gesetzte Armeereform. Letztere erfüllte zentrale Ziele, insofern das völlig überdimensionierte Offizierskorps durch eine großzügige Ruhestandsregelung beinahe halbiert, der Militärdienst verkürzt, die Anzahl der Armeedivisionen deutlich reduziert, erste Schritte in Richtung technischer Modernisierung unternommen und außerdem eine klare Unterordnung der Streitkräfte unter die zivilen Autoritäten erreicht wurden. Dessen ungeachtet produzierten die Eingriffe bei vielen verbliebenen Offizieren beträchtliches Misstrauen, das sich schon bald in Verschwörungsplänen sowie schließlich in dem misslungenen Staatsstreich von General José Sanjurjo (1872–1936) vom August 1932 niederschlug. Und als kurz darauf das mit den katalanischen Nationalisten ausgehandelte Autonomiestatut in Kraft trat, das der Region nicht nur eine eigene Regierung, die Generalitat, ein eigenes Parlament sowie umfangreiche Selbstverwaltungsrechte konzedierte, war zweifellos ein bereits lange schwelender Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie entschärft. Der Preis war aber eine massive antikatalanische Kampagne vonseiten der extremen Rechten und des Militärs, die die „Einheit des Vaterlands“ gefährdet sahen.10  8 Zur republikanischen Religionspolitik und ihren Folgen vgl. Lannon, Privilegio, persecución y profecía, S. 213–234; sowie auch Payne, Spain’s First Democracy, S. 81–87; und Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 126–137.  9 Zur Person von Manuel Azaña, der als wichtigste Führungsfigur der Reformkräfte und späterer Präsident geradezu zur Verkörperung der Zweiten Republik und ihres tragischen Schicksals avancieren sollte, vgl. die exzellente Biografie von Santos Juliá, Vida y tiempo de Manuel Azaña (1880–1940), Madrid 2009. 10 Ähnliche Forderungen aus dem Baskenland sollten übrigens aufgrund des innerbaskischen Streits um die Zugehörigkeit Navarras sowie politischer Differenzen zwischen den katholisch-konservativen baskischen Nationalisten und der progressiven Regierung in Madrid zunächst unerfüllt bleiben. Zur baskischen Frage in der Zweiten Republik vgl. José Luis de la Granja Sainz, El problema vasco entre los Pactos de San Sebastián y Santoña (1930–1937). In: Ángeles Egido León (Hg.), Memoria de la Segunda República. Mito y Realidad, Madrid 2006, S. 307–331.

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Noch weitaus größere Gegenwehr provozierten indessen die Reformen im Arbeits- und Sozialbereich, die besonders den Sozialisten am Herzen lagen. Verantwortlich hierfür war der sozialistische Arbeitsminister Francisco Largo Caballero (1869–1946). Er hatte schon vor der Verfassungsdebatte begonnen, mit einer Reihe von Dekreten die Arbeitsbeziehungen in Stadt und Land nach zeitgemäß sozialdemokratischen Maßstäben grundlegend neu zu ordnen. Zu den wichtigsten Maßnahmen zählten die Einführung des Acht-Stunden-Tages, eine umfassende Arbeitsgesetzgebung, klare Richtlinien für Kollektivverträge sowie die Einsetzung von gemischt besetzten Schiedsgerichten (jurados mixtos) zur Beilegung von Arbeitskonflikten. Mit Blick auf den ländlichen Arbeitsmarkt verbot ein weiteres Gesetz außerdem die zuvor zum Zwecke des Lohndumpings übliche Anwerbung von Arbeitskräften aus anderen Provinzen, solange das lokale Arbeitsangebot nicht ausgeschöpft war (ley de términos municipales). Schließlich wurde das bereits bestehende, jedoch prekär finanzierte nationale Sozialversicherungssystem auch auf Landarbeiter ausgeweitet und dessen Leistungen trotz angespannter Haushaltslage zumindest graduell verbessert. Ungeachtet mancher Abstriche bezüglich des tatsächlichen Vollzugs vor Ort, stimmen selbst kritische Autoren darin überein, dass mit diesem Reformwerk in kürzester Zeit beachtliche, in historischer Perspektive gar einzigartige soziale Fortschritte für die große Masse der Lohnabhängigen erreicht wurden. Besonders spürbar waren die Effekte in der Landwirtschaft, wo es den Sozialisten außerdem gelungen war, sehr zum Unmut der Arbeitgeber, eine regelrechte Hegemonie über die Kommunalverwaltungen und den lokalen Arbeitsmarkt aufzubauen. Die neue Attraktivität der Partei auf dem Land spiegelte sich nicht zuletzt in dem sprunghaften Wachstum der sozialistischen Landarbeitergewerkschaft Federación Nacional de Trabajadores de la Tierra (FNTT) wider. Sie wuchs in kürzester Zeit von nahezu null auf mehr als 400 000 Anhänger an und avancierte damit zu einer ernsthaften Konkurrenz für die bislang in den Latifundiengebieten vorherrschende CNT.11 Wenn einem Reformprojekt die Schlüsselrolle für das Schicksal der Republik zugeschrieben werden kann, so war dies zweifellos die Agrarreform, von der man sich die Lösung für die soziale Misere auf dem Land erhoffte. Da dies jedoch in jedem Fall substanzielle Eingriffe in die überkommene Eigentumsstruktur bedeutete, provozierte das Vorhaben nicht nur mehrere konkurrierende Entwürfe unterschiedlichster Provenienz, sondern auch die mit Abstand langwierigsten Debatten in den spanischen Cortes. Im September 1932, kurz nach dem gescheiterten Putschversuch, wurde schließlich ein Gesetz verabschiedet, dessen Schwächen aber nicht etwa in der vermeintlichen Radikalität,

11 Zu den sozialistischen Arbeitsmarktreformen vgl. José Manuel Macarro, The Socialists and Revolution. In: Manuel Álvarez Tardío/Fernando del Rey Requillo (Hg.), The Spanish Second Republic. From Democratic Hopes to Civil War (1931–1936), Brighton 2012, S. 40–57, hier 41; sowie auch Payne, Spain’s First Democracy, S. 106–111.

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sondern vor allem in seiner technischen Komplexität und schwierigen Umsetzbarkeit lagen. So respektierte die Reform ausdrücklich das Privateigentum und sah – mit Ausnahme der zumeist immensen, aber zahlenmäßig sehr geringen Landgüter des spanischen Hochadels (grandes) – durchaus angemessene Kompensationszahlungen für enteignete Flächen vor. In politischer Hinsicht höchst unglücklich war allerdings die Tatsache, dass das Gesetz – anstelle einer Beschränkung auf die relativ geringe Anzahl an Latifundien – auf Druck der Sozialisten letztlich auch mittlere und kleinere Landgüter nach einem komplizierten Proporzsystem in die Umverteilung mit einbeziehen wollte. Anstelle von nur 20 000 Großgrundbesitzern in der Südhälfte Spaniens sahen sich deshalb letztlich bis zu 80 000 Grundeigentümer im ganzen Land von potenziellen Enteignungen bedroht. Ungeachtet der unnötigen Vervielfachung ihrer Gegnerschaft versagte die Reform aber gerade mit Blick auf ihr eigentliches Ziel, möglichst rasch den drängenden Landhunger der Besitzlosen zu befriedigen. Eine schnelle Umsetzung der neuen Normen behinderte jedenfalls nicht nur die völlig unzureichende Finanzausstattung des verantwortlichen Agrarreforminstituts mit Blick auf Kompensationszahlungen, sondern auch die technische Notwendigkeit, zunächst alle betroffenen Landgüter aufwendig zu inventarisieren, um so die zu enteignenden Flächen zu bestimmen. Und so sollten anstelle der ursprünglich geplanten 60 000 Begünstigten pro Jahr bis Ende 1933 lediglich 6 000 Familien auf enteignetem Land neu angesiedelt werden.12 Die Regierungskoalition verlor unterdessen nicht nur im Parlament weiter an Rückhalt, sondern sah sich außerdem mit enttäuschten Reformhoffnungen, wachsender Arbeitslosigkeit und einer dramatisch ansteigenden sozialen Konfliktlage in Stadt und Land konfrontiert. So hatte sich bereits Anfang 1933 die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT – gleichsam als revolutionäre Alternative und Hauptkonkurrentin der regierenden Sozialisten – mit einer Welle teilweise blutiger Aufstandsversuche in verschiedenen Landesteilen zurückgemeldet, während das Ausmaß der Arbeitskonflikte in Industrie und Landwirtschaft im Jahresverlauf zu neuen Rekorden anschwoll. So wuchs die Zahl der Streiks von 681 im Jahr 1932 auf 1 127 im Jahr 1933 und die der verlorenen Arbeitstage von 3,5 auf sagenhafte 14,5 Millionen.13

12 Zur Agrarreform vgl. Payne, Spain’s First Democracy, S. 112–121; Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 150–154; sowie die klassischen Arbeiten von Malefakis, Reforma agraria, S. 243–277; und Jacques Maurice, La reforma agraria en España en el siglo XX (1900–1936), Madrid 1978, S. 26–56. 13 Vgl. Payne, Spain’s First Democracy, S. 141.

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III. Die Rückkehr der Rechten und die Dynamik der Radikalisierung (1933–1935) Der Bruch der Regierungskoalition im September 1933 sowie das Scheitern eines gemäßigten Kabinetts unter der Führung des Radikalen Lerroux zwangen Präsident Alcalá Zamora schließlich zur Auflösung des Parlaments sowie zur Ausschreibung von Neuwahlen. Sie fanden am 19. November 1933 statt. Für die Linke, die sich wie bereits erwähnt nicht auf gemeinsame Listen einigen konnte und diesmal zudem unter der Wahlenthaltung der Anarchosyndikalisten litt,14 war das Ergebnis gleich in mehrerlei Hinsicht ein Schock. Während die Sozialisten auf 59 Mandate absackten, verschwanden die linksrepublikanischen Parteien mit einstelligen Fraktionsstärken beinahe ganz von der politischen Bildfläche. Zugleich konnten die Radikalen ihre Position auf 105 Sitze ausbauen. Der eigentliche Gewinner der Wahlen aber war die katholische Rechte. In Gestalt der Confederación Española de Derechas Autónomas (CEDA), einer von dem Juraprofessor José María Gil-Robles (1898–1980) gegründeten Sammelpartei mit angeblich mehr als 700 000 Mitgliedern, konnte sie aus dem Stand 115 Sitze erringen und damit nicht nur zur ersten katholischen Massenpartei der spanischen Geschichte, sondern auch zu einem unverzichtbaren Faktor für die künftige Regierungsbildung avancieren. Aus Sicht der Linken, aber auch mancher moderater Politiker war der Sieg der CEDA, wenn nicht gar gleichbedeutend mit dem Aufstieg des „Faschismus“, so doch wenigstens eine eminente Bedrohung für die Reformpolitiken und die republikanische Demokratie an sich, was mancherorts extreme, aus demokratischer Perspektive höchst fragwürdige Reaktio­nen provozierte. So unternahmen etwa der ehemalige Regierungschef Azaña und zwei weitere Linksrepublikaner den mehrfachen Versuch, den Chef der Übergangsregierung, Diego Martínez Barrio (1883–1962), dazu zu bewegen, noch vor Einberufung des neuen Parlaments eine Linksregierung zu bilden, um – in offenem Widerspruch zur Verfassung – Neuwahlen vorzubereiten.15 Die Frage, inwieweit die katholische Rechte tatsächlich eine Gefahr für die Republik darstellte, wird bis heute kontrovers diskutiert. Ursache hierfür ist vor allem ihr aggressives Auftreten sowie ihre ambivalente Programmatik. Ein klares Bekenntnis zur Republik lehnte die Parteiführung um Gil-Robles stets 14 Trotz der prinzipiell republikfeindlichen Haltung der CNT hatten 1931 wohl viele ihrer Anhänger für linke Parteien gestimmt. Mit Blick auf die Wahlen von 1933 aber hatte die CNT-Führung dagegen ausdrücklich zur Wahlenthaltung aufgerufen. 15 Payne, Ranzato u. a. etwa werfen dem Spitzenpersonal der republikanischen Linken gerade angesichts der Intransigenz des rechten Lagers vor, durch die Missachtung der letztlich von ihnen selbst implementierten demokratischen Spielregeln der republikanischen Ordnung schweren Schaden zugefügt zu haben. Vgl. hierzu Payne, Spain’s First Democracy, S. 181 f.; sowie insbesondere Gabriele Ranzato, The Republican Left and the Defence of Democracy, 1934–1936. In: Manuel Álvarez Tardío/Fernando del Rey Requillo (Hg.), The Spanish Second Republic. From Democratic Hopes to Civil War (1931–1936), Brighton 2012, S. 80–96.

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mit dem Hinweis ab, dass nur der „Inhalt“ und nicht die „Form“ zähle (Akzidentalismus), während die Parteijugend mit Uniformierung und einem leicht modifizierten römischen Gruß die faschistischen Vorbilder in Italien und Deutschland zu imitieren suchte. Als originär faschistisch allerdings können im Spanien der 1930er-Jahre lediglich die „Blauhemden“ der im Oktober 1933 von José Antonio Primo de Rivera (1903–1936), Sohn des Militärdiktators Miguel Primo de Rivera, gegründeten Partei Falange Española („spanische Phalanx“) gelten, die im neuen Parlament allerdings lediglich über ein einziges Mandat verfügten.16 Die CEDA hingegen repräsentierte eine breite Vielfalt an ideologischen Strömungen. Sie reichte von christdemokratischen bis hin zu monarchistischen und traditionalistischen Vorstellungen. Ihr größter gemeinsamer Nenner stellte dabei die Verteidigung katholischer und agrarischer Interessen dar. In programmatischen Reden führender Vertreter wurden allerdings auch offene Sympathien mit autoritären Vorbildern wie dem entstehenden Estado Novo im Nachbarland Portugal oder dem österreichischen Ständestaat unter Engelbert Dollfuß (1892–1934) bekundet. Deshalb ist der Verdacht, die CEDA wolle mit legalen Mitteln die Macht erobern, um die Republik gleichsam von innen zu zerstören, nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Gerade angesichts ihrer programmatischen Unbestimmtheit und sozialen Heterogenität erscheint es allerdings mindestens ebenso zulässig, die CEDA – übrigens der erklärten politischen Strategie des Radikalen-Führers Lerroux entsprechend – als Chance zu betrachten, um das katholische Lager durch politische Einbindung mit der Republik zu versöhnen.17 Wie auch immer aber das Urteil ausfallen mag, Tatsache bleibt, dass der von den Wahlergebnissen ausgelöste Alarmismus der Linken, die den unmittelbaren Untergang der Republik an die Wand malte, maßlos überzogen erscheint. Denn einerseits verfügte die CEDA längst nicht über eine eigenständige Regierungsmehrheit, andererseits betraute Staatspräsident Alcalá Zamora aufgrund der zweifelhaften Republiktreue der Partei eben nicht Gil-Robles, sondern den Führer der zweitstärksten Parlamentsfraktion, Alejandro Lerroux, mit der Regierungsbildung. Und entgegen der landläufigen Rede vom „schwarzen Biennium“ (bienio negro), das mit den Wahlen von 1933 begann, ist festzuhalten, dass die von der katholischen Rechten parlamentarisch unterstützte Minderheitsregierung der Radikalen von sich aus keinerlei Ambitionen entwickelte, die republi­ kanische Verfassung anzutasten oder die befürchtete Frontalattacke auf die 16 Zur Geschichte des spanischen Faschismus vgl. etwa die klassische Arbeit von Stanley G. Payne, Falange. Historia del fascismo español, Madrid 1986. 17 Besonders kritisch geht der britische Historiker Paul Preston mit der CEDA ins Gericht. Eine wohlwollende Sicht bezüglich der republikanischen Integrationsfähigkeit der katholischen Rechten vertreten dagegen Payne, Ranzato, Álvarez Tardío und auch Townson. Vgl. Paul Preston, Coming of the Spanish Civil War, S. 180–210; sowie Payne, Spain’s First Democracy, S. 166–171; Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 168–170; Manuel Álvarez Tardío, The CEDA: Threat or Opportunity? In: ders./Fernando del Rey Requillo (Hg.), The Spanish Second Republic. From Democratic Hopes to Civil War (1931–1936), Brighton 2012, S. 58–79 und Townson, Second Republic, S. 227–232.

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Reformgesetzgebung der ersten Legislaturperiode zu starten. Stattdessen begnügte sich die Regierung damit, das Verbot religiöser Schulen zu missachten, das ohnehin umstrittene Gesetz gegen das ländliche Lohndumping abzuschaffen und die übrige Sozialgesetzgebung Korrekturen zu unterziehen. Löhne und Arbeitsbedingungen verschlechterten sich dadurch zumindest in den Städten höchstens geringfügig, und die von der CEDA erbittert bekämpfte Agrarreform erfuhr – gemessen an der Anzahl der neu angesiedelten Familien – bis Oktober 1934 sogar eine spürbare Beschleunigung.18 Zutreffend ist allerdings auch, dass die neuen Machtverhältnisse gerade auf dem Land den politischen Einfluss der Reformkräfte in den Kommunen rasch erodieren ließen und viele Grundbesitzer so zu systematischer Obstruktion der geltenden Arbeitsgesetze ermunterten, während den arbeitslosen Landarbeitern ein zynisches „¡Comed República!“ („Esst Republik!“) entgegen geschleudert wurde. Das bereits seit Sommer 1933 gärende Gemisch aus enttäuschten Reformhoffnungen und politischer Radikalisierung aufseiten der ländlichen Unterschichten erhielt so zusätzliche Nahrung. Mittelfristig machten sich aber auch im Bereich der industriellen Arbeitsbeziehungen Veränderungen bemerkbar, so etwa mit Blick auf die Urteile der Schiedsgerichte, die immer seltener zugunsten der Arbeitnehmer ausfielen, während die Anzahl der Arbeitslosen im April 1934 mit mehr als 700 000 einen neuen Höchststand erreichte. Von allen sozialistischen Parteiführern war es der ehemalige Arbeitsminister Largo Caballero – ein Sozialist mit makelloser reformistischer Karriere19 –, der als Erster die wachsende Unzufriedenheit aufgriff und bereits im Sommer 1933 vor der sozialistischen Parteijugend die realpolitische Option einer revolutionären Machtergreifung ins Spiel gebracht hatte. Im November 1933 veröffentlichten Partei- und Gewerkschaftsspitze als Reaktion auf das Wahlergebnis sodann eine gemeinsame Erklärung, in der man für den Fall, dass „reaktionäre Elemente“ die Macht übernähmen, mit einem landesweiten Aufstand drohte. Im Januar 1934 verabschiedete der radikale Parteiflügel um Largo Caballero ein revolutionäres Zehn-Punkte-Programm und übernahm die Kontrolle über die Gewerkschaftsführung, während der langjährige Parteivorsitzende Julián Besteiro (1870–1940) als größter Kritiker des Kurswechsels ins politische Abseits geriet. Und Anfang Februar schließlich entstand unter der persönlichen Führung Largo Caballeros, der sich von seinen Anhängern bereits als „spanischer Lenin“

18 Zum „Mythos“ des „schwarzen“ Bienniums vgl. Nigel Townson, A Third Way? Centrist Politics under the Republic. In: Manuel Álvarez Tardío/Fernando del Rey Requillo (Hg.), The Spanish Second Republic. From Democratic Hopes to Civil War (1931– 1936), Brighton 2012, S. 105–110. 19 Noch in den 1920er-Jahren hatte Largo Caballero auf Einladung von General Primo de Rivera als Arbeitervertreter im Staatsrat mit der Diktatur kollaboriert. Dies hatte innerhalb der Sozialistischen Partei einen schwerwiegenden Richtungsstreit ausgelöst. Vgl. hierzu Paul Heywood, Marxism and the Failure of Organized Socialism in Spain, 1879–1936, Cambridge 1990, S. 85–109.

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feiern ließ, ein „Revolutionskomitee“, das damit begann, geheime Waffenlager für einen gewaltsamen Umsturz anzulegen.20 Abgesehen von den revolutionären Drohgebärden der Sozialisten, die nun Woche für Woche besonders von den Führern der Parteijugend und der sozialistischen Presse weiter bekräftigt wurden, sah sich die Regierung Lerroux auch mit anderen schwerwiegenden Attacken auf die öffentliche Ordnung konfrontiert. Noch im Dezember 1933 hatte die CNT die neue Regierung mit ihrem bis dato größten landesweiten Aufstandsversuch „begrüßt“. Er endete einmal mehr in einem vollständigen Fehlschlag und dämpfte den rebellischen Geist der Organisation zumindest vorübergehend. Unvermindert hoch blieb dagegen die Streikaktivität in Industrie und Landwirtschaft. Mit der Präsenz der neu gegründeten faschistischen Falange entfaltete sich parallel dazu außerdem ein blutiger Kleinkrieg mit Anhängern der sozialistischen Parteijugend. Hintergrund war offenbar die Überzeugung der spanischen Jungsozialisten, dem Schicksal ihrer italienischen und deutschen Gesinnungsgenossen durch präventive Attentate zuvorkommen zu müssen, während die Anhänger José Antonios mit der „Dia­ lektik der Fäuste und Pistolen“ antworteten.21 Im Juni 1934 blies die sozialistische Landarbeitergewerkschaft außerdem – gegen den ausdrücklichen Willen der UGT-Führung – zum ersten landesweiten Landarbeiterstreik, der jedoch ähnlich wie die anarchistische Revolte ein halbes Jahr zuvor mit einer vollständigen Niederlage endete. Von gänzlich anderer Qualität war dagegen der in den Sommermonaten die Gemüter von rechts bis links erhitzende Streit mit der katalanischen Regionalregierung unter der Führung von Präsident Lluís Companys (1882–1940). Schon im April hatte diese ein Gesetz verabschiedet, das den katalanischen Weinpächtern (rabassaires) bessere Pachtkonditionen sowie das Recht zugestand, lang genutztes Pachtland käuflich zu erwerben. Die rabassaires waren eine Kernklientel der linksrepublikanischen Regierungspartei Esquerra Republicana. Das spanische Verfassungsgericht erklärte das Gesetz im Juni aber – wohl zu Recht – mit knapper Mehrheit für verfassungswidrig, da die Generalitat für diesen Gesetzesbereich nicht zuständig sei. In Barcelona wurde das Urteil als zentralstaatliche Attacke auf die katalanische Autonomie gedeutet, während sich der ehemalige Regierungschef Azaña in einem Akt opportunistischer Solidarisierung dazu verstieg, Katalonien zur „letzten Bastion der Republik“ zu stilisieren.22 20 Vgl. hierzu Payne, Spain’s First Democracy, S. 189–194; Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 194–198; sowie ausführlich José Manuel Macarro Vera, The Socialists and Revolution. In: Manuel Álvarez Tardío/Fernando del Rey Requillo (Hg.), The Spanish Second Republic. From Democratic Hopes to Civil War (1931–1936), Brighton 2012, S. 40–57. 21 Wenngleich sich ihr Gründer vor allem durch literarische Neigungen und rednerisches Talent auszeichnete, zählte die Anwendung von Gewalt von Anfang an zum taktischen Repertoire der Falange. Vgl. Payne, Falange, S. 55. 22 Vgl. Payne, Spain’s First Democracy, S. 204. Zu den spannungsreichen Beziehungen zwischen Madrid und Barcelona während der Zweiten Republik vgl. außerdem Pere Gabriel, Cataluña y la Segunda República: encuentros y desencuentros. In: Ángeles Egido León (Hg.), Memoria de la Segunda República. Mito y Realidad, Madrid 2006, S. 273–305.

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Allen Polemiken zum Trotz bewies die mittlerweile von dem Radikalen Ricardo Samper (1881–1938) geführte Zentralregierung im Streit um die katalanische Agrargesetzgebung Kompromissbereitschaft. Dies führte ungeachtet vieler weiterer Streitigkeiten zwischen Madrid und Barcelona schließlich Mitte September zu einem verfassungsgemäßen und auch für die Katalanen akzeptablen Ergebnis. Angesichts der folgenden Ereignisse wurde der Kompromiss jedoch rasch Makulatur. Denn am 1. Oktober 1934 entzog CEDA-Führer GilRobles der von einer Parteiabspaltung zusätzlich geschwächten Minderheitsregierung Samper23 die Unterstützung und forderte für seine Partei als größter Parlamentsfraktion nun eine direkte Regierungsbeteiligung. Drei Tage später fügte sich Präsident Alcalá Zamora dem politisch Unausweichlichen und betraute einmal mehr den mittlerweile 70-jährigen Lerroux mit der Aufgabe, eine neue Regierung unter Einschluss dreier CEDA-Minister zu bilden. Aufseiten der Opposition erhob sich ein Sturm der Entrüstung gegen das Staatsoberhaupt, dem man vorwarf, die Republik ihren Feinden auszuliefern. Und während in Katalonien Präsident Companys in einer Art ziviler Protestrevolte den „Katalanischen Staat in der Föderalen Spanischen Republik“ proklamierte, machten die Sozia­ listen ihre lang angekündigte Drohung wahr und riefen einen revolutionären Generalstreik aus, der von gewaltsamen Aufständen begleitet werden sollte.24 Obgleich der Schaden für die Legitimität der republikanischen Ordnung kaum größer ausfallen konnte, fehlte es den Aufstandsversuchen sowohl in Katalonien als auch im Rest des Landes zumeist an Vorbereitung und entschlossener Führung. Sie wurden deshalb von Militär und Sicherheitskräften größtenteils bereits im Keim erstickt. Eine entscheidende Ausnahme bildete aber die Bergbauregion von Asturien im Norden Spaniens. Hier führte u. a. die landesweit einzigartige Zusammenarbeit von Sozialisten und Anarchosyndikalisten zu einem erfolgreichen Aufstand. Er breitete sich rasch von den Bergbaugebieten bis in die Provinzhauptstadt Oviedo aus und konnte erst nach zwei Wochen blutiger Kämpfe von Einheiten der Afrikaarmee und der Fremdenlegion unter dem Befehl von General Francisco Franco niedergeschlagen werden. Im Ergebnis forderte der „asturische Oktober“ rund 1 500 Todesopfer.25 Es folgte außerdem eine von der CEDA getriebene landesweite Repressionswelle, die trotz des mäßigenden Einflusses der Radikalen und des Präsidenten in vielerlei Hinsicht den Charakter eines politischen Rachefeldzuges annahm. So wurden neben der gesamten katalanischen Regionalregierung landesweit mehr als 20 000 Führer und Anhänger von Gewerkschaften und Oppositionsparteien – darunter auch

23 Aus Protest gegen die Zusammenarbeit mit der CEDA hatten im Mai 1934 20 Abgeordnete unter der Führung von Martínez Barrio die Radikale Partei verlassen und den Schulterschluss mit den Linksrepublikanern gesucht. 24 Bei den drei neuen Ministern handelte es sich in allen Fällen um gemäßigte Vertreter der CEDA. Zur Reaktion der Linken vgl. Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 207 f. 25 Payne zählt 1 200 Todesopfer auf Seiten der Aufständischen sowie rund 450 Tote auf Seiten von Armee und Sicherheitskräften. Vgl. Payne, Spain’s First Democracy, S. 220.

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zahlreiche nachweislich unbeteiligte Spitzenpolitiker wie Manuel Azaña – verhaftet. Die katalanische Autonomie wurde suspendiert und die Region unter zentralstaatliche Verwaltung gestellt. Die meisten Presseorgane der Linken ebenso wie Gewerkschaftslokale und Parteihäuser wurden geschlossen, und darüber hinaus schwappte eine Welle revancheartiger Entlassungen durch alle Wirtschaftszweige. Und unter dem Druck der CEDA holte die Regierung nun tatsächlich zu einer Frontalattacke gegen die Reformpolitiken des ersten Bienniums aus. So hörten etwa vielerorts die Schiedsgerichte auf zu funktionieren. Der neue Arbeitsminister der CEDA führte in vielen Bereichen die 48-Stunden-Woche wieder ein, was zahlreiche Entlassungen zur Folge hatte und die Not der Arbeiterschaft weiter verschärfte. Besonders hart aber waren die (an dem Oktoberaufstand weitgehend unbeteiligten) Landarbeiter betroffen. Mit parlamentarischer Unterstützung der Agrarierfraktion bahnte sich auf dem Land nun eine wahrhafte „Agrarkonterreform“ an, die – übrigens auch völlig ungebremst von der katholischen Kirche – mit zynischer Rücksichtslosigkeit die sozialökonomischen Machtverhältnisse aus der Zeit vor 1931 wiederherstellte und bei den ländlichen Unterschichten ein bis dato unbekanntes Ausmaß an Hass und Verzweiflung schürte.26 Dass die Konterreform letztlich nicht auch in autoritärer Weise auf die politische Verfasstheit der Zweiten Republik durchschlug, so wie dies nach dem Oktoberaufstand offenbar Gil-Robles vorschwebte, ist nicht nur auf dessen mangelnde Entschlossenheit und die fehlende Unterstützung durch das Militär,27 sondern mindestens ebenso sehr auf die resolute Haltung von Staatspräsident Alcalá Zamora zurückzuführen. Denn dieser setzte tatsächlich alles daran, um den CEDA-Führer als Regierungschef zu verhindern. Als im Oktober 1935 der berühmt-berüchtigte Glücksspielskandal des Estraperlo28 die Radikale Partei – aufgrund der beinahe durchgängigen Verwicklung ihrer wichtigsten Führungsfiguren – in den Abgrund riss und angesichts der neuerlichen Regierungskrise nun endlich die Stunde für Gil-Robles gekommen schien, entschied sich Alcalá Zamora unter Gefährdung seiner eigenen Präsidentschaft ein weiteres Mal für

26 Vgl. Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 224–226. 27 Als Kriegsminister im vorangegangenen Kabinett hatte Gil-Robles enge Kontakte zum Generalstab geknüpft und mehrere republikfeindliche Generäle – darunter auch General Franco – auf Schlüsselpositionen befördert. Mit Blick auf den Plan, die Regierungskrise vom Oktober 1935 für einen zivil-militärischen Staatsstreich zu nutzen, versagte ihm aber insbesondere General Franco als neuer Chef des Generalstabs die Gefolg­ schaft. Vgl. Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 228–231. 28 Estraperlo bzw. Straperlo bezeichnet den holländischen Hersteller eines elektrischen Roulettespiels, das – im Widerspruch zum geltenden Glücksspielverbot in Spanien – mit Unterstützung durch die korrupte Führungsspitze der Radikalen Partei seit Juni 1934 in zwei spanischen Spielkasinos installiert worden war. Als Gegenleistung waren die verantwortlichen Politiker an den Gewinnen beteiligt. Im Oktober 1935 flog der Skandal auf und eine auf Druck von Präsident Alcalá Zamora eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission sprach wenig später praktisch die gesamte Führungsspitze der Radikalen Partei schuldig.

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die vorzeitige Auflösung der Cortes.29 Und so kam es, dass die Spanier schon im Februar 1936 in einem Klima äußerster Anspannung und ideologischer Polarisierung, deren zentrale Bezugspunkte die beiderseitigen Schreckbilder des Oktoberaufstands darstellten, zum dritten Mal innerhalb von knapp fünf Jahren zu den Wahlurnen gerufen wurden.

IV.

Die Volksfrontregierung und der Weg in den Bürgerkrieg

Obgleich es – im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Wahlgängen – diesmal beiden Lagern gelungen war, taktische Wahlbündnisse zu schmieden, lagen die Vorteile klar aufseiten der Linken. Denn während das Mitte-rechts-Lager unter dem Zerfall der Radikalen Partei litt und die CEDA außerdem aus guten Gründen auf Distanz zur extremen Rechten, das heißt insbesondere der offen monarchistischen Renovación Española des Philofaschisten José Calvo Sotelo (1893–1936) blieb, hatten sich Sozialisten und Linksrepublikaner angesichts der Bedrohung von rechts und der Aussicht auf eine Generalamnestie für ihre inhaftierten Gesinnungsgenossen zu einer großen Wahlallianz zusammengefunden. Durch den kurzfristigen Beitritt der mittlerweile stark an Bedeutung gewinnenden Kommunistischen Partei erhielt diese schließlich den Namen Volksfront (Frente Popular).30 Treibende Kraft des Bündnisses auf sozialistischer Seite war der altgediente Parteiführer Indalecio Prieto (1883–1962), der – jenseits des wahltaktischen Kalküls – als Konsequenz aus der Katastrophe des Oktoberaufstands gemeinsam mit Azaña eine Wiederbelebung der ursprünglichen sozialistisch-linksrepublikanischen Reformkoalition und ihres politischen Programms anstrebte. Zumindest indirekt bekräftigt wurde dieses Vorhaben durch das Wählervotum. Denn die siegreiche Volksfront war de facto weitaus moderater

29 Die republikanische Verfassung erlaubte dem Präsidenten zwar, das Parlament während einer Amtszeit auch ein zweites Mal aufzulösen, gestand den hieraus hervorgehenden neuen Cortes allerdings das Recht zu, die Angemessenheit dieser Entscheidung zu überprüfen und im Falle eines negativen Urteils den Präsidenten gegebenenfalls seines Amtes zu entheben. Vgl. hierzu Jordi Solé Tura/Eliseo Aja, Constituciones y períodos constituyentes en España (1808–1936), Madrid 1992, S. 106. 30 Die Kommunistische Partei Spaniens war 1921 aus Abspaltungen von der Sozialistischen Partei hervorgegangen, führte bis zur Gründung der Republik jedoch ein Schattendasein in der Illegalität. Einen rapiden Bedeutungszuwachs verzeichnete die Partei vor allem seit den Volksfrontwahlen von 1936, insofern ihre Mitgliedszahlen in den folgenden fünf Monaten von 30 000 auf rund 100 000 anwuchsen. Die Volksfrontstrategie wiederum entstammte dem VII. Kongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) von 1935 und zielte darauf ab, im Angesicht der Bedrohung durch Faschismus und Nationalsozialismus möglichst breite, auch die liberalen Teile des Bürgertums umfassende antifaschistische Allianzen zu bilden. Zur Rolle der Kommunistischen Partei in der Zweiten Republik vgl. etwa Tim Rees, Revolution or Republic? The Spanish Communist Party. In: Manuel Álvarez Tardío/Fernando del Rey Requillo (Hg.), The Spanish Second Republic. From Democratic Hopes to Civil War (1931–1936), Brighton 2012, S. 152–166.

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als ihr kämpferischer Name suggerierte. Allein 154 der insgesamt 263 Sitze der Allianz entfielen auf republikanische Parteien, und von den lediglich 88 Abgeordneten der Sozialistischen Partei zählten nicht mehr als die Hälfte zum radikalen von Largo Caballero geführten Flügel.31 Dessen ungeachtet waren es jedoch die caballeristas, die trotz des Oktoberdesasters in der Sozialistischen Partei auch weiterhin den Ton angaben, jede Art von „Klassenkollaboration“, das heißt eine Regierungsbeteiligung in einem bürgerlich-republikanisch dominierten Kabinett, kategorisch ablehnten und auf die politische Abnutzung ihrer einstigen Koalitionspartner setzten, um dann – so das riskante Kalkül – die ganze Macht gleichsam wie von selbst „ernten“ zu können. Anstelle einer breiten, klassenübergreifenden Koalitionsregierung blieb Azaña so nur die Option für die Bildung einer republikanischen Minderheitsregierung, die sich nicht nur einer, durch den Machtverlust weiter radikalisierten Rechten, sondern auch einer zunehmend unkontrollierbaren Situa­ tion auf der Straße gegenübersah. Denn der Wahlsieg der Volksfront wurde im proletarischen Milieu vielfach wie ein Freibrief gedeutet, um sich für die in der Folge des Oktoberaufstands erlittenen Diskriminierungen zu rächen. Die sozialistische Revolutionsrhetorik befeuerte den schleichenden Autoritäts- und Ordnungsverfall zusätzlich, und zeitgenössische Beobachter berichteten schon seit den Februarwahlen von einer ebenso neuartigen wie bedrohlichen Auflehnung der Unterschichten gegen bis dato gültige soziale Umgangsformen und Verhaltensmuster.32 Darüber hinaus erlebte das Land in den darauffolgenden Monaten eine extreme Zuspitzung der sozialen Konflikte. Diese brachen sich nicht nur in Form einer alle bisherigen Erfahrungen noch einmal übertreffenden Streikaktivität, sondern auch in Gestalt von zahllosen illegalen Landbesetzungen in den Latifundien­gebieten des Südens, in gewaltsamen Attacken auf Kirchen, Parteilokale und Zeitungsredaktionen sowie einer neuen Welle von politischen Morden Bahn. Und aufgeschreckt von der wachsenden Gewalt und Unsicherheit flüchteten sich viele Angehörige des höheren Bürgertums bereits ins Ausland.33 Die Regierung Azaña sah den einzigen Weg, um die revolutionäre Ungeduld zu bändigen, in einer beschleunigten Rückkehr zu den Reformen des ersten Bienniums. Und so befreite eine Generalamnestie alle Inhaftierten des Oktoberaufstands, die katalanische Regionalregierung wurde wieder eingesetzt, die zum Teil suspendierte Arbeitsgesetzgebung wieder in Kraft gesetzt und ein Dekret verabschiedet, das alle Entlassungen aus politischen Gründen revidierte

31 Vgl. Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 241. 32 Vgl. hierzu die Schilderungen bei Ranzato, Eclipse de la democracia, S. 244–246. Zur Spaltung der Sozialistischen Partei vgl. außerdem Macarro, Socialists and Revolution, S. 54–56. 33 Allein in den drei Monaten April, Mai und Juni wurden mehr Streiks registriert als im ganzen Jahr 1934, während die Zahl Opfer von politischen Morden im Zeitraum zwischen Februar und Juni auf die Rekordzahl von bis zu 270 geschätzt wird. Zur Rolle der politischen Gewalt in der Zweiten Republik im internationalen Vergleich vgl. Payne, Spain’s First Democracy, S. 359–364.

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und Entschädigungen zugestand. Darüber hinaus versuchte die Regierung, die hochexplosive Lage in den Latifundiengebieten des Südens durch eine deutliche Beschleunigung der Agrarreform zu entschärfen. So wurden von Februar bis Juli beachtliche 110 000 Landarbeiterfamilien auf bis zu einer Million Hektar enteignetem Land angesiedelt. Die Methode dazu bestand allerdings nicht allein in staatlich verfügten Enteignungen, sondern zu einem beträchtlichen Teil auch in der nachträglichen Legalisierung spontaner Landbesetzungen. Gerade diese Politik aber musste für jene, ohnehin um Leib, Leben und Eigentum bangenden bürgerlichen Schichten, die den letzten Wahlergebnissen entsprechend wenigstens die Hälfte des ganzen Landes repräsentierten, ein fatales Signal aussenden. Denn es schien, als ob die Regierung den illegalen Aktionen offen Vorschub leistete und so die Aushöhlung des Rechtsstaates offiziell sanktionierte. Eine zusätzliche Schwächung der republikanischen Institutionen bedeutete der im April von der neuen Parlamentsmehrheit vorzeitig erzwungene Rücktritt Alcalá Zamoras vom Amt des Staatspräsidenten, an dessen Stelle wenig später Manuel Azaña treten sollte. Denn obgleich Alcalá Zamora durch seine eigenwillig personalistische, oft die Grenzen seiner verfassungsmäßigen Befugnisse überdehnende Amtsführung die Feindschaft praktisch aller politischen Lager auf sich gezogen hatte, verlor die Republik mit seinem Abtritt die wichtigste Symbolfigur des politischen Zentrums und damit einen entscheidenden Faktor der politischen Mäßigung. Taktisch mindestens ebenso unglücklich war zugleich aber auch der Verlust eines politischen Schwergewichts wie Azaña im Amt des Regierungschefs, zumal die von diesem vorgesehene Nachfolgeregelung zugunsten des gemäßigten Sozialisten Prieto einmal mehr an dem Veto des radikalen Caballerista-Flügels innerhalb der Sozialistischen Partei scheitern sollte. Angesichts des allgemeinen Klimas aus Hass, Angst und Gewalt sowie des Eindrucks eines zunehmenden Kontrollverlusts seitens der Regierung drohten die Wortführer der Rechten – allen voran der besonders scharfzüngige Monarchistenführer Calvo Sotelo – längst auch offen mit einer gewaltsamen Reaktion zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung. Tatsächlich aber verfügten weder Calvo Sotelo noch Gil-Robles über das persönliche Format und die erforderliche Gefolgschaft, um eine derartige Bewegung mit Aussicht auf Erfolg in Gang zu setzen. Die eigentliche Gefahr für die Republik rührte stattdessen von den Streitkräften. Bereits Ende 1933 hatte sich mit der Unión Militar Española eine von überwiegend republikfeindlichen Generälen getragene Geheimorganisation gegründet, die insbesondere seit dem Sieg der Volksfront zur wichtigsten Plattform für die Vorbereitung eines landesweiten Umsturzplanes avancierte. Zum Kopf der Konspiration erkoren die Offiziere dabei nicht etwa einen Zivilisten, sondern den in Militärkreisen noch immer sehr populären ehemaligen Putschgeneral Sanjurjo, der zu diesem Zeitpunkt allerdings im portugiesischen Exil weilte. Die Regierung Azaña wiederum, der die Verschwörungspläne keineswegs verborgen geblieben waren, hatte bereits seit Amtsübernahme durch die Besetzung von Schlüsselposten mit republiktreuen Generälen und die Versetzung unzuverlässiger Offiziere versucht, der drohenden Putschgefahr zu be-

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gegnen. Allen Gegenmaßnahmen zum Trotz sollte sich unter der Ägide von General Emilio Mola (1887–1937), dem Militärgouverneur von Pamplona, bis Ende Juni 1936 jedoch ein landesweites, das heißt alle Militärdistrikte umfassendes, Verschwörernetz mit einem konzertierten Umsturzplan formieren, dessen tatsächliches Gefährdungspotenzial von der mittlerweile von dem Republikaner Santiago Casares Quiroga (1884–1950) geführten Regierung eklatant unterschätzt wurde. Den entscheidenden Anlass zum Losschlagen lieferte sodann der Mord an dem Monarchistenführer Calvo Sotelo, der am 13. Juli 1936 einem Racheakt für den am Vortag vermutlich von Falangisten ermordeten Sozialisten und Leutnant der republikanischen „Sturmgarde“ (guardia de asalto), José Castillo (1901–1936), zum Opfer fiel. Die Fanalwirkung, die der Mord an Calvo Sotelo für das gesamte bürgerlich-konservative Lager hatte, beruhte allerdings weniger auf der Prominenz des Ermordeten als vielmehr auf den kompromittierenden Tat­umständen. Das Ungeheuerliche an diesem Verbrechen bestand nämlich darin, dass die Mörder aus den Reihen der Sicherheitskräfte stammten, die außerdem ihre Uniformen missbraucht hatten, um den argwöhnischen Monarchistenführer kurz vor dem Mord zum freiwilligen Verlassen seiner Wohnung zu bewegen. Trotz gegenteiliger Beteuerungen und der Verhaftung mehrerer Tatverdächtiger sah sich die Regierung daher nicht ganz zu Unrecht dem fatalen Vorwurf ausgesetzt, durch politische Rücksichtnahmen und mangelnde Autorität gegenüber dem stark politisierten Sicherheitsapparat zumindest indirekt mit für die Bluttat verantwortlich zu sein.34 Nur vier Tage später, das heißt am frühen Morgen des 17. Juli 1936, sollte dann die handstreichartige Übernahme mehrerer Militärstützpunkte in Spanisch-Marokko durch den aufständischen Oberstleutnant Juan Yagüe (1891–1952) zum Auftakt für eine landesweite Militärrevolte gegen die Zweite Republik avancieren.

V. Schlussbetrachtung Das „Scheitern“ der ersten spanischen Demokratie wurde auf den vorangegangenen Seiten als ein sich graduell verschärfender Prozess des allseitigen Legitimitätsverlustes geschildert, dessen Antrieb in erster Linie aus den gesellschaftspolitischen Konflikten um das republikanische Reformwerk der ersten Legislaturperiode rührte. Externe Faktoren befeuerten die politische Polarisierungsdynamik zusätzlich, so etwa der durch die Weltwirtschaftskrise beschleunigte Anstieg der Arbeitslosigkeit, vor allem aber der Triumph faschistisch-autoritärer Regime in Deutschland und Österreich, der den Höhepunkt des antidemokratischen „Rollback“ in Europa markierte und auch für die Linke jenseits der Pyrenäen zu einem Schreckensszenario avancierte. Unstrittig bleibt jedoch, dass sich das Schicksal der Zweiten Republik in erster Linie an der 34 Zum Mord an Calvo Sotelo vgl. Payne, Spain’s First Democracy, S. 353–359.

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politischen Heimatfront entschied. Dabei ist neben der Frage, inwieweit das Ausmaß der strukturellen Erblasten und Reformbedarfe die Möglichkeiten des demokratischen Systems zur Konfliktvermittlung überforderte, gerade in jüngerer Zeit auch verstärkt das Verhalten kollektiver und individueller Akteure in den Blick gerückt. Grundsätzlich festzuhalten ist zunächst, dass in Spanien zu Beginn der 1930er-Jahre eine besondere gesellschaftspolitische Gemengelage vorherrschte, insofern sozialökonomische und produktive Rückständigkeit mit entsprechend geringen Verteilungsspielräumen auf ein ungewöhnlich hohes Maß an Politisierung und Mobilisierung der unterbürgerlichen Schichten in Stadt und Land traf, während die traditionellen Eliten dem Modernisierungsversprechen der Republik außerdem von Anfang an mit erheblicher Skepsis gegenüberstanden. Dass die sozialistisch-republikanischen Reformpolitiken der ersten Legislaturperiode vor diesem Hintergrund keine systemstabilisierenden Effekte entfalteten, sondern ganz im Gegenteil die politisch-ideologische Konfrontation erst richtig anheizten, hatte allerdings nicht allein mit der spezifischen Ausgangslage oder der Vielfalt der Konfliktfelder und Reformvorhaben, sondern auch mit – selbst aus damaliger Sicht vermeidbaren – konzeptionellen bzw. politischen Fehlern der Reformer zu tun. Zwar ist grundsätzlich festzustellen, dass das republikanische Reformwerk in der jüngeren spanischen Geschichte nicht nur eine einzigartige Leistung darstellte, sondern auch in Umfang und Zielsetzungen in vielerlei Hinsicht angemessen erscheint und heilsame Wirkungen entfaltete. Schatten werfen aber dennoch etwa die durch fehlenden Pragmatismus verspielte kurzfristige Wirksamkeit der so entscheidenden Agrarreform sowie die dogmatische und letztlich dysfunktionale Radikalität in der Religionsfrage, die – ohne größeren Nutzen für die Modernisierungsziele – vor allem den verhängnisvollen Effekt hatte, die Republik in den Augen der katholisch-konservativen Massen nachhaltig zu diskreditieren. Die Defekte der Reformpolitiken wiederum lenken den Blick auf das Verhalten kollektiver und individueller Akteure sowie auf die Frage der politischen Führerschaft im Allgemeinen. Schon Stanley Payne hat in seiner detailreichen Studie über die Zweite Republik aus den frühen 1990er-Jahren das Versagen des politischen Spitzenpersonals als einen der wesentlichen Gründe für deren Scheitern hervorgehoben und besonders den bürgerlichen Reformkräften – allen voran Manuel Azaña – Sektierertum, Personalismus und ein patrimoniales Verständnis von Regierungsmacht vorgeworfen.35 In die Praxis übersetzt bedeutete dies nicht nur einen von Radikalität, Exklusion und Konfrontation geprägten politischen Diskurs,36 sondern auch den fatalen Mangel an Respekt vor demokratischen Spielregeln. Die einzigen Verteidiger der Republik im Sinne einer

35 Vgl. Payne, Spain’s First Democracy, S. 375–384. 36 Zur politischen Kultur in der Zweiten Republik vgl. Álvarez Tardío/Villa García, El precio de la exclusión sowie die Beiträge in Del Rey Requillo, Palabras como puños.

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konsequenten Verfassungstreue findet die politische Historiografie der jüngeren Zeit jedenfalls allein aufseiten des, vor allem nach den Wahlen von 1936 massiv geschrumpften politischen Zentrums, das heißt der Parteigänger von Lerroux und Alcalá Zamora.37 Weiter rechts davon stand dagegen die kalkuliert unberechenbare „Semiloyalität“ der CEDA (Juan José Linz), die ihr vornehmlich destruktives Potenzial vor allem in der rücksichtslosen Abrechnung mit den vermeintlichen und tatsächlichen Verantwortlichen des Oktoberaufstands von 1934 offenbarte. Mindestens ebenso großer Schaden für die Legitimität der ­Republik ging aber wohl von der Tatsache aus, dass selbst ihren Gründervätern ein eklatanter Mangel an „demokratischer Reife“ (Gabriele Ranzato) nachzuweisen ist. Im Falle der Linksrepublikaner gipfelte dieser in der ostentativen Nichtanerkennung der Wahlergebnisse von 1933, im Falle der Sozialistischen Partei gar in der, wenn auch nicht einstimmigen, Abkehr von Reformismus und bürgerlicher Republik an sich.38

37 Vgl. Payne, Spain’s First Democracy, S. 381 f.; sowie ausführlich Townson, Crisis of democracy, passim. 38 Vgl. Linz, From Great Hopes to Civil War, S. 142–215; sowie Gabriele Ranzato, El pasado de bronce. La herencia de la Guerra Civil en la España democrática, Barcelona 2006, S. 146–168.

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IV. Anhang

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Abkürzungsverzeichnis Art. Artikel AUS Österreich BEL Belgien BGBl. Bundesgesetzblatt BIP Bruttoinlandsprodukt BVG Bundesverfassungsgericht BVP Bayerische Volkspartei CDPS Complete Dataset of Political Regimes (1800-2007) CEDA Confederación Española de Derechas Autónomas (Spanische Konföderation der Autonomen Rechten) CNT Confederación Nacional del Trabajo (Nationaler Verband der Arbeit, Spanien) CNTS Cross-National Time-Series CPN Communistische Partij Nederland (Kommunistische Partei der Niederlande) CZE Tschechische Republik DDP Deutsche Demokratische Partei DDR Deutsche Demokratische Republik DEU Deutschland DKP Danmarks kommunistiske Parti (Dänemarks Kommunistische Partei) DnA Det norske Arbeiderparti (Die Norwegische Arbeiterpartei) DNASP Danmarks Nationalsocialistiske Arbejderparti (Dänische Nationalsozialistische Arbeiterpartei) DNVP Deutschnationale Volkspartei DStP Deutsche Staatspartei DVP Deutsche Volkspartei ESP Spanien EST Estland EU Europäische Union EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FDJ Freie Deutsche Jugend Fed Federal Reserve System (Zentralbank-System der Vereinigten Staaten) FEK Efimeris tis Kyverniseos (Amtsblatt der Regierung, Griechenland) FIN Finnland FNTT Federación Nacional de Trabajadores de la Tierra (Nationaler Verband der Landarbeiter, Spanien) FO British Foreign Office Archives FRA Frankreich G20 Gruppe der Zwanzig G8 Gruppe der Acht GBR Großbritannien GRC Griechenland

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Anhang

GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten HJ Hitlerjugend HUN Ungarn IKC Ilustrowany Kurier Codzienny (Illustrierter Täglicher Kurier, Polen) IKL Isänmaallinen Kansanliike (Vaterländische Volksbewegung, Finnland) IMRO Internal Macedonian Revolutionary Organization (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) IRL Irland KPD Kommunistische Partei Deutschlands LDP Liberal-Demokratische Partei Deutschlands LLC League Loans Committee MDP Modern Dynamic Pluralist NATO North Atlantic Treaty Organization (Organisation des Nordatlantikvertrags) ND Narodowa Demokracja (Nationale Demokratie, Polen) NKP Norges Kommunistiske Parti (Kommunistische Partei Norwegens) NLD Niederlande NS Nasjonal Samling (Nationale Vereinigung, Norwegen) NS nationalsozialistisch NSB Nationaal Socialistische Beweging (Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande) NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei PCF Parti Communiste Français (Kommunistische Partei Frankreichs) PdA Partei der Arbeit der Schweiz PIPE Political Institutions and Events Dataset PNF Partito Nazionale Fascista (Nationale Faschistische Partei, Italien) PPS Polska Partia Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei) PRCD Political Regime Change Dataset PSF Parti social français (Französische Sozialpartei) PSI Partito Socialista Italiano (Sozialistische Partei Italiens) QCA Qualitative Comparative Analysis ROU Rumänien SA Sturmabteilung SBZ Sowjetische Besatzungszone SDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SFIO Section française de l’internationale ouvrière (Französische Sektion der Arbeiter-Internationale) SMA Sowjetische Militäradministration SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SWE Schweden

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Abkürzungsverzeichnis UGT US/USA USPD WRV

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Unión General de Trabajadores (Allgemeiner Arbeiter bund, Spanien) Vereinigte Staaten von Amerika Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Weimarer Reichsverfassung

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Personenverzeichnis Seitenangaben mit * beziehen sich auf Fußnoten. Adler, Franklin Hugh 310 Adler, Friedrich 375 Adler, Victor 374 f. Alapuro, Risto 287 Alexander (König, Jugoslawien) 152–155 Alexander (Prinzregent, Jugoslawien) 153 Alfons XIII. (König, Spanien) 408 Almond, Gabriel Abraham 185 Anschütz, Gerhard 121*, 123 Antonescu, Ion 92, 106, 108 f., 213 Asquith, Herbert 101 f. Augstein, Jakob 23 Averescu, Alexandru 149 f. Azaña, Manuel 413, 415, 418, 421, 423–426, 428 Barrio, Diego Martínez 418, 422* Bauer, Gustav 40 Bauer, Otto 374–377, 384 Behring, Rainer 299 Berg-Schlosser, Dirk 11*, 14 f., 40 f., 272, 273*, 285 Bernhard, Michael 142–144, 146 Berstein, Serge 240 Besteiro, Julián 400 Bethmann Hollweg, Theobald von 102 Biondich, Mark 153 Blalock, Hubert Morse 183 Blum, Léon 66, 213, 229, 231, 234 Boix, Carles 142, 144 Boldt, Hans 76 Bonn, Moritz Julius 71, 78, 80–84, 87* Bonomi, Ivanoe 311 Borchardt, Knut 169, 340 Boris, Tsar 147, 149 Bouisson, Fernand 229 Brache, Karl-Dietrich 13* Branting, Hjalmar 256 Brătianu, Ion C. 149–151 Briand, Aristide 229 f.

Briefs, Götz 83 Brubaker, Rogers 322*, 330 Brüning, Heinrich 106, 124, 135*, 170, 177, 200, 340, 351, 358 –360 Bryce, James 9 f., 42, 70 Caballero, Francisco Largo 416, 420, 425 Călinescu, Armand 108 Candeloro, Giorgio 295, 303*, 305* Carol (Prinz, Rumänien) 150 Carol II. (König, Rumänien) 108, 213 Castillo, José 427 Chautemps, Camille 229 Clemenceau, Georges 228–230 Clinton, Hilary 12, 23 f. Codreanu, Corneliu Zelea 107 f. Colijn, Hendrikus 178 Companys, Lluís 421 f. Costa, Gomes da 188 Cox, David 207 f. Croce, Benedetto 75, 299 Croissant, Aurel 372 D’Annunzio, Gabriele 104, 307 D’Azeglio, Massimo (Graf) 302 Dahl, Robert A. 30, 142, 185, 269 f., 286 Daladier, Édouard 229, 234, 236, 239 Dawes, Charles Gates 188, 197 De Felice, Renzo 295 f. De Gaulle, Charles 239, 241 De Meur, Giselé 272, 273*, 285 Degrelle, Léon 65, 213 Demertzis, Konstantinos 401 f. Deutsch, Julius 373 Dmowski, Roman 319, 321, 326, 328, 332 f., 335 Dollfuß, Engelbert 127, 214, 363, 371 f., 378, 419 Doumergue, Gaston 229, 238 f. Duca, Ion G. 108 Duverger, Maurice 271*, 274*, 288

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Personenverzeichnis Ebert, Friedrich 124, 342, 346, 357 Ekman, Carl Gustaf 260 Elazar, Dahlia Sabina 297, 309 Elsas, Fritz 259 Elster, Jon 204 Engels, Friedrich 377 Erkelenz, Anton 359 Facta, Luigi 311, 312* Ferdinand (König, Rumänien) 149–151 Flandin, Pierre-Étienne 229 Franco, Francisco 91, 107, 109, 213, 407, 422, 423* François-Marsal, Frédéric 229 Franzosi, Roberto 308 Freeden, Michael 77 Frisch, Ragnar 262 Fukuyama, Francis 10 Gaetanos, Marcelo 91 Gentile, Emilio 296 Georg II. (König, Griechenland)  285, 390 f., 400–402, 405 George, Lloyd 102, 110 Gilbert, Martin 47 Gil-Robles, José María 418 f., 422 f., 426 Giolitti, Giovanni 64, 159, 310 f. Goebbels, Joseph 361 Goldstein, Robert J. 62 Gonatas, Stylianos 390 Grabski, Władysław 329, 332 Gramsci, Antonio 52 Granjo, António Joaquim 156 Grauhan, Rolf-Richard 376 Griffin, Roger 297 Groener, Wilhelm 342 Grundtvig, Nikolai F. S. 266 Gusy, Christoph 15, 76 Hansson, Per Albin 261, 265 f.* Hayek, Friedrich A. von 103 Heller, Hermann 85, 123 Hellpach, Willy 78 Herbert, Ulrich 88 Herkner, Heinrich 84 Herriot, Édouard 229 Hindenburg, Paul von 102, 105, 106, 124, 177, 201, 205, 214, 313, 346,

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352, 357 Hintze, Otto 43 Hitler, Adolf 45, 48,, 97, 106, 108 f., 124, 131 f., 177 f., 201, 204, 213 f., 293, 313, 359 f.* Hobbes, Thomas 93 Hobhouse, Leonard T. 84 Hobsbawm, Eric 37 Horthy, Miklós (dt. Nikolaus) 110, 131* f., 213 Hugh, Franklin 310 Huntington, Samuel 30*, 35 f., 271 Iorga, Nicolae 150 Jaspers, Karl 9* Kafantaris, Georgios 392 Kallio, Kyösti 283, 285 Karl Albert (König) 303 Kaufmann, Erich 123 Kelsen, Hans 76, 80, 87, 123, 126 Keynes, John Maynard 175, 197, 205, 216, 262, 340, 359 Kirby, David 286 Kondylis, Georgios 389*, 391, 401 Konstantin I. (König) 21 f., 386, 390, 405 Korošec, Anton 152 f. Koselleck, Reinhart 79 Kreuger, Ivar 260 Laqueur, Walter 297 Larka, Andres 280 f. Laval, Pierre 219, 229 Lebrun, Albert François 50, 219 Lenin, Wladimir Iljitsch 91 Leo XIII. (Papst) 64 Leopold I. (König, Belgien) 57 Lerroux, Alejandro 413, 418 f., 421f., 429 Leygues, Georges 229 Lill, Rudolf 298*, 306 Linz, Juan José 93 f., 185, 271, 284*, 288, 429 Lipset, Seymour Martin 177, 184, 269* Louis-Philippe I. (König) 224

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Anhang

Ludendorff, Erich 45, 102, 105 Ludwig, Emil 77* Lyttelton, Adrian 297 MacDonald, Ramsay 178 MacMahon, Patrice de 225 Macmillan, Harold 178* Malinov, Aleksandar 149 Maniu, Iuliu 150–152 Mann, Michael 140 Mannerheim, Gustaf 274, 283 Marx, Karl 204 März, Eduard 375 Masaryk, Tomáš Garrigue 40, 129 f., 201, 205, 213 Mason, Tim 297 Matteotti, Giacomo 294, 315 Maura, Miguel 413 f. Mayeur, Jean-Marie 229 Meinecke, Friedrich 77 Merkel, Wolfgang 364, 368 f., 372 Metaxas, Ioannis 20 f., 214, 385 f., 388–392, 395–405*, 441 Millerand, Alexandre 229, 237 Mises, Ludwig von 77, 84 Moeller, Arthur 75 Mohl, Robert von 54 Mola, Emilio 427 Mommsen, Hans 341, 363 f., 366, 377 Moore, Barrington 184 Morgan, Philip 297 Mosley, Oswald 66, 102, 178* Müller, Tim B. 9, 27, 50 Murhard, Friedrich 54 Mussolini, Benito 77*, 86, 94, 97, 104, 109, 159, 162, 188, 293–297, 307 f., 311–313, 332, 398 f.* Myrdal, Alva 266 Myrdal, Gunnar 262, 266 Nansen, Fridtjof 259 Napoleon III. (Kaiser) 61, 224 Narutowicz, Gabriel 328–331 Naumann, Friedrich 84 Neck, Rudolf 369 Nitti, Francesco Saverio 158 Nolte, Ernst 295

Nygaardsvold, Johan 261 Ohlin, Bertil 262 Oliveira Salazar, António de 91, 398 Orlando, Vittorio Emanuele 307 Paderewski, Ignacy 319 Painlevé, Paul 229 Pais, Sidónio 156 Palmer, Alan 153 Pangalos, Theodoros 389*, 391 f., 396, 398 Papagos, Alexandros 401 Papanastasiou, Alexandros 391 Papen, Franz von 106, 107, 200 f., 204, 214, 313, 378, 360 Pascha, Kemal 387 Pašić, Nikola 152, 154 f. Päts, Konstantin 201, 205, 214, 276, 280–282, 287 Paul-Boncour, Joseph 229 Paxton, Robert 297 Payne, Stanley 297, 418* f., 422*, 428 Pelinka, Anton 382 Pétain, Henri-Philippe 17, 50, 219, 229, 239, 241 Peter I. (König) 153 Piłsudski, Józef 19, 129, 188, 318– 321, 323, 326–329, 332–335 Pinto, Ribeiro 156 Pius IX. (Papst) 302 Pius X. (Papst) 302 Plastiras, Nikolaos 390, 399 f.* Poincaré, Raymond 229–232, 237–239 Preuß, Hugo 79, 123 Prieto, Indalecio 424, 426 Primo de Rivera, José Antonio 419, 421 Primo de Rivera, Miguel 44, 160, 188, 407 f., 419 f.* Przeworski, Adam 141, 269* Putin, Vladimir 10 f. Quiroga, Santiago Casares 427 Quisling, Vidkun 243, 258

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Personenverzeichnis Rabinbach, Anson 378 Radić, Stjepan 153–155 Ragin, Charles C. 182 Ranzato, Gabriele 418* f., 429 Rathenau, Walther 351 Relander, Lauri Kristian 277 f., 283 Reynaud, Paul 229 Roey, Jozef-Ernest van 213 Rogue, François de la 213 Rokkan, Stein 184 Rosecrance, Richard 185 Rothschild, Joseph 153 Roussellier, Nicolas 220, 230, 238* Ruggiero, Guido De 75 Samper, Ricardo 422 Sanjurjo, José 415, 426 Sarkozy, Niclas 16 Sarraut, Albert-Pierre 229 Sartori, Giovanni 185, 289 Scheidemann, Philipp 30, 34 Schieder, Wolfgang 305 Schleicher, Kurt von 106, 200, 360 Schmitt, Carl 73, 77*, 80, 123 Seipel, Ignaz 370 f. Sekelj, Caslo 153 Sihvo, Aarne 284 Silva, António Maria da 156 Sima, Horia 108 Sirk, Artur 279, 286 Sklavainas, Stelios 401 Smend, Rudolf 74, 77*, 123 Snowden, Frank M. 301, 309 Sofoulis, Themistoklis 391* f., 401 f. Sofouli-Sklavaina, Symfonia 401 Sonnino, Sidney 307 Sontheimer, Kurt 76 Sotelo, José Calvo 424, 426 f. Ståhlberg, Kaarlo Juho 274, 276, 278, 283, 286 Stalin, Josef 48, 288 Stamboliski, Alexander 147–149 Stauning, Thorvald 261 Stavisky, Alexandre 236 Steeg, Théodore 229 Stresemann, Gustav 348, 351, 357 Sturzo, Don 64, 312 Svinhufvud, Pehr Evind 201, 205,

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213, 245, 283–285, 287 Szálasi, Ferenc 110 Tanner, Väinö 276, 278, 286 Tardieu, André 229, 236 Thalheimer, August 177 Theotokis, Spyros 402 Thoma, Richard 123 Tilly, Charles 184 Tõnisson, Jaan 276, 280–282, 286 Traverso, Enzo 72, 87 Troeltsch, Ernst 43, 72 f. Trump, Donald J. 12, 23 Tsaldaris, Panagis 389*, 391, 399–401 Vaida-Voevod, Alexandru 149, 151 Valera, Éamon de 212 Vanhanen, Tatu 142, 144, 185, 269 Vaugoin, Carl 372, 374 Venizelos, Eleftherios 21 f., 386, 388*, 392, 395 f., 398–401, 403 Verba, Sidney 185 Viktoria (Königin) 54, 56 Vittorio Emanuele III. (König, dt. Viktor Emanuel) 94, 104, 293, 312 f. Weber, Alfred 78, 84 Weber, Fritz 375 Weber, Max 73, 79, 92 f. Welan, Manfried 382 Wiese, Leopold von 84 Wigforss, Ernst 266 Wilhelm I. (Kaiser) 57 Wilhelm II. (Kaiser) 102, 105 Wilhelm III. (Kaiser) 57 Wilson, Woodrow 39 f., 42, 69–72, 91, 169, 320 Wojciechowski, Stanisław 328 Wolff, Theodor 77* Yagüe, Juan 427 Young, Owen 200, 346 Zaimis, Alexandros 392 Zamora, Niceto Alcalá 413 f., 418 f., 422f., 426, 429 Zamoyski, Maurycy (Graf) 328 Zeeland, Paul van 178, 213

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Anhang

Autorenverzeichnis Uwe Backes, Dr. phil. habil., Politikwissenschaftler, stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. und apl. Prof. am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden. Arnd Bauerkämper, Prof. Dr., Professor für die Geschichte des 19. und 20. Jahr­ hunderts an der Freien Universität Berlin. Dirk Berg-Schlosser, Dr. oec. publ.; Dr. phil. habil.; Ph.D./UC Berkeley: Politikwissenschaftler, Professor emeritus Philipps Universität Marburg. Peter Brandt, Dr. phil. habil., Univ.-Prof. i. R., Historiker, Direktor des Dimi­trisTsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften an der Fernuniversität in Hagen. Sören Brinkmann, Dr. habil., Historiker, Professor und Direktor des Instituto de Estudios Europeos an der Universidad del Norte, Barranquilla, Kolumbien. Ursula Büttner, Dr. phil., bis 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ­ orschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, apl. Professorin am Historischen F Seminar der Universität Hamburg. Christoph Gusy, Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte. Jens Hacke, Dr. phil., Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozial­ forschung, Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und an der Humboldt Universität zu Berlin. Günther Heydemann, Dr. phil. i. R., Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden und Professor an der Universität Leipzig. Heidi Hein-Kircher, Dr. phil., Historikerin, Leiterin der Abteilung Wissenschaftsforum am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft. Everhard Holtmann, Prof. Dr. phil., Historiker und Politikwissenschaftler, Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung e.V. (ZSH) an der Martin-­LutherUniversität Halle-Wittenberg. Steffen Kailitz, PD Dr. habil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-­ Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden

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Autorenverzeichnis

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Jørgen Møller, Professor, PhD, Department of Political Science, Aarhus University Dänemark. Thomas Raithel, Dr. phil., Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und apl. Professor für Neuere und Neueste ­Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Alan Siaroff, Dr., Professor für Politikwissenschaft, University of Lethbridge, Kanada. Svend-Erik Skaaning, Professor, PhD, Department of Political Science, Aarhus University Dänemark. Nathalie Patricia Soursos, Dr. phil. MMag., wissenschaftliche Mitarbeiterin am FWF-Projekts „Soziales Engagement in den Wiener griechischen Gemeinden ­(18.–20. Jh.)“ am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik in Wien . Ekkart Zimmermann, Professor Dr. rer. pol., Dipl.-Vw., Soziologe und Volkswirt, war zuletzt Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der TU Dresden von 1993– 2011.

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