Musil-Forum: Band 37 2021/2022 9783110775891, 9783110775839

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Table of contents :
Inhalt
Themenschwerpunkt: »Musil übersetzen«
Einleitung
»Ähnlichkeit«: Das übersetzerische Potential von Musils Gleichnispoetik
Übersetzen als Verstehen und Deuten im Zeichen von Zweisprachigkeit
Unterwegs mit dem Fliegenpapier: Robert Musil in Frankreich
Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Übersetzung
Die unscheinbarsten Dinge sind nicht »Les plus insignifiantes«
Fruchtbare Irrtümer der Musil-Übersetzung ins Portugiesische
Aus der Übersetzungswerkstatt
Robert Musil in Korea
Robert Musil in Armenien
Musil übersetzen – aber wie?
Zur Übersetzung, Neuübersetzung und Rezeption von Robert Musils Werken in der Türkei aus interkultureller Perspektive
Zur Musil-Rezeption in der arabischen Welt
Robert Musil in Albanien
Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und seine Sonderstellung in der kroatischen Kultur
Zur Neuübersetzung des Törleß ins Tschechische
Im Zeichen von Essayismus und Ironie
Robert Musil im 21. Jahrhundert in den USA übersetzen
Abhandlungen
»Moosbrugger war einer jener Grenzfälle«
»Er ist naiv wie ein heiterer Mönch«
Miszellen
Prousts Titel
Robert Musils Entlassungsschein aus der k. k. Landwehr
Internationale Robert-Musil-Gesellschaft
Nachruf auf Burton Pike (1930–2022)
Karl Corino zum 80. Geburtstag
Rezensionen
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
Siglen
Redaktioneller Hinweis
Register
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Musil-Forum: Band 37 2021/2022
 9783110775891, 9783110775839

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Musil-Forum

Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne

Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Norbert Christian Wolf und Rosmarie Zeller

Band 37 · 2021/2022

De Gruyter

Redaktion: Thomas Hübel Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Klaus Amann (Klagenfurt), Karl Corino (Tübingen), Walter Fanta (Klagenfurt), Christoph Hoffmann (Luzern), Alexander Honold (Basel), Inka Mülder-Bach (München), Birgit Nübel (Hannover), Wolfgang Riedel (Würzburg), Peter Utz (Lausanne), Karl Wagner (Zürich/Wien)

ISBN 978-3-11-077583-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077589-1 e-ISBN 978-3-11-077595-2 ISSN 1016-1333 Library of Congress Control Number: 2023939552 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz und Druckvorlage: Martin Dieringer Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt

Themenschwerpunkt: »Musil übersetzen« Bernhard Metz: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Peter Utz: »Ähnlichkeit«: Das übersetzerische Potential von Musils Gleichnispoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Matthias Attig: Übersetzen als Verstehen und Deuten im Zeichen von Zweisprachigkeit. Sprachwissenschaftliche Bemerkungen zum ersten Kapitel von Philippe Jaccottets L’Homme sans qualités . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

Florence Vatan: Unterwegs mit dem Fliegenpapier: Robert Musil in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Marina Foschi Albert, Serena Grazzini: Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Übersetzung. Editionsgeschichtlicher Überblick und paradigmatische Untersuchung des Textstils anhand des Kapitels »Agathe ist wirklich da« (MoE II/24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Anna Lindner: Die unscheinbarsten Dinge sind nicht »Les plus insignifiantes«. Oder: Julio Cortázar liest L’Homme sans qualités und Young Törless und schreibt Rayuela . .

121

Kathrin Holzermayr Rosenfield: Fruchtbare Irrtümer der Musil-Übersetzung ins Portugiesische. Die Amsel im Spiegel dreier brasilianischer Übersetzungen . . . . . . .

151

Aus der Übersetzungswerkstatt Jiyoung Shin: Robert Musil in Korea. Der lange Weg bis zur Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften . . . . . . .

181

Ashot Alexanian: Robert Musil in Armenien

190

. . . . . . .

VI

Inhalt

Maja Badridse: Musil übersetzen – aber wie? Überlegungen zur Übertragung des Mann ohne Eigenschaften ins Georgische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

Cüneyt Arslan: Zur Übersetzung, Neuübersetzung und Rezeption von Robert Musils Werken in der Türkei aus interkultureller Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Zouheir Soukah: Zur Musil-Rezeption in der arabischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

212

Jonila Godole: Robert Musil in Albanien

. . . . . . . . .

221

Andy Jelčić: Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und seine Sonderstellung in der kroatischen Kultur . . . . . .

227

Radovan Charvát: Zur Neuübersetzung des Törleß ins Tschechische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

234

Daniela Nelva: Im Zeichen von Essayismus und Ironie. Gespräch mit Ada Vigliani über die Neuübersetzung des Mann ohne Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

Genese Grill: Robert Musil im 21. Jahrhundert in den USA übersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

248

Abhandlungen Christian Kirchmeier, Armin Schäfer: »Moosbrugger war einer jener Grenzfälle«. Unzurechnungsfähigkeit in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften . . . . . .

262

Gesine Bey: »Er ist naiv wie ein heiterer Mönch«. Der italienische Psychiater und Anthropologe Sergio Sergi im Leben und Werk Robert Musils . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

Miszellen Luzius Keller: Prousts Titel . . . . . . . . . . . . . . . . .

308

Karl Corino: Robert Musils Entlassungsschein aus der k. k. Landwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316

VII

Inhalt

Internationale Robert-Musil-Gesellschaft Genese Grill: Nachruf auf Burton Pike (1930–2022) . . . .

320

Rosmarie Zeller: Karl Corino zum 80. Geburtstag

. . . .

324

Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

326

Karl Corino: »Von der Seele träumen dürfen« (Oliver Pfohlmann) . Wolfgang Müller-Funk: Crudelitas (Till Nitschmann) . . . . . . . Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten (Harald Gschwandtner) . . . Sebastian Hackenschmidt, Roland Innerhofer, Detlev Schöttker (Hg.): Planen – Wohnen – Schreiben (Thomas Wegmann) . . . . . . Caroline Haupt: Kontingenz und Risiko (Matthias Bickenbach) . . Dorothee Kimmich: Leeres Land (Oliver Pfohlmann). . . . . . . Paul Michael Lützeler: Hermann Broch und die Menschenrechte (Werner Wintersteiner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lukas Gloor: Prekäres Erzählen (Kira Kaufmann) . . . . . . . . Aglaia Kister: Fragile Balance (Thomas Pekar) . . . . . . . . . . Tim Mehigan: Robert Musil and the Question of Science (Vera Eßl) . Peter Plener, Burkhardt Wolf (Hg.): Teilweise Musil. Zweiter Band (Benno Wagner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carolin Vogel für die Dehmelhaus Stiftung (Hg.): »Schöne wilde Welt« (Julia Ilgner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Arnswald, Friedrich Stadler, Peter Weibel (Hg.): Der Wiener Kreis (Gernot Waldner) . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Erian, Primus-Heinz Kucher (Hg.): Exploration urbaner Räume – Wien 1918–38 (Katalin Teller) . . . . . . . . . . . Roland Innerhofer: Architektur aus Sprache (Sarah Pogoda) . . . . Julian Reidy, Ariane Totzke (Hg.): Mann_lichkeiten (Peter C. Pohl) . Florens Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung (Benjamin Gittel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Andreas Born, Claus Zittel (Hg.): Literarische Denkformen (Olav Krämer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

326 330 333

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

335 339 343 346 350 355 359 363 371 377 387 391 395 401 405

. . . . . . . . .

413

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

418

Redaktioneller Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

420

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

Siglen

Bernhard Metz

Einleitung Auch wenn die Wendung traduttore? traditore! immer noch geläufig ist, haben sich Ansehen und Bewertung von (literarischer) Übersetzung sowie ihrer Übersetzerinnen und Übersetzer in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert. Aus dem von der Rückseite her betrachteten Wandteppich,1 der Prothese, dem Notbehelf, der sich zwischen Original und dessen Rezeption zwänge und das ursprüngliche Kunstwerk verstelle, ist ein eigenständiges Werk geworden. Dieses beschreitet nicht nur eigene Wege im literarischen Markt, sondern kann sogar auf den ursprünglichen Publikationskontext oder zumindest das Verständnis des ›originalen‹ Textes zurückwirken – und gerät damit in einen gewissen Gegensatz zur Formulierung Walter Benjamins: »Daß eine Übersetzung niemals, so gut sie auch sei, etwas für das Original zu bedeuten vermag, leuchtet ein.«2 Kulturen des Übersetzens sind nicht nur kultur- und literaturtheoretisch in den Fokus gerückt, sie haben auch in Literaturbetrieb und Verlagswesen an (besonders wirtschaftlicher) Bedeutung gewonnen. Viele vergleichende Wissenschaften, allen voran die komparatistische Literaturwissenschaft, sind 1

2

Dieses für die Schwierigkeiten und Mängel von Übersetzungen häufig gebrauchte Bild geht auf eine Passage im Don Quijote (II/62) zurück: »Dennoch bin ich der Ansicht, das Übersetzen von einer Sprache in die andere [. . .] ist so, als betrachtete man die flämischen Wandteppiche von der Rückseite her, wo man die Figuren zwar erkennt, doch nur unter allerlei Fäden, die sie verschleiern, so dass sie nicht in der Klarheit und dem Farbenglanz hervortreten wie auf der Vorderseite« (Miguel de Cervantes Saavreda: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Bd. 2. Übers. v. Susanne Lange. München 2008, S. 545). Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Charles Baudelaire: Tableaux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers von Walter Benjamin. Heidelberg 1923. Zit. n. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV/1. Frankfurt a. M. 1980, S. 9–21, hier S. 10. Benjamin geht freilich von dieser Annahme aus, um sie umzukehren und genau jene paradigmatische Aufwertung von Übersetzung vorzunehmen, von der hier die Rede ist: »Ist doch die Übersetzung später als das Original und bezeichnet sie doch bei den bedeutenden Werken, die da ihre erwählten Übersetzer niemals im Zeitalter ihrer Entstehung finden, das Stadium ihres Fortlebens. [. . .] Die Geschichte der großen Kunstwerke kennt ihre Deszendenz aus den Quellen, ihre Gestaltung im Zeitalter des Künstlers und die Periode ihres grundsätzlich ewigen Fortlebens bei den nachfolgenden Generationen. Dieses letzte heißt, wo es zutage tritt, Ruhm. Übersetzungen, die mehr als Vermittlungen sind, entstehen, wenn im Fortleben ein Werk das Zeitalter seines Ruhmes erreicht hat. Sie dienen daher nicht sowohl diesem, wie schlechte Übersetzer es für ihre Arbeit zu beanspruchen pflegen, als daß sie ihm ihr Dasein verdanken. In ihnen erreicht das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung« (ebd., S. 10–11).

2

Bernhard Metz

ohne Übersetzungen kaum denkbar und haben diese entsprechend aufgewertet. Die Translationswissenschaft hat sich international als Disziplin etabliert. Besonders aber Weltliteratur, World Literature, Global Literature sind mit der internationalen Zirkulation und Rezeption von Übersetzungen aufs allerengste verflochten. Wie das maschinelle Übersetzen die Zukunft des Literaturbetriebs und die Praxis des literarischen Übersetzens beeinflussen wird, bleibt (noch) offen. Die Bedeutung literarischer Texte und ihrer Autorinnen und Autoren lässt sich überhaupt nur durch das Wissen darüber erfassen, wann, in welche Sprachen und Kulturräume, wie oft und weitverzweigt diese Texte übersetzt und auch international rezipiert worden sind. Internationale Literaturpreise und insbesondere der Nobelpreis für Literatur zeigen das beispielhaft, ist deren Vergabe doch trotz aller Weltläufigkeit und Belesenheit der jeweiligen Jurys immer auch von vorgängigen Übersetzungsprozessen abhängig, die für die Beurteilung notwendige Kenntnisse in andere Sprachen vermitteln. Seit 1967 wird etwa der National Book Award auch in der Sparte Translated Literature vergeben. Weltliteratur und globale Literatur, vielleicht Literatur überhaupt ist ohne Übersetzen, Übersetztwerden und Übersetzungen nicht zu haben. Das war freilich nie anders; es gab jedoch Zeiten, wo es weniger offensichtlich bzw. im Bewusstsein weniger präsent war als im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert. Robert Musil wusste dies früh, wie er so vieles hellsichtig verstand. Er war sich darüber im Klaren, wie wichtig Übersetzungen für den kommerziellen Erfolg literarischen Arbeitens sind und wie deutlich sie nicht nur anzeigen, wo ein literarisches Werk auch international einzuordnen ist, sondern auch welchen Status und welches Prestige ein Autor durch das Übersetztwerden rückwirkend im ursprünglichen literarischen Feld und heimischen Markt erreichen kann, da ja »der Dichter in der Übersetzung weiter bekannt« werden mag »als in der Ursprache«.3 Dieses Wissen änderte allerdings wenig daran, dass es damit zu Lebzeiten um ihn selbst schlecht stand, obwohl Musil vielfältige Gegenanstrengungen unternahm. War er schon im deutschsprachigen Raum kein wirklich erfolgreicher oder auflagenstarker Autor, so wurde er noch weniger außerhalb desselben gelesen; und jenseits des Deutschen in Übersetzung noch viel weniger. Zu Lebzeiten Musils ist keines seiner Bücher in eine andere Sprache übertragen worden. Es konnten nur kurze Kapitel des Mann ohne Eigenschaften ins Französische übersetzt und in Zeitschriften publiziert werden;4 in der kroatischen Zeitung Obzor erschien Anfang 1934 eine Artikelserie über den Mann ohne Eigenschaften, die neben einem Kommentar auch übersetzte 3 4

Robert Musil: Eine österreichische Kultur, in: Soldatenzeitung 27 (10. 12. 1916), S. 2–3. (KA/ Lesetexte/Bd. 11 Kleine Prosa/Veröffentlichungen in der Soldatenzeitung 1916–1917/Eine österreichische Kultur). Vgl. den Beitrag von Florence Vatan in diesem Band.

Einleitung

3

Passagen aus dem Roman enthielt.5 Es gab Verhandlungen mit keinem Geringeren als dem legendären Nietzsche-Übersetzer Pierre Klossowski, der sich interessiert zeigte, den Törleß ins Französische zu übertragen. Musil-Übersetzungen ins Englische lagen ebenso vor bzw. wurden angebahnt wie solche ins Dänische, Russische, Schwedische, Tschechische und Ungarische. Jedoch kam es nie zu viel mehr als einigen Zeitungs- und Zeitschriftenveröffentlichungen seiner Texte. Musils Bücher erschienen zu Lebzeiten in Deutschland, Österreich und der Schweiz, was nicht nur seiner eigenen, sondern auch der Exilsituation seiner Verleger geschuldet war. Aber sie wurden allesamt in deutscher Sprache publiziert. Die erste Veröffentlichung von übersetzten Musil-Texten in Buchform kam erst nach dem Krieg heraus, als Auswahl aus Nachlass zu Lebzeiten; sie erschien 1946 auf Dänisch in Kopenhagen unter dem Titel Skitser im kleinen Hasselbalch-Verlag und erlebte 1956 immerhin eine weitere Auflage. Bis 1938 wurden nur sehr kurze seiner Arbeiten wie Das Fliegenpapier, Die Maus, Die Affeninsel oder Hasenkatastrophe ins Tschechische, Englische und Französische übertragen. Danach gab es bis zu Musils Tod 1942 keine einzige (publizierte) Übersetzung eines seiner Texte.6 Als er mit seiner Ehefrau Martha 1938 in die Schweiz emigrieren musste und internationale Anerkennung nötiger hatte als je zuvor, vollends aber mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, schwanden endgültig letzte Hoffnungen auf literarische Erfolge außerhalb des deutschen Sprachraums. Seine Nichtübersetztheit hatte freilich nicht nur mit den zeitgeschichtlichen Umständen und seinem Status als unzeitgemäßer Autor, sondern auch mit den spezifischen Qualitäten seines Schreibens zu tun. Musil reflektierte sie als seine ›Unübersetzbarkeit‹ und bezog sie auf die grammatischen und stilistischen Besonderheiten seiner Texte. Wie groß hier die Herausforderungen sind, haben bis heute alle bestätigt, die sich auf Musil-Übersetzungen eingelassen haben.7 Die Geschichte von Musils Übersetzungen ist somit fast vollständig ein postumes Phänomen, wie auch die Geschichte seiner internationalen Rezeption und seiner Anerkennung als eines der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Diese weltliterarische Reputation ist in allen Fällen Übersetzungen geschuldet und der Tatsache, dass Musil auf diesem Wege auch von 5 6 7

Vgl. den Beitrag von Andy Jelčić in diesem Band. Vgl. für genauere Angaben zu Musils Übersetzungsgeschichte meinen Artikel: Übersetzungen, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 810–825. So gab Musil in einer gestrichenen Entwurfspassage neben zeitgeschichtlichen auch stilistische Gründe für seine eigene ›Unübersetzbarkeit‹ an, indem er gegenüber dem American Committee for Christian Refugees am 3. August 1940 anführte: »Da es infolge besonderer Umstände (meine Sprache ist schwer zu übersetzen, und meine Art die Probleme zu sehen, wirkt mehr intensiv als auf den ersten Blick und extensiv) keine ausreichende amerikanische oder englische Übersetzung von mir gibt [. . .]« (KA/Transkriptionen/Nachlass Mappen/Weitere Mappen/ Briefkonzepte III/10).

4

Bernhard Metz

Autorinnen und Autoren wie J. M. Coetzee, Bora Ćosić, Marguerite Duras, ¯ als Einfluss oder VorWilliam H. Gass, Milan Kundera oder Kenzaburo¯ Oe bild rezipiert werden konnte. Sie alle haben Musil nie auf Deutsch gelesen und konnten ihr eigenes Denken und Schreiben dennoch produktiv an ihm ausrichten und reflexiv an seinem Werk schärfen. Der Zugang der weltweit meisten Musil-Leser und -Leserinnen geschah und geschieht also, wie der Autor vorausgesehen hatte, durch Übersetzungen und Übertragungen, die oftmals sprachliche und kulturelle Abgründe überbrücken müssen. Gleichwohl oder gerade deswegen, durch die irreduzible Differenz zwischen den Sprachen und die Brüche und Abbrüche zwischen den verschiedensprachigen Texten, ergibt sich ein ästhetisch produktives Irritationspotential. Und auch damit hatte Musil selbst schon gerechnet. Er war sich nicht nur der Zirkulation von Literatur in Übersetzungen und ihres Erfolgs durch Übersetzungen bewusst, sondern diskutierte mit seiner vielsprachigen Ehefrau Martha intensiv übers Übersetzen und die Qualität von Übersetzungen und qualifizierte sie in Rezensionen und Lektürenotaten als gelungen oder problematisch. Dabei war Musil selbst als Leser zeitlebens auf Übersetzungen angewiesen, selbst Englisch und Französisch waren ihm nicht so geläufig, dass er Texte in diesen Sprachen las. Allerdings lebte er mit jemandem zusammen, der diese Schwächen in einem bewundernswerten Maße ausglich: Seine Ehefrau Martha sprach Deutsch, Italienisch, Englisch, Französisch und Russisch und war in diesen Literaturen wohlbelesen, plante russische Romane ins Italienische zu übersetzen und verfertigte Übersetzungen sowohl vom Deutschen ins Italienische als auch vom Französischen ins Deutsche. In ihrer mehrsprachigen Korrespondenz finden sich Urteile zur Übersetzungsqualität deutscher, englischer, französischer oder russischer Literatur ins Französische, Italienische oder Deutsche. Martha Musil wies beachtliche Fremdsprachen- und Übersetzungsfähigkeiten auf und kümmerte sich um viele der frühen Übersetzungen Musils. So verdankt sich Musils frühe internationale (und aus dem Ausland rückwirkend sogar deutschsprachige) Rezeption in besonderem Maße dem Einsatz seiner Ehefrau. Martha gab ›aus dem Nachlass‹ im Selbstverlag den 1943 in Lausanne erschienenen dritten Band des Mann ohne Eigenschaften heraus, der trotz aller (auch den Entstehungsumständen geschuldeten) philologischen Schwächen maßgeblich dazu beitrug, das Andenken Musils in der Nachkriegszeit zu bewahren und seine Texte zu sichern. Martha Musil stand im Übrigen auch in persönlichem Kontakt zu Ernst Kaiser und Eithne Wilkins, den Übersetzern der ersten englischen Mann ohne Eigenschaften-Ausgabe, sowie zum Schweizer Lyriker und Übersetzer Philippe Jaccottet. Die Bedeutung der Übersetzung für Musil hat aber auch noch eine poetologische Dimension. Denn er erkannte, dass der Schriftsteller auch in der eigenen Sprache immerzu eine fremde verwendet: »Das Verhältnis zwischen

Einleitung

5

Sprechen u[nd] Verstehen, Übersetzen aus einer u. in eine fremde Sprache findet sich auch in der eigenen. [. . .] Der Schriftsteller im Verhältnis zum Leser schreibt eine Fremdsprache.«8 Damit formulierte Musil Einsichten in das »understanding as translation« lange vor George Steiners After Babel und (hier) ganz im Einklang mit Walter Benjamin, der Die Aufgabe des Übersetzers u. a. darin sah, den fremden Text in der eigenen Sprache zur Entfaltung zu bringen. Musils Schreiben ist trotz aller Einsprachigkeit daher per se unter dem Paradigma der Übersetzung zu verstehen. Auch deshalb kann Musils literarische Bedeutung eigentlich nicht ohne eine genaue Untersuchung seiner vielfältigen Rezeption außerhalb des deutschen Sprachraums und insbesondere nicht ohne den sorgfältigen Vergleich seiner Übersetzungen in andere Sprachen ganz ermessen werden. Der Übersetzungsvergleich erschließt, mit anderen Worten, eine genuine Dimension von Musils eigener Poetik. Dabei wird dieser Vergleich umso aufschlussreicher, je mehr Übersetzungen ein Text in eine oder unterschiedliche Zielsprachen aufweist. Dazu gibt es wichtige Vorarbeiten wie namentlich jene von Peter Henninger, der in einer berühmten Modellanalyse einer Passage aus Die Portugiesin anhand von fünfzehn Übersetzungen in zwölf Sprachen gezeigt hat, wie sich bei semantisch ›instabilen‹ Stellen Übersetzungsschwierigkeiten häufen und dadurch einen ›verborgeneren‹ Sinn im Ausgangstext zugänglich machen.9 Von diesem Punkt aus ist Peter Utz im wichtigsten jüngeren Beitrag zum Thema noch einen Schritt weitergegangen, indem er englische und französische Übersetzungen des Mann ohne Eigenschaften in einen gleichberechtigten Dialog mit dem Original treten lässt,10 der in dieses hinein- und zugleich darüber hinausführt, da beim (literarischen) Übersetzen in einem »Verhältnis reziproker Resonanz«11 neue Bedeutung generiert werde. Überhaupt scheint es eine grundlegende Besonderheit von Musils Werk zu sein, semantische Überschüsse und Leerstellen in einem fortwährenden Bedeutungszuwachs gerade auch in Übersetzung lesbar zu machen. So nehmen ›transgressive‹ Musil-Übersetzungen und Theoriebildungen zu MusilÜbersetzungen eine Suchbewegung auf, die schon Musils Texte enthalten und auslösen. Es ist daher mehr als sinnvoll und produktiv, das Transgressionspotential vorliegender Musil-Übersetzungen breiter zu nutzen und das Untersuchungsfeld auf ein größeres Textkorpus und eine Vielfalt von Spra8 9 10 11

KA/Transkriptionen/Nachlass/Heft 30/104; vgl. Tb I, S. 781. Peter Henninger: Übersetzungsvergleich und Textinterpretation. Am Beispiel von Robert Musils Erzählung Die Portugiesin, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil. Hg. v. Annette Daigger u. Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 91–111. Peter Utz: Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München, Wien 2007. Peter Utz: Fremde Gefühle in fremden Sprachen. Der Mann ohne Eigenschaften im Licht seiner englischen und französischen Übersetzungen, in: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 173–186, hier S. 174.

6

Bernhard Metz

chen auszudehnen. Übersetzungsvergleiche, die bei mehr als drei Sprachen größere Textkorpora einbeziehen und translations- wie literaturwissenschaftlich auswerten, liegen für Musil bislang nicht vor. Dafür ist gerade jetzt der Zeitpunkt günstig, da nach Auslaufen der Urheberrechte vor zehn Jahren eine nicht nur intensivierte, sondern auch extensive und unkontrollierte Übersetzungstätigkeit in mehreren Sprachen zu beobachten ist. Musil ist heute – entsprechend seiner Stellung innerhalb der deutschsprachigen Literatur – als Autor der Weltliteratur etabliert und in etwa 50 Sprachen übersetzt, auch wenn die Verhältnisse innerhalb dieser Sprachen unausgewogen sind. Einige Beispiele: In Sprachen wie Hindi und Urdu, Bengali, Tamil oder Vietnamesisch gibt es Musil (noch) nicht zu lesen. Hingegen liegen vom Törleß acht Übersetzungen ins Italienische vor, es gibt drei Übersetzungen des Mann ohne Eigenschaften ins Italienische und zwei ins Englische, von unterschiedlichen Übersetzerinnen und Übersetzern. Umgekehrt ist der 2020 verstorbene Jaccottet derjenige, der als Einzelperson die meisten Musil-Texte in eine andere Sprache übersetzt hat, und diese Übersetzungen sind im kurzlebigen Literaturmarkt wohl am zeitlosesten geblieben. Ja sie wirkten sogar direkt auf andere Übersetzungen weiter: Die erste portugiesische Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften etwa basierte auf Jaccottets französischer. Diese Dominanz beginnt sich erst in den letzten Jahren allmählich zu ändern.12 Speziell die Geschichte der englischen Neuübersetzungen war von Animositäten und Rivalitäten durchsetzt und spiegelt auf auffällige Weise das Schicksal der Migration bzw. Emigration wieder, das Musil selbst traf, der in Genf an einem Ort starb, an den es ihn eher zufällig verschlagen hatte.13 Die Beschäftigung mit Übersetzungen weist als wichtiges Rezeptionsphänomen in der Musil-Forschung also eigene nationale Traditionen und internationale Überlieferungslinien auf. Bei Fachtagungen, Konferenzen und Publikationen standen die Übersetzungen Musils bereits einige Male im Zen12

13

Publizierte Alternativübersetzungen zu bestehenden Jaccottet-Übersetzungen gibt es bisher nur in einem Fall, der von Diane Meur übersetzten und 2010 in Paris erschienenen MusilSammlung La maison enchantée (darin aus dem Mann ohne Eigenschaften »Leona« sowie »Die Entdeckung der Familie«, eine 1926 veröffentlichte Vorfassung von Kapitel I/99, zudem Das verzauberte Haus und Die Versuchung der stillen Veronika). Stéphane Pesnel plant eine Neuübersetzung des Mann ohne Eigenschaften. Im März 2020 fand eine Übersetzerwerkstatt mit ihm und Studierenden des Masterseminars »Robert Musil übersetzt« von Irene Weber Henking und Hans-Georg von Arburg statt, freilich nicht am Centre de traduction littéraire der Université de Lausanne, sondern virtuell. Ernst Kaiser (1911–1972), der mit seiner in Neuseeland geborenen Ehefrau Eithne Wilkins (1914– 1975) die erste Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften überhaupt erstellte und dafür auch umfangreiche Nachlassforschungen durchführte, war Wiener; er musste seine Heimatstadt 1938 verlassen und nach England emigrieren; Sophie Wilkins (1915–2003) wurde ebenfalls in Wien geboren, lebte aber seit 1927 in New York, wo sie von 1959 bis 1971 bei Alfred A. Knopf arbeitete und u. a. Franz Kafka und Thomas Bernhard übersetzte, schließlich aber auch die amerikanische Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften mit dem Anspruch übernahm, Musil vom ›Exilenglisch‹ Kaisers erstmalig zu befreien.

Einleitung

7

trum.14 Der vorliegende Schwerpunkt des Musil-Forums verdeutlicht, wie breit und gewichtig das Spektrum ist, in dem sich Musils Übersetzungen und die Befassung mit ihnen aktuell zeigen und was dazu in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts an neuen Arbeiten, Erkenntnissen und Zugängen hinzugekommen ist. Er geht auf die Tagung der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft (IRMG) »Musil (wieder) übersetzt – Musil (à nouveau) traduit – Musil translated (again)« zurück, die vom 2. bis 4. April 2020 an der Université de Lausanne/UNIL hätte stattfinden sollen und – wie vieles – kurzfristig Covid-19 zum Opfer fiel. Da sich die Möglichkeit zum zeitnahen Nachholen nicht ergab, weil zu viele Menschen aus unterschiedlichsten Teilen der Welt mit zueinander inkompatiblen Aus-, Ein- und Wiedereinreisemodalitäten und Quarantäneregelungen hätten zusammenkommen sollen, musste die Entscheidung getroffen werden, diese Gelegenheit zu einem wissenschaftlichen Relaunch der Übersetzungsthematik bei Musil sowie eine geplante Exkursion zu Musils letzten Lebensstationen in Genf, die sich daran hätte anschließen sollen, gänzlich entfallen zu lassen. Die IRMG-Tagung 2020 »Musil (wieder) übersetzt – Musil (re)traduit – Musil (re-)translated« hatte sich das doppelte Ziel einer werkinternen und mehrsprachigen Erweiterung der übersetzungswissenschaftlichen und übersetzungspraktischen Auseinandersetzung mit Musils Werk gesetzt. Sie baute auf den Fragestellungen und Erkenntnissen in diesem Bereich auf, die bisher in der Musil-Forschung eher marginal geblieben waren, um sie auf eine breitere Textbasis zu stellen und ins Zentrum der methodischen Reflexion zu rücken. Mit der Klagenfurter Ausgabe und Musil Online sind dafür inzwischen optimale materiale Bedingungen gegeben. Die hohe Anzahl von Übersetzungen und insbesondere von Mehrfachübersetzungen bei Musil stellt zudem eine hervorragende Grundlage für übersetzungswissenschaftliche bzw. komparatistische Makro-Analysen und Large Corpus-Analysen dar, auch als hermeneutische Herausforderung und hinsichtlich ökonomischer Realitäten, werden daran doch auch die Besonderheiten nationaler Buchmärkte sichtbar. Im Sinne neuer quantitativer und empirisch ausgerichteter Verfahren der Digital Humanities bietet sich auch ein produktiver Umgang 14

So thematisierte das Europäische Übersetzerkollegium in Straelen vom 8. bis 10. Juni 1987 »Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil«; die gleichnamige Publikation von Annette Daigger und Gerti Militzer stellt bis heute die umfassendste Sammlung theoretischer Beiträge zu Musils Übersetzungen dar. Zudem gab es Symposien und Konferenzsektionen, die sich mit dem Übersetzen von Musils Texten befassten, in Klagenfurt (»Robert Musil – digitale Edition und internationale Vermittlung« vom 13. bis 15. Oktober 2005, organisiert von Walter Fanta), Wien (während der Auslandskulturtagung am 5. September 2005) sowie in Lancaster (»Re-contextualising Robert Musil: The author ›without qualities‹ and European Culture« vom 20. bis 21. September 2007, organisiert von Philip Payne), zusammenhängende Publikationen dazu erfolgten nicht. Vom 30. bis 31. Oktober 2021 organisierten Jiyoung Shin und Thomas Pekar das Kolloquium »Robert Musil – transkulturelle Lektüren« zur Musil-Rezeption im asiatisch-pazifischen Raum, das gemeinsam von der Korea University Seoul und der Gakushuin University Tokyo als virtuelle Hybridveranstaltung durchgeführt wurde.

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Bernhard Metz

mit den vorliegenden Übersetzungen an. Dabei können die Ergebnisse des übersetzungswissenschaftlichen Ansatzes in der Musil-Forschung auf die Übersetzungswissenschaften zurückwirken und gleichermaßen zukünftige Musil-Übersetzerinnen und -Übersetzer animieren und neu informieren. Die Lausanner Tagung hätte auch dazu beitragen sollen, die internationale Musil-Community außerhalb des deutschsprachigen Raumes besser zu vernetzen und dabei nicht zuletzt das Autorenportal Musil Online zu einer vielsprachigen Internetplattform ausbauen zu helfen. Musil Online International ist weiterhin geplant und versteht sich als Forschungsinitiative, aktuelle Übersetzungen mit früheren Übersetzungs- und Rezeptionsbeispielen in einen produktiven Dialog zu bringen und diesen in Text- und Bilddokumenten einfach und niederschwellig zugänglich zu machen. Zumindest ein Teil der für Lausanne bereits erarbeiteten Diskussion wird hier im Musil-Forum abgebildet,15 im Wissen darum, dass Vorstellung, Diskussion, Kritik, neue Erkenntnisse und auch Umarbeitung in allen Beiträgen ihre Spuren hinterlassen hätten und sowohl die professionellen Übersetzerinnen und Übersetzer als auch die Musil-Exegetinnen und Exegeten vom Austausch miteinander vielfach profitiert hätten. Die Beiträge verbinden daher nicht nur bestehende Traditionen, sondern eröffnen auch neue. Verfasst in Zusammenarbeit mit Hans-Georg von Arburg und Irene Weber Henking

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Zu danken ist dem Centre de traduction littéraire (CTL) der Université de Lausanne, das die Publikation der Beiträge der Übersetzerinnen und Übersetzer ermöglicht hat.

Peter Utz

»Ähnlichkeit«: Das übersetzerische Potential von Musils Gleichnispoetik Abstract: If one reads Robert Musil’s novel Törleß in its translations into French and English, one may discover a hidden poetics of translation. Not only does the young Törleß find it difficult to »translate« his feelings into language; the translator also faces this difficulty when considering the different meanings implied in the term »Ähnlichkeit«: while »likeness«, for example, suggests a hierarchical relationship between the original and the translation, »similitude« refers to an equal exchange relationship of the kind that will acquire a central place in the concept of »Gleichnis« in The Man without Qualities. Musil’s aesthetic revaluation of the idea of similitude thus approaches contemporary positions such as that of Paul Valéry. It has the potential to guide a reperspectivization of translation that detaches it from the categories of identity and difference and places translation alongside the original in a free and egalitarian relationship.

1. Musils versteckte Poetik des Übersetzens In Robert Musils Werk steckt eine Poetik des Übersetzens. Er ›übersetzt‹, wenn er schreibt, in der eigenen Sprache und in die eigene Sprache. Eine bekannte Notiz aus den Tagebüchern macht dies explizit: Das Verhältnis zwischen Sprechen u Verstehen, Übersetzen aus einer u. in eine fremde Sprache findet sich auch in der eigenen. [. . .] Der Schriftsteller im Verhältnis zum Leser schreibt eine Fremdsprache. (Tb I, S. 781)

Nicht nur für den Leser und sein Vorverständnis ist die Sprache, die der Schriftsteller schreibt, eine »Fremdsprache«. Auch für den Schriftsteller selbst ist das Schreiben insofern ein »Übersetzen«, als ihm schreibend immer nur Annäherungen gelingen an das, was zu formulieren wäre, was sich jedoch dem Wort gleich wieder entzieht. Für diesen unabschließbaren intralingualen Prozess setzt Musil hier das interlinguale »Übersetzen« als Gleichnis. Damit führt er gleich vor, was er behauptet: Nur in Form von Gleichnissen lässt sich annäherungsweise das ausdrücken, was im »Gefühl«, vorsprachlich, latent, auf Formulierung wartet. In einem Nachlasskapitel des Mann ohne Eigenschaften zum »Gefühl« greift Musil dafür ebenfalls zur Metapher des Übersetzens:

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Peter Utz

Das Gefühl wird in die Sprache der Handlung übersetzt, und die Handlung in die Sprache des Gefühls, wodurch, wie bei jeder Übersetzung, einiges neu hinzukommt und einiges verlorengeht. (MoE, S. 1166)

Auch hier setzt Musil auf das »Übersetzen« als einen Prozessbegriff. Mit dieser Metapher schlägt er eine Brücke zwischen den zwei Welten von »Gefühl« und »Handlung«, denen je besondere »Sprachen« eigen sind. Zwischen ihnen stellt das »Übersetzen« eine wechselseitige Resonanz her. Zudem definiert Musil hier das Übersetzen als Prozess, bei dem auch »einiges neu hinzukommt«, und erlöst es damit vom Stigma als systematisches Verlustgeschäft.1 Die Frage, ob und wie denn Gefühle überhaupt verbalisierbar sind und wie sie in die Sprache des Textes zu heben wären, beschäftigt Musil schon viel früher. Sie ist die eigentliche Obsession seines Romanerstlings Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906). Dort allerdings spricht Musil selbst noch nicht von »Übersetzung«. Das Wort kommt im deutschen Text nicht vor. Trotzdem steckt in Musils Romanerstling bereits potentiell eine Poetik des sprachinternen Übersetzens. Das soll im Folgenden an den interlingualen Übersetzungen des Törleß ins Französische und Englische gezeigt werden. Sie entfalten – so die These – diese immanente Übersetzungspoetik und machen sie greifbar. Diese wird von Musil als wechselseitige Austauschbeziehung konzipiert, wie sie später im Mann ohne Eigenschaften im »Gleichnis« zentral wird. Dabei rücken Original und Übersetzung ohne hierarchische Stufung auf eine gleiche Ebene, in eine Beziehung der »Ähnlichkeit«. So wertet Musils implizites Konzept des innersprachlichen Übersetzens auch das Ähnlichkeitsdenken auf, wie es in seiner Zeit etwa Paul Valéry vertritt. Dieses könnte seinerseits – das soll ein abschließender Ausblick zeigen – eine Neuperspektivierung des Übersetzens anleiten, welche die Übersetzung aus den Kategorien von Identität und Differenz löst und sie in einer freien und egalitären Beziehung neben das Original stellt. Im Törleß ist dies alles schon angelegt. In unzähligen Anläufen versucht die Erzählerstimme, der »Verwirrungen« von Törleß sprachlich habhaft zu werden, indem sie sich mimetisch dessen Gedankengänge anverwandelt. Das ist Musils spezieller Umgang mit einer für die ganze Generation repräsentativen Sprachkrise. Sein Törleß hat das »Gefühl« einer »unauflöslichen Unverständlichkeit«, trotz aller »Verwandtschaft« zu »Ereignisse[n], Menschen, Dinge[n]«: Sie schienen ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. (GW 6, S. 25)

Auch wenn Musil hier noch nicht zur Metapher des Übersetzens greift, steckt in dieser Stelle eine Poetik des Übersetzens. Dies zeigt sich in der französi1

Vgl. Peter Utz: Fremde Gefühle in fremden Sprachen. Der Mann ohne Eigenschaften im Lichte seiner englischen und französischen Übersetzungen, in: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 173–186.

»Ähnlichkeit«

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schen Lesart von Philippe Jaccottet, der 1960 in Les désarrois de l’élève Törleß an dieser Stelle formuliert: Ils semblaient avoir un sens palpable et pourtant n’être jamais complètement traduisibles en mots et pensées. (Ja, S. 38)2

Im Englischen spiegelt sich die Schwierigkeit, diese Gefühle in »Worte« zu setzen, in den unterschiedlichen Worten, welche die vier Übersetzungen dafür finden. Die Erstübersetzung durch Wilkins und Kaiser (1955) formuliert: Then these things would seem tangibly comprehensible, and yet he could never entirely resolve them into words and ideas. (W/K, S. 30)3

Statt dieser harmonisierenden ›Auflösung‹ der Gefühle in Worte setzt Whiteside 2001 viel skeptischer und härter: [. . .] could never entirely be broken down into words and thoughts. (Wh, S. 25)4

Mike Mitchell kommt 2014 auf die Lösung der Erstübersetzung zurück: [. . .] could never entirely be resolved in words and thoughts. (Mi, S. 25)5

Im gleichen Jahr 2014 setzt dagegen Christopher Moncrieff in seinen Confusions of Young Master Törleß: [. . .] couldn’t be fully translated into words and thoughts. (Mo, S. 27)6

Was Jaccottet schon 1960 aus der Stelle entfaltet, wird analog auch in der jüngsten englischen Übersetzung lesbar: Das Problem von Törleß, das auch das Problem seines Erzählers ist, lässt sich als ein Übersetzungsproblem formulieren und übersetzen. Moncrieffs Lesart kann man zudem als metasprachliche Bilanz verstehen für die nicht abschließbare Suche nach dem angemessenen sprachlichen Ausdruck, die sich in den englischen Übersetzungen fortsetzt. Der Impuls dafür geht vom Original aus: Weil Musil beim Schreiben die eigene Sprache zur »Fremdsprache« wird, so wie sie auch für seinen Törleß eigentlich eine Fremdsprache ist, muss sie in den fremden Sprachen eigentlich doppelt ›übersetzt‹ werden. 2 3 4 5 6

Robert Musil: Les désarrois de l’élève Törleß. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1960. In der Folge im Text nachgewiesen mit der Sigle »Ja«. Robert Musil: Young Törleß. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. Nachwort v. John Simon. New York 1978 (Erstpublikation 1955). In der Folge im Text nachgewiesen mit der Sigle »W/K«. Robert Musil: The Confusions of Young Törleß. Übers. v. Shaun Whiteside. Mit einer Einleitung v. J. M. Coetzee. London, New York 2001. In der Folge im Text nachgewiesen mit der Sigle »Wh«. Robert Musil: The Confusions of Young Törleß. Übers. v. Mike Mitchell. Mit einer Einleitung und Anmerkungen v. Ritchie Robertson. Oxford 2014. In der Folge im Text nachgewiesen mit der Sigle »Mi«. Robert Musil: The Confusions of Young Master Törleß. Übers. v. Christopher Moncrieff. Richmond 2014. In der Folge im Text nachgewiesen mit der Sigle »Mo«.

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Peter Utz

Deshalb ist es auch folgerichtig, wenn Jaccottet auch an weiteren Stellen zum ›Übersetzen‹ greift: So geht es am Anfang des Romans darum, dass man die Psyche nur am Körper ablesen könne, der seinerseits wie das »Greif- und Besprechbare« um das »Skelett« der »geistigen Persönlichkeit« herumgelagert sei (GW 6, S. 11). Musils hochkomplexe Formulierung wird von Jaccottet als Vergleich ausformuliert: »qui enveloppe ce que l’on peut saisir et traduire comme la chair enveloppe le squelette« (Ja, S. 15). Dem Übersetzer ist nur das übersetzbar, was er auch greifen kann, an der Oberfläche der Sprache.7 Auch am Ende des Romans, bei der Befragung von Törleß durch die Lehrer, geht es nochmals um Törleß’ Ausdrucksproblem, das offensichtlich zentral zum Titelbegriff seiner »Verwirrungen« gehört. Törleß sagt den Lehrern: »Nun ja, ich fühle mich verwirrt; ich hatte einmal schon viel bessere Worte dafür.« (GW 6, 134)

Jaccottet setzt auch hier nochmals »traduire« und schlägt damit den Bogen zurück zu jenen früheren Stellen, an denen er das Ausdrucks- als ein Übersetzungsproblem formuliert hat: »Il est vrai que mon désarroi est grand: j’avais pourtant mieux su traduire mon expérience.« (Ja, S. 228)

So zieht Jaccottet in seinen Roman eine Ebene des ›Übersetzens‹ ein, in der wie in einem Wasserzeichen seine Übersetzung als Übersetzung kenntlich gemacht wird.8 Umgekehrt zeigt sich darin aber auch die übersetzerische Dimension, die Musils Poetik von Anfang an implizit eigen ist.

2. Dimensionen der »Ähnlichkeit« im Törleß Die Suche nach dem adäquaten Ausdruck ist unabschließbar. Er kann sich den Gefühlen nur annähern, sich ihnen dabei in immer neuen Anläufen immer nur ›ähnlich‹ machen. Weil die Sprache höchstens indirekt, als ›Übersetzung‹, 7

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Jaccottet weicht hier am Satzende sehr weit vom Original ab. Dieses lautet: »Der Umgang mit dem Prinzen [. . .] bahnte in ihm jene Art Menschenkenntnis an, die es lehrt, einen anderen nach dem Fall der Stimme, nach der Art, wie er etwas in die Hand nimmt, ja selbst nach dem Timbre seines Schweigens und dem Ausdruck der körperlichen Haltung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz nach dieser beweglichen, kaum greifbaren und doch erst eigentlichen, vollen Art etwas Seelisch-Menschliches zu sein, die um den Kern, das Greif- und Besprechbare, wie um ein bloßes Skelett herumgelagert ist, so zu erkennen und zu genießen, daß man die geistige Persönlichkeit dabei vorwegnimmt.« (GW 6, S. 11) Jaccottet liest daraus eine Verhältnisbestimmung von ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹: »qui enveloppe ce que l’on peut saisir et traduire comme la chair enveloppe le squelette; si bien qu’à cette seule analyse des surfaces, on devine les profondeurs.« (Ja, S. 15) Analoge Stellen gibt es auch im Mann ohne Eigenschaften, wo Jaccottet zum Begriff des »traduire« greift, wenn es um ein Ausdrucksproblem Ulrichs geht; vgl. Peter Utz: Anders gesagt –

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das formulieren kann, was auszudrücken wäre, wird sie selbst zum »Gleichnis« für eine Realität, die auch alle inneren Vorgänge umfasst. Diesen Begriff wird Musil erst im Mann ohne Eigenschaften zum reflexiven Zentrum seiner Poetik machen. Im Törleß wird die Gleichnisrede zunächst als poetische Praxis entwickelt, aus dem Ausdrucksproblem heraus. Dabei scheint auch jene »Ähnlichkeit« auf, die sich bei Musil zur Annäherungsformel für das Verhältnis zwischen Gesagtem und Gemeintem entwickelt. Sie wird dabei aber ihrerseits mehrdeutig, ambivalent, was sich wiederum in den Übersetzungen in andere Sprachen greifen lässt. An einer frühen Stelle des Romans würgt nicht nur Törleß, sondern auch sein Erzähler Worte hervor, die dem Gemeinten höchstens »entfernt ähnlich« sehen: [. . .] die Worte sagten es nicht; so arg, wie es die Worte machen, ist es gar nicht; es ist etwas ganz Stummes, – ein Würgen in der Kehle, ein kaum merkbarer Gedanke, und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten sagen wollte, käme es so heraus; aber dann ist es auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind . . . . (GW 6, S. 18)

Auch hier liest Jaccottet das Ausdrucksproblem als eines des ›Übersetzens‹: [. . .] une pensée à peine saisissable, et qui ne prendrait cette forme que si l’on insistait pour la traduire en mots; mais entre cette forme et la chose, alors, il ne subsistait plus qu’une ressemblance vague [. . .]. (Ja, S. 25 f.)

Zur Selbstreflexion des Übersetzens wird die Stelle aber erst recht dadurch, dass er jenes »es«, das bei Musil pronominal für das Unaussprechliche steht, an dem der Zögling würgt, nun substantiviert und substanzialisiert: Die sprachliche ›Übersetzung‹ wird dabei zu einer »forme« – das erinnert an Benjamins Aufgabe des Übersetzers, der die Übersetzung als »Form« charakterisiert.9 Das auszudrückende »Es« dagegen wird für Jaccottet zu einer »chose«. Und die Verhältnisbeziehung dazwischen ist eine »ressemblance vague«, eine der ›undeutlichen‹ oder ›unbestimmten Ähnlichkeit‹. So übersetzt Jaccottet die Stelle in eine dichotomische Relation von Vorbild und Abbild hinein. »Ähnlichkeit« ist dafür der Maßstab, wie Letzteres am Ersteren zu messen sei. Bei Musil dagegen sind die Verhältnisse weniger klar; »Ähnlichkeit« ist eine Wahrnehmungs- und Verhältnisbeziehung von Subjekt und Objekt, in der auch – wie der folgende Teilsatz noch vergleichend ausführt – »wie in einer riesigen Vergrößerung« plötzliche Verdeutlichungen, aber auch Verzerrungen und Illusionen möglich sind.

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autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007, S. 246–249. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders: Gesammelte Schriften. Bd. IV/1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980, S. 9–21, hier S. 9.

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Erst recht abgründig und verwirrend wird die Kategorie der »Ähnlichkeit« für Törleß im Zusammenhang jener sadistischen Machtspiele um den Mitzögling Basini, in die er durch Beineberg hineingezogen wird. Dieser erklärt ihm in einem langen nächtlichen Gespräch die Motive, weshalb er sich gezwungen sehe, Basini zu quälen. Beinebergs Begründung: »Ich bin mir schuldig, täglich an ihm zu lernen, daß das bloße Menschsein gar nichts bedeutet, – eine bloße äffende, äußerliche Ähnlichkeit.« (GW 6, S. 60)

Törleß, ohnehin verwirrt durch Beinebergs hochfahrende Spekulationen, versteht ihn nicht, kann ihm aber auch nicht widersprechen. Nur in erlebter Rede teilt der Text mit uns seine Fragen, die um den Begriff der »Ähnlichkeit« zu kreisen beginnen: Beinebergs letzte Worte klangen in ihm nach: »Eine bloße äußerliche, äffende Ähnlichkeit«, wiederholte er sich. Das schien auch auf sein Verhältnis zu Basini zu passen. Bestand nicht der sonderbare Reiz, den dieser auf ihn ausübte, in solchen Gesichten? Einfach darin, daß er sich nicht in ihn hineindenken konnte und ihn daher stets wie in unbestimmten Bildern empfand? War nicht, als er sich vorhin Basini vorgestellt hatte, hinter dessen Gesicht ein zweites, verschwimmendes gestanden? Von einer greifbaren Ähnlichkeit, die sich doch an nichts anknüpfen ließ? (GW 6, S. 60)

Von jener »äffenden Ähnlichkeit« Beinebergs, die Törleß zunächst noch verdoppelnd nachäfft, führt der innere Gedankengang zu einer »Ähnlichkeit«, die nicht mehr referentiell bestimmbar ist, sich »an nichts anknüpfen« lässt. In der Folge erinnert sich Törleß an frühere innere »Gesichte«, an ein »Etwas, das so einfach und so fremd erschien.« Er erinnert sich an Bilder, »die doch keine Bilder waren«: Es waren Ähnlichkeiten und unüberbrückbare Unähnlichkeiten zugleich. (GW 6, S. 61)

Weiter kommt Törleß in seinen träumerischen Gedankengängen hier nicht. Das nächtliche Treffen mit Beineberg bricht bald darauf ab, und damit auch die Spekulation über das, was »Ähnlichkeit« bedeuten könnte – Musil wird sie erst im Mann ohne Eigenschaften weitertreiben. Die Übersetzer des Romans jedoch müssen dem Begriff an den drei Stellen, an denen er hier in Musils Text aufeinander folgt, Bedeutung geben. Indem sie seine Bedeutungsdimensionen auslegen und auseinanderlegen, führen sie eigentlich das textinterne Ringen um den Begriff weiter, schreiben insofern das Werk fort. Im Französischen gibt Jaccottet die »Ähnlichkeit« immer als »ressemblance« wieder, aber mit kontextuellen Abtönungen: 1. eine bloße äffende, äußerliche Ähnlichkeit 1. ce n’est qu’une ressemblance tout extérieure, une singerie (Ja, S. 96)

»Ähnlichkeit«

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Jaccottet akzentuiert hier das Äußerliche dieser »Ähnlichkeit« – es ist ja eigentlich Beinebergs Begriff, der hier zitiert wird. Auf die zweite »Ähnlichkeit« hingegen trifft Törleß bei seinem inneren Gedankengang. Sie ist ihm viel weniger klar, obwohl sie ihm »greifbar« erscheint: 2. einer greifbaren Ähnlichkeit, die sich doch an nichts anknüpfen ließ 2. une ressemblance frappante et pourtant indéfinissable (Ja, S. 97)

Während sich Törleß hier in das Paradox verstrickt, dass eine »Ähnlichkeit« »greifbar« erscheint, obschon sie keine Referenz hat, sucht Jaccottet als Übersetzer mit dem »indéfinissable« noch implizit nach einer ›Definition‹, einem treffenden Ausdruck. Auch an der dritten Stelle setzt Jaccottet für »Ähnlichkeit« die »ressemblance«, doch dann schafft er eine wesentliche Differenz zum Original: 3. Es waren Ähnlichkeiten und unüberbrückbare Unähnlichkeiten zugleich. 3. C’étaient, tout à la fois, des ressemblances et d’insurmontables différences. (Ja, S. 97)

Während bei Musil der Widerspruch von »Ähnlichkeiten« und »Unähnlichkeiten« unaufgelöst vibriert, setzt Jaccottet mit den »différences« auf einen Differenz-Begriff, in dem ein dichotomisches Denken von Identität und Differenz fixiert ist. Damit markiert er gleich auch jene ›Differenz‹ zum Original, die er hier übersetzend schafft. Dass sie für ihn nicht »unüberbrückbar« ist, sondern ›unübersteigbar‹, akzentuiert noch den Bruch: Der Übersetzer schlägt hier keine Brücke, sondern steht vor einem Berg. Gewiss, das ist auch der Differenz der Sprachsysteme geschuldet, weil das Französische kein direktes Äquivalent für »unüberbrückbar« kennt. Doch schon hier deutet sich an, wie der Übersetzer auf das Angebot an Nähe, das im Begriff der »Ähnlichkeit« steckt, gerade mit einer bewussten Distanzierung antwortet. Im Englischen dagegen gibt es schon vom Sprachsystem her mehr Möglichkeiten, das Bedeutungspotential des deutschen Begriffs auszuschreiten. Für »Ähnlichkeit« finden sich im Lexikon: »likeness, resemblance, similarity, similitude«. Dieses Spektrum schöpfen die vier publizierten englischen Übersetzungen der Passage je unterschiedlich aus und setzen so weitere, neue Bedeutungsakzente. Die englische Erstübersetzung durch Wilkins und Kaiser setzt an der ersten Stelle auf die »semblance«, als äußerlichem ›Anschein‹: 1. it’s a mockery, a mere external semblance (W/K, S. 73)

Bei der zweiten Stelle dagegen wechselt sie zu »likeness«, die hier mit der Verbindung der zwei Sätze auf das »zweite« Gesicht Basinis bezogen wird. Während die Ähnlichkeit bei Musil sich »an nichts anknüpfen« lässt, sucht diese Übersetzung noch nach der Referenz und wiederholt dabei sogar den Begriff:

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2. War nicht, als er sich vorhin Basini vorgestellt hatte, hinter dessen Gesicht ein zweites, verschwimmendes gestanden? Von einer greifbaren Ähnlichkeit, die sich doch an nichts anknüpfen ließ? 2. Just now, when he had tried to picture Basini to himself, had there not been behind his face a second one, blurred and shadowy and yet on a tangible likeness, though it was impossible to say what it was a likeness of? (W/K, S. 73)

Auch an der dritten Stelle setzen Wilkins und Kaiser »likeness« und folgen in der Negation des Begriffs dem Original. Und wie bei Jaccottet wird auch hier die »unüberbrückbare« Differenz zum ›unüberschreitbaren‹ Hindernis: 3. They were likenesses and yet at the same time unlikenesses, unsurmountabIe. (W/K, S. 74)

Die Zweitübersetzung durch Shaun Whiteside von 2001 dagegen greift nur an der ersten und zweiten Stelle zu »likeness«: 1. a merely aping, outward likeness (Wh, S. 66) 2. that bore a tangible likeness, although one could not say to what (Wh, S. 66)

Auch diese Übersetzung sucht hier noch nach einer Referenz, obwohl Musil eigentlich schon dementiert, dass es eine solche geben kann. An der dritten Stelle dagegen greift Whiteside zu einem Alternativbegriff: 3. There were similarities and unbridgeable dissimilarities. (Wh, S. 67)

Mit »similarities« wechselt die Perspektive: Es geht nicht mehr um die Referenz-, sondern um die Vergleichsdimension von »Ähnlichkeit«. Whiteside, der nun auch dem »unüberbrückbar« wörtlich folgt, setzt damit einen klaren Deutungsakzent. Mike Mitchell hingegen wählt 2014 »similarity« auch schon für die ersten beiden Stellen; er folgt damit dem deutschen Text, ohne dessen Begriffsdilemma interpretierend aufzulösen. Dabei erkennt er auch, dass im zweiten Beispielsatz die »Ähnlichkeit« an nichts »anknüpfen« kann: 1. is merely an imitative, external similarity (Mi, S. 65) 2. Of tangible similarity which, however, could not be tied to anything. (Mi, S. 65) 3. There were similarities and insuperable dissimilarities at the same time. (Mi, S. 65)

Christopher Moncrieff dagegen nimmt im gleichen Jahr 2014 entschieden Abstand von der deutschen Textvorlage, die er freier übersetzend ausinterpretiert. Die »äußerliche Ähnlichkeit« ist ihm nur noch ›oberflächlicher Anschein‹: 1. that it’s nothing more than an apelike, superficial appearence. (Mo, S. 72)

An der zweiten Stelle geht es ihm um die Unmöglichkeit der physiognomischen ›Identifizierung‹ von Gesichtern: 2. A face that bore a striking resemblance to the other one, and yet which was somehow unidentifiable. (Mo, S. 72 f.)

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Erst an der dritten Stelle wählt Moncrieff für »Ähnlichkeiten« »similarities«, akzentuiert aber hier, wie Jaccottet, die ›Differenz‹, die er als ›unvereinbare‹ noch betont: 3. There were similarities and irreconcilable differences at one and the same time. (Mo, S. 73)

Fast möchte man diesen Satz auch auf die hier nebeneinandergelegten Übersetzungen anwenden: Sie zeigen »Ähnlichkeiten« und doch auch unüberbrückbare Differenzen. Die »Verwirrungen«, in die Törleß beim Ringen um einen adäquaten Ausdruck seiner Ähnlichkeitserfahrungen gerät, scheinen sich in den Übersetzungen, die das Original aus- und weiterschreiben müssen, noch zu potenzieren. Trotzdem zeigen sich im Vergleich dieser Lesarten bestimmte Muster, in denen sich verschiedene Dimensionen der »Ähnlichkeit« im Original ausmachen lassen: Unbestritten entspricht die erste Stelle einer simplen Abbildrelation zu einem Vorbild, dem man nachäffend nahekommen kann. Es ist ein Wort und ein Konzept Beinebergs, letztlich so trivial gestrickt wie dessen brutale Gedankengespinste. An der zweiten Stelle dagegen sucht Törleß nach einer Ähnlichkeitsrelation zu einem Vor-Bild, obwohl er weiß, dass es dieses eigentlich nicht geben kann. Hier driften die Übersetzungen am weitesten auseinander, mit »likeness«, »similarity« oder »resemblance«. Die Vorstellung einer ›Ähnlichkeit ohne Original‹, auf die Törleß hier stößt und die schon in der Romantik – etwa in Hoffmanns Sandmann – auftaucht, muss jeden Übersetzer gleichzeitig beunruhigen und befreien.10 Denn sie gibt ihm – wie die breit gestreuten Lesarten hier auch zeigen – Deutungsspielraum, setzt das ›Abbild‹ als solches frei. Daraus zieht die dritte Passage die Konsequenz: Die »Bilder«, die »ähnlich« und »unähnlich« zugleich erscheinen, werden nicht mehr auf ihre Referenz befragt, sondern auf das, was sie für den Betrachter verbindet. Darum wählt etwa Whiteside mit »similarities« hier klar einen anderen Begriff als das abbildbezogene »likeness«, das er an den ersten beiden Stellen setzt. In dieser Zeichendimension sind allerdings »Ähnlichkeiten« und »Unähnlichkeiten« höchst irritierend kopräsent. Der Begriff der ›Differenz‹, wie ihn Jaccottet und Moncrieff hier ins Spiel bringen, wirkt wie ein Versuch, das freie, aber umso beunruhigendere Spiel der Ähnlichkeiten auf eine sichere Logik von Identität und Differenz zurückzubeziehen. Nicht zufällig suchen beide auch an der zweiten Stelle nach einer »Ähnlichkeit«, die »définissable« oder »identifiable« wäre, obwohl sie beide auch zu verstehen geben, dass dies das Original gerade für unmöglich erklärt. Zwar bleibt auch in der »riesigen Vergrößerung« dieser Mikrolektüre der Übersetzungen das, was Törleß hier unter dem Begriff der »Ähnlichkeit« 10

Vgl. Utz: Anders gesagt (Anm. 8), S. 86–97.

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sucht, unscharf. Im analytischen Vergleich der Übersetzungen zeichnet sich jedoch ab, wie dieser Begriff an dieser Stelle die Dimension und die Ausrichtung wechselt: Aus einer Abbildrelation wird eine Relation zwischen Bildern. Die vertikale Referenzachse kippt gewissermaßen in eine horizontale Zeichenachse. Genau in diesem Umkippen fordert die »Ähnlichkeit« die Übersetzer heraus. Denn darin steckt ein übersetzungstheoretisches Erkenntnispotential, von dem noch die Rede sein wird.

3. Musils spätere Annäherungen an die »Ähnlichkeit« Vorerst sei kurz skizziert, wie sich Musil weiter mit diesem Begriff auseinandersetzt und wie sich dieser zu einem erkenntnistheoretischen Rahmen für seine Gleichnispoetik entwickelt. Dass Musil mit dieser ästhetischen Aufwertung der »Ähnlichkeit« in seiner Zeit nicht allein ist, kann ebenfalls nur angedeutet werden. Die verwirrenden Überlegungen zur »Ähnlichkeit«, in die sich Törleß verstrickt, scheinen Musil selbst zunächst daran zu hindern, analytisch auf diese Kategorie zu bauen. »Ähnlichkeit« ist ein Begriff der Unschärfe, aber auch ein unscharfer Begriff. Im Artikel Analyse und Synthese von 1913 geht Musil von der These aus, dass Dichter insofern »analytisch« sind, als »jedes Gleichnis« eine »ungewollte Analyse« sei (GW 8, S. 1008). Doch er warnt davor, dass bei dieser Form der gleichnishaften Analyse »schließlich alles mit allem verwandt, aus allem ableitbar« werde, und: »[. . .] das Geschehen zerfällt in Ähnlichkeiten mit schrankenlosen Kombinationsmöglichkeiten.« (ebd.) Auch in seiner Polemik gegen Oswald Spengler von 1921 spießt Musil die Beliebigkeit des Analogiedenkens auf, die er bei Spengler ausmacht. Er führt sie satirisch ad absurdum: Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. (GW 8, S. 1044)11

Solche Syllogismen lauern für Musil dort, wo – wie bei Spengler – das Analogiedenken die rationale Erkenntnis überwuchert. Diesbezüglich enthält Musils Kritik an Spengler auch eine warnende Selbstreflexion. Denn in seinem literarischen Werk gewinnt das Analogiedenken als kreative Praxis und die »Ähnlichkeit« als Erkenntniskategorie immer mehr an Gewicht.12 Dies im Verein mit der Aufwertung des »Gleich11 12

Vgl. Dorothee Kimmich: Ins Ungefähre. Ähnlichkeit und Moderne. Paderborn 2019, S. 18. Sie geht allerdings nicht weiter auf Musils Ähnlichkeitsdenken ein. In der Posse Vinzenz oder die Freundin bedeutender Männer (1923) wird die »Ähnlichkeit« als letztes Wort zum Fluchtpunkt und zur Aus-Rede des Stücks, indem Vinzenz am Schluss gegenüber Alpha die Unmöglichkeit einer Beziehung damit begründet: »[. . .] wir sind einander vielleicht doch zu ähnlich.« (GW 6, S. 452)

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nisses«.13 Dieses wird im Mann ohne Eigenschaften bekanntlich zu einer zentralen Kategorie. Als »gleitende Logik der Seele« (MoE, S. 593) wird es zum Motor einer ästhetischen Form der Erkenntnis, die nicht, wie die Wissenschaft, auf Eindeutigkeit und Identität abzielt, sondern ständig neue Bezüge zwischen verschiedenen Lebensbereichen schafft. Dabei stellt das Gleichnis gerade nicht Gleichheit her, sondern es lässt Differenzen erscheinen und dynamisch vibrieren. In den Tagebüchern notiert Musil: »Ein anderer Sinn von Gleichnissen: entfremden, entfernen.« (Tb I, S. 470) Symptomatisch, dass sich genau für das »Gleichnis« weder in den französischen noch in den englischen Übersetzungen ein Äquivalent durchsetzen kann; für das »Gleichnis« gibt es in diesen Sprachen nichts ›Gleiches‹. Jaccottet setzt je nach Kontext »image«, »comparaison« oder »métaphore«; die englischen Übersetzer »simile«, »symbole« oder »metaphor«.14 Die italienischen Übersetzungen schwanken zwischen »parabola«, »allegoria« und »metafora«.15 Diese vielfachen Lesarten zeigen schon, was in der »gleitenden Logik« der Gleichnisse angelegt ist: Sie sind eher metonymische Fluchten von kreativen Sprachbildern als metaphorische Platzhalter eines ›eigentlichen‹ Sinns. So emanzipiert sich das Gleichnis von einem kreativen Notbehelf aus der Sprachkrise, unter der es im Törleß entstanden war, zu einem ästhetischen Erkenntnisinstrument eigenen Rechts. Das hat auch Folgen für die Kategorie der »Ähnlichkeit«: Sie wird mit und im »Gleichnis« im Mann ohne Eigenschaften zu einer wichtigen Erkenntnisgröße. Denn die Gleichnisse stellen im Roman Ähnlichkeiten her, auch dort, wo man sie nicht vermutet. »Ähnlichkeit« ist jedoch als ästhetische Kategorie im Wortsinn eine Frage der subjektiven Wahrnehmung, die immer kontextabhängig bleibt und sich insofern nicht objektivieren lässt. Die sprachlich erzeugte Bilderflucht, in die der Roman seinen Leser verwickelt, wird dabei gesteuert von der »Ähnlichkeit des Worts mit sich selbst« (GW 8, S. 1213), wie Musil 1931 im Essay Literat und Literatur formuliert. Diese tritt an die Stelle der »begrifflichen Identität« des Worts im »gewöhnlichen Gebrauch« (ebd.). Die Kategorie der »Ähnlichkeit« wechselt damit hier auch explizit ihre axiale Orientierung: Von einer paradigmatischen Verhältnisbeziehung zwischen Vorbild und Abbild wird sie zu einer syntagmatischen Relation zwischen einander folgenden Bildern. Diese Bilderfolgen erzeugen Bedeutungen, für die es noch keinen Begriff gibt, ja keinen Begriff geben kann. Dies hat sich an jener Stelle des Törleß, die vorhin unter dem Vergrößerungsglas der Übersetzungen lag, in diesen schon abgezeichnet. 13 14 15

Vgl. dazu umfassend, mit weiterer Literatur: Inka Mülder-Bach: Gleichnis, in: Robert MusilHandbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 751–759. Vgl. Utz: Anders gesagt (Anm. 8), S. 276–281. Vgl. Gioia Valdemarca: Zwei Übersetzungen, zwei Romane: Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Sprache (2007), in: http://www.musilgesellschaft.at/texte/Musil%20international/ GValdemarca_MoE_ital.pdf (aufgerufen am 21. 6. 2022).

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Der Mann ohne Eigenschaften wird zum Laboratorium von solchen Ähnlichkeitsrelationen. Ulrich, der sie kommentierend erschließt, wird auch diesbezüglich zu einem erwachsenen Törleß. Zusammen mit seiner Schwester Agathe inkarniert er im zweiten Teil des Romans diese neue Dimension der Ähnlichkeit. Sie setzt genau mit dem Tod des Vaters ein: Während die Beziehung zum Vater noch eine hierarchische, vertikale Abbildrelation repräsentierte, kann an ihre Stelle nun mit dem Geschwisterverhältnis eine Ähnlichkeit als horizontale Austausch- und Wechselbeziehung treten. Immer wieder entdecken die Geschwister Ähnlichkeiten zwischen sich, bei allen Differenzen des Geschlechts und des Charakters. Diese Logik der Ähnlichkeit in der Differenz treibt die Geschwisterliebe voran. So wie das »Gleichnis«, das die beiden verkörpern, nie in einem festen Begriff kurzgeschlossen werden kann, so kann auch diese Geschwisterliebe nie an ein Ende kommen – der Roman, als Großgleichnis, ist unabschließbar wie diese Liebesbeziehung im Zeichen der »Ähnlichkeit«, die den »anderen Zustand« als ihren Fluchtpunkt nie ganz erreichen wird. Genauso unabschließbar sind jedoch auch die Übersetzungsprozesse, die der Roman mit dieser Liebesbeziehung schon in sich figuriert. Wenn Ulrich in der eingangs zitierten Passage aus einem der Nachlasskapitel das Verhältnis von »Gefühl« und »Sprache« als eines des wechselseitigen »Übersetzens« formuliert, dann formuliert er auch eine Poetologie eines Übersetzens, das sich mit dem Original in ein ›geschwisterliches‹ Verhältnis der Ähnlichkeit setzt.16 Die Übersetzungen lassen sich dabei als ›Gleichnisse‹ des Originals verstehen, die sich in ihren je eigenen Sprachen zu diesem auf eine freie, fremde Distanz wie ›Geschwister‹ verhalten. So lösen sie sich von der hierarchischen Abhängigkeit vom Original. Im Kapitel »Die siamesischen Zwillinge« sagt Ulrich: Selbst in jeder Analogie steckt ja ein Rest des Zaubers, gleich und nicht gleich zu sein. (MoE, S. 906)

Jaccottet setzt dafür: Dans toute métaphore même, subsiste un peu de la magie d’être à la fois semblable et différent.17

Statt der Negation des gleichen Begriffs, »gleich und nicht gleich«, in dem das »Gleichnis« anklingt, setzt Jaccottet hier zwei verschiedene Begriffe: ›ähnlich‹ und ›verschieden‹. Damit geht er im Sinne Musils über Musils Wortlaut hinaus. Denn »être semblable«, nicht das »gleich« sein, ist der offene Fluchtpunkt von Musils Gleichnispoetik. Gleichzeitig schafft Jaccottet damit eine Differenz zum Original, die er mit dem »différent« auch signalisiert, wie schon 16 17

Vgl. Utz: Anders gesagt (Anm. 8), S. 288–298. Robert Musil: L’Homme sans qualités. Nouvelle édition. 2 Bde. Übers. v. Philippe Jaccottet, Nachlasskapitel übers. v. Jean-Pierre Cometti u. Marianne Rocher-Jacquin. Bd. 2. Paris 2004, S. 241.

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bei den »unüberbrückbaren Unähnlichkeiten« im Törleß. Aus ihr heraus kann er in eine freie, dialogische Beziehung mit dem Original treten. So wird die Stelle ihrerseits zum Gleichnis, wie eine Konstellation von Original und Übersetzung unter der Kategorie der Ähnlichkeit zu einer produktiven Neuperspektivierung des Übersetzens selbst führen könnte.

4. Die Aufwertung des Ähnlichkeitsdenkens Ein Ansatz dazu liegt in der Aufwertung des Ähnlichkeitsdenkens, wie es in den letzten Jahren in der Kulturwissenschaft eingesetzt hat – wichtige Impulse gaben dazu etwa die Arbeiten von Dorothee Kimmich.18 Michel Foucault hatte die These gesetzt, die Moderne habe das Ähnlichkeitsdenken zurückgewiesen, zugunsten einer Dichotomie von Identität und Differenz.19 Die Moderne mache sich das kategoriale Unterscheiden zur Kernkompetenz, über die sie sich auch als Moderne definiert: Entweder ist man Mensch oder Tier, entweder ist man schwarz oder weiß. Alle Unschärfen dazwischen möchte die Moderne eliminieren, und damit auch die unscharfe Kategorie par excellence, die der Ähnlichkeit. Diese These Foucaults ist in letzter Zeit aufgeweicht worden. Denn das Ähnlichkeitsdenken ist bis heute eigentlich grundlegend für jede Erkenntnis. Es hat sich jedoch aus dem Systemdenken zurückgezogen und in eine im weiteren Sinn ästhetische Kategorie verwandelt: Ähnlichkeit ist ein relationaler Begriff, der immer vom Kontext und von der Wahrnehmung des Betrachters abhängig ist.20 Das fasziniert eine ganze Generation zu Beginn des 20. Jahrhunderts.21 Ernst Mach etwa, über den Musil kurz nach Abschluss des Törleß seine Dissertation schreibt, postuliert das Analogiedenken22 ; die Psychologie spekuliert über die Ähnlichkeiten der Gestalt; Fritz Mauthner stellt fest, dass nur mathematische Formeln auf Gleichheit beruhen, unsere Sprachbegriffe dagegen auf Ähnlichkeit.23 Ludwig Wittgenstein prägt den Begriff der »Familienähnlichkeit«24 , und selbst ein Hugo von Hofmannsthal 18 19 20 21 22 23 24

Vgl. Ähnlichkeit: ein kulturtheoretisches Paradigma. Hg. v. Anil Bhatti u. Dorothee Kimmich. Konstanz 2015; Dorothee Kimmich: Ins Ungefähre (Anm. 11). Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 83–107. Vgl. Jørgen Sneis: Ähnlichkeit und Vergleich. Bemerkungen zu einer aktuellen kulturtheoretischen Diskussion, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 44 (2019), H. 1, S. 132–145, hier S. 136 f. Vgl. Niels Dommaschk: Ähnlichkeit und ästhetische Erfahrung. Eine Konstellation der Moderne: Kant, Benjamin, Valéry und Adorno. Würzburg 2018. Vgl. Ernst Mach: Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung, in: Annalen der Naturphilosophie. Hg. v. Wilhelm Ostwald. Bd. 1. Leipzig 1902, S. 5–14. Vgl. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1: Sprache und Psychologie. Stuttgart 1901, S. 303. Vgl. dazu Kimmich: Ins Ungefähre (Anm. 11), S. 49. Vgl. Kimmich: Ins Ungefähre (Anm. 11), S. 87–95.

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oder ein Thomas Mann lassen sich punktuell von diesem Ähnlichkeitsdenken anstecken.25 Bekannt sind Walter Benjamins Annäherungen an den Begriff in seinen Essays zum »mimetischen Vermögen«.26 Am Rande des offiziellen Wissenschaftsbetriebs erlebt damit die »Ähnlichkeit« eine erstaunliche Konjunktur, gerade in der Donaumonarchie, gegenläufig zu den politischen Homogenisierungsbestrebungen der Nationalstaaten, die auf Alterisierung und Differenz beruhen.27 In diesen Kontext wären auch Musils skizzierte Annäherungen an die »Ähnlichkeit« zu situieren. Man könnte ihn dabei auch mit den Notizen Paul Valérys konstellieren,28 der in seinen Cahiers die »ressemblance« und die »similitude« zu einem Zentrum aller Erkenntnis erklärt: L’existence de choses semblables est le fondement de tout. Un monde fait d’exemplaires uniques est inconcevable.29

Und: Ce qui ne ressemble à rien est inconnaissable.30

Auch bei Valéry schlägt die Abbilddimension der »Ähnlichkeit« immer wieder in die Vergleichsdimension um. Daraus resultiert die verwirrende Erkenntnis von der Ähnlichkeit des Unähnlichen und der Unähnlichkeit des Ähnlichen, wie sie auch einen Törleß heimsucht: La moitié du temps d’esprit se passe à découvrir que ce qui ne se ressemble pas se ressemble et que ce qui se ressemble ne se ressemble pas.31

Die Nähe zu Musil und zum Erkenntnisweg seines Törleß wird noch verblüffender, wenn man berücksichtigt, wie Valéry das Problem des sprachlichen Ausdrucks als Übersetzungsproblem fasst; eigentlich schreibe er in einer ganz persönlichen, inneren Sprache, aus der er dann in die ›allgemeine‹ Sprache ›übersetzen‹ müsse: Pour écrire p[ou]r le public je suis obligé de traduire et cette traduction est souvent impossible.32 25 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Rüdiger Görner: Das Differente im Ähnlichen. Zu einem Modus ästhetischen Vergleichens bei Hofmannsthal, Trakl, Novalis und Thomas Mann, in: Ähnlichkeit (Anm. 18), S. 203– 218. Zu Benjamin vgl. Dommaschk, Ähnlichkeit und ästhetische Erfahrung (Anm. 21), S. 81–120. Zum Begriff der »Ähnlichkeit« bei Benjamin vgl. Michael Opitz: Ähnlichkeit, in: Benjamins Begriffe. Hg. v. Michael Opitz u. Erdmut Wizisla. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2000, S. 15–49. Vgl. Johannes Feichtinger: Kakanische Mischungen. Von der Identitäts- zur Ähnlichkeitswissenschaft, in: Ähnlichkeit (Anm. 18), S. 219–243. Zu Valéry vgl. Dommaschk: Ähnlichkeit und ästhetische Erfahrung (Anm. 21), S. 121–191. Paul Valéry: Cahiers. 2 Bde. Hg. v. Judith Robinson. Bd. 1. Paris 1973, S. 959 (1918) (längere Notiz unter dem Titel »similitude«). Ebd., S. 994 (1926). Ebd., S. 1071 (1938). Ebd., S. 264 (1927).

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Und seinen Körper befragt er schon 1901 auf das hin, was er zum Ausdruck bringt und was aus ihm zu ›übersetzen‹ ist: Dans quel langage traduit-il ce que nous sentons de lui? Ou dans lequel traduisonsnous ce qu’il est?33

Musils Törleß stellt sich die gleichen Fragen, allerdings noch nicht unter der Metapher des Übersetzens. Wenn hingegen Jaccottet seinen Törleß genau an diesen Stellen auf das »traduire« bringt, dann macht er damit diese Nähe zwischen Musil und Valéry evident. Er übersetzt Musil gewissermaßen in die Sprache und das Sprachproblem Valérys hinein. Valérys aphoristische Reflexionen um die »Ähnlichkeit«, die auch eine Reflexion über Sprache, Körper und Wahrnehmung einschließt, sind repräsentativ für seine Generation. An diese Diskussionen um die »Ähnlichkeit« kann die Kulturwissenschaft heute anknüpfen, wenn sie diese als »Kategorie der Entdramatisierung« von dichotomisch strukturierten Konfliktzonen stark macht und sie zu einem »post-postkolonialen Konzept«34 erklärt. Tatsächlich weist der Begriff zwischen »Identität« und »Differenz«, wie sie das kategoriale Denken weitgehend beherrschen, einen dritten Weg: »Ähnlichkeit« ist keine statisch fixierte Eigenschaft von Objekten, sondern sie ist ein relationaler Begriff, der nicht ohne den Betrachter auskommt und der sich prozessual verändert. Sie ist eine aktiv gestaltete Kontiguitätsbeziehung: Ähnlichkeit setzt Nachbarschaft voraus und stellt Nachbarschaft her. So ist sie – und das ist ihre grundsätzliche, auch politische Aktualität – geeignet, Grenzen zu verflüssigen und starre Identitätsmuster aufzulösen.

5. Die »fremde Ähnlichkeit« des Übersetzens Diese aktuelle Aufwertung des Ähnlichkeitsdenkens könnte man auch auf das Übersetzen beziehen. Denn eigentlich hätte es hier einige feine Wurzeln, die allerdings ebenfalls gekappt worden sind. Schon Schleiermacher hat in seinem wichtigen Aufsatz Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens von 1813 eine »Haltung der Sprache« gefordert, [. . .] die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnden lässt, dass sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen sei.35

Doch im positivistischen Zeitalter findet diese botanisch inspirierte Metapher keinen fruchtbaren Boden; Schopenhauer etwa stellt 1851 fest, es gebe 33 34 35

Ebd., S. 1119 (1901). Albrecht Koschorke: Ähnlichkeit. Valenzen eines post-postkolonialen Konzepts, in: Ähnlichkeit (Anm. 18), S. 35–45, hier S. 36. Friedrich Schleiermacher: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens, in: Das Problem des Übersetzens. Hg. v. Hans Joachim Störig. Darmstadt 1973, S. 38–70, hier S. 54.

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zwischen den verschiedenen Sprachen kaum genaue Begriffsäquivalenzen, sondern die Worte seien »oft bloß ähnliche, und verwandte, jedoch durch irgendeine Modifikation verschiedene Begriffe«, woraus er dann gleich auf das »notwendig Mangelhafte aller Übersetzungen«36 schließt. Auch Benjamin tut sich schwer, die Kategorie der Ähnlichkeit, die ihn doch fasziniert, in seine Sprach- und Übersetzungstheorie zu integrieren.37 Dichotomische und damit auch statische Kategorien wie »eigen« und »fremd« dominieren lange und bis heute die Übersetzungsdiskussion. Die Kritik bewertet die Übersetzung unter dem hypothetischen, ja eigentlich paradoxen Maßstab einer Identität von Original und Übersetzung, an dem gemessen alle Abweichung nur als negative Differenz, als ›Fehler‹ erscheinen kann. Ohnehin interessiert sie sich mehr für das Resultat, die »Übersetzung«, als für den Prozess, das »Übersetzen«. Dabei lässt sie auch den Übersetzer verschwinden: Im Identitätsideal der Übersetzung, die eigentlich mit dem Original deckungsgleich werden sollte, ist für ihn kein Platz.38 Rückt man dagegen das Übersetzen unter der Kategorie der »Ähnlichkeit« neu ins Licht, dann entgeht man dieser Paradoxie. Als relationaler, prozessualer Begriff stellt er zwischen Original und Übersetzung eine zweiseitige Beziehung her, die sich verändern kann, anders als eine statische Identitätsrelation. Das schließt auch ein, dass Übersetzungen veralten können; was einmal dem Original »ähnlich« schien, wirkt heute für uns vielleicht ›fremd‹. Der subjektive Faktor bleibt dabei bestimmend: Ähnlichkeit ist eine Konstellation, in der ein bestimmtes Subjekt Original und Übersetzung – aber auch verschiedene Übersetzungen des gleichen Originals – auf der gleichen Ebene konstellativ nebeneinanderhält. Das Verfahren einer vergleichenden Lektüre von Original und Übersetzungen, wie es hier praktiziert wurde, setzt insofern Ähnlichkeit voraus, stellt sie aber auch her. Mit diesem Verfahren sollte hier der Begriff der »Ähnlichkeit« neu und anders lesbar gemacht werden: Wie die Übersetzungen der entsprechenden Stelle aus dem Törleß zu erkennen gaben, hat er zwei Bedeutungsachsen: Einmal eine Abbildrelation zwischen Vorlage und Bild, für die im Englischen prioritär »likeness« steht. Das entspricht der älteren, hierarchisch gedachten Abbildbeziehung zwischen Original und Übersetzung; die Übersetzung ist ein Abbild des Originals, das an dessen Stelle treten und es ersetzen kann, ja ersetzen muss. In dieser Achse lässt sich der alte, moralisch gefärbte Klischeemaßstab von der ›Treue‹ der Übersetzung anlegen. Er macht die Übersetzung 36 37

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Arthur Schopenhauer: Parerga II, in: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Freyherr von Löhneysen. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1986, S. 665–667. Vgl. Peter Utz: Die »fremde Ähnlichkeit« der Übersetzung. Hölderlins Hälfte des Lebens im Echo seiner französischen und englischen Übertragungen, in: Fremde Ähnlichkeiten. Die ›Große Wanderung‹ als Herausforderung der Komparatistik. Hg. v. Frank Zipfel. Stuttgart 2017, S. 78–92. Vgl. Lawrence Venuti: The Translator’s Invisibility. A History of Translation [1995]. London, New York 2018.

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vom Original einseitig abhängig, wie die Frau vom Mann oder die Kolonie vom Mutterland. Dagegen steht die zweite Bedeutungsachse der »Ähnlichkeit«, wie sie in den Törleß-Übersetzungen eher als »similarity« erscheint: Sie hält Original und Übersetzung, aber auch die verschiedenen Übersetzungen unter sich, auf gleicher Höhe nebeneinander. So macht sie Austauschbeziehungen in beide Richtungen möglich. Dabei entsteht »Ähnlichkeit« als subjektive, dynamische Konstellation, die nicht in den Kategorien von Identität und Differenz zu fassen ist. Ihr Gleichnis ist die Geschwisterbeziehung im Mann ohne Eigenschaften, in der insofern auch ein poetologisches Gleichnis für das hier postulierte Verhältnis von Original und Übersetzung steckt. An der eingehend untersuchten Stelle des Törleß wechselt der deutsche Begriff der »Ähnlichkeit« in den Übersetzungen die axiale Orientierung. Er kippt von der Abbild- in die Gleichnisdimension – über einen interessantriskanten Punkt der ›Ähnlichkeit ohne Original‹, an dem sich das Abbild vom Original löst. Genau diese Drehbewegung will auch die hier vorgeschlagene Neuperspektivierung des Übersetzens in Gang bringen. Die Kategorie der »Ähnlichkeit«, die bei Musil schon versteckt übersetzungspoetologisch angelegt ist und die sich als solche in den realen Musil-Übersetzungen entfaltet, könnte dazu anleiten. »Ähnlichkeit« steht zwar immer noch unter dem Verdacht der Unschärfe, des Defizitären gegenüber einem hypothetischen Maß der Exaktheit, der Objektivität, der Identität und Differenz. Genau so auch das Übersetzen, auf dem ebenfalls der Vorbehalt des Unscharfen, NichtIdentischen, Subjektiven lastet. Wenn man aber das Übersetzen unter dem Aspekt aufwertet, dass es »Ähnlichkeit« erzeugt, dann wird damit beides neu perspektiviert: die Kategorie des »Ähnlichen« und das Übersetzen. Zudem rückt beides wiederum in ein Verhältnis einer geschwisterlichen »Ähnlichkeit«, die damit gleich ihre produktive Erkenntniskraft beweisen kann.

Matthias Attig

Übersetzen als Verstehen und Deuten im Zeichen von Zweisprachigkeit Sprachwissenschaftliche Bemerkungen zum ersten Kapitel von Philippe Jaccottets L’Homme sans qualités*

Abstract: This article is based on the thesis that in his translation of Musil’s The Man without Qualities, Philippe Jaccottet creates a text shaped both by his understanding of the original and his reflections on his own understanding and thinking. Several linguistic case studies on the first chapter of the novel will provide examples indicating that Jaccottet perceives Musil’s prose as semantically underdetermined and reacts to forms of vagueness by specifying, pointing out, and establishing meaning. In the very first pages of the translation, these strategies and their programmatic impetus already become apparent in the liberties which were taken in the translation.

1. Erkenntnisinteresse Der folgende Versuch steht im Horizont einer sprachwissenschaftlichen Komparatistik, womit freilich kein umfassendes und ausgereiftes Forschungsprogramm, sondern eine einstweilen noch eher vage Idee bezeichnet ist, die sich während der Lektüre von Schriften, welche Phänomene und strukturelle Züge unterschiedlicher Sprachen zueinander ins Verhältnis setzen – es seien hier Leo Spitzers material- und facettenreiche Stilstudien1 hervorgehoben –, bei mir eingestellt hat. Dieser Gedanke hat im Verlauf der Beschäftigung mit Philippe Jaccottets Übersetzung von Musils Mann ohne Eigenschaften einen ersten konzeptuellen Umriss erhalten, aus dem er einstweilen noch nicht herausgelöst werden kann. Dass er sich nun just in der Begegnung mit dieser übersetzerischen Großtat zu konturieren begann, lag vornehmlich daran, dass Jaccottets Text mitunter den Anschein erweckt, als sei er von einem Impetus getragen, der über das, was ein französischer Leser füglich von einer ästhetisch hochwertigen Übersetzung erwarten darf – eine möglichst kongeniale, Form und Inhalt gleichermaßen berücksichtigende Nachbildung des Origi* 1

Für die englische Übersetzung des Abstracts gilt Anna Mattfeldt mein herzlicher Dank; für wertvolle Anregungen bin ich Jochen A. Bär, Patrizia Bahrsch, Thomas Hübel und Jana-Katharina Mende verpflichtet. Leo Spitzer: Stilstudien. 2 Bde. 2. unveränd. Aufl. München 1961.

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nals –, hinauszielt. Damit soll nun nicht insinuiert werden, dass Jaccottet auf eigene Rechnung gearbeitet und es etwa darauf angelegt hätte, das Original zu ersetzen, die Lektüre des deutschen Musil entbehrlich zu machen und eine autonome, eigengesetzliche Prosadichtung zu präsentieren. Ich verfolge vorerst lediglich das Ziel, mir über einen Eindruck klarzuwerden, den ich von der Übersetzung empfangen habe und der eingangs auf die folgende Formel gebracht sei: In Jaccottets L’Homme sans qualités ist das Sprachverstehen des Übersetzers nicht nur dokumentiert, sondern zum Gegenstand ästhetischer Darstellung und Durchdringung erhoben. Der Wahrnehmungsgehalt, der sich in dieser These auskristallisiert, soll im Rahmen einiger exemplarischer Stelleninterpretationen, die sich stofflich auf das erste Kapitel beschränken, gedanklich vertieft, nach verschiedenen Seiten entfaltet und kritisch auf seine objektive Berechtigung, seine Adäquatheit gegenüber den sprachlichen Befunden befragt werden.

2. Theoretische Voraussetzungen Die erste Annäherung an die Übersetzung soll unter einem zeichentheoretischen Aspekt erfolgen. Dass Jaccottet eine beinahe einhellig gerühmte literarische Übersetzung vorgelegt, also bei der Wiedergabe des Inhalts auch die Form seiner sprachlichen Darbietung oder Konstituierung in einer Weise nachmodelliert hat, die weithin als kongenial oder stimmig empfunden wird, bringt für das Verständnis, erst recht aber für eine systematische semantische Erschließung des französischen Textes unmittelbare und recht weitreichende Folgen mit sich. Die Berücksichtigung formaler Aufbauelemente des Originals wirkt sich dahin aus, dass der Übersetzer bei der Wahl und beim Arrangement der sprachlichen Zeichen das Augenmerk nicht nur auf das Gemeinte – auf die gedanklichen Substrate von Musils Roman, auf Wort-, Satzund Textbedeutung oder auf eine konzeptuelle Tiefendimension der Ausdrucksseite – richtet, sondern auch auf die sprachlichen Merkmale und die Gebilde, zu denen sie sich gruppieren: Hier schlagen Parameter, die sich klar ausmitteln und beschreiben lassen, etwa solche grammatischer und syntaktischer Art, ebenso zu Buche wie diffusere, analytisch schwer aufzuhellende Erscheinungen, die unter Kategorien wie ›Diktion‹, ›Stil‹ oder ›Erzählstimme‹ fallen.2 Darüber hinaus wird man vermuten dürfen, dass die Reize, die das hochsensible Sprachbewusstsein Jaccottets, wie es sich in seinem subtilen lite2

Zu den übersetzungswissenschaftlichen Perspektiven auf den Stilbegriff, dessen Anwendungsbereich sich gedanklich nur behelfsmäßig einhegen lässt, vgl. den konzentrierten Abriss von Bernd Weitemeier: Literarischer Stil in der Übersetzung: Epochenstile und Personalstile, in: Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Hg. v. Juliane House u. Harald Kittel. 1. Teilband. Berlin, Boston 2004 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 26.1), S. 889–898.

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rarischen Schaffen manifestiert, von der Form oder von der formalen Anmutung der Musil’schen Prosa erhielt, auf die Übersetzung Einfluss genommen haben, dass sich im französischen Text unterschwellig auch die Erfassung der sprachlichen Physiognomie des Originals durch die poetische Intuition des Übersetzers bekundet. Im Rekurs auf Schleiermacher3 hieße das, dass sich in Jaccottets Arbeit ein bewusstes, schöpferisches »Verstehen« des Deutschen und seiner individualsprachlichen Ausprägung bei Musil artikuliert, das auch auf den Umkreis der überindividuellen Spracherscheinungen, die dieser Autor seiner Diktion anverwandelte, um sie wie Timbres oder instrumentale Register zu verwenden, und auf die in seinem Stil nachhallende historische Erfahrungswirklichkeit ausgreift.4 Diese hier in breve dargelegten Vorannahmen lassen sich dahin zusammenfassen, dass die sprachlichen Zeichen bei Jaccottet in ihrer Fügung nicht nur durch ihre Referenz, durch ihre Orientierung auf etwas Außersprachliches – gleichviel, wie es beschaffen sein mag –, sondern auch durch ihr Verhältnis zu den Zeichen im Mann ohne Eigenschaften bestimmt sind.5 Ihre primäre Verweisfunktion interferiert mit einer zweiten, ihr an Wichtigkeit gleichstehenden: mit der Repräsentation der von Musil gewählten Zeichen und dem gestaltenden Nachvollzug seiner Wahl, in dem sich das maßgeb3

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Friedrich Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens, in: ders. Sämmtliche Werke. Abteilung 3: Zur Philosophie. Bd. 2: Philosophische und vermischte Schriften (Reprint). Berlin 2018, S. 207–245, hier S. 220: »Diejenige Methode, welche danach strebt, dem Leser durch die Uebersezung den Eindrukk zu geben, den er als Deutscher aus der Lesung des Werkes in der Ursprache empfangen würde, muß freilich erst bestimmen, was für ein Verstehen der Ursprache sie gleichsam nachahmen will.« Den perspektivischen Fluchtpunkt dieser These bildet die Vorstellung einer Interdependenz von Verstehen und Übersetzen, die sich von einem Zug, der beiden Prozeduren gemeinsam ist, nämlich von ihrer ›Transkriptivität‹, herleitet. Vgl. hierzu Ludwig Jäger: ›Unübertragbarkeit‹. Transkriptionstheoretische Bemerkungen zum Zusammenhang von Verstehen und Übersetzen, in: Sprache und Literatur 44 (2013), H. 2, S. 3–19, hier S. 5: »Verstehen, das ich bestimmen möchte als den freilich durchaus fragilen epistemischen Zustand semantischer Evidenz, enthält immer die Spuren transkriptiver Operationen oder – wenn man so will – von Übersetzungshandlungen, denen es sich verdankt, ebenso wie umgekehrt gilt, dass Übersetzungen nicht erst da ins Spiel kommen, wo auf einer Makroebene Einzelsprachen oder mediale Welten, die einander fremd sind, in kommunikative Berührung geraten. Vielmehr bestimmen Mikrosprachspiele des Übersetzens, also kommentierende, paraphrasierende, explizierende, kurz: transkriptive Bezugnahmen von symbolischen und medialen Artefakten auf andere symbolische und mediale Artefakte prinzipiell die operative Logik von Verständigungshandlungen.« Unter dieser theoretischen Prämisse gewinnt das Erkenntnisinteresse der sprachwissenschaftlichen Übersetzungsforschung, wie sie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Schwung gekommen ist, für die vorliegende Arbeit neue Aktualität (womit freilich nicht gesagt ist, dass sie sich dieses Interesse unbesehen und vorbehaltlos zu eigen machte). Vgl. hierzu Christina Schäffner: Sprach- und Textnormen als Übersetzungsproblem aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Übersetzung – Translation – Traduction (Anm. 2). 1. Teilband, S. 483–493, hier S. 483: »Die sprachwissenschaftliche Übersetzungsforschung war [. . .] eine Anwendung und Ausweitung der Sprachwissenschaft auf die zweisprachig vermittelte Kommunikation. Da der Sprachwechsel als Spezifikum des Übersetzens angesehen wurde, bestand das Ziel der Übersetzungswissenschaft darin, objektive Aussagen über die systemhaften Beziehungen zwischen

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liche Prinzip, das Formativ der sprachlichen Komposition restituiert. Die französische Textur wäre so als artifizielle Fixierung des eben annoncierten dichterischen Sprachverstehens anzusehen, welch Letzteres im Übrigen nicht notwendig auf Reproduktion und Nachbildung hinausläuft: Ist es doch denkbar, dass ein sprachlicher Effekt, den der Übersetzer am Original registriert, durch bloße Analogiebildung in der sprachlichen Darstellung nicht kenntlich zu machen, geschweige denn einzuholen ist, etwa weil sprachstrukturelle oder sprachtypologische Gegebenheiten die Option gestalterischer Synchronizität in der Wiedergabe ausstreichen. Nun ist allerdings Jaccottets Version des Romans mit Divergenzen gespickt, die, vorsichtig formuliert, die Frage aufwerfen, ob sie sich nicht vielleicht hätten vermeiden oder abschwächen lassen; ebenso gibt es Passagen, bei denen man, auch nach eingehenderer Überlegung, nicht so recht weiß, wie man sie einzuschätzen hat: Man wird sich etwa sagen, dass sie enger auf den deutschen Wortlaut bezogen, getreuer an ihm modelliert sein könnten, und die Abweichung doch auch nicht für gar so erheblich erachten; die Formulierungen sind gerade noch oder aber schon nicht mehr vom Original gedeckt; man glaubt eine haarfeine Verschiedenheit zu gewahren und ist sich nicht sicher, ob man nicht einen ungebührlich strengen Maßstab anlegt. Mit diesen einstweilen noch tentativen, tastenden Bemerkungen resümiere ich persönliche Reminiszenzen an meine Parallellektüre des deutschen und des französischen Textes. Mag nun der Erkenntniswert solcher subjektiven Impressionen im Einzelnen ein sehr beschränkter sein – es kann hier nicht darum gehen, sie durch eine rezeptionsanalytische Einordnung zu objektivieren –, so deuten sie, wenn man sie zusammennimmt, doch auch darauf hin, dass sich bei Jaccottet Grenzfälle und fließende Übergänge in einer Grauzone zwischen wörtlicher und freier oder – sofern das Attribut in einem neutralen Sinne gebraucht werden kann – eigenwilliger Übersetzung finden. Man könnte Erscheinungen, die hierher rechnen, versuchsweise damit motivieren, dass das Sinnpotential des Textes ausgelotet, ausgereizt, ausgeschrieben oder vielleicht auch erweitert werden soll; die verstehende Erkundung des semantischen Spielraums würde so allmählich und unbemerkt in eine Transkription des Originals einmünden.6 Dass er sich nicht scheut, eigene Wege zu beschreiten,

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Zeichen und Zeichenverbindungen der Quellensprache (QS) und der Zielsprache (ZS) zu treffen«. Diese Aufgabenstellung ist instruktiv, soweit sie einem Vergleich zwischen Original und Übersetzung die Richtung weist, in der Formulierung aber doch sehr einem systemlinguistischen Forschungsverständnis verhaftet: Dessen Kriterien – Objektivität und Verallgemeinerbarkeit der Deduktionen, mit denen musterhafte Strukturzüge ins Licht gesetzt werden sollen, welche die individuellen sprachlichen Merkmale umgreifen – sind für interpretative Konzeptionen, die das stilistische Profil eines Autors (sei dieser primus inventor oder übersetzender Neuschöpfer) und Vollzugsformen sprachlicher Individuation zu erfassen suchen, schwerlich die richtigen. Ein sprachtheoretisch grundiertes Paradigma der Transkription hat Ludwig Jäger entfaltet, auf dessen reiches Schrifttum hier verwiesen sei (vgl. auch Anm. 4).

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lässt der Übersetzer im Übrigen gleich im ersten Kapitel durchblicken, wenn er für [m]it einem Wort ohne Not, das heißt wohl ganz bewusst, autrement dit7 setzt, eine Wendung, der bereits Peter Utz in einer richtungsweisenden Studie8 einen programmatischen Status zuerkannt hat.

3. Untersuchungen zum ersten Kapitel in Original und Übersetzung Der zuletzt genannte Gesichtspunkt wird ebenso wie die vorigen, einstweilen nur sparsam bezeichneten für eine synoptische Betrachtung ausgewählter Stellen von Original und Übersetzung leitend sein, die wir ohne weitere Präliminarien nun sogleich eröffnen wollen. Im Lichtkegel des Interesses sollen dabei Veränderungen in der Nuancierung stehen, die sich gleich auf den ersten Seiten des Homme sans qualités in modellhafter Form aneinanderreihen. Dem Beginn des französischen Textes hat Utz in seinem eben erwähnten Aufsatz besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. [. . .] und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. (MoE, S. 9)

Utz hat das unpersönliche Personalpronomen on beleuchtet, mit dem, nach der Kapitelüberschrift, der erste Satz der Übersetzung anhebt: On signalait une dépression au-dessus l’Atlantique [. . .]. (HsQ, S. 11)9 In der Vorlage lautet dieser Anfang so: Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum [. . .]. (MoE, S. 9) In zeichentheoretischer Hinsicht ist die französische Fassung dieser Stelle dadurch charakterisiert, dass sie in Gestalt der Phrase on signalait ein sprachliches Element enthält, das bei Musil kein explizites, geschweige denn augenfälliges Gegenstück hat: Es lässt sich keine spezifische Information des Originals angeben, die sich in besagter Formulierung artikulierte; sie steht nicht zu einer bestimmten ausdrucksseitigen Einheit der Vorlage in Relation, sondern fügt dieser etwas Neues hinzu, das durch Interpretation allererst aus ihr hergeleitet oder zumindest zu ihr ins Verhältnis 7

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Metasprachlich gebrauchte Ausdrücke werden hier ausnahmslos kursiv geschrieben; demgegenüber sind Verweise auf die Signifikate sprachlicher Einheiten immer recte gesetzt und mit Anführungszeichen versehen. On meint somit das Pronomen qua sprachliches Zeichen, ›on‹ dessen Referenten. Peter Utz: Transgressionen im Spiegel der ›Traduction‹: Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und Philippe Jaccottets L’Homme sans qualités, in: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hg. v. Rainer Warning u. Gerhard Neumann. Freiburg i. Br. 2003, S. 151–172. Mit der Sigle »HsQ« wird verwiesen auf: Robert Musil: L’Homme sans qualités. Bd. 1. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1956.

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gesetzt werden muss. Dabei wäre etwa von folgenden Fragen auszugehen: Ist das Surplus in der Übersetzung dem Original äußerlich, womöglich sogar zu ihm gegenläufig, oder respondiert es einem impliziten, unterschwelligen Moment desselben – einer chiffrierten bzw. versteckten Inhaltskomponente oder einer Supposition, die durch Inferenz erschlossen werden müsste? Utz, an dessen Überlegungen wir hier nochmals anknüpfen wollen, schreibt den Gebrauch des Pronomens on zum einen sprachsystematischen Prädispositionen auf die Rechnung, erklärt ihn zum anderen jedoch auch aus einer prononcierten Ausdrucksabsicht aufseiten des Übersetzers, um ihn zum Paradigma einer schöpferischen Abweichung zu erheben, mit der Jaccottet sein eigenes Tun annotiert: Seines Erachtens referiert on auf »jene fremde Stimme, die den ersten Text liest und ihn übersetzend spricht – an einer späteren Stelle des Einleitungskapitels wird sie sich sogar als ›je‹ zu Wort melden«.10 Vielleicht ist es aber auch möglich, das Pronomen auf ein Element des Originals zu beziehen und seine Einschaltung so zu interpretieren, dass es etwas Un- oder Überpersönliches anschlägt und dem über weite Strecken im Roman vorherrschenden auktorialen Gestus präludiert, wie er sich aus der essayistischen Unterfütterung des Erzählens und aus seiner Anreicherung mit feuilletonistisch-kommentierenden und fachsprachlichen Merkmalen ergibt.11 Freilich könnte on ebenso gut einen anonymen Bauchredner von Weltwissen und Wissenschaft vernehmlich machen. Will man beide Auslegungen miteinander verbinden, kann man den Meteorologen auch als gleichsam szientifische Figuration einer metamorphen Erzählstimme apostrophieren, der alles Folgende als ›contenu signalé‹ zuzuordnen ist und die sich im Roman als so exakter wie sensibler Seismograph unterirdischer individual- und sozialpsychologischer Erschütterungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, als Barometermacher für die seelische Großwetterlage im spätesten Kakanien bewährt. Fasst man den ersten Abschnitt des einleitenden Kapitels als Ganzen ins Auge – Jaccottet folgt der Absatzschaltung des Originals –, so zeigt sich, dass das Pronomen auch im letzten Satz vorkommt, wiederum ohne dass sich ein konkretes lexikalisches Pendant bei Musil fände; on kann demnach als strukturbildendes Mittel, als eine Art Klammer angesehen werden. Einmal mehr erscheint es hier an einem herausgehobenen Ort, nämlich direkt nach einem narrativen Registerwechsel, dessen Vollzugsform im französischen Text der Vorlage gegenüber abgeändert ist, nämlich dergestalt, dass für das Phrasem Mit einem Wort das Partizip autrement dit steht. Wenn man diese Lösung im 10 11

Utz: Transgressionen im Spiegel der ›Traduction‹ (Anm. 8), S. 155. Tatsächlich finden sich in der Abhandlung von Utz zahlreiche Darlegungen, auf die sich eine Deutung stützen kann, welche die Einschaltung des Pronomens zum Echo oder Symptom einer Erfahrung von Unbestimmtheit im Umgang mit dem Original deklariert und sie somit auch unter einem semiotischen Aspekt von demselben her zu motivieren sucht. Eine umfassende Würdigung der Arbeit von Utz kann im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nicht geleistet werden.

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Anschluss an das oben zitierte Diktum von Utz auf den Übersetzer zurückspiegeln möchte, der das, was im Original verlautet, in einer anderen Sprache und damit auch auf andere Weise sagen muss, so kann man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass sich hier ein autoreferentielles Movens bemerkbar macht, dessen Einfluss sich – um zwei begriffliche Konstituenten von Roman Jakobsons linguistischer Poetik12 beizubringen – in der Folge gleichermaßen auf die Achse der Selektion und auf die der Kombination erstrecken wird: Autrement dit, si l’on ne craint pas de recourir à une formule démodée, mais parfaitement judicieuse: c’était une belle journée d’août 1913. (HsQ, S. 11) Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. (MoE, S. 9)

Die assertive Äußerung des Originals – Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913 – wird über den konditionalen Einschub – si l’on ne craint pas de recourir à une formule démodée, mais parfaitement judicieuse – als Inhalt einer geläufigen Redewendung (›formule‹) ausgezeichnet und diese sodann einer Instanz, die implizit bereits mit der Fügung autrement dit eingeführt worden ist, als kongeniale, dem Gemeinten oder dem Mitzuteilenden vollauf gerecht werdende Ausdrucksoption vorgeschlagen. Dabei ventiliert der Bedingungssatz einen Vorbehalt, der bei Musil fehlt; im deutschen Text wird die Formulierung ungeachtet der ihr zurückhaltend insinuierten Antiquiertheit – die abschwächende Partikel etwas bleibt bei Jaccottet unberücksichtigt – nicht nur als potentielle lanciert, sondern tatsächlich und durchaus entschieden gebraucht, die Erzählung also, unter ironisierender Verwendung eines auktorialen Erzählmusters, ein zweites Mal initiiert. Die Übersetzung, so kann man an dieser Stelle festhalten, buchstabiert ein metasprachliches Moment aus, das sich im Original in konziserer Gestalt – als ein Modus narrativer Selbstbezüglichkeit – beurkundet, und transponiert es in eine Geste reservierter Zurückhaltung, um dabei zugleich das Motiv der Adäquatheit anders zu schattieren: Hebt die deutsche Fassung darauf ab, dass die überzeichnete, zur Schablone gestempelte Kennung herkömmlichen Erzählens13 das Gemeinte angemessen repräsentiert, so bringt das – vielleicht auch eine juristische Bedeutungsdimension anreißende – Adjektiv judicieuse, ergänzt um das emphatisierende parfaitement, eine Kategorie der ›semiotischen Billigkeit‹ zur Geltung. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt darin beschlossen, dass das Schwergewicht in der Übersetzung ganz auf die ›formule‹ fällt, während das Original auch das Signifikat des – gegenüber dem Französischen in seiner Bedeutung allgemeineren – Wortes namhaft macht, nämlich in Gestalt des substantivierten Adjektivs das Tatsächliche, das, wenn man sich entschließen 12 13

Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 2005, S. 83–121, hier S. 94. Zur Musil’schen Anverwandlung dieser musterhaften Exposition vgl. Utz: Transgressionen im Spiegel der ›Traduction‹ (Anm. 8), S. 151 f.

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möchte, ihm eine paradigmengeschichtliche Folie zu unterbreiten, als positivistisch eingefärbt empfunden und als fiktionstheoretisches Schlaglicht auf das Erzählen und die von ihm prätendierte Wirklichkeitshaltigkeit gelesen werden mag. Die Einführung des unpersönlichen Pronomens ließe sich in dem hier aufgespannten zeichentheoretischen Rahmen vielleicht als Kompensation für die Ausblendung der bei Musil so prominent bezeichneten signifiéEbene werten; es könnte die auktoriale Instanz, die sich bei Musil hinter dem Inhalt verbirgt, einen allgemeinen Sprecher, der dem Erzähler gleichsam das Stichwort gibt, oder auch einen entindividualisierten Platzhalter für den Übersetzer adressieren, der zumindest für sich selbst den Wortgebrauch auf seine Güte prüft und im Falle der ›formule‹ zu dem affirmativ vermerkten Befund gelangt, dass sie ›parfaitement judicieuse‹ sei: Er geht damit über das ein wenig verhaltene Votum der Vorlage – ›recht gut‹ – hinaus, vielleicht um ein markantes Gegengewicht zu dem ziemlich entschiedenen Adjektiv démodée zu schaffen. Ein solches Bestreben nach verdeutlichender Kontrastwirkung würde, wenn es hier wirksam sein sollte, durch das adversative mais unterstützt, das die Stelle eines schwächeren Konzessivs (wenn auch) einnimmt. Der inhaltliche Zugewinn, der durch on erzielt wird, ist im Kern dahin zu bestimmen, dass mit ihm, wenn auch einstweilen nur für einen Augenblick, ein Subjekt auf den Plan tritt, dem der Wechsel des Erzählmodus, welchen das Original nachgerade handstreichartig – ›[m]it einem Wort‹ – dekretiert, anheimgegeben werden kann: Die Verwendung einer Formulierung, die eine bestimmte narrative Tonalität indiziert, wird hier zum Thema gemacht, ja mehr noch: zur Disposition gestellt, die bei Musil apodiktisch anmutende Wertung zur Befürwortung abgeschwächt. Das nächste Mal begegnet on im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels, in einem konjunktivisch eingefärbten Satz, den die Übersetzung anders als das Original typographisch von dem nachfolgenden abhebt, genauer: in einer diskreten, autoreferentiellen Einschaltung (sans qu’on en pût définir pourtant la singularité), die die vorangegangene Partie, eine reich orchestrierte, Poetizität und Artifizialität bewusst ausstellende Schilderung des Straßenverkehrs, mit ironischer Beiläufigkeit relativiert. Die urbane Geräuschkulisse, die in dieser Passage mit großem Ambitus und suggestiver Metaphorik vergegenwärtigt ist – ihre Versprachlichung lässt sie weniger als Kakophonie denn als tönendes Cluster, als Klangcollage erscheinen –, kondensiert sich zu Beginn des hier in Rede stehenden Satzes in dem Substantiv Geräusch, das bereits im Vorigen gefallen und daher als Rekurrenz anzusprechen ist, bzw. in bruit, das als Synonym zu einem exponierteren Ausdruck wie vacarme aufgefasst werden kann. A ce seul bruit, sans qu’on en pût définir pourtant la singularité, un voyageur eût reconnu les yeux fermés qu’il se trouvait à Vienne, capitale et résidence de l’Empire. (HsQ, S. 11 f.)

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An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. (MoE, S. 9)

Die Übersetzung der Parenthese weicht hinsichtlich der Semantik des Prädikats von der deutschen Vorlage ab. Der Infinitiv définir inskribiert dem Passus eine andere sprachliche Haltung gegenüber dem mit Geräusch oder bruit Bezeichneten oder, um eine bekannte Wendung Walter Benjamins heranzuziehen, die Peter Szondi für übersetzungsphilologische Exegesen operationalisiert hat: eine andere »Art des Meinens«.14 An die Stelle des deskriptiven Modus, den das Original benennt, tritt im Negationssatz ein entschiedenerer, auf Verdeutlichung und gedankliche Schärfung abzielender Zugriff. Die Einfügung des Pronomens steht mit dieser inhaltlichen Umakzentuierung, zu welcher im Übrigen auch singularité beiträgt, das sich im Verhältnis zu Besonderheit profilierter ausnimmt, in einem konzeptuellen Zusammenhang. Der bestimmende, analytische Impetus, dem der ›bruit‹ widersteht, wird hier wiederum auf einen textexternen Anonymus gespiegelt, wohingegen die reflexive Umschreibung des Modalpassivs bei Musil (ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe) eher darauf abstellen dürfte, dass das Sujet die sprachliche Annäherung von sich aus gestatte oder verwehre: Der sprachliche Akteur, von dem sie etwa ausgehen könnte, wird eskamotiert. Die Übersetzung bringt hier etwas heraus, das im Original ganz hinter die von beschreiben evozierte sprachliche Handlung zurückgetreten ist. Die Konklusion, dass die überpersönliche Instanz, die durch on herbeizitiert wird, einen versteckten Sprecher bei Musil enttarnt und ins Rampenlicht rückt – man könnte an den Menschen denken, der sein Wien auch ›nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben‹ würde –, kommt nicht mit den oben gestreiften Darlegungen von Peter Utz überein. In deren Fluchtbahn läge demgegenüber die These, dass das Pronomen einen anderen Sprecher ins Treffen führt, der einzig in der Übersetzung Raum hat. An diese Annahme würde sich die Frage anknüpfen, was es mit der Verallgemeinerung, Anonymisierung jener fremden Stimme für eine Bewandtnis hat. Wenn es der Übersetzer selbst ist, der sich in seinem Werk zu Wort meldet, so will er sich offenbar den Anschein geben, dass er es nicht oder nicht ganz auf eigene Rechnung tut; in diese Richtung jedenfalls deutet die Verwendung einer Proform, durch die er sich seiner Individualität entledigt und zum Repräsentanten eines Kollektivs aufschwingt, das hier vorderhand einmal in bewusster Zuspitzung mit dem französischen Sprachbewusstsein gleichgesetzt sei. On ist die 14

Peter Szondi: Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit. Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105, in: ders.: Schriften II . Hg. v. Jean Bollack mit Henriette Beese u. a. Frankfurt a. M., S. 321–344, hier S. 325 f. et passim. Die Prägung Art des Meinens benützt Benjamin in seinem wirkmächtigen Essay Die Aufgabe des Übersetzers (in: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M., Bd. IV . 1, S. 9–21, hier S. 14 et passim).

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bündigste Abbreviatur dieser schwer fassbaren konzeptuellen Größe: Es autorisiert eine metasprachliche Aussage, deren Stellenwert für die gedankliche Fügung des Satzes durch die von Spitzer geprägte Wendung pseudoobjektive Motivierung15 – unter die jener allerdings Erscheinungen in der erzählenden Objektsprache rubriziert – recht treffend bezeichnet sein dürfte, insofern das Pronomen sich wie das Sprachrohr einer opinio communis, eines intersubjektiv einsichtigen, von einem gesellschaftlichen ›man‹ ratifizierten Urteils ausnimmt.16 Im Namen eines überindividuellen Sprechers wird die präzise Bestimmung der akustischen Komplexion bei Musil für ein unlösbares Problem erklärt. Von demselben sprachlichen Regulativ wären per analogiam oben auch die etwas ambivalente Bewertung der ›formule‹ als ›démodée‹ und ›parfaitement judicieuse‹ und deren tatsächlicher Gebrauch gedeckt oder, wenn man den Gedanken so weit forcieren möchte, inauguriert: Es würde dem Übersetzer geradezu die Feder führen. Wo er sich vom Original entfernte, zollte er der überindividuellen Norm einer nationalen Sprachkultur Tribut, deren maßgebliche dichterische Muster dem übermächtigen Cartesianismus verpflichtet waren, dessen unbedingte Rationalität sich noch weit über den Klassizismus hinaus in Formgebung und Stil ausdrückt und in dieser poetischen Manifestationsgestalt zugleich ästhetisiert. So gedrängt und holzschnittartig diese Darstellung eines postcartesianischen Sprachideals hier notgedrungen ausfällt, darf sie doch für sich in Anspruch nehmen, dass sie in der Linie einer breit überlieferten romanischen, ja europäischen Sprachreflexion liegt, auf der etwa Spitzer mit den für ihn typischen kräftigen, aber treffsicheren Zügen einige der exponiertesten Punkte – Rivarol, Bally, Leopardi – eingekreist hat.17 Dass wir hier einen Topos der neuzeitlichen Sprachbewusstseinsgeschichte bemühen, der sich aus einer früh vermerkten Konvergenz von Verlautbarungen zu tatsächlichen 15

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Spitzer: Pseudoobjektive Motivierung bei Charles-Louis Philippe, in: ders.: Stilstudien. Zweiter Teil: Stilsprachen. München 1961, S. 166–207. Hier wäre etwa ein Diktum wie das folgende anzubringen: »Mit ›man‹ wird alle psychologische Motivierung gegeben, die eben durch die Berufung auf das ›man‹ plausibel wird.« (S. 184) Das Pronomen verweist den Leser so verstanden an den überindividuell-normativen Orientierungspunkt, auf den, mit Jäger gesprochen, die »Mikrosprachspiele der Übersetzung, die transkribierenden Verfahren der ›Umschreibung‹ und der ›Rekonfiguration‹ des Sinns« (Jäger: ›Unübertragbarkeit‹ [Anm. 4], S. 13) ausgerichtet sind: Von dieser Koordinate her spannt sich das sprachliche Gradnetz auf, in das der Übersetzer die deutschen Zeichenkonstellationen, die mehrere Lesarten eröffnen, überträgt, um sie zu fixieren, zu vereindeutigen. Albrecht zufolge neigt das Verstehen grundsätzlich zur »Aufhebung von Ambiguitäten«: »Wie bei einem Vexierbild legt man sich gewöhnlich schnell auf eine der Interpretationsmöglichkeiten einer Textstelle fest und wird blind für die andere« (Jörn Albrecht: Literarische Übersetzung. Geschichte – Theorie – Kulturelle Wirkung. Darmstadt 1998, S. 81). Spitzer: Das synthetische und das symbolische Neutralpronomen im Französischen, in: ders: Stilstudien. Erster Teil: Sprachstile. München 1961, S. 160–222, vor allem S. 189 f., 196 f., vgl. darin besonders das Zitat von Bally (Charles Bally: Impressionnisme et grammaire, in: ders.: Mélanges d’histoire littéraire et de philologie offerts à M. Bernard Bouvier. Genève 1920 [Slatkine reprint 1972], S. 279). Weiter auch Curtius: »Von Ronsard über Racine und Anatole France

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oder vermeintlichen Eigenschaften des Französischen speist – gleichviel, ob die Zeugnisse tatsächlich durchgehende Züge oder Schemata überindividueller sprachlicher Wahrnehmung ins Gesichtsfeld rücken oder ob in ihnen ein rein tendenziöses Moment die Oberhand gewinnt –, hat hier hauptsächlich den Zweck, eine Folie für die Dechiffrierung des Pronomens on zu liefern, die erforderlich wird, wenn man das mit on adressierte Subjekt außerhalb des deutschen Originals lokalisiert und dabei, wie es geboten sein dürfte, das Element des Un- oder Überpersönlichen zu begründen sucht. Um den gedanklich-argumentativen Rahmen des Einschubs und seiner französischen Reformulierung in den Blick zu bekommen, empfiehlt es sich noch, das Augenmerk auf die nachfolgende Partie zu lenken. Diese spinnt das Motiv der Bestimmbarkeit, wie es vorher zumindest die Übersetzung angeschlagen hat, weiter, indem sie ihm eine bildliche Einkleidung verleiht, durch die es zugleich eine eindrückliche Veranschaulichung und eine ironische Brechung erfährt. Im weiteren Verlauf tritt dann bei Musil ebenfalls ein ›man‹ auf den Plan, so dass es naheliegt, ›on‹ im französischen Gegenstück zur entsprechenden Sequenz mit einer textinternen, diegetischen Größe zu identifizieren. Il serait important de démêler pourquoi, quand on parle d’un nez rouge on se contente de l’affirmation fort imprécise qu’il est rouge, alors qu’il serait possible de le préciser au millième de millimètre près par le moyen des longueurs d’onde ; et pourquoi, au contraire, à propos de cette entité autrement complexe qu’est la ville où l’on séjourne, on veut toujours savoir exactement de quelle ville particulière il s’agit. Ainsi est-on distrait de questions plus importantes. (HsQ, S. 12) Es wäre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikromillimeter genau ausdrücken ließe; wogegen man bei etwas so viel Verwickelterem, wie es eine Stadt ist, in der man sich aufhält, immer durchaus genau wissen möchte, welche besondere Stadt das sei. Es lenkt von Wichtigerem ab. (MoE, S. 9 f.)

An der Übersetzung fällt hier zunächst auf, dass die Proposition des Originals mit metasprachlichen Komponenten angereichert ist: Die Präpositionalphrase bei einer roten Nase ist in einen temporalen Nebensatz (quand on parle scheint sich eine typisch französische Wesensart von eindeutig bestimmtem Formgesetz fortzuerben, die man als die Verschmelzung von transparenter Geistigkeit und beherrschter Form, von humanistischer Geschmackskultur und einem in den Bezügen zur gesellschaftlichen Umwelt sich erfüllenden Menschentum zu begreifen gewöhnt ist« (Ernst Robert Curtius: Französischer Geist im 20. Jahrhundert. 4. Aufl. Tübingen, Basel 1994, S. 40). – Albrecht wiederum lässt durchblicken – ganz unumwunden spricht er es nicht aus –, dass sich in Frankreich eine auf Rationalisierung gestellte »Praxis des einbürgernden, glättenden Übersetzens« eingeschliffen habe, die trotz der Konkurrenz eines alternativen Ansatzes (»der philologisch exakte[n], verfremdende[n] Übersetzung«) bis in die Gegenwart fortwirke (Albrecht: Literarische Übersetzung [Anm. 16], S. 81). Als Kronzeugen für diese Wahrnehmung führt Albrecht u. a. Herder ins Treffen (vgl. ebd., S. 78).

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d’un nez rouge) aufgelöst, der sie als Objekt eines Redeaktes designiert, und das semantisch vage Präpositionaladverb damit konsequenterweise in eine assertive Äußerung (affirmation) überführt, welcher das Äquivalent zu dem adverbialen ganz ungenau als attributive Ergänzung (fort imprécise) nachfolgt. Im Gegenzug ist der Satzteil und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, mit dem Musil seinerseits, wenn auch nur in Gestalt einer Negation, auf eine verbale oder verbalisierbare Handlung referiert, gestrichen. Für diese Tilgung bietet dann aber das Pendant zu dem nächsten Satz, dem bilanzierenden Diktum Es lenkt von Wichtigerem ab, eine gewisse Kompensation, indem es das substantivierte Adjektiv Wichtigerem präzisierend mit der Wendung questions plus importantes wiedergibt, wobei im Übrigen das ›on‹ des vorigen Satzes weiterhin das Feld behauptet (Ainsi est-on distrait de questions plus importantes). Die Einlassungen bei Musil werden als Inhalte von Aussagen qualifiziert; den Wörtern affirmation und question wäre noch die Prägung signification spéciale zu Beginn des nächsten Abschnitts hinzuzufügen, die das Prädikat des betreffenden Satzes mit einem sprachreflexiven Oberton versieht (Es soll also auf den Namen der Stadt kein besonderer Wert gelegt werden – Il ne faut donc donner au nom de la ville aucune signification spéciale). Mit dieser Änderung der sprachlichen Intonation dürfte Jaccottet semantischer Unterbestimmtheit, prismatischer Zerstreuung des Gemeinten entgegenarbeiten und der Absicht nachgeben, dem Gegenstand der Mitteilung, dem propositionalen Zusammenhang größere Plastizität und Konturenschärfe zu verleihen. Die verdeutlichende, pointierende Diktion zeigt gleichsam im Sinne einer formsprachlichen Umkehrung an, wie der Übersetzer den Wortlaut bei Musil empfunden haben mag, nämlich als in der Bedeutung wenig profiliert, auch verschwommen und fluide. Darüber, was Musils Erzähler eigentlich oder genau meint, wenn von ›Wichtigerem‹ die Rede ist, muss sich ein deutscher Muttersprachler nicht unbedingt den Kopf zerbrechen, wird er bei der ersten Lektüre vielleicht auch nicht; nimmt er jedoch zur Kenntnis, dass der Übersetzer an der entsprechenden Stelle zu der bestimmteren Wendung questions plus importantes greift, dürfte er durch ihn den Eindruck empfangen, dass Musils Schreiben hier etwas gewollt Unverbindliches hat und gerade ›Wichtiges‹ in der Schwebe lässt, vielleicht sogar ein Bedürfnis nach Klärung verspüren. Im Gegenlicht der Übersetzung mutet manche zunächst unproblematische Aussage mit einem Mal unentschieden und oszillierend an,18 erfährt sie auch der Muttersprachler als ein Hemmnis des Verstehens, als potentielle 18

Vgl. Utz: Transgressionen im Spiegel der ›Traduction‹ (wie Anm. 8), S. 153, wo die Übersetzung »als die Ausformulierung einer Lektüre« tituliert wird, »die im Ausgangstext enthalten ist, ohne sich dort aber direkt zu artikulieren. Diese in der fremden Sprache objektivierte Lektüre«, so heißt es weiter, »setzt sich zum Ausgangstext in ein Spannungsverhältnis. Es wird lesbar, wenn man Ausgangstext und Übersetzung nebeneinander hält. Dann fallen uns Differenzen auf. Sie verweisen auf ›semantisch instabile‹ Stellen des Ausgangstextes [. . .]«. Für unsere Betrachtung einschlägig ist auch Utzens Feststellung, »in der Lektüre zwischen Original und Übersetzung« werde »das sichtbar, was an Musils Text begrifflich nicht einholbar ist« (ebd., S. 156).

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Störung, die der Übersetzer durch eine Abweichung zu beheben, nämlich zu überschreiben sucht. Eine Stelle, an welcher er den Text im Interesse größerer Explizitheit, einer Konsolidierung des Sinnes verändert, lässt sich so, mit Jäger gesprochen, als »Ort der seismographischen Identifizierung«19 einer zumindest potentiellen Störung apostrophieren, die der deutsche Leser allererst vor der Folie der Übersetzung wahrnimmt: indem er nämlich die eigene Sprache aus der Perspektive einer fremden erfährt. Das eben Ausgeführte dürfte auch auf den Anfang der Passage, die hier im Mittelpunkt steht, auf die Phrase Es wäre wichtig, zu wissen – Il serait important de démêler bei Jaccottet – zutreffen. Womöglich erhält der Inhalt des Satzes durch das Verb démêler eine Beleuchtung, die ihn derart intrikat erscheinen lässt, dass das deutsche Verb wissen hier nicht mehr am Platze ist, weil er gedanklich zergliedert und durchdrungen werden muss; man könnte die Wahl des Verbs wiederum als autoreferentiellen Wink des Übersetzers einstufen, der aus den ausdrucksseitigen Komplexionen nachgerade analytisch einen festen Inhaltskern herauszuschälen sucht. Zugespitzt formuliert, weiß er nicht, was der Text und seine einzelnen Sätze bedeuten, sondern muss er deren mäandernde Propositionen auf einige konzise, abgezirkelte Elementarinformationen festlegen, um die Aussage gleichsam zu stabilisieren. Diese Folgerungen werden durch die Übertragung eines derjenigen Sätze gestützt, die dem thematisierten vorangehen; die französische Version zeigt hier im Vergleich zur Vorlage abermals einen prononcierteren Duktus, durch den die Silhouette der wesentlichen inhaltlichen Elemente geschärft wird. Einen entscheidenden Beitrag dazu leisten zwei bedeutungsähnliche Vokabeln, die man so lesen kann, als böten sie, über ihre primäre Bedeutung hinaus, einen indirekten Aufschluss über das Movens der semantischen Akzentuierung: confirmé und assuré. Ce même voyageur, en rouvrant les yeux, eût été confirmé dans son impression par la nature du mouvement des rues, bien avant d’en être assuré par quelque détail caractéristique. (HsQ, S. 12) Die Augen öffnend, würde er das gleiche an der Art bemerken, wie die Bewegung in den Straßen schwingt, bei weitem früher als er es durch irgendeine bezeichnende Einzelheit herausfände. (MoE, S. 9) 19

Jäger: ›Unübertragbarkeit‹ (Anm. 4), S. 13. Erschwernisse des Verstehens, die den Rezipienten zum Innehalten, zur »autohermeneutische[n] Selbstverständigung« (ebd., S. 13) nötigen, etikettiert Jäger als »Störung« oder, im Anschluss an Schleiermacher, als »Hemmung« (vgl. Ludwig Jäger: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Performativität und Medialität. Hg. v. Sybille Krämer. München 2004, S. 35–73). Freilich stellt sich die Frage, ob Lexeme wie Störung oder Hemmung auf Spielarten der Unterbestimmtheit und Unschärfe passen, wie sie im Falle Musils ins Blickfeld treten, denn sie würden womöglich gar nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken, wenn man nicht den deutschen Wortlaut mit dem der Übersetzung konfrontierte. Es wäre deshalb zu erwägen, ob sie nicht zu solchen gestalterischen Qualitäten zählen, die Henninger an Musils Erzählung Die Portugiesin registriert hat und die sich dadurch auszeichnen, dass sie nur unterschwellig wirksam sind oder, wie Henninger

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Die äußere Analogie einer Wahrnehmung mit einer anderen münzt der französische Text in eine sinnliche Bestätigung (›confirmation‹20 ) durch ein Moment um, das der ›Bewegung in den Straßen‹, dem Phänomen insgesamt, wesentlich ist; französisch nature ist in diesem Zusammenhang stärker als Art, das bei Musil modal gebraucht ist, mithin auf eine spezifische Erscheinungsform statt auf einen Wesenszug abstellt. Die Umformung des mit wie eingeleiteten Nebensatzes zu einem doppelten Genitiv und die dadurch bedingte Einsparung des Verbs schwingen schreiben die semantische Verschiebung fort, die mit nature einsetzt und den sensuellen Inhalt, die ephemere Impression in eine reflexive Bestimmung, ein Abstraktionsprodukt umwidmet. In der sprachlichen Raffung findet die gedankliche Kristallisation der von Musil poetisch ausgerundeten flottierenden Wahrnehmungspartikel einen kongenialen Ausdruck. Dass die Präpositionalphrase in den Straßen durch ein Genitivattribut ([mouvement] des rues) ersetzt wird, hat ebenfalls den Effekt, dass die Aussage stärker vermittelt, konzentrierter anmutet. Damit ist die kontingente Beobachtung, durch die das Subjekt bei Musil einer Korrespondenz innewird, in der Übersetzung zu einer Einsicht, einer Erkenntnis gesteigert. Das für die französische Fassung konstitutive Motiv des Bestätigtwerdens, der Fundiertheit des Perzepts, das sich in den Partizipien confirmé und assuré anmeldet, kann wiederum auf den Übersetzer und seine Praxis zurückprojiziert werden; dieser Lesart zufolge wäre hier die Funktion der semantischen Profilierung mitbezeichnet: Es ist dem Übersetzer daran gelegen, einen im Original nur leichthin berührten, sich in der Darstellung zerstreuenden oder aber arabeskenhaft ausgezogenen Inhalt auszustanzen, dingfest zu machen, auf einen begrifflichen Nenner zu bringen, um sich seiner zu vergewissern. Wenn man einen kurzzeitigen Wechsel in ein metaphorisches Register gestattet, ließen sich diese Verhältnisse vielleicht in der Weise umschreiben, dass an die Stelle der sprachlichen Aquarellistik und Aussparungstechnik Musils ein satterer, dezidierterer Pinselstrich und pastosere semantische Farbgebung treten. Die gleiche Tendenz bricht sich in der Übersetzung der Sätze Bahn, mit denen etwas weiter oben die reich orchestrierte Ekphrasis von Wien beginnt: Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne

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schreibt, dass ihre »Perzeption zu einem wesentlichen Teil überhaupt unter der Bewußtseinsschwelle verbleibt« (Peter Henninger: Übersetzungsvergleich und Textinterpretation. Am Beispiel von Robert Musils Erzählung Die Portugiesin, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil. Beiträge des Internationalen Übersetzer-Kolloquiums in Straelen vom 8.–10. Juni 1987. Hg. v. Annette Daigger u. Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 91–111, hier S. 108). Im Text durch confirmé annonciert.

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Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. (MoE, S. 9) Du fond des étroites rues, les autos filaient dans la clarté des places sans profondeur. La masse sombre des piétons se divisait en cordons nébuleux. Au points où les droites plus puissantes de la vitesse croisaient leur hâte flottante, ils s’épaississaient, puis s’écoulaient plus vite et retrouvaient, après quelques hésitations, leur pouls normal. L’enchevêtrement d’innombrables sons créait un grand vacarme barbelé aux arêtes tantôt tranchantes, tantôt émoussées, confuse masse d’où se détachaient comme des éclats, puis se perdaient, des notes plus claires. (HsQ, S. 11) (Sämtliche Hervorhebungen M. A.)

Die kühne, expressionistische Bildsprache, die in dieser Sequenz Platz greift, mutet in der Übersetzung sparsamer und konventioneller instrumentiert an, als trachte der Übersetzer danach, die Darstellung auf den ›eigentlichen‹ Inhalt, die dichterisch überformte und verfremdete intersubjektive Erfahrungswirklichkeit, transparent zu halten. Vor diesem Hintergrund wächst dem bestimmten Artikel vor autos programmatische Kraft zu; werden durch ihn doch die Autos in Musils hochpoetischem Wien-Porträt mit denen der großstädtischen Alltagsrealität synchronisiert. Neben der perspektivischen Umorientierung, die sich daraus ergibt, dass die Adverbiale Du fond des étroites rues (aus schmalen, tiefen Straßen) vor das Satzsubjekt gezogen ist und der Ausgangspunkt der Bewegung so eine stärkere Betonung erhält, ist hier weiter die Akzentverschiebung in der zweiten Präpositionalphrase dans la clarté des places sans profondeur (in die Seichtigkeit heller Plätze) hervorzuheben: Hier rücken das Substantiv clarté, das dem Attribut hell entspricht, an die Spitze und die ergänzende Wendung sans profondeur, umgedeutet aus der zentralen Metapher Seichtigkeit, ans Ende der Fügung. Der visuelle Effekt wird aus der bildlichen Einfassung herausgelöst und mit einer geläufigen Kategorie der Raumwahrnehmung gleichgeschaltet; hierin kündigt sich ein Zug zur Diskursivierung an, der auch gleich in der Nachbildung des unmittelbar folgenden Satzes durchschlägt, wenn nämlich das ausladende und artifizielle Kompositum Fußgängerdunkelheit mit dem standardsprachlichen Syntagma la masse sombre des piétons gleichsam neu buchstabiert wird. Gewiss hat diese stilistische Transponierung ihre Ursache in sprachsystematischen Gegebenheiten, darin nämlich, dass im Französischen die Komposition als Wortbildungsprinzip fehlt. Für die Wahl von masse sombre als Pendant zum Kopf des Kompositums – Dunkelheit – dürften hingegen konzeptionelle Beweggründe des Übersetzers den Ausschlag gegeben haben; mit der französischen Nominalphrase wird das im Kompositum zusammengedrängte sprachliche Bild auf sein Wahrnehmungssubstrat, den motivierenden Vorstellungskern zurückgeführt; Gleiches gilt für das Reflexivum se divisait, das dem Satzprädikat (bildete bei Musil) eine analytische Note und dem metaphorisch inszenierten Geschehen insgesamt größere Durchsichtigkeit verleiht. An dem Rückbau der Bildlichkeit, die freilich als solche nicht preisgegeben wird, hat

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weiter auch das wörtlich zu nehmende, eindeutige hésitations (für das weniger bestimmte Schwingungen) teil; exemplarisch ist auch die erklärende Wiedergabe des Teilsatzes Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden mit L’enchevêtrement d’innombrables sons créait un grand vacarme barbelé: Das Zustandspassiv waren . . . verwunden, das auf die apperzeptive Vereinheitlichung einer fragmentierten Vielheit abhebt, geht in einen Kausalnexus mit dem nicht-metaphorischen Verb créait als zentraler Schaltstelle auf, durch welche die einander überlagernden akustischen Reize – innombrable isoliert hier die Wahrnehmung, die der symbolischen Bezifferung zugrunde liegt – und der Gesamteindruck im Sinne von Ursache und Wirkung gegeneinander profiliert werden. Zur Repräsentation des Ganzen, des ›vacarme barbelé‹, den Musil in einer Trias von Relativsätzen umschreibt, führt die Übersetzung ein zweites, um ein Adjektiv ergänztes Substantiv ein, nämlich wiederum masse, womit das Geräusch lexikalisch mit dem Kollektiv der Fußgänger in Verbindung gebracht und der Darstellung ein strukturelles Scharnier eingesenkt wird, das ihr zugleich zu größerer Übersichtlichkeit und gedanklicher Differenziertheit verhilft: Als Formativ dient die Interpolation masse confuse der Gliederung des Satzes; werden durch sie doch die attributiven Bestimmungen zu zwei klar gegeneinander abgegrenzten Blöcken, zu einer Partizipialphrase und einem Relativsatz, zusammengefasst. Zum Eindruck größerer Diskursivität trägt schließlich auch die Umwandlung der Metapher in einen Vergleich bei; hierin – und deswegen steht dieser an sich so unscheinbare Befund mit Fug am Ende der Betrachtung – spricht sich die im Vorigen durchgängig angewandte Strategie, den bildlichen Ausdruck im Sinne größerer Durchlässigkeit gegen seine eigentliche Bedeutung zu verändern, am bündigsten aus.

4. Zusammenfassung und Ausblick Wir wollen nach dieser letzten stichprobenartigen Untersuchung innehalten und einmal vorläufig Bilanz ziehen. Ausgehend von der These, dass Jaccottet in L’Homme sans qualités sein eigenes Sprachverstehen nachvollzieht und künstlerisch gestaltet, suchte die vorliegende Studie Freiheiten oder Eigenwilligkeiten der Übersetzung aufzuhellen, denen sich eine Tendenz zur Ausschaltung oder Verminderung sprachlicher Vagheit zuschreiben lässt. Die Interventionen des Übersetzers wurden als Responsionen auf Hemmnisse oder Störungen im Text gedeutet, welche von Formen der Implizitheit, Unterbestimmtheit oder semantischen Unschärfe herrühren, die sich freilich primär dem französischen Leser als solche darstellen: Der deutsche wird sie erst vor der Folie der Übersetzung wahrnehmen, in der sich eine fremdsprachliche Perspektive auf das Original profiliert, die ihn zum bewussten Nachvollzug seines eigenen Sprachverstehens anregen kann, so dass seine Rezeption

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etwas von ihrer Selbstverständlichkeit verliert oder eine Art von Entautomatisierung, einen Zuwachs an Bewusstheit erfährt. »Transgressionen« des Übersetzers, wie sie Utz herausgearbeitet und lesbar gemacht hat, lassen sich als »Transkriptionen« sensu Jäger ansehen, die darauf zielen, den Text in seiner Nachbildung zu explizieren, zu vereindeutigen, zu glätten oder auch ein im Verstehen erkundetes und ausgelotetes Sinnpotential zu aktualisieren. Zunächst drängt sich nun die Frage auf, wie es um Aussagekraft und Erkenntniswert der im Vorigen mitgeteilten Beobachtungen bestellt ist: Sind diese doch durch ein exegetisches Verfahren gewonnen worden, das zwar von hermeneutischem Problembewusstsein ebenso wie von dem Bemühen um Tiefenschärfe und Detailsensibilität geleitet war, in der Durchführung aber im Grunde nicht über punktuelle und kursorische Ansätze hinausgelangte, so dass die vorliegende Arbeit nicht nur ein Torso ist, sondern schon in der Anlage jeden systematischen Zug vermissen lässt. Liegt damit nun nicht die Schlussfolgerung nahe, dass die Ergebnisse und Befunde, die im Verlauf der oben dokumentierten synoptischen Lektüren zusammengetragen wurden, etwas Zufälliges haben, umso mehr, als sich das Textpensum, das sich auf einige Stellen aus dem ersten Kapitel beschränkt, unter dem gewaltigen Maßstab des Diptychons von deutschem und französischem Text mehr als nur bescheiden ausnimmt? Zweifelsohne ist diese Basis allzu schmal, sind die Resultate zahlenmäßig allzu gering, als dass man sich von einer synthetisierenden Zusammenfassung einen Ausblick auf gestalterische Dispositionen, Bauprinzipien und Großstrukturen erhoffen dürfte, aus denen sich die Gesamtarchitektur des Homme sans qualités konstituiert. Um von Beobachtungen wie den im Vorigen mitgeteilten abstrahieren, auf etwas Allgemeineres, zum Beispiel auf konzeptionelle Voraussetzungen des Übersetzers und auf Formative seines Wirkens, extrapolieren zu können, wäre eine beträchtliche Erweiterung des hier nur sporadisch abgeschrittenen Gesichtskreises vonnöten. Als repräsentativ oder symptomatisch erweist sich ein sprachliches Moment erst im Verbund mit anderen, die als ihm ähnlich oder mit ihm gleichsinnig apostrophiert werden können. Dieses Axiom, das die klassische Parallelstellenmethode mit neueren sprachwissenschaftlichen Disziplinen wie der Diskurs- und Korpuslinguistik teilt, in denen es kaum hinterfragt wird, ist allerdings, wie Szondi in seinem Traktat Über philologische Erkenntnis gezeigt hat, wissenschaftsgeschichtlich bedingt und auf seine Stichhaltigkeit und Adäquatheit zu prüfen.21 Tatsächlich ist die Supposition, man habe eine Deutung für objektiv zu erachten, wenn man nur genügend viele Belege für sie präsentiert, einem ins 19. Jahrhundert datierenden positivistischen Wissenschaftsverständnis verhaftet,22 wie es einer hermeneutischen Disziplin kaum gemäß und auch aus der Warte der Naturwissenschaften längst überholt sein 21 22

Peter Szondi: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, in: ders.: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack mit Henriette Beese u. a. Frankfurt a. M. 1978, S. 261–418. Vgl. ebd., S. 273.

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dürfte. Ferner wäre, ebenfalls unter Berufung auf Szondi, anzumerken, dass sprachliche Gebilde nicht an sich als Belege, geschweige denn als Beweise zu gelten haben, sondern erst im Zusammenhang einer Auslegung zu solchen zugerüstet werden.23 So wenig also das Junktim von Repräsentativität und Quantität der Philologie zur Objektivierung ihrer Hypothesen verhilft, so unglaubhaft ist es, dass jemand, wenn er willkürlich ein paar Stellen aus dem ersten Kapitel herausgegriffen hat, imstande sein sollte, essentielle Eigenschaften von Jaccottets Musil-Übersetzung zu benennen oder halbwegs valide Aussagen über etwaige Absichten und Strategien zu treffen, die sich ihr in Gestalt textueller Funktionen eingeprägt haben.24 Man darf erwarten, dass ein Forscher mit solchen Prätentionen ein größeres Textquantum, wenn nicht gar den Text in seiner Ganzheit gesichtet und erschlossen, analytisch durchdrungen hat, wofür sich das in der vorliegenden Studie praktizierte Verfahren, zeitintensiv und unökonomisch, wie es ist, im Übrigen kaum als Muster empfehlen dürfte. Wenn man nun andere Kriterien an die Untersuchung anlegt, als eben insinuiert worden ist, und nicht darauf besteht, dass die Beschäftigung mit dem ersten Kapitel von Jaccottets Musil-Übersetzung etwas für diese Wesentliches treffen oder eine konzeptuelle Tiefendimension eröffnen müsse, kann man auch punktuellen Beobachtungen eine gewisse Relevanz bescheinigen, unabhängig von ihrem Stellenwert für das Gesamtgefüge der Übersetzung. Man kann einzelne Ausdruckselemente des französischen Textes, wie sie in dieser Arbeit dingfest gemacht wurden, interpretierend zueinander in Beziehung setzen, ohne danach zu fragen, ob sie an sich signifikant oder doch eher kontingent sind; in solcher Perspektive fügen sie sich zu einem musivartigen, flächigen Bedeutungszug,25 durch den eine Erfahrungs- oder Wahrnehmungsspur läuft, die ihren Ausgangspunkt beim Interpreten hat und im günstigsten 23 24

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Vgl. ebd., S. 274 f. Bei dieser Gelegenheit sei freilich zu bedenken gegeben, dass in einem literarischen Werk, wie es auch Jaccottets Übersetzung darstellt, prinzipiell jedes Detail, selbst das unscheinbarste, den Rang eines integralen Aufbauelements, eines konstitutiven Faktors besitzt, ohne den das Gesamtgefüge ein anderes Gepräge hätte; unter dieser Voraussetzung bieten sich einer Betrachtung, die zur gestalterischen Logik eines ästhetischen Sprachgebildes durchzudringen sucht, in schlichtweg allen textuellen Komponenten mögliche Angriffspunkte, denn unter ihnen findet sich keine, die nicht als symptomatisch oder als repräsentativ eingestuft werden dürfte. Die oben eingeflochtene kritische Bestandsaufnahme wird durch diese Überlegung ein Stück weit relativiert; ein weiteres Argument für ein gleichsam mikroskopierendes Verfahren, das bei punktuellen Einzelmomenten im Text verweilt, ist dem in Anm. 2 aufgeführten Beitrag von Weitemeier zu entnehmen: »In aller Regel lassen sich anhand einer detailliert untersuchten repräsentativen Textpassage Trendaussagen machen, die die Aufmerksamkeit besonders bei der Durchsicht längerer Texte steuern helfen bzw. durch Selektion überhaupt ermöglichen« (Weitemeier: Literarischer Stil [Anm. 2], S. 894). Das Paradigma der flächigen Bedeutung schreibt sich von dem auch in der Übersetzungsforschung ausgewiesenen Sprachwissenschaftler Andreas Gardt her. Vgl. Andreas Gardt: Kunst und Sprache. Beobachtungen anlässlich der documenta 12, in: Literatur – Kunst – Medien. Festschrift für Peter Seibert zum 60. Geburtstag. Hg. v. Achim Barsch, Helmut Scheuer u. Georg-

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Falle – wenn das Verstehen etwas von dem kreativen Prozess, auf den es sich richtet, in sich hineinzunehmen weiß – zum Übersetzer zurückführt: im Sinne der einleitend aufgestellten Behauptung, dass dessen Arbeit sein eigenes Verstehen des Musil’schen Textes und, wie hier nun noch ergänzt sei, der fremden Sprache zur Darstellung bringt, seine Spracherfahrung gestaltend-schöpferisch und zugleich objektivierend nachvollzieht. Dieses zunächst einzig auf meine Intuition gegründete Statut findet in den dargelegten Beobachtungen einen gewissen Rückhalt, wenn man ihnen zubilligt, dass sie sich als Segmente eines semantischen Mosaiks gegenseitig mit zusätzlicher Signifikanz anreichern und so in Wechselwirkung Belegcharakter zuteilen. Macht man sich diese Argumentation zu eigen, so wird man sich vielleicht auch die Frage stellen, was genau der Übersetzer ins Französische bringt: das Original, das mit dem Sprachwissenschaftler Maximilian Scherner als vom Rezipienten zu verarbeitende semantische »Anweisungsmenge« apostrophiert werden kann,26 oder aber ein philologisches Artefakt, das sich im Zuge der Ausdeutung, der Aktualisierung des Sinnpotentials der Vorlage herausgebildet hat. Es mag freilich schwierig sein, diese beiden Alternativen in der praktischen Beschäftigung mit der Übersetzung konsequent auseinanderzuhalten, und überhaupt gilt es zu evaluieren, ob und inwieweit sich eine solche konzeptuelle Differenzierung, die auf der Linie des die sprachwissenschaftliche Interpretations- und Verstehensforschung weithin dominierenden Konstruktivismus liegt, bei der Erschließung des einzelnen sprachlichen Gebildes bewährt. Die Lektüre der Übersetzung ist so gesehen eine Probe aufs Exempel und gleich eine überaus schwierige, deren Ausgang man keine geringe Aussagekraft beimessen wird. Für die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Jaccottets L’Homme sans qualités ergeben sich hieraus weitere, über die individuelle Übersetzungsleistung hinausweisende Forschungsperspektiven.

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Michael Schulz. München 2008, S. 201–224, und ders.: Textanalyse als Basis der Diskursanalyse. Theorie und Methoden, in: Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Hg. v. Ekkehard Felder. Berlin, Boston 2013, S. 29–55. Aus der letzteren Studie sei hier die folgende Erläuterung angeführt: »Bei flächiger Bedeutungsbildung entsteht der semantische Effekt durch die Gesamtheit der Bedeutung mehrerer Textelemente, ohne dass ein einzelnes dieser Textelemente bereits die erst über die Gesamtfläche des Textes entstehende Bedeutung anzeigt. Nicht selten sind die Mittel flächiger Bedeutungsbildung divergenter und schwieriger zu identifizieren als die punktueller Bedeutungsbildung. Wird z. B. ein Text insgesamt als inhaltlich unklar, unstimmig wahrgenommen, dann kann dies an thematisch inkonsistent etablierten Wortfeldern liegen (durch die Verwendung von Ausdrücken, die sich in ein einmal im Text etabliertes semantisches Feld nicht einfügen), durch antithetische Propositionen (ohne argumentative Klärung der Antithesen), durch textdeiktisch unklare Satzanschlüsse usw. Erst in ihrer Gesamtheit lassen diese und evtl. andere sprachliche Konstituenten des Textes den erwähnten Eindruck der inhaltlichen Unstimmigkeit entstehen«. Maximilian Scherner: Sprache als Text. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlich begründeten Theorie des Textverstehens. Forschungsgeschichte – Problemstellung – Beschreibung. Tübingen 1984 (= Reihe germanistische Linguistik, Bd. 48), S. 159.

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Unterwegs mit dem Fliegenpapier: Robert Musil in Frankreich Abstract: This article traces the translations and creative reception of The Flypaper (Le Papier tue-mouches), written by Robert Musil in 1913/14. As part of the early efforts to introduce Musil’s work in France in the 1930s, thanks, in particular, to the key mediating role of Bernard Groethuysen, a collective translated The Flypaper for the journal Mesures in 1937. The poet Philippe Jaccottet published a new translation in 1965 in Posthumous Papers of a Living Author (Œuvres pré-posthumes). In the 1980s, Marguerite Duras, a devoted reader of The Man without Qualities, wrote several texts about a dying fly. These different understandings of the Papier tue-mouches provide an opportunity to reflect on the potential, challenges, and aporias of translation.

Jede Übersetzung ist ein Übergang, ein Überqueren, ein Hinübergehen. Übersetzen, liest man im Duden, heißt »(schriftlich oder mündlich) in einer anderen Sprache (wortgetreu) wiedergeben [. . .], (eine Sache in eine andere) umwandeln« oder »von einem Ufer ans andere befördern«.1 Obwohl das Übersetzen sich hauptsächlich auf das bezieht, was Roman Jakobson als »zwischensprachliche Übersetzung oder Übersetzung im eigentlichen Sinne« bezeichnet, d. h. die »Wiedergabe sprachlicher Zeichen durch eine andere Sprache«,2 kann das Wort in einem umfassenden Sinn den Versuch bezeichnen, das Erlebte, Beobachtete oder Gedachte sprachlich zu artikulieren.3 »Was man auch immer schreibt«, konstatiert Paul Valéry, »ist, sobald der Akt des Schreibens Nachdenken erfordert und nicht die mechanische und pausenlose Niederschrift eines inneren Diktats spontaner Eingebung ist, eine Übersetzungsarbeit, die mit der Umwandlung eines Textes von der einen in eine andere Sprache exakt vergleichbar ist.«4 Für zahlreiche Schriftsteller und Denker, bemerkt Antoine Berman, »bedeutet Übersetzen nicht nur die ›Passage‹ 1 2 3

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Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Bd. 9. Hg. v. wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim u. a. 31999, S. 4034. Roman Jakobson: Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen. München 1974, S. 155. Diese umfassende Definition wird von George Steiner in seinem »Versuch einer umfassenden Poetik der Übersetzung« vertreten, wonach »das Übersetzen im Kern jeglicher menschlicher Kommunikation« liegt (George Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Übers. v. Monika Plessner unter Mitwirkung v. Henriette Beese. Berlin 2 2020, S. II, vgl. auch S. V). Paul Valéry: Variationen über die Bucolica, in: ders.: Werke. 7 Bde. Hg. v. Alfred Blüher u. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Bd. 1: Dichtung und Prosa. Frankfurt a. M., Leipzig 1992, S. 558–576,

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eines Texts zwischen zwei Sprachen, sondern auch – um diese erste ›Passage‹ herum – eine ganze Reihe anderer ›Passagen‹, die den Akt des Schreibens und – noch verborgener –, den des Lebens und Sterbens betreffen.«5 Diese verschiedenen Modalitäten des Übersetzens lassen sich an einem der berühmtesten Kurztexte Musils, dem Fliegenpapier, mit besonderer Deutlichkeit nachvollziehen. Dieser Text gehört zu den wenigen, die zu Lebzeiten Musils übersetzt wurden. Er wurde zweimal ins Französische übertragen, zunächst 1937 von Germain Landier in der Zeitschrift Mesures und dann von Philippe Jaccottet als Teil der 1965 veröffentlichten Œuvres pré-posthumes (Nachlaß zu Lebzeiten).6 Außerdem veranschaulicht Musils Kurztext auf paradigmatische Weise die Herausforderungen, welche die Übersetzung im umfassenden Sinn mit sich bringt: Wie lässt sich der Tod einer Fliege sprachlich vermitteln, wenn der Zugang zu deren Innerem versperrt ist? Wie kann man diesem sowohl banalen als auch rätselhaften Ereignis gerecht werden, ohne in die Falle des Anthropomorphismus zu tappen? Im Fliegenpapier wird der Todeskampf der Fliegen in einer Mischung aus Gewalt und Empathie dargestellt, wobei der Erzähler selbstreflexiv auf die Grenzen des eigenen vivisezierenden Blicks hinweist. Das Fliegenpapier spiegelt die Schwierigkeiten und Aporien wider, die dem Schreiben anhaften, sobald es darum geht, ganz andere und fremde Erfahrungsregister zu erschließen. Über seine Übersetzungen hinaus hat dieser Kurztext im französischen Sprachraum andere Schriftsteller und Künstler inspiriert. Vor allem finden sich bei Marguerite Duras’ Behandlung des Fliegenmotivs Anklänge an Musils Fliegenpapier. Wie bei Musil ist ihre Begegnung mit einer sterbenden Fliege eine unheimliche Erfahrung, welche zu poetologischen und ethischen Überlegungen über den Schreibakt Anlass gibt. Als Zeugnis und Medium des Andenkens wird Schreiben zu einer Erforschung des »Unbekannte[n], das man in sich trägt«.7 Dieser Aufsatz wird die französische Rezeption dieses Kurztextes untersuchen. Nach einem Überblick über deren frühe Phase und vor allem über die wichtige Vermittlerrolle Bernhard Groethuysens als Lektor des Pariser

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hier S. 562 (Übersetzung leicht verändert, F. V.). »Écrire quoi ce soit, aussitôt que l’acte d’écrire exige de la réflexion, et n’est pas l’inscription machinale et sans arrêts d’une parole intérieure toute spontanée, est un travail de traduction exactement comparable à celui qui opère la transmutation d’un texte d’une langue dans une autre« (Paul Valéry: Variations sur les Bucoliques, in: ders.: Œuvres. Bd. 1. Hg. v. Jean Hytier. Paris 1957, S. 211). »La traduction signifie non seulement le ›passage‹ interlangue d’un texte, mais – autour de ce premier ›passage‹ – toute une série d’autres ›passages‹ qui concernent l’acte d’écrire et, plus secrètement encore, l’acte de vivre et de mourir« (Antoine Berman: La Traduction et la Lettre ou l’auberge du lointain. Paris 1999, S. 21). Robert Musil: Œuvres pré-posthumes. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1965, S. 13–16. Marguerite Duras: Schreiben, in: dies.: Der Tod des jungen englischen Fliegers. Übers. v. Andrea Spingler. Frankfurt a. M. 1995, S. 11–52, hier S. 51 (»[Écrire, c]’est l’inconnu qu’on porte en soi«, Marguerite Duras: Écrire, in: dies.: Œuvres complètes. Bd. 4. Hg. v. Gilles Philippe. Paris 2014, S. 866).

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Gallimard-Verlags wird das Augenmerk auf Das Fliegenpapier und dessen französische Übersetzungen gerichtet. Schließlich soll der kreativen Rezeption des kurzen Prosatexts nachgegangen werden.

1. Musil in Frankreich: die frühe Rezeption 1.1 Erste Versuche Um den Entstehungskontext der Übersetzungen des Fliegenpapier besser zu verstehen, ist es hilfreich, einen Überblick über die frühe französische Musil-Rezeption zu geben. Zu Lebzeiten Robert und Martha Musils sind die meisten Versuche, das Werk Musils in Frankreich bekanntzumachen, fehlgeschlagen. Robert Musil hätte es sehr begrüßt, ins Französische übersetzt zu werden. Schon 1924 hatte er Rainer Maria Rilkes Angebot, einen französischen Übersetzer für den Törleß zu finden, mit Begeisterung aufgenommen: Ich würde mich sehr über eine Übersetzung freun und danke Ihnen herzlich für die Anregung. Das wenige, was ich von der französischen Literatur kenne, gab mir immer das sonderbare Gefühl, daß ich ihr mehr zugehöre als der deutschen [. . .]; vielleicht ist das aber nur einseitig und eine Täuschung. Am schwierigsten zu übersetzen sind wohl die Vereinigungen, am dankbarsten der Törless, als das Wichtigste erscheinen mir die Schwärmer. Besonders froh bin ich darüber, daß die Tatsache Ihrer Vermittlung die Begabung des Übersetzers verbürgt. Ich hoffe, er läßt es mich wissen, sobald seine Absicht fest ist.8

Rilke hatte den zukünftigen Schriftsteller und Maler Pierre Klossowski (1905– 2001), den Sohn seiner damaligen Geliebten Baladine Klossowska, gefragt, ob er Texte von Musil übersetzen wollte. Aber der neunzehnjährige Klossowski lehnte das Angebot ab.9 Dass die Franzosen ihn besser verstehen würden, hat Musil mehrmals behauptet. In seinem nicht besonders wohlwollenden Porträt von Musil erwähnte Jean Paulhan, der damalige Chefredakteur der Nouvelle Revue Française (NRF), dass in Musils Augen »die Franzosen die Einzigen seien, die ihn verstehen könnten . . . Ihm kam es vor, er würde in Frankreich bessere Leser finden als in Deutschland oder in Österreich.«10 In den 1930er Jahren wurde das Projekt einer Übersetzung ins Französische wieder aufgenommen. Sarita Halpern teilte Karl Otten im Jahr 1933 mit, sie wäre von Der Mann ohne Eigenschaften so begeistert gewesen, dass sie den Roman ins Französische übersetzen wollte. Sarita Halpern (1898–1974) – 8 9 10

Robert Musil an Rainer Maria Rilke, 16. 11. 1924, Br I, S. 364 f. Nach Pierre Pachet soll Klossowski damals am Törleß wenig Gefallen gefunden haben (Pierre Pachet: Phrases musiliennes de Jaccottet, in: Philippe Jaccottet. Hg. v. Patrick Née u. Jérôme Thélot. Cognac 2001, S. 233–241, hier S. 233). »Il disait que les Français étaient les seuls à être capables de le comprendre . . . Il s’attendait à trouver en France de meilleurs lecteurs qu’en Allemagne ou en Autriche« (Jean Paulhan: Jean Paulhan se souvient, in: Robert Musil. Hg. v. Marie-Louise Roth u. Roberto Olmi. Paris 1981

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deren eigentlicher Name Sarah Halpern lautete – war eine Übersetzerin russischer Herkunft, die seit 1930 die Lebensgefährtin von Franz Bleis Tochter war.11 Dieser Vorschlag wurde ebenfalls nicht umgesetzt.12 Mitte der 1930er Jahre bot sich im Umkreis des Gallimard-Verlags und dessen Zeitschriften NRF und Mesures erneut die Möglichkeit, Auszüge aus dem Mann ohne Eigenschaften zu übersetzen.13 Dieses Projekt war umso willkommener, als sich Musils materielle Lage mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sehr verschlechtert hatte, denn seine Bücher waren 1938 in Deutschland verboten worden. Damals war Musil in Frankreich so gut wie unbekannt. Zwar hatte der französische Germanist Félix Bertaux, der in der NRF Rezensionen zu literarischen Neuerscheinungen in Deutschland verfasste, im August 1933 den Mann ohne Eigenschaften kurz rezensiert.14 In seiner Zwei große österrei-

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[= Cahiers de l’Herne], S. 274–276, hier S. 274). In ähnlicher Hinsicht erwähnt Martin Flinker einen 1936 verfassten Brief von Hermann Broch, wonach in Anlehnung an damals gängige kulturelle Stereotype Musil sich durch »eine Art der Geistigkeit« auszeichne, »deren geschliffene Schärfe weit eher im Westen verwurzelt [sei], ja, die beinahe als französisch anzusprechen wäre« (Martin Flinker: Der Österreicher Robert Musil, in: Robert Musil. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Karl Dinklage. Zürich, Leipzig, Wien 1960, S. 382–385, hier S. 384). Robert und Martha Musil kannten Sibylla Blei, die als Schauspielerin tätig war, ziemlich gut. Martha gab ihrer Tochter Annina regelmäßig Nachrichten über »Billy« und Musil war auch ihr gegenüber freundlich gesinnt, wie es folgender Brief zeigt: »Liebes Fräulein Si-Billy. Ich habe ein sehr schlechtes Gewissen, denn ich hatte am Premierentage Kopfweh und blieb zuhause. Dafür habe ich aber nun auch die Strafe, Sie nicht gesehen zu haben. Und auferlegte mir die zweite Strafe dazu, Ihre Wolfsberg Karte vor mich auf den Schreibtisch zu stellen und stündlich Ihr Hügelschloß und Ihre Obstbäume zu sehn, während auf meinem Schreibtisch nicht einmal der Lorbeer recht wachsen will, den ich doch als Haarersatz dringend brauche. Seien Sie beneidet! Ihr herzlich ergebener Robert Musil« (Robert Musil an Sibylla Blei, 6. 6. 1919, Br I, S. 179). Ellen Otten erzählte von der Begegnung mit Sarita Halpern: »Wir sind gleich im März 1933 aus Berlin nach Mallorca gegangen. Mit den ersten beiden Musil-Bänden! In unserem kleinen Fischerdorf lernten wir eine Übersetzerin kennen, die sich sofort für den M. o. E. begeisterte – man sieht noch heute an den Bänden, wie sehr sie sich damit beschäftigte! – und ihn ins Französische übersetzen wollte. Wenn ich mich recht erinnere [. . .] hieß sie Sarita Halpern. Als wir alle im Bürgerkrieg die Insel verließen, ging sie mit der Tochter von Franz Blei nach Portugal. Wie korrespondierten noch einige Zeit, dann starb Billy Blei. Was aus Frau Halpern geworden ist, weiß ich nicht« (Br II, S. 339). Karl Otten hatte Musil von diesem Projekt unterrichtet, wofür dieser sich herzlich bedankte: »Für Ihr und Fr. Halperns Interesse vielen Dank! Ich werde noch heute Rowohlt wegen der Option schreiben, aber da es nie sicher ist, was er tut, wäre es wünschenswert, wenn mir Frau H. in etwa vierzehn Tagen schriebe, falls Sie von ihm keine Nachricht hat« (Robert Musil an Karl Otten, 3. 10. 1933, Br I, S. 585). Die NRF und der Gallimard-Verlag galten als besonders prestigeträchtig und exklusiv. Walter Benjamin, der 1933 nach Frankreich ausgewandert war, hatte sich darüber beklagt, wie schwierig es für außenstehende Autoren sei, Zugang zum Verlag zu bekommen: »Der Kreis um die NRF«, schrieb er am 10. 8. 1936 an Max Horkheimer, sei »von jener Impermeabilität, die eine ganz bestimmte Art von Zirkeln seit jeher hat, und dreifach, wenn es literarische sind, kennzeichnet« (Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. 5. Hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. Frankfurt a. M., S. 353). Außer Bertaux’ Rezension sind 1932 ein Aufsatz von Paul Jacob in der Revue d’Allemagne sowie 1931 und 1933 kurze Rezensionen des ersten und zweiten Bandes des Mann ohne Eigen-

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chische Romane betitelten Rezension widmete Bertaux acht Seiten Joseph Roths Roman Radetzkymarsch, den er begeistert lobte; über den Mann ohne Eigenschaften schrieb er nur ein paar Absätze, die eine gewisse Ambivalenz und Verwirrung verraten: So verglich er den Roman mit »Paralipomena, in denen die Phantasie wie in Montaignes Essais frei herumirrt«, und beschrieb den Mann ohne Eigenschaften als einen Roman, der durch eine »unterschwellige und hartnäckige Ablehnung, einen Roman zu schreiben«, gekennzeichnet sei.15 Seine Rezension endete mit der Bemerkung, dass Musil »kein ›Publikum‹« brauche – eine Bemerkung, der Musil kaum zugestimmt hätte, da er sich nie ausreichend bekannt und anerkannt fühlte.16 Bertaux schrieb, sein Roman beschäftige sich »in der allgemeinsten Form mit den Themen, die uns am meisten betreffen,« und sei »vor allem eine private Angelegenheit, die diejenigen Geister zum Denken anregt, die nur unter vier Augen mit dem Autor oder besser noch mit sich selbst diskutieren wollen.«17 Die ersten Übersetzungen von Texten Musils wurden 1935 in der Zeitschrift Mesures veröffentlicht. Die Zeitschrift wurde vom amerikanischen Mäzen Henry Church18 finanziert und erschien vierteljährlich von 1935 bis 1940 unter der Leitung von Jean Paulhan. Sie wurde als »geistige[ ] Nachfol-

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schaften in der Revue germanique erschienen (Paul Jacob: Robert Musil, in: Revue d’Allemagne 6 [1932], S. 503–517; P. Fournier: Le roman allemand, in: Revue germanique 22 [1931], S. 190– 191 und 24 [1933], S. 144–145). 1923 erschien auch eine kurze Rezension über Die Schwärmer (Louis Brun: Die Schwärmer de Robert Musil, in: Revue germanique 3 [Juli 1923], S. 300–301). Vgl. Jacqueline Magnou: Une carrière posthume en France ou le développement du discours sur Robert Musil, in: Chroniques allemandes 3 (1994), H. 1, S. 215–228, hier S. 216, sowie Claude Chevalier und Jacqueline Magnou: Robert Musil. Bibliographie chronologique commentée des publications et critiques parues en français, in: Musil-Forum. Wissenschaftliches Beiheft 3 (1987), S. 67–94. »[P]aralipomènes où la fantaisie erre à son gré comme dans les Essais de Montaigne«; »un sourd et opiniâtre refus de romancer« (Félix Bertaux: Les deux grands romans de l’Autriche: Radetzkymarsch par Joseph Roth [Kiepenheuer]; Der Mann ohne Eigenschaften, par Robert Musil [Rowohlt], in: La Nouvelle Revue Française 21 [August 1933], Nr. 239, S. 292–303, hier S. 299 f.). Nach Philippe Jaccottet führte Musil im Vergleich zu seinen hohen Erwartungen als Autor »ein Schattendasein« (vgl. Philippe Jaccottet: Robert Musil, in: La Nouvelle Revue Française 5 [November 1957] Nr. 59, S. 858–861, hier S. 859). »[Ce roman] n’[avait] pas besoin du ›public‹«: »Abordant les sujets qui nous touchent le plus, et sous leur forme la plus générale, il est d’abord affaire privée, matière à penser pour des esprits ne consentant à discuter qu’en tête-à-tête avec l’auteur, et mieux encore avec eux-mêmes« (Bertaux: Les deux grands romans [Anm. 15], S. 302). Henry Church (1880–1947) war ein reicher amerikanischer Mäzen, der mit seiner deutschen Frau Barbara Church in Frankreich lebte. Das Paar hatte Le Corbusier damit beauftragt, drei benachbarte Villen in Ville-d’Avray zu bauen. Im August 1934 beschlossen Church und Paulhan, eine neue Zeitschrift zu gründen. In den 1930er und Anfang der 1940er Jahre unterstützten Henry und Barbara Church Musil mit regelmäßigen Zuschüssen. In ihrem Briefwechsel mit Jaccottet erwähnt Martha Musil, dass sie, Musil und Paulhan »bei Freunden (Church’s) [in Ville-d’Avray] zusammen« waren (Martha Musil an Philippe Jaccottet, 11. 1. 1948, in: Martha Musil: Briefwechsel mit Armin Kesser und Philippe Jaccottet. Bd. 1. Hg. v. Marie-Louise Roth, in Zusammenarbeit mit Annette Daigger u. Martine von Walter. Bern u. a. 1997, S. 322). Zur

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gerin«19 der von Paul Valéry gegründeten Zeitschrift Commerce konzipiert, deren Erscheinen 1932 eingestellt worden war.20 Zum Redaktionsausschuss von Mesures gehörten Henry Church, Bernard Groethuysen, Henri Michaux und Giuseppe Ungaretti. Drei Texte von Musil wurden zwischen 1935 und 1937 übersetzt und publiziert, zwei Kapitel aus dem Mann ohne Eigenschaften: »Amis de jeunesse« (»Jugendfreunde«) und »Comment un homme sans caractères agit sur un homme à caractères« (»Wirkung eines Mannes ohne Eigenschaften auf einen Mann mit Eigenschaften«)21 sowie Le Papier tuemouches (Das Fliegenpapier).22 Letzteres erschien zusammen mit Texten und Gedichten von Henri Michaux, Roger Caillois und Bertolt Brecht.23 Während für die beiden ersten Texte Barbara Church als Übersetzerin zuständig war, wurde für Das Fliegenpapier Germain Landier als Übersetzer genannt, ein Pseudonym, worunter sich vor allem Bernard Groethuysen verbarg.24 Aber

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Rolle von Henry Church vgl. Claire Paulhan: Henry Church et la revue Mesures. La ressource américaine, in: La Revue des revues 34 (2003), S. 2–21. Robert Musil an Klaus Pinkus, 2. 12. 1934, Br I, S. 630. Zur Entstehung dieser Zeitschrift vgl. Laurence Brisset: La NRF de Paulhan. Paris 2003, S. 184– 196. Vgl. auch Ève Rabaté: La Revue Commerce. L’esprit »classique moderne« (1924–1932). Paris 2012. Robert Musil: L’homme sans caractères, in: Mesures (15. 1. 1935), H. 1, S. 61–89. Robert Musil: Le papier tue-mouches, in: Mesures (15. 4. 1937), H. 2, S. 191–193. Musil schien mit den Übersetzungen der beiden Kapitel des Mann ohne Eigenschaften insgesamt zufrieden, wobei er Bernard Groethuysen wegen ein paar »Schattierungen« um Rat fragte: »Es hat mir große Freude bereitet, die Übersetzung zu lesen, die einen ausgezeichneten Eindruck auf mich macht [. . .], so wirkt nun das Ganze, u. namentlich durch die angenehme Kürze des Französischen, aber auch durch das fremde Sprachkleid überhaupt, viel frischer auf mich, als es das Original zustande bringt [. . .]. [N]ach wiederholter Lektüre [habe ich vor], Ihnen einige winzige Einzelfragen vorzulegen, die mir beim ersten Lesen eingefallen sind. Sie beziehen sich nur auf Schattierungen und sind vielleicht überhaupt nur ein Schatten meiner Sprachunwissenheit« (12. 2. 1935, Br I, S. 635). Am selben Tag fragte er den Literaturkritiker und Übersetzer Bernard Guillemin nochmals um Rat: »[A]uch wäre es mir sehr interessant zu hören, wie Sie die Übersetzung beurteilen« (12. 2. 1935, Br I, S. 638). Guillemin hatte 1925 André Gides Roman Die Pastoralsymphonie (La Symphonie pastorale) übersetzt. 1932 organisierte er eine Begegnung zwischen Gide und Musil in Berlin. Während dieses Treffens bot Guillemin »l’homme disponible« als Übersetzung von »Der Mann ohne Eigenschaften« an, wobei das Adjektiv »disponible« den Nachteil hatte, zu sehr an Gide zu erinnern. Gide hatte nämlich die »Disponibilität« als Aufnahmebereitschaft, Ablehnung jeder Beschränkung und Offenheit für alle Möglichkeiten zu einem Schlüsselbegriff erhoben. Dann schlug Guillemin »l’homme sans caractères« als Alternative vor (Bernard Guillemin: La rencontre avec Gide, in: Robert Musil [Anm. 10], S. 282). Über die Beziehungen zwischen Musil und Gide vgl. Florence Godeau: André Gide, Robert Musil: éloge de la disponibilité, in: Poétiques de l’indéterminé. Le caméléon au propre et au figuré. Hg. v. Valérie-Angélique Deshoulières. Clermont-Ferrand 1998, S. 369–380. Es ist wohl möglich, dass die erwähnten »Schattierungen« Einwände von Martha waren, welche die französische Sprache sehr gut beherrschte und sogar Stendhals Die Äbtissin von Castro für die von Franz Blei und Wilhelm Weigand herausgegebenen Gesammelte Werke übersetzt hatte. Groethuysen verwendete dieses auf seine deutschen Wurzeln hinweisende Pseudonym seit 1935. Manchmal verbarg sich auch seine Lebensgefährtin Alix Guillain darunter: »Auf keinen Fall will Guillain ihren Namen sehen, vor allem nicht neben meinem«, schrieb er Paulhan an-

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eigentlich waren diese Übersetzungen ein kollektives Unternehmen, wie Barbara Church berichtet hatte: [D]ann sprach sie [Barbara Church] von R[obert] M[usil] und erzählte von der Zeit (long ago), als sie die Rohübersetzung einiger Kapitel des M. o. E. für ihre Zeitschrift Mesures machte und abends Groethuysen, Jean Paulhan, Michaud [sic] zu ihnen kamen und über jedes Wort debattierten, und wie dann manchmal Mme Paulhan, unbeirrt durch ihre Unkenntnis anderer Sprachen, das richtige französische Wort fand.25

1.2 Ein ausgezeichneter Vermittler: Bernard Groethuysen Es lohnt sich, auf die Figur von Bernard Groethuysen näher einzugehen, da er zu einem wichtigen Ansprechpartner Musils wurde. Bernard Groethuysen wurde 1880 in Berlin geboren. Seine Mutter war russischer Herkunft und die aus Straelen am Niederrhein stammende Familie seines Vaters hatte niederländische Wurzeln.26 Nach seinem Abitur im Jahre 1898 studierte Groethuysen Philosophie in Wien und in Berlin sowie Philosophie, Psychologie, Nationalökonomie und Kunstgeschichte während zweier Semester in München. Zurück in Berlin besuchte er die Vorlesungen von Georg Simmel, Gustav Schmoller, Heinrich Wölfflin, Adolf Lasson, Wilhelm Dilthey und vor allem Carl Stumpf, unter dessen Leitung er 1903 mit einer Dissertation über Das Mitgefühl summa cum laude promovierte.27 1903 ist auch das Jahr, in dem Musil sein Studium im von Stumpf geleiteten Psychologischen Insti-

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lässlich der Übersetzung von englischen Briefen für die NRF, »deshalb schlage ich vor, dass wir mit Germain Landier unterzeichnen. Warum können wir diesen Namen nicht sowohl in Mesures als auch in der NRF benutzen?« (»Pour rien au monde, Guillain ne voudrait voir son nom, surtout accolé au mien. Je propose qu’on signe: Germain Landier. Pourquoi ce nom ne figurerait-il pas à la fois dans Mesures et dans la NRF ?« [Bernard Groethuysen an Jean Paulhan, 17. 7. 1937, in: Bernard Groethuysen & Alix Guillain: Lettres à Jean Paulhan & Germaine Paulhan 1923–1949. Hg. v. Bernard Dandois. Paris 2017, S. 144]). Martha Musil an Armin Kesser, 26. 5. 1947, in: Martha Musil: Briefwechsel, Bd. 1 (Anm. 18), S. 210. Groethuysens Vater war von 1885 bis zu seinem Tod (1900) in einem Sanatorium untergebracht, was Groethuysen lange fürchten ließ, er würde selbst geisteskrank werden. Zu einer detaillierten und anregenden Analyse von Groethuysens Leben und Werk vgl. Klaus Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groethuysen (1880–1946). Eine intellektuelle Biographie. Tübingen 2002. Vgl. auch Hannes Böhringer: Bernhard Groethuysen. Vom Zusammenhang seiner Schriften. Mit einer ausführlichen Bibliographie. Berlin 1978, sowie Tony Bourg, Jean-Claude Muller: Un ami allemand d’André Gide: Bernard Groethuysen (1880– 1946), in: André Gide und Deutschland/André Gide et l’Allemagne. Hg. v. Hans T. Siepe u. Raimund Theis. Düsseldorf 1992, S. 181–193. Vor Kurzem erschien: Bernhard Groethuysen. Deutsch-französischer Intellektueller, Philosoph und Religionssoziologe. Hg. v. Richard Faber u. Claude D. Conter. Würzburg 2021. Zu einer Einführung in Groethuysens Denken vgl. Bernard Dandois: Introduction, in: Bernard Groethuysen: Philosophie et histoire. Hg. v. Bernard Dandois. Paris 1995, S. 9–54. Die Dissertation wurde 1904 in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane veröffentlicht (34 [1904], S. 161–270).

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tut begann.28 Stumpf war insgesamt mit Groethuysens Dissertation höchst zufrieden, monierte aber seinen Stil, er sei »sozusagen ein logischer Pedant«: »Die Umständlichkeit seiner Wendung, die häufigen Wiederholungen, die vielen Überschriften und Einteilungen – all diese Eigenheiten müssen gemildert werden, um die Schrift genießbar zu machen.«29 Nachträglich klingt dieser Vorwurf etwas ironisch, da Groethuysen sich von der Psychologie und jeder logischen Pedanterie entfernen sollte, um einen »ausgeprägt literarischessayistischen Schreibstil«30 zu entwickeln, der von seinen neuen Mentoren Dilthey und Simmel stark beeinflusst wurde. Der Student, der in seiner Dissertation »wissenschaftliche Exaktheit und Präzision« forderte und »alle gelegentlichen Andeutungen, die meistens noch in metaphorische Form gekleidet sind, als wissenschaftlich nicht diskutierbar«31 betrachtete, sollte bald den Wert des Unbestimmten, des Relativen und des Unabgeschlossenen erkennen. 1904 begann Groethuysen mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften regelmäßig nach Frankreich zu reisen, um an der Gesamtausgabe der Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz mitzuarbeiten. Gleichzeitig unterrichtete er als Privatdozent an der Berliner Universität. Auf einer dieser Reisen lernte er 1912 Alix Guillain kennen, die zu seiner Lebensgefährtin werden sollte.32 Guillain war von Henri Bergson damit beauftragt worden, Aufsätze von Simmel ins Französische zu übertragen. Wegen dieser Übersetzung, die 1912 unter dem Titel Mélanges de philosophie. Contribution à la culture philosophique in der Sammlung »Bibliothèque de philosophie contemporaine« beim Verleger Félix Alcan erscheinen sollte, nahm Guillain mit Groethuysen Kontakt auf, der ihr als Simmel-Schüler empfohlen worden war.33 Während des Ersten Weltkriegs hielt sich Groethuysen in Frankreich auf und wurde sogar als Feind im Lager von Bitray interniert, wobei sich seine Pariser Freunde – Charles Du Bos, Charles Andler und vielleicht auch Bergson – für ihn einsetzten. Nach dem Krieg nahm er seine Vorlesungstätigkeit an der Berliner Universität wieder auf, wo er bis 1932 Vorlesungen über 28 29 30 31 32

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Zu Musils Studienjahren vgl. Silvia Bonacchi: Robert Musils Studienjahre in Berlin, 1903–1908. Saarbrücken 1992. Zit. nach Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris (Anm. 26), S. 31. Ebd. Ebd., S. 30. Alix Guillain wurde 1876 in Brüssel geboren und wuchs dort auf. Ihr Vater war Franzose und ihre Mutter englisch-irischer Abstammung. In Paris war sie als Übersetzerin und Journalistin tätig, vor allem für die Zeitschrift Clarté und der Zeitung L’Humanité. Als überzeugte Kommunistin übersetzte sie Das Kapital für die Éditions sociales. Nach dem Tod Groethuysens widmete sie sich bis zu ihrem eigenen Tode im Jahre 1951 dem Nachlass Groethuysens, der leider verschollen ist. Über die Entstehung dieses Projekts vgl. Christian Papilloud, Angela Rammstedt u. Patrick Watier: Editorischer Bericht, in: Georg Simmel: Gesamtausgabe. 24 Bde. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 19. Frankfurt a. M. 2002, S. 379–419, hier S. 407–418.

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Geschichte, Sozialphilosophie, Ethik und Kunstphilosophie hielt.34 Groethuysen, dem als Lieblingsschüler Diltheys und Simmels eine glänzende akademische Karriere bevorstand, zog es vor, als freischwebender Intellektueller in Frankreich zu leben, wo er 1937 die Staatsbürgerschaft erwarb. Während er in Deutschland als ein klassischer Geisteswissenschaftler auftrat, nahm er in Frankreich den »Habitus des disziplinär ungebundenen Boheme-Intellektuellen«35 an. Seit 1920 lebte Groethuysen zusammen mit Alix Guillain in einem Künstleratelier an der Rue Campagne-Première 9, wo er Paulhan als Nachbarn hatte. Sehr schnell spielte Groethuysen als »graue Eminenz der N. R. F.«36 eine bedeutende Rolle im Lektorat von Gallimard. 1927 gründete er mit Paulhan eine neue Buchreihe, die »Bibliothèque des idées«. Mit Brice Parain war er für die ausländische Literatur verantwortlich, wo er als Experte und Hauptansprechpartner für den deutschen Bereich galt. Als Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich trug er dazu bei, deutschsprachige Autoren wie Kafka und Musil in Frankreich bekannt zu machen.37 Er verfasste auch Essays über deutsche Schriftsteller und Denker wie Goethe, Hölderlin, Werfel, Nietzsche, Scheler, Keyserling oder Freud. Gleichzeitig half er französischen Autoren, in Deutschland ein Echo zu finden. In den 1920er Jahren förderte er unter anderem die Einladung von Alain, André Malraux und André Gide ins Romanistische Seminar der Berliner Universität.38 Auch revidierte er mit Guillain die deutsche Übersetzung von Gides Nourritures terrestres (Uns nährt die Erde).39 34

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Nach André Berne-Joffroy und Jürgen Siess soll Groethuysen in seiner letzten Berliner Vorlesung »Intellektuelle aller Länder, vereinigt euch!« ausgerufen haben (André Berne-Joffroy: Bernard Groethuysen [1880–1946], in: Cahiers du Sud 28 [1948], Nr. 290, S. 10–15, hier S. 12). Vgl. auch Jürgen Siess: Der Philosoph bei den Dichtern. Bernhard Groethuysens Fragmente einer literarischen Anthropologie, in: Vermittler. H. Mann, Benjamin, Szondi, Groethuysen, Kojève, Heidegger in Frankreich, Goldmann, Sieburg (= Deutsch-französisches Jahrbuch, Bd. 1). Hg. v. Jürgen Sieß. Frankfurt a. M. 1981, S. 75–104, hier S. 78. Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris (Anm. 26), S. 142. »[É]minence grise« (Clara Malraux: Le Bruit de nos pas. Voici que vient l’été. Paris 1973, S. 61). Ève Rabaté bezeichnet ihn und Paulhan als »ausgezeichnete Vermittler« (»des passeurs remarquables«). Wie Paulhan war Groethuysen zur Zeit der Zeitschrift Commerce ein Mann im Hintergrund, welcher dennoch viel zur Bekanntmachung deutscher Autoren beitrug. Er half Paulhan, Texte von Nietzsche, Hölderlin (1925), Kassner (1928) und Büchner (1924 und 1931) zu übersetzen. Er übersetzte mystische Fragmente von Meister Eckhart, die 1925 erschienen, und half auch Aline Mayrisch bei ihrer Übersetzung von Meister Eckharts Predigten (vgl. Rabaté: La Revue Commerce [Anm. 20], S. 203–204). Auch prägte er die französische HölderlinRezeption und »trug entscheidend zur Entdeckung Hölderlins als des ›Dichters des Wahnsinns‹ bei« (Isabelle Kalinowski: Der französische Hölderlin, in: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hg. v. Markus Joch u. Norbert Christian Wolf. Tübingen 2005, S. 247–260, hier S. 249). Vgl. Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris (Anm. 26), S. 144. In ihren Heften berichtet Maria van Rysselberghe, alias »die kleine Dame« (»la petite dame«), mit welcher Begeisterung und Akribie Groethuysen, Guillain und Gide vom 31. Oktober bis zum 24. November 1929 die Übersetzung von Hans Prinzhorn korrigierten. Die Revisionen

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Groethuysen machte einen tiefen Eindruck auf diejenigen, die ihm begegneten. Alle wurden von seiner virtuosen Kunst des Dialogs beeindruckt: Er war ein »Mensch des ewigen Dialogs«,40 ein »geborene[r] Dialogiker«,41 der den intellektuellen Austausch und dessen Potential sehr ernst nahm. Seine mäeutische Fähigkeit, den Denkvorgang seiner Gesprächspartner anzuregen und weiterzuführen, war beachtlich: »Er lebte für die Ideen [. . .]. Er widersprach wenig, nahm den Gedanken seines Gesprächspartners auf und gab ihn ihm in reicherer Form zurück.«42 Gide erinnert sich daran, wie man sich nach einem Gespräch mit Groethuysen intelligenter fühlte: »Wenn man mit ihm plauderte, ah! Wie gescheit wurde man! Man blühte auf. [. . .] In ihm war etwas von einem Spurenleser und auch von einem Zauberer.«43 Edgar Morin verglich ihn mit einem »modernen Sokrates«44 und Jean Cassou mit einem »den griechischen Akademien entronnenen Weisen«.45 Malraux nahm Groethuysen als Vorbild für die Figur von Gisors in seinem Roman So lebt der Mensch (La Condition humaine) und für Alvear in Die Hoffnung (L’Espoir). In einem Gespräch mit Jean Lacouture beschrieb er Groethuysen wie folgt: Unter all den Menschen, denen ich begegnet bin, war er derjenige, dem gegenüber sich die Idee des intellektuellen Genies mit größter Sicherheit aufdrängte. [. . .] Es ist der einzige Fall von mündlichem Genie, den ich kenne. Plauderern bin ich vielen begegnet . . . aber nicht dieser Art vom Umgang mit Worten. Eines Tages traf ich

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waren so umfangreich, dass sich der Übersetzer beklagte (vgl. Maria van Rysselberghe: Les Cahiers de la Petite Dame. Notes pour l’histoire authentique d’André Gide, 1929–1937, in: Cahiers André Gide 5 [1974], S. 56–70, S. 76 f., S. 84–90). Groethuysen revidierte auch Thea (genannt: Stoisy) Sternheims Übersetzung von Gides Dramas Saül für eine Neuaufführung des 1898 verfassten Stückes (vgl. den Eintrag vom 15. 7. 1931 in: André Gide: Journal, Bd. 2. Hg. v. Martine Sagaert. Paris 1997, S. 294). »[L]’homme du perpétuel dialogue« (Jean Cassou: Présence et parole de Bernard Groethuysen, in: Les Lettres françaises [8. 11. 1946], S. 5). Gerhard Hess: Bernhard Groethuysen, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 1 (1947), H. 23, S. 406–408, hier S. 407. »Il vivait pour les idées [. . .]. Il contredisait peu, recevait la pensée de son interlocuteur et la lui rendait enrichie« (Malraux: Le Bruit [Anm. 36], S. 59). »En causant avec lui, ah! comme l’on devenait intelligent! On foisonnait. [. . .] Il y avait du sourcier en lui; et du sorcier« (André Gide: Bernard Groethuysen, in: Cahiers de la pléiade [April 1947], S. 123–124, hier S. 123). Gide hat ein besonders warmherziges Porträt von Groethuysen entworfen, in dem er dessen Aufgeschlossenheit und Selbstlosigkeit hervorhob. Er sah in Groethuysen einen Ästheten im Gebiet des Denkens: »Artiste et poète autant que philosophe, il mettait en vigueur une sorte d’esthétique de la pensée« (ebd., S. 124). Edgar Morin: Un descendant de Pic de la Mirandole. Bernard Groethuysen, in: Les Lettres françaises (2. 5. 1947). Der Vergleich mit Sokrates wurde zu einem Leitmotiv in den Erinnerungen an Groethuysen. André Berne-Joffroy sah in Groethuysen eine »erstaunliche Reinkarnation von Sokrates« (»étonnante réincarnation de Socrate«, André Berne-Joffroy: Bernard Groethuysen [Anm. 34], S. 14). Nach Hess besaß er »die sokratische Gabe, dem Partner seine eigenen Möglichkeiten im Austausch der Gedanken bewusst zu machen. Er hatte mit Sokrates [. . .] die Achtung vor der Individualität des Partners [gemein]« (Hess: Bernhard Groethuysen [Anm. 41], S. 408). »[U]n sage échappé des académies grecques« (Cassou: Présence [Anm. 40], S. 5).

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ihn mit Heidegger und ein paar Spinnern: er war ihnen weit überlegen! Sokrates mit Platon . . . Er ist vielleicht der Mensch, den ich am meisten bewundert habe.46

Groethuysen »schlief unter den Brücken der Metaphysik« schrieb der Dichter Francis Ponge: »In ihm war etwas von einem Taugenichts, einem Vagabunden [. . .], von einem Führer durch Schlösser und Systeme, von einem Führer durch die eigenen Gedanken.«47 Alle waren von seiner Gelehrtheit, seinem enzyklopädischen Wissen, seiner ausgezeichneten Kenntnis europäischer Literatur und Philosophie und seiner geistigen Brillanz tief beeindruckt.48 Auch lobten sie seine Gutmütigkeit, geistige Großzügigkeit und wohlwollende Neugier. Der geistige Austausch war ihm wichtiger als das eigene Werk, so dass er seine Projekte oft nicht zu Ende führte.49 Groethuysen umgab eine Aura, die keinen Anspruch auf geistige Führung erhob. Ab 1924 war er ein beliebter Gast der von Paul Desjardins begründeten Dekaden von Pontigny,50 wo sich 46

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»De tous les hommes que j’ai rencontrés, c’était celui qui imposait le plus certainement l’idée du génie intellectuel. [. . .] C’est le seul cas que j’ai connu de génie oral. Des bavards, j’en ai beaucoup connu . . . Mais non ce type d’homme de la parole. Je l’ai rencontré un jour avec Heidegger et quelques farfelus: il dominait de haut! Socrate avec Platon . . . C’est peut-être l’homme que j’ai le plus admiré« (Jean Lacouture: André Malraux. Une vie dans le siècle. Paris 1973, S. 163). Nach Dandois hat Groethuysen auch einen Einfluss auf den jungen Sartre ausgeübt, der in L’Enfance d’un chef (Die Kindheit eines Chefs) auf die Adresse von Groethuysen und Paulhan, 9 rue Campagne-Première, anspielt. Sartre hatte 1926 in einer Dekade von Pontigny einen Vortrag über Descartes gehalten, der Groethuysen sehr beeindruckte. Letzterer hatte La Nausée (Der Ekel) vor dessen Veröffentlichung gelesen und Sartres Talent und Größe sofort wahrgenommen. Auch war er von L’Être et le néant (Das Sein und das Nichts) begeistert. Er riet Sartre, ein zusätzliches Kapitel über Kunstwerke in L’Imaginaire (Das Imaginäre) zu verfassen, was Sartre auch tat. Sartres Text L’Empédocle wurde wahrscheinlich auch durch Groethuysens Aufsätze über Hölderlin beeinflusst (vgl. Bernard Dandois: Bernard Groethuysen et le jeune Sartre, in: Les Temps modernes 658–659 [2010], S. 159–172). Vgl. auch Grégory Cormann: Empédocle, ou comment entrer en philosophie. Sartre et la pensée allemande dans les années 1920, in: Études sartriennes 20 (2016), S. 101–146. »Il couchait sous les ponts de la métaphysique [. . .]. Il y avait en lui quelque chose du vaurien, du vagabond, [. . .] et du guide dans les Châteaux, les Systèmes, du guide en Votre Propre Pensée« (Francis Ponge: Note hâtive à la gloire de Groethuysen, in: Cahiers du Sud 28 [1948], H. 290, S. 3–8, hier S. 4). Nach Charles Du Bos war er »der größte metaphysische Kopf, den ich kannte« (»le plus grand esprit métaphysique que je connaisse«, Charles Du Bos: Journal, 1920–1923. Paris 1946, S. 29). Paulhan sah in ihm »einen der besten metaphysischen Köpfe in Europa« (»une des meilleures têtes métaphysiques d’Europe«, Jean Paulhan: Choix de lettres, 1937–1945, Bd. 2. Paris 1992, S. 314). Es soll dennoch betont werden, dass Groethuysens veröffentlichtes Werk nicht unbedeutend war. Als Autor zahlreicher Aufsätze und Rezensionen hat er auch mehrere Bücher auf Französisch und Deutsch veröffentlicht, darunter: Introduction à la pensée philosophique allemande depuis Nietzsche. Paris 1926; Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. 2 Bde. Halle 1927 u. 1930; Philosophische Anthropologie. München, Berlin 1931. Die Dekaden von Pontigny waren Gesprächsrunden, die zwischen 1910 und 1939 regelmäßig auf dem Sitz von Paul Desjardins in Pontigny (Burgund) stattfanden. Während der Dekaden von Pontigny war Groethuysen immer bereit, andere zu unterstützen. Das Gespräch war keine Gelegenheit, polemisch die eigene Überlegenheit zu behaupten, sondern gemeinsam ein erhöhtes Verständnis des behandelten Themas zu erreichen. Wie M. Saint Clair, alias Maria van

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Schriftsteller und Denker aus verschiedenen Ländern zehn Tage lang trafen, um sich – wie es Groethuysen selbst erklärte – »dem freien Austausch von Gedanken, in ganz freien Besprechungen und gemeinsamen Spaziergängen«51 zu widmen. Die NRF und die Dekaden von Pontigny wollten den Dialog zwischen Deutschland und Frankreich fördern und jede Form von kulturellem Nationalismus und geistiger Enge bekämpfen. Groethuysen, der mehrere Sprachen beherrschte, verkörperte ganz in diesem Sinn ein aufgeklärtes Europäertum.52 Seine Aura hing auch mit seinem eigenartigen Aussehen zusammen. Als Kettenraucher, der »jeden Aschenbecher zielbewusst ignorierte«,53 sich um seine Kleidung kaum kümmerte und kein Interesse für materielle Dinge hatte, war er eine diogenesartige Figur. Cassou erinnert sich an sein »außerordentliches Aussehen« mit seinem »struppigen Bart« und dem »ewigen Zigarettenstummel, der auf seinen Paletot unerschütterlich Aschewolken schneien ließ«.54 Im Entwurf einer Widmung des Nachlaß zu Lebzeiten hat Musil ein gereimtes Porträt von Groethuysen verfasst, dessen herzlicher Ton daran erinnert, wie seine französischen Freunde und Bekannte ihn gesehen haben. So spielt Musil auf Groethuysens griechische Weisheit und ununterbrochenes Rauchen an. Letzteres Kennzeichen hat wahrscheinlich seine Sympathie erregt, da er selbst gern und viel rauchte: Es bringt die Hand – doch ängstigt sich das Herz – Dem Philosophen einen kleinen Scherz.

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Rysselberghe, bemerkte, war Groethuysen »ein Mensch, der seine hervorragenden Begabungen in den Dienst der Erkenntnis und der Brüderlichkeit stellt[e]« (»un homme qui met des dons exceptionnels au service de la connaissance et de la fraternité« [M. Saint Clair: Il y a quarante ans. Paris 1968, S. 136]). Bernard Groethuysen an seine Mutter, 26. 7. 1924 (zit. nach Große Kracht [Anm. 26], S. 155). Vgl. auch das Kapitel »Pontigny und das sokratische Gespräch«, in: ebd., S. 148–169. Zu Pontigny als Ort, an dem eine Gelehrtenrepublik und ein kosmopolitisches Europäertum gefördert wurde, vgl. François Chaubet: Paul Desjardins et les Décades de Pontigny. Lille 2000. »Vor kurzer Zeit ist in Paris ein Mann gestorben, der in seinem Leben und Denken einer der letzten echten Europäer war«, bemerkte Margarete Susman in den Eröffnungssätzen des Textes, den sie 1948 ihrem langjährigen Freund widmete (Margarete Susman: Bernhard Groethuysen, in: dies.: Gestalten und Kreise. Stuttgart, Konstanz 1954, S. 333–347, hier S. 333). »Mit struppigem Bart und Haaren war er äußerst ungepflegt. [. . .] Ich habe ihn nie anders gesehen als mit Asche und Schmuckflecken bedeckt, sowie hie und da mit der gut sichtbaren Spur kleiner Brände, die Zigaretten verursachen können. Er rauchte unaufhörlich und ignorierte zielbewusst die Aschenbecher« (»Broussailleux de barbe et de cheveux, il était d’une tenue outrageusement négligée [. . .]. Je ne l’ai jamais vu que couvert de cendres et de taches, avec ça et là quelque séquelle bien visible de ces petits incendies que peuvent provoquer les cigarettes. Il fumait sans cesse et ignorait délibérément les cendriers«, Berne-Joffroy: Situation de Groethuysen, in: Médiations: revue des expressions contemporaines 2 [1961], S. 5–17, hier S. 5 f.). »[P]ersonnage d’aspect extraordinaire [. . .] la barbe broussailleuse, et au coin du sourire un perpétuel mégot qui faisait neiger sur son paletot d’imperturbables nuages de cendres« (Cassou: Présence [Anm. 40], S. 5).

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Wüßt ich nicht, daß vornehm im weisen Griechenbarte Wie ein Leuchtkäfer stets die Zigarette verglüht Ach ich wagte es nicht, dieses eine darzubieten! Wüßte ich nicht, daß im weisen Barte des Griechen Wie ein Leuchtkäfer sich die Zigarre verbirgt Ach, ich wagte es nicht! (Br I, S. 700)

Zwischen Musil, der immer sorgfältig gekleidet war, und Groethuysen, der sein ungepflegtes Aussehen kultivierte, könnte der Kontrast kaum größer sein. Auch werden Groethuysens kommunistische Sympathien55 Musil wohl fremd geblieben sein. Doch lässt sich im Ton der Widmung und in den Denkansätzen beider Autoren eine gewisse Vertrautheit und Geistesverwandtschaft feststellen.56 Beide Autoren haben sich mit der durch den Krieg verschärften Krise des liberalen Individuums auseinandergesetzt, einer Krise, die Musil in seinen Überlegungen über die menschliche Gestaltlosigkeit, die wachsende Depersonalisierung des Einzelnen und das Aufgehen des gestaltlosen Subjekts im Kollektiven zu artikulieren versuchte.57 Beide hegen ein tiefes Misstrauen dem systematischen Denken, der reinen Abstraktheit und jeder Form von Dogmatismus gegenüber. Sie kritisieren Modedenker wie etwa Oswald Spengler, welche die zeitgenössische Krise durch kompensatorische Denksysteme beheben wollen und das Denken in den Dienst von ideologischen Zwecken stellen.58 Im Unterschied zu Systematikern wie Spengler, dessen dichotomisches Denken aus groben Vereinfachungen und Verallgemeinerungen besteht, bevorzugen Groethuysen und Musil eine essayistische und multiperspektivische Denkweise, welche das Provisorische und Unabgeschlossene der Wahrheitssuche anerkennt und begrüßt. Groethuysens Philosophie, erinnert Susman, »ist eine Philosophie, der das Ziel nichts, der Weg, die Wanderschaft durch die Welt alles ist, die bei keiner gefundenen Antwort je verweilt, der jede wieder zur Frage wird, die immer in der Frage verbleibt«.59 55

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Paulhan hat Groethuysen als Erzmarxisten dargestellt, was aber vor allem für Guillain galt. Auch wurde er für Gides Wendung zum Kommunismus verantwortlich gemacht. In der Tat war er nie Mitglied der kommunistischen Partei und sein Werk wurde von marxistischen Denkern kaum wahrgenommen (vgl. Dandois: Introduction in: Groethuysen: Philosophie et histoire [Anm. 26], S. 35 ff.). Diese Geistesverwandtschaft wird in einem separaten Aufsatz näher untersucht werden. Groethuysen erwähnt das »Elend des Menschen, der sein Ich verloren« hat (»On sent la détresse de l’homme qui a perdu son moi«, Bernard Groethuysen: Spengler I, in: ders.: Autres portraits. Hg. v. Philippe Delpuech. Paris 1995, S. 171–185, hier S. 184). Er würde sich lohnen, die Aufsätze näher zu untersuchen, die Groethuysen und Musil fast zu gleicher Zeit über Oswald Spengler veröffentlichten. Eine solche Analyse geht aber über den Rahmen dieser Studie hinaus. Susman: Gestalten und Kreise (Anm. 52), S. 333. Susman hat Groethuysen mit Orpheus verglichen, einem Orpheus, der sich nach dem Absoluten sehnte und doch die Kraft hatte, sich nicht umzudrehen. Damit hob sie hervor, dass die Wahrheit für Groethuysen ein unantastbares Gut blieb, das sich jeder Besitznahme entzog: »Seine Liebe selbst schließt das Nichtfesthaltenwollen der Geliebten ein. [. . .] die Distanz zur Geliebten wird gewahrt« (ebd., S. 334 f.).

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Musils Auffassung des Essays setzt eine aufgeschlossene und forschende Denkhaltung voraus, die nie stillsteht. Das essayistische Denken ist durch die Berücksichtigung singulärer Vorgänge und durch ein Gespür für feine Nuancen gekennzeichnet, welche durch Modalwörter und »zweifelnde und taktvolle Denkformen« wie »›aber‹, ›wenn‹, ›dennoch‹, ›vielleicht‹« zum Ausdruck kommen.60 Groethuysens Würdigung eines kontextbezogenen und nuancenreichen Denkens erinnert an Musils Aufforderung zur »notwendige[n] Höflichkeit des Denkens« (MoE, S. 1919). Auch bestehen beide Autoren darauf, selbstständig zu denken, sich in keine bestimmte philosophische ›Schule‹ einreihen zu lassen und von fest verankerten Denkgewohnheiten Abstand zu nehmen. Musil war Groethuysen 1935 begegnet, als er sich anlässlich des Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur in Paris aufhielt.61 In den folgenden Jahren bat er Groethuysen, den er als »vorzügliche[n] Helfer« und als seinen »Hauptverbindungsmann zur N. R. F.«62 bezeichnete, mehrmals um Hilfe und Unterstützung. 1935 erwog er die Möglichkeit, im Winter 1936 einen Vortrag in Paris zu halten, was aber wegen Geldmangel ausblieb.63 Dann fragte er ihn 1938, ob er sich bei Frau Mayrisch de Saint-Hubert dafür einsetzen könnte, dass er deren finanzielle Unterstützung früher erhalte.64 Im Februar 1939 bat er Groethuysen um einen Einladungsbrief des Gallimard60 61

62 63

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»[L]es ›mais‹, les ›si‹, les ›toutefois‹, les ›peut-être‹, [. . .] ces formes dubitatives et courtoises de la pensée« (Bernard Groethuysen: Spengler II, in: ders.: Autres portraits [Anm. 57] S. 186–199, hier S. 192 f.). Musils Vortrag wurde kritisch aufgenommen und es ist wohl möglich, dass Gide als Mitorganisator des Schriftstellerkongresses ihm die kalte Schulter zeigte. Um so wichtiger erwies sich der Kontakt zu Groethuysen. Maria van Rysselberghe bestätigte in ihrem Tagebuch, dass Gide Musils Rede hörte (Rysselberghe: Cahiers de la Petite Dame [Anm. 39], S. 464). Nach Édouard Roditi fand eine belanglose Unterhaltung zwischen Gide und Musil während des Kongresses statt (vgl. Édouard Roditi: Erinnerungen an Musil, in: Neue Deutsche Hefte 90 [Nov–Dez 1962], S. 29–32). In einem Brief an Bernard Guillemin erwähnt Musil seine kurze Begegnung mit Gide wie folgt: »Der Kongreß war ziemlich eindeutig politisch und wird mich wohl in die unangenehme Lage gebracht haben, meine Gastgeber enttäuschen zu müssen, weil ich die Einladung angenommen hatte, ohne mir der daraus resultierenden Erwartungen bewußt zu sein. [. . .] Gide hat eine rhetorisch glänzende Rede gehalten, doch enthielt sie soviel ich verstand, wenig Sachliches. Wir haben leider nur wenig miteinander gesprochen, da er sehr präokkupiert war« (24. 8. 1935, Br I, S. 655). Zu Musils »unzeitgemäße[r] Marginalität« während des Kongresses vgl. Bernd Hüppauf: Musil in Paris. Robert Musils Rede auf dem Kongreß zur Verteidigung der Kultur (1935) im Zusammenhang seines Werkes, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 1 (1991), H. 1, S. 55–69, hier S. 56. Robert Musil an Klaus Pinkus, 2. 12. 1934, Br I, S. 630, und Robert Musil an Nellie Kreis., 6. 2. 1939, Br I, S. 936. Robert Musil an Bernard Groethuysen, 20. 9. 1935, Br I, S. 657; an dens., 29. 12. 1935, Br I, S. 690. Im letzteren Brief beschrieb Musil sich als »nicht nur ein[en] verarmte[n] [. . .], sondern im heiligsten und erbärmlichsten Wortsinn ein[en] völlig mittellose[n]« Mann. Im Oktober 1938 teilte er Groethuysen mit, dass er »auf dem tiefsten bisher erreichten Punkt [s]einer Laufbahn angelangt« sei (Br I, S. 866). Robert Musil an Bernard Groethuysen, 13. 11. 1938, Br I, S. 877.

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Verlags, damit er sich vorsichtshalber um ein französisches Visum bewerben könne, falls sich die Lage in der Schweiz verschlechtern würde.65 Das Hauptthema des Briefwechsels bezog sich allerdings auf eine mögliche Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften. Ursprünglich sollte der Roman »in kleinen Bändchen etwa von 150–200 Seiten«66 veröffentlicht werden. Dann schlug Musil vor, eine repräsentative Auswahl aus den gedruckten oder ungedruckten Kapiteln übersetzen zu lassen.67 Groethuysen wollte seinerseits die der Figur Moosbrugger gewidmeten Kapitel veröffentlichen, was Musil missfiel, da sie ein verzerrtes Bild des Romans geben würden: Ihm kam diese Auswahl vor, »[a]ls ob man in einem zerbrochenen kleinen Taschenspiegel alles betrachtete!«68 Trotz dieses Einwands bat er Groethuysen darum, weiterhin an der Auswahl für die NRF zu arbeiten.69 Wegen des Krieges blieb dieses Projekt unrealisiert, obwohl 1939 Gallimard den Roman in seinem Katalog ankündigte.70

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70

Robert Musil an Bernard Groethuysen, 5. 2. 1939, Br I, S. 935 f. Die Einladung erhielt Musil kurz danach. Martha Musil an Viktor Zuckerkandl, 13. 11. 1938, Br I, S. 876. Robert Musil an Bernard Groethuysen, 9. 12. 1938, Br I, S. 899 f. Robert Musil an Bernard Groethuysen, 10. 3. 1939, Br I, S. 954. In einem Brief an Jean Paulhan erklärte Groethuysen die Lage wie folgt: »In Sachen Musil: Ich möchte Dir eine Reihe von Kapiteln vorschlagen, die ein zusammenhängendes Ganzes bilden würden. Im ersten Band des Mann ohne Eigenschaften gibt es einen kleinen Roman im großen Roman, nämlich die Geschichte von Moosbrugger. Das hätte für die NRF verfasst sein können. Nun macht Musil folgenden Einwand: ihm liege der große Roman am Herzen und die Kapitel über Moosbrugger würden ein ungenügendes Bild des Ganzen vermitteln. Ich dagegen bin der Meinung, dass wir in der NRF nicht unbedingt ein Bild des ganzen Romans geben wollen, sondern einfach eine Auswahl anbieten, die wirklich nach Musil klingt. [. . .] Mir scheint, dass Musil diesem Vorhaben gegenüber nicht ganz feindlich gesinnt ist. Doch könnten wir abwarten, bis er seinen eigenen Vorschlag klar formuliert« (»Affaire Musil: Je voulais te proposer un ensemble de chapitres qui formeraient une pièce cohérente. Or, il y a dans le premier volume du Mann ohne Eigenschaften, un petit roman dans le grand roman, l’histoire de Moosbrugger. Cela aurait pu être écrit pour la NRF . Voici maintenant l’objection de Musil: il tient au grand roman et prétend que le passage Moosbrugger ne le fait pas assez connaître. Moi je dis: que ce que nous voulons dans la NRF, ce n’est pas du tout de donner une idée du grand roman, mais simplement une pièce qui soit du vrai Musil. [. . .] Maintenant je n’ai pas l’impression que Musil soit absolument hostile à mon projet. Toutefois on pourrait attendre qu’il ait formulé nettement une autre proposition«, Bernard Groethuysen an Jean Paulhan, 31. 3. 1939, in: Groethuysen & Guillain: Lettres à Jean Paulhan & Germaine Paulhan [Anm. 24], S. 153 f.). In einem Brief vom 10. 3. 1939 bedankt sich Musil bei Paulhan für die Zustimmung von Gallimard und die Annahme von ein paar Kapiteln in der NRF : »Ich will Ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen, sowohl für die nützliche ›Einladung‹ als auch für die Aufnahme eines Teils des Manns ohne Eigenschaften in die NRF .! Ich werde mich sehr glücklich schätzen, wenn das zustandekommt! Der große Wert, den diese Veröffentlichung für mich hat, flößt mir allerhand Wünsche u Bedenken für die glücklichste Auswahl des Textes ein. Ich werde Prof. Groethuysen darüber schreiben u. ihn bitten, auch Ihnen meine Auffassung zu sagen; denn mein Französisch ist dem nicht gewachsen, und es Ihnen deutsch zu erzählen, würde für Ihre Geduld vielleicht zu lange« (Robert Musil an Jean Paulhan, 10. 3. 1939, Br I, S. 953).

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1.3 Ein »wunderbarer Leser«: Philippe Jaccottet Der Krieg trug dazu bei, dass das Werk Musils weiterhin ohne Echo blieb und dass die verlegerischen Pläne ins Stocken gerieten. Auch wurden die ersten Nachkriegsjahre wegen der wirtschaftlichen Situation sowie der erschwerten Kommunikation zwischen den Ländern für die Verlagshäuser besonders schwierig. Ein umfangreiches Projekt wie die Herausgabe des Musil’schen Werkes schien in diesem Kontext eine kaum zu bewältigende Aufgabe.71 Darüber hinaus hatte der Krieg das Ressentiment gegen Deutschland geschürt, was auch deutschsprachige Literatur unbeliebt machte. Noch in den 1950er Jahren wurde das Werk Musils von konservativen Denkern als »schreckliche Gärung des Deutschtums«72 gebrandmarkt. Trotzdem wurden kurz nach dem Krieg ein paar Texte von Musil veröffentlicht: So widmete die schweizerische Zeitschrift Lettres 1945 eine Nummer der österreichischen Literatur, und insbesondere Musil, wobei der Schweizer Literaturwissenschaftler Jean Rousset das Kapitel »Zu viel Heiterkeit« (II/28) übersetzte.73 Solche Veröffentlichungen erreichten nur ein kleines erlesenes und eingeweihtes Publikum. Zum eigentlichen Durchbruch kam es nicht in Frankreich, sondern in der Schweiz dank eines »wunderbaren Lesers« von 22 Jahren, der sich als ein hervorragender Übersetzer und Dichter erweisen sollte: Philippe Jaccottet.74 Jaccottet selbst hat von seiner Begegnung mit dem Werk Musils erzählt.75 Im Jahre 1946 gab ihm ein Freund den dritten Band des Mann ohne Eigenschaften, den Martha Musil 1943 in Lausanne veröffentlicht hatte.76 Jaccottet kannte 71 72 73 74

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Vgl. Renate Schröder-Werle: Zur Vorgeschichte der Musil-Rezeption nach 1945. Hinweise zur Wiederentdeckung Robert Musils, in: Colloquia Germanica 10 (1976–77), H. 3, S. 247–266, hier S. 249. »[F]ermentation effrayante du germanisme«, so Robert Kemp in den Nouvelles littéraires. Vgl. Elisabeth Castex-Rieger: Musil in Frankreich: Verbreitung, kritische Aufnahme, Wirkung, in: Literatur und Kritik 9 (Juli/August 1974), H. 86–87, S. 381–389, hier S. 384. Robert Musil: Trop de gaîté, in: Lettres 4 (1945), S. 107–126. »[U]n lecteur miraculeux« (Pierre Pachet: Phrases musiliennes [Anm. 9], S. 233). Philippe Jaccottet (1925–2021) war ein Lyriker, Essayist und Übersetzer, dessen Werk die besondere Ehre zuteil wurde, bereits zu Lebzeiten in die hochangesehene Buchreihe der Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen zu werden. 1967 edierte er die Hölderlin-Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade. In dieser Hinsicht setzte er die Vermittlerrolle Groethuysens fort, der als erster Hölderlin dem französischen Publikum bekannt gemacht hatte. Als Übersetzer erhielt er zahlreiche Preise und Ehrungen. Zu den Schriftstellern, Dichtern und Denkern, die er außer Musil übersetzt hat, gehören Goethe, Hölderlin, Novalis, Thomas Mann, Rilke, Trakl sowie Petrarca, Tasso, Leopardi, Montale, Ungaretti, Góngora, Mandelstam, Homer und Platon (vgl. Christine Lombez: Transactions secrètes. Philippe Jaccottet, poète et traducteur de Rilke et de Hölderlin. Arras 2003, S. 58). Eine Auswahl seiner Übersetzungen findet sich in: Philippe Jaccottet: D’une lyre à cinq cordes. Paris 1997. Philippe Jaccottet: Begegnung mit einem Werk, in: Robert Musil. Leben – Werk – Wirkung (Anm. 10), S. 428–435. Dieser Freund war Jeanlouis Cornuz, ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Literatur (Vgl. Philippe Jaccottet, Gustave Roud: Correspondance 1942–1976. Hg. v. José-Flore Tappy, Paris 2002, S. 145).

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auch die der österreichischen Literatur gewidmete Nummer der Zeitschrift Lettres.77 Dann versuchte er, alles in die Hand zu bekommen, was es von Musil zu lesen gab. Im November 1947 setzte er sich in Verbindung mit Martha Musil, und schlug ihr vor, Texte von Musil ins Französische zu übertragen. Sein Briefwechsel mit Martha Musil zeigt, wie er sich unermüdlich – und oft vergeblich – darum bemühte, Musil dem französischen Publikum bekannt zu machen. In einem Brief an seinen Freund Gustave Roud sprach Jaccottet von seiner »Musil-Offensive«.78 Das Wort ist nicht zu stark. Jaccottet benutzte seine Kontakte zu den französischen Intellektuellen der Nachkriegszeit (Paulhan, Leyris, Klossowski, Malraux, Caillois) und zu Verlegern wie Mermod in Lausanne, Gallimard und den Éditions de Minuit in Paris, um für das Werk Musils zu werben.79 Martha Musil und Philippe Jaccottet waren sich der Riesenarbeit bewusst, die eine Übersetzung des ganzen Romans darstellen würde. Deshalb erwogen sie – wie es Robert und Martha Musil neun Jahre früher getan hatten – die Möglichkeit einer Ausgabe in kleinen Bändchen.80 Diese Pläne wurden diesmal durch die Verlagskrise und durch die Abwertung des französischen Franc im Jahre 1948 vereitelt.81 Das Einzige, was zu Lebzeiten Martha Musils erschien, waren einige Texte aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Die Amsel wurde in der literarischen Zeitschrift La Licorne82 und Inflation sowie Fischer an der Ostsee in der Zeit77

78 79

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81 82

In einem Gespräch mit Pascal Ruffenach weist Jaccottet darauf hin, dass er Musil während des Krieges »in einer Genfer Zeitschrift [Lettres, F. V.] entdeckte, an der Starobinski und Jouve mitarbeiteten« (»J’ai découvert Musil pendant la guerre. Dans une revue genevoise, à laquelle participaient Starobinski et Jouve«, Pascal Ruffenach: Entretien avec le traducteur Philippe Jaccottet, in: La Quinzaine Littéraire [16. 1. 1982], H. 363, S. 10). »[L]’offensive Musil« (Philippe Jaccottet an Gustave Roud, 9. 2. 1948, in: Jaccottet, Roud: Correspondance [Anm. 76], S. 144). Die drei Verlagshäuser, vor allem die Éditions de Minuit, bekundeten Interesse an der Veröffentlichung des Mann ohne Eigenschaften. Für die Éditions de Minuit übersetzte Jaccottet sogar neun Kapitel aus dem Roman, wobei er möglichst unterschiedliche Kapitel auswählte: »Je remets cette après-midi à Lambrichs la traduction, naturellement provisoire, de 9 chapitres extraits du tome 1. Cela m’a donné beaucoup de mal, comme vous vous l’imaginez, et c’est pourquoi je vous ai laissée quelque temps sans nouvelles. J’ai choisi des chapitres assez divers pour que Lambrichs puisse juger de la diversité du livre. Ce sont les chapitres 1, 5, 21, 28, 53, 72, 100, 115 et 123« (Philippe Jaccottet an Martha Musil, 14. 6. 1949, in: Martha Musil: Briefwechsel, Bd. 1 [Anm. 18], S. 367). »Die Übersetzung wird Jahre in Anspruch nehmen; doch vielleicht wären Teilveröffentlichungen [. . .] schon während der Arbeit möglich, in kleinen Bändchen, etwa wie bei Jules Romains oder den Thibaudets? Ich hatte öfters darüber mit meinem Mann gesprochen, und er wäre einverstanden gewesen, allerdings wird die Unterteilung sehr schwer sein« (Martha Musil an Philippe Jaccottet, 19. 3. 1949, ebd., S. 357 f.). Vgl. Schröder-Werle: Zur Vorgeschichte (Anm. 71), S. 252. Vgl. auch Martha Musil: Briefwechsel. Bd. 1 (Anm. 18), S. 312 f. Robert Musil: Le Merle, in: La Licorne 3 (Herbst 1948), S. 27–39. La Licorne wurde von Susana Soca und Roger Caillois herausgegeben. Der Schriftsteller Pierre Leyris fand diese Übersetzung so hervorragend, dass er dem Verlagshaus Le Seuil Jaccottet als Übersetzer empfahl. Vgl. Pierre Pachet: Phrases musiliennes (Anm. 9), S. 236.

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schrift 84 publiziert.83 Schafe, anders gesehen erschien im Mitteilungsblatt der Gruppe Pour l’art.84 Später erschienen noch Texte in den Zeitschriften Arts et Lettres, Cahiers de la Pleiade, Empédocle, Nouvelle Revue française, Preuves und Suisse Contemporaine.85 Diese Veröffentlichungen mögen einem im Licht dessen, was Jaccottet sich von seiner »Musil-Offensive« erhoffte, als sehr spärlich vorkommen. Doch haben sie den Boden für eine breitere Rezeption Musils bereitet. Diese breitere Rezeption kam erst am Ende der 1950er Jahre zustande, d. h. nach dem Wiedererwachen des Interesses am Werk Musils in Deutschland. 1954 wurde Jaccottet vom Verlag Le Seuil beauftragt, den ganzen Roman zu übersetzen, was er in drei Jahren zustande brachte.86 Diese Übersetzung erschien im Jahre 1957 in einer Auflagenhöhe von 9000 Exemplaren. Weitere zweibändige und vierbändige Ausgaben folgten in den Jahren 1961, 1969, 1973, 1982 und 1995. Die Taschenbuchausgabe von 1969 wurde in einer Auflagenhöhe von 50000 Exemplaren herausgebracht.87 Jaccottet hat es sehr bedauert, dass weder Martha Musil noch ihre 1952 verstorbene Tochter Annina Rosenthal diese verspätete Anerkennung Musils miterleben konnten.

2. Das Fliegenpapier 2.1 Sterbende Fliegen In der Rezeptionsgeschichte Musils spielt Das Fliegenpapier eine einzigartige Rolle, nicht zuletzt, weil sich dieser Text indirekt mit den Herausforderungen des Übersetzens im umfassenden Sinn auseinandersetzt. Dieser 1913/14 verfasste Kurztext erschien zum ersten Mal 1914 unter dem Titel Römischer Sommer in der von Ernst Blass geleiteten Monatsschrift Die Argonauten.88 Er wurde oft als Vorahnung des Ersten Weltkrieges gedeutet, was Musil auf die 83 84 85 86

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Die Zeitschrift 84 bestand von 1947 bis 1951. Pêcheurs au bord de la Baltique und Inflation erschienen 1949 auf den Seiten 158–160; vgl. Philippe Jaccottet an Martha Musil, 3. 3. 1949, in: Martha Musil: Briefwechsel. Bd. 1 (Anm. 18), S. 354. Philippe Jaccottet an Martha Musil,10. 11. 1948, in: Martha Musil: Briefwechsel, Bd. 1 (Anm. 18), S. 347. Vgl. Schröder-Werle: Zur Vorgeschichte (Anm. 71), S. 252. »Vous savez que le contrat est signé avec le Seuil«, schrieb er an Gustave Roud, »trois ans de mensualités! une chance, je l’avoue« (17. 5. 1954, Jaccottet, Roud: Correspondance [Anm. 76], S. 240). Jaccottets Fähigkeit, schnell und gut zu arbeiten, hat Martha Musil von Anfang an bewundert: »Jaccottet will noch einige Skizzen in Revuen veröffentlichen; es ist wunderbar, wie schnell er arbeiten kann« (Martha Musil an Armin Kesser, 30. 5. 1949, in: Martha Musil: Briefwechsel. Bd. 1 [Anm. 18], S. 283). Vgl. Elisabeth Castex-Rieger: Musil in Frankreich (Anm. 72), S. 386. Das Fliegenpapier war einer der wenigen Texte Musils, die mehrmals veröffentlicht wurden (vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 597 und S. 1639). Der Text erschien unter anderem am 23. 12. 1918 im Frieden, am 25. 12. 1919 im Prager Tagblatt, am 10. 6. 1922 in der Vossischen Zeitung, am 29. 10. 1925 in Die Bühne, am 27. 1. 1933 im Tagebuch und am 17. 11. 1935 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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Fähigkeit zurückführte, »an kleinen Zügen, wo es sich unachtsam darbietet, das menschliche Leben [zu] beobachte[n]« (GW II, S. 474).89 Ein unauffälligeres Thema hätte sich Musil kaum erhoffen können. Die Fliegen, die oft als Ungeziefer betrachtet werden und doch in unheimlicher Nähe zu den Menschen stehen,90 veranschaulichen als vanitas-Darstellung die Kürze des Lebens und werden zum Emblem menschlicher Endlichkeit.91 Das Fliegenmotiv kehrt in Musils Werk mehrmals wieder und ist mit seinen anthropologischen und ästhetischen Überlegungen eng verbunden. Es taucht während des Ersten Weltkrieges als Zeichen für Gewalt, Tod und Vulnerabilität auf: »Ende Juli. Eine Fliege stirbt: Weltkrieg« (Tb I, S. 309). In Grigia beobachtet Homo eine sterbende Fliege, ohne zu ahnen, dass er selbst am Ende der Erzählung den Tod auf sich zukommen lassen wird (vgl. GW II, S. 244 f.). Über ihre Bedeutung als Boten und Opfer des Todes hinaus werden die Fliegen zum Symbol sozialer Entfremdung. Insofern exemplifizieren sie Musils Theorem der Gestaltlosigkeit, wobei Menschen sich unreflektiert den sozialen Rollen anpassen und bis in ihre intimsten Gedanken und Gefühle durch äußere Anregungen geformt werden. Was die bürgerliche Gesellschaft als Leistung lobt – einen wohlgebildeten Charakter, einen erfolgreichen Beruf oder auch leicht erkennbare Eigenschaften –, wird von Musil als Verarmung gedeutet. Mit dem Erwerb psychologischer oder gesellschaftlicher Stabilität schrumpft das Reich der menschlichen Möglichkeiten zusammen. Das Fliegenpaper veranschaulicht den »tödliche[n] Leim« der Gesellschaft, die »unwiderstehliche Klebrigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen« und »die strukturelle Prägekraft des Sozialen«:92 [D]ie meisten Menschen [. . .] adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat [. . .]. Es ist etwas mit ihnen umgegangen wie ein Fliegenpapier mit einer Fliege; es hat sie da an einem Härchen, dort in ihrer Bewegung festgehalten und hat sie allmählich eingewickelt, bis sie in einem dicken Überzug be89

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»Die Metaphorik des Fliegenpapiers, die die sterbenden Insekten mit gestürzten Aeroplanen und mit krepierten Pferden verglich, war 1913/14 eine Prophetie des kommenden Krieges und war es 1935 ein weiteres Mal«, schrieb Corino (Robert Musil. Eine Biographie [Anm. 88], S. 1215). Auch sah Karl Otten in diesem Text, den er sehr bewunderte, »eine der großen prophetischen Wahrheiten [. . .], die sich jetzt an uns, den Fliegen-Menschen, vollzog« (Karl Otten: Eindrücke von Robert Musil, in: Erinnerungen an Robert Musil. Hg. v. Karl Corino. Wädenswil 2011, S. 14). Arthur Schopenhauer hat sie als »Symbol der Unverschämtheit und Dummdreistigkeit« bezeichnet: »Denn während alle Thiere den Menschen über Alles scheuen und schon von ferne vor ihm fliehen, setzt sie sich ihm auf die Nase« (Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. 2. Bd. Hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1994, § 382, S. 555). Für einen Überblick über das Fliegenmotiv in der deutschsprachigen Literatur vgl. Gregor Eisenhauer: Die Fliege, die Kunst und der Tod. Zur Geschichte eines humoristischen Motivs, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 364– 390. Die Zitate stammen aus Hartmut Böhmes anregenden Analysen in: Hartmut Böhme: Der Auftritt der Fliege, in: Performing the Future. Die Zukunft der Performativitätsforschung. Hg. v. Erika Fischer-Lichte u. Kristiane Hasselmann. München 2013, S. 85–102, hier S. 96 f.

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graben liegen, der ihrer ursprünglichen Form nur ganz entfernt entspricht. Und sie denken dann nur noch unklar an die Jugend, wo etwas wie eine Gegenkraft in ihnen gewesen ist. Diese andere Kraft zerrt und schwirrt, sie will nirgends bleiben und löst einen Sturm von ziellosen Fluchtbewegungen aus [. . .]. Im Grunde drücken diese bloß aus, daß nichts von allem, was der junge Mensch unternimmt, aus dem Innern heraus notwendig und eindeutig erscheint [. . .]. Wie übersetzt man das? Eine Lebensgebärde? Eine Form, in die das Innere strömt wie das Gas in einen Glasballon? Einen Ausdruck des Indrucks? Eine Technik des Seins? (MoE, S. 131)

Vor allem lässt sich Das Fliegenpapier als ein Text lesen, der die Schwierigkeiten, eine fremde Erfahrung in Worte zu fassen, mitreflektiert: Wie lässt sich der langsame Tod eines Insekts sprachlich vermitteln, das trotz seiner banalen und vertrauten Nähe undurchschaubar bleibt? Wie soll man phänomenologisch dem Sterben einer fremden Kreatur Rechnung tragen und es sprachlich artikulieren? »Wie übersetzt man das?« Das Fliegenpapier ist nicht nur »eine Versuchsanordnung zur Beobachtung sterbender Insekten«, bemerkt Christoph Leitgeb, »sondern zugleich die Versuchsanordnung ihrer Fixierung in Schrift«: »[M]it der Selbstbezüglichkeit des Fliegenpapiers« wird »die Anstrengung des Schreibens«93 zum Gegenstand. Diese »Anstrengung des Schreibens« lässt sich in der Dialektik von Nähe und Distanz, von Genauigkeit und Unbestimmtheit nachvollziehen, welche den Text durchzieht. Einerseits beobachtet der Erzähler als treuer Nachfolger von Monsieur le vivisecteur den Tod der Fliegen mit kühler Distanz, als wären die Insekten der Gegenstand eines Versuchsprotokolls, der möglichst genau untersucht werden soll. Die Fliegen werden wie unter einem Vergrößerungsglas beobachtet, was sie in einem ungewöhnlichen und unheimlichen Licht erscheinen lässt. Wie es Musil in einem anderen Kurztext Triëdere hervorhebt, trägt die Nahaufnahme dazu bei, die Stabilität der gewohnten Umwelt zu erschüttern und deren Fremdheit an den Tag zu bringen: Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. So wird auch in der glashellen Einsamkeit alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer. (GW II, S. 520 f.)

Durch die Isolierung eines alltäglichen Ereignisses von dessen üblicher Umgebung macht Musil den Leser auf die Befremdlichkeit des Alltags aufmerksam. Die Fliegen, die gewöhnlich als Parasiten und Schädlinge vertrieben werden, rücken hier in den Vordergrund. Die Erzählung beschreibt die Intensität des Kampfes sowie die verzweifelten Versuche der Insekten, sich vom giftigen 93

Christoph Leitgeb: Schwirren statt Schweben: Der ironische Tod österreichischer Fliegen, in: ders.: Barthes’ Mythos im Rahmen konkreter Ironie. Literarische Konstruktionen des Eigenen und Fremden. München 2008, S. 118–145, hier S. 143. Diese selbstreflexive Dimension wurde mehrmals betont. Vgl. Katharina Grätz: Die Erkenntnis des Dichters. Robert Musils

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Leim zu befreien, bis zum Augenblick, wo sie den Kampf aufgeben. Der Erzähler protokolliert den Rhythmus dieses Todeskampfes mit klinischer Akribie: Die hektischen Fluchtversuche werden durch immer längere »Atempausen« unterbrochen, bis völlige Stille einsetzt. Gleichzeitig greift Musil auf eine Vielfalt von anthropomorphen Vergleichen zurück, welche die Fliegen in die menschliche Sphäre hineinführen und sie als nahe Verwandte auftreten lassen. Die Fliegen werden mit Willen, Geist und Gefühlen ausgestattet. Sie werden mit »Tabikern[n]«, »klapprige[n] alte[n] Militärs«, »Arbeiter[n]«, »Laokoon«, einem »Kletterer«, einem »Verirrte[n] im Schnee«, einem »Verfolgte[n] mit brennenden Flanken«, dann mit »Frauen, die vergeblich ihre Hände aus den Fäusten eines Mannes winden wollen«, mit »gestürzten Aeroplane[n]«, »krepierte[n] Pferde[n]« oder »Schläfer[n]« (GW II, S. 476 f.) verglichen. Mit dieser Vergleichskette versucht Musil, eine den Tieren und den Menschen gemeinsame Zone zu umreißen, eine Grenzzone, wo Tiere und Menschen um ihr Leben kämpfen und ihre Schutzlosigkeit an den Tag bringen. Er konzentriert sich auf die letzten Augenblicke und auf den Umschlagspunkt, wo die Insekten ›in ihren Tod sinken‹. Unter der Lupe eines sensiblen und gleichzeitig inquisitorischen Blickes verwandelt sich also eine banale Szene in ein Drama der Endlichkeit, das gleichzeitig nah und fern, vertraut und fremd ist. Die Spannung zwischen klinischer Detailtreue und anthropomorphen Vergleichen wurde von der Kritik oft hervorgehoben. Positiv gesehen können die Vergleiche als Versuche gedeutet werden, den Todeskampf der Fliegen nachvollziehbar zu machen. Auch tragen sie dazu bei, den unbedeutenden Insekten eine neue Würde zu verleihen. In dieser Hinsicht kann Das Fliegenpapier – wie es Hartmut Böhme bemerkt – als »Fliegen-Enkomion der Moderne« bezeichnet werden, d. h. als ein Text, der »virtuose rhetorische Mittel zum Lob unbedeutender Gegenstände«94 einsetzt. Doch wurde dieses Vergleichsgeflecht für manche Leser zu einer Quelle der Irritation. Nach Katharina Grätz bildet »die heterogene Vielfalt menschlicher Vergleichsfiguren« ein »Konglomerat inkonsistenter Bilder und Vorstellungen«, die »irritieren«, statt das Beschriebene anschaulich zu machen.95 Vor allem zeugen diese Vergleiche von der Schwierigkeit, über den Tod eines Insekts zu berichten. Wenn der Erzähler die unauffälligen Fliegen mythisch überhöht und ironisch mit einem sportlichen Laokoon vergleicht, ist zu vermuten, dass die Ironie nicht nur den Insekten gilt, sondern auch dem Verfasser, der mit äußerster Anstrengung

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Fliegenpapier als Modell seines poetischen Verfahrens, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 48 (2004), S. 206–230, hier S. 213 f. Vgl. auch Victor Lange: Musils Das Fliegenpapier, in: Colloquia Germanica 10 (1976/77), S. 193–203, hier S. 199–200, und Annette Fuchs: »AugenBlicke«. Zur Kommunikationsstruktur der »Bilder« in Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Der Deutschunterricht 40 (1988), H. 1, S. 66–79, hier S. 68 ff. Böhme: Der Auftritt der Fliege (Anm. 92), S. 93 und S. 89. Grätz: Die Erkenntnis (Anm. 93), S. 221.

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versucht, sich an ein Grenzerlebnis heranzutasten – nämlich den Übergang vom Leben zum Tod –, das rätselhaft und undurchschaubar bleibt. Diese selbstreflexive Dimension des Textes trägt zu dessen Dichte und ambivalenter Aura bei. Das Fliegenpapier legt die Grenzen des eigenen Beobachtungsvorgangs offen. Es ist nämlich unmöglich, den Todeskampf einer Fliege von innen her zu vermitteln. Das Einzige, was der Erzähler tun kann, ist sich durch Rückgriff auf Vergleiche, die dem Bereich der Gewalt, der Ästhetik, des Krieges und der Krankheit entnommen sind, dem Fliegentod anzunähern: »Das Fliegenpapier erlaubt keinen Einblick in die Gefühlswelt des Versuchsobjekts, sondern gewährt Einblick in die Erlebniswelt eines Beobachters.«96 Als Notbehelf bleiben diese Vergleiche im Bereich der Spekulation, da der Übersetzungsversuch auf ein ›Original‹ hinweist, das grundsätzlich unerreichbar ist. Heißt das, dass die Hominisation der Insekten deren Alterität und Fremdartigkeit negiert? Werden die Fliegen durch diese anthropozentrische Annäherungsweise so anverwandelt, dass sie menschlichen Normen und Maßstäben angeglichen werden?97 In der Tat erzählt Das Fliegenpapier »mehr vom Menschen als von der Fliege« und wurde deshalb oft als »naturalistische Parabel über menschliche Verhaltensweisen«98 gedeutet. Allerdings lässt diese Annäherung zwischen dem Insekt und den Menschen kein Gefühl der Vertrautheit entstehen, sondern vielmehr ein erhöhtes Gefühl des Grauens und des Befremdens.99 Der Todeskampf der Fliegen führt zu einer beunruhigenden und unheimlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Fremdsein und bleibt in dieser Hinsicht eine Erfahrung des Fremden. In diesem Zusammenhang ist der letzte Satz des Textes besonders aufschlussreich: Der Erzähler erwähnt »ein ganz kleines, flimmerndes Organ«, welches »wie ein winziges Menschenauge« aussieht, »das sich unaufhörlich öffnet und schließt« (GW II, 96 97 98 99

Andrea Pelmter: »Experimentierfeld des Seinkönnens« – Dichtung als »Versuchsstätte«: Zur Rolle des Experiments im Werk Robert Musil. Würzburg 2008, S. 114. Im Bereich der Übersetzungstheorie zeugt diese ethnozentrische (hier anthropozentrische) Annäherungsweise von der Unfähigkeit, das Original in seiner Fremdheit aufzunehmen (vgl. Berman: La Traduction [Anm. 5], S. 29). Böhme: Der Auftritt der Fliege (Anm. 92), S. 97. Vgl. auch Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie, Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre. München 1994, S. 374. Vgl. Böhme: Der Auftritt der Fliege (Anm. 92), S. 96. Diese Befremdung wurde von Burkhardt Wolf besonders deutlich hervorgehoben: »Befremdlich wirkt [. . .] jener [. . .] Beobachtungsmodus, der sachliche Nähe (zu den Fliegen) herstellt und zugleich eine merkliche emotionale Distanz (uns selbst gegenüber) wahrt, der die differentia specifica zwischen Mensch und Tier markiert, aber dennoch spürbar macht, dass diese Unterscheidung uns selbst in unserem Innersten durchzieht. Die Skala anwachsender Befremdlichkeit reicht im Fliegenpapier von der mechanistischen Verfremdung (die hammerartigen Zungen der Fliegen) über den primitivistischen Exotismus (ihre Köpfe als ›menschenähnliche Negeridole‹) und die pathologische Entstellung (die Fliegen als Tabiker) bis hin zum Vergleich mit Menschen in fast alltäglichen Notund Ausnahmesituationen« (Burkhardt Wolf: Der befremdete Blick. Musils Sehversuche, in: Sprache und Literatur 47 [2018], H. 118, S. 133–152, hier S. 144).

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S. 477). Es sieht so aus, als würde die Fliege mit einem menschenähnlichen Auge ausgestattet und in Todesnähe den Blick des Erzählers erwidern. Nun handelt es sich aber um einen imaginären Blick, da dieses Organ kein Auge ist, sondern eine Atemöffnung, ein sogenanntes »Stigma«.100 Der Erzähler wird also mit den Aporien und der Willkür des eigenen Blicks konfrontiert. Der Erschließungsversuch stößt auf das unlösbare Rätsel der Fliege. Wie es der Titel andeutet, erweist sich Das Fliegenpapier im buchstäblichen und figurativen Sinne als eine Lockfalle: Es ist eine Falle für die im Leim gefangenen Fliegen und für die in ihren sozialen und beruflichen Rollen gefangenen Menschen. Es ist auch eine Falle für den Erzähler, dessen anthropomorphe Vergleiche die Unfähigkeit verraten, den Beobachtungsgegenstand von innen her zu erschließen. Schließlich weist das flimmernde Organ der sterbenden Fliege auf die Instabilität jedes Deutungsversuchs hin.

2.2 Mesures (1937): Germain Landier Als die Herausgeber der Zeitschrift Mesures beschlossen, Das Fliegenpapier für die Nummer des 15. April 1937 zu übersetzen, wählten sie also einen Text, der sich strukturell mit Problemen der Übersetzung auseinandersetzt. Nach Paulhan hatten an dieser Germain Landier zugeschriebenen Übersetzung in der Tat vier Personen teilgenommen: Paulhan selbst, Groethuysen sowie Barbara und Henry Church.101 Wenn dieses kollektive Unternehmen auch das Verdienst hatte, einen bedeutenden Text von Musil dem französischen Lesepublikum vorzustellen,102 lässt die Übersetzung manches zu wünschen übrig. Sie weist nämlich die »deformierenden Tendenzen«103 auf, welche Berman bei vielen Übersetzungen identifiziert hat. Insbesondere verschließt sich die Übersetzung der Andersartigkeit und Eigenartigkeit des Originals, indem sie wenig Respekt für den Buchstaben des Textes zeigt. Die »Buchstabentreue«, bemerkt Berman, solle nicht mit einer »Wort-für-Wort-Übersetzung« verwechselt werden.104 Es gehe darum, die Textur des Originals wiederzugeben, dessen Ton, Sprachduktus, Rhythmus, Klangstruktur und lexikalische 100 Vgl. Christoph Hoffmann: Augen und Blicke. Robert Musils Tierbilder, in: Medien, Technik, Wissenschaft: Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. v. Michael Gamper, Ulrich Johannes Beil u. Karl Wagner. Zürich 2011, S. 209–218, hier S. 216. Vgl. auch Ewout van der Knaap: Musils filmischer Blick. Notsignale auf dem Fliegenpapier, in: Poetica 30 (1998), S. 165–178, hier S. 169 ff. 101 Paulhan: Jean Paulhan se souvient (Anm. 10), S. 275. 102 Roger Caillois, den Paulhan zum Mitglied des Redaktionsausschusses von Mesures ernennen wollte, beabsichtigte diese Zeitschrift durch eine »allgemeine Phänomenologie der Einbildungskraft« neu zu beleben und fand das Fliegenpapier von Musil sehr lobenswert (»une phénoménologie générale de l’imagination«, »très défendable«, Roger Caillois an Jean Paulhan, 29. 7. 1937, in: Correspondance Jean Paulhan – Roger Caillois 1934–1967, in: Cahiers Jean Paulhan 6 [1991], S. 49.) 103 Berman: La Traduction (Anm. 5), S. 47. 104 Ebd., S. 13.

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Wortwahl. Nun haben jedoch Ungenauigkeiten und Auslassungen sowie stilistische und syntaktische Freiheiten den Sinn und die Tonalität des Musil’schen Textes entstellt. Zu den deformierenden Tendenzen gehören nach Berman vor allem die Rationalisierung, die Klärung, die Ausschmückung, die qualitative und quantitative Verarmung sowie die Zerstörung der Rhythmen, der unterschwelligen »signifikanten Netze« und der Spracheigenheiten.105 Tatsächlich haben die Übersetzer des Fliegenpapier auf die Form des Textes, dessen Rhythmus und Phrasierung wenig Rücksicht genommen. Die Gliederung in Absätze entfällt und das Satzgefüge wird durch syntaktische Permutationen entstellt. Längere Sätze werden in kürzere Sätze aufgeteilt, was einen abgehackten Rhythmus entstehen lässt. Auch bleibt das eigenartige Tempo des Textes unberücksichtigt: Dem Wechselspiel von rasenden Befreiungsversuchen und Stillstand, von Widerstand und Hingabe, sowie der durch Satzstruktur, Wiederholungen und Anklänge hergestellten Rhythmik wird in ungenügendem Maß Rechnung getragen. Rationalisierung und Ausschmückung sind gleichermaßen Merkmale der Mesures-Übersetzung: So werden Partikeln und Adverbien hinzugefügt, die logische und zeitliche Beziehungen herstellen. Diese Wörter waren aber im Original nicht vorhanden. Aus dem Satzteil »klebt sie zuerst nur mit den äußersten, umgebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest« wird: »D’ailleurs [darüber hinaus], elle n’y pose d’abord que l’extrémité, légèrement recourbée, de ses petites pattes«. Beim Satz »Sie stehen da, und ich fühle, wie ratlos sie sind« werden die Wörter »encore«, »mais« und »déjà« eingefügt, sodass er rückübersetzt hieße: »Sie steht noch da, aber ich fühle, dass sie schon ratlos ist.« Deformierende Tendenzen fallen in der folgenden Passage besonders auf: Eine ganz leise, befremdliche Empfindung, wie wenn wir im Dunkel gingen und mit nackten Sohlen auf etwas träten, das noch nichts ist als ein weicher, warmer, unübersichtlicher Widerstand und schon etwas, in das allmählich das grauenhaft Menschliche hineinflutet, das Erkanntwerden als eine Hand, die da irgendwie liegt und uns mit fünf immer deutlicher werdenden Fingern festhält. (GW II, S. 476) Quelle étrange sensation, à peine sensible. C’est comme s’il nous arrivait de tâter dans l’obscurité, de nos pieds nus, quelque résistance molle, tiède, indéfinissable, et qui laisserait pénétrer en elle je ne sais quoi d’atrocement humain, quelque main dissimulée, dont les cinq doigts soudain se séparent.106

Der absichtlich neutrale und nüchterne Ton der klinischen Beschreibung Musils wird durch intensivierende Ausdrücke entstellt: So wird der unbestimmte Artikel »eine« (»eine ganz leise, befremdliche Empfindung«) durch »quelle« ersetzt; der Satz wird dadurch zum Exklamativ: »Quelle étrange sensation, à peine sensible« (»Welch ganz leise, befremdliche Empfindung«). Wenn »das 105 Vgl. ebd., S. 52–66. 106 Robert Musil: Le papier tue-mouches (Anm. 22), S. 191.

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Erkanntwerden als eine Hand, die da irgendwie liegt und uns mit fünf immer deutlicher werdenden Fingern festhält« als »quelque main dissimulée, dont les cinq doigts soudain se séparent« (»irgendeine verborgene Hand, deren fünf Finger sich plötzlich trennen«) übersetzt wird, dann wird der Sinn entstellt und eine Fehlinterpretation provoziert. Der Satzteil »das Erkanntwerden als eine Hand« fällt völlig weg sowie auch das Pronomen »uns«, welches die Leser miteinbeziehen soll. Auch wird das wichtige Bild der greifenden Hand weggelassen, obwohl es als unheimliches Emblem für das Grauen des allmählichen Gefangenseins eine Schlüsselrolle spielt. Wie es Elias Canetti später in Masse und Macht analysieren wird, sind die Berührung und das Ergreifen »das, was man am meisten fürchtet«, weil sie auf die Besitznahme des anderen Körpers oder auf eine drohende Verhaftung oder Einverleibung hindeuten: »Bei den Menschen wird die Hand, die nicht mehr losläßt, zum eigentlichen Sinnbild der Macht.« Später im Buch heißt es: »Es liegt nahe, den entscheidenden Akt der Macht dort zu finden, wo er seit alters her unter Tieren wie Menschen am auffallendsten ist: eben im Ergreifen.«107 Das Vergleichswort »wie« wird mehrmals weggelassen, was eine wichtige Dimension des Textes außer Acht lässt: Durch die wiederholten Vergleichspartikeln soll nämlich die Aufmerksamkeit der Leser auf die Bemühungen des Erzählers gelenkt werden, die Erfahrung der Insekten verständlich zu vermitteln. Ferner sind Auslassungen und Ungenauigkeiten Kennzeichen der Mesures-Übersetzung. Schon im ersten Satz bleibt die Marke des Fliegenpapiers unerwähnt, obwohl das englische Wort »Tanglefoot« auf das Los der im Leim gefangenen Fliegen hinweist. »Gelber Leim« wird als »colle jaunâtre« (»gelblicher Leim«) übersetzt. Sie [. . .] beugen sich in den Knien und stemmen sich empor, wie Menschen es machen, die auf alle Weise versuchen, eine zu schwere Last zu bewegen; tragischer als Arbeiter es tun, wahrer im sportlichen Ausdruck der äußersten Anstrengung als Laokoon. Und dann kommt der immer gleich seltsame Augenblick, wo das Bedürfnis einer gegenwärtigen Sekunde über alle mächtigen Dauergefühle des Daseins siegt. Es ist der Augenblick, wo ein Kletterer wegen des Schmerzes in den Fingern freiwillig den Griff der Hand öffnet, wo ein Verirrter im Schnee sich hinlegt wie ein Kind, wo ein Verfolgter mit brennenden Flanken stehen bleibt. (GW II, S. 476) Puis elle plie les genoux, et se redresse, comme un homme qui voudrait à tout prix mettre en mouvement un fardeau trop lourd: mais c’est d’un effort plus tragique que celui de l’ouvrier, plus sportif que le Laocoon. Alors revient l’instant singulier où la seconde présente l’emporte sur le profond besoin de la vie. Ainsi l’alpiniste aux doigts douloureux relâche sa prise; ainsi le voyageur égaré dans la neige se couche comme un enfant; et le guerrier poursuivi s’arrête, le flanc brûlant.108 107 Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 2003 [1960], S. 238–239 und S. 241. Über das Fliegenmotiv bei Canetti und Musil vgl. Florence Vatan: Présences animales: Elias Canetti et Robert Musil, in: Europe 1093 (Mai 2020), S. 83–98. 108 Robert Musil: Le papier tue-mouches (Anm. 22), S. 192.

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Auf die Ersetzung des Plurals »die Fliegen« durch den Singular »la mouche« werde ich am Schluss dieses Abschnitts noch kurz zu sprechen kommen. Das Satzsegment »wahrer im sportlichen Ausdruck der äußersten Anstrengung« wird einfach als »plus sportif« (»sportlicher«) wiedergegeben, was die ironischen Anklänge sowie die Intensität der Befreiungsversuche der Fliegen ausradiert. »Der immer gleich seltsame Augenblick« wird als »l’instant singulier« (»der eigenartige Augenblick«) übersetzt, wobei das Unheimliche der wiederkehrenden Erfahrung gedämpft wird. Insgesamt wird in diesem kurzen Text das Wort »Augenblick«, dessen Etymologie auf das Schlüsselmotiv des Blicks hinweist109 und das als Leitmotiv für die Rhythmik und den Sinn des Texts besonders wichtig ist, inkonsistent übersetzt oder weggelassen. Zum Beispiel wird in der eben zitierten Stelle die Wiederholung »es ist der Augenblick, wo« einfach als »ainsi« (»so«) wiedergegeben, was das Gefühl der Unwiderruflichkeit abmildert. Feine Nuancen in den Vergleichen werden übersehen. So wird manchmal das semantische Feld eingeengt: »Kletterer« wird als »alpiniste« (»Bergsteiger, Alpinist«) und »Verfolgter« als »guerrier poursuivi« (»verfolgter Krieger«) übersetzt. Das Bild des Kletterers, der »wegen des Schmerzes in den Fingern freiwillig den Griff der Hand öffnet«, wird approximativ als »l’alpiniste aux doigts douloureux relâche sa prise« wiedergeben, wobei die Adverbialbestimmung »freiwillig« wegfällt. Das Echo der früheren Bilder der Hand, die einen »mit fünf immer deutlicher werdenden Fingern festhält«, während sie sich hier öffnet, ist nicht mehr zu hören, da das ursprüngliche Bild nicht übersetzt wurde. Das Bild der Frauen, »die vergeblich ihre Hände aus den Fäusten eines Mannes winden wollen«, wird als »comme une femme qui cherche en vain à arracher ses mains à une étreinte d’homme« (»wie eine Frau, die ihre Hände vergeblich aus einer männlichen Umarmung herauszuwinden sucht«) wiedergegeben. Manchmal werden Einzelheiten hinzugefügt, die im Original nicht vorhanden waren: Die »seelische Erschöpfung« wird als »apathie d’une seconde« (»sekundenlange Apathie«) übersetzt. Gleiches gilt auch für den folgenden Satz: Dann liegen sie mit gestreckten Hinterbeinen auf den Ellbogen gestemmt und suchen sich zu heben. (GW II, S. 477) La voilà couchée, les pattes d’arrière étendues, et tâchant vainement de se soulever sur les coudes.110 109 Der Augenblick, mittelhochdeutsch »ougenblic« kann »das Aufleuchten der Augen« sowie »die kurze Zeitspanne eines schnellen Hinsehens« bedeuten. Vgl. den Artikel: Augenblick, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. v. Wolfgang Pfeifer u. a., https://www.dwds.de/wb/etymwb/Augenblick (aufgerufen am 31. 8. 2022.) 110 Robert Musil: Le papier tue-mouches (Anm. 22), S. 192.

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Was hier hinzugefügt wird, ist da Wort »vainement« (»vergeblich«). Auch finden Permutationen ohne offensichtlichen Grund statt: Dann stehen sie alle forciert aufrecht, wie Tabiker, die sich nichts anmerken lassen wollen, oder wie klapprige alte Militärs (und ein wenig o-beinig, wie wenn man auf einem scharfen Grat steht). (GW II, S. 476) Alors la mouche dressée se raidit, comme font les vieux militaires gâteux ou encore les malades qui tentent de cacher leur tabès, (les pattes an arc, comme qui marche sur une arête tranchante.)111

Die »Tabiker« und die »klapprige[n] alte[n] Militärs« werden in umgekehrter Reihenfolge eingeführt. Bei der folgenden Passage kommt es zu neuen Zuordnungen: So liegen sie da. Wie gestürzte Aeroplane, die mit einem Flügel in die Luft ragen. Oder wie krepierte Pferde. Oder mit unendlichen Gebärden der Verzweiflung. Oder wie Schläfer. (GW II, S. 474) Elles demeurent ainsi couchées, comme des aéroplanes qui plongent, et dont une aile pointe encore en l’air; ou encore comme des chevaux crevés aux gestes d’un désespoir infini, ou comme des dormeurs.112

Die »gestürzte[n] Aeroplanen« werden als »aéroplanes qui plongent« (»stürzende Aeroplane«) übersetzt. Die »krepierte[n] Pferde« werden zu »chevaux crevés aux gestes d’un désespoir infini« (»krepierte Pferde mit endlos verzweifelten Gebärden«), wobei im Original die Verzweiflung im nächsten Satz ohne Bezug auf die Pferde erwähnt wird. Was aber am befremdlichsten wirkt, ist der Entschluss der Übersetzer, den Plural »Fliegen« durch den Singular »la mouche« zu ersetzen. Der Rückgriff auf den Singular widerspricht dem Original, welches auf die unpersönliche und kollektive Dimension des Vorgangs Wert legt. Während die Übersetzer den Todeskampf einer einzelnen Fliege emphatisch dramatisieren, geht es Musil darum, durch das Fliegenmotiv die Auflösung des Individuellen hervorzuheben.

2.3 Die Neuübersetzung von Philippe Jaccottet Die Mängel der Mesures-Übersetzung fallen um so mehr auf, wenn man letztere mit der Neuübersetzung von Philippe Jaccottet vergleicht. Wie Berman bemerkt, sind Neuübersetzungen oft viel besser, da sie sich im Namen des Originals gegen vorherige Übersetzungen behaupten.113 In der Tat ist es höchst 111 Ebd. 112 Ebd., S. 193. 113 »La re-traduction a lieu pour l’original et contre ses traductions existantes« (Berman: La Traduction [Anm. 5], S. 105).

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wahrscheinlich, dass Jaccottet die Übersetzung von Mesures kannte und deren Mängel korrigieren wollte. Wann genau Jaccottet Das Fliegenpapier übersetzt hat, ist ungewiss. In ihrem Briefwechsel hatte Martha Musil Jaccottet Das Fliegenpapier spontan vorgeschlagen, da der Text »sehr bekannt und seinerzeit berühmt gewesen«114 war. Jaccottet hatte sich aber für andere »Bilder« interessiert: »Die Affeninsel, Fischer an der Ostsee, Inflation, Der Erweckte, Sarkophagdeckel, peut-être Schafe, anders gesehen et Slowenisches Dorfbegräbnis.«115 Doch teilte er am 3. März 1949 Martha Musil mit, dass er alle »Bilder« übersetzen wolle, da sie zusammen mit Die Amsel ein »wunderschönes Büchlein«116 ergeben würden. Es ist also zu vermuten, dass er Das Fliegenpapier zu diesem Zeitpunkt übersetzte. In seinem ersten Brief teilte Jaccottet Martha Musil seine »tiefe Bewunderung« und »Erschütterung« mit, als er Musils Werk entdeckte: Er drückte den Wunsch aus, »dieses dem französisch sprechenden Publikum noch völlig unbekannte Werk mit der größten Sorgfalt und Achtung bekanntzumachen.«117 Er wollte nicht als bloßer Übersetzer, sondern als Dichter an Musils Texte herangehen,118 da er an Musils Schaffen vor allem das Dichterische schätzte.119 114 Martha Musil an Philippe Jaccottet, 27. 11. 1947, in: Martha Musil: Briefwechsel. Bd. 1 (Anm. 18), S. 318. 115 Philippe Jaccottet an Martha Musil, 6. 11. 1947, ebd., S. 319. 116 »Je mets au point la traduction de l’ensemble des Bilder extraits de Nachlass zu Lebzeiten, qui, avec Die Amsel, feraient un merveilleux petit livre« (Philippe Jaccottet an Martha Musil, 3. 3. 1949, ebd., S. 354). 117 »[J]’aurais eu plaisir à vous dire de vive voix l’admiration très profonde que j’éprouve pour l’œuvre de Monsieur Musil [. . .]. C’est l’émotion de ce premier contact avec une grande œuvre qui m’a fait souhaiter de la faire connaître au public de langue française qui l’ignore encore tout à fait, en y consacrant le soin et l’exigence la plus grande« (Philippe Jaccottet an Martha Musil, 21. 11. 1947, ebd., S. 315). 118 »[J]e mettrais à d’éventuelles traductions de l’œuvre de Monsieur Musil beaucoup plus qu’un simple souci de traducteur: le respect de son œuvre, le respect et la compréhension de toute parole de poète« (ebd., S. 315 f.). Obwohl Jaccottet seine Übersetzungstätigkeit oft als Broterwerb darstellte, hat Christine Lombez überzeugend gezeigt, wie eng Dichtung und Übersetzung in seinem Werk einander bereichern und miteinander verwoben sind. Nicht nur übersetzt Jaccottet als Dichter, sondern seine Gedichte können als Übersetzungen in einem umfassenden Sinn verstanden werden, nämlich als Versuche, das zu übersetzen, was Jaccottet »das Ungreifbare« (»l’insaisissable«) nannte (vgl. Christine Lombez: Traduire: les »transactions secrètes« de Philippe Jaccottet, in: La seconde profondeur. La traduction poétique et les poètes traducteurs en Europe au XXe siècle. Paris 2016, S. 179–200). 119 Jaccottet war davon überzeugt, dass »die meisten seiner [Musils] Kritiker sich durch die intellektuellen und satirischen Seiten seines Romans täuschen ließen und infolgedessen den Ursprung seines Schaffens, der seinem innersten Wesen nach dichterisch ist, übersehen« hatten: »Dichtung. Damit ist das gefährliche Wort endlich ausgesprochen und gleichzeitig die eigentliche Erklärung für das gegeben, was mich an diesem Werk anzog. Denn das Dichterische ist es, wonach meine Wertmaßstäbe sich seit Jahren gerichtet haben, die Dichtung, also die Bemühung um ein vielleicht auf alle Zeit unlösbares Rätsel, das dennoch für den, der sich ihm nähern will, so erhellend und befruchtend ist. In der Erfahrung dieses wesentlichen Rätsels liegt der Ursprung für das Werk Musils« (Jaccottet: Begegnung [Anm. 75], S. 431).

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Wegen dieses dichterischen Ansatzes hat der »wunderbare Leser« Jaccottet sich auch als ein hervorragender Übersetzer erwiesen, der die von Berman verteidigte Ethik der Übersetzung vorbildlich verkörpert.120 Jaccottets Übersetzung zeugt von einer exemplarischen Treue, d. h. von einer hohen Achtung vor der Textur dieses Prosastücks, das er so genau wie möglich wiedergeben will, ohne auf den Text die eigene Poetik aufzupropfen.121 Nicht nur achtet er auf die Syntax und den Rhythmus der Sätze, sondern er übersetzt auch all die Worte und Satzteile, die in der Mesures-Übersetzung ausgelassen wurden. Es geht ihm darum, den Nuancen des Textes gerecht zu werden. Wie im Original wird die Übersetzung in Absätze gegliedert. Jaccottet hat den nüchternen Ton der klinischen Beobachtung beibehalten. Die Abweichungen vom Original sind sehr gering. Im Satzteil »liegen [. . .] auf den Ellbogen gestemmt und suchen sich zu heben« ersetzt er »und« mit einer finalen Satzverbindung: »s’appuient sur les coudes pour essayer de se relever«. Manchmal entscheidet sich Jaccottet für eine größere Knappheit: Zum Beispiel wird der Satz »Sie führen diese wütende Handlung so lange durch, bis die Erschöpfung sie zum Einhalten zwingt« als »Elles se livrent à ce travail avec frénésie, jusqu’à épui120 Nicht zufällig empfand Berman eine tiefe Bewunderung für Jaccottet, den er als Vorbild betrachtete. Er sah in Jaccottet einen »idealen Übersetzer«, »der sich leidenschaftlich und kompromisslos seinen literarischen Vorlieben widmet[e] und dem es dennoch gel[ang], hinter dem übersetzten Werk zurückzutreten, die eigene Dichterstimme zum Schweigen zu bringen« (Irène Kuhn: Antoine Bermans »produktive« Übersetzungskritik. Entwurf und Erprobung einer Methode. Mit einer Übertragung von Bermans Pour une critique des traductions. Tübingen 2007, S. 13). Diese ›Ästhetik der Transparenz‹ wurde oft bemerkt und gewürdigt (vgl. Mathilde Vischer: Philippe Jaccottet traducteur et poète: Une esthétique de l’effacement. Lausanne 2003). Allerdings soll auch betont werden, dass Jaccottet sehr rücksichtsvoll und geschickt die eigene Stimme mitklingen ließ. Wie Peter Utz glänzend gezeigt hat, steht Jaccottets Übersetzungsarbeit zum Mann ohne Eigenschaften »in einem Verhältnis geschwisterlicher Ähnlichkeit«: Bezeichnenderweise hat Jaccottet im ersten Absatz des Romans die »unscheinbare Scharnierformel« »in einem Wort« als »autrement dit« übersetzt, wobei er »mit einer erkennbaren eigenen Stimme sein Existenzrecht als Übersetzer« anmeldete (Peter Utz: Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007, S. 294 und S. 12). 121 In seinen Übersetzungen wie in seinen Gedichten ist für Jaccottet das »traduire juste«, d. h. das »genaue, richtige und treffende« Übersetzen besonders wichtig. Diese Texttreue hat Martha Musil sehr früh wahrgenommen: »[I]ch finde, daß er [Jaccottet] gut übersetzt, weil wörtlich«, schrieb sie an Rowohlt nach dem Erscheinen der französischen Übersetzung von Die Amsel in La Licorne im Herbst 1948 (21. 12. 1948, in: Martha Musil: Briefwechsel. Bd. 1 [Anm. 18], S. 309). An Jaccottet schrieb sie: »Ich finde sie [die Übersetzung der Amsel] ausgezeichnet, hätte nicht geglaubt, daß das Starke und zugleich Schwebende der Diktion so zu treffen wäre, wie es Ihnen gelungen ist!« (11. 1. 1948, ebd., S. 322). Giuseppe Ungaretti hat ebenfalls Jaccottets Begabung als Übersetzer gelobt. In einem mit Pierre Descargues geführten Gespräch, abgedruckt am 4. April 1965 in der Tribune de Lausanne, sagt er: »Was Philippe Jaccottet mit diesem Buch [À partir du désert (Il deserto e dopo)] geleistet hat, ist ein Wunder. Ich glaube, dass es auf Französisch besser ist als auf Italienisch« (»Ce qu’a fait Philippe Jaccottet de ce livre, c’est une merveille. Je crois qu’il est meilleur en français qu’en italien«, Philippe Jaccottet, Giuseppe Ungaretti: Jaccottet traducteur d’Ungaretti. Correspondance 1946–1970. Hg. v. José-Flore Tappy. Paris 2008, S. 67).

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sement« (Hervorhebungen F. V.). Jaccottet führt eine Permutation durch, als er »das Bedürfnis einer gegenwärtigen Sekunde« als »l’exigence immédiate d’une seconde« (»das gegenwärtige Bedürfnis einer Sekunde«) übersetzt, wobei er damit das abrupte Loslassen und Aufgeben betont. Die Passage, in der Jaccottet am stärksten vom Original abweicht, hängt mit seinem Versuch zusammen, den lakonischen Satz »Ein Nichts, ein Es zieht sie hinein« klarer zu machen: »Ce n’est pas quelqu’un, c’est ›cela‹, c’est ›rien‹ qui tire sur elles« (»Nicht jemand, sondern ein Es, ein Nichts zieht sie hinein«). Es ist, als wolle Jaccottet mit der individualisierenden Lesart der Übersetzer von Mesures brechen. Jaccottets Wortwahl ist besonders nahe am Original: »Kletterer« wird als »grimpeur« und nicht als »alpiniste« übersetzt; »Verfolgter« wird als »fuyard traqué« und nicht als »guerrier poursuivi« wiedergegeben; »gelb« wird als »jaune« und nicht als »jaunâtre« und das Substantiv »Vergrößerungsglas« als »loupe« und nicht »microscope« übersetzt. Auch versucht Jaccottet, jedes Auftauchen des Wortes »Augenblick« zu berücksichtigen, wobei er das Wort entweder als »instant« oder als »moment« übersetzt. Diese achtsame Übersetzung ist imstande, den aufmerksamen Blick des Erzählers, die Intensität des Todeskampfes, sowie das Wechselspiel von klinischer Akribie und emotionaler Dichte wiederzugeben.

3. Sterbende Fliegen: Marguerite Duras Über diese Übersetzungen hinaus hat Das Fliegenpapier und insgesamt das Fliegenmotiv andere Künstler und Schriftsteller inspiriert.122 Vor allem lassen sich Parallelen zwischen Musils und Marguerite Duras’ Behandlung des Fliegenmotivs herstellen. Die Bedeutung, welche die Entdeckung des Werkes Musils für Duras hatte, kann nicht genug hervorgehoben werden.123 Duras las Musil im Frühjahr 1980 nach einer »ziemlich schlimmen Depression, die mehrere Monate dauerte«.124 In einem für die Quinzaine littéraire verfassten 122 Unter den Künstlern, die von Musils Text inspiriert wurden, sollen der Choreograph François Verret und der Zeichner Vincent Fortemps (Vincent Fortemps: Chantier-Musil [Coulisse]. D’après une lecture de L’homme sans qualités de Robert Musil; matière pour un projet de François Verret. Bruxelles 2003) sowie der in Paris lebende argentinische Zeichner Sergio Aquindo erwähnt werden. 123 In Die Freundin (L’Amie. Paris 1997, S. 45–46) erzählt Michèle Manceaux, dass sie Duras Der Mann ohne Eigenschaften empfahl (zit. nach Florence Godeau: Marguerite Duras, Robert Musil: la lectrice et l’écrivain, in: Musil-Forum 23/24 [1997/1998], S. 57–72, hier S. 70). In Die Sprechenden (Les Parleuses) hat sich Duras als »Echokammer« (»chambre d’écho«) bezeichnet. Die Formel beschreibt ihr Verhältnis zu Musils Werk besonders treffend (Marguerite Duras: Les Parleuses, in: dies.: Œuvres complètes. Bd. 3. Hg. v. Gilles Philippe. Paris 2014, S. 152). 124 »[D]épression assez grave qui a duré plusieurs mois« (Marguerite Duras: »Une des plus grandes lectures que j’aie jamais faites«, in: La Quinzaine Littéraire [16. 1. 1982], S. 15). In ihren Kalender schrieb sie am 21. Dezember 1979: »Ich werde versuchen, Musil zu lesen. Eine Lektüre für

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Aufsatz beschrieb sie den Mann ohne Eigenschaften als »eine der wichtigsten Leseerfahrungen, die ich je gemacht habe«: Es ist ein unheimlich obskures, unlesbares und unwiderstehliches Buch [. . .], dessen Lektüre eine rätselhafte, für die meisten Leser fast unüberwindbare Anstrengung darstellt, [. . .] wenn man sich aber durchgerungen hat, wenn die Lektüre sich gesetzt hat, dann entsteht eine unvergleichliche Verzauberung.125

Duras wurde von der inzestuösen Liebesgeschichte zwischen Agathe und Ulrich aufs tiefste erschüttert.126 Die Lektüre ergriff sie um so mehr, als sie sie an ihre Liebe zu ihrem jungen Bruder Paul erinnerte, der in seinem 27. Lebensjahr in Indochina starb und ohne jedes Begräbnis in ein Massengrab geworfen wurde. Die Lektüre fand auch kurz vor Yann Andréas Eintritt in ihr Leben statt. Dieser 28-jährige Bewunderer wurde nach mehrjährigem Briefwechsel zu ihrem Lebensgefährten. Das Inzestmotiv steht also im Kern ihrer Leseerden Winter« (»Je vais essayer de lire Musil. Une lecture pour l’hiver«, Duras: Œuvres complètes. Bd. 3 [Anm. 123], S. 1728). 125 »[. . .] une des plus grandes lectures que j’aie jamais faite«; »C’est un livre énormément obscur, illisible et irrésistible, [. . .] la lecture en est une mystérieuse corvée, presque insurmontable pour la plus grande part des lecteurs, mais [. . .], une fois cette corvée dépassée, tandis que la lecture se dépose, il s’élève d’elle un incomparable enchantement« (Duras: »Une des plus grandes lectures que j’aie jamais faites« [Anm. 124], S. 15). 126 Duras hat die Bedeutung Musils für ihr eigenes Werk in einem Interview anerkannt: »F[rage]: Der Mann in Agatha ist ›der Mann ohne Eigenschaften‹ von Musil. M[arguerite] D[uras]: Tatsächlich. Sie sind eine der wenigen, die diesen Zusammenhang erraten haben. [. . .] Ursprünglich geht es auf mein Leben, mein eigenes Leben zurück. Ich habe einen Bruder – er war 27 Jahre alt – innerhalb von drei Tagen in Indochina verloren. Es gab den Krieg mit Japan und Arzneimittel fehlten. Ich war in Frankreich, als ich vom Tod dieses Bruders erfuhr, ich wollte sterben. [. . .] Nachher habe ich mich öfters gefragt: ›Was hat es denn mit diesem Tod auf sich, dass er so niederschmetternd wirkt?‹ Und nach und nach gelang es mir, [. . .] einzusehen, dass ich diesen Bruder geliebt hatte und dass er mich geliebt hatte. Ich habe Musil voriges Jahr gelesen, ich war sehr krank. Ich habe Musil gelesen, 2000 Seiten auf einmal; seither habe ich nichts lesen können. Schließlich habe ich dieses Scheitern – denn letztendlich findet Musil keinen Ausweg – positiv gedeutet, als den Erfolg schlechthin. So ist Agatha aus dieser einen Lektüre entstanden. Aber im Grunde hätte ich Agatha nicht geschrieben, hätte ich nicht die Geschichte mit meinem Bruder erlebt. Es ist die Verbindung beider Erfahrungen: der Lektüre und meiner Jugendjahre mit diesem Bruder« (»Q[uestion]: L’homme dans Agatha, c’est ›l’homme sans qualités‹ de Musil. M[arguerite] D[uras]: C’est très bien, vous êtes l’une des rares à l’avoir deviné. [. . .] À l’origine de ça, il y a ma vie, ma propre vie. J’ai perdu un frère – il avait 27 ans – en trois jours, en Indochine. Il y avait la guerre avec le Japon, il n’y avait pas de médicaments. J’étais en France, et quand j’ai appris la mort de ce frère, je voulais mourir. [. . .] Très souvent après, je me suis dit: ›Qu’est-ce qui s’est passé pour que cette mort ce soit si grave?‹ Et petit à petit, je suis arrivée [. . .] à comprendre que ce frère, je l’avais aimé et qu’il m’avait aimée. J’ai fait cette lecture de Musil, j’ai été très malade, l’année dernière. J’ai lu Musil, 2000 pages comme ça; je n’ai pu rien lire depuis. Finalement, cet échec, parce qu’à la fin il n’arrive pas à en sortir, le Musil, je l’ai pris positivement, comme la réussite même. C’est comme ça, à partir d’une lecture, que j’ai fait Agatha. Mais en fait, si je n’avais pas vécu l’histoire avec mon frère, je ne l’aurais pas écrit, Agatha. C’est la conjugaison de ces deux faits, de la lecture et de mon adolescence avec ce jeune frère [. . .]«, Pressekonferenz vom 8. 4. 1981, in: Marguerite Duras à Montréal. Hg. v. Suzanne Lamy u. André Roy. Montréal 1981, S. 15–28, hier S. 19 f.).

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fahrung. Es wird zum Inbegriff einer absoluten Liebe, die um so strahlender ist, als sie verboten und unmöglich ist. Paradoxerweise sieht Duras in dieser Unmöglichkeit ein tiefes Glücksversprechen.127 Ihre Lektüre des Mann ohne Eigenschaften regte sie dazu an, 1981 den Text Agatha zu verfassen und den Film Agatha und das grenzenlose Lesen zu drehen, wobei sie im Unterschied zu Musil der weiblichen Figur den Vorrang gab. Beide Werke spielen nämlich auf Agathe an, die Schwester Ulrichs, während der Mann ohne Eigenschaften in ihrem Text als Ulrich Heiner auftritt. Duras spielt auf ihre Musil-Lektüre auch wieder in Sommer 1980 an. In dieser Reihe von Artikeln, die sie für die Tageszeitung Libération verfasste, spricht sie von »[der] schmerzliche[n] Erfahrung eines einst gelesenen Buchs«, von »eine[r] schmerzhafte[n] Wunde, fast unerträglich«, von der »durch die Lektüre des Buchs verursachte[n] Brandwunde«.128 Ein paar Wochen später kommt sie auf diese Lektüre zurück: Die junge Frau, eine der Hauptfiguren dieser Zeitungschroniken, geht mit einem Kind mit grauen Augen am Strand spazieren und erzählt ihm »von einer schmerzlich nachwirkenden Lektüre, die sie nicht mehr loslasse«: »Es gehe darin um eine Liebe, sagte sie, die den Tod erwarte, ohne ihn hervorzurufen, um eine Liebe, die unendlich viel leidenschaftlicher sei, als wenn sie durch das Verlangen entstanden wäre.«129 Weitere Berührungspunkte mit Musil lassen sich in Duras’ Behandlung des Fliegenmotivs beobachten. Marguerite Duras hat sich für das Fliegenmo127 »Agatha ist ein so wichtiger, ein so wesentlicher Text für mich [. . .] Er befasst sich mit der inzestuösen Liebe, d. h. mit dem Wesentlichen. Agatha ist ein Film über das Glück« (»Agatha est un texte tellement important pour moi, tellement essentiel [. . .] On est dans l’amour incestueux, c’est-à-dire dans l’essentiel. C’est un film sur le bonheur, Agatha«, ebd., S. 18). In einem weiteren Interview fügt sie hinzu: »Agatha [. . .] verweist auf das Verbot, auf das Hauptverbot aller Zeiten, der zivilisierten Zeiten. Wenn sie weg will, so ist es, um die Distanz des Verbots zu bewahren oder zu symbolisieren oder richtiger gesagt zu materialisieren. [. . .] Es ist eine Art tragisches Spiel, wovon ich meine, es sei das Glück« (»Agatha [. . .] relève de l’inceste, elle relève de l’interdit majeur de tous les temps, des temps civilisés. Si elle veut partir, c’est pour garder ou symboliser ou matérialiser, ce serait le mot le plus juste, la distance de l’interdit. [. . .] C’est une sorte de jeu tragique dont je dis qu’il est le bonheur«, Pressekonferenz vom 11. 4. 1981, in: Marguerite Duras à Montréal [Anm. 126], S. 43–53, hier S. 51). Alexandra Saemmer hat diese tiefe Verwandtschaft zwischen Duras und Musil, und vor allem das Motiv des Inzests, der Zwillinge und der autarken Liebe eingehend untersucht (vgl. Alexandra Saemmer: Duras et Musil. Drôle de couple? drôle d’inceste? New York 2002). Vgl. auch Florence Godeau, die in Duras’ Werk »ein tiefes Verständnis für die dem Musil’schen Text innewohnenden Möglichkeiten« sieht (»une profonde intelligence des possibles du texte musilien«, Florence Godeau: Marguerite Duras, Robert Musil [Anm. 123], S. 67). 128 Marguerite Duras: Sommer 1980. Übers. v. Ilma Rakusa. Frankfurt a. M. 1984, S. 36–37 (»la lecture brûlante d’un texte passé [. . .] c’est une plaie douloureuse, encore, presque insupportable [. . .] De nouveau, le livre, cette brûlure de la lecture du livre«, Marguerite Duras: L’Été 80, in: dies.: Œuvres complètes. Bd. 3 [Anm. 123], S. 820–821). 129 Ebd., S. 73 (»Et la jeune femme a parlé à l’enfant [. . .] d’une lecture récente, encore brûlante, dont elle ne pouvait pas se défaire. Qu’il s’agissait, disait-elle, d’un amour qui attendait la mort sans la provoquer, infiniment plus violent que s’il l’eût fait à travers le désir«, Duras: L’Été 80 [Anm. 128], S. 837 f.).

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tiv schon 1976 interessiert und hat das Thema mehrmals aufgenommen. In Die Orte der Marguerite Duras (1977), einem Buch- und Filmprojekt, das sie in Zusammenarbeit mit Michelle Porte realisierte, erwähnt sie, wie sie den Tod einer Fliege beobachtete: Kürzlich ist mir etwas Merkwürdiges passiert. Ich war allein im Haus. Ich hatte gerade in der kleinen Küche, die dort hinten beim Zimmer des kleinen Mädchens liegt, Wäsche gewaschen; es herrschte eine große Stille, es war Anfang Herbst gegen Abend, und es kam eine dicke Fliege herein; lange surrte sie im Lampenschirm hin und her, und in einem bestimmten Augenblick war sie tot, sie fiel tot herab, und ich erinnere mich, die Uhrzeit ihres Todes notiert zu haben, es mußte 5 Uhr 55 gewesen sein. Ich war bereits im Kino, ich war in einem Film; es war vielleicht die Geschichte der Fliege oder meine, wie ich dem Summen der Fliege lauschte, ich weiß nicht, aber ich war irgendwoanders, während ich doch hier war. Es war schon irgendwoandershin transponiert. Ich glaube, andere sagen dafür: sublimiert.130

In Aurelia Steiner (Paris) (1979) spielt eine Katze namens Aranahancha mit einem toten Schmetterling und einer Fliege, die sie am Ende verschluckt.131 Der Name der Katze verweist auf die Spinne (Arachne) und ruft damit das Motiv des Kampfes zwischen der Spinne und der Fliege hervor, das unter anderem Victor Hugo im Glöckner von Notre Dame als Emblem des Fatums benutzte. Die Szene von Aurelia Steiner spielt während eines Fliegerangriffs im Zweiten Weltkrieg: Im Lampenschirm ein Knistern. Da ist eine Fliege. [. . .] Die Fliege hat nicht mehr die Kraft zu fliegen [. . .] Die Flugzeuge entfernen sich, und ihre Entfernung macht den Todeskampf der Fliege wahrnehmbarer. [. . .] Die Fliege versucht noch einmal, ihren Flug aufzunehmen. Erschöpftes Summen. Sie versucht. Sie setzt sich überall hin, jedesmal am Ende ihrer Kraft, in immer kürzeren Abständen. Die Katze, des Ausgangs sicher, wartet. [. . .] Die Fliege fliegt eine Sekunde lang und klatscht gegen eine Wand. [. . .] Die Fliege kehrt ein letztes Mal aus dem Koma zurück. Ihr Summen setzt wieder ein, hohler, lautstark, trunken. Das ist das Ende. Die Flügel schlagen leer, sie finden nicht mehr genug Widerstand in der Luft, um den Körper zu halten. Die Fliege lebt nur noch eine wirre, gebrochene Existenz. [. . .] Die Fliege fällt wie 130 Marguerite Duras, Michelle Porte: Die Orte der Marguerite Duras. Übers. v. Justus F. Wittkop. Frankfurt a. M. 1982, S. 38. (»Dernièrement, il m’est arrivé une chose bizarre. J’étais seule dans la maison. Je venais de laver du linge, dans la petite cuisine qui est au bout là-bas, vers la chambre de la petite fille, c’était très silencieux, c’était au début de l’automne, vers le soir, et il est arrivé une grosse mouche. Elle a tourbillonné longtemps dans l’abat-jour et à un moment donné elle est morte, elle est tombée, morte, et je me souviens avoir noté l’heure de sa mort, il devait être 5 heures 55. J’étais déjà dans le cinéma, j’étais dans un film; c’était peut-être l’histoire de la mouche ou mon histoire écoutant la mouche, je ne sais pas, mais j’étais quelque part ailleurs en étant là. C’était déjà transporté quelque part ailleurs voyez. On dit sublimé, je crois, les autres«, Marguerite Duras, Michelle Porte: Les Lieux de Marguerite Duras, in: dies.: Œuvres complètes. Bd. 3 [Anm. 123], S. 196). 131 In ihrer Studie über die frühen Manuskripte von Aurélia Steiner (Paris) hat Myriem El Maïzi die Bedeutung des Fliegentodes dargelegt. Vgl. Myriem El Maïzi: »On peut aussi ne pas écrire, oublier une mouche«: Genèse de Aurélia Steiner (Paris) de Marguerite Duras, in: Marguerite Duras 2: écriture, écritures. Hg. v. ders. u. Brian Stimpson. Paris 2007, S. 75–89, hier S. 75.

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ein Meteor [aérolithe] auf die Schreibunterlage zwischen dem Kind und der Katze. [. . .] Die Fliege windet sich in einem schwierigen Todeskampf. Sie kann nicht mehr fliegen. Die Katze hebt die Pfote. Und legt sie auf die Fliege. [. . .] Die Fliege macht unter der Pfote der Katze ein knisterndes Geräusch. [. . .] Die Katze zieht ihre Pfote von der Fliege zurück. Ein ausgerissener Flügel der Fliege liegt auf dem Schreibtisch. [. . .] Die Katze betrachtet den höllischen Reigen des verstümmelten Körpers der Fliege. [. . .] Die Katze entschließt sich, sie beugt den Kopf vor, und behutsam, ohne Gier, nimmt sie die Fliege in den Mund, [. . .] und mit einem Schnappen schluckt sie sie herunter.132

Am auffälligsten ist die Episode von Schreiben (1993), wo Marguerite Duras die »letzten Minuten des Lebens einer gewöhnlichen Fliege«133 sorgfältig protokolliert. Die Episode bezieht sich auf den Vorfall, den sie »schon einmal Michelle Porte erzählt habe, als sie einen Film über mich machte.«134 Sie wird in eine Motivkonstellation eingefügt, die mit Gewalt, Tod, Vergänglichkeit und dem Schreibakt zu tun hat. Duras’ Schreibweise kennzeichnet sich durch die Wiederaufnahme, Vertiefung und rhizomartige Auffächerung derselben Motive, die ihren Texten eine obsessive und fesselnde Aura verleihen. Ob Duras Das Fliegenpapier gelesen hat, ist ungewiss; ihre Behandlung des Fliegenmotivs tritt mit Musils Text jedenfalls in eine Beziehung der Resonanz.135 In Aurélia Steiner klingt das Bild des stürzenden Meteoriten wie ein fernes Echo von Musils »gestürzte[n] Aeroplanen«. Vor allem tauchen in 132 Marguerite Duras: Aurelia Steiner, in: dies.: Das Nachtschiff. Caesarea. Die negativen Hände. Aurelia Steiner. Übers. v. Andrea Spingler. Frankfurt a. M. 1992, S. 176–183. (»Dans l’abat-jour, un grésillement. Il y a une mouche [. . .]. La mouche n’a plus la force de voler. [. . .] Les avions s’éloignent et leur éloignement rend plus perceptible le bruit d’agonie de la mouche. [. . .] La mouche, encore une fois, essaie de prendre son vol. Bourdonnement éreinté. Elle essaie. Elle se pose partout, à bout de forces chaque fois, à des intervalles de plus en plus rapprochés. Le chat, sûr de l’issue, attend. [. . .] La mouche vole pendant une seconde et se plaque, fond contre un mur. [. . .] La mouche une dernière fois sort du coma. Son bourdonnement reprend plus creux, bruyant, ivrognesque. C’est la fin. Les élytres battent à vide, elles ne brassent plus un air suffisant pour soutenir le corps. La mouche ne vit plus qu’une existence confuse, brisée. [. . .] La mouche tombe comme un aérolite sur le buvard du bureau entre l’enfant et le chat. Le chat se dresse. La mouche se tord dans une agonie difficile. Elle ne peut plus voler. Le chat élève la patte. Il la pose sur la mouche. [. . .] La mouche fait sous la patte du chat un bruit de friture. [. . .] Le chat retire sa patte de dessus la mouche. Une aile détachée de la mouche est sur le bureau. [. . .] Le chat regarde la ronde infernale du corps mutilé de la mouche. [. . .] Le chat se décide, il penche la tête et avec délicatesse, sans goinfrerie, il prend la mouche dans sa bouche, [. . .] et dans un déclic, il l’avale.« Marguerite Duras: Aurélia Steiner, in: dies.: Œuvres complètes. Bd. 3 [Anm. 123], S. 519–521). 133 Duras: Schreiben (Anm. 7), S. 38 (»les dernières minutes d’une mouche ordinaire«, Duras: Écrire [Anm. 7], S. 858). Duras: Schreiben (Anm. 7) wird in der Folge mit der Sigle »D/S«, Duras: Écrire (Anm. 7) mit der Sigle »D/É« nachgewiesen. 134 D/S, S. 37–38 (»une histoire [qu’elle a] racontée une première fois à Michelle Porte qui avait fait un film sur [elle]«, D/É, S. 858). Merkwürdigerweise enthält diese neue Fassung Einzelheiten, die mit der ursprünglichen Erzählung nicht übereinstimmen, vor allem, was die Todeszeit der Fliege angeht. 135 Vielleicht kannte Duras den Nachlaß zu Lebzeiten oder vielleicht hatte sie den Kurztext 1975 in der ersten Nummer der Zeitschrift Traverses entdeckt, wo er neugedruckt wurde. Diese

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Schreiben Motive auf, die auch bei Musil vorhanden sind. Die Episode mit der Fliege findet in der »sogenannten dépense« statt, d. h. in »der Kammer des ›kleinen Hauses‹, das mit dem großen Haus [in Neauphle-le-Château] verbunden ist.«136 Duras beschließt, sich auf den Boden zu setzen, »um [die Fliege] nicht zu erschrecken«,137 und sich auf ihr Niveau zu begeben. Wie Musil beobachtet sie den Tod des unbedeutenden, ja unerwünschten Insekts mit großer Aufmerksamkeit: »Bis dahin hatte ich nie an die Fliegen gedacht, außer zweifellos, um sie zu verfluchen. Wie Sie. Ich bin wie Sie aufgezogen worden im Abscheu vor dieser Geißel der ganzen Welt, die Pest und Cholera mit sich brachte.«138 Gleichzeitig versucht sie, die Fliege der Menschenwelt näher zu bringen. Das Insekt wird anthropomorph mit einem Bewusstsein und einem Willen ausgestattet: »Was ich auch noch wußte – was ich sah, war, daß die Fliege schon wußte, daß dieses Eis, das durch sie hindurchging, der Tod war. Das war das Erschreckendste. Das Unterwarteste. Sie wußte es. Und sie akzeptierte es.«139 Duras’ Augenmerk richtet sich auch auf die durchlöcherte Temporalität des Todeskampfs und auf die Abwechslung von Widerstand und Apathie, von Überlebensdrang und Todeshingabe. Diese durchlöcherte Temporalität wird durch die Leerstellen im Text angedeutet. Die stilistische Knappheit und der rhapsodische Rhythmus legen nahe, dass sich Duras der Grenzen des eigenen Beschreibungsversuchs bewusst ist: »Das ist alles. / Ich werde über nichts sprechen. / Über nichts.«140 In der Tat kann Duras nichts über das Leben dieser Fliege berichten, sondern nur deren Tod, den Übergang vom Leben zum Tod darstellen. So wird die Fliege zu einer unheimlichen Figur, die als Emblem für die Sterblichkeit und Vergänglichkeit aller Lebewesen gleichzeitig nah und rätselhaft bleibt. Die Erzählerin versucht nachzuspüren, »aus welcher Nacht er [der Tod] käme, von der Erde oder vom Himmel, aus den nahen Wäldern oder aus einem noch

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Nummer war den »Orten und Gegenständen des Todes« (»Lieux et objets de la mort«) gewidmet (Robert Musil: Le Papier tue-mouches, in: Traverses. Revue publiée par le Centre de création industrielle 1 [1975], S. 89–90). D/S, S. 38 (»dans ce qu’on appelait la dépense, dans la ›petite‹ maison avec laquelle communique la grande maison«, D/É, S. 858). D/S, S. 38 (»Je me suis assise par terre pour ne pas l’effrayer. Je n’ai plus bougé«, D/É, S. 858). D/S, S. 38 (»Je n’avais jamais pensé aux mouches jusque-là, sauf sans doute pour les maudire. Comme vous. J’ai été élevée comme vous dans l’horreur de cette calamité du monde entier, celle qui amenait la peste et le choléra«, D/É, S. 858). D/S, S. 42 (»Ce que je savais encore – ce que je voyais, c’est que la mouche savait déjà que cette glace qui la traversait c’était la mort. C’était ça le plus effrayant. Le plus inattendu. Elle savait. Et elle acceptait«, D/É, S. 860). »[. . .] [S]ie sinken ein wenig ein und sind in diesem Augenblick ganz menschlich«, heißt es in Musils Text (GW II, S. 477). D/S, S. 45 (»Voilà, c’est tout. / Je vais parler de rien. / De rien.« D/É, S. 863). Über die ambivalente Ausstrahlungskraft dieser Knappheit als meisterhafte Verklärung und als Ausdruck des Mangels der Sprache vgl. Aline Mura-Brunel: Le pouvoir infini de l’infime, in: Duras, femme du siècle. Hg. v. Stella Harvey u. Kate Ince. Amsterdam 2001, S. 47–61.

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unbenennbaren, vielleicht sehr nahen Nichts, vielleicht von mir, die ich versuchte, die Wege der Fliege wiederzufinden, die dabei war, in die Ewigkeit einzugehen.«141 Doch wird bei Musil und Duras die Begegnung mit der Fliege verschiedenartig inszeniert und akzentuiert. Duras ist vom Dämon der Analogie weniger besessen als Musil. Ihre Beschreibung der Fliege beschränkt sich auf ein Minimum: Sie nennt ein paar akustische und visuelle Einzelheiten, welche wegen ihrer Kürze um so mehr auffallen. So beschreibt sie die Fliege als »[s]chwarz und blau.«142 Auch wird auf »das Geräusch der Flügel« angespielt.143 Besonders auffallend ist der Kontrast zwischen Musils Vermännlichung und Duras’ Verweiblichung der Fliege. In Das Fliegenpapier ist der heldenhafte Tod der Fliegen männlich konnotiert. Die seltenen weiblichen Vergleiche (»wie Frauen, die vergeblich ihre Hände aus den Fäusten eines Mannes winden wollen«) sind mit Augenblicken der Ohnmacht verbunden. Bei Duras hingegen ist die Fliege eine Herrscherin, die mit Bérénice, der Königin von Samaria, in Zusammenhang gebracht wird: »Diese Königin. Schwarz und blau.«144 Gleichzeitig verkörpert die Fliege all die Verfolgten und Vergessenen: kolonisierte Völker, Opfer sozialer Ungleichheiten, Unbekannte, Vereinsamte. Vor allem zieht Duras eine Parallele zwischen der Fliege und den anonymen Opfern der Naziverfolgung.145 Der Genozid setzt eine Enthumanisierung der Opfer voraus, die zu Ungeziefer oder Parasiten degradiert und rücksichtslos vernichtet werden. Als unerwünschte Insekten sterben die Fliegen in einer Umgebung der Gleichgültigkeit, ohne dass jemand Notiz nimmt oder Mitgefühl empfindet: »Man sieht einen Hund sterben, man sieht ein Pferd sterben, und man sagt etwas, zum Beispiel, armes Tier . . . Aber wenn eine Fliege stirbt, sagt man nichts, man notiert es nicht, nichts.«146 In dieser Hinsicht stimmen Duras’ Überlegungen mit den Bemerkungen Canettis überein, welcher in 141 D/S, S. 39 (»De quelle nuit elle venait, de la terre ou du ciel, des forêts proches, ou d’un néant encore innommable, très proche peut-être, de moi peut-être qui essayais de retrouver les trajets de la mouche en train de passer dans l’éternité«, D/É, S. 859). 142 D/S, S. 42 (»Noire et bleue«, D/É, S. 861). 143 D/S, S. 42 (»le bruit des élytres«, D/É, S. 861). Duras scheint das Wort »élytre« (»Deckflügel«) wegen dessen Klangfarbe gewählt zu haben, da die Fliegen keine solchen Flügel besitzen. 144 D/S, S. 42 (»Cette reine. Noire et bleue«, D/É, S. 861). Die Figur von Bérénice, als Emblem der grenzenlosen Liebe, kehrt in Duras’ Werk mehrmals wieder, vor allem in Césarée und Roma. 145 Zu Duras’ anhaltender Auseinandersetzung mit der Shoah und der Identifizierung mit dem Judentum vgl. Kaiko Miyazaki: Duras et le génocide juif, in: Les Lectures de Marguerite Duras. Hg. v. Alexandra Saemmer u. Stéphane Patrice. Lyon 2005, S. 123–135. Vgl. auch Carole Ksiazenicer-Matheron: Les Personnages juifs chez Marguerite Duras. Une écriture d’après Auschwitz, in: Le Personnage: miroitements du sujet (= Série Marguerite Duras 4). Hg. v. Florence de Chalonge. Caen 2010, S. 115–133. 146 D/S, S. 40 (»On voit mourir un chien, on voit mourir un cheval, et on dit quelque chose, par exemple, pauvre bête . . . Mais qu’une mouche meure, on ne dit rien, on ne consigne pas, rien«, D/É, S. 859).

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Masse und Macht einen Zusammenhang zwischen dem Wegjagen und Zertreten der Insekten und der blinden Gewalt des Völkermords herstellt: Etwas sehr Kleines, das kaum zählt, ein Insekt, wird zerquetscht, weil man sonst nicht wüßte, was damit geschehen ist. [. . .] [D]ieses Verhalten zu einer Fliege oder einem Floh [verrät] die Verachtung fürs völlig Wehrlose, das in einer ganz andern Größenund Machtordnung lebt als wir. [. . .] Die Zerstörung dieser winzigen Geschöpfe sind die einzigen Akte der Gewalt, die auch in uns ganz ungestraft bleiben.147

Später analysiert Canetti, wie der Machthaber »Menschen zu Tieren degradiert«, und er degradierte »alles bis zum Ungeziefer herab und vernichtete es schließlich in Millionen.«148 Duras’ Ansatz stellt sich dieser machtgierigen Vernichtungswut radikal entgegen. Statt ignoriert zu werden, wird der Tod der Fliege als Tod eines jeden, als der Tod überhaupt gewürdigt: »Der Tod einer Fliege, das ist der Tod.«149 Der Tod der Fliege regt Duras auch dazu an, über die grundsätzliche Ambivalenz und die ethischen Implikationen des Schreibakts zu reflektieren. Im Unterschied zu Musils ironischem Ansatz dramatisiert Duras die eigene Erzählposition.150 Was Duras interessiert und beunruhigt, ist die Zwiespältigkeit ihrer eigenen Stellung, die durch eine Mischung von Teilnahmslosigkeit und Einfühlungsvermögen gekennzeichnet ist. Das Schreiben hat einen innigen Bezug zum Tod, da es sich vom Leben ernährt, um dieses dann ästhetisch umzuwandeln.151 Duras ist sich des eigenen lebensverneinenden Voyeurismus bewusst. Wie im Musil’schen Text nimmt die Erzählerin die Stellung eines unbeteiligten Zuschauers ein, der mit Abstand den Todeskampf der Fliege betrachtet, ohne zu versuchen, das Insekt zu retten oder dessen Ende zu mildern: »Ich bin näher hingegangen, um ihr beim Sterben zuzusehen.«152 Selbst wenn Duras sich einzureden versucht, dass nichts getan werden konnte und dass, was sie getan hat, legitim war,153 berichtet sie, wie fasziniert sie diesem Todeskampf zuschaute und gesteht also ihr voyeuristisches Begehren ein: »Meine Anwesenheit machte diesen Tod noch furchtbarer. Ich wußte es, und 147 148 149 150

Canetti: Masse und Macht (Anm. 107), S. 239 f. Ebd., S. 430. D/S, S. 40 (»La mort d’une mouche, c’est la mort.« D/E, S. 859). Duras erzählt, wie Michelle Porte sehr lachte, und sogar »nicht mehr vor Lachen« konnte, als sie über diesen Vorgang hörte, der ihr offensichtlich skurril vorkam (D/S, S. 39 f.; »Elle a eu un fou rire«, D/É, S. 859). Für Duras hingegen war es eine sehr ernste Angelegenheit, die an tiefe Sorgen, Befürchtungen und Schuldgefühle rührte. 151 Zum Schreibakt als Vernichtung und Verklärung sowie zur Fliege als Metonymie des Schreibens vgl. Sylvie Loignon: Écritures de mouche: Marguerite Duras et Christian Oster, in: Écrire l’animal aujourd’hui. Hg. v. Lucile Desblache. Clermont Ferrand 2006, S. 237–246, hier S. 239. 152 D/S, S. 38 (»Je me suis approchée pour la regarder mourir«, D/É, S. 858). 153 »Diese Fliege war offensichtlich am Ende ihres Lebens.« D/S, S. 41 (»Cette mouche-là était manifestement au bout de sa vie«, D/É, S. 860). »Man schreibt, indem man einer Fliege beim Sterben zusieht. Man hat das Recht dazu.« D/S, S. 43 (»On écrit à regarder une mouche mourir. On a le droit de le faire«, D/É, S. 861).

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ich bin geblieben. Um zu sehen. Zu sehen, wie dieser Tod die Fliege allmählich überwältigte. Und auch um zu versuchen zu sehen, woher dieser Tod käme.«154 Aufgrund des Grauens dieses Voyeurismus spricht sie von »Entgleisung« (»dérapage«)155 und sehnt sich danach, den Ort zu verlassen. Die Begegnung mit der Fliege wird also zu einer Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen: »Ich weiß nichts mehr, außer daß ich von dort weggegangen bin. Ich habe zu mir gesagt: ›Du bist im Begriff, verrückt zu werden.‹ Und ich bin von dort weggegangen.«156 Wenn Schreiben ursprünglich aus einem voyeuristischen Impuls entsteht und eine Faszination für den Sterbeprozess ausdrückt, ist es allerdings auch imstande, poetisch ein unbedeutendes Tier in eine prächtige Königin zu verklären. Wenn Duras den Tod dieser gewöhnlichen Fliege mit dem »Geräusch von loderndem grünem Holz«157 vergleicht, wird eher ein Bild des Lebens als eine Todesszene hervorgerufen. Auch schaffen die Alliterationen auf »r« sowie das reiche Spektrum der Vokale und Diphthonge (»ce bruit de flambée de bois vert de la mort d’une mouche ordinaire«) ein Tonkontinuum, welches der Fliege eine poetische Aura verleiht. Diese dichterische Sublimierung weist auf das Verklärungspotential der Kunst hin.158 Die Episode mit der Fliege bringt auch die Funktion der Kunst als Hüterin der Erinnerung an den Tag. Schreiben heißt Zeugnis ablegen, das Gedenken wachhalten und den Verstorbenen ein symbolisches Grabmal errichten. Im Tod des jungen englischen Fliegers erzählt Duras, wie die Dorfbewohner von Vauville einen zwanzigjährigen englischen Flieger, der im Mai 1944 das Leben verloren hatte, aus dem Flugzeug gezogen, begraben, jahrelang sein Grab gepflegt und durch »ein freies Fest der Tränen und Lieder«159 getrauert haben. In ähnlicher Weise errichtet Duras in Schreiben der Fliege ein Denkmal und, durch die Fliege hindurch, allen jenen zu Ehren, die spurlos verschwunden sind.160 Vom »Leichentuch« der »weißen glatten Wände« um154 D/S, S. 39 (»Ma présence faisait cette mort plus atroce encore. Je le savais et je suis restée. Pour voir. Voir comment cette mort progressivement envahirait la mouche. Et aussi essayer de voir d’où surgissait cette mort«, D/É, S. 859). 155 Die Übersetzerin hat »Weggleiten« gewählt, was aber das Unheimliche und Beunruhigende des Beobachtungsvorgangs abdämpft (D/S, S. 40). 156 D/S, S. 39 (»Je ne sais plus rien sauf que je suis partie de là. Je me suis dit: ›Tu es en train de devenir folle.‹ Et je suis partie de là«, D/É, S. 859). 157 D/S, S. 43 (»ce bruit de flambée de bois vert de la mort d’une mouche ordinaire«, D/É, S. 861). 158 Interessanterweise spricht Duras nicht mehr von »Entgleisung«, sondern von »Verschiebung der Literatur« (D/S, S. 43), wobei das Wort »Verschiebung« auf das Umwandlungspotential der Kunst hinweist (»ce déplacement de la littérature«, D/É, S. 861). 159 Duras: Der Tod des jungen englischen Fliegers (Anm. 7), S. 69 (»une fête libre de pleurs et de chants d’amour«, Duras: La Mort du jeune aviateur anglais [Anm. 7], S. 877). 160 Es ist hier anzumerken, dass Duras ihr Buch dem Andenken von W. J. Cliffe, dem jungen englischen Flieger, widmet, »der mit zwanzig Jahren im Mai 1944 zu unbestimmter Stunde in Vauville gestorben ist« (D/S, S. 9; »Je dédie ce livre à la mémoire de W. J. Cliffe, mort à vingt ans, à Vauville, en mai 1944, à une heure restée indéterminée«, D/É, S. 842).

Unterwegs mit dem Fliegenpapier: Robert Musil in Frankreich

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geben, bekommt die Fliege ein »heimliches Begräbnis«.161 Als Inschrift legt der Text vom Erlebten Zeugnis ab und hält den Gedanken an die Fliege wach: »Jetzt ist es aufgeschrieben.«162 Duras’ Bemühung, »die genaue Angabe der Stunde, in der sie gestorben war,«163 mitzuteilen, trägt dazu bei, die Fliege von der Anonymität der spurlos Verschwundenen zu befreien, sie dem Vergessen zu entreißen und ihr »eine Bedeutung allgemeiner Art [. . .] [zu geben], einen bestimmten Platz auf der allgemeinen Karte des Lebens auf der Erde.«164 Der Text stellt Spuren her und verwandelt einen unauffälligen Tod in ein »öffentliches Ereignis«.165 Das Schreiben setzt sich als Lebensprinzip und Kraft des Gedenkens dem Vergessen und der Zerstörung entgegen. »Was gelebt worden ist zwischen der Fliege und mir«,166 bringt das innige Verhältnis zwischen Schreiben, Leben und Tod zutage. Nicht nur gibt die Fliege den Anstoß zu einer ethischen Meditation über die Rolle des Schriftstellers, sondern es entsteht auch ein ›spiegelbildliches‹ und fast geschwisterliches Verhältnis zwischen Duras und der Fliege. Diese wird nämlich zum paradoxen Alter Ego und zum Emblem des Schreibens selbst. Das Insekt ist, worauf der französische Ausdruck ›pattes de mouche‹ (Gekritzel, d. h. wörtlich ›wie Fliegenbeine aussehende Schrift‹) anspielt, auch eine Künstlerin und ein schaffendes Wesen: »[D]ie Fliege, sie schreibt an den Wänden, sie hat viel geschrieben im Licht des großen Zimmers, das sich im Teich bricht.«167 Sie hinterlässt unsichtbare Spuren, die darauf warten, »entziffert und übersetzt«168 zu werden. Jedoch bleibt dieses dichterische Gekritzel unleserlich und unzugänglich: »Und die Unermeßlichkeit eines unlesbaren Gedichts würde sich über den Himmel ausbreiten.«169 In der französischen Rezeption von Musils Werk spielt Das Fliegenpapier eine einzigartige Rolle. Als Kurzprosa, welche das Potential und die Aporien des Übersetzens mitreflektiert, ist Das Fliegenpapier auch einer der wenigen Texte Musils, der zweimal ins Französische übersetzt wurde. Auch lässt er sich mit Duras’ eigener Behandlung des Fliegenmotivs in Zusammenhang bringen. Der Fliegentod regt Musil und Duras zu anthropologischen, poetologischen und ethischen Überlegungen über das Potential, die Grenzen und die grundsätzliche Ambivalenz der Schreibakts an. Als lebensnegierende und 161 162 163 164 165 166 167 168 169

D/S, S. 41 (»Les murs blancs, lisses, son linceul«, »funérailles secrètes«, D/É, S. 860). D/S, S. 40 (»Maintenant c’est écrit«, D/É, S. 859). D/S, S. 41 (»L’heure exacte de la mort, consignée«, D/É, S. 860). D/S, S. 41 (»une importance d’ordre général, disons une place précise dans la carte générale de la vie sur la terre«, D/É, S. 860). D/S, S. 41 (»événement public«, D/É, S. 860). D/S, S. 40 (»ce qui a été vécu entre la mouche et moi«, D/É, S. 859). D/S, S. 44 (»la mouche, elle, elle écrit, sur les murs, elle a beaucoup écrit dans la lumière de la grande salle, réfractée par l’étang«, D/É, S. 862). D/S, S. 44 (»Un jour peut-être, [. . .], on lirait cette écriture, elle serait déchiffrée elle aussi, et traduite«, D/É, S. 862). D/S, S. 44 (»Et l’immensité d’un poème illisible se déploierait dans le ciel«, D/É, S. 862).

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voyeuristische Tätigkeit vermag die Kunst gleichzeitig ein unbedeutendes Insekt ästhetisch zu verklären und ihm eine allgemeine und paradigmatische Bedeutung zu verleihen. Diese Würdigung des Unauffälligen geht mit einer Anerkennung der eigenen Begrenzungen einher. Die anthropomorphen Erschließungsversuche stoßen auf ein Ungreifbares und Unübersetzbares, das zu einer Erprobung des Fremden wird. Durch das »unlesbare Gedicht« der Fliege wird Duras introspektiv auf sich selbst zurückgeführt, auf das »Unbekannte, das man in sich trägt«:170 »Schreiben heißt, außerhalb von sich selbst zu suchen, was bereits in einem ist.«171

170 D/S, S. 51 (»[Écrire, c]’est l’inconnu qu’on porte en soi«, D/É, S. 866). 171 »Écrire, c’est aller chercher hors de soi ce qui est déjà au-dedans de soi« (Duras: Œuvres complètes. Bd. 3 [Anm. 123], S. 1677). Ich danke Rosmarie Zeller und Thomas Hübel für die sorgfältige Durchsicht des Aufsatzes.

Marina Foschi Albert, Serena Grazzini

Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Übersetzung Editionsgeschichtlicher Überblick und paradigmatische Untersuchung des Textstils anhand des Kapitels »Agathe ist wirklich da« (MoE II/24)*

Abstract: This article deals with Der Mann ohne Eigenschaften translated into Italian. Starting at the end of the 1950s with Musil-reception in Italy, the first section of the article presents a historical excursus on the Italian editions of the novel, and highlights how they differ from one another, with a particular focus on how Italy contributed to international philological research on Musil’s masterpiece. The second part of the article offers a paradigmatic analysis of Musil’s style, comparing the original text with the two best-known Italian editions of the novel. The analyses demonstrate how his unique combination of typical traits of scientific and literary style can be translated successfully into Italian. Other features of his style, closely related to the German linguistic system, have no equivalents in Italian, for which an example is given in this article through the analysis of the linguistic configuration of the ›other state‹.

1. Der Mann ohne Eigenschaften in Italien In seiner Einleitung zum zweiten Band der Mondadori-Ausgabe des Romans L’uomo senza qualità (1992–1998) referierte Adolf Frisé einen auf das Jahr 1981 datierten Briefwechsel mit Enrico De Angelis. De Angelis, der Musils Tagebücher im Jahr zuvor für den Turiner Verlag Einaudi ins Italienische übersetzt hatte1 und schon damals zu den wichtigsten Musil-Forschern gehörte,2 habe ihm – so Frisé – die Frage gestellt, ob Musil eher als »italienischer« denn *

1 2

Der vorliegende Beitrag wurde von beiden Autorinnen gemeinsam konzipiert und in seinen einzelnen Teilen im Detail besprochen. Serena Grazzini hat Teil 1, Marina Foschi Teil 2 verfasst. Die Autorinnen danken Thomas Hübel, Hardarik Blühdorn und Rosmarie Zeller für wertvolle Hinweise. Robert Musil: Diari 1899–1941. Hg. v. Adolf Frisé. Übers. u. eingeleitet v. Enrico De Angelis. 2 Bde. Torino 1980. Man denke z. B. an die Studie, die stark zur italienischen Debatte um die deutsche Moderne (und um Musil) beitrug: Enrico De Angelis: Arte e ideologia grande borghese. Mann, Musil, Kafka, Brecht. Torino 1971. In dieser Ausgabe versammelte der Autor Aufsätze, die Ende der 1960er Jahre in der wichtigen Zeitschrift Belfagor erschienen waren.

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als deutscher Autor zu betrachten wäre.3 Die Frage, in provokativer Form gestellt, war durchaus ernst gemeint und bezog sich auf die unterschiedlich starke Präsenz des Namens Musil in der damaligen philosophischen, literarischen und vor allem öffentlichen kulturellen Debatte in Italien und in Deutschland. Frisé ließ sich von der Provokation nicht irritieren, im Gegenteil: In seinem Antwortbrief hob er die Unterschiede der Ehrungen, die Musil in Italien und in Deutschland anlässlich seines hundertsten Geburtstags zuteil geworden waren, mit folgenden Worten hervor: In den wichtigsten italienischen Zeitungen, egal welcher Tendenz, Dossiers bis zu vier Seiten, zahlreiche Fotos und wichtige literaturkritische Beiträge; bei uns hingegen die Frage, die von für maßgeblich gehaltener Seite an einige berühmte Schriftsteller gestellt wurde: Was kann uns Musil heute noch sagen? Ist sein wichtigstes Werk, Der Mann ohne Eigenschaften, heute noch ohne Kürzungen »konsumierbar« oder wäre es eher ratsam, bei ihm ein Auswahlprinzip anzuwenden?4

De Angelis bestätigte diese Erwägungen: »Was die italienischen Zeitungen und Zeitschriften in den letzten Monaten zu Musil veröffentlicht haben«, schrieb er in einem zweiten Brief an Frisé, »würde ein Buch hergeben, sogar ein ziemlich umfangreiches.«5 Wäre es gestattet, komplexe Sachverhalte auf ein Schlagwort zu reduzieren, so könnte man behaupten, dass das damalige Italien die Aktualität von Musil nicht als Thema besprach, sondern sie unmittelbar erlebte.6 Das Jubiläumsjahr stellte den Höhepunkt der damaligen italienischen Musil-Rezeption und zugleich den Ansatzpunkt für künftige Forschungsarbeiten dar. Musils Werk hätte auch für eine Rezeption von konservativer Seite einige Anknüpfungsmöglichkeiten geboten, doch war es vor allem und zuerst die linke intellektuelle Szene, die sich in den 1960er und 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit Musils Literatur und Gedankenwelt auseinandersetzte und sich diese auch aneignete.7 Diese erste Rezeption war 3

4 5 6 7

Vgl. Adolf Frisé: Presentazione, in: Robert Musil: L’uomo senza qualità. Volume secondo e Scritti inediti. Milano 1998 (= I Meridiani), S. XI–XVII, hier S. XI (unsere Übersetzung). Der erste Band erschien 1992: Robert Musil: L’uomo senza qualità. Volume primo. Hg. v. Adolf Frisé. Übers. u. kommentiert v. Ada Vigliani. Vorwort v. Giorgio Cusatelli. Milano 1992 (= I Meridiani). Adolf Frisé: Presentazione (Anm. 3), S. XI (unsere Übersetzung). Ebd. (unsere Übersetzung). Auf diese Aktualität bezog sich explizit der Titel einer wichtigen internationalen Tagung in Rom im Jahr 1980. Vgl. den Tagungsband: Musil, nostro contemporaneo (Roma 26–28 novembre 1980). Hg. v. Paolo Chiarini. Roma 1986. Für einen Überblick über Musils Präsenz in der kulturellen Debatte in Italien ab den 1960er Jahren vgl. Enrico De Angelis: Musil nella cultura italiana, in: Robert Musil. Incontri italoaustriaci. Nel primo centenario della nascita. Hg. v. Istituto italiano di cultura. Innsbruck, Vienna 1980, S. 21–30; Donatella Mazza: La fortuna critica dell’Uomo senza qualità, in: Robert Musil: L’uomo senza qualità. Volume primo (Anm. 3), S. XXIX–XLIV ; Fabrizio Cambi: Aloisio Rendi e la ricezione italiana di Musil negli anni Sessanta, in: Aloisio Rendi: Robert Musil. Hg. v. Fabrizio Cambi. Eingeleitet v. Luciano Zagari. Trento 1999, S. XI–XVI .

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zweifelsohne stark politisiert, dennoch regte sie ein allgemeines Interesse an Musils Werk an, das bald über die engere politische Ebene hinausging. In diesen Jahren, die durch eine kritische Selbstreflexion des Bürgertums und seiner Kultur geprägt waren, wurde Musil überwiegend als Vertreter der großbürgerlichen Kultur und als Autor ihrer Krisis und der Krisis überhaupt gelesen. Demgemäß galten viele der damaligen Erörterungen dem Thema der Unmöglichkeit, den Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen der Welt der Formen und den Formen der Welt, zwischen der Suche nach neuen Ordnungen und dem Bewusstsein ihrer Unzulänglichkeit, zwischen dem Vertrauen in die Macht der Sprache und der Erfahrung ihrer Grenzen, zwischen der Suche nach Totalität und dem Bewusstsein ihrer Unerreichbarkeit in einer Synthese aufzuheben. Hervorgehoben wurde dabei das negative Denken Musils, was allerdings in manchen Fällen zu einseitigen Lektüren des Romans Der Mann ohne Eigenschaften führte. Die Aufmerksamkeit galt zunächst einmal vor allem Musils Beitrag zu wesentlichen kulturkritischen und philosophischen Fragestellungen. Dieses ausgeprägte Interesse für das Denken des österreichischen Autors regte wichtige Initiativen an, wie z. B. Mazzino Montinaris Übersetzung der Dissertation über Ernst Mach für den Adelphi-Verlag im Jahr 1973 – übrigens die erste Übersetzung dieses Texts in eine andere Sprache –,8 führte aber andererseits zu einer gewissen Vernachlässigung des ästhetischen Projekts Musils, das – wie schon am Anfang der 1980er Jahre in Bezug auf die erwähnten Forschungstendenzen kritisch hervorgehoben wurde – Gefahr lief, auf die Kritik an einer »alles beherrschenden Vernunft«9 reduziert zu werden. Dieses ästhetische Projekt wurde in Italien vor allem ab den 1980er Jahren vertieft untersucht, als die Forschung ihr Augenmerk auf den Künstler Musil zu lenken begann, ohne dabei den Denker zu vergessen.10 Zu diesem interpretatorischen Paradigmenwechsel trug zweifelsohne auch die oben schon erwähnte italienische Übersetzung der Tagebücher bei, die das italienische Lesepublikum mit Musils ästhetischen Überlegungen und ihrer ethischen und philosophischen Tragweite vertraut machte. Musils Nachlass wurde bekanntlich von 1947 bis 1972 in Rom aufbewahrt. Dank diesem besonderen Umstand wurde die italienische Hauptstadt – so Walter Zettl – »zum eigentlichen Ausgangspunkt der internationalen MusilForschung«,11 was auch dazu führte, dass »die Musil-Rezeption in Italien im Vergleich zu anderen Ländern verhältnismäßig früh und intensiver«12 8 9 10 11 12

Robert Musil: Sulle teorie di Mach. Übers. v. Mazzino Montinari. Milano 1973 (= Piccola Biblioteca Adelphi, Bd. 3). Vgl. Enrico De Angelis: Musil nella cultura italiana (Anm. 7), S. 29. Vgl. u. a. Aldo Venturelli: Progetto Musil. Roma 1980; Enrico De Angelis: Robert Musil. Biografia e profilo critico. Torino 1982. Walter Zettl: Die Aktualität Musils in Italien, in: Musil, nostro contemporaneo (Anm. 6), S. XIII–XV, hier S. XIV . Ebd.

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einsetzte. Zeugnis dieser frühen Rezeption war die wichtige Entscheidung des Einaudi-Verlags, Musil auf Italienisch zu publizieren und dabei als erstes Werk den Mann ohne Eigenschaften zu veröffentlichen. Diese Übersetzung gab den entscheidenden Impuls für die intensive italienische Auseinandersetzung mit Musil, an der sich von Anfang an bedeutende Namen wie u. a. Alberto Asor Rosa, Ladislao Mittner, Claudio Magris, Cesare Cases, Paolo Chiarini, Massimo Cacciari, Enrico De Angelis und Aldo Gargani beteiligten. Obwohl Die Schwärmer in der Übersetzung von Lila Jahn in der Zeitschrift Sipario schon 1956 erschienen waren,13 setzte der eigentliche Aneignungsprozess von Musils Werk in Italien erst mit der Einaudi-Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften ein. Es handelte sich um einen Prozess, der lange andauerte und von einer Bedeutung war, die bald die nationalen Grenzen überschritt.

1.1 Die italienischen Ausgaben des Romans Mit der Übersetzung des Romans wurde in den 1950er Jahren Anita Rho beauftragt, die in den 1930er und 1940er Jahren Autoren wie Franz Kafka, Stefan Zweig und Hans Carossa für die Verlage Frassinelli (Turin), Sperling & Kupfer (Mailand) und Mondadori (Mailand) ins Italienische übertragen hatte. Rhos Zusammenarbeit mit Einaudi begann mit der Übersetzung von Anna Seghers’ Die Rettung (I sette della miniera, 1950), auf die bald Thomas Manns Werke Buddenbrooks. Verfall einer Familie (I Buddenbrook. Decadenza di una famiglia, 1952) und Der Tod in Venedig (La morte a Venezia, 1954) folgten. L’uomo senza qualità – so lautete der von Rho gewählte und auch von späteren Übersetzerinnen übernommene italienische Titel von Musils Roman –14 erschien zuerst in zwei Bänden (1957–58), die den zu Musils Lebzeiten veröffentlichten Romanteilen entsprachen und einen Gesamtumfang von ca. 1200 Seiten hatten. Da die Übersetzung des Werkes den italienischen Forschungsarbeiten zu Musil in gewisser Weise vorausging, war diese erste EinaudiAusgabe verständlicherweise noch mit keiner wissenschaftlich fundierten Einleitung versehen. Die erste italienische Monographie zu Musil ließ aber nicht 13

14

Robert Musil: I fanatici. Dramma in tre atti, in: Sipario (1956), H. 123/124, S. 17–38. Das Theaterstück wurde später auch von Anita Rho übersetzt, vgl. Robert Musil: Racconti e Teatro. Torino 1964, S. 301–405. Eine neue Übersetzung der Schwärmer lieferte Massimo Salgaro, der auch Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer übersetzte und das Vorspiel zu dem Melodrama »Der Tierkreis« überhaupt zum ersten Mal ins Italienische übertrug. Es handelt sich um die erste italienische Übersetzung eines Theaterstücks von Musil, das auf der Textvorlage der Klagenfurter Ausgabe beruht. Robert Musil: Teatro. Hg. v. Massimo Salgaro. Imola 2021. Die italienische Übersetzung des Titels ist an sich sehr glücklich. Wegen der Polysemie des italienischen Begriffs ist sie dennoch häufig Ursache von Missverständnissen, wenn Menschen, die weder die deutsche Sprache beherrschen noch sich bei Musil auskennen, ›qualità‹ nicht selten als ›Qualität‹ und nicht als ›Eigenschaft‹ verstehen. Der Titel wird im öffentlichen Diskurs auch oft ohne Kenntnis des Romans auf eine Weise zitiert, die dieses Missverständnis fördert.

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lange auf sich warten: Aloisio Rendis erstmals 1961 erschienene und zwei Jahre später in größerer Auflage gedruckte Studie bot die erste umfassende auf Italienisch verfasste Einführung in Musils Leben und literarisches Schaffen; zudem stellte sie die erste ausführliche italienische Auseinandersetzung mit dem Mann ohne Eigenschaften dar, dem sie, im Einklang mit der damals sehr verbreiteten und auch von Rendi vertretenen Auffassung von Musil als Autor unius libri, zu drei Vierteln gewidmet war.15 1962, also ein Jahr nach dem ersten Erscheinen von Rendis Studie, wurde der dritte und letzte Band der Einaudi-Ausgabe mit der Übersetzung von Nachlassmaterialien veröffentlicht. Dazu später mehr.16 Jeder Forscher, der sich mit dem Mann ohne Eigenschaften und der Gesamtheit der Materialien, die das Romanfragment ausmachen, ernsthaft auseinandersetzt, kennt das Gefühl, sich in einem Labyrinth von Stoffen und ästhetischen Konzepten zu bewegen. Dieses Gefühl verstärkt sich, wenn man dabei auch noch die Geschichte der italienischen Übersetzungen des Romans in den Blick nimmt. Wie Bernhard Metz richtigerweise bemerkt: »Die größte Anzahl von Mehrfachübersetzungen und ›editorischen Parallelaktionen‹ [. . .] liegt auf Italienisch vor, wo nicht weniger als vier Übersetzungen des Mann ohne Eigenschaften in fünf unterschiedlichen Editionen [. . .] erschienen sind.«17 In der Tat: Ein Leser, der Musils Meisterwerk auf Italienisch lesen möchte und die komplexe editorische Geschichte des Romans und seiner italienischen Übersetzungen nicht von vornherein kennt, steht erst einmal vor der Qual der Wahl: Worum es bei der zu treffenden Entscheidung geht, ist nicht nur, einer Übersetzung eine andere, einem Verlag einen anderen, einer Ausgabe eine andere desselben Verlags vorzuziehen; vielmehr geht es um die Entscheidung, welcher Roman überhaupt zu lesen ist. Je nach Verlag und, im Falle von Einaudi, je nach Ausgabe und Buchreihe beim selben Verlag, liest man nämlich hinsichtlich der Anordnung der Nachlassmaterialien eine andere Romanfassung. Die erste ›vollständige‹ Einaudi-Ausgabe des L’uomo senza qualità (1957– 1962), deren dritter Band von Cesare Cases auf sehr ausführliche und einleuchtende Weise eingeleitet wurde und die 1965 noch einmal als einbändige 15

16 17

Aloisio Rendi: L’uomo senza qualità e i suoi motivi fondamentali d’ispirazione. Roma 1961. Als Privatdruck und in geringer Auflage erschienen, war die Studie innerhalb sehr kurzer Zeit vergriffen. Auf vielfache Anregung hin veröffentlichte Rendi eine zweite, leicht überarbeitete Version, die unter dem Titel Robert Musil beim Mailänder Verlag Edizioni di Comunità 1963 erschien. Im Jahr 1999, als die Debatte um Musil dank einer weiteren Einaudi-Ausgabe und der Mondadori-Ausgabe neuen Elan gewann, gab Fabrizio Cambi Rendis Text noch einmal heraus: Aloisio Rendi: Robert Musil. Hg. v. Fabrizio Cambi. Eingeleitet v. Luciano Zagari. Trento 1999. Robert Musil: L’uomo senza qualità. 3 Bde. Übers. v. Anita Rho. Torino 1957, 1958 u. 1962. Der dritte Band enthält eine von Cesare Cases verfasste Einleitung. Bernhard Metz: Übersetzungen, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 810–825.

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Ausgabe in der Reihe I millenni erschien, bot auf internationaler Ebene eine neue Variante des Romans. Wegen der heftigen Diskussionen, die sich um die erste Frisé-Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften entzündet hatten, war nämlich vom Einaudi-Verlag die Entscheidung getroffen worden, sich für die Textvorlage des dritten Nachlassbandes nicht an Frisé zu orientieren. Für die Zusammenstellung der zu übersetzenden Nachlassmaterialien wendete sich Einaudi an Eithne Wilkins und Ernst Kaiser, die für diese Ausgabe auch ausführliche editorische Kommentare schrieben. In seinen Einleitungen von 1962 bzw. 1965 legte Cases Rechenschaft über diese Entscheidung des italienischen Verlags ab, erklärte die problematischen Aspekte der Frisé-Ausgabe und die wichtigen Auswirkungen, die die verschiedenen editorischen Kriterien des Nachlassbandes auf die Gesamtinterpretation des Romans hatten. Wohl wissend, dass auch Wilkins und Kaiser diese Einaudi-Ausgabe als z. T. noch vorläufig betrachteten, und wohl wissend um die Kritik, die die beiden Forscher in der Zwischenzeit auf sich gezogen hatten, verteidigte sie Cases auch in der neuen Einleitung zur Ausgabe des Romans, die 1972 in der Einaudi-Reihe Gli Struzzi erschien und, für das breite Publikum gedacht, sich in der Textfassung von derjenigen der ersten und der Millenni-Ausgabe auf erhebliche Weise unterschied.18 Sich auf die erste Einaudi-Ausgabe beziehend, behauptete Cases: »Was die unveröffentlichten Teile des Romans angeht, ist diese italienische Ausgabe bis heute und solange keine kritische Ausgabe vorliegt, die einzige zuverlässige.«19 Auch wenn sich im Laufe der Zeit die Kriterien von Wilkins und Kaiser als nicht weniger problematisch erwiesen als diejenigen, an denen sich Frisé orientiert hatte, steht der historische Wert der ersten Einaudi-Ausgabe außer Frage: Mit ihr, wenngleich sie nur auf Italienisch erschienen war, leistete Italien schon in den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts einen ersten wichtigen Beitrag zur Geschichte der Musil-Philologie.20 Hervorzuheben ist auch die Tatsache, dass diese Einaudi-Ausgabe bis in die 1990er Jahren die einzige verfügbare Übersetzung des Romans blieb. Die neue Frisé-Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften (1978) wurde zwar bald auch in Italien rezipiert 18 19

20

Für die Struzzi-Ausgabe wurden die zu Musils Lebzeiten erschienenen Teile, die Druckfahnenkapitel 39–52 und, um eine Vorstellung von der komplexen Genese des Romans zu vermitteln, der Text »Die Reise ins Paradies« (»Viaggio in paradiso«) gewählt. Cesare Cases: Nota introduttiva, in: Robert Musil: L’uomo senza qualità. Übers. v. Anita Rho. Bd. 1. Torino 1972 (= Gli struzzi, Bd. 26), S. XI–XXXIV, hier S. XXIII (unsere Übersetzung). Diese Einleitung ist nur zum Teil mit derjenigen identisch, die Cases für die Millenni-Ausgabe schrieb. Vgl. Cesare Cases: Introduzione, in: Robert Musil: L’uomo senza qualità. Übers. v. Anita Rho. Torino 1965 (= I Millenni) S. VII–XXIX . Dieser ›italienische‹ Beitrag zur Textphilologie sollte kein Einzelfall bleiben. Es sei hier an folgende wichtige Arbeiten von De Angelis und seiner Pisaner Schülerin Simona Vanni erinnert: Enrico De Angelis: Der Nachlaßband von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Pisa 2004 (= Jacques e i suoi Quaderni, Bd. 42); Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Urfassung (1922). Aus dem Nachlaß hg. v. Simona Vanni. Buch- und CD-ROM-Ausgabe. Pisa 2004 (= Jacques e i suoi Quaderni, Bd. 43); ders.: Paraphrasen. Aus dem Nachlaß hg. v. Enrico

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und zum Bezugspunkt der italienischen Musil-Forschung; sie regte jedoch keine unmittelbaren neuen verlegerischen Initiativen an. Eine Ausnahme bildete in dieser Hinsicht die Anthologie ausgewählter Nachlassmaterialien, die Claudia Sonino im Jahr 1983 (also 21 Jahren nach dem Erscheinen des dritten Einaudi-Bandes) beim Mailänder Verlag il Saggiatore herausgab.21 Die Texte, von Sonino selbst ins Italienische übertragen, wurden aus dem fünften Band der neuen Frisé-Ausgabe übernommen. Mit ihrer Anthologie setzte sich Sonino nicht in ein direktes Konkurrenzverhältnis zur Ausgabe von Wilkins und Kaiser, zumindest nicht explizit. Was sie mit der Ausgabe dieser Pagine inedite hauptsächlich beabsichtigte, war vielmehr, den italienischen Lesern einen Einblick in die Vorstufen, die den von Musil selbst veröffentlichten Kapiteln vorausgingen, besonders in die Genese der Romanfiguren zu verschaffen. Im Mittelpunkt von Soninos Interesse lag es, grundsätzlich die Erkenntnis von Musils Arbeitsmethode zu fördern, die sie auch in ihrer Einleitung zum Band fokussierte. Auf diese Weise konnte die Anthologie auch als eine Ergänzung der schon vorliegenden Einaudi-Ausgabe verstanden werden. Nicht von ungefähr wurden in Soninos Einführung Cases’ kluge Bemerkungen zu Musils Arbeitsmethode ausführlich zitiert: Die Anthologie lieferte sozusagen weiteres Belegmaterial für diese Methode und für die Entstehungsgeschichte des Romans. Zugleich ließ sie jedoch indirekt den Bedarf an einer neuen italienischen Ausgabe der Nachlassmaterialien ahnen. Die eigentliche Zäsur in der Geschichte des Mann ohne Eigenschaften auf Italienisch stellten die 1990er Jahre dar, als sich sowohl Einaudi als auch Mondadori für die Veröffentlichung einer auf der revidierten Edition von Frisé basierenden Romanfassung entschieden. 1992 wurde der erste Band der schon erwähnten Mondadori-Ausgabe (in der Reihe I Meridiani) publiziert, der zweite Band folgte sechs Jahre später.22 Übersetzung, Anmerkungen und Bibliographie stammten von Ada Vigliani, die Paratexte von Giorgio Cusatelli, Donatella Mazza und Adolf Frisé.23 1996, also zwei Jahre vor der Veröffentlichung des zweiten Mondadori-Bandes, erschien die neue Einaudi-

21 22 23

de Angelis. Mit einem Beitrag von Vojen Drlík. Pisa 2005 (= Jacques e i suoi Quaderni, Bd. 44); ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. Band II, Teil 2. Aus dem Nachlaß hg. v. Enrico De Angelis. Pisa 2006 (= Jacques e i suoi Quaderni, Bd. 47). Paraphrasen wurden von De Angelis auch ins Italienische übersetzt und vom BUR Rizzoli-Verlag veröffentlicht: Robert Musil: Parafrasi. Hg. v. Enrico De Angelis, Milano 2013 (= Classici Moderni). Robert Musil: L’uomo senza qualità: pagine inedite. Hg. v. Claudia Sonino. Milano 1983 (= Biblioteca delle Silerchie, Bd. 22). Vgl. Anm. 3. 2003 wurde Viglianis Übersetzung des Romans auch als Taschenbuch in der Mondadori-Reihe Oscar Classici Moderni veröffentlicht. Bei dieser Gelegenheit wurden einzelne Stellen der Übersetzung revidiert. Der Text Ins tausendjährige Reich von Ingeborg Bachmann diente als Nachwort (italienische Übersetzung von Elena Sciarra). Vgl. Robert Musil: L’uomo senza qualità. Hg. v. Ada Vigliani mit einem Text von Ingeborg Bachmann. Milano 2013 (= Oscar Classici Moderni, Bd. 241).

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Ausgabe des L’uomo senza qualità, eingeleitet von Bianca Cetti Marinoni.24 Für diese neue Ausgabe wurde Rhos Übersetzung wieder verwendet; die insgesamt 130 Seiten umfassenden neu hinzugefügten Teile (ganze Kapitel und einzelne Passagen innerhalb der in der ersten Ausgabe schon publizierten Nachlassteile) wurden von Gabriella Benedetti und Laura Castoldi übersetzt, welche sich trotz der zeitlichen Distanz zu Rho erfolgreich um einen insgesamt sehr homogenen Stil bemühten. Da der erste Mondadori-Band lediglich den zu Musils Lebzeiten veröffentlichten ersten und zweiten Romanteil enthielt, war auch in den 1990er Jahren wieder Einaudi der erste Verlag, der die Übersetzung einer Romanfassung samt Nachlassmaterialien auf dem italienischen Buchmarkt anbot. Andererseits war die Mondadori-Ausgabe reicher sowohl an Textmaterial als auch an einführenden Paratexten: Der Anmerkungsteil bot wichtiges Material für die historische und textuelle Analyse des Romans. Mit diesen wichtigen Ausgaben ist die Geschichte der italienischen Übersetzungen von Musils Meisterwerk noch nicht zu Ende. Im 21. Jahrhundert wurde der Roman neu übersetzt. 2013 erschien beim Taschenbuchverlag Newton Compton Editori (Rom) eine neue Ausgabe des Romans, übersetzt von Irene Castiglia, eingeleitet von Micaela Latini. Sowohl auf dem Buchumschlag als auch auf dem Titelblatt wird diese Ausgabe als »Versione integrale dell’edizione curata dall’autore« angekündigt. Auch wenn Latini in ihrer Einleitung die editorische Geschichte des Romans umreißt und genau erklärt, dass sich die Ausgabe lediglich auf die zu Musils Lebzeiten gedruckten Teile bezieht und dass die hier nicht eingeschlossenen Nachlassmaterialien als Teile des Romans zu betrachten sind, ist die Ankündigung auf dem Buchumschlag irreführend, wenn auch markstrategisch glücklich: Für den nicht sachkundigen Leser wirken nämlich der Begriff der ›versione integrale‹ und die Bezugnahme auf den Autor als eine Garantie, die nur der Musil-Spezialist als die diminutio erkennt, die sie in der Tat ist. Die verlegerische Operation ist vermutlich auf jene finanziellen Gründe zurückzuführen, die Bernhard Metz mit klaren Worten und mit explizitem Bezug auch auf diese italienische Ausgabe erklärt hat: Seit dem Vorliegen der zweiten Frisé-Ausgabe 1978 wird nahezu immer nach dieser übersetzt; die leichte Verfügbarkeit des kompletten Nachlassmaterials nach 1992 hat auf neu publizierte Übersetzungen keinen Einfluss gehabt, eher urheberrechtliche Erwägungen. So kommt es seit 2013 zu Übersetzungen des MoE, die auf zu Musils Lebzeiten publizierten Texten basieren und damit die Auswahl und Anordnung des (weiterhin urheberrechtlich geschützten) Nachlassmaterials umgehen, wie etwa die 24

Robert Musil: L’uomo senza qualità. Nuova edizione italiana. Hg. v. Adolf Frisé. Eingeleitet v. Bianca Cetti Marinoni. Übers. v. Anita Rho. Torino 1996 (= Nuova Universale Einaudi, Bd. 221). 1997 und 1998 erschien der Text als zweibändige Ausgabe im Taschenbuchformat in der Reihe ET Scrittori. Auf dem Titelblatt dieser Ausgabe wurden auch die Namen der Übersetzerinnen Benedetti und Castoldi angegeben.

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italienische Übersetzung des MoE nach der ›Originalausgabe‹ von Irene Castiglia (2013), die auch als E-Book vorliegt und speziell für Italien einen gewaltigen editorischen Rückschritt darstellt.25

Betrachtet man die hier umrissene Geschichte der italienischen Ausgaben des Mann ohne Eigenschaften, dann fällt es nicht schwer, Metz’ strengem Urteil zuzustimmen. Ist die Newton Compton-Ausgabe immerhin mit einer Einleitung versehen, die die neuen italienischen Musil-Leser über die komplexe Genese des Romans informiert und eindeutig erklärt, dass die Nachlassmaterialien genauso zum Roman gehören, wie die von Musil veröffentlichten Teile, so muss man davon ausgehen, dass dies in Zukunft nicht immer der Fall sein wird. Eine unlängst erschienene E-Book-Ausgabe (Übersetzung von Giorgio Arosi) bietet lediglich die zu Musils Lebzeiten gedruckten Teile, ohne dass weitere Informationen zu dieser editorischen Auswahl und zur Entstehungsgeschichte des Romans gegeben werden.26 Dass der Ablauf der Urheberrechte zu einer Zunahme solcher editorischer Initiativen führen wird, die leichtfertig jahrzehntelange philologische Mühe hinter sich lassen, ist wohl abzusehen. Mit den eingangs erwähnten Worten von Frisé wäre man versucht zu behaupten, dass die in diesem Jahrhundert verfassten italienischen Übersetzungen des Mann ohne Eigenschaften ein Auswahlprinzip an den Tag legen, das den Roman vielleicht nicht unbedingt »konsumierbar« macht, jedoch editorischen Kriterien gehorcht. Auch im Hinblick auf das studentische Lesepublikum ist es in dieser Hinsicht besonders zu begrüßen, dass die komplette Textfassung sowohl der Einaudi-Ausgabe als auch der MondadoriAusgabe nunmehr auch als sehr preisgünstige E-Books verfügbar sind. Schließlich gibt es aber in Italien neben dieser konservativen und philologisch problematischen ›Rückkehr‹ zur sogenannten ›Originalausgabe‹ auch das umgekehrte Phänomen: die Edition einzelner Nachlassmaterialien als selbstständige Veröffentlichung, wie dies in den 80er Jahren schon mit der von Sonino herausgegebenen Sammlung geschehen war. In diesem Jahrhundert ist dies der Text Il Redentore (Der Erlöser), erschienen 2013 in der Reihe Gli anemoni des Marsilio-Verlags (Venedig).27 Die italienische Übersetzung von Vigliani wurde von Walter Fanta herausgegeben und kommentiert, sie basiert auf der von Regina Schaunig für die digitale Klagenfurter Ausgabe rekonstruierten Fassung, die von Fanta für diesen Band nochmals revidiert wurde. Luigi Reitani, der zu jener Zeit die Anemoni-Reihe zusammen mit Annalisa Cosentino leitete, hob in seiner Einleitung zum Band hervor, dass Der Erlöser in dieser italienischen Übersetzung überhaupt zum ersten Mal als Buch erschien. Auch wenn die Bedeutung dieser internationalen Ersterschei25 26 27

Bernhard Metz: Übersetzungen (Anm. 17), S. 815. Vgl. Robert Musil: L’uomo senza qualità. Hg. v. Gianni Bonfiglio. Übers. v. Giorgio Arosi. Roma 2015 (E-Book). Robert Musil: Il redentore. Hg. v. Walter Fanta, übers. v. Ada Vigliani, eingeleitet v. Luigi Reitani. Venezia 2013 (= Gli Anemoni).

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nung nicht vergleichbar ist mit derjenigen, die der Nachlassband der ersten Einaudi-Ausgabe hatte, setzt die Marsilio-Initiative die editorische Tradition fort, die Italien eine herausragende Stellung in der internationalen Geschichte der Ausgaben und der Übersetzungen des Mann ohne Eigenschaften gesichert hat. Am Ende dieses geschichtlichen Abrisses soll darauf hingewiesen werden, dass Il Redentore die erste und unseres Wissens bis heute einzige italienische Übersetzung eines Musil-Textes ist, die von jener von Metz erwähnten »leichte[n] Verfügbarkeit des kompletten Nachlassmaterials nach 1992« profitierte.

1.2 Der »italienische« Musil: Philosoph, Essayist – und auch Dichter? Die Rolle, die die Übersetzungen des Romans für die Verbreitung von Musils Text in Italien und für den italienischen Aneignungsprozess von Musils Denken und literarischer Arbeit spielten und immer noch spielen, kann kaum überschätzt werden. Genauso wichtig ist es allerdings, die vermittelnde Rolle der Einleitungen und des Anmerkungsteils hervorzuheben, mit denen die italienischen Ausgaben des Romans von der Veröffentlichung des dritten Einaudi-Bandes an versehen sind. Zum einen zeugen sie von der jeweils zeitgenössischen Musil-Rezeption, zum anderen tragen sie ihrerseits stark zu dieser bei. Die Einleitungen zu den Übersetzungen behandeln neben der Entstehungsgeschichte des Werks überwiegend Themen, die mittlerweile zu klassischen Topoi der Musil-Forschung geworden sind, wie z. B. die Arbeitsmethode und die Quellen des Autors, die Zeit- und Gesellschaftskritik am Beispiel Kakaniens und die Deutung des Romans als geistiges Porträt einer Epoche, die Charakterisierung Musils als Autor der europäischen Moderne, den Essayismus, das Gegensatzpaar von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn, die philosophische Erkenntnis- und Sprachproblematik, die Ironie, den Erkenntniswert der metaphorischen Sprache, das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft und von Ethik und Ästhetik, die utopische Dimension und die Vorstellung des ›anderen Zustands‹. Was die ästhetische Dimension angeht, ist die Aufmerksamkeit meistens auf die Figurenkonstellationen, auf die Raumund Zeitkonfiguration, auf den hybriden Charakter des Textes gerichtet. Dieser wird tendenziell als ein philosophischer Roman angesehen, der durch eine traditionelle Erzählform, die aber eine an sich sehr dünne Geschichte erzählt, Grundfragen behandelt wie diejenigen nach dem, was man wissen kann, woraus die menschliche Seele besteht, ob die Wirklichkeit tatsächlich existiert, wie man leben soll, was Gerechtigkeit bedeutet, und die nach dem Guten und Bösen. Bedenkt man, dass diese Einleitungen die übersetzte Version des Romans begleiten, so fällt auf, dass sie auf die Sprache und den Stil des Romans nur spärlich eingehen: Musil wird vorwiegend als Denker und als Essayist präsentiert, aber kaum als Dichter. Dennoch verleihen die sprachlichen Ei-

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genschaften des Romans dem komplexen Gedankengerüst, auf dem er ruht, literarische Konsistenz. Dieses wird maßgeblich auch durch Konstellationen von auffälligen Stilmerkmalen auf mehreren Ebenen der Textstruktur getragen, so dass sich die Frage stellt, was bei der Lektüre von Musils Roman in italienischer Sprache wahrgenommen und was dagegen – trotz der hohen Qualität der Übersetzungen – nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann. Wenn in diesen Einleitungen die Sprache des Romans doch einmal zum Thema gemacht wird, so wird das Augenmerk fast ausschließlich auf die Metaphorik und auf die Verbindung von essayistischem und erzählerischem Stil gelenkt. Diese spezifische Fokussierung lässt sich vermutlich aus der Tatsache erklären, dass diese stilistischen Merkmale in der Tat auch gut zu erkennen sind, wenn man den Roman in italienischer Übersetzung liest, d. h., sie betreffen Eigenschaften, die sich aufs Ganze gesehen beim Übergang vom deutschen ins italienische Sprachsystem als übertragbar erweisen. Eine kontrastive Lektüre des italienischen und des deutschen Textes zeigt jedoch auch die Unübersetzbarkeit einiger wichtiger sprachlicher Eigenschaften des Romans, die eng mit dem deutschen Sprachsystem verknüpft sind und sich nicht wörtlich oder gar nicht ins Italienische übertragen lassen. So kann die sprachliche Untersuchung des ›italienischen‹ Musil eine gute Gelegenheit bieten, über den ›deutschensprachigen‹ Musil nachzudenken, der zwar ein Denker und ein Essayist, aber vor allem ein Dichter war, wenngleich sui generis.28 Dementsprechend bieten die folgenden Teile dieses Beitrags eine kontrastive textstilistische Analyse. Sie wird exemplarisch am Kapitel 24 aus dem dritten Teil des Romans ausgeführt, das den Titel »Agathe ist wirklich da« trägt. Dabei werden zuerst Stilmerkmale ausgewählt, die im jeweils entsprechenden Kapitel aus den bekanntesten italienischen Ausgaben des Mann ohne Eigenschaften »Agathe è proprio arrivata« (übersetzt von Anita Rho für Einaudi)29 und »Agathe è arrivata davvero« (Übersetzung von Ada Vigliani für Mondadori)30 hervorstechen und die teils für den literarisch-lyrischen, teils für den wissenschaftlichen Stil logischer und mathematischer Schriften typisch sind; dazu gehören sprachliche Mittel zum Ausdruck von Vergleichsrelationen, die beide Stile kennzeichnen. Im letzten Abschnitt fokussiert die Aufmerksamkeit lediglich auf den deutschen Text, um die besonderen sprachlichen Strategien hervorzuheben, mit denen Musil den ›anderen Zustand‹ 28 29

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»Ich bin kein Philosoph, ich bin nicht einmal ein Essayist, sondern ich bin ein Dichter [. . .]« (Tb I, S. 665). Robert Musil: L’uomo senza qualità. Nuova edizione italiana a cura di Adolf Frisé (Anm. 24). Das Kapitel 24 ist auf den Seiten 1012–1020 enthalten. Zitate aus der Einaudi-Ausgabe erscheinen in diesem Text unter der Sigle »Usq/E« gefolgt von der betreffenden Seitenzahl. Ab jetzt wird unter ›Kapitel 24‹ dasjenige verstanden, das im dritten Teil des Mann ohne Eigenschaften enthalten ist. Robert Musil: L’uomo senza qualità. Volume secondo e Scritti inediti (Anm. 3). Das Kapitel 24 ist auf den Seiten 313–323 enthalten. Zitate aus dieser Ausgabe erscheinen hier unter der Sigle »Usq/M«, gefolgt von der entsprechenden Seitenzahl.

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sprachlich verwirklicht. Wie zu zeigen sein wird, sind diese Strategien eng an das deutsche Sprachsystem gebunden. Die Auswahl des Kapitels erfolgte auf Grund seiner zentralen Position in der Romanhandlung. Zudem stellt es eine kaum wahrnehmbare, jedoch vorhandene Zäsur dar, die den ›anderen Zustand‹, um den sich viele der Gespräche zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe drehen werden, schon sprachlich einführt. Bekanntlich tritt Ulrich, die Hauptfigur des Romans, im ersten Buch als (wenig plausibler) Sekretär der Parallelaktion, vor allem aber als Mensch auf der Suche nach einer alternativen Moral auf.31 Eine konkrete Möglichkeit, diese zu realisieren, deutet sich in dem Zusammenleben mit seiner gleichgesinnten Schwester, der ›Frau ohne Eigenschaften‹ Agathe an.32 Der Tod seines Vaters veranlasst Ulrich, sich von der Welt der Parallelaktion abzuwenden und seine ›vergessene‹ Schwester wiederzusehen, was das Ende seines ›Urlaubsjahrs‹ darstellt sowie seiner Versuche, eine – im beruflichen Sinn – bedeutende Persönlichkeit zu werden. Agathe wird sich als die geeignete Partnerin erweisen, Ulrich auf dem Weg »ins Tausendjährige Reich« zu begleiten. Ihr gemeinsames Experiment – und dadurch der zentrale Wendepunkt der Romanhandlung – beginnt mit der Ankunft Agathes in Ulrichs Haus, von der das hier ausgewählte Kapitel berichtet.

2. Eine kontrastive textstilistische Analyse von Kapitel 24 des Mann ohne Eigenschaften (dritter Teil des Romans) Musils Sprache trägt auf eine sehr spezifische Weise zur Konstruktion der Ideenwelt des Romans bei. Dies wird gerade im Vergleich des Originals mit den italienischen Übersetzungen deutlich. In der Folge wird die Frage gestellt, welcher sprachlicher Mittel sich die italienischen Übersetzungen bedienen, um jene Ideenwelt zum Ausdruck zu bringen. Um dieser Frage nachzugehen, wird in den folgenden Abschnitten eine am Kapitel 24 des dritten Teils des Mann ohne Eigenschaften exemplarisch ausgeführte Untersuchung auf mehreren strukturellen Ebenen präsentiert: Textstruktur (2.1), Syntax und Prosodie (2.2) sowie lexikalische Struktur und rhetorische Mittel (2.3). Ziel der Analyse ist es, auffällige Stilmerkmale hervorzuheben, die als Indizien für relevante Textbedeutungen und deren Vernetzung im Text angesehen werden 31 32

In seinen Tagebüchern nennt Musil mit Bezug auf Rudolf Kassner als »Bestandteil der dyn. Ethik«, dass sie »nicht aus einem Prinzip heraus handelt, sondern aus einer Situation« (Tb I, S. 482). So wird sie u. a. genannt von Judith Burckhardt: Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil oder das Wagnis der Selbstverwirklichung. Bern 1973, S. 78. Zu einer ausführlichen Charakterisierung der weiblichen Hauptfigur des Mann ohne Eigenschaften vgl. Astrid Zingel: Ulrich und Agathe. Das Thema Geschwisterliebe in Robert Musils Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften. St. Ingbert 1999.

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können. Im Abschnitt 2.4 werden die Ergebnisse der Stilanalyse kommentiert, indem die in italienischen Übersetzungen hervorgehobenen Stilmerkmale mit denjenigen des Originaltexts verglichen werden. Im letzten Abschnitt (2.5) wird anhand ausgewählter Sprachmittel gezeigt, wie in Kapitel 24 Musils Stil zur sprachlichen Konstruktion des ›anderen Zustands‹ beiträgt.

2.1 Textstruktur Das Kapitel zeigt eine Mischung von Stilmerkmalen, die typisch für unterschiedliche Textsorten sind: einerseits Erzählungen, andererseits philosophische Abhandlungen. Als kennzeichnendes Merkmal der Erzählung erscheint u. a. die auktoriale Erzählinstanz, welche die Handlungen, Gedanken und Gefühle der Romanfiguren kennt und in der dritten Person wiedergibt. Gesprächsbeiträge und Gedanken der Figuren werden oft durch konventionelle verba dicendi eingeführt (vgl. Beispiel 1, kursiv markiert): (1a) Und Agathe sagte: »Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst.« (MoE, S. 895) (1b) E Agathe disse: – Anch’io ho paura di simili case. (Usq/E, S. 1014) (1c) »Quel tipo di case mette angoscia anche a me« disse Agathe. (Usq/M, S. 315)

Manche Gesprächsteile werden nicht durch direkte Rede explizit wiedergegeben, sondern durch den Erzähler zusammengefasst. Ein Beispiel dafür ist (2), wo ein Gesprächsturn Agathes summarisch vermittelt wird (kursiv gesetzt). Die besondere Technik des »Inhaltsberichts«33 durch den Erzähler wird in den italienischen Übersetzungen unterschiedlich bearbeitet: Während (2c) näher an der Struktur von (2a) bleibt, ergibt sich in (2b) ein noch synthetischerer Bericht über den vorhergehenden Gesprächsbeitrag – welcher nicht explizit Agathe zugeschrieben wird: (2a) »Ein Mensch allein« entgegnete er auf die nachsichtige Bereitwilligkeit seiner Schwester, alles zu lassen, wie es sei »kann eine Schwäche haben: sie geht zwischen seine übrigen Eigenschaften ein und in ihnen unter.« (MoE, S. 894) (2b) – Un uomo solo – replicò alla compiacente proposta di lasciar tutto com’era, – può avere una debolezza: essa si confonde fra le altre sue qualità e ne è sommersa. (Usq/E, S. 1015) (2c) »Un uomo solo« ribatté all’indulgente disponibilità della sorella, pronta a lasciar tutto com’era »può avere una debolezza: essa si mescola alle altre sue qualità e vi si perde.« (Usq/M, S. 316)

Typisch erzählerisch sind außerdem die Verwendung von Adverbialien (z. B. ›la sera di quello stesso giorno‹, ›l’indomani‹, ›quando Ulrich udí‹, Usq/E, S. 1012; ›la sera di quello stesso giorno‹, ›il pomeriggio dell’indomani‹, ›quando 33

Vgl. Wilfried Berghahn: Die essayistische Erzähltechnik Robert Musils. Eine morphologische Untersuchung zur Organisation und Integration des Romans Der Mann ohne Eigenschaften. Diss. Bonn 1956, S. 155.

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Ulrich seppe‹, Usq/M, S. 313), um die nicht immer lineare Chronologie der Geschichte wiederzugeben, sowie der Wechsel von Berichten und Beschreibungen. Letztere erfolgen zuweilen aus der Perspektive der Romanfiguren, wie das folgende Beispiel (3) zeigt, in dem der Erzähler als Vergleichsinstanz eine Größe verwendet, die nicht objektiv ist, sondern nur Agathe kennt (kursiv markiert): (3a) Soviel sie wahrnehmen konnte, waren die Wände von Büchern bedeckt wie früher die ihres Vaters und die Tische mit Schriften. (MoE, S. 892–893) (3b) Per quel poco che scorgeva le pareti eran coperte di libri come già quelle dello studio paterno, e i tavoli carichi di carte. (Usq/E, S. 1013) (3c) Per quel poco che riusciva a scorgere, le pareti erano tappezzate di libri come già quelle nello studio di suo padre, e i tavoli erano ingombri di carte. (Usq/M, S. 314)

Der Text des Kapitels zeigt außerdem Merkmale, die typisch für den Stil der philosophischen Abhandlung sind, darunter die argumentative Struktur. Diese kommt u. a. in der folgenden Textstelle zum Tragen, in der der Erzähler seine Aussage [a] mit Argumenten untermauert [b]: (4a) [a] Ein inneres Verbot, eine Blutsverwandte nicht mit männlicher Liebe anzusehn, gibt es ja nicht, [b] das ist nur Sitte oder auf Umwegen der Moral und Hygiene begründbar; [. . .]. (MoE, S. 897) (4b) [a] Non esiste alcun intimo divieto di considerare con affetti maschili una consanguinea, [b] si tratta soltanto di costume o di complicazioni dell’igiene e della morale; [. . .]. (Usq/E, S. 1018) (4c) [a] Un intimo divieto a considerare, con sentimenti maschili, una consanguinea non esiste, [b] è solo una consuetudine, un assunto giustificabile unicamente per le vie traverse della morale e dell’igiene; [. . .]. (Usq/M, S. 320)

Der argumentative Stil kennzeichnet auch in diesem Kapitel – wie im ganzen Roman – den Redestil des Logikers Ulrich. Am Ende des hier erzählten Ereignisses, der Ankunft Agathes, synthetisiert er – wie der Erzähler erklärt34 – seine Erkenntnis in einem Urteil.35 Dieses lautet (kursiv): 34

35

»Es war sein erster Versuch an diesem Abend, die Ankunft seiner Schwester in einem Urteil festzuhalten.« (MoE, S. 899) »Fu il suo primo tentativo, quella sera, di fermare in un giudizio l’arrivo di sua sorella.« (Usq/E, S. 1020) »Fu il suo primo tentativo, quella sera, di fissare in un giudizio l’arrivo della sorella« (Usq/M, S. 322). »Der rhetorische Begriff ›iudicium‹ überschneidet sich mit dem seit Kant geläufigen Ausdruck ›Urteilskraft‹ [. . .]. Dabei geht es im allgemeinen um die Fähigkeit der Beurteilung einer ›Situation‹, der geschickten Auswahl und Anwendung der zur Lösung einer Aufgabe erforderlichen Mittel u. ä. In einem etwas genauer faßbaren, methodologischen Sinn wird ›iudicium‹ gleichbedeutend mit ›dispositio‹ (Anordnung) verwendet, wobei sich allerdings immer noch verschiedene Bedeutungsaspekte überschneiden, vor allem der heuristische Aspekt der Beurteilung der ›Lage‹, also bestimmter zur Verhandlung stehender Sachverhalte, und der didaktische Aspekt der Darlegung der Sachverhalte gemessen am Erwartungs- und Verständnishorizont der Hörer einer Rede, die gelegentlich als ›iudices‹ bezeichnet werden.« Temilo van Zantwijk: Urteil, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bde. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Bd. 11. Basel 2001, Sp. 430–461, hier Sp. 430.

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(5a) »Ich weiß jetzt, was du bist: Du bist meine Eigenliebe.« (MoE, S. 899) (5b) – Adesso ho capito chi sei tu: sei il mio amor proprio! – (Usq/E, S. 1020) (5c) »Adesso so chi sei: sei il mio amor proprio!« (Usq/M, S. 322)

Ein weiteres Merkmal des philosophischen Kommunikationsstils stellt die Dialogform dar. In Musils Text folgt der Figurendialog dem prototypischen Modell des sokratischen Dialogs, in dem Fragen und Gegenfragen dazu dienen, Werte gemeinsam zu definieren, die das ethische Leben steuern sollen. Die in diesem Kapitel ausgeführten Dialoge weisen nicht immer eine eindeutige Logik auf – was sich z. B. im folgenden Gespräch zwischen Agathe (A) und Ulrich (U) zeigt:36 (6a) A »Warum hast du es aber getan, wenn es dir nicht gefällt?« U »Ich habe alles leichtfertig, falsch und so eingerichtet, daß es in keiner Weise mit mir zusammenhängt.« A »Aber es ist ja doch alles sehr hübsch.« U [Erzählerbericht] daß es anders wahrscheinlich noch schlechter ausgefallen wäre. »Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind« »Ich käme mir darin vor, als ob ich auch mich selbst bei einem Innenarchitekten bestellt hätte!« A »Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst.« U »Trotzdem kann es ja nicht so bleiben« (MoE, S. 893–894) (6b) A – Ma perché l’hai fatto, se non ti piace? U – Ho messo su casa con leggerezza, in un modo sbagliato che non ha niente da fare con me. A – Ma è tutto molto grazioso. U – [Erzählerbericht] se fosse stato diverso forse sarebbe riuscito ancora peggio. – Non posso soffrire le case fatte spiritualmente su misura. – Mi sembrerebbe di aver ordinato anche me stesso a un ambientatore! A – Anch’io ho paura di simili case. U – Tuttavia non può restare com’è. (Usq/E, S. 1014)

Agathes erster Gesprächsbeitrag leuchtet – wie in (6b) nachvollzogen werden kann – nicht ein: Das Pronominalobjekt ›lo‹ (kursiv) im Fragesatz ›perché l’hai fatto‹ – das zum impliziten Subjekt im untergeordneten Satz ›se non ti 36

Das unter (6a–c) wiedergegebene Gespräch ist aus seinem erzählerischen Kontext herausgelöst worden. Die vollständige Textstelle lautet im Originaltext: »Als sie nach dem Rundgang beisammen saßen, fragte Agathe: ›Warum hast du es aber getan, wenn es dir nicht gefällt?‹ / Ihr Bruder versorgte sie mit Tee und allem, was das Haus bot, und ließ es sich nicht nehmen, sie wenigstens nachträglich wirtlich zu empfangen, damit diese zweite Begegnung an leiblicher Aufmerksamkeit nicht hinter der ersten zurückstehe. Hin und her laufend, beteuerte er: ›Ich habe alles leichtfertig, falsch und so eingerichtet, daß es in keiner Weise mit mir zusammenhängt.‹ / ›Aber es ist ja doch alles sehr hübsch‹ tröstete ihn jetzt Agathe. / Nun meinte Ulrich, daß es anders wahrscheinlich noch schlechter ausgefallen wäre. ›Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind‹ erklärte er. ›Ich käme mir darin vor, als ob ich auch mich selbst bei einem Innenarchitekten bestellt hätte!‹ Und Agathe sagte: ›Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst.‹ / ›Trotzdem kann es ja nicht so bleiben‹ berichtigte Ulrich.« (MoE, S. 893–894).

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piace‹ wird – verweist nämlich auf keinen eindeutigen Referenten. Darauf reagiert Ulrich weder mit einer Gegenfrage, die nach einer Erklärung des Ungesagten sucht (z. B. ›was habe ich nur getan?‹), noch mit einer Aussage, die einer kausalen Relation Ausdruck gibt – wie aus der vorangehenden Frage zu erwarten wäre (›perché . . .? → perché . . .‹/›warum . . .? → weil . . .‹). Obwohl seine Aussagen keinen grammatischen Zusammenhang mit der Frage seiner Schwester haben, scheint Ulrich zu wissen, was seine Schwester meint. In ihrem zweiten Gesprächsbeitrag – der mit dem im Kontext wiederum nicht ganz nachvollziehbaren adversativen Konnektor ›ma‹ beginnt – taucht das Indefinitpronomen ›tutto‹ (in 6b kursiv markiert) auf. Das Pronomen ›tutto‹ kann in einen kataphorischen Bezug zu dem vorangehenden ›lo‹ gesetzt werden und kann außerdem als implizites Subjekt des Satzes ›se fosse stato diverso forse sarebbe riuscito ancora peggio‹ gelten – der von Seiten des Erzählers Ulrich zugeschrieben wird. ›Tutto‹ kann schließlich als implizites Subjekt für den Satz gelten, den der letzte Gesprächsbeitrag Ulrichs enthält. Allerdings hat selbst das Pronomen ›tutto‹ keinen eindeutigen kontextuellen Bezug. Das Gespräch gründet auf einer impliziten Logik, die die Geschwister anscheinend teilen. Die logischen Lücken, die die Einaudi-Übersetzung aufweist, werden durch Strategien der Textkonnexion in der MondadoriAusgabe (6c) teilweise getilgt. Es geht dabei zum einen um den dreifachen Gebrauch des Adverbs ›così‹ (kursiv): (6c) A »Ma perché hai fatto così, se non ti piace?« U »Ho arredato tutto sbadatamente, male e in un modo che non ha alcun rapporto con me« A »Eppure è tutto molto carino« U [Erzählerbericht] se non avesse fatto così probabilmente sarebbe riuscito ancora peggio »Non posso soffrire le case fatte su misura per l’anima« »Mi sembrerebbe di aver ordinato anche me stesso a un arredatore!« A »Quel tipo di case mette angoscia anche a me.« U »Eppure non può rimanere così.« (Usq/M, S. 315)

Im Vergleich zum Pronomen ›lo‹ hat das italienische Adverb ›così‹ einen anderen semantischen Wert. In Anlehnung an Ulrichs Antwort, kann in diesem Kontext Agathes Frage problemlos folgendermaßen verstanden werden: ›Warum hast du deine Wohnung in der Weise eingerichtet, die man sieht?‹37 Zusammen mit seinem Hinweis auf die sichtbare Wohnungseinrichtung wiederholt sich das Adverb ›così‹ dreimal an entscheidenden Stellen, was dem Gespräch eine gewisse strukturelle Stringenz und logische Kohärenz verleiht. Diese verstärkt sich dadurch, dass das Indefinitpronomen ›tutto‹ – das in (6b) 37

Im Portal des Istituto della Enciclopedia Italiana wird die Bedeutung des Worts wie folgt erläutert: »In questo modo, cioè nel modo che si vede, o che s’è detto o che si sta per dire« (»Auf diese Weise, d. h. in der Weise, wie man es sieht oder wie man es gesagt hat oder wie man es sagen wird.«), https://www.treccani.it/vocabolario/cosi/ (aufgerufen am 1. 10. 2022).

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(ähnlich wie ›lo‹) nur einmal vorkommt – hier zweimal erscheint (fett markiert), das erste Mal im ersten Gesprächsbeitrag Ulrichs als Komplement des Verbs ›arredare‹. Insgesamt sind in (6c) mehr kohäsive Mittel und logische Zusammenhänge vorhanden. Die Version (6b) mit ihrem höheren Grad an Unbestimmtheit der Referenzbezüge scheint in diesem Fall dem Originaltext näher zu sein.

2.2 Syntax und Prosodie Auf syntaktischer Ebene fallen keine Strukturen auf, die vom sprachlichen Standardgebrauch abweichen. Bemerkenswert ist allerdings die ziemlich hohe Frequenz von bestimmten Satztypen. Es geht dabei vor allem um Vergleichssätze und Sätze, die Relationen von Kausalität und Konditionalität ausdrücken. Sätze, die eine Ursache-Wirkung- bzw. eine Grund-Folge-Relation ausdrücken, charakterisieren den argumentativen Stil. Strukturen dieser Art finden sich in den Gesprächsbeiträgen sowohl von Ulrich (7) als auch von Agathe (8) (kursiv markiert): (7a) »Mit einem andern Wort, wir dürfen doch als Geschwister manches nicht tun, was wir uns als Einzelne gestattet haben; gerade darum sind wir ja zusammengekommen.« (MoE, S. 894) (7b) In altre parole, come fratello e sorella non possiamo concederci certe cose che isolatamente ci permettevamo; appunto per questo vogliamo vivere insieme. (Usq/E, S. 1015) (7c) »In altre parole, come fratello e sorella non ci sono lecite alcune cose che entrambi, individualmente, ci permettevamo; ma appunto per questo abbiamo deciso di vivere insieme.« (Usq/M, S. 316) (8a) »Wenn wir beisammen bleiben wollen,« erklärte sie »wirst du mir vor allem auspacken, einräumen und umkleiden helfen müssen, denn ich habe nirgends ein Hausmädchen gesehn!« (MoE, S. 896) (8b) – Se dobbiamo restare insieme, – ella dichiarò, – dovrai prima di tutto aiutarmi a disfar le valige, a mettere a posto la roba e a cambiarmi d’abito, perché non ho visto l’ombra d’una cameriera! (Usq/E, S. 1017) (8c) »Se vogliamo restare insieme« dichiarò, »dovrai prima di tutto aiutarmi a disfare i bagagli, a mettere in ordine le mie cose e a cambiarmi, perché non ho visto cameriere da nessuna parte.« (Usq/M, S. 318)

In den Übersetzungen von (7) wird durch die Verbformen ›vogliamo‹ (7b), ›abbiamo deciso‹ (7c) ein expliziter Verweis auf den Willen der Protagonisten ausgedrückt, wohingegen im Originaltext (7a) von einem ›Zusammenkommen‹ die Rede ist, das fast zufällig wirkt. Dies kann als ein weiterer Beleg dafür gelten (wie im Fall der in Abschnitt 2.1 behandelten Dialogform), dass typische Strukturen der Wissenschaftssprache in Musils Text auftreten, um Unlogisches auf dialektische Art bzw. mit Hilfe von logischen Kategorien darzulegen. Die beiden Geschwister – wie die Beispiele (7) und (8) zeigen – machen von der Argumentation einen unterschiedlichen Gebrauch: Ulrich

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spricht als Logiker über moralische Angelegenheiten; Agathe verwendet denselben Stil mit Ironie, um eine alltägliche Situation zu klären. Ihre Aussage wirkt in (8) als eine zusammenfassende Replik auf die Abstraktheit der vorangehenden Argumentation Ulrichs. Sie sagt ungefähr Folgendes: ›Jetzt aber genug des Denkens und Redens! Wenn wir eine neue Moral gründen wollen, machen wir uns an die Arbeit!‹ Auch Vergleichskonstruktionen kommen in Kapitel 24 häufig vor. In der Wissenschaftssprache werden sie verwendet, um noch nicht beschriebene Naturphänomene mit Bezug auf bereits Bekanntes bildlich darzustellen.38 Auf ähnliche Weise bedient sich Musil ihrer in diesem Kapitel, wenn es darum geht, die neuen Empfindungen der Geschwister zu veranschaulichen. Beispiele dafür finden sich in (9) und (10) (unterstrichen), wo die gemischten Gefühle Agathes bei ihrer Ankunft bzw. um Ulrichs erstmalige Wahrnehmung der physischen Nähe seiner Schwester durch Vergleichssätze (unterstrichen, Vergleichswörter fett markiert) dargestellt werden: (9a)

Fröhlichkeit und Unordnung, wie sie durch ihre Ankunft unwillkürlich erregt wurden, rauschten ihr in Ohren und Augen, wie ein Tanz um eine Blechmusik schwankt: sie war sehr heiter und fühlte sich leicht enttäuscht, obwohl sie nichts Bestimmtes erwartet und sich während der Reise sogar mit Absicht aller Erwartungen enthalten hatte. (MoE, S. 892) (9b) [. . .] giocondità e disordine suscitati involontariamente dal suo arrivo le fremevano negli orecchi e negli occhi, cosí come una danza ondeggia intorno a una musica di ottoni: ella era molto allegra e appena un poco delusa, sebbene non si fosse figurata niente di speciale e anzi durante il viaggio si fosse astenuta di proposito da ogni aspettativa. (Usq/E, S. 1013) (9c) [. . .] gaiezza e disordine suscitati involontariamente dal suo arrivo le ronzavano alle orecchie e negli occhi, così come una danza ondeggia intorno a una musica di ottoni; era molto allegra e soltanto un po’ delusa, benché non si fosse aspettata nulla di preciso e durante il viaggio si fosse persino astenuta di proposito da qualsiasi aspettativa. (Usq/M, S. 313–314) (10a) Ulrich empfing ihren heiteren Blick und betrachtete dabei ihr Gesicht, das ihm über dem etwas zerknitterten Reisekleid, das sie noch anhatte, plötzlich silberglatt vorkam und so wunderlich gegenwärtig, daß es ebenso nahe wie weit von ihm war oder daß sich Nähe und Ferne in dieser Gegenwart aufhoben, so wie der Mond aus Himmelsweiten plötzlich hinter dem Dach des Nachbarn erscheint. (MoE, S. 894) (10b) Ulrich raccolse il suo sguardo gaio e osservava intanto il suo viso che al di sopra dell’abito da viaggio un po’ spiegazzato parve d’un tratto liscio come l’argento e così stranamente presente che gli era tanto vicino quanto lontano, 38

Vgl. ein zweifaches Beispiel aus einer Biologie-Abhandlung aus dem Ende des 19. Jahrhunderts (kursiv): »Nägeli’s Micellen vermehren sich auch, aber ›durch freie Einlagerung neuer‹, den schon vorhandenen ähnlichen oder gleichen ›Micelle‹, wie die Stärketheilchen (›Kryställchen‹) im Stärkekorn oder wie Krystalle sich aus einer Mutterlauge abscheiden.« (August Weismann: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena 1892, S. 56, https://archive.org/details/ bub_gb_f5U-AAAAYAAJ/page/55/mode/2up?view=theater, aufgerufen am 1. 10. 2022).

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oppure che vicinanza e lontananza si annullavano in quella presenza, cosí come dall’immensità dei cieli la luna appare improvvisamente sul tetto del vicino. (Usq/E, S. 1015) (10c) Ulrich raccolse il suo sguardo sereno e intanto le osservava il viso: al di sopra dell’abito da viaggio un po’ sgualcito che ancora indossava, esso gli parve d’un tratto liscio come l’argento e così stranamente presente da essergli insieme vicino e lontano, oppure tale da far sì che in quella presenza vicinanza e lontananza si annullassero, come dalle profondità celesti la luna appare improvvisamente dietro il tetto del vicino. (Usq/M, S. 316)

Durch Vergleiche können allerdings auch poetische Bilder entstehen, wie Musil in seiner Rede zur Rilke-Feier (1927) hervorhebt: Dichterische Vergleiche bzw. Metaphern oder – wie Musil sie nennt – Gleichnisse bilden sich aus, wenn »ein schon etwas erschöpfter Gefühls- und Vorstellungsbereich dadurch aufgefrischt wird, daß ihm Teile eines neuen zugeführt werden« (GW II, S. 1238). Eine gewisse Neigung zum lyrischen Stil zeigt sich auch in der Prosodie des Originaltextes, die u. a. durch die Aufeinanderfolge betonter bzw. unbetonter Silben eine wohlgeformte rhythmische Struktur zeigt. So können beispielsweise die Hauptakzente im ersten Satz von (10) folgendermaßen markiert werden: (10) Úlrich empfíng ihren héiteren Blíck und betráchtete dabéi ihr Gesícht, das ihm űber dem étwas zerknítterten Réisekleid, dás sie noch ánhatte, plőtzlich sílberglatt vórkam . . . (MoE, S. 894)

Der Rhythmus erweist sich als tendenziell trochäisch mit fast regelmäßig gesetzten Hebungen und Senkungen. Die Textprosodie wird im Italienischen u. a. durch die Pausen bewirkt, die von der Interpunktion angezeigt werden. Beispiel (10) kann dazu dienen, um auch auf dieser Strukturebene leicht unterschiedliche Stilmerkmale in den beiden italienischen Übersetzungen hervorzuheben. Der prosodische Rhythmus klingt in (10b) melodischer als in (10c), weil hier der Doppelpunkt eine Unterbrechung verursacht, die den allgemeinen Prosa-Rhythmus verlangsamt. Im Vergleich mit dem Originaltext zeigen die beiden Versionen ein unterschiedliches Satz-Wort-Zeichen-Verhältnis (Tab. 1). Textstelle

Sätze

Wörter

Zeichen

(10a) (10b) (10c)

1 1 2

60 62 69

325 328 362

Tab. 1: Satz-Wort-Zeichen-Verhältnis

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In (10c) sind mehr Sätze, Wörter und Anschläge als im Originaltext vorhanden – was anscheinend dem Versuch von Vigliani geschuldet ist, philologisch nah am Text zu bleiben und mögliche Ambiguitäten zu beseitigen. Ein Beleg dafür ist der explizite Ausdruck der konsekutiven Verbindung durch ein zweifaches kursiv gesetztes Einleitungselement (›così da‹, ›tale da‹, dt.: ›so daß‹). Vigliani braucht mehr Wörter und Anschläge für ihre Übersetzung als Rho, deren Version ein fast identisches Satz-Wort-Zeichen-Verhältnis wie der Originaltext zeigt. Dies wird teilweise durch den Gebrauch abgekürzter Bilder bewirkt: Ein Beispiel dafür ist das in (11b) wiedergegebene Zitat, in dem die Nominalgruppe ›l’abito da viaggio‹ durch ein einziges Attribut (›un po’ spiegazzato‹) modifiziert wird. Im Originaltext (11a) wird durch den Relativsatz ein zweites Attribut der Nominalgruppe realisiert (fett); dieselbe Struktur findet sich in (11c): (11a) Ulrich empfing ihren heiteren Blick und betrachtete dabei ihr Gesicht, das ihm über dem etwas zerknitterten Reisekleid, das sie noch anhatte, plötzlich silberglatt vorkam [. . .]. (MoE, S. 894) (11b) Ulrich raccolse il suo sguardo gaio e osservava intanto il suo viso che al di sopra dell’abito da viaggio un po’ spiegazzato parve d’un tratto liscio come l’argento [. . .]. (Usq/E, S. 1015) (11c) Ulrich raccolse il suo sguardo sereno e intanto le osservava il viso: al di sopra dell’abito da viaggio un po’ sgualcito che ancora indossava, esso gli parve d’un tratto liscio come l’argento [. . .]. (Usq/M, S. 316)

Im Großen und Ganzen kann Viglianis Übersetzungsstil als ›philologischer‹ angesehen, Rhos Stil als ›lyrischer‹ bezeichnet werden.39 Der insgesamt musikalischere Effekt der Rho-Übersetzung scheint dadurch zu entstehen, dass der zuweilen leicht unterschiedlichen Wortwahl eine ebenso unterschiedliche Distribution der Wortakzente entspricht. Dies zeigt sich z. B. im Satz ›ella era molto allegra‹ in (9b), dessen Rhythmus einen regelmäßigen Siebensilbler mit Hauptakzent auf dem Paroxytonon ›allegra‹ produziert. Die Variante ›era molto allegra‹ in (9c) führt – durch Nicht-Setzung des Pronomens ›ella‹ – zu einem weniger markierten Rhythmus. Ein weiteres Beispiel betrifft die syn39

In Anlehnung an Bianca Cetti Marinonis Rezension (Un’azione editoriale parallela, in: L’indice dei libri del mese 10 [1993], H. 5, S. 19, https://www.byterfly.eu/islandora/object/librib:556883# page/18/mode/2up, aufgerufen am 20. 12. 2022) hat Gioia Valdemarca zurecht hervorgehoben, dass Rhos Übersetzungsstil als »erzählerisch«, derjenige Viglianis als »essayistisch« bezeichnet werden kann. (Vgl. Gioia Valdemarca: Zwei Übersetzungen, zwei Romane: Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Sprache, S. 4, in: http://www.musilgesellschaft.at/texte/ Musil%20international/GValdemarca_MoE_ital.pdf, S. 14, aufgerufen am 02. 12. 2022). In ihrer Untersuchung der beiden italienischen Übersetzungen fokussiert Valdemarca auf besondere Klassen von Lexemen (terminologische Fachausdrücke und Schlüsselwörter). Es geht um einen wichtigen und in Übersetzungsstudien gut vertretenen Ansatz, der allerdings zu Ergebnissen führt, die sich als partiell erweisen können, wenn sie nicht auch anhand weiterer Textphänomene auf syntaktischer und textgrammatischer Ebene untermauert werden. Die Berücksichtigung dieser Aspekte liegt der vorliegenden textstilistischen Analyse zugrunde, die versucht, den jeweiligen Übersetzungsstil in der Gesamtheit seiner sprachlichen Eigenschaften zu definieren.

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tagmatische Einheit ›e appena un poco delusa, sebbene‹ [. . .] (9b) im Vergleich mit ›e soltanto un po’ delusa, benché‹ [. . .] (9c): Der Ersatz der auf der vorletzten Silbe betonten Wörter ›poco‹ und ›sebbene‹ mit ›po’‹ und ›benché‹, die auf der letzten Silbe betont sind, verleiht (9c) ein weniger ausgeglichenes Betonungsverhältnis, woraus ein tendenziell synkopischer Rhythmus resultiert. Der unterschiedliche Prosa-Rhythmus der zwei Übersetzungen bestätigt sich in der letzten Einheit von (9): ›e anzi durante il viaggio si fosse astenuta di proposito da ogni aspettativa‹ (9b) im Gegensatz zu ›e durante il viaggio si fosse persino astenuta di proposito da qualsiasi aspettativa‹ (9c). Ein jeweils unterschiedlicher Rhythmus ergibt sich hier durch die verschiedene Länge der gewählten Wörter: ›anzi‹ und ›ogni‹ in (9b) sind zweisilbig, während ›persino‹ und ›qualsiasi‹ (9c) dreisilbig sind.

2.3 Lexikalische Struktur und rhetorische Mittel Ein auffälliges Stilmerkmal auf lexikalischer Ebene ist die Wiederaufnahme von Wörtern, die auf wichtige Themen und Motive hinweisen. Wiederholungen können wortwörtlich (fett/unterstrichen) sein oder durch synonyme Ausdrücke (kursiv) realisiert werden, sowohl im selben Satz (12) als auch in größeren Kontexten (13): (12a) [. . .] daß ein formloses Leben die einzige Form ist, die den vielfältigen Willen und Möglichkeiten entspricht, von denen das Leben erfüllt ist [. . .]. (MoE, S. 895) (12b) [. . .] una vita senza forma è l’unica forma che s’addice alle molteplici volontà e possibilità di cui è piena la vita [. . .]. (Usq/E, S. 1016) (12c) [. . .] una vita senza forma è l’unica forma corrispondente alle molteplici volontà e possibilità di cui è piena la vita [. . .]. (Usq/M, S. 317) (13a) Es war etwas teilnahmlos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes in diesem Haus, das sie erschreckte. [. . .] »Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst. [. . .] Aber manchmal ist es gruselig, als ob man scheintot in einer Leichenhalle aufwachte!« (MoE, S. 893–894) (13b) Erano le cose accumulate in quella casa con noncuranza, con capricciosa indifferenza, che le mettevano paura. [. . .] E Agathe disse: – Anch’io ho paura di simili case. [. . .] Ma a volte si gela il sangue nelle vene, come a svegliarsi vivi in un sotterraneo! (Usq/E, S. 1014–1016) (13c) Ciò che la spaventava in quella casa era la poca partecipazione, la capricciosa indifferenza con cui sembravano accumulati gli oggetti. [. . .] »Quel tipo di case mette angoscia anche a me« disse Agathe. [. . .] »Ma talvolta è raccapricciante, come svegliarsi all’obitorio da una morte apparente!« (Usq/M, S. 314–317)

In (13a) wird der Begriff ›Angst haben‹ durch drei bedeutungsähnliche Ausdrücke formuliert, die zu einer gewissen Steigerung des Begriffs führen: ›erschrecken‹, ›Angst haben‹, ›gruselig sein‹. Ähnliches geschieht in (13c) mit Gebrauch der Verben ›spaventare‹, ›mettere angoscia‹, ›essere raccapricciante‹, während in (13b) als äquivalente Ausdrücke ›mettere paura‹, ›avere paura‹,

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›gelarsi il sangue nelle vene‹ auftauchen. Die Wiederholung des Worts ›paura‹ in (13b) bewirkt eine Betonung des ›Angst‹-Begriffs, der dabei aber – anders als in (13a) und (13c) nicht gesteigert wird. Ein weiterer Unterschied – dieses Mal zwischen (13a) und (13b) einerseits, (13c) andererseits – ergibt sich in dem grammatischen Formwechsel. (13a) und (13b) drücken den Begriff ›Angst haben‹ zuerst durch die Verbformen ›erschrecken‹ und ›mettere paura‹ aus. Grammatisches Subjekt der betreffenden Sätze sind externe Elemente, während Agathe – als Referenzobjekt der Pronominalformen ›sie‹ und ›le‹ – die Rolle des Objekts bzw. Patiens übernimmt. Im Fall der Verbkomplexe ›Angst haben‹ und ›avere paura‹ hat sie dagegen – als Ich der direkten Rede – die aktive Subjektrolle. Umgekehrt wird die Subjektrolle in (13c) auch das zweite Mal externen Kräften (›quel tipo di case‹) zugeschrieben. Der dritte Ausdruck der Angst wird in allen Versionen durch unpersönliche Verbformen realisiert: ›ist es gruselig‹ (13a), ›si gela il sangue nella vene‹ (13b), ›è raccapricciante‹ (13c). Die Formulierung in (13b) (›das Blut friert in den Adern‹) wirkt besonders stark, weil sie die Vorstellung einer panischen Angst vermittelt, die physische Konsequenzen für den Körper hat, das Blut zum Stocken bringt und zum Tod führen kann, was dadurch kompensiert wird, dass der Vergleich ein weniger grausames Bild präsentiert als der Originaltext. In diesem geht es um ein Aufwachen vom Scheintod in einer ›Leichenhalle‹ – in (13c) wortwörtlich als ›obitorio‹ wiedergegeben. Das Aufwachen in (13b) geschieht dagegen in einem ›sotterraneo‹, d. h. in den unterirdischen Räumen eines Gebäudes, die normalerweise als Lagerräume oder zu ähnlichen Zwecken verwendet werden. Das durch ›sotterraneo‹ vermittelte Bild steht in keiner direkten Beziehung zum Tod. Wiederholungen können auch mit Variationen auftreten und die Entstehung eines Gefühls oder einer Erkenntnis zum Ausdruck bringen wie in den unter (14) wiedergegebenen Textstellen, wo es um Ulrichs sich intensivierendes Gefühl geht, dass mit der Ankunft Agathes eine neue Realität ansetzt (kursiv): (14a) Und nun war Agathe da. Dieser kleine Satz: »Agathe ist jetzt da« wiederholte sich in Wellen, [. . .] »Agathe ist jetzt da.« [. . .] Das einzige, was man davon sagen konnte, war: es sei da. Es war da, wo zuvor nichts gewesen war. (MoE, S. 896–897) (14b) E adesso c’era Agathe. Quella piccola frase: »Adesso c’è Agathe« si ripeteva come le onde [. . .] »Adesso c’è Agathe« [. . .] L’unica cosa che se ne poteva dire era: è qui. Era lí, dove prima non c’era nulla. (Usq/E, S. 1018–1019) (14c) E adesso Agathe era lì. Quella piccola frase: »Adesso Agathe è qui« si ripeteva a ondate [. . .] L’unica cosa che se ne poteva dire era: è qui. Era lì, dove prima non c’era nulla. (Usq/M, S. 319–321)

Auffällig ist außerdem die häufige Verwendung von Verben des Typs ›scheinen‹, ›vorkommen‹ (ital. ›sembrare‹, ›apparire‹, ›parere‹) bzw. von verba sentiendi wie ›empfinden‹, ›fühlen‹ (ital. ›sentire‹, ›provare‹), die Wahrnehmungen

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oder Gefühle ausdrücken. Wenn die Komplemente dieser Verben aus unterschiedlichen semantischen Bereichen kommen, werden dadurch Gleichnisse gebildet. Ein Beispiel dafür findet sich in (15) (Verbform: kursiv; Komplemente: unterstrichen; Vergleichspartikel: fett). Das Verb ›empfinden‹ hat hier die Bedeutung ›in bestimmter Weise spüren‹.40 Die semantischen Rollen von Agens und Patiens werden jeweils von den Pronomen ›er‹ und ›es‹ übernommen. Als Subjekt des Empfindens erscheint im Satz ›er‹ (= Ulrich). Als Objekt seines Empfindens wird das semantisch unbestimmte ›es‹ angegeben. Die Referenz des ›es‹ erklärt sich durch das ›als‹-Komplement, das Antwort gibt auf die durch die Verbsemantik eingeleitete Frage: ›in welcher (bestimmten) Weise wird gespürt?‹ Somit wird durch das Verb ›empfinden‹ eine ungewöhnliche Verbindung zwischen unterschiedlichen semantischen Bereichen erstellt: einerseits Ulrichs Verwunderungsgefühl, das bei ihm die Präsenz seiner Schwester hervorruft, andererseits dem Begriff der Leistung, der zur Umschreibung für die Erfüllung einer Arbeit oder einer Verpflichtung besser zu passen scheint als – wie es in diesem Kontext geschieht – für den Ausdruck eines Gefühls: (15a) Er war eigentlich erstaunt über die Erkenntnis, daß nun wirklich vieles anders werden müsse; er empfand es als eine ganz ungewohnte Leistung, die ihm abverlangt wurde, und hatte anfangs den Eifer des Neulings. (MoE, S. 894) (15b) In fondo egli si stupiva di dover riconoscere che ormai molte cose dovevano proprio cambiare; gli sembrava un’impresa eccezionale che gli veniva richiesta, e in principio aveva tutto lo zelo del novellino. (Usq/E, S. 1014–1015) (15c) In fondo era stupito al pensiero che ormai molte altre cose sarebbero dovute cambiare: si sentiva sottoposto a una prova del tutto inconsueta, ed essendo agli inizi aveva lo zelo del principiante. (Usq/M, S. 316)

Im Text wird die ungewöhnliche Verbindung durch die Vergleichspartikel ›als‹ gut sichtbar. Obgleich möglich, bedienen sich die italienischen Übersetzungen nicht der Vergleichspartikel ›come‹ (›ciò gli sembrava come . . .‹/›ciò che sentiva come . . .‹). Musils Text macht reichlichen Gebrauch von Gleichnissen und Vergleichen: Sie dienen dazu, die Erzählsituation – auch mit Bezug auf die innere Welt der Figuren, wie es in (15) der Fall ist – anschaulich darzustellen. Wie in Abschnitt 2.2 mit Bezug auf Vergleichssätze schon erwähnt wurde, stellt der Gebrauch von explikativen Vergleichen ein typisches Merkmal des Wissenschaftsstils dar. Musils Vergleiche – wie ebenfalls bereits dargestellt – werden oft durch Vergleichswörter (wie ›als‹ und seine Äquivalente) eingeleitet. Auch verkürzte Vergleiche (Metaphern) werden im Text oft realisiert. Ein Beispiel dafür findet sich in (16) (kursiv markiert): 40

Vgl. Duden Onlinewörterbuch: Stichwort ›empfinden‹, https://www.duden.de/rechtschrei bung/empfinden (aufgerufen am 15. 12. 2022).

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(16a) Das Zimmer war in tiefe Dämmerung getaucht [. . .]. (MoE, S. 892) (16b) La camera era immersa nell’ombra [. . .]. (Usq/E, S. 1013) (16c) La camera, immersa com’era in una fitta penombra, [. . .]. (Usq/M, S. 314)

Vergleiche ohne formale Konnexion sind auch in (17) vorhanden. Diese werden durch vorangestellte (hier kursiv gesetzte) Fragen eingeleitet, welche den Leser in die Lage versetzen, den Vergleich zu rekonstruieren (Beispiel: ›ihre Stimme war wie die Duftwellen, die die Bewegung ihrer Kleider begleiteten‹): (17a) Aber dann hörte er, wo früher Stille war, minutenlang ihre Stimme, und wie war ihre Stimme? Wellen von Duft begleiteten die Bewegung ihrer Kleider, und wie war dieser Geruch? Ihre Bewegungen waren bald Knie, bald zarter Finger, bald Widerspenstigkeit einer Locke. (MoE, S. 897) (17b) Ma poi, dove prima era silenzio, egli udí per minuti la sua voce, e quella voce com’era? Ondate di profumo accompagnavano il moto delle sue vesti, e com’era quel profumo? I suoi movimenti erano ora un ginocchio, ora dita delicate, ora la disubbidienza di un ricciolo. (Usq/E, S. 1019) (17c) Ma poi, dove prima era silenzio, udì per qualche minuto la voce di lei, e com’era quella voce? Ondate di profumo accompagnavano il movimento delle sue vesti, e com’era quell’effluvio? I suoi movimenti erano ora un ginocchio, ora dita delicate, ora un ricciolo ribelle. (Usq/M, S. 320–321)

Die in (17) wiedergegebene Textstelle beschreibt Ulrichs Wahrnehmung der physischen Realität seiner Schwester. Die Wahrnehmung erfolgt nicht pauschal, sondern ›essayistisch‹, d. h. aus unterschiedlichen Gesichtspunkten, die auf je einzelne Elemente dieser Realität fokussieren – auf Agathes Stimme, ihre Körperteile und Kleider, deren Bewegungen, den Duft ihres Körpers –, welche ihrerseits mit anderen Realitätselementen verglichen werden, um ›genauer‹ geschildert zu werden. Die Elemente, die zur ›Exaktheit‹ der Schilderung beisteuern sollten, zeigen aber einen typisch lyrischen Charakter. Die Vergleiche werden in verkürzter Form ausgedrückt – als Metaphern, wie z. B. ›Wellen von Duft‹ (Düfte erreichen die Riechzellen der menschlichen Nase nicht durch ›Wellen‹) oder ›die Bewegung ihrer Kleider‹ (die Kleider bewegen sich durch die Bewegungen der Frau). Auch mit Bezug auf den Gebrauch von Gleichnissen kann ein leicht unterschiedlicher Stil in beiden Übersetzungen beobachtet werden. Als Beispiel dafür mag die Gestaltung der ersten Sätze in (17) gelten. In (17b) ist ein ausgeprägt lyrischer Charakter erkennbar. Z. B. stellt sich der zweite Satz ›egli udí per minuti la sua voce‹ als vollkommener Elfsilbler mit Betonung auf der vierten und zehnten Silbe dar. In (17c) taucht ein Satz auf, der den EndecasillaboRhythmus nicht aufweist, der (17b) eigen ist. Weitere Änderungen betreffen die Wortwahl. In philologischer Anlehnung an den Originaltext, der die Wiederholung ›Bewegung‹/›Bewegungen‹ und die Variation ›Duft‹/›Geruch‹ aufweist, gibt (17c) ›movimento‹/›movimenti‹ und ›profumo‹/›effluvio‹ an. An den entsprechenden Stellen in (17b) findet man das Wort ›profumo‹ und

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die Synonyme ›moto‹/›movimenti‹. In beiden – teilweise sehr ähnlichen – Versionen ist allerdings der Versuch ersichtlich, durch Wortwiederholungen und lexikalische Varianten die hohe Musikalität des Originaltexts wiederzugeben, welche u. a. aus Stabreim (vgl. ›Stille‹, ›Stimme‹, ›Stimme‹) und Alliterationen resultiert (vgl. ›wo‹, ›war‹, ›wie war‹, ›Wellen‹, ›Bewegung‹, ›wie war‹, ›Bewegungen‹, ›waren‹, ›Widerspenstigkeit‹, ›was‹, ›war‹).

2.4 Vergleichende Bemerkungen Musils sprachliche Innovationen stellen nach Mario Wandruszka eine für Übersetzerinnen und Übersetzer teilweise unmögliche Aufgabe dar, weil die ›Sprachspiele‹, mit denen er versucht, die Grenzen der gewöhnlichen Sprache zu überschreiten, zuweilen die Möglichkeiten des L2-Systems überschreiten.41 Auch Peter Henninger hat in seiner Studie zu Musils Erzählung Die Portugiesin festgestellt, dass sich in Musils Text zwei unterschiedliche Zonen erkennen lassen: Die eine erlaubt eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Original und Übersetzungen, die andere nicht.42 Letztere besteht nach Henninger aus einer kleineren Anzahl von »semantisch instabilen«43 Stellen, an denen Divergenzen zwischen Original und Übersetzungen auffällig sind. Der Annahme, dass in den italienischen Übersetzungen die Besonderheiten von Musils Stil weitgehend verloren gehen, konnte die hier präsentierte Analyse tendenziell widersprechen. Wie die Analyse zeigte, resultieren die Besonderheiten von Musils Stils nicht nur aus lexikalischen Phänomenen, d. h. aus originellen Bildern, Klangspielen oder der Verwendung von Wörtern in ungewöhnlichen Kontexten. Musils Stil zeichnet sich u. a. durch seinen hybriden Charakter aus, der typische Merkmale der lyrischen Sprache mit Strukturelementen der Wissenschaftssprache kombiniert. Dazu gehören charakteristische Kennzeichen der Erzählung und der philosophischen Abhandlung sowie syntaktische und lexikalische Eigenschaften, die zur Objektivität und Nüchternheit der Darstellung neigen und zugleich auf prosodische und musikalische Effekte hinzielen. Die Besonderheit dieses Stils lässt sich in beiden italienischen Versionen des Romans L’Uomo senza qualità gleichermaßen erkennen, trotz der 41

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Vgl. dazu Mario Wandruszka: Musils Sprache als Herausforderung, in: Die Übersetzung literarischer Texte Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil. Beiträge des Internationalen Übersetzer-Kolloquiums in Straelen vom 8.–10. Juni 1987. Hg. v. Annette Daigger u. Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 75–90, hier S. 79. Mit L2 ist die Sprache des Zieltexts gemeint. Henninger konstatiert in der ersten Zone bei den Übersetzungen »weitgehende Übereinstimmung der getroffenen Entscheidungen« sowie »geringe Abweichung vom Wortlaut des Originals«, während in der zweiten Zone »sowohl die Übersetzungen untereinander auffallend divergieren als auch von der Vorlage sich entfernen.« Peter Henninger: Übersetzungsvergleich und Textinterpretation (am Beispiel von Robert Musils Erzählung Die Portugiesin), in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil (Anm. 41), S. 91–111, hier S. 91. Ebd.

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leicht unterschiedlichen Individualstile der Übersetzerinnen. Aufgebaut wird sie durch besondere Sprachmittel und Techniken, darunter Kausalsätze und Vergleichssätze, Wortwiederholungen und -variationen, die Prädikativerben ›scheinen‹, ›vorkommen‹ sowie verba sentiendi mit ihren bildlichen Komplementen. Stilmerkmale dieser Art sind im Originaltext durchgängig vorhanden, ebenso in den beiden Übersetzungen, dort allerdings mit niedrigerer Frequenz. Beispielsweise weist Musils Text im Vergleich zu den Übersetzungen eine höhere Anzahl an kausalen Konnektoren auf. Die italienischen Übersetzungen drücken die Kausalrelation nicht immer explizit aus, wie Beispiel (18) am ›so . . . dass‹-Konnektor (kursiv) zeigt: (18a) »Ich habe alles leichtfertig, falsch und so eingerichtet, daß es in keiner Weise mit mir zusammenhängt.« (MoE, S. 893) (18b) Ho messo su casa con leggerezza, in un modo sbagliato che non ha niente da fare con me. (Usq/E, S. 1014) (18c) Ho arredato tutto sbadatamente, male e in un modo che non ha alcun rapporto con me. (Usq/M, S. 315)

Auch die explizite Kodierung der Vergleichsrelation durch die ›als‹-Vergleichspartikel (kursiv) wird manchmal in den italienischen Versionen, wie Beispiel (19) zeigt, nicht mit äquivalenten Strukturen übersetzt: (19a) Agathe tat, als hätte sie etwas an dem Saum ihres Kleides zu schaffen, und bog den Kopf aus der Linie, auf der sich ihrer beider Blicke bisher vereinigt hatten. (MoE, S. 895) (19b) Agathe si dava da fare con l’orlo del vestito, e ritrasse il capo dalla linea lungo la quale i loro sguardi s’erano finora incontrati. (Usq/E, S. 1017) (19c) [. . .] Agathe prese a risistemarsi l’orlo del vestito e, chinando il capo, si portò fuori dalla linea lungo la quale i loro sguardi s’erano fino ad allora incontrati. (Usq/M, S. 318)

In den italienischen Versionen finden sich außerdem keine äquivalenten Strukturen für kontrafaktische Vergleichssätze, deren Untersatz durch ›als‹ oder ›als ob‹ eingeleitet wird, wie es z. B. in (20) der Fall ist (kursiv): (20a) »Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind« erklärte er. »Ich käme mir darin vor, als ob ich auch mich selbst bei einem Innenarchitekten bestellt hätte!« (MoE, S. 893) (20b) – Non posso soffrire le case fatte spiritualmente su misura, – spiegò. – Mi sembrerebbe di aver ordinato anche me stesso a un ambientatore! (Usq/E, S. 1014) (20c) »Non posso soffrire le case fatte su misura per l’anima« spiegò. »Mi sembrerebbe di aver ordinato anche me stesso a un arredatore!« (Usq/M, S. 315)

In beiden Beispielen (19) und (20) wäre eine äquivalente Struktur, eingeleitet durch die Konjunktion ›come se‹, durchaus möglich gewesen. Die quantitative Reduktion an Stilmitteln, die sich bei den italienischen Übersetzungen im Vergleich mit dem Original beobachten lässt, ist an sich nicht bedauerlich. Mit dem punktuellen Verlust von einzelnen Stileffekten an

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einzelnen Stellen muss bei jeder Übersetzung gerechnet werden. Dies erfolgt z. B., wenn Musil Wörter und Wortfamilien wählt, die etymologisch verwandt sind, um semantische Bezüge zu evozieren oder bestimmte Klangeffekte zu erzeugen. Wortspiele dieser Art können in den Übersetzungen nicht immer wortwörtlich reproduziert werden. Beispielsweise erscheint das Wort ›eigen‹ (›proprio‹) in Kapitel 24 als einfache Form sowie als Grundform des abgeleiteten Worts ›eigentlich‹ und als Bestimmungswort der Komposita ›Eigenschaft‹ und ›Eigenliebe‹. Die italienische Sprache verfügt über die äquivalente Wortfamilie ›proprio‹, ›propriamente‹, ›proprietà‹, ›amor proprio‹. Das Wort ›Eigenschaft‹ wird aber in Kapitel 24 mit ›qualità‹ übertragen, im Einklang mit dem Titel des Romans, der – aus nachvollziehbaren Gründen – L’uomo senza qualità und nicht senza proprietà lautet. Auch die Übersetzung von ›Eigenliebe‹ mit ›amor proprio‹ ist an sich verständlich, aber nicht unproblematisch.44 Ein weiteres Beispiel wäre die Modalpartikel ›eigentlich‹, die in jedem Kontext anders wiedergegeben wird, weil die italienische Sprache tendenziell die Modalitätsfunktion nicht durch Modalpartikeln, sondern durch andere Mittel ausdrückt. Ebenfalls ein Beispiel für grammatische Mittel, über die die deutsche Sprache verfügt und für die das Italienische keine Äquivalente hat, stellen die ›es‹-Pronominalformen dar, denen in Kapitel 24 wie schon in Musils frühem Roman Törleß,45 ein besonderer semantischer Wert zukommt und die im ganzen Text ein komplexes Netz von Relationen bilden, aus dem Sinn entsteht. So können Übersetzungsmängel auf der Ebene der Textkohäsion zu bedeutsamen Einbußen auf der Ebene der Kohärenz46 führen und 44

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Das deutsche Wort ›Eigenliebe‹ (auch ›Philautia‹) entspricht dem griechischen Wort ›philautia‹ (Selbstliebe). In der klassischen Kultur (u. a. bei Aristoteles) verweist das Wort auf eine Form der Selbstbehauptung, »die in Überwindung der niedrigen Ichfunktionen imstande ist, sich zum höheren geist- und vernunftbegabten Selbst zu erheben, dieses zu lieben und zu pflegen, damit dadurch die wahre Freundschaft erst ermöglicht wird« (Hendrik van Oyen: Selbstbehauptung, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 7 Bde. Hg. v. Kurt Galling. Bd. 5. Tübingen 1961. Sp. 1668–1672.) Als Lehnwort aus dem Griechischen ist im Italienischen auch ›filautìa‹ dokumentiert (vgl. https://www.treccani.it/vocabolario/filautia, aufgerufen am 10. 10. 2022). In Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit erscheint Filautía als Figur im Umkreis der Torheit. Die italienische Übersetzung gibt hier als Entsprechung ›amor proprio‹ (›Stolz‹) an, was die einigermaßen negative Vorstellung der Eigenliebe wiedergibt, die Erasmus’ mehrdeutige Lobrede vermittelt (vgl. Stefano Cavallotto: Introduzione, in: Erasmo da Rotterdam: Elogio della Follia. Hg. v. Stefano Cavallotto, Milano 2004, S. 7–114, hier S. 62). Wie Cetti Marinoni zeigen konnte, wird im Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) das ›es‹-Pronomen zur Chiffre des Unbewussten und des Irrationalen. Vgl. Bianca Cetti Marinoni: Sprach- und Stilprobleme der Törleß-Übersetzung, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil (Anm. 41), S. 227–239, hier S. 230. Die begrifflichen Relationen, die im Roman durch die Verwendung von ›es‹-Formen entstehen, konnten ihrer Meinung nach in den italienischen Übersetzungen durch den Gebrauch von Mitteln wie den Demonstrativpronomen ›questo‹/›ciò‹ oder Passivformen ohne Agens mit nur partiellem Erfolg wiedergegeben werden, weil diese zu einer »Rationalisierung des Originaltextes« (ebd., S. 233) führen. Textkohäsion bezieht sich auf Zeichenrelationen, die an die Grammatik geknüpft sind, Textkohärenz an Zeichenrelationen, die sich auf das kulturelle Wissen beziehen. Vgl. Duden. Die

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Einheit/Identität

Zweiheit/Dualität

›allein‹ (Adjektiv)

›ander‹ (Indefinitpronomen), ›anders‹ (Adverb), Etymologie: ahd. ›ander‹ (›der zweite‹)

›einfach‹ (Adjektiv), ›Einfachheit‹ (Substan- ›beide‹ (Pronomen und Zahlwort) tiv), ursprüngliche Bedeutung des Adjektivs: ›einmalig, nur einmal gemacht, nicht doppelt oder mehrmals vorhanden‹ ›eigen‹ (Adjektiv), ›Eigenschaft‹ (Substantiv) ›doppelt‹ (Adjektiv), Bedeutung: ›zweifach‹ ›Eigenliebe‹ (Substantiv) vgl. Anm. 44 ›zwei‹ (Zahlwort), ›zweit‹ (Ordinalzahl) ›ein‹ (Artikel) ›zweifeln‹ (Verb), Etymologie: ahd. ›zw¯ıfal‹ (›zwei‹ und ›falten‹) ›einzeln‹ (Adjektiv) ›zweideutig‹ (Adjektiv) ›einzig‹ (Adjektiv) ›zwischen‹ (Präposition)

Tab. 2: Wörter der semantischen Bereiche ›Einheit‹/›Zweiheit‹

das Verständnis der Ideenwelt Musils erheblich beeinträchtigen.47 Ein Beispiel dieser Art kann in Kapitel 24 und in der literarischen Konstruktion des ›anderen Zustands‹ durch die Selektion von bestimmten sprachlichen Mitteln beobachtet werden. Davon wird der letzte Abschnitt handeln.

2.5 Die sprachliche Konstruktion des ›anderen Zustands‹ Musils Stilmerkmale, die z. T. auch in den Übersetzungen erkennbar sind, verleihen dem Romantext eine besondere Qualität. Die sprachliche Textur des Romans bedingt seine Ideenwelt und gibt ihr literarische Konsistenz. Wie dies geschieht, wird an Hand von zwei sprachlichen Phänomenen gezeigt, die in Kap. 24 häufig vorkommen und nur im Originaltext, nicht aber in den italienischen Übersetzungen systematisch zu beobachten sind. Aus diesem Grund wird in diesem Abschnitt darauf verzichtet, den Zitaten in der Originalsprache die entsprechenden Versionen gegenüberzustellen. Das erste Phänomen betrifft im Text häufig auftauchende Wörter aus unterschiedlichen Wortklassen und mit unterschiedlichen Funktionen, die jeweils auf die semantischen Bereiche ›Einheit‹/›Identität‹ versus ›Zweiheit‹/

47

Grammatik. Hg. v. Angelika Wöllstein u. der Dudenredaktion. 9., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin 2016, S. 1077. Von »Kohärenz- und Kohäsionsverlusten« spricht Isabella Musso mit Bezug auf Übersetzungsmängel, die sie in der ersten italienischen Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften auf der Ebene der fortgesetzten, über Einzelwörter hinausgehenden Metaphern hervorhebt. Es handelt sich dabei um zwei Einzelbeispiele, die die Systematik der semantischen Interrelationen innerhalb der Textur des Romans nicht erkennen lassen. Vgl. Isabella Musso: Traducibilità e

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Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Übersetzung

Neutrale Pronomen

Frequenz

›es‹ dient der Referenz auf eine Sache; es kann in verschiedenen Funktionen vorkommen: als Subjekt oder Objekt, Platzhalter für Subjekt- oder Objektsätze, Vorfeld-Platzhalter. ›das‹ weist auf bereits Bekanntes oder noch zu Kennzeichnendes hin; nimmt den Inhalt eines vorhergehenden Satzes wieder auf. ›alles‹, Indefinitpronomen, das eine Ganzheit bzw. Gesamtheit bezeichnet. ›was‹ weist auf etwas Allgemeines hin, von dem etwas Näheres ausgesagt wird. ›etwas‹ bezeichnet ganz allgemein ein nicht näher Bestimmtes. ›vieles‹, ›manches‹, ›anderes‹, ›ähnliches‹, ›nichts‹, ›das einzige‹ da-Adverbien ›da‹: als Konjunktion drückt ›da‹ eine Kausal- oder Temporalrelation (Gegenwärtigkeit) aus; als Adverb: ›an dieser Stelle, dort‹, ›hier; zu diesem Zeitpunkt‹ (vgl. duden.de). Manchmal ist die Referenz von ›da‹ nur formal. Insgesamt handelt es sich um ein mehrdeutiges Wort, das nicht immer auf deutlich identifizierbare Gegenstände verweist. ›darüber‹, ›dabei‹, ›davon‹, ›dafür‹, ›dadurch‹, ›damit‹, ›darin‹, ›darum‹, ›daran‹, ›daraus‹, ›dahin‹: zusammengesetzte Adverbien mit ›da‹ als Verweis für Dinge und Sachverhalte, auf die sich die jeweilige Präposition bezieht.

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26

Tab. 3: ›Wörter der Unbestimmtheit‹ und ihre Frequenzen in Kap. 24

›Dualität‹ zurückgeführt werden können.48 Tab. 2 listet die wichtigsten Vertreter der beiden semantischen Bereiche auf.49 Im zweiten Fall geht es um häufig vorkommende Pronomen und ProFormen, darunter vor allem das Neutralpronomen ›es‹ und das deiktische Adverb ›da‹, die unbestimmte bzw. ambige Referenz aufweisen. Eine Übersicht der einschlägigen Sprachmittel bietet Tab. 3. Durch diese sprachlichen Mittel bildet sich ein Netz von Bezügen heraus, welche die sprachliche Textur des Kapitels prägt. Die entgegengesetzten Begriffe ›Identität‹/›Dualität‹ sind auf Ulrich und Agathe, die einzigen im Ka-

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49

traduzione delle metafore. La traduzione delle metafore nella versione italiana dell’Uomo senza qualità, in: Italienisch – Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 28 (1992), S. 38–51. Dass sich das Thema der Identität in Musils Roman auch auf der Ebene der Textkohäsion zeigt, wird auch von Peter Utz hervorgehoben. In seiner Studie über die französische und englische Übertragung des Mann ohne Eigenschaften beobachtet er, dass Ulrichs nebulöse Identität auch »sprachlich abstrakt« dargestellt wird: »[Das Problem der Identität] löst sich vom ›Menschen‹, in schwerfälligen Formulierungen wie vom ›Haben‹ von ›Eigenschaften‹ und ›ihrem Fremdbleiben‹ oder in abstrakten Nominalsuffixen auf ›-heit‹ und ›-keit‹, die sich zur ›Allgemeinheit‹ und ›Personenhaftigkeit‹ steigern.« (Vgl. Peter Utz: Anders gesagt, autrement dit, in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007, S. 256). Wenn nicht anders angegeben, sind in den Tabellen 2 und 3 die Angaben zu den einzelnen Wörtern dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache entnommen (https://www.dwds.de/) (jeweils einschlägige Stichwörter).

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pitel auftretenden Figuren, bezogen. In der Erzählung werden sie jeweils als ›Bruder‹ und ›Schwester‹ bezeichnet und als einzelne Identitäten profiliert. Von Ulrich wird beispielsweise hervorgehoben, dass er »sein Leben lang und noch vor wenigen Stunden allein gewesen sei« (MoE, S. 896, unsere Hervorhebung). Agathe wird »eine Fremde« (ebd., S. 895), »eine fremde Frau« (ebd., S. 897) genannt, wobei der unbestimmte Artikel die Einzelheit der durch das Nomen bezeichneten Realität heraushebt; das Attribut ›fremd‹ betont ihre Alterität. Zugleich werden Ulrich und Agathe als ›Geschwister‹ bezeichnet: Das Wort enthält das gemeingermanische Präfix ›ge-‹, das von dem Begriff des Zusammenseins, der Zusammengehörigkeit, der Vereinigung ausgeht.50 Die Wiedervereinigung der Geschwister wird in Kap. 24 durch einschlägige Verbformen (u. a. ›gemeinsam essen‹; ›beisammen bleiben‹; ›beisammen sein‹; ›beisammen sitzen‹; ›zusammenkommen‹, ›zusammenstoßen‹) thematisiert, wie zum Beispiel im folgenden Satz: (21) »Mit einem andern Wort, wir dürfen doch als Geschwister manches nicht tun, was wir uns als Einzelne gestattet haben; gerade darum sind wir ja zusammengekommen.« (MoE, S. 894)

Ihre physische Vereinigung wird in Kap. 24 synekdochisch angedeutet und der Linie zugeschrieben, »auf der sich ihrer beider Blicke bisher vereinigt hatten« (MoE, S. 895). Die zahlreichen Verweise auf das Begriffspaar ›Einheit‹/›Zweiheit‹ leiten die Gespräche der Geschwister ein, die nach Agathes Ankunft beginnen. In diesem Kapitel geht es dabei vor allem um das Haus, das bisher Ulrich allein gehörte und nun zu einem Haus für zwei eingerichtet werden soll. Die Neueinrichtung des Hauses wirkt dabei als fortgesetzte Metapher für die Einrichtung einer neuen Moral:51 (22) »Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich, weil man es ebensogut anders hätte machen können. Ich habe keine Verantwortung gefühlt. Weniger sicher wäre es, wenn ich dir erklären wollte, daß die Unverantwortlichkeit, in der wir heute unser Leben führen, schon die Stufe zu einer neuen Verantwortung sein könnte.« (MoE, S. 894)

Die Gespräche darüber dauern, bis Agathe zur Verwirklichung der Pläne auffordert – vgl. den Kommentar zu (8) – und der Prozess der Neueinrichtung des Hauses tatsächlich beginnt. In der Folge werden die Gefahren deutlich, die den Geschwistern drohen. Die erste Gefahr besteht darin, Liebe als Besitz zu interpretieren. Darauf 50 51

Vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Schlagwort ›ge-‹, https://www.dwds.de/wb/ ge- (aufgerufen am 29. 11. 2022). Dafür spricht auch die weite Bedeutung des Verbs ›einrichten‹: ›etw. Krummes gerademachen, in eine gerade Lage, Stellung, Richtung bringen, auf ein Ziel hinlenken, in Ordnung bringen, Recht sprechen‹. Vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Schlagwort ›einrichten‹, https://www.dwds.de/wb/einrichten (aufgerufen am 29. 11. 2022).

Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Übersetzung

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spielt u. a. das Jagd-Gleichnis an: Ulrich räumt seine Schränke aus »wie ein Jäger ein Tier ausweidet« (MoE, S. 896).52 Er scheint außerdem dazu zu neigen, die Rolle des ›Besitzers‹ zu spielen, wenn er Entzücken darüber empfindet, dass Agathe »nun ihm gehöre und von ihm entdeckt sein wollte« (MoE, S. 897, unsere Hervorhebung). Als Gegenstück dazu kann Agathes Reaktion zu dem »Abenteuer« gelten, das sie erlebt, als sie im Bad allein ist. Dieses »Abenteuer, das wie der Wolf in diese friedliche Augenweide einbrechen wollte« (MoE, S. 897), besteht darin, dass sie entkleidet ist und keine Bedienung zur Verfügung hat, die ihre Kleider holen kann. So muss sie sich für Konventionen oder für Natürlichkeit entscheiden: (23) Aber Agathe zweifelte fröhlich, ob es bei der ernsten Vertraulichkeit, die zwischen ihnen zwar noch nicht lebte, aber doch soeben geboren würde, erlaubt sei, sich so wie eine junge Dame zu betragen und Ulrichs Rückzug zu erflehen, und sie beschloß, keine zweideutige Weiblichkeit anzuerkennen und als das natürliche Duwesen, das sie ihm auch in spärlicher Bekleidung zu bedeuten hatte, vor ihm zu erscheinen. (MoE, S. 898)

Agathe entzieht sich der Rolle als Objekt und zeigt sich als ›Duwesen‹.53 Auf diese Weise kann die Bedeutung des Worts als ›wirklich existierendes Du‹ ausgelegt werden. Das Wort stellt eine ad-hoc-Bildung dar, spielt aber vielleicht auch auf die zeitgenössische Ich-Du-Philosophie an sowie auf die hinter der Romanhandlung versteckte philosophische Frage nach einem Ich-Du-Verhältnis, das durch Wechselseitigkeit ausgezeichnet ist und sich vom Ich-EsVerhältnis unterscheidet.54 Die ›Identität‹/›Alterität‹-Opposition spiegelt sich auch in dem für die Form der Wechselrede üblichen Gebrauch der auf Sprecher und Hörer bezogenen Kommunikanten-Pronomina der ersten und zweiten Person wider. In den Dialogen der Geschwister spielen neben den Pronomen ›ich‹ und ›du‹ auch ›wir‹ und ›beide‹ eine Rolle. Das ›wir‹ (aus der Innenperspektive) wird durch das ganze Kapitel hindurch verwendet, ›beide‹ (aus der Außenperspektive) kommt aber im Kap. 24 nur vier Mal vor, drei Mal unmittelbar nach der Stelle mit dem ›Duwesen‹. Das Pronomen, das explizit ›Zweiheit‹ meint, wird erst nach dieser kleinen Krise verwendet, die das Abenteuer bedeutet. 52

53 54

Die Rede von ›männlichem Jäger‹ und ›weiblichem Wild‹ erscheint nach Birgit Nübel im Mann ohne Eigenschaften »geradezu leitmotivisch« als Chiffre »sexueller Gewalt« (Birgit Nübel: Sexualität und [Geschwister-]Liebe, in: Robert-Musil-Handbuch [Anm. 17], S. 622–630, hier S. 625). Das Wort ›Duwesen‹ (kursiv) ist eine Zusammensetzung aus dem Pronomen ›Du‹ und dem Substantiv ›Wesen‹, wobei ›Wesen‹ eine Nominalisierung der mit nhd. ›sein‹ etymologisch verwandten ahd. Verbform ›wesen‹ darstellt. Die Vorstellung des Ich-Du-Verhältnisses als gegenseitiges Miteinander von Zweien ist nach Theunissen charakteristisch für das gegenwärtige Denken. Vgl. Michael Theunissen: Ich-DuVerhältnis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Bd. 4. Basel 1976, Sp. 19–21.

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Die Handlungsebene des Kapitels, das von Agathes Ankunft bis zur Einrichtung eines gemeinsamen Hausstands reicht, wird durch eine sprachliche Textur unterstützt, zu der zahlreiche Mosaiksteine wie das ›Duwesen‹ sowie die hohe Frequenz der beiden semantischen Bereichen ›Einheit‹/›Identität‹ versus ›Zweiheit‹/›Dualität‹ gehören. Dass diese sprachliche Textur im Italienischen schwer wiederzugeben ist, liegt z. T. an der etymologischen Verwandtschaft und der Struktur von Wortfamilien. Das Wort ›zwei‹, um ein Beispiel dafür zu geben, taucht in Kap. 24 als Kern einer Wortfamilie auf: ›zwei‹ ist in Kap. 24 als Zahlwort vorhanden, sowie in Adjektivform (›zweit‹) und als Adjektivkompositum (›zweideutig‹), es klingt außerdem in den vorkommenden Formen des etymologisch verwandten Verbs ›zweifeln‹ an. Eine ähnliche Vernetzung kann in den italienischen Textversionen nur auf thematischer Ebene hergestellt werden: Das Dualitätsmotiv kann durch die italienischen Wörter ›due‹, ›secondo‹, ›ambiguo‹ und ›dubitare‹ vermittelt werden, wobei die Wortmorphologie fast keine sichtbare Verwandtschaft zeigt (gemeinsame Herkunft haben allerdings das Zahlwort ›due‹ und das Verb ›dubitare‹). An die Grenze der Übersetzbarkeit gelangt Musils Stil auch durch seinen häufigen und auffälligen Gebrauch von ›Wörtern der Unbestimmtheit‹. Es handelt sich dabei vor allem um neutrale Pronomen und ›da‹-Adverbien, d. h. Mittel, die im Italienischen keine genauen Äquivalente haben. Neutrale Pronomen sind – wie alle Pronomen – semantisch undeterminierte Zeichen, die nur durch Referenz bestimmt werden. Die formalen Relationen zu den Referenten können im Text unterschiedlich genau und deutlich ausgedrückt werden. In literarischen Texten kann es zu einer »unkooperativen« Verwendung der Pronomen als Stilzug kommen, der angesichts des Standardgebrauchs der Sprache auffällig ist und besondere Effekte »poetischer Ambiguität«55 bewirkt. In Kapitel 24 verweisen sie auf etwas Ungreifbares im klaren Handlungsverlauf. Als ›Wörter der Unbestimmtheit‹ dienen Neutralpronomen (kursiv) beispielsweise in der folgenden Reflexion des Erzählers: (24) Etwas schönfinden, heißt ja wahrscheinlich vor allem, es finden: mag es eine Landschaft oder eine Geliebte sein, da liegt es, blickt dem geschmeichelten Finder entgegen und scheint einzig und allein nur auf ihn gewartet zu haben; [. . .] (MoE, S. 897).

Als Objekt des Verbs ›finden‹ wird in (24) das Pronomen ›es‹ angegeben, welches in dieser kurzen Textstelle dreimal vorkommt und als grammatischer Bezug nur das Indefinitpronomen ›etwas‹ hat. Neutralpronomen der dritten Person Singular werden in Kap. 24 auch in anderen Textpassagen nicht-re55

Vgl. dazu Marina Foschi Albert: Kooperative und unkooperative Verwendung von Pronomen in Texten der Physik und der Literatur (Kafka, Thomas Mann) aus dem frühen 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Verbandes polnischer Germanisten 1 (2012), S. 5–73.

Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Übersetzung

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ferentiell oder mit allgemeiner bzw. unbestimmter Referenz verwendet. Als weiteres Beispiel mag die folgende Textstelle gelten: (25) Wirf alles, was du hast, ins Feuer bis zu den Schuhen. (MoE, S. 892)

In (25) kommen zwei Neutralpronomen vor (kursiv): das Indefinitpronomen ›alles‹ und das Relativpronomen ›was‹, das einen Attributsatz einleitet. Insgesamt vermittelt der Aufforderungssatz kein konkretes Bild davon, was ins Feuer geworfen werden soll. Unbestimmte Referenz ergibt sich im Text auch durch adverbiale ›da‹Pro-Formen, wie es im folgenden Beispiel der Fall ist: (26) [a] Es war etwas teilnahmlos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes in diesem Haus, das sie erschreckte. [b] Ulrich, der es bemerkte, entschuldigte sich dafür und gab scherzhafte Erklärungen. (MoE, S. 893)

(26) besteht aus einem Kopulasatz [a], in dem das ›es‹-Subjekt (kursiv) in Korrelat-Funktion zu der komplexen Nominalgruppe auftritt, die als Prädikativ fungiert (unterstrichen). Der prädikative Inhalt der Nominalgruppe wird im Wesentlichen durch die Verbform ›erschreckte‹ vermittelt – das Prädikat im Attributsatz ›das sie [Agathe] erschreckte‹.56 Als Subjekt des Satzes dient das auf den Inhalt des vorhergehenden Kopulasatzes bezogene Relativpronomen der dritten Person ›das‹. Kern der prädikativen Nominalgruppe in [a] ist das Indefinitpronomen ›etwas‹ (kursiv), das auf die substantivierte Verbform ›Angehäuftes‹ (fett) verweist. Das Subjekt-Pronomen ›es‹ nimmt Bezug auf das Indefinitpronomen ›etwas‹, welches sich wiederum auf die Nominalgruppe ›teilnahmlos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes‹ bezieht, deren Kern ›Angehäuftes‹ ist. Das Nomen ›Angehäuftes‹ gibt einen nur allgemeinen, vagen Verweis auf das Objekt bzw. Ereignis der realen Welt, das Agathe erschreckt. In [b] kommt ein weiteres ›es‹-Pronomen im Relativsatz vor, der als Attribut des Subjekts dient (›Ulrich, der es bemerkte . . .‹). Das ›es‹ stellt einen allgemeinen Verweis auf den Inhalt des vorhergehenden Satzes dar. Es erhebt sich die Frage: ›Was‹ bemerkt Ulrich? Die Frage danach, worauf sich das Pronomen ›es‹ bezieht, lässt mindestens zwei Antworten zu. 1. dass es in seinem Haus etwas Angehäuftes gibt; 2. dass Agathe erschrickt. Eine vage Bezugnahme ergibt sich in (26) auch durch das Satzprädikat ›entschuldigte sich dafür‹. Die Frage ist hier, wofür sich Ulrich entschuldigt: Dass er etwas bemerkt? Dass Agathe erschrickt? Dass es in seinem Haus etwas Angehäuftes gibt? Die semantische Ambiguität liegt an der Verbergänzung, dem Präpositionaladverb ›dafür‹. Genauer gesagt hängt die semantische Mehrdeutigkeit vom Bestimmungswort des zusammengesetzten Adverbs ›dafür‹ ab: dem Wort ›da‹. Durch die unbestimmte Referenz der Sprachmittel wird die Vorstellung einer Vielfältigkeit des Realen vermittelt, die dem Ich gegenübersteht und es 56

Das Nomen ›Agathe‹ ist im vorhergehenden, in (26) nicht wiedergegebenen Text enthalten.

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zu überwältigen droht. Diesem Realen ist Ulrich bereit sich auszusetzen, da er sich nicht damit begnügt, ein ›Durchschnittsleben‹ zu führen. (27) Du weißt doch: das Leben einer einzelnen Person ist vielleicht nur eine kleine Schwankung um den wahrscheinlichsten Durchschnittswert einer Serie. (MoE, S. 894)

Der Mann ohne Eigenschaften ist von Beginn der Romanhandlung an auf der Suche nach einem anderen Zustand. Seit der Ankunft Agathes – von der Kapitel 24 berichtet – ist er nicht mehr allein. Die alte, fremde Einrichtung seines Hauses wird abgeschafft und eine neue ›Unordnung‹ etabliert: (28) Anzüge häuften sich auf Stühlen, auf den Glasborden des Badezimmers wurde durch sorgfältiges Zusammenschieben aller der Körperpflege dienenden Geräte eine Herren- und eine Damenabteilung geschaffen; als alle Ordnung einigermaßen in Unordnung gebracht war, standen schließlich nur noch die leuchtenden Lederpantoffeln Ulrichs verlassen auf der Erde und sahen aus wie ein gekränkter Schoßhund, der aus seinem Körbchen geworfen worden ist, ein Jammerbild der zerstörten Bequemlichkeit in ihrer so angenehmen wie nichtigen Natur. (MoE, S. 896)

Die Abschaffung der alten Ordnung – des Alleinlebens – führt zur Neubelebung der leeren Form, wie in (28) das Bild seiner »verlassen[en]«, aber »leuchtenden« (ebd., S. 896) Lederpantoffeln suggeriert. Andererseits scheint die neue Einrichtung der Gefahr zu unterliegen, eine neue leere Ordnung zu schaffen, wie es im Bild von den getrennten Herren- und Damenabteilungen zu bemerken ist, die durch die Entleerung des Raums, wo bisher viele Gegenstände waren, erzeugt wurden. So wird thematisch darauf hingewiesen, dass der Zustand der Einheit-in-der-Zweiheit nicht abstrakt bleiben kann, vielmehr mit der alltäglichen Realität in Kontakt treten soll. Die Konkretisierung der Utopie erfolgt auf sprachlicher Ebene durch Verwendung eines Ausdrucksmittels, das auf eine unbestimmte Realität Bezug nimmt, die zugleich hic et nunc – in der beschriebenen Erzählsituation – konkret vorhanden ist. Das grammatische Mittel ist das Adverb ›da‹. Als Ergänzung von Präpositionen in Präpositionaladverbien ist ›da‹ mehrdeutig. Wie mit Bezug auf ›dafür‹ in (26) schon gezeigt werden konnte, kann ›da‹ auf Unbestimmtes verweisen. Ein weiteres Beispiel dieser Art ist ›davon‹ in (29) (fett): (29) [a] Das einzige, was man davon sagen konnte, war: es sei da. [b] Es war da, wo zuvor nichts gewesen war. (MoE, S. 897)

Das Adverb ›davon‹ in (29) ist Teil des Relativsatzes (unterstrichen), der als Attribut der Nominalgruppe ›das einzige‹ dient. Das nominalisierte Adjektiv ›(das) einzige‹ gibt an sich keinen Verweis auf einen bestimmten Referenten. Sein satzförmiges Attribut ermöglicht eine semantische Erweiterung, wobei die Verweise unbestimmt bleiben. Die Nominalgruppe bedeutet nämlich un-

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gefähr: ›man kann davon nur sagen . . .‹. Das Präpositionaladverb ›davon‹ gibt keinen bestimmten Verweis, sondern zeigt im Allgemeinen auf den vorhergehenden Textteil zurück: Es handelt sich dabei um die hier unter (17) wiedergegebene Textstelle, die Ulrichs Wahrnehmung von der physischen Realität seiner Schwester beschreibt. Die Nominalgruppe fungiert als Subjekt des Kopulasatzes [a], dessen Prädikativ durch den Satz ›es sei da‹ gebildet wird. Das Prädikat wird durch das Verb ›da sein‹ ausgedrückt, welches – aufgrund des Bestimmungswort ›da‹ – drei Hauptbedeutungen übernimmt: 1. dort, hier sein; 2. zu etwas da sein, einen Zweck haben; 3. vorkommen, sich ereignen.57 Subjekt des Prädikativsatzes ›es sei da‹ ist das Pronomen ›es‹, das wiederum keinen eindeutigen Referenten im vorhergehenden Textteil hat, wo es eben keine Nominalgruppen gibt, die eine grammatische Anknüpfung ermöglichten. Ähnliches geschieht im darauffolgenden Satz [b], der die Struktur des Satzes ›es sei da‹ leicht variiert, wobei die Referenz vage und unbestimmt bleibt. Die erste Änderung betrifft Tempus und Modus der Verbform (›war‹ statt ›sei‹), was den Wechsel der Erzählperspektive markiert: in [a] geht es anscheinend um die Ulrichs, in [b] um diejenige des Erzählers. Die zweite Modifikation dreht sich um das Adverb ›da‹, welchem das Attribut ›wo zuvor nichts gewesen war‹ zuschrieben wird. Auch der Inhalt des Attributs verhilft nicht dazu, den Referenten zu identifizieren. Eine logische Anknüpfung ergibt sich durch die Wiederholung desselben Prädikats ›da sein‹, das in anderen Textstellen – sogar im Titel des Kapitels – mit Agathe als Subjekt syntaktisch verbunden wird: (30) Bei allen diesen Beschäftigungen konnte er aber eigentlich nichts anderes denken als ununterbrochen das eine, daß er sein Leben lang und noch vor wenigen Stunden allein gewesen sei. Und nun war Agathe da. Dieser kleine Satz: »Agathe ist jetzt da« wiederholte sich in Wellen, erinnerte an das Staunen eines Knaben, dem ein Spielzeug geschenkt worden ist, hatte etwas den Geist Hemmendes an sich, aber anderseits auch eine schier unbegreifliche Fülle an Gegenwart, und führte, alles in allem, immer wieder auf den kleinen Satz zurück: »Agathe ist jetzt da.« (MoE, S. 896)

Die parallelen Formulierungen ›es sei da – Agathe ist (wirklich) da‹ deuten daraufhin, dass ›es‹ bzw. das Unbestimmte sich für Ulrich in Agathe verkörpert; ihre Ankunft führt zur Aktualisierung des ›anderen Zustands‹. Durch die Vernetzung von Wörtern, die auf die semantischen Sphären von ›Einheit‹/›Ich‹ und ›Zweiheit‹/›Du‹ verweisen, sowie von solchen, die Unbestimmtes anzeigen, gewinnt das Kapitel eine sprachliche Textur, die über diese Aktualisierung des anderen Zustands weit hinaus geht. ›Es‹-Pronomen können im Text auch auf wichtige Themen der Romanhandlung anspielen, die durch Nomen mit neutralem Genus bezeichnet werden, darunter ›Experi57

Vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Schlagwort ›da sein‹ (https://www.dwds.de/ wb/wir, aufgerufen am 29. 11. 2022).

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ment‹, ›Leben‹, ›(tausendjähriges) Reich‹, ›Haus‹. Zudem erlaubt die deutsche Sprache Verbsubstantivierungen, die das neutrale Genus übernehmen, z. B. ›das Zusammenschieben‹, ›Beisammensein‹, und sich als besonders geeignet für Musils Darstellung des Zustands des Vereintseins als einer – so Peter Utz – von Ulrich und Agathe losgelösten »abstrakte[n] Größe«58 erweisen. Auch in Bezug auf die italienischen Übersetzungen kann im Grunde das behauptet werden, was Utz im Rahmen seiner Untersuchung der französischen und englischen Übersetzung feststellt, und zwar, dass sie »dem Deutschen in solche Abstraktionsanstrengungen [nicht] zu folgen vermögen.«59 Die dichte Vernetzung, die die zahlreichen ›es‹-Pronomen und indefinite Neutralpronomen im deutschsprachigen Text bilden, stellt mögliche Scheinbezüge (nicht grammatisch motivierte) zu neutralen Substantiven dar, die eine wichtige thematische Rolle spielen. Anspielungen und Suggestionen werden damit hervorgerufen: Der ›andere Zustand‹ wird auf diese Weise evoziert und literarisch dargestellt. Er ist da.

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»Im Spiegel der Lektüren von Jaccottet und Wilkins/Pike tritt hervor, wie sehr Musil den Zustand des ›Vereintseins‹ als abstrakte Größe von Ulrich und Agathe löst, um sie erst im schon fast eucharistischen Bild von Wasser und Wein wieder zu rekonkretisieren. Das abstrakte deutsche Substantiv steht statt eines erwartbaren Verbs, wie es sowohl die englischen als auch die französische Übersetzung einführen, weil ihnen hier wie an vielen anderen Stellen die Abstraktionsformen Musils unzugänglich erscheinen. Deren Notwendigkeit zeigt sich aber gerade hier, weil nur sie die Utopie des ›Vereintseins‹ als sprachlich hergeleitetes, insofern abstraktes Postulat ausdrücken können.« (Utz: Anders gesagt [Anm. 48], S. 285). Ebd., S. 257.

Anna Lindner

Die unscheinbarsten Dinge sind nicht »Les plus insignifiantes« Oder: Julio Cortázar liest L’Homme sans qualités und Young Törless und schreibt Rayuela Abstract: In his »antinovela« Rayuela (Hopscotch) the Argentinian writer Julio Cortázar quoted a paragraph from Die Verwirrungen des Zöglings Törleß and mentioned Robert Musil various times. This paper outlines Musil’s influence on Cortázar, who read the Austrian writer’s work mainly in Philippe Jaccottet’s translation. It further discusses the English and French versions of the quoted Törleß-paragraph, since Cortázar knew Les désarrois de l’élève Törless as well as Young Törless but relied on the latter when it came to including a piece of the text in his own novel. The translation analysis aims to shed light on two questions: can Cortázar’s preference be related to the specifics of Rayuela, and is it the ›better‹ choice regarding the original text?

1. Törleß drückt etwas perfekt aus – Einleitung Julio Cortázars 1963 erschienener Roman Rayuela ist ein Hypertext avant la lettre: Nicht nur wird die Leserschaft dezidiert aufgefordert, den Roman nicht in der linearen Reihenfolge der Buchseiten zu lesen; der letzte Teil der Kapitel, die durch eine hin- und herspringende Lektüre in den chronologischen Handlungsverlauf eingeschaltet werden sollen, besteht aus Handlungssequenzen, angeblich von dem fiktiven Autor Morelli stammenden Reflexionen sowie fremden Texten bzw. Textfragmenten literarischer, (populär-)wissenschaftlicher und publizistischer Natur. Darüber hinaus wird dem/der Leser:in dezidiert die Wahl gelassen, den letzten Teil gar nicht zu lesen – weshalb er »capítulos prescindibles«1 , »entbehrliche Kapitel«2 überschrieben ist. In einem dieser Kapitel, dem 102., zitierte Cortázar einen Absatz aus den Verwir1

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Julio Cortázar: Rayuela. Edición critica. Hg. v. Julio Ortega u. Saúl Yurkievich. 2. Aufl. Madrid, Paris u. a. 1996 (= Colección Archivos, Bd. 16), S. 3. – Der Romantext dieser Ausgabe und die dazugehörigen Paratexte werden im Folgenden mit der Sigle »R« im Fließtext zitiert; Sekundärtexte aus dieser Ausgabe werden in Fußnoten nachgewiesen. Spanischsprachigen Zitaten wird, so sie nicht selbsterklärend sind oder im Text paraphrasierend und/oder erläuternd aufgegriffen werden, eine deutsche Übersetzung beigestellt. Zitate aus Rayuela werden im Allgemeinen nach der deutschen Ausgabe (Julio Cortázar: Rayuela. Himmel-und-Hölle. Übers. v. Fritz Rudolf Fries. Berlin, Weimar 1987, im Fließtext mit der Sigle »R-HH« zitiert) wiedergegeben. Wo es geboten scheint, von dieser Übersetzung abzuweichen, wird dies angemerkt – so auch bei der Wiedergabe von »capítulos prescindibles«, die bei Fries weniger genau und vielleicht weniger sarkastisch »Kapitel, die man getrost beiseite

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rungen des Zöglings Törleß bzw. – präziser – aus Törleß’ Notizbuch, welches dieser mit »De natura hominum« (GW 6, S. 88) betitelt hat.3 Die Funktion solcher aus anderen Werken übernommener Passagen beschrieb Cortázar in einem Interview einmal so: »[A]lgunos de los peqeños fragmentos los pongo en Rayuela porque lo que dicen es perfecto, no se puede decir mejor. Entonces para qué hacerles hablar a los personajes sobre ese tema cuando ya está escrito, ya está dicho mejor de lo que yo podía hacer.« (»Einige der kurzen Fragmente nehme ich in Rayuela auf, weil sie etwas perfekt ausdrücken, man kann es nicht besser sagen. Warum sollte ich die Figuren über das Thema reden lassen, wenn es schon aufgeschrieben wurde, wenn es schon besser gesagt wurde, als ich es jemals tun könnte.«)4 Eines übersah oder unterschlug Cortázar in seiner Erklärung allerdings: Wenn es sich nicht um im Original spanischsprachige Texte handelte, stammten die vorgeblich »perfekt« formulierten Zitate gar nicht vom jeweils genannten Autor. Im Brotberuf noch als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen tätig, drückte der Argentinier vielmehr mit seinen eigenen Worten aus, was »man [. . .] nicht besser sagen« kann. Das trifft auch auf den Törleß-Absatz zu. Ihn übernahm Cortázar nicht aus Roberto Bixios 1960 unter dem Titel Estudiante Törless publizierter Übersetzung, übertrug ihn – wozu seine Deutschkenntnisse wohl nicht ausgereicht hätten5 – aber auch nicht nach Musils Worten, sondern übersetzte Wilkins’/Kaisers Young Törless – das ist durch das Manuskript von Rayuela, wo sich die Passage noch auf Englisch zitiert findet, belegt (vgl. R, S. 375, Anm. a), wird aber auch durch den Wortlaut deutlich. Im Original und den drei Übersetzungen beginnt der Absatz so: Musil: »Welche Dinge sind es, die mich befremden? Die unscheinbarsten.« (GW 6, S. 89) Bixio: »¿Cuáles son las cosas que me parecen extrañas? Las más insignificantes.«6 Wilkins/Kaiser: »What are the things that seem odd to me? The most trivial.«7 Cortázar: »¿Cuáles son las cosas que me parecen extrañas? Las más triviales.« (R, S. 375)

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lassen kann« (S. [385]) heißen. – Die deutsche Version auch aller anderen spanischsprachigen Zitate, etwa aus den edierten Materialien zu Rayuela, stammt von der Verfasserin. Die Passage wird in Abschnitt 7 vollständig wiedergegeben. Evelyn Picon Garfield: Cortázar por Cortázar, in: Cortázar: Rayuela (Anm. 1), S. 778–789, hier S. 784. Cortázar hatte versucht, sich selbst Deutsch beizubringen – angeblich, um Rilke im Original lesen zu können, wie er 1941 gegenüber Mercedes Arias brieflich behauptete: »Yo he estudiado el alemán para leer a Rilke« (Julio Cortázar: Cartas, Bd. 1: 1937–1963, hg. v. Aurora Bernárdez. Madrid 2000, S. 112). Zwei Jahre davor hatte er an dieselbe Adressatin geschrieben, Rilke sei »the greatest poet that Germany ever had« (ebd., S. 61) – ein Satz, der sich mit Musils Urteil über die Vervollkommnung des deutschsprachigen Gedichts anlässlich der Rilke-Feier (vgl. GW 8, S. 1230) vergleichen lässt. Robert Musil: Las tribulaciones del estudiante Törless. Übers. v. Roberto Bixio. Barcelona 2002 (= Biblioteca Formentor), S. 125. Robert Musil: Young Törless. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. New York 1958, S. 133.

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Cortázar hatte diese Stelle in seinem Exemplar von Young Törless angestrichen; wie die Datierung auf dem Titelblatt zeigt, hatte er es in »Viena 61« gelesen, wohl während eines Aufenthalts im Rahmen seiner Übersetzertätigkeit für die Internationale Atomenergiebehörde.8 Den Absatz, den er in Rayuela einbezog, hatte Cortázar allerdings auch in seiner Ausgabe von Les désarrois de l’élève Törless angestrichen: Dessen erste beide Sätze lauten: »Quelles sont les choses qui me déconcertent? Les plus insignifiantes.«9 Es stellt sich also die Frage, warum Cortázar gerade Young Törless zur Vorlage wählte. Was daran ist – nach Cortázars Vorstellungen – »dicho mejor«, »besser gesagt«, als in Jaccottets Übersetzung? Lässt sich dieses Urteil verallgemeinern, trifft es also auch in Bezug auf das Musil’sche Original zu? Für die Erhellung beider Aspekte bedarf es einer Analyse der englischen und französischen Übersetzungen und des Vergleichs mit den Verwirrungen des Zöglings Törleß ebenso wie mit der Passage in Cortázars Worten. Ebenso aber gilt es zu klären, was Cortázar in dem Absatz überhaupt perfekt ausgedrückt fand. Dafür soll zuerst ein Blick auf seine Musil-Rezeption geworfen und Rayuela vor diesem Hintergrund diskutiert werden.10

2. Cortázars Musil-Rezeption und die Entstehung von Rayuela Die spanischsprachige Musil-Rezeption setzte erst in den 1960er Jahren ein. Cortázar lernte Musils Werk also aller Wahrscheinlichkeit nach in Frankreich kennen – er lebte seit 1951 in Paris. Davon zeugt auch seine nachgelassene Bibliothek, die in der Fundación Juan March in Madrid aufbewahrt wird: Dort finden sich, neben dem englischen und französischen Törleß,11 französische Erstausgaben12 aller zu Lebzeiten Musils publizierter Texte; sie waren 8 9 10

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Vgl. die Abbildung in Anna Lindner: Julio Cortázars Rezeption der Literatur Robert Musils. Dipl.-Arb. Univ. Wien 2009, S. 240. Robert Musil: Les désarrois de l’élève Törless. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1978, S. 148. Die Abschnitte 2–7 dieses Aufsatzes rekurrieren weitgehend auf die Ausführungen in Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8) sowie in Anna Lindner: Morelli im »Tausendjährigen Reich« – zu Julio Cortázars Musil-Rezeption, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2008/2009, 21 (2010), S. 169–187. Um das Törleß-Zitat zu kontextualisieren und die nachfolgende Untersuchung der Übersetzung nachvollziehbar machen zu können, erscheint eine abermalige Darlegung von Cortázars Musil-Rezeption aber unentbehrlich. Robert Musil: Les désarrois de l’élève Törless. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1960, Signatur: BC-L-Mus1, und ders.: Young Törless. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. Harmondsworth 1961, Signatur: BC-L-Mus7 – Einsicht in die Nachlassbibliothek bietet deren Webpräsenz: https://www.march.es/es/coleccion/biblioteca-julio-cortazar – Eine genauere Beschreibung der Bibliothek mit Fokus auf die deutschsprachige Literatur findet sich in: Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8), S. 39 ff. Robert Musil: L’Homme sans qualités. 4 Bde. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1957–58, Signatur: BC-L-Mus3; ders.: Les exaltés et Vincent et l’amie des personnalités. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1961, Signatur: BC-L-Mus2; ders.: Trois femmes; suivie de Noces. Übers. v. Phi-

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bis 1965 in Philippe Jaccottets Übersetzung bei Editions du Seuil erschienen.13 Cortázar dürfte die Bände bald nach der jeweiligen Veröffentlichung gelesen haben14 – Élève Törleß also wohl etwa 1960. Die – wenn man das aus den insgesamt 619 Anzeichnungen in seinen Musil-Büchern schließen darf15 – vor allem am Anfang intensive Lektüre begleitete damit die gesamte Entstehungszeit von Rayuela: Die frühesten Entwurfsmaterialien zu dem Roman stammen aus dem Jahr 1959,16 erschienen ist er 1963. Gegenüber seinem französischen Übersetzer Jean Barnabé gab Cortázar denn auch einmal an, dass Musil »viel von dem, was in Rayuela passiert, auf tiefgehende Weise beeinflusst« habe (»influye hondamente en mucho de lo que pasa en Rayuela«).17 Dieser Einfluss zeigt sich neben dem Zitat aus Törleß auch an fünf namentlichen Erwähnungen von dessen Autor. Vor allem aber weisen zahlreiche motivische und inhaltliche Details sowie das zentrale Thema von Rayuela Parallelen zu Musils Werk auf.

3. Rayuela und Der Mann ohne Eigenschaften Cortázar integrierte zwar eine Passage aus dem Törleß in seinen Roman; in vielerlei Hinsicht erinnert Rayuela aber an den Mann ohne Eigenschaften. Schon der Protagonist, Horacio Oliveira, kann als eine Art Ulrich der 1950er Jahre beschrieben werden: Er begreift sich als »espectador activo« (R, S. 344; R-HH, S. 439: »aktiver Zuschauer«) des Lebens und begegnet seinem Widerwillen festgefahrenen Denkschemata und Moralvorstellungen gegenüber mit der Idee »absurd [zu] leben« (R-HH, S. 113; R, S. 90: »vivir absurdamente«). Der erste Teil des Romans spielt in Paris, wo Oliveira – wie der Autor Argentinier – mit seiner Geliebten Maga, einer Urugayerin, in einem Mansardenzimmer wohnt. Oliveira hält sich mit Zuwendungen von seinem Bruder und dem Verkauf von Gebasteltem über Wasser und verbringt seine

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lippe Jaccottet. Paris 1963, Signatur: BC-L-Mus6 sowie ders.: Œuvres pré-posthumes. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1965, Signatur: BC-L-Mus4. Vgl. Elisabeth Rieger: Musil in Frankreich. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte seiner Werke 1922–1970. Diss. Univ. Wien 1972. Vgl. Ana Maria Cartolano: Robert Musil, enormisimo cronopio, in: De Franz Kafka a Thomas Bernhard. IX Jornadas de Literaturas Alemanas. Hg. v. Régula Rohland de Langbehn u. María Esther Mangariello. Buenos Aires 1993, S. 157–170, hier S. 165, Anm. 2. Verzeichnet und nach Themenkomplexen geordnet finden sich diese in: Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8). Vgl. Miguel Herráez: Julio Cortázar. El otro lado de las cosas. Valéncia 2001 (= Colección Biografía, Bd. 31), S. 141. Julio Cortázar: Cartas, Bd. 2: 1964–1968. Hg. v. Aurora Bernárdez. Madrid 2000, S. 873. – Dieser Einfluss ist von der Forschung schon mehrfach konstatiert worden; eine detaillierte Aufarbeitung des Rezeptionsvorgangs wurde aber erst in der Diplomarbeit der Verfasserin (vgl. Anm. 8) unternommen.

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Zeit vor allem mit Mate-Tee-Trinken, Jazz-Hören und Diskussionen mit seiner Freundesgruppe aus Studenten, Musikern und Künstlern; dies macht den größten Teil der Handlung aus. An Maga bewundert der umfassend belesene Oliveira ihren ungebrochenen Zugang zur Wirklichkeit, verachtet sie für ihre geringe Bildung aber auch. Der Versuch ›absurd‹ zu leben, führt Oliveira schließlich dazu, Maga nicht darauf aufmerksam zu machen, dass ihr kleiner, fiebernder Sohn gerade gestorben ist. Stattdessen trinkt und redet er mit Maga und den anderen neben der Leiche weiter. Nach diesem Ereignis verschwindet Maga, Oliveira verbringt eine Nacht auf der Straße, schläft mit einer Clocharde – auch dies ein Versuch, sich durch Selbstdemütigung und Überwindung von Ekel auf ›absurde‹ Weise einer Art ›anderem Zustand‹ zu nähern – und wird daraufhin abgeschoben. Im zweiten Teil von Rayuela lebt Oliveira wieder in Buenos Aires. Er nimmt die Beziehungen zu seinem alten Jugendfreund Traveler, der inzwischen geheiratet hat, wieder auf und bekommt von dem Ehepaar eine Anstellung zuerst in einem Zirkus und dann als Wärter in einer psychiatrischen Anstalt vermittelt. Noch immer sucht er verzweifelt nach einem anderen Welterleben, eine Suche, die zunehmend mit jener nach Maga verschmilzt und schließlich paranoide Züge annimmt.

4. Anderer Zustand, andere Bezeichnungen Dass es sich bei dem Zitat, das Cortázar in Rayuela integrierte, um einen Absatz aus dem Törleß handelt, kann also zumindest vordergründig überraschen. Von den Anzeichnungen in seinen Musil-Ausgaben entfällt der allergrößte Teil, auch relational, auf den L’Homme sans qualités; diese Bände sind auch die einzigen, die kurze Anmerkungen enthalten.18 Besonders häufig markierte Cortázar Passagen zu den unterschiedlichen Facetten der Utopie eines ›anderen Zustands‹, jenem Themenkomplex, der, wie gesehen, auch zentral in seinem eigenen Werk ist. Horacio Oliveiras rastlose existentielle Suche wird in Rayuela mit vielen Namen – etwa »centro«, »kibbutz del deseo« (R, S. 170; R-HH, S. 225: »Kibbuz des Verlangens«), »Yggdrasil« oder »yonder« – bezeichnet und aus verschiedenen Perspektiven und unter Heranziehung philosophischer, spiritueller und religiöser Konzepte zu fassen versucht. Am ausführlichsten geschieht dies im 71. Kapitel. Was in den ersten 56 Kapiteln vornehmlich als Gedanken Oliveiras in die Handlung des Romans eingeflochten ist, wird dort in Form eines kurzen, essayartigen Textes reflektiert. Verfasst haben soll diesen Text (und einige weitere in anderen ›entbehrlichen‹ Kapiteln) der von Oliveira und seinen Freunden verehrte Autor Morelli – eine fiktive Figur, die oft als Alter Ego Cortázars bezeichnet wird. 18

Vgl. Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8), S. 40.

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Diese sogenannte »Morelliana« beginnt mit einer rhetorischen Frage: »¿Qué es en el fondo esa historia de encontrar un reino milenario, un edén, un otro mundo? Todo lo que se escribe en estos tiempos y que vale la pena leer está orientado hacía la nostalgia.« (R, S. 309; R-HH, S. 405: »Was hat es im Grunde auf sich mit dieser Geschichte, daß wir ein Tausendjähriges Reich, einen Garten Eden, eine andere Welt finden wollen? Alles, was in diesen Zeiten geschrieben wird und lohnt, gelesen zu werden, hat mit Nostalgie zu tun.«) Gleich darauf wird Musil als Beispiel einer jener Autoren, die sich mit diesen Themen beschäftigen und die der Mühe wert sind, gelesen zu werden, namentlich genannt: »Y dale con las islas (cf. Musil)« (R, S. 309; R-HH, S. 405: »Also auf zu den Inseln (vgl. Musil)«19 ). Dass der Utopie-Ort hier im Plural vorkommt, kann nicht nur als Verweis auf seinen paradigmatischen Charakter interpretiert werden, sondern deutet einmal mehr darauf hin, dass Cortázar den L’Homme sans qualités sehr genau gelesen hat: Eine Insel war der Schauplatz von Ulrichs erstem Erleben des ›anderen Zustands‹ (vgl. MoE, S. 124) und kommt als »Insel in der Südsee« (MoE, S. 1477) auch als potentieller Fluchtort für diesen und seine Schwester vor. Während Cortázar diese Passagen in seinen Bänden des L’Homme sans qualités aber nicht anzeichnete, sind bei Ulrichs und Clarissens Aufenthalt auf der »Insel der Gesundheit« (MoE, S. 1740) zahlreiche Stellen markiert.20 Dass Clarissens Geisteskrankheit im Mann ohne Eigenschaften gerade nicht als Möglichkeit, einen wahrhaft ›anderen Zustand‹ zu erlangen, dargestellt wird, ist dabei zweitrangig, denn in Rayuela wird ernsthafter erkundet, ob der Wahnsinn nicht doch ins ›centro‹ führen könnte – letztlich wird diese Idee aber ebenso fallengelassen. Analog dazu steht Oliveira irrationalistischen Strömungen, namentlich – dem in der Figur Meingast von Clarisse bewunderten – Ludwig Klages positiver gegenüber als Ulrich.21 Manche sowohl im Mann ohne Eigenschaften als auch in Rayuela verhandelte Themen lassen sich also (auch) auf gemeinsame Quellen, nicht nur auf Cortázars Musil-Rezeption zurückführen.22 Auch ist nicht davon auszugehen, dass Cortázar sich erst durch die Musil-Lektüre mit der »Nostalgie« nach einem utopisch imaginierten Ort zu beschäftigen begann, dennoch lässt sich das Kapitel 71 nicht nur wegen des expliziten Verweises auf Musil als eine Hommage an den österreichischen Autor begreifen.23 Die Überlegungen zu den Gründen jener Sehnsucht nach einem ›anderen Zustand‹ oder »verlorenen 19 20 21 22

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Genauer wäre: »Und immer wieder die Inseln . . .« Vgl. Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8), S. 125–131. Vgl. ebd., S. 195–202. So ist in Rayuela, genauer: in Kapitel 70, eine Stelle aus Meister Eckharts Predigt Beati pauperes spiritu zitiert (vgl. R, S. 308, sowie dazu Lindner: Cortázars Musil-Rezeption [s. Anm. 8], S. 93, Anm. 178); auch Lucien Lévy-Bruhl beeinflusste Cortázar (vgl. Michael Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1988, S. 250). Vgl. ebd., S. 277 sowie detaillierter: Lindner: Morelli im »Tausendjährigen Reich« (Anm. 10).

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Paradies«24 , vor allem aber zu den Schwierigkeiten, die der Verwirklichung einer solchen Suche nicht nur prinzipiell, sondern auch praktisch entgegen stehen, lesen sich vielfach als Aktualisierungen von den im Mann ohne Eigenschaften entwickelten Gedanken – wobei der Unterton der »Morelliana«, entsprechend der historischen Entwicklungen der zwischen den beiden Texten liegenden Jahrzehnte, latent pessimistischer ist. Bereits der oben zitierte erste Satz der »Morelliana« unterstreicht die Bedeutung, die Cortázar bzw. Morelli Musil zuzumessen scheinen: Mit »Tausendjährige[m] Reich«, »Garten Eden« und »andere[r] Welt« nennt Cortázar drei Namen für das Ziel jener Suche, die seinen Protagonisten wie auch den fiktiven Autor umtreibt. Er macht damit sowohl das Universelle einer solchen Utopie als auch ein Bewusstsein für die Vielfalt derartiger Vorstellungen deutlich und unterstreicht damit gleichzeitig die Notwendigkeit, weiterhin darüber nachzudenken. Durch die Aneinanderreihung der drei Begriffe aber verweist er wieder auf Musil: Sie wurden zwar nicht von Musil geprägt, kommen aber – anders als die oben genannten Wörter, mit denen die Figuren in Rayuela den ersehnten ›anderen Zustand‹ meist bezeichnen – alle in seinen Texten bzw. in jenen Texten, die Cortázar für seine hielt, vor: Evident ist dies bei »reino milenario«, das auf den Titel des zweiten Buches des Mann ohne Eigenschaften verweist.25 Vom »Garten Eden« ist im Mann ohne Eigenschaften nur einmal die Rede (MoE, S. 409), die christliche Paradies-Vorstellung wird aber bekanntlich häufig evoziert – und Cortázar strich viele dieser Passagen in seinem Exemplar des L’Homme sans qualités an.26 Die »andere Welt« kommt – in Zusammenhang mit Agathes suizidalen Gedanken (vgl. MoE, S. 1485) – im Mann ohne Eigenschaften ebenfalls vor. Dass die Aufnahme dieser Formulierung in die Reihe der Utopie-Bezeichnungen als Anspielung auf Musil zu begreifen ist, erklärt sich ganz aber nur aus den Übersetzungen: Jaccottet machte aus der »Überwelt« (MoE, S. 553), von der in Zusammenhang mit der Entstehung »jener vielförmigen irrationalen Bewegung, die wie ein Nachfalter, der sich in den Tag verloren hat, durch unsere Zeit geistert« (ebd.), gesprochen wird, im L’Homme sans qualités »l’Autre monde«.27 Und auch in einer Passage aus Törleß findet sich die Formulierung: »Dann war es auch möglich, daß von der hellen, täglichen Welt, die er bisher allein gekannt hatte, ein Tor zu einer anderen, dumpfen, brandenden, leidenschaftlichen, nackten, 24

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Diese Worte stehen im Titel der bereits zitierten ersten größeren Arbeit, die sich (u. a.) mit den Parallelen zwischen dem Mann ohne Eigenschaften und Cortázars Werk auseinandersetzte – wenn auch, wie erwähnt, ohne auf die Rezeption Musils durch den Argentinier einzugehen: Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies (Anm. 22). Anhand des »reino milenario« und der »islas« weist schon José Emilio Osses (La novela morelliana en »Rayuela«, de Julio Cortázar, in: Revista Chilena de Literatura, Nr. 31 (April 1988), S. 9–32, hier S. 30) auf die Bedeutung Musils für dieses Kapitel und den Roman insgesamt hin, ohne jedoch die »Morelliana« genauer zu untersuchen. Vgl. Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8), S. 94–100. Musil: L’Homme sans qualités. Bd. 2 (Anm. 12), S. 316.

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vernichtenden führe.« (GW 6, S. 46) Während im deutschsprachigen Original die Formulierung durch die elliptische Konstruktion des Satzes nur implizit vorkommt, ist in den Übersetzungen – und zwar sowohl der französischen als auch der englischen – ausdrücklich von »un autre monde«28 bzw. »another world«29 die Rede. Bemerkenswert ist aber allemal, dass eine Bezeichnung im 71. Kapitel und in Rayuela gerade nicht vorkommt: ›anderer Zustand‹.

5. Roman im Zeichen des Essayismus – und Adolf Frisés Morelli verknüpft nicht nur das grundlegende Thema des Romans mit Musil; Cortázar legt auch seine Poetik seinem Alter Ego in den Mund. Dieses spricht von einer erzählenden Literatur, »die nicht Vorwand ist für die Übermittlung einer ›Botschaft‹« (R-HH, S. 422; R, S. 326: »[. . .] que no sea pretexto para la transmisión de un ›mensaje‹«). Deshalb lehnt er geschlossene Formen ab und meint, man müsse eine solche Literatur »als Antiroman schreiben« (RHH, S. 422; R, S. 326: »[. . .] hay que escribirla como antinovela«). Resultat dieser Überlegungen ist die hypertextuelle Struktur von Rayuela, die einerseits dezidiert dazu auffordert, die Kapitel achronologisch und individuell gereiht zu lesen, andererseits mit einem »Wegweiser« (R-HH, S. [7]; R, S. 3: »tablero de dirección«) auch eine Route vorschlägt, die dem, der ihr folgt, eines der Kapitel vorenthält.30 Die derart erreichte, oder jedenfalls angestrebte, Offenheit steht jedoch in Zusammenhang mit einem epistemischen Zweck, die den Überlegungen zum Essayismus im Mann ohne Eigenschaften nicht unähnlich ist: Leyendo el libro, se tenía por momentos la impresión de que Morelli había esperado que la acumulación de fragmentos cristalizara bruscamente en una realidad total. [. . .] Una cristalización en la que nada quedara subsumido, pero donde un ojo lúcido pudiese asomarse al calidoscopio y entender la gran rosa policroma, entenderla como una figura, imago mundis que por fuera del calidoscopio se resolvía en living room de estilo provenzal, o concierto de tías tomando té con galletitas Bagley. (R, S. 386 f.) Las man das Buch, hatte man zuweilen den Eindruck, daß Morelli erwartet hatte, die Häufung von Fragmenten werde sich mit einemmal zu einer Gesamtrealität kristallisieren. [. . .] Eine Kristallisation, in der nichts untergeordnet wäre, in der der aber ein luzides Auge das Kaleidoskop überblicken und die große poly28 29 30

Musil: Élève Törless (Anm. 9), S. 73. – Jaccottet verstärkt den Gegensatz zwischen den ›Welten‹ noch, indem er, um »autre monde« zu charakterisieren, noch einmal das Wort aufnimmt: »monde sourd, déferlant, sauvage, impudique, destructeur« (ebd.) Musil: Young Törless (Anm. 7), S. 61. In etwas abgewandelter Form ist es allerdings in zwei anderen Kapiteln, die zu den angeblich ›entbehrlichen‹ gehören, enthalten. Vgl. Wolfgang Bongers: Schrift/Figuren. Julio Cortázars transtextuelle Ästhetik. Tübingen 2000, S. 165.

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chrome Rose verstehen könnte, als eine Figur, als imago mundi, die sich außerhalb des Kaleidoskops in ein Wohnzimmer im provenzalischen Stil verwandelt oder in ein Damenkränzchen, wo man Tee trinkt und dazu Bagley-Kekse ißt. (R-HH, S. 488 f.)

Die durch ein solches ›fragmentarisches‹, kaleidoskopartig immer neue Perspektiven eröffnendes Erzählen mögliche Erkenntnis ist nicht die der Welt, sondern die eines ›Bildes der Welt‹.31 Das erinnert vermutlich nicht zufällig an Musils Idee des ›Gleichnisses‹. Noch deutlicher klingt diese im 71. Kapitel an: Ulrichs Behauptung, »Gott mein[e] die Welt keineswegs wörtlich, sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muß« (MoE, S. 357), wird dort – über den Umweg von Jaccottets Übersetzung von »Redewendung« als »figure«32 – kurz paraphrasiert: »Digamos que el mundo es una figura, hay que leerla.« (R, S. 311; RHH, S. 407: »Sagen wir, die Welt ist eine Figur, man muß sie lesen.«) Auch die Struktur von Rayuela lässt sich mit dem Mann ohne Eigenschaften bzw. der Rezeption des L’Homme sans qualités in Verbindung bringen: Analog zur Frisé-Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften von 1952, auf der sie beruht, beinhaltet der letzte Band der französischen Übersetzung nur lose zusammenhängende Kapitelteile. Jaccottet erläutert in seiner Postface du traducteur vor allem die Probleme, die aus der Unabgeschlossenheit des Mann ohne Eigenschaften und der Menge an Nachlassmaterial für den Herausgeber resultierten. Cortázar zeichnete in dem Nachwort einige Stellen an, u. a. die Anmerkung, dass die von Frisé in die Ausgabe aufgenommene »Reise ins Paradies« ein früher Entwurf sei und nicht mehr der späteren Romankonzeption entspräche, sowie zwei Passagen zur Unabgeschlossenheit des Romans.33 Erhärten lässt sich die Vermutung, Cortázar sei von diesen Bemerkungen und dem Ende des L’Homme sans qualités inspiriert worden, nicht zuletzt, wenn man die Handlung von Rayuela – vor allem gegen Ende der im »tablero de dirección« vorgeschlagenen Reihenfolge – mit dem Handlungsbogen der von Frisé edierten Ordnung der Nachlasskapitel vergleicht: Ulrich und Agathe reisen in ihr ›Paradies‹, kommen sich sexuell näher, jedoch scheitert der ›andere Zustand‹, den sie kurzzeitig erleben, am Versuch seiner Verstetigung. Beim Einsetzen der Handlung von Rayuela führt Oliveira bereits eine Beziehung mit Maga, sie endet nach dem Tod von deren Sohn und die beiden sehen sich nicht wieder. Nach der endgültigen Trennung von Agathe fährt 31

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Auch Musil benutzt die Metapher des Kaleidoskops für die im Mann ohne Eigenschaften angestrebte essayistische Erzählweise (vgl. Burton Pike: Der Mann ohne Eigenschaften: Unfinished or without End?, in: A Companion to the Works of Robert Musil. Hg. v. Philip Payne, Graham Bartram u. a. Rochester, NY 2007, S. 355–369). Diese Notiz ist allerdings in der französischen Übersetzung nicht enthalten und war Cortázar demnach wohl unbekannt (vgl. dazu auch: Lindner: Cortázars Musil-Rezeption [Anm. 8], S. 163, Anm. 230). Vgl. Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8), S. 54. Vgl. ebd., S. 156 f.

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Ulrich mit Clarisse auf die »Insel der Gesundheit«, lässt sich von ihrem Wahn infizieren, bricht jedoch daraus aus, als sie verlangt, sie sollen sich töten. Zurück in Argentinien arbeitet Oliveira als Pfleger in einer Psychiatrie, erleidet einen akut psychotischen Schub, erkennt jedoch, wie erwähnt, dass die Hingabe an den Wahnsinn »keine Lösung« ist, »die zu seinem Stolz und seiner Absicht, jeder Form von Sicherergeben Widerstand zu leisten, gepaßt hätte.« (R-HH, S. 388 f.; R, S. 275: »Solución en nada de acuerdo con su soberbia y su intención de resistir a cualquier forma de entrega.«)34 Direkt nach der Wahnsinnsepisode wird der Fragmentcharakter des Mann ohne Eigenschaften bzw. L’Homme sans qualités besonders deutlich: Ihr folgt in der FriséEdition eine spätere Variante der Inselepisode, die allerdings nur aus kurzen – von Cortázar in seiner Ausgabe zum Teil angezeichneten – Textabschnitten und Notizen besteht und von einer Anmerkung des Herausgebers eingeleitet wird. Oliveiras Wahnsinnsepisode bildet das letzte Kapitel der ›regulären‹ Lektürereihenfolge von Rayuela – d. h. ohne die »capítulos prescindibles«; wer dem »tablero de dirección« folgt, liest danach noch einige weitere Kapitel. Diese widersprechen einander zum Teil, keines kann jedoch einen höheren (fiktiven) Realitätsgehalt beanspruchen als die anderen.35 Schließlich mündet das Buch in eine Endlosschleife, denn die letztgenannten Kapitel 58 und 131 verweisen immer wieder aufeinander. Damit ist formal ein Nicht-Enden hergestellt, das im Mann ohne Eigenschaften vielleicht schon angelegt war,36 jedenfalls aber durch Musils Tod zum Faktum wurde.

6. »more Musil«, mehr Musil Dass Cortázar durch die Lektüre des letzten L’Homme sans qualités-Bandes und des Nachworts von Jaccottet auf die Idee eines ›offenen Kunstwerks‹ gekommen sein könnte, wird nicht nur durch den Handlungsbogen und die spezifische, nicht-lineare Ordnung von Rayuela nahegelegt. Auch das Manuskript von Rayuela spricht dafür: »¿Terminaría Morelli alguna vez su libro? Por el momento había una extraña coincidencia entre su redacción y su lec34

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Allerdings lässt sich hier auch ein Unterschied zwischen den beiden Romanen feststellen, der mit der divergierenden Einschätzung des Wahnsinns korrespondiert: »Cortázar trata la locura de una forma mucho más desenfadada y el manicomio de la calle Trelles de Rayuela tiene muy poco de la visión aterradora e infernal del asilo de alienados visitado por Clarisse, Ulrich y el general Von Bordwehr [. . .]« / »Cortázar behandelt den Wahnsinn auf eine wesentlich zwanglosere Art und die Irrenanstalt in der Trelles-Straße in Rayuela hat nur wenig von der erschreckenden, infernalischen Vision des Asyls für Geisteskranke, das Clarisse, Ulrich und der General von Bordwehr besuchen [. . .]« (Ilinca Ilian T, ăranu: La inmolación del pathos: una influencia de Robert Musil sobre Julio Cortázar, in: Colindancias. Revista de la Red de Hispanistas de Europa Central 1 [2010], S. 51–63, hier S. 60). Vgl. Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8), S. 200–204. Vgl. Pike: Unfinished or without End? (Anm. 31), S. 359.

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tura; muchos de sus admiradores vivían a la espera de que publicara un nuevo volumen, al que muchos pasajes de los tomos ya publicados remitían . . .« (R, S. 440, Anm. a; »Würde Morelli je sein Buch fertigschreiben? Im Moment gab es einen befremdlichen Zusammenfall zwischen seiner Redaktion und seiner Lektüre; viele seiner Bewunderer lebten in Erwartung eines neuen Bandes, auf den viele Passagen in den schon erschienenen verwiesen.«)37 Dieser Abschnitt liest sich wie eine Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften, hätte also Morellis Literatur noch näher an Musil gerückt; dass sie für die Publikation fallengelassen wurde, deutet genau deshalb auch auf die Entwicklung der Idee der »antinovela« aus eben der Kenntnis der Genese von Musils unvollendetem Roman – wäre sie veröffentlicht worden, hätte sie dem Anspruch, ein absichtlich fragmentarisches Werk zu schreiben, widersprochen. Während diese Stelle aber vom Großteil der Rayuela-Leser*innen wohl nicht als Referenz auf Musil erkannt worden wäre, tilgte Cortázar eine explizite Nennung in Zusammenhang mit Morellis Literaturtheorie aus dem Manuskript: »Musil está ya lograndolo con Der Manne [sic!] ohne Eigenschaften« (R, S. 326, Anm. g; »Musil erreicht dies schon mit dem Mann ohne Eigenschaften«.) Der gestrichenen Stelle vorangestanden wäre der dann auch veröffentlichte Satz: »Tomar de la literatura eso que es puente vivo de hombre a hombre, y que el tratado o el ensayo sólo permite entre especialistas.« (R, S. 326; R-HH, S. 422: »Aus der Literatur das nehmen, was lebendige Brücke von Mensch zu Mensch ist und was der Traktat oder Essay nur unter Spezialisten möglich macht.«) Neben der Nennung im Kapitel 71 wird Musil noch vier weitere Male in Rayuela erwähnt – ausschließlich in »capítulos prescindibles«, was die oben dargelegte These zur Entstehung der »antinovela«-Idee noch einmal unterstreicht. Eine dieser Nennungen erfolgt höchst ironisch als vermeintliches Nicht-Nennen: Musil wird nämlich auf einer »lista de acknowledgments« von Morelli erwähnt, die dieser »dennoch nie in sein veröffentlichtes Werk aufnahm« (R-HH, S. 390; R, S. 294: »[. . .] nunca llegó a incorporar a su obra publicada«), weil es zu offensichtlich gewesen wäre. Einmal wird im publizierten Text auch der Protagonist des Mann ohne Eigenschaften genannt, zusammen mit seinem Autor und in einer Reihe, die seine Außergewöhnlichkeit kennzeichnen soll: »Para un héroe como Ulrich (more Musil) o Molloy (more Beckett), hay quinientos Darley (more Durrell).« (R, S. 359; R-HH, S. 457: »Für einen Helden wie Ulrich [more Musil] oder Molloy [more Beckett] gibt es fünfhundert Darley [more Durrell].«)

37

Auf die Parallelen zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften macht schon Cartolano (Robert Musil, enormisimo cronopio [Anm. 14], S. 167, Anm. 26) aufmerksam.

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7. (Fast) zwei Törleß-Zitate in Rayuela Der Einfluss, den Cortázar Musil auf seinen Roman attestierte, drückt sich auch darin aus, dass Morelli dessen Porträt besitzt; außerdem stammt die eingangs zitierte Passage aus dem Törleß angeblich aus einem Exemplar, das Musil dem fiktiven Autor gewidmet haben soll (vgl. R, S. 357 u. 375). Die Bedeutung dieses Absatzes selbst ist dadurch betont, dass sie als »energisch unterstrichen[ ]« (R-HH, S. 477; R, S. 375: »enérgicamente subrayada«) bezeichnet wird. Die hierdurch angedeutete Relevanz hat ihre Entsprechung in Cortázars Törleß-Exemplaren: Dort ist der betreffende Absatz zwar nicht besonders stark, dafür aber zweimal, d. h. sowohl in der französischen als auch in der englischen Übersetzung, markiert. Cortázar dürfte auch tatsächlich beide Ausgaben gelesen haben, denn sie weisen jeweils mehrere Anstreichungen auf: 17 die französische und 19 die englische, wobei es sich viermal um die gleiche Stelle handelt.38 Warum aber hielt Cortázar also die Übersetzung von Wilkins/Kaiser anscheinend für geeigneter, um darauf seine Übertragung ins Spanische zu basieren? Die Antwort auf diese Frage liefert gleichzeitig einen Hinweis, warum Cortázar eine Passage aus Musils Erstling zitierte, wo Rayuela doch, wie gezeigt, als eine Art Rewriting des Mann ohne Eigenschaften gelesen werden kann. Und die Frage stellt sich umso mehr, als Cortázar in einem Arbeitsheft zu Rayuela vermerkte, weshalb er ein Törleß-Zitat aufnehmen wollte: »Para ilustrar estados fuera de lo común« (»um außergewöhnliche Zustände zu veranschaulichen«), steht dort neben dem Verweis auf »Törless, p. 60« (R, S. 511). Auf jener Seite der englischen Übersetzung findet sich tatsächlich eine Anzeichnung.39 Die in den veröffentlichten Text aufgenommene Stelle ist aber eben eine andere, wiewohl auch sie einen ›Zustand außerhalb des Gewöhnlichen‹ beschreibt: Welche Dinge sind es, die mich befremden? Die unscheinbarsten. Meistens leblose Sachen. Was befremdet mich an ihnen? Ein Etwas, das ich nicht kenne. Aber das ist es ja eben! Woher nehme ich denn dieses ›Etwas‹! Ich empfinde sein Dasein; es wirkt auf mich; so, als ob es sprechen wollte. Ich bin in der Aufregung eines Menschen, der einem Gelähmten die Worte von den Verzerrungen des Mundes ablesen soll und es 38 39

Vgl. Lindner: Cortázars Musil-Rezeption (Anm. 8), S. 147–154. Auf Seite 60 von Cortázars Exemplar steht die Übersetzung folgender Stelle (vgl. auch: Lindner: Cortázars Musil-Rezeption [Anm. 8], S. 149 u. S. 161 f.): »Man behauptet, daß es einen solchen Augenblick des Sichbückens, Kräfteheraufholens, Atemanhaltens, einen Augenblick äußeren Schweigens über gespanntester Innerlichkeit zwischen zwei Menschen gebe. Keinesfalls ist zu sagen, was in diesem Augenblicke vorgeht. Er ist gleichsam der Schatten, den die Leidenschaft vorauswirft. Ein organischer Schatten; eine Lockerung aller früheren Spannungen und zugleich ein Zustand plötzlicher, neuer Gebundenheit, in dem schon die ganze Zukunft enthalten ist; eine auf die Schärfe eines Nadelstichs konzentrierte Inkubation . . .. Und er ist andrerseits ein Nichts, ein dumpfes, unbestimmtes Gefühl, eine Schwäche, eine Angst . . ..« (GW 6, S. 45 f.) – Auch in Élève Törless ist diese Passage angezeichnet.

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nicht zuwege bringt. So, als ob ich einen Sinn mehr hätte als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelten, einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar macht, aber nicht funktioniert. Die Welt ist für mich voll lautloser Stimmen: ich bin daher ein Seher oder ein Halluzinierter? (GW 6, S. 89)

Wilkins/Kaiser übersetzten die Passage so: What are the things that seem odd to me? The most trivial. Mostly inanimate objects. What is it about them that seems odd? Something about them that I don’t know about. But that’s just it! Where on earth do I get this ›something‹ notion from? I feel it’s there, it exists. It has an effect on me, just as if it were trying to speak. I get as frantic as a person trying to lip-read from the twisted mouth of someone who’s paralysed, and simply not being able to do it. It’s as if I had one extra sense, one more than the others have, but not completely developed, a sense that’s there and makes itself noticed, but doesn’t function. For me the world is full of soundless voices. Does this mean I’m a seer or that I have hallucinations?40

Bei Jaccottet lautet sie: Quelles sont les choses qui me déconcertent? Les plus insignifiantes. Le plus souvent des objets inanimés. Qu’est-ce qui me déconcerte en eux? Un quelque chose que je ne connais pas. Mais justement, voilà le point! D’où tiré-je ce quelque chose? Je ressens sa présence; il agit sur moi; on dirait qu’il veut me parler. Je m’impatiente comme celui qui doit déchiffrer les mots grimacés par les lèvres d’un paralysé, et qui n’y parvient point. Exactement comme si je disposais d’un sens de plus que les autres, mais qu’il ne fût pas développé, un sens qui serait là, qui se manifesterait, mais ne fonctionnerait pas. Le monde me semble plein de voix muettes: suis-je pour autant un visionnaire, un halluciné?41

Cortázars Übersetzung aus zweiter Hand gibt sie so wieder: ¿Cuáles son las cosas que me parecen extrañas? Las más triviales. Sobre todo, los objetos inanimados. ¿Qué es lo que me parece extraño en ellos? Algo que no conozco. ¡Pero es justamente eso! ¿De dónde diablos saco esa noción de ›algo‹? Siento que está ahí, que existe. Produce en mí un efecto, como si tratara de hablar. Me exaspero, como quien se esfuerza por leer en los labios torcidos de un paralítico, sin conseguirlo. Es como si tuviera un sentido adicional, uno más que los otros, pero que no se ha desarrollado del todo, un sentido que está ahí y se hace notar, pero que no funciona. Para mí el mundo está lleno de voces silenciosas. ¿Significa eso que soy un vidente, o que tengo alucinaciones? (R, S. 375)

40 41

Musil: Young Törless (Anm. 7), S. 133. – Die im nächsten Abschnitt im Fließtext folgenden Zitate aus der englischen Übersetzung dieser Passage finden sich alle auf dieser Seite und werden daher nicht mehr ausgewiesen. Musil: Élève Törless (Anm. 9), S. 148. – Die im nächsten Abschnitt im Fließtext folgenden Zitate aus der französischen Übersetzung dieser Passage finden sich alle auf dieser Seite und werden daher nicht mehr ausgewiesen.

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8. »dicho mejor«? – Élève, Young und Zögling Törleß im Vergleich Schon am ersten Satz der Passage – in Frageform, die vielleicht nicht zufällig deshalb auch am Anfang der Utopie-»Morelliana« steht – fällt auf, dass Jaccottets und Wilkins’/Kaisers Übertragungen in eine jeweils andere Richtung von Musils Text abweichen: Jaccottet ersetzt das Verb »befremden« durch eines, das an den Titel des Romans anschließt – wenn auch nicht an den französischen: ›déconcerter‹ bedeutet ›verwirren‹. Während das deutsche Wort eine Differenz – durch die reflexive Form und die offene Frageform jene zwischen Ich und Welt – impliziert, also im Grunde eine Vorstufe der Verwirrung anspricht, scheint der Einfluss der »choses qui me déconcertent« auf das Ich größer, gewissermaßen invasiver zu sein. Wo etwas jemanden befremden kann, ist das Ich noch nicht oder wird gerade erst ins Schwanken gebracht. Vielleicht lässt sich dieses stärkere Wort darauf zurückführen, dass Jaccottet schon Musils gesamtes Werk (und jedenfalls den ganzen Törleß) kannte, als er den Roman übersetzte; dass er sich also von der generellen Suspendierung eines stabilen Ichs, wie sie vor allem im Mann ohne Eigenschaften entwickelt wird, zur Wiedergabe von »befremden« durch ›déconcerter‹ anregen ließ.42 Wilkins/Kaiser vergrößern mit ihrer Übersetzung – »things that seem odd to me« – das im Musil’schen Text bezeichnete Verhältnis zwischen Törleß und den Dingen tendenziell, da »seem« eine gewisse Ungesichertheit der Wahrnehmung impliziert. Zwar ist der Umstand, dass die veränderte Wahrnehmung auch als Verunsicherung erlebt wird, ebenfalls Thema des Romans; keineswegs irrelevant ist aber, dass sie an dieser Stelle – im Kontext des schreibenden Versuchs der Selbstvergewisserung – eben nicht zur Sprache kommt. Allerdings nimmt das von Wilkins/Kaiser gebrauchte ›(Er-)Scheinen‹ das von Musil für die Antwort auf diese Frage gebrauchte Wort »unscheinbarsten«, das sich auf Englisch so nicht wiedergeben lässt, vorweg. Die Wortwahl kann allerdings auch als ein Anknüpfen an die mathematische Motivik des Romans interpretiert werden: »odd« bedeutet ja nicht nur ›seltsam‹, sondern auch ›ungerade‹. Das Befremdliche wird damit in die Nähe der die Vorstellungskraft übersteigenden imaginären Zahlen gerückt. Eine mathematische Bedeutung hat auch die Übersetzung von »Die unscheinbarsten« als »The most trivial«. In der Mathematik wird etwas als ›trivial‹ bezeichnet, wenn es sich einfach ausdrücken lässt oder sich aus einer Definition oder einem Satz ergibt.43 Die mathematische Terminologie 42

43

Diese Rückübertragung stünde allerdings im Gegensatz zur Tendenz, die Peter Utz für den L’Homme sans qualités ausgemacht hat; Jaccottet setze nämlich für den Ulrich der Übersetzung »einen Identitätskern voraus, der bei Musil gerade zur Diskussion steht.« (Peter Utz: Anders gesagt – Autrement dit – In other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007, S. 256.) Jede Zahl n hat etwa die beiden trivialen Teiler 1 und die Zahl n selbst.

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zielt also auf das Selbstverständliche, Einfache, man könnte auch sagen, auf das Gewöhnliche; auf das Unauffällige, als das man das Unscheinbare auch bezeichnen könnte, aber nur insofern als das Selbstverständliche – unabhängig von seiner Bedeutung – leicht übersehen werden kann. Wilkins’/Kaisers Übersetzung scheint an Musils Formulierung also auf den ersten Blick vorbeizugehen. Tatsächlich aber ist ›unscheinbar‹ ein schillerndes Wort: Es kann auch als Gegenteil von ›scheinbar‹ im Sinn von ›einen falschen Eindruck erweckend‹ verstanden werden; es meint dann etwas, das dies gerade nicht tut, was also in gewissem Sinne besonders wirklich ist.44 Fasst man das Wort aber so auf, dass es etwas bezeichnet, das nicht scheinen kann, impliziert dies wiederum das genaue Gegenteil von besonderer Wirklichkeit; es verweist dann auf etwas, das sich der Wahrnehmung entzieht. Nicht nur, weil Törleß damit beschreibt, was ihn befremdet, ist das Wort ›unscheinbar‹ in den Kontext einer eigentümlichen Wahrnehmung gerückt, vielmehr bezeichnet es eine solche schon von selbst. Deshalb geht eine Übersetzung wie die französische, welche aus der Unscheinbarkeit eine Unbedeutsamkeit ableitet, fehl: Die Dinge, die Törleß befremden, sind gerade nicht »insignifiantes«. Die nähere Ausführung, um welche Dinge es sich handelt – »[m]eistens leblose Sachen« –, übersetzen sowohl Jaccottet als auch Wilkins/Kaiser mit »objets inanimés« bzw. »inanimate objects«. »Sachen« ist durch die sowohl konkrete als auch abstrakte Konnotation von »objets« bzw. »objects« passend wiedergegeben, die Bedeutung des Attributs dagegen etwas verschoben, stellt es doch genaugenommen nicht nur auf die Abwesenheit von Leben, sondern auch auf die Nicht-Existenz von Seele oder Geist ab. Damit geht auch eine Stilerhöhung einher, welche die genauere Bestimmung der befremdenden »Sachen« sprachlich von der zuvor erfolgten Beschreibung löst. Durch die Stilerhöhung wird außerdem der (fiktive) Entstehungskontext – es handelt sich ja, wie schon bemerkt, um einen Auszug aus Törleß’ Notizbuch – wie auch der Zweck des Textes sprachlich verschleiert: Nicht um schöne Ausdrucksweise geht es; Törleß will »mit Feder und Papier« »nachdenken« (GW 6, S. 87), explizit heißt es auch, dass er »hastig und ohne mehr auf die Form zu achten« (ebd., S. 88) schreibe.45 Dass die Passage – innerhalb der Romanhandlung – vom Zögling Törleß stammt, mag auch die englische Übersetzung von »Woher nehme ich denn dieses ›Etwas‹!« beeinflusst haben: Während Jaccottet mit »D’où tiré-je [sic !] ce 44 45

Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Stichwörter ›scheinbar‹ und ›unscheinbar‹, https://woerterbuchnetz.de/#1 (aufgerufen am 23. 7. 2022). Entsprechend verwendet er das Wort »befremden« auch insgesamt fünfmal – zweimal davon substantivisch – in dem kurzen Text. Wilkins/Kaiser geben die Verwendung von »befremden«/ »befremdet« bzw. »Befremden« durchgängig mit »odd« bzw. »oddness« wieder (vgl. Musil: Young Törless [Anm. 7], S. 132). Jaccottet übersetzt im voranstehenden Absatz dreimal mit »étonné« bzw. »étonnement« (vgl. Musil: Élève Törless [Anm. 9], S. 147), was die durch die Wiedergabe mit »déconcertent« vermittelte Verwirrtheit noch unterstreicht.

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quelque chose?« (Hervorhebung i. O.) hier näher am deutschen Text bleibt,46 ersetzen Wilkins/Kaiser das – schwer wiederzugebende – »denn« mit einem heftigeren Ausdruck und verstärken damit auch den exklamatorischen Charakter des Satzes, der grammatikalisch freilich eine Frage ist und hier auch als solche markiert wird: »Where on earth do I get this ›something‹ notion from?« Dieser stärkere Ausruf bedeutet nun einen Stilbruch in die andere Richtung. In Verbindung mit jener Stilverschiebung durch »inanimate« reflektiert Törleß’ Versuch, sich über seine Eindrücke Klarheit zu verschaffen, in der englischen Übersetzung also mehr als der Musil’sche Text die Verwirrungen des Zöglings. Das heißt aber, dass Young Törless – wie schon der französische Élève – verwirrter ist als sein deutsches Pendant – oder sein Zustand größeren Einfluss auf sein Nachdenken hat. Zu dem Effekt trägt auch die Hinzufügung des Wortes »notion« bei, welche die Drastik des ersten Satzteiles durch Einziehung einer reflexiven Ebene – die Ahnung des »Etwas« wird eben als solche benannt – konterkariert. Dass die Wahrnehmung des »Etwas« klassifiziert wird, nimmt der Beschreibung aber – wie schon bei der Übersetzung von »befremden« mit »seem odd to me« – auch etwas von ihrer Unmittelbarkeit. In den letzten beiden Sätzen der Passage kommt es neuerlich zu Abweichungen, die auch in Hinblick auf die Einbettung des Zitats in Rayuela erläuternswert sind:47 Bei der Übersetzung von »Die Welt ist für mich voll lautloser Stimmen [. . .]«, greift Jaccottet das ›(Er-)Scheinen‹ auf, wodurch derselbe distanzierende, Ungewissheit suggerierende Effekt entsteht wie bei »seem« in der englischen Übersetzung des ersten Satzes: »Le monde me semble plein de voix muettes [. . .]«. Von Törleß wird die Wahrnehmung der »lautlose[n] Stimmen« jedoch als Faktum beschrieben, wenn auch beschränkt auf »für mich«. Die Lautlosigkeit wird von Jaccottet als Stummheit übersetzt; das verstärkt die Paradoxie der Formulierung, verwässert aber ihre Semantik – er mag dabei an den Chandos-Brief gedacht haben, wo von einer »[. . .] Sprache, in welcher 46 47

Beim Accent aigu auf dem »e« von »tiré« handelt es sich um einen Setzfehler; korrekt müsste es heißen »D’où tire-je [. . .]«. In Young Törless und in Folge auch in Rayuela werden allerdings davor zwei Syntagmata in leichter Variation doppelt übersetzt: Zweimal wird das Dasein des »Etwas« betont – »I feel it’s there, it exists.« – und zweimal Törleß’ zusätzlicher Sinn erwähnt. Letztere Verdoppelung bildet gewissermaßen den Inhalt des Halbsatzes performativ ab: »So, als ob ich einen Sinn mehr hätte als die anderen [. . .]« wird zu »It’s as if I had one extra sense, one more than the others have [. . .]« bzw. »Es como si tuviera un sentido adicional, uno más que los otros [. . .]«. – Wilkins/Kaiser und Cortázar benennen das Außergewöhnliche jenes Sinnes zuerst sozusagen allgemein oder abstrakt, ohne die »anderen«, welche als Kontrastfolie logisch schon impliziert sind, ausdrücklich ins Spiel zu bringen (»extra«, »adicional«). Indem sie dann jedoch Musils Formulierung »einen Sinn mehr« (Hervorhebung A. L.), welche den Zusatz »als die anderen« durch den Komparativ sprachlich bedingt, übernehmen, wird wiederum Törleß’ Verschiedenheit von den anderen Schülern stärker herausgestellt als durch die einfachen, quasi beiläufigen Worte des Originaltextes.

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die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen«48 die Rede ist. Stummheit hat im Deutschen aber den Beiklang von Unfähigkeit, sich auszudrücken. Die Differenz zwischen ›silencieux‹ und ›muet‹ mag im Französischen weniger ausgeprägt sein, der Vergleich mit den deutschen Entsprechungen zeigt jedoch, worum es Musil bzw. Törleß geht. Überspitzt gesagt, scheint Élève Törleß den beschriebenen Eindruck von Verwirrung aktiv herzustellen, indem er sich unwichtigen Dingen, die stumm bleiben, zuwendet; im Original geht das Befremden von den unscheinbaren, lautlos sich artikulierenden Dingen selbst aus. Außerdem wird deutlich, dass Törleß hier an den gängigen metaphorischen Gebrauch anknüpft – ›Stimme des Herzens‹, ›voix de la raison‹ etc.; derart sind Stimmen zwar lautlos, bleiben darum aber nicht stumm – was sich besonders daran zeigt, dass sie im idiomatischen Gebrauch eben sehr wohl verstummen können. Wilkins/Kaiser geben den Satz mit derselben Konstruktion wieder, wie er im Original zu finden ist und übersetzen auch »lautloser Stimmen« treuer: »For me the world is full of soundless voices.« Der Satz wird – anders als im Original und bei Jaccottet – mit einem Punkt beendet; der durch den Doppelpunkt stärker mit dem vorigen verbundene Satz »ich bin daher ein Seher oder ein Halluzinierter?« wird außerdem auch grammatikalisch, nicht nur durch das Interpunktionszeichen, als Frage ausgewiesen: »Does this mean I’m a seer or that I have hallucinations?« Die durch die Form als Aussagesatz bedingte, tendenzielle Vorwegnahme der Antwort, die eine inklusive Bedeutung von »oder« nahelegt und daher auf eine Bejahung beider Alternativen deutet, wird dadurch abgeschwächt. Auch in der französischen Übersetzung findet sich die Veränderung der Satzform: »suis-je pour autant un visionnaire, 48

Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Band 7: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Frankfurt a. M. 1979, S. 461–472, hier S. 472. – An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass dem Törleß-Zitat in Rayuela eine Passage aus dem Chandos-Brief folgt. Freilich ist Musils Sprachskepsis weniger existentiell als die dort von Hofmannsthal beschriebene Sprachkrise (vgl. Alice Bolterauer: Die Faszination der Form. Robert Musil und die Krisen der Moderne, in: Germanica, Nr. 34 [2004], S. 19–36, bes. S. 26 f.), wiewohl es in dem Brief noch eine weitere Parallele zu Törleß gibt – wieder mit dem oben besprochenen charakteristischen Unterschied: Chandos spricht von »stummen und manchmal unbelebten Kreaturen« (Hofmannsthal: Ein Brief, S. 469). Cortázar steht in dieser Hinsicht Hofmannsthal vielleicht näher als Musil: »Die Rolle der Literatur als Sprachkunst wird [. . .] noch schärfer als im Europa der Zwischenkriegszeit in einer Selbstaufhebung gesehen, und Morellis Antwort auf das Chandos-Problem des modernen Autors heißt ›desescribir‹: ›zerschreiben‹.« (Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies [Anm. 22], S. 251.) – Bemerkenswert, im Kontext des Kapitels allerdings schlüssig, ist, dass Cortázar nicht etwa das berühmte Pilz-Zitat einfügt, sondern eine Stelle, die weniger die Unmöglichkeit, adäquat zu sprechen, als die vorgängige, zu keiner Abstraktion mehr fähige Wahrnehmung thematisiert: »[S]o wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen. / Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.« (Hofmannsthal: Ein Brief, S. 466).

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un halluciné?« Durch das Weglassen der Konjunktion bleibt jedoch die Möglichkeit einer inklusiven Lesart der Alternativen erhalten. Bemerkenswert ist die Wiedergabe von »Seher« in den beiden Übersetzungen: Wilkins/Kaiser zielen mit »seer« auf die Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit, die mit dem optischen Verb metaphorisch ausgedrückt werden kann. Wie auch Musil ist es ihnen dabei wohl um ein gesteigertes Vermögen zu tun, wie es etwa in der Seher-Figur des Poeta vates um die Jahrhundertwende virulent war, nicht um eine übernatürliche Dimension, die in dem auch religiös konnotierten Wort – auf Deutsch wie auf Englisch – ebenfalls mitschwingen kann. Jaccottet vermeidet das biblische ›voyant‹ und betont mit »visionnaire« stärker die mit dem Sehen konnotativ verbundene Vorstellungskraft, dessen potentielles Moment. Zwar kann »visionnaire« auch ›Hellseher‹ bedeuten und ist insofern eine adäquate Übersetzung der deutschen Formulierung, jedoch lässt sich Jaccottets Wortwahl auch als neuerlicher Hinweis darauf interpretieren, dass er Musils Erstling mit dessen Gesamtwerk im Bewusstsein übersetzt hat: Denn anhand dieses Wortes – Seher – und seiner Übertragungen ließe sich der Unterschied zwischen Törleß und Ulrich, der ja auch einer der geistigen und psychischen Entwicklung ist, festmachen. Wo der eine noch fragt, ob seine Wahrnehmung die eines Klarsehenden, Einsichtigen oder eines Menschen ist, dessen Sicht selbst- oder fremdinduziert trügt, kann der andere zumindest tendenziell auch als Visionär beschrieben werden. »Halluzinierter« gibt Jaccottet wortgetreu wieder; Wilkins/Kaiser lösen das Substantiv in einem Konjunktionalsatz auf: Dies verändert am semantischen Gehalt der Aussage wenig; insofern der Satz weniger stringent durchgebildet ist, trägt diese Übersetzung aber wiederum zu einem größeren Eindruck der Verwirrtheit bei. Bei der Verwendung des Partizips als Bezeichnung einer Person, gerade weil sie bei dem Verb ›halluzinieren‹ eigentümlich wirkt, liegt allerdings auch eine spezifische Absicht Musils nahe, die durch die englische Übersetzung also nicht transportiert wird: In ihr scheint sich ein Eindruck von Wesensbestimmung durch den »Sinn mehr [. . .] als die anderen« bei Törleß auszusprechen, der angesichts einer Krisenerfahrung zumal bei einem Jugendlichen nur zu konsequent wäre – ihn allerdings wiederum von seinem späteren ›großen Bruder‹ Ulrich abgrenzt. Resümierend kann festgehalten werden, dass sich in beiden Übersetzungen zwei Verschiebungstendenzen beobachten lassen: Sowohl die französische als auch die englische Übersetzung suggerieren durch – vordergründig teilweise minimale – Abweichungen in der Semantik einzelner Wörter, kleinere Ersetzungen und grammatikalische Veränderungen einen höheren Grad an Verwirrtheit von Törleß, dem Verfasser des kurzen Textes. Bei Jaccottets Übertragung der untersuchten Passage entsteht außerdem der Eindruck, er habe sich – vermutlich unbewusst – nicht nur am Text selbst, sondern auch am Mann ohne Eigenschaften orientiert, wodurch er die Gedankensammlung des Élève Törleß tendenziell in Richtung der Reflexionen Ulrichs und der

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erst später von Musil voll entfalteten Überlegungen rückte. In geringerem Maße trifft Letzteres durch die divergierende Wiedergabe des letzten Satzes auch auf Wilkins/Kaiser zu; durch die Hinzufügung von Distanzmarkern (»seem«, »notion«) verringert die englische Übersetzung die Unmittelbarkeit von Törleß’ Worten ebenfalls, ohne aber einem stabilen Identitätskern derart abzusagen wie Jaccottet. Insgesamt weicht die französische Übersetzung etwas stärker von den Verwirrungen des Zöglings Törleß ab als die englische; Cortázars Wahl lässt sich also sozusagen aus der Perspektive des Originals nachvollziehen. Die Wiedergabe der ersten beiden Sätze ist in Young Törless besonders bemerkenswert, da sie nicht nur für schwer zu übersetzende Wörter eine annähernde Entsprechung findet, sondern gleichzeitig durch die Verwendung auch mathematisch zu lesender Ausdrücke an eines jener Erlebnisse anknüpft, die erst dazu führen, dass Törleß meint, schriftlich »Klarheit gewinnen« (GW 6, S. 79) zu müssen und zu können. Die Bedeutung des Originaltextes wird hier also weitgehend entsprochen, aber auch vertieft.

9. »lo que dicen es perfecto« – Der zweifach übersetzte Törleß in Rayuela Cortázars Version lehnt sich sowohl in der Wortwahl als auch bei den Satzkonstruktionen sehr stark an die Übertragung von Wilkins/Kaiser an. Da er aber das Original ja aller Wahrscheinlichkeit nicht kannte, bleibt die Frage, weshalb er die englische Übersetzung insgesamt als passender für seinen Roman befand – und das eben, obwohl der Großteil seiner Musil-Rezeption in Form der L’Homme sans qualités-Lektüre vermittelt durch Jaccottets Worte stattgefunden hatte und sich die Mann ohne Eigenschaften-Lektüre des Übersetzers in Élève Törless niedergeschlagen zu haben scheint. Drei mögliche Gründe lassen sich dafür anführen: Naheliegend ist die Präferenz für Wilkins’/Kaisers Übertragung beim letzten Satz: »¿Significa eso que soy un vidente, o que tengo alucinaciones?« Sie kann aus der schon angesprochenen positiven Sichtweise Cortázars auf den Wahnsinn erklärt werden. Zwar ist das »or« bzw. »o« – nicht zuletzt durch die Nebensatz-Konstruktion – exklusiver als das »oder« im Original und schon gar die fehlende Konjunktion in Élève Törless, dennoch wird durch die schiere Möglichkeit, dass dasselbe Erleben einen zum »seer« bzw. »vidente« oder zu einem mit »hallucinations« bzw. »alucinaciones« machen könnte, die von Cortázar so gedachte Ähnlichkeit der beiden Weltzugänge betont. Der aktivistisch-gestalterische Beiklang, den das (Zukunft-)Sehen von Jaccottets »visionnaire« auch hat, könnte Cortázar widerstrebt haben, ist doch ein Teil des 71. Kapitels eine sarkastische Abrechnung mit den fehlgeleiteten Versuchen, ein Paradies auf Erden zu verwirklichen (vgl. R, S. 311).

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Dass Cortázar die Ersetzung von »denn« durch das emphatische »Where on earth« mehr zusagte als Jaccottets nüchternere Übersetzung von »Woher nehme ich denn dieses ›Etwas‹!«, könnte daran gelegen haben, dass er selbst in Rayuela mitunter eine kolloquiale bis derbe Ausdrucksweise verwendet, was sich auf seine Skepsis verkrusteter Sprache gegenüber zurückführen lässt. Besonders ausgeprägt findet sich dieser Stil in Kapitel 71, wo z. B. über das ›Seinesgleichen‹ mit Formulierungen wie »patadas en el culo« und »puta vida« (R, S. 309; R-HH, S. 405: »Fußtritte[ ] in den Hintern«, »verfluchte[s] Leben[ ]«) reflektiert wird.49 Dementsprechend fällt seine Übersetzung zweiter Hand noch einmal etwas drastischer aus als bei Wilkins/Kaiser: »¿De dónde diablos saco esa noción de ›algo‹?« Cortázar vertieft auf diese Weise nicht nur den Stilbruch, der schon bei Wilkins/Kaiser angelegt ist, sondern kontrastiert bemerkenswerterweise das eben auch religiös konnotierte »vidente«, mit dem er »seer« wiedergibt, mit dem Teufel. Die übernatürliche Opposition, die er auf diese Weise assoziativ dem Absatz aus Törleß hinzufügt, ist allerdings etwas, um das es ihm – wie noch zu sehen sein wird – in Rayuela gerade nicht geht. Vor dem Hintergrund seines eigenen Romans lässt sich allerdings die Vermutung ableiten, dass die unterschiedliche Übertragung der ersten beiden Sätze am relevantesten für Cortázars Wahl der englischen Variante war: Er übernimmt die Übersetzung von »befremden« aus dem englischen Text, ist mit »parecen extrañas« aber tatsächlich wieder näher am Original.50 »Die unscheinbarsten« gibt er analog zur englischen Vorlage mit »Las más triviales« wieder. Genau solche Dinge spielen in Rayuela eine große Rolle – trivial sind sie, insignifikant eben nicht.

10. Triviale Dinge, zum Scheinen gebracht Gleich im ersten Kapitel zum Beispiel sucht Oliveira mit viel Aufwand ein Zuckerstückchen, das ihm im Kaffeehaus auf den Boden gefallen ist. Die Leute, unter deren Schuhen er sucht, denken, es handle sich um etwas Wichtiges – und wie bemerkt wird: »zu Recht« (R-HH, S. 23; R, S. 16: »con razon«). In Paris sammelt Oliveira Drähte und Kisten auf der Straße und fertigt aus ihnen Mobiles, macht also aus etwas ganz und gar Gewöhnlichem, vermutlich Weggeworfenem und wohl von den meisten unbeachtet Gebliebenem eine Art Kunstwerk. Dabei geht es ihm weniger darum, tatsächlich etwas ästhetisch Durchgebildetes, Erhabenes zu schaffen; vielmehr will er etwas kreieren, das seinen Daseinszweck im Wahrgenommen-Werden und einer 49 50

»[P]uta vida« heißt wörtlich ›Huren-Leben‹. – Vgl. auch Lindner: Morelli im »Tausendjährigen Reich« (Anm. 10), S. 178 f. Auf Spanisch wäre allerdings durch die reflexive Verwendung des Verbs ›extrañar‹ – also ›cosas que me extrañan‹ – auch eine ganz wörtliche Übersetzung der Stelle möglich.

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nicht-utilitaristischen Selbstbezüglichkeit hat, man könnte auch sagen, dass er das Unscheinbare zum Scheinen bringen möchte: »[P]erfiles que giraban sobre las chimeneas, máquinas inútiles« (R, S. 17; R-HH, S. 24: »Profile, die sich auf dem Kamin drehten, nutzlose Maschinen«) Das Mobile weist in seiner Beweglichkeit eine Verwandtschaft zum Kaleidoskop auf, wodurch die Signifikanz, die den ›trivialen‹ Dingen zukommt, indirekt erhöht wird. In Buenos Aires werden Kisten und Drähte dann von Fäden und Schnüren abgelöst, was man als Ausdruck eines immer ›hypothetischeren‹ Lebens, das in Ausweglosigkeit umschlägt, verstehen kann. Einmal dröselt Oliveira einen Faden auf und macht aus den Fasern ein Labyrinth, das er an einen Lampenschirm klebt (vgl. R, S. 238 f.). Andere Fäden fügt er zu einem »riesige[n] transparente[n] Dodekaeder« (R-HH, S. 357; R, S. 269: »gigantesco dodecaedra transparente«) zusammen: »In Oliveiras Augen waren die Fäden das einzig passende Material für seine Erfindungen [. . .]. Er hatte es gern, wenn in allem, was er anfertigte, so viel freier Raum wie möglich entstand«. (R-HH, S. 357; R, S. 269: »Los hilos le parecían a Oliveira el único material justificable para sus inventos [. . .] Le gustaba que todo lo que hacía fuera lo más lleno posible de espacio libre«). Schließlich konstruiert er in seinem an Wahnsinn grenzenden Zustand aus Garn, Schnüren und einigen Wasserschüsseln eine fragile, an ein Spinnennetz erinnernde Verteidigungsanlage in einem Zimmer der psychiatrischen Anstalt (vgl. R, S. 269–273). Auf der Ebene der Handlung möchte sich Oliveira damit die anderen Mitarbeiter der Anstalt, von denen er sich verfolgt fühlt, vom Leib halten. Das aus aufgelesenen Fäden gefertigte Netz lässt sich freilich auch als poetologische Metapher begreifen, bildet Rayuela doch selbst ein dichtes Geflecht aus intra- und intertextuellen Verweisen51 – in dem nicht zuletzt auch Beispiele ›trivialer‹ Textsorten wie Zeitungsausschnitte, etwa eine recht absurde Meldung über die Gefahren, die beim Schließen eines Reißverschlusses lauern (vgl. R, Kapitel 130), eine Rolle spielen. Zu den trivialen Dingen, die Oliveira auf der Straße aufliest, gehören auch welke Blätter. Er nimmt sie mit in seine Wohnung und befestigt auch diese am Lampenschirm – im Wortsinn werden also unscheinbare Dinge beleuchtet; eine Szene, die vielleicht nicht von ungefähr an die Blätter erinnert, die »an das erleuchtete Fenster« (GW 6, S. 24) fliegen, während Törleß über die Einsamkeit nachdenkt, nachdem er mit Beineberg über seine Wahrnehmungen zu sprechen versucht und dieser ihn nicht verstanden hat.52 Die Beobachtung, 51 52

Vgl. Peter Standish: Understanding Julio Cortázar. University of South Carolina Press 2001, S. 96. Beinahe benutzt er auch schon die später im Notizheft gebrauchten Worte: »Was ist das? Ich fühle es oft wieder. Dieses plötzliche Schweigen, das wie eine Sprache ist, die wir nicht hören?« (GW 6, S. 24) Das »Schweigen« gibt Jaccottet mit »silence« wieder (Musil: Élève Törless [Anm. 9], S. 35). Wie Musil verwendet er also zwei Wörter, um die spezifische von Törleß vernommene Sprache bzw. später die Stimmen zu charakterisieren; dennoch scheint ›muette‹ keine ideale Lösung für ›lautlos‹ zu sein. Törleß benutzt bei der Beschreibung seiner Erfah-

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dass von zwei Besuchern nur einer die Installation bemerkt, führt Oliveira zu einer Reflexion über seine Wahrnehmung und deren Grenzen: Una misma situación, dos versiones . . . me quedo pensando en todas las hojas que no veré yo, el juntador de hojas secas, en tanta cosas que habrá en el aire y que no ven estos ojos, pobres murciélagos de novelas y cines y flores disecadas. Por todos lados habrá lámparas, habrá hojas que no veré. (R, S. 333) Ein und dieselbe Situation, zwei Versionen . . . Ich muß an all die Blätter denken, die ich, der Sammler trockener Blätter, nicht sehe, an die vielen Dinge, die in der Luft sind und die meine Augen, arme, in Romanen und Kinos und über getrockneten Blumen flatternde Fledermäuse, nicht sehen. Überall gibt es Lampen, gibt es Blätter, die ich nicht sehe. (R-HH, S. 428)

Gleich darauf benutzt nun Oliveira doch – fast – den Musil’schen Ausdruck vom ›anderen Zustand‹: »[P]ienso en esos estados excepcionales en que por un instante se adivinan las hojas y las lámparas invisibles, se las siente en un aire que está fuera del espacio.« (R, S. 333; R-HH, S. 428: »[. . .] denke ich an diese Ausnahmezustände, in denen man für einen Augenblick die unsichtbaren Blätter und Lampen errät, man fühlt sie in einer Luft außerhalb des Raumes.«) Dass Cortázar die untersuchte Passage und nicht diejenige, die er im Manuskript angeführt hatte, in den publizierten Text seines Romans übernahm, kann sich also vielleicht darauf zurückführen lassen, dass er die Erfahrung jener unverhofften Augenblicke, in denen sich ein derartiges anderes Welterleben – oft genug am unscheinbarsten entzündet – einstellt, nicht nur vermittels seines Protagonisten thematisieren wollte. In jenem anderen Textabschnitt wäre stärker eine zwischenmenschliche Ausprägung eines »estado fuera de lo común« angesprochen gewesen.53 Diese aber sowie die aktive Suche nach einer dauerhafteren Art von ›anderem Zustand‹ erfolgt auf Ebene der Handlung und etwa in den Überlegungen im 71. Kapitel in Rayuela in einer Auseinandersetzung mit dem Mann ohne Eigenschaften. Darüber hinaus ließe sich noch ein anderer Grund anführen: Bei der in die veröffentlichte Version aufgenommenen Passage handelt es sich, wie schon mehrfach erwähnt, um einen Auszug aus Törleß’ Notizbuch. Musil machte also in – freilich traditioneller Form und ohne den Rahmen der Fiktion zu sprengen – das, was auch Cortázar mit der Integration dieses und anderer Textauszüge in seinen Roman tat. Indem Cortázar den seinerseits quasi schon zitierten NotizbuchAbsatz abermals zitierte, fügte er der Verweisstruktur von Rayuela also zu-

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rung Beineberg gegenüber auch schon das Wort »leblos«. Weil Beineberg daraufhin spekuliert, man könne, »doch nicht einmal mit Bestimmtheit behaupten, daß ihnen [den leblosen Dingen, A. L.] keine Seele zukommt!« (GW 6, S. 24), bricht Törleß das Gespräch ab, was wiederum nahelegt, dass »inanimé« bzw. »inanimate«, was auch an dieser Stelle in beiden Übersetzungen gebraucht wird, nicht ganz passend ist (vgl. Musil: Élève Törless [Anm. 9], S. 35, bzw. Musil: Young Törless [Anm. 7], S. 26). Vgl. oben Abschnitt 7.

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mindest hypothetisch eine weitere Ebene hinzu – was sich mangels eines Hinweises freilich nur für den/die Leser:in des Romans erschließt, der/die auch mit den Verwirrungen des Zöglings Törleß vertraut ist. Jenen Rezipient*innen, die es nicht sind, bleibt deshalb noch etwas verschlossen, was Cortázar durchaus bewusst und ein weiterer Grund für die Aufnahme gerade dieses Absatzes gewesen sein könnte: Törleß’ Überlegungen sind von großer Ernsthaftigkeit getragen, wie es dem Zustand und dem Alter des Zöglings entspricht; das spiegelt sich auch in dem eingangs erwähnten Titel, den er seinem Notizbuch gibt: »De natura hominum« – dieser ist nicht nur, weil er Allgemeingültigkeit beansprucht, wo es doch, jedenfalls in dem, was Törleß dann tatsächlich schreibt, um persönlichstes Erleben geht, sondern eben auch wegen seines jugendlichen Verfassers für den/die Leser:in von Musils Text ironisch gebrochen. Genau in seiner ironischen Erzählweise ist aber ein Grund für Musils Einfluss auf Cortázar ausgemacht worden54 und Rayuela selbst basiert auf einer »Kontrapunkt-Technik [. . .], durch die [. . .] die eben getroffene Aussage sofort wieder ironisiert, in Frage gestellt oder zurückgenommen wird.«55

11. Vom Mandala zur langen Leiter Cortázars Vorliebe für vermeintlich triviale Dinge lässt sich auch am Titel von Rayuela erkennen: Während seiner Genese trug der Roman den Arbeitstitel Mandala, worin sich nicht zuletzt die Faszination des Autors für nicht-westliche Philosophie und Religionen, speziell eben den Buddhismus, ausdrückte. Im veröffentlichten Text kommt das Mandala weiterhin vor, einerseits wird es als ein Beispiel eines ›anderen Zustands‹ bzw. der Möglichkeiten, diesen zu erreichen, genannt, andererseits beschreibt Morelli damit seine literarische Arbeit: »Escribir es dibujar mi mandala y a la vez recorrerlo, inventar la purificación purificándose; tarea de pobre shamán blanco con calzoncillos de nylon.« (R, S. 330; R-HH, S. 426: »Schreiben bedeutet, mein Mandala zeichnen und es gleichzeitig durchlaufen, die Läuterung erfinden, indes man sich läutert; Fron des armen weißen Schamanen in Nylonunterhosen.«) Insofern ein Mandala als Orientierungshilfe für den Meditierenden dient, der entlang der spezifischen Zeichnung dennoch seinen individuellen Weg ›geht‹, um zu seinem ›Zentrum‹ zu kommen, besteht auch eine Parallele zur Struktur des Romans. Musil ruft an einer Stelle im Törleß ebenfalls eine komplexe visuelle Struktur auf, um gleichnishaft einen nicht rationalen Erkenntnisvorgang zu beschreiben: Törleß empfange in Gesellschaft des religiösen Prinzen ein »un54 55

»La fascinación que ejerce Musil sobre Cortázar se debe en gran medida al tenor irónico« (T, ăranu: La inmolación del Pathos [Anm. 34], S. 62). Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies (Anm. 22), S. 277.

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deutliches Bild« von dessen Seele, »so als ob er, ohne sich Gedanken darüber machen zu können, mit dem Finger eine schöne, aber nach seltsamen Gesetzen verschlungene Arabeske nachzöge.« (GW 6, S. 11) Cortázar zeichnete diese Formulierung in seiner Ausgabe des Young Törleß an. Die Arabeske stammt freilich aus einem anderen kulturellen Kontext und hat einen anderen funktionalen Hintergrund als das Mandala,56 Cortázar war zudem, als er Rayuela zu schreiben begann, nach eigenen Worten von jenen schon »besessen«57 ; von einer direkten Inspiration durch Musils Text kann hier also nicht ausgegangen werden. Der Blick auf die englische Übersetzung der Stelle zeigt jedoch, dass sich Cortázar durch Wilkins’/Kaisers Worte mehr noch als durch jene Musils in seiner ›Obsession‹ mit dem Mandala als Weg ins ›Zentrum‹ bestätigt fühlen konnte: »[. . .] just as though with his fingertips he were tracing the lines of an arabesque, not thinking about it, merely sensing the beautiful pattern of it, which twined according to some weird laws beyond his ken.«58 Aus Musils ungewöhnlicher Formulierung »ohne sich Gedanken machen zu können«, die ebenso eine momentane wie prinzipielle, aber nicht zwangsläufig gewollte Unmöglichkeit des Nachdenkens über die Arabeske und zudem die Abwesenheit aber auch das Entgleiten von Konzentration meinen kann, machen die englischen Übersetzer zwei, tendenziell vereindeutigende Syntagmata: die Präsenspartizip-Formulierung »not thinking about it« und den erklärenden Zusatz, dass die »weird laws« jenseits von Törleß’ Horizont lägen.59 Diese Aufspaltung rückt vor allem durch die explizite Suspension des Denkens als Praxis, die bei Musil gerade nicht steht – der deutsche Törleß kann sich keine Gedanken machen, der englische denkt einfach nicht – und die durch die Hinzufügung des Erfühlens des Musters noch unterstrichen wird, sowie durch die Betonung der Unerkennbarkeit der »seltsamen Gesetze«, wenigstens für den Zögling, den tastenden Nachvollzug des Ornaments in die Nähe der meditativen Praxis. Wilkins/Kaiser präzisieren in ihrer Übersetzung außerdem, was nachgezogen wird: »the lines of an arabesque« (Hervorhebung A. L.). Wiederum stellt diese Hinzufügung eine Vereindeutigung dar; sie greift aber – ob mit 56 57 58 59

Eventuell könnte man die spezifische Verflechtung von Form und Inhalt in Rayuela auch mit dem poetologischen Begriff der Arabeske im Sinne Friedrich Schlegels in Verbindung bringen; dass Cortázar diese Bedeutung kannte, erscheint indes wenig wahrscheinlich. »Cuando pensé el libro, estaba obsesionado con la idea del mandala [. . .].« Julio Cortázar, zit. n. Luis Harss: Los Nuestros. Buenos Aires: Sudamericana 1981, S. 266 [Herv. i. O.]. Musil: Young Törless (Anm. 7), S. 7. Jaccottet weicht bei der Wiedergabe dieser Passage ebenfalls etwas von der Vorlage ab. Einerseits fügt er ein Adjektiv, das die Arabeske näher beschreibt, hinzu; das hat keine wie auch immer geartete Entsprechung bei Musil und dürfte wohl dem Satzrhythmus geschuldet sein. Andererseits vereindeutigt auch der französische Übersetzer die Formulierung »ohne sich Gedanken machen zu können«, und zwar zur Geistesabwesenheit: »[. . .] comme s’il avait suivi distraitement du doigt une arabesque merveilleuse, mais dont les entrelacs eussent obéi à d’étranges lois.« (Musil: Élève Törless [Anm. 9], S. 16) – In Cortázars Ausgabe des Élève Törless ist diese Passage nicht angezeichnet.

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Absicht oder ohne – auch ein Element eines für den Törleß konstitutiven Motivkomplexes auf: Die Linie als visuelle wie mentale Voraussetzung der Wahrnehmung und Verarbeitung durchzieht in Form von Eisenbahnschienen, Russspuren, Seilen, Schnüren, Tintenstrichen usw. sowohl auf poetologischer, rhetorisch-figürlicher als auch auf der Handlungsebene den gesamten Roman.60 Ausgehend von der »grenzziehenden, primär Ordnung schaffenden Leistung der Linie«61 schildert Musil die Verwirrungen des Zöglings als ein unwillkürliches Sich-Verbinden der Dinge, ein Verschlingen und Verknoten der Zusammenhänge und Zustände und vor allem ein Verschwimmen und Verschwinden der Konturen der Menschen und physischen wie metaphysischen Gegenstände. In Rayuela spielt die Linie keine vergleichbare Rolle; sie klingt aber im Titel an: ›Raya‹ meint Strich, Kratzer oder eben Linie als etwas Gezogenes, sei es als Ziellinie oder im Sinne einer Begrenzung.62 ›Rayuela‹ wiederum ist die spanische Bezeichnung für jenes im Deutschen unter anderem als ›Himmel und Hölle‹ bekannte Kinderspiel, bei dem, meist einbeinig, in – eine Kreuz- oder Doppelkreuz-Form ergebende – auf den Boden gezeichnete Kästchen gesprungen werden muss.63 Dass Cortázar sich schließlich gegen Mandala entschied, kann zum einen ganz simpel als Absage an eine allzu enge Bindung an eine spezifische Ausprägung der Suche nach einem anderen Welterleben, die in dem Werk aus so vielen Perspektiven behandelt wird, zum anderen als Wunsch, die eigene Konzeption dieser Suche mehr in den Vordergrund zu rücken, verstanden werden. Diese eigene Konzeption bzw. das, was Horacio Oliveira im Verlauf der Romanhandlung tut, um seinem ›centro‹ näher zu kommen, bedeutet aber, wie schon erwähnt, immer wieder auch ein Überschreiten von moralischen und physisch-psychologischen Grenzen und ähnelt insofern stärker dem Von-Kästchen-zu-KästchenSpringen, das ja auch eine Bewegung über Begrenzungslinien hinweg darstellt, als dem meditativen Nachvollzug der Mandala-Linien.64 Zuletzt weist der endgültige Titel darauf hin, dass Cortázar verstärkt das Ludische seines Romans bzw. von dessen Rezeptionsweise betonen wollte65 – nicht nur, weil 60 61 62 63

64 65

Vgl. Sabine Mainberger: Visuelle Konjunktive. Überlegungen zu Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Die Amsel, in: Modern Language Notes 125 (April 2010), Nr. 3, S. 602–625. Ebd., S. 611. Vgl. die Bedeutungen im Diccionario de la lengua española der Königlichen Spanischen Akademie: https://dle.rae.es/raya (aufgerufen am 29. 7. 2022). Das Wort wird manchmal als Verbindung von ›raya‹ mit dem Diminuitiv-Suffix ›-uela‹ aufgefasst. Die tatsächliche Etymologie von ›rayuela‹ scheint jedoch unklar zu sein; jedenfalls wird sie im Diccionario de la lengua española nicht ausgewiesen, vgl. https://dle.rae.es/rayuela (aufgerufen am 29. 7. 2022). Zur Konnotation von Transgression im Titel Rayuela vgl. auch: Standish: Understanding Julio Cortázar (Anm. 51), S. 105. Vgl. Richard E. Parent: Interpretation, Navigation, Enactment. Fragmented Narratives and the Play of Reading, in: The Hand of the Interpreter. Essays on Meaning after Theory. Hg. v. G. F. Mitrano u. Eric Jarosinski. Oxford, Bern u. a. 2009, S. 173–204, bes. S. 180 f.

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das Hin- und Herblättern zwischen den Kapiteln und Teilen des Romans wohl ebenfalls mehr der Spielweise von ›Rayuela‹ gleicht als der MandalaPraxis, sondern auch weil so einerseits das Spiel allgemein eine Aufwertung als Möglichkeit des Erreichens eines ›anderen Zustands‹ erfährt und andererseits das Dilemma der Sehnsucht nach einem solchen auf den Punkt gebracht werden kann: La rayuela se juega con una piedrita que hay que empujar con la punta del zapato. Ingredientes: una acera, una piedrita, un zapato, y un bello dibujo con tiza, preferentemente de colores. En lo alto está el Cielo, abajo está la Tierra, es muy difícil llegar con la piedrita al Cielo, casi siempre se calcula mal y la piedra sale del dibujo. Poco a poco, sin embargo, se va adquiriendo la habilidad necesaria para salvar las diferentes casillas [. . .] y un día se aprende a salir de la Tierra y remontar la piedrita hasta el Cielo, hasta entrar en el Cielo, [. . .] lo malo es que justamente a esa altura, cuando casi nadie ha aprendido a remontar la piedrita hasta el Cielo, se acaba de golpe la infancia y se cae en las novelas, en la angustia al divino cohete, en la especulación de otro Cielo al que también hay que aprender a llegar. Y porque se ha salido de la infancia [. . .] se olvida que para llegar al Cielo se necesitan, como ingredientes, una piedrita y la punta de un zapato. (R, S. 178) Himmel-und-Hölle spielt man mit einem Steinchen, das man mit der Schuhspitze vorwärts stoßen muß. Zutaten: ein Gehsteig, ein Steinchen, ein Schuh und eine schöne Kreidezeichnung, am besten farbig. Oben ist der Himmel, unten ist die Hölle [eigentlich: Erde; Anmerkung A. L.], es ist sehr schwer, mit dem Steinchen in den Himmel zu gelangen, fast immer verrechnet man sich, und der Stein schießt über die Zeichnung hinaus. Nach und nach freilich erwirbt man die notwendige Geschicklichkeit, um die einzelnen Felder zu erreichen [. . .], und eines Tages lernt man, die Hölle [eigentlich: Erde] zu verlassen und das Steinchen bis zum Himmel zu bringen, sogar in den Himmel einzutreten [. . .], das Schlimme ist nur, daß gerade dann, wenn noch kaum einer es fertiggebracht hat, das Steinchen in den Himmel zu bringen, die Kindheit mit einemmal endet, und man stürzt ab in die Romane, in die Angst vor der Vergeblichkeit, in die Spekulation über einen anderen Himmel, in den zu gelangen ja auch erlernt sein will. Und weil man die Kindheit verlassen hat [. . .], vergißt man, daß Zutaten wie Steinchen und Schuhspitze vonnöten sind, um in den Himmel zu gelangen. (R-HH, S. 237 f.)

Mit dem späteren Titel ersetzte Cortázar also auch die Assoziation zu etwas Sakralem, Erhabenem durch die zu etwas Alltäglichem: »Así la trasmutación mítica, la capitalización simbólica se operarán a partir de una imagen más trivial pero con mayor concreción empírica, con menor poder de extrañamiento pero con más carga simpática, más vívida, más vivida.« (»Auf diese Weise geschieht die mythische Umwandlung, die Symbolbildung auf Grundlage eines gewöhnlicheren Bildes, das allerdings größere empirische Konkretheit besitzt, mit weniger Macht Befremden zu erzeugen, aber mit größeren Sympathiewerten, lebendiger, näher am Erlebten.«)66 Aber nicht nur in 66

Saúl Yurkiévich: Eros ludens (Juego, amor, humor según Rayuela), in: Cortázar: Rayuela (Anm. 1), S. 759–768, hier S. 759.

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der ›Trivialität‹ des Kinderspiels und dessen, was man laut Rayuela für das Erreichen des ›Himmels‹ benötigt – ein Steinchen, eine Schuhspitze, Asphalt und eine Kreidezeichnung – liegt eine Parallele zu Törleß’ Empfindung, besonders unscheinbare Dingen würden ihn befremden. Vielleicht lässt sich schon die Idee, das ›Rayuela‹-Spiel zur Metapher zu machen, auf Törleß zurückführen: Betont der vorhin genannte geläufigste deutsche Name des Spiels – ›Himmel und Hölle‹; er wurde ja auch für die Übersetzung des Romans herangezogen – einen außerweltlich gedachten Antagonismus, so die zitierte Beschreibung in Rayuela eben das Erreichens eines ›Himmels‹ von der ›Erde‹, der gemeinen irdischen Seinsweise, aus. Durch diesen ›natürlicheren‹, aber eben auch die Verschiedenheit zweier Zustände betonenden Gegensatz – und unterstrichen durch die Struktur aus Längs- und Querlinien – erinnert ›Rayuela‹ also mehr an die Vorstellung der klassischen christlichen Himmelsleiter, wie sie als Vision auch in Törleß vorkommt. Dass diese Stelle für Rayuela Bedeutung haben könnte, kann allerdings nicht durch graphische Spuren in den beiden Übersetzungs-Ausgaben in der Fundación March belegt werden: Und plötzlich bemerkte er, – und es war ihm, als geschähe dies zum ersten Male, – wie hoch eigentlich der Himmel sei. Es war wie ein Erschrecken. Gerade über ihm leuchtete ein kleines, blaues, unsagbar tiefes Loch zwischen den Wolken. Ihm war, als müßte man da mit einer langen, langen Leiter hineinsteigen können. Aber je weiter er hineindrang und sich mit den Augen hob, desto tiefer zog sich der blaue, leuchtende Grund zurück. Und es war doch, als müßte man ihn einmal erreichen und mit den Blicken ihn aufhalten können. (GW 6, S. 62)

Gerade die eigentümlich physisch-beschränkte Beschreibung, die Musil von der sich offenbarenden Unendlichkeit des Himmels gibt – das »kleine[ ], blaue[. . .] Loch« –, erinnert an die Kästchen-Struktur des Spiels und die dort real-trivial gegebene Möglichkeit ›in‹ den ›Himmel‹ »hineinsteigen« zu können. Anders als in Cortázars Beschreibung von ›Rayuela‹ kommt bei Musil das Zurücklegen des Wegs, also das Erklimmen der Leiter, nicht vor. Die englische Übersetzung allerdings macht aus »hineinsteigen« zwei Verben: »He felt it must be possible, if only one had a long, long ladder, to climb up and into it.«67 Diese Differenzierung weicht zwar – in der nun schon mehrfach beobachteten Weise – vom Musil’schen Text etwas ab, bewahrt allerdings das materiell paradoxe, metaphorisch aber umso wichtigere Bild des Eintretens, das schon in die Richtung der später für Musil so bedeutsamen Ideen von Einheit und Vereinigung weist. In der französischen Übersetzung ist das Verb dagegen durch eines der Aufwärtsbewegung, die durch Leiter und Himmel schon impliziert ist, ersetzt: »[. . .] monter jusqu’a ce trou.«68

67 68

Musil: Young Törless (Anm. 7), S. 87. Musil: Élève Törless (Anm. 9), S. 100.

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Wenn auch mit anderen Vorzeichen, so weisen auch die Probleme, den Himmel zu erreichen, in den beiden Texten Ähnlichkeiten auf: Cortázar schreibt, dass es schwierig sei, in den ›Rayuela‹-Himmel zu kommen, weil man das Steinchen meist aus der Kreidezeichnung hinausstoße. Törleß’ Versuche, bis auf den »Grund« des Himmels vorzudringen, scheitern, weil die »Blicke«, die er »wie Pfeile zwischen die Wolken hineinschleuderte [. . .], je weiter [er] sie auch zielte, immer um ein weniges zu kurz träfe[n].« (GW 6, S. 62) Handelt es sich bei den Verwirrungen des Zöglings Törleß um Erfahrungen, die das Bewusstsein für die Existenz einer Art ›anderen Zustands‹ schärfen, so stellt die lange Ausführung zum ›Rayuela‹-Spiel den Verlust eines ungebrochenen Weltzugangs aus, wie er just mit der Adoleszenz zusammenfällt. Beiden Versuchen, ›in‹ den Himmel zu steigen, eignet Vergeblichkeit: Ist es in Musils Roman der Rückzug des Grundes, so in Rayuela das merkwürdig in die Länge gezogene Erlernen des infantilen Hüpfspiels, das nicht durch seine endliche Beherrschung zum Abschluss zu kommen scheint, sondern durch den notwendigen Fall kurz vor Erreichen des Himmels. Am Ende seiner Wahnsinnserfahrung erwägt Oliveira denn auch aus dem Fenster der Psychiatrie zu springen, wo im Hof ein »Rayuela«-Spiel aufgezeichnet ist. Die oben zitierte ausführliche Beschreibung des Spiels bleibt auf einer zwar gleichnishaften, aber sachlichen Ebene. An anderer Stelle nennt allerdings Horacio Oliveira seine Geliebte Maga »vertiginosa rayuela« (R, S. 86; R-HH, S. 108: »schwindelerregende[s] Himmel-und-Hölle-Spiel«); damit ist, wie wohl mit leichter Akzent-Verschiebung, auch der Effekt des »über den Verstand Gehen[s]« (GW 6, S. 63), den Törleß angesichts der Unendlichkeit empfindet, benannt.

12. Schluss Musils Einfluss auf Cortázar lässt sich in Rayuela in vielen inhaltlichen, aber auch strukturellen Details nachweisen, deren Spezifik teilweise darauf zurückführen ist, dass Cortázar Musil in Übersetzungen rezipierte. Dass er für das Törleß-Zitat Wilkins’/Kaisers Übersetzung zur Vorlage wählte, ließ sich mit Eigenheiten seines Romans begründen. Die Analyse der Übersetzungen hat zudem gezeigt, dass die englische und die französische Übertragung – jedenfalls bei dieser Passage – in ähnlicher Weise vom Musil’schen Text, abweichen, wobei Jaccottet sie außerdem etwas in Richtung des Mann ohne Eigenschaften verschiebt. Die Diskussion der englischen Übersetzung des von Cortázar zitierten Absatzes und weiterer Passagen hat eine Tendenz zur mehrfachen Wiedergabe von Musils Formulierungen durch Wilkins/Kaiser aufgezeigt. Diese Verdoppelungen – die sich wohl an vielen weiteren Stellen der englischen

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Übertragung feststellen ließen – machen Ambivalenzen des Originals offensichtlich, vereindeutigen und verflachen teilweise den Text dadurch aber auch, da Musils Worte zwar mehrdeutig, aber – wie insbesondere das Beispiel der Gedanken, die Törleß sich nicht machen kann, zeigt – gleichzeitig präzise sind. Genau solche Formulierungen sind es wohl, die sich am ehesten zur sprachlichen Fassung dessen, was in Sprache nicht gefasst werden kann, eignen. Um diese Überlegung zu untermauern sei noch einmal das ArabeskenGleichnis in Erinnerung gerufen: Wilkins’/Kaisers Hinzufügung entspricht wohl genau der Vorstellung, die beim Lesen auch der Passage im Original entsteht: dass die Linie, die das Muster bildet, nachgezogen wird, nicht die Fläche. Gerade deshalb ist die im ersten Moment weniger genau erscheinende Formulierung bedeutsam: Das Verhältnis von Form und Hintergrund, von Linie und Fläche und deren unwillkürliche Inversion in Momenten veränderter Wahrnehmung ist ein zentraler Topos von Musils gesamtem Œuvre,69 das Verschwinden von Konturen, wie erwähnt, für den Törleß konstitutiv. Die Rede von der Arabeske in toto präfiguriert also die bald auftretenden Verwirrungen des Zöglings; da jedes Linien-Muster aber einer Fläche, von der es sich abhebt und die sie perzeptiv tendenziell zum Verschwinden bringt, bedarf, verweist Musils Formulierung auch gleichermaßen auf die Unmöglichkeit einer Synchronizität grundverschiedener Wahrnehmungsweisen wie auf die Notwendigkeit sich dieser bewusst zu sein. So umfassend Der Mann ohne Eigenschaften und Törleß auch in Rayuela als ausgewiesene und versteckte, adaptierte Intertexte Eingang gefunden haben – jene Themen, die Cortázar an Musil am relevantesten erschienen waren, rückten für ihn bald in den Hintergrund. Mitte der 1960er Jahre wandelten sich Cortázars Interessen grundlegend, eine Hinwendung zum Kommunismus ging tendenziell mit der Verwandlung einer im weiteren Sinn existentialistisch orientierten in eine engagierte Literatur einher. Im Oktober 1967 – also nur vier Jahre nach der Publikation von Rayuela – konnte er sich bereits nicht mehr daran erinnern, darin aus Törleß zitiert zu haben: »Otra gran maravilla ha sido leer [. . .] que Wong encontró un libro de Musil con una frase subrayada. Asombrosamente me he olvidado por completo de esa referencia.« (»Ein weiteres großes Wunder war [. . .], zu lesen, dass Wong ein Buch von Musil mit einer unterstrichenen Stelle gefunden hat. Verwunderlicherweise hatte ich diesen Verweis komplett vergessen.«)70 Angesichts seiner »toma de 69 70

Vgl. Mainberger: Visuelle Konjunktive (Anm. 60), bes. S. 609. Cortázar: Cartas, Bd. 2 (Anm. 17), S. 1194. – 1965 wurde mit den Œuvres pré-posthumes – abgesehen von den Fragmenten des Mann ohne Eigenschaften – der letzte literarische Text Musils in französischer Übersetzung publiziert; möglicherweise hat die eingehende Beschäftigung Cortázars auch nachgelassen, weil es keine neuen Veröffentlichungen mehr gab. Noch in den 1970er Jahren lässt sich ein zumindest schwaches Interesse an Musil nachweisen: In der Nachlassbibliothek befinden sich eine spanischsprachige Ausgabe von Über die Dummheit (Sobre la estupidez. Ensayo [ohne Übersetzerangabe]. Barcelona 1974, Signatur: BC-L-Mus5) sowie die Musil gewidmete Nr. 74 der Zeitschrift L’Arc aus dem Jahr 1978 (Signatur: BC-L-Arc5),

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conciencia política« (»politischen Bewusstwerdung«)71 scheint sich Jaccottets Interpretation also doch noch bewahrheitet zu haben – was davor als »lo que dice[ ] es perfecto« gewertet worden war, gehörte dann anscheinend eher zu den Dingen »[l]e plus insignifiantes«.

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in welcher sich auch einige Anzeichnungen finden (vgl. Lindner: Cortázars Musil-Rezeption [Anm. 8], S. 40). Vgl. Picon Garfield: Cortázar por Cortázar (Anm. 4), S. 780.

Kathrin Holzermayr Rosenfield

Fruchtbare Irrtümer der Musil-Übersetzung ins Portugiesische Die Amsel im Spiegel dreier brasilianischer Übersetzungen Abstract: The article first discusses Musil’s scattered statements on the problem of translation and argues that for him, interlingual translation is only an epiphenomenon of a broader problem of translation. It then discusses the factors that have made Musil’s reception in Brazil difficult over the last four decades. The article focuses on the analysis of three translations of Musil’s novella The Blackbird (Die Amsel) into Brazilian Portuguese. It is shown that comparison of the translations can be hermeneutically illuminating. Even the analysis of misunderstandings and errors on the part of the translators can bring out particularities of Musil’s text.

1. Musils Einstellung zur Übersetzung: Einleitende Gedanken Im Kapitel »Sie tun Unrecht« im Mann ohne Eigenschaften berichtet Agathe ihrem Bruder Ulrich davon, wie ihr Ehemann Hagauer die Übersetzungen seiner Schüler korrigiert: »[. . .] einmal, weißt du, hat ein Bub aus seiner Schule eine Stelle aus Shakespeare wörtlich so übersetzt: ›Feige sterben oftmal vor ihrem Tod; Die Tapfern kosten niemals vom Tode außer einmal. Von all den Wundern, die ich noch habe gehört, Es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten, Sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende, Wird kommen, wann er will kommen.‹ Und er verbesserte das, ich habe das Heft selbst gesehn: ›Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt! Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. Von allen Wundern, die ich je gehört, Scheint mir das größte . . .‹ Und so weiter nach der Ratsche der Schlegel-Übersetzung! Und noch so eine Stelle weiß ich! Im Pindar, glaube ich, heißt es: ›Das Gesetz der Natur, der König aller Sterblichen und Unsterblichen, herrscht, das Gewaltsamste billigend, mit allmächtiger Hand!‹ Und er gab dem die ›letzte Feile‹: ›Das Gesetz der Natur, das über alle Sterblichen und Unsterblichen herrscht, waltet mit allmächtiger Hand, auch das Gewaltsame billigend.‹« (MoE, S. 704)

Agathe macht sich mit aufmüpfigen Bemerkungen über den pingelig-professoralen Stil ihres Ehemanns lustig, der die – wörtlichen und hart gefügten –

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Übersetzungen seiner Schüler zu verbessern versucht, aber damit nur den eigenartigen Reiz des rohen Wortlautes mit tradierten Formulierungen überkleistert. Die beiden Übersetzungen von Schülern sowie deren Korrekturen hat Robert Musil nahezu wörtlich aus Georg Kerschensteiners Buch Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichtes1 übernommen. Dort dienen sie im Kapitel »Das Wesen der geistigen Zucht« der Veranschaulichung jener Denkoperationen, die im Unterricht zu lehren und zu erlernen sind. Agathes Überlegungen zum spezifischen Reiz, der von der rohen, buchstäblichen Übersetzung der Schüler ausgeht, können als Beleg dafür aufgefasst werden, dass Musil zumindest en passant die Übersetzungsdebatten seiner Zeit, zumal jene um Hölderlins Übersetzungen, wahrgenommen hat. Diese erhielten wesentliche Impulse von Norbert von Hellingrath, der Sammlung, Sichtung und Aufarbeitung von Hölderlins Ideen zur Übersetzung vorangetrieben hatte. Auch Musil befasste sich mit den Debatten um Hölderlins Dichtung – obschon mit einer für ihn typischen distanzierten Skepsis. Er las Hellingraths Aufsatz Hölderlins Wahnsinn2 und ging in einer Tagebuchnotiz (vgl. Tb I, S. 752; Tb II, S. 543 f.) lakonisch auf die damals aufflammende Diskussion um die verschiedenen Versionen seiner Gedichte ein.3 Vom neoromantischen und neomystischen Geschmack der konservativen HölderlinEnthusiasten versuchte er sich sogleich abzugrenzen.4 Der Begeisterung für Novalis5 und Hölderlin oder dem erneuten Interesse an Tragödien und Tragödien-Übersetzungen begegnete er mit Misstrauen.6 Man kann aus dem spärlichen Vorkommen von Bemerkungen zur Übersetzung im Werk Musils nicht ableiten, dass ihm die spezifischen Probleme 1

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Vgl. Georg Kerschensteiner: Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichtes. Neue Untersuchungen einer alten Frage. Leipzig 1914. Die Pindar-Übersetzung wird auf den Seiten 22–26, die Shakespeare-Übersetzung auf den Seiten S. 31–33 beprochen. Vgl. auch Musils Exzerpte aus Kerschensteiners Buch, Tb I, S. 572–575. Vgl. Norbert von Hellingrath: Hölderlin. Zwei Vorträge. Hölderlin und die Deutschen. Hölderlins Wahnsinn. München 1921. Die Verschiebungen in den drei Versionen des Gedichts Dichtermuth wurden seither vielfach diskutiert. Zur jeweils ersten Strophe der Gedichte Dichtermuth und Blödigkeit, die Hellingrath nebeneinander präsentiert, bemerkt Musil nur, dass er an den Gedichten »in erster u späterer Edition [. . .] keine Verbesserung gewahren kann.« (Tb I, S. 752); vgl. dazu Tb II, S. 544. Zwar bildet die Notiz zu Hellingraths Aufsatz (vgl. Tb I, S. 752) einen Beleg für seine Skepsis gegenüber der Hölderlin-Begeisterung seiner Zeit. Aus den Passagen, in denen Agathe sich für die ungelenke, dem Original wörtlich folgende Übersetzung eines Schülers begeistert, kann man aber auch die Wertschätzung gegenüber der harten Fügung der Hölderlin’schen Übersetzungen ableiten. Zur Skepsis gegenüber der Novalis-Rezeption vgl. das Exzerpt in Tb I, S. 397. Musil distanziert sich – ähnlich wie Friedrich Nietzsche – von der seines Erachtens anachronistischen Tragödienrezeption seiner Zeit. Vgl. seine frühen Notizen zu Hermann Bahrs Rezeption des Tragischen (Dialog vom Tragischen), wobei er sich darüber verwundert zeigt, dass sich die zeitgenössische Kultur nur mit von der Tradition kanonisierten Spielen befasst: »Wir spielen mit Spielen, aber wir spielen niemals unser Eigenes.« (Tb I, S. 38).

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des Übersetzens nicht bekannt oder dass sie ihm gleichgültig gewesen wären. Obwohl er kein akademisch geschulter Kritiker – wie z. B. Walter Benjamin – war, findet man in seinen Schriften und Tagebüchern kurze explizite Stellungnahmen zur Arbeit des Übersetzens.7 Einige dieser Tagebuchnotizen überschneiden sich mit einzelnen Aspekten von Benjamins Übersetzungstheorie und modulieren diese: Das Verhältnis zwischen Sprechen u[nd] Verstehen, Übersetzen aus einer u. in eine fremde Sprache findet sich auch in der eigenen. [. . .] / Der Schriftsteller im Verhältnis zum Leser schreibt eine Fremdsprache. (Tb I, S. 781)

Dieses Notat nimmt laut Bernhard Metz »das Paradigma ›Understanding as Translation‹ [. . .] vorweg«, wonach »das Ringen des Autors um den perfekten Ausdruck mit den Anstrengungen des Übersetzers zu vergleichen ist, einen fremden Text in die eigene Sprache zu überführen.«8 Für diese ›transkreativen‹ Anstrengungen des Übersetzers gibt es in Brasilien seit den 1950er und 1960er Jahren den Fachausdruck ›transcriação‹.9 Das ist die geläufige Bezeichnung für die intellektuelle und ästhetische Durchdringung der Vielschichtigkeit des Originals und dessen Rekonstitution in der Fremdsprache. Der Begriff bezieht sich auf die komplexen Verschiebungen, die Flexibilität der Ergänzungen und Kompensationen, dank derer ein begabter Übersetzer auch scheinbar unübersetzbare poetische Feinheiten durch Neuschöpfungen in der Zielsprache wiedergeben kann. ›Transcriação‹ ist seither in Brasilien ein gängiger Ausdruck der Übersetzungstheorie und -kritik.10 Ein weiteres Zeugnis für Musils Auseinandersetzung mit Übersetzungsproblemen ist die wieder gestrichene Passage eines Briefentwurfs, in der Musil laut Metz »neben zeitgeschichtlichen auch stilistische Gründe für seine eigene 7

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Bernhard Metz führt aus: »Musil war sich des Zirkulierens von Literatur in Übersetzungen bewusst, diskutierte mit seiner Frau Martha ›über Übersetzen‹ (Tb I, S. 814), vermerkte in Rezensionen und Lektürenotaten Übersetzungen als problematisch (vgl. Tb I, S. 743 u. S. 923; GW II, S. 844 u. S. 1646)«. Bernhard Metz: Übersetzungen, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, New York 2016, S. 810–825, hier S. 811. Metz bezieht sich hier auf: George Steiner: After Babel. Aspects of Language and Translation. New York 1998, S. 1–50, sowie auf: ders.: Translation as conditio humana, in: Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung/An International Encyclopedia of Translation Studies/Encyclopédie internationale de la recherche sur la traduction. Bd. 1. Hg. v. Harald Kittel u. a. Berlin, New York, S. 1–11. ›Transcriação‹ wurde als ein Fachausdruck von einer Gruppe von Dichtern geprägt, die gleichzeitig als Übersetzer tätig waren, den ›Concretistas‹ Haroldo de Campos, Augusto de Campos und Décio Pignatari. Inspiriert von der Ästhetik Friedrich Hölderlins, Stéphane Mallarmés, Arno Holz’, Ezra Pounds und Wladimir Majakowskis, aber auch von den theoretischen Schriften Walter Benjamins, Roman Jakobsons, Paul Zumthors suchten sie neue Wege für die kreative Übertragung der Synästhesien, der bildhaften Konstellationen, der labyrinthischen Suggestionen, die die rationale Semantik unterlaufen und überdeterminieren. Der Name ›Concretistas‹ bezieht sich auf ihr Manifest für eine konkrete ›Sinnlichmachung‹ des Sinns. Vgl. Haroldo de Campos: Transcriação. Hg. v. Marcelo Tápia u. Thelma Médici Nóbrega. São Paulo 2016.

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›Unübersetzbarkeit‹ an[gibt], die von verschiedensten Übersetzern bis heute bestätigt werden«.11 Der Briefentwurf vom 3. 8. 1940 war an das American Committee for Christian Refugees gerichtet. Da es infolge besonderer Umstände (meine Sprache ist schwer zu übersetzen, und meine Art die Probleme zu sehen, wirkt mehr intensiv als auf den ersten Blick und extensiv) keine ausreichende amerikanische oder englische Übersetzung von mir gibt [. . .]. (KA/Transkriptionen/Nachlass Mappen/Weitere Mappen/Briefkonzepte III/10)

Auch der oben bereits zitierte Abschnitt aus dem Mann ohne Eigenschaften, der Agathe Worte in den Mund legt, die ein Wohlwollen gegenüber der unbeholfen-buchstäblichen Übersetzung von Schülern ausdrücken, in der die Fremdheit des Originals noch spürbar ist, spricht damit ein Problem an, das im letzten Jahrhundert eine Flut von theoretischen Arbeiten ausgelöst hat, die heute Bibliotheken füllen.12 Musils Vorstellung von den zwei fundamental unterschiedlichen Gegenstandsbereichen menschlicher Erkenntnis – nämlich dem ›ratioïden‹ und dem ›nicht-ratioïden‹ – setzt bereits voraus, dass das geistige Leben eine unentwegte ›Übersetzung‹ und Vermittlungsarbeit erfordert, die zwischen festen, rational und diskursiv kommunizierbaren Zuständen, Formen, Sprachen einerseits und einem ganz ›anderen Zustand‹ andererseits Kompromisse und Lösungen suchen muss (oder müsste).13 Der ›andere Zustand‹ ist eine Disposition, in der Gefühle, Empfindungen und Gedanken ohne definierte Grenzen in minimalen Übergängen fluktuieren, die der Begrifflichkeit widerstehen – zumindest jenen rigiden Begriffen, die die Bewegtheit und Diversität der sinnlichen Eindrücke in einem Konzept verkürzen. Die scheinbare Inkompatibilität, die die ›nicht-ratioïden‹ Gefühle vom ›ratioïden‹ begrifflichen Denken abspaltet, ist schwer zu überbrücken; den Versuch, diese Kluft doch durch ästhetisches Feingefühl und Präzision zu überwinden, hat Musil, der seinen Mann ohne Eigenschaften ein »Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« (MoE, S. 597) fordern lässt, dennoch unternommen. In diesem Sinn 11 12

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Metz: Übersetzungen (Anm. 7), S. 810 f. Diese Romanszene bildet ein Pendant zu Benjamins Übersetzungsästhetik; beide würdigen die fremden kreativen Kräfte, die vom Original auf die Übersetzung einwirken. Vgl. dazu Haroldo de Campos: A palavra vermelha de Hölderlin, in: ders.: A Arte no horizonte do Provável. São Paulo 1969, S. 93–107; Davide Giuriato: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932–1939). München 2006, S. 162–181, bes. S. 166; Julia Abel: Benjamins Übersetzungsästhetik. Die Aufgabe des Übersetzers im Kontext von Benjamins Frühwerk und seiner Zeit. Bielefeld 2014, S. 298 ff.; Peter Utz: »Nachreife des fremden Wortes«. Hölderlins Hälfte des Lebens und die Poetik des Übersetzens. München 2017, S. 14. Vgl. auch Musils Ausführungen dazu, dass sogar der festen rationalen Ordnung die letzten Grundlagen fehlen: »Zuunterst schwankt auch hier [in den exakten Wissenschaften] der Boden, die tiefsten Grundlagen der Mathematik sind logisch ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur angenähert, und die Gestirne bewegen sich in einem Koordinatensystem, das nirgends einen Ort hat.« (GW II, S. 1027)

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beginnt ›Übersetzen‹ für Musil bereits beim ethisch relevanten Fühlen, beim Denken und Schreiben. Seiner Auffassung nach sind sowohl Denken als auch Schreiben ein Übertragen, welches Rohmaterial von vorgeformten oder auch spontanen Vorstellungen, Ideen und Gefühlen sortiert und in geordnete Gedanken um- und übersetzt.14 Man kann daher sagen, dass für Musil Übersetzen von einer Sprache in eine andere eigentlich nur ein Epiphänomen dieses Grundproblems ist. Dies erklärt wohl Musils lakonische Reaktionen auf Übersetzungsprobleme, unter denen man keine so drastischen Stellungnahmen findet wie die Thomas Bernhards: »Ein übersetztes Buch ist wie eine Leiche, die von einem Auto bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden ist.«15 Es war Musil leider nicht gewährt mitzuerleben, wie sein Werk in ca. vierzig Sprachen übersetzt wurde,16 sodass er heute weltweit als einer der größten Romanschriftsteller der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gilt. Seine Einsicht, dass es gewisse stilistisch oder inhaltlich unübersetzbare Eigenheiten des Originals gibt,17 wird von ebenso nüchternen Aufforderungen ergänzt, sich um differenzierten und möglichst präzisen Ausdruck zu bemühen. Musils disziplinierte Beobachtungsgabe und seine analytisch-synthetische Aufarbeitung von Gedanken und Gefühlen können auch bei der Übersetzung und bei der Übersetzungskritik hilfreich sein: Sie geben Richtlinien dafür, wie komplexe Konstruktionen konsequent auseinanderzunehmen und – mit verschiedenen Lösungen experimentierend – wieder zusammenzusetzen sind. Dieses Musil’sche Experimentieren entspricht der »Wandlung und Erneuerung des Lebendigen«,18 das Utz in Benjamins theoretischem Ansatz unterstreicht: Übersetzung19 als Fortleben des Werks in einem dy14

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Benjamin vergleicht das Verhältnis von sprachlichem Gehalt und Ausdruck beim Original mit dem von Frucht und Schale, bei der Übersetzung hingegen mit dem von Körper und Königsmantel. Eine solche Unterscheidung zwischen einem »natürlichen« und einem »künstlichen« Verhältnis von Gehalt und sprachlichem Ausdruck hätte Musil wahrscheinlich nur als Metapher akzeptiert. Musil sieht das Problem der Formgebung schon beim Versuch, gelebtes Leben in Worte zu fassen. Leben wäre also von Sinn-Absenz gezeichnet, ein Vakuum, das erst im künstlerischen Ausdruck durch Sinn ersetzt wird. Vgl. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders: Gesammelte Schriften. Bd. IV/1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980, S. 9–21, hier S. 15. Vgl. auch Utz: »Nachreife des fremden Wortes« (Anm. 12), S. 12–14. Thomas Bernhard: »Die Ursache bin ich selbst.« Interview von Krista Fleischmann, in: ders.: Werke. Hg. v. Martin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler. Bd 22, Teilband II : Journalistisches, Reden, Interviews. Hg. v. Wolfram Bayer, Martin Huber u. Manfred Mittermayer. Berlin 2015, S. 298–328, hier S. 300. Vgl. Metz: Übersetzungen (Anm. 7), S. 810. Vgl. den oben zitierten Briefentwurf an das American Committee for Christian Refugees vom 3. 8. 1940. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers (Anm. 14), S. 12. Es ist nicht die Absicht dieses Beitrags, bei der Besprechung der Mehrfachübersetzungen von Musils Novelle auf die Fülle der Übersetzungstheorien einzugehen. Deshalb seien die Forscher, die zu Musils analytisch-synthetischem Gestus Affinitäten haben, hier kurz erwähnt:

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namischen (oder dialektischen) Prozess, in dem die festgelegten Worte des Originals sich wie die Frucht bei der »Nachreife«20 verändern. Auch im Mann ohne Eigenschaften verwendet Musil einen dynamischen Begriff der ›Übersetzung‹ als Metapher für das Wechselverhältnis von Gefühl und Verhalten, die sich gegenseitig verstärken und spiegeln: Das Gefühl wird in die Sprache der Handlung übersetzt, und die Handlung in die Sprache des Gefühls, wodurch, wie bei jeder Übersetzung, einiges neu hinzukommt und einiges verlorengeht. (MoE, S. 1166)

Zwischen diesen Bemerkungen und der produktiven Methode von Peter Utz,21 der die Dynamik des Übersetzens als Analogon zur Dynamik des Erzählens versteht,22 lässt sich eine Nähe feststellen. Denn Übersetzung ist laut Utz nicht nur die Veränderung des Originals, sondern auch dessen Fortführung in der anderen, fremden Sprache. In Musils Sinn könnte man sagen, dass diese Fortführung des Übersetzens zum Teil dem Auffinden einer Reihe von latenten Möglichkeiten entspricht, die – so wie man mit der Wünschelrute noch unsichtbare Wasseradern entdeckt – in den Formulierungen des Originals vorhanden sind und durch den Übersetzer in verschiedenen Modulationen zum Vorschein gebracht werden. Wie die Gefühle selbst, die laut Musil für Ideen und Reflexionen empfänglich sind, beruht auch der Akt des Übersetzens auf einem Spiel, das vage Empfindungen, Eindrücke und Gefühle mit den verschiedensten Beobachtungen und Kenntnissen, mit rationalem Wissen und Begriffen verbindet. So schreibt Musil in seinem Fragment Profil eines Programms aus dem Jahr 1912: Der Gedanke des Künstlers ist nicht zielstrebig, wenn man unter Ziel das Urteil mit dem Anspruch auf Wahrheit versteht. Denn auf seinem Gebiet gibt es keine Wahrheit. Von der psychologischen Wahrheit wird zuviel geredet u. von der ethischen nicht einmal dies. Möglichkeiten in Seelen hineinbohren! (GW II, S. 1317)23

Auf die Übersetzungsarbeit bezogen, ist diese Offenheit für neue Möglichkeiten natürlich keineswegs eine Lizenz für ganz beliebige oder vage Annäherungen an den Originaltext. Sie verlangt vielmehr, dass der Übersetzer und

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Daniel Weidner: Fort-, Über-, Nachleben. Zu einer Denkfigur bei Benjamin, in: Benjamin Studien. Bd. 2. Hg. v. Daniel Weidner u. Sigrid Weigel. München 2011, S. 161–178; Hans Jost Frey: Der unendliche Text. Frankfurt a. M. 1990; Antoine Berman: L’âge de la traduction. »La tâche du traducteur« de Walter Benjamin. Un commentaire. Hg. v. Isabelle Berman. St. Denis 2008, S. 139–145. Benjamin: Zur Aufgabe des Übersetzers (Anm. 14), S. 13; vgl. Peter Utz: »Nachreife des fremden Wortes« (Anm. 12), S. 13. Vgl. Peter Utz: Fremde Gefühle in fremden Sprachen. Der Mann ohne Eigenschaften im Licht seiner englischen und französischen Übersetzungen, in: Robert Musil, Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 173–186. Vgl. ebd., S. 177. »Dieses [das Erzählen] teilt seinen Impuls den Übersetzungen mit.« Vgl. dazu auch die Tagebuchaufzeichnung zum historischen Empfinden (Tb I, S. 155 f.), das aus historischen Kenntnissen von Kunstepochen und -werken neue Gefühle und Sensibilitäten gewinnt.

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der Leser sich der hermeneutischen Befragung des Originals widmen, wobei die im Original vorgesehene Ambivalenz durch erhellende Kommentare erläutert werden kann, ohne dass eine allzu sehr erklärende Übersetzung die unterschwellige Mehrdeutigkeit eliminiert. Hans-Georg Gadamer schreibt zwar: »Jede Übersetzung, die ihre Aufgabe ernst nimmt, ist klarer und flacher als das Original.«24 Es kommt hier also zu einer Klärung durch Übersetzung. Dagegen wendet Umberto Eco Folgendes ein: Wenn jedoch »der Autor (und der Text) ambivalent bleiben wollte, um eine zwischen zwei Möglichkeiten schwankende Interpretation anzuregen«, dann sollte eine Klärung vermieden werden. In diesem Fall ist Eco der Auffassung, dass »der Übersetzer die Ambiguität respektieren muß und seine Aufgabe verfehlt, wenn er den Doppelsinn auflöst.«25 Es ist schade, dass sich die pionierhafte brasilianische Übersetzungsszene – die schon in den 1950er Jahren maßgeblich zu diesen Theorien beitrug und vor allem sehr kreativ Theorie und Praxis verband – nie mit dem Werk Musils auseinandergesetzt hat. Décio Pignatari, Haroldo und Augusto de Campos, bekannt als ›Concretistas‹, erweiterten Hölderlins und Benjamins Ansätze zu einer ›transkreativen‹ Übersetzungstechnik (›transcriação‹), die in der jüngeren Generation zu einer Flut von Übersetzungen und Diskussionen zu Übersetzungsproblemen aus allen Sprachen führte. Paulo Ronai, Boris Schneidermann, Marcus Mazzari, Marcelo Rondinelli und viele andere Übersetzer trugen zu einer an Theorie interessierten, durch intensiven intellektuellen Austausch geprägten Übersetzerszene in Brasilien bei. Allerdings konzentrierten sich in den letzten Jahrzehnten die zahlreichen Kolloquien und Kongresse, auf denen deutschsprachige Literatur und auch Übersetzungsprobleme diskutiert werden, mehr auf Autoren wie Goethe, Kafka, Freud, Benjamin, Rilke, Jelinek, während Musil nicht in diese transkreativen Bemühungen mit einbezogen wurde. Also wird es mir im Folgenden obliegen, unsicheres Neuland zu betreten und zu einigen Hürden der Musil-Übersetzungen Stellung zu nehmen.

2. Zur brasilianischen Musil-Rezeption der letzten vier Jahrzehnte In der Folge möchte ich mich weitestgehend auf die in Brasilien erschienenen Übersetzungen Robert Musils beschränken; die detaillierte Behandlung der 24 25

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990, S. 390. Umberto Eco: Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. München 2010, S. 132. Vgl. Ruth Bohunovsky: A Perturbação, de Thomas Bernhard, em português: duas traduções em comparação, in: Pandaemonium Germanicum 16 (2013), S. 128–148, https://www.scielo. br/j/pg/a/6fBYnKsPnvYCtqzFnwDhCgf/?format=pdf&lang=pt (aufgerufen am 15. 5. 2022).

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Musil-Rezeption in Portugal würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.26 Musils Werk ist in Brasilien noch nicht intensiv rezipiert worden. Daher ist auch eine Diskussion zu Übersetzungen seiner Romane und Novellen bisher fast völlig ausgeblieben. Allerdings ist eine seiner Novellen mehrfach übersetzt worden, und zwar Die Amsel (O Melro), und die Übertragung dieser Novelle ins Brasilianische wird im nächsten Kapitel ausführlich behandelt werden. Die Übersetzungen von Musils Werk ins Brasilianische sind dünn gesät, und es stellt sich daher die Frage, warum sich Musil bis heute in Brasilien wie unter einer Art Glasglocke befindet. Musil ist für Brasilianer ein Schriftsteller, dessen Name zwar manchmal mit dem Mann ohne Eigenschaften assoziiert wird, mit dessen Werk man aber nicht wirklich vertraut ist – und dies, obwohl die ersten Übersetzungen nun schon seit fast vierzig Jahren vorliegen. Törleß (O Jovem Törless) und Drei Frauen (Três Mulheres) wurden Anfang der 1980er Jahre von der Schriftstellerin und Übersetzerin Lya Luft übersetzt, gefolgt von Der Mann ohne Eigenschaften (O Homem sem Qualidades), der 1989 zum ersten Mal in Brasilien herauskam,27 übersetzt von Lya Luft und Carlos Abbenseth. Diese ist bis heute die einzige Version, die in Brasilien erhältlich ist; sie umfasst auch die zwanzig Druckfahnen-Kapitel, aber nicht die von Frisé geordneten Fragmente, und enthält weder eine Einleitung noch Anmerkungen oder erklärende Fußnoten und auch keinerlei Bemerkungen zu den Übersetzungsproblemen. Ganz ähnlich beschreibt der portugiesische Übersetzer João Barrento, dessen Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften 2008 in Lissabon bei Dom Quixote herauskam,28 die Lage in Portugal: Dort erschien die erste Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften in den siebziger Jahren, und zwar nicht in einer Übersetzung direkt aus dem Deutschen, sondern basierend auf der französischen Übersetzung von Philippe Jaccottet (1956), die ins Portugiesische übertragen wurde.29 Diese erste Ausgabe präsentierte den Mann ohne 26

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Es seien aber die wichtigsten Übersetzungen Musils ins Portugiesische zumindest erwähnt: O jovem Törless. Übers. v. João Filipe Ferreira. Lisboa 1987; ders.: O homem sem qualidades. Übers. v. Mário Braga. Lisboa 1975; ders.: Três mulheres. Übers. v. Maria Cristina Mota. Lisboa 1985; ders.: Da estupidez. Übers. v. Manuel Alberto. Lisboa 1994; ders.: As perturbações do pupilo Törless. Übers. v. João Barrento. Lisboa 2005; ders.: Os visionários: drama em três actos. Übers. v. Ludwig Scheidl. Coimbra 1989; A portuguesa e outras novelas. Übers. v. Maria Antónia Amarante. Lisbao 2008; O homem sem qualidades. Übers. v. João Barrento. Lisboa 2008. Robert Musil: O jovem Törless. Übers. v. Lya Luft. Rio de Janeiro 1981; ders.: Três Mulheres. Übers. v. Lya Luft. Rio de Janeiro 1988; ders.: O Homem sem Qualidades. Übers. v. Lya Luft u. Carlos Abbenseth. Rio de Janeiro 1989. Robert Musil: O Homem sem Qualidades. Übers. v. João Barrento. 3 Bde. Lisboa 2008. Robert Musil: O homem sem qualidades. Übers. v. Mario Braga. Lisboa 1973. Vgl. dazu auch Renato Correia: O homem sem qualidades: Robert Musil em Português?, in: Cadernos de literatura 11 (1982), S. 22–28; Maria Antónia Amarante: Musil auf der Reise nach Portugal. Begegnungen und Zwischenstationen, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil. Hg. v. Annette Daigger u. Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 241–245.

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Eigenschaften, als wäre er ein abgeschlossener Roman. Barrento stellt fest, dass die Erstübersetzung des Romans in einer eigenartig fremd anmutenden Sprache [verfasst sei], mit abstrusen Wendungen, die den Sinn auf irritierende Weise verfälschen, wobei auch der Stil und die exakte innere Logik des Originals abhanden kommen.30

Barrento kritisiert außerdem das Fehlen von erklärenden Anmerkungen zur fragmentarischen Natur dieses Romanprojekts, das Aussparen von Nachlasstexten, an denen Musil bis zu seinem Tod ununterbrochen gearbeitet hatte [. . .] und darüber hinaus noch, dass die zwanzig zurückgezogenen Kapitel der Druckfahnen des zweiten Buchs nicht aufgenommen wurden, die Musil 1938 ins Exil in die Schweiz mitnahm, als Adolf Hitler in Österreich einmarschierte [. . .].31

Auch in Brasilien wurde Musil erstmals durch das Echo der französischen Übersetzung Jaccottets bekannt. Die Leser des Kulturteils des Jornal do Brasil in Rio de Janeiro wurden von Daniel Brilhante de Brito auf die Existenz Musils aufmerksam gemacht. Érica Gonçalves de Castro berichtet, dass am 19. Januar 1958 die ersten zwei Kapitel des Mann ohne Eigenschaften, übersetzt von Brito, im Feuilleton des Jornal do Brasil erschienen. Kurz danach ist in der Rubrik »Notas estrangeiras« (»Bemerkungen aus dem Ausland«) nochmals von Musil die Rede. Am 15. Februar erschien die Nachricht, dass die russische Übersetzerin von James Joyce, Ludmila Savitsky, bei ihrem Tod in Paris Jaccottets Musil-Übersetzung in den Händen gehalten habe.32 Fünf Monate später, am 26. Juli, wurde auf die Tagebücher Musils hingewiesen, die »von besonderem Interesse für die Bedeutung seiner Dichtung seien«, vor allem für »den unvollendeten Roman«33 Der Mann ohne Eigenschaften. Castro führt aus, dass es bei allem Verdienst doch »bemerkenswert« sei, dass Brito »einige Stellen einfach überging; nämlich, diejenigen, die die kausallineare Erzählung [. . .] hemmen«, um so dem Roman einen gewissen »Faden der Erzählung« zu verleihen. Auch wenn mit diesen Änderungen der damalige Leser noch spüren konnte, dass es sich nicht um einen 30

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João Barrento: Préfacio, in: Robert Musil: O homem sem qualidades. Übers. v. João Barrento, Bd. 1 (Anm. 25), S. 17–26, hier S. 18 (»Essa primeira edição portuguesa dos anos setenta apresenta-se como se O Homem sem Qualidades fosse um livro acabado, e numa linguagem igualmente estrenha, abstrusa e irritantemente falseadora dos sentidos, dos estilos a da rigorosa lógica interna do original.« Übersetzung K. H. R.). Ebd., S. 18. (»Sem uma nota explicativa sobre a natureza fragmentária deste projecto ficcional, sem incluir um único papel do enorme espólio em que Musil incessamente trabalhou – mais de seis mil páginas só no que se refere a esta obra -, nem sequer aqueles vinte capítulos que o autor leva já em provas para o exilio Suíça em 1938, no momento da anexação da Áustria por Hitler, e que se destinavam a continuar o segundo volume.«) Vgl. Érica Gonçalves de Castro: Musil in Brasilien – (Um)Wege der Rezeption, http://www. musilgesellschaft.at/texte/Musil%20international/Musil%20in%20Brasilien.pdf (aufgerufen am 15. 8. 2022), S. 1–11, hier S. 2. Ebd., S. 2.

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gewöhnlichen Roman handelte, wurde die Absicht Musils, eben mit dem »ewige[n] Kunstgriff der Epik« (MoE, S. 650) zu brechen und die Wirklichkeit als Möglichkeit zu behandeln, dadurch vereitelt.34

Es ist also nicht verwunderlich, dass Musils Mann ohne Eigenschaften sein erstes (leider sehr ephemeres) Bekanntwerden eigentlich mehr dem Ruhm einer Regisseurin verdankt, der in Brasilien sehr verehrten Bia Lessa, die 1994 Passagen des ersten Buchs des Mann ohne Eigenschaften auf die Bühne brachte. Castro, die dieses damals aufsehenerregende Ereignis im Detail dargestellt hat,35 ist der Meinung, dass diese Theatermontage der bekannten Regisseurin maßgeblich zur Verbreitung des Romans in Brasilien beigetragen habe. Dazu kam der glückliche Umstand, dass drei Tage vor der Uraufführung – am 27. Mai 1994 – Karl Corino einen Vortrag am Goethe-Institut in Rio de Janeiro [hielt]. Bei dieser Gelegenheit widmete ihm das Jornal do Brasil und seiner Beschäftigung mit Musil das Cover eines Hefts. Auch von anderen Zeitungen wurde über den Besuch des »Biografen des österreichischen Schriftstellers Robert Musil« berichtet.36

Mitte der 1990er Jahre kam es, wie Castro schreibt, zu einem »Musil-Boom«37 in Brasilien. Das zeige sich etwa darin, dass sein Name bzw. der Titel des Romans bei Umfragen wie »Was lesen Sie?« oder »Welche Bücher empfehlen Sie?« nun sehr oft auftauchte. Man könne mit Sicherheit nicht behaupten, dass der Mann ohne Eigenschaften in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Brasilien einer der meist gelesenen Romane war, aber er war Castro zufolge doch einer der meist kommentierten.38 Allerdings ging dieser ›Boom‹ bald wieder zu Ende, und wer sich mit Musil und mit Musil-Übersetzungen beschäftigt, wird feststellen müssen, dass das Fehlen von Kommentaren und Kontextualisierungen, die Seltenheit von öffentlichen Diskussionen mit Lesern und ganz besonders der Mangel an akademischen Auseinandersetzungen mit diesem Autor bis heute eine Art unsichtbaren Wall um dessen Werk bilden. Dies schien sich 2010 zu ändern, als sich der Zeitpunkt näherte, an dem die Rechte frei wurden. Damals trat der Verlag Nova Aguilar an mich mit der Bitte heran, neue Musil-Übersetzungen zu organisieren, die in der brasilianischen Reihe der Klassiker (und zwar in einheitlich gebundenen Sammelbänden, in der Art der französischen Pléiade) herauskommen sollten. Leider hat sich der Verlag, trotz der Bereitschaft der Übersetzer, kostenlos zu arbeiten, dann schließlich doch nicht entschließen können, Musil neu herauszubringen. 34 35 36 37 38

Ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 4 Ebd., S. 5. Ebd., S. 5. Vgl. ebd.

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Allerdings konnten durch die ersten Sondierungen und Vorschläge zu diesem Projekt äußerst interessante Einsichten gewonnen werden, die Aufschluss darüber geben, warum das Musil’sche Werk für die brasilianischen Leser so schwer zugänglich ist. Wie bereits Barrento wurde auch mir klar, dass eine intensivere Rezeption des Werks notwendig mit Erläuterungen und Kritik beginnen muss, um dem potentiellen Publikum Hilfestellung beim Verständnis der Musil’schen Mischung von Ernst und Humor zu leisten und um die einzelnen Werke zu kontextualisieren. Zudem müssen die krassen Lücken in der Liste der bestehenden Übersetzungen gefüllt werden. Denn bis vor drei Jahren gab es im brasilianischen Portugiesisch weder Übersetzungen von den Vereinigungen noch von den Essays; bis heute fehlen Übersetzungen von Musils Dramen, den Tagebüchern, Briefen und dem Nachlass. Auch vom Nachlaß zu Lebzeiten wurde nur eine kleine Auswahl übersetzt.39 Leider sind auch die in den letzten Jahren veröffentlichten Bände (Vereinigungen, die Bände mit ausgewählten Texten aus dem Nachlaß zu Lebzeiten und die Essays) nur im kleinsten Kreis auf Interesse gestoßen. Auf Symposien oder bei der Vorstellung von neuen Veröffentlichungen zu seinem Werk kann man nur mit einem sehr spärlichen und meistens ganz uneingeweihten Publikum rechnen. In den immer noch sehr seltenen Kultursendungen, die sich mit Musil befassen, in Videos auf Youtube und auch in spezialisierten Artikeln wird immer wieder betont, dass Musils literarisches Universum für Brasilianer ungeheuer fremd wirke.40 Zwar nähert man sich mit großer Ehrfurcht seinem Mann ohne Eigenschaften, der als »ein großer Wandteppich von außerordentlicher Weisheit, Komplexität und Intelligenz« (»tapeçaria de extraordinária sagacidade, complexidade e inteligência«41 ) beschrieben wird, andererseits wird immer darauf verwiesen, dass viele Passagen und Kapitel schwer zu verstehen sind. Außer dem (Titel des) Mann ohne Eigenschaften und dem Törleß, sind die meisten Werke des Autors noch völlig unbekannt. Das ist umso erstaunlicher, als es ja durchaus möglich wäre, auch bei oberflächlicher Lektüre des Mann ohne Eigenschaften auf seine Rechnung zu kommen, denn Musils Witz und Ironie sind unmittelbar zugänglich und äu39

40 41

Zwei Bände, die ausgewählte Texte aus dem Nachlaß zu Lebzeiten versammeln, erschienen 1996 und 2018: Robert Musil: O melro e outros escritos de Obra Póstuma publicada em vida. Übers. v. Nicolino Simone Neto. São Paulo 1996; ders.: O papel mata-moscas e outros textos. Übers. v. Marcelo Backes. São Paulo 2018. Der von Backes übersetzte Band enthält vier Texte aus dem Nachlaß zu Lebzeiten (Das Fliegenpapier, Der Riese Agoag, Kann ein Pferd lachen?, Die Amsel) und neun Essays; er wird ergänzt durch ein Nachwort, eine Kurzbiografie sowie Erläuterungen zum Stil und Inhalt der übersetzten Texte. Die Auswahl von Essays, die ich übersetzt habe (Robert Musil: Ensaios 1900–1919. Ausgewählt, übersetzt, eingeleitet, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Kathrin Rosenfield. São Paulo 2021), enthält neben einer Fassung von Grauauges nebligster Herbst auch zwei Texte aus dem Nachlaß zu Lebzeiten, nämlich Die Amsel und Das Fliegenpapier. Vgl. die Sendung »Relivrando« der Booktuberin Cristina Melchior zu Musil vom 16. 3. 2019: https://www.youtube.com/watch?v=JcOldYXgbFI (aufgerufen am 2. 5. 2022). Ebd.

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ßerst ansprechend. Dazu gälte der Einwand der Komplexität auch für andere schwierige Autoren, wie z. B. Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno, welche in Brasilien eine enorme Leserschaft besitzen. Musils Außenseiterposition hängt also wohl mehr mit seiner schwierigen politischen Verortung zusammen. In diesem Zusammenhang wäre es besonders wichtig, Musil von dem Stigma des bürgerlich-konservativen Autors zu befreien, das ihm seit seinem Vortrag in Paris vor dem Internationalen Schriftsteller-Kongress für die Verteidigung der Kultur im Juli 1935 anhängt. Bodo Uhse hatte noch auf dem Kongress selbst den Vortrag Musils attackiert und gemeint, man werde »in kommenden Zeiten« dessen Werke »als ästhetische Dokumentationen für diese Zeit des bürgerlichen Verfalls lesen.«42 In der in Prag erscheinenden Zeitschrift Neue deutsche Blätter veröffentlichten Egon Erwin Kisch und Uhse einen Bericht über diesen Kongress und schrieben zu Musils Vortrag: »Robert Musil meint, das kulturelle Schaffen sei an das Individuum gebunden. An wen und was das Indviduum gebunden sei, wollte er nicht sagen. [. . .] Man sieht, das soziale Problem ist dem, der bisher ein asozialer Problematiker war, vollkommen neu. Aber er kann ihm nicht entrinnen.«43 Auch das Nachwort zu einer vor Kurzem erschienenen Ausgabe ausgewählter Essays und Texte aus dem Nachlaß zu Lebzeiten ist nicht dazu angetan, in Brasilien eine aufgeschlossenere Haltung zu Musil zu befördern. Der brasilianische Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer Marcelo Backes geht darin auf Musils Text Europäertum, Krieg, Deutschtum ein und setzt dieses Plädoyer Musils für Patriotismus, »Unterordnung« und »Heldenhaftigkeit« (GW II, S. 1020) in Beziehung zu Ernst Jüngers Haltung (»Incrivelmente, Robert Musil se aproxima de Ernst Jünger [. . .]«; dt: »Erstaunlicherweise nähert sich Robert Musil Ernst Jünger an.«) Zudem schreibt Backes: Vielleicht war Musil auch ein Opfer seiner journalistischen Ausrichtung und seines eingeengten Cartesianismus – in letzter Zeit soll bekannt geworden sein, dass 42

43

Bodo Uhse: [Redebeitrag ohne Titel], in: Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz 1936. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR . Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Berlin 1982, S. 331. Egon Erwin Kisch, Bodo Uhse: Geist gegen Macht. Zum »Internationalen Schriftsteller-Kongreß für die Verteidigung der Kultur«, in: Neue deutsche Blätter: Monatsschrift für Literatur und Kritik, 2 (August 1935), H. 6, S. 321–324, hier. S. 322 f. Vgl. dazu GW II, S. 1829, Tb II, S. 741 ff. sowie auch Musils Entwurf einer Entgegnung in Tb II, S. 1255 ff. Vgl. auch Bernard Guillemins Kommentar zur ideologisch tendenziösen Kehrtwendung von Kisch, dessen begeisterte Lobpreisungen von Musils Mann ohne Eigenschaften in schärfste Kritik an dem »gegenrevolutionären« Roman kippen (vgl. Tb II, S. 609). Näheres dazu findet sich in Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek 2003, S. 1175 ff. Vgl. zu dieser Thematik Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek bei Hamburg 2007, bes. S. 98–120; Norbert Christian Wolf: Geist und Macht. Robert Musil als Intellektueller auf dem Pariser Schriftstellerkongreß 1935, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2006), S. 383–436.

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dieser sich nicht nur in diesem einen Essay zeige –, vielleicht wollte er sich beim deutschen Publikum beliebt machen oder dem patriotischen Vater etwas zuliebe tun und dabei auch die eigene literarische Karriere in Deutschland fördern. (Übersetzung K. R. H.)44

Dies sind harte und m. E. ungerechte Worte für einen Autor, der sich zeit seines Lebens für Genauigkeit des Denkens gepaart mit größtmöglicher Sensibilität eingesetzt hat und auch dafür berühmt geworden ist. Die Anspielungen auf den bürgerlich-patriotischen Hintergrund, gepaart mit der Suggestion des Karriere-Opportunismus, klingen fast noch suspekter als seinerzeit die von Kisch und Uhse lancierten Diffamierungen, die Musil (trotz besseren Wissens) als reaktionären Bourgeois denunzierten. Zu Musils Artikel Europäertum, Krieg, Deutschtum ist erstens zu bemerken, dass Musil explizit Selbstkritik und Reue für seinen Fehltritt gezeigt hat. Zweitens hat er kämperische Aufrufe, Kriegspropaganda und heroische Formeln verworfen und mit Ironie bekämpft, wie auch Backes einräumt.45 Drittens wendet sich Musils Bemühen um »Genauigkeit und Seele« (MoE, S. 583) gegen das kultische Beschwören atavistischer Gefühle und auch gegen »den Kult des Ausnahmezustands«, wie er sich »im literarischen Dezisionismus Jünger’scher Prägung«46 manifestiert. Es ist allerdings einzuräumen, dass auch in der deutschsprachigen Sekundärliteratur die Stellungnahmen zu Musils Artikel Europäertum, Krieg, Deutschtum und seiner Kriegsbegeisterung im Jahr 1914 divergieren. Darauf möchte ich auch deshalb näher eingehen, weil diese Thematik bei der Besprechung der Amsel wieder auftauchen wird. Karl Corino versteht diesen Artikel als einen »Tribut an den Zeitgeist, an die Zeitgeisteskrankheit« und schreibt: »Es war ein Gegenstück zu der Kriegsbegeisterung, wie man sie aus den Manifesten der italienischen Futuristen kannte, und in den Augen der Nachgeborenen zugleich eines der deprimierendsten Beispiele aus der Musilschen Publizistik.« In der Folge spricht Corino davon, dass »schon die Klügsten sich der Verführung zum Blutrausch nicht entziehen konnten.«47 Oliver Pfohl44

45

46 47

Marcelo Backes: Posfácio, in: Robert Musil: O papel mata-moscas e outros textos. Übers. v. Marcelo Backes. São Paulo 2018, S. 148–176, hier S. 169. »Talvez Musil tenha sido vítima, ele também, do jornalismo e seu cartesianismo limitador – recentemente se descobriria que nem de longe apenas nesse artigo –, e do desejo de agradar ao coletivo alemão ou à indiviualidade do pai patriota, e também de aplainar sua carreira literária na Alemanha.« Mit der konjunktivischen Formulierung (»recentemente se descobriria«) gibt Backes weder Auskunft darüber, wo diese Entdeckungen gemacht worden sind, noch welche Autoren seine Ansicht teilen. Marcelo Backes: Posfácio, in: Musil: O papel mata-moscas (Anm. 39), S. 169: »Esse passo em falso do autor é tão surpreendente que se volta contra tudo aquilo que escreveu fora dos jornais, antes e depois, sobra a guerra, o poder e a estupidez do homem.« (»Dieser Fehltritt des Autors ist so verblüffend, da er sich gegen alles wendet, was er außerhalb der Zeitungen, davor und danach, über Krieg, Macht und die Dummheit des Menschen geschrieben hat.« Übersetzung, K. H. R.) Thomas Hake: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), in: Musil-Handbuch (Anm. 7), S. 328. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003, S. 493.

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mann konstatiert mit Blick auf die Kriegsdarstellung in der Amsel, dass das Todes-Erlebnis im Krieg für Musil zu einer »profanen Epiphanie«48 gehört, die er als persönliche und einzigartige Erfahrung in Analogie zu seinem ekstatischen Liebeserlebnis im zwanzigsten Lebensjahr setzt. Jenes dem ›anderen Zustand‹ offenbar nahe verwandte Erlebnis des Todes, der »Todesfreude« (Tb I, S. 947) war es, das Musil – neben dem »Sommererlebnis im Jahre 1914« (GW II, S. 1060) – »den Krieg später auf erschreckend unbekümmerte Weise verteidigen ließ, wie in den frühen 1920er Jahren, als er gegenüber Soma Morgenstern vom ›großen Erlebnis des Todes‹«49 schwärmte. Um Corinos und Pfohlmanns kritische Anmerkungen zu nuancieren, verweise ich auf die Erwägungen Norbert Christian Wolfs zu Musils Stellungnahmen zu Krieg und Gewalt vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Franz Werfel und Josef Popper-Lynkeus und im Lichte des Berichts von Soma Morgenstern. Dass sich Musil, wie Morgenstern behauptet, nach dem Ersten Weltkrieg unter Wiener Literaten »mehrmals lapidar ›für Krieg‹ ausgesprochen haben und dieses ›schlichte Bekenntnis‹ plump-pathetisch mit dem ›große[n] Erlebnis des Todes‹ begründet«50 habe, wird von Wolf bezweifelt: An der Richtigkeit der offenbar aus großem historischen Abstand verfassten Darstellung scheinen allerdings erhebliche Zweifel angebracht: Einerseits sind von Musil zumindest in schriftlicher Form keine derart ambivalenzfreien Apotheosen der Todeserfahrung bekannt, die eher an Zeitgenossen wie Ernst Jünger (oder vielleicht auch an Thomas Mann) erinnern; andererseits hat er sich im Dezember 1919 ausdrücklich zu einem reflektierten »Pazifismus« bekannt. Wenn die erhaltenen Quellen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht trügen, dann wäre das von Morgenstern geschilderte Verhalten Musils allenfalls als extremer Sarkasmus angesichts eines ostentativen gesinnungsethischen Pazifismus à la Werfel vorstellbar.51

Die deutschsprachige Debatte ist jedoch mit der in Brasilien nicht so einfach zu vergleichen. Denn es existiert in Brasilien keine genügend breite akademische oder sonstige Musil-Kritik, um beispielsweise fehlgeleitete Vergleiche zwischen Musil und Jünger zurechtzurücken. Derartige missverständliche Aussagen zu Musils (zugegeben schwierigem) Werk und Denken sind leider nicht dazu angetan, diesem wichtigen Autor endlich auch in Brasilien seinen verdienten Platz neben Schriftstellern wie Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Thomas Mann oder Philosophen wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Georg Lukács einzuräumen. Viele der brasilianische Leser ahnen nicht, wie irreführend ein Vergleich ist, der Musil mit Jüngers gewaltfreudigem 48 49 50 51

Oliver Pfohlmann: Biographie, in: Musil-Handbuch (Anm. 7), S. 1–39, hier S. 21. Vgl. auch GW II, S. 557. Ebd. Pfohlmann zitiert Soma Morgenstern nach: Musils Bellizismus in den frühern 1920er Jahren, in: Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Hg. v. Karl Corino. Wädenswil 2010, S. 113. Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011, S. 1073. Ebd., S. 1073 f.

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Konservatismus – in der Zwischenkriegszeit und auch nach dem Zweiten Weltkrieg – in Verbindung bringt, und wie sehr er selbst seinen vorübergehenden Kriegsenthusiasmus im Sommer 1914 bedauert und widerrufen hat. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass das differenzierte Verständnis von literarischem Engagement, das Musil von der Hörigkeit gegenüber politischen Parteien und Parteiprogrammen absetzt, diesen Schriftssteller für brasilianische Leser etwas suspekt macht, denn von engagierten Intellektuellen werden in der Literatursoziologie Brasiliens explizitere Credos erwartet.

3. Zu den Mehrfachübersetzungen der Novelle Die Amsel Wenden wir uns nun dem einzigen Text Musils zu, der nunmehr schon in drei brasilianischen Übersetzungen vorliegt. Die Amsel wurde erstmals von Nicolino Simone Neto übersetzt (São Paulo 1996). Zwei Jahrzehnte später wurde die Novelle52 von Marcelo Backes (São Paulo 2018) nochmals ins brasilianische Portugiesisch übertragen – zur selben Zeit, als meine eigene Version an den Verleger ging. Meine Übersetzung der Amsel wurde 2021 als Anhang zu einer Ensaios betitelten Auswahl von Essays und Fragmenten Musils veröffentlicht – sozusagen als Überleitung vom ersten zum zweiten Band der Ensaios, der demnächst erscheinen soll. Anhand dieser drei Übersetzungen werde ich versuchen, die Feinheiten von Musils reflexivem Stil genauer zu erfassen und aus den verschiedenen Lösungsversuchen heraus auch das Verständnis der Novelle hermeneutisch zu erhellen. Denn erst bei dieser langsam vergleichenden Arbeit kommen die unterschwelligen Gedankengänge, die oft völlig überlesen werden, zur Geltung. Erst dabei wird – auch dem Übersetzer – tatsächlich bewusst, worin Musils spezifische Erzählstrategie eigentlich besteht und welches semantische Spektrum durch sie angepeilt wird. Peter Utz hat den Erkenntnisgewinn einer solchen praxisorientierten Übersetzungsforschung gerade für die Literaturwissenschaft unterstrichen und sie für »eine produktive Neulektüre«53 des Originals fruchtbar gemacht. Bei der folgenden Analyse dieser drei Versionen stützen wir uns auf Peter Utz’ Ansatz, der Walter Benjamins vitalistische Konzeption der Übersetzung weiterführt und sich für eine tolerante, pluralistische Übersetzungskritik als sehr nützlich erweist.54 Indem Utz betont, dass Übersetzen als Fortführung und als »Nachreife«55 des Originals zu verstehen ist, verfolgt sein Ansatz eine positive und dialogische Einstellung zu den verschiedenen Versionen und hält 52 53 54 55

Zur Frage, ob die Amsel eine Novelle darstellt, vgl. Dirk Rose: Die Amsel oder Robert Musils Novellenpoetik als Gattungspoetik, in: Musil-Forum 36 (2019/20), S. 90–109. Peter Utz: Anders gesagt – autrement dit – in other words. München 2007, S. 18. Vgl. Peter Utz: »Nachreife des fremden Wortes« (Anm. 12); vgl. auch Daniel Weidner: Fort-, Über-, Nachleben (Anm. 19). Walter Benjamin: Zur Aufgabe des Übersetzers (Anm. 14), S. 13.

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den Überbietungsreflex im Zaum; dadurch ermöglicht er eine ertragreichere Kritik als jene, der zufolge man Übersetzungen nur als ›richtig‹ oder ›falsch‹ bewerten kann, und vermeidet auch eine autoritäre Einstellung, die oft zu vernichtenden Polemiken führt (wie z. B. Michael Hofmanns Kritik an der Übersetzung der Vereinigungen56 ). Utz argumentiert, dass man seit Benjamins Zur Aufgabe des Übersetzers jede Übersetzung eines Originals als eine »organologisch gedachte ›Entfaltung‹ seiner ›Übersetzbarkeit‹«57 betrachten kann, wobei das »Fort-leben«58 , wörtlich genommen, mit Bindestrich, der gleichzeitig ein Trennstrich ist, auch die weitere Entwicklung des Originals in der Übersetzung legitimiert. Entsprechend kann man die Übersetzung mit Recht auch als »Fortschrift« des Originals verstehen,59 deren Variationen eine »Nachreife [. . .] der festgelegten Worte«60 darstellen. Im Folgenden wird dargelegt werden, wie die Diskussion von verschiedenen Übersetzungen ins Brasilianische zu einer verschärften und verfeinerten Wahrnehmung von Musils Werk führt. Die durch allfällige Probleme und Unstimmigkeiten stimulierte dichte Beschreibung61 der Feinheiten des Musil’schen Textes kann so neue Interpretationsperspektiven ermöglichen, wie z. B. Musils Spiel mit skatologisch-eschatologischen Motiven62 , die im Folgenden genauer untersucht und in den abschließenden Bemerkungen in ihren hermeneutischen Zusammenhang gestellt werden sollen.

3.1 Nüchterne Wege zur Ekstase und zum ›anderen Zustand‹ Das erste Beispiel für die nicht leicht nachvollziehbare Ironie Musils findet man bereits im zweiten Absatz: Die Jugend, welche die beiden Freunde Aeins und Azwei verband, war nichts weniger als eine religiöse gewesen. (GW II, S. 548)

Dieser negative Komparativ wird im Brasilianischen selten oder fast gar nicht verwendet, obwohl die Redewendung im Grunde möglich und auch verständ56 57 58 59 60 61 62

Michael Hofmann: Musil’s Infinities, in: The New York Review of Books (26. 3. 2020). Der Artikel ist eine Rezension von Robert Musils Intimate Ties (übersetzt von Peter Wortsman) und Agathe, or The forgotten sister (übersetzt von Joel Agee). Utz: »Nachreife des fremden Wortes« (Anm. 12), S. 12. Ebd. Vgl. ebd. Walter Benjamin: Zur Aufgabe des Übersetzers (Anm. 14), S. 12. Weidner beruft sich wie Utz mit diesem Verständnis vom Übersetzen auf Benjamin: Zur Aufgabe des Übersetzers (Anm. 14). Vgl. Utz: »Nachreife des fremden Wortes« (Anm. 12), S. 22. Eschatologie, die Lehre oder Erfahrung von den letzten Dingen, kann auch ein Aspekt der mystisch-ekstatischen Erlebnisses sein; damit wäre eine individuelle Variante der Eschatologie gemeint. Solch ein eschatologisches Moment findet sich in Musils Novelle besonders in der Episode mit dem Fliegerpfeil und, am Schluss der Erzählung, in der Wahrnehmung der zugeflogenen Amsel, die die verwandelte Mutter sein soll.

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lich wäre; ›war nichts weniger als religiös‹ hieße auf Portugiesisch ›era nada menos que religioso‹ und bedeutet dasselbe wie im Deutschen. Jedoch gibt es in Brasilien eine sehr ähnliche idiomatisch häufig verwendete Formel: ›era nada mais, nada menos que . . .‹, welche den Inhalt jedoch bejaht, statt ihn zu verneinen. Während also das Original, mit unterschwelliger Ironie, jeglichen religiösen Charakter der Jugendzeit von Aeins und Azwei verneint, kommt es in den beiden ersten brasilianischen Übersetzungen unbemerkt zu einer Umkehrung dieser Aussage in ihr Gegenteil. Es wird nicht verneint, sondern bejaht, dass die gemeinsame Jugendzeit religiös geprägt war. Bei Neto handelt es sich um ein Missverstehen der deutschen Bedeutung, während Backes wahrscheinlich die Verneinung der Religiosität verstanden und nur aus einem Versehen doppelt verneint hat, sodass seine Version ins Deutsche zurückübersetzt heißt: ›Die Jugend . . . war nichts anderes als religiös.‹ A juventude que unia os dois amigos, Aum e Adois, não era outra senão uma juventude religiosa. (Ne, S. 101)63

Backes’ Versuch, sich an den deutschen Wortlaut anzulehnen, führt durch die doppelte Verneinung (›não era nada menos‹ statt: ›era nada menos‹) ebenso zur Umkehrung der Bedeutung des deutschen Texts: A juventude que unia os amigos Aum e Adois não era nada menos do que uma amizade religiosa. (Ba, S. 27)64

›Era nada menos que‹ bedeutet im Portugiesischen genau dasselbe wie die deutsche Wendung, die Musil gebraucht, aber durch die anfängliche Verneinung mit ›não‹ wird daraus das affirmative ›nichts anderes als religiös‹.65 Es wird sich im Weiteren herausstellen, dass diese schnöde Negierung des Religiösen ein wichtiges Detail der Einleitung ist, das durchgehend die Gemütsstimmung von Azwei charakterisiert, obwohl diese Negierung des geistig-metaphysischen Überbaus auf überraschende Weise durchbrochen wird. Azweis Pietätlosigkeit betrifft nämlich nicht nur die geistigen und religiösen Zusammenhänge, sondern äußert sich auch in einer gelangweilt-despektierlichen Haltung bei der Beschreibung der Berliner Mittelstandswohnungen und der eigenen mittelmäßigen Existenz – ein unterschwelliger Zusammen63 64 65

Mit der Sigle »Ne« wird die Übersetzung von Nicolino de Simone Neto zitiert: Musil: O melro (Anm. 39). Mit der Sigle »Ba« wird die Übersetzung von Marcelo Backes zitiert: Musil: O papel matamoscas (Anm. 39). Meine Kollegin und Kafka-Übersetzerin Susana Kampff Lages merkte zu diesen Ausführungen an: »A língua portuguesa quase não se vale do recurso ao understatement, atenuação; é uma língua afeita ao hiperbólo. Por isso o leitor brasileiro na verdade não entende o que seria ›nada menos que religiosa‹! Totalmente religiosa? um pouco religiosa? Nada religiosa? Nem um pouco religiosa?« (»Das Portugiesische kennt das Understatement kaum; es ist eine Sprache, die das Hyperbolische liebt. Deshalb versteht der brasilianische Leser eigentlich nicht was ›nada menos que religiosa‹ [nichts weniger als eine religiöse] heißen soll! Heißt das vielleicht: Völlig religiös? Ein bisschen, gar nicht, überhaupt nicht religiös?« Übersetzung K. H. R.).

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hang, der für den unerwarteten Verlauf von Azweis Geschichte relevant ist, die von der atheistisch-blasphemischen Ausgangsposition zu drei ekstatischmystischen Erlebnissen führt.

3.2 Die visuell-akustischen Eindrücke Auch die materiellen Details und spezifisch urbanistischen Eigenheiten der Berliner Umgebung sind für die brasilianischen Übersetzer schwer in den Griff zu bekommen. So entgeht beiden Übersetzern zunächst, dass es sich bei den »Berliner Höfe[n]« und »Häuser[n]« (GW II, S. 550) nicht um einzelne Familienhäuser (›casa‹, ›sobrado‹) mit geräumigem Hof oder Innen- bzw. Hintergarten (›pátio‹) handelt, sondern um eintönige Mietshäuser oder -kasernen, mit Hinterhöfen, die auch oft eher Lichtschächte sind. Im ersten der beiden langen Absätze, über die ich nun ausführlicher sprechen will, entwickelt Musil eine skatologische Metaphorik, die die Rückseite der Gebäude mit den Funktionen des »Hintern« (GW II, S. 550), also eines Ausscheidungsorgans, verbindet. Die düstere Rückseite der Berliner Wohnblocks wird so zum Sinnbild der niedrigsten physiologischen Körperfunktionen. Im Folgenden werden dann die skatologischen Anspielungen auf die dunkel-schmutzigen Hinterhöfe und deren Abfuhrfunktionen mit den nur scheinbar wichtigeren eschatologisch-existenziellen Problemen in Beziehung gebracht: Denn gerade dort, bei der Betrachtung der banalen Umgebung im »Hintern« des Wohnblocks bricht mitten in der Nacht die Sehnsucht nach dem Gesang einer Nachtigall über den Erzähler herein; und das plötzliche Umschlagen der nüchtern-skatologischen Atmosphäre in Wunschphantasien von ekstatischen Flügen erweckt leicht den Eindruck einer reaktiv-idealisierenden Übertreibung, die aus Sehnsuchtskomplexen entspringt. Diese Funktion des »Hintern« als Abfuhrorgan kommt in den Versionen von Neto und Backes kaum zur Geltung, weil der visuelle Eindruck der rückwärtigen Fassaden von Einfamilienhäusern (›casas‹) mit Innenhof oder Hintergarten (›pátio‹) alles andere evoziert als die triste, schmutzige und lärmende Umgebung von Küchen, Bade- und Schlafzimmern, die auf den Innenhof oder Hinterhof von vielstöckigen Wohnblocks hinaussehen. Zu den sonderbarsten Orten der Welt – sagte Azwei – gehören jene Berliner Höfe, wo zwei, drei, oder vier Häuser einander den Hintern zeigen, Köchinnen sitzen mitten in den Wänden, in viereckigen Löchern, und singen. (GW II, S. 550) Fazem parte dos lugares mais estranhos do mundo – dizia Adois – aqueles pátios de Berlim, onde duas, três ou quatro casas deixam à mostra a fachada traseira, com cozinheiras cantando, sentadas entre as paredes, em cubículos quadrados. (Ne, S. 103; Hervorhebung K. H. R.)

Bei dieser Übersetzung hat der Leser (wegen der Wortwahl ›casa‹ und des Fehlens des Wortes ›einander‹ – ›uns aos outros‹) zunächst das Gefühl, dass der

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Blick auf die Rückseite einer Reihe von zwei, drei oder vier Einfamilienhäusern fällt, nicht auf die um einen rechteckigen Hof angeordneten Wohnblocks. Auch Backes beginnt die Übersetzung mit ›casas‹ statt ›prédios‹, allerdings mit dem Zusatz, dass die Häuser ›einander‹ den Hintern zuwenden (mit ›umas às outras‹ übersetzt), welches auf die Konfiguration des geschlossenen Innenhofs verweist. Ich selbst hatte in meiner ersten Version ›traseiro‹ (Hintern, Popo) gewählt, aber nichts eingewendet, als ein Kollege, ein brasilianischer Native Speaker, dieses eindeutige Substantiv mit dem viel weniger deftigen ›parte traseira‹ (Rückseite oder rückwärtige Fassade und Euphemismus für Popo) ersetzte. Es wurde mir erst später bei der Analyse der verschiedenen Übersetzungsversionen klar, dass der eindeutige ›traseiro‹ (Hintern) tatsächlich vorzuziehen wäre, um die sich ausweitende Metaphorik von kathartischen Abfuhrfunktionen einzuleiten, die mit den physiologischen Organen und den materiellen Gegebenheiten des sozialen Gewebes (Wohnen, Wachen, Schlafen, Arbeiten) verbunden sind: Entre os lugares mais estranhos do mundo – disse Adois – estão aqueles pátios berlinenses, nos quais duas, três ou quatro casas mostram a parte traseira umas às outras, e cozinheiras cantam sentadas em buracos quadrados entre as paredes (Ba, S. 32; Rückübersetzung K. H. R.) Dentre os lugares mais curiosos do mundo – disse A-dois – estão aqueles pátios berlinenses formados por dois, três ou quatro prédios que mostram uns aos outros a parte traseira. Ali as cozinheiras ficam sentadas entre aquelas paredes, dentro de buracos quadrados, cantarolando. (Ro, S. 256)66

Die weiteren Zeilen dieses Absatzes enthalten noch andere Details, für deren richtige Übersetzung man Berliner Mietskasernen kennen muss, um das Lokalkolorit nicht zu verfehlen: Tief unten grölt eine Männerstimme Scheltworte zu einem der Mädchen empor, oder es gehen schwere Holzschuhe auf dem klinkernden Pflaster hin und her. Langsam. Hart. Ruhelos. Sinnlos. Immer. Ist es so oder nicht? (GW II, S. 550) Mais abaixo, uma voz masculina e estrondosa lança insultos a uma das moças de cima, ou pesados sapatos de madeira caminham de um lado para o outro sobre as pedras do pavimento. Vagarosamente. Asperamente. Incansavelmente. Absurdamente. Sempre. É ou não é assim? (Ne, S. 103) Lá no fundo, bem abaixo, uma voz masculina berra palavrões a uma das moças que está em cima, ou então tamancos pesados passam para lá e para cá sobre as pedras do calçamento. Ásperos. Sem descanso. Sem sentido. Sempre. É ou não é assim? (Ba, S. 32) 66

Mit der Sigle »Ro« wird folgende Übersetzung zitiert: Musil: Ensaios 1900–1919 (Anm. 39). Die Übersetzung mit ›a parte traseira‹ wird in der Kindle-Ausgabe und in der zweiten Auflage der Ensaios zu ›o traseiro‹ korrigiert werden.

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›Pedras do pavimento‹ oder ›pedras do calçamento‹ evozieren beide mehr die Vorstellung von Schritten auf dem Gehsteig oder der Straße, während ›klinkerndes Pflaster‹ auf das spezifische Geräusch hinweist, das die Klinker der Berliner Hinterhöfe erzeugen, wenn etwa die Lieferanten der Läden im Erdgeschoss ihre Waren ins Lager bringen. Embaixo, bem no fundo, uma voz masculina esbraveja algumas palavras de escárnio para uma moça do alto, ou sobe um pesado toque-toque de tamancos nos ladrilhos. Tudo lento. Duro. Sem trégua. Sem sentido. Sempre. É ou não é assim? (Ro, S. 256)

Die Worte ›klinkerndes Pflaster‹ rufen sofort die Assoziation von Klinkerböden hervor, die in Innenhöfen oder Arbeitsräumen eine zwar lärmende, aber sehr robuste und leicht zu kehrende Oberfläche bieten. Beim Gehen auf diesen hartgebrannten Klinkern entsteht ein typischer Klang, das ›klinkernde‹ Geräusch. In Brasilien ist das Äquivalent zu den Geräuschen, die diese Klinkerböden erzeugen, das Geklapper der Schritte auf ›ladrilhos hidráulicos‹, die in den letzten zwei Jahrzehnten wieder in Mode gekommen sind. Der viel ältere Übersetzer ins Französische, Philippe Jaccottet, hat dieses Lokalkolorit der deutschen und österreichischen Küchen und Innenhöfe wahrscheinlich aus eigener Erfahrung gekannt. Jedenfalls erfasst er genau alle die materiellen Details, die es seit den Modernisierungen der 1980er Jahre kaum mehr gibt; seine Übersetzung scheint ganz vertraut zu sein mit dem fast metallenen Geräusch, das nicht von Pflastersteinen, sondern von Klinkern (»briques sonores«)67 im Hinterhof wie auch oft in Küchen erzeugt wird.

3.3 Vom materiellen zum geistigen Raum – und Irrwege der Übersetzung Wie schon oben erwähnt, werden der Raumverteilung und den Einrichtungen in diesen Häusern Positionen, Funktionen und Geräusche zugeordnet, die sich analog zu denen der im menschlichen Körper eng ineinander verschachtelten Verdauungs-, Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane verhalten, die ja ebenso vor sich gehen: »Langsam. Hart. Ruhelos. Sinnlos. Immer.« (GW II, S. 550). Damit deutet der Erzähler an, dass die Organe des Körpers stereotypen Arbeitsweisen folgen: Essen, Verdauen, Ausscheiden und geschlechtliche Fortpflanzung kennen nur wenige wirklich freie und individuelle Variationen. Und dasselbe gilt folglich auch von den materiellen Gegebenheiten des Wohnraums, die ebenfalls die Lebens- und Verhaltensweisen determinierend in stereotype Bahnen lenken. Dabei steuert der Erzähler auf die Schlussfolgerung zu, dass sowohl physiologisch wie architektonisch das Leben der großen Masse der Menschen so vorgeformt und beschränkt ist, dass für individuelle Gestaltung – für bewusstes Wählen und Entscheiden von wichtigen Fragen 67

Robert Musil: Œuvres pré-posthumes. Übers. v. Philippe Jaccottet. Paris 1965, S. 165.

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der Existenz – kaum mehr Platz ist; das Fazit dieser Beengung kommt in der pointiert-witzigen Bemerkung über die Auswirkungen der räumlichen Uniformisierung auf den individuellen Charakter zur Geltung. Eingezwängt in vorgeplante Wohnungen wird der Mensch zu einem stereotypen Verhalten gedrängt. Seine Handlungen und Reaktionen sind durch die Architektur vorbestimmt und auf einen voraussehbaren Mittelwert reduziert. Dieser Gedanke wird in der Novelle folgendermaßen zusammengefasst: Da hinaus und hinab sehen nun die Küchen und die Schlafzimmer; nahe beieinander liegen sie, wie Liebe und Verdauung am menschlichen Körper. Etagenweise sind die Ehebetten übereinander geschichtet; denn alle Schlafzimmer haben im Haus die gleiche Lage, und Fensterwand, Badezimmerwand, Schrankwand bestimmen den Platz des Bettes fast auf den halben Meter genau. Ebenso etagenweise türmen sich die Speisezimmer übereinander, das Bad mit den weißen Kacheln und der Balkon mit dem roten Lampenschirm. Liebe, Schlaf, Geburt, Verdauung, unerwartete Wiedersehen, sorgenvolle und gesellige Nächte liegen in diesen Häusern übereinander wie die Säulen der Brötchen in einem Automatenbüfett. Das persönliche Schicksal ist in solchen Mittelstandswohnungen schon vorgerichtet, wenn man einzieht. Du wirst zugeben, daß die menschliche Freiheit hauptsächlich darin liegt, wo und wann man etwas tut, denn was die Menschen tun, ist fast immer das gleiche: da hat es eine verdammte Bedeutung, wenn man auch noch den Grundriß von allem gleich macht. (GW II, S. 550)

Im letzten Satz liegt die Betonung nicht auf dem freien Willen, sondern nur darauf, »wo und wann« ein mechanisches, vorherbestimmtes Tun vollzogen wird, bei dem der wichtigste Teil des Wollens, nämlich das, was man will, bereits weggefallen ist. Der Handlungsspielraum ist enorm eingeschränkt und von den materiellen Tatsachen einer Mittelstandswohnung vorgeformt. In der Übersetzung kommt es jedoch zu einer Änderung, die den sarkastischen Sinn der Musil’schen Formulierung so gut wie ins Gegenteil verkehrt, indem sie eine optimistische Definition von menschlicher Freiheit auf die allgemeine Formel bringt: »[. . .] a liberdade humana baseia-se principalmente em fazer as coisas quando e onde se quer.« (Ne, S. 104, Hervorhebung K. H. R.) Ins Deutsche zurückübertragen heißt das, dass ›die menschliche Freiheit darauf beruht, dass man die Dinge tut, wo und wann man will‹. Mit der Formulierung ›wo und wann man will‹ verflüchtigt sich der lakonische Verweis auf den von vornherein eingeengten Spielraum des Lebens in der Mietskaserne, in der von ›Freiheit‹ und ›Wollen‹ keine Rede mehr ist, sondern nur von automatisierten, alltäglichen und überall gleichen Handlungen, die schon im Grundriss der Architekten unvermeidlich eingeplant sind. Den Übersetzern ins brasilianische Portugiesisch scheint der Architektenjargon in der literarischen Parabel nicht vertraut gewesen zu sein – keiner der beiden brasilianischen Übersetzer hat den technischen Ausdruck ›Grundriss‹ als architektonische Zeichnung (›planta baixa‹) entsprechend wiedergegeben. Zudem kommt es bei Neto im Zuge der Beschreibung der übereinander ge-

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stapelten Wohnungen zu Inkongruenzen, die den Absatz relativ vage und missverständlich fortführen; er bleibt bei dem Ausdruck ›casa‹, statt ›prédio‹ zu verwenden, obwohl der Satz ausführt, wie in diesen Blocks dieselben Küchen, Bade- und Schlafzimmer übereinandergeschichtet sind (was bei Einfamilienhäusern – ›casas‹ – gar nicht ginge); dazu wird auch noch der Eindruck erweckt, die gesamte Überlegung beziehe sich auf eine einzige dieser Wohnungen: »O destino pessoal já está preordenado em habitações como essa de classe média.« (Ne, S. 104) Der Übersetzer verwendet ›essa‹ statt des Plurals ›essas‹. Musil formuliert hingegen so: »Das persönliche Schicksal ist in solchen Mittelstandswohnungen schon vorgerichtet [. . .].« (GW II, S. 550) Und am Schluss des Absatzes wird die Bemerkung zur Uniformisierung des Grundrisses all dieser Mittelstandswohnungen, die Vereinheitlichung des Fühlens und Denkens der darin Wohnenden mit sich bringt, völlig unterdrückt und mit einem sinnwidrigen Kommentar übersetzt: »[. . .] investe-se de uma importância estupenda que, em geral façamos as coisas do mesmo modo.« (Ne, S. 104). Zurückübersetzt ins Deutsche hieße das: ›. . . so ist es höchst wichtig, die Dinge überhaupt auf dieselbe Art und Weise zu tun.‹ Musil hingegen formuliert so: »[. . .] da hat es eine verdammte Bedeutung, wenn man auch noch den Grundriss von allem gleich macht.« (GW II, S. 550) Wo Musil im Schlusssatz den deterministischen Einfluss des architektonischen Grundrisses der Wohnblocks unterstreicht und so darauf hinweist, wie sich das materiell Gegebenene zwingend auf den Charakter und die Handlungsweise der Bewohner auswirkt, wiederholt der Übersetzer nur nochmals die Behauptung der angeblichen Wichtigkeit, ›die Dinge überhaupt auf dieselbe Art und Weise zu tun‹, statt dem Satz die traurige Resignation zu verleihen, die der Erkenntnis innewohnt, dass der Mensch bereits von seinen Wohnverhältnissen manipuliert und vorgeformt ist. Solche Missverständnisse mögen damit zu tun haben, dass es in Brasilien für die Deutschlernenden (und oft auch für die in der Familie Deutschsprechenden) sehr schwierig ist, ein Gefühl für stilistische Besonderheiten zu entwickeln, das es ermöglicht, diese Art von trockenem Humor zu erfassen. Bei Backes, der in Freiburg studiert hat, kommt die Ironie des mittleren Satzes zur Geltung, nicht aber der resignierte Sarkasmus der Anspielung auf die architektonische Uniformisierung des ›verdammt‹ wichtigen Grundrisses. Hier nun zum Vergleich die drei bisher besprochenen Übersetzungen, wobei die wichtigen Unterschiede kursiv ausgezeichnet werden. Vistos de fora e de cima para baixo, temos as cozinhas e os dormitórios, tão próximos uns dos outros quanto o amor e a digestão no corpo humano. Dispostas umas sobre as outras, pelos pavimentos, estão as camas de casal; de fato, todos os dormitórios ocupam na casa a mesma posição e a parede da janela, a parede do banheiro e a parede do armário determinam com precisão de cinquenta centímetros o local da cama. Os refeitórios empilham-se uns sobre os outros; o banheiro com ladrilhos brancos e o balcão com o abajur vermelho também vêm dispostos por andar. Amor,

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sono, nascimento, digestão, reencontros inesperados, noites de preocupação e serões agradáveis instalam-se nessas casas sobrepostas, como colunas de canapês num bufê em que as próprias pessoas se servem. O destino pessoal já está preordenado em habitações como essa de classe média, tão logo nos instalamos nelas. Você tem de admitir que a liberdade humana baseia-se principalmente em fazer as coisas quando e onde se quer, pois o que os homens fazem é quase sempre a mesma coisa: investe-se de uma importância estupenda que, em geral façamos as coisas do mesmo modo. (Ne, S. 104) De lá espreitam, então, para fora e para baixo, as cozinhas e os quartos; situam-se próximos uns dos outros, assim como o amor e a digestão no corpo humano. As camas de casal estão empilhadas umas sobre as outras, por andares, pois todos os quartos têm a mesma localização no prédio e a parede do banheiro e a pareda da janela, a parede do armário determinam, sem errar meio metro que seja, a posição e o lugar da cama. Assim também se acumulam por andares as salas de jantar, os banheiros de ladrilhos brancos e a sacada com a luminária vermelha. Amor, sono, nascimento, digestão, reencontros inesperados, noites de preocupação e de convívio estão dispostos uns sobre os outros nesses prédios, como as colunas de pãezinhos em uma máquina de venda automática. O destino individual já está determinado quando alguém decide mudar para essas moradias de classe média. Você haverá de concordar que a liberdade humana consiste fundamentalmente em determinar onde e quando se faz alguma coisa, pois o que as pessoas fazem é quase sempre a mesma coisa: daí a carga sinistra de ainda por cima fazermos o esboço de tudo de modo igual. (Ba, S. 32) As cozinhas e os quartos, voltados para esse fora e para baixo, miram tudo aquilo. Estão próximos uns dos outros como o amor e a digestão no corpo humano. Andar sobre andar, as camas de casal estão empilhadas uma sobre a outra; pois, no prédio, todos os quartos têm a mesma disposição, já que as paredes da janela, do banheiro e do armário acabam determinando o lugar da cama com a quase precisão de meio metro. Seguindo o mesmo princípio, há um empilhamento semelhante nas copas e nos banheiros com seus azulejos brancos e, nas sacadas, com seus abajures vermelhos. Amor, sono, nascimento, digestão, reencontros inesperados, noites sombrias ou sociáveis estão estocados nesses prédios como pilhas de sanduíches num distribuidor automático. O destino pessoal já está embutido nesses apartamentos de clásse média no momento em que nos mudamos para lá. Tu hás de concordar que a liberdade humana consiste principalmente em onde e quando fazemos algo, pois o que os seres humanos fazem não muda muito: assim, há uma relevância diabólica na uniformização de todas as plantas baixas. (Ro, S. 257)

Zunächst zur Wortwahl: Neto behält ›casa‹ in beiden Absätzen bei, in denen bei Musil von Häusern die Rede ist, und lässt auch das Wort ›einander‹ in »einander den Hintern zeigen« aus; das führt im Brasilianischen zu einem verschwommenen Bild, denn in Reihen- oder alleine stehenden Häusern (›casas‹) sehen ja die Esszimmer meist nicht auf den ›Hintern‹ des Nebenhauses. Backes verwendet erst ›casa‹ (»duas, três ou quatros casas«; Ba, S. 32), dann ›prédio‹ (Gebäude, Wohnblock) und kann so die Räume, die in den Innenhof sehen, im zweiten Absatz besser lokalisieren. Eigenartigerweise verwendet Neto für Speisezimmer ›refeitório‹, ein Wort, das eher eine Kantine in der Fa-

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brik oder einen riesigen Speisesaal in einer öffentlichen Institution evoziert; man denkt als Leser dann nicht an ein Esszimmer, das wie die funktionale brasilianische ›copa‹ (Rosenfield) neben der Küche liegt, und auch nicht an das elegante Speisezimmer ›sala de jantar‹ (Backes), das jedoch – in Brasilien wie in Europa – oft weit von der Küche entfernt ist. Deshalb habe ich ›copa‹ übersetzt, weil das Esszimmer oder die Essecke in brasilianischen Mittelklassewohnungen auch oft auf den Innenhof hinaussehen. Die Schwierigkeit, sich die Räumlichkeiten und Situationen konkret vorzustellen, zeigt sich bei Neto auch in der Übersetzung von »Säulen der Brötchen in einem Automatenbüfett« (GW II, S. 550) mit »canapês num bufê em que as próprias pessoas se servem« (Ne, S. 104), also mit ›Brötchen aus einem Selbstbedienungsbuffet‹, statt mit »pãezinhos na máquina de venda automática« (Ba, S. 32) oder mit »sanduíches num distribuidor automático« (Ro, S. 257). Für das ›vorgerichtete‹ Schicksal, wählte Neto das ungebräuchliche ›preordenado‹ (allerdings ist Musils ›vorgerichtet‹ auch sehr ungebräuchlich, daher könnte die Übersetzung von Neto in diesem Fall angemessen sein). Backes übersetzt mit dem abstrakteren ›determinado‹; während ich auf das sehr gebräuchliche Partizip ›embutido‹ von ›embutir‹ zurückgreife, das bei der Planung von Inneneinrichtungen sehr geläufig ist und alle Konnotationen der beengenden Vorausplanung und Mechanisierung mitschwingen lässt. ›Embutido‹ ist ein sehr gängiger Ausdruck für die zum Großteil vorgefertigten Einbaumöbel (›armário embutido‹), die für den beengten Wohnstil moderner Blocks emblematisch sind. Mit dem Ausdruck »relevância diabólica« (Ro, S. 257) habe ich mir eine interpretierende Abweichung vom idiomatischen Sinn (›tremenda‹ oder ›estupenda relevância‹ wäre die naheliegendere Übersetzung gewesen) erlaubt, um auf das Gefangen- und Verdammtsein in dieser Umzingelung durch eine Umwelt anzuspielen, die von anderen vorgefertigt wurde und so unmerklich alles determiniert und unter Umständen fremden Zwecken dienlich macht. Die gravierendsten Differenzen ergeben sich in den letzten Zeilen dieses Absatzes, in denen die menschliche Freiheit des eigenen ›Tuns‹ buchstäblich von einem ›Getanwerden‹ aufgesaugt wird, sodass die Autonomie von außen, von anonymen Agenten usurpiert erscheint. Diese fast unmerkliche Umkehrung der Freiheit in Unfreiheit ergibt sich im Deutschen aus der Flexibilität des Bezuges von ›man‹. Es gibt im Portugiesischen kein perfektes Äquivalent für das neutral-unpersönliche ›man‹, das es Musil im Deutschen erlaubt, sich mit demselben ›man‹ zuerst auf das Tun des anonymen Kollektivs der Hausbewohner zu beziehen und dasselbe ›man‹ danach für das ebenso anonyme Kollektiv von Architekten, Ingenieuren und Bauunternehmern zu verwenden, die der Menschheit noch eine zweite Falle bauen, und zwar in Form der urbanistisch-architektonischen Materialität der vorgeplanten Wohnblocks, die die räumliche Bewegungsfreiheit der schon physiologisch programmier-

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ten Menschen auf einige wenige voraussehbare Automatismen einschränkt.68 Deshalb habe ich mich im ersten Halbsatz, der von der Freiheit des persönlichen Tuns spricht, für das etwas persönlichere ›fazemos‹ (›man tut‹, ›wir tun‹)69 entschieden; im zweiten Halbsatz (der die Vorausplanung ganz anderer Instanzen betrifft), wählte ich die anonyme Formulierung mit einem Substantiv: »na uniformização de todas as plantas baixas« (Ro, S. 257), dem im Deutschen ›Uniformisierung‹ oder ›Vereinheitlichung‹ entspricht.

4. Abschließende Bemerkungen Der Ansatz, den Peter Utz, anschließend an Benjamin und andere Theoretiker der Übersetzung, in seinen Arbeiten wählt, versteht Übersetzungskritik als produktive Reflexion über die Gründe, die zu Missverständnissen des Originals führen, wobei auch das Missverstehen semantisch-hermeneutisch gewinnbringend sein kann. Übersetzungskritik hat also nicht die Aufgabe, die ›richtige‹ oder ›beste‹ Lösung zu finden. Es wird daher möglich, aus mehreren Übersetzungen (und auch aus eventuellen Irrtümern) positive Anregungen zu gewinnen, die die Lösungen verschiedener Übersetzer korrigieren, nuancieren oder untermauern können. Aus der dichten Beschreibung70 und der Vertiefung in die Übersetzungsvarianten mit ihren Gewinnen oder Verlusten kann ein hermeneutisches Potential herausgearbeitet werden, das zu einer polyphonen Lektüre des Originaltexts führt. Utz’ zentrale These, dass »Übersetzen [. . .] Sinn, nicht Identität«71 schafft, hat sich auch bei meiner Lektüre Musils bewährt, wie die abschließenden Bemerkungen zeigen werden. Denn die Bedeutungsdifferenzen und die semantischen Variationen der damit verbundenen Metaphern, Assoziationen und Atmosphären führten nicht nur zu kritischen Stellungnahmen, sondern auch zu Denkanregungen, die das Verständnis der subtil-komplexen Konstruktionen Musils bereichern. So konnte ich zum Beispiel erst bei der kritischen Revision meiner eigenen Lösungen und der meiner Vorgänger erkennen, wie genau Musils ironische Distanzierung von ekstatischen (Todes-)Nostalgien in seiner Novelle Die Amsel aufgebaut ist. Beim Vergleich der verschiedenen Varianten dieses Fortlebens der Novelle Die Amsel fiel mir auf, dass die beiden ersten, aus Brasilien stammenden Übersetzer zuweilen Schwierigkeiten haben, den oft sehr impliziten, situati68 69 70 71

Vgl. die Schwierigkeit, das Pronomen ›es‹ ins Italienische zu übersetzen. Vgl. Bianca Cetti-Marinoni: Sprach- und Stilprobleme der Törleß-Übersetzung, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil (Anm. 29), S. 227–240. Auf Portugiesisch, kann ›man tut‹ entweder mit ›se faz‹ oder mit der 1. Person Plural ›fazemos‹ übersetzt werden, wobei ›fazemos‹ einen etwas weniger neutralen Ton hat. Vgl. Utz: Anders gesagt (Anm. 53), S. 22. Ebd., S. 18.

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onsbezogenen Witz Musils zu erfassen, der zusammen mit den Bezügen auf das spezifische Lokalkolorit der Berliner Mietskasernen eine jugendlich-pietätlose und sehr implizite Ironie erzeugt. Beim genauen Vergleich wurde mir als fast bilingualer dritter Übersetzerin klar, wie schwer nachvollziehbar dieser Witz für Leser sein muss, die nicht mit der (in Brasilien sehr seltenen) verhaltenen Ironie Musils vertraut sind. Dazu kommen die vielen zeitgebundenen Details und Anspielungen; wer die materiellen Gegebenheiten in Städten wie Berlin, Brünn oder Wien nicht kennt, hat es schwer, die Atmosphäre und die Klänge zu erfassen, auf die sich die oft trocken-sardonischen Wendungen und das ironische Understatement beziehen. Allerdings kamen auch mir die Feinheiten dieser Ironie erst beim Nachdenken über kleinere Irrtümer meiner Vorgänger zu Bewusstsein; und erst bei der genauen Beschreibung und Formulierung meiner Einwände bemerkte ich – abgesehen von meinen eigenen zweifelhaften Lösungen – die erzählerische Strategie, die in diesen ironischen Nuancen versteckt ist und die die drei Phasen der Erzählung (die Episoden des Amselrufs, des Fliegerpfeils und der zugeflogenen Amsel) miteinander verbindet. Es ist der vertieften Analyse der Übersetzungsvarianten zu verdanken, dass mir der versteckte Sinn der skatologischen Anspielungen klar wurde, die den Überdruss an der Monotonie des automatisierten Alltagslebens ausdrücken. Diese Alltäglichkeit wird ironisch mit den niedrigen vegetativen Lebensfunktionen assoziiert und in ein Spannungsverhältnis zur Sehnsucht nach ekstatischem Erleben gestellt, wobei die mystisch-ekstatische Dimension eschatologische Vorstellungen mit utopischer Zeitlosigkeit verbindet. Die erzählende Figur des Azwei versucht diese Sehnsucht in einem fast monologischen Dialog in den Griff zu bekommen. Bei der sprachlichen Darstellung dieser mystisch-ekstatischen Motive kann Musil sich auf eine reiche expressionistische Bildersprache stützen, die zum Teil auf Kafkas Parabeln zurückverweist.72 Auch Kafka bringt den Wirklichkeitszerfall und die utopische Hoffnung auf Läuterung zur Sprache – diese Hoffnung birgt die Möglichkeit einer »wirklichen Wirklichkeit« und die Annahme einer »hinter oder über der Wirklichkeit stehenden Idealität«73 in sich. Allerdings werden diese Idealisierungen bei Musil, ebenso wie bei Kafka, mit verkappt ironischen Konstruktionen verwoben, die den im Grunde absurden, aber doch rührenden Charakter dieser Hoffnung unterstreichen und so der utopischen Einstellung ihr Pathos und ihre Sentimentalität nehmen. 72

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Jochen Schmidt hat eine analoge Struktur in der Novelle Grigia detailliert untersucht, in der die entsprechenden Motive des Mann ohne Eigenschaften vorbereitet werden. Vgl. Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff. Berlin 1975, S. 1–45. In anderem Zusammenhang (nämlich dem Begriff der Eigenschaftslosigkeit und des Möglichkeitsdenkens) hat sich Jochen Schmidt auch dieser Parallele zwischen Musil und Kafka gewidmet. Vgl. ebd., S. 78.

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Dies zeigt sich schon zu Beginn der Novelle, die, wie schon dargelegt, mit leicht skatologischen Assoziationen anhebt, die den »Hintern« von Gebäuden samt ihren viereckigen »Löchern« (GW II, S. 550), den Küchen, Ess-, Schlaf- und Badezimmern, mit den monoton sich wiederholenden Verdauungs- und Fortpflanzungsfunktionen der menschlichen Existenz in Verbindung bringen. Aus dieser banalen Monotonie versucht Azwei, der seine Geschichte teilweise selbst erzählt, sich loszureißen. In seinem nächtlichen, mystisch-utopischen Erlebnis des zu ihm ›sprechenden‹ Vogels kommt ihm sein bis dahin unbewusstes Verlangen nach einem abenteuerlich-aufregenden Leben zu Bewusstsein: Es ist eine Amsel, die wie eine Nachtigall für ihn zu singen und ihn in die unbekannte Weite zu rufen scheint. Die Intensität dieses ekstatischen Erlebens bricht in seine nächtlichen Ruminationen über die Lebensformen des mittleren und des Kleinbürgertums ein und erschüttert die Festigkeit der bürgerlichen Existenz. Azwei beschließt, diesem vermeintlichen Ruf zu folgen. Der irrationale, unverantwortliche Entschluss, seine schlafende Frau wortlos und ohne jedwede Erklärung zu verlassen, führt ihn in den Krieg und in dieser konstanten Drohung des Todes kommt es zu einem zweiten analogen Erlebnis: Azwei entgeht als Soldat dem Tod nur knapp, als ein Fliegerpfeil direkt neben ihm in den Boden fährt. Auf die anfänglich skatologischen Gedanken folgen in diesem Abschnitt ernstere eschatologische Überlegungen zu dem im Zeitgeist verankerten Hang zu einem tragischekstatischen Weltgefühl, das den Wunsch nach intensivem Leben unweigerlich mit totaler Auflösung und Tod in Verbindung bringt. Anspielungen auf diese Mischung von taedium vitae und der Suche nach einem intensiveren Lebensgefühl im Angesicht des Todes sind in dieser Episode besonders klar in die Szenerie eingezeichnet. In der bukolischen Landschaft der friedlichidyllisch anmutenden Hügelketten scheinen die Soldaten bereits auf ihren eigenen ›Grabkränzen‹ lustzuwandeln. Ohne das Kriegsgeschehen als das wahrzunehmen, was es ist – sinnlose Zerstörung und Untergang –, fühlen sie sich weit entfernt von Gewalt und Sterben, so als ahnte keiner den nahen Tod: Über unsere ruhige Stellung kam einmal mitten in der Zeit ein feindlicher Flieger. Das geschah nicht oft, weil das Gebirge mit seinen schmalen Luftrinnen zwischen befestigten Kuppen hoch überflogen werden mußte. Wir standen gerade auf einem der Grabkränze, und im Nu war der Himmel mit den weißen Schrapnellwölkchen der Batterien betupft wie von einer behenden Puderquaste. Das sah lustig aus und fast lieblich. (GW II, S. 555)

Ganz anders als bei Jünger rückt bei Musil nicht das heroische Eingreifen und das athletische Durchhalten in den Vordergrund, das Jünger In Stahlgewittern wie eine elementare Gewalt darstellt, sondern er führt den phantasmagorischen Aspekt des Krieges vor Augen: die passive Haltung des ›Geschehenlassens‹, die das Einbrechen des unsagbaren Kriegsgemetzels in eine völlig friedliche Umgebung und Landschaft ermöglichte und aus der es zu erwachen

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gilt.74 Die Tatsache, dass die Soldaten sich unbekümmert und sichtbar auf den Hügelkuppen bewegen, macht deutlich, dass ein Kampfgeschehen überhaupt nicht erwartet wird, sodass die Möglichkeit des Todes überraschend und unerwartet einbricht. Bei den brasilianischen Übersetzern wird allerdings der Akzent vom locus amoenus (Hügel wie Grabkränze), der schwelgerisch Leben und Tod verschmilzt, auf die ›Schützengräben‹ verlagert (›trincheiras‹, die im Original gar nicht erwähnt werden) – und das gibt der ganzen Szene ein anderes, kriegerisches Vorzeichen: Certa vez, já transcorrida a metade do tempo, um aviador inimigo sobrevoou nossa tranquila posição. O que não acontecia com frequência, pois era preciso voar muito acima da serra, devido a suas correntes de ar e seus picos estreitos. Estavamos exatamente numa daquelas trincheiras em forma de coroa, e num átimo o céu ficou salpicado de pequenas nuvens brancas de projéteis de baterias, como se tivessem entornado uma caixinha de pó de arroz. (Ne, S. 110; Hervorhebungen K. H. R.) Quando já havia transcorrido a metade do tempo que passamos por lá, um aviador inimigo cruzou certa vez sobre nossa tranquila base. Isso não costumava acontecer, porque era preciso sobrevoar muito alto aquela serra, com seus estreitos corredores aéreos entra os cumes fortificados. Nós nos encontrávamos justamente em uma das coroas de trincheiras e, de repente, o céu foi salpicado com as nuvenzinhas brancas dos estilhaços de projéteis aéreos, como se uma caixinha de pó-de-arroz tivesse sido entornado. (Ba, S. 46; Hervorhebungen K. H. R.)

Neto und Backes übersetzen ›Grabkränze‹ mit ›trincheiras‹ (Schützengräben) statt mit ›coroas funerárias‹. Aber mit ›Grabkränzen‹ ist hier, wie es eine Seite vorher heißt, die hügelige Landschaft selbst gemeint: [. . .] die schwach besetzten Kampfgräben versanken in Laub, der See brannte lautlos in Blau, die Hügel lagen wie große welke Kränze da; wie Grabkränze, dachte ich oft, ohne mich vor ihnen zu fürchten. Zögernd und verteilt floß das Tal um sie; aber jenseits des Striches, den wir besetzt hielten, entfloh es solcher süßen Zerstreutheit und fuhr wie ein Posaunenstoß, braun, breit und heroisch, in die feindliche Weite. (GW II, S. 554)

Der lakonische Ton, der die Erzählung des zweiten überwältigenden Erlebnisses einleitet, objektiviert den romantischen Charakter des Unsagbaren und nimmt ihm das sentimentale Pathos, das der Zeitgeist landläufig mit ekstatisch-mystischen Erlebnissen zu verbinden sucht. Trotzdem hält der Erzähler aber doch am Wert einer spezifischen Innigkeit des Erlebens fest, die er (und der Autor) durchaus ernst nehmen, und diese seltene (oder einzigartige) Form des Erlebens soll auch dem Leser vermittelt werden. Hier wird ganz klar, dass Musil nicht auf eine Idealisierung des Krieges abzielt, denn das Erlebnis der Todesnähe wird als nur eines von diversen ekstatischen Erlebnissen erwähnt und zwar nicht im Zusammenhang mit einer Verklärung der Gewalt als 74

Vgl. Pfohlmann: Biographie (Anm. 48), S. 21.

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mythisch-elementare Unvermeidlichkeit, wie dies bei Ernst Jünger (In Stahlgewittern) der Fall ist.75 Es geht in dieser Erzählung nicht um die Szenerie von Kampf schauplätzen (die hinter dem Horizont des Erzählgeschehens sich vage abzeichnen), sondern um die konsequente Analyse eines fließenden inneren Zustandes, der sich in drei verschiedenen extremen Erlebnissen kristallisiert. Musil verkennt nicht die Mystifizierungen der aggressiven Tendenzen, die von Kriegspropagandisten ausgenützt werden, aber seine Erzählungen haben ein vollkommen entgegengesetztes Ziel, nämlich die Erkenntnis der latenten Aggressionslust und ihre Überwindung.76 Dies erklärt wohl auch den lakonischen Ton, mit dem sich die Erzählung dem für Musil überwältigenden Todeserlebnis im Ersten Weltkrieg nähert: Dieses steht analog zu dem ebenso unverständlichen Überwältigtwerden von einem ekstatischen Liebeszustand (den Musil in seinem zwanzigsten Lebensjahr erlebte), in den die dichterische Arbeit andere und zukunftsweisende Möglichkeiten ›hineinbohren‹ sollte.77 Wenngleich der Text wohl das eine oder andere Detail des Krieges erwähnt – z. B. »Kampfgräben« (GW II, S. 554) oder das Verschwinden von Kameraden –, kommt es dabei zu keiner Glorifizierung der kriegerischen Handlung. Im Gegenteil, das Todeserlebnis hebt sich vielmehr von der Kulisse einer Landschaft mit elegischer Atmosphäre ab – von einer Landschaft der Stille, in der die geschweifte Form der herbstlich anmutenden Hügel wie eine Drapierung von Grabkränzen anmutet. Musil scheint vielmehr auf eine kritische Aufarbeitung des Sehnsuchtskomplexes abzuzielen, der in der deutschen Kultur Liebe und Tod auf tragisch-schwelgerische Weise miteinander verknüpft. Dieses Märchen- und Opernmotiv wird im dritten Teil der Novelle in einer absurd-rührenden Episode aufgelöst – nämlich mit dem regressiven Erlebnis der Rückkehr der Amsel, die der Erzählfigur Azwei zufliegt und sich als dessen tote Mutter entpuppt – oder besser: als solche vom Erzähler ausgegeben wird, was natürlich ein eigenartig phantasmagorisches (oder pathologisch verrücktes) Licht 75

76

77

Es wurde oben schon darauf hingewiesen, dass Musil den ›anderen Zustand‹ des ekstatischen Erlebens dem Erlebnis des Todes annähert. Vgl. Pfohlmann, Biographie (Anm. 48), S. 21, sowie die Erwähnung der »Todesfreude« (Tb I, S. 947). Das bedeutet bei Musil nicht die Apotheose der Gewalt, wie Soma Morgenstern zu verstehen glaubte, als er sich an Musils Bemerkung zum »großen Erlebnis des Todes« (Musils Bellizismus [Anm. 49, S. 113]) erinnerte, sondern eine der Formen der Ekstase, die einen Ausweg aus der phantasmagorischen Gewalttätigkeit erlaubt. Vgl. Pfohlmanns Darstellung dieses wesentlichen Unterschieds zwischen Musil und Jünger: »Mancher Eintrag Musils erinnert in seiner Faszination für grausige oder bizarre Details, seiner moralischen Indifferenz und Kälte an die Kriegstagebücher Ernst Jüngers: ›Die Gefechte, Toten usw., die sich vor den Stellungen abspielten[,] haben mir bisher keinen Eindruck gemacht.‹ (Tb I, S. 312) Doch anders als bei Jünger stilisiert sich hier kein sich panzerndes Subjekt, sondern es schreibt jemand, der sich danach sehnte, das Gefühl von Unwirklichkeit zu verlieren und endlich erweckt zu werden.« (Pfohlmann: Biographie [Anm. 48], S. 21). Vgl. den zu Beginn dieses Beitrags bereits zitierten Satz: »Möglichkeiten in Seelen hineinbohren!« (GW II, S. 1317) sowie die Bemerkungen zur Beziehung des Nicht-Ratioïden zum Ratioïden.

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auf den rationalistischen Realisten Azwei wirft. Die symbolische Figur einer vollkommenen Wiedervereinigung wird also skeptisch-ironisch unterlaufen, denn die Art und Weise des Erzählens stellt klar, dass auch Azwei nicht wirklich an diese Figur glaubt, obwohl der Erzählgestus die Innigkeit der Überzeugung und des Erlebnisses durchaus ernst nimmt. Die Sehnsucht des Expressionismus nach radikaler Innerlichkeit und einem »Sein ohne Zeit«,78 schreibt Jochen Schmidt, wird bei Musil mit tiefem Gefühl aufgenommen, mit Ironie distanziert und mit skeptischem Ernst durchgearbeitet. Und Marie-Louise Roth unterstreicht, dass der ›andere Zustand‹ bei Musil mit der Autorität einer starken tatsächlichen Erfahrung verbunden ist, die dem mystischen Anderssein, auch wenn es ein nicht stabilisierbares, ephemeres, irreal-reales Dasein ist, eine nicht aufhebbare innere Fundierung verleiht und es so von banaler Esoterik unterscheidet.79 Die innere Logik der Novelle Die Amsel entspricht also der Axiomatik, die Jochen Schmidt in der Novelle Grigia (und in den beiden anderen Novellen von Drei Frauen) genau untersucht hat: Flucht aus der Krise des bürgerlich Ewig-Gleichen ins Abenteuer, Verlangen nach regressiver Gemeinschaft und Auflösung der überzivilisierten Komplexität, Darstellung eines irrationalen Verlangens, das sich in die Phantasie von absoluter Liebe und Tod flüchtet und in dieser Erzählung tatsächlich »die Auflösung der Person als Vollendung der Eigenschaftslosigkeit«80 verwirklicht. Erst durch diese dichte Beschreibung, das heißt durch die Erörterung der Übersetzungsvarianten und die Vertiefung in sie kann man als Leser miterleben, wie Musil mit skatologisch-eschatologischen Motiven spielt und so den unmerklichen Übergang thematisiert, der von der banalen Langeweile und Monotonie des automatisierten Alltagslebens in idealisierende Übertreibungen führt, die Wunschphantasien entspringen und die nicht weitergesponnen und zu Überzeugungen verfestigt werden sollten.

78 79 80

Schmidt: Ohne Eigenschaften (Anm. 72), S. 60. Vgl. Marie-Louise Roth: Robert Musil, Ethik und Ästhetik. Frankfurt a. M. 1972, S. 79. Schmidt: Ohne Eigenschaften (Anm. 72), S. 3–41.

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Robert Musil in Korea Der lange Weg bis zur Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften 1. Die Musil-Rezeption in Korea In Korea ist Robert Musil ein Autor, der nicht so bekannt und beliebt ist wie beispielsweise Thomas Mann, Franz Kafka oder Hermann Hesse. Aber unter den Literaturliebhabern und -kennern ist man überzeugt, dass seine Werke zum Kanon der Weltliteratur gehören. Der durchschnittliche Leser wird auf diesen Autor meist deshalb aufmerksam, weil Milan Kundera ihn besonders schätzt. Kundera, der auf Grund seines Romans Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984) in Korea sehr bekannt ist, hatte in seinem ebenfalls ins Koreanische übersetzten Essay Die Technik des Romans geschrieben: »Der Mann ohne Eigenschaften gehört zu den zwei, drei Romanen, die mir am allerliebsten sind.«1 Das Hauptwerk von Musil gilt in Korea als Teil des Kanons und wird gerne als lesenswerter Roman der Weltliteratur empfohlen. Daher ist Musil für durchschnittliche koreanische Leser durchaus ein wichtiger Name, zugleich ist er aber doch ein sehr im Dunkeln liegender Autor, denn das so sehr empfohlene Hauptwerk war lange gar nicht zugänglich. Die Übersetzung von Texten Musils2 begann in Korea um 1970 mit kürzeren Erzählungen wie Grigia (1966),3 mit der Amsel (in zwei unterschiedlichen Versionen) und Ein Mensch ohne Charakter (1971);4 die Amsel wurde 1987 nochmals ins Koreanische übertragen.5 Erschienen sind diese Übersetzun1 2 3 4

5

Milan Kundera: Die Kunst des Romans. Frankfurt a. M. 1989, S. 81. Im Folgenden gebe ich bei den Übersetzungen ins Koreanische die Namen der Übersetzer und der Verlage, nicht aber die Buchtitel in lateinischer Umschrift an. Grigia wurde von Dusik Kang übersetzt und erschien 1966 im vierten Band der vom Verlag Kyemongsa (Seoul) herausgegebenen Reihe A Treasury of World Short Stories. Die Amsel wurde von Dong-Zun Song, Ein Mensch ohne Charakter von Dusik Kang übersetzt; die beiden Texte erschienen 1971 beim Verlag Iljisa (Seoul) in einem Band mit deutschen Erzählungen von Johann Wolfgang von Goethe bis Hermann Hesse, in dem insgesamt 25 Autoren mit jeweils ein bis zwei Erzählungen vertreten sind. Im selben Jahr gab der Verlag Parkmunsa (Seoul) eine Anthologie mit Erzählungen der Weltliteratur heraus, die Die Amsel in der Übersetzung von Hwan-Dok Bak enthielt. Die Amsel ist in einer dritten Version in einer weiteren Sammlung von Erzählungen der Weltliteratur aus dem Jahr 1987 vertreten, übersetzt von Sam-Huan Ahn für die Samsung Kunstund Kulturstiftung (Seoul 1987).

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gen in einer Anthologie mit deutschen Erzählungen bzw. in Bänden, die Texte der Weltliteratur versammeln. Die Übertragungen der Amsel in den Jahren 1971 und 1987 stammen von drei Übersetzern, die zur ersten Generation der koreanischen Germanisten gehören. Im Jahr 1990 wurden Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Drei Frauen veröffentlicht, und zwar ebenso nicht als Einzelausgaben, sondern – zusammen mit Werken Hugo von Hofmannsthals – in einem Sammelband im Rahmen einer Reihe, die Werke der Weltliteratur enthält.6 Als Einzelausgaben erschienen Drei Frauen (1997) und der Törleß (2001) in neuer Übersetzung ein paar Jahre später nochmals.7 Jüngst – 2011 und 2021 – kamen sogar noch zwei weitere Übertragungen des Törleß auf den koreanischen Buchmarkt.8 Während die Ausgaben der Jahre 2001 und 2011 von relativ kleinen Verlagen herausgebracht wurden, erschien die jüngste Törleß-Übersetzung in einem renommierten Verlag, ebenfalls im Rahmen einer Reihe mit Texten der Weltliteratur, wodurch in der koreanischen Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit generiert werden kann. Da in Korea die sogenannten Klassiker fast immer in solchen Reihen angeboten werden, sind derartige Ausgaben ein wichtiges Indiz dafür, dass Musil als kanonisierter Autor gilt. Der Mann ohne Eigenschaften ist zwar bisher zweimal auf Koreanisch erschienen, aber nicht vollständig. Die im Jahr 2010 publizierte Übersetzung reicht nur bis Kap. 749 und die im Jahr 2013 erschienene bis Kap. 83,10 was 320 bzw. 370 Seiten von den 1041 Seiten der Rowohlt-Edition entspricht, also ca. einem Drittel. Beide Übersetzer hatten angekündigt, die Arbeit weiterzuführen. Zu der im Jahr 2013 veröffentlichten Ausgabe erschien im September 2021 tatsächlich eine Fortsetzung, die jedoch nur bis zum Endes des zweiten Teils (»Seinesgleichen geschieht«) reicht. Da die beiden Übersetzungen des Mann ohne Eigenschaften in kleinen Verlagen erschienen, stießen sie auf wenig Resonanz. 2015 kamen zwei Auswahlbände, Die Vollendung der Liebe und Nachlaß zu Lebzeiten/Über die Dummheit heraus, die das Spektrum der Musil-Übersetzungen erweiterten. In der Die Vollendung der Liebe betitelten Sammlung finden sich neben den Vereinigungen auch Drei Frauen, dreizehn kurze Texte aus dem Nachlaß zu Lebzeiten sowie drei kleine Prosastücke aus anderen Quellen.11 Die Vollendung der Liebe wurde von eben dem Kleinverlag herausgebracht, der 2013 bereits den Mann ohne Eigenschaften veröffentlicht 6 7 8 9 10 11

Übersetzt von Myoungsu Kim für den Verlag Kumsung, Seoul 1990. Übersetzt von Myoung-Ku Kang für den Verlag Moonji, Seoul 1997; übersetzt von Jongdae Park für den Verlag Ulryouk, Seoul 2001. Übersetzt von Rae-Hyeon Kim für den Verlag Zmanzbooks, Seoul 2011; übersetzt von HyunKyu Jung für den Verlag Changbi, Paju 2021. Übersetzt von Won Koh für den Verlag Iungkwaliul, Seoul 2010. Übersetzt von Byungryul Ahn für den Verlag Bookinthegap, Seoul 2013. Übersetzt von Sunguk Choi für den Verlag Bookinthegap, Seoul 2015.

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hatte. Der von mir übersetzte Band Nachlaß zu Lebzeiten/Über die Dummheit erschien hingegen bei Workroompress in Seoul, einem mittelgroßen Verlag, im Rahmen einer Reihe mit Texten der Weltliteratur, die von wichtigen, aber in Korea relativ unbekannten Autoren stammen. Das ging als Verkaufsstrategie auch einigermaßen auf, denn der Band erlebte innerhalb relativ kurzer Zeit eine zweite Auflage. Im März 2022 erschien endlich meine Übersetzung der Rowohlt-Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften in einem renommierten Verlag; es handelt sich um die erste Ausgabe, die alle von Musil selbst publizierten Teile umfasst; nicht enthalten sind jedoch die NachlassKapitel.12 Damit liegen die wichtigsten Werke Musils in koreanischen Übersetzungen vor: Der Mann ohne Eigenschaften, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Nachlaß zu Lebzeiten, Drei Frauen und Vereinigungen. Die Forschung in Korea befasst sich nicht häufig mit Robert Musil. In den Lehrbüchern der deutschen Literaturgeschichte ist Musil dennoch ein fixer Bestandteil. Die neueste Veröffentlichung auf diesem Gebiet, die im Verlag Sechangpublish publizierte Geschichte der deutsche Literatur,13 widmet Musil sogar ein Kapitel, in dem der Autor und Der Mann ohne Eigenschaften von mir recht ausführlich auf neun Seiten vorgestellt werden. Da es bis vor Kurzem keine vollständige und wissenschaftlich akzeptable Übersetzung des Hauptwerkes gab, konzentrierte sich die Forschung bisher vor allem auf den Törleß. Bei meiner Online-Recherche vom 10. Juni 2022 fand ich unter dem Stichwort ›Musil‹ insgesamt mehr als dreißig Aufsätze, darunter elf über den Törleß. Der Törleß wurde häufig (sechs Titel) im Zusammenhang mit der Internatserziehung und unter dem Aspekt der Adoleszenz-Krise untersucht, was ich dem problematischen koreanischen Schulsystem zuschreibe (die Selbstmordquote unter den Jugendlichen in Korea ist weltweit am höchsten). Insgesamt zwölf Titel behandeln den Mann ohne Eigenschaften unter so unterschiedlichen Aspekten wie Essayismus, Möglichkeitssinn, homo oeconomicus, Utopie, Androgynie, Agathe als Männerphantasie, vita activa und vita contemplativa usw.; es ist in der Forschung zum Mann ohne Eigenschaften also keine bestimmte Tendenz zu erkennen. Zwölf Titel mögen zwar je nach Gesichtspunkt keine geringe Zahl sein, aber wenn man die Bedeutung des Mann ohne Eigenschaften im Vergleich zum Törleß berücksichtigt, ist es dennoch nicht viel (zudem stammt ein Drittel der Untersuchungen zum Mann ohne Eigenschaften von mir). Leider ist in der Musil-Forschung derzeit kein Nachwuchs in Sicht ist, was sicherlich auch darauf zurückzuführen ist, dass lange Zeit eine koreanische Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften fehlte.

12 13

Übersetzt von Jiyoung Shin für den Verlag Nanam, Paju 2022. Neue deutsche Literaturgeschichte für gebildete Koreaner. Hg. v. Sam-Huan Ahn. Seoul 2016.

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2. Musil übersetzen in Korea Im Falle Koreas sollte die Frage nicht lauten, wieso es zu so wenigen MusilÜbersetzungen gekommen ist, sondern: Wie kommt es, dass es bis vor Kurzem noch keine vollständige Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften gab? Denn wie gezeigt, wurde der Törleß ja mehrmals übersetzt und mehrere andere kürzere Werke auch. Das Interesse der Literaturwissenschaftler und auch der durchschnittlichen Leser an Musil ist durchaus vorhanden. Zweifellos ist es auch ein bisschen von dem Nimbus beeinflusst, dessen sich Der Mann ohne Eigenschaften erfreut, weil man ihn als Roman auf der gleichen Ebene wie Ulysses von James Joyce oder Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust ansiedelt. Dass das Hauptwerk von Musil so lange Zeit keine vollständige Übersetzung erfahren hat, liegt meines Erachtens daran, dass Übersetzungen im koreanischen Literaturbetrieb nur zustande kommen, wenn die Übersetzer bereit sind, zeitliche und finanzielle Opfer zu bringen. Einige Verlage, die an ihren Reihen mit Texten der Weltliteratur gut verdienen, möchten den Mann ohne Eigenschaften gerne aufnehmen, allerdings ohne die Übersetzung zu bezahlen. Die Arbeit an umfangreichen Texten kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen, aber ohne einen angemessenen Vorschuss, geschweige denn monatliche Zahlungen ist dies kaum zu leisten. Daher kann die Übersetzungsarbeit nur eine Nebenbeschäftigung sein, wie es auch bei mir der Fall war. Für Universitätsprofessoren besteht das Problem darin, dass unsere Leistung an der Zahl der bewilligten Projekte und veröffentlichten Aufsätze gemessen wird; literarische Übersetzungen aber werden nicht wirklich als Leistung anerkannt. Zum anderen ist Der Mann ohne Eigenschaften zu schwierig und zu umfangreich, als dass ein professioneller Übersetzer sich einem solchen Projekt widmen würde. Deswegen war die koreanische Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften für die koreanischen Germanisten immer ein Desiderat, besonders für die Musil-Forscher, damit meine ich nicht nur jene, die über Musil promoviert, sondern auch jene, die sich mit ihm beschäftigt haben – eine Gruppe von weniger als zehn Personen. Nachdem ich nach meiner Promotion aus Deutschland nach Korea zurückgekehrt war, begann ich sofort mit der Übersetzung. Damals schloss ich einen Vertrag mit einem renommierten Verlag für seine Reihe mit Texten der Weltliteratur ab und erhielt einen Vorschuss von 1000 US-Dollar. Leider konnte ich die Übersetzung wegen der Lehrtätigkeit und auch der Abfassung wissenschaftlicher Artikel nicht wie gefordert innerhalb von fünf Jahren beenden. 2018, als ich bereits ca. 600 Seiten übersetzt hatte, bewarb ich mich erfolgreich für ein Übersetzungsstipendium der National Research Foundation of Korea (NRF); in diesem Fall wurde die Übersetzung als wissenschaftliches Projekt anerkannt, wodurch ich die nötige Zeit für den Schlussspurt erhielt. Die NRF unterstützte auch die Publikation der Übersetzung. Mein Zukunftsprojekt ist die Veröffentlichung der gesammelten Werke von Musil.

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Workroompress, der Verlag, der meine Übersetzung des Nachlaß zu Lebzeiten /Über die Dummheit veröffentlichte, zeigt Interesse daran. In fünf Jahren, wenn die Übersetzungsrechte, die jetzt beim NRF liegen, auslaufen, möchte ich den Mann ohne Eigenschaften – diesmal mit der Fortsetzung aus dem Nachlass von 1937 bis 1942 – veröffentlichen. Die gesammelten Werke sollen aus Der Mann ohne Eigenschaften, Törleß, Vereinigungen, Drei Frauen und Nachlaß zu Lebzeiten bestehen, die schon einmal ins Koreanische übertragen worden sind. Dazu sollen noch die Nachlassteile des Mann ohne Eigenschaften kommen sowie auch die ebenso bisher noch nicht übersetzten Dramen Die Schwärmer und Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer.

3. Herausforderungen bei der Übersetzung Musils Bei Nachlaß zu Lebzeiten/Über die Dummheit (2015) und auch beim Mann ohne Eigenschaften (2022) fühlte ich mich im Umgang mit den schon vorhandenen Übersetzungen und Forschungen sehr frei. Im Fall des Nachlaß zu Lebzeiten lag zwar Die Amsel schon in mehreren Versionen vor, die aber veraltet waren. Vom Mann ohne Eigenschaften gab es bis dahin nur unvollständige und unzulängliche Übersetzungen, jedoch noch keine kanonisierte koreanische Fassung. Bei meiner Arbeit zog ich nur die englische Übersetzung von Sophie Wilkins und Burton Pike zu Rate, allerdings eher in der Anfangsphase, worauf ich weiter unten näher eingehen werde. Die spezifische Herausforderung bei der Übersetzung des Romans bestand zunächst in seinem Umfang, den man nicht in ein, zwei oder auch drei Jahren bewältigen kann. In meinem Fall dauerte es insgesamt fast fünfzehn Jahre, wobei ich mich einige Jahre davon überhaupt nicht mit der Übersetzung beschäftigen konnte. Die bei der Übersetzung eingetretene Verzögerung ist auch verantwortlich für stilistische Verschiebungen, die man erst beim Korrekturlesen merkt. Dies zu beheben und der Übersetzung einen einheitlichen Stil zu verleihen, war eine große Herausforderung. Ein Beispiel dafür ist die Satzbildung. In der Anfangsphase teilte ich ein langes Satzgefüge mit vielen Nebensätzen in mehrere koreanische Sätze auf, denn ich wollte damals die langen, komplizierten Sätze möglichst verständlich wiedergeben. In der Endfassung versuchte ich jedoch, die Satzstruktur des Originals möglichst beizubehalten.14 Auch auf der Wortebene besteht dieses Problem. Denn obwohl ich den Gesamttext nochmals überarbeitet habe, kann ich nicht ausschlie14

Ein Beispiel bietet der folgende Satz: »Der Finanzier hatte eine Unterredung mit dem Kriegsminister, den er persönlich kannte, und die Folge war, daß Ulrich eine längere Aussprache mit seinem Obersten hatte, in der ihm der Unterschied zwischen einem Erzherzog und einem einfachen Offizier klargemacht wurde« (MoE, S. 36). Während ich zunächst dieses lange deutsche Satzgefüge in drei in sich abgeschlossene koreanische Sätze mit drei Endpunkten aufspaltete, verwandelte ich in der Endfassung die drei Sätze wieder wie bei Musil in einen langen Satz.

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ßen, dass einige Wörter uneinheitlich übersetzt worden sind. Zum Beispiel übersetzte ich das Wort ›Kreis‹ in der Wendung »aus allen Kreisen der Bevölkerung« (MoE, S. 109) früher im Sinne von ›Bereich‹, was aber später im Sinne von ›Gruppe‹ korrigiert wurde. Die stilistische Uneinheitlichkeit der Übersetzung liegt an der sich über Jahre hinziehenden Arbeitszeit, die wiederum dem Umfang des Romans geschuldet ist. Die zweite Herausforderung der Musil-Übersetzung liegt auf der Ebene des Sinns. Wenn mir die Bedeutung nicht klar war, zog ich die englische Übersetzung von Sophie Wilkins und Burton Pike zu Rate, was meistens sehr hilfreich war. Sinngemäß ist die englische Version sehr verständlich, aber als Übersetzung erläutert sie manchmal zu viel. Ein Beispiel: »[. . .] denn körperlicher Besitz ist eine mammonistische Erfindung und wirkt nur trennend und entsinnend« (MoE, S. 483), ist wie folgt übersetzt: »[. . .] for physical possession is an invention of Mammon that in the end only disrupts the community and strips it of its meaning.«15 In der englischen Übersetzung ist es viel einfacher, die inhaltlichen Zusammenhänge zu verstehen, aber zu diesem Zweck wurde mit ›community‹ ein Wort eingefügt, das im Original nicht vorkommt, was ich in meiner Übersetzung vermeiden wollte. In der Anfangsphase, auf den ersten ca. 200 Seiten, benutzte ich die englische Version häufiger als Übersetzungsvorlage, bis ich merkte, dass durch diese erläuternde Übersetzung der Stil des Originals verlorengehen könnte. Danach verwendete ich sie nur zum besseren Verständnis, aber nicht mehr als Vorbild meiner Übersetzung. Die spezifische Herausforderung liegt jedoch in der Übersetzung von Begriffen wie ›Eigenschaften‹ oder Wendungen wie ›Seinesgleichen geschieht‹. Für ›Eigenschaften‹ fand ich das Wort ›Teuksung‹ (›besondere Eigenschaften‹) schon vor, ein neutraler und sogar naturwissenschaftlicher Begriff, der eigentlich nicht für Menschen und Tiere, sondern eher für Dinge verwendet wird. Diese Übersetzung leitet sich m. E. von der japanischen Übersetzung ab, denn im japanischen Titel des Mann ohne Eigenschaften wurde dasselbe chinesische Zeichen verwendet. Japanisch und Koreanisch verwenden teilweise chinesische Zeichen, die dieselbe Bedeutung haben, aber unterschiedlich ausgesprochen werden. Koreanische Übersetzer haben viele Wörter aus dem Japanischen übernommen. Es wurden übrigens eine Zeitlang deutsche Werke, z. B. diejenigen von Goethe, nicht direkt aus dem Deutschen, sondern aus dem Japanischen übersetzt. Ich konnte also die Übersetzung von ›Eigenschaften‹ im Titel nicht ändern, einerseits weil dieser Ausdruck sich schon fest eingebürgert hatte und andererseits weil es keine wirklich gute Alternative dazu gibt. Das in der englischen Übersetzung verwendete ›qualities‹ ist im Koreanischen nicht geeignet. Auf Koreanisch bezieht sich das dem englischen ›qualities‹ entsprechende Wort ›Sil‹, das nur im Singular verwendet 15

Robert Musil: The Man without Qualities. Übers. v. Sophie Wilkins u. Burton Pike. Bd. 1. New York 1995, S. 526.

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wird, auf den gesamten Wert eines Dinges oder einer Person. Die möglichen Alternativen wären ›Soksung‹ (›wesentliche Eigenschaften‹) und ›Sungkyuk‹ (›Charakter‹). Letzteres habe ich absichtlich vermieden, denn es gibt ein kurzes Prosastück im Nachlaß zu Lebzeiten mit dem Titel Ein Mensch ohne Charakter und zudem im Mann ohne Eigenschaften den Satz: »Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lächelnd eingestehen, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben« (MoE, S. 150). Bei ›Charakter‹ (›Sungkyuk‹) ist auch eine Nähe zum Theater und zur Literatur gegeben.16 Ich wollte aber den Unterschied zwischen Eigenschaft und Charakter nicht einebnen. Somit blieben also ›Soksung‹ und ›Teuksung‹ als Übersetzungsmöglichkeiten übrig. Dem Wörterbuch zufolge ist ›Soksung‹ allgemeiner als ›Teuksung‹, denn letzteres hat die Bedeutung von ›besondere Eigenschaften‹. ›Soksung‹ bezieht sich, wie bereits angedeutet, mehr auf das Wesen der Dinge. Daher erweist sich ›Teuksung‹ als die beste Übersetzung. ›Seinesgleichen‹ übersetzte ich zunächst im Sinne von ›Ähnliches‹, aber entschied mich am Ende für ›das Identische‹, indem ich mich hier mehr am Alltagsgebrauch des Koreanischen orientierte (auf Koreanisch bedeutet ›das Identische‹ in diesem Fall nicht ›das Dasselbe‹, sondern ›das Gleiche‹, also eine Übereinstimmung in bestimmten Merkmalen). Eine Stelle, bei der ich bis zum letzten Moment unschlüssig war, ist der Titel des ersten Kapitels: »Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht« (MoE, S. 9). Die Schwierigkeiten resultieren hier aus ›woraus‹ und ›hervorgeht‹. Ist ›woraus‹ auf das Kapitel bezogen? Was heißt ›hervorgeht‹? ›Sich entnehmen lassen‹ oder ›sich entwickeln‹? Denkt man an wichtige Informationen, die normalerweise aus dem ersten Kapitel hervorgehen, kann man die Überschrift folgenderweise übertragen: »Diesem Kapitel lässt sich bemerkenswerter Weise nichts entnehmen« (Fassung von 2009). Wenn man dagegen ›nichts‹ auf die weitere Entwicklung des Geschehens bezieht, lässt sich die Kapitelüberschrift auch so übersetzen: »Bemerkenswerter Weise entwickelt sich nichts weiter aus diesem Kapitel« (Endfassung von 2022). Ich habe mich am Ende für die letztere Version entschieden, fühlte ich mich doch durch den Satz von Calvino ermutigt: »Doch eine Lage, die sich zu Anfang eines Romans einstellt, verweist stets auf etwas anderes, das schon geschehen ist oder gleich geschehen wird.«17 Und die englische Übersetzung der Überschrift durch Wilkins und Pike »From which, remarkably enough, nothing develops«18 spricht auch dafür. Die dritte Herausforderung der Musil-Übersetzung liegt auf der Ebene der Sprache. Die Neubildungen, Doppeldeutigkeiten, Sprachspiele sowie das Wörtlichnehmen von Begriffen, wie sie Mario Wandruszka als Eigenheiten 16 17 18

Vgl. Peter Utz: Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007, S. 257 ff. Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Übers. v. Burkhart Kroeber. München 1983, S. 20. Musil: The Man without Qualities. Bd. 1 (Anm. 15), S. 3.

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von Musils Texten aufgezeigt hat, konnte ich nicht alle wiedergeben.19 Das liegt daran, dass sich meist in der Zielsprache kein Äquivalent finden lässt, wenn man gleichzeitig auch den Sinn beibehalten möchte. Zum Beispiel konnte ich für die Neubildung »Ingefühl« (MoE, S. 125) im Koreanischen kein Wort neu bilden, sondern musste sie erklärend als »das Gefühl, innen zu sein,« übersetzen. Ich konnte auch lautliche Zusammenklänge wie »wiegelnden und wühlenden« (MoE, S. 339), »Empfänglichkeit und Empfindlichkeit« (MoE, S. 764), »Keltern und Kellern« (MoE, S. 365), »weicheren und weiteren« (MoE, S. 663) auf Koreanisch nicht wiederholen, sondern nur den Sinn wiedergeben.20

4. Editionsfragen Zum Schluss möchte auf die äußere Form des von mir übersetzten und neulich erschienenen Mann ohne Eigenschaften eingehen. Es gab in einigen Punkten Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Verlag und mir. Die Übersetzung ist in fünf Bänden erschienen, wobei die Aufteilung des Textes auf fünf Bände ohne innere Notwendigkeit, sondern einfach auf Grund des Umfangs erfolgte, was ich nach wie vor als störend empfinde. Ich befürwortete eigentlich drei Bände. Die Übersetzung umfasst insgesamt 1752 Seiten und daher hat jeder der fünf Bände ca. 350 Seiten. Das ist zwar leserfreundlich ist, aber inhaltlich gesehen unangemessen. Neben der Leserfreundlichkeit steckt dahinter, so meine Vermutung, auch eine Verkaufsstrategie. Im September 2021 erschien der schon seit 2013 angekündigte dritte Band der unvollständigen Übersetzung von Byungryul Ahn. Daher war es wahrscheinlich die Überlegung des Verlages, dass die vollständige Übersetzung mehr als drei Bände haben sollte, eben um die Vollständigkeit zu betonen. Einen anderen auf die Aufteilung auf fünf Bände bezogenen Vorschlag seitens des Verlags konnte ich jedoch nicht akzeptieren, nämlich jedem Teilband einen eigenen Titel zu geben, was eigentlich unmöglich war, weil ja der Gesamttext ohne innere Notwendigkeit auf fünf Bände aufgeteilt wurde und vor allem weil man diese Bandtitel hätte erfinden müssen. Der Verlag stellte jedem Band eine Landkarte von Österreich-Ungarn sowie eine Liste der Hauptakteure voran, was mir als Musil-Forscherin nicht so willkommen war, aber doch akzeptabel erschien. Denn es ist leserfreundlich, wenn man den Schauplatz und die Figurenkonstellation klar vor Augen hat. Was mich dabei stört, ist aber, dass der Roman dadurch zu sehr als ein realistischer Geschichtsroman gelesen werden könnte, was Musil nicht wollte. 19 20

Vgl. Mario Wandruszka: Musils Sprache als Herausforderung, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil. Hg. v. Annette Daigger und Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 75–90. Vgl. ebd., S. 88.

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Der Verlag beabsichtigte auch, umfangreiche Absätze im Original in mehrere kurze aufzuteilen, was ich allerdings nicht akzeptieren konnte. Denn er hatte den Eindruck, dass einige Absätze zu lang und auch inhaltlich nicht passend gesetzt wären, und änderte dies, ohne mich gefragt zu haben, dementsprechend ab, was ich aber schließlich wieder rückgängig machen konnte. Diese Änderung wäre zwar ebenfalls leserfreundlich gewesen, war aber wissenschaftlich nicht akzeptabel, denn die ungewöhnlich langen Absätze von Musil sind eine Form, die den Inhalt widerspiegelt, in dem Sinne, dass Musil das zeitliche Nacheinander und die Kausalität in der Erzählung aufheben wollte. Mag meine Übersetzung stilistisch auch uneinheitlich sein und an der einen oder anderen Stelle auf unangemessenen Interpretationen beruhen, so bin ich dennoch zuversichtlich, dass Musil nach der Veröffentlichung der neuen koreanischen Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften intensiver rezipiert werden wird als bisher.

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Robert Musil in Armenien Robert Musil und sein Schaffen waren bis Mitte der 1980er Jahre dem armenischen Publikum kaum bekannt. Erst nachdem Der Mann ohne Eigenschaften 1984 in russischer Übersetzung herausgekommen war,1 hatte man in Sowjetarmenien die Gelegenheit, das Hauptwerk dieses Schriftstellers zu lesen. Den Diaspora-Armeniern waren der Name und das Werk Musils allerdings schon viel früher vertraut. Als Beispiel sei nur der armenische Philosoph Garbis Kortian genannt, der bereits seit den siebziger Jahren in europäischen Zeitschriften über Musil publizierte.2 Gemeinsam mit Nora Nercessian veröffentlichte er 1985 in der Zeitschrift Critique einen Beitrag, der Musils Essay Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films analysiert.3 Im Jahre 2000 untersuchte Kortian in der Zeitschrift Merkur die kunsttheoretische Problematik im Werk Musils mit Blick auf die Erfahrung von Differenz.4 Es ist keine leichte Aufgabe, Musil ins Armenische zu übersetzen und ihn in Armenien bekannt zu machen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion schrumpfte auf Grund der Auswanderung aus dem Land ab Anfang der 1990er Jahre – das betraf auch einen bedeutenden Teil der kreativen Intelligenz – der Kreis potentieller Leser für ein solches Werk erheblich. Als Schwierigkeit kommt hinzu, dass sich die ostarmenische Literatursprache in sowjetarmenischer Orthographie vom West- bzw. Diasporaarmenischen unterscheidet, und zwar auch in Grammatik und Lexik. Das Westarmenische wird heute vor allem von den Armeniern der Diaspora verwendet, welche das Ostarmenische allerdings ohne größere Schwierigkeiten lesen können. Die hohe Bedeutung der armenischen Schrift zeigt sich daran, dass die Armenier im Jahr 2005 weltweit das 1600-Jahr-Jubiläum der Erfindung der armenischen Schrift gefeiert haben. Auch wird in Armenien jährlich vom Staat und der Armenisch-Apostolischen Kirche ein Übersetzerfest organisiert. 1 2 3 4

Robert Musil: Čelovek bez svojstv. 2 Bde. Übersetzt von Salomon K. Apt. Moskva 1984. Vgl. Garbis Kortian: Le sens du possible, in: Critique. Revue générale des publications françaises et étrangères 34 (März 1978), H. 370, S. 302–323. Kortian bespricht in diesem Artikel zwei Bücher Arnold Gehlens und geht am Ende auf Musils Möglichkeitssinn ein. Garbis Kortian, Nora Nercessian: L’art moderne est-il si primitif?, in: Critique. Revue générale des publications françaises et étrangères, 40 (1985), H. 1, S. 321–330. Garbis Kortian: Das Kunstwerk und die Erfahrung der Differenz: Wider einen aktuellen Hang, das Andere der Kunst mit Mystik zu verwechseln, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 54 (2000), H. 12, S. 1163–1171.

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Vor diesem kulturellen Hintergrund war es für mich eine besonders große Herausforderung, Musil ins Armenische zu übertragen. Oft kämpfte ich mit komplizierten Satzgefügen und Schachtelsätzen, mit Adverbialbestimmungen, die in ungewöhnlicher Weise voran- oder nachgestellt sind, mit der Wiedergabe von Sprachspielen und Denkexperimenten. Überraschende Metaphern, komplexe Psychogramme der Figuren, Szenen voller Spannung und dann wiederum solche, die von tiefer Traurigkeit geprägt sind, intensive Emotionalität gleich neben der Präzision philosophischer Analysen verlangen dem Übersetzer viel ab. Wenn sich mir beim Übersetzen Musils die Feinheiten einer fremden Sprache erschlossen haben, so ist diese Arbeit gleichzeitig auch immer eine Begegnung mit der eigenen Sprache, zumal ich mich bemüht habe, auch den kargen Szenen und den Randfiguren Dramatik und Leuchtkraft zu verleihen. Übersetzen ist für mich eine Entdeckungsreise durch die Labyrinthe zweier Sprachen, wodurch ich die Reichhaltigkeit der verborgenen Schätze sowohl des Deutschen als auch des Armenischen kennenlernen durfte. Musil zu übersetzen ist in meinen Augen eine schöpferische Arbeit, die Kreativität und künstlerische Motivation erfordert. Man braucht Erfindungsgabe und muss zugleich darauf achten, dass man sich beim Jonglieren mit den Worten nicht allzu weit vom Original entfernt. Versucht man aber die Authentizität des Originals zu bewahren, so kann es leicht geschehen, dass grammatische und stilistische Regeln verletzt werden. Beim Übersetzen konnte ich die Erfahrung machen, die Musil selbst an einer Stelle seines Mann ohne Eigenschaften anspricht, dass nämlich beim Übersetzen »einiges neu hinzukommt und einiges verlorengeht« (MoE, S. 1166). Zumindest kurz möchte ich auf ein paar Schwierigkeiten der Übersetzung hinweisen, die in ähnlicher Form auch in anderen Zielsprachen auftreten. Ein Problem stellt die Nicht-Äquivalenz von Ausgangs- und Zielsprache bei Wortfamilien dar: Es gibt »Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und andere[ ] Gabeln« (MoE, S. 1173). Während im Deutschen alle Komposita dasselbe Grundwort ›Gabel‹ aufweisen, gibt es eine solche Wortfamilie im Armenischen nicht, weshalb in der Übersetzung die entsprechenden Wortkombinationen sich aus verschiedenen Substantiven zusammensetzen.5 Auch Begriffe, die für Musil zentral sind wie ›Gleichnis‹, sind oft nur schwer in andere Sprachen zu übertragen. Sein Zwiespalt war ein anderer und gerade der, daß er nichts unterdrückte und dabei sehen mußte, daß ihn aus dem Bild eines Mörders nicht Fremderes anblickte als aus anderen Bildern der Welt, die alle so waren wie seine eigenen alten Bilder: halb gewordener Sinn, halb wieder hervorquellender Unsinn! Ein entsprungenes Gleichnis der Ordnung: das war Moosbrugger für ihn! (MoE, S. 653) 5

Mit solchen »Grenzen der Übersetzbarkeit« befasst sich Mario Wandruszka in seinem Aufsatz: Musils Sprache als Herausforderung, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil. Hg. v. Annette Daigger u. Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 75–90, hier S. 89.

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Bevor ich auf den Begriff ›Gleichnis‹ eingehe, will ich kurz auf das dreifache Auftauchen des Wortes ›Bild‹ aufmerksam machen. Peter Utz hat gezeigt hat, dass »die wenig randscharfe[n] ›Bilder‹« des Originals in den Übersetzungen noch weiter »verwackeln«:6 Eithne Wilkins und Ernst Kaiser übersetzen drei Mal mit »image[s]«, Sophie Wilkins und Burton Pike mit »image«, »pictures« und »image«, Philippe Jaccottet mit »image«, »les autres [images]« und »photographies«. Ich bin davon ausgegangen, dass Musil in dieser Textpassage jeweils drei verschiedene Bedeutungsaspekte anvisierte, die alle im deutschen Wort ›Bild‹ enthalten sind. Daher habe ich das Wort ›Bild‹ in drei armenische Begriffe aufgefächert (›patker‹, ›nkarner‹ und ›patkerankarner‹), um so die mentalen, materiellen und reflexiven Dimensionen des Begriffs ›Bild‹ zu beleuchten. Übrigens wird auch in der russischen Übersetzung von Salomon Apt an dieser Stelle des Mann ohne Eigenschaften ›Bild‹ durch Wörter dreier verschiedener Wortstämme übersetzt: ›portret‹, ›kartinj‹, ›fotografii‹.7 Nun aber, wie angekündigt, zu dem für Musil zentralen Begriff des ›Gleichnisses‹: Hier übersetzen, wie Utz anhand der oben zitierten Textpassage zeigt,8 Jaccottet wie auch Wilkins/Kaiser und Wilkins/Pike einheitlich mit »métaphore« bzw. »metaphor«. Anders verhält es sich beim folgenden Satz: »[E]s ist doch wirklich so, daß ein Mensch, auch nüchtern betrachtet, für den anderen nicht viel mehr bedeutet als eine Reihe Gleichnisse« (MoE, S. 580). Wilkins/Kaiser übersetzen hier »Gleichnisse« mit »symbols«, was – so Utz – die »Referenz auf eine Außenwelt impliziert«; Wilkins/Pike wählen hingegen »similes« und Jaccottet »comparaison«.9 Apt verwendet in seiner russischen Übersetzung das Wort »sravnenija«, was ebenfalls ›Vergleiche‹ bedeutet.10 Meines Erachtens geht es beim ›Gleichnis‹ eher um eine andere Bedeutung, um etwas sich von seinem Kontext Abhebendes und durch seine Bedeutung Hervortretendes – deswegen kann Musil auch von einem »entsprungene[n]« Gleichnis sprechen (MoE, S. 653). Und daher finde ich den armenischen Begriff für ›Allegorie‹ (›aylabanut‘yun‹, ›aylasac‘ut‘yun‹) als Übersetzung angemessener, wobei ich auch an den altgriechischen Ursprung des Begriffs ›Allegorie‹ denke, der sich aus den Worten ›állos‹ und ›agoreúo‹ zusammensetzt (›anders sagen‹). Es geht also weniger um ein Vergleichen, sondern darum, etwas anders zu sagen. Dass der Protagonist einer Vorfassung des Romans Anders heißt, weist auch in diese Richtung. Die Unterscheidungen, die eine Sprache trifft, stimmen oft mit denen einer anderen Sprache nicht überein, sodass die Begriffe verschiedener Sprachen einander inhaltlich nie zur Gänze entsprechen. Nehmen wir das für Musil zen6 7 8 9 10

Peter Utz: Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007, S. 270. Musil: Čelovek bez svojstv. Bd. 1 (Anm. 1), S. 731. Vgl. Utz: Anders gesagt (Anm. 6), S. 269 f. Ebd., S. 277. Musil: Čelovek bez svojstv. Bd. 1 (Anm. 1), S. 652.

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trale deutsche Wortpaar ›Geist‹ und ›Seele‹,11 das im Armenischen meist mit den Worten ›ogi‹ und ›hogi‹ übersetzt wird. Beide sind verbunden mit dem altarmenischen Wurzelwort ›hagag‹, das ›Hauch‹ oder ›Atem‹ bedeutet und ein Synonym für das Wort ›šunč‘‹ ist, das auch in ›Hauch Gottes‹ auftaucht, womit im Armenischen die Heilige Schrift gemeint ist. Und obwohl die beiden armenischen Wörter im Grunde ihren deutschen Äquivalenten entsprechen, eignet sich in manchen Fällen das Wort ›mit‹ (Pl.: ›mitk‘‹) – das Äquivalent des englischen ›mind‹ – besser als Übersetzung des deutschen Wortes ›Geist‹ in der Bedeutung von Gesinnung, Art des Denkens, Geistes- und Grundhaltung. Der armenische ›mit‹ hat seinen Ursprung in der indogermanischen *medWurzel (vgl. das altgriechische ›médos‹ für ›Ratschlag‹ bzw. ›Absicht‹ und das lateinische ›meditari‹) und entspricht oft auch den deutschen Wörtern ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹. Man muss also von Fall zu Fall unterscheiden, welches armenische Wort man für ›Geist‹ verwenden will. Die Bedeutung dieses Wortes steht im Deutschen – das zeigen Musils Reflexionen etwa im Kapitel 40 des Romans12 – ebenso wenig fest wie die Bedeutung von ›ogi‹ im Armenischen. Im zweiten Teil dieses Beitrags möchte ich mich den Übersetzungen Musils und seiner Rezeption in Armenien widmen. Leider gibt es außer mir bis jetzt in Armenien niemanden, der Musils Werke in die armenische Sprache übersetzt. Bisher konnten folgende Werke veröffentlicht werden, wobei ich für alle Bände immer auch ein Vor- oder Nachwort verfasst habe: Drei Frauen, Nachlass zu Lebzeiten (Auszüge). Jerewan 1994 (Naïri Verlag, 152 Seiten). Ausgewählte Werke. Jerewan 2005 (Naïri Verlag, 520 Seiten; dieser Band enthält Vereinigungen, Drei Frauen, ausgewählte Essays und Reden sowie Auszüge aus den Tagebüchern). Der Mann ohne Eigenschaften (Auszüge). Jerewan 2007 (ArtGrak Verlag, 180 Seiten). Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Jerewan 2009 (Hayastan Verlag, 220 Seiten). Der Mann ohne Eigenschaften, 1. Band. Jerewan 2017 (Antares Verlag, 590 Seiten). Der Mann ohne Eigenschaften, 2. Band. Jerewan 2017 (Antares Verlag, 610 Seiten). Die Schwärmer. Jerewan 2019 (erschienen in der Internet Zeitschrift TatronDrama.am, http://tatron-drama.am/archives/1822; das Drama wird demnächst im Verlag Antares veröffentlicht werden). 11 12

Vgl. Philip Payne: Die Übersetzung ins Englische von Musils Begriffen ›Moral‹, ›Ethik‹, ›Seele‹ und ›Geist‹, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil (Anm. 5), S. 153– 162. Vgl. Fred Lönker: Probleme des Fremden in der literarischen Übersetzung, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil (Anm. 5), S. 57–73, hier S. 65 ff.

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Nachlass zu Lebzeiten. Jerewan 2020 (Kyurkchyan Verlag, 190 Seiten). Fünf Frauen. Jerewan 2020 (Antares Verlag, 300 Seiten; unter diesem Titel wurden die Übersetzungen von Vereinigungen und Drei Frauen in überarbeiteter Form neu aufgelegt). Es gibt weitere Texte Musils, die in naher Zukunft veröffentlicht werden sollen, nämlich ein Band mit ausgewählten Essays und Reden, ein Band mit Auszügen aus den Tagebüchern, das Drama Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer und der Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. Auch der dritte Teil des Mann ohne Eigenschaften, erweitert um etliche Kapitel aus dem Nachlass wie z. B. »Die Reise ins Paradies«, die »Skizze zu ›Gartenfest‹« und »Eine Einschaltung über Kakanien. Der Herd des Weltkriegs ist auch der Geburtsort des Dichters Feuermaul«, soll bald publiziert werden. Musil ist in Armenien auch in Anthologien vertreten, die Texte der europäischen und der Weltliteratur versammeln: Lyrik aus Frankreich, Deutschland und Österreich. Jerewan 2010 (Hayastan/ Grakan Hayrenik Verlag). Österreichische Prosa. Jerewan 2014 (Antares Verlag, 380 Seiten; der Band enthält auf den Seiten 155 bis 317 Die Amsel und Auszüge aus dem Mann ohne Eigenschaften). Geschichten über die Künstler. Jerewan 2018 (Matean Verlag; der Band enthält auf den Seiten 3 bis 14 Musils Fragment B. L. und M. B., vgl. Tb I, S. 64–70). Psychographie. Die Dichtung des europäischen Modernismus. Die erste Hälfte des XX . Jahrhunderts (1896–1950). Ausgewählte Texte mit literarischen Autorenporträts. Jerewan 2021 (Antares Verlag, 380 Seiten). Vom Schrecken des Stürzens. Europäische Prosa des XX . Jahrhunderts. Jerewan 2022 (Antares Verlag, ca. 360 Seiten; der Band enthält auf den Seiten 9 bis 34 Ausschnitte aus den Tagebüchern Musils). Musil ist in letzter Zeit auch in armenischsprachigen Zeitschriften sehr stark präsent. Einige von mir übersetzte Texte sind in der bekanntesten und beliebtesten Zeitschrift Armeniens Garun (Frühling), in den rein literarischen Zeitschriften Nor Dar (Das Neue Jahrhundert) und Astghik (Sternchen, gleichzeitig aber der Name einer Göttin) sowie in den Zeitschriften Auslandsliteratur, Literaturzeitung, Narziss, Andin (Jenseits), Granish (Schriftzeichen) erschienen. Erwähnungen Musils finden sich auch in der mehrheitlich parteipolitisch gefärbten Medienlandschaft Armeniens, sowie in Veröffentlichungen, die sich mit aktueller Politik beschäftigen, zum Beispiel in der wissenschaftlichen Publikationsreihe Viewpoints from Yerewan des Armenischen Zentrums für Nationale und Internationale Studien. Angesichts der Größe der armenischsprachigen Leserschaft in der Welt, die etwa auf zehn Millionen geschätzt wird, ist die Auflage von 1000 bis 2000

Robert Musil in Armenien

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Exemplaren, die von Büchern Musils gedruckt werden, vielleicht nicht allzu hoch. Allerdings liegen die meisten Hauptwerke Musils bereits übersetzt vor und sind dem armenischen Leser daher schon bekannt. Die Reaktionen auf die Veröffentlichungen sind sehr unterschiedlich, sie reichen von höchstem Lob und Begeisterung bis zur Kritik, dass der Autor manchmal langatmig, langweilig und kompliziert sei – eine Reaktion, die aber auch außerhalb Armeniens verbreitet ist. In der zeitgenössischen armenischen Literatur gibt es übrigens auch Versuche, sich an Musils Schreibstil, an seinem poetischen Verfahren oder seinen Ideen orientieren. Zu diesen Autoren zählt etwa der 1983 geborene Aram Patschjan. Er interessiert sich für die analytischen, philosophischen Dimensionen der Literatur, die in der armenischen Literatur weitgehend – bis auf wenige Ausnahmen wie Kostan Zaryan (1885–1969) – fehlen. Ich würde Musils sprachliche Verfahren und seinen Schreibstil auch mit der Arbeit des bedeutenden Schriftstellers der armenischen Diaspora Hakob Oshakan vergleichen, der 1883 in Bursa (Osmanisches Reich) geboren wurde und 1948 in Aleppo (Syrien) starb. Musil und seine Sprachphilosophie sind auch in meinen eigenen literarischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten präsent, insbesondere in: Pataphysik. Essays und Gedichte (2012), Buch der Lieder. Essays und Gedichte (2013), Erfahrungen und Experimente. Essays und Kleine Prosa (2014) und Parallelwelten (2021). Die erste Phase der ›Armenisierung‹ Musils kann man als abgeschlossen betrachten. Ein Meilenstein dieser Phase war die Veröffentlichung der Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften im Jahr 2017; für diese erste Phase war es aber auch wichtig, das armenische Publikum in Musils Werk einzuführen, worum ich mich mit meiner umfangreichen Monographie Robert Musils literarisch-philosophisches Konzept: Auf der Suche nach der neueren Ästhetik bemüht habe, die 2009 im Verlag Van Aryan erschienen ist. Nun befinden wir uns in der zweiten Phase, deren Aufgabe es ist, das Werk und die Gedankenwelt Musils neu zu interpretieren. In dieser Phase ist es wichtig, Übersetzungen zu überarbeiten oder auch Musil neu zu übersetzen sowie seine Werke im Licht neuer Forschungen zu präsentieren. Die Erzählungen Drei Frauen und Vereinigungen (auf Armenisch erstmals 1994 bzw. 2005 erschienen) sind im Jahr 2020 neu aufgelegt bzw. in überarbeiteter Form veröffentlicht worden sind. Endlich ist 2020 auch der Nachlaß zu Lebzeiten in seiner Gesamtheit erschienen; Auszüge daraus waren bereits 1994 publiziert worden. Die armenischen Leser warten noch auf die oben erwähnte Ausgabe des dritten Bands des Mann ohne Eigenschaften, die auch größere Teile aus dem Nachlass enthalten wird. Das Erscheinen dieser Ausgabe ist für das Jahr 2023 geplant. In meiner Monographie zu Musil interpretierte ich dessen Werk als den Versuch, das metaphysische Denken zu überwinden. Ich stellte Bezüge zu Friedrich Nietzsche, Ernst Mach und Ludwig Wittgenstein her, sowie zu Leibniz und Descartes, versuchte für das armenische Publikum auch Verbin-

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Ashot Alexanian

dungslinien zur armenischen Mystik zu ziehen, z. B. zu Grigor Narekac‘i (Gregor von Narek), der um das Jahr 1000 sein Hauptwerk, das aus 10 000 Versen bestehende Buch der Klagelieder, verfasste. Da Musil das »Heimatgebiet des Dichters« (GW II, S. 1029) als jenes beschreibt, in dem die »Ausnahmen über die Regel« (ebd., S. 1028) herrschen, unternahm ich den Versuch, Parallelen zwischen Musil und den pataphysischen Schriftstellern zu ziehen. Um die Kenntnis Musils in Armenien voranzutreiben, publizierte ich neben meiner Monographie über dreißig Artikel zu seinem Werk in der armenischen Presse sowie in literaturwissenschaftlichen Zeitschriften. Zudem nahm ich in meine oben erwähnten literarischen Bücher immer Auszüge aus den Werken Musils und Kommentare zu seinen Texten auf. In den von mir verfassten Vor- und Nachworten zu Übersetzungen anderer Autoren wie Gustave Le Bon, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Robert Walser, Gottfried Benn, Albert Camus und Boris Vian habe ich zuweilen auf Musil verwiesen, sofern sich interessante Querverbindungen herstellen ließen. Im Jahr 2021 erschien mein Buch Jeghische Tscharenz und die europäische literarische Tradition. Darin unternahm ich den Versuch, Parallelen zwischen dem Roman Das Land Naïri (1922–1926) des armenischen Schriftstellers Jeghische Tscharenz (Ełiše Č‘arenc‘), der 1937 im Zuge des großen Terrors ums Leben kam, und dem Mann ohne Eigenschaften zu ziehen. Beide Romane entstanden vor dem Hintergrund des Zerfalls von Reichen, im einen Fall des österreichisch-ungarischen, im anderen des osmanischen und des Zarenreichs. In beiden Romanen wurden die Länder – Kakanien und Naïri – mit Namen belegt, bei denen Ironie mitschwingt. Die Zeitzeugen Musil und Tscharenz haben den Ersten Weltkrieg nicht nur als Zusammenbruch empfunden, sondern als eine Art Übergangsstadium, das vom Untergang des Alten zu einer noch nicht bekannten, neu entstehenden Welt führen könnte. Die Geschichte hat aber einen anderen Weg genommen. Meine intensive Beschäftigung mit Musil führte dazu, dass ich seit Längerem auch die Arbeit von anderen Übersetzern verfolge, die sich in meiner Region – Georgien, Iran, Russland, Ukraine – seinem Werk gewidmet haben. Eine Übersetzung von Musils Hauptwerk schätze ich ganz besonders, nämlich die französische von Philippe Jaccottet, weshalb ich begann, mich auch mit den Dichtungen Jaccottets zu befassen. Im Jahr 2020 – ein Jahr vor seinem Tod – konnte ich eine Sammlung ausgewählter Gedichte dieses Übersetzers und Dichters auf Armenisch vorlegen.

Maja Badridse

Musil übersetzen – aber wie? Überlegungen zur Übertragung des Mann ohne Eigenschaften ins Georgische Bevor ich im Folgenden von meinen Erfahrungen als Übersetzerin Robert Musils berichte, möchte ich das Augenmerk auf jene grammatischen, vor allem syntaktischen Unterschiede lenken, die zu spezifischen Schwierigkeiten beim Übersetzen vom Deutschen ins Georgische führen. Dazu gehört es auch, Interferenzen nach Möglichkeit zu vermeiden.1 Für mich als Übersetzerin sind bei der sprachlichen Interferenz vor allem zwei Aspekte wesentlich: Einerseits tendiert man als Übersetzer dazu, unübliche, fremde Formen in die Zielsprache einzuführen, und andererseits äußert sich die Interferenz darin, dass man in der eigenen Sprache Formen vernachlässigt, die in der Sprache des Ausgangstexts keine Entsprechung haben können, die aber in der Zielsprache stilistisch von großer Bedeutung sind. Interferenz spielt besonders dann eine Rolle, wenn es in zwei Sprachen zwar Formen gibt, die auf der grammatischen Ebene dieselbe Funktion haben, sich auf der stilistischen Ebene aber unterscheiden, weshalb sie aus der Sicht des Übersetzers nicht als völlig gleichwertig betrachtet werden können. Zu berücksichtigen ist auch die Dimension der Häufigkeit. Dies gilt besonders für syntaktische Formen, denn sie weisen selten – anders als lexikalische Elemente – eine eigene stilistische Färbung auf. Das stilistische Potenzial syntaktischer Formen wird hauptsächlich durch die Häufigkeit ihrer Anwendung bestimmt.2 Als Beispiel dafür lassen sich die Passivkonstruktionen anführen, die in beiden Sprachen als grammatische Formen möglich sind. Im Georgischen kommen sie aber viel seltener vor, weshalb ihnen ein anderer stilistischer Wert zukommt als im Deutschen. 1

2

Zum Begriff der Interferenz vgl. Sigrid Kupsch-Losereit: Interferenz in der Übersetzung, in: Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Bd. 1. Hg. v. Harald Kittel u. a. Berlin, New York 2004, S. 543–550. Sigrid Kupsch-Losereit versteht aus translationswissenschaftlicher Perspektive unter dem Begriff der Interferenz die Projektion von Merkmalen der Ausgangssprache in die Zielsprache. Auch in lexikalisch und grammatisch völlig korrekten Sätzen lassen sich Interferenzen auffinden, weil sich die kommunikativen Wirkungen von vergleichbaren grammatischen und anderen sprachlichen Strukturen in den beiden Sprachen unterscheiden. Die translatorische Interferenz bewegt sich im »Spannungsfeld zwischen Normverletzung, Fehlleistung und sprachbereichernder Innovation« (ebd., S. 549). Vgl. Cathrine Fabricius-Hansen: Übersetzung und Stil. Am Beispiel Musil, in: Linguistik und Literaturübersetzen. Hg. v. Rudi Keller. Tübingen 1997, S. 61–78, hier S. 63.

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Ausgehend von diesen Überlegungen versuche ich an einigen Beispielen die stilistischen Besonderheiten von grammatischen Formen und Konstruktionen in den beiden Sprachen miteinander zu vergleichen, um so einen Eindruck zu vermitteln von den Problemen, die bei der Übersetzung vom Deutschen ins Georgische am häufigsten auftreten. Gleichzeitig spreche ich damit auch jene Probleme an, die mich bei meiner Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften immer wieder beschäftigt haben. Das Nomen hat im Deutschen bekanntlich drei grammatische Kategorien: Numerus, Kasus, Genus. Eine Besonderheit der georgischen Sprache ist das Fehlen des grammatischen Geschlechts. Das gilt nicht nur für das Nomen, sondern auch für das Pronomen. Zudem kennt das Georgische weder einen bestimmten noch einen unbestimmten Artikel. Dessen Funktionen werden im Georgischen durch andere sprachliche Mittel wiedergegeben. Das Fehlen des grammatischen Geschlechts beschränkt in der georgischen Sprache die Möglichkeit, ein Nomen durch ein Pronomen zu ersetzen. Wenn man beispielsweise in einem deutschen Text ›die Frau‹ oder ›der Mann‹ durch die Pronomen ›sie‹ oder ›er‹ ersetzt, dann lässt sich dies nicht einfach ins Georgische zu übertragen. Denn der Informationsgehalt eines Pronomens, das im Deutschen notwendigerweise verwendet werden muss, ist im Georgischen schon im Verb enthalten. Wenn man daher das Pronomen im Georgischen eigens setzt, dann kommt ihm ein anderer Wert zu als im Deutschen und es können sich Atmosphäre, Stimmung oder Gepräge des Satzes ändern. Im Georgischen kann das Pronomen dem Bezugswort beispielsweise eine herabsetzende Färbung verleihen; es kann allerdings auch besondere stilistische Aufgaben übernehmen, etwa wenn es als Pronomen der dritten Person in der erlebten Rede eingesetzt wird. Daher kann man dem Ausgangstext nicht gerecht werden, wenn man alle deutschen Pronomen auch in der georgischen Übersetzung wiedergibt. Anhand des folgenden Zitats kann ich kurz schildern, wie ich in meiner Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften mit Pronomen umgegangen bin: So kam Stumm zu zwei herrlichen Jahren an der Generalsstabschule in der Hauptstadt. Er ließ dort auch geistig die Schärfe vermissen, die man zum Reiten braucht, aber er machte alle Militärkonzerte mit, besuchte die Museen und sammelte Theaterzettel. Er faßte den Plan, zum Zivil überzutreten, aber er wußte nicht, wie er ihn durchführen solle. (MoE, S. 343)

In der georgischen Übersetzung taucht der Name ›Stumm‹ im ersten und im zweiten Satz auf. Die darauffolgenden Sätze enthalten kein Pronomen wie im Deutschen (›er‹), da das georgische Verb, wie dargelegt, die auszudrückende Information bereits enthält und das Pronomen in diesem konkreten Fall dem Satz eine unerwünschte Formalität und Steifheit verliehen hätte. Was als notwendiger Bestandteil eines deutschen Satzes auftritt, kann also im Georgischen entweder als stilistischer Mangel aufgefasst werden oder dem Text

Musil übersetzen – aber wie?

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eine Färbung verleihen, die dem Original nicht entspricht. Dies gilt auch in einem umfassenderen Sinn: Jene sprachlichen Erscheinungen, die sich aus der besonderen Sprachstruktur des Deutschen ergeben, dürfen nicht unbesehen ins Georgische übertragen werden, selbst wenn äquivalente grammatische Strukturen vorhanden sind, denn ihnen könnte im Georgischen eine besondere, im Ausgangstext fehlende stilistische Funktion zukommen. Zu den Struktureigenschaften einer Sprache gehört auch die Frage, ob das Verb oder das Nomen dominiert. Verben werden im Georgischen wesentlich häufiger verwendet als im Deutschen, sodass das Georgische im Vergleich zum Deutschen als dynamischer bezeichnet werden kann. Außer dem Subjekt können auch das pronominale Dativ- oder Akkusativobjekt dem Verbalkörper einverleibt werden. Zudem können an die Verbalwurzel Ketten von Präund Suffixen angehängt werden, die verschiedene Funktionen haben. Im Übrigen bevorzugt das Georgische Aktiv- gegenüber Passivkonstruktionen. Ein Beispiel dafür wäre die Übersetzung folgender Passage: Seine Lieblingsgeschichte war aber die bekannte Affäre, wie Goethe, obgleich er heimlich mit ihm sympathisierte, den armen Johann Gottlieb Fichte im Stich ließ, als er in Jena als Philosophieprofessor gemaßregelt wurde [. . .]. (MoE, S. 433)

Im Georgischen würde an dieser Stelle eine Passivkonstruktion zu formell und künstlich wirken, eventuell auch an einen Sachtext erinnern. Die Passivkonstruktion markiert Distanz, was im Grunde zwar im Allgemeinen ihre Funktion ist, aber im Georgischen wirkt diese Distanzierung noch stärker und könnte womöglich auch übertrieben empfunden werden. Man muss also im konkreten Fall eine Aktivkonstruktion wählen, die sich so ins Deutsche zurückübersetzen ließe: ›als man ihn in Jena als Philosophieprofessor maßregelte.‹ Eines der grundlegenden Probleme, vor denen jeder literarische Übersetzer steht, ist die Frage, ob der Stil eines Autors übernommen werden soll und wie das zu bewerkstelligen ist. Mir drängte sich beim Übersetzen die Frage auf, was die Magie von Musils Stil, seine bestrickende, manchmal hypnotische Wirkung ausmacht. Es geht dabei nicht um die Übertragung einzelner Wörter; die Herausforderung besteht vielmehr in der Wiedergabe der Stimmung und des Ausdrucks des Originaltextes, die genauso zum Werk beitragen wie der Inhalt und die den Gesamteindruck des Texts mitbestimmen. Musils Stil verdankt sich u. a. einer verschachtelten Syntax, die geschickt Parataxe und Hypotaxe kombiniert.3 Beispiele für die enorm umfangreichen Satzperioden gibt es zuhauf. Die weit gespannte Trennung zwischen Satzgliedern, deren gegenseitige Abhängigkeit im Georgischen eine syntaktische Nähe verlangen würde, führt dazu, dass man in der Übersetzung die Reihung der Syntagmen neu ordnen und das beinahe schon vergessene Bezugswort wiederholen muss. 3

Vgl. Richard Reichensperger: Musils Sprachstil. Ein Forschungsbericht 1953–1993, in: Sprachkunst 25 (1994), H. 1, S. 155–257, hier S. 194–198.

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Charakteristisch für die deutsche Sprache ist es, dass das Subjekt vom finiten Verb durch eine Überfülle von Relativsätzen, von denen ihrerseits wieder andere Sätze abhängen, getrennt werden kann. Ein Paradebeispiel wäre folgende Textpassage, in der sich zwischen das Subjekt ›Menschen‹ und das Prädikat ›überlassen‹ mehrere Zeilen schieben. Es ist ein Bild des Lebens, das der Gerichtssaal bei dieser Gelegenheit bot, denn alle die lebhaften Menschen des Lebens, die es gänzlich unmöglich fänden, einen Kraftwagen zu benützen, der älter als fünf Jahre ist, oder eine Krankheit nach den Grundsätzen behandeln zu lassen, die vor zehn Jahren die besten waren, die überdies ihre ganze Zeit freiwillig-unfreiwillig der Förderung solcher Erfindungen widmen und davon eingenommen sind, alles zu rationalisieren, was in ihren Bereich kommt, überlassen die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens, kurz alle Fragen der Humanität, soweit sie nicht geschäftliche Beteiligung daran haben, am liebsten ihren Frauen, und solange diese noch nicht ganz dazu genügen, einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebens in tausendjährigen Wendungen erzählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, daß man es auch anders machen könnte. (MoE, S. 248).

Da die georgische Syntax eine solchen Abstand zwischen Subjekt und Prädikat kaum verträgt, muss man den Satz unterteilen und auch dort Punkte setzen, wo dies der Autor nicht getan hat. So ergaben sich in meiner Übersetzung aus dem einen Satz Musils im Georgischen drei Sätze. Auch Partizipialkonstruktionen, die aus einem Partizip I oder Partizip II und deren Ergänzungen bestehen, kommen bei Musil häufig vor. Es war noch viel zwischen ihr und ihm in den Wochen vor seinem Verschwinden geschehn; ohne Walter und unter eifersüchtiger Teilnahme Walters, Walter verdrängend, Walter anspornend und hochtreibend [. . .]. (MoE, S. 441)

In diesem Satz kann im Georgischen die deutsche Struktur beibehalten werden, da in diesem speziellen Fall die Präsenspartizipien Entsprechungen im Georgischen haben. Allerdings kann man im Georgischen nicht von jedem Verb Formen bilden, die den deutschen Partizipien entsprechen. In diesen Fällen muss man andere grammatische Formen wählen, wie etwa die Ersetzung des Partizips durch eine finite Verbform. Auch die Nominalphrasen belegen die oben angesprochene Dominanz des Nomen im Deutschen; wenn sie durch Partizipial- und Adjektivattribute erweitert sind, lassen sich nicht so leicht ins Georgische übertragen.4 Bei der Wendung »[. . .] die von der Brille befreiten, kurzsichtigen Augen blickten märtyrerhaft in die Weite« (MoE, S. 1051) habe ich daher die Nominalphrase in einen Nebensatz aufgelöst, der sich so ins Deutsche zurückübersetzen ließe: ›[. . .] wenn er die Brille ablegte‹. 4

Vgl. Fabricius-Hansen: Übersetzung und Stil (Anm. 2), S. 65–70.

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Eine besondere Herausforderung bei der Übersetzung Musils stellt die Ironie dar,5 wobei es schwieriger ist, die ironische Erzählhaltung, die ›konstruktive Ironie‹ Musils in der Zielsprache zu bewahren, als jene Passagen zu übersetzen, in denen sich die Ironie mit satirischen Elementen verbindet. Letzteres häuft sich vor allem im Kontext der Parallelaktion, etwa beim Vorschlag eines Fußballvereins, »seinem Rechtsaußen den Professortitel zu verleihen, um die Wichtigkeit der neuzeitlichen Körperkultur zu dokumentieren« (MoE, S. 349). Diese satirische Ironie manifestiert sich oft darin, dass aus unterschiedlichen Bereichen stammende Begriffe in unkonventioneller Weise kombiniert werden, etwa wenn der Erzähler der Stirn eines fünfzigjährigen Kanzleioberoffizials, der das Kurzschriftsystem »Öhl« präsentiert, das »Leuchten von Märtyrerstirnen« (MoE, S. 349) attestiert. In diesem Beitrag habe ich mich vor allem den unterschiedlichen Struktureigenschaften des Deutschen und des Georgischen gewidmet. Diese zwingen den Übersetzer oft dazu, Veränderungen in der Syntax vorzunehmen – z. B. Passiv- durch Aktivkonstruktionen zu ersetzen –, um nicht stilistische Wirkungen zu erzielen, die dem Ausgangstext gar nicht zukommen. Abgesehen von diesen Abweichungen, die sich den Differenzen in der Sprachstruktur verdanken, sollte der Stil – etwa der ironische Grundton – eines Textes beibehalten, in der Zielsprache neu belebt oder eventuell erst neu etabliert werden. Als Aufgabe einer literarischen Übersetzung ließe sich also die Rekonstruktion eines Textes in einer fremden Sprache und einer fremden Kultur bestimmen. Welche Wirkung kann eine solche Rekonstruktion entfalten? Die Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften ist 2008 und 2011 im Diogenes-Verlag in einer Auflage von jeweils tausend Exemplaren erschienen.6 Mit dem großen Erfolg, den der Roman in Georgien vor allem unter Studenten erzielte, haben wir zunächst nicht gerechnet. Meinen Informationen zufolge sind viele Exemplare auch nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz gelangt, denn manche meiner Landsleute sind froh, diesen Text in der Muttersprache lesen zu können. Die Übersetzung dieses Romans kann auch als eine Bereicherung der georgischen Sprache begriffen werden. Über siebzig Jahre gehörte Georgien zum Sowjetimperium. Das Leben in einem totalitären Staat hinterlässt im Bewusstsein der Menschen tiefe Spuren. Man ist gleichsam von der Welt abgeschnitten, da man in einer von der Partei gesteuerten und durch ihre Ideologie gelenkten Gesellschaft lebt, in der Differenzierungen nivelliert werden. Nicht nur Wissenschaft und Kultur sind dem Diktat der Parteiideologie unterworfen. Es kommt auch zu einer Sprachverarmung, da der sprachliche Ausdruck bestimmter Ideen oder auch Gefühle nicht erlaubt ist. So entstehen in der Sprache gleichsam Lücken, die durch Übersetzungen aufgefüllt werden können. Das ist mir besonders bei der Übersetzung 5 6

Vgl. Reichensperger: Musils Sprachstil (Anm. 3), S. 189–194. Robert Musil: Utwisebo kaci. 2 Bde. Übers. v. Maja Badridse. Tbilissi 2008 u. 2011. Diese Übersetzung wurde von Kulturkontakt Austria gefördert.

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psychoanalytischer Texte deutlich geworden. Die Psychoanalyse, die sich mit unbewussten Konflikten befasst, die sich der Aufklärung des Menschen über sich selbst und über die Gesellschaft verschrieben hat, wird von totalitären Staaten, in denen nicht das Individuum, sondern das Kollektiv im Zentrum steht, als Gefahr empfunden. Daher gab es bei der Übersetzung psychoanalytischer Termini oft keine sprachlichen Entsprechungen, die den Sinn dieser Begriffe adäquat wiedergeben konnten. Diese Begriffe mussten in Zusammenarbeit mit Psychologen im Georgischen erst geschaffen werden, sodass durch diese Übersetzungsarbeit auch die georgische Sprache bereichert wurde. Nicht ganz unähnlich verhält es sich mit dem Mann ohne Eigenschaften. Ich will abschließend noch ein kleines Beispiel dafür geben, welche Wirkungen die Rekonstruktion dieses Romans in der georgischen Sprache entfalten kann. Bei der Präsentation der Übersetzung an der Universität Tiflis kam es ausgehend von der Überschrift des Kapitels 98 »Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist« zu einer lebhaften Diskussion, die natürlich auch dadurch angestoßen wurde, dass eine solche Kapitelüberschrift eine Vielzahl von Assoziationen und Interpretationen ermöglicht. Die Intensität dieser Auseinandersetzung zwischen Studenten lässt sich letztlich damit erklären, dass die georgische Gesellschaft sich heute der Aufgabe gegenübersieht, sich neu zu bestimmen, neu zu interpretieren und auch sprachlich neu zu beschreiben. Dazu bedarf es der genauen Wahrnehmung seiner selbst wie auch der bestehenden gesellschaftlichen Probleme. Diese Aufgabe kann ohne begriffliche Differenzierung und sprachliche Präzision nicht bewältigt werden. Zu deren Weiterentwicklung beizutragen, ist aus meiner Sicht eine der wichtigsten Funktionen, die die Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften heute in Georgien erfüllen kann.

Cüneyt Arslan

Zur Übersetzung, Neuübersetzung und Rezeption von Robert Musils Werken in der Türkei aus interkultureller Perspektive Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Beobachtung, dass Musils Werk in der Türkei weder durch Neuauflagen noch durch neue Übersetzungen eine seiner Komplexität und ästhetischen Vielschichtigkeit entsprechende Behandlung erfahren hat. Es stellt sich insbesondere die Frage, warum gerade Musils Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften seit seiner Publikation in türkischer Sprache im Jahr 1999 trotz einer bis dato relativ hohen Anzahl von Neuauflagen und einer 2018 erschienenen Neuübersetzung auf intellektueller und wissenschaftlicher Ebene kaum auf Resonanz gestoßen ist. Das mag in erster Linie an der Komplexität des Romans liegen. Durch den Transfer in eine Fremdsprache und in einen anderen kulturellen Kontext wird die Rezeption noch erschwert. Zudem mögen auch die neuen digitalen Medien dazu führen, dass Fähigkeit und Bereitschaft abnehmen, sich mit längeren Texten auseinanderzusetzen. Neben Musils akribischer Formulierungskunst stellt die äußerst reflektierte Verarbeitung moderner Wissensbestände eine gewaltige Herausforderung für die Leserschaft dar, denn den Stoff (im literaturwissenschaftlichen Sinn) dieses Romans bildet auch die Wissenschaftsgeschichte. Die Art und Weise, wie Musil verschiedene Wissenschaften wie Physik, Mathematik, Wahrscheinlichkeitstheorie, Psychologie der Wahrscheinlichkeiten, Wissenschaftsphilosophie, Zeitgeschichte, Sprachphilosophie etc. verarbeitet, verlangt den Rezipienten einiges ab. Ist man mit diesen Wissensbeständen nicht vertraut, so erschwert dies die Lektüre des Romans erheblich. Dazu kommt aber noch ein weiteres Moment: Aus interkultureller Perspektive kann – darauf werde ich weiter unten näher eingehen – hinzugefügt werden, dass der Inhalt des Romans und sämtliche dieser Wissensfelder westlich orientiert sind, weshalb ein türkisches Lesepublikum sich in einer doppelten Distanz – sprachlich und kulturell – zum Roman befindet. In diesem Beitrag werde ich zunächst einen Überblick von der ersten Übersetzung Musils ins Türkische im Jahre 1972, die dem Törleß galt, bis hin zur Neuübersetzung des Mann ohne Eigenschaften im Jahre 2018 geben.1 In einem weiteren Schritt werde ich mich mit den spezifischen Problemen der Rezeption Musils in der Türkei befassen. Schließlich werde ich am Beispiel 1

Die Übersetzungen von Musils Werken ins Türkische habe ich in den beiden folgenden Aufsätzen unter anderem Blickwinkel behandelt: Cüneyt Arslan: Ein Blick auf die Übersetzung

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Cüneyt Arslan

des von mir ins Türkische übertragenen Dramas Die Schwärmer Übersetzungsprobleme streifen. Einzelne Werke Musils sind seit fast einem halben Jahrhundert in türkischer Sprache zugänglich. Die 1972 erschienene Übersetzung der Verwirrungen des Zöglings Törleß verdanken wir Kamuran Şipal (1926–2019). Dieser Schriftsteller und Germanist war auch einer der renommiertesten Übersetzer des Landes, der u. a. Autoren wie Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Elias Canetti ins Türkische übertragen hat.2 Seine Übersetzung des Törleß stieß allerdings auf wenig Resonanz. Es lassen sich in den darauf folgenden Jahren in literarischen Zeitschriften und anderen Publikationen keine Besprechungen finden. Auch der Absatz scheint gering ausgefallen zu sein, da bis zum Jahr 2000, d. h. bis kurz nach dem Erscheinen der Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften keine weiteren Auflagen herauskamen. An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass ein kurzer Ausschnitt aus dem Mann ohne Eigenschaften bereits 1972 ins Türkische übersetzt wurde und in einer Anthologie zur modernen österreichischen Literatur erschien.3 Diese Anthologie war die erste, die sich in der Türkei speziell der Literatur aus Österreich widmete.4 In ihr sind Autorinnen und Autoren von Arthur Schnitzler bis Peter Handke vertreten; Kriterien für seine Textauswahl hat der Herausgeber Burhan Arpad, von dem auch die Übersetzungen stammen, nicht angegeben. Dem Abschnitt zu Robert Musil sind eine Kurzbiographie und Erläuterungen zum Mann ohne Eigenschaften vorangestellt. Der Herausgeber übersetzte den Romantitel mit »Niteliği Olmayan Adam« (»Der Mann, der keine Eigenschaften hat«), was später stilistisch eleganter gelöst werden konnte. Bei diesem Textauszug handelt es sich um Passagen aus den Kapiteln »Die vergessene Schwester« und »Vertrauen« aus dem dritten Teil »Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher)«. Ein stärkeres Interesse an Musil lässt sich in der Türkei erst in den 1990er Jahren feststellen, als nach Kamuran Şipal ein weiterer renommierter Übersetzer, der Germanist Ahmet Cemal (1942–2017), Musils Mann ohne Eigenschaf-

2 3 4

und Rezeption der Werke Robert Musils in der Türkei – die Genese einer gelungenen Übersetzung und der gescheiterten Rezeption, in: Österreichische Literatur ohne Grenzen. Gedenkschrift für Wendelin Schmidt-Dengler. Hg. v. Attila Bombitz, Renata Cornejo, Sławomir Piontek u. Eleonora Ringler-Pascu. Wien 2009, S. 11–19; Cüneyt Arslan: Kulturpolitiken und (gescheiterte) Rezeption. Ein Erklärungsversuch zur Kanonbildung in der Türkei am Beispiel von Robert Musil, in: Kanon und Literaturgeschichte. Beiträge zu den Jahrestagungen 2005 und 2006 der ehemaligen Werfel-StipendiatInnen. Hg. v. Arnulf Knafl. Wien 2010, S. 95– 106. Robert Musil: Öğrenci Törless’in Bunalımları. Übers. v. Kamuran Şipal. İstanbul 1972. Robert Musil: Niteliği Olmayan Adam, in: Çagdas Avusturya Edebiyatı Antolojisi. Hg. v. Burhan Arpad. Mit einer Einleitung von Hans E. Kaspar. İstanbul 1972, S. 49–55. Für eine interkulturell orientierte Literaturgeschichte Österreichs im Rahmen der Auslandsgermanistik vgl. auch Cüneyt Arslan: Almanca Yazın Dünyasında Avusturya Edebiyatının Yeri ve Kimliği. Eski Avusturya Edebiyatı. Çanakkale 2022.

Zur Übersetzung von Robert Musils Werken in der Türkei

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ten zu übersetzen begann.5 Cemal soll seine letzten Lebensjahre überwiegend mit der Übersetzungsarbeit von Musils Hauptwerk verbracht haben. 1999 wurden die ersten achtzig Kapitel auf Türkisch veröffentlicht; dieser erste Band erlebte bis dato sechzehn Auflagen.6 Ihm wurde neben einem kurzen Vorwort des Übersetzers als Einleitung ein längerer Essay von Ernst Fischer vorangestellt.7 Die Übersetzung ist in semantischer und syntaktischer Hinsicht präzise und vermeidet die Überfülle von arabischen Lehnwörtern, die die Rezeption von Übersetzungen für moderne Leser oft erschweren. Das Band erschien in einer Auflage von 1650 Exemplaren in einer Reihe, die Klassiker der Weltliteratur wie Shakespeare, Balzac und Joyce enthielt. 2009 erschien ein weiterer Band mit den Kapiteln 81–123 der Frisé-Ausgabe, der aktuell die elfte Auflage erreicht hat.8 In den 1990er Jahren wurden auch Drei Frauen9 und Nachlaß zu Lebzeiten10 ins Türkische übertragen. Die TörleßÜbersetzung von Şipal wurde in den Jahren 2000, 2012, 2014 und 2021 neu aufgelegt. Bemerkenswerterweise sind 2022 drei Neuübersetzungen des Törleß erschienen. Der Ablauf der Schutzfrist im Jahre 2012 hat zu einem signifikanten Anstieg der Neuübersetzungen von Musils Werken ins Türkische geführt. Mit dem Erlöschen des Urheberrechts siebzig Jahre nach dem Tod des Autors werden dessen Werke für Verleger profitabel, da ab diesem Zeitpunkt keine Zahlungen mehr für Lizenzen anfallen.11 Auf Basis einer derartigen ›Motivation‹ wurde beispielsweise der Text Über die Dummheit vier Mal ins Türkische übertragen;12 seither wurden weitere Übersetzungen Musils in Auftrag gegeben. Die bereits erwähnten Törleß-Übersetzungen des Jahres 2022, die von drei verschiedenen Verlegern (Legadema, Ayrıntı und İthaki) publiziert wurden, haben an diesem Publikationswettlauf ebenfalls teilgenommen. Schließlich erschien 2018 eine Neuübersetzung des Mann ohne Eigenschaften von Sami Türk in vier Bänden; diese beruht auf der Frisé-Ausga5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Mehmet Tahir Öncü: Ahmet Cemal – Übersetzer und Liebhaber der österreichischen Literatur. Ein Nachruf, in: Übersetzung als Kulturaustausch. Hg. v. Şeyda Ozil, Michael Hofmann, Jens Peter Laut u. a. Göttingen 2019, S. 77–88. Robert Musil: Niteliksiz Adam. Bd. 1. Übers. v. Ahmet Cemal. İstanbul 1999. Ernst Fischer: Robert Musil, in: ders.: Von Grillparzer zu Kafka. Wien 1962, S. 231–278. Robert Musil: Niteliksiz Adam. Bd. 2. Übers. v. Ahmet Cemal. İstanbul 2009. Robert Musil: Üç Kadın. Übers. v. Zehra Aksu Yılmazer. Ankara 1991. Diese Übersetzung erschien 2017 in dritter Auflage. Robert Musil: Yaşarken Açılan Miras. Übers. v. Ahmet Cemal. İstanbul 1993. Eine zweite Auflage folgte im Jahr 2000. Diese Übersetzung wurde im Jahr 2022 zum fünften Mal aufgelegt. Auch andere Autoren wie Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Franz Kafka u. a. sind in Form von Neuübersetzungen von diversen Verlegern in ihr Programm aufgenommen worden. Es gibt auch Verlagshäuser, die ausschließlich gemeinfreie Übersetzungen publizieren. Robert Musil: Aptallık üzerine. Übers. v. İlknur Özdemir. İstanbul 2017; ders.: Aptallık üzerine. Übers. v. Genco Akın. İstanbul 2020; ders.: Aptallık üzerine. Übers. v. Enver Günsel. Ankara 2020; ders.: Aptallık üzerine. Übers. v. Ersan Üldes u. Amy Spangler. İstanbul 2018.

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be.13 Türk ist Germanist und hat sich auf Übersetzungen von deutschsprachigen Werken spezialisiert. Zu seinen zahlreichen, qualitativ hochwertigen Übersetzungen ins Türkische zählen u. a. Werke von E. T. A. Hoffmann, Friedrich Nietzsche, Hermann Broch, Klaus Mann, Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard. Mit seiner Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften hat er sich auf ein kühnes Wagnis14 eingelassen und den Roman noch einmal in der Frisé’schen Version von ›Vollständigkeit‹ ins Türkische übertragen. Diese Übersetzung hat zwar in kurzer Zeit fünf Auflagen erlebt, doch eine intensive akademische oder intellektuelle Auseinandersetzung mit Musil ist seither nicht in Gang gekommen. Neuübersetzungen bieten die Chance, Übersetzungsfehler, Lücken und andere Defizite zu korrigieren, laufen zuweilen aber auch Gefahr, alte Mängel weiterzutragen und zu verfestigen. An dieser Stelle sei kritisch angemerkt, dass Neuübersetzungen auch die Entwicklungen in der Forschung und die digitale Edition Musils unbedingt (mit-)berücksichtigen sollten.15 Sämtliche Neuübersetzungen basieren jedoch auf der alten Frisé-Ausgabe.16 Die Entscheidungen für die Beauftragung von Neuübersetzungen werden wohl in erster Linie aus finanziellen Überlegungen getroffen, wobei das Erlöschen des Urheberrechts eine zentrale Rolle spielen dürfte. Obwohl mittlerweile die Mehrheit der Musil-Übersetzer Germanisten sind,17 muss man leider feststellen, dass die Germanistik in der Türkei, die in 13 14 15

16

17

Robert Musil: Niteliksiz Adam. 4 Bde. Übers. v. Sami Türk. İstanbul 2018. Der erste Band umfasst die Kapitel 1 bis 80 und der zweite die Kapitel 81 bis 123. Der dritte Band enthält die Kapitel 1 bis 38 des Zweiten Buches, der vierte Texte aus dem Nachlass. Ob diese neue Übersetzung für die Rezeption Musils günstigere Bedingungen bereitstellt, wäre eine eigene Forschungsfrage, der es sich, im Rahmen eines Vergleichs mit der ersten (partiellen) Übersetzung von Ahmet Cemal, nachzugehen lohnte. Zur digitalen Edition und zur Gesamtausgabe Musils habe ich folgende Publikationen verfasst: Cüneyt Arslan: Edebiyatın Dijitalleşmesi Tamamlanmamış Modern Roman İçerisinde Filolojik Kazılar [Electronic literature – philological excavations in the incomplete modern novel], in: The Journal of Academic Social Science Studies (2016), Heft 44, S. 63–71; Cüneyt Arslan: Edebiyat Biliminde Dijitalleşme ve Sonuçları Işığında Avusturyalı Yazar Robert Musil Külliyatının Yeni Tasnif ve Derlemesi [The outcomes of digitization in literary studies with regard to the new complete edition of the works of the Austrian author Robert Musil], in: Jasss Studies. The Journal of Academic Social Science Studies 92 (2002), H. 15, S. 51–62. Die Klagenfurter Ausgabe bietet wertvolle Hintergrundinformationen, Kommentare, Querverweise auf Stellen im Nachlass etc. Für den Übersetzer ist sie von großem Nutzen, etwa wenn er ein Wortfeld untersucht, um von Musil häufig verwendete Ausdrücke adäquat in die Zielsprache zu übertragen. Vgl. Walter Fanta: Robert Musil – Klagenfurter Ausgabe. Eine historisch-kritische Edition auf DVD, in: editio 24 (2010), S. 117–148; Walter Fanta: Musil online total, in. 4. 0. Datengenerierung und Wissenstransfer in interdisziplinärer Perspektive. Hg. v. Jens Kingner u. Merve Lühr. Dresden 2019, S. 149–178. Es ist konstatiert worden, dass deutschsprachige Werke von 1930 an bis in die 1970er Jahre kaum von Germanisten übersetzt wurden; erst ab diesem Jahrzehnt treten Germanisten vermehrt als Übersetzer auf. Vgl. Gülperi Sert: Zur Rezeption der österreichischen Literatur der Gegenwart in der Türkei, in: Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften 8 (1999), H. 3, S. 13–17.

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der Zwischenkriegszeit institutionell an den Universitäten verankert wurde, sich selten mit Musil beschäftigt. An den türkischen Universitäten wird vor allem interkulturelle Germanistik betrieben, die ihre Aufgabe als Kulturvermittlung versteht. Es sind bis dato nur drei Diplom- bzw. Masterarbeiten18 zu Robert Musil und seinem Werk verfasst worden. Vorlesungen, Seminare oder Tagungen, die sich speziell Musil und seinen Werken widmen, hat es bisher nicht gegeben. Es fehlt auch jegliche fachliche Kritik aus dem Bereich der Translationswissenschaften an den Übersetzungen der Werke Musils. Rezensionen, Kommentare, wissenschaftliche Aufsätze u. ä. sind in einem sehr geringen Umfang zu finden; Ausnahmen sind Beiträge zum Törleß und komparatistische Untersuchungen, die einem interkulturellen Ansatz folgen. Es sind nicht die sprachlichen Defizite der Übertragungen ins Türkische, die die Rezeption von Musils Werken in der Türkei hemmen. Trotz ausgezeichneter türkischer Übersetzungen ist die Rezeption Musils in der Türkei nur in quantitativer Hinsicht bemerkenswert. Es sind in der Türkei in der Tat viele Übersetzungen von Werken Musils erschienen und auch die Zahl der Auflagen von Musils Hauptwerk in der Übersetzung von Ahmet Cemal ist erstaunlich hoch, aber leider hat es bisher keine tiefgehende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musil und in der interessierten Öffentlichkeit keinerlei Debatten zu ihm gegeben. Sein Einfluss auf das intellektuelle Leben in der Türkei muss als sehr gering veranschlagt werden. Um dafür eine Erklärung zu finden, bedarf es aus meiner Sicht einer interkulturellen, kulturwissenschaftlichen Perspektive,19 die auf den westlichen Modernisierungsprozess abhebt. Diesen hat Musil in seinem Werk verarbeitet, weshalb der Der Mann ohne Eigenschaften nicht ohne kritisches Bewusstsein für die Moderne zu rezipieren ist. In der Türkei hat sich der Bewältigungsprozess der (westlichen) Moderne allerdings unter gänzlich anderen Bedingungen vollzogen als in West- und Mitteleuropa.20 Musils Bezug zur Moderne lässt sich an drei Aspekten festmachen. Erstens sucht der Autor nach neuen Narrativen, um das moderne Denken literarisch zu verarbeiten, und greift auf die Darstellungsmethode des Essayismus und auf Verfahren der Abstraktion zurück. Zweitens gestaltet er seinen Ro18 19 20

Der aktuelle Datenbestand (2022) wurde der zentralen Datenbank des türkischen Hochschulrats (YÖK Ulusal Tez Merkezi) entnommen. Vgl. die Webseite, die man auch auf Englisch nutzen kann: https://tez.yok.gov.tr/UlusalTezMerkezi/giris.jsp (aufgerufen am 30. 10. 2021). Vgl. Arslan: Kulturpolitiken und (gescheiterte) Rezeption (Anm. 1) und Arslan: Ein Blick auf die Übersetzung (Anm. 1). Der Begriff Moderne wird hier in folgendem Sinne verwendet: »Die Moderne [. . .] ist also ein Produkt aufklärerisch-rationaler Prozesse, welche ihren Höhepunkt mit der wissenschaftlich-technischen Durchsetzung oder Überflutung aller Lebensbereiche zur Jahrhundertwende erreichen. Die Auflösung alter Ordnungen auf allen Ebenen, die Urbanisierung und Individualisierung finden in dieser Zeit in radikalisierter Form statt und brechen in den Lebensalltag der Subjekte ein« (Cüneyt Arslan: Der Mann ohne Eigenschaften und die Wissenschaftliche Weltauffassung. Robert Musil, die Moderne und der Wiener Kreis. Wien 2014, S. 22).

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man so, dass er als ein diskursives Forum für die Auseinandersetzung mit den Modernisierungstendenzen der Zeit fungiert. Und drittens kann man in diesem Roman auf Grund seiner kritischen Darstellung des (totalitär-) rationalistischen Fortschrittglaubens und der Verwissenschaftlichung im 20. Jahrhundert erste Ansätze der Postmoderne entdecken.21 Es stellt sich daher die Frage, wie Musils Auseinandersetzung mit der Moderne von türkischen Lesern rezipiert werden kann. Modernisierungsprozesse, die im Westen bereits mit der Aufklärung in Gang gesetzt wurden, trafen in der Türkei viel später, frühestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, und deshalb ist das Modernebewusstsein der türkischen Leserschaft im Vergleich zum Westen zeitlich verschoben. Dies wirkte sich im Falle Musils als ein Hindernis bzw. ein Verzögerungsfaktor in der Rezeption aus. Die modernitätskritischen Aspekte, die Musil sowohl in seinen literarischen als auch in seinen essayistischen Texten behandelt, sind »nur von einem mit der Moderne vertrauten Standpunkt zu verstehen.«22 Aus meiner Sicht begann sich der Rezeptionshorizont türkischer Leser erst um die Jahrtausendwende für Musils Poetik zu öffnen, also für eine Poetik, die durch einen kritischen Blick auf die Verwissenschaftlichung des Denkens und eine Vorwegnahme postmoderner Ansätze geprägt ist. Mittlerweile hat sich dieser Rezeptionshorizont so gewandelt, dass gegenwärtig Musils Werk auf Grund der Neuausgaben und Neuübersetzungen die Chance hat, auf neue Weise rezipiert zu werden. Ich will noch ein weiteres Moment anführen, das die Rezeption Musils in der Türkei behindert haben mag. Im Gegensatz zur deutschen Sprache vollzog das Türkische im 20. Jahrhundert einen fundamentalen Sprachwandel. Durch die Sprachreform des Jahres 1932 (Wechsel zur lateinischen Schrift und sukzessive Abschaffung und Ersetzung vieler arabisch-persischer Wörter) wurde die türkische Sprache mit einer neuen Grammatik und einem neuen Vokabular ausgestattet,23 was dazu führte, dass die Autoren (wie auch die Leser) in den folgenden Dekaden des 20. Jahrhunderts zunächst mit dem Sprachwandel beschäftigt waren und die Suche nach modernen Erzählverfahren eher ein sekundäres Problem darstellte. Erst um die Jahrhundertmitte 21

22 23

Der Begriff wird, nach Peter Zima, im Sinne einer kritischen Anschauungsweise mit der gesamten Moderne verwendet: »Die Postmoderne wird also auch hier von der Krise des modernen (industriellen, kapitalistischen) Wertsystems geprägt und von der Notwendigkeit, über dieses Wertsystem kritisch nachzudenken: Sie wird reflexiv und stellt nicht nur die Moderne als Neuzeit, sondern die Moderne als Spätmoderne oder Modernismus systematisch in Frage. Sie ist das Bewusstsein eines sozio-historischen Übergangs [. . .].« (Peter Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen, Basel 2001, S. 36) Vgl. auch Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1997, S. 12 ff. Arslan: Kulturpolitiken und (gescheiterte) Rezeption (Anm. 1), S. 104. Nach der Sprachreform setzte auch eine staatlich geförderte Übersetzungsinitiative ein, im Zuge derer zwischen 1939 und 1946 ca. 500 Werke aus europäischen Sprachen der türkischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Vgl. ebd., S. 97 f.

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sind solche in Texten von Schriftstellern wie Ahmet Hamdi Tanpınar (1901– 1962), Sabahattin Ali (1907–1948) oder Oğuz Atay (1934–1977) festzustellen. Allerdings sind Autoren wie Ali oder Atay zu Lebzeiten nahezu unbekannt geblieben und wurden erst viel später, nämlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, neu aufgelegt.24 Sollte man in der Zukunft auf Basis der Klagenfurter Ausgabe eine Neuübersetzung des Mann ohne Eigenschaften – eventuell ebenso als digitale Edition – ins Auge fassen, dann wären die eben erwähnten Aspekte zu berücksichtigen. Damit ein solch aufwändiges Projekt nicht zum Scheitern verurteilt ist, müssten im Vorfeld die unterschiedlichen, für die Rezeption maßgeblichen Faktoren analysiert werden. Zur Vorbereitung des Publikums in der Türkei wäre beispielsweise die Publikation ausgewählter Texte aus dem digitalisierten Nachlass im Rahmen eines neuen Bandes denkbar. Dabei wäre an bisher noch nicht oder nur in diversen Zeitungen veröffentlichte Texte zu denken, z. B. an den Essayentwurf Das Gute in der Literatur und an knapp gefasste aphoristische Fragmente wie Kulturpolitikskultur. Der Umfang dieses Bandes sollte 150 Seiten nicht übersteigen und mit einem informativen und breit angelegten Vorwort versehen sein, das ins Werk Musils einführt. Neben der Biografie Musils müsste darin auch der Modernisierungsprozess beleuchtet werden, der sich um die Jahrhundertwende in Wien vollzog; zudem wären Parallelen zu dem Modernisierungsprozess aufzuzeigen, der die Aufbruchszeit der 1923 ausgerufenen türkischen Republik prägte. Eine solche Vorgehensweise könnte erstens das Interesse an Musil intensivieren, zweitens Leser dabei unterstützen, ein Verständnis für Musil als einen Autor der Moderne zu entwickeln, und drittens den Boden für eine Neuübersetzung des Mann ohne Eigenschaften bereiten. Als Musil-Forscher, der sich mit Musil und seinem wissenschaftlichen Denken in seinen literarischen Werken befasste, unternahm ich den Versuch, meine Erkenntnisse und Erfahrungen in ein Übersetzungsprojekt einzubringen. Ich wählte Die Schwärmer, weil ich das Drama als künstlerische Auseinandersetzung mit der Problematik der Moderne auffasse.25 Ich hoffte, dass im Zuge möglicher Aufführungen des Dramas auf türkischen Bühnen der Rezeptionsprozess Musils intensiviert werden könnte. Die Problematik der Moderne sollte – so mein Ziel – dem heutigen Leser in der Türkei auf einer literarisch-ästhetischen Ebene nahegebracht werden. Daher waren im Vorfeld zeitgeschichtliche und wissenschaftsphilosophische Fragestellungen der Jahrhundertwende und der europäischen Moderne zu klären, die Musil in seinem 24

25

Ich habe in Seminaren an der Universität die Erfahrung gemacht, dass manche türkischsprachige Studierende der Germanistik diese Autoren als Vertreter der Gegenwartsliteratur wahrnehmen und deren Werke, die nun Verkaufszahlen wie Beststeller erreichen, wie Neuerscheinungen rezipieren. Robert Musil: Hayalperestler. Übers. v. Cüneyt Arslan. İstanbul 2013. Weitere Auflagen sind 2014 und 2020 erschienen.

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Text verarbeitet hat. Übersetzungstechnisch besonders schwierig erwies sich die Übertragung der Aphorismen, die die Dialoge prägen und über den gesamten Text verstreut sind. Sie bilden sicherlich nicht nur für den Übersetzer eine Herausforderung, sondern im Falle einer Theateraufführung auch für die Regie und das Publikum. Man kann diese von Musil verfassten Aphorismen als Konglomerate von Abstraktion, Allegorien, Analogie, Neologismen, Wortspielen etc. betrachten, die vor der Übersetzung zunächst auseinandergenommen und analysiert werden müssen, um sie den Lesern oder Zuschauern verständlich zu machen.26 In einem weiteren Schritt befasste ich mich mit Rezensionen, Kommentaren, Kritiken und literaturwissenschaftlichen Arbeiten über Die Schwärmer sowie auch mit der Werkgenese. Im Zuge der Rohübersetzung tauchten natürlich auch Übersetzungsprobleme auf.27 Die etwas veraltete Sprache des Originals wurde von mir in ein Türkisch übertragen, das dem heutigen Sprachgebrauch entspricht. Ich verfasste ein ausführliches Vorwort, das in einem essayistischen Stil Informationen zu Musil, seinem literarischen Werk und dessen geistesgeschichtlichem Hintergrund bereitstellt. Für die Übersetzung der Schwärmer wurde der zu Lebzeiten Musils autorisierte Text der Frisé-Ausgabe herangezogen. Die Konsultation der digitalen Klagenfurter Ausgabe Musils trug vor und während des Übersetzungsprozesses dazu bei, textgenetische und textkritische Aspekte zu berücksichtigen, sowie auch Entwürfe, Skizzen, Vorarbeiten und Notizen zu diesem Drama einzubeziehen. In vielen Fällen ließen sich dadurch semantische Unklarheiten lösen und für schwierige Passagen adäquate Übersetzungen finden. Die Notwendigkeit von Neuübersetzungen literarischer Texte ergibt sich – so die These, die ich in diesem Beitrag vertreten habe – nicht nur daraus, dass ältere Übersetzungen sprachlich inadäquat wären, sondern auch aus den angesprochenen Ungleichzeitigkeiten im Rezeptionsprozess sowie aus neuen literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Auch neue Editionen wie die Kla26

27

Hier einige Beispiele: »Wenn ein Mensch andrer Meinung ist, grinst mich der Stein an, die Bestialität. Wer den Blick dafür hat, sieht dahinter die schamlose Entschlossenheit von Ertrinkenden, die um den Platz im Boot kämpfen.« (GA 8, S. 47) »Sie wissen, man begreift überhaupt nichts mit dem Verstand, nicht einmal das Daliegen eines Steins, sondern alles nur durch Liebe. In einem namenlosen Annäherungszustand und Verwandtschaftsgrad. Wovon diese Sache Mann – Frau nur ein überschätzter Einzelfall ist.« (GA 8, S. 48 f.) »Aber Lügen sind zwischen fremden Gesetzen verfliegendes Heimatsgefühl von traumhaft nahen Ländern, verstehen Sie das nicht?!« (GA 8, S. 83) »Du läßt die Witwer wieder heiraten, aber erklärst die Liebe für unendlich, damit die Wiederverehelichung erst nach dem Tode erfolgt.« (GA 8, S. 154) »[. . .] Leuchtwürmchen: fängst du eins, ist es ein lichtloses graues Würstchen! Aber das zu wissen, gibt ein verteufelteres Gefühl als zu poeseln: Gotteslaternchen!« (GA 8, S. 163). In den unterschiedlichen Phasen meiner Übersetzungsarbeit war mir die Unterstützung durch Walter Fanta vom Robert-Musil-Institut für Literaturforschung in Klagenfurt von unschätzbarem Wert. Er ermöglichte mir den Zugang zu wichtigen Materialien und vermittelte mir Hintergrundinformationen. Paraphrasierungen von schwierigen Textpassagen verhalfen mir dazu, diese in ihrer Idiomatik zu verstehen und sie in der Folge sinngemäß oder gegebenenfalls auch wörtlich zu übersetzen.

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genfurter Ausgabe, die meines Erachtens neben Karl Corinos Biographie die wichtigste Errungenschaft der Musil-Forschung des 21. Jahrhunderts darstellt, können Neuübersetzungen nötig machen. Die Übersetzungspraxis, die sich durch die digitale Edition neben dem Einblick in die neu edierten Primärtexte auch Zugang zu Textgenese, Textkritik und Textkommentar verschaffen kann, steht damit vor einem Transformationsprozess. Warum in der Türkei jedoch weiterhin die (inzwischen urheberrechtlich freie) Frisé-Ausgabe als Grundlage für Übersetzungen herangezogen wird, liegt in den Interessen der Verlage, in den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen begründet, was wiederum eine neue Hürde für die Musil-Rezeption darstellt.

Zouheir Soukah

Zur Musil-Rezeption in der arabischen Welt 1. Einleitung In der arabischen Literatur- und Kulturszene zählt Robert Musil zu den wichtigsten deutschsprachigen Vertretern der literarischen Moderne. Aus dieser Perspektive wird sein Werk seit Jahrzehnten und auch noch heute wahrgenommen und rezipiert. Wenn ich in der Folge die arabische Rezeption Musils untersuche, dann umfasst dies Übersetzungen, literaturkritische und literaturwissenschaftliche Arbeiten. Es wird sich zeigen, dass diese Rezeption quantitativ begrenzt, aber qualitativ vielseitig ist. Die Eckpfeiler der arabischen Beschäftigung mit Musil bilden die zahlreichen individuellen Bemühungen von Übersetzern, Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern, die aus unterschiedlichen arabischen Ländern stammen. Allgemein lässt sich sagen, dass die außereuropäische Rezeption von der wissenschaftlichen Forschung bisher kaum wahrgenommen wurde; es gibt daher auch kaum deutschsprachige und arabischsprachige Studien, die sich wissenschaftlich mit dem Interesse befassen, das es im arabischen Raum an Musil gibt. Mein Beitrag versucht, diese Forschungslücke ansatzweise zu schließen und die arabische Musil-Rezeption zumindest in groben Umrissen sichtbar zu machen.

2. Die deutschsprachige Literatur im arabischen Raum: Ein Überblick Im Vergleich zur französischen und zur englischen wurde die deutschsprachige Literatur in der arabischen Welt spät rezipiert. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Kolonialisierung der arabischen Länder durch England und Frankreich, wodurch diese beiden Mächte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festen Fuß im arabischen Raum fassten, während Deutschland (geo-)politisch und kulturell dort erst spät eindringen konnte.1 Bereits zur Zeit von Muhammad Ali Pascha (1770–1848), seit 1805 Gouverneur von Ägypten zur Zeit des Osmanischen Reichs, wurden aufgrund des engen Ver1

Vgl. Abdo Abboud: Deutsche Romane im arabischen Orient. Eine komparatistische Untersuchung zur Rezeption von Heinrich Mann, Thomas Mann, Hermann Hesse und Franz Kafka. Mit einem Überblick über die Rezeption der deutschen Literatur in der arabischen »Welt«. Frankfurt a. M. 1984, S. 22.

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hältnisses zu Frankreich Werke der französischen Literatur ins Arabische übersetzt. Muhammad Ali Pascha schickte die ersten ägyptischen Studenten nach Frankreich und eben nicht nach Deutschland.2 Demgegenüber war das Bild Deutschlands bis zum Ersten Weltkrieg vor allem bei den nationalistischen arabischen Intellektuellen aufgrund von Deutschlands Militärmissionen im Osmanischen Reich negativ geprägt.3 Zudem gelang es dem wilhelminischen Deutschland – wie auch später HitlerDeutschland – nicht, sich im arabischen Raum kulturell zu etablieren.4 Die erste bekannte arabische Übersetzung eines deutschen literarischen Werkes – Friedrich Schillers Drama Kabale und Liebe5 – erschien erst im Jahr 1900 im Libanon. Zunächst wurden vor allem klassische Autoren wie Goethe, Schiller und Heine ins Arabische übertragen, wobei diese Übersetzungen wegen der geringen Zahl von arabischen Übersetzern für die deutsche Sprache nicht auf dem Originaltext beruhten. Die arabische Rezeption der deutschsprachigen Literatur, die sehr schleppend verlief, basierte in der Regel auf französischen und englischen Übertragungen. Das bereits negative Image Deutschlands verschlechterte sich im arabischen Raum vor allem aus politischen Gründen mit dem Nationalsozialismus und dessen Folgen noch zusätzlich. Nachdem zu Beginn der 1960er Jahre einige in Deutschland und Österreich ausgebildete arabische Philologen in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren, übersetzten sie etliche bedeutende Werke direkt aus der deutschen Sprache.6 Im Großen und Ganzen entstehen arabische Übersetzungen deutschsprachiger Literatur bis heute meistens aufgrund individueller Bemühungen einzelner arabischer Intellektueller, die von den arabischen Verlagen nicht immer fair bezahlt werden. Die Verlage wiederum klagen über den eingeschränkten Buchvertrieb in der gesamten arabischsprachigen Welt. Gründe für das schwache arabische Verlagswesen sind 2

3 4 5 6

Zu diesen Studenten gehört Rifa’a Rafi’ at-Tahtawi (1801–1873), einer der wichtigsten Vertreter der Nahda-Bewegung, die versuchte, Grundwerte des Islams mit der westlichen Moderne zu verbinden. Nach seinem Studium in Paris leitete er die 1835 von Muhammad Ali Pascha gegründete Sprachen- und Übersetzungsschule in Kairo, die insbesondere aus dem Französischen übersetzte. Vgl. Johannes Stephan: Wie man die anderen verstehen soll und wie man über sie schreiben kann. Der Paris-Bericht Rifa’a Rafi’ at-Tahtawis (1801–1873) als vielseitige Vermittlung von »Kultur«, in: zeitenblicke 11 (2012), Nr. 1, http://www.zeitenblicke.de/2012/ 1/Stephan/index_html (aufgerufen am 1. 7. 2022). Vgl. Azmi Bishara: Die Araber und der Holocaust. Die Problematisierung einer Konjunktion, in: Der Umgang mit dem Holocaust. Europa-USA-Israel. Hg. v. Rolf Steininger. Wien 1994, S. 407–429, hier S. 413. Vgl. Abboud: Deutsche Romane im arabischen Orient (Anm. 1), S. 22. Vgl. Abdo Abboud: Istiqbal al'adab al'almani fi alouatan al-arabi [Die Rezeption der deutschen Literatur in den arabischen Ländern], in: Aadab Ajjnabiyya [Ausländische Literatur] 60/61 (Oktober 1989), S. 13–35, hier S. 15. Über diese neue arabische Übersetzergeneration schreibt Abboud: Deutsche Romane im arabischen Orient (Anm. 1), S. 63: »Die neue Generation von Übersetzern unterscheidet sich von der alten nicht nur durch die Beherrschung der deutschen Sprache, sondern auch durch bessere Kenntnisse der deutschen Literaturgeschichte [. . .].«

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neben der hohen Zahl an Analphabeten die Handelshemmnisse zwischen den arabischen Ländern. Für den arabischen Buchmarkt würde es theoretisch einen Leserkreis von etwa 300 Millionen Menschen geben. Allerdings kann kaum bei der Hälfte von einer ausreichenden Lesefähigkeit ausgegangen werden. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass in den meisten arabischen Ländern das Bildungssystem stark vernachlässigt wurde. Der deutsche Arabist und Übersetzer arabischer Literatur Stefan Weidner weist zudem darauf hin, dass der arabische Buchvertrieb nationalstaatlich zersplittert ist. Die bürokratischen Hindernisse machen den Bücherversand oft unmöglich.7 Aus all diesen Gründen sahen und sehen sich die arabischen Literaturübersetzer meist aus finanziellen Gründen gezwungen, eher kürzere Übersetzungen anzufertigen. Diese leisten zumindest einen kleinen intellektuellen Beitrag, um dem arabischen Leser Zugang zur Weltliteratur zu ermöglichen bzw. diesen zu erleichtern. In den letzten Jahrzehnten sind einige institutionelle Initiativen entstanden, die arabische Übersetzungen der Weltliteratur unterstützen. Was die außereuropäische Literatur betrifft, wenden sich arabischsprachige Leser in erster Linie Lateinamerika, Indien, Japan, China und teilweise auch Afrika zu. Das Interesse an der deutschsprachigen Literatur ist im arabischen Raum hingegen eher gering. Doch es gibt auch einige Ausnahmen wie Goethe, Thomas Mann, Hesse, Kafka und Brecht, die intensiv rezipiert werden – nicht nur in Übersetzungen und im akademisch-wissenschaftlichen Bereich, sondern auch im Rahmen der produktiven Rezeption durch arabische Schriftsteller. Zu diesen Ausnahmen dürfte auch die Musil gehören, zumindest in qualitativer Hinsicht. Denn anders als bei vielen deutschsprachigen Autoren (darunter sicherlich auch die oben erwähnten fünf Autoren) erfolgte die Übersetzung seiner Werke fast ausschließlich direkt aus dem Deutschen und nicht über die Vermittlung des Englischen und Französischen.

3. Die Eckpfeiler der Musil-Rezeption in der arabischen Welt Nach dem Krieg kam es im deutschsprachigen Raum nur sehr langsam zu einer Wiederbelebung des Interesses an Musils Werk.8 Auch im arabischen Raum war die Rezeption Musils mit Verzögerungen verbunden. Mittlerweile gilt Musil dort jedoch neben Marcel Proust und James Joyce als einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne Westeuropas. Sein Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften wurde bisher zwei Mal übersetzt.

7 8

Vgl. Stefan Weidner: 1001 Buch. Die Literaturen des Orients. Bad Herrenalb 2019, S. 30 f. Zur verzögerten Rezeption Robert Musils vgl. Thomas Pekar: Robert Musil. Zur Einführung. Hamburg 1997, S. 10; Matthias Luserke: Robert Musil. Stuttgart u. Weimar 1995, S. 13.

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3.1 Die Übersetzungen Meinen Recherchen zufolge begann man vermutlich in den 1960er Jahren Musil ins Arabische zu übertragen. 1967 wurde eine arabische Übersetzung von Musils Erzählung Die Amsel in der Kulturzeitschrift Fikrun wa Fann9 unter dem Titel Al-schahrur veröffentlicht.10 Sie stammt von dem ägyptischen Literaturkritiker und Übersetzer Magdi Youssef, der auch einer der Redakteure dieser Zeitschrift war; er übertrug den Text direkt aus dem Deutschen ins Arabische. In derselben Zeitschrift erschien 1977 eine weitere arabische Übersetzung Musils, diejenige von Kann ein Pferd lachen?11 unter dem Titel Hal yadhak al-hisan. Der Übersetzer ist nicht bekannt. Diese beiden Übersetzungen von Texten aus dem Nachlaß zu Lebzeiten fanden jedoch keine Resonanz. Erst 1997 erfolgte die erste vollständige arabische Übersetzung von Drei Frauen und damit von Texten, die aufgrund ihrer »konventionellen Erzählweise« in der Sekundärliteratur sogar als »Fremdkörper«12 im Werk Musils bezeichnet worden waren. Die drei Novellen erschienen im renommierten Al-Kamel-Verlag13 unter dem Titel Thalatu nisa'.14 Sie wurden ebenfalls direkt aus dem Deutschen ins Arabische übertragen, und zwar von dem irakischen Literaturübersetzer und Schriftsteller Hussain Al-Mozany.15 In der Einleitung zur Übersetzung mit dem Titel Suche nach Vollkommenheit gibt Al-Mozany einen knappen Überblick über Musils Leben und eine Einführung in die drei Novellen. Dabei stellt er Musil als einen der wichtigsten Schriftsteller der modernen deutschsprachigen Literatur sowie als Vertreter der expressionistischen Literaturszene dar, dessen Bücher unter ökonomischem Gesichtspunkt allerdings nicht erfolgreich waren. Al-Mozany betont die Liebes- und Todesproblematik in Drei Frauen und ordnet diesen Band 9 10 11 12 13

14 15

Die Zeitschrift Fikrun wa Fann (Gedanke und Kunst) war eine vom Goethe-Institut herausgegebene Kulturzeitschrift in arabischer Sprache. Sie erschien zwischen 1963 und 2016 zweimal jährlich. Vgl. Robert Musil: Al-schahrur. Übers. v. Magdi Youssef, in: Fikrun wa Fann 9 (1967), S. 67–77. Diese Übersetzung wurde 1973 im 22. Band (S. 39–51) der Zeitschrift erneut ohne Änderungen abgedruckt. Vgl. Robert Musil: Hal yadhak al-hisan?, in: Fikrun wa Fann 30 (1977), S. 85 f. Luserke: Robert Musil (Anm. 8), S. 58. Der Al-Kamel-Verlag, der sehr erfolgreich Literatur in arabischer Sprache herausgibt, wurde von dem Übersetzer Khalid Al-Maaly 1983 in Köln gegründet. Sein Sitz ist derzeit die libanesischen Hauptstadt Beirut, die als das wichtigste und produktivste Druck- und Verlagszentrum im arabischen Raum gilt. Khalid Al-Maaly wurde 2021 mit dem Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland ausgezeichnet. Robert Musil: Thalatu nisa’. Übers. v. Hussain Al-Mozany. Köln 1997. Hussain Al-Mozany (1954–2016), geboren im Irak, studierte Arabistik in Kairo und Germanistik in Münster, wo er von 1980 an bis zu seinem Tod lebte. Er gilt als einer der wichtigsten Übersetzer deutschsprachiger Literatur ins Arabische. Neben Musils Drei Frauen übersetzte er weitere wichtige Texte unter anderem von Rainer Maria Rilke, Günter Grass und Sigmund Freud.

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dem Frühwerk Musils zu, das eng mit dessen Biographie verbunden sei. Zudem befasst er sich mit Musils Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften und hebt in diesem, wie er schreibt, ›endlosen‹ Text Nietzsches Einfluss auf Musils Gedankenwelt hervor sowie auch Musils Protest gegen die Entfremdung als problematischen Modus der Existenzerfahrung des Menschen in der Moderne.16 Der 1930 erschienene erste Band des Mann ohne Eigenschaften wurde 2003 von dem in Deutschland lebenden irakischen Autor Fadhil Al-Azzawi ins Arabische übertragen.17 Der Titel dieser ebenfalls im Al-Kamel-Verlag erschienenen Übersetzung lautet Alrajul al-ladi la khisala-lahu, was mit »Der Mann, der keine Eigenschaften hat« ins Deutsche rückübersetzt werden kann.18 Ein Auszug aus dieser Übersetzung wurde bereits im Januar 2001 in der omanischen Kulturzeitschrift Nazwa veröffentlicht, dort aber unter dem Titel Rajul bila Simat, was sich mit »Ein Mann ohne Eigenschaften« ins Deutsche zurückübersetzen ließe.19 Al-Azzawis Übersetzung blieb jedoch unvollständig, denn von den 123 Kapitel, die das erste Buch ausmachen, sind nur 80 Kapitel übersetzt. Eine weitere arabische Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften wurde ein Jahrzehnt später publiziert. Der Übersetzer war der syrische Germanist Muhammed Jadid. Die neue Übersetzung erschien 2014 im libanesisch-irakischen Verlag Al-Mada, unter dem Titel Rajul bila Sifat, was mit »Ein Mann ohne Eigenschaften« ins Deutsche rückübersetzt werden kann.20 Diese Übersetzung wurde von der arabischen Kritik als eine großartige Leistung des syrischen Germanisten und Übersetzers begrüßt; nicht nur wegen des Umfangs des Romans, sondern auch und vor allem, weil Jadid sie oder zumindest Teile von ihr mitten im syrischen Bürgerkrieg, der bedauerlicherweise noch immer andauert, anfertigte. Jadids Übersetzung ist ebenfalls unvollständig. Er hat den Roman nur bis zum 104. Kapitel des Romans ins Arabische übertragen. Seine Übersetzung besteht aus nur 791 Seiten, während das Original nicht weniger als 1000 Seiten umfasst. Es gibt im Vergleich mit dem deutschen Original Textpassagen, die weggelassen wurden. So fehlt, um ein Beispiel zu geben, gleich zu Beginn in der arabischen Übersetzung der folgende Satz, ohne dass dafür eine Begründung gegeben wird: »Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit« 16 17 18 19 20

Vgl. Hussain Al-Mozany: Albahth anil-kamal [Suche nach Vollkommenheit], in: Robert Musil: Thalatu nisa' (Anm. 14), S. 5–11. Fadhil Al-Azzawi studierte englische Philologie an der Universität Bagdad. 1977 wanderte er in die DDR aus, wo er in Publizistik promovierte. Er gilt als einer der wichtigsten auf Arabisch schreibenden Autoren der Gegenwart. Robert Musil: Alrajul al-ladi la khisala-lahu. Übers. v. Fadhil Al-Azzawi. Köln 2003. Robert Musil: Rajul bila Simat. Fasl min Riwaya [Ein Mann ohne Eigenschaften. Ein Romankapitel]. Übers. v. Fadhil Al-Azzawi, in: Nazwa 25 (2001), S. 215–222. Robert Musil: Rajul bila Sifat. Übers. v. Muhammed Jadid. Beirut 2014.

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(MoE, S. 9).21 Das Buch enthält auch keine Einleitung, die den arabischen Leser in die Welt des Autors und seines Werkes einführt. Stattdessen wird Musil nur in einem kurzen Klappentext vorgestellt. Anders als Al-Mozany in seiner Übersetzung von Drei Frauen liefert Jadid keine Hinweise auf seine Übersetzungsstrategien für diesen sprachlich sehr anspruchsvollen Text. Dennoch wurden diese drei arabischen Übersetzungen – die Drei Frauen und die beiden Übersetzungen des Mann ohne Eigenschaften – recht gut rezensiert. Sie bildeten wichtige Ausgangspunkte für die weitere Beschäftigung mit Musil und seinem literarischen Schaffen in der arabischen Literaturkritik. Seit Jadids Übersetzung gibt es keine weiteren ›vollständigen‹ Übersetzungen von Musils Werken. Stattdessen werden ausgewählte Prosatexte Musils, vor allem aus dem Nachlaß zu Lebzeiten, übersetzt; sie erscheinen in verschiedenen Zeitungen in den arabischen Ländern. Übersetzungen aus den 1980er oder 1970er Jahren und vor allem noch frühere sind zudem sehr schwer zugänglich. Es fehlen immer noch Datenbanken für arabische Übersetzungen fremdsprachiger Literatur, was die Recherche sehr aufwändig gestaltet. Übersetzungen von Musils kürzeren Texten werden in zunehmendem Maße in digitaler Form publiziert und sind daher auch leichter zu finden. Zu diesen zählt beispielsweise Hussain Al-Mozanys Übersetzung von Musils Fliegenpapier (1957), die 2014 unter dem Titel Massyadat al-dhubab mit präzisen Informationen über den Autor und den Text online veröffentlicht wurde.22 Zu den jüngsten dieser Kurzübersetzungen gehört meine Übertragung des Textes Fischer an der Ostsee unter dem Titel Sayaadun ala bahr albaltiq.23

3.2 Die Rezeption in literarischen Zeitschriften und im Feuilleton Die Rezeption durch die Literaturkritik schlägt sich in einer umfangreichen Reihe literaturkritischer Abhandlungen, Essays, Artikel und Rezensionen nieder, die überwiegend in arabischen (Fach-)Zeitschriften sowie auch in (Online-)Zeitungen veröffentlicht worden sind. Ich kann hier nur auf wenige Artikel eingehen, nämlich die Texte des irakischen Autors und Übersetzers Hussain Al-Mozany, des ägyptischen Übersetzers Samir Grees und des palästinensischen Literaturkritikers Faisal Darrag. Neben der bereits genannten Übersetzung von Musils Novellenband Drei Frauen publizierte Al-Mozany 1998 einen Aufsatz zum Mann ohne Eigenschaften. Darin würdigte er Musils Bemühen um Genauigkeit des Ausdrucks und behandelte einige Themen, die er für Musils Werk zentral hielt wie 21 22 23

Vgl. ebd., S. 7. Vgl. Hussain Al-Mozany: 'Irhasat al-hadatha [Zeichen der Moderne], in: Ahewar (28. 12. 2014), Nr. 4675, http://www.ahewar.org/debat/show.art.asp?aid=447923 (aufgerufen am 1. 7. 2022). Robert Musil: Sayaadun ala bahr al-baltiq. Übers. v. Zouheir Soukah, in: Ahewar (3. 3. 2021), Nr. 6854, https://www.ahewar.org/debat/show.art.asp?aid=713892 (aufgerufen am 1. 7. 2022).

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Zouheir Soukah

die Entfremdung und die Einsamkeit des Menschen im modernen Großstadtleben.24 Den Mann ohne Eigenschaften bezeichnete er als »ein gefährliches Lebensrisiko, das im Tod des Schriftstellers sein Ende gefunden hat.«25 Der Übersetzer Samir Grees befasste sich in einer 2005 online veröffentlichten Rezension mit Al-Azzawis Übertragung des Mann ohne Eigenschaften. In dieser lieferte er einen Überblick über die Zeit der Entstehung, den Inhalt und die zentralen Motive dieses Romans sowie die Bedeutung, die ihm in der Rezeption in Deutschland und im Westeuropa der Nachkriegszeit zukam. Er lieferte einige übersetzungskritische Anmerkungen zu Al-Azzawis Übertragung des Romans. Zwar bewertete er die Übersetzung im Großen und Ganzen als gelungen und ausgewogen, dennoch kritisierte er, dass sie an vielen Stellen zu wörtlich sei; dies betreffe vor allem einige Redewendungen, die nicht adäquat übersetzt worden seien.26 Die gleiche Übersetzung war auch Thema einer schon 2003 erschienenen Rezension des Literaturkritikers Faisal Darrag unter dem Titel Robert Musil und die Albträume der Zivilisation. Dabei zählte er Musils Romanfragment neben Marcel Prousts A la recherche du temps perdu und James Joyce’ Ulysses zu den repräsentativen Romanen der literarischen Moderne. Er zog – wenn auch kurz – Vergleiche zwischen Musil und weiteren europäischen Autoren wie Franz Kafka und Samuel Beckett. In der Kritik an der Weltauffassung der Moderne und ihren Krisen, die sich in zwei Weltkriegen und deren fatalen Folgen manifestierten, sah er den zentralen Gedanken von Musils Roman.27 Auch zu den Verwirrungen des Zöglings Törleß gibt es Beiträge in arabischer Sprache; zudem übertrug Golan Haggi einen Auszug aus J. M. Coetzees Einleitung zu Shaun Whitesides englischer Übersetzung von Musils erstem Roman ins Arabische.28

3.3 Die akademisch-wissenschaftliche Rezeption Von den akademischen, literaturwissenschaftlichen Studien möchte ich drei wichtige literaturwissenschaftliche Arbeiten hervorheben, und zwar die des 24

25 26 27 28

Entfremdung ist für die arabische Literaturkritik ein zentraler Begriff, den sie zur Interpretation literarischer Werke häufig benutzt. Dabei bezieht man sich meist auf die französische Soziologie (vor allem auf Durkheim), die unter dem Begriff in erster Linie den Verlust gesellschaftlicher und kultureller Traditionen versteht. Hussain Al-Mozany: Igra'at albahth ann al-mutlaq [Versuchungen, nach dem Absoluten zu suchen], in: Alhayat (27. 12. 1998), https://www.sauress.com/alhayat/30943752 (aufgerufen am 1. 7. 2022). Samir Grees: Alrajul al-ladi la khisala-lahu [Der Mann ohne Eigenschaften], in: Maaber (Juli 2005), http://maaber.50megs.com/issue_july05/books_and_readings12.htm (aufgerufen am 1. 7. 2022). Faisal Darrag: Robert Musil wa Hadarat al-kawabis [Robert Musil und die Albträume der Zivilisation], in: Alhayat (28. 5. 2003), https://bit.ly/2YyvR1 .f (aufgerufen am 1. 8. 2019). John Maxwell Coetzee: Introduction, in: Robert Musil: The Confusions of Young Törless. Übers. v. Shaun Whiteside. London 2001. Die Übersetzung dieser Einleitung von Golan Haggi

Zur Musil-Rezeption in der arabischen Welt

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renommierten ägyptischen Germanisten Mustafa Maher (1939–2021), der 2021 verstorbenen ägyptischen Germanistin und Literaturübersetzerin Manar Omar und des syrischen Übersetzers Abdelhakim Shubat. Mustafa Maher befasste sich im Rahmen einer 1972 erschienenen umfangreichen Studie über den Roman im zwanzigsten Jahrhundert29 auch mit Musils Werken Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Drei Frauen und Der Mann ohne Eigenschaften, wobei er auch einen Auszug aus dem Roman übersetzte und Musil mit weiteren Vertretern der modernen deutschsprachigen Literatur verglich. Manar Omars Studie Emotionale und sprachlich-begriffliche Verwirrung in Robert Musils Törleß-Roman und der Bezug zur Sprachkrise um die Jahrhundertwende (2000) entstand als Magisterarbeit an der Universität Kairo. Eine sehr kurze arabische Zusammenfassung wurde bereits 2000 in der ägyptischen Kulturzeitschrift Ibdaa abgedruckt,30 ein längeres deutsches Abstract erschien in den Kairoer Germanistischen Studien.31 Zentrale Themen der Studie sind die Sprachreflexion, wobei Omar diese im größeren Kontext der Sprachkrise der Jahrhundertwende untersucht, die Doppelexistenz der Wirklichkeit sowie der Diskurs zu Sexualität und die Kritik an Erziehungsanstalten. Omar analysiert auch die Erzähltechnik sowie die Raum- und Zeitstruktur des Romans. Zwar sei der Törleß-Roman autobiographisch gefärbt, dennoch aber kein Bekenntnisbuch. Im Bereich der Komparatistik findet sich eine interessante vergleichende Studie von Abdelhakim Shubat, die er 2013 online veröffentlichte.32 Darin zieht Shubat einen Vergleich zwischen Robert Musil und dem sudanesischen Romanschriftsteller At-Tayyib Salih (1929–2009). Salih gilt als einer der wichtigsten modernen arabischen Autoren. Shubats Analyse vergleicht Salihs berühmten, 1966 veröffentlichten Roman Mawsim al-hijrah il¯a al-sham¯al (Zeit der Nordwanderung) mit Musils Novellenzyklus Drei Frauen (1924).33 Bis dahin hatten sich die komparatistischen Arbeiten zu Salih eher mit Bezügen

29 30 31 32 33

erschien in: Hawadeth (3. 12. 2016), https://www.masress.com/hawadeth/304482 (aufgerufen am 1. 8. 2019). Mustafa Maher: Alriwayatu al'almania fi alqarn al-eschrin [Der deutsche Roman im zwanzigsten Jahrhundert], in: Alam Al-Fikr 3 (1972), S. 167–226, hier S. 207–209. Manar Omar: Riwayat tawrlas lil 'adib al'Almani Robert Musil [Robert Musils Törleß-Roman], in: Ibdaa 7–8 (Juli/August 2000), S. 145 f. Manar Omar: Emotionale und sprachlich-begriffliche Verwirrung in Robert Musils TörleßRoman und der Bezug zur Sprachkrise um die Jahrhundertwende. Magisterarbeit, Kairo Universität. Giza – Kairo 2000, in: Kairoer germanistische Studien 11 (1998/99), S. 344–348. Abdelhakim Shubat: Talaqi Al-abaqira: At-Tayyib Salih wa Robert Musil [Das Zusammentreffen der Großen: At-Tayyib Salih und Robert Musil], in: Al-Awan (8. 11. 2013), https://bit.ly/ 3swAGUu (aufgerufen am 28. 3. 2021). Zu den Hauptwerken von At-Tayyib Salih (1928–2009), die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden, zählen Die Hochzeit des Zain, 1992 auf Deutsch erschienen und im Jahr 2004 unter dem Titel Sains Hochzeit neu aufgelegt, sowie Zeit der Nordwanderung, sein berühmtester Roman, der 1998 auf Deutsch publiziert wurde.

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Zouheir Soukah

zu Joseph Conrads Herz der Finsternis und zu Oscar Wilde befasst.34 Zentrale Probleme des Romans sind die Grenzüberschreitungen zwischen arabischer und westlicher Kultur sowie die Entfremdung des Menschen in der modernen Welt. Shubat sieht mehrere Ähnlichkeiten zwischen Musils Texten und diesem Roman. Er zieht beispielsweise Vergleiche zwischen Salihs Hauptfigur Mustafa Said und dem tragischen Schicksal Homos, der männlichen Hauptfigur in Musils Grigia. Die von Macht geprägten Beziehungen Mustafa Saids zu seinen jungen britischen Freundinnen erinnern Shubat an das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in Drei Frauen. Zudem vermutet er, dass Salih während seines langen Aufenthalts in London ab 1952 einige ins Englische übersetzte Texte Musils gelesen hat. Weniger spekulativ könnte es sein, dass Tayyib Salih zumindest den groben Inhalt von Musils Texten durch die britischen Medien kannte, da er zu jener Zeit in der arabischen Abteilung der BBC London tätig war.

4. Schlussfolgerungen Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Musils Werke relativ spät im arabischen Raum rezipiert wurden. Ein Grund dafür liegt im sporadischen und nicht institutionell abgesicherten Charakter der arabischen Übersetzungen deutschsprachiger Literatur. Seit Musil mehr internationale Aufmerksamkeit erhält, intensiviert sich seine Rezeption auch im arabischen Raum. Wünschenswert wäre allerdings eine arabischsprachige Einführung, die Textauszüge, den biografischen Hintergrund und historisch-mentalitätsgeschichtliche Informationen zum Autor und seinen Texten enthalten sollte. Eine solche Studie könnte die Aufmerksamkeit von Lesern, Übersetzern und Literaturkritikern auf die bereits vorhandenen arabischen Übersetzungen lenken. Ein Desiderat bildet die Übersetzung von Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Auch der Nachlaß zu Lebzeiten sollte endlich vollständig ins Arabische übertragen werden, da dieses Werk einen guten Einstieg in Musils Gesamtwerk bietet.

34

Valentina Viene: Tajjib Salichs Zeit der Nordwanderung. Ein literarisches Spiegelkabinett, in: Qantara (23. 11. 2017), https://de.qantara.de/node/29444 (aufgerufen am 1. 7. 2022).

Jonila Godole

Robert Musil in Albanien Als ein kleiner Verlag in Tirana1 mich 2009 fragte, ob ich Robert Musils monumentales Werk Der Mann ohne Eigenschaften ins Albanische übersetzen möchte, ahnte ich nicht, dass das eine Odyssee werden würde. Ursprünglich plante der Verlag nahezu das gesamte literarische Werk von Musil (Der Mann ohne Eigenschaften, Drei Frauen, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Nachlaß zu Lebzeiten) im Rahmen des EU-Programms Creative Europe auf Albanisch zu veröffentlichen. Die Initiative scheiterte, am Ende wurde nur der Törleß übersetzt, und das Projekt, den Mann ohne Eigenschaften zu übersetzen, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Es waren seit meinem Studium in Deutschland bereits einige Jahre vergangen, als ich mich entschloss, Texte der deutschsprachigen Literatur ins Albanische zu übertragen, um weiterhin meine Beziehung zur deutschen Sprache und Literatur zu pflegen. So entstanden im Laufe der Jahre Übersetzungen folgender Texte: Die Marquise von O. . . von Heinrich von Kleist, Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adelbert von Chamisso, Duineser Elegien und andere Gedichte von Rainer Maria Rilke, Der Prozeß um des Esels Schatten von Friedrich Dürrenmatt, Die Macht der Gewohnheit von Thomas Bernhard, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter von Peter Handke, Die Mittagsfrau von Julia Franck sowie Ausschnitte aus Werken von Marlen Haushofer und Botho Strauß. Während ich Die Amsel für eine Anthologie mit Erzähltexten der deutschsprachigen Literatur von 1900 bis 1945 übersetzte,2 fing ich an, parallel dazu alle Erzählungen von Musil zu lesen. Wenig später kam der Törleß an die Reihe, und während dieser Arbeit begann ich Musils Mann ohne Eigenschaften aus der Perspektive einer Übersetzerin zu lesen. Form und Inhalt des Textes erschienen mir derart komplex, dass ich zweifelte, ob es in Albanien überhaupt eine Leserschaft für diese anspruchsvolle Art von Literatur geben würde. Nach der Lektüre der ersten 123 Kapitel war ich noch unsicherer als zuvor. Albanische Leser kennen zwar auch andere komplexe Werke wie den Ulysses von James Joyce oder 2666 von Roberto Bolaño sowie äußerst umfangreiche Romane wie Der Streik von Ayn Rand; dennoch erschien es mir 1 2

Der Verlag pika pa sipërfaqe, gegründet 2009, kaufte 2011 vom Rowohlt Verlag die Übersetzungsrechte für die Werke Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Der Mann ohne Eigenschaften. Tregimtarë të gjuhës gjermane 1900–1945 [Deutschsprachige Erzähler 1900–1945]. Hg. v. Ardian Klosi u. Jürgen Röhling. Tirana 2008.

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Jonila Godole

wahrscheinlich, dass den Mann ohne Eigenschaften dasselbe Schicksal ereilen könnte wie Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, der ebenfalls noch nicht in albanischer Sprache erschienen ist. In Anbetracht der hohen Anzahl an albanischen Übersetzungen aus dem Deutschen im letzten Jahrzehnt könnte der Eindruck entstehen, dass die deutschsprachige Literatur in Albanien einen hohen Stellenwert hat. Betrachtet man jedoch die Titel und die Autoren sowie ihre Resonanz bei der Leserschaft genauer, bemerkt man eine Besonderheit. Die deutschsprachige Literatur ist im Vergleich zur englischen, italienischen oder französischen bei der jüngeren Generation kaum bis gar nicht bekannt. Schüler lernen im Gymnasium heute beispielsweise nur noch wenige Seiten von Thomas Mann kennen, während sie etwa von Albert Camus ganze Bücher lesen. Das Erlernen des Deutschen hat als Ausgangspunkt – das gilt auch für andere Sprachen – selten das Interesse, bestimmte Autoren im Original zu lesen. Es ist eher pragmatisch motiviert und orientiert sich an den Möglichkeiten, die der Arbeitsmarkt in Deutschland, Österreich und der Schweiz bietet. Die deutsche Sprache konnte sich in Albanien in früheren Zeiten im Gegensatz zu einigen anderen Sprachen nicht als wichtige Fremdsprache etablieren. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab es Gymnasien in Tirana und Shkodra, in denen auf Italienisch gelehrt wurde, ein französisches Lyzeum in Korca sowie Fachschulen mit englischem Sprachunterricht in Tirana, Vlora und Kavaja. Für die deutsche Sprache gab es keine vergleichbare Schule.3 Viele Albaner studierten zwischen 1912, dem Jahr der albanischen Unabhängigkeitserklärung, und 1939 an Universitäten im deutschsprachigen Ausland, insbesondere in Österreich. Jedoch wurden die im Westen Ausgebildeten im Zuge der Machtübernahme des kommunistischen Regimes 1944 nicht als Kulturvermittler behandelt. Im Gegenteil, falls sie nicht politisch verfolgt oder inhaftiert wurden, drängte man sie gesellschaftlich an den Rand. Viele von ihnen verbrachten ihr Leben damit, die Propagandawerke der Kommunistischen Partei und des Diktators Enver Hoxha in andere Sprachen zu übersetzen. Einzig zwei der ehemaligen Studenten aus Österreich, der Linguist Eqerem Çabej und der Historiker Aleks Buda, wurden vom kommunistischen Regime in ihren Karrieren gefördert.4 Dies hat in erster Linie mit ihrer Stellung auf dem Gebiet der Albanologie zu tun, die vor dem Ersten Weltkrieg vor allem von österreichischen Gelehrten getragen wurde. Die Albanologie wurde weiterhin systematisch unterstützt. Ein Grund dafür mag sein, dass bekannte Albanologen wie Johann Georg von Hahn, Gustav Meyer, Milan von Šufflay, der Historiker Carl Patsch oder der Paläontologe ungarischer Herkunft Baron Franz Nopcsa die These von der illyrischen Herkunft 3 4

Vgl. Ali Dhrimo: Deutsche Sprache und Deutschunterricht in Albanien, in: Germanistik in Mittel- und Osteuropa 1945–1992. Hg. v. Christoph König. Berlin, New York 1995, S. 61–70, hier S. 64. Vgl. ebd.

Robert Musil in Albanien

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der Albaner und der albanischen Sprache vertreten hatten. Dieser Ansatz entsprach den Plänen der kommunistischen Führung, welche die nationalistische Ideologie nutzte, um die Macht um jeden Preis zu behalten. Ab Ende der 1950er Jahre entsandte die Volksrepublik Albanien einige Studenten zur beruflichen Ausbildung in die DDR und andere Ostblockstaaten. Trotz der späteren Hinwendung zu China blieb der Kontakt zur DDR auch nach dem Bruch mit der Sowjetunion bestehen, insbesondere der Austausch zwischen den Geheimdiensten Stasi und Sigurimi. 1979 bot die Fremdsprachen-Fakultät in Tirana neben Englisch, Französisch und Russisch erstmals deutschen Sprachunterricht für eine kleine Gruppe Studenten ausgesuchter Familien an. Europäische Autoren mussten zunächst ideologische Filter passieren, bevor sie in Albanien bekannt gemacht werden durften. Der albanische Linguist Ali Dhrimo schreibt 1995,5 dass vor allem Klassiker und linke Autoren ins Albanische übertragen worden sind. Von Bertolt Brecht wurden Dramen und Gedichte übersetzt; 1984 wurden Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll und 1989 Deutschstunde von Siegfried Lenz auf Albanisch veröffentlicht. Einige Autoren fanden einzig deswegen Einzug in die albanische Literaturlandschaft, weil ihre Werke wie Stefan Zweigs Joseph Fouché. Bildnis eines politischen Menschen ein dekadentes Bürgertum oder wie Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? eine degradierte Mittelschicht zeigen. Es erschienen Erich Maria Remarques Bücher, die sich mit dem Ersten Weltkrieg befassen, und auch der historische Roman Die Jüdin von Toledo von Lion Feuchtwanger. Einen Sonderfall stellt die Veröffentlichung literarischer Werke der Familie Mann dar. In den 1960er Jahren und den Folgejahren erschienen Thomas Manns Buddenbrooks und später auch Tonio Kröger, sowie Der Untertan von Heinrich Mann und sogar Mephisto von Klaus Mann. Die Auflagen waren gering, und die hauptsächlich von der Elite der Hauptstadt gekauften Bücher wurden später nicht wieder neu aufgelegt. Bemerkenswert ist, dass erst in den 1980er Jahren zwei deutsche Autoren als Vertreter der Literatur des 20. Jahrhunderts in die Lehrpläne der Universität Tirana aufgenommen wurden, nämlich Brecht und Böll.6 Ende der 1980er Jahren wurde ein Sammelband österreichischer Lyrik des 20. Jahrhunderts veröffentlicht, eine rein ideologisch motivierte Auswahl entlang bestimmter Themen, die Autoren wie Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Theodor Kramer oder Ingeborg Bachmann wegließ. Zweigs Schachnovelle und Die Welt von Gestern erlangten damals hingegen große Beliebtheit. Vor allem Die Schachnovelle sollte bis in die späten 1990er Jahre ein Bestseller bleiben. Erst nach Ende der Diktatur Anfang der 1990er Jahre wurden Hermann Hesse, Franz Kafka, Gottfried Benn, Georg Trakl, Friedrich Dürrenmatt und 5 6

Vgl. ebd., S. 66. Vgl. Agron Tufa: Letërsia gjermane në Shqipëri [Deutsche Literatur in Albanien]. Unveröffentlichtes Manuskript 2009.

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weitere ehemals verbotene Autoren übersetzt. In den letzten zehn Jahren wurden viele Werke österreichischer Schriftsteller wie Arthur Schnitzler, Robert Musil, Joseph Roth, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, neuerdings auch Peter Handke und Hermann Broch ins Albanische übertragen. Eine Suche im Online-Katalog der albanischen Nationalbibliothek nach Musil ergibt insgesamt nur 22 Einträge;7 dabei werden manche Titel mehrfach verzeichnet und es fallen darunter auch Texte der Sekundärliteratur zu Musil. Am häufigsten wurden neben Aphorismen kürzere Texte aus dem Nachlaß zu Lebzeiten übersetzt, die über die Jahre hinweg in Literaturzeitschriften und Tageszeitungen erschienen. Musils Werke wurden in Albanien erst spät publiziert – im Gegensatz zu anderen kommunistischen Ländern wie zum Beispiel Polen, wo bereits zwischen 1960 und 1980 viele seiner Werke veröffentlicht wurden. Die ersten Texte Musils, die ins Albanische übertragen wurden, waren die Kindergeschichte (2000) und Ein Mensch ohne Charakter, der seit 2001 mehrfach übersetzt und in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurde. Die Versuchung der stillen Veronika wurde 2003 veröffentlicht. Erst 2012 kam meine Übersetzung des Törleß heraus; ich habe den Eindruck, dass dieser Roman nicht nur häufig empfohlen, sondern auch viel gelesen wird. Im albanischen Sprachraum8 folgen die Veröffentlichungen deutschsprachiger Literatur bisher keiner verlegerischen Strategie und richten sich auch an kein Massenpublikum. Insbesondere nach den 2000er Jahren verstärkte sich die Tendenz, gut verkäufliche Literatur in einfacher und verständlicher Sprache zu publizieren. Einige internationale Kulturprojekte legten den Schwerpunkt auf zeitgenössische regionale und europäische Literatur.9 So wurde das Mammutprojekt der Veröffentlichung des Mann ohne Eigenschaften in albanischer Übersetzung mehrfach von Förderinstitutionen und Stiftungen abgelehnt, und mir wurde dringend empfohlen, den Autor zu wechseln. Nun scheint die Odyssee, die die Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften ins Albanische bedeutet, zu Ende zu gehen – vielleicht ist es aber auch erst deren Anfang. Der Onufri Verlag, der unter anderem Ismail Kadare veröffentlicht, ist jedenfalls entschlossen, dieses vielleicht wichtigste literarische Werk des 20. Jahrhunderts in albanischer Übersetzung zu publizieren. Mit Unterstüt7 8 9

Vgl. https://www.bksh.al/search/Robert%20Musil (aufgerufen am 20. 10. 2022). Damit sind die Albaner in der Republik Albanien, im Kosovo, in Nordmazedonien und in Montenegro gemeint. Der Buchmarkt in Albanien ist klein und der Vertrieb von Büchern in albanischer Sprache im Kosovo, in Nordmazedonien und in Montenegro erfolgt nicht systematisch. Daher publizieren Verlage hauptsächlich ausländische Autoren, die von internationalen Programmen unterstützt werden. Eines dieser Programme der letzten Jahre ist Creative Europe, in dessen Rahmen u. a. Handkes Angst des Tormanns beim Elfmeter erschienen ist. Für Autoren aus westeuropäischen Ländern und den USA kommt die Unterstützung hauptsächlich von den jeweiligen Botschaften dieser Länder. Für die Länder Mittel- und Osteuropas hingegen ist Traduki der Hauptunterstützer des (inter-)regionalen Kulturaustauschs.

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zung des österreichischen Bundeskanzleramtes wurde die Veröffentlichung des ersten Bandes des Mann ohne Eigenschaften (Kapitel 1–123) sichergestellt. Während der Vorbereitung dieses Artikels erschien am 19. Oktober 2022 bereits der erste Teilband mit den ersten 75 Kapiteln10 und wurde im Rahmen der österreichischen Kulturwoche in Albanien präsentiert.11 Das Buch wurde auch während der Nationalen Buchmesse im November einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Es ist zu hoffen, dass es bei den Lesern genauso gut ankommt wie bei den ersten Literaturkritikern, die das Buch erhalten haben. Das monumentale Werk von Musil ins Albanische zu übersetzen, stößt auf drei Hauptschwierigkeiten, und zwar auf der kulturellen, der ästhetischen und der sprachlichen Ebene. Natürlich ist es nicht einfach, die Atmosphäre Wiens, das Zusammenleben und das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen und Nationen am Ende der legendären Ära Kaiser Franz Josephs der Leserschaft einer Nation zu vermitteln, die damals außerhalb der Monarchie lebte. Allerdings hatte aus historischer Sicht Österreich-Ungarn erheblichen Anteil daran, dass Albanien 1912 unabhängig wurde. Manche Leser könnten daher motiviert sein, den Roman als Möglichkeit zu nutzen, die politische Situation zu verstehen, in der sich die Monarchie am Anfang des 20. Jahrhunderts befand. Auf ästhetischer Ebene kann einem durchschnittlichen Leser die Lektüre eines Romans schwerfallen, dem ein klar erkennbarer Erzählstrang fehlt und der sich im Gegenzug auf unzählige Reflexionen, essayistische Passagen und die Innenwelt der Figuren fokussiert. Während Hermann Broch den Leser an die Hand nimmt und mit ihm in Die Schlafwandler geduldig die Etappen des Gesellschaftszerfalls verfolgt, zwingt Musil in seinem ironischen Erzählgestus den Leser, die Komplexität der historischen Ereignisse mit den Augen einer Person zu analysieren, die diesen distanziert gegenübersteht. Auch sprachlich verlangt Musil dem albanischsprachigen Leser einiges ab. Hätte dieser zuvor die Satiren von Karl Kraus, Joseph Roths Radetzkymarsch oder Hugo von Hofmannsthals Der Schwierige gelesen, wäre der Text für ihn leichter zu verstehen. Für den Übersetzer stellt die Anpassung der Sprache Musils an den heutigen Sprachgebrauch keine leichte Aufgabe dar. Der Mann ohne Eigenschaften ist reich an Humor, subtiler Satire, essayistischen Reflexionen, die Fragen der Philosophie, Psychologie, Physik und Mathematik betreffen; zahllos sind die Bezüge auf Kultur- und Zeitgeschichte, die ohne die wertvolle Hilfe der Sekundärliteratur nicht aufzuschlüsseln wären. Aus all diesen Gründen ist die Übersetzung eines solchen Werkes eine enorme Aufgabe und gleichzeitig ein intellektuelles Vergnügen. Als Übersetzerin darf ich mich nach Abschluss der ersten 75 Kapitel wie eine Absolventin der Musil-Universität fühlen. Denn 10 11

Nach Rücksprache mit Walter Fanta vom Robert Musil-Institut in Klagenfurt wird das erste Buch auf zwei Bände aufgeteilt (Kapitel 1–75 und 76–123). Robert Musil: Njeriu pa cilësi [Der Mann ohne Eigenschaften]. Bd. 1. Übers. v. Jonila Godole. Tirana 2022.

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Jonila Godole

wie Claudio Magris zu Recht sagt, ist der Mann ohne Eigenschaften »die größte Enzyklopädie der modernen Kultur, eine deswegen so vollständige Enzyklopädie, weil sie unbegrenzt, fragmentarisch und unabgeschlossen ist.«12 Auf den ersten Blick gibt es kaum Parallelen zwischen der Situation in Albanien heute und der historischen Periode, die Musil in seinem Roman beschreibt. Vielleicht kann man eine gewisse Ähnlichkeit in den oft chaotischen Transformationsprozessen sehen, die Ulrich beobachtet und die auch die albanische Gesellschaft von heute prägen. Albanien durchläuft eine nun schon dreißig Jahre dauernde Transition von einem totalitären Regime zu einer Demokratie und passt sich oft hastig und ohne gründliche Überlegung den jeweiligen Herausforderungen der Zeit an. Im kommunistischen Albanien hatten die Menschen nach einem Katalog von Werten gelebt, die vom Regime vorherbestimmt und dadurch bereits gründlich kompromittiert waren. Seit 1990 sucht die albanische Gesellschaft eine Orientierung an neuen Werten, die aber in einer Zeit des Umbruchs nicht wirklich gelingt. Der Konflikt zwischen den herkömmlichen Werten und der deutlich veränderten Realität verursacht eine große Unsicherheit, insbesondere für die junge Generation. Der Mann ohne Eigenschaften lädt uns dazu ein, unsere Positionen ständig zu überdenken und Veränderungen nicht von vornherein als Bedrohung zu betrachten.

12

Claudio Magris: Die Odyssee des Robert Musil, in: Merkur 33 (Februar 1979), H. 369, S. 138– 148, hier S. 146.

Andy Jelčić

Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und seine Sonderstellung in der kroatischen Kultur Der Historiker und Journalist Josip Horvat (1896 in Čepin – 1968 in Zagreb) war die Schlüsselfigur für die frühe Rezeption von Musils Mann ohne Eigenschaften in Kroatien. Horvat schrieb ab 1913 für die Tageszeitung Obzor und wirkte bis zu den großen Umwälzungen des Jahres 1941, die mit der Konstituierung des sogenannten Unabhängigen Staates Kroatien einhergingen, an der Zeitung mit. Bereits 1934 veröffentlichte Obzor Ausschnitte aus Musils Roman Mann ohne Eigenschaften.1 Der Name Obzor (»Horizont« auf Kroatisch) wurde 1871 für eine Tageszeitung gewählt, nachdem ihre politische Vorgängerin Pozor (»Achtung« auf Kroatisch) auf Missbilligung der regierenden Kreise gestoßen und eingestellt worden war. Obwohl unterschiedlich in seiner Bedeutung, versuchte der neue Name Obzor offensichtlich formal an den alten Namen anzuknüpfen. 1881 wurde er noch einmal in Pozor geändert und fünf Jahre später wurde daraus wieder Obzor. Dieser von 1886 bis 1905 in Zagreb erscheinende Obzor war das Parteiblatt der Hrvatska stranka prava, der Kroatischen Partei des Rechts, die im heutigen Kroatien wieder ins Leben gerufen wurde, aber nun nur eine marginale politische Rolle spielt. Ab 1905 knüpfte der Obzor wieder an seine Traditionen aus dem 19. Jahrhundert an, und die neue Redaktion legte das Blatt wesentlich breiter an, sodass es wieder zu einer allgemein informierenden Tageszeitung wurde. Es gab sogar zwei Ausgaben, eine Morgen- und eine Abendzeitung, die nicht nur zu verschiedenen Zeiten in Umlauf gebracht wurden, sondern auch entsprechend hießen. Ab 1920 gab es wieder nur eine Ausgabe des Obzor, der nun in einer anderen Druckerei hergestellt wurde, dem Hrvatski štamparski zavod (Kroatische Druckanstalt). Der Leiter dieser Druckerei war in ihrer späteren Phase, die bis 1941 dauerte, Rudolf Meixner (1901 in Varaždin – 1972 in Zagreb). Er hatte ein sehr ausgeprägtes Interesse an Literatur; als Romanist verfasste er für verschiedene französische Literatur- und Kulturzeitschriften eine Reihe von Artikeln über kroatische Autoren und die Rezeption übersetzter französischer Autoren in Kroatien und in den anderen Teilen Jugoslawiens. 1

Häufig wird fälschlicherweise angenommen, dass ein anderer Josip Horvat, der weit berühmtere Schriftsteller und Chronist (1915 in Kotoriba – 2012 in Zagreb), der 1965 bis 1967 und 1973 mit zwei verschiedenen Booten die Welt umsegelte und seine Erfahrungen, besonders jene der ersten Reise, in einem viel gelesenen und mehrfach übersetzten Reisebericht festhielt, die Beiträge zu Musil für die Tageszeitung Obzor verfasst hatte.

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Andy Jelčić

Obwohl sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Nord-SüdAchse, zu der Kroatien als Teil der Habsburgermonarchie auch gehörte, mit dem Untergang von Österreich-Ungarn in die slawische West-Ost-Achse umwandelte und Kroatien zum konstitutiven Teil des neuen jugoslawischen Staates wurde, blieb die kulturelle Ausrichtung in Nordkroatien und Slawonien, mit den drei Zentren Zagreb, Varaždin und Osijek, eindeutig deutsch. Deutsch war die (Fremd-)Sprache, die man in der Schule immer noch lernte und die wie heute etwa Englisch die Mehrheit der durchschnittlich bis gut gebildeten Bevölkerung beherrschte. Deutsch geprägt war auch der Kulturkreis, mit dem man vertraut war: vom Brauchtum und den typischen Gerichten bis zur ehemaligen Amtssprache, die auf Formularen auch nach 1918 noch zu finden war. Als Meixner auf Horvats Idee einging, die Leserschaft mit Musil und dem Mann ohne Eigenschaften bekannt zu machen, wurde dies sehr gründlich umgesetzt: Vom 27. Januar bis zum 22. Februar 1934 erschien in einer Zeitung, deren Auflage bis zu 15 000 Exemplare erreichte, im täglichen Rhythmus eine Reihe von Artikeln, die alles in allem etwa 70 Normseiten (30 Zeilen à 60 Anschläge) umfassten. Diese Artikel teilen sich auf acht Kapitel von ungleicher Länge auf, die einen einheitlichen Text bilden. Er besteht zu sechzig Prozent aus der Übersetzung Musils und zu vierzig Prozent aus Horvats Kommentaren, wobei beides ineinander verwoben ist. Der Name des Übersetzers bzw. der Übersetzerin ist nirgends angeführt.2 Horvat betitelte seinen Text folgendermaßen: Kakanija Epopeja o svijetu koji je propao. O Robertu Musilu, njegovom romanu Der Mann ohne Eigenschaften i problemima književnosti u Trećem Reichu (Kakanien. Das Epos einer Welt, die untergegangen ist. Über Robert Musil, seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften und die Probleme der Literatur im Dritten Reich)

Er beginnt mit einer biographischen Vorstellung Musils und gleich am Anfang stellt er den Mann ohne Eigenschaften neben Thomas Manns Zauberberg, Jakob Wassermanns Etzel Andergast und Hermann Brochs Schlafwandler, etwas weiter im Text neben Marcel Proust und James Joyce. 2

Der Vergleich mit Zlatko Gorjans Übersetzung aus dem Jahr 1967 zeigt systematische Unterschiede zu diesem Text, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Übersetzung von ihm stammt, ist sehr gering. Zlatko Gorjan war damals zwar 32 Jahre alt und theoretisch imstande, diese Aufgabe zu übernehmen, aber es ist viel wahrscheinlicher, dass die Übersetzung von Horvat stammt, denn die Lexik, die Syntax, die morphologischen Merkmale sowie der Anteil der Fremdwörter in der Übersetzung stimmen mit denen im von Horvat selbst verfassten Textteil überein. Außerdem fällt Gorjans gesamtes übersetzerisches Schaffen in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Robert Musils Mann ohne Eigenschaften in der kroatischen Kultur

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Aus heutiger Sicht ist sein weiterer Text eine Parade der Greatest Hits mit entsprechenden Erläuterungen und Textbeispielen: Er befasst sich mit Kakanien, dem genialen Rennpferd, Bonadea, Diotima, Graf Leinsdorf, General Stumm von Bordwehr und erläutert, was die Wendung »Es ist passiert« (MoE, S. 35) bedeutet. Horvat sieht General Stumm in der Gesellschaft von Jaroslav Hašeks Charakteren aus seinem Roman Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk und setzt auch diesen Roman auf die gleiche Stufe wie den Mann ohne Eigenschaften. Ob dies aus der Sicht der heutigen Literaturwissenschaft seine Berechtigung hat, ist natürlich fraglich, aber es muss betont werden, dass in der kroatischen (und jugoslawischen) Rezeption Švejk, anders als die Romane von Proust und Joyce, eine Sonderstellung einnimmt und häufig als Referenz bemüht wird. Der Ankündigung des Titels, Probleme der Literatur im Dritten Reich zu erörtern, wird erst am Ende entsprochen und zwar anhand der Ausführungen des heute unbekannten Literaturkritikers Werner Klau, der behauptet hatte, »die bürgerlich-humanistische Literatur hätte ausgedient« (Rückübersetzung aus Horvats Text, A. J.). Obwohl er den von Klau genannten Beispielen der neuen Literatur die Qualität nicht abspricht, meint Horvat, sie hätten das Niveau der etablierten Gesellschaftsromane (inklusive Musil) nicht erreicht, und unterstreicht nochmals dessen kanonischen Rang.3 Interessanterweise scheut Horvat davor zurück, den Begriff »Parallelaktion« an irgendeiner Stelle entsprechend zu übersetzen. Er wiederholt ständig den Begriff »velika patriotska akcija« (große patriotische Aktion) und vermeidet es, auf die Sprachverfremdung Musils einzugehen, die der heute vertraute, aber damals ungewöhnliche Begriff der Parallelaktion bedeutete. Horvat wählte für den Titel die Variante Čovjek bez svojstava, die Gorjan im Jahr 1967 für seine Übersetzung übernahm. Unter diesem Titel war der Roman lange bekannt und die Änderung des Titels, an den man so lange gewöhnt war, in Čovjek bez osobina löste 2008 viel Widerstand aus. Diese Änderung, die auch Branimir Živojinović (1930 in Beograd – 2007 in Beograd) in seiner serbischen Übersetzung vornahm, ist das Resultat einer semantischen Verschiebung, die während des letzten halben Jahrhunderts stattgefunden hat.4 Weil man mittlerweile ausschließlich bei Stoffen von svojstva (Eigenschaften) spricht, ist dieser Begriff im Bewusstsein der meisten Sprecher an unbelebte Materie gebunden, während eine osoba (Person) osobine (Wesenszüge) besitzt. 3

4

Horvat könnte sich auf folgende Artikel bezogen haben, in denen Musil als Repräsentant der städtisch-humanistischen Literatur kritisiert wird: Werner Klau: Blick auf die deutsche Dichtung, in: Tägliche Rundschau. Unabhängige Zeitung für nationale Politik (6. 4., 28. 4., 23. 6. 1933), Unterhaltungsbeilage; ders.: Die Fronten der deutschen Dichtung, in: Die Tat. Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit 25 (August 1933), H. 5, S. 401–409 sowie 25 (September 1933), H. 6, S. 482–494. Robert Musil: Čovek bez osobina. Übers. v. Branimir Živojinović. Podgorica, Beograd 2006.

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Andy Jelčić

Die Erkenntnisse über die Rolle von Josip Horvat in der kroatischen und jugoslawischen Musil-Rezeption sind ein Nebenprodukt von Branko Matans Erforschung des Werks von Josip Horvat. Matan ist langjähriger Herausgeber der in Zagreb erscheinenden Kulturzeitschrift Gordogan. Ihn interessieren hauptsächlich andere Texte von Horvat und andere Themenkreise, aber in seiner Forschung ist er auf Horvats lebenslanges Interesse an Musil gestoßen, so auch auf diese Stelle aus Horvats unveröffentlichtem Tagebuch. Warum Musil zu mir kam, ist ziemlich rätselhaft. Ich kann mich erinnern, dass ihn der selige Dežman 1940 auf die Insel Korčula mitnahm. Vielleicht war dies auch ein Jahr davor. Doch das mir zugestellte Exemplar ist die Ausgabe von 1952 [. . .]. Am Nachmittag habe ich nach mehr als drei Jahrzehnten wieder begonnen, Musil zu lesen. Ich weiß nicht mehr, was ich im Obzor über »Kakanien« schrieb. Wahrscheinlich etwas Dummes und Oberflächliches. Jetzt sehe ich die Genialität dieses Schriftstellers, weit über Joyce, geschweige denn Mann. Er ist womöglich der größte aus der Kultur des seligen Österreich erwachsene Literat. (Übersetzung, A. J.)

Horvat erwähnt seine Musil-Lektüre immer wieder und Matan behauptet, er sei im Jahr 1968 mit Musil in Händen gestorben. Trotz der gut vierzig Seiten der etwas barock anmutenden und sprachlich veralteten Übersetzung aus dem Jahr 1934 vergingen über dreißig Jahre bis zur Herausgabe der Übersetzung der beiden Teile des ersten Buches (»Eine Art Einleitung«, »Seinesgleichen geschieht«) der von Rowohlt 1930 veröffentlichten Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften.5 Auf den Krieg, auf die Nachkriegsbindung an die Sowjetunion und die Absage an den Deutschunterricht in Schulen und schließlich auf die harte Phase des jugoslawischen Sozialismus in den 1950er Jahren mit staatlicher Überwachung und eingeschränkten Reisemöglichkeiten folgte schließlich in den 1960er Jahren die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, des touristischen Booms und der Öffnung gegenüber dem Westen. Dann aber waren die finanziellen Mittel da, auch das Interesse des Publikums an der Literatur des westlichen Auslands stellte sich ein, und man begann vor allem amerikanische, französische und britische Autoren zu übersetzen, meist zeitgenössische. Zlatko Gorjan (1901 in Sremska Mitrovica – 1976 in Zagreb) widmete sich nach dem Krieg ganz dem literarischen Übersetzen und war eines der ersten Mitglieder des 1952 gegründeten kroatischen Verbandes literarischer Übersetzer. Es ist unbekannt, wie es zur Entscheidung kam, Musil ins Kroatische zu übertragen und 1967 zu veröffentlichen. Der Mann ohne Eigenschaften war sicherlich bei mehreren Verlagen auf der Liste der Bücher, die unbedingt herauszugeben waren, doch letztlich erfüllte diese Aufgabe der Verlag Otokar Keršovani aus Rijeka, einer Stadt, die der ungarischen und italienischen Tradition verpflichtet war und noch immer ist. Es ist auch nicht bekannt, ob Horvat bei dieser Entscheidung mitwirkte. 5

Robert Musil: Čovjek bez svojstava. Übers. v. Zlatko Gorjan. 2 Bde. Rijeka 1967.

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Zur gleichen Zeit, als der Mann ohne Eigenschaften erschien, wurde Miroslav Krležas (1893 in Zagreb – 1981 in Zagreb) großer Roman Zastave (Die Fahnen) veröffentlicht, auf den ich kurz eingehen möchte, weil er einige bemerkenswerte Parallelen zu Musils Hauptwerk aufweist. Krležas Roman wurde bereits im Jahr 1962 in Fortsetzungen in der kroatischen Literaturzeitschrift Forum publiziert, später dann im Jahr 1967 in Buchform beim Zagreber Verlag Zora. Diese Ausgabe enthielt aber nur vier Bücher und das fünfte Buch erschien 1968, wieder als Fortsetzungsreihe im Forum. Eine Ausgabe, bestehend aus allen fünf Büchern, wurde dann 1976 in Sarajevo veröffentlicht, doch in dieser Ausgabe kam es zu einer bedeutenden Verschiebung der Kapitel, sodass z. B. das fünfte Forum-Buch in Sarajevo das dritte wurde und das dritte Zora-Buch dann das vierte. Auch einzelne Kapitel wurden geändert und neu aufgeteilt. Obwohl der Roman zu einem chronologischen und logischen Abschluss kommt, ist er eigentlich unvollendet, aber seit 1977 schrieb der damals schon 84-jährige Krleža nicht mehr und die Ausgabe von Sarajevo bleibt die letzte. Krleža baut seinen Roman um einen jungen männlichen adeligen Protagonisten herum; er gehört aber nicht zum Hochadel, sodass er zu Mitgliedern aller Gesellschaftsschichten Kontakte hat und dadurch den Punkt bildet, an dem alle Fäden des Romans zusammenlaufen. Das alles mag jedem Musil-Kenner sehr bekannt erscheinen, besonders da die Handlung der beiden Romane teilweise auch dieselbe Zeitperiode abdeckt. In seinen frühen Entwürfen wollte Musil seinen Protagonisten auch in den Krieg schicken; in diesem Falle wäre die Parallelität der Handlungen noch offensichtlicher.6 Es ist verständlich, dass Krleža die ihm mehrfach unterstellte Ähnlichkeit zu Musils Werk bestritt, denn die beiden im Abstand von nur dreizehn Jahre geborenen Autoren slawischer Abstammung waren als Untertanen der Habsburger-Monarchie denselben geschichtlichen und gesellschaftlichen Kräften ausgesetzt und in ihrer Lebensführung ähnlichen Bedingungen unterworfen, was in einigen Aspekten vergleichbare künstlerische Produkte hervorbrachte. Es ist eher die Tatsache der gleichzeitigen Veröffentlichung, die diese zwei Romane in der kroatischen Rezeption so eng miteinander verband, wobei Musil dem intellektuellen Publikum als weniger verbittert, geistreicher und ironischer erschien und zum Liebling dieser Kreise avancierte. Kunsttheoretiker, Theaterwissenschaftler, Philosophen, Architekten und Juristen sind seit einem halben Jahrhundert Musil-Fans. Viele von ihnen geben aber die Lektüre früher oder später auf, weil sie den umfangreichen Text nicht bewältigen können, so dass nur der Erste Teil (»Eine Art von Einleitung«) und einige Abschnitte von »Seinesgleichen geschieht« wirklich allgemein bekannt sind. Kakanien, das geniale Rennpferd, Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn, die Parallelaktion und die Eigenschaftslosigkeit stellen für eine gebildete Schicht 6

Der Roman ist auch ins Deutsche übersetzt worden. Miroslav Krleža: Die Fahnen. Übers. v. Gero Fischer u. Silvija Hinzmann. 5 Bde. Klagenfurt 2016.

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Andy Jelčić

Bezugspunkte dar, deren Kenntnis man voraussetzen kann. Die später im Text vorkommenden philosophischen Ausführungen und die Entwicklungen der persönlichen Beziehungen zwischen einzelnen Charakteren gehören jedoch nicht mehr zum allgemeinen Bildungsstandard. Fast niemand, der beteuert, den Mann ohne Eigenschaften gelesen zu haben, wird wissen, wer Feuermaul ist oder wie die Tochter von Leo Fischel heißt. Mit der neuen Übersetzung (Erstes Buch: 2008; Zweites Buch: 2013; Auswahl aus dem Nachlass: 2019, erschienen im Verlag Fraktura in Zaprešić bei Zagreb)7 wurden vier Ziele verfolgt: Die in der ersten kroatischen Ausgabe falsch interpretierten Begriffe und Passagen sollten berichtigt werden; die Sprache sollte moderner wirken; die Aufmerksamkeit der (vermutlich neuen) Leserschaft sollte auf die späteren, bisher eher ignorierten Abschnitte des Romans verlagert werden; dem Fachpublikum sollte ein Einblick in die relevantesten Kapitel aus dem Nachlass gewährt werden. Gorjans Übersetzung aus dem Jahr 1967 ist für ihre Zeit sehr gut, wenn man bedenkt, dass sie ohne das Musil-Institut in Klagenfurt und die Resultate seiner Arbeit am Nachlass, ohne Publikationen wie Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (2011) von Norbert Christian Wolf und ohne die heutige technische (elektronische) Unterstützung entstanden ist. Die Syntax von Gorjans Übersetzung ist elegant, sein Wortschatz ist reich, die Dialoge geschickt gestaltet. Allerdings unterlaufen ihm auf fast jeder Seite ein oder zwei kleinere Fehler (er liest z. B. ›Brodgeruch‹ als ›Brotgeruch‹, vgl. MoE, S. 175), was bei dem Umfang des Romans mehr als tausend korrekturbedürftige Stellen ergibt. Bei einem weniger wichtigen Werk wäre das immer noch kein Grund für eine Neuübersetzung, aber bei Musil fällt das schon sehr ins Gewicht. Schwerwiegender als solche Schnitzer ist aber Gorjans mangelnde Kenntnis und Verständnis der philosophischen Schulen und Konzepte. Er versteht etwa die von Musil übernommenen Begriffe und Ideen des Wiener Kreises und der Gestaltpsychologie als bloße künstlerische Eskapaden und übersetzt sie dementsprechend. Dies musste unbedingt in einer Neuübersetzung korrigiert werden. Als die bereits erwähnte große Übersetzungswelle in den 1960er Jahren einsetzte, wurden amerikanische Romane meist von jungen Kräften übersetzt, die nach dem Krieg oder sogar im Krieg Englisch gelernt hatten, während die deutschen Texte meist ihren noch in der Monarchie geborenen und ausgebildeten Kollegen zufielen. Deren Lektüre bestand hauptsächlich aus Werken des 19. Jahrhunderts, was ihre Sprache maßgeblich beeinflusste. Musils Modernität kam deshalb dabei etwas zu kurz. Das neue, jüngere Publikum verlangte aber eine zeitlose Sprache – eine Sprache, die sich den politisch motivierten Eingriffen mit ihrem Wechsel von Archaisierungen und Modernisierungen entziehen konnte. 7

Robert Musil: Čovjek bez osobina. Übers. v. Andy Jelčić. 3 Bde. Zaprešić 2008, 2013, 2019.

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Band I aus dem Jahr 2008 war ein Erfolg: Die gesamte Auflage wurde verkauft und erreichte in den ersten Wochen und Monaten die Absatzzahlen zeitgenössischer Bestseller. Band II, fünf Jahre später herausgebracht, wurde nicht von allen Lesern des ersten Teiles gekauft und gelesen, erfreute sich aber immer noch einer guten Rezeption. Band III mit den Kapiteln aus dem Nachlass, die einen möglichen Weg bis zum Ende des Romans abstecken und bei denen man ohnehin eine reduzierte Fachleserschaft erwartete, erlebte beim Festival der Weltliteratur in Zagreb eine besonders schöne Präsentation vor vollem Haus; die Nachlasskapitel fielen aber schon dem allgemeinen Niedergang des Publikumsgeschmacks und der Lesebereitschaft zum Opfer und erreichten nicht die Absatzzahlen der ersten zwei Bände. Der Mann ohne Eigenschaften ist aber ein Buch mit Marathon-Qualitäten, das noch vielen kommenden Generationen etwas zu bieten haben wird. Nicht nur für die kroatische, sondern für die gesamte ex-jugoslawische Kultur ist es wichtig, dass es in übersetzter Form vorliegt. Der neue Titel – Čovjek bez osobina – fand seinen Weg in die Politik, leider nicht in der von Musil gemeinten Bedeutung. So wurden Überläufer im Parlament mehrfach von ihren Kollegen čovjek bez osobina genannt und im bosnischen Oslobođenje betitelte Dragan Markovina am 5. März 2021 seine Kolumne zum Tod des langjährigen Bürgermeisters von Zagreb: Milan Bandić, čovjek bez osobina.

Radovan Charvát

Zur Neuübersetzung des Törleß ins Tschechische Neuübersetzungen ins Tschechische sind nicht so selten, wie man angesichts der Größe des Sprachraums annehmen könnte. So wurden beispielsweise etliche Werke von Klassikern neu übersetzt, beispielsweise von Alexandre Dumas (d. Ä.), Fjodor M. Dostojewski, Guy de Maupassant, Oscar Wilde, Arthur Conan Doyle und Simone de Beauvoir. Ich habe mehrere solcher Neuübersetzungen angefertigt wie jene von Franz Werfels Barbara oder die Frömmigkeit (1931/1997), Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1967/2011), Michael Endes Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch (1993/2020), und kürzlich ist meine Neuübersetzung von Max Frischs Homo faber hinzugekommen (1967/2021).1 Einige Werke wie Doktor Schiwago von Boris Pasternak, den Jan Zábrana (1931–1984) im Jahr 1990 ins Tschechische übertrug, wurden später in der ursprünglichen, ausgezeichneten Übersetzung unverändert neu aufgelegt. So auch Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra in der unübertrefflichen Übersetzung von Otokar Fischer (1883–1938) aus dem Jahre 1920, die mit den Jahren nichts von ihrer sprachlichen Klarheit verloren hat und noch immer als kongenial bezeichnet werden kann, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sich bis heute niemand an eine Neuübersetzung gewagt hat. Ein und dasselbe Buch kann in einer neuen Übersetzung – ohne Rücksicht auf die dazwischen liegende kürzere oder längere Zeitspanne – ganz anders, oft besser wirken, etwa weil die Neuübersetzung dem Original angemessener ist oder dem Zeitgeist eher entgegenkommt. Das gilt zum Beispiel für Franz Kafkas Roman Das Schloss, der 2014 und dann nochmals – aus meiner Sicht besser – 2021 ins Tschechische übertragen wurde. Ein Gegenbeispiel wäre die im Jahr 2011 erschienene Neuübersetzung von Krieg und Frieden von Leo Tolstoi, die nicht ganz geglückt ist und das Niveau der ersten Übersetzung nicht erreicht.2 Abgesehen davon, dass Fehler und Inkonsequenzen beseitigt werden müssen, die man in Übersetzungen fast immer finden kann, sind Neuübertragungen auch deshalb notwendig, weil sich die Sprache weiterentwickelt. Die meisten sind mit der nicht mehr zeitgemäßen Sprache der früheren Überset1 2

Die erste Jahreszahl ist das Erscheinungsjahr der Erstübersetzung, die zweite das der Neuübersetzung. Vgl. die Online-Rezension von Kamila Chlupáčová: Prohraná překladatelská válka: K novému překladu Vojny a míru (5. 3. 2012), http://www.iliteratura.cz/Clanek/29631/tolstoj-lev-nikolajevic-vojna-a-mir-in-a2 (aufgerufen am 12. 7. 2022).

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zung zu begründen, denn, wie man weiß, altert die Sprache der Übersetzung meistens schneller als die des Originals; doch auch das Denken unterliegt einer – insbesondere heutzutage sehr raschen – Entwicklung, was den Übersetzern neue Ausdrucksformen abverlangt. Zudem beruhten ältere Übersetzungen in Tschechien oft noch auf der Überzeugung, dass man möglichst treu und wortgenau übersetzen sollte. Allerdings kann gerade bei den Übersetzungen aus dem Deutschen die starre Satzstruktur, die frühere Übersetzungen aus der Ausgangssprache übernommen haben, heute etwas unbeholfen wirken. Die Werke Robert Musils stellen den Übersetzer vor besondere Herausforderungen, denn die Möglichkeiten, den Text etwas freier zu übersetzen, sind sehr beschränkt. Musils Sätze sind präzise durchdacht und auch so niedergeschrieben; sie wirken, als wären sie aus einem Stück Diamant geschliffen. Anders als bei vielen anderen Autoren seiner Epoche sollte man als Übersetzer mit Musils Texten sehr behutsam umgehen, sich gedanklich möglichst treu an das Original halten und auf jedes Wort achten. Auf der anderen Seite muss man es aber vermeiden, ihn Wort für Wort zu übersetzen. Denn die deutsche Syntax ist von der slawischen so verschieden, dass leicht eine holprige Übersetzung entstehen kann. Musil war in Tschechien immer hochgeschätzt. Anna Siebenscheinová (1918–2006) hat den Mann ohne Eigenschaften sehr sorgfältig ins Tschechische übertragen. Ihre erstmals 1980 im Odeon Verlag erschienene Übersetzung, die die von Musil selbst 1930 und 1932 publizierten Bände umfasst, wurde bereits zweimal – 1998 und 2008 – wieder aufgelegt.3 Dennoch wäre es an der Zeit, den Mann ohne Eigenschaften neu ins Tschechische zu übertragen, denn diese Übersetzung ist dem deutschen Original und seiner Syntax oft zu nahe, was dem Buch bei seiner heutigen Rezeption etwas schadet. Neue Übersetzungen von Musil sind in Tschechien allerdings trotz der allgemeinen Berühmtheit dieses Autors schwierig zu realisieren. Es wurden daher auch etliche Essays von Musil bis heute noch nicht ins Tschechische übersetzt. Selbst für den Mann ohne Eigenschaften ist eine Neuausgabe nicht wahrscheinlich, denn die Leserschaft fragt heute nach anderen Themenbereichen; Österreich-Ungarn ist für sie nicht nur ein »untergegangene[r], unverstandene[r]« (MoE, S. 32), sondern ein weit entfernter, halb vergessener Staat. Besonders die jüngere Generation liest Musil nicht mehr, sein Werk ist für sie ein unbekanntes Terrain. Auch hat sie keine Vorstellung davon, wie die Welt um das Jahr 1910 ausgesehen haben mag – diese vergangene Welt ist ihr ein Rätsel geworden.4 3 4

Robert Musil: Muž bez vlastností. 2 Bde. Übers. v. Anna Siebenscheinová. Praha 1980. Um für die jüngere Generation einen Zugang zu Musils Hauptwerk zu ermöglichen, habe ich Nicolas Mahlers Graphic Novel ins Tschechische übersetzt. Robert Musil: Muž bez vlastností. Gezeichnet v. Nicolas Mahler. Übers. v. Radovan Charvát. Zlin 2014.

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Radovan Charvát

Dennoch erschien im Jahr 2010 im Prager Verlag Argo eine von mir verfasste Neuübersetzung des Törleß.5 Die ältere Törleß-Übersetzung von Jitka Bodláková (1923–2002) aus dem Jahre 1967, die im Verlag Mladá Fronta veröffentlicht wurde, war sehr sorgfältig und wortgetreu.6 Nur wirkt die Sprache – besonders die Syntax und der Rhythmus der Sätze – mittlerweile etwas unmodern; man spürt deutlich, dass sie fünfzig Jahre alt ist. Die Neuübersetzung des Törleß hatte der sich vor allem mit österreichischer Literatur befassende Germanist Roman Kopřiva von der Masaryk-Universität in Brünn angeregt. Bei der Übersetzung des Törleß muss man als Übersetzer in erster Linie darauf achten, wie Musil die komplizierten Gedankengänge, all die kognitiven, emotionalen, sexuellen, moralischen und sprachlichen Verwirrungen dieses Jugendlichen präzise zum Ausdruck bringt: Einerseits beschreibt er die feinen Seelenvorgänge Törleß’, andererseits bemüht er sich um genaue Schilderung der äußeren Umstände. Häufig werden Seelenzustände nicht direkt dargestellt, sondern es werden die Umstände beschrieben, die zu einem solchen inneren Zustand führen. Musil selbst notiert mit Blick auf den Törleß: Es sind hier nur die Tatsachen gegeben, das Aussehen der Straße, des Stationsgebäudes, des Gesprächs usw. Es ist nicht gesagt, diese Dinge hatten die u die Stimmung, aber sie haben sie. In mir war die Einstellung: rußige, erdrosselte Traurigkeit od. dgl. u. ich stellte mir jetzt Dinge so vor. (Tb I, S. 233 f.)

Musil war der Überzeugung, dass die dichterische Sprache sich dafür eignet, das in normaler, alltäglicher Sprache Unaussprechbare und Unbegreifliche auszudrücken. Am Ende des Romans erinnert sich Törleß an seine Erfahrung, »daß es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen gibt, daß fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen [. . .].« (GW II, S. 140) Eine der größten Schwierigkeiten für den Übersetzer ist es, genau dieses für Musil so charakteristische Spannungsverhältnis zwischen Vernunft und Seele zu vermitteln. Im Folgenden werden einige Passagen der beiden erwähnten Übersetzungen verglichen, wobei ich mich auf die komparative Analyse von Alena Papoušková stütze.7 Zunächst möchte ich mich der Interpunktion widmen, die im Roman eine wesentliche Rolle spielt. Die häufig benutzten Gedankenstriche, Auslassungspunkte, Ausrufezeichen oder Fragezeichen tragen zur 5 6 7

Robert Musil: Zmatky Chovance Törlesse. Übers. v. Radovan Charvát. Praha 2011. Diese Übersetzung wird in der Folge mit der Sigle »Ch« zitiert. Robert Musil: Zmatky Chovance Törlesse. Übers. v. Jitka Bodláková. Praha 1967. Diese Übersetzung wird in der Folge mit der Sigle »Bo« zitiert. Alena Papoušková: Analyse und Vergleich von zwei tschechischen und einer englischen Übersetzung von Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Dissertation Universität Olomouc 2018; https://theses.cz/id/t5ao1n/Diplomov_prce_Papoukov.pdf (aufgerufen

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Bedeutung des Textes bei und sollten daher nicht weggelassen werden. Nachdem er mit Basini allein in der roten Kammer war, denkt er darüber nach, welcher Art die Beziehung ist »zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt, von ferne sieht [. . .].« (GW II, S. 106) Der Abschnitt endet folgendermaßen: »Ein sonderbarer Gedanke – – – – –« fühlte er. (GW II, S. 106) »Zvláštní myšlenka . . .« cítil. (Bo, S. 166) »Zvláštní myšlenka – – – – –« cítil. (Ch, S. 129)

Diese Gedankenstriche deuten an, dass dieser Gedanke nicht zu einem Ende gebracht werden konnte und dass er Törleß weiter beschäftigen wird.8 Lässt man die Gedankenstriche weg, so führt dies dazu, dass der Satz wie eine sachliche, endgültige Feststellung klingt, was hier aber nicht zutrifft. Auch Bianca Cetti Marinoni hat in einem Aufsatz über Törleß-Übersetzungen9 die Interpunktion behandelt und auf folgende Passage aus Musils Tagebüchern hingewiesen: Zwei Jahrtausende schreiben mit uns. Am meisten aber unsre Eltern und Großeltern. Punkt und Strichpunkt sind Rückschrittssymptome – Stillstandssymptome. Die Syntax sollte man also nicht verknöcherten Professoren überlassen. Punkt und Strichpunkt machen wir nicht nur[,] weil wir es so lernten, sondern weil wir so denken. Das ist daran das Gefährliche. Solange man in Sätzen mit Endpunkt denkt – lassen sich gewisse Dinge nicht sagen – höchstens vage fühlen. (Tb I, 52 f.)

Ein schwieriges Problem stellt für den Übersetzer die bei Musil vorherrschende nominale Ausdrucksweise dar, also die häufige Verwendung von Substantiven, substantivierten Verben und substantivierten Adjektiven. Renate Rieth schreibt dazu: Es ist geradezu auffallend, daß, wenn sich die Möglichkeit zu beiden Ausdrucksformen – der verbalen und der nominalen – bietet, Musil die nominale vorzieht. Offenbar glaubte er, daß das Nomen einen bestimmten Sachverhalt besonders kurz und genau umschreiben kann.10

8 9 10

am 1. 10. 2022). Die in der Studie untersuchte englische Übersetzung (2013) stammt von Christopher Moncrieff. Papouškovás Interesse an diesen beiden Übertragungen ins Tschechische erklärt sich daraus, dass sie in großer zeitlicher Distanz voneinander und auch unter anderen politischen Regimen entstanden sind; daraus könnten Rückschlüsse auf unterschiedliche Leitvorstellungen gezogen werden, die den Übersetzungen zugrunde liegen. Ebenso geht es ihr um den Vergleich von Übersetzungen in zwei unterschiedliche Zielsprachen, wobei das Englische dem Deutschen sprachlich näher, aber kulturell ferner ist als das Tschechische. Vgl. ebd., S. 10 f. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. Bianca Cetti Marinoni: Sprach- und Stilprobleme der Törleß-Übersetzung, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musils. Hg. v. Annette Daigger u. Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 227–239, hier S. 231 f. Renate Rieth: Robert Musils frühe Prosa. Versuch einer stilistischen Interpretation. Dissertation Universität Tübingen 1963, S. 64 f. Rieth räumt allerdings ein, dass Musil die »Verdammung der Substantivierungen« (Tb I, S. 923), von der er als junger Schriftsteller in einer Zeitschrift gelesen hatte, nachvollziehbar fand.

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Hier stellt sich für den Übersetzer ein heikles Problem, denn das Vorherrschen von Substantiven kann im Tschechischen zu schwer verständlichen Sätzen führen, die die Lesbarkeit eines Texts beeinträchtigen.11 Im Deutschen sind lange Nominalphrasen durchaus üblich; im Tschechischen gibt es keine vergleichbaren dichten Strukturen. Deshalb benutzt man im Tschechischen stattdessen eher Präpositionalphrasen und fügt ein Verb ein.12 Wenn man auf diese Weise den tschechischen Text lesbarer gestaltet, werden die Sätze jedoch länger. Da dies zuweilen auch nicht wünschenswert ist, kann man als Übersetzer eventuell durch Verdichtung in anderen Teilen des Textes gegensteuern.13 Wenn sich Übersetzer darum bemühen, den aus einer anderen Sprache übertragenen Text für die Leser natürlich klingen zu lassen, dann müssen sie sich von den Konstruktionen der Ausgangssprache lösen und sie durch sprachliche und stilistische Mittel ersetzen, die der Zielsprache angemessen sind.14 Dementsprechend schrieb der ausgezeichnete Übersetzer Otokar Fischer in seinem Tschechischen Dialog (1920), dass nur wenige Übersetzer sich bei uns einer einfachen Aufgabe angenommen haben: An der Sprache sollte nicht gleich erkennbar sein, ob es sich um Gallizismen, Germanismen oder Anglizismen handelt; diese sollten durch unsere Sprache ersetzt werden. Der Dialog [in einem Drama] sollte so fließen, als ob sein Autor unsere Muttersprache als sein Werkzeug benutzt hätte. Wie oft lässt sich nach einem flüchtigen Anhören das Original rekonstruieren! [. . .] Es ist oft eine wahre Qual, unsere Übersetzungen anzuhören.15

Bei der folgenden Passage aus dem Roman steht man als Übersetzer vor der Entscheidung, ob man die umfangreiche Nominalphrase in der Zielsprache beibehält oder ob man die Passage in eine dem Tschechischen angemessenere, natürlichere Form überträgt, wobei jedoch die ursprünglichen stilistischen Qualitäten verlorenzugehen drohen. Der Eindruck war nicht anders, als wäre er den nur schönen, von allem Geschlechtlichen noch fernen Formen eines ganz jungen Mädchens gegenübergestanden. (GW II, S. 109) Dojem nebyl jiný, než kdyby stál před jenom krásnými, všeho pohlavního ještě postrádajícími tvary mladičkého děvčete. (Bo, S. 170) Dojem nebyl jiný, než kdyby měl před sebou pouze krásné, všemu pohlavnímu ještě vzdálené tvary mladičké dívky. (Ch, S. 133) 11

12 13 14 15

Peter Utz hat auf die Probleme hingewiesen, die abstrakte Substantive wie »Vereintsein« (MoE, S. 1501) für die Übersetzer ins Englische und Französische darstellen. Vgl. Peter Utz: Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München, Wien 2007, S. 285. Vgl. dazu auch ebd., S. 256. Vgl. Papoušková: Analyse und Vergleich (Anm. 7), S. 134. Vgl. Dagmar Knittlová, Bronislava Grygová, Jitka Zehnalová: Překlad a překládání. Olomouc 2010, S. 45. Vgl. Papoušková: Analyse und Vergleich (Anm. 7), S. 134. Otokar Fischer: Český dialog, in: České theorie překladu. Hg. v. Jiří Levý. Praha 1957, S. 573.

Zur Neuübersetzung des Törleß ins Tschechische

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Dieser Satz enthält eine lange Nominalphrase mit dem Wort ›Formen‹ als Kopf. Dieser wird durch voran- und nachgestellte Erweiterungen spezifiziert. Solche langen Nominalphrasen sind im Tschechischen, vor allem in der gesprochenen Sprache, schwer verständlich, weshalb man sie eher selten verwendet. Da in der geschriebenen Sprache diese Nominalphrase aber problemlos nachvollziehbar ist, konnten beide tschechischen Übersetzungen die nominale Konstruktion beibehalten. Und damit ließ sich in der zitierten Passage – nicht immer ist das möglich – der originale Stil Musils bewahren.16 Ein weiteres Problem beim Übersetzen aus dem Deutschen ins Tschechische stellt das Passiv dar. Im Deutschen wird es sowohl in der geschriebenen als auch in der gesprochenen Sprache häufig verwendet, das Tschechische bevorzugt hingegen das Aktiv. Das Passiv wird im Tschechischen vor allem in der Amtssprache und in Fachtexten genutzt, es charakterisiert auch den gehobenen Stil, kann jedoch oft unangemessen wirken. In literarischen Texten wird das Passiv eher selten benutzt – meist nur dann, wenn der Autor die Nennung des Agens vermeiden will. In tschechischen Übersetzungen, die sich stark an der Ausgangssprache orientieren, kann das Passiv zuweilen holprig wirken. Papoušková meint, dass vor allem in der Übersetzung Bodlákovás das Passiv unter dem Einfluss des deutschen Originals an manchen Stellen benutzt wird, an denen es wahrscheinlich besser gewesen wäre, das Verb ins Aktiv zu setzen und gibt u. a. folgendes Beispiel: Das Tageslicht erstickte selbst an hellen Mittagen auf dieser Treppe in einer Dämmerung, die von altem Staube gesättigt war, denn dieser Bodenaufgang, der gegen den Flügel des mächtigen Gebäudes zu lag, wurde fast nie benützt. (GW II, S. 51 f.) Denní světlo se na tomto schodišti dusilo i za jasných odpolední v šeru, syceném starým prachem, neboť tohoto vchodu na půdu, který ležel proti křídlu obrovské budovy, se téměř neužívalo. (Bo, S. 57) Denní světlo se na těchhle schodech zalykalo i v slunné poledne šerem prosyceným starým prachem, neboť tudy na půdu naproti křídlu obrovské budovy téměř nikdo nechodil. (Ch, S. 44)

Bodláková verwendet manchmal sogar an solchen Stellen eine passive Konstruktion, wo im Original eine aktive steht.17 In diesem Kontext ist ein Hinwies auf das tschechische Aspektsystem angebracht, für das es im Deutschen kein Äquivalent gibt: »Doch . . . doch . . . bitte . . . oh, es wäre mir ein Genuß, dir zu dienen.« (GW II, S. 107) »Ale ano . . . ale ano . . . prosím . . . oh, pro mne by to byl požitek posloužit ti.« (Bo, S. 167) »Ano . . . ano . . . prosím . . . oh, pro mě by bylo požitkem ti sloužit.« (Ch, S. 131) 16

17

Vgl. Papoušková: Analyse und Vergleich (Anm. 7), S. 135. Papoušková attestiert beiden Übersetzungen, dass es ihnen gelungen ist, »die stark nominale Ausdrucksweise (ein charakteristisches Merkmal von Musils Sprache) in die Zielsprache zu übertragen (im Rahmen der sprachlichen Möglichkeiten des Tschechischen)« (ebd., S. 164). Vgl. ebd., S. 153–156.

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Das Verb ›dienen‹, das Basini in seiner Rede verwendet, zeigt deutlich, welche Position er einzunehmen bereit ist und welcher Art die Dienste sind, die er Törleß anbietet, was durch das Wort ›Genuß‹ noch verstärkt wird. Bodlákovás Übersetzung wirkt hier im Vergleich zum Original und zu meiner Übersetzung ein bisschen schwächer. Das perfektive Verb ›posloužit‹ erweckt den Eindruck, dass es nur um einen einmaligen Dienst geht. Das deutsche Original und der gesamte Kontext dieser Szene legen aber nahe, dass Basini sich Törleß eher für eine längere Dauer anbietet. Bei vielen Verben gibt es im Tschechischen ein Verbpaar bzw. Aspektpaar, bei dem das eine Verb den imperfektiven, das andere den perfektiven Aspekt bezeichnet. Als Übersetzer steht man vor der Frage, ob man ein perfektives oder ein imperfektives Verb verwenden soll. Im Fall dieser Textpassage habe ich mich daher aus den genannten Gründen entschieden, im Tschechischen das imperfektive Verb ›sloužit‹ zu verwenden.18 Interessante Ergebnisse bringt der Übersetzungsvergleich in Bezug auf die Expressivität. Papoušková hatte erwartet, dass die zunehmende Toleranz gegenüber vulgären Ausdrücken in der Literatur sich auch in einer entsprechenden Differenz zwischen den beiden Übersetzungen niederschlagen würde. Wider Erwarten verwendet aber die ältere Übersetzung kraftvollere Ausdrücke, was Bodlákovás Bemühen um eine treue Übersetzung geschuldet sein mag. Törleß wurde zornig. »Wißt, was ihr wollt, mich aber laßt jetzt mit euren dreckigen Geschichten in Ruhe.« (GW II, S. 127) Törless dostal zlost. »Ať víte, co chcete, mne ale teď se svými svinskými historiemi nechte na pokoji.« (Bo, S. 161) Törlesse popadla zlost. »Mně je jedno, co víte, ale mě už nechte s těmi svými špinavostmi na pokoji!« (Ch, S. 125)

Bodláková benutzt hier das vulgäre Wort ›svinský‹ (schweinisch), womit sie auch Bezüge zu anderen Romanpassagen herstellt (»Ich bin [. . .] euer diebisches schweinisches Tier!«, GW II, S. 72).19 Ich wählte mit ›špinavost‹ eine weniger derbe Ausdrucksweise. Denn ich wollte die im Vergleich zu Beineberg und Reiting feineren Charakterzüge Törleß’ betonen; zudem sollte die von ihm verwendete Sprache seinem wohlbehüteten Aufwachsen entsprechen. Manchmal hat man bei Musil als Übersetzer das Gefühl, dass die oft vorkommende Abfolge von drei Substantiven, Verben oder Adjektiven im Satz, auf die Rieth und Papoušková mehrfach hingewiesen haben,20 entweder ganz 18 19 20

Vgl. ebd., S. 162. Vgl. ebd., S. 124–129. Vgl. ebd., S. 79 f., S. 84 f. und S. 147 ff. Vgl. Rieth: Robert Musils frühe Prosa (Anm. 10), S. 69. Beide weisen auf den rhythmischen Wert der Stilfigur des Trikolon hin; Rieth sieht darin auch das Bestreben, »auf möglichst viele Aspekte eines Sachverhalts zugleich aufmerksam zu machen« (ebd., S. 67).

Zur Neuübersetzung des Törleß ins Tschechische

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naheliegend oder im Gegenteil sehr bedeutungsvoll ist, weshalb man gut daran tut, diese Passagen so präzise wie möglich zu übertragen. Nehmen wir als ein Beispiel von vielen diesen einerseits etwas komplizierten, gleichfalls aber ganz klaren und schönen Satz vom Beginn des Törleß: »Es lag sogar in der geradlinigen Verlängerung dieses Abschwenkens, denn es bedeutete wie dieses eine Angst vor allzu subtilen Empfindeleien, gegen die das Wesen der anderen Kameraden gesund, kernig und lebensgerecht abstach.« (GW II, S. 12) Abschließend möchte ich noch auf den Namen der Titelfigur eingehen. Nachdem Törleß Basini einem Verhör in der roten Kammer untergezogen hat, denkt er drüber nach, dass vielleicht »zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt, von ferne sieht, [. . .] wie ein enges Tor die unsichtbare Grenze [liegt], in dem sich die Bilder der Ereignisse zusammendrücken müssen, um in den Menschen einzugehen.« (GW II, S. 106) In keiner der beiden Übersetzungen wurde der Versuch unternommen, die in dem Namen Törleß möglicherweise versteckte Anspielung auf einen Menschen, der Türen bzw. Tore sucht,21 in die Zielsprache zu übertragen. Da es sich dabei aber um eine spekulative Annahme handelt, scheint es mir legitim, dass diese potenzielle semantische Funktion des Namens im Tschechischen nicht berücksichtigt worden ist. Der Buchstaben ›ß‹ im Namen Törleß wird übrigens in den tschechischen Übersetzungen durch ›ss‹ wiedergegeben, denn ›ß‹ wirkt im Tschechischen – wie auch in vielen anderen Sprachen – sehr fremd.22 Resümierend kann man feststellen, dass Bodlákovás Übersetzung im Großen und Ganzen treuer ist als die von mir angefertigte. Papoušková, die in ihrer Studie mit Metaphern, Vergleichen, Diminutiven und idiomatischen Wendungen auch noch andere sprachliche Strukturen untersucht hat als die hier behandelten, gelangt in ihrem Übersetzungsvergleich zu dem Resümee, dass in den beiden Übertragungen des Törleß ins Tschechische unterschiedliche Übersetzungstraditionen wirksam sind und dass sich dieser Wandel an den beiden Übersetzungen des Törleß gut ablesen lässt.

21

22

Vgl. Renate Schröder-Werle: Erläuterungen und Dokumente. Robert Musil. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Stuttgart 2001, S. 5 f.; Dorothee Kimmich: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin 2016, S. 101–112, hier S. 106. Vgl. Papoušková: Analyse und Vergleich (Anm. 7), S. 97.

Daniela Nelva

Im Zeichen von Essayismus und Ironie Gespräch mit Ada Vigliani über die Neuübersetzung des Mann ohne Eigenschaften*

Die erste Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften ins Italienische, angefertigt von Anita Rho für das Verlagshaus Einaudi, stellte aus zwei Gründen einen besonderen Fall dar. Zum einen war sie überhaupt eine der ersten fremdsprachigen Übertragungen von Musils Roman: Die beiden Teile des ersten Buches wurden 1957 bzw. 1958 publiziert;1 sie erregten in Italien sofort die Aufmerksamkeit nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern auch eines breiteren Publikums für den bis dahin fast unbekannten Autor.2 Diese Edition basierte auf der von Adolf Frisé für den Rowohlt-Verlag betreuten Ausgabe, die 1952 erschienen war. Zum anderen zeugte der dritte, 1962 veröffentlichte und mit einer Einleitung von Cesare Cases versehene Band, der den dritten Teil des Romans und eine Auswahl von Entwürfen aus dem Nachlass enthält, auf eine ganz besondere Weise von den philologischen Irrtümern, welche die Herausgabe der vom Autor unveröffentlichten Schriften gekennzeichnet haben.3 Für diesen dritten Band beschloss Einaudi, Frisés Anordnung der Musil’schen Nachlassmaterialien nicht zu verwenden, weil sie stark kritisiert worden war, und beauftragte die Literaturwissenschaftler Eithne Wilkins und Ernst Kaiser, die gerade an einer englischen Übersetzung des Mann ohne Ei* 1 2

3

Dieser Beitrag basiert auf einem Gespräch, das ich mit Ada Vigliani im März 2021 führen konnte. Die wörtlichen Zitate gehen, wenn nicht anders angegeben, auf Aussagen Viglianis aus diesem Gespräch zurück. Robert Musil: L’uomo senza qualità. 2 Bde. Übers. v. Anita Rho. Torino 1957 u. 1958. Von diesem Moment an wurde Musil in Italien viel gelesen. Im Laufe der Zeit hat sich das Interesse des Publikums jedoch hauptsächlich kürzeren Werken zugewandt, die in den 1960er Jahren von Anita Rho für den Einaudi-Verlag übersetzt wurde: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1959), Drei Frauen und Vereinigungen (1960). Von 1959 bis 2006 erschienen neun italienische Übersetzungen des Romans Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Der Roman Der Mann ohne Eigenschaften wird zwar immer noch viel zitiert, aber leider meistens nicht vollständig gelesen. Angesichts der zunehmenden Verbreitung von kritischen italienischen Studien über Musil seit den späten 1960er Jahren und ihres weiteren Anstiegs in den 1980er Jahren anlässlich des 100. Geburtstages des Autors hat man Musil als einen Autor bezeichnet, der in Italien beliebter als in Deutschland oder Österreich ist. Das war auch Thema eines Gesprächs, das Ada Vigliani im Jahr 1997 mit Adolf Frisé führte. Robert Musil: L’uomo senza qualità. Bd. 3. Hg. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. Übers. v. Anita Rho. Eingeleitet v. Cesare Cases. Torino 1962.

Im Zeichen von Essayismus und Ironie

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genschaften arbeiteten, eine genauere philologische Anordnung festzulegen. Wie bekannt, arrangierten Wilkins und Kaiser Musils Nachlassteile gemäß der Annahme, dass der Autor die Entwicklung des Erzählten fortlaufend geändert habe, indem er die wissenschaftliche ›Vivisektion‹ des Ichs und der Welt – man denke an die im Heft 4 der Tagebücher entworfene Figur von ›Monsieur le vivisecteur‹ (vgl. Tb I, S. 1 ff.) – zugunsten der mystischen Dimension des ›anderen Zustands‹ fallen lassen habe. Wilkins und Kaiser betrachteten also das ekstatische Erlebnis als das von Musil geplante Endziel des unvollendeten Romans, was in Italien eine irreführende Deutung des Mann ohne Eigenschaften auslöste, welche die meisten kritischen Studien über den Autor und sein Werk bis auf einige Ausnahmen für lange Zeit prägen sollte. Die von Wilkins und Kaiser festgesetzte Reihenfolge von Musils Skizzen wurde von keiner deutschen oder fremdsprachigen Ausgabe übernommen. Als 1978 Frisé die vollkommen revidierte, überarbeitete Fassung des Mann ohne Eigenschaften für den Rowohlt-Verlag herausgab, die das Ergebnis einer langen Arbeit am Musil’schen Nachlass war, bot sich den italienischen Verlegern die Gelegenheit, die Rechte für eine neue Ausgabe des Romans zu erwerben. Diese Möglichkeit ergriff 1986 Luciano De Maria, Herausgeber der Reihe I Meridiani bei Mondadori, der Ada Vigliani mit der Übersetzung des Romans betraute; sie verfasste für die beiden Bände auch einen umfangreichen Anmerkungsteil, eine Bibliografie und eine Kurzbiografie Musils. Wie Vigliani unterstreicht, handelte es sich um einen für eine junge Übersetzerin sehr lohnenden, aber zugleich anspruchsvollen Auftrag: Ich war etwas mehr als dreißig Jahre alt, hatte mit Goethes Wahlverwandtschaften und Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung schon zwei wichtige Klassiker ins Italienische übertragen, und die Möglichkeit, mich mit dem Werk auseinanderzusetzen, welches ich durch die Übersetzung von Anita Rho bereits kannte, stellte für mich eine große Herausforderung dar. Übrigens war Musil zu jener Zeit mein Lieblingsschriftsteller: Ich hatte mich immer intensiver mit seinen Schriften beschäftigt, zuerst in meiner Diplomarbeit in Philosophie, in der es um die ethische Problematik und die Frage nach der Rolle der Wissenschaft ging, danach dank eines Postgraduierten-Stipendiums in Salzburg, das mir erlaubte, mich mit der utopischen Verflechtung von ›Genauigkeit und Seele‹ in Musils theoretischen Essays und Tagebüchern zu befassen.

Gerade im Kontext der Neuinterpretation des Mann ohne Eigenschaften findet die Übersetzung von Vigliani ihre volle Rechtfertigung: Wenn die Sprache einer Übersetzerin kein standardisiertes, bloß mechanisches Kommunikationsmittel ist, sondern sich nach Walter Benjamin als Bereicherung sowohl des Ausgangstexts als auch der Zielsprache erweist,4 erscheint die Koexistenz un4

Ada Vigliani bezieht sich hier auf: Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders: Gesammelte Schriften. Bd. IV/1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980, S. 9–21.

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terschiedlicher Übertragungen völlig legitim. Von diesen Überlegungen ausgehend, habe ich die Klassiker neu übersetzt, sowohl dann, wenn die vorherige Übertragung ins Italienische schwach war, wie im Fall von Schopenhauer, als auch – und vor allem – dann, wenn es schon eine gelungene Übersetzung wie jene von Anita Rho gab.

1992 erschien also bei Mondadori der erste Band des Mann ohne Eigenschaften, der dem ersten Buch des Romans entspricht, das Musil 1930 veröffentlich hatte. Die Einführung verfasste der Germanist Giorgio Cusatelli. 1998 wurde der zweite Band publiziert, der das zweite, 1932 erschienene Buch und eine beachtliche Menge unveröffentlichter Texte aus dem Nachlass enthält, die mit einem Anmerkungsteil versehen sind.5 Durch diese neue Übersetzung verbreitete sich in Italien auch ein neues Bild von Musil, das geprägt ist von scharfsinniger Ironie und vom Essayismus mit seiner semantischen und theoretischen Vielschichtigkeit. Durch die neue Zusammenstellung der Nachlassmaterialien strebt der Roman nicht mehr der Ekstase als erzählerischem Ziel zu; diese ist nur noch eine der möglichen ›partiellen Lösungen‹ – eben die äußerste, aber doch eine transitorische –, so wie sie in der Utopie der ›Genauigkeit und Seele‹ vorausgesehen wird. Der Schlüsselbegriff, mit dem Musil sich dem vergänglichen Erlebnis des ›anderen Zustands‹ nähert, ist der des ›Gleichnisses‹, der für die Übersetzung ein besonderes Problem darstellt.6 Ins Italienische kann das Wort Gleichnis auf unterschiedliche Weise übertragen werden: ›parabola‹, ›allegoria‹, ›metafora‹. Anders als Rho, welche das Wort ›allegoria‹ bevorzugt, verwendet Vigliani ›metafora‹, indem sie auf Musils Idee einer unendlichen Weite hinweist, in der alles gleichzeitig existiert und austauschbar ist, einer beweglichen Flüssigkeit ähnlich. Innerhalb des ›anderen Zustands‹ verschmelzen selbst ›Genauigkeit‹ und ›Seele‹ im Rahmen analogischen Denkens zu einer ›absoluten Metapher‹,7 die auf das tertium comparationis zugunsten einer Identität aller Dinge verzichtet. Nach Claudio Magris vermittelt der Begriff ›metafora‹ deswegen die Vielschichtigkeit des Bestehenden, die sich jeder eindeutigen Benennung entzieht, da man darauf nur anspielen kann.8 Vigliani rezipiert Musil im Zeichen des ›Conjunctivus potentialis‹ und des ›Möglichkeitssinns‹ als des berühmtesten, vom Autor geschaffenen Neologismus. Eine Schwierigkeit für die Übersetzung bietet der Begriff der »Möglichkeitsmenschen« (MoE, S. 16). Im Gegensatz zu Rho, die mit »possibilisti« 5 6 7 8

Robert Musil: L’uomo senza qualità. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Übers. v. Ada Vigilani. Milano 1992 u. 1998. Vgl. Gioia Valdemarca: Zwei Übersetzungen, zwei Romane: Der Mann ohne Eigenschaften in italienischer Sprache, S. 7 ff., in: http://www.musilgesellschaft.at/texte/Musil%20international/GValdemarca_MoE_ital.pdf (aufgerufen am 10. 11. 2022). Vgl. Claudia Monti: La metafora della scienza. Napoli 1983; Marina Foschi-Albert: Metaphor and Fragmentation in Robert Musil’s Work, in: Musil-Forum 15 (1989), S. 143–154. Vgl. Claudio Magris: Dietro quest’infinito: Robert Musil, in: ders.: L’anello di Clarisse. Torino 1999, S. 212–255.

Im Zeichen von Essayismus und Ironie

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(S. 14) übersetzt, entscheidet sich Vigliani für »uomini della possibilità« (S. 18). Vigliani meint dazu: Bisher habe ich meine Wahl nie bereut: Der von Rho verwendete Begriff ist irreführend, da das Adjektiv ›possibilista‹ auf jemanden anspielt, der versöhnlich ist, d. h. immer bereit, sich an die Realität anzupassen und damit Kompromisse einzugehen.

Vigliani gebührt das große Verdienst, die philosophischen Bedeutungsschattierungen und die mehrdeutigen Verbindungen zu unterschiedlichen Wissenschaften berücksichtigt und bewahrt zu haben, die sowohl die einzelnen Wörter als auch die komplexeren semantischen Strukturen des Mann ohne Eigenschaften kennzeichnen. Wie schon erwähnt, bedient sich Musil rhetorischer Figuren wie Litotes und Periphrasen, um Ironie zu erzeugen. Das ist schon im Titel des ersten Kapitels des Mann ohne Eigenschaften »Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht« zu bemerken. Dieser Titel ist als Ankündigung jenes »Seinesgleichen geschieht« zu lesen, das den zweiten Teil des Romans kennzeichnet. Vigliani übersetzt den Ausdruck »bemerkenswerterweise« mit »significativamente« (und nicht mit »eccezionalmente« wie Rho, also mit ›ausnahmsweise‹ bzw. ›außergewöhnlicherweise‹), weil Musil hier den Akzent auf die Ambivalenz legt, welche die Wirklichkeit immer wieder in Frage stellt, weshalb dieser nichts Außergewöhnliches anhaftet. Wenn Vigliani einerseits die Notwendigkeit unterstreicht, dem Ursprungstext treu zu bleiben, äußert sie aber auch das Bedürfnis, sich manchmal »gewisse Freiheiten« herauszunehmen, was aber von Fall zu Fall sorgfältig abzuwägen ist. Als Beispiel diene der berühmte Anfang des Romans, den Italo Calvino nicht umsonst als »inizio cosmico«9 bezeichnet: »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen« (MoE, S. 9). An der wissenschaftlichen, d. h. präzisen Beschreibung der Wetterlage eines schönen Augusttages des Jahres 1913 hält Rho fest, indem sie die meteorologische Terminologie wörtlich übersetzt: »Sull’Atlantico un minimo barometrico avanzava in direzione orientale incontro a un massimo incombente sulla Russia, e non mostrava per il momento alcuna tendenza a schivarlo spostandosi verso nord.«10 Dagegen vermeidet Vigliani »Ausdrücke, welche wie eine Art Entlehnung aus dem Deutschen wirken«, und entscheidet sich daher für eine Übertragung, die an »das Bulletin des italienischen militärischen Wetterinformationsdienstes« erinnert: »Sull’Atlantico gravava un’area di bassa pressione che, muovendosi 9 10

Italo Calvino: Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millennio. Milano 2005, S. 142. Robert Musil: L’uomo senza qualità. Hg. v. Adolf Frisé, übers. v. Anita Rho, Gabriella Benedetti u. Laura Castoldi, eingeleitet v. Bianca Cetti Marinoni. Torino 1996, S. 5. Diese neue Version enthält die alte Übersetzung von Rho sowie Nachlass-Materialien, die von Benedetti und Castoldi übersetzt wurden; sie fußt auf dem 1978 von Frisé festgelegten Text.

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verso oriente incontro a quella di alta pressione dislocata sulla Russia, non manifestava ancora alcuna tendenza a spostarsi verso nord per scansarla.«11 Zu der von ihr hier angewandten Übersetzungsstrategie meint Vigliani: Wenn ich übersetze, neige ich stets dazu, die frühere Übertragung nicht anzusehen. Nur meinen letzten Entwurf vergleiche ich mit der vorigen Version. Im Fall des Mann ohne Eigenschaften war aber die Situation ganz anders, da ich Musils Werk in der Version von Rho so gut kannte, dass es nicht einfach war, von ihr Abstand zu nehmen. Einige Textstellen konnte ich fast auswendig aufsagen. Eine dieser Passagen ist der berühmte Anfang, in dem ich aber keine Schlüsselwörter, d. h. keine Anzeichen einer besonderen semantischen Absicht, gefunden habe. Daher habe ich mich für eine Lösung entschieden, die freier mit dem Original umgeht. Der Roman beginnt nämlich mit einer Wettervorhersage, wodurch er den Leserinnen und Lesern sozusagen zuzwinkert, da die Meteorologie eine statistische Wissenschaft ist, während das gesamte Kapitel unter dem Zeichen der Wahrscheinlichkeit, der Ungewissheit, des hypothetischen Satzes steht.

Vigliani betont, dass Musil oft Periphrasen und Wendungen verwendet, die die Ironie noch verstärken. Man betrachte nur den folgenden Satz: »[. . .] aber es zeigte sich, dass auch im Zivil Männer vorhanden sind, die ihre weiblichen Familienangehörigen zu schützen wissen« (MoE, S. 36). Im Kontext eines Diskurses über die gute Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts, in welcher Armeeangehörige und Zivilisten einander gegenüberstehen, erinnert der Ausdruck ›weibliche Familienangehörige‹ an die Sprache der Bürokratie und weist eine ironische Konnotation auf, was zu soziologischen Überlegungen und zu Reflexionen über die Geschlechterverhältnisse Anlass geben könnte. Während Rho den Ausdruck einfach auf »donne« (Frauen) reduziert, entscheidet sich Vigliani für eine texttreue Übertragung (»i loro famigliari di sesso femminile«). Sie erklärt dies in einem größeren Kontext: Ich verstehe die Position von Anita Rho, weil ich eine Übersetzerin bin, die alt genug ist, um die Bedeutung zu kennen, die einst dem schönen Italienisch beigemessen wurde. Aber neben diesem Bedürfnis nach der ›musikalischen‹ Seele gab es in mir auch das Bedürfnis nach Genauigkeit. Die logische Strenge meiner Studien wirkte sich hier aus und erfuhr im Zuge meiner Übersetzung von Musil – als Schriftsteller und Wissenschaftler – noch eine Verstärkung.

Im Jahr 2013 gab Vigliani in der Taschenbuchreihe Oscar Mondadori Classici Moderni eine Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften heraus, die mit einer Einleitung sowohl in das Werk als auch in dessen editionsphilologische Problematik versehen ist. Der Anmerkungsteil ist notwendigerweise auf Fußnoten reduziert, die die wichtigsten Themen und Zusammenhänge des Romans erörtern. Vigliani übersetzte auch den unvollendeten Text Der Erlöser, eine Vorfassung des Mann ohne Eigenschaften aus den Jahren 1921–1922. Der Band 11

Robert Musil: L’uomo senza qualità. Bd. 1. Übers. v. Ada Vigliani, Vorwort v. Giorgio Cusatelli. Milano 1992, S. 7.

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wurde von Walter Fanta herausgegeben und basiert auf einer von Regina Schaunig rekonstruierten Textfassung. So erschien Der Erlöser (in der Il redentore betitelten Übersetzung) erstmals in Buchform und das italienische Publikum war das erste, das diese Vorfassung in dieser Form kennenlernen konnte – womit wir wieder auf das Thema Musil als eines eher italienischen als deutschsprachigen Autors zurückkommen!12 Der Band erschien im Verlag Marsilio mit einer Einführung des 2021 leider allzu früh verstorbenen Germanisten Luigi Reitani. Die Texte und Skizzen, die in Frisés Ausgabe von 1978 als verstreute Materialien erscheinen, haben eine neue, unerwartete Physiognomie gewonnen, da sie zu Kapiteln einer Geschichte geworden sind, die einen eigenen Rhythmus hat. Sie machen deutlich, wer der Schriftsteller Musil in den Jahren unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war.

Im Erlöser taucht tatsächlich die Stimme eines anderen, jüngeren Musil auf: Es herrschen, wie Vigliani sagt, »Kürze, Schnelligkeit und Prägnanz«. Der rasche Übergang von einem Thema und einem sprachlichen Register zu einem anderen nötigte Vigliani, »keinen langsamen Walzer wie den der ewigen Sitzungen der Parallelaktion, sondern eine lebhafte Polka zu tanzen«. Die Gewalt der Gesten, die direkte Sinnlichkeit, die unvermittelte Sprache und ein Sarkasmus, der an Karl Kraus erinnert, kennzeichnen die Hauptfigur Anders, der die Nachdenklichkeit von Ulrich noch nicht kennt. Rück- und gleichzeitig vorausblickend sagt Vigliani: Meine Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften ist fast dreißig Jahre alt und ich fühle das Bedürfnis, sie neu zu bearbeiten, um Ungenauigkeiten und Fehler zu korrigieren. Vor allem möchte ich sorgfältig überprüfen, ob ich wirklich alles getan habe, um den Essayismus und die Ironie Musils zu vermitteln. Hoffentlich werden der Verlag und ich anlässlich des 100. Jahrestages der Veröffentlichung des ersten Bandes dem italienischen Publikum eine aktualisierte Version des Romans anbieten können.

12

Robert Musil: Il redentore. Hg. v. Walter Fanta, übers. v. Ada Vigliani, eingeleitet v. Luigi Reitani. Venezia 2013 (= Gli Anemoni).

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Robert Musil im 21. Jahrhundert in den USA übersetzen Am Vorabend der Pandemie traf ich mich in New York mit Mark Mirsky, dem Herausgeber der amerikanischen Übersetzung von Musils Tagebüchern, und Rainer Hanshe, der den Verlag Contra Mundum Press gegründet hat, in dem drei meiner Musil-Übersetzungen veröffentlicht wurden. Mark Mirsky sprach von der ›Musil-Industrie‹ in Deutschland, und wir lachten traurig darüber, dass es so etwas in Amerika nicht gibt. Die Geschichte von Musils Werken in englischer Sprache beginnt in den 1950er Jahren, als Eithne Wilkins, in Neuseeland geboren, aber schon als Kind nach England übersiedelt, und ihr österreichisch-jüdischer Ehemann Ernst Kaiser die ersten beiden Bücher des Mann ohne Eigenschaften in England übersetzten.1 Wilkins und Kaiser übertrugen in der Folge weitere Werke Musils ins Englische; diese Übersetzungen wurden in Großbritannien wie auch in den USA veröffentlicht.2 Die erste Monographie, die in den Vereinigten Staaten zu Musil publiziert wurde, erschien 1961 und stammt von Burton Pike.3 Fast drei Jahrzehnte später übersetzte er mit David S. Luft eine Auswahl von Musils Essays, die 1990 unter dem Titel Precision and Soul erschien.4 Pike war schließlich auch an der Neuübersetzung des Mann ohne Eigenschaften beteiligt. Sophie Wilkins, nicht verwandt mit Eithne Wilkins, hatte begonnen, Musils Hauptwerk ins Englische zu übertragen; Pike führte diese Arbeit fort, indem er 600 Seiten aus dem Nachlass übersetzte und außerdem den Gesamttext revidierte.5 Dieser neue zweibändige Mann ohne Eigenschaften, der vom renommierten Knopf-Verlag unter der Ägide von Carol Brown Janeway veröffentlicht wurde, war ein Meilenstein in der Rezeption Musils in 1 2

3 4 5

Robert Musil: The Man Without Qualities. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. 3 Bde. London 1953, 1955, 1960. Robert Musil: Young Törless. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. London 1955; Robert Musil: Tonka, and Other Stories. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. London 1965; Robert Musil: Five Women. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. Mit einem Vorwort v. Frank Kermode. New York 1966. Burton Pike: Robert Musil: an Introduction to his Work. Ithaca, New York 1961. Robert Musil: Precision and Soul. Essays and Addresses. Hg. u. übers. v. Burton Pike u. David S. Luft. Chicago, London 1990. Robert Musil: The Man without Qualities. 2 Bde. Übers. v. Sophie Wilkins u. Burton Pike. New York 1995. Diese Übersetzung erschien auch in London, ebenfalls aufgeteilt auf zwei Bände (Bd. 1, 1995; Bd. 2, 1997). Das erste Teil der in New York 1995 erschienenen Ausgabe wurde 2017 im Verlag Picador – ohne die Nachlass-Kapitel – wieder aufgelegt.

Robert Musil im 21. Jahrhundert in den USA übersetzen

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den Vereinigten Staaten. In einer Rezension dieser Übersetzung von Wilkins und Pike stellte Michael André Bernstein fest: Wenn es in den Vereinigten Staaten so lange gedauert hat, bis Musil als meisterhafter Schriftsteller Anerkennung fand, so liegt das nicht nur am Widerstand der Leser oder einfach an der Schwierigkeit seines Werks. Musils besondere Leistung – auch die Art und Weise, wie die Lektüre seines Werk sowohl schwierig als auch bereichernd ist – stellt einen so einzigartigen Fall dar, dass selbst eine gründliche Einarbeitung in die Komplexität der anderen großen Autoren der Moderne – und die Freude daran – den Leser nur in geringem Maße auf die Begegnung mit einem Werk wie diesem vorbereitet.

Das Erscheinen dieser erheblich erweiterten Ausgabe sei ein literarisches und intellektuelles Ereignis von einzigartiger Bedeutung. Selbst in den Vereinigten Staaten wird seit Jahrzehnten regelmäßig auf Musils Roman angespielt, er wird auf der Suche nach verblüffenden Aphorismen und Aperçus zur Geschichte durchstöbert und gilt als eines der besonders aufschlussreichen Dokumente, die die Faszination wachhalten, die für uns von den letzten Tagen der österreichischungarischen Monarchie ausgeht. Ab nun ist Der Mann ohne Eigenschaften nicht mehr nur für Spezialisten der einen oder anderen akademischen Disziplin zugänglich, sondern für jeden amerikanischen Leser, der die luzide Genauigkeit erleben möchte, mit der Musil den solide gefertigten europäischen Roman in ein Gedankenexperiment mit offenem Ausgang verwandelt hat. In Musils Händen wurde der Roman zu einem »Versuchsfeld« für Probleme, die heute nicht weniger aktuell sind als zur Zeit, als er ihn verfasste.6

Abgesehen von Bernsteins Besprechung erschien zu dieser neuen, erweiterten Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften eine Handvoll wichtiger Rezensionen von Koryphäen wie George Steiner, William Gass und J. M. Coetzee. Jenseits eines kleinen Kreises von Kennern verebbte die Begeisterung schnell wieder, dennoch folgten etliche weitere Übersetzungen von Texten Musils. Im Anschluss an die 1995 bei Alfred A. Knopf veröffentlichte Ausgabe des Romans erschien 1998 eine von Philip Payne verfasste Übersetzung einer Textauswahl aus den Tagebüchern bei Basic Books.7 Es gab auch Neuauflagen älterer Übersetzungen; so erlebte die Übertragung des Nachlass zu Lebzeiten durch Peter Wortsman von 1987 bis 2006 drei Auflagen.8 Die unter dem Titel Five Women 1966 erschienene Übersetzung der Vereinigungen und der Drei Frauen von Eithne Wilkins und Ernst Kaiser wurde mehrmals neu aufgelegt, sie erschien 2010 in der Reihe Verba Mundi und 2021 in London bei 6 7 8

Michael André Bernstein: The Unbounded Vision of Robert Musil, in: The New Republic 212 (1995), Nr. 22, S. 32. Robert Musil: Diaries, 1899–1941. Ausgewählt, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Vorwort versehen v. Philip Payne. Hg. u. eingeleitet v. Mark Mirsky. New York 1998. Robert Musil: Posthumous Papers of a Living Author. Übers. v. Peter Wortsman. Hygiene/ Colorado 1987.

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Riverrun Editions.9 Penguin veröffentlichte 2001 eine Übersetzung der Verwirrungen des Zöglings Törleß von Shaun Whiteside mit einem Vorwort von J. M. Coetzee.10 Meine Übersetzung von bisher nicht ins Englische übertragenen kleinen Prosatexten wurde 2015 bei Contra Mundum Press unter dem Titel Thought Flights veröffentlicht.11 2019 erschienen zwei Übersetzungen der Vereinigungen, Peter Wortsmans Intimate Ties bei Archipelago Books12 und im selben Monat meine Unions bei Contra Mundum Press.13 2019 wurde bei New York Review Books, der Verlagsabteilung der New York Review of Books, unter dem Titel Agathe, or The forgotten sister eine Auswahl aus Kapiteln des zweiten Buchs sowie aus Nachlass-Kapiteln des Mann ohne Eigenschaften publiziert, übersetzt von Joel Agee und finanziell unterstützt von einem philanthropischen Musil-Enthusiasten.14 Im Jahr 2020 schließlich veröffentlichte Contra Mundum Press unter dem Titel Theater Symptoms. Plays and Writings on Drama meine 622 Seiten umfassende Übersetzung von Musils Dramen und Texten zum Theater.15 Mit Ausnahme der Diaries, des Törleß und der auf ungewöhnliche Weise finanzierten Agathe wurden diese Übersetzungen von kleineren unabhängigen oder akademischen Verlagen herausgegeben, die Mühe hatten, genügend Exemplare zu verkaufen, um ihre Kosten wieder hereinzuspielen. Zudem wurden die genannten Publikationen mit Ausnahme der Diaries und Agathe, or The forgotten sister kaum rezensiert oder erwähnt. Die schleppende Rezeption dieses Autors in US-amerikanischen Übersetzungen erinnert an die mangelnde Beachtung, über die sich Musil zu seinen Lebzeiten beklagt hatte. In seiner Untersuchung Robert Musil – Literatur und Politik, die ich gerade für Contra Mundum Press übersetze, erwähnt Klaus Amann, dass die linksliberale Wiener Tageszeitung Der Tag einen Bericht des Völkischen Beobachters kommentierte, der kritisiert hatte, dass Hermann Stehr und Erwin Guido Kolbenheyer nicht ausreichend gewürdigt würden und man noch immer Thomas Mann lese.16 Der Kommentar von Musil lautete: »An mich denkt keiner« (Tb II, S. 1239). Für manche, auch in seinem eigenen Umfeld, galt Musil als »zu intelligent für einen wahren Dichter« (Tb I, 9 10 11 12 13 14 15 16

Musil: Five Women (Anm. 2); weitere Auflagen: Boston 1986, Boston 1999, Boston 2010. Robert Musil: Five Women. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. Mit einem Vorwort v. Rivka Galchen. London 2021. Robert Musil: The Confusions of Young Törless. Übers. v. Shaun Whiteside. Mit einer Einleitung v. J. M. Coetzee. London 2001. Robert Musil: Thought Flights. Übers. v. Genese Grill. New York, London, Melbourne 2015. Robert Musil: Intimate Ties. Two Novellas. Übers. v. Peter Wortsman. New York 2019. Robert Musil: Unions. Übers. v. Genese Grill. New York 2019. Robert Musil: Agathe, or The forgotten Sister. Übers. v. Joel Agee. New York 2020. Robert Musil: Theater Symptoms: Plays & Writings on Drama. New York, London, Melbourne 2020. Vgl. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 74.

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S. 921) – dies die angebliche Begründung, warum er 1931 nach Schnitzlers Tod nicht dessen Sitz in der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste in Berlin übernehmen konnte. Der Antrag, Musil in die Sektion aufzunehmen, hatte von den nationalistischen und völkischen Mitgliedern keine Unterstützung erhalten. Anstelle von Musil wurde Max Mell, Autor des Dramas Nachfolge Christi-Spiel (1927), gewählt.17 Amann resümiert: »Einige der von ihm zu Recht als Zurücksetzungen und Kränkungen empfundenen Anlässe hatten zweifellos auch politische Hintergründe.«18 Während der zuerst genannte Grund für die Nicht-Beachtung Musils – seine außergewöhnliche Intelligenz – zweifellos auch eine der Ursachen für seinen geringen Erfolg in den Vereinigten Staaten ist, könnte ein weiterer Grund – insbesondere in Zeiten politischer Polarisierung – in Musils kritischer Offenheit liegen. Auch wenn die Vereinigten Staaten eine beeindruckende Geschichte ernsthafter intellektueller Aktivitäten und eine Tradition engagierter Verleger und Leser aufweisen, so ist es in der aktuellen, von vereinfachenden Parolen und parteipolitischen Positionen geprägten Phase doch sehr unwahrscheinlich, dass Musils Werk im öffentlichen Bewusstsein wieder eine bedeutende Rolle spielen wird. Und doch wären seine nuancierte Verteidigung künstlerischer Ambiguität und seine Wertschätzung der individuellen ethischen Stimme im heutigen Amerika wohl genauso notwendig, wie sie es zu Musils Zeit waren. Im US-amerikanischen Verlagswesen, welches sich weitgehend aus dem Verkauf seiner Produkte finanziert und in welchem Instrumente öffentlicher Finanzierung weit weniger verbreitet sind als in Europa, hat ein Werk wie das Musils kaum Chancen, publiziert zu werden, es sei denn, man findet einen wagemutigen oder auch einen finanziell potenten, vom kommerziellen Erfolg unabhängigen Verleger. Es mag beim Thema Übersetzungen roh wirken, wenn man auch finanzielle Aspekte anspricht, aber in diesem Kontext ist es sicherlich relevant, wenn ich darauf hinweise, dass die Förderungen, die ich bisher für meine Arbeit erhalten habe, immer nur vom österreichischen, nie vom US-amerikanischen Staat stammten. In den ehrwürdigsten Kulturzeitschriften und Zeitungen der Ostküste The New Yorker, The New York Review of Books und The New York Times wird Musil im Schnitt nicht mehr als ein- oder zweimal pro Jahr erwähnt, und das meist nur am Rande, entweder im Rahmen eines Kommentars zu einem politischen Phänomen oder nur als Name in einer Liste hoch angesehener, aber notorisch schwieriger Autoren. Der New Yorker, der wie Mark Mirsky, Professor für englische Literatur am City College of New York, in der Herausgeber-Ecke der Zeitschrift Fiction ironisch anmerkt, »natürlich Besseres zu tun hat, als sich um den Ruf von Robert Musil zu kümmern, den seine Re17 18

Vgl. ebd., S. 75. Ebd., S. 75.

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dakteure traditionell ignorieren«,19 erwähnte ihn in elf Jahren nur acht Mal. Ein typischer Eintrag in The New York Times ist ein Interview mit dem Historiker Simon Schama, der auf die Frage, was er als nächstes zu lesen gedenke, antwortete: »Den Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Allerdings habe ich immer vor, als nächstes Buch Musils Mann ohne Eigenschaften zu lesen.«20 Eine regelmäßige Mitarbeiterin des New Yorker gab auf die Frage, welche Bücher auf ihrem Nachttisch liegen, sogar folgende Antwort: »Es gibt einige Bände, die dort seit Jahren liegen, das muss ich zugeben. Dazu gehören die ersten beiden Bände (vielleicht gibt es noch einen dritten) von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Ich bin nie über die Seite fünfundsechzig hinausgekommen.«21 In einer solchen Atmosphäre ist es schwierig, Verleger zu finden, die bereit oder in der Lage sind, das Risiko einer Publikation von Musils Werken einzugehen. Trotz solcher Entmutigungen werden Musils Werke in den Vereinigten Staaten verlegt, was u. a. das Verdienst von Contra Mundum Press ist. Mein erstes Buch mit Musil-Übersetzungen war die 2016 erschienene Sammlung Thought Flights (Gedankenflüge), die aus bisher nicht übersetzter und nicht in dieser Form zusammengestellter Kurzprosa besteht. Diese Publikation wäre nicht möglich gewesen ohne die Klagenfurter Ausgabe, herausgegeben von Klaus Amann, Karl Corino und Walter Fanta, die den Zugang zu bisher unveröffentlichten Texten ermöglicht. Mein zweites Buch wurde von Mark Mirsky angeregt, der mich gebeten hatte, eine Textpassage zu untersuchen, die ihm in der Übersetzung der Vollendung der Liebe von Eithne Wilkins und Ernst Kaiser seltsam erschien. Eine vertiefte Lektüre inspirierte mich zu einer Neuübersetzung der beiden Novellen, aus denen die Vereinigungen bestehen. Bis 2019 waren sie auf Englisch nur in dem oben erwähnten Band Five Women erhältlich gewesen. Gerade als Contra Mundum Press im Begriff war, das Buch zu veröffentlichen und auf den Markt zu bringen, entdeckten wir, wie bereits erwähnt, dass auch Archipelago Books eine von Peter Wortsman übersetzte Version unter dem Titel Intimate Ties vorbereitete. Nach der Veröffentlichung von Unions habe ich im Jahr 2020 Theater Symptoms. Plays and Writings on Drama ebenfalls bei Contra Mundum Press herausgegeben. Für diesen von mir übersetzten Band benützte ich ebenfalls den wissenschaftlichen Apparat der Klagenfurter Ausgabe zum Nachlass und zudem Band 10 (Zeitungen und Zeitschriften 1922–1924) der von Walter Fanta herausgegebenen mehrbändigen Musil-Ausgabe, den er mir freundli19 20 21

Mark J. Mirsky: To Sneer at Robert Musil, in: Fiction (5. 4. 2021), https://www.fictioninc.com/ editors-corner/to-sneer-at-robert-musil (aufgerufen am 10. 10. 2022). Simon Schama: By the Book, in: The New York Times (19. 10. 2017), https://www.nytimes. com/2017/10/19/books/review/simon-schama-by-the-book.html (aufgerufen am 10. 10. 2022). Judith Thurman: What We’re Reading: The Before Bed Edition, in: The New Yorker (26. 4. 2012), https://www.newyorker.com/books/page-turner/what-were-reading-the-before-bededition (aufgerufen am 10. 10. 2022).

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cherweise vor der Veröffentlichung zur Verfügung stellte. Derzeit arbeite ich an einer Übersetzung von Klaus Amanns Buch Robert Musil – Literatur und Politik, das zu einer Hälfte aus Amanns historischer Kontextualisierung von Musils Leben und Schaffen unter totalitären Bedingungen besteht. Die andere Hälfte bilden Essays, Vorträge, Aphorismen und zu Lebzeiten unveröffentlichte Versuche Musils, sich mit den Herausforderungen der Zeugenschaft in schwierigen Zeiten zu befassen und künstlerische Autonomie zu bewahren. Dieses von Philip Payne herausgegebene Buch wird voraussichtlich im Jahr 2023 ebenfalls bei Contra Mundum Press erscheinen. Thought Flights und Theater Symptoms enthalten nicht nur Übersetzungen von Texten, die Musil selbst veröffentlicht hat, sondern auch solche, die nicht zu Lebzeiten Musils publiziert wurden, sowie unvollendete Texte. Zudem finden sich in den beiden Bänden Einführungen und Kommentare. Der amerikanische Leser muss mit einem kulturellen und historischen Kontext vertraut gemacht werden, der ihm mehr oder weniger fremd ist. Die Namen und die Bedeutung etlicher Schriftsteller, Schauspieler und populärer Persönlichkeiten der 1920er bis 1940er Jahre sind dem Durchschnittsleser nicht bekannt, was Anmerkungen und Erklärungen notwendig macht. Zentrale Begriffe wie etwa der schwer übersetzbare ›Geist‹ müssen englischsprachigen Lesern erläutert werden.22 Wie alle Übersetzer aus dem Deutschen ins Englische kämpfe ich mit den grundlegenden Unterschieden zwischen den beiden Sprachen – mit dem, was sie können und nicht können. Wie Burton Pike in seinem Nachwort zum zweiten Band seiner Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften bemerkt, schreibt Musil »oft auf einer Ebene der Semi-Abstraktion, die im Deutschen sinnvoll und zielgerichtet ist, sich aber im Englischen, der rücksichtslos konkretesten aller Sprachen, als unverdaulich erweist.«23 Da es im Englischen keine Deklinationen nach Fällen gibt und die Substantive kein Geschlecht haben, verfügt es auch nicht über die Art von Verweismöglichkeiten, die erkennbare Bezüge in den langen, gewundenen deutschen Sätzen herstellen. Wo man im Deutschen ein Komma setzt, bedient man sich im Englischen meist eher des Semikolons, und oft teilt man einen deutschen Satz in zwei oder drei englische Sätze auf. Und doch wäre es an manchen Stellen ein Verrat am Text, Musils lange und meisterhafte Sätze, die ein schillerndes, raffiniertes Jonglieren mit Ideen und Assoziationen erzeugen, einfach zu kürzen. Die Form ist hier ein wichtiger Teil des Inhalts. Ich versuche in meinen Übersetzungen, diese Komplexität, Musils philosophischen Witz, seine brillante Intelligenz 22

23

Vgl. Philip Payne: Die Übersetzung ins Englische von Musils Begriffen ›Moral‹, ›Ethik‹, ›Seele‹ und ›Geist‹, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil. Beiträge des Internationalen Übersetzer-Kolloquiums in Straelen vom 8.–10. Juni 1987. Hg. v. Annette Daigger u. Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 153–162. Burton Pike: Translator’s Afterword, in: Musil: The Man without Qualities. Bd. 2 (Anm. 5), S. 1771–1774, hier S. 1772.

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zu bewahren, ohne dass dabei die Sätze an Glanz und an Lebendigkeit verlieren. Es ist mir wichtig, dass Musils österreichische Prosa des 20. Jahrhunderts nicht wie amerikanische Prosa des 21. Jahrhunderts klingt, sondern dass ein Gefühl für die Fremdheit nicht nur der Sprache und Kultur seiner Zeit, sondern auch für Musils Idiolekt erhalten bleibt. Ich möchte die Fremdheit des Ausgangstextes vermitteln, ohne ihn allzu sehr an die Zielsprache und deren kulturellen Kontext anzupassen.24 Im Idealfall werden beide Kulturen durch den Transfer bereichert. Es geht natürlich nicht nur darum, eine Kultur, eine Sprache und eine Zeit in eine andere Kultur, eine andere Sprache und eine andere Zeit zu übertragen, sondern auch darum, einen bestimmten Geist und eine bestimmte Sichtweise zu übersetzen und dabei ihre Einzigartigkeit, ihre Idiosynkrasien zu bewahren. Leser, die mit Musil nicht vertraut sind, müssen darauf vorbereitet werden, dass seine besondere Mischung aus Ironie und Ernsthaftigkeit leicht missverstanden werden kann; mit anderen Worten, es ist selbst für einen Muttersprachler, der das deutsche Original liest, nicht immer klar, welchen Standpunkt Musil zu einem bestimmten Thema vertritt. Daher bemühe ich mich, dem Drang zu widerstehen, einen unbestimmten Ausdruck in etwas Eindeutiges oder Einseitiges zu verwandeln. Da alles Schreiben eine Form der Übersetzung von der Welt in das Wort und alles Lesen eine Übersetzung von einem persönlichen Idiolekt in einen anderen ist, kann das wesentliche Problem der Übersetzung von Sprache zu Sprache als ein Problem der Metapher betrachtet werden, in der man, wie Musil schreibt, versucht, »Schönheit oder Aufregung [. . .] in die Welt« zu bringen, »indem man fortläßt« (MoE, S. 573). Wir machen äquivalent, was im Grunde nicht äquivalent ist, und versuchen, etwas Unbekanntes durch etwas bereits Bekanntes zu charakterisieren, ein Prozess, der, wie Musil erläutert, zu erstarrten Metaphern und toten Worten führen kann. Auf der Suche nach einem möglichen Ende für seinen großen unvollendeten oder unvollendbaren Roman erfand er eine Reihe utopischer Denkweisen, darunter eine »Utopie des motivierten Lebens« (MoE, S. 1887, S. 1914), eine »Moral des nächsten Schritts« (MoE, S. 733), eine »Utopie des exakten Lebens« (MoE, S. 244) und eine weitere, die er »die Utopie des Essayismus« (MoE, S. 247) nannte. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie sich gegen einfache oder endgültige abstrakte Lösungen, Verknöcherung, tröstliche Halbwahrheiten und ethische Faulheit wehren. Statt für einschläfernde Absolutheiten, neue Gewissheiten oder geschlossene Ideologien zu sorgen, konfrontiert uns 24

Ich schließe mich damit der zweiten von Goethes Übersetzungsmaximen an: »Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, dass wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, dass wir uns zu dem Fremden hinüber begeben, und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen.« Johann Wolfgang von Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands, in: ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hg. v. Ernst Beutler. Bd. 12. Zürich 1949, S. 693–716, hier S. 705.

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Musil mit Existenzweisen, die ein kontinuierliches Engagement für radikale Gedankenflüge, für das Unabgeschlossene und das dauerhaft Kontingente erfordern. Handlungen oder Gedanken sollen nur danach beurteilt werden, was auf sie folgt, ob sie den Menschen – gemäß einem von Friedrich Nietzsche entlehnten Maßstab – »steigen oder sinken« (MoE, S. 770) lassen. Er untersucht die besonderen, einzigartigen Qualitäten von Handlungen und Gedanken aus immer neuen Perspektiven; er möchte uns dazu bringen, in einem Zustand authentischen Unbehagens leben. In einem Aufsatz, den ich kürzlich für eine Festschrift zu Ehren von Burton Pike verfasste, habe ich es gewagt, Musils Utopien eine weitere hinzuzufügen zu erweitern, nämlich die der »Metapher als Übersetzung«.25 Dabei vertrat ich die Auffassung, dass die Metapher für Musil eine Methode ist, um durch den endlosen Ozean der unzähligen Möglichkeiten zu navigieren, und dass die Metapher selbst, die auch eine Form der Übersetzung ist, als Chiffre verstanden werden kann für unser menschliches Streben, die Ungewissheit der Existenz zu kommunizieren – von einem Idiolekt zum anderen, von einer Sprache zur anderen, von der Vergangenheit in die Zukunft. Dieser Zustand der Ungewissheit trägt mit dazu bei, den Zugang zu Musil für zeitgenössische Leser zu erschweren – besonders in den heutigen Vereinigten Staaten. Äußere und innere Bedrohungen können Menschen dazu bringen, den Versuch zu unternehmen, etwas zu kontrollieren, was im Grunde genommen nicht kontrollierbar ist, nämlich die irreduzible Natur des menschlichen Lebens, der Kunst, der Kreativität und der sich selbst erzeugenden Metapher. Die Bemühung, alle Gefahren unter Kontrolle zu bringen oder den Kontakt mit dem Unbekannten zu eliminieren, ist, wie Musil wusste, eine Form des Totalitarismus und daher für den menschlichen Geist gefährlicher als die Krankheiten, die man zu heilen hofft. Diese Spannung in den Bereich der Übersetzungstheorien zu übertragen, bedeutet, den Unterschied zu beachten zwischen der Übersetzung als einem Prozess, der die Differenz beseitigt oder überwindet, d. h. der das Universelle und Gleiche betont, und andererseits der Übersetzung als einer Kraft, die die Differenz aufrechterhält, die die Möglichkeit und Notwendigkeit von Kommunikation und Austausch bejaht. Für George Steiner war die Entstehung einer Vielzahl unterschiedlicher Sprachen kein Fluch, sondern ein Segen. Die Vielfalt der Sprachen ermögliche, so argumentiert er in After Babel, die Entwicklung von Geheimnissen, Unterschieden und Lügen und diene dazu, die Schätze der Fiktion zu vermehren. Je näher eine Übersetzung (einer Welt, eines Bewusstseins oder eines Textes in eine fremde Sprache) dem Original kommt, desto näher kommt sie auch einer Art transgressiver Blasphemie: Das Scheitern einer vollständigen und genauen Übersetzung ist, so paradox es klingen mag, auf seine Weise 25

Underlying Rhythm: On Translation, Communication, and Literary Languages: Essays in Honor of Burton Pike. Hg. v. Peter Constantine, Robert Cowan, Henry Gifford, Genese Grill u. James Keller. Oxford u. a. 2023.

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angemessener – angesichts einer vielfältigen Welt und der Eigenheiten verschiedener Bewusstseinsformen und Kulturen – als der Anspruch, absolut treu zu übersetzen. Steiner schreibt: »Vitale Sprechakte sind solche, die versuchen, einen neuen und ›privaten‹ Inhalt öffentlich zugänglich zu machen, ohne die Einzigartigkeit, die Abgegrenztheit der individuellen Intention zu schwächen.«26 Die vitalste Form der Übersetzung – eine, die mit Musils Engagement für die lebendige Sprache und die Utopien des ›motivierten Lebens‹ und des ›nächsten Schritts‹ und in Einklang steht – ist also eine, die sich nicht bemüht, äquivalent zu machen, was nicht äquivalent ist, sondern die etwas über das Original offenbart, das nicht übersetzt oder übertragen werden kann. Das Bewusstsein für dieses letztlich unübersetzbare Etwas könnte paradoxerweise die wichtigste Frucht des Übersetzungsprozesses sein.27 Übersetzung ist immer Interpretation, aber bei Musil muss man besonders darauf achten, Überinterpretationen zu vermeiden, seine Worte lebendig zu halten, Offenheit nicht zu beseitigen, resistent zu bleiben gegenüber vorzeitigen Schließungen oder moralischen Urteilen. Die erste englische Übersetzung der Erzählungen Die Vollendung der Liebe und Die Versuchung der Stillen Veronika enthielt eine Reihe von Eingriffen, die das moralische Urteil der Übersetzer Musils amoralischem Experiment überstülpten.28 In einer Szene in Die Vollendung der Liebe, in der Claudine und ihr Mann über den sexuell abweichenden G. sprechen, fragt Claudine ihren Mann, ob er glaube, dass der Mann »meint«, was er tut, sei falsch (»glaubst du, daß er unrecht zu handeln meint?«; GW II, S. 157; Hervorhebung G. G.). Wilkins und Kaiser haben dieses »meint« mit »realises« übersetzt (»Do you think he realises he’s doing wrong?«29 ) und damit ein Urteil gefällt, das Musil vermieden hat. »Do you think«, lässt Wortsman Claudine ihren Mann fragen, »he knowingly means to harm his victims?«,30 was ebenfalls nahelegt, dass es natürlich falsch ist, auch wenn er es vielleicht nicht wusste. Ich habe es wertfrei wiedergegeben als: »Do you believe he thinks he is doing wrong?«31 In der zweiten 26 27

28

29 30 31

George Steiner: After Babel. Aspects of Language and Translation. Third Edition. New York 1998, S. 215. Der zitierte Satz ist in der bei Suhrkamp erschienenen deutschen Ausgabe von Nach Babel, welche im Einvernehmen mit dem Autor gekürzt wurde, nicht übersetzt worden. »Jede Übersetzung von Rang muß einen möglichst präzisen Sinn für das mit sich führen, was ihr widersteht, für die mitten im Verstehen unüberschreitbaren Grenzen. [. . .] Wir haben gesehen, daß ernstliches Verstehen von der sprachlichen und kulturellen Erfahrung einer widerständigen Differenz abhängt.« Vgl. George Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Erweiterte Neuauflage. Frankfurt a. M. 1994, S. 360 f. Dies ist nicht weiter verwunderlich, haben doch die beiden Übersetzer entgegen den Belegen in Musils Nachlass darauf bestanden, dass Ulrich und Agathe ihre inzestuöse Liebe in dem großen Roman nicht vollzogen haben. Vgl. Eithne Wilkins, Ernst Kaiser: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Stuttgart 1962, S. 266 ff. Robert Musil: Five Women. Übers. v. Eithne Wilkins u. Ernst Kaiser. Mit einem Vorwort v. Rivka Galchen. London 2021, S. 146. Musil: Intimate Ties (Anm. 12), S. 15. Musil: Unions (Anm. 13), S. 4.

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Geschichte gibt es in einer ähnlich wichtigen Passage eine vergleichbare Verzerrung. Als Veronika Johannes erzählt, sie habe von einer Frau gehört, die zwei Hunde als Liebhaber hat, gibt sie zu: »Und es mag scheußlich sein, was sie sagen [. . .].« (GW II, S. 199) Kaiser und Wilkins haben dies so wiedergegeben: »Of course, it’s perfectly horrible what they say [. . .]«,32 womit sie nicht nur Veronikas Phantasiewelt anklagen, sondern auch die experimentelle Risikobereitschaft, die den Kern dieser Geschichten ausmacht, unterschlagen. Wortsmans Übertragung der beiden Geschichten hat einen anderen Ton und eine andere Atmosphäre als meine oder die von Wilkins und Kaiser. Die frühere Übersetzung war etwas formal und ließ den experimentellen Charakter von Musils oft für den Leser sehr herausfordernd gestalteten Bewusstseinsströmen vermissen – vielleicht in dem Versuch, das zu normalisieren, was eindeutig nicht normal ist. Während ich versuche, die poetische und imaginäre Offenheit dieser Texte hervorzuheben, und so hoffentlich deren ungewöhnliche Mischung aus Poesie und Perversität betone, neigt Wortsman dazu, Entscheidungen zu treffen, die die Prosa zeitgemäßer und zugänglicher machen. Seine Wortwahl tendiert auch zum Harten, während ich oft einen lyrischeren Ton verwende, nicht um die Texte zu beschönigen, sondern um Musils Ideen entsprechend zu zeigen, dass das, was andere als abartig oder pathologisch ansehen, als schön empfunden werden kann. Vergleichen wir eine eher zufällig ausgewählte Passage bei Musil und in den Übersetzungen von Wilkins/Kaiser, Wortsman und mir: »Ja, ist nicht jedes Gehirn etwas Einsames?« Diese beiden Menschen, die jetzt wieder schwiegen, dachten gemeinsam an jenen Dritten, Unbekannten, an diesen einen von den vielen Dritten, als ob sie miteinander durch eine Landschaft gingen: . . . Bäume, Wiesen, ein Himmel und plötzlich ein Nichtwissen, warum alles hier blau und dort voll Wolken ist; . . . sie fühlten alle diese Dritten um sich stehen, wie jene große Kugel, die uns einschließt und uns manchmal fremd und gläsern ansieht und frieren macht, wenn der Flug eines Vogels eine unverständlich taumelnde Linie in sie hineinritzt. Es war in dem abendlichen Zimmer mit einemmal ein kaltes, weites, mittaghelles Alleinsein. (GW II, S. 158) »Yes, indeed, isn’t ever mind solitary?« These two people, now silent again, were joined in thinking of that third person, that unknown, that one out of so many third persons, as if they were walking through a landscape together: trees, meadows, sky, and all at once the impossibility of knowing why here it is all blue and over there the clouds are gathering. They felt all these third persons surrounding them, enveloping them like that huge sphere, which encloses us and sometimes turns an alien, glassy eye upon us, making us shiver when the flight of a bird cuts an inexplicable lurching streak across it. In this twilit room there was all at once a cold, vast solitude, bright as noon.33 32 33

Musil: Five Women (Anm. 29), S. 186. Ebd., S. 146 f.

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»Yes, indeed, is not every brain lonesome and unique?« Silent again, these two people simultaneously thought of a third, unknown, one of those innumerable third persons, as though they were traveling together through a landscape: trees, meadows, a sky, and suddenly drawing a blank as to why it’s blue here and cloudy there; . . . they sensed all those third persons standing around, like that great sphere that surrounds us and sometimes regards us with a strange and glassy gaze and gives us the shivers when the flight of a bird scratches an incomprehensible lurching line through it. All of a sudden that evening-tinged room filled up with a cold, faraway, noontime-bright solitude.34 »Yes, isn’t every mind a lonely thing?« These two people, who now were silent again, thought together about that third, unknown person, about this one of the many third persons, as if they walked together through a landscape: . . . trees, fields, a sky, and suddenly an incomprehension about why everything here is blue, but there filled with clouds; . . . they felt all of these third persons standing around them, like that great globe that constrains us and sometimes watches us distantly and glassily and makes us cold when the flight of a bird rips an incomprehensible tumbling line through its surface. In the twilit room there was suddenly a cold, vast, afternoon-bright loneliness.35

Auch wenn es schwierig ist zu erklären, warum oder wie die Wahl der Worte und deren Anordnungen im Satz unterschiedliche Wirkungen erzeugen, kann man doch einige Punkte herausheben. Die Übersetzung von Wilkins und Kaiser macht aus Musils langem zweiten Satz zwei Sätze, wodurch der Strom der Bilder unterbrochen wird. Sowohl diese Übersetzung als auch jene von Wortsman entfernen die drei Auslassungspunkte nach »Landschaft gingen«, so dass der Text verkürzt wird. Das »Yes, indeed« am Anfang des Textes der Übersetzungen von Wilkins/Kaiser und Wortsman schafft ein Gefühl der Gewissheit, das im Original fehlt. Die Fassung von Wilkins/Kaiser verwandelt Musils »Nichtwissen« in eine »impossibility of knowing«, also in eine Unmöglichkeit zu wissen, wodurch ein Absolutes geschaffen wird, wo keines existiert. Wortsmans »drawing a blank«36 fügt ein Bild hinzu, das nicht im Text steht, und zwar ein ziemlich nüchternes, das zusammen mit dem umgangssprachlichen »why it’s blue here and cloudy there« das Unbestimmte des Originals auslöscht. Der Unterschied bei der Darstellung der Personen – in Wortsmans Übersetzung heißt es »standing around«; meine Version »standing around them« weicht davon nur geringfügig ab – besteht darin, dass »standing around« die Vorstellung von Faulenzern evoziert, während die Formulierung »standing around them« diese Konnotation nicht aufweist. Die Formulierung von Wilkins und Kaiser »persons surrounding them« ist 34 35 36

Musil: Intimate Ties (Anm. 12), S. 5. Musil: Unions (Anm. 13), S. 5 f. Diese Redewendung, die aus der Renaissancezeit stammt, geht zurück auf ein Gewinnspiel, bei dem man ein Stück Papier zieht. Darauf steht dann eine Nummer oder nichts, also ein ›blank‹; in diesem Fall hat man verloren. Heute benutzt man diese Wendung um auszudrücken, dass man von etwas keine Ahnung hat.

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hier wohl die beste Lösung. Wortsmans »glassy gaze« und das »glassy eye« von Wilkins und Kaiser lassen uns zwar erschaudern (»making us shiver« oder »gives us the shivers«), was zwar vollkommen treffend und vielleicht genauer als meine Wiedergabe ist, dem Ganzen aber den Charakter einer Horrorgeschichte verleiht, der durch Musils »frieren macht« nicht wirklich gerechtfertigt ist. Musils »taumelnde Linie« wird von Wilkins und Kaiser als »inexplicable lurching streak«, von Wortsman als »incomprehensible lurching line« und von mir als »incomprehensible tumbling line« wiedergegeben, wobei Letzteres meines Erachtens eher Musils Text entspricht. Wilkins und Kaiser haben ebenso wie ich »weit« mit »vast« übersetzt, während Wortsman es mit »faraway« wiedergegeben hat. Wortsman hat das Zimmer und nicht das »Alleinsein« zum Subjekt des letzten Satzes gemacht, während Wilkins/ Kaiser und ich Musils Struktur beibehalten haben, in der das »Alleinsein« das Subjekt des Satzes bildet. Während sowohl Wortsman als auch ich die Voranstellung von Adjektiven, welche das »Alleinsein« beschreiben, von Musil übernehmen – und dabei Musils Adjektiv »mittaghelles« entweder als »noontime-bright« oder als »afternoon-bright« wiedergeben, was im Englischen etwas seltsam ist –, haben Wilkins und Kaiser sich dafür entschieden, die Passage mit dem Vergleich »bright as noon« auf das Substantiv folgen zu lassen, wie man das im Englischen eher erwarten würde. Im Großen und Ganzen denke ich, dass die Übersetzung von Wilkins und Kaiser das Gefühl der fließenden Offenheit in dieser Textpassage leicht einschränkt, indem sie die etwas seltsam fragmentierten Bilder in eine konventionellere Form einpasst. Wortsmans Übersetzung vermischt Umgangssprache mit Fremdartigkeit auf eine Art und Weise, die irritierend ist – eine Irritation, die manche möglicherweise als passend für diese Erzählung ansehen. Meine Übersetzung dieser Passage bemüht sich dagegen, die Frische und das Lyrische wiederzugeben, die ich in der Passage und dem Werk insgesamt finde, nämlich das Gefühl, dass die Kälte, die man spürt, wenn der Vogel die Innenfläche der Weltkugel ritzt, die Art von aufregendem Schauder ist, den man angesichts der Unbegreiflichkeit von etwas Schönem, Fremdem erlebt, das ethisch-ästhetisch ›erschütternd‹ wirkt – um einen Begriff zu verwenden, auf den Musil in seinen Erörterungen dazu, was Kunst und insbesondere das Theater bewirken sollen, oft gebraucht. Insofern auch die Illustration eine Form der Übersetzung ist, lassen sich die Unterschiede zwischen meinen Unions und Wortsmans Intimate Ties vielleicht am besten durch die unterschiedlichen Bilder auf den Umschlägen dieser beiden gleichzeitig erschienenen Bücher veranschaulichen. Während das Cover von Intimate Ties eine Schwarz-Weiß-Radierung eines nackten, hingestreckten Körpers zeigt, dessen gesichtsloser Kopf von Haaren umgeben ist, die wie bei einem Stromschlag zu Berge stehen, und auf den ein überdimensionierter Hund lüstern hinabblickt, ziert das Cover meiner Ausgabe der Unions das Selbstporträt der nackten Martha Musil, das friedliche Bild einer

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selbstbewussten, sinnlichen Frau, die von der Sonne beschienen wird und auf die die Schatten überhängender Blätter fallen. Angesichts dieser beiden recht anspruchsvollen Erzählungen mag es vielleicht nicht überraschen, dass man sich in den Vereinigten Staaten des 21. Jahrhunderts – die trotz der wilden 1960er Jahre im Vergleich zum Wien des 20. Jahrhunderts immer noch recht puritanisch wirken – an Musil erst noch gewöhnen muss. Selbst in seinem eigenen Milieu war Musil, entsprechend dem Namen seines produktivsten US-Verlegers, eher contra mundum. Im US-amerikanischen Bewusstsein, dem diese frühen experimentellen Erzählungen noch relativ unbekannt sind, gibt es jedoch mehrere Musils. Die frühe Übersetzung der ersten beiden Bücher des Romans durch Wilkins und Kaiser zeigten Musil als Gesellschaftsanalytiker und ironischen Kommentator, den Musil der Parallelaktion; selbst vielen sensiblen Lesern sind in diesen ersten beiden Büchern die anderen Dimensionen von Musil entgangen. Die Essays in Precision and Soul stellten den erstaunten und beeindruckten Lesern einen anspruchsvollen und subtilen philosophischen Geist vor und machten in den Vereinigten Staaten auf diesen großen Denker aufmerksam. The Confusions of Young Törleß gaben den Blick frei für einen homoerotischen, vielleicht sogar für einen perversen Musil und führten auch zu dem Eindruck, dass der Inhalt des Buchs in seiner Mischung aus Sadismus und Mystizismus den kommenden faschistischen Schrecken vorwegnahm. Die zweibändige Ausgabe von The Man without Qualities bei Knopf, die endlich auch den umfangreichen Nachlass in der meisterhaften Übersetzung von Burton Pike enthielt, machte es unmöglich, Musil nicht als brillanten Schriftsteller der Moderne anzuerkennen, und zwang die Rezensenten jeden neuen experimentellen fiktionalen Text mit ihm zu vergleichen. Musils Meisterschaft in der Verwendung von Metaphern, die Eleganz und der Witz seiner Sätze, die formale Innovation und die Breite seines nicht-linear erzählten Meisterwerks, seine tiefgründigen philosophischen und mystischen Reflexionen fanden nun endlich Beachtung. Für einige amerikanische Leser gibt es natürlich auch den postmodernen Musil, der – wie ihr postmoderner Nietzsche – an nichts mehr glaubte und wie sie selbst nichts anderes wollte, als Bedeutung, Wert und Schönheit zu dekonstruieren. Ich habe mich jedoch in meiner Arbeit, einschließlich meiner Studie The World as Metaphor,37 bemüht, dem US-amerikanischen Publikum einen Musil zu präsentieren, der auf eher traditionelle Weise ein Modernist ist, der zwar außerordentlich innovativ, sicherlich kritisch und auch zynisch war, aber tatsächlich sehr stark an die Kunst als ethische Aktivität glaubte und für den das Mögliche und das Mystische von entscheidender Bedeutung waren. 37

Genese Grill: The World as Metaphor in Robert Musil’s The Man without Qualities: Possibility as Reality. Rochester 2012.

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Jede neue Übersetzung in eine neue Sprache durch einen anderen Übersetzer, jede neue Interpretation ist Ausdruck einer individuellen Sensibilität, die auf das reagiert und das offenbart, was George Steiner – in Anlehnung an Goethe – die »Wahlverwandtschaften«38 nennt und was zu unserem Vergnügen an der Literatur beiträgt. Wir alle sehen natürlich in erster Linie das, was uns in der Welt, in einem Buch anspricht, und vernachlässigen den Rest. Oder wie es Ulrich in Der Mann ohne Eigenschaften erklärt: »Wenn wir also, wie ich gesagt habe, in der Dichtung einfach auslassen, was uns nicht paßt, so tun wir damit nichts anderes, als daß wir den ursprünglichen Zustand des Lebens wiederherstellen.« (MoE, S. 574) Dieser Vorgang des Weglassens ist für Musil auch eine Form der Metaphernbildung, durch die »Schönheit oder Erregung [. . .] in die Welt« kommt (MoE, S. 573); sie ist auch das, was wir praktizieren, wenn wir übersetzen, und die unscharfe Grenze zwischen Gleichem und Ungleichem, Ähnlichem und Verschiedenem wird notwendigerweise durch die inhärenten Unterschiede zwischen Wort und Welt, Sprache und Sprache, Geist und Geist, Kultur und Kultur aufrechterhalten. Den Vereinigten Staaten von heute, die polarisiert und zugleich konformistisch sind, wäre sehr zu wünschen, dass Musils intellektuelles Engagement und seine kritische Offenheit stärker rezipiert und im gesellschaftlichen Leben fruchtbar gemacht werden könnten. Übersetzt von Rosmarie Zeller

38

Vgl. George Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Erweiterte Neuauflage. Frankfurt a. M. 1994, S. 361. Viele meiner Ideen zu Fragen der Übersetzung verdanke ich Anregungen aus diesem Buch.

Christian Kirchmeier, Armin Schäfer

»Moosbrugger war einer jener Grenzfälle« Unzurechnungsfähigkeit in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften* Abstract: Robert Musil’s novel The Man without Qualities treats diminished responsibility as a problem shaped by two discourses, the legal discourse surrounding criminal-law reform and the discourse on forensic psychiatry and criminology. After first tracing these discourses in the nineteenth and early twentieth centuries with reference to F. von Liszt, G. Radbruch, E. Kraepelin, K. Wilmanns, E. Bleuler, and others, the seventy-fourth chapter of the novel is analysed against the background of moral-philosophical and legalphilosophical debate. The dispute between Ulrich’s father and his colleague Professor Schwung concerning the wording of the law on diminished responsibility also relates to the case of the murderer Moosbrugger, which is situated at the intersection of legal and psychiatric discourse. This case cannot be subjected to general rules; it reveals the problems associated with the consolidation process of individual disciplines. It also highlights the problems of translation between different disciplines. The novel employs a technique that interrelates different areas of expert knowledge with one another and is therefore not merely a presentation of that knowledge.

1. Einleitung Robert Musil hat mit seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften ein außerordentliches Instrument zur Beobachtung sozialer Komplexität geschaffen. Dieser Beitrag folgt der These, dass der Roman keine als Literatur verkleidete soziologische Abhandlung ist, sondern seine literarische Eigenkomplexität als Sonde für eine Beobachtungsweise einsetzt, die heterogene Gesichtspunkte präsentiert, mehrere Perspektiven ausbildet und verschiedene Ordnungen des Beobachtens kombiniert. Im Folgenden soll an einem vermeintlichen Spezialthema des juristischen und psychiatrischen Diskurses – der Unzurechnungsfähigkeit – gefragt werden, wie der Roman seine spezifischen Möglichkeiten *

Wir knüpfen im Folgenden an unsere Skizze Unzurechnungsfähigkeit an. Vgl. Christian Kirchmeier, Armin Schäfer: Unzurechnungsfähigkeit, in: Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum Mann ohne Eigenschaften. Zweiter Band: Aktenzeichen MoE – Bürokratie. Hg. v. Peter Plener u. Burkhardt Wolf. Berlin 2020, S. 45–50. Vgl. ferner Armin Schäfer: »Der Augenblick, wo ihm alles tanzend gehorchte«. Zur Psychopathologie der Zeit in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften (Themenheft: Psychopathologie der Zeit. Hg. v. Maximilian Bergengruen u. Sandra Janßen) 1 (2021), S. 53–67.

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der Beobachtung zuallererst herstellt und an einem zentralen Problem der Moderne entfaltet. Die einschlägige Passage für den Unzurechnungsfähigkeitsdiskurs im Mann ohne Eigenschaften ist das 74. Kapitel mit dem Titel »Das 4. Jahrhundert v. Chr. gegen das Jahr 1797. Ulrich erhält abermals einen Brief seines Vaters«. Das Kapitel handelt von der Auseinandersetzung zwischen Ulrichs Vater und Professor Schwung um die Reform des Strafrechts. Gegenstand des Streits ist der Rechtsbegriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit bzw. der Unzurechnungsfähigkeit, also diejenigen Begriffe, die sich auf Christian Moosbrugger beziehen lassen und zu dem übergeordneten Themenfeld von Schuld und Verantwortung gehören, das der Roman immer wieder umkreist.1 Der Roman behandelt mit Unzurechnungsfähigkeit und verminderter Zurechnungsfähigkeit eine Problemstellung, die von zwei Diskurssträngen geprägt ist. Der erste umfasst den in der Musil-Forschung bislang eher kursorisch behandelten juristischen Diskurs um eine Strafrechtsreform,2 der zweite, weitaus besser erforschte, den Diskurs der forensischen Psychiatrie und Kriminologie.3 Die bisherige Forschung hat sich dieser Problemkonstellation häufig ausgehend von der Figur Moosbruggers und Musils historischen Quellen zum Fall Christian Voigt angenähert und insbesondere das Verhältnis von Fallgeschichte und literarischem Text diskutiert.4 Dagegen soll in diesem Beitrag das Thema der Unzurechnungsfähigkeit in seinen unterschiedlichen Diskursformen im Vordergrund stehen. Es geht also um die Unterschiede zwischen dem juristischen, kriminologisch-psychiatrischen und literarischen Diskurs.

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Vgl. zu diesem Themenfeld mit Blick auf die Moosbrugger-Figur Gabriela Stoicea: Moosbrugger and the Case for Responsibility in Robert Musil’s Der Mann ohne Eigenschaften, in: The German Quarterly 91 (2018), H. 1, S. 49–66. Vgl. jedoch Maximilian Bergengruen: Moosbruggers Welt. Zur Figuration von Strafrecht und Forensik in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Figurenwissen: Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Hg. v. Lilith Jappe, Olav Krämer u. Fabian Lampart. Berlin, Boston 2012, S. 324–344, hier S. 325–329; mit Blick auf heute geltendes Strafrecht vgl. Heinz Müller-Dietz: Moosbrugger, ein Mann mit Eigenschaften oder: Strafrecht und Psychiatrie in Musils Mann ohne Eigenschaften, in: Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Hg. v. Hermann Weber. Berlin 2003, S. 121–143, hier S. 131–140. Vgl. außerdem Mark Ludwig: Kriminologie und Rechtswissenschaft, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 579–585, mit Schwerpunktsetzung auf den kriminologischen Diskurs. Vgl. Yvonne Wübben: Psychiatrie, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 2), S. 524–531. Die bislang ausführlichste Arbeit zur Debatte um die Zurechnungsfähigkeit im Mann ohne Eigenschaften ist Mark Ludwig: Zurechnungsfähigkeiten. Kriminologie in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Würzburg 2011, insbes. S. 196–225. Zuletzt in Karl Corinos Nachwort zur Ausgabe Robert Musil: Der Fall Moosbrugger. Auszüge aus Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Andreas Nohl. Göttingen 2020. Vgl. auch Johannes Lehmann: Erfinden, was der Fall ist. Fallgeschichte und Rahmen bei Schiller, Büchner und Musil, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 19 (2009), H. 2, S. 361–380.

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2. Unzurechnungsfähigkeit im Strafrechtsdiskurs Zu Musils Lebzeiten hatte sich im Strafrecht Österreichs und Deutschlands ein Reformstau gebildet, da beide Strafgesetzbücher den gesellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere im Bereich der Sozialpolitik und im wissenschaftlichen Positivismus, hinterher hingen. In Österreich war das Strafgesetz von 1852 gültig, das zu großen Teilen auf das Strafgesetz von 1803 zurückgeht.5 In Deutschland hatte die Reichsgründung 1871 zwar zu einem neuen, einheitlichen Strafgesetzbuch geführt, mit dem die zahlreichen Partikulargesetze abgelöst wurden. In der Behandlung der Unzurechnungsfähigkeit wie auch in der Frage nach einer verminderten Zurechnungsfähigkeit erschien aber auch das Reichsstrafgesetzbuch schon bei seiner Verabschiedung unzeitgemäß.6 Das liegt vor allem an zwei miteinander verbundenen Paradigmenwechseln im Strafrechtsdiskurs des 19. Jahrhunderts, die noch keinen Eingang in das kodifizierte Recht gefunden hatten. Verkürzt gesagt, handelt es sich dabei erstens um den Übergang von einer absoluten zu einer relativen Straftheorie. Damit ist gemeint, dass der Zweck der Strafe nicht mehr in sich selbst gesehen wurde, sondern in der Generalprävention von Verbrechen, d. h. in der Verhinderung zukünftiger Straftaten. Zweitens handelt es sich um die Verschiebung von einem Tatstrafrecht zu einem Täterstrafrecht: Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde immer häufiger hinterfragt, ob sich ein Täter wirklich frei zu seiner Tat entschieden hatte – insbesondere bei nicht nachvollziehbaren, besonders grausamen Taten.7 Dadurch rückte der Täter selbst und die verschiedenen Einflussfaktoren, die auf ihn einwirkten, in den Vordergrund. Im Kontext dieser diskursiven Verschiebungen war die Zurechnungsfähigkeit jenes Thema, an dem sich die Debatte um eine Reform des Strafrechts entzündete. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 bestimmt dazu in § 51: »Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.« Der hier verwendete Begriff der 5

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Vgl. überblicksweise Hermann Baltl: Österreichische Rechtsgeschichte. 3., wesentl. erw. Aufl. Graz 1977, S. 260, 340; Werner Ogris: Die Entwicklung von Gerichtsverfassung, Strafrecht und Strafprozeßrecht 1848–1918, in: Die Entwicklung der österreichisch-ungarischen Strafrechtskodifikation im XIX .–XX . Jahrhundert. Hg. v. Gábor Máthé u. Werner Ogris. Budapest 1996, S. 55–74, mit Blick auf die Reformbemühungen insbes. S. 65 f. In einem ausführlichen Rechtsgutachten aus dem Jahr 1904 kommt Wilhelm Kahl zu dem Ergebnis, das RStGB stehe zur Wissenschaft »in direktem Gegensatz« (Gutachten des Herrn Professor DDr. Kahl=Berlin über Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwerten, in: Verhandlungen des Siebenundzwanzigsten Deutschen Juristentages. Hg. von dem Schriftführer=Amt der ständigen Deputation. Bd. 1, Berlin 1904. S. 137–248, hier S. 198). Zu diesem Problem mit Blick auf Büchners Woyzeck vgl. Rüdiger Campe: Johann Franz Woyzeck. Der Fall im Drama, in: Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert. Hg. v. Michael Niehaus u. Hans-Walter SchmidtHannisa. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 1998, S. 209–236.

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freien Willensbestimmung atmet noch den Geist des deutschen Idealismus. Und wenngleich die Unzurechnungsfähigkeit mit diesem Paragraphen geregelt wird, ist der Begriff nicht expressis verbis genannt und auch der Sache nach in seinem Umfang stark eingeschränkt. Soziale Einflüsse spielen keine Rolle, und auch eine verminderte Zurechnungsfähigkeit ist nicht vorgesehen. Damit blieb trotz neuerer Erkenntnisse der empirischen Kriminologie das Prinzip eines Tatstrafrechts weitgehend unberührt. In pragmatischer Hinsicht noch wichtiger war, dass der Umgang mit unzurechnungsfähigen Tätern nicht einmal in den Bereich des Strafrechts fiel. Wenn ein Gericht einen Täter für unzurechnungsfähig erklärt hatte, endete seine Zuständigkeit. Die Entscheidung über eine Zwangsunterbringung in einer Irrenanstalt war ein polizeirechtlicher Verwaltungsakt. In Österreich war die Situation ähnlich. Dort findet sich die Unzurechnungsfähigkeit bereits in § 5 des Josephinischen Strafgesetzes von 1787 beschrieben, der für das Strafgesetz von 1803 nur geringfügig verändert wurde und auch im Strafgesetz von 1852 gültig blieb. Letzteres verfügt in § 2, dass eine Tat u. a. dann nicht schuldhaft zugerechnet wird, a) b) c)

wenn der Thäter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist; wenn die That bei abwechselnder Sinnenverrückung zu der Zeit, da die Verrückung dauerte; oder in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung (§§. 236 und 523) oder einer anderen Sinnenverwirrung, in welcher der Thäter sich seiner Handlung nicht bewußt war, begangen worden[.]

Es sind also auch hier nur geringfügige Einschränkungen der Schuldfähigkeit, die das Prinzip des Tatstrafrechts weitgehend intakt ließen; eine verminderte Zurechnungsfähigkeit wird, wie im Reichsstrafgesetzbuch, nicht berücksichtigt. In den Augen der fortschrittlichen Rechtsgelehrten des ausgehenden 19. Jahrhunderts war das österreichische Strafgesetz wie auch das gerade erst in Kraft getretene Reichsstrafgesetzbuch nicht zuletzt wegen dieser Regelungen überholt. Die Debatte um eine Reform schlug sich im ›Schulenstreit‹ nieder, der sich zwischen den Anhängern der klassischen Schule um ihren Hauptvertreter Karl Binding und der modernen Schule um Franz von Liszt entfachte. Die Grundgedanken der modernen Schule, das sogenannte Marburger Programm, formulierte Liszt in seiner Antrittsvorlesung Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882). Liszt versucht darin gegen Binding, aber letztlich auch gegen die absoluten Straftheorien des Idealismus, die Kategorie des Zwecks für die Straftheorie zu rehabilitieren. Im Geiste des Positivismus fordert er die Ausweitung kriminologischer Forschung, um die sozialen Einflüsse des Verbrechens empirisch besser zu verstehen. Insbesondere der hohe Anteil an Wiederholungstätern veranlasst ihn dazu, eine Reform des Strafrechts anzuregen,

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die auf einer Tätertypologie beruht: Besserungsfähige Verbrecher sollen durch den Strafvollzug gebessert werden (positive Spezialprävention), nicht besserungsbedürftige potentielle Täter sollen (durchaus noch in der Tradition der Generalprävention im Sinne Feuerbachs) abgeschreckt werden und die Unverbesserlichen unschädlich gemacht werden (negative Spezialprävention).8 Was auf den ersten Blick wie ein moralischer Fortschritt im Strafrecht erscheint, bedeutet nicht unbedingt eine Humanisierung, was schon Liszts Wortwahl verrät. Die »Unverbesserlichen« nennt er einen »Krebsschaden« der Gesellschaft.9 »Gegen die Unverbesserlichen muß die Gesellschaft sich schützen; und da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bezw. auf unbestimmte Zeit).«10 Eine Resozialisierung kommt nach der Definition dieses Verbrechertypus nur dann infrage, wenn sich das Gericht in seiner Bewertung des unverbesserlichen Täters geirrt hat. Die Entlassung müsse folglich »eine ganz ausnahmsweise« sein.11 Diese Theorie hat unmittelbare Auswirkungen auf die Frage der Zurechnungsfähigkeit, die Liszt in seinem Vortrag Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit (1896) genauer diskutiert. Darin hütet er sich zwar davor, einem anthropologischen Indeterminismus schlechterdings das Wort zu reden, doch da er die anthropologische Grundsatzfrage für unentschieden hält, fordert er, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit unabhängig von Willensfreiheit und Determination zu klären. Seine Lösung lautet: »Wer auf Motive in normaler Weise reagiert, ist zurechnungsfähig.«12 Damit ist vor allem gemeint, dass eine Person zurechnungsfähig ist, wenn sie sich von angedrohter Strafe abschrecken und von dem Strafvollzug in einer Besserungsanstalt auch bessern lässt.13 Unzurechnungsfähig sind demnach all diejenigen Täter, die in die dritte Kategorie der Unverbesserlichen fallen.14 Auch das Problem der verminderten Schuldfähigkeit soll durch diesen Ansatz gelöst werden. Liszt argumentiert, dass die Motivierbarkeit keine binäre Unterscheidung sei, sondern in unterschiedlichen Graden vorkomme.15 Man werde ihr daher juristisch nicht gerecht, wenn man bei vermindert schuldfähigen Tätern nur das Strafmaß herabsenke. Als Beispiel beruft er sich auf den Fall der Marie Schneider, eines zwölfjähriges Mädchens, das ein sich 8 9 10 11 12 13 14 15

Franz von Liszt: Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ders.: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. 2 Bände. Berlin 1970 (photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1905), Bd. 1, S. 126–179, hier S. 163–173. Ebd., S. 166. Ebd., S. 169. Ebd., S. 170. Franz von Liszt: Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit, in: ders.: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge (Anm. 8). Bd. 2, S. 214–229, hier S. 219. Vgl. ebd., S. 220. Vgl. ebd., S. 226. Vgl. ebd., S. 222.

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in ihrer Obhut befindliches Kleinkind ermordet hat.16 Die Richter, so erzählt es Liszt, entschieden in diesem Fall auf eine Strafe, die wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit lediglich reduziert wurde. Somit würde das Mädchen als junge Frau wieder in die Gesellschaft entlassen, wo sie weiteren Schaden verursachen könne. Ein falsch verstandener Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit, der sich lediglich in der Länge der Haftstrafe widerspiegelt, bedeutet für Liszt also ein erhebliches soziales Risiko. Dieses Argument führt zu dem zentralen Streitpunkt zwischen klassischer und moderner Schule, nämlich zu der Frage des Strafvollzugs. Im Sinne der klassischen Schule bedeutet Strafe vor allem Schuldstrafe, die im Gefängnis abzubüßen ist. Für die moderne Schule spielt die Frage nach der Schuld hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist die Sicherungsverwahrung, die sich eben nicht an der Schuld, sondern an der Gefährlichkeit des Täters misst. Verminderte Zurechnungsfähigkeit kann also paradoxerweise dazu führen, dass ein Täter später in die Freiheit entlassen wird als ein voll zurechnungsfähiger Täter. Ein Kompromiss zwischen den beiden Ansätzen deutet sich schon früh an. Er beruht auf der sogenannten Zweispurigkeit von Schuldstrafe und Maßregelvollzug. Diese Unterscheidung hatte im Prinzip bereits Binding anerkannt, als er Sicherungsmaßnahmen einforderte, auch wenn er sie außerhalb des Strafrechts verortet wissen wollte.17 Liszt will zwar den Maßregelvollzug in das Strafrecht integrieren, kommt aber zu einem ganz ähnlichen Ergebnis: »Hat der vermindert Zurechnungsfähige durch die Begehung eines Verbrechens seine Gemeingefährlichkeit bewiesen, so ist seine Verwahrung in einer Anstalt zur Sicherung der Gesellschaft notwendig. Aus der Verwahrung darf der Täter erst entlassen werden, wenn der Zustand der Gemeingefährlichkeit sein Ende gefunden hat. Endet er erst mit dem Tode des Unglücklichen, so ist die Verwahrung eine lebenslange.«18 Bereits um die Jahrhundertwende bestand somit ein breiter Konsens, das Strafrecht im Sinne dieses Kompromisses des Schulenstreits zu reformieren.19 Der Vorentwurf zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch im Jahr 1909 sah dementsprechend auch die Einführung von sichernden Maßnahmen vor, die im Reichsstrafgesetzbuch noch nicht verzeichnet waren.20 Im Zuge der 16 17 18 19 20

Vgl. ebd., S. 223 f. Vgl. Arne Höcker: Epistemologie des Extremen, Lustmord in Kriminologie und Literatur um 1900. Paderborn 2012, S. 30–37. Vgl. Thomas Vormbaum: Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte. 3. Aufl. Berlin, Heidelberg 2016, S. 134. Liszt: Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit (Anm. 12), S. 224. Zu dieser Kompromisslösung vgl. Christian Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland 1871–1933. Göttingen 2004, S. 141–149. Das RStGB sah lediglich Strafverschärfung bei rückfälligen Tätern vor; vgl. Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch). Berlin, New York 2010 (= Juristische Zeitgeschichte, Abt. 3, Bd. 35), S. 322.

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Reform war außerdem geplant, den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit aufzunehmen, um auch Grenzfälle durch die Justiz bearbeiten zu können.21 Der Erste Weltkrieg verhinderte allerdings den Abschluss der Reform. Nach Kriegsende wurden die Reformpläne wieder aufgegriffen, nun jedoch mit dem Ziel einer Rechtsvereinheitlichung zwischen der Weimarer Republik und der Republik Österreich – was zumindest der Intention nach in einem Widerspruch zum Anschlussverbot der Siegermächte stand. Es kam zu einer engen Zusammenarbeit zwischen deutschen Juristen (um den LisztSchüler Gustav Radbruch, nach dem der Entwurf auch benannt wurde) und ihren österreichischen Kollegen (um Ferdinand Kadečka, der wie Radbruch Anhänger der modernen Schule war22 ). 1922 wurde ein neuer Entwurf fertiggestellt, der sich ebenfalls am Kompromiss des Schulenstreits orientierte. Einer der Grundpfeiler dieser Reform waren erneut die Maßregeln,23 mit denen das Problem der Unterbringung unzurechnungsfähiger sowie vermindert zurechnungsfähiger Täter im Prinzip gelöst gewesen wäre. Der Entwurf wurde nach Radbruchs Zeit als Reichsjustizminister 1925 und 1927 überarbeitet und im Strafrechtsausschuss diskutiert, stets in enger deutsch-österreichischer Zusammenarbeit.24 Ab 1927 fanden sogar 13 interparlamentarische Strafrechtskonferenzen statt, in dem Reichstags- und Nationalratsabgeordnete gemeinsam die letzten offenen Fragen klären sollten, bevor die nationalen Parlamente ein einheitliches deutsch-österreichisches StGB verabschieden sollten. Im Entwurf von 1927 waren fast alle offenen Fragen gelöst. Der mit Blick auf den Mann ohne Eigenschaften wichtigste noch offene Streitpunkt betraf die Kompetenzfrage bei der Entscheidung über sichernde Maßnahmen bei unzurechnungsfähigen und vermindert zurechnungsfähigen Tätern sowie bei Gewohnheitstrinkern. Der deutsche Entwurf hielt daran fest, dass Anordnung und Durchführung von sichernden Maßnahmen Angelegenheit einer Verwaltungsbehörde sein sollten. Der österreichische Entwurf beharrte hingegen darauf, dass dies in die Zuständigkeit des Strafgerichts selbst falle.25 21 22 23 24 25

Vgl. Vormbaum: Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte (Anm. 17), S. 143. Zu Kadečka vgl. Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches (Anm. 20), S. 92–99. Vgl. Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches (Anm. 20), S. 312– 334. Vgl. Wolfgang Festl-Wietek: 10. Kapitel: Einzelne Rechtsgebiete, in: Österreichisch-deutsche Rechtsbeziehungen I: Rechtsangleichung 1850–1938. Hg. v. Wilhelm Brauneder. Frankfurt a. M., New York 1996, S. 199–266, hier S. 204–223. Vgl. Theodor Rittler: Der österreichische Strafgesetz-Entwurf vom Jahre 1927, in: Österreichisches Zentralblatt für die juristische Praxis 46 (1928), S. 5–7. Wie Rittler kritisiert auch der österreichische Psychiater Heinrich Herschmann die deutsche Regelung nachdrücklich: »Bekanntlich haben wenige Dinge das öffentliche Rechtsgefühl so verletzt wie jene leider nicht zu seltenen Fälle, wenn jemand, der wegen U[nzurechnungsfähigkeit] freigesprochen und in eine Irrenanstalt abgegeben worden war, schon nach ganz kurzer Zeit, oft schon nach weni-

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Langfristig sollte sich die Zweispurigkeit des Strafrechts im 20. Jahrhundert durchsetzen.26 Aus Sicht von Musils Zeitgenossen, die als Protagonisten des Reformentwurfs fungierten, war die Zweispurigkeit hingegen nur als vorübergehender Kompromiss gedacht, den sie nur aus pragmatischen Gründen anstrebten. Radbruch äußerte 1927: [I]ch bekenne mich zu dem Entwurfe von Enrico Ferri, der bekanntlich nicht mehr »Strafen« kennt, sondern nur noch »Sanktionen«: sichernde Maßnahmen; der nicht mehr von »Schuld« redet, sondern nur noch von »Gefährlichkeit«. Ich bekenne mich zu diesem Entwurfe nicht als gegenwärtiger Forderung, sondern als Zukunftsbild; und ich gebe ganz ernstlich der Überzeugung Ausdruck, daß der Fortschritt des Strafrechts die Überwindung des Strafrechts durch Besseres sei. Die Überwindung des Strafrechts muß sein Ziel sein.27

Radbruchs österreichischer Kollege Kadečka sprach sich in einem Aufsatz aus dem Jahr 1936 auf ähnliche Weise dafür aus, im Strafrecht streng nach Schädlichkeit und nicht nach Schuld zu bewerten. Letztendlich will er wie Radbruch das Schuldprinzip verabschieden: »Wir fragen nicht mehr nach der moralischen Schuld des Täters, sondern nach seiner Schädlichkeit für die Gemeinschaft.« Und er fährt fort: »Der Zwiespalt, der das moderne Strafrecht in zwei organisch nicht zusammenhängende Hälften zerreißt, in das Strafrecht im engeren Sinn und das Sicherungsrecht, die unüberbrückbare Kluft, die sich zwischen den Verbrechen Zurechnungsfähiger und den mit Strafe bedrohten Handlungen Zurechnungsunfähiger aufzutun schien, besteht nicht mehr.«28

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gen Tagen, aus der Anstalt als nicht geisteskrank oder nicht anstaltsbedürftig entlassen wurde. Dieser das Ansehen der Rechtsprechung auf das höchste gefährdende Zustand wird durch den deutschen Entwurf für unabsehbare Zeit sanktioniert!« (Heinrich Herschmann: Über die sog. verminderte Zurechnungsfähigkeit [v. Zfgkt.] und die sichernden Maßnahmen in den deutschen und österreichischen Strafgesetzentwürfen vom Jahre 1927, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 82 [1928], S. 331–338.) Nachdem die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1930 zur zweitstärksten Partei gewählt wurde, kam der Reformprozess kurzzeitig zum Erliegen (vgl. Vormbaum: Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte [Anm. 17], S. 170–175, 178–210 sowie Müller: Verbrechensbekämpfung [Anm. 19], S. 180–227). Das von den Nationalsozialisten verabschiedete Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 führte den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit sowie Maßregeln wie die Sicherungsverwahrung von sogenannten Gewohnheitsverbrechern dann allerdings ein (vgl. Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik. Baden-Baden 1997). Das Gewohnheitsverbrechergesetz blieb auch nach 1945 in Kraft und verankerte die Zweispurigkeit des Strafrechts. Eine große Strafrechtsreform wurde in Deutschland und Österreich erst in den 1970er Jahren abgeschlossen. Gustav Radbruch: Fortschritte und Rückschritte in den kriminalpolitischen Bestimmungen des neuesten Strafgesetzentwurfs. Diskussionsbeitrag auf der 22. Tagung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) Karlsruhe 1927, in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 9: Strafrechtsreform. Hg. v. Rudolf Wassermann. Heidelberg 1992, S. 293–301, hier S. 294 f.; vgl. Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches (Anm. 20), S. 318–321. Ferdinand Kadečka: Von der Schädlichkeit zur Schuld und von der Schuld zur Schädlichkeit, in: ders.: Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Theodor Rittler u. Friedrich Nowakowski. Innsbruck 1959, S. 48–65, hier S. 62.

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3. Unzurechnungsfähigkeit im kriminologischen und psychiatrischen Diskurs Es ist nicht immer eindeutig zu entscheiden, wo der strafrechtliche Diskurs über die Zurechnungsfähigkeit endet und der kriminologische oder psychiatrische Diskurs beginnt. Die Verwissenschaftlichung der Psychiatrie zog zum einen umfängliche Debatten in der Forensik nach sich. Andererseits ergab sich für Anstaltspsychiater ein organisatorisches Problem des Strafvollzugs, wenn sie zunehmend Patienten aufnehmen mussten, die Straftaten begangen hatten.29 Ein Vorreiter in diesen Debatten war der Psychiater Emil Kraepelin. Im Jahr 1880, gerade erst 24 Jahre alt und der Fachwelt noch weitgehend unbekannt, griff Kraepelin das bestehende Strafrecht an und nahm Elemente des späteren Marburger Programms vorweg.30 Er fordert in seiner ersten größeren Publikation, Die Abschaffung des Strafmaßes. Ein Vorschlag zur Reform der heutigen Strafrechtspflege, eine Ausrichtung der Debatte an einer naturwissenschaftlichen Psychiatrie: »Es ist eine höchst beachtenswerthe Thatsache, daß die mächtigen Umwälzungen, welche der Fortschritt naturwissenschaftlicher Forschung auf den meisten Wissensgebieten hervorgerufen hat, an dem Lehrgebäude der Jurisprudenz fast einflußlos vorübergegangen sind.«31 Kraepelin wendet sich gegen die klassischen Straftheorien sowohl in Form von Vergeltungstheorien in der Tradition Kants und Hegels als auch gegen Abschreckungstheorien in der Feuerbach’schen Tradition. Er sieht beide Theorien in einer Moralphilosophie verankert, die auf einem überkommenen Begriff der Zurechnung beruhe. Der Begriff der Zurechnungsfähigkeit setze nämlich voraus, so Kraepelin, dass der Täter aus einer »zweckbewussten Absicht«32 und aus freiem Willen gehandelt habe. Die Psychologie und Psychiatrie erschüttere aber »den Satz von der freien Selbstbestimmung des Menschen in seinen Grundvesten«.33 Außerdem verfehle die Strafe ihren Sinn und Zweck: Wenn das Strafen als Vergeltung aufgefasst werde, falle der Staat letztlich in einen Zustand der Barbarei zurück. Aber auch die konkurrierende Auffassung des Strafens als eines Instruments zur Besserung des Täters werde von der herrschenden Praxis ihres Vollzugs konterkariert. Kraepelin fordert 29 30

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Vgl. zu diesem Problem Müller: Verbrechensbekämpfung (Anm. 19), S. 82–124. Zum Verhältnis zwischen Liszt und Kraepelin, die auch im persönlichen Kontakt standen, vgl. Adrian Schmidt-Recla, Holger Steinberg: Eine publizistische Debatte als Geburtsstunde des »Marburger Programms«, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 119 (2007), H. 2, S. 195–213. Emil Kraepelin: Die Abschaffung des Strafmaßes. Ein Vorschlag zur Reform der heutigen Strafrechtspflege, in: ders.: Kriminologische und forensische Schriften. Werke und Briefe. Hg. v. Wolfgang Burgmair, Eric J. Engstom, Paul Hoff u. Matthias M. Weber. München 2001, S. 15– 97, hier S. 19. Ebd., S. 28. Ebd., S. 22.

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stattdessen eine Orientierung der Strafe an der »Gemeinschädlichkeit«34 der Tat. Das Recht solle nicht einfach gleiche Fälle gleich und ungleiche Fälle ungleich behandeln, sondern Psychiater sollen den Täter explorieren und eine individuelle Prognose abgeben: Die Strafe muss »genau so lange dauern aber auch nur so lange dauern, als von dem betreffenden Individuum noch irgend welche Gefahren drohen«.35 Kraepelin sieht den Grundfehler des bestehenden Strafrechts darin, dass die Dauer der Strafe im Gerichtsurteil festgesetzt wird. Diesen Fehler gelte es zu beseitigen: »Der Schwerpunkt des ganzen hier von uns verteidigten Systems«, so seine Klarstellung, »liegt in der Unbestimmtheit des Entlassungstermins.«36 Nach der bisherigen Praxis würde nämlich, sobald die Strafe vollzogen und das »Gerechtigkeitsgefühl [. . .] befriedigt« sei, »das Raubthier wieder auf das Publikum losgelassen«.37 Die Psychiater sollten zukünftig in Kooperation mit den Juristen bestimmen, wie lange ein Täter verwahrt werden soll. Dessen Verhalten soll fortwährend evaluiert werden, und in regelmäßigen Abständen sei zu prüfen, welche »Gemeingefährlichkeit«38 von ihm ausgeht. »Selbstverständlich« erklärt Kraepelin, »vermag über diesen Punkt im Allgemeinen nicht der Richter von vornherein zu entscheiden, sondern eine genaue Beobachtung während der Gefangenschaft ist allein im Stande, den Zeitpunkt zu ermitteln, in welchem die anfangs vorhandene Gemeingefährlichkeit als beseitigt anzusehen ist.«39 Nicht die Unzurechnungsfähigkeit, sondern die Gemeingefährlichkeit dient folglich als Kriterium für die Zumessung der Strafe: »In Wirklichkeit«, schreibt Kraepelin weiter, »kann ja die That eines Unzurechnungsfähigen genau so gemeingefährlich sein, als die des intelligentesten Verbrecherveteranen«.40 Kraepelins Programm zielt auf eine »individualisierende Behandlung aller Arten gemeinschädlicher Individuen«.41 Grundlage für diese geforderte Individualisierung des Strafens ist das psychiatrische Gutachten.42 Dem Gutachten kann »nicht mehr die Bedeutung eines Entlastungszeugnisses zukommen, sondern dasselbe wird lediglich über den ferneren Verbleib des für 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 22. Ebd., S. 47. Ebd., S. 79. Ebd., S. 39. Ebd., S. 47. Ebd., S. 47. Ebd., S. 52. Ebd., S. 56. Psychiatrische Gutachten wurden seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Gerichtsverfahren erstellt. Das Gericht musste zunächst die Schuldfähigkeit und sodann gegebenenfalls die Schuld eines Täters feststellen. Die Strafe richtete sich nach der Schwere der individuell zurechenbaren Schuld des Angeklagten. Der Gesetzgeber sah für das psychiatrische Gutachten im Strafprozess die Rolle eines Beweises vor. Der Richter stellte dem Psychiater eine Frage – zum Beispiel ob die Geistestätigkeit des mutmaßlichen Täters zum Zeitpunkt der Tat krankhaft gestört war – und erwartete von ihm eine Antwort und gegebenenfalls auch eine mündliche

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gemeingefährlich befundenen Verbrechers zu entscheiden haben, ohne dabei ›Straflosigkeit‹ im heutigen Sinne zu erwirken.«43 Diese neue Zielsetzung werde, so erwartet Kraepelin, die »Objektivität der Gutachten« als auch »das Vertrauen, welches die Juristen denselben entgegen bringen, nur steigern können«.44 Der Psychiater soll nach Kraepelins Vorstellung also zum Modulator der Strafe werden. Der Vorschlag fand zwar letztlich kein Gehör, die Psychiater mussten das Primat des Rechts anerkennen. Dennoch setzte Kraepelin seine Klage über die verfehlte Auffassung von Rolle und Funktion der Psychiatrie im Rechtssystem unermüdlich fort. Er will sich nicht mit der Aufgabe abfinden, »einfach das Gesetz anzuwenden, nicht aber seine Fehler und Mängel zu verbessern.«45 Er kritisiert insbesondere, dass das Gutachten von einem Ermittlungsrichter, Untersuchungsrichter oder Richter in Auftrag gegeben wird und es der Justiz obliegt, über die Hinzuziehung eines Sachverständigen zu entscheiden. Unablässig wird er herausstellen, dass »in der Frage nach dem Vorhandensein einer Geistesstörung« der Standpunkt der Juristen nur der des »Laien« sei: »Es gibt aber kaum ein Gebiet menschlichen Wissens, auf dem die volkstümlichen Anschauungen sich so weit von der Wirklichkeit entfernen, wie dasjenige des Irreseins«.46 Kraepelin monierte, dass die Gutachten der Psychiater von vielen Richtern allzu leichtfertig übergangen würden, und er setzte sich zeitlebens dafür ein, in der juristischen Aus- und Fortbildung der forensischen Psychiatrie einen höheren Stellenwert zuzuweisen.47 Ein Kernpunkt der psychiatrischen Kritik betraf den Sachverhalt der verminderten Zurechnungsfähigkeit. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1904 schreibt Kraepelin mit Blick auf den Unzurechnungsfähigkeitsparagraphen im Reichsstrafgesetzbuch: Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Bestimmung des § 51 der Tatsache ausgedehnter Grenzgebiete zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit nicht gerecht wird. Der strafrechtliche Begriff der Geistesstörung, welche die freie Willensbestimmung ausschließt, ist, abgesehen von seiner höchst unglücklichen Fassung, nach dem Willen des Gesetzgebers so eng geworden, daß er bei zahlreichen Fällen versagt, in denen die Straftat durch krankhafte Störungen wesentlich beeinflußt wurde.48

43 44 45 46 47 48

Auskunft im Gerichtsverfahren. Die Kompetenzabtretung der juristischen Zunft an Sachverständige war jedoch keine Abtretung der Entscheidungsmacht, die weiterhin einzig und allein dem Gericht oblag. Die Juristen beharrten darauf, dass die Kompetenz zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit einzig dem Richter, nicht aber dem Arzt zukam. Kraepelin: Die Abschaffung des Strafmaßes (Anm. 31), S. 56. Ebd., S. 56. Emil Kraepelin: Der Unterricht in der forensischen Psychiatrie, in: ders.: Kriminologische und forensische Schriften (Anm. 31), S. 191–204, hier S. 194. Ebd., S. 194. Ebd. Emil Kraepelin: Zur Frage der geminderten Zurechnungsfähigkeit, in: ders.: Kriminologische und forensische Schriften (Anm. 31), S. 204–226, hier S. 205.

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Kraepelin ist sogar der Auffassung, dass eine Aufnahme des Begriffs der verminderten Zurechnungsfähigkeit in das Strafrecht eigentlich noch zu grob wäre. Viel wichtiger als in solchen Grenzfällen lediglich das Strafmaß zu mindern sei es, die entsprechenden Täter ihrer jeweiligen Krankheit gemäß zu therapieren.49 In den 1920er Jahren widmet ein ehemaliger Assistent Kraepelins, Karl Wilmanns, der verminderten Zurechnungsfähigkeit eine Reihe von Vorlesungen, die er 1927, also in dem Jahr des letzten großen Strafrechtsentwurfs in der Weimarer Republik, als Buch veröffentlichte und die den Stand der Debatte zusammenfassen. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß der Begriff »verminderte Zurechnungsfähigkeit« theoretisch unhaltbar sei. Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit seien Gegensätze wie etwa Leben und Tod. Nach dem Satze: »non datur tertium sive medium inter duo contradictoria« sei ein Mittelzustand zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit logisch undenkbar. Die Zurechnungsfähigkeit kennt keine Grade, Grade kenne aber die Schuld. Die Schuld oder die durch sie bedingte Strafbarkeit könne eine größere oder geringere sein. Gäbe es auch keine verminderte Zurechnungsfähigkeit, so sei doch der Gedanke, der durch diesen Ausdruck bezeichnet werden solle, ein durchaus richtiger und werde auch von seiten der Gegner ausdrücklich oder stillschweigend als solcher anerkannt. Der vermindert Zurechnungsfähige ist demnach ein Zurechnungsfähiger mit minderer Schuld.50

Wilmanns beklagt »eine kaum noch zu übersehende Literatur über dieses Thema« und schildert seinen Eindruck, »daß keine forensisch-psychiatrische Frage ein so reges und vielseitiges Interesse, eine so gründliche und erschöpfende Behandlung gefunden habe wie gerade die Frage nach der besonderen Berücksichtigung einer geminderten Zurechnungsfähigkeit im neuen Strafgesetzbuch.«51 Offensichtlich steckten in den Definitionen der Schuldfähigkeit und der Formulierung der Eingangskriterien weitreichende Konsequenzen: »Wir werden sehen,« kündigte er seine Vorlesung über den Forschungsstand an, »daß die Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit das zentrale Problem der Entwürfe zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuche ist.«52 Wie Kraepelin vor ihm sah auch Wilmanns den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit mit Skepsis. Er verweist insbesondere auf die Debatten in der (von Liszt mitbegründeten) Internationalen Kriminalistischen Vereinigung sowie bei den deutschen Juristentagen, die sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts mehrfach mit dem Konzept auseinandergesetzt hatten. Für Wilmanns ist ›verminderte Zurechnungsfähigkeit‹ ein »uferlose[r]« und 49 50

51 52

Vgl. ebd., S. 214–221. Karl Wilmanns: Die sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit als zentrales Problem der Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Dreißig Vorlesungen über die sogenannten geistig Minderwertigen im geltenden und künftigen Recht im Strafvollzuge und in der Irrenanstalt. Berlin 1927, S. 17. Ebd., S. 4. Ebd., S. 14.

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»kautschukartige[r]«, ein »vieldeutige[r], verschwommene[r] und dehnbare[r] Begriff«,53 der sich weder zur vollen Zurechnungsfähigkeit noch zur Unzurechnungsfähigkeit klar abgrenzen lasse. Der Psychiater August Cramer, so berichtet Wilmanns, erzielte deswegen sogar »auf dem XXVII . Deutschen Juristentag dadurch einen Heiterkeitserfolg, daß er sich für verbindlich erklärte, ›wenn der Ausdruck geminderte Zurechnungsfähigkeit in das Strafgesetzbuch kommt, einen jeden Menschen als gemindert zurechnungsfähig zu erklären‹.«54 Ungeachtet dieser Kritik habe sich der Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit allerdings, wie Wilmanns zusammenfasst, durchgesetzt: »Das Ergebnis der jahrzehntelangen Diskussionen zwischen Juristen und Medizinern war«, so schreibt er, daß die Bedenken der Juristen gegen die Einführung des Begriffs in das Gesetz erheblich, die der Mediziner fast ganz zurücktraten. Die Mehrzahl der Juristen und Mediziner einigten sich auf folgende Anschauungen und Forderungen: Wie geistige Gesundheit und Krankheit in unmerklichen Abstufungen ineinander übergehen, lassen sich auch die Unzurechnungsfähigkeit bedingenden Seelenzustände nicht scharf von denjenigen trennen, welche dem reifen, geistig gesunden Menschen eigen sind. Zwischen dem Geisteszustande, bei dem die Zurechnungsfähigkeit außer Zweifel steht und demjenigen, bei welchem sie völlig aufgehoben ist, liegt vielmehr ein breites Zwischengebiet.55

Trotzdem gab es Taten, für die mildernde Umstände ausgeschlossen wurden: Es sei nämlich üblich, »daß die mildernden Umstände auch bei einer ganzen Reihe von Verbrechen unberücksichtigt bleiben, die erfahrungsgemäß besonders von geistig tiefstehenden und krankhaften Persönlichkeiten begangen werden, z. B. bei Meineid, Notzucht mit verursachtem Tode, schwerem Raub, Brandstiftung usw.«56 Der Auffassung, dass es zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit kein Drittes gebe, stand der konzeptionell schwierige Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit gegenüber: »Die Absicht des Gesetzgebers, durch Beibehaltung bzw. Einführung des Begriffes der verminderten Zurechnungsfähigkeit den Freisprechungen wegen Unzurechnungsfähigkeit entgegenzuwirken und das Ungerechtfertigte dieser Bestrebungen wurden auch von einzelnen Juristen klar erkannt.«57 Einerseits nährte der Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit die Sorge der Juristen, dass er zu allzu milden Urteilen, aber auch zu übergroßen Härten führen würde.58 Andererseits war die (psychiatrische) Forderung nach einer Maßregel des Strafens nicht von der Hand zu weisen. 53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 44 f. Ebd., S. 44. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 250.

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Wilmanns’ Abhandlung macht deutlich, dass im Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit nicht nur ein Spezialthema von Strafrecht und Kriminologie, sondern ein Schlüsselproblem der Moderne verhandelt wird. In der Psychiatrie setzt sich die Auffassung durch, dass mentale Gesundheit »an einem Idealbegriff des geistig normalen Menschen«59 gemessen wird, von dem alle empirischen Menschen lediglich mehr oder weniger weit entfernt sind. Das Strafrecht hingegen ist auf eine im Prinzip binäre Unterscheidung zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit angewiesen, um überhaupt an Vorstellungen wie Strafe und individueller Verantwortung festhalten zu können. Im Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit steckt also ein kaum aufzulösender ethischer Widerspruch, den auch Musil in den Blick nimmt: Einerseits verfolgt er die Debatte unter Juristen und Psychiatern und stellt die Diskrepanz zwischen moralphilosophischem Anspruch, rechtsphilosophischer Konzeption und den pragmatischen Zwängen des Strafvollzugs aus. Andererseits gerät der lange Weg von der Reformdebatte zum Strafprozess in den Blick: Denn das Strafrecht legt mit den Bestimmungen zur Schuldfähigkeit zwar die rechtliche Voraussetzung für eine Einholung psychiatrischer oder psychologischer Gutachten fest. Es gibt mit ihnen Eingangskriterien wie z. B. »Beraubung der Vernunft«, »Sinnenverrückung« oder »Zwanghaftigkeit« vor. Aber der Gesetzgeber definiert nicht, was er unter diesen Termini versteht. Wie sie auszulegen sind, ist naturgemäß strittig. Offensichtlich sind die Termini, in denen der Gesetzgeber die Eingangskriterien fasste, keine unmittelbar psychiatrischen Begriffe, auch wenn sie im Vokabular der Psychiatrie auftauchten.

4. Unzurechnungsfähigkeit im Mann ohne Eigenschaften Das 74. Kapitel des Mann ohne Eigenschaften zeigt, dass Musil (wie jedem anderen aufmerksamen Beobachter seiner Zeit) die strafrechtliche und psychiatrische Problemstellung der verminderten Zurechnungsfähigkeit vertraut war.60 Er kannte die Ausführungen über die Zurechnungsfähigkeit im Kapitel zur forensischen Psychiatrie aus Bleulers Lehrbuch in der vierten Auflage von 1923, das die gesetzlichen Regelungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Schweizer Kantonen in einer ausführlichen Synopse wiedergibt. Ebenfalls war ihm ein Materialienband von Alfred Gottschalk zur verminderten Zurechnungsfähigkeit bekannt, der die Diskussion zwischen 1870 und 1903 zusammenfasst und neben den deutschen Partikulargesetzen aus der Zeit vor dem Reichsstrafgesetzbuch auch weitere internationale Reglementierun59 60

Ebd., S. 48. Vgl. zu dem Folgenden auch Christian Kirchmeier: Moral und Literatur. Eine historische Typologie. München 2013, S. 439–452.

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gen verzeichnet.61 Im Mann ohne Eigenschaften übernimmt Musil zahlreiche Stellen zum Diskurs über die Unzurechnungsfähigkeit aus diesem Materialienband.62 Die Erzählinstanz hat schon vor dem 74. Kapitel deutlich gemacht, dass es sich bei Moosbrugger um denjenigen Fall handelt, an dem das Problem der verminderten Zurechnungsfähigkeit anschaulich wird. Seit Karl Corinos Beitrag im Musil-Forum von 1984 ist bekannt, dass in die Figur Moosbruggers der historische Fall des Christian Voigt eingeflossen ist, dessen Zurechnungsfähigkeit vor Gericht zur Debatte stand – zumal vor dem Hintergrund der vieldiskutierten Debatte um den Lustmord.63 Auch das zugrundeliegende juristische Problem hat der Roman bereits eingeführt. In Kapitel 60 (»Ausflug ins logisch-sittliche Reich«) heißt es: »Sie [i. e. die Jurisprudenz, d. Verf.] sagt: non datur tertium sive medium inter duo contradictoria, zu deutsch: der Mensch ist entweder imstande, rechtswidrig zu handeln oder er ist es nicht, denn zwischen zwei Gegensätzen gibt es nichts Drittes und Mittleres.« (MoE, S. 242) Im Gerichtssaal sei jeder davon überzeugt gewesen, daß Moosbrugger in irgendeiner Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Gesetz gestellten Bedingungen entsprach und von gewissenhaften Gehirnen anerkannt werden durfte. Denn wenn man teilweise krank ist, ist man nach Ansicht der Rechtslehrer auch teilweise gesund; ist man aber teilweise gesund, so ist man wenigstens teilweise zurechnungsfähig; und ist man teilweise zurechnungsfähig, so ist man es ganz; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen bestimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmtheit kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren. (MoE, S. 243)

Die Leserinnen und Leser sind also bereits in das Problem des Widerspruchs zwischen einer psychiatrischen und einer juristischen Logik der Zurechnungsfähigkeit eingeführt worden. Sie wissen außerdem, dass Ulrichs Vater für die juristische Seite dieses Problems ein ausgewiesener Experte ist. Sein Werk »Die Zurechnungslehre des Samuel Pufendorf und die moderne Jurisprudenz«, das bereits »vor siebenundvierzig Jahren« veröffentlicht wurde, soll zum Handlungszeitpunkt bereits »in 12. Auflage« vorliegen. Darin habe er »als erster mit den diesbezüglichen Vorurteilen der älteren Strafrechtsschule gebrochen« (MoE, S. 77). Ulrichs Vater wird also als ein Strafrechtler cha61

62 63

Es handelt sich dabei um: Materialien zur Lehre von der verminderten Schuldfähigkeit Hg. v. Alfred Gottschalk. Berlin 1904. Aus diesem Band entnahm Musil auch das Abkürzungsverzeichnis, das er in den Roman aufnahm (MoE, S. 533). Vgl. Ludwig: Zurechnungsfähigkeiten (Anm. 3), S. 8–11. Vgl. Ludwig: Zurechnungsfähigkeiten (Anm. 3), S. 210–218. Karl Corino: Zerstückelt und durchdunkelt. Der Sexualmörder Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften und sein Modell, in: Musil-Forum 10 (1984), S. 105–119. Vgl. Ludwig: Zurechnungsfähigkeiten (Anm. 3), S. 94–106; Höcker: Epistemologie des Extremen (Anm. 16), S. 191– 203.

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rakterisiert, der sich an eben den Reformdebatten des Strafrechts seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beteiligt hat, die oben geschildert wurden. Aus dem zweiten Brief von Ulrichs Vater geht nun hervor, dass er im Rahmen einer Strafrechtsreform einen Entwurf zu demjenigen Paragrafen vorgelegt hat, der die Schuldfähigkeit definiert. Er schreibt seinem Sohn: Ich will darauf Rücksicht nehmen, daß Du juridisch nicht gebildet bist, aber soviel wird Dir bekannt sein, daß die beliebteste Einbruchspforte dieser sich fälschlich Humanität nennenden Rechtsunsicherheit die Bestrebung bildet, den die Strafe ausschließenden Begriff der Unzurechnungsfähigkeit in der unklaren Form einer verminderten Zurechnungsfähigkeit auch auf jene zahlreichen Individuen auszudehnen, die weder geisteskrank, noch moralisch normal sind und das Heer jener Minderwertigen, moralisch Schwachsinnigen bilden, von dem unsere Kultur leider immer mehr verseucht wird. Du wirst Dir selbst sagen, daß der Begriff einer solchen verminderten Zurechnungsfähigkeit – wenn sich das überhaupt einen Begriff nennen läßt, was ich bestreite! – aufs engste mit der Fassung zusammenhängen muß, die wir den Vorstellungen der vollen Zurechnungsfähigkeit bzw. Unzurechnungsfähigkeit geben, und ich komme damit auf den eigentlichen Gegenstand meiner Mitteilung. Anschließend an schon vorhandene Gesetzesfassungen und in Erwägung der angeführten Umstände habe ich nämlich in dem vorerwähnten vorberatenden Ausschuß vorgeschlagen, dem betr. § 318 des künftigen Strafrechts die folgende Fassung zu geben: »Eine strafbare Handlung ist dann nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, so daß – «, und Professor Schwung unterbreitete einen Vorschlag, der genau mit den gleichen Worten anfing. Dann aber fuhr der seine mit den Worten fort: » – so daß seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war«, während der meine den Wortlaut haben sollte: » – so daß er nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Handlung einzusehen«. – Ich muß gestehn, daß ich die boshafte Absicht dieses Widerspruchs anfangs selbst gar nicht bemerkt hatte. (MoE, S. 317)

Der Vorschlag des Vaters stimmt in seiner Formulierung ein Stück weit mit der Formulierung seines ehemals besten Freunds und nun schärfsten Widersachers, Professor Schwung, überein. Ulrichs Vater sucht ebenso wie sein Kollege einer »unheilvollen Verweichlichung der Rechtspflege« (MoE, S. 316) entgegenzuwirken. Ihre Eingaben bzw. Entwürfe zur Reform des Strafrechts stehen also vor der Aufgabe, geeignete Formulierungen zu finden, die den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit möglichst restriktiv fassen. Das Eingangskriterium für die Schuldunfähigkeit (das Musil aus dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 übernimmt) lautet in beiden Vorschlägen: »Eine strafbare Handlung ist dann nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand«. Strittig ist, wie dieser Zustand näher zu bestimmen sei. Schwungs Vorschlag (der weiter dem RStGB entspricht) lautet: »so daß seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war«. Diese Formulierung folgt einer idealistischen Auffassung, die den Begriff der Tat

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an den des freien Willens schmiedet. So definiert Kants Metaphysik der Sitten: »That heißt eine Handlung, [. . .] sofern das Subject in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird«.64 Der Gegenvorschlag von Ulrichs Vater lautet: »so daß er nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Handlung einzusehen«. Musil orientiert sich hier an dem Wortlaut, der in den meisten Reformentwürfen sowie in einigen Schweizer Kantonalgesetzen verwendet wurde.65 Ulrichs Vater verwendet also die modernere Formulierung, die auf den Begriff der freien Willensbestimmung verzichtet. Darin kommt er durchaus den Forderungen der empirischen Wissenschaften entgegen, insofern der Begriff des freien Willens, wie Wilmanns schreibt, aufgrund seiner philosophischen Tradition »auf viele Psychiater wie ein rotes Tuch« wirkt.66 Ulrichs Vater erläutert seinem Sohn, dass sich hinter den beiden Formulierungen zwei diametral unterschiedliche Auffassungen verbergen, die dem Kapitel den Titel geben. Schwungs Theorie habe nämlich »unter den modernen Juristen [. . .] erst seit dem Jahre 1797 ihre Anhänger«, die von Ulrichs Vater habe hingegen (obwohl sie den zeitgenössischen empirischen Wissenschaften eigentlich näher steht) »seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. allen Angriffen widerstanden« (MoE, S. 318). Bisweilen wird die Kapitelüberschrift dahingehend missverstanden, dass Ulrichs Vater dem aristotelischen Organon und dessen tertium non datur 64 65

66

Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: Kant’s Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 6: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten, Berlin 1907, S. 202–493, hier S. 223. Die Varianten der entsprechenden Stelle bestimmen, dass straflos bleibt, wer zum Tatzeitpunkt »nicht die Fähigkeit besaß, die Strafbarkeit seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln« (Gegenentwurf 1911), wer »unfähig ist, das Ungesetzliche der Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen« (Kommissionsentwurf 1913 sowie Entwurf 1919), wer »unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln« (Entwurf 1925, alle zit. n. Wilmanns: Die sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit [Anm. 50], S. 8 f.), wer »unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäß seiner Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln« (Quellen zur Reform des Straf- und Prozeßrechts. Hg. v. Werner Schubert u. Jürgen Regge. I . Abteilung: Weimarer Republik [1918–1932]. Band 1: Entwürfe zu einem Strafgesetzbuch [1919, 1922, 1924/25 und 1927]. Berlin, New York 1995, S. 121 [Österreichischer Gegenentwurf 1919]), wer »unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln« (Quellen zur Reform des Straf- und Prozeßrechts. Hg. v. Werner Schubert u. Jürgen Regge, S. 147 u. S. 203 [Entwurf 1922, Entwurf 1925]), wer »unfähig ist, das Unrechtmäßige der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln« (Quellen zur Reform des Straf- und Prozeßrechts. Hg. v. Werner Schubert u. Jürgen Regge, S. 439 [Entwurf 1927]). Die Schweizer Kantonalgesetze, die Bleuler verzeichnet, sind deutlich uneinheitlicher. Nach ihnen bleibt straflos, wer zum Tatzeitpunkt »die Fähigkeit der Selbstbestimmung oder die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Tat erforderliche Urteilskraft nicht besaß« (Zürich), wem »zur Zeit der Begehung der Tat die freie Willensbestimmung oder die zur Erkenntnis der Strafbarkeit nötige Urteilskraft fehlte« (Zug), »wenn dem Täter zur Zeit der Begehung der Handlung die freie Willensbestimmung oder die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Handlung nötige Urteilskraft fehlte« (Baselstadt) usw. (zit. n. Eugen Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg 1923, S. 481–488). Wilmanns: Die sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit (Anm. 50), S. 22.

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anhänge, während Schwung einen Grenzbegriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit einführen wolle. Doch eben in diesem Punkt besteht zwischen den beiden Kontrahenten kein Dissens. Der Prämisse, wonach »die Logik des Rechts [. . .] in Betreff derselbigen Tat niemals ein Mischungsverhältnis zweier Rechtszustände zulassen [dürfe]« (MoE, S. 319), stimmt Schwung zu. Der Streitpunkt liegt vielmehr darin, dass Ulrichs Vater der Nikomachischen Ethik anhängt, in der Aristoteles die Frage nach der Schuldfähigkeit mit der Lebensführung eines Täters beantwortet. So argumentiert Aristoteles im Sinne des Rechtsprinzips der actio libera in causa, dass auch derjenige zu verurteilen sei, der seine Tat im Rausch begangen hat, weil er sich frei dazu entschieden habe zu trinken. Aristoteles geht sogar so weit, auch denjenigen für schuldfähig zu erklären, dessen psychischer Zustand zum Tatzeitpunkt einer lasterhaften Lebensführung angelastet werden kann. Schwung hingegen gibt sich als Vertreter von Kants 1797 erschienener Metaphysik der Sitten zu erkennen. Anders als für Aristoteles ist für Kant der Gemütszustand eines Täters ausschlaggebend, um den Grad der Zurechnungsfähigkeit zu ermessen. Wenn eine Tat im Affekt begangen wird, ist sie Kant zufolge dem Täter in geringerem Maße zuzurechnen als eine wohlüberlegte Tat. Mit Aristoteles ließe sich dagegen einwenden, dass ein Täter, der im Affekt handelt, durch sein ausschweifendes Leben zu einer unbeherrschten Person geworden ist und ihm sogar eine größere Schuld anzulasten sei. Im kakanischen Sachverständigenausschuss entbrennt der Kampf zwischen diesen beiden rechtsphilosophischen Positionen unter den Bedingungen eines modernen Verwaltungsstaats, in dem der Widerspruch zwischen Komplexität und Verantwortung ausgetragen wird. Der Vater verteidigt die soziale Notwendigkeit der juristischen und moralischen Zurechnung von Verantwortlichkeit. Für ihn darf das Recht die Psyche des Täters und die weiteren Umstände, die auf sie einwirken, nicht näher in Betracht ziehen, um nicht allenthalben auf schuldunfähige Täter zu stoßen. Schwung hingegen verteidigt die Position, wonach persönliche Verantwortung für Taten unter den Bedingungen komplexer Kontiguitätsstrukturen in vielen Fällen nicht möglich ist. Nach Schwungs Vorschlag ist derjenige unzurechnungsfähig, der im Moment der Tat sein Wollen nicht beherrschen konnte. Dann allerdings, so die Kritik von Ulrichs Vater, ist es möglich, dass der Angeklagte zu anderen Zeitpunkten durchaus über einen freien Willen verfügte. Ein Zustand wie derjenige Moosbruggers wäre in diesem Sinne von der Art einer amentia occulta, wie es im Titel von Ernst Platners einflussreicher Arbeit heißt. Dies ist der zweite für die Diskussion relevante Text, der im Jahr 1797 erschienen ist und den sich Schwung zu eigen macht. Darin schreibt Platner (die deutsche Übersetzung stammt aus dem Jahr 1820): Es giebt eine gewisse Gattung des Wahnsinns, [. . .] nämlich den verborgenen und tief im Menschen verschlossenen, unvermuthet und plötzlich ausbrechenden, und hin-

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sichtlich des Gebrauches des Gedächtnis- und Urtheils-Vermögens sowohl, als auch von dem ganzen sonstigen Betragen so gleichsam abweichenden, daß er durch äußere Merkmale, eben weil Ursache und Wirkung der Krankheit tiefer verstekt liegen, weder vorausgesehen, noch, wenn er gegenwärtig ist, erkannt werden kann. Aber es ist dessenungeachtet eine wirkliche Vernunft-Unfreiheit, welche gar wohl bei einem Capitalverbrecher einen nothwendigen Grund der Freisprechung von Strafe darbieten mag.67

Weil diese Art des Wahnsinns verborgen ist, kann sie nicht vom Richter, sondern nur vom Psychiater erkannt werden. Ulrichs Vater hingegen will die Entscheidung der Juristen, ob der Angeklagte zum Zeitpunkt seiner Tat schuldfähig war, möglichst von allen psychiatrischen Gesichtspunkten ablösen. Er muss gegen seinen Kollegen Schwung die Schuldfähigkeit mit der Fähigkeit einer Einsicht ins Unrecht einer Handlung gleichsetzen, um nicht denjenigen Psychiatern in die Hände zu spielen, welche die Rolle des Richters zu usurpieren suchen. Ich habe denn auch Professor Schwung sofort entgegnet, daß, wenn die Zustände der Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit logisch nicht gleichzeitig zu bestehen vermögen, man bei solchen Individuen annehmen müsse, daß sie in schnellem Wechsel aufeinander folgen, woraus dann gerade für seine Theorie die Schwierigkeit entsteht, für die einzelne Tat die Frage zu beantworten, aus welchem dieser wechselnden Zustände sie hervorgegangen sei; denn zu diesem Behufe müßte man alle Ursachen anführen, die auf den Angeklagten seit seiner Geburt eingewirkt haben, die ihn mit ihren guten und schlechten Eigenschaften belasten. – Du wirst es nun kaum glauben, aber Schwung hatte in der Tat die Stirn, mir zu erwidern, daß dies ganz recht so sei [. . .]. (MoE, S. 319)

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es im Streit zwischen Ulrichs Vater und Professor Schwung um ebenjenen zentralen historischen Prozess des Strafrechts geht, der sich im 19. und 20. Jahrhundert ereignet: die Entwicklung weg von einem Tatstrafrecht hin zu einem Täterstrafrecht (und das, obwohl sich Schwung auch auf Kant bezieht, also auch Elemente eines Tatstrafrechts vertritt). Der Streit wird heillos, als Ulrichs Vater vorschlägt, die beiden Formulierungen mit einem ›und‹ zu koppeln. Der Vermittlungsvorschlag lautet also: »Eine strafbare Handlung ist dann nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, so daß er nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Handlung einzusehn, und seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.« (MoE, S. 318). Dieser Vorschlag tut so, als ob Schwungs Formulierung diejenige von Ulrichs Vater lediglich erläutern 67

Ernst Platner: Untersuchungen über einige Hauptcapitel der gerichtlichen Arznei-Wissenschaft durch beigefügte zahlreiche Gutachten der Leipziger medicinischen Facultät erläutert. Aus dem Lateinischen übersetzt und geordnet herausgegeben von Carl Ernst Hedrich. Leipzig 1820, S. 15.

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würde. Tatsächlich aber erklärt der Vorschlag – mithilfe der logischen Konjunktion – nur diejenigen Personen für unzurechnungsfähig, auf die beide Bestimmungen zutreffen, folglich wäre eine kleinere Menge an Tätern für unzurechnungsfähig zu erklären. Da aber zeigte sich nun Professor Schwung in seiner wahren Natur! Er mißachtete mein Entgegenkommen und behauptete anmaßend, daß das ›und‹ in diesem Satze durch ein ›oder‹ ersetzt werden müsse. Du verstehst die Absicht. Das ist es doch gerade, was den Denker vom Laien abhebt, daß er ein Oder unterscheidet, wo dieser einfach ein Und setzt, und Schwung machte den Versuch, mich oberflächlichen Denkens zu bezichtigen, indem er meine sich in dem ›und‹ ausdrückende Verständigungsbereitschaft, welche beide Fassungen in eine ziehen wollte, dem Verdacht preisgab, ich hätte die Größe des zu überbrückenden Gegensatzes nicht in ihrer ganzen Tragweite erfaßt! Es versteht sich von selbst, daß ich ihm von diesem Augenblick an mit aller Härte entgegengetreten bin. (MoE, S. 318)

Die Idee für diese Eskalation des Streits hat Musil vermutlich einem Kommentar in Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie entnommen. Darin konnte er über das Strafrecht im Kanton Waadt lesen, dass ein Täter von Strafe ausgeschlossen sei, »[s]’il est dans un état de démence, ou s’il est atteint d’une maladie ou d’une infirmité qui le mette hors d’état d’apprécier les conséquences et la moralité de ses actions.«68 Zu dieser Stelle merkt Bleuler an, »daß das ›et‹ nicht sagen will, daß in jedem Falle beide Defekte, die Unfähigkeit, die Konsequenzen der Handlungen abzuwägen und diejenige, ihre moralische Bedeutung zu erkennen, vorhanden sein müssen, um Straflosigkeit herbeizuführen. Einer der beiden Defekte genügt und das ›et‹ hätte sich wohl durch ein ›ou‹ ersetzen lassen.«69 Was in Waadt möglich war, ist in Kakanien ausgeschlossen. Für Ulrichs Vater folgt aus Schwungs Vorschlag, dass ein großer und beständig wachsender Teil der Menschheit aus dem Bereich juristischer Zurechnungsfähigkeit fiele. Und das wäre für ihn gleichbedeutend mit einer massiven Beschränkung auch der moralischen Zurechnung sowie, damit verbunden, einem Verlust der sozialen Ordnung. Darin stimmt er mit Dr. Pfeifer überein, mit dem Arzt also, der sich in seinem Gutachten für Moosbruggers Zurechnungsfähigkeit folgendermaßen ausspricht: »[D]as Böse ist nicht nur in der Welt vorhanden, sondern auch unentbehrlich für ihren Fortbestand. Wir brauchen böse Menschen, wir dürfen sie nicht alle für krank erklären« (MoE, S. 1360). Nachdem sich abzeichnet, dass sich seine Formulierung nicht durchsetzt, greift Ulrichs Vater zu seinem letzten Mittel gegen Schwung: Da aber vollzog Ulrichs Vater, angesichts der drohenden Milde des Jubiläumsjahrs und einer Definition, die so rund wie ein Ei war, das er für eine gegen ihn geschleuderte Handgranate hielt, das, was er seine Aufsehen erregende Wendung zur sozialen 68 69

Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie (Anm. 65), S. 482. Ebd.

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Schule nannte. Die soziale Auffassung sagt uns, daß der verbrecherisch »Entartete« überhaupt nicht moralisierend, sondern nur nach seiner Schädlichkeit für die menschliche Gesellschaft zu beurteilen sei. Daraus folgt, daß er desto zurechnungsfähiger sein muß, je schädlicher er ist; und daraus folgt weiter auf zwingend logischem Wege, daß die scheinbar unschuldigsten Verbrecher, nämlich die geistig kranken, die vermöge ihrer Natur dem verbessernden Einfluß der Strafe am wenigsten zugänglich sind, mit den härtesten Strafen bedroht werden müssen und jedenfalls mit härteren als Gesunde, damit die Abschreckungskraft gleich groß sei. (MoE, S. 538)

Ulrichs Vater schließt sich Liszts moderner Schule an, und der Erzähler verzeichnet genau, dass sich hinter der scheinbaren Humanisierung dieser Schule, die immerhin gegen den ursprünglichen Willen von Ulrichs Vater eine Aufnahme der verminderten Zurechnungsfähigkeit vorsieht, potentiell sehr viel schärfere Konsequenzen für die vermindert Zurechnungsfähigen verbergen. Denn diese würden erst aus der Sicherungsanstalt entlassen, wenn von ihnen kein Schaden an der Gesellschaft mehr zu erwarten ist, und nicht zu einem möglicherweise viel früheren Zeitpunkt, an dem sie die Strafe für ihr Vergehen abgebüßt hätten. Der Streit zwischen Professor Schwung und Ulrichs Vater wird jedenfalls durch dessen Wechsel zur sozialen Schule nicht beigelegt. Schwung wechselt lediglich das Register und wirft seinem Kontrahenten einen »preußischen Staatsgeist« (MoE, S. 538) vor. Der Konflikt bleibt bis nach dem Tod von Ulrichs Vater bestehen, der noch im Sterben seinen Sohn auffordert, alles zu unternehmen, »um die Hoffnungen des Professors Schwung auf Verwirklichung seiner Bestrebungen gründlich zunichte zu machen« (MoE, S. 697). Die »Parodie der Juristensprache«70 und die ironische Haltung sind im 74. Kapitel kaum zu übersehen. Diese Ironie berührt allerdings die für die Moderne zentrale Paradoxie von Komplexität und Verantwortung. Ulrichs Vater verteidigt die Notwendigkeit der juristischen und moralischen Zurechnung von Verantwortlichkeit für jede soziale Ordnung. Unzurechnungsfähigkeit ist für ihn ein Rechtsbegriff, der sich nicht auf die Psyche des Täters und die komplexen Einflüsse darauf einlassen darf. Schwung hingegen verteidigt die Position, wonach eine solche Zurechnung – zumindest in vielen konkreten Fällen – aufgrund der Aufspaltung von Verantwortung unter den Bedingungen komplexer Kontiguitätsstrukturen nicht möglich ist. Die Situation im Ausschuss, wo die Reformvorschläge diskutiert werden, ist bald so verfahren, dass eine Lösung aussichtslos erscheint. Neben der Undund der Oder-Partei entsteht ein halbes Dutzend weiterer Parteien, deren mögliche Widersprüche zueinander exponentiell steigen: »Die Kommission bestand aus ungefähr zwanzig Gelehrten, denen es möglich war, einige tausend Standpunkte zueinander einzunehmen, wie sich leicht nachrechnen läßt« (MoE, S. 537). Die Paradoxie scheint sich im reformierten Strafgesetzbuch 70

Vgl. Helmut Arntzen: Musil-Kommentar zu dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1982, S. 225.

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(wenigstens in der Fiktion – die realen Entwürfe sind da entschiedener) nur noch durch eine sinnentleerte Tautologie lösen zu lassen. Schließlich wird eine Definition favorisiert, »nach der man zurechnungsfähig jene Verbrecher nennt, die nach ihren geistigen und sittlichen Eigenschaften eben fähig seien, ein Verbrechen zu begehn« (MoE, S. 538).71 Diese Formulierung aber verschiebt das Problem lediglich aus dem Strafrecht in den Strafprozess.

5. Formen literarischen Wissens Musils Roman exponiert mit Gerichtprozess und psychiatrischen Gutachten eine Situation von enormer Komplexität, die keine einfachen Lösungen besitzt: Die psychiatrische Begutachtung soll entweder die Latenz einer Krankheit ans Tageslicht zerren oder eine Simulation entlarven. Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, wird Moosbrugger hingerichtet werden oder auch nicht. Allerdings wird die Frage nach der Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat von der Frage nach den pathogenen Effekten des Gefängnisses überlagert. Die psychiatrische Begutachtung steht vor einer unlösbaren Aufgabe. »Man hatte ihn während seines von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbrochenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten wie entlassen, und er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulärer Irrer gegolten, ehe ihm in der letzten Verhandlung zwei besonderes gewissenhafte Irrenärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben.« (MoE, S. 243) Es ist nicht mehr zu entscheiden, ob Moosbrugger aufgrund seiner früheren Inhaftierungen erkrankt ist, ob er eine Erkrankung simuliert und wie die Simulation von einer Erkrankung abzugrenzen wäre. Er selbst setzt sich vor Gericht dafür ein, für zurechnungsfähig erklärt und nicht ins Irrenhaus verlegt zu werden. Doch dem Gericht ruft Moosbrugger nach Verkündigung des Todesurteils zu, »einen Irrsinnigen verurteilt« zu haben (MoE, S. 76). Am Problem der Zurechnungsfähigkeit lässt sich exemplarisch beobachten, wie sich der Mann ohne Eigenschaften zu den kulturellen Diskursen seiner Zeit verhält. Das 74. Kapitel stellt dabei den Unterschied zwischen der Art und Weise, wie der juridische Diskurs argumentiert, und dem literarischen Diskurs ostentativ aus. Als bloße Adaption des rechtlichen und psychiatrischen Diskurses ist es nicht hinreichend zu begreifen. Es funktioniert anders als der juridische Diskurs, den der Vater seinem Sohn wiedergibt, und der erzählte Brief ist etwas anderes als der Brief, den Ulrich liest. Das macht der Roman schon auf formaler Ebene sichtbar: Auch wenn die Erzählinstanz doppelte Anführungszeichen setzt, zitiert sie den Brief, den sie wiedergibt, nicht im Wortlaut, sondern teilt nur »ungefähr« mit, was in »dem Brief stand« 71

Ludwig: Zurechnungsfähigkeiten (Anm. 3), S. 217, hat als Quelle ein Zitat von August Finger ausfindig gemacht.

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(MoE, S. 316). Es bleibt zum einen offen, welcher Unterschied zwischen dem erzählten Brief und jenem besteht, den Ulrich in der diegetischen Welt liest. Zum anderen ist es beim Erzählen von Worten unvermeidlich, dass selbst ein wörtliches Zitat in die narrative Diskursart eintritt und einen Unterschied zwischen Buchstäblichkeit und Sinn, zwischen juridischem und narrativem Diskurs hervortreibt. Die Erzählinstanz teilt den Brief des Vaters auf in eine Einleitung, die elliptisch wiedergegeben wird, einen Hauptteil, der wörtlich zitiert wird (oder auch nicht), und einen Schluss, der bloß erwähnt, aber um seinen Wortlaut kupiert wird. Es bleibt ungewiss, ob Ulrich die ›Erwartung‹ seines Vaters erfüllen wird oder nicht, zweifelhaft, ob und wie er dem »nachdrücklichen Rat« (MoE, S. 319) folgen wird, und unklar, wie der juridische Diskurs über die Schuldfähigkeit auf den Fall Moosbrugger anzuwenden ist. Musil betont also gezielt mithilfe der narrativen Form die Distanz zwischen literarischem Diskurs auf der einen und juristischem bzw. psychiatrischem Diskurs auf der anderen Seite. Das Kapitel zeigt damit exemplarisch, dass das literarische Wissen im Mann ohne Eigenschaften weder mit alltäglichen Wissensbeständen gleichzusetzen noch als eine Sonderform der Wissenschaft zu begreifen ist. Es reicht über die historische Epistemologie und die Analyse von Aussagen und Aussageweisen hinaus. Als Musil das Thema der Unzurechnungsfähigkeit aufnimmt, hatten sich – wie oben beschrieben – die Spielregeln der strafrechtlichen, kriminologischen und psychiatrischen Diskurse bereits weitgehend etabliert, und die Argumente in der Debatte über Schuldfähigkeit und eingeschränkte Schuldfähigkeit waren vielfach ausgetauscht worden. Dennoch blockierten im frühen 20. Jahrhundert politische Interessen, philosophische Erwägungen, anthropologische Annahmen und langwierige Aushandlungsprozesse eine Reform des Strafrechts. Musil konstruiert mit Christian Moosbrugger eine Figur, die vermindert zurechnungsfähig ist, deren Status aber angesichts der diskursiven Blockade keine Anerkennung findet. Diese Blockade ist an der Überkreuzungsstelle von juristischen, kriminologischen und psychiatrischen Aussagen verortet. Es gibt für sie vor allem zwei Gründe: das Problem der intradisziplinären Konsolidierung der beteiligten Fächer sowie das transdisziplinäre Übersetzungsproblem. Erstens fordern die Disziplinen und Fächer, dass Aussagen über die Schuldfähigkeit unter einem allgemeinen Wahrheitskriterium erfasst werden. Dazu muss das Wahrheitskriterium in jedem einzelnen Fall greifen. Es liegt also ein latentes Vermittlungsproblem von diskursiven Spielregeln und singulärem Fall vor, das in der formativen Phase der beteiligten Disziplinen vor allem mithilfe einer kasuistischen Wissensproduktion gelöst wird. Nach der Etablierung und Durchsetzung eines Paradigmas kann ein Einzelfall zumeist nach allgemeinen Regeln bearbeitet werden, also beispielsweise ein psychiatrischer Fall unter einem Krankheitsbegriff subsumiert werden oder nicht. Es

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kommt aber auch vor, dass das Verfahren an einem bestimmten Fall scheitert. Diese Grenzfälle, die nicht in einen binären Code passen, verharren in einem Zustand der Vorläufigkeit und werden in der Schwebe gehalten. Sie werden zu einem eigenen Erkenntnisgegenstand und stoßen eine Wissensproduktion an, in der grundsätzliche epistemologische Fragen geklärt werden und die zu einer weiteren Konsolidierung der Disziplinen führt. Zweitens ist die diskursive Blockade bei der Debatte um die verminderte Zurechnungsfähigkeit deshalb so schwer aufzulösen, da verschiedene Systeme mit ihren jeweils spezifischen Codes beteiligt sind: Das Wissenschaftssystem mit seiner Leitdifferenz wahr/falsch, das Rechtssystem mit der Unterscheidung Recht/Unrecht und das Gesundheitssystem mit dem Code krank/gesund. Da alle diese Differenzen unterschiedlich trennscharf sind und nach ihren je spezifischen Programmen verarbeitet werden, kann es zu Übersetzungsproblemen kommen, wenn die Codes aufeinander bezogen werden: Die Richter müssen nach schuldig oder nicht schuldig urteilen und beauftragen Psychiater, ihnen die Schuldfähigkeit zu bescheinigen. Aus Sicht der Psychiater aber kann die Unterscheidung zwischen schuldfähig und nicht schuldfähig nicht gänzlich in den Code gesund/krank überführt werden. Wie Musil im Mann ohne Eigenschaften zeigt, ist Literatur in der Lage, diese Konflikte sichtbar zu machen, die sich aus den Konsolidierungs- und Übersetzungsproblemen der verschiedenen Disziplinen ergeben. In diesem Sinne spitzt Musil die Problematisierung dessen, wie Unzurechnungsfähigkeit überhaupt zu fassen sei, in seiner Fallgeschichte der Figur Moosbrugger zu. Während die Textsorte der juristischen und psychiatrischen Fallgeschichte den Diskursregeln von Recht und Psychiatrie das Primat einräumt und nach vorab festgelegten Regeln verfährt, steht für den Roman also die Anwendbarkeit dieser Regeln auf den Einzelfall infrage. Insofern ist Moosbrugger weniger ein juristischer und psychiatrischer Fall, an dem die bestehenden Regeln der disziplinären Programme geschärft werden könnten, sondern vielmehr ein genuin literarischer Grenzfall, der die Paradigmen der involvierten Disziplinen herausfordert. Zu diesem Zweck springt der Roman auf eine Beobachtung zweiter Ordnung und lässt zugleich in der Diegese diese Beobachtung zweiter Ordnung scheitern. Obwohl also in einer Geschichte der Schuldfähigkeit, die auf die Rekonstruktion von Paradigmen (etwa von der absoluten zur relativen Straftheorie, vom Tatstrafrecht zum Täterstrafrecht) abzielt, die Einschnitte, dramatischen Wechsel und Umschwünge im Mittelpunkt stehen, sind die historischen Wahrheitskriterien in der Debatte nicht binär codiert, sondern liegen in einer Gesamtheit der diskursiven und nichtdiskursiven Bedingungen, welche die Wissenschaftlichkeit von Aussagen reglementieren. Das Wissen folgt historisch bedingten Regeln, die sich nicht allein aus den Gegenstandsbereichen und Spielregeln der jeweiligen Disziplinen herleiten lassen; die spezifische sprachliche Verfasstheit eines Wissens bringt Effekte hervor, die seine Aus-

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Christian Kirchmeier, Armin Schäfer

sagen übersteigen und einen Überschuss erzeugen. Insofern sind die Funktionen der Rhetorik, des Erzählens, der Performativität, der Errichtung von Fiktionen und Illusionen nicht als neutrale Vermittlungen zu begreifen. Erst vor diesem Hintergrund gewinnt im Roman die spezifische Wissensform der Literatur im Unterschied zum rechtswissenschaftlichen Diskurs und zur forensischen Praxis ihre Kontur. Musil karikiert das Modell einer Wissenschaftlichkeit, die Wahrheit mit Erfolg und Durchsetzung der eigenen Meinung verwechselt. Er lenkt den Blick auf Faktoren, die unter szientifischen und philosophischen Gesichtspunkten vielfach übersehen werden: So sind vor allem die soziale Anerkennung und Autorisierung des Sprechers und die Einhaltung von diskursiven Spielregeln, die ihm die Stellung eines Autors verleihen, entscheidend für die Anerkennung seiner Äußerungen als wissenschaftsfähige Aussage. Aussagen implizieren nämlich eine Subjektposition, die wie ein Stellplatz ist, der gemäß verschiedenen Regeln besetzt werden kann und der grammatisch als Sprecher oder empirisch als eine historische Person nicht hinreichend bestimmt ist. Jedenfalls hat ein Jurist, der ein und dieselbe Äußerung im Gerichtssaal oder als Vater tätigt, verschiedene Subjektpositionen inne. In dieser polyphonen Konstellation bezieht auch die Erzählstimme nur eine Subjektposition unter vielen, die aber das zugrundeliegende Problem der Übersetzung zwischen verschiedenen Wissensbereichen und deren Konsolidierung verhandeln kann. Für den Erzähler ist völlig klar, dass der Fall nicht einer binären Logik der Zurechnung folgt: »Was über Moosbrugger zu sagen war, das hätte man in einem Satz vorbringen können. Moosbrugger war einer jener Grenzfälle, die aus der Jurisprudenz und der Gerichtsmedizin auch den Laien als die Fälle der verminderten Zurechnungsfähigkeit bekannt sind.« (MoE, S. 242) Aus dem Satz spricht die Ironie, dass dem Laien bekannt sei, was der Experte bezweifelt. Der Satz verweist aber auch auf das Verfahren des Romans, mithilfe des literarischen Wissens die verschiedenen Expertendiskurse überhaupt erst in ein Verhältnis zu setzen.

Gesine Bey

»Er ist naiv wie ein heiterer Mönch« Der italienische Psychiater und Anthropologe Sergio Sergi im Leben und Werk Robert Musils*

Abstract: The Italian psychiatrist and anthropologist Sergio Sergi (1878–1972) does not appear in Robert Musil’s Roman notes until 1913; at that time he guided Musil through the Manicomio, the psychiatric hospital in Rome. The article deals with Sergi’s stay in Berlin from late 1906 to 1908, when he examined skulls and brains from Africa at the University Institute of Anatomy and the Museum of Ethnology, and was thus involved in research projects that demonstrate the close link between anthropology and colonialism. It seems possible that Musil had already met Sergi in Berlin, as they had mutual acquaintances, such as Martha Marcovaldi, Carl Stumpf, and Erich M. von Hornbostel. However, only a few of Musil’s early diaries have survived, which is why the article searches literary texts such as Grauauges nebligster Herbst (Grey Eye's Most Misty Autumn), Das Land über dem Südpol (Land over the South Pole), and later Der Spion (The Spy) for literary traces of Sergi. Der Konflikt mit der wissenschaftlichen Umwelt bereitet sich vor und bereitet den Konflikt mit der gesamten Umwelt vor. Die eigentliche Spannung darin suchen, wie sich das entwickelt. Robert Musil: Der Spion (1919–1920)1

1. Den italienischen Psychiater und Anthropologen Sergio Sergi kennen wir aus Robert Musils Arbeitsheft 7 (März 1913 – Januar 1914), in dem er beschreibt, wie ihn Sergi in Rom durch das Manicomio, das große psychiatrische Bezirkskrankenhaus an der Via della Lungara, und des Nachts durch das Anthropologische Institut im Collegio Romano führt. Der Besuch im Manicomio fand am 13. Oktober 1913 statt, der im Anthropologischen Institut schon Ende September (vgl. Tb I, S. 275 u. 278). Beide Häuser waren Arbeits* 1

Der Aufsatz entstand nach einem Arbeitsaufenthalt in der Casa di Goethe in Rom 2021, ermöglicht durch ein Stipendium der Karin und Uwe Hollweg Stiftung, in Vorbereitung einer Arbeit über Martha Musils Jahre in Rom. GA 6, S. 50.

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Gesine Bey

orte Sergio Sergis. Der Ablauf des Besuchs im Manicomio entspricht in seiner Struktur schon sehr dem Kapitel »Die Irren begrüßen Clarisse« im Zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften. Auf welche Zeit geht die Bekanntschaft Robert Musils mit Sergio Sergi zurück? Ich möchte deutlich machen, dass Musil und Sergi sich schon früher als 1913, nämlich 1907, gegen Ende von Musils Studienjahren in Berlin kennengelernt haben könnten. Das eröffnet einen neuen Blick auf Musils Erfahrungen mit den an die Psychologie angrenzenden Wissenschaften während seines Berliner Studiums, liefert Hinweise zur Entstehungsgeschichte des Romans Der Mann ohne Eigenschaften und der frühen Erzählfragmente aus den Jahren 1908 bis 1913. Es ergeben sich neue Erkenntnisse in Bezug auf die Begegnung Robert Musils mit seiner späteren Frau Martha, damals Martha Marcovaldi. Diese, eine geborene Berlinerin, hatte von 1897 bis 1906 in Rom gelebt und während ihrer 1898 geschlossenen Ehe mit dem römischen Kaufmann Enrico Marcovaldi zwei Kinder, Gaetano (1899–1977) und Anna (Annina) (1903–1957), zur Welt gebracht. Die Eltern Sergio Sergis, Professor Giuseppe Sergi und seine Frau, die Söhne Sergio und Quirino und eine Tochter waren in Rom Nachbarn des Ehepaars Marcovaldi gewesen. Martha Musils Sohn Gaetano schrieb an Adolf Frisé: »Von der Familie Sergi kann ich [. . .] hinzufügen, daß [. . .] sie im selben letzten Stock wie wir wohnte: sie Wohnungsnummer 12 und wir 13. Die Wohnung war, wenigstens von uns, längst verlassen in der Zeit, von der Heft 7 handelt, aber die so entstandene Bekanntschaft war geblieben« (Tb II, S. 168). Musil begleitete 1913 Martha nicht zum ersten Mal nach Rom. Erstmals geschah das im Januar 1910. Vor ihrer Eheschließung mussten komplizierte Scheidungsangelegenheiten bewältigt werden, weil eine in Italien katholisch geschlossene Ehe an sich unauflösbar war. In Rom spielt Musils um 1912 entstandenes Prosafragment Das Land über dem Südpol, in dem als Protagonist und Ich-Erzähler der Italien-Korrespondent einer auswärtigen (vermutlich einer Berliner) Zeitung auftritt.2 Die Geschichte verbindet zwei nur kurze Zeit zurückliegende historische Ereignisse. Im Mai 1910 sollte der Schweif des Kometen Halley allen Voraussagen nach die Atmosphäre der Erde mit giftigen Gasen berühren, doch anders als befürchtet, trat das nicht ein. Am 14. Dezember 1911 erreichte der Norweger Roald Amundsen mit seiner Expedition als erster Mensch den Südpol. Land war hier allerdings nicht auszumachen. Amundsen und seine Mannschaft standen auf einer kilometerdicken Schicht aus Eis.

2

Hier interessiert nur der Rahmen. Zu Musils Notizen über Experimente mit Lebewesen des unbekannten Landes im Zusammenhang mit der Erzählung und zur Rezeption der Anthropologie in Musils Werk vgl. Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der zwanziger Jahre. München 1994; Nicola Gess: Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften. Zum Primitivismus bei Robert Musil, in: MusilForum 31 (2009/2010), S. 5–22.

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In Das Land über dem Südpol begegnet der Erzähler auf dem Pincio, einem Hügel im Zentrum von Rom, einem Berliner Bekannten. Wir saßen oben am Pincio, in jenem kleinen vorspringenden Geviert von dem aus man auf die Piazza del Popolo hinabblickt, dann weiter die Via . . . [via Cola di Rienzo] entlang bis zu dem mit dem Kopf in den Schultern steckenden Bau der Peterskirche und endlich bis zu den herrlichen Höhen der Villa Doria Pamphili. [. . .] Rom mit seinen häßlichen, flachen, ineinandergeschobenen Dächern war wie ein riesiges, mit allerhand Waren unordentlich beladenes zitterndes Schiff in einem glühenden Meer. [. . .] Die Sistina herauf rollten in langem Zuge die Wagen. Ich dachte an d’Annunzio [. . .]. (GW II, S. 738)

Der Bekannte, ein Mathematiker, Freund oder X. genannt, entwickelt die These, es müsse ein unentdecktes Land über dem Südpol geben, dessen Existenz die Berechnungen korrigieren und den tatsächlichen Verlauf der Kometenlaufbahn erklären würde. »Er hielt seine Mappe auf den Knien und hatte seine Papiere [. . .] ausgebreitet und sprach u. rechnete« (ebd.). Der Erzähler folgt der logischen Beweisführung seines Bekannten. Er ist auch Mathematiker und kann keinen Fehler entdecken. Doch er rückt in dem Moment von ihm ab, als er erfährt, dass der Bekannte mit seiner Verlobten Bertha, »einer jungen in Rom lebenden Deutschen« (GW II, S. 742), aufbrechen wolle, um sich für eine Südpol-Expedition auszurüsten. Die Sonne ist untergegangen. Der Erzähler verlässt den Pincio allein. Er kommt an der Balustrade über der Spanischen Treppe entlang. In Wegrichtung, an der via Sistina 72, steht das Hotel Lavigne, wo Musil mit seiner Lebensgefährtin bei seiner ersten Rom-Reise im Jahr 1910 abgestiegen war. Der Erzähler biegt jedoch in die Nebenstraße ein, »in den Schatten der stillen Via [Gregoriana]«, die mit dem Palazzo Zuccari, einem Schauplatz von Gabriele D’Annunzios Roman Il Piacere (1889) beginnt. Seine Gefühle sind aufgewühlt, er kann seine Gedanken nicht ordnen, er misstraut jetzt den Darlegungen des Freundes. Seit Tagen hat er seiner Zeitung keine Nachrichten mehr geschickt. Nun ›reißt‹ er sich an der nächsten Kreuzung nach rechts, läuft die Via Capo le Case hinunter zur Piazza San Silvestro, wo sich das Postamt befindet, und telegraphiert nach einigem Zögern die Meldung: »In Rom ist der bekannte junge Gelehrte X. gelegentlich umfangreicher Forschungen über den jüngsten Kometen infolge Überarbeitung von einer schweren Psychose befallen worden. Die Ärzte erklären seinen Zustand für bedenklich, wenn auch nicht aussichtslos.« (GW II, S. 743) Wäre der Erzähler nicht zum Postamt gelaufen, sondern in die Via Sistina eingebogen und wäre ihrer Verlängerung, der Via delle Quattro Fontane, noch eine Weile weiter gefolgt, neben der Spur der zurückrollenden Wagen, so wäre er bis zur Via Venti Settembre gekommen. Sich nach links wendend hätte er das schöne, im Neorenaissance-Stil erbaute Haus an der Ecke Via delle Finanze 1 erreicht, wo bis Ende 1906 Martha und Enrico Marcovaldi

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gewohnt hatten, und neben ihnen, Tür an Tür, der junge Arzt Sergio Sergi. Die Familie Sergi lebte noch lange dort.3 Auf das mit der Sigle AN 256 versehene Deckblatt des Manuskripts Das Land über dem Südpol hatte Musil unter den Titel den Namen »Eugenio Toronto«4 geschrieben – und dann wieder gestrichen. Die Toronto-Figur verwendete Musil zuerst in einem anderen literarischen Fragment, in dem ebenso der Name ›Bertha‹ erscheint – in Grauauges nebligster Herbst. Adolf Frisé spricht 1978 in seinem Kommentar zu Grauauges nebligster Herbst von einem »nicht ohne weiteres fixierbaren Eugen Toronto« (GW II, S. 1762). Auch er geht schon auf die Verbindung zu Das Land über dem Südpol ein. Mit der Niederschrift des in drei Fassungen erhaltenen Prosafragments Grauauges nebligster Herbst hatte Musil 1908 in Berlin, kurz nach dem Abschluss seines Studiums, begonnen.5

2. Wenden wir uns, um den Kontext zu erweitern, noch einmal Robert Musils Studienjahren zu. Musil studierte von 1903 bis 1908 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität im Hauptfach Philosophie, in den Nebenfächern Physik und Mathematik.6 Da sein Universitätslehrer und Doktorvater Carl Stumpf Philosophie an einem psychologischen Institut lehrte, durchlief Musil eine experimentalpsychologische Ausbildung auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Carl Stumpf war auch Tonpsychologe. Am 20. Juni 1903, wenige Monate, bevor Musil sein Studium aufnahm, fand unter der Leitung des Arztes, Anthropologen und Ethnologen Felix von Luschan eine Sitzung der (1869 als »Anthropologische Gesellschaft« gegründeten) »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« statt. Man hatte sich zusammengefunden, um zu erreichen, dass ein Phonogramm-Archiv im Psychologischen Institut der Berliner Universität eingerichtet wurde. Einige Jahre schon hatte man Töne auf Wachswalzen aufgezeichnet, es gab eine Reihe von privaten Archiven, die man nun zusammenführen wollte. Stumpfs Mit3 4 5

6

Die Anschriften der ordentlichen Mitglieder der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«, unter ihnen Giuseppe und Sergio Sergi, weisen dies nach. Vgl. Zeitschrift für Ethnologie 42 (1913), S. 21. Ebenso die Jahrgänge 1907 und 1922–24. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/516. Karl Corino stellt eine Verbindung zu einem aus Neapel stammenden Ingenieur Schröder her, den Martha Ende Juli 1903 bei ihrem Cousin Hans Alexander in der Berliner Matthäikirchstraße 1 kennenlernte, kurz vor ihrer Abreise nach Heringsdorf an die Ostsee. Darüber berichtet sie in einem Brief an ihren Mann Enrico vom 31. Juli 1931 (vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 347, S. 1556). Schröder lebte allerdings seit 1898 in Deutschland, genauso lange wie Martha in Italien. Gesine Bey: »Bei mir laudabile«. Zu Robert Musils Berliner Studienjahren, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Reihe Gesellschaftswissenschaften 38 (1989), H. 6, S. 659.

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arbeiter Otto Abraham und Erich Moritz von Hornbostel traten in dieser Sitzung mit Vorträgen über die Bedeutung und über die technischen Möglichkeiten ihres neuen Fachgebiets, der vergleichenden Musikwissenschaft, auf.7 Von Luschan erklärte: »Was von den Herren Stumpf, Abraham, von Hornbostel u. a. in den letzten Jahren auf diesem Gebiete geleistet wurde, lässt schon jetzt mit Sicherheit erkennen, dass die vergleichende Musikwissenschaft in kurzer Zeit eine der wichtigsten und interessantesten Disziplinen der Völkerkunde werden wird.«8 1904 wurde das Berliner Phonogramm-Archiv dann gegründet. Reisende nach Asien, Afrika und Amerika wurden aufgefordert, sich mit einem Edison-Phonographen – den man für 50 Mark im Kaufhaus Wertheim kaufen konnte – auszurüsten, auf Walzen akustische Phänomene aufzuzeichnen und nach Berlin zu schicken. Die Musikethnologin und Ostasienwissenschaftlerin Gretel Schwörer-Kohl schreibt 2016 über das Phonogramm-Archiv in Stumpfs Institut: »Die Zusammenarbeit mit Sammlern aus unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen (Theologen, Kolonialbeamten, Ärzten, Missionaren, Linguisten, Geographen, Archäologen, Musikwissenschaftlern, Forschungsreisenden) und weltweite Kontakte sicherten dem Archiv meist gut dokumentierte Aufnahmen von den verschiedensten Musikkulturen der Welt.«9 »Wir möchten«, schrieb Erich Moritz von Hornbostel, der sich vom Chemiker zum Musikwissenschaftler und Musikethnologen aus- und weitergebildet hatte, »die fernste, dunkelste Vergangenheit entschleiern und [. . .] aus der Fülle des Gegenwärtigen das Zeitlose, Allgemeine herausschälen.«10 Er bemühte sich um die Erforschung der durch die Kolonialisierung gefährdeten Kulturen, die er als gleichberechtigt achtete. »Wir dürfen aber«, schreibt er 1905, »niemals vergessen, daß auch die primitivste heutige Kultur auf eine lange Entwicklung zurückblickt, und wenn man sieht, oder besser – hört, wie raffiniert in seiner Einstimmigkeit ein japanisches, indisches oder arabisches Musikstück ist, wird man sich sagen, daß – vielleicht aus gleichen 7

8

9 10

Otto Abraham, Erich Moritz von Hornbostel: Über die Bedeutung des Phonographen für die vergleichende Musikwissenschaft, in: Zeitschrift für Ethnologie 36 (1904), H. 2, S. 222–236 (Der Aufsatz bildet die erweiterte Fassung eines Vortrags, der in der Sitzung vom 20. Juni 1903 in der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« gehalten wurde). Felix von Luschan: Einige türkische Volkslieder aus Nordsyrien und die Bedeutung phonographischer Aufnahmen für die Völkerkunde, in: Zeitschrift für Ethnologie 36 (1904), H. 2, S. 177–202, hier S. 201 (Der Aufsatz bildet die erweiterte Fassung eines Vortrags, der in der Sitzung vom 20. Juni 1903 in der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« gehalten wurde). Gretel Schwörer-Kohl: Carl Stumpf und das Berliner Phonogramm-Archiv, in: Carl Stumpfs Berliner Phonogrammarchiv. Ethnologische, musikpsychologische und erkenntnistheoretische Perspektiven. Hg. v. Martin Ebeling. Frankfurt a. M., Berlin, New York u. a. 2016, S. 6. Erich Moritz von Hornbostel: Die Probleme der vergleichenden Musikwissenschaft [1905], in: Erich Moritz von Hornbostel: Tonart und Ethos. Aufsätze zur Musikethnologie und Musikpsychologie. Hg. v. Christian Kaden u. Erich Stockmann. Mit Notenbeispielen. Leipzig 1986, S. 40–58, hier S. 56.

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Anfängen entsprungen – hier eine sehr hochentwickelte Kunst vorliegt, freilich unter anderem Himmel und nach ganz anderen Richtungen gewachsen als unsere.«11 1906 eröffnete er seinen Aufsatz Phonographierte tunesische Melodien mit den Worten: »Mit der vorliegenden Untersuchung betritt die neuere vergleichende Musikwissenschaft zum erstenmal afrikanischen Boden.«12 Gemeinsam mit dem polnischen Anthropologen Jan Czekanowski, Luschans Kollegen aus dem Völkerkundemuseum, transkribierte er die »Wasukuma-Melodie«13 mit einem Tonsystem, das er selbst entwickelt hatte. Auch das Medium der Photographie trat in den Dienst der Ethnologen. Von Interesse für die Musil-Forschung könnte sein, dass Felix von Luschan 1892 Porträtaufnahmen eines Knaben veröffentlichte, den der Kolonialbeamte Legationsrat Fritz Rose 1891 aus »Deutsch-Neuguinea« nach Deutschland mitgebracht hatte.14 Sein Name war Soli. Er besuchte in Berlin die Volksschule, erhielt Taufunterricht, vertrug jedoch das raue Klima nicht und musste nach wenigen Jahren in seine Heimat Neuguinea zurückkehren. Bei Tonaufnahmen für das Phonogramm-Archiv trafen ihn 1908 der Ethnologe Richard Neuhauss und seine Frau in seinem Dorf wieder.15 Solis Geschichte blieb in den Berliner Wissenschaftskreisen in Erinnerung und könnte Musil später zur Figur des Soliman, des jungen Dieners von Dr. Paul Arnheim im Mann ohne Eigenschaften, ebenso angeregt haben wie die von Angelo Soliman, einem Afrikaner, der im 18. Jahrhundert als Reisebegleiter und Kammerherr an fürstlichen Höfen Wiens gelebt hatte. Dessen Andenken blieb lange Zeit im Gedächtnis der Stadt Wien erhalten, nicht zuletzt durch das Buch Angelo Soliman, der hochfürstliche Mohr. Ein exotisches Kapitel Alt-Wien (1922) von Wilhelm A. Bauer,16 das Karl Corino als Anregung für Musil ausmachte.17 Tatsächlich hat Walther Rathenau (1867–1922), das Vorbild für Paul Arnheim, 1907 und 1908 den preußischen Staatssekretär Bernhard Dernburg auf Reisen nach Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika begleitet. In einem Bericht an Kaiser Wilhelm II . lehnte er aus humanitären und wirtschaftlichen Gründen die damalige vom Deutschen Reich praktizierte Kolonialpolitik ent11 12 13 14 15

16 17

Ebd., S. 57. Erich Moritz von Hornbostel: Phonographierte tunesische Melodien, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 8 (1906–1907), H. 1, S. 1. Erich Moritz von Hornbostel: Wasukama-Melodie nach der Aufnahme von Dr. J. Czekanowski. Bulletin de l’Académie des sciences de Cracovie, Cl. des sciences math. et nat., Sér. B: Sciences naturelles, juillet 1910, S. 711–713. [Felix von Luschan:] Hr. Felix von Luschan zeigt photographische Abbildungen eines Knaben aus Deutsch-Neu-Guinea, in: Zeitschrift für Ethnologie 25 (189), S. 273–275. Katarina Matiasek: Soli. Ein Papua-Knabe in Berlin, in: Überleben im Bild. »Rettungsanthropologie« in der fotografischen Sammlung Emma und Felix von Luschan. Hg. v. Katarina Matiasek. Salzburg 2021 (= Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 21), S. 145–165, hier S. 154 f. Vgl. Wilhelm A. Bauer: Angelo Soliman, der hochfürstliche Mohr. Ein exotisches Kapitel AltWien. Hg. v. Monika Firla-Forkl. Berlin 1993, S. 112 ff. Vgl. Corino: Robert Musil (Anm. 5), S. 876 u. 878.

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schieden ab, nicht aber die Berechtigung europäischer Kolonien.18 Musils Imagination führt ins 20. Jahrhundert hinein: Hätte Walther Rathenau einen aus Afrika stammenden Jungen mitgebracht, sei es auch über Sizilien, so wäre dieser zum Zeitpunkt der Romanhandlung etwa 16 Jahre alt gewesen. Musils Berliner Studium ging von Anfang an über die Grenzen strenger Theorie hinaus. In Kursen am Institut wurden unter anderem »experimentelle Sinnes- und Gedächtnisforschung [. . .], Farben- und Raumwahrnehmungen«19 behandelt. Dazu konnte er als Ingenieur mit der Konstruktion eines Variationskreisels für Farben (um 1906)20 einen Beitrag leisten. Wann er welche Lehrveranstaltungen zur Psychologie besuchte, ist nicht bekannt. Sein Studienbuch blieb nicht erhalten. Doch im Berliner Universitätsarchiv fand sich das Studienbuch seines Kommilitonen Kurt Koffka, der, später ein bekannter Gestaltpsychologe, im Wintersemester 1905/1906, dienstags von 7 bis 8 Uhr Abend das Privatseminar »Experimentelle Psychologie für Vorgerücktere«21 in der Psychiatrischen und Nervenklinik von Theodor Ziehen besuchte. Es fand nur im Wintersemester statt und war sicher auch für Musil verpflichtend. Koffka erinnerte sich in seinem Buch Principles of Gestalt Psychology (1935) an eine Unterhaltung mit Musil während eines gemeinsamen Heimwegs,22 bei dem dieser ihm die Frage stellte: »Haben Sie eine Ahnung, wohin uns die Psychologie, die wir lernen, führt?«23 Am 14. März 1908 schloss Musil sein Universitätsstudium mit dem Doktorat ab. In einer Dissertation über die Erkenntnistheorie Ernst Machs erwies er den empirischen Wissenschaften und der Philosophie gleichermaßen Re18

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Vgl. Walther Rathenau: Auszüge aus den »Erwägungen über die Erschließung des DeutschOstafrikanischen Schutzgebietes« [23. 11. 1907], in: ders.: Tagebuch 1907–1922. Hg. u. kommentiert von Hartmut Pogge-v. Strandmann. Mit einem Beitrag von James Joll und einem Geleitwort von Fritz Fischer. Düsseldorf 1967, S. 75–86; ders: Auszüge aus der »Denkschrift über den Stand des Südwestafrikanischen Schutzgebietes«, in: ebd., S. 102–117. Chronik der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für das Rechnungsjahr 1907, 21 (1908), S. 65. Der Variationskreisel für Farben wurde von Musil wahrscheinlich 1906 konstruiert, aber erst 1907 über die Vermittlung von Hans Rupp, Mitarbeiter am Institut, fabrikmäßig hergestellt. Vgl. Br I, S. 48 f. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Winter-Semester 1905/06. Berlin 1905, S. 19; vgl. Silvia Bonacchi: Robert Musils Berliner Studienjahre, in: Robert Musils Drang nach Berlin. Hg. v. Annette Daigger u. Peter Henninger. Bern u. a. 2008, S. 37–84, hier S. 82. Koffka schreibt »my colleague, after taking his doctor’s degree, gave up psychology as a profession and is today a well-known author«. Vgl. Silvia Bonacchi: Robert Musils Studienjahre in Berlin (1903–1908). Beilage 1 zu: Robert-Musil-Forum (1992), S. 54; Karl Corino: Musils Zweifel an der akademischen Psychologie. Auszug aus Kurt Koffka, in: Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Hg. v. Karl Corino. Wädenswil 2010. S. 58. Silvia Bonacchi und Karl Corino stellen übereinstimmend fest, dass es sich bei Koffkas Begleiter nur um Robert Musil gehandelt haben kann. Kurt Koffka: Principles of Gestalt Psychology. London, New York 1936, S. 53. Im Original: »Have you any idea where the psychology we are learning is leading us?«

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spekt: »Das Wort des Naturforschers wiegt schwer, wo immer heute erkenntnistheoretische oder metaphysische Fragen von einer exakten Philosophie geprüft werden. Die Zeiten sind vorbei, wo das Bild der Welt dem Haupte des Philosophen entsprang.«24 Während seines Berliner Studiums erlebte Musil eine große Vielfalt an wissenschaftlichen Disziplinen, die gerade an die Universität strebten. All das hatten ihm zuvor die Technische Hochschule in Brünn nicht, und auch nicht die Materialprüfungsanstalt in Stuttgart bieten können. Dort hatte er sich bekanntlich so ›gelangweilt‹, dass er mit dem Schreiben seines ersten Romans begann. Mitten im Berliner Studium, nach der Beendigung der Verwirrungen des Zöglings Törleß, machte er sich auf die Suche nach einem neuen Romansujet. Das geschah nun unter anderen Bedingungen. Inzwischen hatte ihn ein Interesse an der Wissenschaftstheorie erfasst, das ihn nie mehr verlassen sollte. Die Gestaltung des neuen Romans wurde schwieriger, zwang zu immer neuen Ansätzen. Es entstand ein umfangreiches Werk an Kritiken, Essays, Erzählungen und Stücken. Bis zum Erscheinen des Mann ohne Eigenschaften sollten noch zwanzig Jahre vergehen.

3. Zu den wissenschaftlichen Interessen Musils gehörte auch die Ethnologie. Das verband ihn mit dem Cousin seines Vaters, dem Theologen, Orientalisten und Forschungsreisenden Alois Musil (1868–1944). Kehren wir zu Sergio Sergi zurück, dessen Name 1908 wie der von Alois Musil in der Zeitschrift für Ethnologie zu lesen war. Musils Altersgefährte Sergio Sergi wurde am 13. März 1878 in Messina, Sizilien, geboren. In der Familie Sergi waren alle männlichen Mitglieder Mediziner. Der Vater Giuseppe Sergi (1841–1936) war ein bedeutender italienischer Anthropologe und Psychologe in der Epoche des Positivismus. In Sizilien aufgewachsen, hatte er 1860 sein Jura-Studium unterbrochen, um sich am Freiheitskampf von Giuseppe Garibaldi in Milazzo zu beteiligen.25 Danach wandte er sich dem Studium der Medizin und Naturwissenschaften zu. Giuseppe Sergi vertrat die damals neue Ansicht, dass die Bevölkerung in Europa, anders als der ausgestorbene Neandertaler, afrikanischen Ursprungs sei. Das bestimmte viele seiner wissenschaftlichen Aktivitäten und die seiner Nachfolger. Er wurde zum Gründungsdirektor des Anthropologischen Museums in Rom, in dem auch das von ihm geleitete Universitätsinstitut für Anthropologie untergebracht war. Seit 1891 gehörte er der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologe und Urgeschichte« als korrespondierendes Mitglied an. 24 25

Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 15. Vgl. Elisa Montanari: Sergi, Giuseppe, in: Dizionario biografico degli italiani. Hg. v. Istituto della Enciclopedia Italiana, Bd. 92. Roma 2018, S. 108.

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Musil schreibt in Heft 7 über Sergio Sergis Vater: »er [. . .] scheint eine Art W. [Wilhelm] Wundt zu sein« (Tb I, S. 277). 1873 hatte Giuseppe Sergi ein Lehrbuch über die wissenschaftlichen Grundlagen der experimentellen Psychologie publiziert.26 Das war die Zeit, in der auch Wilhelm Wundt als Assistent von Hermann Helmholtz in Heidelberg und als Professor in Leipzig erste Vorlesungen über dieses Fach abhielt. Kurz hintereinander wurden drei universitäre Labore für experimentelle Psychologie eingerichtet: 1879 von Wilhelm Wundt in Leipzig, 1889 von Guiseppe Sergi in Rom, 1893/94 von Carl Stumpf in Berlin. Carl Stumpf und Giuseppe Sergi trafen sich und arbeiteten zusammen, auf dem 3. Kongress für wissenschaftliche Psychologie in München vom 4. bis zum 7. August 1896 saßen sie gemeinsam im Präsidium. So ist es möglich, dass Martha Marcovaldi Carl Stumpf in Rom begegnete, vielleicht bei einem privaten Abendessen der Sergis, oder als Dolmetscherin, denn sie half um diese Zeit, vermutlich durch die Vermittlung der Sergis, auch bei der Übersetzung von psychiatrischen Fachtexten vom Deutschen ins Italienische.27 Anders als sein Bruder Quirino, der praktischer Arzt im römischen Krankenhaus Santo Spirito in Sassia war, strebte Sergio Sergi die Laufbahn seines Vaters an, als wäre er geistig schon immer sein Assistent gewesen. Zunächst, nach dem Medizinstudium, das er 1902 mit einer Doktorarbeit über die Physiologie des Gehirns abschloss, durchlief er drei Volontariate: am Institut für experimentelle Physiologie bei Luigi Luciani, am Institut für chemische Physiologie unter Domenico Lo Monaco und im psychiatrischen Institut von Augusto Tamburini. Mit seinen ersten Veröffentlichungen über Neurophysiologie gewann er von der Universität ausgeschriebene Wettbewerbe. 1906 verlieh ihm das italienische Unterrichtsministerium ein Stipendium für eine einjährige wissenschaftliche Weiterbildung im Ausland. Das führte ihn nach Berlin.28 Anfang Dezember 1906 traf Sergio Sergi in Berlin ein. Er nahm sich ein Zimmer nahe der Potsdamer Straße im Alten Berliner Westen, Am Karlsbad 4, wenige Gehminuten entfernt vom Stammhaus der Familien Meyer/Alexander in der Matthäikirchstraße 1, wo zu diesem Zeitpunkt noch Marthas Onkel Julius Alexander und ihre Cousins Edmund und Carl Alexander wohnten und Martha häufig zu Gast war. Seit Herbst 1906 war sie mit ihren Kindern 26 27

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Giuseppe Sergi: Principi di psicologia sulla base delle scienze sperimentali. Messina 1873–1874. Martha Marcovaldi half bei der Übersetzung von Emil Kraepelins Lehrbuch Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studirende und Ärzte. (2 Bde., siebente, vollst. überarbeitete Auflage, Leipzig 1904): Trattato di Psichiatria. Bd. 1: Psichiatria generale, Bd. 2: Psichiatria speciale. Hg. v. Augusto Tamburini. Übers. v. Guido Guidi. Milano 1906–1907. Vgl. Bernhard Metz: Übersetzungen, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin 2016, S. 810–825, hier S. 814 u. 821. Vgl. Elisa Montinari: Sergi, Sergio, in: Dizionario biografico degli italiani. Hg. vom Istituto dell’Enciclopedia Italiana, Bd. 92. Roma 2018, S. 111.

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wieder in Berlin,29 um in den »Studienateliers für Malerei und Plastik« von Arthur Lewin-Funcke in der Berliner Kantstraße Malerei zu studieren.30 Am 11. Dezember 1906 wurde Sergio Sergi, obwohl schon Dr. med., in der medizinischen Fakultät der Berliner Universität als Student immatrikuliert,31 mit der Matrikelnummer 3326.32 Kurioserweise wurde er ein Jahr später, am 25. Januar 1908 »wegen Unfleiß«33 aus der Studentenliste gestrichen, was lediglich nahelegt, dass er Ende 1907 oder Anfang 1908 nach Rom zurückgekehrt war und zuvor verabsäumt hatte, sich von der Berliner Universität abzumelden, mit deren Curriculum er nur formal verbunden war. Der Umfang der Veröffentlichungen Sergio Sergis, in denen er die Ergebnisse seines Berliner Aufenthalts auswertet, ist enorm. Man kann daran nachvollziehen, welche Aufgaben er in Berlin zu erledigen hatte. Seine Betreuer an der Universität waren Felix von Luschan (Anthropologie), Wilhelm von Waldeyer (Anatomie) und Theodor Ziehen (Psychiatrie), alle im Hinblick auf Schädel- und Hirnanatomie. Im Museum für Völkerkunde, wo von Luschan die afrikanisch-ozeanische Abteilung leitete,34 erwartete den jungen Sergi die Aufgabe, etwa 100 am Horn von Afrika aufgefundene Schädel auszumessen. Woher genau diese Schädel kamen, kann man in Sergio Sergis Buch Crania Habessinica35 (Abessinische Schädel) nachlesen, wo er aus den Sitzungsberichten der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« zitiert. Es war der Berliner Botaniker und Paläontologe Georg Schweinfurth, der die Schädel 1892 und 1894 aus der 29

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Vgl. Margarete Mauthner: Das verzauberte Haus. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Karl Corino. Berlin 2004, S. 264. Corino zitiert aus dem zweiten, unveröffentlichten Teil der Erinnerungen Margarete Mauthners, die sich auf den Tod von Julius Alexander, Marthas Onkel, am 12. Dezember 1906 beziehen: »Meine Cousine Martha war vor einigen Monaten vorübergehend von Rom nach Berlin übersiedelt [. . .].« Gesine Bey: »So möchte ich mich . . . unter des Prado Schutz stellen«. Über Robert Musils Kunstrezeption, in: Österreichische Literatur. Robert Musil und einiges mehr (= Jahrbuch der Österreich-Bibliothek in St. Petersburg, Bd. 9). Hg. v. Alexander Belobratow. Sankt Petersburg 2011, S. 146–163, hier S. 151. Universitätsarchiv der HUB . Eintrag 3326 im Matrikelbuch 96.–97. Rektorat vom 11. Dezember 1906. Die Immatrikulation erfolgte im Nachhinein für »Michaelis 1906«, also für das WS 1906/07. Vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studierenden der Königlichen FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin auf das Sommerhalbjahr vom 16. April bis 15. August 1907. Berlin 1907, S. 167. Vgl. auch Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studierenden der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin auf das Winterhalbjahr 1907/08 vom 16. Oktober 1907 bis 15. März 1908. Berlin 1907, S. 216. Medizinische Studentenliste, 96.–97. Rektorat, S. 117. – Dank an Sabrina Rübisch vom Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin. Vgl. Marion Melk-Koch: ». . . denn Kuriositäten haben wir nachgerade genug in unseren Sammlungen . . .« Felix von Luschan als Kurator, in: Felix von Luschan (1854–1924). Leben und Wirken eines Universalgelehrten. Hg. v. Ruggendorf u. Hubert D. Szemethy. Wien, Köln, Weimar 2009, S. 81–98. Sergio Sergi: Crania Habessinica. Contributo all'Antropologia dell'Africa Orientale. Roma 1912, [Vorspruch] ohne Seitenangabe.

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italienischen Kolonie Eritrea und aus Abessinien (heute Äthiopien) an Rudolf Virchow geschickt hatte. Am 25. Februar 1892 schrieb Schweinfurth an Virchow: In Folge der zwei Cholera-Jahre und der Hungersnoth sind die von Massaua in Abessinien führenden Wege mit Gräbern dicht besetzt, aber nicht allen diesen Unglücklichen war es vergönnt, im Schutz eines leichten Steinhaufens von den Mühen der Wanderung für immer auszuruhen. Viele verendeten am Wege und andere haben die Hyänen herausgeholt. Das einzige Brauchbare, was diese unglücklichen Existenzen zurückgelassen, die Schädel, habe ich mit Fleiß einsammeln lassen, und ich glaube, dass sie jetzt nachträglich doch noch ihre Mission werden erfüllen können, auferlegt vom Fatum zum Nutz und Frommen unseres Wissens.36

»Mit wenigen Ausnahmen«, fährt Schweinfurth fort, könne man sie den Bewohnern »der nördlichen Provinzen des eigentlichen Abessiniens (Tigre) und der drei von den Italienern okkupierten Provinzen von Hamasen, Okule Kusei und Saraë« zuordnen, denn diese allein bildeten das elende Wanderelement auf den nach Massaua führenden Straßen, das so viele Opfer durch Hunger und Cholera erlitt. Die Bewohner des Tieflandes würden solidere Gräber schon wegen der Nähe ihrer Angehörigen gefunden haben. [. . . ] Unter den 93 Schädeln, die ich gesammelt habe, sind auch 2 oder 3, die vielleicht Europäern (Griechen, Maltesern, Italienern?) angehört haben.37

Zu seinem Fund von 1894 schrieb Schweinfurth am 2. Juni dieses Jahres an Virchow: Meine dritte Erytreische Tour ist nun glücklich vollendet und die verschiedenen Sammlungsergebnisse sind bereits unterwegs nach Berlin, darunter für Sie auch 31 Schädel, die ich unter den Gebeinen von 70 Individuen als besterhaltene ausgelesen habe, in einem Grabe aus altchristlicher Zeit [. . .] auf dem Plateau von Kohaito, zu Koloë, der Sommerfrische der alten Aduliter [. . .].38

Rudolf Virchow starb 1902. Seine Familie übergab die Schädel der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«, dadurch kamen sie zu Felix von Luschan ins Museum für Völkerkunde, wo der Sitz der Gesellschaft war. 36

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[Georg Schweinfurth:] Hr. Schweinfurth berichtet in einem Briefe aus Saati in Abessinien, vom 25. Februar, über seine Reise in die Colonia Eritrea und dort gemachte Sammlungen. (Verhandlungen der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«. Sitzung vom 19. März 1892), in: Zeitschrift für Ethnologie 24 (1892), S. 189 f. Ebd., S. 2. 1907 korrigierte Schweinfurth die Zahl auf ca. 109. Vgl. Sergio Sergi: Crania Habessinica (Anm. 35), S. 5. [Georg Schweinfurth:] Hr. Georg Schweinfurth berichtet in einem Briefe an Hrn. R. Virchow aus Alexandria, 2. Juni, über seine Reise in der Colonia Eritrea und Schädelfunde in Kohaito. (Verhandlungen der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«, Sitzung vom 16. Juni 1894), in: Zeitschrift für Ethnologie 26 (1894), S. 326. – Zitiert auch in Sergio Sergi: Crania Habessinica (Anm. 35), S. 4.

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Eine über 300 Seiten starke Abhandlung Sergio Sergis, Cerebra Hererica39 (Herero-Großhirne), widmete sich seiner Arbeit im Institut für Anatomie. Hier lagen teils vom Jenenser Anthropologen Leonhard Schultze zugeschickte Köpfe von Hereros, einem afrikanischen Hirtenvolk auf dem Gebiet des heutigen Namibia, damals »Deutsch-Südwestafrika« genannt, deren Untersuchung vom Institutsdirektor bereits begonnen worden war. Sergis Abhandlungen über seine Studien in Berlin sind durch ihre Genauigkeit auch ein Zeitdokument. Man erfährt, dass die Sendungen durch die Preußische Akademie der Wissenschaften, die Regierung und durch das deutsche Militär arrangiert wurden. Diese und weitere Schädel und Knochen befinden sich heute in den Depots des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin und belasten die Beziehungen zwischen Deutschland und den afrikanischen Staaten, die einmal deutsche Kolonien waren. Nach jahrelangen Verhandlungen wurden 2018 in einer dritten Gabe 27 Schädel an Namibia zurückgegeben, in einem offiziellen, symbolischen Akt, in dem sich Staatsministerin Michelle Müntefering für das Verbrechen des Völkermords seitens Deutschlands in »Deutsch-Südwestafrika« entschuldigte.40 Im Vorwort zu Sergis Veröffentlichung hatte Wilhelm von Waldeyer geschrieben: Die in der nachfolgenden gründlichen und ausführlichen Arbeit von Dr. Sergio Sergi, Privatdozenten an der Universität Rom, beschriebenen Gehirne sind zum größeren Teil in einer der Königlich Preußischen Akademie eingereichten Mitteilung (11. Januar 1906) von mir beschrieben worden. Damals standen mir 11 Gehirne, 9 von Hereros, 2 von Ovambos zur Verfügung. [. . .] Sie wurden die Veranlassung, mich dann um mehr Material an die Verwaltung der Militärlazarette zu wenden. Es wurde mir auch weiteres Material von denselben Bantuvölkern und anderen in DeutschSüdwestafrika heimischen Stämmen in Aussicht gestellt. [. . .]. Ich kann dem für alle wissenschaftliche Arbeit begeisterten jungen Forscher, der in unermüdlicher Tätigkeit und in gründlichster Weise die übernommene Aufgabe durchgeführt hat, nur meinen vollen Dank aussprechen!41

4. Nach allem, was über Giuseppe Sergi gesagt worden ist, ist es klar, dass man seinen Sohn in Berlin nicht wie einen anonymen Praktikanten empfing. Die »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« nahm Sergio Sergi auf ihrer Sitzung vom 19. Januar 1907 so39 40 41

Sergio Sergi: Cerebra Hererica. Con prefazione del Prof. W. Waldeyer, in: Zoologische und anthropologische Ergebnisse einer Forschungsreise im westlichen und zentralen Südafrika. Hg. v. Leonhard Schultze. Bd. 3. Jena 1909, S. 1–322. Vgl. Daniel Brössler: Bitte um Vergebung. Berlin bekennt sich zu Völkermord an Herero und Nama, in: Süddeutsche Zeitung (30. 8. 2018), S. 6. Prof. Wilhelm von Waldeyer: Prefazione, in: Sergi: Cerebra Hererica (Anm. 39), S. 5 f.

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fort als neues Mitglied auf, sie protokollierte: »Als neue Mitglieder wurden gemeldet: [. . .] 4. Dr. Sergio Sergi, z. Zt. in Berlin.«42 Es muss für Sergi auch private Einladungen gegeben haben. Zwar bleibt es eine Hypothese, doch halte ich es für wahrscheinlich, dass sich Robert Musil und Sergio Sergi seit 1907 kannten. Musil und Sergi hatten in Berlin mit Martha, Carl Stumpf und Erich Moritz von Hornbostel nahe gemeinsame Bekannte. Von Hornbostel wurde im selben Jahr 1907 wie Sergi Mitglied der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«, er saß mit ihm in den gleichen Sitzungen; über Sergi konnte ein Kontakt zu dessen Vater in Rom hergestellt werden. Es scheint mir schwer vorstellbar, dass Musil, da er 1907 Martha bereits kannte, nicht auch Sergio Sergi begegnet sein sollte, zumal man sich 1913 doch schon sehr gut verstand. Eine Gelegenheit zum Kennenlernen boten die Musikabende, die Susanne und Erich Moritz von Hornbostel bei sich zu Hause veranstalteten. Diese hat auch Musil, der mit den Hornbostels befreundet war, im Februar und März 1907 regelmäßig besucht. Musil notierte am 18. März 1907: »Es war recht nett dort gestern. [. . .]. Gesprochen wurde nichts besonderes, aber viel gelacht. – (vorigen Sonntag waren die Lieder des Königs Thibaut und altfranzösische vom ihm gesetzte chansons vorgekommen)« (Tb I, S. 210). Von den frühen Aufzeichnungen Musils sind nicht mehr viele vorhanden. Zwischen den Heften 5, 11 und 15 klafft eine Lücke um die Jahre 1908 und 1910. Karl Corino vermutet, dass einiges von Martha Musil nach dem Tod ihres Mannes 1942 vernichtet wurde; anderes war für Musils Arbeiten schon nicht mehr interessant. Es kann sein, dass Martha ihren Kindern und der Nachwelt aus dieser Zeit nichts überliefern wollte, was Aufschlüsse über intime Daten gab. Wie durch Zufall sind aus der Anfangszeit ihres Kennenlernens mit Robert Musil zwei Dokumente im Nachlass erhalten geblieben: ein Brief Martha Marcovaldis an Musil vom März 1907, in dem sie ihn mit »Sie« anspricht und auffordert, sie abends aus der Kunstschule in der Kantstraße abzuholen, und eine Notiz Musils im Tagebuch vom 11. März 1907, in der er sie erwähnt: »11. III . Montag. [. . .] Dabei fällt mir nun ein, dass ich vorgestern Dr. G. aufsuchte. [. . .] Wie verabredet traf ich auch Martha dort.« (Tb I, S. 210) Das sind die ersten Zeugnisse ihrer Beziehung. Sie stimmen zeitlich mit Musils Selbstauskunft in der Wiener Zeitschrift Die Stunde (30. November 1935) überein: »[A]ls wir uns vor vielen Jahren kennengelernt haben, hatte sie die ganze deutsche Literatur gelesen und von mir noch nicht einmal den Namen gehört.« (GW II, S. 974) Das kann nicht vor dem Winter 1906/07 gewesen sein, da Musil erst zu dieser Zeit mit der Kenntnis seines Namens als Schriftsteller rechnen konnte. Musils 42

Verhandlungen der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«. Sitzung vom 19. Januar 1907, in: Zeitschrift für Ethnologie 39 (1907), Anhang, S. 185.

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erster Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß war im Oktober 1906 erschienen. Zur Zeit des Weihnachtsgeschäfts, am 21. Dezember 1906, wurde er durch den Berliner Kritiker Alfred Kerr in der Zeitung Der Tag rezensiert.43

5. Sergio Sergis Name erscheint in Musils erhalten gebliebenen Notizen nicht vor 1913. Wir sind auf literarische Entwürfe angewiesen, die seine Anwesenheit in Musils Leben vermuten lassen. Vieles weist jedoch darauf hin, dass die Freundschaft Marthas mit Sergi in die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften eingegangen ist. In der Vorstellung Musils entstand wieder eine inspirierende Dreiecksbeziehung, unabhängig davon, wie eng sie zwischen Martha, Musil und Sergi wirklich war. Eine frühere Konstellation einer Dreiecksverbindung war, wie Walter Fanta zu Beginn seines Buches Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften darstellt, die Verbindung zwischen Musil, seinem Jugendfreund Gustav Donath (Gustl) und dessen Frau Alice, geborene Charlemont.44 Gustl und Alice werden die Vorbilder für Walter und Clarisse im Mann ohne Eigenschaften. Nun kam Martha als Vorbild für Ulrichs Schwester Agathe hinzu. In den Fassungen zum Prosafragment Grauauges nebligster Herbst gibt es drei Hauptfiguren: Walther Grauauge, Eugenio Toronto und Bertha Medinger. Grauauge war – so Adolf Frisé in seinem Kommentar, nach Monsieur le vivisecteur und Hugo in den Arbeitsheften, einer der frühen Namen, die Robert Musil sich im Tagebuch gab (vgl. GW II, S. 1761). Hugo, Walther und Bertha sind auch als Figuren aus Ludwig Tiecks Märchen Der blonde Eckbert überliefert, in dem es auch schon eine illegitime Bruder-Schwester-Beziehung gibt. »Der Komplex Grauauges nebligster Herbst«, betonen Elisabeth Albertsen und Karl Corino im Kommentar zu ihrer Edition der zweiten Fassung, 43

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Die frühesten erhaltenen Zeugnisse von Martha im Nachlass Musils datieren vom März 1907. Meinen Recherchen zufolge wurde vor den Kindern das Kennenlernen von Robert Musil im Jahr 1908 in Graal inszeniert wie ein Jahr später, 1909, die Begegnung Marthas mit Musils Eltern im österreichischen Ferienort Lofer. Dem ging die Entscheidung des Paares, eine Familie zu gründen, voraus. Anne F. (d. i. Annina) Rosenthal, geboren 1903, schrieb am 25. März 1956 an Adolf Frisé: »Ich weiß, daß Robert ›uns‹ in einer Ostseesommerfrische kennenlernte. 1908?« (Br II, S. 25). Gaetano Marcovaldi, geboren 1899, schrieb im Sommer 1908 aus Graal Postkarten an den Vater. (ÖNB, Marcovaldi 1038/12–6 bis 12–8). Nach Karl Corino gab es zwei Reisen nach Graal, ihm zufolge fand die Reisebegegnung 1906 statt. Vgl u. a. Karl Corino: Robert Musils Vereinigungen. Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe (= Musil-Studien, Bd. 9). München 1974, S. 44, sowie Corino: Robert Musil. Eine Biographie (Anm. 5), S. 319 ff. Gaetano wäre dann erst sieben Jahre (nicht acht, wie Corino angibt) alt gewesen, konnte noch nicht lesen und schreiben, und Annina drei. Vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 102 ff.

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»ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: 1. biographisch, 2. literarisch, und zwar vor allem durch seine Stellung zwischen den Verwirrungen des Zöglings Törleß, Musils Erstling, und dem Mann ohne Eigenschaften, seinem Hauptwerk.«45 Verfremdend spürt Musil in der Person Grauauge den Empfindlichkeiten der eigenen Lebenssituation nach, wenn er die universitäre Laufbahn zugunsten einer unsicheren oder gar unfruchtbaren literarischen Existenz aufgeben würde. Es ist eine Drohkulisse der sozialen und psychischen Isolation. »Es war der erste Herbst, wo Grauauge nicht arbeitete; qualvoll in einer Weise, die er sich vordem nicht vorgestellt hatte.« (GW II, S. 721) In der Pension, in die er zum Essen kommt, die der Pension nachgebildet ist, in der Musil 1907 mit seinem Studienfreund Johannes von Allesch speiste, hält man Grauauge für einen intellektuellen Schwärmer. Wenn sich Grauauge vom Fenster zurückzieht und ins Zimmer schaut, steht er dem Nichts gegenüber. So sucht er die Freundschaft des jungen Italieners Eugenio Toronto. Von dessen Lebenslust und der Sicherheit seines Auftretens fühlt sich Walther Grauauge angezogen. Einmal beschleicht ihn gegenüber Toronto ein »Handfaßgefühl«, er möchte ihm »in die Tasche schlüpfen und sich mittragen lassen.« (GW II, S. 719; vgl. S. 726 u. 737) Es gibt äußere Ähnlichkeiten zwischen Sergio Sergi und Eugenio Toronto, vor allem, was die Frisur anbetrifft, den dichten Scheitel und die Stirn: Mal ist die Stirn Torontos glatt, mal mit Falten durchzogen, senkrecht beziehungsweise quer, seine »Augen aber lächelten, seine Stirn war glatt unter den gescheitelten, trocken üppigen Haaren« (GW, S. 715; vgl. S. 720), an anderer Stelle: »[. . .] eine kleine alltägliche Ärgerfalte, weil er so redete, saß zwischen seinen Augen« (GW II, S. 725). Das ist fast ein porträthaftes Abbild Sergis. Peter Henningers Interpretation, dass die Toronto-Figur mit verdrängtem homosexuellem Begehren in Verbindung steht, stimme ich zu.46 Die drei Fassungen unterscheiden sich darin, wessen Bekanntschaft Grauauge zuerst macht, die Torontos oder die Bertha Medingers, in deren Lebensumständen man die von Martha Marcovaldi wiedererkennt. »So gingen sie zu Frau Bertha. [. . . ]. ›Sie ist so gut,‹ klagte Toronto, ›ich bin für sie Italien, Rom, wissen Sie, der Süden‹.« (GW II, S. 727) Die Übergänge zwischen Realität und Fiktion sind bei Musil fließend. Es wäre zu einfach, sie als direkte biographische Aussage zu verstehen. Sergio Sergi war nicht 22, sondern 28 Jahre alt, als er nach Berlin kam. Martha war vermögend, sie war nicht darauf angewiesen, Zimmer zu vermieten. Rückschlüsse darauf, ob Sergio ihr Geliebter war, lässt die Quellenlage nicht zu. Sie zog Ende August 1908, als Sergio Sergi nach Rom zurückgekehrt war, mit den Kindern und dem Dienstmädchen Lies45 46

Elisabeth Albertsen, Karl Corino: Kommentar zu Grauauges nebligster Herbst von Robert Musil, in: Studi germanici 5 (1967), H. 2, S. S. 253–271, hier S. 264. Vgl. Peter Henninger: Grauauge selbdritt oder: Musilkritik und Psychoanalyse, in: Philologie und Kritik. Hg. von Wolfgang Freese. München 1981, S. 81–110.

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chen47 in die Schöneberger Martin-Luther-Straße; in der Erzählung ist von einer L-Straße die Rede, was auf die frühestmögliche Datierung der Niederschrift schließen lässt. Musil verschlüsselt viel, gern würde man erfahren, wie symbolisch der Satz aus Grauauges nebligster Herbst zu verstehen wäre, mit dem Eugenio Toronto ein gemeinsames Kartenspiel abbricht: »Endlich legte Toronto die Karten hin und machte dem Spiel ein Ende.« (GW II, S. 726) Wird in der Erzählung eine Dreiecksbeziehung aufgelöst? Beide Skizzen, Grauauges nebligster Herbst, in dem eine homoerotische Anziehung, und Das Land über dem Südpol, in dem ein Verrat thematisiert wird, führt Musil nicht weiter und gibt sie schließlich auf. »Insgesamt«, schreibt Peter Henninger, »erstreckt sich die Arbeit daran über ca. fünf Jahre.«48 Das wäre bis 1913, nach dem Abschluss der Novellen Vereinigungen (1911). Walter Fanta und Klaus Amann urteilen über die zwischenzeitliche Entwicklung, dass »Musil beim Schreiben der Vereinigungen [. . .] sich radikal auf die weibliche Perspektive des sexuellen Begehrens« eingelassen hatte: »An der männlichen Perspektive (einschließlich Homosexualität) verlor er das Interesse, deswegen brach er das Projekt ab.«49 Als Musil im Herbst 1913 mit Martha wieder nach Rom kam, blieb er für etwa drei Monate, während seine Frau zwischen den Städten, zwischen ihren Kindern, pendelte. Die Tochter Annina wurde in Wien betreut, während der Sohn Gaetano 1911 zum Vater nach Rom zurückgekehrt war und möglicherweise jetzt ihre Hilfe brauchte. Dass die Reise noch einmal längerfristig mit den alten Scheidungsangelegenheiten zu tun gehabt haben könnte, ist fraglich, da sie jetzt schon zwei Jahre miteinander verheiratet waren. Musil war von seiner Arbeit als Bibliothekar an der Wiener Technischen Hochschule auf Grund nervöser Herzstörungen beurlaubt worden, doch der Aufenthalt in Rom sollte sich für seine literarische Arbeit als sehr fruchtbar erweisen. Es entstanden der Essay Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes, das Prosastück Das Fliegenpapier,50 erzählerische ›Bilder‹, die er später für das Buch Nachlaß zu Lebzeiten zusammenstellte, nicht zuletzt Ideen für den geplanten großen Roman. Seine römischen Aufzeichnungen im Arbeitsheft von 1913 konzentrieren sich auf die Besuche in den medizinischen und wissenschaftlichen Einrichtungen und auf die Mitglieder der Familie Sergi. Musil Arbeitsheft ist, was Rom anbetrifft, sparsam datiert: Ende September – 2. Oktober – Mitte Oktober – Gegen Ende November. Es vermittelt 47 48 49 50

Lieschen, von der bisher nur der Vorname bekannt ist, war ein Dienst- oder Kindermädchen, das Martha Marcovaldi aus Italien mitbrachte, die aber vermutlich aus Deutschland kam. Sie begleitete Martha und die Kinder auch 1907 in die Ferien nach Lavarone. Henninger: Grauauge selbdritt (Anm. 46), S. 89. Walter Fanta, Klaus Amann: Nachwort, in: GA 12, S. 547–582, hier S. 552. Erstveröffentlicht unter dem Titel Römischer Sommer (Aus einem Tagebuch) in der Zeitschrift Die Argonauten im Januar 1914.

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den Eindruck eines Erinnerungsberichts oder schon einer Folge von Skizzen. Atmosphärisch schildert er seinen Besuch mit Sergio Sergi im Institut im ehemaligen Jesuitenkloster Collegio Romano, wobei er in der äußeren Beschreibung Sergis wieder, ähnlich wie bei Toronto, auf Merkmale der Physiognomie (Kopf, Scheitel, Stirn) zu sprechen kommt. Rom: Nächtlicher Besuch im Anthropologischen Institut. Wir müssen rasch durch die Tür ins Dunkle, weil sonst das Läutwerk beim Portier losgeht. [. . .] Lange Halle, beiderseits die ganzen Wände voll Totenschädeln in Schränken. Die Totenschädel wirken bloß als wissenschaftliche Präparate, aber oben auf den Schränken stehen kolorierte Wachsabgüsse, Büsten, verschiedener primitiver Völker, vom lebenden Menschen genommen; diese wirken mit ihrem sprechenden Ausdruck sehr unheimlich. (Tb I, S. 276)

Durch den breiten Korridor gelangen sie ins Innere des mittelalterlichen Gebäudes. Sergis Arbeitszimmer: Ehemalige Jesuitenzelle, ungefähr quadratisch, Fenster auf den stillen Hof, ein Kappengewölbe als Decke. Beim Fenster der Tisch zum Mikroskopieren mit vielen Chemikalien in Fläschchen. Ein Schrank mit ungezählten kleinen Laden, die kleine weiße Porzellanknöpfe haben und Hirnschnittpräparate enthalten. Ein kostbares großes Mikrotom, ein kleineres. Mikroskope. Ein Kanarienvogel. Sergi51 arbeitet ca. 14 Stunden täglich, steht um sechs Uhr auf. Hat sehr viel publiziert. Sieht aus wie ein fescher junger römischer Droschkenkutscher, hat aber eine sehr durcharbeitete schönhäßliche Stirn; mit sehr vielen langen scharfen Querfalten. Seelisch scheint er wie ein Siebzehnjähriger zu sein. Von seiner Wissenschaft geht nicht das Kleinste in sein Leben über, charakterisiert ihn als Menschen nicht das Geringste. Er ist naiv wie ein heiterer Mönch. Überhaupt ist Wissenschaft eine moderne Analogiebildung zum Mönchtum. Selbst bei seinem Forschungsgebiet ganz naheliegenden Lebensfragen findet er keine Verbindung. Er sagt: ich fühle manchmal, daß ich sizilianischer Rasse bin. Meine Vernunft gibt der Frau Freiheit, aber mein Gefühl erträgt es nicht. Er versteht nicht, daß das kein Instinkt ist. Sein Vater, der Freidenker, der Anarchist sagt: Die Frau gehört für die Kinder. Sobald sie Mutter ist, muß sie auf ihr eigenes Leben verzichten. (Giuseppe heißt er u. scheint eine Art Wilhelm Wundt zu sein). (Tb I, S. 276 f.)

Musil konstatiert einen Kontrast zwischen dem beeindruckenden wissenschaftlichen Niveau der Sergis und ihren überkommenen Ansichten in ihrer Lebensweise. Möglicherweise geschieht hier schon ein Übergang zur Fiktion. Das Provinzielle besteht darin, dass der Vater in der Familie eine starke Autorität ausübt, wie auch in der Wissenschaft. Die Mutter, schreibt Musil, sei streng religiös, was von der Familie respektiert, aber nicht geteilt wird. Frauenbekanntschaften stellen die erwachsenen Söhne zu Hause nicht vor. Man sollte den Eindruck, den Sergis Labor auf den Ingenieur Musil macht, nicht unterschätzen. Hatte Musil einst einen Variationskreisel für Farbwahr51

Musil gibt hier nur den Nachnamen Sergi an. Es handelt sich eindeutig um Sergio Sergi, der im Anthropologischen Institut im Collegio Romano ein Arbeitszimmer für seine Forschungen besaß. Frisé (vgl. Tb II, S. 168) und Corino (Corino: Robert Musil. Eine Biographie. [Anm. 5],

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nehmungen konstruiert, so entdeckt er hier von Sergi konstruierte Apparate zur Schädelmessung. Nach seiner Rückkehr aus Rom notierte er im Arbeitsheft eine Beschreibung des Kopfes von Walter Rathenau, dem Vorbild einer der wichtigsten Figuren im Mann ohne Eigenschaften: »11. Jänner [1914]: Dr. W. Rathenau: [. . .] Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches. Stirn und vorderes Schädeldach bilden ein Kugelsegment, dann steigt der Schädel – hinter einer kleinen Senkung, einem Stoß – rückwärts empor. Die Linie Kinnspitze – weitestes Hinten des Schädels steht beinahe unter 45° zur Horizontalen« (Tb I, S. 295). Bei dieser Adaption von Wissenschaftssprache, wenn sie ihr denn überhaupt entspricht, entstehen andere Assoziationen (Phönizier, Handelsvolk, internationaler Geschäftsmann). Musil wird sie für Diotimas Figurenperspektive verwenden, als sie ihren Eindruck von Arnheim reflektiert: »Sie bemerkte, daß er [. . .] ein vornehm bedachter Mann von phönikisch-antikem Typus war« (MoE, S. 109), und für Ulrichs Wahrnehmung von Arnheims »phönikisch harte[m] Herrenkaufmannsschädel« (MoE, S. 178). Musils Skizze über das Anthropologische Institut folgt im Arbeitsheft 7 ein Entwurf über den Besuch im Manicomio an der Via della Lungara, den er dann im Mann ohne Eigenschaften auf Wien und die Figurengruppe um Ulrich, Clarisse, ihren Bruder Siegmund und General Stumm von Bordwehr überträgt. Karl Corino verweist auf Ähnlichkeiten mit Alfred Kerrs Tagebuch-Bericht über den Besuch in einem Berliner Krankenhaus, der zwar erst 1928 in Kerrs Sammlung Es sei wie es wolle, es war doch so schön! 52 veröffentlicht wurde, von dem er aber Musil früher erzählt haben könnte.53 Klar ist, dass Sergio Sergi ein Modell für den Psychiater in der Wiener Klinik wurde. Jetzt wird die Anziehungskraft des Modells von einer distanzierenden Ironie gebrochen. Über den Psychiater im Mann ohne Eigenschaften schreibt Musil einmal: »Dr. Friedenthal war ein großer, schlanker und etwas weichlich gebauter Mann, hatte einen üppigen Scheitel und lächelte bei der Vorstellung wie ein Akrobat, der die Leiter hinaufsteigt, einen Todessprung vorzuführen« (MoE, S. 979). Das Dämonische und den Figurennamen Dr. Friedenthal könnte Musil dagegen von dem Berliner Physiologen Hans Friedenthal (1870–1943), der während seines Studiums an der Berliner Universität über »Die Naturgeschichte des Menschen« lehrte und später Forscher an Magnus Hirschfelds Berliner Institut für Sexualwissenschaft wurde, übernommen haben.54 In Der Spion (1919/1920), einem Entwurf zum Mann ohne Eigenschaften, gibt es einen jungen Psychiater Dr. Hans Danner, der noch an Sergio Sergi er-

52 53 54

S. 445) geben irrtümlich seinen Bruder Quirino Sergi an. Wolfgang Schraml schließt auf Giuseppe Sergi, der aber im Text als der Vater Sergis erwähnt wird (vgl. Schraml: Relativismus und Anthropologie [Anm. 2], S. 83 f.). Alfred Kerr: Irre, in: ders.: »Es sei wie es wolle, es war doch so schön!« Berlin 1928, S. 357–363. Vgl. Corino: Robert Musil. Eine Biographie (Anm. 5), S. 445. https://www.hirschfeld.in-berlin.de/institut/de/personen/pers_13.html (aufgerufen am 7. 2. 2022).

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innert. Er ist ein Freund Alexander Unrods, einer autobiographischen Figur, Vorform von Ulrich im Mann ohne Eigenschaften. An der Figur des Dr. Danner kann noch einmal demonstriert werden, wie Musil es verstand, Biographie und Fiktion, Imagination und Erfahrung miteinander zu verflechten: Auf der psychiatrischen Klinik der Universität befand sich ein Mann in Beobachtung, den sie Franz hießen. [. . .] Als Dr. Danner auf dem letzten abendlichen Inspektionsgang durch Moosbruggers Zimmer kam, trat dieser vor ihn hin und bat ihn militärisch stramm um Auskunft, wer der vornehme fremde Herr gewesen sei, der ihn besucht hatte. Hans v. Danner, der jüngste Assistent an der Klinik, war ein Freund Alexander Unrods. Er war ein langer, weicher Mensch, Protektionskind, Sohn des Astronomen Danner (der mit Alexanders Vater mehrere Jahre an der gleichen Universität gelehrt hatte), ein etwas unbestimmter Kopf, modisch, klagte gern über sein Fach, erklärte die heute herrschende klassifikatorische Methode der Psychiatrie für ekelerregend unexakt und schwärmte bloß für hirnanatomische Untersuchungen. Er war ein wenig lächerlich in dieser Art, gerade dadurch aber, daß er sich selbst in dem wissenschaftlichen Betrieb um sich unbefriedigt fühlte, der einzige, der Moosbrugger ein – wenn auch affektiertes – menschliches Interesse entgegenbrachte. (GA 6, S. 9 u. 12)

Die Bezüge passen. Beide, Sergio Sergi wie Robert Musil, waren Professorensöhne. Musils Vater Alfred lehrte an der Technischen Hochschule Brünn, Sergis Vater Giuseppe an der Universität Sapienza in Rom. In seinem 1914 erschienenen Aufsatz Über die Morphologie und Symmetrie des Lobos frontalis beim Menschen hatte Sergio Sergi geschrieben: »Seit geraumer Zeit habe ich ein ganz besonderes Augenmerk auf die morphologische Erscheinung der sogenannten Segmentierung der Hirnfurchen gerichtet, [. . .]. Die Segmente sind die kleinsten Teile, in welche Furchen zerlegt werden können und, wie ich bereits nachgewiesen habe, stellen sie die morphologischen erzeugenden Einheiten derselben dar, weshalb ich sie Elemente nannte . . . .«55 Dieser Aufsatz ist, obwohl Sergi das Deutsche nicht fließend beherrschte,56 in einer so schönen Sprache verfasst, als hätte ihr Musil den letzten Schliff gegeben. Zumindest Martha, der langjährigen Freundin, könnte Sergi sein Manuskript zur Überarbeitung überlassen haben und durch ihre Vermittlung dann auch Musil. Dafür sprechen einige im Text vorkommende Wortverbindungen, wie sie der frühe Musil (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Beiträge zur Beurteilung der Lehren Machs) mehrfach gebraucht, darunter die Wendung »seit geraumer Zeit«. Eine bis ins Jahr 1907 zurückreichende Bekanntschaft mit Sergi würde erklären, warum sich Musil schon vor seinem Besuch in Rom 1913 mit Hirnphysiologie beschäftigte. Der Erzähler im Essay Über Robert Musils Bücher 55 56

Sergio Sergi: Über die Morphologie und Symmetrie des Lobos frontalis beim Menschen, in: Zeitschrift für Morphologe und Anthropologie 17 (1914), H. 1, S. 117–134. Das geht aus der Schreibweise der in Crania Habessinica wiedergegebenen deutschen Zitate hervor.

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wandert durch sein eigenes Hirn, überspringt Furchen, spricht von den Elementen geistiger Arbeit: »Die Frage [. . .], ob ein Kunstwerk aus Schwäche seines Urhebers dunkel ist oder aus Schwäche des Lesers diesem dunkel erscheint, ließe sich erproben. Man müßte die geistigen Elemente, aus denen es sich aufbaut, einzeln herauslösen. Die entscheidenden dieser Elemente sind – trotz eines bequemen Vorurteils der Dichter – Gedanken.« (GW II, S. 999 f.) Während es sich in der Skizze »Blätter aus dem Nachtbuche des Monsieur le vivisecteur« (1899?) noch um die Zergliederung der Seele handelt, übernimmt Musil in seinem Essay Begriffe aus Sergis Arbeitsgebiet für die Anwendung in der Literaturanalyse, etwa die Herauslösung (Segmentierung) von Elementen oder die Untersuchung der Teile. Der Essay erschien im Januar 1913 in Franz Bleis Zeitschrift Der Lose Vogel, Monate vor dem erneuten Besuch von Robert und Martha Musil in Rom. Durch viele Textvergleiche wurde in der Musil-Forschung bisher deutlich gemacht, dass Musil sich Anregungen aus der Wissenschaft holte und dann mit den Möglichkeiten der Literatur experimentierte. Musil bezog auch die Disziplinen der Psychiatrie und der Neurophysiologie mit in seine Überlegungen ein.57 Die Gespräche, die er mit Sergio Sergi führte, trugen dazu bei. Sie gingen in den Kontext des Romans ein, sie beeinflussten die Darstellung der Figuren und verstärkten die Bezüge zu sozialen und geschichtlichen Entwicklungen.

6. 1988 veröffentlichte Karl Corino in seinem Bildband erstmals ein Foto von Sergio Sergi im Kreis seiner Eltern und Geschwister,58 das zu Anfang der 1920er Jahre entstanden sein kann. Auffällig ist Sergio Sergis dunkles, volles, gescheiteltes Haar. Die Frau an seiner Seite, Maria Genna, eine Kollegin und frühere Assistentin seines Vaters, heiratete er 1926. 1913, zur Zeit von Musils Besuch in Rom, war er Oberarzt im Manicomio und zugleich Privatdozent für Anthropologie an der römischen Universität, seit seiner Rückkehr aus Berlin 1908 besaß er die Lehrbefugnis an der Universität. Er unterrichtete Studenten der Naturwissenschaft, berührte aber auch soziale Aspekte. So behandelte sein 1911/12 abgehaltener Kurs »Die Frau in ihren physischen und sozialen Eigenschaften« thematisch die körperliche und psychische Entwicklung der Frau, ihre Lebensalter, Sitten und Gebräuche. In seinen Forschungsveröffentlichungen konzentrierte er sich nun auf die fossile Schädelkunde.59 1916 57 58 59

Vgl. Yvonne Wübben: Psychiatrie, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 27), S. 524–531. Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 200. Vgl. u. a. Sergio Sergi: Antropologia laziale. Roma 1933; ders.: Studio comparativo di crani fossili umani. Londra e Parigi, 12 settembre–20 ottobre 1931. Roma 1933.

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übernahm er an der Sapienza den Lehrstuhl seines Vaters am Institut für Anthropologie. Als Universitätsprofessor trat er für ein einheitliches Menschenbild ein, machte keine Rangunterschiede zwischen Ethnien. Er gab Kurse für Lehrer an der von Maria Montessori und Giuseppe Montesano gegründeten Modellschule für geistig behinderte Kinder. Musils These von der Naivität eines in seiner Klause isolierten Wissenschaftlers bestätigte sich also nicht. Sergis Biographin Elsa Montinari schreibt im Dizionario biografico degli italiani: »In den Jahren des Faschismus setzte er sich für wissenschaftliche und methodologische Strenge ein, um den Vereinfachungen und Instrumentalisierungen durch die faschistische Ideologie entgegenzuwirken.«60 Davon zeuge auch die Rivista di antropologia, die Sergi in jenen Jahren herausgab, sie hob sich gegenüber anderen Zeitschriften ab. »In der Zeit der ›Rassengesetze‹61 von 1938 weigerte sich Sergi [. . .], Personalbögen ausfüllen zu lassen, in denen Angestellte des öffentlichen Dienstes ihre Zugehörigkeit zur ›jüdischen Rasse‹ anzugeben hatten.«62 Was hätte es für das Gewicht des pseudowissenschaftlichen, von Mussolini angeregten »Rassenmanifestes« (»Manifesto della razza«) vom Juli 1938 bedeutet, wenn der Direktor des Anthropologischen Instituts der wichtigsten Universität des Landes es unterschrieben hätte! Er tat es nicht. Es widersprach seinen eigenen Auffassungen. Als die Deutsche Wehrmacht 1943 Rom besetzte, holte er zwei Schädel von Neandertalern, die berühmten »Saccopastore«,63 aus seinem Institut und versteckte sie unter dem Altar einer Kirche im Stadtteil Trastevere. Man kann sie heute im nach seinem Vater benannten Museo di Antropologia »Giuseppe Sergi« in der Universität Sapienza in Rom besichtigen. 1953 wurde Sergio Sergi pensioniert. Er hielt bis 1964 weiterhin Kurse an der Sapienza ab, eröffnete wissenschaftliche Kongresse und blieb wissenschaftlich tätig. Am 22. Juni 1972 starb Sergio Sergi im Alter von 94 Jahren in Rom.

60 61

62 63

Elisa Montinari: Sergi, Sergio (Anm. 28), S. 112 (Übersetzung G. B.). Die italienischen »Rassengesetze« von 1938 hoben die rechtliche Gleichstellung der italienischen Juden auf, die seit 1870 galt. Als einer der Gründe ihres Erlasses wird die politische Anpassung an das Deutsche Reich und dessen 1935 in Kraft getretene Nürnberger Gesetze angesehen. Sie galten bis zum 20. Januar 1944. Betroffene konnten ihre Arbeitsstelle, nach der deutschen Besatzung ihr Leben verlieren. Elisa Montinari: Sergi, Sergio (Anm. 28), S. 112 (Übersetzung G. B.). Saccopastore ist der Name der Fundstätte der beiden Schädel (1929 und 1935) in der Nähe von Rom.

Luzius Keller

Prousts Titel Der Titel. Wer liest, liest ihn als Erstes, wer schreibt, findet ihn oft als Letztes, wer liest und schreibt, nämlich der Übersetzer, hat mit ihm oft von Anfang an und oft auch bis ans Ende seine liebe Mühe. Dafür sind auch Prousts Titel ein Beispiel. Prousts Erstling Les Plaisirs et les jours ist 1896 erschienen. Der luxuriös aufgemachte Band enthält neben Erzählungen, Prosastücken, Aphorismen und Gedichten Illustrationen der Malerin Madeleine Lemaire sowie Kompositionen von Reynaldo Hahn, nämlich die Klavierbegleitung zu vier Gedichten Prousts. Die Idee, das Buch als eine Art Gesamtkunstwerk en miniature zu gestalten, entstand wohl während eines Aufenthaltes von Proust und Hahn auf dem Landsitz von Madeleine Lemaire, dem Château de Réveillon. So lautet denn der ursprüngliche Titel Château de Réveillon. Erst auf den Druckfahnen ändert Proust den Titel in Les Plaisirs et les jours. Er ersetzt einen mondänen durch einen literarischen Ort, einen biographischen durch einen intertextuellen Bezug, Bezug nämlich auf Hesiods Epos Erga kai hemerai, Werke und Tage, in dem der Mythos von den Weltzeitaltern den Niedergang der Welt veranschaulicht. Vorbereitet im 18. Jahrhundert durch Montesquieus Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) und Gibbons History of the decline and fall of the Roman empire (1776), dann im 19. Jahrhundert mit Coutures Monumentalgemälde im Musée d’Orsay Les Romains de la décadence (1847), später mit Bourgets »Théorie de la décadence« (1883) oder mit Nietzsches Der Fall Wagner (1888) wurde décadence, Dekadenz oder Dekadentismus zur Bezeichnung der auch Fin de siècle genannten Epoche. In dieser situiert Proust – kritisch, ironisch, satirisch – sein Jugendwerk: Nicht etwa les travaux, sondern ironisch les plaisirs et les jours. In der Übersetzung von Ernst Weiß (1926) lautet der Titel – in Anlehnung an journées de lecture, einen Titel aus Prousts Pastiches et mélanges (1919) – Tage der Freuden, in der Frankfurter Ausgabe (1988) – in Anlehnung an Hesiod – Freuden und Tage. Ein intertextueller Bezug prägt auch die Titel einzelner Teile: La mort de Baldassare Silvande (Tolstoi), La confession d’une jeune fille (Augustin), Personnages de la comédie mondaine (klassische Komödie, Balzac). Die Prosagedichte hatte Proust im Manuskript unter dem Titel Fragments sur la musique, la tristesse et la mer versammelt; dann aber korrigiert er und setzt Les Regrets. Rêveries couleur du temps, einen Titel wiederum voller intertextueller Bezüge – auf Du Bellays Regrets, auf all die Rêveries, die Träumereien seit der Frühromantik und

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als Farbtupfer ein Modewort des Fin de siècle: couleur du temps (blau-grauchangierend). Modische Farbtupfer sind auch einige Titel von Prousts Prosastücken. So stehen zwei Porträts mondäner Damen unter dem Titel Cires perdues, Anspielung auf das »Wachsausschmelzverfahren« oder »Gießverfahren mit verlorenem Modell«, mit »verlorenen Formen«. Ich nehme nicht an, dass die Damen, die sich möglicherweise einbildeten, Proust Modell gesessen zu haben, den raffinierten Titel durchschauten. Der erste Übersetzer tat es auch nicht. Er setzt Verlorene Weihekerzen. In der Frankfurter Ausgabe steht: Verlorene Formen. Auch Présence réelle, Titel eines der Prosagedichte, meint nicht einfach, wie Weiß übersetzt, Wahre Gegenwart, sondern – in Anspielung auf die Realpräsenz Christi beim Abendmahl – Leibhaftige Gegenwart. Zwischen Prousts Erstling Les Plaisirs et les jours (1896) und seinem zweiten Buch Du côté de chez Swann (1913) liegen siebzehn Jahre. In dieser Zeit hat Proust zwar pausenlos geschrieben, aber nur wenig publiziert. Geschrieben hat er Entwürfe zu einem Roman (Jean Santeuil); zu kunstkritischen Essays (über Chardin, Watteau, Rembrandt, Monet, Moreau); Literaturkritisches über Sainte-Beuve, Balzac, Baudelaire; ein Buch, das er im Sommer 1909 dem Verlag Mercure de France mit dem vorläufigen Titel Contre Sainte-Beuve. Souvenirs d’une matinée anbietet und das, wie er dem Verleger schreibt, »eigentlich ein Roman ist, und zwar ein höchst unzüchtiger«. Der Verlag lehnt ab. Ebenso, etwas später, Le Figaro. Doch aus dem Sainte-Beuve-Projekt ist in den folgenden Jahren die Recherche entstanden. Publiziert hat Proust in diesen Jahren einige Buchbesprechungen, einiges über Ruskin, u. a. zwei ausführlich kommentierte Übersetzungen: 1904 La Bible d’Amiens und 1906 Sésame et les lys; dann einiges in Le Figaro: Salonchroniken (1903–1904), mehrere Artikel, die Pastiches (1908–1909), schließlich die ersten vier Vorabdrucke aus der Recherche (1912–1913). Prousts Suche nach dem passenden Titel zeigt sich besonders deutlich in den für Le Figaro geschriebenen Arbeiten: Pèlerinages ruskiniens en France (1900 – kurz nach Ruskins Tod), La Cour aux lilas et l’atelier des roses: Le Salon de Mme Madeleine Lemaire (1903 – Hommage an die Blumenmalerin), Le Salon de la princesse Edmond de Polignac: Musique d’aujourd’hui, échos d’autrefois (1903 – Hommage an die melomane Gastgeberin), La Mort des cathédrales: Une conséquence du projet Briand sur la Séparation (1904 – im Vorfeld der Abstimmung über die Trennung von Kirche und Staat), Sentiments filiaux d’un parricide (1907 – im Zusammenhang mit der Wahnsinnstat eines Bekannten, der seine Mutter und sich selbst erschossen hat). Der letztgenannte Titel ist auch eine übersetzerische Knacknuss. In der Frankfurter Ausgabe steht Sohnesgefühle eines Muttermörders. Auch der Titel des ersten, am 21. März 1912 in Le Figaro erschienenen Vorabdrucks aus Prousts Roman gab und gibt einiges zu knacken. Prousts Titel lautete: Épines blanches, épines roses, und der Artikel begann mit einem Ingress, den ich übersetze: »Im Zusammenhang mit diesem vergleichsweise milden Winter las ich neulich, es

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habe in früheren Jahrhunderten Winter gegeben, da schon im Februar der Weißdorn blühte. Mein Herz klopfte bei diesem Namen, dem Namen meiner ersten Liebe zu einer Blume.« Im Hinblick auf das Erscheinungsdatum erlaubte sich die Redaktion von Le Figaro, Prousts Titel einen Haupttitel voranzustellen (Au seuil du printemps) und im Ingress nach »Winter« im ersten Satz hinzuzufügen: »der heute zu Ende geht«. Proust war entsetzt. Gleichentags schrieb er an Robert de Montesquiou: »Mein Artikel im Figaro ist erschienen. Ohne mich in Kenntnis zu setzen, meinte man, der Aktualisierung halber einen Titel und einen Satz hinzufügen zu müssen, die mich zur Verzweiflung bringen.« Und an Jean-Louis Vaudoyer: »Von unbekannter Hand wurde der schändliche Titel au Seuil du Printemps und ein absurder Satz hinzugefügt.« Dass auch ein botanisches Problem vorliegt, nämlich die häufige Verwechslung von Schwarz- und Weißdorn, hat Proust wohl nicht realisiert. Was möglicherweise schon im Februar blüht, ist Schwarz- oder Schlehdorn (prunellier), während in Prousts Artikel von dem im Mai blühenden Weißdorn (aubépine) die Rede ist: »C’est au mois de Marie que je vis, ou remarquai, pour la première fois, des aubépines.« Christina Viragh und Hanno Helbling, die den Artikel übertragen haben, setzen als Titel Weißer und rosa Schlehdorn und lassen den Strauch sowohl im Februar als auch zur Zeit der Marienandacht, das heißt im Mai, erblühen. Wie soll der Übersetzer mit dem botanischen Problem umgehen? Zwar liebe ich sowohl den weiß- als auch den rosablühenden Schlehdorn, würde aber – auch im Hinblick auf die Recherche – aubépine immer mit Weißdorn übersetzen und diesen auch, wie Proust es tut, botanisch zwar unwahrscheinlich im Februar erblühen lassen. Auch im Titel würde ich mich wie Proust auf die épines, den Dorn beschränken: Weiß- und rosablühender Dorn. Als Proust im Herbst 1912 seinen Roman vergeblich den Verlagen Fasquelle und Nouvelle Revue Française anbietet, liegt ein erster Teil im Typoskript vor, während am Typoskript des zweiten Teiles gearbeitet wird. Am liebsten würde Proust zwei Bände, Band I und Band II, unter einem Haupttitel publizieren, Verleger aber dringen auf Einzeltitel. So entschließt sich Proust für das Diptychon Le Temps perdu und Le Temps retrouvé und für den Haupttitel Les Intermittences du cœur. In dieser Form übernimmt der Verlag Grasset im Frühjahr 1913 Prousts Projekt und beginnt mit der Herstellung der Druckfahnen. Schon im Mai aber muss Grasset feststellen, dass das unterdessen auf 712 Seiten angewachsene Typoskript von Le Temps perdu nicht in einem einzigen Band unterzubringen ist und dass für den ganzen Roman drei Bände vorzusehen sind. Das bedeutet aber, dass neue Titel gefunden werden müssen. Prousts Korrekturen auf den Druckfahnen, die in der Bibliotheca Bodmeriana in Cologny bei Genf aufbewahrt werden, sind auch leicht auf den Bildschirm zu zaubern (https://fondationbodmer.ch). Für den ersten Band versucht es Proust zuerst mit Charles Swann, setzt dann aber Du côté de chez Swann. Louis de Robert, dem Proust nach der Korrektur

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der Fahnen Mitte Juni einen ersten Korrekturabzug zukommen lässt, kann sich mit diesem in seinen Augen zu wenig poetischen Titel nicht anfreunden. Proust reagiert mit einer Frage: »Finden Sie, was den Titel betrifft, Le Rouge et le Noir, La Connaissance de l’Est, Les Nourritures terrestres, L’Annonce faite à Marie, seien poetische Titel?« Die Antwort de Roberts lautet: »Zur Frage der Titel: L’Annonce à Marie ist ein hübscher Titel und Le Rouge et le Noir lässt sich mit Du côté de chez Swann überhaupt nicht vergleichen. Einfach unfassbar! Derart unbedeutend! Schlagen Sie Ihr Buch irgendwo auf und wählen Sie den erstbesten Satz. Doch lassen Sie Du côté de chez Swann nicht stehen!« In einem etwas späteren Brief wird Proust ausführlicher: Wie glücklich wäre ich doch, wenn Sie einen Titel für mich sähen! Ich möchte aber einen ganz einfachen, ganz grauen Titel. [. . .] Doch ich verstehe immer noch nicht, weshalb der Name jenes kleinen Wegs, den man »die Gegend von Swann« nannte, mit seiner erdhaften Wirklichkeit, seiner lokalen Wahrheit nicht ebenso viel Poesie enthält wie irgendwelche abstrakten und blumigen Titel. Wenn Sie meinen ersten Teil gelesen haben, konnten Sie sehen, dass es um Combray herum zwei Gegenden gab, die Gegend von Méséglise-La-Vineuse und die Gegend von Guermantes, und dass man die erste die Gegend von Swann nannte. Und diese beiden Gegenden erhalten eine Bedeutung für mein inneres Leben. Weil nun außerdem der ganze Band in der Gegend von Swann spielt, fand ich diesen Titel bescheiden, wirklichkeitsnah, grau, farblos – wie ein Acker, woraus sich die Poesie erheben konnte.

Das tut sie auch tatsächlich. Als Titel der zwei folgenden Bände sind Le Côté de Guermantes und Le Temps retrouvé vorgesehen. Der neue Haupttitel lautet À la recherche du temps perdu. Wie den Titel seines Erstlings findet so Proust den Titel seines Opus Magnum erst bei der Korrektur der Druckfahnen. Es ist wiederum ein Titel voller intertextueller Bezüge. Es klingen zwei Titel Balzacs an: La Recherche de l’absolu und Illusions perdues, die für Proust, wie er in einem Entwurf über Balzac schreibt, voller »poetischer Philosophie« sind. Das ist auch Prousts neuer Haupttitel – im gewiss gewollten Gegensatz zu dem wirklichkeitsnahen, grauen, farblosen Titel des ersten Bandes. Doch während der Kriegsjahre wird alles noch einmal anders: Proust erweitert seinen Roman auf das Doppelte, so dass er 1919 seinem neuen Verleger Gaston Gallimard À la recherche du temps perdu in fünf Bänden in Aussicht stellt: Du côté de chez Swann, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Le Côté de Guermantes, Sodome et Gomorrhe (I), Sodome et Gomorrhe (II) – Le Temps retrouvé. Zu diesem Zeitpunkt liegt zwar ein einigermaßen abgeschlossenes Manuskript vor, das von Sodome et Gomorrhe bis zum Schluss führt, doch Proust hat bis zu seinem Tod daran weitergearbeitet. Nach dem im April 1922 erschienenen Band Sodome et Gomorrhe II macht sich Proust an die Überarbeitung des Typoskripts der Albertine-Teile. Am liebsten hätte er diese sowie die folgenden Bände bis zur Schlussszene als weitere Teile von Sodome et Gomorrhe betitelt (III, IV, V . . .), Gallimard aber verlangt für jeden Band einen eigenen Titel. Man einigt sich auf La Prisonnière und La Fugitive, muss dann

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aber wegen des eben erschienenen Bandes von Rabindranath Tagore (La Fugitive) auf diesen Titel verzichten. Zwei Wochen vor seinem Tod überlässt Proust seinem Verleger ein nur lückenhaft überarbeitetes Typoskript mit dem Titel La Prisonnière (1re partie de Sodome et Gomorrhe III ). La Prisonnière (Sodome et Gomorrhe III) erscheint 1923, Albertine disparue 1925, Le Temps retrouvé 1927. Albertine disparue, der letzte von Proust gesetzte Titel findet sich nur in dem von Proust bis zu seinem Tod überarbeiteten, radikal verkürzten Typoskript: »Ici commence Albertine disparue, suite du roman précédent la prisonnière.« Als nach Prousts Tod sein Bruder dieses Dokument entdeckte, hat er dem Verlag wohl den Titel bekannt gegeben, das Dokument selbst aber verschwinden lassen und der von ihm vorbereiteten Ausgabe das unbearbeitete Typoskript zugrunde gelegt. Niemand sollte erfahren, dass in der Fassung letzter Hand die Recherche ein unvollendetes Werk ist. Erfahren hat man es aber trotzdem, als nämlich 1987 Nathalie Mauriac Dyer, die Urenkelin von Prousts Bruder, das soeben wiederentdeckte Dokument bei Grasset veröffentlichte. Seither bezeichnet man das bearbeitete Typoskript auch als dactylographie Mauriac. Von seinen in andere Sprachen übersetzten Titeln hat sich Proust einzig zu Remembrance of Things Past und Swann’s Way, erschienen im September 1922, geäußert. Anfang Oktober bedankt er sich beim Übersetzer Charles Scott-Moncrieff, allerdings nicht ohne im Hinblick auf den Haupttitel hinzuzufügen: »à la recherche du temps perdu heißt überhaupt nicht das« und im Hinblick auf Swann: »Swann’s Way kann Du côte de chez Swann bedeuten, aber ebenso gut Swanns Art. Mit einem hinzugefügten to hätten Sie alles gerettet.« Proust denkt wohl an »The Way to Swann«. Diesen »Weg« wählt etwas später der erste deutsche Übersetzer Rudolf Schottlaender mit Der Weg zu Swann, dem ersten Band von Auf den Spuren der verlorenen Zeit, erschienen 1926 im Berliner Verlag Die Schmiede. Weder der Band- noch der Haupttitel sollten Bestand haben. In der 1953 erschienenen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens lauten die beiden Titel In Swanns Welt und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Den Haupttitel wollte seither niemand verändern, doch schon bei der Revision der RechelMertens’schen Übersetzung für die Frankfurter Ausgabe wurde der Titel des ersten Bandes in Frage gestellt: Spielt der Roman wirklich in Swanns Welt? Kann du côté de nicht ebenso gut in Richtung oder von her bedeuten? Schottlaenders Titel schien mir angemessener, nur suchte ich einen Titel ohne bedeutungsschwere Nomina wie Weg oder Welt, einen – im Gegensatz zum Haupttitel – bescheidenen, grauen, farblosen Titel und setzte schließlich (wie Proust) nur Präpositionen und einen Namen: Unterwegs zu Swann. Bernd-Jürgen Fischer, der bisher letzte Übersetzer der Recherche, suchte nicht den Gegensatz, sondern die Parallele zum Haupttitel: Auf dem Weg zu Swann.

Prousts Titel

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Nach Der Weg zu Swann stellte der Verlag Die Schmiede weitere sechs Bände in Aussicht: Im Schatten der jungen Mädchen, Der Weg nach Guermantes, Sodom und Gomorrha, Die Gefangene, Albertine verscholl, Die wiedergefundene Zeit. Dazu sollte es aber nicht kommen. Schottlaenders Übersetzung führte zu einer heftigen Kontroverse: Gnadenlose Kritik durch Ernst Robert Curtius, Replik des Übersetzers, Verdikt des Kritikers . . . Gallimard sah sich gezwungen zu intervenieren. Man ernannte eine Kommission, man prüfte die Übersetzung, man prüfte weitere Übersetzer. Schließlich betraute man Franz Hessel und Walter Benjamin, der bereits an Sodom und Gomorrha arbeitete, mit der Übersetzung der weiteren Bände. Der zweite Band erschien 1927, dann gingen die Rechte an den Piper Verlag, der 1930 den dritten Band unter dem wohl vom Verlag stammenden Titel Die Herzogin von Guermantes herausbrachte. Dann war Schluss. Benjamin hat den vierten Band zwar noch übersetzt, doch das Manuskript ging in der Nacht verloren, die sich über Deutschland herabsenkte. Seit der von 1953 bis 1957 erschienenen Übersetzung der Recherche von Eva Rechel-Mertens für den Suhrkamp Verlag lautet der Titel des zweiten Bandes Im Schatten junger Mädchenblüte. Die Übersetzer der Frankfurter Ausgabe (1995) und des Reclam Verlags (2014) haben den schönen, wie jener Prousts leicht kitschigen Titel dankbar übernommen. Wie im Original (Du côté de chez Swann/Le Côté de Guermantes) spiegelt der Titel des dritten Bandes jenen des ersten bei der deutschen Erstausgabe (Der Weg zu Swann/Der Weg nach Guermantes), bei Rechel-Mertens (In Swanns Welt/Die Welt der Guermantes) und bei Fischer (Auf dem Weg zu Swann/Der Weg nach Guermantes). Nach Unterwegs zu Swann kam für die Frankfurter Ausgabe eine Parallelbildung nicht mehr in Frage. Ich wählte einfach Guermantes. Beim vierten Band, Sodom und Gomorrha, sind sich die Übersetzer einig – bis auf Rechel-Mertens, die Gomorra vorzieht. Auch beim fünften Band, Die Gefangene, herrscht Einigkeit. Doch beim sechsten Band des Originals, Albertine disparue, ergeben sich Probleme. Als in den 1950er Jahren Gallimard für die »Bibliothèque de la Pléiade« eine neue Ausgabe der Recherche vorbereitete, hatten die Herausgeber, Pierre Clarac und André Ferré, Zugang zu Prousts Nachlass, konnten dort aber den Titel Albertine disparue nirgends finden. So nahmen sie Zuflucht zu dem im Sommer 1922 erwogenen Titel La Fugitive. Rechel-Mertens, die sich an die Ausgabe Clarac und Ferré hält, wählt Die Entflohene, ebenso Fischer, obwohl Gallimard seit der Entdeckung der dactylographie Mauriac wieder zu Albertine disparue zurückgekehrt ist. Auch ich wählte als Vorlage La Fugitive, da in meinen Augen der Titel Albertine disparue nur für das bearbeitete Typoskript verwendet werden sollte. So heißt der Band jetzt in der Frankfurter Ausgabe Die Flüchtige und so blieb mir auch die Krux erspart, Albertine disparue übersetzen zu müssen. Schottlaender oder jemand im Verlag Die Schmiede hat es erstmals versucht: Albertine verscholl. Nicht nur klingt das geradezu komisch, auch werde ich den Verdacht

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Luzius Keller

nicht los, da habe jemand ein partizipiales Adjektiv (disparue) für eine Indikativform (disparut) gehalten. Doch ganz abgesehen von dieser Fehlleistung ist die Übersetzung partizipialer Adjektive aus den romanischen Sprachen ins Deutsche ein Problem, bezeichnen diese doch oft nicht nur und nicht in erster Linie einen Zustand oder ein Resultat, sondern auch den Vorgang, der dazu geführt hat. So geht es in Tassos Gerusalemme liberata weniger um das befreite Jerusalem als um die Befreiung Jerusalems; und in Prousts Albertine disparue weniger um die verschwundene oder entschwundene Albertine als um Albertines Entschwinden. So meinen denn die Titel des ursprünglich geplanten Diptychons Le Temps perdu und Le Temps retrouvé nicht nur die verlorene und die wiedergefundene Zeit, sondern auch die langen Jahre, während derer der Protagonist des Romans die Zeit vertut, und die in den Erfahrungen der Schlussszene gewonnene Erkenntnis, dass alles Vertane, alles Verlorene im Kunstwerk wiedergefunden wird. Doch im Syntagma des neuen Haupttitels denkt wohl niemand daran, temps perdu im Zusammenhang mit recherche nicht mit verlorene Zeit zu übersetzen. Und der deutsche Titel des Schlussbandes bleibt wohl für alle Zeiten Die wiedergefundene Zeit.

Bibliografische Angaben zu den erwähnten Werken Marcel Prousts: Les Plaisirs et les jours. Illustrations de Madelaine Lemaire. Préface d’Anatole France et quatre pièces pour piano de Reynaldo Hahn. Paris: Calmann Lévy 1896. À la recherche du temps perdu. Bibliothèque de la Pléiade. 3 Bde. Hg. von Pierre Clarac und André Ferré. Paris: Gallimard 1954. À la recherche du temps perdu. Bibliothèque de la Pléiade. 4 Bde. Hg. von Jean-Yves Tadié. Paris: Gallimard 1987–1989. Correspondance. 21 Bde. Hg. v. Philip Kolb. Paris: Plon 1970–1993. Tage der Freuden. Mit einem Vorwort von Anatole France. Aus dem Französischen übertragen von Ernst Weiß. Berlin: Propyläen-Verlag 1926. Der Weg zu Swann. Übertragen von Rudolf Schottländer. Berlin: Die Schmiede 1926. Im Schatten der jungen Mädchen. Übersetzt von Walter Benjamin und Franz Hessel. Berlin: Die Schmiede 1927. Die Herzogin von Guermantes. Übersetzt von Walter Benjamin und Franz Hessel. München: Piper 1930. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 7 Bde. Übersetzt von Eva RechelMertens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1953–1957.

Prousts Titel

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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übers. v. Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam 2013–1016. Der gewendete Tag. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in den Vorabdrucken. Übersetzt von Christina Viragh und Hanno Helbling. München: dtv 1996. Werke. Frankfurter Ausgabe. 14 Bde. Hg. von Luzius Keller. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988–2007.

Karl Corino

Robert Musils Entlassungsschein aus der k. k. Landwehr Im deutschen Antiquitätenhandel tauchte im Herbst 2020 der Entlassungsschein für Robert Musils Ausscheiden aus dem militärischen Reservedienst zum Ende des Jahres 1913 auf (Abb. 1). Die Urkunde konnte von der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft erworben werden. Sie enthält auf der Rückseite den Zusatz, dass Musil bis Ende 1922 landsturmpflichtig sei, unterzeichnet von Oberst Karl Englert (Abb. 2). Dies bedeutet, dass Musil sich im Sommer 1914 nicht freiwillig meldete, sondern einem Gestellungsbefehl folgte. Am 20. August 1914 rückte er nach Linz zum Landsturm ein und zog mit einem Marschbataillon weiter nach Südtirol zur Grenzsicherung.1 Dieser Entlassungsschein aus der k. k. Landwehr vom 31. Dezember 1913 wurde bereits in meinem jüngsten Buch abgedruckt.2 Hier wird erstmals auch die wichtige Rückseite der Urkunde mit dem maschinschriftlichen Zusatz gezeigt. Es handelt sich bei der Urkunde um eine Lithographie auf Papier (Doppelblatt mit einer Kopfvignette und einem blindgeprägten Siegel), die handschriftlich ausgefüllt wurde. Am Ende findet sich die faksimilierte Unterschrift von Friedrich Freiherr von Georgi, General der Infanterie. In der Transkription ist der vorgedruckte Text kursiv, der handschriftlich eingefügte Text recte gesetzt.

1 2

Vgl. Karl Corino: »Von der Seele träumen dürfen«. Nachträge zur Biografie und zum Werk Robert Musils. Würzburg 2022, S. 16 u. 349. Ebd., S. 342.

Robert Musils Entlassungsschein

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Abb. 1: Robert Musils Entlassungsschein aus der k. k. Landwehr, Vorderseite

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Karl Corino

Transkription: K.k. Ministerium für Landesverteidigung Departement I Nr 2858. Verordnungsblatt für die k.k. L.W. [Landwehr] Nro 65 ex 1913.∼ Entlassungsschein Im Namen Seiner Majestät des Kaisers von Oesterreich, Königs von Böhmen u.s.w. und Apostolischen Königs von Ungarn wird hiemit beurkundet, dass der Herr k.k. Leutnant Dr. phil. Robert Musil vom Reservestande des k.k. Lsch. R. [Landesschützen-Regiments] Trient No. I aus Klagenfurt in Kärnten gebürtig, 35 Jahre alt, verheirateten Standes in dem k.u.k. Heere 10 Jahre, 3 Monate (worunter 9 Jahre ./. Monate in der Reserve), in der k.k. Landwehr 2 Jahre ./. Monate (worunter 2 Jahre ./. Monate in der Reserve) gedient hat und nach vollstreckter Dienstpflicht mit 31. Dezember 1913 aus der k.k. Landwehr entlassen wurde. Ihm ist weder das Tragen der Uniform noch die Führung des Titels eines k.k. – Leutnants – zugestanden. Derselbe [geschwungene Linie] Was dem Herrn Dr phil. Robert Musil zum Erweise seiner oberwähnten – sehr guten – Dienstleistung und seiner Entlassung bestätigt wird. Wien, am 31. Dezember 1913. Friedrich Frh. v. GeorgiGdI [General der Infanterie]

Robert Musils Entlassungsschein

Abb. 2: Robert Musils Entlassungsschein aus der k. k. Landwehr, Rückseite (Ausschnitt)

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Genese Grill

Nachruf auf Burton Pike (1930–2022) Am 22. Dezember 2022 ist Burton Pike gestorben. Er wurde am 12. Juni 1930 in Newton, einem Vorort von Boston (USA), geboren. Seine Eltern waren Emigranten aus Russland. Sein Großvater, der Russisch, Ukrainisch und Jiddisch sprach, vermittelte ihm die Freude an anderen Sprachen. Pike besuchte das Haverford College in Pennsylvania, wo er Französisch und Deutsch studierte. Ein Fulbright Stipendium führte ihn 1953/54 an die Universität Straßburg. Von dort kehrte er nach Massachusetts zurück und studierte in Harvard Komparatistik. Zwei Jahre verbrachte er als Lektor für Englisch an der Universität Hamburg, wo er sein Deutsch perfektionieren konnte. Das Studium in Harvard schloss er 1958 mit einer Dissertation über Robert Musil ab (Perspective and Characterization in the Works of Robert Musil), was zu dieser Zeit bemerkenswert war, denn der erste Band der englischen Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften von Ernst Kaiser und Eithne Wilkins war erst 1953 publiziert worden. Auf Basis seiner Dissertation verfasste er die erste Monographie zu Musil in englischer Sprache, die unter dem Titel Robert Musil. An Introduction to his Work 1961 erschien und 1972 neu aufgelegt wurde. 1959 begann Pike seine Universitätskarriere, die ihn an etliche Universitäten der USA führte. Ab 1960 war er Assistant Professor, später Associate Professor für deutsche Literatur an der Cornell-Universität in New York, ab 1969 Professor am Department für deutsche Literatur und Komparatistik am Queens College. Ab 1970 betreute er das Doktoratsprogramm an der City University of New York (CUNY), wo er bis zu seiner Emeritierung 2004 wirkte. Er bildete zahlreiche Doktoranden aus, von denen sich viele als Professoren, Forscher und Übersetzer einen Namen machen sollten. Pike ist schon 1975 in die Internationale Robert-Musil-Gesellschaft eingetreten und hat auch regelmäßig an den von ihr veranstalteten Kolloquien teilgenommen. Im Musil-Forum erschien 1979 sein Aufsatz Musil and the City, ein Thema, das ihn auch in einem weiteren Rahmen beschäftigte, wie sein Buch The Image of the City in Modern Literature (1981) zeigt. Große Verdienste erwarb sich Pike als Übersetzer. 1982 bat ihn Adolf Frisé, sich für die Übertragung Musils ins Englische einzusetzen. Pike begann zunächst mit kürzeren Texten, welche 1986 unter dem Titel Selected Writings als Band 72 der »German Library« beim New Yorker Continuum Verlag publiziert wurden. Gemeinsam mit dem Musil-Forscher David S. Luft

Nachruf auf Burton Pike (1930–2022)

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übersetzte er Musils Essays, die unter dem Titel Precision and Soul. Essays and Addresses 1990 bei der University of Chicago Press erschienen. Als der Verlag Alfred A. Knopf beschloss, den Mann ohne Eigenschaften in einer neuen Übersetzung herauszubringen, wurde Sophie Wilkins mit dieser Aufgabe betraut. Pike sollte zunächst diese Übersetzung nur überprüfen. Da Wilkins aber wegen zunehmender Sehschwäche die Arbeit abbrechen musste, führte Pike die Übersetzung weiter und übertrug erstmals die Nachlass-Kapitel ins Englische, was ungefähr 600 Seiten ausmachte. Diese Neuübersetzung entstand also nicht aus einer Zusammenarbeit im üblichen Sinn, da Wilkins und Pike nacheinander arbeiteten. Oberstes Ziel von Pike war es, die Nachlassteile so zu übertragen und anzuordnen, dass eine für das englischsprachige Publikum lesbare Übersetzung entstünde. Sie sollte in erster Linie der interessierten Öffentlichkeit einen neuen Zugang zu diesem wichtigen Autor der klassischen Moderne eröffnen. Der bei Knopf 1995 erschienene Man without Qualities basiert auf dem Text der Frisé’schen Ausgabe von 1978, allerdings ordnete Pike die Nachlassteile völlig anders an. Er folgt nicht dem Prinzip der verkehrten Chronologie, dem zufolge im Anschluss an die sechs Kapitel mit den letzten Genfer Varianten die Ausgabe zeitlich zu den frühen Vorstufen und Entwürfen zurückschreitet. Pike war der Auffassung, dass Musil sein Textmaterial nicht unter chronologischen, sondern eher unter experimentellen Gesichtspunkten betrachtete. Mit Blick auf die von ihm angestrebte Lesbarkeit entwarf er eine Anordnung nach Figurengruppen und Erzählentwürfen, wobei er mit dem englischen MusilForscher Philip Payne in permanentem Austausch stand. Pikes Entscheidung, nicht der Frisé’schen Anordnung zu folgen, führte zu Großabschnitten mit Titeln wie »Ulrich/Ulrich and Agathe/Agathe«, »Clarisse/Walter/Ulrich« und »Fischel/Gerda/Hans Sepp/Ulrich«. Das Echo auf diese Übersetzung in Zeitschriften wie The New Yorker, The New York Review of Books und vielen anderen war überwältigend. Die Übersetzung von Wilkins und Pike setzte neue Maßstäbe, nicht nur weil sie durch die Übertragung der Nachlassteile rein quantitativ wesentlich umfangreicher war. Es war auch gelungen, die Prägnanz, den schillernden Witz und die Frische der Musil’schen Prosa wiederzugeben, und nicht zuletzt deren musikalische Qualitäten, was Pike ein besonderes Anliegen war. Pike war – angeblich wegen seiner Körpergröße – bereits auf der High School der Kontrabass zugewiesen worden. Die musikalische Ausbildung, die er am Haverford College erhalten hatte, kam ihm als Übersetzer zugute; sie bildete in seiner Einschätzung sogar die wichtigste Voraussetzung für seine Tätigkeit als Übersetzer. Durch lautes Lesen – er erinnerte gerne daran, dass Musil selbst seiner Frau Martha Abschnitte seines Hauptwerks vorzulesen pflegte – versuchte er, den Rhythmus eines Texts zu erspüren und sich auf diese Weise beim Übersetzen dem Musil’schen Original anzunähern. Eine andere Besonderheit, die vom Übersetzer Musils zu beachten sei, liegt Pike zufolge darin,

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Genese Grill

dass der Mann ohne Eigenschaften jeder Figur ein eigenes Idiom bereitstellt, das aus Persönlichkeit, Herkunft, Erziehung, Beruf, Klasse und Stand resultiert. Auf jeder Ebene des Romans erweise sich die »Sprache Kakaniens« als die »Sprache Babels«.1 Mit seiner Betonung der rhythmischen Qualitäten von Musils Prosa versuchte sich Pike ganz bewusst von einer Übersetzungspraxis zu distanzieren, die auf einzelne lexikalische Einheiten fixiert ist und darüber größere Zusammenhänge vernachlässigt. Ablehnend stand Pike auch den verfremdenden Übersetzungsverfahren gegenüber, die den Leser immer wieder darauf stoßen, dass der Text ursprünglich nicht auf Englisch verfasst worden ist. Diese Einstellung führte zwangsläufig dazu, dass Pike sich umso intensiver mit den strukturellen Unterschieden zwischen dem Englischen und dem Deutschen befasste. Das Englische beschrieb er als eine »gnadenlos konkrete«2 Sprache, in der die bei Musil so häufigen Abstrakta nur mit Mühe wiederzugeben sind. Es sei daher letztlich kaum zu vermeiden, dass Musil im Englischen geradliniger, konkreter klinge als im Original. Wie seinem Nachwort zum zweiten Band der Knopf-Ausgabe zu entnehmen ist, war sich Pike durchaus der Gefahr bewusst, gerade bei den fragmentarischen Nachlassteilen Inkonsistenzen zu glätten und so die Offenheit einzelner Textpassagen einzuschränken.3 Pike verwendete Übersetzungen gerne in seinem Literaturunterricht, um die sprachliche Sensibilität seiner Studenten zu schulen. Er hielt auch Lehrveranstaltungen zu Übersetzungstheorien ab, war aber skeptisch in Bezug auf deren Nutzen für die konkrete Arbeit des Übersetzers. Denn er war der Auffassung, dass jeder literarische Text jeweils eigene Probleme stellt, auf die der Übersetzer sich mit allgemeinen Theorien nicht vorbereiten könne. Pike nahm im Juni 1987 am mehrtägigen, von der Internationalen Robert-MusilGesellschaft mitorganisierten Übersetzerkolloquium in Straelen teil. Dort waren Musil-Übersetzer aus vierzehn Ländern versammelt und brachten ihre jeweiligen Übersetzungsprobleme in die Diskussion ein (z. B. Fehlen des Personalpronomens und des grammatischen Geschlechts, unterschiedliche Konnotationen von Begriffen). Pike empfand dieses faszinierende Kolloquium als »Übung in Bescheidenheit«.4 In seinem eigenen Tagungsbeitrag ging er auf die besonderen Schwierigkeiten ein, die bei der Übersetzung von Musils Essays entstehen. Deren Form und deren Gedankengängen attestiert er »etwas Unbändiges«. Während im Mann ohne Eigenschaften die auftauchenden Begriffe »durch den Erzählvorgang mit dem Gewebe des Ganzen verbunden und dadurch abgegrenzt« seien, »flattern [sie in den Essays] eher 1 2 3 4

Burton Pike: Re-Translating: The Example of Musil, in: Translation Review 63 (2002), H. 1, S. 80–83, hier S. 81. Ebd. Vgl. Burton Pike: Translator’s Afterword, in: Robert Musil: The Man Without Qualities. Übers. v. Sophie Wilkins u. Burton Pike. Bd. 2. New York 1995, S. 1771–1774, hier S. 1773. Pike: Re-Translating (Anm. 1), S. 81.

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lose im Winde des damaligen, inzwischen verschollenen, zentraleuropäischen Verständnishorizonts«.5 Pike hat seine Übersetzungskunst nicht nur auf Musil angewendet, er hat auch Goethes Leiden des jungen Werthers, Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sowie den von Peter Handke hoch geschätzten Schweizer Autor Gerhard Meier ins Englische übertragen. Für die Übersetzung von dessen Toteninsel erhielt er 2012 den Helen-und-Kurt-Wolff-Übersetzer-Preis. In einer Ausgabe dieses Bandes finden sich in Pikes Handschrift die Worte »a different kind of writing«. Pike ist stets überaus großzügig mit seinen Ideen und seiner Zeit umgegangen. Er versuchte auch den Graben zwischen der Universität und der außerakademischen Welt zu überbrücken, etwa indem er von 2007 bis 2013 am Center for Fiction, der früheren Mercantile Library, Lesegruppen leitete, in denen er zusammen mit Interessierten Texte von Musil, Rilke und Thomas Mann diskutierte. Vor Kurzem ist ein Sammelband publiziert worden,6 der zwar die verschiedenen Facetten von Pikes Wirken als Universitätslehrer und Übersetzer detailliert darstellt, dem es aber nicht gelingen kann, von der Weltoffenheit, Vielseitigkeit, Großzügigkeit und dem Humor dieses außerordentlichen Menschen einen adäquaten Eindruck zu vermitteln. Übersetzt von Thomas Hübel

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6

Burton Pike: Das Übersetzen von Musils Essays ins Englische, in: Die Übersetzung literarischer Texte am Beispiel Robert Musil. Beiträge des Internationalen Übersetzer-Kolloquiums in Straelen vom 8.–10. Juni 1987. Hg. v. Annette Daigger u. Gerti Militzer. Stuttgart 1988, S. 187– 195, hier S. 189 f. Underlying Rhythm: On Translation, Communication, and Literary Languages: Essays in Honor of Burton Pike. Hg. v. Peter Constantine, Robert Cowan, Henry Gifford, Genese Grill u. James Keller. Oxford u. a. 2023.

Rosmarie Zeller

Karl Corino zum 80. Geburtstag Am 12. November 2022 feierte Karl Corino seinen 80. Geburtstag. Zu sagen, Corino habe sein Leben Musil gewidmet, ist zugleich richtig und falsch. Falsch darum, weil Corino dreißig Jahre lang beim Hessischen Rundfunk als Literaturredakteur tätig war und neben anderem große Verdienste dabei erwarb, die DDR-Literatur im Westen bekanntzumachen. Als Redakteur verdiente er seinen Lebensunterhalt; daneben beschäftigte er sich aber immer auch mit Musil, dem bereits seine erste wissenschaftliche Arbeit, die Dissertation, gewidmet war: Robert Musils »Vereinigungen« Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe (1974). Im Zusammenhang mit dieser Arbeit kam Corino mit dem handschriftlichen Nachlass, der damals noch in Rom bei Musils Stiefsohn Gaetano Marcovaldi lag, in Kontakt. Das mag ihn dazu angeregt haben, sich weiterhin den materiellen Aspekten von Musils Werk zu widmen. Während sich die zünftige Musil-Forschung in den 1960er und 1070er Jahren mit dem ›anderen Zustand‹, mit der Mystik in Musils Werk und ähnlichen Fragen beschäftigte, begann ab 1960 Karl Dinklage in Klagenfurt Materialien rund um Musil zu sammeln. Schon 1970, also noch vor der Publikation seiner Dissertation, gab Corino zusammen mit seiner späteren Frau Elisabeth Albertsen, die ebenfalls eine Dissertation über Musil publiziert hat, und mit Dinklage einen Band Robert Musil. Studien zu seinem Werk heraus, in welchem auch Briefe und andere Zeugnisse rund um Musil enthalten sind. Man kann darin einen ersten Ansatz zu einer Arbeit sehen, die Corino sein Leben lang betreiben sollte. Mit einem unglaublichen detektivischen Spürsinn findet er immer neue Details zu Musils Leben und seiner Zeit, immer neue Zeitungsartikel, Dokumente und Bilder. Eine erste biographische Arbeit legte er 1988 mit seinem Bildband Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten vor. Er war lange für die Musil-Forschung die Grundlage, wenn es um die Biografie Musils ging, so lange bis Corino 2003 seine monumentale Musil-Biografie Robert Musil. Eine Biographie publizierte. Wer nun aber glaubte, damit sei alles über Musil gesagt, täuschte sich. Corino suchte unermüdlich weiter und fand Bilder, Dokumente, Zeitungsartikel und Zeitzeugen. So erschien 2010 ein Band mit Berichten von Zeitgenossen: Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. 2015 widmete er sich drei Personen aus der Familie Musil, dem Vater Alfred, dessen Neffen Alois und Robert Musil selbst: Begegnung dreier Berggipfel: Alfred, Alois und Robert Musil. 2022 schließlich ein Band von fast 800 Seiten mit Nachträgen zur Biografie: »Von der Seele träumen dürfen«. Nachträge zur Biografie und zum Werk Ro-

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bert Musils. Beeindruckend ist, dass Corino bei all diesen Forschungen immer mit philologischer Akribie vorgeht. Das zeigt sich an einem Beispiel besonders deutlich: Musil hat zwischen Oktober 1916 und April 1917 die (Tiroler) Soldatenzeitung redigiert. Die Musil-Forscherinnen und -Forscher tendieren dazu, ihm zwischen 38 und 165 Artikel zuzuschreiben. In einer stilometrischen Analyse erweisen sich diese Zahlen als weit übertrieben. Corino ist der einzige Forscher, der Musil nur einen Artikel mit Sicherheit zuschreibt, eine Zuschreibung, die auch die stilometrische Analyse bestätigt.1 Das ist durchaus typisch für Corinos philologische Arbeit, er ergeht sich nicht in Vermutungen, sondern arbeitet am Material, mit Zeugnissen und Belegen. Wenn man Karl Corino fragt, wie er zu Musil gekommen sei, so erklärt er, dass er, auf einem Bauernhof aufgewachsen, von der Beschreibung der Rinder in Grigia fasziniert gewesen sei. Die Passage sei deshalb zitiert: Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper hinten etwas zur Seite hängend; sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht entgegen, und ihre gleichförmig langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten. [. . .] und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats, der Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden. (GW II, S. 242 f.)

Dass Corino von dieser Passage fasziniert war und ist, zeigt seinen ästhetischen Sinn, der gepaart mit philologischer Kleinarbeit zu seinem beeindruckenden Werk beitrug. Auch wenn Karl Corino nach jeder Publikation über Musil und sein Umfeld sagt, er höre jetzt auf, sich mit Musil zu befassen, eines ist sicher, wenn irgendwo ein Dokument, ein Foto oder was immer auftaucht, er wird es mit Interesse aufgreifen und einen Artikel dazu schreiben. So wünscht ihm denn die Internationale Robert-Musil-Gesellschaft noch viele Jahre glücklicher Funde!

1

Vgl. Oberleutnant Robert Musil als Redakteur der Tiroler Soldaten-Zeitung. Hg. v. Mariaelisa Dimino, Elmar Locher, Massimo Salgaro: München 2019 (= Musil-Studien, Bd. 46), S. 75.

Rezensionen

Karl Corino: »Von der Seele träumen dürfen«. Nachträge zur Biografie und zum Werk Robert Musils. Würzburg: Königshausen & Neumann 2022. 794 S. € 78,–.1 Kurz vor seinem 80. Geburtstag hat Karl Corino sein nunmehr viertes Grundlagenwerk über den österreichischen Schriftsteller vorgelegt, nach einem Bildband (Rowohlt Verlag, 1988), der monumentalen Biografie (Rowohlt Verlag, 2003), die der Musil-Forschung erstmals eine gesicherte biografische Grundlage lieferte, und einem Band mit den gesammelten Erinnerungen an Robert Musil (Nimbus Verlag: Wädenswil 2010) von Zeitzeugen. Der im doppelten Wortsinn gewichtige neue Band ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die anhaltende Produktivität des Doyens der Musil-Forschung: Unter dem Titel »Von der Seele träumen dürfen« versammelt der ehemalige Literaturredakteur des Hessischen Rundfunks auf fast 800 Seiten über 40 Aufsätze und Essays, die, von Ausnahmen abgesehen, in den letzten zwei Jahrzehnten verstreut in Zeitungen (wie der Neuen Zürcher Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), in Fachzeitschriften (Das Plateau, Musil-Forum u. a.), zum Teil aber auch separat2 oder als Vor- oder Nachworte einschlägiger Editionen3 erschienen sind. Dazu liefert Corino noch einen wahren Schatz an neu gefundenem Bildmaterial, darunter Aufnahmen aus Musils Zeit als Weltkriegsoffizier im Fersental (z. B. S. 359, 365) oder ein überraschender Schnappschuss aus einem Berliner Gerichtssaal, in dem der Schriftsteller zusammen mit seiner Frau Martha 1932 als amüsierter Zuschauer saß (S. 567), wo ihn der Fotograf Leo Rosenthal mit seiner versteckten Kamera aufgenommen hat. Faszinierend ist aber auch die bislang unbekannte Abbildung eines Werbeplakats für den kanadischen Fliegenfänger »Tanglefoot«, der Inspirationsquelle für Musils Das Fliegenpapier, mit einem teuflisch grinsenden Clown, der heutige Leser*innen an Stephen Kings Pennywise erinnern dürfte (S. 287). Ausgestattet mit dem Gedächtnis eines Elefanten und der Beharrlichkeit eines Bibers, trägt Karl Corino seit über 50 Jahren akribisch alles zusammen, was sich an Zeugnissen oder Bildmaterialien über den 1942 im Schweizer Exil gestorbenen Autor noch finden lässt, und füllt dabei unermüdlich eine bio1 2 3

Eine stark gekürzte Fassung dieser Besprechung erschien in: die tageszeitung (26. 4. 2022). Zum Beispiel: Begegnung dreier Berggipfel. Alfred, Alois und Robert Musil. Klagenfurt, Wien 2014. Zum Beispiel für: Margarete Mauthner: Das verzauberte Haus. Mit einem Nachwort von Karl Corino. Berlin 2004.

Rezensionen

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grafische oder literaturgeschichtliche Leerstelle nach der anderen. Das hat ihm schon manchen Spott eingebracht. Etwa den Roger Willemsens, der sich seinerzeit in seiner Kritik zu Corinos Musil-Biografie darüber mokierte, dass man bei Corino noch die Schulzeugnisse von Musils Mitschülern studieren könne.4 Doch zeigt sich immer wieder, wie scheinbar abseitig Biografisches oder Triviales in den Werken dieses Schriftstellers auf verschlüsselte Weise wieder auftaucht und wie sehr in den Texten dieses Autors alles mit allem vernetzt ist: wie der Duft des Chinchillapelzwerks von Musils Mutter, eine prägende olfaktorische Erinnerung laut Musils Tagebuch, die Corino in dem 1915 entstandenen Gedicht An ein Zimmer wiederentdeckte (S. 404). Schon immer hatte die Musil-Forschung eine Nähe zur Detektivarbeit, erinnert Karl Corino in der Einleitung zu seinem neuen Buch: Sein Mentor Karl Dinklage, der damalige Leiter der Vereinigung »Robert-Musil-Archiv«, entdeckte das Geheimnis um Musils frühe Syphiliserkrankung, als er ein geschwärztes ärztliches Bulletin von 1916 unter die Quarzlampe der Wiener Kripo hielt. Und beim Restaurieren eines Mantels von Musils Ehefrau fielen einst aus dem Futter ausgeschnittene Passagen aus Musils Tagebuch, intime Zeugnisse ihres Ehelebens, die Martha Musil dort vor der Nachwelt versteckt hatte. Dass ›Kommissar Zufall‹ auch heute noch überraschende biografische Entdeckungen ermöglicht, beweist die erst im Herbst 2020 im Antiquariatshandel aufgetauchte Entlassungsurkunde für Musils Ausscheiden aus dem militärischen Reservedienst zum Ende des Jahres 1913: Da sie den Zusatz enthält, dass Musil noch bis 1922 in Südtirol landsturmpflichtig sei, beweist sie, so Corino, dass sich der Schriftsteller bei Kriegsausbruch im August 1914 »nicht freiwillig« (S. 16) gemeldet habe, sondern einberufen wurde – ein Umstand, der Musils damalige Kriegsbegeisterung zumindest etwas zu relativieren scheint. In anderen Fällen zahlte sich Beharrlichkeit aus: So im Fall eines für den NSLiteraturbetrieb geschriebenen Gutachtens über Musils Werk, das jahrzehntelang für den Biografen unzugänglich in einem privaten Archiv schlummerte, und zwar »bis zur Überführung dieses Materials in die Universitätsbibliothek Regensburg. Es galt da einfach, einen langen Atem zu bewahren und immer wieder nachzubohren, bis die Zensur überwunden war.« (S. 17) Corinos jüngere Arbeiten zeigen allerdings, dass es neben Archivfunden (wie auch im Fall der oben erwähnten Gerichtsfotos, die im Landesarchiv Berlin, das den Nachlass Leo Rosenthal aufbewahrt, entdeckt wurden) heutzutage immer mehr die Hilfe von Suchmaschinen oder digitalisierten Beständen von Zeitschriften- und Zeitungsarchiven (wie dem ANNO-Portal der Österreichischen Nationalbibliothek) ist, die es dem Literaturdetektiv ermöglicht, jahrzehntelange Forschungsfragen endlich zu beantworten. So gelang es Corino 2017, die mysteriöse Miss [Anna] Griewisch/Greevish aus Musils Tagebuch zu identifizieren sowie ihren Lebenslauf, inklusive Porträtaufnahme, 4

Vgl. Roger Willemsen: Glanzloses Leben, glanzvolles Werk, in: Literaturen 1/2 (2004), S. 29.

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zu rekonstruieren – eine frühe Geliebte Musils, der der damalige Psychologiestudent sogar einen Heiratsantrag gemacht hatte: »Der Casus war schon längst in der Rubrik UNLÖSBAR gelandet, als eine seltsame Einflüsterung im Frühjahr 2017 mir riet, den Namen Griewisch aus Daffke ins Internet einzugeben. Wie von Zauberhand herbeigeführt erschien auf dem Bildschirm das Porträt einer Gesangsstudentin Miss Griewisch aus Chicago, veröffentlicht in der verschollenen Zeitschrift Berliner Architekturwelt 1902.« (S. 16) Auch findet Karl Corino endlich eine Antwort auf die Frage, die den kleinen Robert jahrelang quälte: Wie nahe kamen sich seine Mutter Hermine und ihr vom Vater geduldeter Hausfreund Heinrich Reiter wirklich? Die Antwort: ziemlich nahe; Corino kann anhand der erhalten gebliebenen »Kurund Fremdenlisten« aus Bad Aussee nachweisen, dass die beiden mehrmals gemeinsam in Badehotels logierten, während Vater Alfred in den Bergen wanderte. Auch das ist mehr als posthume Bettenschnüffelei: Die Frage nach der Treue der Mutter und die Gegenwart des »Onkels« sind zentrale Motive in Musils Novelle Tonka. Doch auch für Musil-Novizen bietet der Band viel Lesestoff: Gerade die thematisch orientierten Arbeiten, etwa über das Verhältnis des Schriftstellers zu Italien, zur Musik oder zum Sport (bzw. dem damals neuen Bodybuilding) oder Beiträge, die sich faszinierenden Konstellationen der Literaturgeschichte widmen (etwa Musil und Benito Mussolini), bieten einen leichteren Zugang zu diesem als »schwierig« geltenden Autor als Corinos monumentale Musil-Biografie. Die unvermeidliche Kehrseite einer solchen Sammlung verstreut erschienener Einzeltexte, für deren Ermöglichung man dem Verlag Königshausen & Neumann dankbar sein muss, ist allerdings, dass es etliche Überschneidungen und Wiederholungen zentraler Lebensaspekte gibt: Musils Entdeckung der »taghellen Mystik« im Jahr 1900 aus unglücklicher Liebe zu einer »Valerie«, die inzwischen als die Münchner Pianistin und Bergsteigerin Valerie Hilpert identifiziert wurde, wird in gleich drei Aufsätzen erzählt. Die tragische Geschichte von Martha Musils erstem Ehemann Fritz Alexander erinnert Corino sowohl in seinem Nachwort für Das verzauberte Haus als auch in Musil in Italien: Ein Itinerar. Auch beim Bildmaterial kommt es zu Doppelungen, so findet sich das Foto der Offiziersmesse in Palai auf S. 362 und 396. Anstelle einer Lektüre »am Stück« scheint sich daher eine selektive Rezeption der Beiträge zu empfehlen. Immer wieder ehrfurchtgebietend ist dabei Corinos enzyklopädisches Wissen, das von der Physiognomie bis zur Astrologie reicht und dem Biografen faszinierende Ausflüge in die Realgeschichte ermöglicht. In einem Essay über Musils Slowenisches Dorfbegräbnis wird das religiös überhöhte »Lehrerinnen-Zölibat« (S. 447) im damaligen Habsburgerreich erläutert; in einem Aufsatz über die österreichisch-ungarische Schriftstellerin und zeitweilige Ehefrau des ägyptischen Vizekönigs May Török alias Djavidan Hanum (Vorbild für die Figur Bonadea im Mann ohne Eigenschaften) rekonstruiert Corino die Verhältnisse in einem Harem.

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Der zuletzt genannte Text ist zugleich ein Beispiel für eine Reihe von Arbeiten Corinos über reale Vorbilder für Musil’sche Protagonisten, in denen der Musil-Biograf sozusagen zur Ehrenrettung der Musil’schen Modelle gegenüber ihren literarischen Abbildern schreitet, also gleichsam Einspruch im Namen der Realität gegenüber der Musil’schen Fiktion erhebt, der er angesichts der bunten, komplexeren Wirklichkeit mitunter fast schon denunzierende Züge attestiert. Neben dem abenteuerlichen Leben von May Török erinnert der Musil-Biograf auf diese Weise an Walther Rathenau alias Dr. Arnheim, an den umtriebigen und erstaunlich modern denkenden Pädagogen Georg Kerschensteiner, Vorbild für Agathes Ehemann Hagauer, sowie an Christian Voigt alias Moosbrugger, dem gleich zwei Aufsätze gewidmet sind. Dass Musil seinen wahnsinnigen Prostituiertenmörder, der im Roman nicht nur die Wiener Gesellschaft, sondern auch den Protagonisten Ulrich fasziniert und vor Gericht zu einem Grenzfall für die Frage der Zurechnungsfähigkeit wird, nicht etwa erfunden, sondern der Wirklichkeit entnommen hat, wäre ohne Corinos Beharrlichkeit vielleicht bis heute unbekannt. Denn nur er nahm den Autor beim Wort, der in seinem Roman explizit geschrieben hatte, sein Held habe über Moosbruggers Tat und Prozess »bloß in der Zeitung« (MoE, S. 69) gelesen. Schon in seiner Musil-Biografie von 2003 konnte Corino nachweisen, dass Moosbruggers reales Vorbild der oberfränkische Zimmermann Christian Voigt war, der 1910 in Wien eine Prostituierte ermordet hatte und nach seinem Todesurteil vom Kaiser zu lebenslangem Kerker begnadigt worden war. Musil hatte zahlreiche Einzelheiten über Voigt, teils sogar wörtlich, für seinen Roman aus den Prozessberichten der Illustrierten Kronenzeitung, »einer Art Bild-Zeitung der damaligen Epoche« (S. 35), übernommen »und die buchstäblich verrücktesten Sätze zu dem poetisch wirkungsvollsten Wortlaut synthetisiert[ ]« (S. 36), bis hin zu den sibyllinischen Worten, mit denen sich Moosbrugger aus dem Gerichtssaal verabschiedet: »Dadurch, dass ich die Anklage erzwungen habe, bin ich mit dem Beweisverfahren zufrieden! [. . .] Ich bin damit [mit dem Todesurteil] zufrieden, wenn ich Ihnen auch gestehen muss, dass Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben!« (MoE, S. 76) In seinem neuen Buch rekonstruiert Corino nun das weitere Leben Christian Voigts. Es ist die abenteuerliche Geschichte einer ganz und gar unwahrscheinlichen Resozialisierung. Die fast zwanzig Jahre seiner Einzelhaft nutzte Voigt, um sich autodidaktisch zu bilden und um seine Begnadigung zu kämpfen, auch mithilfe sozial engagierter Journalisten, die aus dem geläuterten Mörder einen der prominentesten Häftlinge Österreichs machten. Ausgerechnet 1930, dem Jahr, in dem Musils Roman erschien, wurde Voigt tatsächlich begnadigt; 1938 starb er als verheirateter Zimmermann in Nürnberg. Und Musil? Der steckte mit seinem Fragment gebliebenen Roman bis ans Ende seines Lebens in der Vorkriegszeit fest; nichts deutet darauf hin, so Corino, dass er das weitere Schicksal von Voigt/Moosbrugger auch nur verfolgt hätte.

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Sind damit nun die letzten Leerstellen in Musils Biografie gefüllt? Leider nein, wie der Autor einräumen muss. Die größte bleibe weiterhin Musils Brünner Geliebte Herma Dietz, die ihm in den Studienjahren nach Berlin gefolgt ist: »Bis zum heutigen Tag konnte kein amtliches Dokument über Herma Dietz, das Vorbild der Tonka, gefunden werden, kein Geburts-, kein Totenschein, keine Wohnsitzbescheinigung und erst recht kein Foto. Nur auf einem losen Blatt in Musils frühem Heft Nr. 4 fand ich, mit Schrift bedeckt, die Zeichnung eines Mädchenkopfs, die man wegen des von Musil einmal erwähnten auffälligen Huts mit den schwarzen Puffen für ein Porträt Hermas im Profil halten darf.« (S. 539) Wenn es jemandem gelingen wird, Herma Dietz zu finden, dann Karl Corino! Oliver Pfohlmann

Wolfgang Müller-Funk: Crudelitas. Zwölf Kapitel einer Diskursgeschichte der Grausamkeit. Berlin: Matthes & Seitz 2022. 361 S. € 32,–. Wolfgang Müller-Funks kenntnisreicher Essay diskutiert anhand von zwölf Beispielen aus der Literaturgeschichte den, wie es auf dem Buchrücken heißt, »erschreckenden Einfallsreichtum des Menschen, anderen wehzutun«: die Grausamkeit. Neben einer grundlegenden »Sichtung« (Kap. 1) nähert sich Müller-Funk der »Polymorphie der crudelitas« (S. 36) anhand von elf literarischen und philosophischen Beispielen, die er in seiner Untersuchung als »Medien für ein essayistisch kreisendes Denken fruchtbar [. . .] machen« (S. 38 f.) möchte. Das heterogene Textkorpus (vgl. S. 43) analysiert die Diskursgeschichte der Grausamkeit anhand ausgewählter Texte von Robert Musil, Ernst Jünger, Seneca (mit Einbezug von Michel de Montaigne), Elias Canetti (mit Herodot, Shakespeare sowie Ibn Batuta), Friedrich Nietzsche, Marquis de Sade (mit Horkheimer/Adorno und Roland Barthes), Ismail Kadare (mit René Girard), Arthur Koestler, Mario Vargas Llosa, Jean Améry sowie Sigmund Freud. Der Autor nähert sich mit dem französischen Anthropologen Marcel Hénaff dem Menschen als dem »einzig[ ] planmäßig gewalttätige[n] Tier auf Erden«. (S. 17) Müller-Funks These, »dass es sich bei der Grausamkeit um einen Selbst-Kulturalisierungseffekt handelt«, richtet sich dabei gegen die Annahme einer »ursprünglichen Gewaltsamkeit des Menschen« und fasst diese vielmehr als »ein prekäres Ergebnis kulturellen Fortschritts« auf (S. 20). An Walter Benjamin anschließend versteht Müller-Funk Grausamkeit als »jenes Moment, das den Anderen zur Beute und damit zum Vorzeigeobjekt, zum Fetisch absoluter Macht oder auch vollständiger Unterwerfung macht.« (S. 21) Unter Verweis auf die Gynophobie im affirmativ-theoretischen Grausamkeitsdiskurs kommt Müller-Funk darüber hinaus zu der Annahme, »dass es eine spezifisch männliche Disposition zur Grausamkeit gibt.« (S. 23) Mit

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Kathleen Taylor folgt Müller-Funk dem »kollektive[n] Moment« der Grausamkeit »in Gestalt der Masse« (S. 27), wobei die rationalisierte Grausamkeit als »radikale[ ] Gewalt« in ihrer »quadratische[n], das heißt exponentielle[n] Steigerung« (S. 27) verstanden wird und es die mediale Konstellation mit Täter, Opfer und Zuschauer des grausamen Aktes zu betonen gelte. In den Blick genommen werden darüber hinaus mit Hannah Arendt Macht und Gewalt sowie mit Henning Ritter die terreur am Beispiel Robespierres; des Weiteren bezieht sich Müller-Funk kompilierend auf Jody Enders’, Elaine Scarrys, Clément Rossets, Catherine Toals u. a. kultur- und literaturgeschichtliche Beiträge zur Grausamkeit. Die essayistische Kulturanalyse und -theorie der Grausamkeit widmet sich den philosophischen und literarischen Texten wesentlich in Form eines kritischen Close Readings. »Ziel« seiner Untersuchung sei es, so Müller-Funk, »Gewalt zu analysieren« (S. 39), wobei vor allem die »Ökonomie der Grausamkeit« (S. 40) von Interesse sei, die auf einen strategischen Willen zu ihrer Ausführung schließen lasse. Anhand von Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) und unter Einbezug von Stendhal und Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927) rückt Müller-Funk in Kapitel 2 die Ökonomie der Grausamkeit ins Zentrum. Im Kontext einer der Analyse von Musil vorausgehenden Betrachtung von Stendhals Roman Rot und Schwarz (1830) thematisiert Müller-Funk mit Henning Ritter zwei Formen der Grausamkeit, die »leidenschaftslose, kühl kalkulierte« sowie die »affektiv besetzte«, welche sich »in bestimmten historischen Situationen immer wieder überkreuzt haben.« (S. 52) Der Törleß zeige, so Müller-Funk, »dass die Grausamkeiten der drei angehenden Männer an einem vierten nicht so sehr durch zügellose Aggressivität hervorgerufen werden, sondern durch eine extreme Empfindlichkeit.« (S. 59) Während Beineberg als »programmatischer Ideologe der Kälte« (S. 63) erscheine, stehe bei Reiting »ganz offenkundig eine homosexuelle Disposition im Vordergrund« (S. 65). Törleß hingegen füge »als Trittbrettfahrer des Geschehens der Grausamkeit eine psychische Dimension hinzu.« (S. 68). Basini werde dabei, so Müller-Funk, als der Fremde der »Dynamik eines Othering« (S. 65) unterworfen und effeminiert. Das Geschehen deutet der Verfasser als männlichen Initiationsritus (vgl. S. 71), bei dem Törleß die »interessanteste Figur« sei, da Basini bei ihr »sinnliche Erregung« (S. 72) und nicht zuletzt Empathie auslöse. Die militärisch-männlich konnotierte Grausamkeit kulminiert mit Ernst Jüngers Weltkriegsschilderungen und seinem manifestartigen Text Der Arbeiter (1932), in dem die antifeministische Haltung der konservativen Revolution im ›neuen Menschen‹ Ausdruck finde, wobei, so MüllerFunk, der Text die Grausamkeit »verführerisch einfordert« (S. 103). Während sich Müller-Funks Blick in Kapitel 4 der römischen Antike anhand von Senecas De Clementia (55–56 n. Chr.) und der Grausamkeit als Unfähigkeit zur Affektkontrolle zuwendet (vgl. S. 107–129), diskutiert das anschließende Kapitel die Position des Machthabers im »Dreieck von Grausamkeit, Macht

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und Gewalt« (S. 131) am Beispiel von Elias Canettis Essay Masse und Macht (1960). Kapitel 6 (S. 169–193) widmet sich Nietzsches Blick auf die Grausamkeit in Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887), wobei die Grausamkeit »Nietzsche zufolge ein entscheidendes Movens der kulturellen Evolution« (S. 176 f.) darstelle. Sexuelle Gewalt und Grausamkeit untersucht die Studie am Beispiel von de Sade und unter Einbezug von Horkheimer/Adorno und Roland Barthes in Kapitel 7. Mit Ismail Kadare und René Girard analysiert Müller-Funk anschließend die Trias von Opfer, Gewalt und Grausamkeit, wobei besonders die Rache und der Sündenbock im Zentrum des Interesses stehen. Das anschließende Kapitel 9 zu Arthur Koestler geht der Frage nach einer ›Ethik der Grausamkeit‹ nach, während sich Kapitel 10 mit kolonialen Verbrechen unter Bezug auf Mario Vargas Llosa auseinandersetzt. Die nazistische Folter wird anschließend mit Jean Améry in den Blick genommen. Den Abschluss der vorliegenden exemplarischen Diskursgeschichte bildet ein knappes Kapitel zu bzw. ›nach Freud‹, in dem Müller-Funk über die Grausamkeit resümiert: »Was Ich ist, soll Nicht-Ich werden. Die Vernichtung des Gegenübers ist das Credo aller Grausamkeit.« (S. 314) Eine Untersuchung zum derart breiten Thema der Grausamkeit kann nur exemplarisch verfahren und muss zwangsläufig Leerstellen aufweisen; ihr dezidiert essayistischer Charakter wird darüber hinaus auch am mit neun Seiten relativ knappen Literaturverzeichnis ersichtlich, das insgesamt recht wenig Forschungsliteratur zu den jeweiligen Untersuchungsgegenständen mit einbezieht. Auch wenn den Lesenden nicht ganz klar wird, nach welchen Kriterien genau die Systematik der Untersuchungsfacetten der Grausamkeit und die Textauswahl erfolgen, sind die essayistischen Denk- und Suchbewegungen um die Grausamkeit mit ihren kenntnisreichen Digressionen bereichernd und erhellend zugleich. Der Autor weiß dabei um die affirmative Kraft der Grausamkeit und der bisweilen sogartigen Wirkung ihrer Inszenierungen auf die Lesenden, bewegt sich bei ihrer Analyse vor diesem Hintergrund jedoch souverän auf distanziert-reflektierten Wegen. Was Müller-Funks Essay nicht berücksichtigt, sind Grausamkeitsdarstellungen in audiovisuellen Medien und Künsten, wie beispielsweise Filmen, Serien oder auch Dokumentarfilmen und (historischen) Fotos. Während Diskurse wie die Tierquälerei (und der entgegengesetzte Terminus der ›bestialischen Grausamkeit‹) oder die sogenannten ›kleinen‹ Grausamkeiten des Alltags und zwischen den Geschlechtern – sozusagen jene ohne strafrechtlich relevanten Hintergrund – eher nur am Rande thematisiert werden, sind sozialpsychologische Analysen wie Erich Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973) oder Roy F. Baumeisters Vom Bösen. Warum es menschliche Grausamkeit gibt (2013) sowie neuere Untersuchungen zu Literatur und Gewalt (DröscherTeille/Nitschmann 2021) nicht mit einbezogen worden. Auch dem Verhältnis von Grausamkeit und dem diskursiv breiteren Feld der Gewalt wäre noch weitere Aufmerksamkeit zu schenken; können ›objektive‹ Grenzen markiert

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oder Kriterien herausgebildet werden, an denen Gewalt sich in Grausamkeit transformiert? Wenn der Autor vom »›magische[n]‹ Dreieck von Grausamkeit, Macht und Gewalt« (S. 131) spricht, so zeigt dies, dass ihm die Begriffe, trotz der Absicht, sie »auseinanderzuhalten« (S. 131), bisweilen fließend ineinander übergehen und sich manche Analysen eher Gewaltformen in der Literatur oder Machtphänomenen widmen, die nicht zwingend als grausam zu betrachten sind. Wie schwierig eine kriteriengeleitete Definition sowie eine Verhältnisbestimmung der Begriffe ist, die beispielsweise in einem Fazit der Untersuchung, auf das der Autor verzichtet, hätte vorgeschlagen werden können, zeigt sich z. B. im Vergleich mit Arendt. Während Müller-Funk in Kapitel 5 konstatiert, dass »Grausamkeit ein wohlüberlegtes Instrument der Machterhaltung« (S. 138) sei, hatte Arendt in Macht und Gewalt (1970) die These vertreten: »Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden.«1 Insgesamt leistet die Untersuchung mit ihren beispielhaften Vertiefungen einen wertvollen Beitrag zur Analyse literarischer Grausamkeit und einen neuen Einstieg in das Diskursfeld. Müller-Funks Untersuchung blickt der Grausamkeit ebenso unvoreingenommen wie kritisch ins Auge; er weiß um ihr Affirmationspotenzial und führt die Lesenden vor diesem Hintergrund mit breitem Wissen auf Wege, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sich gleichzeitig vor ihren Abgründen zu bewahren. Die fortwährende Analyse der Grausamkeit bleibt bedeutungsvoll, denn dass die Grausamkeit in der näheren Zukunft, gerade auch im Hinblick auf den neuen Krieg in Europa, aus der Weltgeschichte abtritt, erscheint kaum realistisch. Till Nitschmann Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten. Gelesen v. Peter Simonischek, Peter Matić, Birgit Minichmayr, Martin Vischer und Dörte Lyssewski. MP3CD und zwei Booklets. Hg. v. Albert Bolliger. Kilchberg: Sinus-Verlag 2021. 290 Min. + 476 S. € 49,80. Seit einigen Jahren ist der Mann ohne Eigenschaften in einer ungekürzten Lesung des österreichischen Schauspielers Wolfram Berger als Hörbuch verfügbar und neu zu entdecken: Knapp 63 Stunden umfasst die im Audio-Verlag veröffentlichte Aufnahme, viele Bahn- und Autobahnfahrten können mit dem Personal von Musils Roman verbracht werden. Dem Schweizer Sinus-Verlag ist es zu verdanken, dass mittlerweile auch die weniger bekannten Texte des Autors als Hörbücher zugänglich sind: Einer Aufnahme der Vereinigungen, gelesen von Dörte Lyssewski und Frank Arnold, ließ er nun eine gleich von fünf Schauspieler*innen eingelesene Au1

Hannah Arendt: Macht und Gewalt [On Violence, 1970]. Aus d. Englischen v. Gisela Uellenberg. Mit einem Interview von Albert Reif. 17. Aufl. München u. Zürich: Piper 2006, S. 57

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dioedition des Nachlass zu Lebzeiten folgen; der Hessische Rundfunk hat sie kürzlich zum »Hörbuch des Jahres 2022« gewählt. Dörte Lyssewski, Birgit Minichmayr, Peter Simonischek, Martin Vischer und der 2019 verstorbene Peter Matić interpretieren Musils Textsammlung auf überzeugende Weise. Wenn Simonischek mit der programmatischen Vorbemerkung anhebt, Minichmayr das Fliegenpapier mit präziser Deutlichkeit liest und bei anderen Texten, etwa in der ›unfreundlichen Betrachtung‹ Schwarze Magie oder in der Geschichte aus drei Jahrhunderten, die Sprecherrolle im Ensemble weitergereicht wird, zeigt sich die Faszination dieser literarisch-feuilletonistischen Preziosen in neuer Frische. Wer Christoph Waltz’ Lesung der Portugiesin schätzt und Wolfram Bergers Interpretation des Mann ohne Eigenschaften mit Vergnügen hört, wird gerade an Simonischeks Lesestücken, ganz besonders an der abschließenden Novelle Die Amsel, seine Freude haben. Albert Bolliger hat die Höredition des Nachlass zu Lebzeiten entworfen und ausführlich kommentiert. Den Sinus-Verlag, in dem das ambitionierte Projekt veröffentlicht wurde, hat er selbst vor mehr als 30 Jahren gegründet. Sitz des Verlages ist Kilchberg, jener Ort im Kanton Zürich, in dem Thomas Mann das letzte Jahr seines Lebens verbrachte. Nach großangelegten Hörbuch-Editionen des Gesamtwerks von Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller hat Bolliger sich nun einem österreichischen Exilanten gewidmet, für den die Schweiz für wenige Jahre eine ambivalente Heimat war. Mag das Format des Booklets für einen ausführlichen wissenschaftlichen Kommentar ungewöhnlich sein, ist fachlich nichts dagegen einzuwenden. Und die Chancen, neues Publikum für Musils Nachlass zu Lebzeiten zu begeistern, stehen mit der vorgelegten Edition wohl besser als mit einem allzu akademisch anmutenden Buch. Die beiden Booklets enthalten den vollständigen Text des Nachlass zu Lebzeiten, darüber hinaus ausführliche biographische Angaben, Informationen zur Druckgeschichte sowie Kommentare zu den einzelnen Beiträgen der Sammlung. Ein Abschnitt unter dem Titel »Parerga und Paralipomena« versammelt zudem Texte von und über Musil (etwa Canettis Musil-Porträt in Das Augenspiel), aber auch Reflexionen über tierethische Fragen und andere weiterführende Gedankenspiele. Bolligers Ziel ist es nicht, einen eigenständigen Forschungsbeitrag zu liefern, sondern die Erkenntnisse der Musil-Philologie übersichtlich und gut verständlich zusammenzufassen – eine Handreichung für jene, die sich mit den Stimmen von Matić und Minichmayr in diesen Werkkosmos einhören und anschließend Genaueres über Text und Kontext erfahren wollen. Alle Quellen und die Herkunft der ausführlich zitierten Lebensdokumente sind stets ausgewiesen, sodass klar ist, wo man bei Interesse weiterlesen kann. Dass bei einem Hörbuch solche philologische Akribie waltet, ist selten, die Edition eine überzeugende Bereicherung des Musil-Kosmos. Harald Gschwandtner

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Sebastian Hackenschmidt, Roland Innerhofer, Detlev Schöttker (Hg.): Planen – Wohnen – Schreiben. Architekturtexte der Wiener Moderne. Wien: Picus Verlag 2021. 200 S., ca. 70 Abb. € 34,–. Nicht nur Hermann Bahr hat für jene neue, im Wien der Jahrhundertwende entstandene Literatur den Begriff der Moderne verwendet. Vielmehr gehört es zum Kennzeichen moderner Gesellschaften, sich selbst als modern zu beschreiben und dabei nicht zu wissen, was darunter zu verstehen ist. Folglich ist die bis heute anhaltende Diskussion um Moderne, Modernisierung und Modernität konstitutiver Bestandteil moderner Gesellschaften, die sich selbst immer wieder die Notwendigkeit einer Modernisierung attestieren, sich also »selber gleichsam nacheifern müsse[n], um endlich modern zu werden.«1 Bei so viel abstrakter Komplexität dürfte nicht nur Karl Kraus froh gewesen sein, dass er die Wiener Moderne in Wien tatsächlich treffen konnte, nämlich im Café Griensteidl, wo Hermann Bahr Ende der 1880er Jahre die Gruppe JungWien gründete, zu der u. a. Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Felix Salten gehörten. Die wiederum hat Kraus in seinem Essay Die demolirte Literatur (1896/97) allesamt mit ausufernder Süffisanz karikiert und kommentiert. Kaum war der erschienen, schloss jedoch das Griensteidl, und die Jünger der literarischen Moderne – es waren fast ausschließlich Männer – wechselten ins Café Central oder später in das 1899 von Adolf Loos gestaltete Café Museum oder zogen gleich in grünere Außenbezirke. Solchen und anderen Zusammenhängen von Ästhetik und Topographie zwischen 1890 und 1930 widmet sich der von Sebastian Hackenschmidt, Roland Innerhofer und Detlev Schöttker herausgegebene Band Planen – Wohnen – Schreiben. Dass die Wiener Moderne nicht nur aus Literatur und Literaten bestand, sondern auch aus anderen Künsten, hat der US-amerikanische Kulturhistoriker Carl Schorske in seinem Band Fin-de-siècle Vienna: politics and culture (1981) erstmals im Zusammenhang dargestellt. Aus diesem ästhetischen Kontext, so die Herausgeber in ihrer Einleitung, fielen in der Folgezeit vor allem Architektur und Design häufig heraus, weil sie entweder gar nicht oder isoliert für sich dargestellt wurden (vgl. S. 9 f.). An diesem Defizit setzt der vorliegende Sammelband an, wenn er die Architektur und Architekten der k. u. k.-Metropole zu Beginn des 20. Jahrhunderts dezidiert im Kontext der Wiener Moderne untersucht und dabei Verbindungen zu anderen Künsten, namentlich zur Literatur, sowie zur Publizistik und Philosophie aufzeigt. Dafür ist er in jene drei Teile gegliedert, die bereits im Titel angeführt werden, nämlich Planen, Wohnen und Schreiben. Sie verweisen darauf, dass die folgenden Beiträge unter Architektur nicht nur die in Wien und anderswo realisierten Bauten verstehen, sondern auch Pläne nie gebauter Häuser und die Texte namhafter Architekten. Diese reichen von architekturhistorischen 1

Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 1082.

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Abhandlungen über städtebauliche Überlegungen bis zu ästhetischen Programmen und Polemiken. Es ist nicht zuletzt dieser Ansatz, der das Verdienst des vorliegenden Bandes ausmacht, erlaubt er doch das Aufzeigen neuer Zusammenhänge und das Setzen anderer Akzente. Detlev Schöttker etwa beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Philosophen und diplomierten Ingenieur Ludwig Wittgenstein, der nicht nur den Tractatus logico-philosophicus (1921/22) geschrieben, sondern im Auftrag seiner Schwester auch ein Haus entworfen hat, das 1928 tatsächlich gebaut wurde. Für Schöttker stehen Haus und Text nicht beziehungslos nebeneinander, im Gegenteil: »Sie haben einen gemeinsamen Ursprung im Ingenieurwesen, denn sie basieren auf dem Prinzip der Zusammensetzung eines Ganzen aus selbständigen Teilen, das auch Grundlage der Architektur ist.« (S. 162) Dass das von Wittgenstein entworfene Haus in den verschiedenen Ausgaben seiner Werke meist nicht abgebildet und in der Forschung selten als Teil seines Werkes, sondern lediglich als Aperçu seiner Biografie behandelt wird, korrigiert Schöttker insofern, als er detailliert Gemeinsamkeiten bei der Poiesis des Tractatus und des mehrgeschossigen Hauses an der Ecke Parkgasse/Geusaugasse in Wien aufzeigt. So finden beispielsweise die sieben mit Ziffern bezeichneten Hauptteile des Buches ihre Entsprechung in den sieben kubischen Elementen des Hauses. Eine prominente Stellung innerhalb des Bandes nimmt der Architekt, Architekturkritiker und Kulturpublizist Adolf Loos ein, dem nicht nur zwei eigene Beiträge gewidmet sind, sondern zu dem sich auch zahlreiche Hinweise in den anderen Aufsätzen finden. Gerwin Zohlen konstatiert dabei, dass Loos nicht mit Gebäuden, sondern mit Worten berühmt wurde. Zwar provozierte er die Wiener Gesellschaft »mit Bauten, die karge und glatte Flächen gegen die überkrusteten Fassaden der Gründerzeit setzten« (S. 148); doch es waren seine um 1900 publizierten Texte, die ihn zu einer Art Medienstar werden ließen und ihm im Anschluss seine großen Architekturaufträge verschafften – nicht umgekehrt. Und auch in der Folgezeit beeinflussten einander seine Bauten und Texte immer wieder wechselseitig: Im zeitlichen Umfeld des damals skandalisierten Hauses am Michaelerplatz, das heute nur noch ›Looshaus‹ heißt, »kommt es bei Loos erneut zu einem starken literarischen Produktionsschub« (S. 152), der ihn um 1910 binnen kurzem sechs seiner wichtigsten Essays verfassen ließ, darunter Ornament und Verbrechen, einen der am meisten diskutierten Texte zur Architektur überhaupt, der von Loos zunächst immer wieder als Vortrag gehalten und erst 1929 in der Frankfurter Zeitung gedruckt wurde. Dabei waren es gar nicht die Gebäude im städtischen Raum, auf die sich die architektonische Praxis von Loos konzentrierte, sondern die Innenräume von Häusern, die andere gebaut haben.2 2

Vgl. dazu das Werkverzeichnis von Adolf Opel in der Monografie von Ludwig Münz: Adolf Loos. Mit Verzeichnis der Werke und Schriften. Wien 1989.

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Um diese häufig in Privatwohnungen situierten Inneneinrichtungen bekannt zu machen, griff Loos zu unkonventionellen Methoden, wie HansGeorg von Arburg weiß: Er organisierte 1907 exklusive Wanderungen durch ausgewählte Wohnungen in Wien, an denen er jedoch nicht selbst teilnahm, sondern sich durch eine Begleitbroschüre bei der exklusiven Kundschaft vertreten ließ (ein Faksimile dieses Rarissimums ist im Band abgedruckt). Die liest sich beispielsweise so: »Josefstädterstraße 73, II . Stock, Wohnung des Dr. G., vis-a-vis der vorigen (Aufzug.) Vorzimmer nicht von mir. Speisezimmer in weißem Lack und Mahagoni. Herrenzimmer: Es fehlt das Klavier; bietet ein gutes Beispiel für den Anfang meiner Wohnungen, da ich nur die Grundlinien angebe. Unfertig, da erst seit 14 Tagen bezogen.« (Zit. n. S. 114) Dabei gehen die Loos’schen Broschürentexte nicht in ihrer Reklamefunktion auf, wie von Arburg plausibel zeigen kann; vielmehr verbindet sie gerade ihr Lücken- und Skizzenhaftes paradigmatisch mit einigen poèmes en prose von Peter Altenberg, die ihre Leser mitnehmen auf impressionistische Zimmerreisen durch seine kleinen Wohnwelten. Überhaupt Peter Altenberg: Der Schriftsteller verfügte nie über eine eigene Wohnung und lebte stattdessen bei verschiedenen Mitgliedern seiner Familie, zur Untermiete oder in diversen Hotelzimmern in der Wiener Innenstadt. Letztere dienten hauptsächlich als Übernachtungsmöglichkeit und verfügten in der Regel weder über einen Ess- noch über einen Schreibtisch. Das nötigte Altenberg zu einer ungewöhnlich intensiven Nutzung der Stadt, musste er doch zum Essen, zum Arbeiten oder für Treffen mit Freunden immer wieder andere Orte aufsuchen, wie Ursula Storch in ihrem Beitrag ausführt, den sie programmatisch Die Stadt als Wohnung betitelt. Trotz dieses ständigen Unterwegsseins widmet sich Altenberg in vielen Texte seinen minimalistischen Behausungen, genauer: deren Wanddekoration, die ein Hotelzimmer in ein Privatzimmer transformiert und die zu einem nicht geringen Teil aus diversen Fotografien besteht, wie er sie etwa in dem Text Architekt für Innen-Einrichtung, P. A. beschreibt. Seine ungewöhnliche Wohnsituation – seit 1897 firmierte in Kürschner’s Literaturkalender das Café Central als seine offizielle Adresse – provozierte schon zu Lebzeiten journalistische Texte über ihn, die man heute wohl als ›Homestory‹ bezeichnen würde. Während das Fluide bei Altenberg vor allem seinen unsteten Lebenswandel betrifft, wird es bei Robert Musil zu einem wesentlichen Bestandteil zeitgenössischer Ästhetik, der sich nicht zuletzt in der Architektur manifestiert, wie Roland Innerhofer nachweist. Das betrifft so exemplarisch wie programmatisch das Haus des Protagonisten in Musils unvollendet gebliebenem Roman Der Mann ohne Eigenschaften: »Ulrichs Haus ist ein Spiegelbild seines ›skeptischen Rationalismus‹, also seiner Eigenschaftslosigkeit. Die Überblendung und gegenseitige Durchdringung verschiedener Epochen und Stile in der Fassade entspricht in ihrer Unverbindlichkeit der Inneneinrichtung von Ulrichs Haus, die dem Geschmack zeitgenössischer Raumausstatter überlassen

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wird. [. . .] Damit löst sich zwar eine durch die Wohnform gefestigte Identität auf, doch wird dieser Verlust durch den Mobilitätsgewinn ausgeglichen.« (S. 190 f.) Was bei Altenberg noch der verschrobene Lifestyle eines literarischen Außenseiters war, wird bei Musil zur Signatur einer modernen Zeit, der Innerhofer »Formlosigkeit durch Formenpluralismus« (S. 191) attestiert. Die damit sowohl bei Ulrich als auch bei seiner Schwester Agathe evozierte »Wohnangst« als Angst vor irreversibler Sesshaftigkeit korrespondiert ex negativo mit der »Wiener Wohnkultur« der Zwischenkriegszeit, deren Vertretern Oskar Strnad und Josef Frank jeweils eigene Beiträge gewidmet sind. Beide wollten in Abgrenzung zum »Neuen Bauen« und einer sachlich-kühlen Bauhaus-Ästhetik in Deutschland die Einrichtung des Hauses an den Bedürfnissen ihrer Bewohner und Bewohnerinnen orientieren, ohne dabei mit normativen Stilvorgaben aufzuwarten; stattdessen mischten sie Alt und Neu ohne Berührungsscheu vor dem Trivialen. Hauptziel war die Entwicklung der Wohnung aus der eigenständigen Persönlichkeit ihrer Bewohner, doch genau das verstört Ulrich: »Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind.« (MoE, S. 893) Für ihn ist die Verbindung zwischen Haus (bzw. Wohnung) und Identität nachhaltig gekappt. Um genau die geht es dagegen, wenn namhafte Architekten für namhafte Schriftsteller Häuser bauen, wie etwa Oskar Strnad für Jakob Wassermann. Dessen Haus in der Paul-Ehrlich-Gasse in Wien entstand 1914, vermutlich auf Vermittlung Hugo von Hofmannsthals, »dessen Stadtwohnung in der Stallburggasse Strnad ebenfalls einrichtete« (S. 135), wie die 2018 viel zu früh verstorbene Iris Meder ausführt. Kenntnisreich stellt sie das Bauwerk mit seinen architektonischen Details vor und kommt zu dem Schluss: »Strnads Systeme sind offen: sie beanspruchen keine Schlüssigkeit und thematisieren durch sich selbst ihre Ambivalenz.« (S. 139) Die Villa wiederum, die Josef Hoffmann für Richard Beer-Hofmann im Wiener Cottageviertel am Türkenschanzpark entwarf und die dieser 1906 bezog, sieht Robert Rößler im Kontext eines neuen Interesses an der Natur um die Jahrhundertwende. Während Beer-Hofmann, Schnitzler oder Hofmannsthal zu Hochzeiten des Café Griensteidl in den inneren Wiener Gemeindebezirken lebten, entdeckten sie nun jene Außenbezirke, in denen sich Stadt und Land, Natur und Kultur durchdrangen – es musste ja nicht gleich das 15 Kilometer südwestlich von Wien gelegene Rodaun sein, wohin Hofmannsthal 1901 zog. Entsprechend verweist Rößler darauf, dass »Orte, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Natur und Kultur speisen, [. . .] mehrfach Eingang in die Texte der Jung-Wiener gefunden« (S. 81) haben. Die sozialen Verhältnisse der Arbeiterviertel blieben dagegen eine ferne und fremde Welt, die – anders als in der Berliner Moderne – auch in der einschlägigen Literatur kaum eine Rolle spielte. Am ehesten findet sie sich noch in dem Text-Bild-Band Wurstelprater (1911), der auf die Zusammenarbeit Felix Saltens mit dem Fotografen Emil Mayer zurückgeht und zwischen Po-

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pularkultur und Populismus changiert, wie Sabine Müller in ihrem originellen Beitrag zur Illusionsarchitekturen zwischen Ringstraße und Wurstelprater zeigt. Hier werden die »Einfachen und Niedrigen, Handwerker und Fabrikarbeiter« (S. 75), kurz: die von den Tempeln der Kulturbourgeoisie Ausgeschlossenen in den Mittelpunkt gerückt mit ihrer am Wundern und Staunen orientierten Vergnügungskunst, die zumindest partiell »das subversive Lachen frühneuzeitlicher Volkskulturen« (S. 74) bewahrt. – Auf instruktive Weise und aus unterschiedlicher Perspektive beschäftigt sich also der reich bebilderte Band Planen – Wohnen – Schreiben mit dem Verhältnis von Architektur und Literatur in der Wiener Moderne. Und füllt damit nicht nur eine Forschungslücke, sondern zeigt en passant, dass man literarische Texte auch als Architekturtexte lesen und umgekehrt das erzählerische Potenzial von architektonischen Plänen und Zeichnungen entdecken kann. Thomas Wegmann

Caroline Haupt: Kontingenz und Risiko. Mythisierungen des Unfalls in der literarischen Moderne. Baden-Baden: Rombach 2021 (= Rombach Wissenschaft, Reihe Cultura, Bd. 52). 432 S. € 84,–. »Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; [. . .] ein schwerer jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte«. (MoE, S. 10) Robert Musils bekannte feine Formulierung anlässlich eines Autounfalls könnte gut das Motto für die an der Universität Bonn entstandene Dissertation von Caroline Haupt abgeben, formuliert Musil doch das grundsätzliche Problem der Beobachtbarkeit und Zurechnung des Unfalls. Dass die Arbeit aber erst in ihrem letzten Kapitel darauf zu sprechen kommt, liegt an ihrer Struktur. Musils »Zirkulationsirritation des großstädtischen Verkehrs« (S. 360) gilt nicht nur als selbstreflexive Unterbrechung der »Verkettungslogik« des Erzählanfangs und damit der Form des Romans insgesamt, mit Inka Mülder-Bachs Versuch über den Roman gelesen,1 sondern lasse »Rückschlüsse auf den Normalisierungsstatus« (S. 360) des Unfalls zu. Dies weist Musils Unfalldarstellung im Mann ohne Eigenschaften sowie in Der Riese Agoag eine diskursgeschichtliche Position erst am Ende der Kontingenzbewältigungspraktiken zu, um die es in dieser Arbeit geht. Der »Normalisierung« des Unfalls geht eine lange Geschichte der Ein- und Umwertungen von Unfällen voraus, die in dieser Arbeit herausgearbeitet werden. Kontingenz-, Unfall- und Mythenbegriff werden einleitend methodisch eingeführt, bevor in drei Hauptteilen eine umfangreiche Reihe von Analysen literarischer Texte in ihren jeweiligen Diskursformationen folgt. Der abs1

Inka Mülder-Bach: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, hier S. 50 ff.

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trakte Ansatz der Arbeit mag zunächst irritieren oder den Zugang erschweren. Die Kontingenzproblematik wird mit neuerer Forschung eingeführt, methodisch werden Strukturalismus, Interdiskursanalyse und Narrative als Fokus benannt. Lévi-Strauss’ Mythenbegriff wird kurz als Ansatz genommen, aber nicht auf Roland Barthes’ strukturales Modell der Mythen des Alltags ausgegriffen. Ambitioniert, aber sperrig – so könnte der erste Leseeindruck dieser Arbeit sein, die ihr »Abstraktionsinteresse« (S. 17) explizit ausstellt. Doch spätestens mit den historischen Ausführungen zum Unfallbegriff, stellt sich eine Faszination ein, die sich mit den Analysen der folgenden literarischen Texte verstärkt. Wie hier Detail und Zusammenhang als Narrative und Mythisierung herausgearbeitet werden, bietet eine Vielzahl produktiver Aspekte. Die vielen, dennoch gut eingeführten und dann einer pointierten Lektüre unterzogenen literarischen Texte werden nicht nur als eigenständige Werke thematisiert, Haupt greift keinesfalls nur eine Unfallszene heraus, sondern liest diese stets in einem übergreifenden Zusammenhang – werkspezifisch und epochenspezifisch. So tritt neben das close reading jeweiliger Texte eine Analyse der interdiskursiven Formation, in der die Unfallerzählung in den Zusammenhang mit übergreifenden, kollektiven Interpretationsschemata gestellt wird. Indem Haupt diese Schemabildung und ihre Narration als Mythisierung begreift, gelingt ihr eine ebenso facettenreiche wie umsichtige Geschichte, die weit über einzelne Unfallgeschichten oder Verkehrsgeschichte hinausgeht. Einleitend legt die Arbeit ihren methodischen Ansatz dar, der sich an Jürgen Links und Rolf Parrs Perspektive auf Interdiskurse (vgl. S. 24) und deren Kollektivsymbolik (vgl. S. 26) orientiert. Die Mythisierung, auch im literarischen Werk, trägt immer auch zur kollektiven, gesellschaftlichen Deutung bei, indem Schemata der Zuordnung etabliert werden, die den einzelnen Unfall als Symptom übergreifender Weltdeutung werten. Der Begriff des Mythos wird mit Blick auf Claude Lévi-Strauss’ Mythenanalyse auf die Funktion der Bewältigung von Widersprüchen rückbezogen, wobei Haupt hier auch die Figur des Tricksters als Grenzüberschreitung in den Blick nimmt und in späteren Einzelanalysen zuweilen überraschend anwendet. Von diesem abstrakt gehaltenen Ansatz aus, der auch auf übergreifende Perspektiven der Begriffs- und Gesellschaftsgeschichte etwa Ulrich Becks oder Niklas Luhmanns verweist, entfaltet die Arbeit eine Geschichte, die sich in drei »Narrative« gliedert. Dem ersten Narrativ der »finalen Destruktion« um 1880, konkret dem Eisenbahnunfall auf der Brücke über den Tay, den Theodor Fontanes Ballade in Deutschland so prominent werden ließ, sowie Arbeitsunfällen in der Fabrik in Texten des Naturalismus u. a. bei Gerhart Hauptmann, folgt das »Narrativ der Initiation« in der literarischen Avantgarde. Marinettis Futuristisches Manifest feiert den Unfall als gewaltsame Neubegründung der literarischen Sprache, die Neubegründung durch die Katastrophe. Überraschend verbindet Haupt hier die Form des avantgardis-

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tischen Manifests mit der Poetologie, in der Folge mit der Montageästhetik Hannah Höchs sowie mit Hermann Hesses Steppenwolf. Die Folge und Kombination dieser Fallbeispiele mutet zunächst kühn an, doch die Interdiskursanalyse zeigt letztlich die Zusammenhänge gelungen auf. Unfalltexte Thomas Manns, Franz Kafkas, Otto Julius Bierbaums und Robert Musils analysierend, schließt die Arbeit mit dem »Narrativ der Normalisierung«. Jedes der umfangreichen Hauptkapitel stellt eine übergreifende Topik der Kontingenzbewältigung des Unfalls heraus, die jedoch nicht nur an kanonischen Texten, sondern auch an einer Vielzahl unbekannterer Werke aufgezeigt wird. Erst auf dieser breiteren Basis wird deutlich, was hier als Narrativ und Interdiskurs fokussiert wird und was mit Ausführungen etwa zur Bildpolitik in Zeitschriften zum Eisenbahnunfall in Schottland, über Versicherungsrecht oder über den Kontext der Evolutionstheorie und der Thermodynamik in Bezug auf Arbeitstheorien in der Industrialisierung mitunter völlig neue Perspektiven auf die Texte wirft. Das explizit formulierte »Abstraktionsinteresse« (S. 17) der Arbeit ermöglicht es hier, überraschende Zusammenhänge aufzuzeigen. Eine Stärke dieser Vorgehensweise ist es, die Perspektive auf die bekannten Geschichten der Unfälle einzelner Verkehrsmittel wie Eisenbahn und Automobil ebenso zu erweitern, wie die in der kulturwissenschaftlichen Forschung bislang hervorgehobenen gesellschaftlichen Maßnahmen etwa durch die Etablierung der Unfallversicherung und der Sozialpolitik Bismarcks. Natürlich kennt Haupt die Arbeit von François Ewald2 oder die diesbezüglichen Ausführungen von Claudia Lieb in ihrem Buch zum automobilen Crash als Signum der Moderne.3 Doch diese ambitionierte Dissertation erschöpft sich nicht in der historischen Rekonstruktion einzelner Unfälle oder Unfalldiskurse zwischen 1870 und 1930 oder in der Abfolge von Eisenbahn, Fabrik und Automobil und ihrer literarischen Motivik zwischen Fontane, Hauptmann und Musil. Sie entwirft vielmehr eine grundlegende Perspektive auf die Narrativierung des Unfalls. Die sich der Beobachtung entziehende Kontingenz des Unfalls wird als eine Leerstelle gedeutet, die notwendigerweise Narrative hervorbringt. Sei es, dass Unfälle als Schicksal, als höhere Macht oder als Wille Gottes gedeutet werden, das alteuropäische Deutungsschema der impliziten Schuld, der Unfall als moralische Verfehlung, das sich noch im Naturalismus zeitgleich zur notwendigen Umdeutung im juristischen, versicherungstechnischen und statistischen Diskurs finden lässt, sei es, dass Technik und Natur als rivalisierende mythische Gewalten, wie bei Fontane, figuriert werden. Die literarischen Darstellungen und ihre impliziten Schemata lassen auf kollektive Bewältigungsstrategien schließen. Dass dies nicht nur in kanonischen Texten der Fall ist, sondern dass diese ihrerseits im Kontext einer epochenspezifischen Nar2 3

François Ewald: Der Vorsorgestaat. Frankfurt a. M. 1993. Claudia Lieb: Crash. Der Unfall der Moderne. Bielefeld 2009.

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rationslogik situiert sind, versucht die Arbeit anhand einer Vielzahl weniger bekannter Texte nachzuweisen. Fontanes Ballade Brück’ am Tay steht gerade nicht im Vordergrund des ersten Narrativs der finalen Destruktion, sondern Haupt kontextualisiert den Autor zunächst durch schottische Zeitungsberichte über den fatalen und nachgerade zum nationalen Ereignis stilisierten Brückeneinsturz und analysiert die Gattung der Zeitungsballade. Deren Textund Bildstrategien werden akribisch aufgearbeitet, so dass dieser Teil der Arbeit auch einen Beitrag zur Fontane-Forschung leistet. Auch Hauptmanns Bahnwärter Thiel wird erst ausführlich in den Kontext weniger bekannter literarischer Unfallgeschichten gestellt (Johannes Proelß, August Leverkühn, Max Eyth). Hier stehen Arbeitsunfälle in den neuen industrialisierten Webereien und Spinnereinen im Vordergrund, deren unermüdliche Arbeitskraft der schwachen menschlichen Muskelkraft gegenüberstehen. Die einzelnen Lektüren sind durchweg akribisch ausgearbeitet. Sie leisten jenseits der Zuspitzung auf die Thematik eine Relektüre, deren produktives Potenzial mitunter kritisch gegen den Forschungsstand gewendet werden kann, und empfehlen sich daher auch den jeweiligen Einzelforschungen. Nicht zuletzt zeigen sie auf, dass und wie eine Interdiskursanalyse neue Gesichtspunkte zur Textinterpretation bietet. Eine zweite Geschichte jedoch, die diese Arbeit gleichsam erzählt, geht über die Thematisierung der literarischen Epochen hinaus. Ansetzend mit einer lesenswerten Rekonstruktion des Unfallbegriffs selbst, die so bislang nicht vorlag, greift Caroline Haupt weit in die Diskursgeschichte zurück, letztlich bis zum Sündenfall und konkret zum spätmittelalterlichen Theuerdank mit seiner Figur des Unfallo. Schematisch gefasst stehen sich zwei Diskursformationen gegenüber. Die Begriffsgeschichte des Unfalls verweist auf den Unglücksfall und damit auf das Schicksal und die Figur der Fortuna zurück. In der christlichen geprägten Tradition aber ist nicht das Rad der Fortuna, das jeden in seinem Wechsel trifft, vorrangig, sondern ein Schuldschema: Der Unfall als Unglück ist mit dem Verdacht auf eine gerechte Strafe Gottes verknüpft. Die Wortgeschichte (auch Fall, Vorfall, Abfall) verweist auf die Abweichung von der natürlichen, göttlichen Ordnung. Der Unfall ist dann kein kontingentes Ereignis, sondern letztlich eigenes Verschulden, Hybris oder Hamartia, wie Haupt sich nicht nehmen lässt auf Aristoteles poetologisches Kriterium zu verweisen, den Fehler des Helden, durch den er selbst stürzt. Diese Mythisierung des Unfalls als Unglück im Sinne von Schicksal oder göttlicher Gerechtigkeit gerät in der zunehmend technisierten Moderne jedoch unter Druck. Schon die frühneuzeitliche Schifffahrt hat, wie Burkhardt Wolf in Fortuna di Mare. Literatur und Seefahrt gezeigt hat, erste Versicherungsgesellschaften entstehen lassen, gerade weil sich Glück und Unglück auf offener See nicht mehr personal zurechnen lassen. Haupts Arbeit zeigt dann auch auf, wie groß die Umstellungen im Versicherungsrecht am Ende des 19. Jahrhunderts sind, um Unfälle als Wahrscheinlichkeiten zu denken,

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die nicht mehr personal zurechenbar sind. Der Begriff des Risikos wird ebenfalls neu bewertet, er wird zu einer Größe der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Unfall wird – abstrakt – einkalkuliert und so in die moderne Gesellschaft integriert und normalisiert. Dass die Arbeit diese Problematik von Beginn an in den Blick nimmt, ermöglicht ihre Analysekraft hinsichtlich der so unterschiedlichen Deutungen in den drei epochalen Formationen. Wenn man sich auf ihr ambitioniertes Abstraktionsniveau einlässt, bietet sie höchst auf- und anschlussreiche Perspektiven. Auch jenseits der kulturhistorischen Unfallforschung ist die Arbeit von Caroline Haupt als exemplarischer Ansatz zur Mythopoetik der Moderne und nicht zuletzt der literaturwissenschaftlichen Lektüre empfehlenswert. Dass in ihr Fontane mit populären schottischen Zeitungsdichtern vergleichbar wird oder Marinettis gewaltverherrlichendes Manifest mit Ernst Jünger und Hermann Hesse in einem Kontext erscheint, mag üblichen literaturwissenschaftlichen Ordnungen zuwiderlaufen und provozieren, die eine oder andere Formulierung mag zuweilen etwas zu pointiert oder gewollt erscheinen, doch zeigt diese Arbeit hervorragend, dass die Rekonstruktion interdiskursiver Rahmenbedingungen ein immer noch zu wenig beachtetes Potenzial birgt. Robert Musil jedenfalls, dem die technischen, medialen und psychotechnischen Kontingenzen seiner Zeit bewusst waren, hätte sie wohl mit Interesse wahrgenommen. Matthias Bickenbach Dorothee Kimmich: Leeres Land. Niemandsländer in der Literatur. Konstanz: Konstanz University Press 2021. 221 S. € 24,–.1 Orte oder Gebiete, die niemandem gehören, haben schon immer die Fantasie beflügelt; die Beispiele für literarische Niemandsländer sind Legion. Auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist die »Terra Nullius« (S. 48), so der aus der römischen Antike stammende Rechtsbegriff, ein beliebtes Motiv. Zuletzt ließ Roman Ehrlich in seinem der Climate fiction zuzurechnenden Roman Malé (S. Fischer, 2020) die letzten Glückssucher einer längst hoffnungslos ruinierten Erde ein heikles Paradies in der untergehenden ehemaligen Hauptstadt der Malediven finden; ein paar Jahre zuvor hatte in Neue Mitte (Edition Nautilus, 2011), einer Near-Future-Utopie Jochen Schimmangs, eine Gruppe Aussteiger in einem postdiktatorischen Berlin die Ruinen des ehemaligen Regierungsviertels in einen Ort der Freiheit und des Aufbruchs verwandelt. Mit Dorothee Kimmich hat sich nun eine Literaturwissenschaftlerin, die in der Musil-Forschung keine Unbekannte ist, den Niemandsländern in der Literatur gewidmet. Von ihr stammt zum Beispiel ein für die Ding1

Eine stark gekürzte Fassung dieser Besprechung erschien in: die tageszeitung (16. 6. 2021).

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Forschung wegweisender Essay,2 der sich u. a. Musils Debütroman widmet, sowie der einschlägige Beitrag im Robert-Musil-Handbuch.3 Auch in ihrer neuen essayartigen Studie Leeres Land spielt Musil, neben anderen Autor*innen, eine wichtige Rolle: So liegen für die Tübinger Germanistin die Gründe für das literarische Attraktionspotenzial von herrenlosen Gegenden schon deshalb auf der Hand, weil Niemandsländer als »Möglichkeitsräume« (S. 37) gleichsam modellhaft für eine dem Musil’schen Möglichkeitssinn verpflichtete Literatur stünden. Zum anderen widersprächen sie aber auch dem aufklärerischen Eigentumskonzept, das seit John Locke Besitz und Nutzungsmöglichkeiten mit bürgerlichen Rechten und Identitätsvorstellungen verbindet. Dieses Konzept fand bekanntlich schon früh Gegner wie Jean-Jacques Rousseau, der die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, inklusive aller Kriege und Verbrechen, auf das erste Setzen eines Zaunes zurückführte, wie Kimmich erinnert. Daher bedeute die Reflexion über Niemandsländer, »über den Zusammenhang von Besitz und Nichtbesitz, über den von Kultivierung und Eigentum, über Kolonialisierung und Inbesitznahme, über Zäune, Grenzen und Gräben bzw. über deren Verschwinden zu sprechen.« (S. 12) Gerade heute, wo es mit dem antarktischen Marie-Byrd-Land und dem Bir-Tawil-Gebiet zwischen Ägypten und Sudan nur noch zwei echte Niemandsländer auf der Welt gibt, zeige sich die Ambivalenz, die herrenlosen Gebieten seit jeher innewohnt, besonders deutlich, so die Autorin. Denn einerseits sind immer mehr Menschen aufgrund von Flucht und Migration im politischen Niemandsland von Flüchtlings- und Durchgangslagern zum Warten verdammt (wie zuletzt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine gezeigt hat). Andererseits beschäftigt das Nachdenken über Orte ohne exklusive Eigentumsverhältnisse, mit Ressourcen, die also von allen genutzt werden können (»Commons«), mehr denn je Philosoph*innen, Ökonom*innen und Soziolog*innen. Doch kann man, wie die Autorin es tut, im Anschluss an Giorgio Agamben auch (Konzentrations-)Lager mit entrechteten Insassen zu den Niemandsländern zählen? Oder sind diese nicht eher Beispiele für Foucault’sche Heterotopien, analog zu Gefängnissen oder Psychiatrien? Kimmichs Abgrenzungsversuche gegenüber verwandten Raumkonzepten wie auch Marc Augés Konzept der Nicht-Orte4 überzeugen nur zum Teil. Das betrifft ebenso ihre längere Fußnote zu Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in der sie Internat und Dachkammer im Roman als »Niemandsländer« bezeichnet, die den Protagonisten die Möglichkeit bieten, »Grenzen zu überschreiten, Normen zu brechen und Erfahrungen zu machen, die andere Orte nicht 2 3 4

Dorothee Kimmich: Lebendige Dinge in der Moderne. Göttingen 2011. Dorothee Kimmich: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 101–112. Marc Augé: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München 2010.

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bieten« (S. 154, Fußnote 227). Sowohl Dachkammer als auch Internat bzw. Kadettenanstalt werden von Foucault als Beispiele für Heterotopien aufgeführt.5 Eine anregende Lektüre bietet Kimmichs Studie gleichwohl. Zum Beispiel erinnert Kimmichs einleitende Rekonstruktion des Eigentumsdiskurses daran, wie sehr das aufklärerische Eigentumskonzept in der Geschichte als willkommene Legitimierung für die Kolonialisierung scheinbar herrenloser, ungenutzter Gegenden, von Nordamerika bis Australien, diente. Und zwar ungeachtet der Tatsache, dass »immer schon jemand da« war, so die Autorin: »Niemand ist je der erste im Niemandsland.« (S. 85) Eben davon berichtet auch der Schlussakt von Goethes Faust II, so Kimmich, in dem die Hütte mit den sich liebenden, gastfreundlichen Alten Philemon und Baucis dem Fortschritt störend im Weg steht. Allein der schönen Aussicht auf sein Kolonisierungswerk wegen befiehlt Faust die Deportation der beiden Ureinwohner; Mephisto lässt die Hütte niederbrennen, die Alten sterben. Ein »Kollateralschaden« (S. 75), so Dorothee Kimmich, aus deren Sicht literarische Niemandsländer das Nachdenken über die Grenzen von Eigentum mit der Frage verbinden, »was dieses begrenzte und begrenzende Eigentum für die Eigentümer bedeuten mag und was mit denjenigen geschieht, die nichts besitzen.« (S. 219) Doch geht es in Kimmichs lesenswerter Tour de Force durch die Literaturgeschichte (mit einem überraschenden Seitenblick auf den amerikanischen Westernfilm wie den Kevin-Costner-Streifen Open Range von 2003), in der neben Autor*innen wie Theodor Storm, Gottfried Keller, Franz Kafka oder Elfriede Jelinek auch der zur antikolonialistischen Weltliteratur zählende Chinua Achebe behandelt wird, ebenso um das, was mit denen geschieht, die Niemandsländer betreten. Typisch sei dabei die Verunsicherung, wenn nicht gar Auflösung der (bürgerlichen) Identität. Diese könne befreiend und mit der Lust am Selbstverlust verbunden sein, aber auch verhängnisvoll, wie in Robert Musils Drei Frauen-Novelle Grigia, in der der Protagonist als Möchtegernkolonisator die erotischen Möglichkeiten des scheinbar herrenlosen Fersentales erkundet, um sich dann in einer Höhle im Niemandsland zwischen Leben und Tod zu verlieren. Doch sei nicht nur die Höhle, sondern das in Grigia beschriebene Fersental insgesamt ein Niemandsland, so Kimmich, ein »Möglichkeitsraum« (S. 161): »Für Musil ist das Niemandsland die Übersetzung der Eigenschaftslosigkeit in eine räumliche Dimension, den Mann ohne Eigenschaften gibt es nur in den Niemandsländern der Gesellschaft. Dort ist er als Beobachter und Wahrnehmender zweckrationalem Beobachten überlegen und zugleich entzogen.« (S. 162) 5

Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Übers. v. Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 2021, S. 10 und 17.

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Für die Literatur können Höhlen und Grotten ebenso Niemandsländer sein wie Inseln, Ruinen, Stadtbrachen und Banlieues, ja für Kinder sogar das elterliche Schlafzimmer wie in Michel Leiris’ Das Sakrale im Alltag.6 Als bevorzugter theoretischer Gewährsmann erweist sich der Autorin neben Siegfried Kracauer, der aus der Erfahrung von Exterritorialität Erkenntnisgewinne schlug, und Walter Benjamin mit seinem Passagen-Werk vor allem Georg Simmel. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte der Soziologe seine Idee der »Grenzwüsten«,7 herrenloser Orte des Handels und Verkehrs, an denen »der Gegensatz nicht zu Worte kommt, ohne dass er doch aufgegeben zu werden braucht«,8 an denen also Gegensätze und Differenzen vorübergehend ignoriert werden, um Verständigung zu ermöglichen. Ausgerechnet im Werk des heute eher selten gelesenen Aufklärers Christoph Martin Wieland entdeckt Dorothee Kimmich dabei die größte Nähe zu Simmels Grenzwüsten-Utopie. In Wielands Gesprächen im Elysium (1796), der Insel der Seligen, können Individuen, die zu Lebzeiten Feinde waren, friedlich-produktive Totengespräche führen. Möglich macht dies ein Prozess, den Wieland in Peregrinus Proteus (1791) als »Abschälung«9 bezeichnet, eine, so Kimmich, »Art identitäre Diät, die dazu führt, dass man, von seiner vermeintlichen Besonderheit absehend, die Ähnlichkeiten mit den anderen wahrnehmen und im Gespräch ausloten kann.« (S. 66) Wie schön wäre es, würde eine solche Abschälungsdiät in einer Ära der identitätspolitischen Grabenkämpfe zum Modetrend werden. Oliver Pfohlmann

Paul Michael Lützeler: Hermann Broch und die Menschenrechte. Anti-Versklavung als Ethos der Welt. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2021. 288 S. € 39,95. Angesichts der Großen Regression1 , des Anwachsens demokratiefeindlicher und rassistischer Kräfte auch in den demokratischen Staaten und nun auch des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine braucht über die Zeitge6 7 8 9

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Michel Leiris: Das Sakrale im Alltag, in: ders.: Das Collège de Sociologie 1937–1939. Hg. v. Denis Hollier. Berlin 2012, S. 90–110. Georg Simmel: Über räumliche Projectionen socialer Formen, in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 7. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Hg. v. Rüdiger Kramme, Angelika Rammstedt u. Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1995, S. 201–220, hier S. 215. Ebd., S. 219. Christoph Martin Wieland: Peregrinus Proteus (erster bis dritter Theil), in: ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, zusammen mit dem Wieland-Archiv in Biberach an der Riß u. Hans Radspieler. Bd. IX/27. Hamburg 1984, S. 48. Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Hg. v. Heinrich Geiselberger. Frankfurt a. M. 2017.

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mäßheit der Menschenrechtsdebatte nicht lange diskutiert zu werden. Doch nicht nur die Thematik, auch die Art, wie Hermann Broch seinerzeit die Menschenrechte diskutierte, ist und bleibt aktuell, wie die akribische Studie von Paul Michael Lützeler zeigt. Dennoch könnte man fragen, ob nicht bereits alles zu Broch gesagt worden ist. Gibt es nicht zahlreiche Aufsätze und sogar Bücher, die um Broch und die Menschenrechte kreisen? Ich nenne nur Hartmut Steinecke, Joseph P. Strelka, Manfried Welan und natürlich Lützeler selbst. Lützeler beweist mit seiner neuen Arbeit, dass es doch noch einiges zu entdecken und zu verstehen gibt. Das liegt nicht nur daran, dass Broch ein ungemein vielschichtiger Autor ist, sondern wohl auch daran, dass sein Biograph Lützeler imstande ist, verschiedenste Bezüge zwischen dem Wirken Brochs und den Problemen seiner Zeit aufzudecken und zugleich zahlreiche Querverbindungen zu unserer Gegenwart herzustellen. Das Buch unterscheidet sich von der bisherigen Literatur zu Broch und den Menschenrechten dadurch, dass hier Brochs Werk in seiner Gesamtheit unter diesem Gesichtspunkt dargestellt wird. Dazu wählt Lützeler nicht den Weg einer rein biographischen Vorgangsweise, sondern er untersucht Werke und Wirken des Autors im Hinblick auf die Menschenrechte. Interessant wird das besonders dadurch, dass Lützeler im Zuge dessen auch eine akribisch genaue und treffsichere historische Kontextualisierung dieses Wirkens gelingt. Somit werden die bisweilen erfolgreichen, bisweilen scheiternden, aber immer hochinteressanten Bemühungen Brochs um die Menschenrechte im Einklang wie im Kontrast zu seinen Zeitgenossen dargestellt. Damit erschließt sich uns als Publikum eine unglaubliche Fülle an Detailwissen über andere Autor*innen ebenso wie über die jeweiligen Menschenrechtsdiskurse. Am Ende versteht man nicht nur Broch besser, sondern auch seine Zeit und sogar unsere Gegenwart. Lützelers Buch ist, abgesehen von Einleitung und Schluss, in neun Kapitel unterteilt: Drei Kapitel beschäftigen sich mit Brochs essayistischem Werk, der Bill of Economic Rights, der Völkerbund-Resolution und der Massenwahntheorie; drei weitere sind der Entsühnung, dem Tod des Vergil und der Verzauberung sowie den Schuldlosen gewidmet, also dem dichterischen Werk. Die letzten drei Kapitel befassen sich mit dem Briefwechsel im Exil, und zwar mit Hannah Arendt, Erich von Kahler und Abraham Sonne. Das sollte aber nicht den Eindruck erwecken, als würde der Autor nun Kapitel für Kapitel die einzelnen Werke Brochs im Hinblick auf das Thema Menschenrechte abarbeiten. Vielmehr ist in jeder einzelnen Untersuchung die Gesamtheit des Broch’schen Menschenrechtsansatzes präsent, es werden Vergleiche und Parallelen gezogen, auf diese Weise wird die Entwicklung des Autors nachvollziehbar. Eine andere Darstellungsweise wäre wohl auch gar nicht möglich, denn bei »Broch sind diskursives und narratives Schreiben nicht streng voneinander getrennt. [. . .] Als Autor der Moderne ist Broch auch Dichter, wenn er philosophiert und auch Theoretiker, wenn er erzählt«

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(S. 82 f.), wie Lützeler betont. Von besonderem Wert sind m. E. die drei Abschnitte über die Korrespondenzen Brochs, da hier Diskurse und Bezüge aufbereitet werden, die man sich nicht so leicht selbst aneignen könnte. Das gilt wohl am meisten für den Kontakt Brochs und Canettis zu Abraham Sonne, der ein Mann des Wortes, nicht aber der Schrift war. Aber auch die anderen Briefwechsel sind für die Thematik sehr wichtig, da Brochs Menschenrechtskonzept gerade erst in Abgrenzung z. B. von den Vorstellungen Hannah Arendts seine Konturen gewinnt. In einem imposanten Einführungsessay stellt Lützeler Brochs Wirken für die Menschenrechte nicht nur in den Kontext seiner Zeit, sondern er skizziert in knapper Form auch den langen Weg der Idee der Menschenrechte bis zu ihrer Kodifizierung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 bzw. zu den weiteren Schritten, wobei vor allem der International Criminal Court erwähnt werden muss, der 2002 seine Tätigkeit aufgenommen hat – eine Einrichtung, die Broch bereits seinerzeit vehement gefordert hatte. Die Modernität Brochs, so Lützeler weiter, zeige sich aber nicht nur in solchen visionären Vorschlägen, sondern besonders darin, dass Broch die Menschenwürde in den Mittelpunkt seiner Argumentation gestellt hat, ein Begriff, der erst relativ spät Eingang in die Debatte gefunden hat. Brochs Ausgangspunkt ist die christliche Idee der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott. Daraus leiten sich der Gedanke der »Sakralität der Person« (S. 13) und die »Nichtverhandelbarkeit menschlicher Freiheit« (S. 12) ab. Brochs »Glaube an die innerste Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt« (KW 12, S. 532),2 wie er es in der Massenwahntheorie formuliert, ist eine Formulierung, die durch die Rede Friedrich Eberts bei der Gründung der Weimarer Republik im November 1918 inspiriert worden zu sein scheint – ein Detail, das den ursächlichen Zusammenhang zwischen Demokratie und Menschenrecht wohl schlagartig sichtbar macht. Ebert hatte gesagt: »Wir wollen errichten ein Reich des Rechtes und der Wahrhaftigkeit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt.«3 Damit berief sich der sozialdemokratische Politiker wiederum auf den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der in einer Vorlesung von 1813 von »Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt«,4 gesprochen hatte. Brochs Argumentation gipfelt in der Forderung nach »Nicht-Versklavung« als Kern aller Menschenrechte. »Der Mensch darf den Menschen nicht versklaven.« Das ist, nach eigener Aussage, der »Zentralsatz des Menschen2 3 4

Die Sigle KW 12 steht für: Hermann Broch: Massenwahntheorie. in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. 13 Bände, hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 12. Frankfurt a. M. 1979. Rede Friedrich Eberts in der Nationalversammlung vom 6. Februar 1919, in: Reichstagsprotokolle 1919/20, 1, https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000010_00010.html (aufgerufen am 30. 9. 2022). Johann Gottlieb Fichte: Über den Begriff des wahrhaften Krieges in Bezug auf den Krieg im Jahre 1813. Tübingen 1815, S. 52, https://archive.org/details/bub_gb_U2xMAAAAcAAJ/page/ n65/mode/2up (aufgerufen am 15. 10. 2022).

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rechtes« (KW 11, S. 113).5 Dies entspricht Brochs Erfahrung mit dem HitlerRegime, die das wichtigste Movens für seine Arbeit an der Völkerbund-Resolution war. In diesem Sinne erklärt er auch: »Das Konzentrationslager ist die letzte Steigerung dieser Versklavung [. . .]« (KW 12, S. 485). Doch legt Broch, vor allem in seinem Aufsatz Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung, den Begriff sehr weit an, was ihn noch anschlussfähiger für gegenwärtige Diskurse macht. Denn für Broch ist Versklavung im weiten Sinne nicht nur ein Kennzeichen von Diktaturen, sondern auch eine Gefahr, der jede Demokratie permanent ausgesetzt ist. Diese Verbindung von Menschenrechten und Demokratie, und die Analyse der Bedrohung der Demokratie auch durch den »Reinkapitalismus« (KW 11, S. 120), machen Brochs Studien heute aktueller denn je. Konsequenterweise engagiert sich Broch auch für soziale Menschenrechte – eine weitere Pionierleistung, die bis heute keine Selbstverständlichkeit ist. Broch ist, so Lützeler, ferner auch darin ein Vorreiter heutiger Diskurse, dass er auf der Verbindlichkeit und Einklagbarkeit der Menschenrechte besteht und insofern auch bereit ist, Einschränkungen der nationalen Souveränität hinzunehmen – daher auch der erwähnte Vorschlag eines internationalen Gerichtshofs. Broch war sich sehr wohl bewusst, dass die Durchsetzung der Menschenrechte einerseits auf klare Gesetze, andererseits aber auch auf feste ethische Schranken angewiesen ist, die durch Bildung in allen Menschen verankert werden müssten. In diesem Sinne hat er den Begriff des Irdisch-Absoluten geprägt (vgl. KW 12, S. 456). Lützeler erläutert diesen mit Verweis auf eine Passage bei Broch: Der »Satz von der unbedingten Verwerflichkeit der menschlichen Versklavung« müsse »als ›irdisch absolut‹ gelten und an die Spitze des empirischen Menschenrechtes gestellt werden« (KW 12, S. 472). Es sei dies – nach der Fundierung des Gottesrechts hin zur Fundierung des Menschenrechts – eine »Wendung vom Über-Irdischen (der Ebenbildhaftigkeit) zum Irdischen (des Konzentrationslager-Grauens) [. . .] und die Notwendigkeit dieser Wendung hat sich aus der Erfahrung des totalitären Schreckens ergeben« (KW 11, S. 376). Die Sakralität der Person im Sinne der Ebenbildlichkeit wird keineswegs preisgegeben, sondern »durch Säkularisierung als ›irdischabsolut‹ gesichert« (S. 21). Anders gesagt, wenn diese ethischen Schranken früher durch eine allgemein geteilte Religion gesichert wurden, müsse dies heute die Angelegenheit der Demokratie sein. Diese Erläuterung Lützelers ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr es der Autor versteht, Brochs Anliegen mit den Fragestellungen der Gegenwart zu verknüpfen, was übrigens insgesamt für seine Arbeiten gilt, nicht zuletzt für seine Studie Bürgerkrieg global.6 Damit erweist sich Lützeler 5 6

Die Sigle KW 11 bezieht sich auf: Hermann Broch: Politische Schriften, in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. 13 Bände. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 11. Frankfurt a. M. 1978. Paul Michael Lützeler: Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München 2009.

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erneut als ein Wissenschaftler, dem es offensichtlich nicht bloß darum geht, eine gewiss interessante Persönlichkeit immer genauer zu erforschen, sondern der mithilfe von deren Gedanken und Wirken unsere Gegenwart bzw. auch die condition humaine besser zu begreifen trachtet. Wie Broch selbst vertritt Lützeler das Anliegen, dass das »Menschenrecht als realitätstüchtige Imagination« (S. 22) in breiten Kreisen der Bevölkerung Eingang finden möge. Er tritt damit, unter Berufung auf Broch, der häufig geäußerten Behauptung entgegen, den Menschenrechten als ›soft power‹ komme keine wirkliche politische Bedeutung zu. In diesem Sinne hätte Lützeler vielleicht noch stärker auf die Dynamik der Menschenrechtskodifizierung eingehen können, denn dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Zum Beispiel ist der Vorschlag nach Kodifizierung von sprachlichen Menschenrechten trotz engagierter Initiativen immer noch sehr umstritten, ebenso wie die Forderung nach Aufnahme eines Menschenrechts auf Frieden oder eines Menschenrechts auf Migration. Lützeler hat mit dieser Publikation wieder einmal Maßstäbe gesetzt. Sein Buch ist informativ, theoretisch erhellend und leidenschaftlich zugleich. Man merkt es jeder Zeile dieses Buches an, dass es seinem Autor nicht nur um Hermann Broch zu tun ist, dem er den allergrößten Teil seiner wissenschaftlichen Karriere gewidmet hat, sondern dass ihm die Realisierung der Menschenrechte ebenso ein Anliegen ist. Wer, wie der Rezensent, seit einiger Zeit bemüht ist, Hermann Broch als Friedensforscher zu entdecken, ist umso dankbarer für diese neuerliche Pionierarbeit, die viele Zusammenhänge erhellt und zugleich neue Fragen aufwirft bzw. alternative Denkpfade eröffnet. Werner Wintersteiner Lukas Gloor: Prekäres Erzählen. Narrative Ordnungen bei Robert Walser, Franz Kafka und Theodor Fontane. Paderborn: Brill, Wilhelm Fink 2020 (= Robert Walser-Studien, Bd. 5). 303 S. € 62,–. Eine Zeichnung von Thomas Schütte, Tusche und Bleistift auf Papier, bespielt das Cover von Lukas Gloors ausführlicher Studie im Festeinband.1 Man sieht ein weißes Blatt, im Zentrum drei untereinanderstehende Wörter: Some Odd Stuff. Als Akronym gelesen geben die Anfangsbuchstaben ein bekanntes Notsignal zu erkennen: SOS, eigentlich Save Our Souls. Spaziergänger spazieren, Erzähler erzählen. Soweit alles normal. Wenn allerdings ein Erzähler beginnt, über einen Spaziergänger oder Räuber zu erzählen, und der Spaziergänger oder Räuber seinerseits über den erzählenden Erzähler, der eine auf die Zwischenrufe des anderen eingeht oder sich gar über 1

Thomas Schütte: Some Odd Stuff (2012) aus der Serie Watercolors for Robert Walser and Donald Young.

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sie hinwegsetzt, dann haben wir ihn beisammen, Some Odd Stuff. Er reizt uns, die Dinge in Ordnung zu bringen. Doch was ist eigentlich geschehen? Kam hier nicht einfach eine Erzählung in Gang? Die Narratologie, die versucht, Robert Walsers Texte, die berühmt dafür sind, den eigenen Verlauf unablässig zu kommentieren, in den Griff zu bekommen, schwingt sich im Rahmen dieser Disziplinierungsversuche gerne in ungeahnte Höhen auf. Genau hier setzt Gloors textnahe Studie zum prekären Erzählen an. Sie hinterfragt Begrifflichkeiten, Normen und Gelingensbedingungen, die von theoretischen Modellen an literarischen Texten erprobt werden, welche allerdings eigenen Gelingensbedingungen – eben Ordnungen – folgen, die zuerst mittels Close Reading eruiert und benannt werden müssen. Gloor entwickelt den Begriff des prekären Erzählens vor dem Hintergrund eines kulturgeschichtlichen Ordnungsproblems der Moderne, das er einleitend anhand von Zygmunt Bauman, Georg Simmel, Fritz Mauthner und Henri Bergson umreißt. Kontingenz und Ambivalenz der Moderne erfassen die narratologischen Unterscheidung von story und discourse, deren inversiven Turbulenzen Gloor in seinen Lektüren folgt (vgl. S. 14). Die Interpretationen setzen bei eben diesen Irritationsmomenten an, um sowohl erzählerische Ordnung als auch Ordnungsherstellung, also den Prozess selbst, genauer in den Blick zu nehmen. Der narratologische Ansatz ist ebenso originell gesetzt wie theoretisch fundiert, die Auswahl der Primärtexte allerdings überrascht: Zu Robert Walser und Franz Kafka gesellt sich nämlich Theodor Fontane. Eine »ungewöhnliche Verwandtschaft« (S. 11) vereine die drei Autoren, so Gloor; er sieht in ihnen »implizite Theoretiker und explizite Praktiker narrativer Ordnungen« (S. 12). Während in Fontanes Roman Der Stechlin die Ordnung untergründig aus den Fugen gerät und zugleich intakte narrative Kontrollmechanismen die Erzähloberfläche kalmieren, zeige sich bei Kafka das Prekäre in Form von Verunmöglichungen und Aporien, wie Gloor anhand der Erzählung Der Bau exemplifiziert. In der Mitte rückt durch Walser (Räuber-Roman, die Erzählung Der Spaziergang und weitere Kurzprosatexte) das prekäre Erzählen in den vielen Facetten von Ambivalenz, Digression und Performanz in den Vordergrund. Walser und Kafka spitzen zu, was Fontane zu kontrollieren versucht und dabei indirekt als das Prekäre an den Ordnungsverhältnissen bestätigt. Die Spannung innerhalb des Prekären lautet schließlich auf Ordnung und Ambivalenz (vgl. S. 269) – nicht auf Ordnung und Unordnung. Das ist Gloors ebenso entscheidender wie folgenreicher Punkt. Die Stärke der Studie liegt in der präzisen Auseinandersetzung mit Walsers Prosatexten, die als Material quantitativ überwiegen. Anhand der textnahen Analysen werden erzähltheoretische Folgerungen entwickelt und extemporiert, die sich im Begriff des prekären Erzählens terminologisch konsolidieren. Insgesamt wird von Gloor das Prekäre als Gegenmodell zum Defizitären in Stellung gebracht. Die Widersetzlichkeit der Texte, die sich

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aus der Anwendung etablierter Erzählmodelle und damit verbundener Normen ergibt, wertet Gloor als ein produktives Moment. Er zeigt, wie es als Merkmal einer eigenständigen, narrativen Ordnungsleistung des literarischen Textes verstanden werden kann. Somit ist Gloor in der Lage zu demonstrieren, wie in den Texten von Walser, aber auch von Fontane und Kafka, Ordnung ebenso unterlaufen wie etabliert wird: »Prekäres Erzählen ist ein Akt, der zwangsläufig seinen Konstruktionscharakter betont und seine Künstlichkeit, deren Ordnung und Ordnungsverfahren nicht notwendig, sondern kontingent sind, herausstellt.« (S. 10) Die negative Konnotation des Wortes ›prekär‹ wird in Kauf genommen, der Fokus liegt vielmehr auf der radikalen Kontingenz, die darin angelegt ist: Denn ›prekär‹ bedeutet für das Erzählen mit Blick auf die Ordnungsproblematik nicht so sehr ›instabil‹ als vielmehr ›auf Abruf gegeben‹, wodurch der Souveränität der literarischen Darstellungsweise ein neuer argumentativer Boden geschaffen wird. Die Studie gliedert sich in drei textzentrierte Kapitel, die Fontane, Walser und Kafka gewidmet sind. Bei Walser, der das Haupt- und Herzstück der Arbeit bildet, setzt sich häufig mit dem Losmarschieren der Figuren auch die Erzählung in Gang, wie bereits Gloors Hinführung zeigt (vgl. S. 4). Walsers Texte sind in dieser Anlage immer auch eine Reflexion über Norm, über Wirkung und Desavouierung von Gelingensbedingungen. Unter Gloors Fokus wird einmal mehr deutlich, dass Walser die Problematisierung von Ordnung und Norm erzähltechnisch aufgreift, anstatt sie aufzulösen. Bei Walser verschwindet nichts, es findet sich ›daneben‹: sowohl sittlich als auch räumlich. Syntaktisch ausgedrückt kann diese Problematik als eine Angelegenheit der Kontiguität angesehen werden, wie Gloor vielfach treffend ausführt (vgl. S. 119, 123–125, 132, 143, 197). Wir wissen, Walser evoziert prototypische Erzählsituationen und unterläuft sie (vgl. S. 125). Durch Ironie, Übertreibung, Widersprüche und Sprünge erscheine die ordnende Instanz als unzuverlässig: »Der konzeptionellen Fragilität des Erzählers zum Trotz vermag es die Stimme [. . .], die Kohäsion des Textes zu garantieren, gerade auch durch Verfahren, die die realistische Erzählordnung in Frage stellen. Die Unverwechselbarkeit der Stimme spiegelt sich dabei in der Kontiguität der Episoden, die sich durch die Topografie des Spaziergangs auf einer Art Bahn befindet, die eben diese Kontiguität sicherstellt.« (S. 125) Trotz dieser klugen und grundsätzlichen Beobachtung ist Gloor zum Teil etwas zögerlich in der Schlussfolgerung, an einigen Stellen entkommt die Studie der Gegendynamik einer unausgesprochenen Unordnung, die sie eben entkräften will, nur schwer, wodurch die besondere Qualität des Walser’schen Textes manchmal als Zugeständnis wirkt. Die neue Souveränität des Erzählens äußere sich »nicht selten«; sie »scheint« nicht an herkömmliche Erzählordnungen gebunden zu sein (vgl. S. 11). Hin und wieder schleicht sie sich dann doch ein, die Normvorstellung hinter dem Ordnungsgedanken, dem von Gloor programmatisch offen und wertfrei begegnet wird: »Walsers Erzählern ist es

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weder möglich noch erscheint es ihnen erstrebenswert, ihre Geschichten in ordentliche Bahnen zu lenken.« (S. 93) Einerseits verdeutlicht Gloor Digression als moderne Ordnungsleistung, andererseits wird das Abweichen vom »normalen Gang der Erzählung« (S. 129) oder vom »gewöhnlichen Gang und Hauptweg« (S. 129) moniert. Dabei bleibt beim Lesen der Fluss aber immerzu bestehen: Weicht der Spaziergänger dem Riesen Tomzack aus,2 so ist dieses Ausweichen etwas für den Vorgang des Spaziergehens nichts Ungewöhnliches. Der Spaziergang wird, ebenso wie der Lesefluss, weitergeführt. Lässt man den Riesen beiseite, zeigt sich paradoxerweise gerade im Normalfall das ausgemacht Artifizielle. Gloor: »Narrative Ordnungsmuster werden zitiert und anschließend umgangen, wodurch deren Künstlichkeit und Irrelevanz aufgezeigt wird.« (S. 128) Die große Qualität von Gloors Ausführungen zum prekären Erzählen liegt nicht zuletzt darin, dass sie einen Reflexionsprozess evozieren, der danach fragt, was denn überhaupt ordentliches Erzählen ist oder zu sein hat. Der Hauptteil der Studie zeigt sich als überzeugende Apologie der Walser’schen Verweigerung, die Gloor als genuine Ordnungsleistung herausarbeitet. Die narratologische Annäherung an Walsers Subversion konventionellen Erzählens hat allerdings auch ihre Grenzen. Walser wird in Gloors Lektüren zwar als Kritiker gesellschaftlicher Ordnung und Macht greifbar (vgl. die Disziplinierung des »Herrn Verfasser[s]«3 , als er auf zwei Hüte mit Herren trifft, S. 175 f.), das kritische Potenzial der Texte erschöpft sich allerdings in der Feststellung von Aporien und Ambivalenz. Der Bezug zur Realität, aus welcher die gesellschaftliche Anmaßung – zumeist die Konvention – in das textuelle Gefüge dringt, wird dadurch relativiert. In der Studie steht dann eine Vielzahl an ebenso klugen wie feinen Beobachtungen einer grundsätzlichen Relativierung der referentiellen Ebenen gegenüber. Das Problem rein formaler Lektüren liegt darin, dass sie Walsers Sensibilität für gesellschaftliche Diskurse, die ebenso in die Texte eingeschrieben sind, in entscheidenden Punkten übersehen. Etwa, wenn von Figurationen des Erzählens und poetologischen Metaphern gehandelt wird (vgl. S. 181–196). Das Essen erscheint als »Materialisation des Erzählens« (S. 192). Gloor sieht im Schreiben über den Hunger eine »kecke Ironisierung« (S. 183). So sei in Walser Zürcher Brief an seine Schwester Lisa, der mit den Worten »Ich habe Hunger! Und immer, wenn ich Hunger habe, gelüstet es mich, einen Brief zu schreiben!«4 einsetzt, der Hunger eine »körperliche Metapher« (S. 183), um den Topos der Sehn2 3 4

Robert Walser: Der Spaziergang, in: ders.: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Bd. I, 8: Prosastücke. Kleine Prosa. Der Spaziergang. Frankfurt a. M., Basel 2008, S. 184 f. Ebd., S. 81. Robert Walser: Brief vom 30. 7. 1897, in: ders.: Werke. Bd. 1: Briefe 1897–1920. Berner Ausgabe. Hg. v. Lucas Marco Gisi, Reto Sorg, Peter Stocker u. Peter Utz, im Auftrag der Robert Walser-Stiftung Bern. Berlin 2018, S. 16.

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sucht als Motor des Schreibens zu ironisieren: »Schreiben ist nicht Mittel zum Zweck, der Adressat des Briefes ist irrelevant, sondern auf die Tätigkeit des Briefeschreibens als Form der Kommunikation ausgerichtet.« (S. 182) Allerdings ist die Position, von welcher wir den Hunger hier als Metapher lesen können, überaus problematisch, vor allem, wenn zugleich dem Schreiben seine Funktion als Mittel zum Zweck abgesprochen wird. Wenig überraschend hat die Schreibszene das Hungergefühl nicht zu stillen vermocht, denn Gloor stellt fest: »Auch am Ende des Briefes ist der Hunger noch da.« (S. 184) Dieser Einwand soll Gloors Leistung nicht schmälern, das Hunger-Beispiel verdeutlicht nur eine weitere Schwierigkeit von Walsers Prosa – und wenn man so will, eine andere Art von Prekarität: Essen und Schreiben sind in der Tat stark miteinander verwoben, allerdings stärker als es einer rein narratologischen Perspektive zu sehen möglich ist. Das Beispiel spricht für Walsers Diskursivität und den Realitätsbezug, der trotz aller Überformung und auch durch das Spiel mit der Form hindurch allgegenwärtig ist und wesentlich zur Komplexität der Texte beiträgt. Es ist die herausragende Eigenheit der Walser’schen Texte, dass sie, in dem Moment, in dem man sie für die Untersuchung zerstückt, den einzelnen Sätze ein Eigenleben verleihen, dem die Interpretation, als das Zerstückende, nunmehr wie eine wache Erzieherin nachläuft. Einzelne Walser-Sätze und Absätze mögen sich der Interpretation manchmal fügen, im Grunde drängen sie aber zurück in den Primärtext, aus dem sie herausgegriffen wurden. Kontiguität wirkt wie ein unsichtbares und ungemein kräftiges Fugenmaterial. Selbst eine bewusst deskriptive Haltung kann sich dann in der Darlegung des argumentativen Zusammenhangs, in den die Zitate eingegliedert werden, einer bestimmten Schulmeisterlichkeit nicht erwehren. Gloor fällt an diesen prekären Stellen der Interpretation aber nie ins Normative, oder einfacher ausgedrückt: Es gibt nur hindeutende, keine erhobenen Zeigefinger in dieser Studie, das macht sie sympathisch und lesenswert. Somit ist Gloors Studie ein wichtiger und aufschlussreicher Beitrag zur narratologischen Orientierung in Walsers Werk, wobei Ordnung als lohnendes Thema hervortritt und sich als Forschungsperspektive für weitere textnahe Interpretationen anbietet. Gloor hat die Begrifflichkeit der Narratologie sondiert, kommentiert und für Walser geordnet, also jede weitere Anwendung der Terminologie auf eine aktuelle, fundierte Basis gestellt. Dieses Fundament wurde konsequent in Nähe zum Primärtext erarbeitet. Wenn abschließend (vgl. S. 247–267) das prekäre Erzählen im Abgleich mit narratologischen Konzepten noch einmal konturiert wird (skalierte Narrativität nach Marie-Laure Ryan, ›natürliche‹ Narrativität nach Monika Fludernik, ›unnatürliche‹ Narratologie und das Antinarrative), zeigt sich, dass es durch Gloors Ansatz möglich ist, wertfrei, weil nicht von Normen geleitet, sowohl einen konkreten Text als auch einen größeren Kontext in den Blick zu nehmen. Zudem erweitern die vorgestellten Lektüren den Raum für daran anschließende Fragen und Ideen: Das ungewöhnliche Drei-

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eck, das sich aus Fontane, Walser und Kafka ergibt, lädt dazu ein, über den seltsamen Realismus nachzudenken, dessen unterschiedliche Ausprägungen und Erscheinungsweisen vielleicht gerade über das Prekäre mit dem Erzählen verschränkt und zu beschreiben sind. Gloor hat dem prekären Erzählen Kontur und Plastizität verliehen und es für weitere Anwendungen aufbereitet. Kira Kaufmann

Aglaia Kister: Fragile Balance. Schwindelerfahrungen und Gleichgewichtsideale im Werk Thomas Manns. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2020 (= Thomas-Mann-Studien, Bd. 56). 364 S. € 69,–. Aglaia Kisters Buch, ursprünglich eine Tübinger Dissertation, die im Zusammenhang mit dem dortigen Promotionsverbund Theorie der Balance entstand, reiht sich ein in die umfangreichen Bemühungen der neueren ThomasMann-Forschungen, in ihm einen modernen, ja stellenweise sogar avantgardistischen Autor zu sehen. Das Thema, an welchem Kister diese Modernität Thomas Manns demonstriert, ist die Balance bzw. ihr Gegenteil, der im Untertitel ihres Buches angesprochene Schwindel. Was ist darunter genauer zu verstehen? In dem Einleitungskapitel zu ihrem Buch stellt sie zunächst Balance als ein komplexes Konzept vor, das sowohl physiologische Aspekte – Stichwörter dazu sind: aufrechter Gang, Vestibularorgan (= Gleichgewichtsorgan) im Ohr – wie auch kulturwissenschaftliche Dimensionen umfasst. Hier sind es vor allem die vielfältigen Balancemetaphern, die die Autorin interessieren und die die »eminent leibliche Erfahrung« (S. 13) der Balance weniger auf den Begriff bringen als vielmehr umschreiben. Allerdings wird man noch nicht von einer ausdifferenzierten kulturwissenschaftlichen Balance-Forschung sprechen können, denn der sehr kurze (knapp zwei Seiten lange) Forschungsüberblick (S. 23–25), den Kister darüber gibt, umfasst nur wenige Untersuchungen und setzt auch erst 2009 ein. Dies soll natürlich nicht heißen, dass Themen, die in Verbindung mit Balance stünden, wie z. B. Fragen nach dem Gleichgewicht, nach dem Austarieren von Extremen zugunsten einer Mitte, bislang nicht Beachtung gefunden hätten – ganz im Gegenteil, gerade in der Thomas-Mann-Forschung gibt es dazu vielfältige Untersuchungen, die die Autorin vorstellt. Für das zweite zentrale Stichwort, für den Schwindel, von Hartmut Böhme einmal, in Anspielung auf Musil, der »›andere Zustand‹ der Balance« (S. 28) genannt, liegen jedoch reiche kulturwissenschaftliche Forschungen vor. Die Autorin übernimmt hier die These von Petra Löffler, dass der Schwindel »das Signum der Moderne« (S. 32) sei. Nach dieser Einleitung wendet sich Kister ihrem ersten zentralen Thema zu, nämlich Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924), den sie im Span-

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nungsfeld von Schwindelerfahrungen und Balance-Idealen untersucht. Dass dieser Roman mit der Epochenerfahrung des Schwindels, mit den, wie es der Historiker Philipp Blom genannt hat, Vertigo Years zu tun hat, ist keine neue Erkenntnis: Was Kister hier allerdings innovativ unternimmt, ist diese Erkenntnis durch existenzphilosophische, gendertheoretische und poetologische Dimensionen zu ergänzen. So beschäftigt sie sich zunächst mit dem Schwindel aus existenzphilosophischer Sicht, wobei sie auf Bezüge zwischen Kierkegaard, der an einer Stelle vom – auch für den Zauberberg verbindlichen – »Schwindel der Freiheit« (S. 41) spricht, und Thomas Mann hinweist. Die Autorin benennt hier keine konkreten Beziehungen zwischen diesen beiden, sondern will allgemeine Problemstellungen thematisieren, die Kierkegaard bzw. die Existenzphilosophie (genannt wird hier beispielsweise auch noch Heidegger) mit der Problematik des Zauberbergs verbinden. Eine weitere Fragestellung an diesen Roman betrifft den Schwindel in Hinsicht auf die Geschlechtsidentität, was die Autorin, mit der australischen Soziologin R. W. Connell, ›Gender Vertigo‹ nennt (vgl. S. 57–66). Hier kann die Autorin an viele bereits vorliegende »gendertheoretisch perspektivierte[ ] Zauberberg-Lektüren« (S. 61) anknüpfen, die beispielsweise Hans Castorps homoerotische Neigungen oder seine Fragilität herausgearbeitet haben. Die dritte, poetologische Dimension des Schwindels wird als Schwanken des Sinns verstanden, was sich im Roman beispielsweise in seiner unzuverlässigen Erzählerinstanz, in Wiederholungen oder überhaupt im Stilmittel der Ironie zeigt, die, wie dies Helmut Koopmann einmal gesagt hat, den »Standpunkt der Standpunktlosigkeit« (S. 80) anzeige. Ein Gegengewicht zu diesem poetologischen Schwindel sieht die Autorin in Thomas Manns Sprachmächtigkeit, in der sie eine »musikalische Dimension« (S. 81) erkennt, die ja zweifellos in einem Spannungsverhältnis zu den aufgezeigten SchwindelDimensionen steht. Die Autorin benennt diese Diskrepanz zwar, problematisiert sie aber nicht. Vielmehr nimmt sie weiter in Hinsicht auf den Zauberberg u. a. das dort zentral verhandelte Thema des Verhältnisses von Horizontalität und Vertikalität auf, wobei die Horizontalität gewissermaßen als die Bewältigung der (Balance-)Anforderungen des aufrechten Gangs anzusehen wäre. Stehen, Sitzen, Liegen werden als für den Roman wichtige Raummetaphern verstanden, wobei die Horizontale – das »Reich des Bettes« (S. 101) – grundsätzlich suspekt erscheint, nicht nur in Hinsicht auf Sexualität, sondern auch, man denke an das Kranken- bzw. Totenbett, in Hinsicht auf den Tod. Bekannt ist ja Thomas Manns »Sympathie mit dem Abgrund« (S. 112), die in dem berühmten Schneekapitel des Zauberbergs in den symmetrischen Eiskristallen, die einen tödlichen Gleichgewichtszustand versinnbildlichen, ihr Symbol findet (vgl. S. 125). In diesem Kapitel widersteht Castorp diesen tödlichen Verlockungen der Horizontale (d. h. im Schnee einzuschlafen und zu sterben) und entscheidet sich zum Überleben, zum Aufstehen und damit »zum Ethos der

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Balance« (S. 131). Die Autorin interpretiert dies in einem ganz umfangreichen Sinn so: »Wie der aufrechte Gang eine permanente Austarierung der nach unten ziehenden Schwerkraft voraussetzt (. . .), ist Balance im Werk Thomas Manns kein fraglos und sicher gegebener Zustand, sondern vielmehr ein sehnsüchtig erstrebtes Ideal, das den schwindelerregenden Schwankungen des Lebens stets aufs Neue abgerungen werden muss.« (S. 130) Somit sei Thomas Manns Idee der Balance, die, so die Autorin, sich mit seinen dann auch für die politischen Diskussionen der Zeit wichtig werdenden Mitte-Idealen verbinden würde, eine zutiefst moderne Konzeption, die von aller »lauer Mediokrität« (S. 135) abzugrenzen sei. Dies betreffe im Übrigen auch noch Thomas Manns 1937 begründete Exilzeitschrift Maß und Wert, deren Titel ja zunächst einmal etwas betulich klingt. Damit beschränkt sich die Autorin nicht nur auf die Analyse des Zauberberg-Romans, sondern wendet ihre dort gewonnenen Erkenntnisse auch auf die politische Essayistik Thomas Manns aus diesen 1920er Jahren, aber auch aus späterer Zeit an. Was den Roman selbst betrifft, so untersucht Kister noch abschließend zwei Bildspender-Bereiche, aus denen Thomas Mann Metaphern bezieht und die für die Balance wichtig sind, nämlich zum einen der biologische Bereich der Homöostase und zum anderen der ursprünglich technische Bereich der Schifffahrt. Zwar wurde die Homöostase erst 1926, also nach Erscheinen des Zauberbergs, so von Walter Cannon begrifflich benannt, doch als dynamisches Gleichgewicht des Lebens waren ihre Prinzipien schon vorher bekannt gewesen. Homöostase versucht z. B. in Körpern die störenden Einwirkungen der Außenwelt auszugleichen und einen konstanten inneren Gleichgewichtszustand zu erhalten; Thomas Mann habe sich an diesem physiologischen Modell der Homöostase orientiert (und lässt dementsprechend Castorp im Zauberberg biologische Werke lesen), um sein »Ideal des humanen Gleichgewichts« (S. 170) zu finden. Eine zweite Quelle für Balance-Vorstellungen ist die Schifffahrt, die bekanntlich von Hans Blumenberg als Daseinsmetapher verstanden wurde. Auf die Schifffahrt wird im Zauberberg z. B. dadurch angespielt, dass Castorp ursprünglich Schiffsbaumeister werden wollte, für den das Problem der Gleichgewichtswahrung beim Schiff das Zentralproblem ist. Metaphorisch lässt sich weiter Castorps Position zwischen Extremen, verkörpert durch zwei Figuren, den Aufklärer Settembrini und den Irrationalisten Naphta, mit der Schifffahrt des Odysseus vergleichen, »der sein Schiff durch die von Skylla und Charybdis flankierte Meerenge manövrieren muss.« (S. 177) Der zweite Roman Thomas Manns, an dem Kister ihre Balance-Interpretationen erprobt, sind Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Hier wird die Bedeutungsdimension von Schwindel vor allem im Sinne des Betruges relevant. Wieder wird zunächst der Schwindel als Zeitphänomen, als Lebensgefühl der Weimarer Republik, aufgefasst, in der Schwindler und Hochstapler Konjunktur hatten. Thomas Mann sammelte sogar Zeitungsmel-

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dungen über solche Schwindler als Material für seinen Roman, die Kister im Thomas-Mann-Archiv in Zürich einsah (vgl. S. 203 ff.). Ganz ähnlich wie den Zauberberg liest die Autorin auch den Krull-Roman als einen genuin modernen Text, da er u. a. die ehrwürdige Tradition der Bekenntnisliteratur dekonstruktivistisch unterwandere (schließlich geht es um die Bekenntnisse eines Hochstaplers), Identität performativ erzeuge (so versteht Krull im Roman seine Identität wesentlich als Rolle) und als Sexualitätsideal Androgynität postuliere. Auch partizipiere der Roman an der die Jahrhundertwende bestimmenden Sprachkrise, was sich daran zeige, dass die »stummen, visuellen Künste« (S. 240) aufgewertet werden würden. Hier geht die Autorin u. a. auf Schaufensterschilderungen im Roman ein, die sie in Verbindung zur Gattung des Stilllebens setzt, welche ursprünglich in der Geschichte der Malerei als eine niedere Gattung angesehen wurde. In der Favorisierung der Dinge (im Stillleben und in den Schaufensterschilderungen im Roman) erkennt die Autorin eine durchaus moderne »Dezentrierung des Menschen« (S. 266), die im Übrigen auch von Ulrich im Mann ohne Eigenschaften geteilt wird, der dort äußert: »Eigentlich malen alle Stilleben die Welt vom sechsten Schöpfungstag; wo Gott und die Welt noch unter sich waren, ohne den Menschen!« (MoE, S. 1230; vgl. S. 266) Den Bezug des Stilllebens zum Balance-Thema stellt Kister dann so her, dass in ihnen nicht nur ein »spannungsvolles Gleichgewicht zwischen Lebenslust und Todesbewusstsein« (S. 272) herrsche, sondern auch, in der Anordnung der BildGegenstände, ein »äußerst heikle[s], prekäre[s] Gleichgewicht[ ], dessen Fragilität und zeitliche Begrenztheit sichtbar« (S. 273) hervortrete. Damit wären Stillleben eigentlich Veranschaulichungen einer immer nur temporären »Balance-Arbeit« (S. 273), bei der der Fall der Objekte (und auch ihr Verfall) nur eine Frage der Zeit ist. Einige Illustrationen von Stillleben-Bildern, die im Anhang des Buches zu finden sind, sollen dies veranschaulichen. Als eine weitere ›stumme‹ Kunst thematisiert Kister die Artisten, besonders die Äquilibristen (wie Seiltänzer) und die Trapezkünstler, deren Balancefertigkeiten Krull in einem Zirkus bewundert, ja die er für seine ausgewogene Lebenskunst und »diätetische[ ] Äquilibristik« (S. 305) zu Vorbildern nimmt, weshalb er selbst als ein Balancekünstler anzusehen sei. Als eine solche geglückte Figur gehört Felix (!) Krull in die Reihe der positiven Figuren Thomas Manns, zu denen Kister auch noch Joseph aus den Joseph-Romanen und Goethe aus Manns Roman Lotte in Weimar zählt, die als »Figuren einer gelingenden, wenn auch fragilen und gefährdeten Balance« (S. 297) angesehen werden. Insgesamt kann man zu diesem Buch sagen, dass es allein schon durch die Vielzahl der in ihm aufgerufenen Themen und Fragestellungen besticht. Wenn sich wohl, wie vielleicht die Autorin intendiert, auch kein neuer, eigener kulturwissenschaftlicher Balance-›Turn‹ abzuzeichnen scheint da dieses Thema sich doch, wie gerade dieses Buch zeigt, in andere Themen und Fragestellun-

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gen integriert, wenn auch in Kisters Buch der eine oder andere theoretische Exkurs nicht unbedingt notwendig sein mag (z. B. zum Existenzialismus Sartres oder zur Sprachkrise um 1900, wo viele altbekannte Topoi aufgerufen werden) und wenn man sich auch die Vertiefung einzelner Problematiken wünschen könnte (so wird z. B. Thomas Manns Verhältnis zu konservativen Zeitströmungen vollkommen ausgeblendet oder es wird nicht auf das spannungsvolle Verhältnis seiner ›klassischen‹ Sprache zu seiner sonstigen »ironische[n] Unterwanderung vermeintlich fester Standpunkte« [S. 316] diskutiert), so sind dies doch nur minimale Einwände gegen ein gelungenes und auch für Musil-Forscher*innen ungemein lohnenswertes Buch. Thomas Pekar

Tim Mehigan: Robert Musil and the Question of Science. Ethics, Aesthetics, and the Problem of the Two Cultures. Rochester, New York: Camden House 2020. 172 S. $ 90.–. Sowohl in Robert Musils theoretischen wie auch in seinen poetischen Texten lassen sich philosophische und naturwissenschaftliche Themen als zentrale Aspekte ausmachen, die sein Œuvre inhaltlich und formal prägen. Wiederholt finden sich programmatische Reflexionen, in denen er die unterschiedlichen Qualitäten der wissenschaftlichen und der gefühlsmäßig-mystischen Erkenntnisweise differenziert. So beispielsweise in seinem Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918), in dem er das »ratioïde Gebiet«, das »alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln zusammenfaßbare« einschließt (GW II, S. 1026 f.), vom »nicht-ratioïde[n] Gebiet«, dem »der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel« (GW II, S. 1028), unterscheidet und gleichzeitig über deren Verhältnis zueinander sowie über die Möglichkeit ihres Zusammenwirkens in der Literatur nachdenkt. Davon geprägt sind auch seine Überlegungen zur Tätigkeit des Schriftstellers, wenn er in seinen Essayfragmenten zum einen festhält: »Der Künstler spielt nicht, er treibt Wissenschaft« (GW II, S. 1302), und zum anderen ausgehend von der Frage: »Aber warum schreibt man denn Kunst?« (GW II, S. 1317), argumentiert: »Weil es Dinge gibt, die sich nicht wissenschaftlich erledigen lassen, die auch nicht mit den Zwitterreizen des Essays zu fangen sind, weil es Schicksal ist, diese Dinge zu lieben, Dichterschicksal« (ebd.). Tim Mehigan setzt sich in seiner Monographie Robert Musil and the Question of Science. Ethics, Aesthetics, and the Problem oft the Two Cultures mit Musils Position im Hinblick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur sowie dessen Bedeutung für ästhetische und ethische Fragen, etwa die nach dem rechten Leben, auseinander. Seine Ausgangsthese lautet, dass Musils technische und philosophische Kompetenz ihn Fragen stellen ließe,

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die »from these fields into the heart of his literary project« (S. vii) zielen. Dadurch sei er fähig, »a set of reflections of profundity and sagacity bearing on the capacity of science to influence the experience of ordinary living« (ebd.) zu entwickeln. Es ginge Musil also, so Mehigan, nicht um die bloße Abwägung der Vorzüge der Kunst in Abgrenzung zu denen der Wissenschaft, sondern um deren produktiven Zusammenschluss im literarischen Text; Musils Œuvre insgesamt und insbesondere dessen Roman Der Mann ohne Eigenschaften liest er als Beitrag avant la lettre zur Debatte um die »zwei Kulturen«, die, angeregt durch C. P. Snow (1905–1980), in den 1960er Jahren intensiv geführt wurde: »[O]ne way to understand the primary concerns of The Man Without Qualities – a way highlighted in this volume – is to read the novel as an early contribution to a debate, nascent in Musil’s time, that was concerned to weigh up the relative virtues of art, and the discourses of art and the literary, on one side, and science, and the nature and procedure of the scientific disclosure of the world, on the other. This debate has since been glossed as the ›two cultures‹ debate – a term introduced by the English academic C. P. Snow« (S. 4). Zielführend erscheint dieser Ansatz zweifelsfrei, bedenkt man, dass Musil in seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters festhält, Forscher widmeten sich der Systematisierung von Tatsachen zu Gesetzen und Regeln, während Schriftsteller idealerweise ihren erkenntnistheoretischen Anspruch mit Einsichten verbinden, deren Form »gefühlsmäßiger Natur«1 ist (vgl. GW II, S. 1029 f.). Musil intendiert eine Synergie, welche die Dualität der naturwissenschaftlichen und schriftstellerischen Erkenntnisformen nicht zum Gegensatz werden lässt, und mit seinem Œuvre legt er Texte vor, die C. P. Snows These, ein »vollkommenes Nichtverstehen gegenüber den Naturwissenschaften« durchdränge die »gesamte ›überkommene‹ Kultur«,2 als Simplifizierung ausweisen. Angesichts dessen und in Anbetracht der Bedeutung, die Mehigan der »two cultures debate« in der zuvor zitierten Einleitung beimisst, verwundert das Fehlen einer Auseinandersetzung mit Snows Überlegungen sowie der daran anknüpfenden Debatte. Im Zuge derer wurde sowohl konstatiert, die zwei Kulturen existierten faktisch nebeneinander, als auch über die Möglichkeiten ihrer Konvergenz durch die Applizierung epistemischer und sozialer Elemente von der einen auf die jeweils andere Kultur nachgedacht.3 Eine Behandlung der Debatte und vor allem der Bezugs- und Abgrenzungspunkte zu Musil wäre aufschlussreich gewesen, zumal Mehigan durch die Anspie1 2 3

Catrin Misselhorn: Philosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, in: Robert-MusilHandbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 516–523, hier S. 518. Charles Percy Snow: Die zwei Kulturen, in: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die »zwei Kulturen«. Hg. v. Helmut Kreuzer. Stuttgart 1969, S. 11–25, hier S. 15 f. Vgl. Michael Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, in: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 2001, S. 7–42, hier S. 17 f.

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lung im Untertitel indirekt nahelegt, es handle sich bei seiner Publikation um einen metareflexiven Beitrag. Auf jeden Fall aber muss die Ambition, sich den naturwissenschaftlichen, ethischen und ästhetischen Aspekten zu widmen und somit ein ungemein weit- wie tiefgreifendes Problemfeld zu behandeln, positiv hervorgehoben werden. Gleichzeitig überrascht es nicht, dass ein solches Vorhaben auf einer 160-seitigen Studie nicht erschöpfend umgesetzt werden kann. Mehigan untersucht bezüglich der wissenschaftlichen Einflüsse auf das Denken Musils primär die Philosophie Ernst Machs (vgl. S. 2 f., 7–9, 32–50, 55–58), geht in einem Kapitel näher auf die Theorien Friedrich Nietzsches (vgl. S. 92–109) sowie Immanuel Kants (vgl. S. 15–19, 102–104) ein und behandelt ansonsten Edmund Husserl (vgl. S. 18, 30), Ludwig Wittgenstein (vgl. S. 31) u. a. eher sporadisch. Der umfassenden Auseinandersetzung Musils mit der Philosophie und den Naturwissenschaften ist dadurch nicht beizukommen, überzeugend dargelegt wird aber die intensive Beschäftigung des Autors mit den Lehren Machs. Konzise und nachvollziehbar finden sich dessen Philosopheme zusammengefasst (vgl. S. 33–36) ebenso wie deren Behandlung durch Musil in seiner Dissertation Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908) (vgl. S. 36–39). Anerkennend erwähnt werden kann, dass Mehigan mit den Texten Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), Vereinigungen (1911), Die Schwärmer (1921), Drei Frauen (1924), Der Mann ohne Eigenschaften und Die Amsel (1928/1936), in denen er poetische Adaptationen der philosophischen Überlegungen nachzuweisen sucht, große Teile der Schaffenszeit Musils abdeckt. Teilweise wird der Versuch unternommen, die intertextuellen Rekurse an den Prätexten Machs zu belegen, wie beispielsweise die Figurenaussage Staders im Drama Die Schwärmer: »Im Sommer nehmen die Zeugungen zu, im Herbst die Selbstmorde« (GW II, S. 394). Mehigan interpretiert: »Stader [. . .] seems to preach directly from the Machian songbook, parroting a passage from Mach’s Erkenntnis und Irrtum« (S. 44), und weist die angeblich ›nachgeplapperte‹ Stelle aus: »Die Zahl der jährlichen Eheschließungen und Selbstmorde in einem Lande schwankt ebensowenig, oder noch weniger, als die Zahl der Geburten und der natürlichen Todesfälle, obgleich bei den ersteren der Wille gar sehr in Betracht kommt, bei den letzteren aber gar nicht.«4 Ob sich anhand dieser Textstelle bereits erkennen lässt, dass sich Musil im Stück mit Machs Funktionalismus auseinandersetzt (vgl. ebd.), sei hier der Beurteilung freigestellt. Um den Einfluss Machs auf Musils Denken zu argumentieren, zitiert Mehigan Passagen aus den Essays, Tagebüchern und der Dissertation, und auch wenn dieser zweifelsfrei nachgewiesen wird, so muten die Ergebnisse dieses methodischen Verfahrens dann spekulativ an, wenn ihm fiktionale Texte zugrunde liegen. Da eine derartige Leseweise darüber 4

Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig 1905, S. 26.

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hinaus zur Simplifizierung des literarischen Œuvres Musils führt, wünschte man sich in diesen Fällen eine stärkere Konzentration auf die Frage, inwiefern die Auseinandersetzung mit Mach als eine Form produktiver Rezeption und Adaptation zu verstehen ist. Angesichts der intensiven Behandlung von Musils Beschäftigung mit Machs Lehren seitens Mehigans (Auseinandersetzungen oder Bezugnahmen finden sich auf den Seiten 2–3, 6, 7–9, 10, 11, 21, 28, 30, 32–50, 55–58, 60, 85, 94, 110, 152) muss kritisch festgehalten werden, dass der Anschluss an den aktuellen Forschungsstand zu dieser Thematik fehlt. Da Mehigans Publikation abgesehen von Einleitung, Schluss und dem Kapitel »The Question of Science« aus Aufsätzen aus den Jahren 1995 bis 2018 besteht,5 die ins Englische übersetzt und überarbeitet wurden, wäre es wünschenswert, wenn sich die teilweise doch sehr starken Revisionen nicht allein auf den Anspruch, eine thematisch konzise Monographie anzufertigen, gründeten (vgl. S. vii). Dadurch wird der prinzipiell positive Eindruck von Mehigans Arbeit leider getrübt. Auch eine Berücksichtigung der einschlägigen Forschungsliteratur zu Musils Nietzsche-Rezeption und ganz generell zum Aspekt der Ethik ist kaum vorhanden; letzteres frappiert besonders angesichts des Umstands, dass der gesamte zweite Teil der Monographie Fragen nach der Ästhetik und Ethik im Kontext der »Two Cultures« gewidmet ist. Insgesamt lassen sich im Vergleich zu den als einzelne Aufsätze herausgegebenen Publikationen einige erhebliche Optimierungen feststellen. So streicht Mehigan im Zuge der Korrekturen besonders apodiktisch anmutende Thesen, wie etwa: »Von der Kritik an der funktionalen Betrachtungsweise leiten sich alle Aspekte des literarischen Programms im großen Roman her«, und: »Aus diesen Lehren [denen Machs, V. E.] erwuchs für Musil sogar ein ganzes literarisches Programm.«6 Ebenfalls deutlich dezimiert wurden autorbezogene Schlüsse im Hinblick auf die lineare Entwicklung von Musils Denken über sein Œuvre hinweg, die von der Reduktion der Literatur auf ihren philosophischen Gehalt sowie der Abwertung früherer Texte gegenüber dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften zeugen. Aus diesen Gründen erscheint es auch für das deutschsprachige Publikum empfehlenswert, Mehi5

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Bei den deutschsprachigen Aufsätzen Mehigans handelt es sich um: Moral und Verbrechen (1995), Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität (1997), Musil mit Luhmann: Das Problem des Vertrauens in Robert Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹ (2005), Post-Critical Criticism: Robert Musil as an Example (2007), Robert Musil (2015), Robert Musil: ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ (2013), Nachwort. »Eine Episode von mehr als persönlicher Wichtigkeit« (2014), Musils Essayistik (2016), Zum multivarianten Korrespondenzprojekt Robert Musils. Am Beispiel von ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ und ›Die Amsel‹ (2018). Tim Mehigan: Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 264–287, hier S. 282; ders: Robert Musil, in: Praktizierte Intermedialität. Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo. Hg. v. Fernand Hörner, Harald Neumeyer u. Bernd Stiegler. Bielefeld 2010, S. 87–103, hier S. 97.

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gans Forschungsbeiträge der englischsprachigen Monographie zu entnehmen. Alles in allem finden sich in der vorliegenden Publikation wichtige Fragestellungen sowie Thesen zu Musil und »the question of science« (S. vii), die in jeder literarturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Thematik sicherlich berücksichtigt werden sollten. Vera Eßl Peter Plener, Burkhardt Wolf (Hg.): Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum Mann ohne Eigenschaften. Zweiter Band: Aktenzeichen MoE – Bürokratie. Berlin: Vorwerk 8 2020. 128 S. € 15,–. Robert Musils unvollendeter Jahrhundertroman verhält sich zum bewährten Forschungsformat des Handbuchs etwa so wie ein Schwarm oder – wie das Englische hier schöner und genauer zu formulieren erlaubt – wie ein Kaleidoskop von Schmetterlingen zur Vitrine eines Lepidopterologen. Im Zwischenraum dieses Vergleichs haben die Herausgeber mit einem Team von Autor*innen aus den Bereichen der Literaturwissenschaft, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Kulturwissenschaft, Kunst und Verwaltung eine bis dato zweibändige Reihe von Kapitelkommentare[n] zum ›Mann ohne Eigenschaften‹ vorgelegt, die man, ganz im Sinne der Einleitungskapitel zum Roman, »als ›Monaden‹ verstehen [kann], die gerade ob ihrer Abgeschlossenheit einen besonderen Gesichtspunkt auf das ganze Werk eröffnen«.1 Hatte der erste Band die ersten 19 Kapitel in ihrer Gesamtheit als Generatoren für das »Möglichkeitsfeld«2 des Romans rekonstruiert, so widmet der zweite die gleiche Anzahl von Kommentaren einer willkürlichen, aber nicht zufälligen Auswahl ebenso vieler Kapitel des Romans bzw. Bestandteile des Nachlasses, die im Untertitel unter das Aktenzeichen MoE – Bürokratie gestellt werden und denen hier eine wiederum selektive, aber nicht zufällige Lektüre gewidmet sei. »The ›rationalization‹ granted to bureaucracy since Hegel and Weber has been attributed by mistake to the ›mind‹ of the bureaucrats. It’s all in the files themselves«,3 notierte Bruno Latour lange vor dem Erwachen des kulturwissenschaftlichen Interesses an Archiven und Akten. Übertragen ließe sich diese Beobachtung auf die Herstellung von Literatur, wenn man den Bürokraten durch den Schriftsteller und den Aktenverkehr durch das poetologische Verfahren ersetzte. Diese Bewegung wird dann besonders interessant, wenn sie 1 2 3

Teilweise Musil: Kapitelkommentare zum Mann ohne Eigenschaften. Bd. 1. Hg. v. Burkhardt Wolf, Roland Innerhofer, Maren Lickhardt u. Peter Plener. Berlin 2020, S. 9. Ebd. Bruno Latour: Visualization and Cognition. Drawing things together, in: Knowledge and Society. Studies in the Sociology of Culture Past and Present 6 (1986), S. 1–40, hier S. 26 (zitiert auf S. 109).

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anstelle einer Metapher eine Metonymie konstituiert, wenn mithin der Aktenverkehr buchstäblich die Literatur vor- oder jedenfalls mitschreibt. Der zweite Band der Kapitelkommentare zum ›Mann ohne Eigenschaften‹ verdeutlicht nun auf ungemein anregende Weise, dass Musils Verwandtschaft mit Franz Kafka nicht nur durch beider Ringen um eine schriftstellerische Antwort auf den Ersten Weltkrieg motiviert ist, sondern auch durch die enge Beziehung ihrer jeweiligen Schreibverfahren zum bürokratischen Apparat der Habsburger Monarchie. Während der Prager Versicherungsjurist am Kulminationspunkt des Krieges (während der damals so genannten ›Weltenwende‹ im Frühjahr 1917) tragende Konzepte aus den Diskursen des Unfallschutzes und der Unfallversicherung auf die politisch-territoriale Leinwand des frühneuzeitlichen China projiziert und entfaltet, ist »der ehemalige Offizier und k. k. Verwaltungsbedienstete« in Wien, wie Burkhardt Wolf einführend rekonstruiert, nach dem Kriegsende »in den nun ebenso ehemaligen Kriegsund Außenministerien damit beschäftigt, deren Schriftgut zu sortieren und zu entscheiden, was davon in die Erste Republik zu überführen sei« (S. 9). Doch während in Kafkas China-Zyklus der Bericht eines kleinen Handwerkers über den verheerenden Einfall der Nomaden in die Hauptstadt in die selbstversichernden Reflexionen des Schutzmauer-Architekten über die chinesische homeland security ebenso abrupt einbricht wie ein Arbeitsunfall in die routinierten Bewegungen eines Industriearbeiters,4 geht Musils retrospektives Romanprojekt behutsamer vor: »Gerade sein Amt der Sichtung, Verwerfung und Bewahrung«, betont Wolf, »setzte ihn dazu imstande [sic], Kakanien in der Erzählung wieder auferstehen und zugleich, Kapitel für Kapitel, wieder zerfallen zu lassen« (S. 10). Der zweite Kommentarband stellt nun darauf ab, die Rolle der Bürokratie in zweifacher Hinsicht zu profilieren. Zum einen, intradiegetisch, ist es »die prägende Rolle der Bürokratie, de[r] Eigensinn ihres Akten- und Parteienverkehrs sowie eine Rationalität der Selbsterhaltung, die [. . .] der alten Welt und ihrem Fortbestand zuletzt den Grund entzieht.« (S. 10) Zum anderen, paradiegetisch, greift die Bürokratie auch in die Textgenese selbst ein, indem »sich Musil selbst auf bürokratische Organisationsverfahren stützte [. . .]. Er beschrieb [. . .] den Untergang der alten Welt auf deren amtlichen Papieren, siglierte seine Unterlagen und Notizen entsprechend der Verwaltungslogik eines ehemaligen staatstragenden Systems und zog eine Ablageordnung auf, deren Systematik noch auf die Fächer der Genfer Kredenz übertragbar war« (S. 11 f.). Mit einer Anleihe aus der Bürokratie der industriellen Unfallversicherung erlaubt es der hier angedeutete Doppelfokus des Bandes nun, die verbleibenden 19 Beiträge, trotz ihres programmatischen Eigen-Sinns und cum grano salis, einzuteilen in (I) ein betriebstechnisches Gutachten zur bürokratischen Verfassung der diege4

Dazu ausführlich Benno Wagner: Beim Bau der chinesischen Mauer, in: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Manfred Engel u. Bernd Auerochs. Stuttgart, Weimar 2010, S. 250–260.

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tischen Welt des Mann ohne Eigenschaften, und (II) einen Hergangsbericht zur Heraufkunft des ›Großen Ereignisses‹, des epochalen Unfalls des Weltkriegs. I. Betriebstechnisches Gutachten: Im Kapitel 20 des Mann ohne Eigenschaften, das am Anfang des Zweiten Teils des Ersten Buches steht, erleben wir die zweite Geburt des Protagonisten, seine »körperlose Transformation«5 vom jungen Mann ohne Eigenschaften und Auftrag zum Sekretär der Parallelaktion. Antonia Eders Kommentar verdeutlicht die »bürokratisch-patriarchale[ ]« (S. 19), zugleich horizontal-aufschiebende wie vertikal-intervenierende Funktionsweise der kakanischen Verwaltung und das mit ihr verbundene Potential der Weltsetzung und des Weltmanagements. Als Ulrich wegen seiner Einführung in das Haus des Grafen Leinsdorf den Grafen Stallburg als »wahren Freund und Schützer« (GW I, S. 78) seines Vaters in der Hofburg aufsucht und den Grafen unvermittelt mit einem Begnadigungsgesuch für den Frauenmörder Moosbrugger überfällt und überfordert, da wird dasselbe Prinzip der »väterlichen Gnade« (S. 18), dem zufolge Graf Stallburg die »Entgleisung« (GW I, S. 86) durch die Umlenkung des Gesprächs auf Ulrichs Vater vergibt, für den Delinquenten selbst durch das bürokratische Prinzip des Aufschubs aufgehoben: Da Moosbrugger noch nicht abgeurteilt ist, kann er auch nicht begnadigt werden, »hat es ja noch Zeit« (GW I, S. 86) mit einer solchen Entscheidung. Als Subjekt der Fürsprache gescheitert, wird Ulrich als ihr Objekt in die Welt des Romans gesetzt: »Das hat mich ja wie einen Kork gehoben und irgendwo abgesetzt, wohin ich gar nicht wollte!« (GW I, S. 86) Dasselbe Phänomen der Kreuzung zwischen der horizontal-aufschiebenden Funktionsweise des Berufsbeamtentums und der vertikal-intervenierenden des der souveränen Macht verbundenen Beamten-Adels elaboriert Roland Innerhofer in seinem Kommentar zu Kapitel I/40. Da die »höheren Ränge der [habsburgischen] Bürokratie noch immer vorwiegend Adeligen vorbehalten«,6 mithin »sachlich-rationale Regeln der Verwaltung durch persönliche und familiäre Beziehungen überformt« waren, galt eben auch »das Primat des informellen Gesprächs vor der Schriftlichkeit« (S. 24) oder der Narration vor der Datenverarbeitung. So kann es geschehen, dass Ulrich, der nach der Einmischung in eine Straßenszene, in der ein Schutzmann einen Betrunkenen der Majestätsbeleidigung bezichtigt, zwar die »statistische Entzauberung seiner Person« (GW I, S. 159) durch Aufnahme seiner Personendaten im Polizeirevier erleben muss, der »eisernen Maschine« (GW I, S. 162) aber eben durch Umstellung von Datenverarbeitung auf Narration zu entrinnen vermag. Indem er sich in einer »sich selbst erfüllende[n] Fiktion« (S. 23) als Sekretär der Parallelaktion des Grafen Leinsdorf bezeichnet, überstellt ihn der verhörende Wachtmeister vorsichtshalber an die politische Abteilung, 5 6

Zu diesem Konzept vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus. Berlin 1992, S. 113. Helmut Kuzmics: Soziologie, in: Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 546–554, hier S. 551 (zitiert auf S. 24).

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wo er sogleich zum Polizeipräsidenten selbst empfangen wird: »Ein Mißverständnis, lieber Herr Doktor, der Herr Kommissär hat mir schon alles erzählt« (GW I, S. 162). Burkhardt Wolfs Kommentar zu I/56 zeigt dann auf, wie auch der handlungstreibende Akteur des Romans, die Parallelaktion, die »bottom-up«-Ausrichtung (S. 35) ihrer Ausgangsidee unversehens in ein »›autopoietisches System‹, das aus Entscheidungen besteht« (S. 36),7 verwandelt, indem sie den Strom der »Eingaben aus dem Volk« in die »Rekursivität des Aktenverkehrs« (S. 36) überführt – und wie sie im gleichen Zuge zum handlungsaufschiebenden Akteur mutiert. Im Kapitel I/116 wird Ulrich als Ziel der Parallelaktion nichts anderes als die Anerkennung dieses ihres Funktionsprinzips, nämlich die Gründung eines »Erdensekretariat[s] der Genauigkeit und Seele« (GW I, S. 597) fordern. Wolfs Kommentar verschafft dieser Verwaltungsstelle einen epistemologischen Gegenhalt im zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs, indem er sie als fiktionale Übersetzung der topologischen Psychologie Kurt Lewins liest, der zu Beginn des Jahrhunderts ein »Promotionskollege Musils« (S. 80) bei Carl Stumpf in Berlin gewesen war. Eingespannt zwischen Ernst Machs Analyse der Empfindungen (»das Ich ist unrettbar«)8 und Bruno Latours Reassembling the Social (»sociologists of the social seem to glide like angels, [. . .] while the ANT-scholar has to trudge like an ant«)9 , wendet sich Lewin in seinen Principles of Topological Psychology gegen die auf theoretisch-abstrakt gewonnenen Begriffen basierende und auf prästabilisierte Subjekte gerichtete Psychologie seiner Zeit, um »individuelle, kollektive, physische und psychische Dispositionen, Spannungen und Kräfte topologisch darzustellen« (S. 81), um mithin »Situationen« zu kartieren, aus denen die handelnden »Ganzheiten«10 als das emergieren, was Latour später als ›flache‹, ›vernetzte‹ und ›verteilte‹ Akteur-Netzwerke beschreiben wird. Musil, so legt der Kommentar nahe, hat Ulrichs »Erdensekretariat«, in Gegenstellung zu epistemischen Totalitäten wie der Enzyklopädie (Diderot), einer ›geistigen Generalinventur‹ (Stumm von Bordwehr) oder gar einer ›scientia universalis‹ (Leibniz) (vgl. S. 80 f.), als empirische Datenverwaltung für ein solches Vorhaben konzipiert. Wenn Wolf resümierend »eine ›geerdete‹ Sozialpsychologie wie die Lewins und ein Schreiben wie das Musils [. . .] als Parallelaktionen« (S. 82) in Anschlag bringt, dann leuchtet hier blitzartig das enorme Forschungspotential im Hinblick sowohl auf die Rekonstruktion historischer Textnetzwerke als auch auf die Reformulierung moderner 7 8 9 10

Vgl. Niklas Luhmann: Organisation, in: Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. Hg. v. Willi Küpper u. Günther Ortmann. Wiesbaden 1992, S. 165–186. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. 9. Auflage. Jena 1922, S. 20. Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford 2005, S. 25. Kurt Lewin: Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1: Wissenschaftstheorie. Hg. v. Carl-Friedrich Graumann. Bern, Stuttgart 1982, S. 233–278, hier S. 255, 262 (zitiert auf S. 81).

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Schreibverfahren, Erzählprozesse und Erzählwelten in den Begriffen der heutigen Akteur-Netzwerk-Theorie auf, zu dem das vorliegende Bändchen als differenziertes Interface dienen kann. Im Kommentar zu I/83 legt Alexander Honold dar, wie Musil, via Ulrich, »vier der wesentlichen Operationen bürokratischer Verwaltungspraxis« (S. 58) für seine/dessen geschichtsphilosophischen Reflexionen in Dienst nimmt: Benennen, Einteilen, Abkürzen und Ablegen. Nicht nur die erzählte Welt des Mann ohne Eigenschaften, sondern das Schreibverfahren selbst setzt mithin auf grundlegende Prozesse und Strukturen der habsburgischen Verwaltung auf. Zu I/52 legt Peter Plener die »Organisationseinheit ›Literarisches Büro‹« (S. 32), die von 1877 bis 1911 im und für das Wiener »Ministerium des Äußern und des Kaiserlichen Hauses« (GW I, S. 208) Pressespiegel erstellte und im Bedarfsfall auf die Berichterstattung der Zeitungsredaktionen Einfluss nahm, als eine weitere Relais-Stelle für »[d]ie Umsetzung und literarische Fruchtbarmachung des kakanischen Apparats« unter dem »Aktenzeichen MoE« (S. 33) frei. Verallgemeinert: »Die Schematismen der Ämter und Aktenläufe liefern dem Verfasser prozessuale Logiken und Versatzstücke mit Eigengesetzlichkeit« (ebd.) und ermöglichen es ihm, das »selbständige[ ] Leben« (GW II, S. 1063) der Organisation gegenüber den Einzelnen ironisch gebrochen in die Romanhandlung einzuspeisen. Ähnliches gilt für den Themenkomplex der Spionage und des »geheime[n] Krieg[es]« (S. 93), dessen frühe Rolle für den Entwurf der Romanhandlung und dessen späteres Untertauchen in derselben Christian Kirchmeiers Kommentar zum Druckfahnenkapitel 53 »Die Referate D und L« skizziert. Die titelgebenden Kürzel dienen nicht nur Stumm und Ulrich als Code für Diotima und Leinsdorf, sondern auch dem Verfasser selbst: Musil »verwendete amtliches Material und benutzte dasselbe mit Siglen und Registern arbeitende Ordnungssystem. Was Musil am Beispiel seiner Figur Stumm vorführt, ist also letztlich sein eigenes Schreibverfahren: Poetologie als ministerialer Datenverarbeitungsprozess« (S. 95). Schließlich bringt Pleners den Band zugleich ab- und aufschließender Kommentar zum Nachlass, »Kapitelgruppe [1928], Hans Sepps Selbstmord«, uns das »Weltgesetz der Bürokratie« in Erinnerung, das zugleich als Verfahrensanweisung für den Verfasser gegenüber seinem Textmaterial gelten mag: »Ein unabgeschlossen begrabener Akt muß von Zeit zu Zeit aus dem Grab gehoben werden, um auf ihm zu bemerken, dass er noch nicht abgeschlossen werden könne u. einen Tag darauf zu setzen, wo ihn der Archivbeamte wieder dem Konzeptsbeamten vorzulegen habe« (GW I, S. 1607). Plener nimmt hier den Lauf der Akte Hans Sepp und den daraus resultierenden Selbstmord der ihr anhängenden Person zum Anlass, Musils Roman als »sein großes Schwebendes Urteil über den Eintritt in den WK-Eins« (S. 109) zu lesen, jenen kollektiven Selbstmord also, der seinerseits unmittelbar aus dem Aktenverkehr ergeht: »Er [Musil, B. W.] aktiviert ›die in den Akten versenkten Geisterbeamten, unsichtbare Hände aus Steuerzeichen und Aktenvermer-

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ken‹ helfen dabei, ›das Gespenstische des Geschehens‹ zu finden, das in den Akten steht, in der Welt war und die Macht zu deren Auslöschung hatte« (S. 109).11 II . Hergangsbericht: Unter den skizzierten betriebstechnischen Bedingungen, so verdeutlicht Matthias Bauer im Kommentar zu I/58 und unter Verweis auf Walter Rathenaus Essay zur seit Hegel fest installierten FortschrittRückschritt-Mechanik des Geistes, obliegt es »[d]er Bürokratie [. . .] dafür zu sorgen, dass es nicht vorangeht«. Dem Beamten fällt dann die geschichtsphilosophische Rolle zu, »den Lauf der Dinge durch eine Tatenlosigkeit [zu] sistier[en], die sich aufs glücklichste mit Ideenlosigkeit paart«, mit anderen Worten, »der Ausschluss der unerhörten Begebenheit« (S. 41 ff.). Eine Verwendungsmöglichkeit des vorliegenden Kommentarbändchens besteht dann darin, ihm einen Hergangsbericht darüber zu entnehmen, wie unter diesen Umständen das unerhörte Ereignis des Weltkriegs gerade aus der habsburgischen Bürokratie hervorgetrieben werden konnte. Peter Pleners Kommentar zu I/44 ist zu entnehmen, dass eine solche Lesart durchaus mit der Darstellungsabsicht des Autors koinzidiert. »Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige« (GW II, S. 941), resümiert Musil bereits 1926 im Gespräch mit Oskar Maurus Fontana. Wenn zwar die Darstellung der endlichen Eskalation in den Krieg im Jahre 1914 in »den tausenden Seiten von Musils Nachlass« (S. 29) verschwunden und erhalten ist, so markiert Pleners Kommentar ihren Ausgangspunkt in einer frühen Kammerdiener*innen-Szene im Hause Leinsdorf, die er zugleich als »Beitrag zur Faszinationsgeschichte des Sehens, des Kinos« (S. 28) liest: »Am Schlüsselloch signalisierte ›Rachelle‹: ›Jetzt sprechen sie vom Krieg!‹« (GW I, S. 180). In der Tat führt der Roman dann vor, wie General Stumms Ableitung der Parallelaktion aus der römischen Militärweisheit »Si vis pacem para bellum« durch die Funktionsweise der Bürokratie umgekehrt wird: »Si vis bellum para pacem« (S. 26). »Es gibt einen systematischen Zusammenhang zwischen der Bürokratisierung und der Militarisierung der Zivilgesellschaft« (S. 63), den Matthias Bauers Kommentar zu I/85 zutage treten lässt, indem er dem Blick des Erzählers in die Darstellung der Wiener Ringstraße in General Stumms Dienstmappe folgt. In der Kartographie des Militärapparats ist das »Territorium der Lebenswelt« repräsentiert mit »Aufmarschplänen, Bahnlinien, Straßennetzen, Portéeskizzen, Truppenzeichen, Kommandostandorten« etc. »Jeder Ort des friedlichen Zusammenlebens«, formuliert Bauer den Vexierbild-Effekt zwischen Zivil- und Militärverstand, »ist potentiell auch ein Kriegsschauplatz« (S. 64). Ulrichs im Gespräch mit Stumm entwickelte Vorstellung, dass »die zivile Seele merkwürdige Verwandtschaft mit dem Militär« habe (GW I, S. 378), 11

Innere Zitate: Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2000, S. 25, und GW II, S. 939.

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dass allein der Körper »den Ideen einigermaßen Halt gibt« (GW I, S. 380), wird im Vorlauf zum Weltkrieg durch die »Vermittlungsrolle der Bürokratie« mit ihren pertinenten Formularen – »Akt, Rapport, Meldezettel und Aufmarschplan« – praktisch implementierbar und durch das Attentat von Sarajewo schließlich in Bewegung gesetzt. Von nun an »wird die Marschrichtung der Geschichte von den Kriegstreibern bestimmt« (S. 65). Diesen Befund amplifiziert Roland Innerhofers anschließender Kommentar zu I/98, in dem Musil unter dem Aktenzeichen Eichhörnchen/Eichkatze Kakanien als »ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat« (GW I, S. 451), diagnostiziert: »Nicht die Selbstverneinung, sondern die – in der Parallelaktion forcierte – Bejahung Kakaniens führt letztlich zur Katastrophe« (S. 71). In ihrer Lektüre zu I/107, in dem Musil die Folgen des erwachenden Nationalismus für den österreichischen Vielvölkerstaat verhandelt, greift Iulia-Karin Patrut Musils Bild der Fetisch-Austreibung (vgl. GW I, S. 513) für die moderne Ökonomie der Unlust und des Nationalitätenhasses auf, um Innerhofers Befund ein weiteres Mal zu wenden. »[W]o der Fetisch zugegen ist, fehlt es an Einheit. Es scheint, dass eine solche ›Heilung‹ Kakaniens in Wahrheit dessen Krankheit ist: Die Austreibung des Heterogenen, Gespaltenen, Diversen stiftet keine Identität, sie bewirkt vielmehr das Gegenteil« (S. 76). Weitere Kommentare beschäftigen sich mit Katalysatoren des skizzierten bürokratisch-militärischen Prozesses und rücken Musils weltgeschichtliche Unfallinspektion in die Nachbarschaft einschlägiger Zeitdiagnosen von Karl Kraus und Franz Kafka. Hatte Kraus im November 1914 die Presse als den »Beruf« denunziert, der »Druckerschwärze unmittelbar in Blut verwandeln kann«,12 so lässt Artur R. Boelderl seine Rekonstruktion der Musil’schen Heidegger-Satire – die dessen ›Man‹ im geschwätzig-vernetzten Regierungsrat Meseritscher personifiziert – in General Stumms Versprechen kulminieren, das auf jene medial erzeugte Kriegsbegeisterung (jenes ›Augusterlebnis‹), auf die die Kraus’sche Suada sich zurückbezieht, intradiegetisch vorausweist: »Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich, in ein paar Jahren – wie mein Freund Ulrich einmal gesagt hat – aus den Menschen Menschenfresser zu machen!« (GW II, S. 1020). Und wenn Franz Kafkas chinesischer Schutzbau-Architekt die Bilder von den barbarischen Nomaden als Kinderschreckmittel verharmlost,13 dann führt der Kommentar von Walter Fanta zum Nachlass, Zweite Fortsetzungsreihe, »Beschreibung einer kakanischen Stadt«, an dieser Stelle das enge dialogische Verhältnis zwischen Kafkas China-Fragment und Musils Romanfragment vor: »Wie kommt es«, führt Musils Nachlassnotiz den inneren Monolog des chinesischen Architekten zur homeland security fort, »daß Dörfer und Städte friedlich unberührt 12 13

Karl Kraus: Weltgericht I . Hg. v. Christian Wagenknecht. Frankfurt a. M. 1988, S. 18. Vgl. Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1993, S. 347.

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leben, während sich das Historische ballt? Bilderbuchzustand der Welt ist das Entscheidende!«14 Nicht nur die Aufstachelungsfunktion, sondern auch die Betäubungswirkung der Massenmedien gehören mithin zu den Eskalationsfaktoren der komplexen Bewegung hin zum Großen Krieg. Ein weiterer Resonanzpunkt zu Kafkas chinesischem Sicherheitsgutachten, und zugleich ein weiterer Katalysator der bürokratisch-militärischen Eskalation in den Krieg, erhellt aus Boelderls Versuch, im/als Kommentar zum Nachlasskapitel »Unterhaltungen mit Schmeißer« die revolutionstheoretischen Überlegungen George Batailles als »weiteren Echoraum« (S. 103) des Mann ohne Eigenschaften aufzuschließen. Batailles grundlegende Unterscheidung zwischen »subordinierte[m] Vorgehen« (jegliche »politische Aufgabe«, alles, »was ein Mensch sich vornimmt«) einerseits und »souveräne[m] Vorgehen« andererseits (»Die unterwürfige Intelligenz steht im Dienst der Torheit, doch die Torheit ist souverän«)15 ruft rückwirkend einen Komplex von Kriegsschriften auf, die man einigermaßen präzise unter dem Schlagwort der ›Organisation‹ (und mithin der Subordination) ablegen könnte. Stellvertretend sei hier ein einflussreicher Essay angeführt, in dem der schwedische Geograph Rudolf Kjellén den deutschen Nationalökonomen und späteren Vordenker der ›konservativen Revolution‹, Johann Plenge, zitiert: »[. . .] man darf behaupten, ›daß die Ideen von 1914, die Ideen der deutschen Organisation, zu einem nachhaltigen Siegeszug über die ganze Welt bestimmt sind, wie die Ideen von 1789 [i. e. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, B. W].‹«16 Kafka lässt die Betrachtungen seines chinesischen Architekten über die Organisation und die (Un-)Zweckmäßigkeit des Mauerbaus in zahlreichen Aspekten unmittelbar an die Kriegsschriften Kjelléns und Plenges anschließen,17 und Musils junger Mann und zufälliger Sekretär der Parallelaktion denkt unablässig gegen Leinsdorfs Prinzip an, nach dem »jeder Staatsbürger [. . .], was ihm 14 15 16 17

KA/Transkriptionen/Nachlass Mappen/Mappengruppe I/Mappe I/8/3. Georges Batailles: Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953. München 1999, S. 231 f., S. 234; (zitiert auf S. 105 f.). Rudolf Kjellén: Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive. Leipzig 1915, S. 6; Johann Plenge: Der Krieg und die Volkswirtschaft. Münster 1915, S. 172 f. Hier sei nur kurz auf Plenges Kriegsvorlesung über die Volkswirtschaft (Berlin 1915) verwiesen, die im Angesicht des Krieges als »weltgeschichtliches Ereignis von ungeheurer Tragweite« (S. 10) befindet, dass »unser Volk einen Nachwuchs braucht, der [. . .] zur Mitwirkung an großen Organisationsaufgaben tüchtig ist«, »gründlich geschulte, weitsichtige Männer und Frauen, die, tatkräftig und geschickt, gleichzeitig mit kühler Ruhe und mit warmer Anteilnahme, über ihrer Zeit zu stehen suchen, damit unser Volk die Führerstellung dauernd behauptet« (S. 11), und damit bereits einleitend den Typus der zweckhaft ›subordinierten Helden‹ bei Kafka (Architekt/Mauerbau) und Musil (Ulrich/Parallelaktion) umreißt. Und wenn Plenge später auch die Grenzen der Organisation angesichts der wegen des Krieges »plötzlich entstandene[n] Aufgaben« reflektiert: »Dann kann alle Organisation doch nur notdürftige Verlegenheitsbauten nachholen [. . .]. Sie haben Lücken, die ausgenutzt werden können [. . .]« (ebd., S. 20), dann führt diese Rede nicht nur direkt in das chinesische Teilbausystems bei Kafka, sondern auch, darüber hinaus, in das ›teilweise‹ Schreibverfahren Musils.

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zufällt, wie ein Amt behandeln«18 müsse; mithin also gegen jenen Akt der Subordination, der die fatale Liaison zwischen Zivil- und Militärverwaltung allererst ermöglicht. Fantas Kommentar zu II/38, genauer zur Gruppe der ›Sitzungs-Kapitel‹ (II/34–38), zeigt schließlich auf, wie der zeitdiagnostische Fokus von der Vorvergangenheit der Zeit der Erzählung auf ihre Zukunft übergreift. Waren bisher »Romanteleologie und historische Teleologie als Parallelen bestimmt« (S. 88) – »Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht« (GW II, S. 939) –, so veranlasst seine unmittelbare Zeitzeugenschaft der anhebenden Naziherrschaft im Spätsommer 1932 Musil dazu, die Distanz zum historischen Roman zu suspendieren und stattdessen eine aktual-intervenierende »Warnschrift« (S. 88) zu konzipieren. Die »Fusion von Hans Sepps Chauvinismus und Feuermauls Pazifismus« (S. 89) im »ekelerregenden Beschluss«19 – »Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber Menschen dazu bringt, für fremde Ideen zu sterben, ist ein Mörder« (GW I, S. 1035) – notiert überdeutlich den Zusammenschluss von Nationalsozialismus und Zentrumspartei bei der Anbahnung der Nazi-Diktatur, und mithin den unerhörten Übergang von der Biopolitik des Kaiserreichs zur Thanatopolitik des NS . Und zugleich springt Musils überhistorischer Roman, so mag man Fantas Kommentar hinzufügen, mit der Darstellung der unerwarteten Allianz zweier gleichermaßen ›gegensätzlicher‹ wie ›unzureichender‹ »Zufallssysteme«20 (Chauvinismus/Pazifismus, vgl. S. 89), in der Rechtfertigung der Lizenz zum Massenmord unvermittelt in die Gegenwart der hier abbrechenden Rezension. Benno Wagner Carolin Vogel für die Dehmelhaus Stiftung (Hg.): »Schöne wilde Welt«. Richard Dehmel in den Künsten. Göttingen: Wallstein 2020. 162 S. € 19,90. »Ein sehr starker, ein bedeutender – – ob ein großer Mensch?– Manchmal glaubt man’s zu spüren.–«1 Diese Hommage notiert der in kollegialen Leistungsfragen für gewöhnlich äußerst kritische Arthur Schnitzler am 29. Juli 1923 nach der Lektüre der mit Spannung erwarteten, posthum aus dem Nachlass edierten Auswahlkorrespondenz2 des vielumschwärmten Lyrikers in 18 19 20 1 2

KA/Lesetexte/Bd. 3 Der Mann ohne Eigenschaften Die Fortsetzung/Fortsetzungsreihe 1932– 1936/Zweite Fortsetzungsreihe/Kapitelkomplex »Parallelaktion«/Konferenz bei Graf Leinsdorf. KA/Trankriptionen/Nachlass Mappen/Mappengruppe II/Mappe II/3/95. KA/Trankriptionen/Nachlass Mappen/Mappengruppe II/Mappe II/9/81 (zitiert auf S. 89). Arthur Schnitzler: Tagebuch. Digitale Edition, https://schnitzler-tagebuch.acdh.oeaw.ac.at/ entry__1923-07-29.html, PID : http://hdl.handle.net/21.11115/0000-000C-1125-7 (aufgerufen am 1. 1. 2023). Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe. 2 Bde. Berlin 1922/23.

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sein Tagebuch. Und tatsächlich gilt der dem Symbolismus, der Neuromantik sowie dem Jugendstil zugerechnete Richard Dehmel (1863–1920) seinen Zeitgenossen als einer der bedeutendsten Dichter seiner Epoche, als literarischer Genius, ja gar als »neuer Goethe«3 . Jenseits der formal-ästhetischen Qualität des literarischen Werks zielt der vorliegende Sammelband jedoch in größerer Perspektive auf das »Phänomen Dehmel« (Henrike Reemtsma im Vorwort, S. 7) und würdigt den in Kreisen der Berliner wie Hamburger Moderne um Stanisław Przybyszewski, die Brüder Heinrich und Julius Hart, Alfred Mombert, Max Dauthendey, Detlev von Liliencron oder Harry Graf Kessler situierten Dichter damit auch als paradigmatischen Repräsentanten der literarischen wie kulturellen Moderne um 1900. Im Gegensatz zu seiner frenetischen Verehrung zu Lebzeiten erfuhr Dehmel jedoch schon bald nach seinem Tod eine beispiellose Dekanonisierung und zählt heute zu den ›großen Vergessenen‹ der deutschen Literatur.4 Wesentliche Ursache für die (wissenschaftlich wie populär) defizitäre Breitenwirkung stellt das Fehlen aktueller und verlässlicher Textausgaben dar. Die von Dehmel selbst besorgten Werkausgaben datieren aus den Jahren 1906 bis 1909 (10 Bde.) bzw. 1913 (3 Bde.). Jüngeren Datums ist etwa die von Jürgen Viering besorgte, freilich längst vergriffene Reclam-Anthologie,5 die einen Einsatz in der schulischen wie universitären Lehre zumindest befördern würde. Ein ähnlicher Befund zeichnet sich im Hinblick auf die Forschung ab: Trotz der einschlägigen bei Wilhelm Kühlmann in Heidelberg entstandenen Dissertationsschrift von Björn Spiekermann (2007), die das lyrische Frühwerk im Kontext der Lebensreformbewegung verortet,6 und Marek Fiałeks gruppensoziologischen Untersuchungen zur Berliner Avantgarde7 rückten Werk und Person Dehmels in den vergangenen Jahren nur noch sporadisch in den Blick der philologischen Moderneforschung: etwa bei Peter Sprengel und Barbara Beßlich im Kontext literarischer Ich-Dissoziationen bzw. der literarischen Konservativismusdebatte um 1900, bei Rüdiger Nutt-Kofoth, der anhand der historischen Ballade Anno Domini 1812 (1891) exemplarisch Dehmels geschichtslyrische Zeitkritik der wilhelminischen He3 4 5 6 7

So formuliert etwa Adolf Bartels, der sich in ambivalenter Wertung Dehmels an diesem zeitgenössischen Etikett abarbeitete: Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen. Neue erw. Ausg. 2. Aufl. Leipzig 1899 [1897], S. 164. Vgl. etwa Helmut Scheuer: Richard Dehmel, in: Deutsche Dichter. Hg. v. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. 8 Bde. Bd. 6: Realismus, Naturalismus und Jugendstil. Stuttgart 1989, S. 368–375. Richard Dehmel: Gedichte. Hg. v. Jürgen Viering. Stuttgart 1990 (= RUB 8596). Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels. Würzburg 2007 (= Klassische Moderne, Bd. 9). Marek Fiałek: Die Berliner Künstlerbohème aus dem »Schwarzen Ferkel« dargestellt anhand von Briefen, Erinnerungen und autobiographischen Romanen ihrer Mitglieder und Freunde. Hamburg 2007 (= Schriften zur Literaturgeschichte, Bd. 7); ders.: Dehmel, Przybyszewski, Mombert. Drei Vergessene der deutschen Literatur. Mit bisher unveröff. Dokumenten aus dem Moskauer Staatsarchiv. Berlin 2009.

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gemonie- und Kolonialbestrebungen demonstriert, bei Christian Neuhuber als Beispiel moderner Heine-Rezeption oder im Zuge stoff- bzw. motivgeschichtlicher Untersuchungen.8 Darüber hinaus fanden zuletzt lediglich einzelne Gedichte resp. Gedichtzyklen, allen voran die Verwandlungen der Venus (1896) mit der skandalisierten Venus Consolatrix, bei Andrea Verena Glang-Tossing in erotisch-mariologischer Deutung oder bei Stefano Franchini im Hinblick auf die inkriminierte blasphemische Lesart Beachtung.9 Vor allem neuere Ansätze der Lyrikologie, aber auch der Intertextualitätsund Intermedialitätsforschung fehlen ungeachtet des textuellen Potentials und der archivalisch hervorragenden Überlieferungslage fast vollständig. Eine Ausnahme bildet Bernhard Walchers (im Anschluss an Spiekermann) intermediale Analyse der lyrischen Auseinandersetzung Dehmels mit Max Klingers Monumentalgemälde Christus im Olymp (1897) im Rahmen seiner grundlegenden Gattungsgeschichte des Bildgedichts.10 Anlass der Publikation war ein Doppeljubiläum, denn 2020 jährte sich nicht nur der Todestag Richard Dehmels zum 100., sondern auch der Geburtstag seiner zweiten Ehefrau, der früheren George-Muse Ida Dehmel (geb. Coblenz), zum 150. Mal. Ihrem Andenken als »Maklerin in rebus litterarum« (Elisabeth Höpker-Herberg) ist der Band dem Vorwort Henrike Reemtsmas zufolge explizit gewidmet, bildet ihr Engagement als Archivarin für den Er8

9

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Vgl. Barbara Beßlich: »Corrector Germaniae«. Naturalismus-Kritik, Schönheitsstreben und Nationalpädagogik bei Richard Dehmel, in: Nichts als die Schönheit. Ästhetischer Konservativismus um 1900. Hg. v. Jan Andres, Wolfgang Braungart u. Kai Kauffmann. Frankfurt a. M., New York 2007 (= Historische Politikforschung, Bd. 10), S. 146–165; Christian Neuhuber: »Der kranke Jude und der große Künstler«. Richard Dehmels Gedicht Ein Heine-Denkmal, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), H. 4, S. 561–579; Rüdiger Nutt-Kofoth: Jahrhundertbild. Zum historischen Ort von Richard Dehmels Ballade Anno Domini 1812, in: Ballade und Historismus. Die Geschichtsballade des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Winfried Woesler. Heidelberg: 2000 (= Euphorion. Beihefte zum Euphorion, Bd. 38), S. 180–207; Peter Sprengel: Seelenwanderung oder Seelenwandlung? Wilbrandt, Dehmel, die Sphinx und die Entgrenzung des Ich um 1890, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 53 (2012), S. 355–379. Vgl. auch die entsprechenden Kapitel in den Teilbänden der de Boor/Newald’schen Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Vgl. Stefano Franchini: La Venere blasfema di Richard Dehmel. Documentazione, in: Studi Germanici. Materiali e documenti 15/16 (2019), S. 5–37; ders.: La Venere blasfema di Richard Dehmel. Un dossier, in: Studi Germanici 15/16 (2019), S. 277–312; Andrea Verena Glang-Tossing: Richard Dehmel: Venus Consolatrix (1896), in: dies.: Maria Magdalena in der Literatur um 1900. Weiblichkeitskonstruktion und literarische Lebensreform. Berlin 2013 (= Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Bd. 12), S. 110–130. Bernhard Walcher: Das deutschsprachige Bildgedicht. Kunstwissen und imaginäre Museen (1870–1968). Berlin, Boston 2021 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 160). Einen Versuch, Traditions- und Medienbezüge gattungsästhetisch fruchtbar zu machen, habe ich ferner am Beispiel der Lyrisierung seiner Italien- und Griechenlandreise(n) unternommen: J. I.: Postkartenpoetik. Richard Dehmels epigrammatisches Reisegedicht Eine Rundreise in Ansichtspostkarten (1906), in: Ambulante Poesie. Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert. Hg. v. Johannes Görbert u. Nikolas Immer. Stuttgart 2020, S. 259–299.

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halt des in der Hamburgischen Staats- und Universitätsbibliothek verwahrten Nachlasses ihres Mannes, des sogenannten ›Dehmel-Archivs‹,11 doch überhaupt erst die Voraussetzung für die gegenwärtige wie künftige Erforschung des Dichters wie seines umfänglichen, nicht nur lyrische, sondern auch epische wie dramatische Dichtung umfassenden Werks. Mit Carolin Vogel hat das Unternehmen zudem eine gleichsam institutionell autorisierte wie wissenschaftlich ausgewiesene Herausgeberin. Als stellvertretende Vorsitzende der Dehmelhaus Stiftung, einer Filiation der Hermann Reemtsma Stiftung, die das Künstler- und Wohnhaus des Dichters, von 2014 bis 2016 saniert und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, repräsentiert sie die Fondation nicht nur qua Amt nach außen, sondern hat die im ehemaligen Fischerdorf Blankenese gelegene Villa der Dehmels, wo das Paar seit 1912 lebte, auch im Rahmen ihrer Promotion eingehend untersucht.12 Darüber hinaus hat sie sich in den letzten Jahren verschiedentlich bemüht, die Dehmels und das eng mit Werk und Person verknüpfte Künstlerhaus wieder verstärkt in den Fokus der Wissenschaft sowie der interessierten Öffentlichkeit zu rücken.13 Vor diesem Hintergrund ist der Anfang des Jahres 2020 beim Göttinger Wallstein Verlag lancierte Sammelband »Schöne wilde Welt«. Richard Dehmel in den Künsten zu sehen. Sein Wert erschöpft sich keineswegs darin, als Jubiläumsschrift einzelne memoriale Veranstaltungen wie insbesondere die ebenfalls in der Hamburgischen Staatsbibliothek von Mark-Emanuel Amtstätter sowie Antje Theise kuratierte Ausstellung Zwei Menschen14 im Gedenkjahr zu begleiten. Der mit rund 150 Seiten vergleichsweise schmale Band vereint insgesamt vier Aufsätze zu den Themenfeldern Lyrik als bedeutendste Gattung des literarischen Werks (I), musikalische (II) und bildkünstlerische Rezeption (III) sowie zum Bereich kinder- und jugendliterarische Schriften (IV). Während der Haupttitel Dehmels spätem Gedichtband Schöne wilde Welt (1913) entlehnt ist,15 mag der Untertitel mitunter falsche Erwartungen wecken: Gegenstand der Aufsatzsammlung ist nicht, jedenfalls nicht primär, 11 12

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https://www.sub.uni-hamburg.de/sammlungen/nachlass-und-autographensammlung/deh mel-archiv.html (aufgerufen am 1. 6. 2021). Vgl. Carolin Vogel: Das Dehmelhaus in Blankenese. Künstlerhaus zwischen Erinnern und Vergessen. Hamburg: 2019 (= Schriftenreihe der Professur für Denkmalkunde der EuropaUniversität Viadrina, Bd. 4). Als E-Book gemeinfrei zugänglich unter: https://blogs.sub.unihamburg.de/hup/products-page/publikationen/166/ (aufgerufen am 1. 1. 2023). Vgl. etwa zuletzt Carolin Vogel: Richard Dehmel – Eine Schlüsselfigur der Moderne, in: Fontane, Hauptmann und die vergessene Moderne. Hg. v. Wolfgang de Bruyn, Franziska Ploetz u. Stefan Rohlfs. Berlin u. a. 2020, S. 262–280, sowie dies.: Archiv ohne Archiv – Der Ort als Gedächtnisraum am Beispiel Dehmelhaus, in: Collecting Loss. Hg. v. Simone Bogner u. a. Weimar 2021 (= Schriftenreihe des DFG-Graduiertenkollegs 2227 »Identität und Erbe«, Bd. 1), S. 46–55, bzw. online unter: https://e-pub.uni-weimar.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/4321/ file/Identitaet-und-Erbe-Collecting-Loss-Publikation.pdf (aufgerufen am 1. 1. 2023). https://blog.sub.uni-hamburg.de/?p=28435 (aufgerufen am 1. 1. 2023). Richard Dehmel: Schöne wilde Welt. Neue Gedichte und Sprüche. Berlin 1913.

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die produktive Rezeption von Werk und Person Dehmels in verschiedenen Kunstsparten und -genres, sondern die dialogische Wechselbeziehung zwischen dem literarischen Œuvre Dehmels und nicht-textuellen Künsten. Der im Titel evozierte interdisziplinäre Anspruch bleibt gleichwohl gewahrt, denn zwei philologischen Perspektivierungen steht jeweils ein musikwissenschaftlicher sowie ein kunsthistorischer Beitrag gegenüber. Dabei wurde einer summarischen Überblicksdarstellung, die dem interessierten Laien wie dem Fachwissenschaftler eine fundierte Orientierung zu zentralen Aspekten des Gesamtwerks bietet, gegenüber exemplarischen Fallstudien zu einzelnen Texten der Vorzug gegeben. Björn Spiekermann eröffnet den Band mit einer so souveränen wie für die literaturhistorische Wiederentdeckung essentiellen Betrachtung der Lyrik Dehmels in ihrer generischen Entwicklung anhand der bedeutendsten Gedichtbände der 1890er Jahre (Erlösungen [1891], Aber die Liebe [1893], Lebensblätter [1895], Weib und Welt [1896]). Dabei sensibilisiert der Verfasser unter besonderer Berücksichtigung der für Dehmel konstitutiven (erotischen) Liebeslyrik sowohl für den »handwerkliche[n] und künstlerische[n] Perfektionismus« (S. 32), der hinter der scheinbar so mühelosen Rhythmus- und Klangästhetik der Reimkunst Dehmels steht, als auch für dessen charakteristische Tendenz zur Autokorrektur, d. h. der permanenten Um- und Nachbearbeitung des eigenen lyrischen Werks, die eine Rekonstruktion verlässlicher Textfassungen erheblich erschwert und die zentrale Herausforderung für etwaige künftige Editionsvorhaben bildet. Auf Spiekermanns philologischen Eröffnungsbeitrag folgt Albrecht Dümling mit einer kenntnisreichen Perspektivierung der mannigfachen musikalischen Bezüge in Dehmels Leben und Werk, gilt dieser doch, trotz seines eigenen Dilettantismus im selben Metier, mit über 400 Vertonungen noch zu Lebzeiten als einer der meistadaptierten Lyriker der Moderne (vgl. S. 45). Der Musikwissenschaftler, Kurator und KAIROS-Preisträger Dümling vermag nicht nur profund den Stellenwert der Liedkultur und Hausmusik um 1900 als Voraussetzungen der musikalischen Attraktivität der Dehmel’schen Dichtkunst nachzuzeichnen, sondern anhand ausgewählter Korrespondenz- und Adaptionszeugnisse auch bedeutende Künstlerfreundschaften, etwa zu dem Komponisten Conrad Ansorge, oder Beziehungen in die Wiener Musikszene, insbesondere zu Gustav Mahler, Richard Strauss oder Arnold Schönberg, aufzuzeigen, dessen Streichquartett Verklärte Nacht (UA 1902) seinerseits Weltruhm erlangte und an Popularität den poetischen Urheber längst übertrumpft hat. Dass Dehmels Werk nicht für die Ton-, sondern auch für die Bildkunst rezeptives Potential besaß, bezeugt der Beitrag des Kunsthistorikers und ehemaligen Direktors der Alten Nationalgalerie in Berlin Klaus-Peter Schuster, der an dritter Position in einer materialreichen Tour d’Horizon die bildkünstlerische Rezeptionsgeschichte nachzeichnet. Dabei lässt die stupende

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Vielfalt der archivalischen Objektpräsentationen, die von Dehmels Gefallen am Porträtiertwerden (etwa durch Max Liebermann) über seine künstlerische Kooperation mit dem Darmstädter Architekten Peter Behrens bis hin zur Realisierung des Dehmelhauses als architektonisches Gesamtkunstwerk führt, nachsehen, dass es sich um den Wiederabdruck eines bereits 1983 veröffentlichten Beitrags handelt.16 Gleichwohl wäre ein perspektivisch-aktualisierender Ausblick auf die Anschlussfähigkeit der Ergebnisse für rezente Forschungsparadigmen wie etwa die Schriftstellerinszenierung wünschenswert gewesen. Schließlich komplettiert Roland Stark, der sich seit Jahren um die von Richard gemeinsam mit seiner ersten Frau Paula Dehmel (1862–1918) lancierten kinder- und jugendliterarischen Arbeiten verdient gemacht hat,17 mit einem Beitrag u. a. über Fitzebutze (1900) sowie Der Buntscheck (1904) den Band, in dessen Zuge er auch die rezeptiven Herausforderungen der ambitionierten Bilderbuchprojekte problematisiert, die in puncto literarisches Niveau und illustrative Ausstattung zwar die elitäre Kunstkritik zu überzeugen, ökonomisch jedoch nicht den gewünschten Verkaufserfolg zu erzielen vermochten. Alle vier versammelten Beiträge eint ihr Anspruch sowie ihre Anlage als summarische Darstellung, die auf Basis hoher wissenschaftlicher Expertise versucht, das jeweilige Fachgebiet auch für ein breites Laienpublikum zu erschließen. Die bzw. der kritische Fachwissenschaftler*in hätte sich für den punktuellen Zugriff zielgerichteter Anschlussforschung gegebenenfalls noch ein Namens- und Werkglossar gewünscht, wenngleich die konsequente Untergliederung der Einzelbeiträge ein rasches Navigieren innerhalb des Bandes erlaubt. Als einer lektürebegleitenden literaturhistorischen Orientierung zweckdienlich erweist sich die ausführliche Zeittafel, zumal diese stringenterweise insbesondere diejenigen Werke und Lebensereignisse berücksichtigt, die in den vorangehenden Beiträgen selbst verhandelt werden. Unter buchgestalterischer Hinsicht sind zudem der für Wallstein-Publikationen typische wohlgelungene Satz sowie die, vornehmlich bei Schuster und Stark, in hochaufgelöstem Farbdruck reproduzierten Illustrationen in hoher Anzahl hervorzuheben, die auch eine erneute Wiedergabe von Schusters Aufsatz legitimieren. Bei den sorgsam ausgewählten 46 Reproduktionen handelt es sich überwiegend um seltene, bisher weitgehend unveröffentlichte photographische Zeugnisse aus dem Privatnachlass, um Manuskripte, bildkünstlerische 16

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Vgl. Peter-Klaus Schuster: Leben wie ein Dichter. Richard Dehmel und die bildenden Künste, in: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. v. Ekkehard Mai, Stephan Waetzold u. Gerd Wolandt. Berlin 1983 (= Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich. Schriften eines Projekt-Kreises der Fritz Thyssen Stiftung, Bd. 3), S. 181–221. Vgl. insbes. Roland Stark: Die Dehmels und das Kinderbuch. Nordhausen 2004 (= Bibliothemata, Bd. 21).

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Dokumente sowie Notenbeispiele, die die intermediale Adaption des Dehmel’schen Œuvres bezeugen, oder um eindrucksvolle Beispiele dafür, wie der Dichter um die buchkünstlerische Gestaltung seiner Arbeiten als bibliophile Gesamtkunstwerke bemüht war, einschließlich der (vom befreundeten Peter Behrens entworfenen) Behrens-Antiqua. Dass die Herausgeberin Carolin Vogel selbst nicht mit einem eigenen Beitrag vertreten ist, mag seinen Grund darin haben, dass ihr eigentlicher Forschungsgegenstand, das Dehmelhaus, bereits umfänglich in Schusters Beitrag verhandelt wird und mit dem in der bibliophilen Reihe Menschen und Orte der Edition A. B. Fischer erschienenen Essay eine gut verfügbare Publikation ähnlicher Anlage in selbstständiger Form vorliegt.18 Zudem ist im Göttinger Wallstein Verlag unlängst ein reich illustrierter Material- und Dokumentationsband zur singulären Verbindung und gemeinschaftlichen Werkarbeit der ›zwei Menschen‹ Richard und Ida Dehmel als selbstinszeniertes Künstlerpaar der Moderne erschienen.19 Das Engagement der Hermann Reemtsma Stiftung erweist sich indes nicht auf den Bereich publizistischer Aktivität begrenzt, befördert diese als Kooperationspartner des Editionsprojekts Dehmel digital unter Leitung von Julia Nantke an der Universität Hamburg20 doch gezielt auch die wissenschaftliche Erschließung des archivalischen Korrespondenzbestands, der wiederum neue Perspektiven auf den großen vergessenen Lyriker des Fin de siècle erwarten lässt. Julia Ilgner

Ulrich Arnswald, Friedrich Stadler, Peter Weibel (Hg.): Der Wiener Kreis – Aktualität in Literatur, Architektur und Kunst (= Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung, Bd. 17). Wien: LIT Verlag 2019. 304 S. € 34,90. Der vorliegende Sammelband ging aus einem 2016 veranstalteten Symposium hervor, das das Zentrum für Kunst und Medien (Karlsruhe), das Institut Wiener Kreis (Wien), die Institute für Philosophie und für Technikfolgenabschätzung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) gemeinsam veranstalteten. Rund 80 Jahre nach dem Ende des »klassischen Wiener Kreises (1924–1936)« (S. 7) macht der Band in seiner Breite deutlich, dass die Gruppe von Philosophen, Mathematikern, Natur- und Sozialwissenschaft18 19 20

Carolin Vogel: Richard Dehmel in Blankenese. Berlin 2017. »Zwei Menschen«. Richard und Ida Dehmel. Texte, Bilder, Dokumente. Hg. v. Carolin Vogel für die Dehmelhaus Stiftung. Göttingen 2021. https://www.slm.uni-hamburg.de/germanistik/forschung/forschungsprojekte/dehmel-digi tal.html (aufgerufen am 1. 6. 2021). Das Projekt ediert derzeit eine repräsentative Auswahl von insgesamt 34 000 verwahrten Briefen, darunter die Korrespondenzen Dehmels mit Detlev von Liliencron, Stefan Zweig oder Peter Behrens.

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lern, die sich rund um Moritz Schlick versammelten und unter denen sich nur wenige Frauen befanden (Olga Hahn-Neurath, Olga Taussky-Todd, Else Frenkel-Brunswik), in der Philosophie, der Logik, der Mathematik, der Wissenschaftstheorie, der Ästhetik, der Kunst-, Architektur-, Begriffs- und der Wissenschaftsgeschichte zahlreiche Arbeiten hinterließen, die bis heute auf produktive Weise rezipiert werden. Obwohl inzwischen zahlreiche Publikationen erschienen sind, auf die Friedrich Stadler hinweist (vgl. S. 267), bleiben die intellektuellen Herausforderungen für die Erforschung des Wiener Kreises und seiner Rezeption zahlreich. Viele Texte von Rudolf Carnap, Moritz Schlick, Otto Neurath, Hans Hahn und anderen Mitgliedern sind argumentativ anspruchsvoll, sie setzen eine genaue Lektüre und Kenntnisse in Logik, Physik, Mathematik, Ökonomie und anderen Bereichen voraus, ohne dabei versprechen zu können, in den im weitesten Sinn kulturgeschichtlichen Bereichen, in denen der Wiener Kreis auch rezipiert wurde, zu neuen Einsichten zu führen. Das ist ein banaler Umstand, viele der Beteiligten waren wissenschaftlich auf der Höhe ihrer Zeit, rezipiert wurden jedoch nur einzelne Aspekte, er ist jedoch aus mehreren Gründen von Bedeutung. Trotz der differenzierten Monografie von Hans-Joachim Dahms zum Positivismusstreit finden sich nach wie vor schemenhafte Bilder zu den Arbeiten »des« Wiener Kreises, dessen monolithische und manchmal negative Reputation auch mit der wirkmächtigen, aber großteils abwertenden Einschätzung durch einzelne Mitglieder der Frankfurter Schule zu tun hat(te). Der vorliegende Band arbeitet sich implizit an diesem Bild ab. Zweitens basiert die Breitenwirkung des Wiener Kreises auch darauf, dass die Gruppe im Kontext des »Roten Wien« wissenschaftliche Einsichten zu verbreiten versuchte und es sich um eine Gruppe von politisierten Intellektuellen handelte, die ausgehend von ihrer Vernetzung in der Kommunalpolitik ein kosmopolitisches Bildungsideal verfocht. Das heißt zwar, dass auch populärere und daher leichter zugängliche Schriften einiger Mitglieder des Wiener Kreises existieren, diese jedoch nicht immer dem Niveau der Debatten gerecht wurden. Neben dem politischen Engagement, das von Ernst Machs Einsatz für das allgemeine Wahlrecht über Otto Neuraths Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und Hans Hahns Arbeit in der Schulreform bis zur im Exil vorangetriebenen International Encyclopedia of Unified Science reicht, sind im Wien der Zwischenkriegszeit auch unzählige Kurse an Volkshochschulen und öffentliche Vorträge zu nennen, die bereits vor dem zur Verbreitung der wissenschaftlichen Weltauffassung gegründeten Verein Ernst Mach die kulturelle Wirkung des Kreises belegen. Obwohl der kommunalpolitische Kontext zentral für das Verständnis einiger Arbeiten ist, war der Wiener Kreis kein lokales Phänomen. Noch vor der erzwungenen Emigration vieler Mitglieder sind zahlreiche internationale Gäste und der lebendige Austausch mit Forschern in Deutschland, Frankreich, England, den USA, der Tschechoslowakei und weiteren Ländern bekannt. Schließlich weist der Wiener Kreis weder historisch noch personell

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klare Grenzen auf. Neben diversen temporären Mitgliedern (Kurt Gödel, Karl Popper u. a.) reichen die intellektuellen Referenzen von den englischen Empiristen über die Arbeiten von Ernst Mach, Josef Popper-Lynkeus und Ludwig Wittgenstein bis in die Gegenwart angelsächsischer Universitäten, an denen die mit dem umbrella term »Analytische Philosophie« bezeichnete Art des Philosophierens betrieben wird. Wie geht der vorliegende Band mit den intellektuellen Herausforderungen der Komplexität und Popularisierung, der zeitlichen, räumlichen und personellen Unschärfe des Wiener Kreises um? Die Texte des Bandes lassen sich ausgehend von dieser Frage in drei Gruppen einteilen. Die beiden Beiträge von Ulrich Arnswald und Johan F. Hartle widmen sich Konzepten der politischen Theorie, die für bestimmte Mitglieder des Kreises von eminenter Bedeutung waren. Ausgehend von Thomas Morus diskutiert Arnswald den Begriff der Utopie bei Ernst Mach, Otto Neurath, Karl Popper und Josef Popper-Lynkeus. Arnswald rekonstruiert Machs Texte über Gedankenexperimente, deren Vorteil, »nicht realisiert werden« (S. 16) zu müssen, und die Methode der Variation als »gedankliche[r] Vorwegnahme« (S. 17). Nach einem Hinweis auf die Analogie zu Morus werden von Arnswald drei Positionen skizziert. Während Neurath als Gesellschaftstechniker einer »Utopistik als Wissenschaft« das Wort redet und Machs Ansatz übernimmt, »unterschiedliche Elemente der Überlegung [zu] variieren« (S. 23), geht Neuraths väterlicher Freund Josef Popper-Lynkeus vorsichtiger mit dem Begriff der Utopie um. Er versteht darunter etwas, »das niemals durchgeführt werden kann« (Popper-Lynkeus, zitiert nach Arnswald, S. 24), sein wichtigstes intellektuelles Vermächtnis liegt jedoch in der »allgemeinen Nährpflicht«, also der bis heute diskutierten Forderung, »allen Menschen das nötige Existenzminimum« (S. 24) zu garantieren, was Popper-Lynkeus selbst als »allmähliche Verwirklichung« einer »sozialen Utopie« verstand. Im Kontrast dazu wird abschließend Karl Poppers 1945 publiziertes Werk The Open Society and Its Enemies besprochen. Für Popper sind Utopien vor allem im Kontext »totalitärer Denkstrukturen« (S. 28) relevant. Neben einer klareren Kontextualisierung der drei Texte – jeweils ein Weltkrieg liegt zwischen ihnen – wäre auch der etwas artifizielle Bruch, den Popper im Exil mit seiner Zeit in Wien vollzog, erwähnenswert gewesen. Sowohl Poppers Selbststilisierung als Außenseiter des Kreises als auch seine Abgrenzung zur kommunalpolitischen Bildungspolitik, in der er selbst als Lehrer und Publizist mitwirkte, wären es wert, genauer hinterfragt zu werden. Der zweite Beitrag zur politischen Theorie des Kreises von Johan F. Hartle diskutiert die »Techniken des Gemeinwohls« bei Otto Neurath. Im Gegensatz zu Arnswalds historisch weitreichendem Text fokussiert sich Hartle auf die »rätedemokratische Perspektive« Neuraths, also auf die Jahre 1919 und 1920. Hartle geht es darum, das »Verhältnis von Wirtschaftsdemokratie und Ingenieurswesen zu rekonstruieren« (S. 97). Er arbeitet dabei die historische Genese zweier weitreichender Komplexe in Neu-

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raths Arbeiten auf, die Rolle des Expertentums in einer Demokratie und die utopistische Organisation von Technik. Überzeugend stellt Hartle dabei den Einfluss der Arbeiterselbstorganisation in der bayerischen Räterepublik dar, in der Neurath kurz als Leiter des Zentralwirtschaftsamtes fungierte, was sein rätedemokratisches Denken nachhaltig prägte. Entsprechend sah Neurath es als pädagogische Aufgabe an, »die Gesamtheit der technischen Gestaltung zugänglich« (S. 102) zu machen, also durch Vorträge und Ausstellungen über die Möglichkeiten der Technik und ihres Einsatzes zu informieren, was seine Arbeit im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum ab 1925 beeinflussen sollte. Neuraths technische Auffassung von Gesellschaft wurde ihm wiederholt von Austromarxisten vorgeworfen, denn er sah keinen »kategorische[n] Bruch zwischen der Logik kapitalistischer (etwa tayloristischer) Arbeitsorganisation und den Perspektiven sozialistischer Arbeitsorganisation« (S. 105), er war also wirtschaftspolitisch neutral, gesellschaftspolitisch nicht. Ebenso wirkt die Betonung von »Transparenz und bewusster Kontrolle« (S. 111) der Technik aus der Sicht aktueller »Medien- und Netzwerktheorien« vielleicht naiv, wobei Hartle hier einschränkt, dass die politische Selbstverwaltung bereits bessere Zeiten erlebt habe. Angesichts der Oligopole, etwa im digitalen Informationsbereich, ist Hartle hier zuzustimmen. Seine Kritik an Neurath, dass die »Konstitution eines demokratischen Willens« (S. 105) von der Verfügungsgewalt über die Technik unterschieden werden muss, ist theoretisch schlüssig. Würde man Hartles insgesamt erhellenden Rahmen (1919 und 1920) verlassen und konkreter auf realisierte Beispiele partizipatorischer Willensbildung eingehen, etwa auf die gedruckten Briefe und Nachfragen von Besucher*innen in der 1931 erschienenen Zeitschrift Fernunterricht, so würde auch die Öffentlichkeit deutlichere Konturen gewinnen, die von »Neuraths Denken« (S. 110) ausging, aber jenseits seiner eigenen Schriften lag. Die zweite Gruppe von Beiträgen gehört in den Bereich der Wissenschaftsgeschichte im weiteren Sinn. Volker Peckhaus diskutiert die Logik und Karl Sigmund die Mathematik im Wiener Kreis, während sich Martin Lemke der Entwicklung des Gesetzesbegriffes bei Moritz Schlick annimmt. Das Verdienst von Peckhaus besteht darin, übersichtlich in die Debatten zur Logik zu Beginn des 20. Jahrhunderts einzuführen. Ausgehend vom Grundlagenstreit in Großbritannien werden zu Beginn »vier logische Zentren« (S. 117) benannt: Wien, Berlin, Münster und Göttingen. Im Unterkapitel Göttingen werden die Arbeiten von David Hilbert skizziert, die für das Werk von Rudolf Carnap grundlegend waren. Peckhaus zeichnet anhand von Seminaren und Tagungen nach, welche Werke (Principia Mathematica, Grundgesetze der Arithmetik) wo diskutiert wurden, warum Wittgensteins Tractatus für die frühe Phase des Wiener Kreises und Carnaps Arbeiten bedeutsam wurde und welche Aufgaben Carnap zufolge die Logik vor sich hatte: logische Analyse und theoretische Konstitution. Ohne mathematische und logische Fachbegriffe kommt Peckhaus in seiner Rekonstruktion nicht aus, dafür deckt er

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eine umfangreiche und komplexe Materie ab. Die Forschung in Berlin war vor allem für Hans Reichenbach von Bedeutung, dessen Arbeiten über die Wahrscheinlichkeitslogik im Wiener Kreis diskutiert und später zentrales Ziel nationalsozialistischer Agitation wurden. Der abschließende Abschnitt zu Münster diskutiert in faktenorientierter Weise die »Institutionalisierung der mathematischen Logik im nationalsozialistischen Deutschland« (S. 128), führt fachliche Kon- und Divergenzen auf, um abschließend die Bedeutung der »Schule von Münster« (S. 129) für Deutschland nach 1945 zu betonen. Historiographisch bleibt die Logik paradoxerweise gerade wegen ihrer klaren Form ein schwierig zu erhellendes Gebiet. Peckhaus gibt einen soliden Überblick über Universitätsorte, Professuren, Vorträge und Seminare. Unklar ist in diesem Beitrag insgesamt nur ein Satz: »Die nationalsozialistische Machtübernahme führte wie beim Wiener Kreis zum raschen Zerfall der [Berliner] Gesellschaft [für wissenschaftliche Philosophie].« (S. 125). Ob in diesem Vergleich das 1933/34 durch den Austrofaschismus herbeigeführte Ende der österreichischen Demokratie gemeint ist, hat sich mir nicht erschlossen. Karl Sigmund macht zu Beginn seines Beitrages deutlich, dass der Wiener Kreis zahlreiche mathematisch versierte Mitglieder aufwies, es ihm aber um »die Berufsmathematiker« (S. 132) gehe, um Hans Hahn, Olga Hahn, Kurt Reidemeister, Karl Menger und Kurt Gödel. Trotz der Nähe von Logik und Mathematik machen die beiden Beiträge im Vergleich deutlich, dass Sigmund ein überzeugterer Erzähler als Peckhaus ist. Ohne fachliche Innovationen und mathematische Probleme zu übergehen, erzählt Sigmund den Lebensweg, die Bekanntschaften, persönlichen Motive und erlittenen Schicksalsschläge seiner zu Beginn eingeführten Protagonisten. Diese fast plauderhaft zu nennende Rekonstruktion ist teilweise ebenso erhellend wie erfrischend, etwa wenn der junge Karl Menger bei Arthur Schnitzler zum Essen zu Gast ist und die Perspektive des Literaten auf den jungen Hochbegabten wiedergegeben wird (vgl. S. 140) oder wenn persönliche Perspektiven auf die Mathematiker dargeboten werden (vgl. S. 142). Sigmund überzeugt auch damit, mathematische Leistungen anschaulich zu erklären, wobei ich mich nicht in der Lage sehe zu beurteilen, wie gelungen etwa die knappe Rekonstruktion des Unvollständigkeitssatzes ist (vgl. S. 149). Neben der Mathematik kommen auch politische und moralische Themen zu Wort, etwa Mengers Motivation für seine formale Ethik (vgl. S. 150). Leider sind manche Thesen nicht durch Quellen belegt, etwa die Abwendung Mengers vom »linken Flügel des Kreises« (S. 148). Auch soziale Aspekte wie der Personenkult um Kurt Gödel (vgl. S. 149) oder neue akademische Netzwerke als Alternative zum Wiener Kreis wie das »Wiener Mathematische Kolloquium« spielen eine Rolle, ohne eigens als solche analysiert zu werden – vielleicht weil sich das zu Sagende auch anekdotisch erschließt. Martin Lemke trug den dritten Text aus dem Bereich der Wissenschaftsgeschichte zum Band bei, der die Entwicklung des Gesetzesbegriffes bei Moritz Schlick behandelt. Der an Klarheit nichts zu wünschen

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übriglassende Beitrag situiert Schlicks Arbeiten innerhalb der Philosophiegeschichte und diskutiert zunächst die Unterscheidung zwischen Staats- und Naturgesetzen. Anschließend werden logische und mathematische Gesetze eingeführt, um die Frage aufzuwerfen, inwieweit sich diese Gesetze voneinander unterscheiden. Lemke versteht es ausgezeichnet, auf philosophische Konsequenzen bestimmter Behauptungen hinzuweisen, etwa auf die Probleme für Empiristen, die aus mathematischen Gesetzen folgen (vgl. S. 74), damit die Veränderung des Gesetzesbegriffes plastisch zu rekonstruieren und Schlicks daraus folgende Hierarchie der Gesetzesbegriffe (logisch, mathematisch, naturwissenschaftlich, moralisch) verständlich zu machen. Aus dieser Hierarchie lassen sich auch Konsequenzen für den Freiheitsbegriff folgern, den Schlick in der Nachfolge Epikurs so versteht, dass moralische Gesetze erst dort gelten können, wo Naturgesetze nicht mehr das Geschehen determinieren. Diese Überlegung beschäftigte Schlick, da der Wahrheitswert von Sätzen über zukünftiges Geschehen nicht mehr zu klären gewesen wäre. Im letzten Teil des Beitrags diskutiert Lemke eine weitere Dimension von Gesetzen, nämlich die sprachliche. Hier wird die Bedeutung von Wittgensteins Sprachphilosophie aus dem intellektuellen Werdegang Schlicks heraus verständlich. Lemke macht dabei die unterschiedlichen Positionen von Schlick und Carnap deutlich und begründet Schlicks wachsendes Interesse für den Staat und das Gemeinwohl. Dem Beitrag gelingt es, die Überlegungen Schlicks zu rekonstruieren und eine gedankliche Entwicklung lebendig vor Augen zu führen. Nach der Lektüre bleibt nur zu hoffen, dass der Bruch mit Epikur von 1934 und die Neuauffassung von Gesetzen auch einmal vor dem zeitgenössischen politischen Hintergrund analysiert wird. 1934 wurden in Österreich Gesetze beschlossen, die zur Auflösung des Vereins Ernst Mach führten. Die dritte Gruppe von Texten ist die größte und betrifft den Bereich der kulturellen Rezeption des Wiener Kreises. Zwei kürzere Texte fallen etwas aus dem Rahmen. Der Beitrag von Jochen Hörisch zum logischen Empirismus und zu graphischen Medien enthält nur zwei Fußnoten, beide beziehen sich auf den Verfasser selbst. Viele der Thesen waren mir in ihrer Abstraktheit nicht nachvollziehbar, etwa dass »neue[ ], realistische[ ] Medien nicht nur ihre philosophische Entsprechung, sondern ihren philosophischen Effekt« in den Texten des Wiener Kreises finden würden. Wie sich der Satz: »Es ist alles so, wie es ist« (S. 191), zur Utopistik Neuraths verhält, war für mich ebenso unklar. Dass der Wiener Kreis »gegen Metaphern« sei (S. 188), widerspricht Neuraths kritischer Rezension von Poppers Logik der Forschung, in der er Metaphern einen wichtigen Stellenwert innerhalb der Wissenschaftsgeschichte einräumt. Der kurze Beitrag von Georg Vrachliotis und Lukas Bessai zur Architektur behauptet über den Wiener Kreis, dass »die Philosophie eine intellektuelle Führungsrolle« (S. 179) beansprucht habe. Manche Vertreter des Wiener Kreises vertraten die gegenteilige Ansicht. Zudem wurde von mehreren Architekturhistorikern, etwa Eve Blau, deutlich gemacht, dass der

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Wiener Siedlungsbau aufgrund seines Ziels der agrarischen Selbstversorgung nur bedingt mit der »Gartenstadt« (S. 184) zu vergleichen ist, wie hier behauptet wird. Die restlichen Informationen dieses Beitrags, im Wesentlichen eine Zusammenfassung eines bekannten Aufsatzes von Peter Galison, ließen sich auch anderen Texten des Bandes entnehmen. Der Bereich der Kunstgeschichte wird von Romana K. Schuler und Peter Weibel behandelt. Schuler widmet sich der Rezeption von Mach in der avantgardistischen Kunst. Gleich mehrere Topoi Machs lassen hier Schuler überzeugenderweise von einer intensiven Rezeption sprechen: die Experimente zur visuellen Wahrnehmung (vgl. S. 34), die Gesetzmäßigkeit von Täuschungen (vgl. S. 37), Inversionserscheinungen (vgl. S. 41) und das Minimumprinzip (vgl. S. 44) finden sich, teilweise vermittelt über die Gestaltpsychologie (Wertheimer, Arnheim), in Werken von Barnett Newman, Mark Rothko, Jo Baer und bei anderen Künstlern, vorwiegend der Minimal Art. Machs berühmte Selbstzeichnungen wurden von Dan Graham und Peter Weibel aufgenommen. Das Verhältnis zu einer der zentralen Bezugsfiguren des Wiener Kreises ist manchmal sehr konkreter Art, manchmal eher eine vage Anspielung, aber nie zweifelhaft. Schulers vorsichtig in einer rhetorischen Frage formulierter, abschließender Appell, dass experimentelle Kunst sich neben der Wissenschaft wieder als schöpferische Instanz etablieren sollte, würde den Lesern von Robert Musil einleuchten. Der zweite im weiteren Sinn kunsthistorische Beiträger Peter Weibel stellt sich als ein »Hund [vor], der zum Wächter der Wurst gemacht« (S. 213) wurde. Es wird schnell klar, warum Weibel sich diese Rolle zuwies. Er studiert mathematische Logik gemeinsam mit Karl Sigmund, lernte noch Mitglieder des Wiener Kreises persönlich kennen (Karl Menger) und beschäftigte sich zeit seines Lebens in Form von Ausstellungen, Filmen und Publikationen mit dem Wiener Kreis. Ähnlich wie Schuler widmet auch Weibel sich zunächst der Rezeption von Mach, allerdings aus einer anderen Perspektive. Machs fotografische Analyse von Bewegungsabläufen wird von Weibel in eine wirkmächtige Reihe mit Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey gestellt. In der Tat findet sich das Motiv des fliegenden Projektils bei Luigi Russolo und Giacomo Balla wieder. Auch Machs Konzepte der »Tongestalt«, der »Raumgestalt« und der »Stereokinetik« (S. 219) und die Mach’schen Bänder (vgl. S. 231) fanden ihren Niederschlag in der Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Anschließend kommt Weibel auf das Prinzip der Reduktion zu sprechen, wie es etwa von Hans Hahn formuliert wurde. Auch einen Würfel, den sich Karl Menger ausdachte, den sogenannten Menger-Schwamm, sieht Weibel als eine wichtige Frühform der amerikanischen Konzeptkunst der 1960er Jahre. Bemerkenswert sind Weibels Hinweise auf die Rezeption Fritz Heiders, eines Grazer Gestaltpsychologen, dessen Unterscheidung von ›Ding‹ und ›Medium‹ von Marshall McLuhan und Niklas Luhmann wieder aufgenommen wurde. Die breite Wirkung von Fritz Mauthner, dessen Kri-

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tik der Sprache (vgl. S. 232 f.) sich bei Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Martin Buber, Alfred Döblin, Hugo Ball, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Wittgenstein und Johannes Baader wiederfinden lässt, führt Weibel zur These, dass Mauthner den Status eines geheimen Klassikers besitze, auf den sich jeder der Genannten beziehe – leider bleiben die genaueren Belege und Analysen aus, bis auf ein Zitat zu Wittgenstein; die Menge an Referenzen hinterlässt aber den Eindruck, dass trotz der lebhaften Präsenz des Hundes von der Wurst noch einiges übrig ist. Der Beitrag von Stefan Scherer behandelt die Rezeption des Wiener Kreises in der Literatur der Zwischen- und Nachkriegszeit, die Arbeiten von Robert Musil, Hermann Broch, Rudolf Brunngraber und Ingeborg Bachmann. Scherer beginnt seinen Beitrag mit dem von Mach stammenden Motto »Das Ich ist unrettbar« (S. 157), um dessen Bedeutung für das Junge Wien darzulegen. Anschließend wird Robert Musils kritische Dissertation über Mach und dessen poetologische Bedeutung für Der Mann ohne Eigenschaften skizziert. Scherer formuliert einen Vorbehalt des Schriftstellers gegenüber der empiristischen Philosophie des Wiener Kreises, dass »gerade in der Dichtung erfahrbar werde, ›was man nicht weiß‹« (S. 159). Dieser Vorbehalt würde sich bei Musil und Broch wiederfinden, affirmativ verhalte sich dagegen der Roman Karl und das zwanzigste Jahrhundert zur philosophischen Ausrichtung vor allem Otto Neuraths, für dessen Museum Brunngraber tätig war. Manche Einschätzungen Scherers hätten nuancierter ausfallen können. Etwa dass »[e]inprägsame Bildstatistiken [. . .] die Menschen von individualistischen Illusionen abbringen« (S. 164) sollen, widerspricht manchen Vermittlungspraktiken des Museums, z. B. den individuellen Sammlungen von Bildstatistiken oder der Möglichkeit, auf zukünftige Ausstellungen über Feedback-Formulare Einfluss zu nehmen. Auch dass sich Brunngrabers Roman »mehr oder weniger durchgängig auf die bloße Mitteilung von Daten und Zahlen beschränkt« (S. 165), gilt für den Teil des Romans, der in Schweden spielt, nur bedingt. In der abschließenden Rekonstruktion von Bachmann wird Literatur wiederum als Gegensatz sowohl zur Logik als auch zur Metaphysik verstanden. Dass der Ausdruck »Logistiker« bereits eine »Distanznahme« (S. 177) signalisiere, ist nicht sofort einleuchtend, schließlich war »Logistik« lange ein in bewusster Abgrenzung zu älteren Formen der Logik verwendeter Begriff. Der Beitrag von Károly Kókai geht methodisch einen anderen Weg als alle bisher genannten Aufsätze. Er versucht einer »Ästhetik des Wiener Kreises« (S. 193) auf die Spur zu kommen. Kókai stellt zunächst eine Auswahl möglicher Texte zusammen. Robert Zimmermanns Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft (1865), Moritz Schlicks Das Grundproblem der Ästhetik in entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung (1909), Nach-Expressionismus von Franz Roh (1925), Kleines Lehrbuch des Positivismus von Richard von Mises (1939) und Esthetics and the Theory of Signs von Charles Morris (1939).

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Das Buch von Morris versuchte Semiotik im Rahmen der Unity of ScienceBewegung als Teil der Wissenschaften zu etablieren. Kókai hält in seiner einseitigen Rekonstruktion die Thesen von Morris aber für zu willkürlich oder losgelöst vom »Feld der existierenden Kunstdiskussionen« (S. 197). Auch das Buch von Richard von Mises, das letztlich nur zwei Paragrafen enthält, die für Kókais Vorstellung von Ästhetik in Frage kommen, wird als »unbefriedigend« (S. 199) empfunden und abgelehnt. Rohs Buch sei zwar »unglaublich reich« (S. 200) an Material, es biete insgesamt aber »eher eine verwirrende Menge von Informationen« (S. 200). Nach der dritten Buchbesprechung unterbricht Kókai seine Serie von Evaluationen und arbeitet sich am Verhältnis von Wiener Kreis und Bauhaus ab – trotz vieler Überschneidungen und Parallelen scheinen »ästhetische Fragen eher von den Künstlern angesprochen« (S. 206) worden zu sein. Als nächstes werden Otto Neuraths post mortem publizierte Gesammelte bildpädagogische Schriften diskutiert, aber »im Sachregister des Bandes kommt der Eintrag Ästhetik nicht vor, Kunstwissenschaft, Kunsttheorie und Kunst ebenfalls nicht« (S. 207). Kókais Einschätzung, dass Neuraths Bildpädagogik »dezidiert atheoretisch ausgerichtet« (S. 207) war, würde ich nicht teilen, viele Vorgaben zur Gestaltung, Farbgebung, Größe und Komposition der Bildstatistiken sind theoretisch fundiert. Das Buch von Schlick, das Kókai zu Beginn selbst vorgeschlagen hatte, schließt er in einem Absatz wieder aus, da es »eben 1909 geschrieben worden ist, das heißt wesentlich früher als der Wiener Kreis selbst bestand« (S. 209). Zimmermanns Buch von 1865 kommt aus demselben Grund nicht in Frage und weil unklar sei, worin die Einheit einer österreichischen philosophischen Tradition bestehe, die im Wiener Kreis kulminiere. Kókai hofft durch seinen Beitrag eine weitere Diskussion zur Ästhetik des Wiener Kreises anzustoßen. Der Ansatz seines eigenen Versuchs hat sich mir nicht erschlossen. Die beiden Beiträge von Hans Lenk und Friedrich Stadler beschließen den Band. Lenk nimmt den Wiener Kreis als paradigmatisches Beispiel für interdisziplinäre Zusammenarbeit und als praktischen Versuch einer theoretischen Einholung derselben Form von Kooperation. Er benennt aktuelle Notwendigkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit (»Umwelterhaltung, Nachhaltigkeit«, S. 242), fordert wissenschaftliche »Generalisten« und »Universalisten« (S. 243) ein, ohne die solche Projekte nicht möglich wären und, so könnte man hinzufügen, die wohl zusehends von Managern übernommen werden. Anschließend differenziert Lenk elf Typen der Interdisziplinarität, Transdisziplinarität und Superdisziplinarität und gibt Beispiele dafür, etwa die Stadtplanung als interdisziplinäre Projektkoordination oder formalmathematische Theorien, die sich auf unterschiedliche Gebiete anwenden lassen. Der abschließende Teil von Lenks Beitrag besteht aus einem tabellarischen Überblick über »Interpretatorisch-Schematisierende Aktivitäten« (S. 253), der eine Vielzahl an methodischen Tätigkeiten der Geistes- und Naturwissenschaften unter einem Paradigma versammelt, das an die Verhaltens-

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psychologie erinnert. Lenks theoretisches Angebot ist hier, alle Tätigkeiten als konstituierende, konstruierende oder rekonstruierende Aktivitäten zu betrachten, die bei der Entwicklung eines Projektes hilfreich sein könnten. Obwohl Lenks Beitrag insgesamt eher abstrakt bleibt und man über die konkrete Anwendung seiner Theorie bei fächerübergreifenden Projekten gerne mehr gehört hätte, ist die Reichweite seines Systems beeindruckend. Seine kurzen Kommentare zum Wiener Kreis fallen eher einseitig aus. Stadlers Beitrag ist ein Wiederabdruck eines Artikels aus dem Jahr 1995, der durch einschlägige Publikationen ergänzt wurde, die seither erschienen sind. Stadlers Text ist dezidiert polemisch, er beginnt mit drei Thesen, die das »Klischee« (S. 269) des Wiener Kreises darstellen, um anschließend Texte zu diskutieren, die dieses Klischee unterminieren. Zunächst werden die Arbeiten von Felix Kaufmann genannt, der zwischen dem liberalistischen Geist-Kreis um Ludwig von Mises, dem Wiener Kreis und den Schulen von Edmund Husserl und Hans Kelsen tätig war. Kaufmann publizierte in der Mathematik, Rechtsund Sozialwissenschaft, dazu einzelne Aufsätze zur Oper und zur Theorie der Kunstwissenschaft, sowie eine Methodenlehre der Sozialwissenschaften (1936), die sich mit Carnaps Positionen auseinandersetzt (vgl. S. 273). Wie bei Karl Sigmund wird auch bei Stadler das Buch Moral, Wille und Weltgestaltung (1934) von Karl Menger erwähnt, das auch hier als »originelle Ethik [. . .] mit bewußter Verwendung der modernen mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode« (S. 274) bezeichnet wird. Die Arbeiten von Charles Morris rückt Stadler in ein neues Licht, da sie in derselben Reihe wie The Structure of Scientific Revolutions von Thomas Kuhn erschienen und so die holistische Vergleichbarkeit von wissenschaftlichen und kulturellen Formen fortsetzen (vgl. S. 277). Im Gegensatz zu Lenks optimistisch metatheoretischem Text scheint Stadler damit ein »hierarchischer Begründungs- und Rechtfertigungszusammenhang [. . .] ad absurdum geführt«. Auch die Publikation von Richard von Mises, Kleines Lehrbuch des Positivismus, sieht Stadler, im Gegensatz zu Kókais auf Ästhetik fixierter Analyse, als eine »Bestandsaufnahme« der »wissenschaftliche[n] Weltauffassung als einer kulturellen Lebensform« (S. 279). Auch bei von Mises erweist sich der Rückbezug auf Mach als grundlegend dafür, Alltags- und Wissenschaftssprache als kontinuierliche Entwicklung zu begreifen. Musils Rezeption des Wiener Kreises wird bei Stadler detaillierter ausgewiesen als im Beitrag von Scherer, wobei sich Musil selbst in seinen Tagebüchern und Notizheften darüber in Schweigen hüllte, welche Lektüren von Waismann, Carnap, Menger und Schlick er wie aufnahm (vgl. S. 283). Stadler beschließt seinen Beitrag mit einem Überblick über die Verbindungen des Wiener Kreises zum Konstruktivismus, die sich aus der Zusammenarbeit von Otto Neurath und Gerd Arntz ergaben. Die drei Gruppen des Bandes versammeln also Aufsätze von unterschiedlicher Qualität, wobei der Bereich der kulturellen Rezeption am schwächsten und jener der Wissenschaftsgeschichte am stärksten ausfällt. Überraschend

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waren vor allem Ungenauigkeiten, die sich durch die Lektüre anderer Aufsätze desselben Bandes klären lassen hätten können. Die methodische Versiertheit ist bei den Aufsätzen unterschiedlich ausgeprägt. Nichtsdestotrotz enthält der Band zahlreiche wichtige Beiträge und unzählige Hinweise für die immer noch ausstehenden Arbeiten von Geisteswissenschaftern, die sich intensiver mit dem Wiener Kreis zu beschäftigen gewillt sind. Der in Wien ansässige LIT Verlag, bei dem der Band erschienen ist, hat sich durch preisgünstige Ausgaben von akademischen Taschenbüchern und Neuauflagen vergriffener Bücher, etwa des Gesamtwerks von Otto Neurath, verdient gemacht. Leider weist dieses Buch einige Fehler auf. Die Fußnoten sind nicht einheitlich, so enthält etwa der Beitrag von Karl Sigmund nur Kurzzitate. Gravierender sind orthographische Fehler, die darauf schließen lassen, dass dieser Verlag nicht nur auf einen Buchhandelsvertreter, sondern auch auf ein Lektorat gänzlich verzichtet. »Demnach sollte der Staat der Lust seiner Bürger sein« (S. 90), »zu Beginn der dreißiger Jahre [. . .] für Deutschland vier logische Zentren: Die Städte Wien [sic] und Berlin [. . .]« (S. 117), »kann man . . . von einer Dominanz . . . spreche« (S. 129), »opppsition« (S. 196). Weitere Fehler ließen sich auflisten. Vielleicht führt dieser Hinweis dazu, großteils guten Texten in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Gernot Waldner

Martin Erian, Primus-Heinz Kucher (Hg.): Exploration urbaner Räume – Wien 1918–38. (Alltags)kulturelle, künstlerische und literarische Vermessungen der Stadt in der Zwischenkriegszeit. Mit 14 Abbildungen. Göttingen: V & R unipress 2019. 297 S. € 45,–. Die Umschlagabbildung des Sammelbandes, der im Rahmen zweier aufeinanderfolgender FWF-Forschungsprojekte (Österreichische Literatur und Kultur der Zwischenkriegszeit [2008–2012]; Transdisziplinäre Konstellationen in österreichischer Literatur, Kultur, Kunst der Zwischenkriegszeit [2014–2018]) bzw. als Konferenzband erschienen ist, stammt vom österreichischen bildenden Künstler und Schriftsteller Carry Hauser und erinnert unverkennbar an die Großstadtgrafiken von George Grosz. Die 1923 entstandene Zeichnung Laster zeigt eine Nachtszene mit zwei Paaren in einem urbanen Umfeld mit Laterne, dunklen Hausfassaden und der Silhouette eines wahrscheinlich betrunkenen Mannes im Hintergrund. Die auch für Grosz typische Linienführung bei der Darstellung der als Prostituierte erkennbaren Frauenfiguren und ihrer Freier sowie die Verzerrung von Baudetails und Proportionen legen nicht nur die Kommerzialisierung der Liebe und urbane Stereotypen des moralischen Morastes und der existentiellen Krisen als ausschlaggebende The-

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men der Großstadtliteratur der Zeit nahe,1 sondern auch jene Problematik, die neben der Einleitung der Herausgeber in zahlreichen Beiträgen angesprochen wird: Alleine wegen der vielfachen Austauschbeziehungen unter den Protagonist*innen des literarischen Lebens der europäischen Hauptstädte lassen sich Berlin bzw. Metropolen wie Paris, London und Moskau als Vergleichsfolien in der Auseinandersetzung mit Wiener Feuilletons, Reportagen, Romanen und unterschiedlichen öffentlichen Debatten über Städtebau und Wohnkultur schwer vermeiden. Wie aber Martin Erian und Primus-Heinz Kucher in ihren einleitenden Worten deutlich machen, soll diese Perspektive nicht nur um die Erörterung von autochthonen kulturellen Leistungen ergänzt werden (vgl. S. 9), sondern auch um den Anspruch, den Horizont der Analysen auf nicht kanonisierte Werke, Autor*innen und Gattungen auszuweiten. Die einzelnen Aufsätze, dies sei vorausgeschickt, kommen dieser Zielsetzung überwiegend nach, was ein erfrischendes (alltags-)kulturelles Panorama vom Wien der Zwischenkriegszeit ergibt. Wie ertragreich die Fokussierung auf Phänomene und kulturelle Produkte jenseits des Kanons sein kann, bezeugen nicht nur die online zur Verfügung gestellten Porträts von prägenden Autor*innen der Epoche, sondern auch die ebenfalls im Rahmen der genannten Forschungsprojekte publizierten Texteditionen von »wiederentdeckten« Schriftstellern wie Arthur Rundt oder Fritz Rosenfeld sowie die Ausarbeitung von thematischen Schwerpunkten wie die Radioästhetik der Epoche oder die Wechselwirkungen zwischen sowjetischen und österreichischen kulturellen Tendenzen.2 Nichtsdestotrotz lassen beispielsweise die Ausführungen von Walter Fähnders zur »Metropolenwahrnehmung« entlang der modernistischen Koordinaten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weiterhin von Evelyne Polt-Heinzl zu architektonischen Diskursen bezüglich des Wolkenkratzerbaus in Wien sowie von Martina Zerovnik zu den kulturpolitischen Debatten über das Kino die Schwierigkeit erkennen, komparatistische Ansätze in den Hintergrund zu schieben und eine Systematik in den jeweiligen Problemaufriss zu bringen. Dass dies – mit guter Gewichtung der Argumente – trotzdem produktiv gewendet werden kann, zeigt der Aufsatz von Rebecca Unterberger, die mit Rückgriff v. a. auf die Berliner Kaufhaus-Debatten vor und nach dem Ersten Weltkrieg jene für das Rote Wien spezifische Diskurslage ausarbeitet, die ihre Spuren in der genossenschaftlichen Führung von Kaufhausunternehmen ebenso hinterlassen hat wie in der kulturpolitischen Vermarktung 1 2

Vgl. auch die 1924 verfertigten Illustrationen Hausers zu Else Feldmanns zuerst in der Arbeiter-Zeitung veröffentlichtem Fortsetzungsroman Der Leib der Mutter mit Publikationsbeginn am 23. März 1924 bzw. die im Jahr 1993 erfolgte Neuausgabe des Romans im Milena-Verlag. Vgl. die informative Webseite der Projekte, insbesondere die Auflistung der Buchpublikationen unter https://litkult1920er.aau.at/das-projekt/buchpublikationen/ sowie die Reihe der Autor*innenporträts unter https://litkult1920er.aau.at/portraets/ (aufgerufen jeweils am 14. 8. 2022).

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von Kaufhäusern bzw. in der ästhetischen Experimentierfreude der einschlägigen Werbekultur. Noch einsichtsreicher erweisen sich tatsächlich jene Analysen, die entweder auf einzelne Texte bzw. Œuvres oder auf Gattungsspezifika bzw. enger gefasste Themen fokussieren. Heinz-Primus Kuchers Entscheidung, das Augenmerk auf belletristische Texte »[z]wischen Revolution, Spekulation, Inflation und Kastration« zu richten (so der Haupttitel seines Beitrags) und diese als literarische »Chiffren« für die Entfesselung kapitalistischer Zirkulation, für sozioökonomische und körperliche Deregulierung zu lesen, vermag den auch prosapoetisch nachvollzogenen Befund zu untermauern, dass eine literarische »Umkodierung grundlegender kultureller wie sozialer Hierarchien und Werte bis hin zur Aufwertung des Kriminalitätsdispositivs oder des Abgleitens in abseitige und pathologisch konturierte Handlungsräume« (S. 64) erfolgte. Andererseits wartet der kulturgeschichtlich bzw. medienhistorisch kontextualisierende Zugang zu mittlerweile kanonisierten Schlüsseltexten der Epoche mit vielversprechenden, über die Textproduktion hinausweisenden Resultaten auf: So nimmt Thorsten Carstensen den Roman Jazz von Felix Dörmann im Kontext des Gesamtœuvres unter die Lupe und klopft ihn mit Blick auf Döblins Thesen zum Kinostil und auf die Kommerzialisierung des Alltags und des weiblichen Körpers ab, während Rob McFarland die kulturtheoretisch und -geschichtlich auslotbare Symbolträchtigkeit der Gegenüberstellung von Wolkenkratzern und Kirchtürmen in Ann Tizia Leitichs Amerika-Reportagen mit Bezügen auf die Semiotik von grafischen und filmischen Werbematerialien aus Wien überzeugend entziffert. Selbst wenn in diesem Zusammenhang eventuelle Auswirkungen von sowjetischen konstruktivistischen Bauentwürfen und ihre architektonische Denkfigur des säkularisierten Tempels erwähnenswert gewesen wären, bringt McFarlands Auslegung von Leitichs Schriften das Dilemma der Moderne par excellence klar auf den Punkt, indem deren widersprüchliche Zeiterfahrung anhand der Kollision zwischen amerikanischer »Wolkenkratzerzukunft« und »Pioniergeist« einerseits und den Ingredienzien der »alten« europäischen und speziell Wiener Kultur andererseits veranschaulicht wird. Eine vergleichbar einleuchtende und ebenso die Grundproblematik der Moderne hervorkehrende Analyse wird von Ruth Hanisch beigesteuert, die anhand der Laufbahn des Architekten Felix Augenfeld, der neben Josef Frank und Oskar Strnad eher als eine periphere Figur in der Architekturgeschichte firmiert, das eklektische Programm des »Wiener Wohnens« mit dem des funktionalistischkonstruktivistisch ausgerichteten deutschen Bauhauses überzeugend zu kontrastieren vermag: Indem Augenfeld statt Serialisierung und Standardisierung auf die persönliche Beziehung zwischen Architekt und Auftraggeber*in und v. a. auf die Individualansprüche der Letzteren wie auch auf die Geschichtlichkeit von Inneneinrichtungen setzte, lässt sich sein Programm mit Josef Franks »geradezu häretische[r]« (S. 198) Haltung parallelisieren, welche sich

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eine »fortschrittliche Kritik an der Moderne« auf die Fahnen schrieb und so ein »tragfähiges Konzept einer architektonischen Erneuerung« (S. 199) erarbeiten konnte. Dank einer derartig modernekritisch eingestellten Perspektive erweisen sich die Auseinandersetzungen im Bereich der literaturgeschichtlich seit geraumer Zeit präsenten Feuilletonforschung als äußerst produktiv, insofern sie auf spezifische historische Entwicklungstendenzen sowie presse- und ideologiegeschichtliche Differenzierungen aufmerksam machen: So legt Hildegard Kernmayer für Analysen der Großstadtliteratur die Notwendigkeit dar, die überlieferten Theoreme beispielsweise aus Georg Simmels oder Walter Benjamins kanonischen Werken raum- und zeitspezifisch zu überprüfen und so z. B. der in der Zwischenkriegszeit nicht nur in Texten ›unter dem Strich‹ zu beobachtenden Erstarrung der »feuilletonistische[n] Figur des Flaneurs zu einem konventionalisierten Sinnbildungsmuster« (S. 98) Rechnung tragen zu können. Eine feuilletongeschichtliche Nahaufnahme bietet der Aufsatz von Martin Erian zu den Sozialreportagen Bruno Freis und Else Feldmanns im Abend von 1918: Der einsichtsreich kontextualisierte Streifzug durch ihre Texte macht nicht nur die Bedeutung der durch die Tagespolitik und die Blattlinie bedingten inhaltlichen und rhetorischen Entscheidungen evident, sondern beleuchtet auch die Unterschiede zwischen den Rollenmodellen von weiblichen und männlichen Berufsjournalisten der Zeit, was – zumindest in Bezug auf Feldmanns und Freis Programmatik – Akzentverschiebungen zwischen den Modi von sozialreformerisch und ideologisch geprägter Stadtwahrnehmung nahelegt. Dass sich derartige Schärfungen der überlieferten Perspektive auf die literarische Produktion insbesondere der Zwischenkriegszeit als fruchtbar erweisen, zeigen die Aufsätze, die sich speziell mit weiblicher Autorschaft beschäftigen: Die von Veronika Hofeneder ausgeführte – mit stadttheoretischen Argumenten etwas überlastete und auch gewissermaßen kurzgeschlossene – Analyse von weiblichen Protagonisten in den Romanen von Gina Kaus, Joe Lederer, Mela Hartwig und Therese Ries skizziert die Aushandlungsmöglichkeiten bei der Nutzung von konkreten und sinnbildlichen »Randzonen« (S. 203) und kann auch als Anstoß für weiterführende Fragen beispielsweise bezüglich der Motivik der großstädtischen Nacht oder auch der urbanen Klangkulissen gelesen werden. Eine intermedial-motivanalytisch fein angelegte und den von Kucher bzw. Carstensen auch erörterten Inflations- und Spekulationsdiskurs ansprechende Untersuchung bietet der Beitrag von Aneta Jachimowicz zu Marta Karlweis Roman Schwindel an, indem die Autorin neben dem stereotypisierten familiären Finanzruin die hier waltende Spezifik der Wahrnehmung von Menschenmassen und auch jene des Vitalismus im Kontext des Stadt-Land-Unterschiedes ausarbeitet. Die beiden abschließenden Aufsätze widmen sich dem sprichwörtlichen fremden Blick auf das Wien der Epoche: Mit dem reiseliterarisch konzipierten

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Bericht des Amerikaners William Carlos Williams und mit dem literarisch anspruchsvoll gestalteten Text des Franzosen Emmanuel Bove beschäftigt sich Juliane Werner und zeigt im Kontext der apokalyptischen Atmosphäre der Inflationsjahre zwei sozioökonomisch, raumpoetisch und narratologisch kontrastierbare Modelle der Fremdwahrnehmung der österreichischen Hauptstadt. Ebenso finden unterschiedliche Stadtmodelle in Tadeusz/Thaddäus Rittners Romanen, die 1917 und 1921 auf Deutsch und Polnisch verfasst wurden, ihren Ausdruck, dessen Tendenz von Anne Hultsch auf die einprägsame, aber im Aufsatz selbst unterbelichtete Formel »Elitenwechsel« gebracht wird: Hultsch schildert, mit einem Exkurs zu Rittners Feuilletons, wie der Autor auf fragmentarische Weise und nur zögerlich auf die konkrete Stadt Bezug nehmend Irreales und Reales mit dem Anspruch vermischt, die »Gegenseiten« der Stadt (S. 286) zu erschließen und so ihrer Heterogenität und ihrem auch politisch herausfordernden Charakter gerecht zu werden. Der Sammelband zeugt insgesamt nicht nur davon, dass eine kritische Weiterführung der in unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen bereits etablierten Ansätze zu Großstadtdiskursen des 20. Jahrhunderts erforderlich ist, sondern auch von der Mannigfaltigkeit der noch zu erschließenden Quellen und Teilbereiche, anhand derer weiter differenzierte Interpretationen der urbanen Komplexität der so kurzen Epoche zwischen den beiden Weltkriegen bereitgestellt werden können. Katalin Teller

Roland Innerhofer: Architektur aus Sprache. Korrespondenzen zwischen Literatur und Baukunst 1890–1930. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2019 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 270). 327 S. € 79,95. Der Titel von Roland Innerhofers Studie bebildert bereits die grundlegende Zwickmühle interdisziplinärer Zugriffe auf Architektur und Literatur. Das »und« lässt sich nie überbrücken, es bleibt auf beiden Seiten ein unübersetzbarer Rest bestehen. Dieser Rest bleibt zwar von dem je anderen immer unbegriffen, ist jedoch gerade darin produktiv. Vage mag die präpositionale Zusammenführung zu »Architektur aus Sprache« erscheinen, doch ist sie tatsächlich präzise in der paradoxalen Materialität, der sie Ausdruck gibt. Denn Architektur aus Sprache legt nahe, das Material der Architektur sei die Sprache, die aber ja gerade immateriell ist. Mit Innerhofers Monographie liegt eine weitere Studie zu den vielfältigen und komplexen Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Architektur vor, die im Zuge des ›spatial turn‹ rege wissenschaftliche Aufmerksamkeit von beiden Disziplinen erhalten haben. Seit der Ausstellung »Architektur wie sie im Buche steht« in der Münchener Pinakothek der Moderne (2006) und der

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interdisziplinären Tagung »Baukunst (in) der Literatur« (2011) konnte das einstmals eher unsystematisch perspektivierte Forschungsfeld genauer sondiert werden und sich weiter ausdifferenzieren. Innerhofer verortet sich hier sowohl in ästhetischen Diskursen,1 in Diskursen der Motivgeschichte2 und insbesondere der Intermedialität3 sowie in Debatten zu fiktiven Bauwerken und ihren komplexen narratologischen Funktionen.4 Innerhofer findet also ein bereits gut erschlossenes Forschungsfeld vor. Wie gewissenhaft und gründlich dieses bereits analysiert hat, lässt sich auch daran ablesen, dass die von Innerhofer gewählten literarischen Texte gewissermaßen zum Kanon der Literaturarchitektur gehören, darunter Franz Kafka, Paul Scheerbart, Robert Musil, Alfred Döblin, Thea von Harbou oder auch Alfred Kubin. Innerhofers Verdienst liegt nun gerade in der Art und Weise, wie er vorhandene Wissensfelder und Fragestellungen so einander zuordnet und miteinander ins Gespräch bringt, dass sich die literarischen Texte und Kontexte gegenseitig neu konstituieren. Sinngemäß bemüht der Untertitel den Begriff »Korrespondenzen« zwischen Literatur und Baukunst. Diese zeichnet Innerhofer dabei vor allem für die Integration psychologischer Erkenntnisse in die Architekturtheorie seit dem späten 19. Jahrhundert nach, erweitert durch Einlagerungen von sozialpolitischen Utopien der Stadtplanung seit dem frühen 20. Jahrhundert oder die Konjunktur literarischer Rhetoriken in den Architekturdebatten der Zeit. Dabei betont Innerhofer die sich mit der zunehmenden Verschränkung von Architektur und Literatur paradox verhärtende mediale Konkurrenz, die gerade durch den architekturkritischen Ton der gewählten Textbeispiele belegt scheint. Eine Entwicklung, die vor allem für die von Innerhofer gewählte Periode zwischen 1890–1930 evident sei. Im ersten Kapitel des Buches (S. 17–40) sondiert Innerhofer dabei sorgfältig Konzepte der Intermedialität von Architektur und Literatur, um Architektur schließlich in Anlehnung an Gerigks Band Architektur liest Literatur (2014) sowie an die Publikationen von Simon/Stierli (2013), Schöttker (2014) und Rudolf/Abel (2017) als multimodales Wahrnehmungsdispositiv 1

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Detlev Schöttker: Architektur als Literatur. Zu Geschichte und Theorie eines ästhetischen Dispositivs, in: Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Hg. v. Urs Meyer; Roberto Simanowski u. Christoph Zeller. Göttingen 2006, S. 131–151; Hans-Georg von Arburg: Alles Fassade. »Oberfläche« in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770–1870. München 2008. Heinz Brüggemann: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts. Hannover 2002 (= Kultur und Gesellschaft, Bd. 4); Angelika Corbineau-Hoffmann: Architekturen der Vorstellung. Ansätze zu einer Geschichte architektonischer Motive in der Literatur, in: Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. Hg. v. Winfried Nerdinger. Salzburg 2006, S. 27–39. Anja Gerigk: Architektur liest Literatur. Intermediale Diachronien vom 19. ins 20. Jahrhundert. Würzburg 2014 (= Literatur – Kultur – Theorie, Bd. 20). Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin 2009.

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zu bestimmen. Als solches verlangt sie gewissermaßen eine psychologische Fundierung, der sich das zweite Kapitel (S. 41–88) zur Architekturtheorie und Wahrnehmungspsychologie (Heinrich Wölfflin, August Schmarsow, Georg Simmel, Otto Wagner) widmet. Leider entstehen in dem Bemühen, die architekturtheoretischen Paradigmenwechsel von Neuem Bauen und Bauhaus aus den weltgeschichtlichen sozialpolitischen Krisen sowie technologischen Umbrüchen zu erklären, einige leicht redundante Passagen. Innerhofer interessiert sich besonders für holistische Konzepte der Wahrnehmungspsychologie, lässt aber Studien wie die kulturwissenschaftliche »Sphärologie« Peter Sloterdijks oder die zeitgeschichtlich relevante Arbeit Anthony Vidlers The Architectural Uncanny ebenso unberücksichtigt wie Richard Sennetts The Body and The City. Letzteres wäre gerade für das Konzept des Wahrnehmungsdispositivs anregend und dieser Ansatz wäre dringend durch Konzepte der Somatik zu erweitern, um neue Fragen zum Raumgefühl stellen zu können. Ähnliches gilt für Theorien der Performativität, die manches vielleicht begrifflich noch konzentrierter fassen könnten. Auf den konzeptuellen Anfang folgen drei Kapitel zu insgesamt sieben literarischen Fallanalysen, alle von Innerhofer klug arrangiert, so dass sie sich gegenseitig konturieren. Den Anfang machen Paul Scheerbart und Bruno Taut, über die ein direkter Anschluss an die vorherigen Ausführungen möglich ist, da sich beide an dem architekturtheoretischen Diskurs ihrer Zeit beteiligt haben. Beide stehen aus Innerhofers Sicht für eine ins Mystische tendierende Fortschrittsgläubigkeit, die im kristallinen Glas Materialisierung und baukünstlerische Substanz findet. Scheerbarts Kosmologie im Anklang an Gustav Theodor Fechners oder Rudolf Steiners Panpsychismus (S. 111 ff.) gelingt dabei die Aufhebung des Gegensatzes von Technik und Natur. In seiner kosmischen Utopie gehen neues Bauen und neuer Mensch Hand in Hand. Während in den visionären Architekturzeichnungen ihrer Zeit (z. B. Herman Sörgel, Wassili Luckhardt oder Bruno Taut) totalitäre Allmachtsphantasien und technologische Naturbeherrschung offen zu Tage liegen, versucht Innerhofer selbst noch in solchen Texten Scheerbarts, in denen vor allem Frauen mittels Stilzwang pädagogisch geformt werden sollen, Ironiesignale zu identifizieren, die den inhärenten Totalitarismus seiner Kosmologie aufbrechen sollen. Jedoch bleiben angesichts des demiurgischen Habitus der männlichen Architektenfiguren in Scheerbarts Texten Zweifel an dieser Deutung. Weitaus mehr subtile Ironie hingegen weisen die dystopischen Architekturen des Zerfalls in Alfred Kubins Die andere Seite auf. Die sich selbst zerfleischenden Bauwerke, ja die mit Leichenbergen eins werdende Bausubstanz des »Traumreiches« kann als prophetischer Kommentar zum Scheitern musealer Bemühungen des Historismus gelesen werden. Die Dynamik der Architektur ist hier eine des Zerfalls. Innerhofer macht anschaulich, wie Kubin über die literarische Darstellung der Architekturen ein Raumgefühl evo-

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ziert, das dem dekadenten Zeitgefühl um die Entstehungszeit des Romans entsprochen haben muss. Ähnlich ineinandergreifende Dynamiken identifiziert Innerhofer auch in Kafkas Texten. Unter dem Titel »Undeutbarkeit der Architektur« findet sich eine penible Erörterung von Kafkas Texten. Dabei wird allerdings lediglich das Undeutbarkeitsdogma für Kafka auf die architektonischen Elemente übersetzt und die Schlussfolgerungen gehen konform mit einschlägigen literaturwissenschaftlichen Auslegungen zu Kafkas Zweifeln an den Heilungsversprechungen der Psychoanalyse.5 So konstatiert Innerhofer in den Worten Anja Gerigks, dass in Kafkas Texten »Raum- und Sinnordnung ungleich sind« (S. 152), »Materialität, und Sinn, Funktionalität und Interpretation gegeneinander ausgespielt« (S. 153) werden. Wirklich neue Erkenntnisse zu Kafkas literarischen Strategien werden so leider nicht gewonnen und es verblüfft, dass diese Ausführungen vom Umfang den meisten Raum in der Monographie erhalten (S. 152–226). Das recht kurze Kapitel zu Thea von Harbous Metropolis und Hans Henny Jahnn (S. 227–258) funktioniert sehr gut als Negativfolie zu den verunsicherten und gefährdeten Architekturen bei Kafka und Kubin. Beide – sowohl Harbou als auch Jahnn – reaktivieren die Heilsversprechen der Architektur. Harbous panoptische Architekturen lösen die tatsächlichen Verunsicherungen der Epoche plakativ auf zu transparenten Weltverhältnissen, wohlgeordneten Stadtstrukturen und sozial stark hierarchisierten Gefügen. Der Leser kann sich die erzählte Welt dank tradierter und oft pathetischer Architektursymboliken (Turmbau zu Babel u. a.) ohne großen Aufwand aneignen und sich darin orientieren. Durch das Anknüpfen an die heroische Revolutionsarchitektur ÉtienneLouis Boulleés und Charles de Waillys remythisiert Jahnn seine literarischen Architekturen zugunsten eines entkörperlichten Totenkultes esoterischer Gemeinschaften (S. 228). Die Übersteigerungen gotischer Kathedralbauten erweitert Jahnn zum Beispiel in seinem Drama Pastor Ephraim Magnus (1919) zur Musik, die den gleichen Harmoniegesetzen der Schöpfung, wie sie im menschlichen Körper und in der Baukunst vorzufinden seien, folge und so die Verschmelzungsphantasien Jahnn’scher Figuren befördere. Im abschließenden Kapitel (S. 259–298) gelingt es Innerhofer Döblins Alexanderplatz (1929) auch als Gegenentwurf zu dieser remythisierten Symbolik zu lesen. Döblin entwickelt erzählerische Techniken, die sowohl die symbolschwangeren Architekturutopien Jahnns, Harbous, Scheerbarts als auch die kaum weniger aufgeladenen Dystopien Kafkas oder Kubins unterwandern. Stattdessen evoziert Döblins Schreiben ein dezentriertes und transitorisches Werden von Sprache, Stadt und Figuren. Döblins Alexan5

Vgl. Eric Marson, Keith Leopold: Kafka, Freud, and Ein Landarzt, in: The German Quarterly 37 (1964), H. 2, S. 146–160.

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derplatz teilt damit die witzige Skepsis von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften gegenüber der Vereinnahmung von Identität durch gebaute Wirklichkeit, und beide stellen damit zugleich das Wissen der Architekturpsychologie in Frage. Während bei Musil jedoch Stillosigkeit und Raumspiel den Figuren jene Freiheit garantiert (S. 277), die man Ironie nennen mag – die Innerhofer aber in Anlehnung an eine auf Kafka bezogene Bemerkung Schöttker als »Wohnangst« (S. 283) vorschnell abtut –, so geht Franz Biberkopf im Transitorischen der Stadt unter. Innerhofers beeindruckend belesene Studie trägt Erkenntnisse und Konzepte der vergangenen Jahrzehnte zum intermedialen Verhältnis von Architektur und Literatur zusammen und erprobt sie an einschlägigen Beispielen des Literaturkanons der klassischen Moderne. Einige seiner Beispiele sind dabei hybrider Gestalt – literarischer Text und architektonische Zeichnung –, manchmal eher technischer Natur, manchmal visionär und phantasievoll. Der Verlag hat dankenswerterweise einige farbprächtige Reproduktionen abgedruckt, die die zentrale Rolle der Zeichnungen vor Augen führen. Allerdings belässt es Innerhofer bei recht vagen Verweisen auf die narrative Funktion der Zeichnungen. Das mutet geradezu fahrlässig an in einer so umfassenden Studie zur Intermedialität. Mag die Architekturzeichnung weder aus Sprache bestehen noch wirklich Architektur sein, so wäre sie im Hinblick auf die erzählerische Erschließung von Architekturen jenseits des Symbolischen, wie es Innerhofer anstrebte, unbedingt in ihrer medialen Eigenart ebenso zu theoretisieren, historisieren und kontextualisieren gewesen. Sarah Pogoda

Julian Reidy, Ariane Totzke (Hg.): Mann_lichkeiten. Kulturelle Repräsentationen und Wissensformen in Texten Thomas Manns. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019 (= Konnex. Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur, Bd. 28). 357 S. € 89,95. Der Band versammelt Aufsätze zum Werk von Thomas Mann sowie kontrastive Lektüren von Texten der Gebrüder Mann. Das Buch, das aus einer Veranstaltung in Zürich im Jahr 2015 hervorgegangen ist, ist Mann-Forscherinnen und -Forschern zu empfehlen, die den Wert kulturwissenschaftlicher Ansätze für die Auseinandersetzung mit dem Mann’schen Œuvre kennen lernen und reflektieren möchten. Es enthält einige informative, anregende und gut geschriebene Studien mit zahlreichen Anknüpfungspunkten für die MusilForschung. Allerdings wird das Lesevergnügen bisweilen durch den Gestus getrübt, mit dem sich einige Beitragende gegen Mann, den vermeintlichen Forschungsmainstream und die populäre Rezeption positionieren. Hinsichtlich der dabei verwandten Theorien dürfte zumindest in der Musil-Forschung

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Konsens darüber bestehen, dass die Perspektiven ihre Berechtigung haben. Auf Herangehensweisen aus dem Bereich der Gender, Queer, Masculinities Studies weist bereits der Titel hin, der auf dem Cover Mann- bzw. Männlichkeit, etwas bemüht, mit Großbuchstaben, im Plural und mit Unterstrich schreibt. Das Vorwort ergänzt ›race‹, ›class‹ und ›disability‹ als »Diversitätskategorien« (S. 8), die von den Beiträgen fokussiert werden. Auch literatursoziologische, »diskursanalytische[ ] sowie wissensgeschichtliche[ ] Ansätze« (ebd.) haben Eingang in den Band gefunden. Ferner sind dort Interpretationen »[v]or dem Hintergrund des spatial turn und der material culture studies« (S. 9) sowie emotionstheoretische und medienpoetologische Lektüren enthalten. Kurzum: Die Mann_lichkeiten stellen einen bunten Strauß dar. Reidys und Totzkes Herausgabe steht in einer Reihe mit den 2012 erschienenen Bänden Deconstructing Thomas Mann (hg. von Alexander Honold u. Niels Werber) und Thomas Mann. Neue kulturwissenschaftliche Lektüren (hg. v. Stefan Börnchen, Georg Mein u. Gary Schmidt). Dass nach diesen Publikationen aus dem Jahr 2012 kulturwissenschaftlich inspirierte Lektüren weiterhin nötig seien, begründen die Herausgeber im Rekurs auf ein Zitat von Bernd Hamacher. Es habe stets »eine Komplizenschaft der [Mann-] Forschung mit ihrem Autor« (Hamacher, zit. nach S. 7) gegeben. Im Klappentext heißt es plakativer: Der Band verstehe sich als »Gegenentwurf zu den textimmanenten, autorintentionalistischen und biographistischen Tendenzen, welche die Mann-Forschung lange dominierten.« Tatsächlich lassen sich die heterogenen Beiträge kaum zu einem ›Gegenentwurf‹ vereinheitlichen. Zumal die Einleitung selbst widersprüchliche Sinnofferten anbietet. Denn einerseits solle es nicht »um pubertäre ikonoklastische Gesten gehen«, sondern darum, das Bild des »souveränen [. . .] Autors mit seinem gepflegten Bügelfaltenstil zu relativieren – und durch eine Konturierung seiner brüchigen, ambivalenten, formal kühnen, entgleitenden, kurzum: seiner genuin modernen Schreibweisen zu ergänzen.« (S. 10 f.) Andererseits wird die ›formale Kühnheit‹ dadurch erklärt, dass man »der Deutungshoheit des Autors eine Absage erteilt: Nicht ›er‹ spricht aus den literarischen Texten, es sind die zeitgenössischen Diskurse, die hier ›sprechen‹.« (S. 8) Wie zeitgenössische Diskurse formal kühn sprechen, ohne dass Man/n dabei zumindest als Kompositeur und Experimentator eine Rolle spielt, wird nicht erklärt. Zumindest Musil-Forscherinnnen und -Forschern dürfte es weniger Kopfzerbrechen bereiten, die formale Kühnheit einer Diskurse affirmierenden Literatur auf die Poetik ihres Autors zurückzuführen. Ein, und sei er auch punktueller, Vergleich von Mann und Musil bzw. Mann- und Musil-Forschung, der nach Kenntnisstand des Rezensenten an keiner Stelle des Bandes bemüht wird, wäre hier womöglich erhellend gewesen. Die beiden ersten Aufsätze perspektivieren die Geschichte der MannForschung. Der kürzlich verstorbene Bernd Hamacher (dem der Band gewidmet ist) liefert »eine pointierte forschungsgeschichtliche Übersicht [. . .]

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mit Bezug auf die Beiträge des vorliegenden Bandes« (S. 13). Er rekonstruiert die Forschungsgeschichte als Drama: »Es handelt sich dabei nicht um unterschiedliche Stücke, sondern um die Akte eines Dramas.« (S. 14) Die fünf Akte könnte man folgendermaßen resümieren: Ernst Bertram begründet 1908 die Zeitgenossenschaft und Klassizität Manns in der Abgrenzung vom Naturalismus; Eckhard Heftrich interpretiert 1953 Manns Texte als Beispiele klassischer Moderne im Kontrast zur emphatischen Moderne; 1956 legt die Öffnung des Mann-Nachlasses den Blick auf Manns ›intertextuelle‹ Arbeitsweise frei, die in der »von Genieideologie und Originalitätsästhetik« (S. 15) beeinflussten Germanistik der 1950er Jahre nicht als modern wahrgenommen wurde; die Kenntnis der Tagebücher und der 100. Geburtstag sind dann 1975 zwei Ereignisse, in deren Gefolge Hermann Kurzkes Stationen der MannForschung erschien, ein Sammelband, der »erste theoretisch-methodische Innovationen andeutete, vor allem durch die psychoanalytische Literaturforschung« (S. 16); ab 2000 nehmen Lektüren kulturwissenschaftlicher und poststrukturalistischer Provenienz zu, die z. B. Manns Intertextualität als Beleg progressiver Künstlerschaft deuten oder seine Texte und deren Beforschung auf blinde Stellen (insbesondere deren Antisemitismus) hin analysieren. In jedem Akt sei eine neue Strömung aufgetreten, die eine »Innovationsrhetorik« (S. 24) bemühe. Hamacher relativiert damit auf unaufgeregte Weise die vom Vorwort negierten und vom Klappentext affirmierten ikonoklastischen Attitüden. Die Behauptung von der ›formalen Kühnheit selbst sprechender Diskurse‹ erscheint so als forschungspolitisches Ma(n)növer: Denn »[w]er an unvermuteter Stelle des literarischen Kanons die Avantgarde markiert, kann sich damit als wissenschaftliche Avantgarde inszenieren.« (Ebd.) Yahya Elsaghe hat bereits in seiner 2000 erschienen Monografie Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ›Deutsche‹ auf antisemitische Tendenzen in Thomas Manns Œuvre und Rezeption hingewiesen. Seine Erkenntnisse teilen nahezu alle Aufsätze des Bandes. In seinem Beitrag zu Rasse und Klasse in der Thomas-Mann-Rezeption tritt er gegen »institutionalisierte misreadings« an und informiert über den »Preis monopolistischer Kanonisierungen ganz bestimmter und genau bestimmbarer Fehllesungen«, den jene gezahlt haben und zahlen, die Mann zur »Galionsfigur kollektiver Selbstvergewisserung« (alle Zitate S. 29) stilisieren. Im Artikel dient ihm die antisemitische Verlaufslogik der Buddenbrooks – in einem frühen Entwurf hieß die Familie Hagenström noch Kohn – als Beispiel für die von Manns Zeitgenossen durchaus beobachteten rassistischen Tendenzen des Frühwerks. Erhellend ist Elsaghes Auflistung anhaltender Fehldeutungen in Verfilmungen und der Hinweis darauf, dass Michael Blumes auf Manns Erzählung Der Kleiderschrank basierender Film Heiligendamm (2009) eine subversive Überschreibung vornehme. Klaus Birnstiels lesenswerte Interpretation des Kleinen Herr Friedemann ist, mit Hamacher gesprochen, im letzten Auftritt des Dramas Mann-For-

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schung situiert. Denn Birnstiel setzt sich kritisch mit aktuellen Positionen auseinander. Dass es »insbesondere der neueren, gendertheoretisch informierten Forschung auf erstaunliche Weise gelungen ist, den Komplex von Behinderung, Geschlecht, Sexualität und Begehren dergestalt umzudeuten, dass Thema und Frage der Behinderung darunter gleichsam zur quantité négligeable werden« (S. 61), ist eine scharfe und, wie Birnstiels Belegstellen zeigen, zutreffende Bemerkung. Den Versuchen der literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung, die Novelle als »subversive Dekonstruktion bürgerlicher Zwangsheterosexualität« (S. 62) zu deuten, stellt er eine Alternative entgegen. Birnstiel geht »der sich dem Deutungszugriff beständig entziehenden Figuration der Behinderung« (S. 60 f.) nach. Die ungeklärte Behinderung Friedemanns stehe »am Kreuzungspunkt der Diskurse des Lebendigen und Absterbenden, des Fleisches und des Geistes, des Begehrens und der Entsagung.« (S. 60) Im Rekurs auf Schopenhauer und Nietzsche interpretiert Birnstiel die körperliche und sexuelle Askese des Novellenhelden als Versuch, »die Quellen der [Trieb-]Kraft zu verstopfen« (Nietzsche, zit. nach S. 57). Zwischen Gerda, der verführerischen ›Femme Fatale‹, und Friedemann, dem gehandicapten Verführten, bestehen dabei überraschende Gemeinsamkeiten. Beide ästhetisieren ihr Leben auf Kosten der physischen Begierden. Friedemanns Selbstmord liest Birnstiel dann mit Schopenhauer als Manifestation des Willens. Angesichts der finalen Leibbejahung des Protagonisten erscheint Gerdas Verbleib auf der Bühne der körperfeindlichen bürgerlichen Welt als Scheinsieg. Miriam Albracht und Philipp Ritzert lesen die Buddenbrooks als eine Verfallsgeschichte, bei der die vom Vater an Hanno herangetragenen »geschlechtlichen Zuschreibungen« (S. 66) den Spross belasten und dazu motivieren, sich ihnen zu verweigern und sich dem ›Verfall‹ hinzugeben. Die Lektüre ist schlüssig und kommt ohne Theorieexkurse in die Männlichkeitenforschung aus. Mit deren Terminologie wäre man wohl zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt: Hanno mag die ›patriarchale Dividende‹ der Altvorderen nicht einzufahren, da er sein Leben lang unter der ›hegemonialen Männlichkeit‹ (beide Konzepte stammen Raewyn Connell) des Buddenbrook-Clans gelitten hat. Den Buddenbrooks wendet sich auch Stefanie Kuglers facettenreicher Beitrag zu, der nach einer prägnanten Forschungsskizze auf »das kulturelle Phänomen Familie samt einigen Diskurszusammenhängen schlagwortartig« (S. 82) eingeht. Über die Hinweise auf die Semantik und die Funktion der Familie im Bürgertum gelangt sie zu einem vergleichbaren Resultat wie Albracht und Ritzert: Gehorsam und Repression im »autoritär-patriarchalen Machtapparat[ ]« (S. 87) der Familie determinieren noch die idyllisch wirkenden Momente und katalysieren den Niedergang der Buddenbrooks, mit dem der Roman die bürgerliche Familienideologie entlarvt. Totzke und Sebastian Zille unternehmen Anläufe, bei denen geschlechterhistorische Diskurse rekonstruiert und mit Textbefunden korreliert werden.

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Totzke listet im Aufsatz Weibliche Unproduktivität erzählen passende Belegstellen für Thomas Manns misogyne Zeichnung von Frauenfiguren auf und verbindet sie mit Möbius- und Simmel-Zitaten. Die Thesenausführung am Beispiel von vier »Abwertungsstrategien« (S. 129) überzeugt – die Charakterisierungen von Frauen, zumal arbeitenden, sind in Manns Romanen tendenziell negativ. Wenn etwa die an einer preußischen Töchterschule wirkende Engelhart als »fast gelehrt« (Mann, zit. nach S. 131) redende Frau beschrieben oder Tony Buddenbrooks Lehrerin Weichbrodt »als beinahe gelehrtes Mädchen« (Mann, zit. nach S. 125) bezeichnet wird, dann klingt das zweifellos abwertend. Allerdings könnte man hier Details ergänzen. Denn die Ausbildung zur Lehrerin sah kein Universitätsstudium vor. Die angehenden Lehrerinnen besuchten Lehrerinnenseminare: Orte, wo ambitionierte Frauen, wie Hedwig Dohm, Helen Lange oder Franziska von Reventlow, einerseits Bildung erwerben und nach finanzieller Unabhängigkeit streben, andererseits aber eben keinen Gelehrtinnensstatus erlangen konnten. Der blieb Universitätsabsolventinnen und -absolventen vorbehalten. Manns Erzähler reproduziert präzise die misogynen historisch-sozialen (Arbeits- und Ausbildungs-)Strukturen, was auch daran deutlich wird, dass er Engelhart und Weichbrodt als »alte Jungfer[n]« (Mann, zit. nach S. 125) bezeichnet. Voraussetzung für die Anstellung als Lehrerin war der ›Lehrerinnenzölibat‹. Die Frauen mussten unverheiratet und kinderlos sein. Dieser weibliche Beruf erlaubte nur eine versteckte und riskante Sexualität, der die Figur Engelhardt die risikofreie Verkupplung anderer vorzieht. Auch die Beobachtung, mittelalte und alte Frauen würden von Manns Erzählern als unfruchtbare ›Vetteln‹ abgetan – Totzke spricht vom ›Vetula-Motiv‹ –, ließe sich ergänzen, da Settembrini im Zauberberg (in der Walpurgisnacht-Episode) einen Hinweis auf ein anderes Mythologem gibt. Die als ›Scheuerweib‹ verkleidete Frau Stöhr wird als ›Baubo‹ bezeichnet, worin ein versteckter Hinweis auf Nietzsche liegen dürfte. In jedem Fall steht Baubo nicht für Unfruchtbarkeit, sondern im Gegenteil für physische Reproduktion. Man könnte Manns Text mithin als eine nicht ironiefreie Angstvision aus der Perspektive eines männlich codierten Berufs- und Kreativitätsverständnisses lesen, das in zwei Richtungen Rückzugsgefechte führt: zum einen dünkelhaft gegen die weibliche Emanzipation in der Bildungs- und Arbeitswelt, zum anderen gegen weibliche Gebärfähigkeit. Indes Frauen tatsächlich Neues und bisweilen auch Männer auf die Welt bringen, bleibt der formverliebte Künstler »tapfer bei der Oberfläche« (Nietzsche), beim Schein. Zilles Aufsatz zu den Studentenverbindungen in den Romanen ›Der Untertan‹ und ›Dr. Faustus‹ legt dagegen »das kritische Potential und Wissen der Literatur im Hinblick auf das Thema Männerbünde offen [. . .].« (S. 157) Er rekonstruiert den Männerbunddiskurs mustergültig z. B. mit Hinweisen auf Bachofen und Blüher und zeigt, dass die Romane der Manns vorführen, dass die Männerbünde die »Krise der Männlichkeit« (S. 136) nicht gelöst, sondern mit hervorgerufen haben. Die literarischen Texte

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stellen »damit ein kritisches Alternativ-Wissen« (S. 137) zum wissenschaftlichen Diskurs bereit. Unterhaltsam ist Florian Kappelers Aufsatz, der mit seiner »Wissenspoetologie des Männlichen« (S. 160) dem Zauberberg neue Bedeutungen entlockt: Kappeler spricht vom medizinischen Wissen um die eigene Krankheit, das wie »Biofeedback« (S. 161) wirke und Hans’ Mannwerdung beeinflusse: »Seiner [Hans’] Identität als heterosexueller Mann wird durch die Lektüre der Lehrbücher eine biologische Grundlage verliehen und sie wird in diesem Zuge sexuell normalisiert.« (S. 171) Kappeler deutet dies als ›flexible normalisierte Männlichkeit‹, die Ausdruck von und Antwort auf Männlichkeitskrisen ist und Variationen und Anpassungen an historische Veränderungen zulässt. Katrin Bedenigs Aufsatz über Formen kultureller Repräsentation Thomas Manns in der Schweiz liefert, entgegen der Ankündigungen im Vorwort, Material für biographistische Deutungen, was seinen Gehalt nicht schmälert. Bedenig rekonstruiert Manns »Auftritte im Lesezirkel Hottingen, die sich im Exil zusehends verändernden Arbeitsbedingungen am Joseph-Roman und die Nachkriegsrede vor Zürcher Studenten« und arbeitet eine Wandlung heraus: »Trat der Autor zunächst als Repräsentant seiner selbst und seiner literarischen Produktion in Erscheinung, zeigte er sich später zunehmend als Repräsentant einer antifaschistischen Haltung, um schließlich eine universell humanistische Position zu vertreten.« (Beide Zitate S. 192) Auch Sarah Mohi-von Känel und Alexander Honold nehmen sich den Zauberberg, offenkundig der Lieblingstext der kulturwissenschaftlichen MannForschung, vor. Mohi-von Känel wendet sich »Manns Entwürfen des Schriftstellers« im Krieg zu, die sie im »zeitgenössischen Diskurs« (beide Zitate S. 196) verortet. Wie andere »daheimgebliebene[ ] Akademiker zu Zeiten des Ersten Weltkriegs« (S. 199) habe Mann den Schreibtisch zum Schützengraben aufgerüstet. Anhand des Prosa-Werks (Tod in Venedig) und der kriegsapologetischen Essayistik (Gedanken im Kriege, Gute Feldpost, Betrachtungen eines Unpolitischen) wird Manns Versuch, eine Verbindung von Soldaten- und Künstlertum metaphorisch zu installieren, aus früheren Schriften hergeleitet. Es sei mithin keine »kontingente, der Zeit geschuldete Metapher« (S. 210). Im Gegensatz dazu stehe »[d]er kleinlaute Zauberberg-Erzähler«, dessen »Bescheidenheitsgestus« im Hinblick auf die Kriegsereignisse entweder eine »Selbstkorrektur« (alle Zitate S. 218) darstelle oder auf die Konvention der Erzählform zurückzuführen sei. Honold nimmt Manns Anfang der Arbeiten am Zauberberg und deren Abschluss in den Blick und interpretiert das Projekt, »das sich vom Weltkrieg hatte für fünf lange Jahre unterbrechen lassen müssen, [als] eine offene Wette [. . .] auf die Macht der Zeit selbst und zugleich auch gegen sie.« (S. 219) Diese Annahme führt er u. a. am Beispiel der spiritistischen Sitzung aus, in der der tote Vetter Joachim Ziemßen angerufen wird und in seltsam feldgrauer, auf den erst noch ausbrechenden Krieg vorausweisender Uniform erscheint. Dieser »kalkulierte[ ] Zeitbruch [. . .], allerdings bei

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gleichzeitiger Anerkennung der Zeitgrenze zwischen Vorkriegs- und Kriegswelt« (S. 234), sei Teil der Zeitpoetik des Zauberbergs, die mit dem erzählten Kriegsbeginn des Romanendes zum Nullpunkt des Erzählens selbst gelange. Er wäre wert, noch auf andere Aufsätze einzugehen, wie etwa die Beiträge von Andrea Bartl und Nils C. Ritter. Auch diese beiden dingtheoretischen Artikel stellen die interpretatorische Leistungsfähigkeit der jüngeren MannForschung unter Beweis. Doch die Rezension will mit dem Hinweis auf die große (und auch lange) Abhandlung Claudio Steigers über die ›Photopoetologie‹ des Zauberbergs schließen. Es ist eine äußerst fundierte Analyse der diversen Fotografie-Typen im Roman, die deren zeitphilosophische Mehrdeutigkeit im Rekurs auf Barthes und Benjamin herausarbeitet: Hinsichtlich von Castorps Aussagen zum Weckglas, die eingelegten Dinge blieben darin konserviert, spricht Steiger auch von der ›Einweckung‹ als medialem und literarischem Verfahren. Eine ›Einweckung‹ leiste »die Fotografie und leistet, auf andere Weise, der Zeitroman mit seinem wie im Innern einer Konserve bewahrten Bild der Epoche.« (S. 280) Medienpoetische Herangehensweisen sind in der Literaturwissenschaft längere Zeit etabliert. Es handelt sich, wie auch bei geschlechtertheoretischen oder diskursanalytischen Lektüren, um weithin anerkannte Interpretationsmodelle, die nicht mehr mit Hinweis auf ihre Frontstellung zu textimmanenten und autorintentionalen Leseweisen profiliert werden müssten. Ihre Erkenntnisse, dies zeigt der formidable Band, sprechen für sich und sind Ausdruck einer Forschung, die sich um ihre Heterogenität keine Sorgen machen muss. Und sie trösten auch über kleinere Monita, wie das fehlende Personen- und Werkregister sowie den sehr starken Fokus auf die Romane und die Männlichkeitsthematik, hinweg. Für die Musil-Forschung, dies dürfte klar geworden sein, bietet der Band sowohl in thematischer wie theoretisch-methodischer Sicht Anknüpfungspunkte. Und der Vergleich etwa der Männlichkeitskonzepte der beiden Schriftsteller wäre ein naheliegender und gewiss interessanterer Schritt als der Rückbezug auf die ältere Mann-Forschung. Peter C. Pohl

Florens Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung. Probleme literarischer Modellbildung bei Hermann Broch und Robert Musil. Bielefeld: transcript 2019. 372 S. € 44,99. Bei der Monografie handelt es sich um eine Dissertation, die im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts an der Universität Bern entstand und sowohl als digitale Open-Access- als auch als

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Print-Ausgabe erschien.1 Ziel der Studie ist es zu untersuchen, inwiefern sich Musils Mann ohne Eigenschaften und Brochs Schlafwandler-Trilogie einerseits und die Fragmente zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften sowie Brochs posthum erschienener Roman Die Verzauberung andererseits auf den »Weltanschauungsdiskurs« (S. 343) beziehen lassen. Die diesbezügliche übergreifende These lautet mit einer wiederkehrenden Metapher (S. 8), dass die beiden Hauptwerke sowie die Fragmente »auf der gemeinsamen Basis des Weltanschauungsdiskurses« (S. 343) stünden. Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an einem »doppelten Vergleich[ ], dessen erste Achse zwischen den beiden Autoren und ihren Werken und dessen zweite Achse zwischen den Hauptwerken bis 1932 und den darauf folgenden fragmentarischen Arbeiten verläuft« (S. 8). Das zweite Kapitel stellt ausgehend von dem 1933 erhobenen Plagiatsvorwurf Musils gegen Broch poetologische Arbeiten Musils und Brochs (Literat und Literatur und Das Böse im Wertsystem der Kunst) vergleichend gegenüber. Dieses Vorgehen, das in der Forschung keineswegs neu ist,2 führt zu dem vergleichsweise abstrakten Ergebnis, dass beide Autoren, bei allen Unterschieden, die Autonomie der Kunst verteidigen und ihre Poetologien »als Reaktion auf und in strukturellem Abgleich mit der Diagnose sozialer Partikularisierung entwickeln« (S. 46). Gewagt erscheint mir die Charakterisierung der beiden Poetologien als »systemtheoretisch[ ]« (S. 46), u. a. weil die Regeln des Systems, wie der Verfasser selbst konzediert, »unausgesprochen« (S. 46) bleiben. Kapitel 3 entwickelt die spannende These, dass es sich bei den untersuchten Romanen von Musil und Broch um eine ganz eigene Gattung handelt, den titelgebenden »Weltanschauungsroman 2. Ordnung«. Nun ist der Begriff »Weltanschauungsroman« keine etablierte Gattungsbezeichnung. Bekannter ist der von Thomé eingeführte Begriff »Weltanschauungsliteratur«, der literarische, üblicherweise nicht-fiktionale Werke meint, mit denen der Verfasser beansprucht, seine Weltanschauung darzulegen.3 Mit dem Begriff »Weltanschauungsroman« referiert der Verfasser hingegen auf die Dissertation von Anna S. Brasch, die den Weltanschauungsroman als Roman begreift, der sich »inhaltlich am gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierungsprozess abarbeitet. Das Spezifische dieses Textkorpus ist die Synthese von kulturkritischer Beobachtung und Beschreibung des Modernisierungsprozesses im Sinne des kulturkritischen Beobachtungsmodus einerseits und weltanschauli-

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Vgl. https://p3.snf.ch/project-160357# sowie https://www.transcript-verlag.de/978-3-83764996-3/der-weltanschauungsroman-2.-ordnung/ (aufgerufen am 20. 7. 2022) Vgl. etwa Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin 2006, S. 435 ff. Vgl. Horst Thomé: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts »Weltanschauung« und der Weltanschauungsliteratur, in: Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Hg. v. Werner Frick u. Susanne Komfort-Hein. Tübingen 2003, S. 387–401.

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chem Klärungsprozess andererseits.«4 Die differentia specifica des Weltanschauungsromans 2. Ordnung sieht der Verfasser darin, dass dem weltanschaulichen Klärungsprozess, also dem Prozess, durch den die diagnostizierte Krise überwunden wird, »die Gültigkeit versag[t]« (S. 103) wird, indem er vorführt, welche kontingenten Faktoren und Bedürfnisse von Figuren zur Wahl einer Weltanschauung führen. So werde die »aporetische Grundsituation des Weltanschauungsdiskurses« (S. 105) dargestellt, statt Weltanschauung als ›Lösung‹. Diese keineswegs ganz neue Idee ist vor allem bezüglich ihrer gattungstheoretischen Einbettung spannend,5 begreift sie den »Weltanschauungsroman 2. Ordnung« doch in der Tradition des »Zeitromans«. Wesentlicher Unterschied sei, dass keine »Zeittypen« mehr dargestellt werden, sondern »der soziale Habitus der Figuren, oder [. . .] die ›Frage, welche Menschen welche Meinung nötig haben‹[ ]« (S. 61). In Kapitel 4 werden die zu Lebzeiten publizierten Teile des Mann ohne Eigenschaften und die Schlafwandler-Trilogie unter der leitenden Fragestellung nach ihrem Umgang mit dem Weltanschauungsdiskurs interpretiert. Ausgewählt wurden dafür aus dem Mann ohne Eigenschaften Diotima, Arnheim, Meingast und Hans Sepp und aus den Schlafwandlern Pasenow und Esch. Ulrich und Bertrand Müller werden als Figuren begriffen, die den Weltanschauungspluralismus reflektieren und gleichzeitig »durch Stimme und Modus der Narration« an eine »auktoriale Erzählposition« (S. 194) gekoppelt sind. Die Analysen selbst sind textnah und überwiegend gut nachvollziehbar, fördern indes nur begrenzt Neues zu Tage. Auch hätten sie stärker nach den Gesichtspunkten, a) welche Weltanschauung vertritt die Figur, b) wie ist zu ihr gekommen und c) welchen persönlichen Vorteil zieht sie aus ihr, gegliedert werden können. Im fünften Kapitel widmet sich die Untersuchung nun den Fragmenten zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften sowie Brochs posthum erschienenem Roman Die Verzauberung. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die These, dass Broch und Musil nach 1932 »nicht mehr ›nur kritisch‹, sondern ›positiv‹ auf die diskursiven Bedürfnisse ihrer als Krisenzeit wahrgenommenen Gegenwart« (S. 22) reagieren wollten. Rechnung trügen sie diesem Bedürfnis durch eine »eine[ ] modifizierte[ ] Literarisierungsstrategie in Bezug auf den Weltanschauungsdiskurs« (S. 229), die ein Zurücktreten der Ironie, den Einsatz von weltanschaulichen Diskursversatzstücken und provinzielle Settings umfasst. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Frage, wie 4 5

Anna S. Brasch: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der ›Kolonie‹ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017, S. 222. Man denke etwa an Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils Mann ohne Eigenschaften, in: Robert Musil. Untersuchungen. Hg. v. Uwe Baur u. Elisabeth Castex. Königstein i. T. 1980, S. 170–198, und vor allem an Gerhard Schurz: Theorie der Weltanschauungen und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Robert Musil. Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 99–123.

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es in den Fragmenten gelingt, von einer Sozioanalyse der persönlichen Voraussetzungen und ›Belohnungen‹ weltanschaulicher Überzeugungssysteme von Figuren zu einer stärker inhaltlichen Darstellung von Weltanschauungen und Mythologemen überzugehen, ohne selbst am Weltanschauungsdiskurs zu partizipieren, d. h. selbst eine bestimmte Weltanschauung nahezulegen. In der Verzauberung sieht die Untersuchung eine »mehrfache[ ] Modellbildung« (S. 242) am Werk, die typisierte Figuren in einem »modellhaften Soziotop«, dem abgeschlossenen Bergdorf, mit einer »modellhafte[n] (Neo-)Mythologie« (S. 247), Aktualisierungen des Demeter- und Dionysos-Mythos, überblendet. Da die entsprechenden zivilisationskritischen Mythologeme vom Erzähler vertreten werden, hat die bisherige Forschung den Text nicht selten als fragwürdig oder problematisch eingestuft. Die Untersuchung mahnt demgegenüber an, »konsequent die Tatsache zu berücksichtigen, dass der Erzähler zugleich eine Figur der Erzählung ist« (S. 265), die gerade durch ihre weltanschaulichen Überzeugungen von einem konsequenten Widerstand gegen das Treiben von Marius Ratti abgehalten wird. In ähnlicher Weise deutet der Verfasser die Fragmente zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften als Texte, »die in der Ausbreitung weltanschaulicher Modelle eine intensive Partizipation am Weltanschauungsdiskurs betreiben, [jedoch gleichzeitig, B. G.] eine umso intensivere formale Fiktionalisierung und narrative Subjektivierung betreiben« (S. 289). So führten gegenüber den zu Lebzeiten publizierten Teilen eine »Dialogisierung« des Romans, das Übergehen der Erzählstimme auf Ulrich in den Tagebuchsegmenten sowie eine »Ästhetik des Aphorismus« (S. 316) dazu, dass Ulrich zunehmend zum »Weltanschauer« (S. 321) werden kann, ohne dass seine Position mit der Musils zu verwechseln sei (vgl. insbes. S. 336). Beide Dichter, so Schwarzwälder abschließend, vollziehen also keinen ›Salto rückwärts‹ (Wolfgang Riedel) in die Weltanschauung, sondern loten im Medium der Fiktion die »Weltanschauungssehnsucht dieser Epoche« »mit allem mimetischen Ernst statt mit Ironie« (S. 349) aus. Was übergreifende Kritikpunkte an der Studie angeht, ist zunächst die unzureichende Klärung des Begriffs »Weltanschauung« zu nennen. So gibt es zwar ein eigenes Kapitel mit dem Titel »Zwischen Wissenschaft und Irrationalismus: Zum Begriff ›Weltanschauung‹« (Kap. 3.2), das einen begriffsgeschichtlichen Abriss gibt, in dem jedoch nicht klar wird, auf welchen Begriff von »Weltanschauung« der Verfasser sich stützen möchte. Dass diese Leerstelle weitreichende Implikationen hat, lässt sich etwa am Beispiel von Ulrichs Tagebuch verdeutlichen, von dem mir nicht ohne Weiteres ausgemacht scheint, dass es eine »Weltanschauungsschrift[ ]« (S. 218) darstellt oder eine Weltanschauung darlegt. Zweitens hätte die Methode, nach der die Analyse der literarischen Texte erfolgt, genauer erläutert werden können. Dies beginnt bei der naheliegenden Frage, wie man methodengeleitet bestimmt, ob eine Figur eine (bestimmte) Weltanschauung vertritt (oder etwa nur ein Set bestimmter Überzeugungen, die sich auch in Weltanschauungen finden) und

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endet bei den »im Sinne Wolfs Habitus-bildenden Elemente[n] des Romans« (S. 107), die der Verfasser fokussieren möchte.6 Eine Klärung des HabitusBegriffs wäre umso dringlicher gewesen, als dieser sowohl zur Beschreibung des Agierens der beiden Schriftsteller im literarischen Feld ihrer Zeit (vgl. vor allem Kap. 3.1 »Der poeta doctus als schriftstellerischer Habitus der Abgrenzung«), aber auch zur Analyse des »soziale[n] Habitus[’] der Figuren« (S. 61) gebraucht wird. Drittens wäre eine Präzisierung des vor allem im letzten Kapitel bemühten titelgebenden Begriffs der »Modellbildung« wünschenswert gewesen und viertens haben einige Ausführungen, etwa zum Wiener Kreis (S. 79–91), eher Exkurscharakter und hätten zugunsten einer konziseren Darstellung gekürzt werden können. Bei aller Kritik in begrifflicher und methodischer Hinsicht liefert die kenntnisreiche, thesenfreudige und textnah argumentierende Untersuchung unter dem Strich eine in sich kohärente Gesamtschau der beiden großen Epochenromane Brochs und Musils, der ausgearbeiteten Kapitel zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften und der Verzauberung unter dem Blickwinkel ihres Verhältnisses zum Weltanschauungsdiskurs – eine Gesamtschau, die naturgemäß, insbesondere im Dickicht der Fragmente, bestimmte, den jeweiligen Thesen dienliche Akzentsetzungen vornimmt. Nicht zuletzt die gattungstheoretischen Überlegungen zum »Weltanschauungsroman 2. Ordnung« könnten sich als inspirierend für die weitere Forschung erweisen. Benjamin Gittel

Marcus Andreas Born, Claus Zittel (Hg.): Literarische Denkformen. Paderborn: Fink 2018. 329 S. € 62,–. Der Sammelband enthält Untersuchungen zu philosophischen und literarischen Texten von der Antike bis zur Moderne. Die Analysen werden größtenteils verbunden durch die Frage nach der Erkenntnisleistung literarischer Formen oder Verfahren, die in diesen Texten verwendet werden. In der Einleitung erläutern die Herausgeber Marcus Andreas Born und Claus Zittel das Anliegen des Bandes, indem sie sich gegenüber der Forschung zum Verhältnis von Literatur und Philosophie positionieren und den titelgebenden Begriff »Literarische Denkformen« einführen. Die »Frage nach dem Ineinander von Philosophie und Literatur« (S. 7), so die Herausgeber, sei in der Forschungs6

Fragen wirft etwa folgende Argumentation auf: »Wenn der Protagonist im Kapitel I/5 dann erneut, nun unter dem Namen Ulrich, vorgestellt wird, schließt daran direkt die Schilderung persönlicher Biographieelemente an; Ulrich erhält langsam einen Habitus.« (S. 114) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen zur Verwendung des Habitus-Begriffs bei Norbert Christian Wolf in: Olav Krämer: Wolf, Norbert Christian: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts, in: Scientia Poetica 17 (2013), H. 1, S. 339–358, insbes. 350 f.

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diskussion bisher meist beantwortet worden, indem man aufgezeigt habe, dass manche literarische Werke sich auch mit philosophischen Themen befassen und dabei einen Erkenntnisanspruch erheben, während manche philosophische Texte sich literarischer oder literatur-affiner Schreibweisen bedienen und somit auch für die Literaturwissenschaft von Interesse sind. Das bedeute aber, dass »in der überwältigenden Mehrzahl aller Fälle die Form der Literatur, [sic] und der Inhalt der Philosophie zugeschlagen wird« (S. 9). Dagegen soll der Ansatzpunkt des vorliegenden Bandes darin bestehen, »die Form selbst als philosophisch valent« zu betrachten (S. 11), also nach den Erkenntnisleistungen bestimmter Formen – und insbesondere ›literarischer‹ Formen – zu fragen. Diese allgemeine Absicht wird in der Einleitung mit einer spezielleren Frage verknüpft, die an einigen Stellen von den Herausgebern auch schon bejaht zu werden scheint, nämlich mit der Frage, ob literarische Formen »eine besondere Form der Erkenntnis möglich« machen, die »rein begrifflich verfahrenden Untersuchungen« verwehrt bleibt (S. 11). In diesem Fall, so der – als Frage formulierte – Vorschlag Borns und Zittels, könne man von ›Literarischen Denkformen‹ sprechen: Gibt es Formen des Denkens und Erkennens, die sich nicht in klassischen philosophischen Darstellungsweisen ausdrücken lassen, gleichwohl aber einen philosophischen Gehalt haben? Wären diese als genuin Literarische Denkformen aufzufassen? Müsste dann jedoch nicht an die Stelle des traditionell behaupteten Gattungsunterschieds zwischen wahrheitsorientierter philosophischer Prosa und fiktionaler Literatur ein neues Modell treten, das die Modi des Erkennens gleichermaßen in Literatur und Philosophie einfängt? Wie wäre dann aber jeweils der erkenntnistheoretische Mehrwert literarischer Darstellungsformen zu bestimmen? (S. 12)

Die Beiträge des Bandes haben durchgehend den Charakter von Fallstudien, die teilweise mit allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Philosophie oder Literatur und Wissenschaft verbunden werden. Von den elf Aufsätzen behandelt einer philosophische Texte der Antike, die übrigen zehn Beiträge untersuchen Texte aus der Zeit zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, wobei die Epoche ›um 1900‹ prominent vertreten ist. Die Anbindung an die programmatischen Überlegungen der Einleitung ist in den Beiträgen sehr unterschiedlich stark ausgeprägt: Einige Aufsätze wenden sich ausdrücklich den dort aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie oder nach dem kognitiven ›Mehrwert‹ literarischer Formen zu; einige Aufsätze modifizieren explizit diese Fragen; bei einigen Aufsätzen schließlich fällt es schwer, sie zu diesen Fragestellungen und dem Begriff der ›literarischen Denkformen‹ in Beziehung zu setzen. Die Reihe der Fallstudien wird eröffnet durch Enrico Müllers Beitrag »Person und Sache. Zur Figuration in den platonischen Dialogen«. Müller beginnt seine Untersuchung mit einer Kritik an Tendenzen der PlatonForschung, die in eine ähnliche Richtung zielt wie die in der Einleitung formulierte Kritik am Umgang mit literarischen Formen in der Philosophie

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generell. Platons Verwendung der Dialogform sei vielfach nur für die durch sie erzeugte Lebensnähe gerühmt oder als didaktisch geschickte ›Einkleidung‹ der philosophischen Lehren gedeutet worden. Dagegen schließt Müller an neuere Tendenzen der Forschung an, die die dramaturgische Technik und die »begriffliche[ ] Bestimmungsarbeit« (S. 15) in den Dialogen als substanziell miteinander verbunden auffassen. Müller konzentriert sich dabei auf zwei Aspekte der dramatischen Dialogform, nämlich die Charakterisierung der Gesprächspartner des Sokrates sowie auf die Gestaltung der »interindividuellen Bezüge« (S. 18) zwischen den am Dialog Beteiligten. Eine übergeordnete These der Untersuchung lautet, dass die Charaktere und Vorgeschichten der Dialogpartner sowie der situative Kontext der Dialoge keinen austauschbaren Rahmen für die philosophischen Erörterungen bilden, sondern für diese Diskussionen selbst von wesentlicher Bedeutung sind. Diesen Interpretationsansatz setzt Müller exemplarisch anhand der Dialoge Charmides, Gorgias und Phaidros um. Der Beitrag des Mitherausgebers Claus Zittel schließt eng an die Überlegungen der Einleitung an. Zittel widmet sich Daniel Caspar Lohensteins Roman Arminius, der als Musterbeispiel für den polyhistorischen Roman des 17. Jahrhunderts gilt. Er sucht nicht nur zu zeigen, dass die Form des Romans eine eigenständige Rolle bei der Auseinandersetzung mit philosophischen Themen spielt; darüber hinaus will er nachweisen, dass die literarische Form gegenüber philosophischen Abhandlungen einen spezifischen kognitiven Mehrwert besitzt, dass der Roman »aufgrund seiner besonderen literarischen Darstellungsform Einsichten in das Wirken menschlicher Affekte vermittelt, die über das, was in den meisten philosophischen Traktaten seiner Zeit zu formulieren möglich war, hinausgehen.« (S. 81) Zittels Analyse des Romans berücksichtigt verschiedene Aspekte der Erzählweise und Plotkonstruktion, behandelt aber besonders ausführlich einen Dialog, in dem Romanfiguren über den ethisch angemessenen Umgang mit Affekten diskutieren. In diesem Redegefecht, so Zittel, komme neben bekannten, auf Aristoteles oder die Stoa zurückgehenden Positionen auch eine Auffassung zu Wort, die die Kultivierung der Affekte ins Zentrum stelle und im Verhältnis zur zeitgenössischen philosophischen Affektdiskussion als originell gelten könne (vgl. S. 92). Wichtig sei ferner zum einen, dass der Roman keine der formulierten Positionen auszeichne, zum anderen, dass das Handeln der Figuren häufig den von ihnen vertretenen philosophischen Positionen widerspreche. In vielen Fällen bleiben die Handlungsmotive der Figuren nicht nur für den Erzähler, sondern auch für sie selbst im Dunkeln. Sofern eine Theorie über die Affekte privilegiert werde, sei es am ehesten diejenige, die die rasche Wandelbarkeit und den ›Chamäleoncharakter‹ der Affekte betone. Vor allem aber vermittle der Roman »die Einsicht, dass sich weder die Affekte noch das Leben insgesamt steuern lassen, da sie permanent kontingenten Einflüssen unterworfen sind« (S. 101). So konkurriere dieser sogenannte ›polyhistori-

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sche‹ Roman auch keineswegs mit der Historiographie, sondern drücke eine zutiefst erkenntnisskeptische Haltung aus, die auch die Geschichtsschreibung betrifft. Alexander Beckers Aufsatz »Philosophie und Textform. Überlegungen anlässlich von Diderots Rameaus Neffe« unterscheidet sich von den anderen Beiträgen des Bandes, insofern er allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Literatur ins Zentrum stellt und diese dann in einem kürzeren Abschnitt anhand von Diderots Rameaus Neffe konkretisiert. Becker skizziert zunächst eine ›traditionelle‹ Auffassung, der zufolge Philosophie und Literatur klar voneinander getrennt sind, rekapituliert dann einige Probleme dieser Auffassung und entwickelt schließlich einen eigenen Vorschlag zur Verhältnisbestimmung. Philosophie und Literatur könnten demnach als »Pole einer gemeinsamen zugrundeliegenden Tätigkeit« aufgefasst werden, »die wechselseitig aufeinander verwiesen sind« (S. 111). Was sie verbinde, sei das Ziel, ein genuin menschliches Bedürfnis nach Ordnung und Orientierung zu befriedigen. Philosophie leiste dies, indem sie Erfahrungen auf Begriffe bringe und die begrifflichen Strukturen des Denkens erhelle; Literatur antworte durch das Erzählen von Geschichten auf dieses Bedürfnis. Diese Geschichten ermöglichen ein höheres Maß an Komplexität und Vollständigkeit als die Begriffsanalysen der Philosophie, während die Philosophie begriffliche Strukturen aufzeigen und damit »allgemeine Orientierungsangebote« (S. 125 f.) liefern könne. Diderot lasse in seinem Dialog Rameaus Neffe (Le neveu de Rameau) zwei Gesprächspartner aufeinandertreffen, die mit dem menschlichen Orientierungsbedürfnis auf unterschiedliche Weisen umgehen, wobei Moi (Ich) eher den Ansatz der Philosophie, Lui (Er) den des literarischen Erzählens vertrete. In dem Dialog, der zu keinerlei Annäherung zwischen den moral- und naturphilosophischen Positionen der Gesprächspartner führt, könne man sowohl den »Konflikt« als auch das »Aufeinanderverwiesensein« von »literarischer und philosophischer Ordnung wiederfinden« (S. 126). Da Zittels und Beckers Aufsätze im Band direkt nebeneinander platziert sind, drängt sich besonders stark der Eindruck auf, dass die philosophisch relevanten Leistungen der Literatur von ihnen auf recht unterschiedliche Weisen beschrieben werden: Während für Zittel die Leistung von Lohensteins Arminius-Roman vor allem in der skeptischen Destruktion von Annahmen über die Ordnung der menschlichen Psyche, der Geschichte und der Welt überhaupt besteht, sieht Becker die Leistungen der Literatur darin, menschliche Ordnungs- und Orientierungsbedürfnisse auf spezifische Weise zu befriedigen. Zu den Beiträgen, die philosophische oder jedenfalls theoretische Texte mit Blick auf ihre Darstellungsform untersuchen, gehört Jørgen Sneis’ Studie zu Jean Pauls Vorschule der Ästhetik – einem Text, der, so Sneis vorsichtig, »wohl am ehesten als theoretisch, vielleicht sogar als philosophisch zu bezeich-

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nen ist« (S. 129). In der Darstellungsform unterscheide sich diese theoretische Schrift allerdings deutlich von den in Jean Pauls Zeit etablierten Mustern der philosophischen Ästhetik, wie Sneis anhand von Vergleichen mit Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier deutlich macht. Baumgarten und Meier, so Sneis, handeln zwar von ›extensiver Klarheit‹ als dem Wesensmerkmal der Poesie, sind in ihrer Darstellungsweise aber ganz dem Ideal der ›intensiven Klarheit‹ (im Sinne Baumgartens) verpflichtet. Das zeige sich unter anderem in ihrer Verwendung literarischer Beispiele, die stets ausdrücklich als besondere Ausprägungen einem explizit genannten Allgemeinen subsumiert werden. Bei Jean Paul hingegen erhalten die Beispiele einen höheren Stellenwert, da er etwa das Wesen der Poesie nicht auf Begriffe zu bringen, sondern mithilfe von Beispielen ›einzukreisen‹ versuche. Zudem sind auch seine theoretischen Ausführungen selbst durch die ausgiebige Verwendung von Metaphern, Vergleichen und Analogien sowie – damit verbunden – durch ein hohes Maß an Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet, was sich etwa darin zeigt, dass er in auffällig witziger Form vom Wesen des Witzes handelt. Diese in der Forschung schon mehrfach beobachtete Selbstbezüglichkeit sucht Sneis durch einen Rekurs auf Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation präziser zu fassen. So sei für die Vorschule der Ästhetik auch kennzeichnend, dass »sehr viel exemplifiziert [wird], was nicht gleich theorieförmig daherkommt« (S. 147). Marcus A. Born und Kai Rugenstein untersuchen Sigmund Freuds späten Aufsatz Die endliche und die unendliche Analyse (1937). Dieser Aufsatz sei »als eine behandlungstechnische Schrift weder in der Literatur noch in der Philosophie beheimatet«, erweise sich aber »dann als literarische Denkform [. . .], wenn in ihm zum einen die psychoanalytische Behandlung auf das philosophische Streben nach Selbsterkenntnis gegründet wird und zum anderen aktivierende Textstrategien zur Anwendung kommen, die den Leser auf Selbsterkenntnis hinsteuern« (S. 172). Freuds Aufsatz, so Born und Rugenstein, handle von den Hindernissen, die dem endgültigen Abschluss einer psychoanalytischen Behandlung entgegenstehen, und er konfrontiere zugleich die Leser*innen mit Hindernissen beim Lesen und Verstehen der Abhandlung. Diese Hindernisse beruhen vor allem auf der Überlagerung unterschiedlicher Vorstellungen von Zeitlichkeit sowie auf der Verweigerung definitiver Antworten auf die aufgeworfenen Fragen. Zugleich bediene sich Freud einer ›affektgeleiteten‹ Sprache, die zur stärkeren Involvierung der Leser*innen führe. Das Ziel dieser Schreibweise, so Born und Rugenstein, sei in dem gewissermaßen therapeutischen Bestreben zu sehen, die Leser*innen über die Auseinandersetzung mit dem hindernisreichen Text zur Selbstreflexion zu veranlassen. Andrea Albrechts Beitrag nimmt in der Reihe der Aufsätze insofern eine Sonderposition ein, als er literarische und wissenschaftliche Texte mit Blick auf ihre Schreibweisen vergleicht und aus dem Vergleich Thesen über die

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spezifischen Leistungen der literarischen Texte entwickelt. Albrecht weist einleitend darauf hin, dass sich in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts disziplinenübergreifend ein Interesse am Wesen wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse entwickelte, das sich in Selbstdarstellungen von Forscher*innen sowie in psychologischen und philosophischen Erörterungen niederschlug. Sowohl die Berichte von Forscher*innen über ihre großen Entdeckungen als auch die einschlägigen Darlegungen in wissenschaftlichen Abhandlungen, so Albrecht, sind durch einen auffallend intensiven Gebrauch narrativer Verfahren sowie eines bestimmten Inventars von Metaphern geprägt. Albrecht analysiert ferner Passagen aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) und Hermann Brochs Roman Die unbekannte Größe (1933), in denen Denk- und Erkenntnisvorgänge von Wissenschaftlern beschrieben werden, um die These plausibel zu machen, dass Musil und Broch hier kritisch auf die wissenschaftlichen und populären Darstellungen reagierten. In diesen Romanpassagen begegnen ähnliche Metaphern und narrative Muster wie in den wissenschaftlichen Texten, doch bei näherem Hinsehen zeige sich, dass sie hier neue Funktionen erhalten. Zum einen, so Albrecht, beziehen Broch und Musil indirekt Stellung zu der wissenschaftlichen Diskussion, indem sie etwa Gewissheitsgefühle, die in den Selbstdarstellungen und wissenschaftlichen Abhandlungen eine prominente Rolle spielen, als trügerisch erscheinen lassen. Zum anderen lenken sie die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Verfasstheit der gängigen Darstellungen von ›Geistesblitzen‹ und weisen so darauf hin, dass die »zeitgenössischen Erkenntnisnarrative [. . .] sich in der Ventilation von Metaphern und Bildern für das Erlebte verausgaben, anstatt substanziell Neues über das Erkennen mitzuteilen« (S. 295). Axel Pichlers Aufsatz über Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schließt explizit an die theoretische Diskussion um wissenschaftliche und philosophische Darstellungsformen an und erweitert sie um die Frage nach der Bedeutung der Überlieferungsform von Texten. Ausgehend von einer Analyse der komplexen Überlieferungsgeschichte von Benjamins Kunstwerkaufsatz problematisiert Pichler zum einen editionswissenschaftliche Definitionen des Begriffs ›Fassung‹ sowie ihre Anwendung auf Benjamins Aufsatz und sucht zum anderen zu zeigen, dass physikalische Eigenschaften der Benjamin’schen Textkonvolute (etwa durch Stiftwechsel bedingte Farbunterschiede) für die Deutung des Textes relevant sind und dass auch die inhaltlichen Abweichungen zwischen den sogenannten ›Fassungen‹ des Aufsatzes in der Diskussion um seine Interpretation bisher nicht hinreichend beachtet worden sind. Bei anderen Aufsätzen des Bandes ist der Bezug zu den in der Einleitung formulierten Zielen und Leitfragen weniger konsequent ausgeprägt. Jakob Moser untersucht ein erst zu Beginn der 1980er Jahre entdecktes Thesenpapier des jungen René Descartes, in dem er die öffentliche Verteidigung seines Diploms in Jurisprudenz ankündigte. Mosers Aufsatz, der auch eine

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deutschsprachige Übersetzung des Thesenblatts bietet, analysiert die Verwendung von Metaphern und Allegorien sowie die intertextuellen Bezüge in diesem Text und vergleicht ihn unter diesen Gesichtspunkten auch mit anderen Texten des frühen Descartes, insbesondere den Olympica überschriebenen Traumerzählungen in seinen Notizbüchern. Moser sucht zu zeigen, inwiefern die intertextuellen Bezüge und die metaphorische Sprache einerseits zur Autonomie der Texte beitragen, andererseits diese Autonomie aber auch destabilisieren, doch es wird kaum deutlich, welche Rolle diese Darstellungsverfahren mit Blick auf etwaige philosophische Wissensansprüche der Texte spielen. Isabella Ferron widmet sich den sprachphilosophischen Schriften Wilhelm von Humboldts und analysiert insbesondere seine Konzeption der ›zweifachen Natur‹ der Sprache und des Menschen sowie seine Auffassungen über das Verhältnis von Literatur und Philosophie. Inwiefern, wie es der Aufsatztitel besagt, »Dialog und Zweiheit« in diesen Schriften als »Denkformen« auftreten (S. 151), wird allerdings nicht ganz deutlich. Die Begriffe des Dialogs und des Gesprächs stehen auch im Zentrum von Marco Rispolis Aufsatz über Hugo von Hofmannsthals Erfundene Gespräche, der Hofmannsthals Gebrauch der Form des essayistischen Dialogs sowie formale Übergänge zwischen seinen Essays und Dramen analysiert. Der mit Abstand umfangreichste Aufsatz des Bandes ist Giulia Baldellis Studie über »[r]ezeptionslenkende Erzählstrategien« in Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs. Baldelli analysiert unter anderem den Einsatz der erlebten Rede und der Leitmotivtechnik in diesem Roman und sucht zu zeigen, dass Beer-Hofmann Prozesse der Wahrnehmung und Erinnerung, die im Sinne der Philosophie Bergsons begriffen werden, für die Leser*innen nachvollziehbar mache. Um zusammenzufassen: Der Begriff der literarischen Denkform gewinnt in der Reihe der Aufsätze nur bedingt an Konturen, da er, wo er verwendet wird, unterschiedlich und teilweise auch etwas unscharf gebraucht wird. In vielen Beiträgen taucht er gar nicht auf, in einzelnen wird er explizit zurückgewiesen (so bei Albrecht und Pichler, vgl. S. 275, 303 f.). Auch die Frage, ob literarische Formen »eine besondere Form der Erkenntnis möglich« machen, die »rein begrifflich verfahrenden Untersuchungen« verwehrt bleibt (S. 11), wird nur in wenigen Aufsätzen explizit diskutiert. Die Stärken des Sammelbandes liegen vielmehr zum einen darin, dass er unterschiedliche theoretische Positionen zum Verhältnis von Literatur und Philosophie sowie zu ›literarischen‹ Schreibweisen in Philosophie und Wissenschaft versammelt und damit auch ansatzweise die Komplexität der einschlägigen jüngeren Forschungsdiskussion abbildet. Zum anderen und vor allem besticht der Band durch die analytische Qualität und die Vielfalt der Fallstudien, die konkrete Darstellungsverfahren mit Blick auf ihre kognitiven Leistungen oder die mit ihnen vermittelten Erkenntnisansprüche analysieren. Dabei kommt nicht nur eine Vielzahl von Formen oder Verfahren in den Blick (neben Metaphern und narrativen Strukturen auch der Dialog oder die Konstruktion fiktiver Charak-

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tere), es werden auch unterschiedliche Konstellationen von Literatur, Philosophie und Wissenschaft berücksichtigt und diverse Konzepte und theoretische Perspektiven angeboten, mit denen die Frage nach den kognitiven Funktionen von literarischen und philosophischen Darstellungsverfahren präzisiert werden kann. So hält die Reihe der Fallstudien auch vielfältige Anregungen für die theoretischen Diskussionen um das Verhältnis von Literatur und Philosophie sowie um die Erkenntnisleistung literarischer Schreibweisen bereit. Olav Krämer

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Mag. Anna Lindner ACE – Austrian Corpora and Editions (Arbeitsstelle österreichischer Corpora und Editionen) Austrian Center for Digital Humanities and Cultural Heritage Bäckerstr. 13 1010 Wien Österreich [email protected]

Dr. Bernhard Metz Institut für Medizingeschichte Universität Bern Bühlstr. 26 3012 Bern Schweiz [email protected]

Prof. Daniela Nelva Università degli Studi di Torino Dipartimento di Lingue e Letterature straniere e Culture moderne Complesso Aldo Moro (Studio 2A, II piano) Via Sant’Ottavio 18 10124 Torino Italien [email protected]

PD Dr. Till Nitschmann Leibniz Universität Hannover Deutsches Seminar Königsworther Platz 1 30167 Hannover Deutschland [email protected]

416

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

Prof. Dr. Thomas Pekar Gakushuin University Department of German Studies 1–5-1 Mejiro, Toshima-ku 171–8588 Tokyo Japan [email protected]

Prof. Dr. Jiyoung Shin Korea University Dept. of German Language & Literature 145, Anam-Ro, Seougbuk-Gu Seoul 02842 Republic of Korea [email protected]

Dr. Oliver Pfohlmann Gönnerstr. 20 96050 Bamberg Deutschland [email protected]

Dr. Sarah Pogoda Bangor University College Road LL57 2DG Bangor Wales, United Kingdom [email protected]

Dr. Zouheir Soukah Himmelgeister Str. 72 40225 Düsseldorf Deutschland [email protected]

Dr. habil. Katalin Teller Eötvös-Loránd-Universität Lehrstuhl für Ästhetik Múzeum krt. 6–8 1088 Budapest Ungarn [email protected]

Dr. Peter C. Pohl Universität Innsbruck Institut für Germanistik Innrain 52 6020 Innsbruck Österreich [email protected]

Prof. Dr. Peter Utz Chemin du Mont-Tendre 11 1007 Lausanne Schweiz [email protected]

Prof. Dr. Armin Schäfer Ruhr-Universität Bochum Germanistisches Seminar (GB 4/60) Universitätsstr. 150 44780 Bochum Deutschland

Prof. Dr. Florence Vatan University of Wisconsin-Madison Department of French and Italian 658 Van Hise Hall 1220 Linden Dr Madison, WI 53706 USA

[email protected]

[email protected]

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

Apl. Prof. Dr. Benno Wagner Germanistisches Seminar Universität Siegen Hölderlinstr. 3 57076 Siegen Deutschland

Prof. Dr. Thomas Wegmann Universität Innsbruck Institut für Germanistik Innrain 52 6020 Innsbruck Österreich

[email protected]

[email protected]

Gernot Waldner, MA, MA, PhD Institut für Germanistik Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien Österreich [email protected]

417

Prof. i. R. Dr. Werner Wintersteiner Arthur Lemisch Str. 4 9500 Villach Österreich [email protected]

Prof. Dr. Irene Weber Henking Université de Lausanne Centre de traduction littéraire Quartier UNIL-Chamberonne Bâtiment Anthropole 4033 1015 Lausanne Schweiz

Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 4051 Basel Schweiz

[email protected]

[email protected]

Siglen GW 1–9: Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit arabischer Bandzählung]

Bd. 1–5: Bd. 6: Bd. 7: Bd. 8: Bd. 9:

Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches Essays und Reden Kritik

GW I–II : Robert Musil: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit römischer Bandzählung]

Bd. I : Bd. II :

Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik

MoE: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Reinbek b. Hamburg 1978 u. ö. [Seitenidentisch mit den Bänden 1–5 der Gesammelten Werke] Tb I–II : Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1983 [1. Auflage 1976]. Bd. I : Bd. II :

Tagebücher Anmerkungen. Anhang. Register

Br I–II : Robert Musil: Briefe 1901–1942. 2 Bde. Mit Briefen v. Martha Musil, Alfred Döblin, Efraim Frisch, Hugo von Hofmannsthal, Robert Lejeune, Thomas Mann, Dorothy Norman, Viktor Zuckerkandl u. a. Hg. v. Adolf Frisé. Unter Mithilfe v. Murray G. Hall. Reinbek b. Hamburg 1981. Bd. I : Bd. II :

Briefe 1901–1942 Kommentar. Register

KA : Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann, Karl Corino. Klagenfurt 2009.

Siglen

419

GA 1–12: Robert Musil: Gesamtausgabe in zwölf Bänden. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg, Wien 2016–2021. [Zitiert als GA mit arabischer Bandzählung]

Bd. 1–6: Bd. 7–8: Bd. 9: Bd. 10: Bd. 11: Bd. 12:

Der Mann ohne Eigenschaften Bücher I–II In Zeitungen und Zeitschriften. 1998–1922 In Zeitungen und Zeitschriften. 1922–1924 In Zeitungen und Zeitschriften. 1925–1938 Projekte. 1900–1942

Redaktioneller Hinweis Die Zusendung von Manuskripten wird an folgende Anschriften erbeten:

Musil-Forum c/o Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 4051 Basel Schweiz [email protected] c/o Univ.-Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Wien Institut für Germanistik Neuere deutsche Literatur Universitätsring 1 1010 Wien Österreich [email protected]

Redaktion Musil-Forum Dr. Thomas Hübel Universität Wien Institut für Germanistik Neuere deutsche Literatur Universitätsring 1 1010 Wien Österreich [email protected]

Register Abbenseth, Carlos 158 Abel, Alexandra 392 Abraham, Otto 291 Achebe, Chinua 345 Adorno, Theodor W. 162, 164, 330, 332 Agamben, Giorgio 344 Agee, Joel 166, 250 Ahn, Byungryul 188 Albertsen, Elisabeth 300, 324 Albracht, Miriam 398 Albrecht, Andrea 409–411 Albrecht, Jörn 35 f. Alcan, Félix 52 Alexander, Carl 295 Alexander, Fritz 328 Alexander, Hans 290 Alexander, Julius 295 f. Ali, Sabahattin 209 Allesch, Johannes von 301 Altenberg, Peter 337 f. Amann, Klaus 250–253, 302 Améry, Jean 330, 332 Amtstätter, Mark-Emanuel 374 Amundsen, Roald 288 Andler, Charles 52 Ansorge, Conrad 375 Aquindo, Sergio 74 Arburg, Hans-Georg von 6, 8, 337 Arendt, Hannah 331, 333, 347 f. Arias, Mercedes 122 Aristoteles 111, 279, 342, 407 Arnold, Frank 333 Arnswald, Ulrich 379 Arntz, Gerd 386 Arosi, Giorgio 93 Arpad, Burhan 204 Asor Rosa, Alberto 88 Atay, Oğuz 209 Augé, Marc 344 Augenfeld, Felix 389 Augustinus 308 Al-Azzawi, Fadhil 216, 218

Baader, Johannes 384 Bachmann, Ingeborg 91, 223, 384 Bachofen, Johann Jakob 399 Backes, Marcelo 161–163, 165, 167–169, 172–174, 178 Bär, Jochen A. 26 Baer, Jo 383 Bahr, Hermann 152, 335 Bahrsch, Patrizia 26 Baldelli, Giulia 411 Ball, Hugo 384 Balla, Giacomo 383 Bally, Charles 35 Balzac, Honoré de 205, 308 f., 311 Bandić, Milan 233 Barnabé, Jean 124 Barrento, João 158 f., 161 Bartels, Adolf 372 Barthes, Roland 330, 332, 340, 401 Bartl, Andrea 401 Bataille, George 370 Batuta, Ibn 330 Baudelaire, Charles 309 Bauer, Matthias 368 Bauer, Wilhelm A. 292 Bauman, Zygmunt 351 Baumeister, Roy F. 332 Baumgarten, Alexander Gottlieb 409 Beauvoir, Simone de 234 Beck, Ulrich 340 Becker, Alexander 408 Beckett, Samuel 131, 218 Bedenig, Katrin 400 Beer-Hofmann, Richard 338, 411 Behrens, Peter 376 f. Bellay, Joachim du 308 Benedetti, Gabriella 92, 245 Benjamin, Walter 1, 5, 13, 22, 24, 34, 48, 153–155, 157, 162, 164–166, 175, 243, 313, 330, 346, 390, 401, 410 Benn, Gottfried 196, 223 Berger, Wolfram 333 f. Bergson, Henri 52, 351, 411

422

Register

Berman, Antoine 45, 67 f., 71, 73 Berne-Joffroy, André 53 f. Bernhard, Thomas 6, 155, 206, 221, 224 Bernstein, André 249 Bertaux, Félix 48 f. Bertram, Ernst 397 Bessai, Lukas 382 Beßlich, Barbara 372 Bierbaum, Otto Julius 341 Binding, Karl 265, 267 Birnstiel, Klaus 397 f. Bismarck, Otto von 341 Bixio, Roberto 122 Blass, Ernst 62 Blau, Eve 382 Blei, Franz 48, 50, 306 Blei, Sibylla 48 Bleuler, Eugen 262, 275, 278, 281 Blom, Philipp 356 Blühdorn, Hardarik 85 Blüher, Hans 399 Blume, Michael 397 Blumenberg, Hans 357 Bodláková, Jitka 236, 239–241 Böhme, Hartmut 63, 65, 355 Boelderl, Artur R. 369 f. Böll, Heinrich 223 Börnchen, Stefan 396 Bolaño, Roberto 221 Bolliger, Albert 334 Bonacchi, Silvia 293 Born, Marcus Andreas 405 f., 409 Boulleé, Étienne-Louis 394 Bourget, Paul 308 Bove, Emmanuel 391 Brasch, Anna S. 402 Brecht, Bertolt 50, 164, 214, 223 Brito, Daniel Brilhante de 159 Broch, Hermann 48, 206, 224 f., 228, 347– 350, 384, 402 f., 405, 410 Brown Janeway, Carol 248 Brunngraber, Rudolf 384 Buber, Martin 384 Buda, Aleks 222 Büchner, Georg 53, 264 Çabej, Eqerem 222 Cacciari, Massimo 88 Caillois, Roger 50, 61, 67

Calvino, Italo 187, 245 Cambi, Fabrizio 89 Campos, Augusto de 153 Campos, Haroldo de 153, 157 Camus, Albert 196, 222 Canetti, Elias 69, 80 f., 204, 330, 332, 334, 348 Cannon, Walter 357 Carnap, Rudolf 378, 380, 382, 386 Carossa, Hans 88 Carstensen, Thorsten 389 f. Cases, Cesare 88–91, 242 Cassou, Jean 54, 56 Castiglia, Irene 92 f. Castoldi, Laura 92, 245 Castro, Érica Gonçalves de 159 f. Cemal, Ahmet 204 f., 207 Cetti Marinoni, Bianca 92, 104, 111, 237 Chamisso, Adelbert von 221 Chardin, Philippe 309 Chartier, Émile 53 Chiarini, Paolo 88 Church, Barbara 49–51, 67 Church, Henry 49 f., 67 Clarac, Pierre 313 Cliffe, W. J. 82 Coetzee, John Maxwell 4, 218, 249 f. Connell, R. W. 356, 398 Conrad, Joseph 220 Corino, Karl 63, 160, 163 f., 211, 252, 276, 290, 292 f., 296, 299 f., 304, 306, 324– 330 Cornuz, Jeanlouis 60 Cortázar, Julio 121–133, 136 f., 139 f., 142– 149 Cosentino, Annalisa 93 Ćosić, Bora 4 Couture, Thomas 308 Cramer, August 274 Curtius, Ernst Robert 35, 313 Cusatelli, Giorgio 91, 244 Czekanowski, Jan 292 Dahms, Hans-Joachim 378 Daigger, Annette 7 D’Annunzio, Gabriele 289 Darrag, Faisal 217 f. Dauthendey, Max 372 De Angelis, Enrico 85 f., 90 f.

Register

Dehmel, Ida 373, 377 Dehmel, Paula 376 Dehmel, Richard 372–377 De Maria, Luciano 243 Descargues, Pierre 73 Descartes, René 55, 195, 410 f. Desjardin, Paul 55 Dhrimo, Ali 223 Diderot, Denis 366, 408 Dietz, Herma 330 Dilthey, Wilhelm 51–53 Dinklage, Karl 324, 327 Döblin, Alfred 164, 384, 389, 392, 394 Dörmann, Felix 389 Donath, Alice 300 Donath, Gustav 300 Dostojewskij, Fjodor M. 234 Doyle, Arthur Conan 234 Du Bos, Charles 52, 55 Dümling, Albrecht 375 Dürrenmatt, Friedrich 221, 223 Dumas d. Ä., Alexandre 234 Duras, Marguerite 4, 45 f., 74–76, 78–84 Durkheim, Émile 218 Durrell, Lawrence 131 Ebert, Friedrich 348 Eco, Umberto 157 Eder, Antonia 365 Ehrlich, Roman 343 El Maïzi, Myriem 77 Elsaghe, Yahya 397 Ende, Michael 234 Enders, Jody 331 Englert, Karl 316 Epikur 382 Erasmus von Rotterdam 111 Erian, Martin 388, 390 Eyth, Max 342 Fähnders, Walter 388 Fallada, Hans 223 Fanta, Walter 7, 93, 210, 225, 247, 252, 300, 302, 369, 371 Fechner, Theodor 393 Feldmann, Else 388, 390 Ferré, André 313 Ferri, Enrico 269 Ferron, Isabella 411

423

Feuchtwanger, Lion 223 Feuerbach, Paul Johann Anselm von 266, 270 Fiałek, Marek 372 Fichte, Johann Gottlieb 199, 348 Finger, August 283 Fischer, Bernd-Jürgen 312 f. Fischer, Ernst 205 Fischer, Otokar 234, 238 Flinker, Martin 48 Fludernik, Monika 354 Fontana, Oskar Maurus 368 Fontane, Theodor 340–343, 351 f., 355 Fortemps, Vincent 74 Foucault, Michel 21, 344 f. France, Anatole 35 Franchini, Stefano 373 Franck, Julia 221 Frank, Josef 338, 389 Franz Joseph, Kaiser von Österreich 225 Frei, Bruno 390 Frenkel-Brunswik, Else 378 Freud, Sigmund 53, 157, 205, 215, 330, 332, 409 Friedenthal, Hans 304 Frisch, Max 234 Frisé, Adolf 85 f., 90–93, 128–130, 158, 205 f., 210 f., 242 f., 245, 247, 288, 290, 300, 320 f. Fromm, Erich 332 Gadamer, Hans-Georg 157 Galison, Peter 383 Gallimard, Gaston 311, 313 Gardt, Andreas 43 Gargani, Aldo 88 Garibaldi, Giuseppe 294 Gass, William Howard 4, 249 Gehlen, Arnold 190 Genna, Maria 306 George, Stefan 196, 373 Georgi, Friedrich Freiherr von 316, 318 Gerigk, Anja 392, 394 Gibbon, Edward 308 Gide, André 50, 53 f., 57 f. Girard, René 330, 332 Glang-Tossing, Andrea Verena 373 Gloor, Lukas 350–355 Gödel, Kurt 379, 381

424

Register

Goethe, Johann Wolfgang von 53, 60, 157, 181, 186, 199, 213 f., 243, 254, 261, 323, 345, 358, 372 Góngora y Argote, Luis de 60 Goodman, Nelson 409 Gorjan, Zlatko 228–230, 232 Gottschalk, Alfred 275 Grätz, Katharina 65 Graham, Dan 383 Grass, Günter 215 Grees, Samir 217 f. Griewisch, Anna 327 f. Groethuysen, Bernard 45 f., 50–60, 67 Grosz, George 387 Guillain, Alix 50–53, 57 Guillemin, Bernard 50, 58 Hackenschmidt, Sebastian 335 Haggi, Golan 218 Hahn, Hans 378, 381, 383 Hahn, Johann Georg von 222 Hahn, Reynaldo 308 Hahn-Neurath, Olga 378, 381 Halpern, Sarita 47 f. Hamacher, Bernd 396 f. Handke, Peter 204, 221, 224, 323 Hanisch, Ruth 389 Hanshe, Rainer 248 Hanum, Djavidan 328 Harbou, Thea von 392, 394 Hart, Julius 372 Hartle, Johan F. 379 f. Hartwig, Mela 390 Hašek, Jaroslav 229 Haupt, Caroline 339–343 Hauptmann, Gerhart 340–342 Hauser, Carry 387 f. Haushofer, Marlen 221 Heftrich, Eckhard 397 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 270, 363, 368 Heidegger, Martin 55, 356, 369 Heider, Fritz 383 Heine, Heinrich 213 Helbling, Hanno 310 Hellingrath, Norbert von 152 Helmholtz, Hermann 295 Hénaff, Marcel 330 Henninger, Peter 5, 38, 109, 301 f.

Herder, Johann Gottfried 36 Herodot 330 Herschmann, Heinrich 268 Hesiod 308 Hess, Gerhard 54 Hesse, Hermann 181, 196, 204, 214, 223, 341, 343, 384 Hessel, Franz 313 Hilbert, David 380 Hilpert, Valerie 328 Hirschfeld, Magnus 304 Hitler, Adolf 159, 349 Höch, Hannah 341 Hölderlin, Friedrich 53, 55, 60, 152 f., 157 Höpker-Herberg, Elisabeth 373 Hörisch, Jochen 382 Hofeneder, Veronika 390 Hoffmann, E. T. A. 17, 206 Hoffmann, Josef 338 Hofmann, Michael 166 Hofmannsthal, Hugo von 21, 137, 182, 225, 335, 338, 384, 411 Holz, Arno 153 Holzermayr Rosenfield, Kathrin 174 Homer 60 Honold, Alexander 367, 396, 400 Horkheimer, Max 48, 330, 332 Hornbostel, Erich Moritz von 287, 291, 299 Horvat, Josip 227–230 Hoxha, Enver 222 Hübel, Thomas 26, 84 f. Hugo, Victor 77 Hultsch, Anne 391 Humboldt, Wilhelm von 411 Husserl, Edmund 361, 386 Innerhofer, Roland 335, 337 f., 365, 369, 391–395 Jaccottet, Philippe 4, 6, 11–17, 19 f., 23, 26–32, 37 f., 41, 43–46, 49, 60–62, 71– 74, 120 f., 123 f., 127–130, 133–141, 144, 148, 150, 158 f., 170, 192, 196 Jachimowicz, Aneta 390 Jacob, Paul 48 Jadid, Muhammed 216 f. Jäger, Ludwig 29, 35, 38, 42 Jahn, Lila 88

Register

Jahnn, Hans Henny 394 Jakobson, Roman 32, 45, 153 Jean Paul 408 f. Jelčić, Andy 3 Jelinek, Elfriede 157, 206, 224, 345 Jouve, Pierre-Jean 61 Joyce, James 159, 184, 205, 214, 218, 221, 228–230 Jünger, Ernst 162–164, 177, 179, 330 f., 343 Kadare, Ismail 224, 330, 332 Kadečka, Ferdinand 268 f. Kafka, Franz 6, 53, 88, 157, 167, 176, 181, 204 f., 214, 218, 223, 234, 341, 345, 351 f., 355, 364, 369 f., 392, 394 f. Kahl, Wilhelm 264 Kahler, Erich von 347 Kaiser, Ernst 4, 6, 11, 15 f., 90 f., 122, 132– 140, 144, 148 f., 192, 242 f., 248 f., 252, 256–260, 320 Kampff Lages, Susana 167 Kant, Immanuel 98, 270, 278–280, 361 Kappeler, Florian 400 Karlweis, Marta 390 Kassner, Rudolf 53, 96 Kaufmann, Felix 386 Kaus, Gina 390 Keller, Gottfried 334, 345 Kelsen, Hans 386 Kemp, Robert 60 Kernmayer, Hildegard 390 Kerr, Alfred 300, 304 Kerschensteiner, Georg 152, 329 Kessler, Harry Graf 372 Keyserling, Hermann Graf von 53 Kierkegaard, Søren 356 Kimmich, Dorothee 21, 343–346 King, Stephen 326 Kirchmeier, Christian 367 Kisch, Egon Erwin 162 f. Kister, Aglaia 355–359 Kjellén, Rudolf 370 Klages, Ludwig 126 Klau, Werner 229 Kleist, Heinrich von 221 Klinger, Max 373 Klossowski, Pierre 3, 47, 61 Koestler, Arthur 330, 332

425

Koffka, Kurt 293 Kókai, Károly 384–386 Kolbenheyer, Erwin Guido 250 Koopmann, Helmut 356 Kopřiva, Roman 236 Kortian, Garbis 190 Kracauer, Siegfried 346 Kraepelin, Emil 262, 270–273, 295 Kramer, Theodor 223 Kraus, Karl 225, 247, 335, 369 Krleža, Miroslav 231 Kubin, Alfred 392–394 Kucher, Primus-Heinz 388–390 Kühlmann, Wilhelm 372 Kugler, Stefanie 398 Kuhn, Thomas 386 Kundera, Milan 4, 181 Kupsch-Losereit, Sigrid 197 Kurzke, Hermann 397 Lacouture, Jean 54 Landier, Germain 46, 50 f., 67 Lasson, Adolf 51 Latini, Micaela 92 Latour, Bruno 363, 366 Le Bon, Gustave 196 Le Corbusier 49 Lederer, Joe 390 Leibniz, Gottfried Wilhelm 52, 195, 366 Leiris, Michel 346 Leitgeb, Christoph 64 Leitich, Ann Tizia 389 Lemaire, Madeleine 308 Lemke, Martin 380–382 Lenk, Hans 385 f. Lenz, Siegfried 223 Leopardi, Giacomo 35, 60 Lessa, Bia 160 Leverkühn, August 342 Lévi-Strauss, Claude 340 Lewin, Kurt 366 Lewin-Funcke, Arthur 296 Leyris, Pierre 61 Lieb, Claudia 341 Liebermann, Max 376 Liliencron, Detlev von 372, 377 Link, Jürgen 340 Liszt, Franz von 262, 265–268, 270, 273, 282

426 Locke, John 344 Löffler, Petra 355 Lohenstein, Daniel Caspar von 407 f. Lombez, Christine 72 Loos, Adolf 335–337 Luciani, Luigi 295 Luckhardt, Wassili 393 Lützeler, Paul Michael 347–350 Luft, David S. 248, 320 Luft, Lya 158 Luhmann, Niklas 340, 383 Lukács, Georg 164 Luschan, Felix von 290–292, 296 f. Lyssewski, Dörte 333 f. Mach, Ernst 21, 87, 195, 293, 361 f., 366, 378 f., 382–384, 386 Magris, Claudio 88, 226, 244 Maher, Mustafa 219 Mahler, Gustav 375 Majakowski, Wladimir 153 Mallarmé, Stéphane 153 Malraux, André 53 f., 61 Manceaux, Michèle 74 Mandelstam, Ossip Emiljewitsch 60 Mann, Heinrich 223 Mann, Klaus 206, 223 Mann, Thomas 22, 60, 88, 164, 181, 214, 222 f., 228, 230, 250, 323, 334, 341, 355–359, 395–397, 399 f. Marcovaldi, Annina 288, 300, 302 Marcovaldi, Enrico 288–290 Marcovaldi, Gaetano 288, 300, 302, 324 Marcovaldi, Martha s. Musil, Martha Marey, Étienne-Jules 383 Marinetti, Filippo Tommaso 340, 343 Markovina, Dragan 233 Matan, Branko 230 Matić, Peter 334 Maupassant, Guy de 234 Mauriac Dyer, Nathalie 312 Mauthner, Fritz 21, 351, 383 f. Mauthner, Margarete 296 Mayer, Emil 338 Mayrisch, Aline 53, 58 Mazza, Donatella 91 Mazzari, Marcus 157 McFarland, Rob 389 McLuhan, Marshall 383

Register

Meder, Iris 338 Mehigan, Tim 359–362 Meier, Georg Friedrich 409 Meier, Gerhard 323 Mein, Georg 396 Meister Eckhart 53, 126 Meixner, Rudolf 227 f. Melchior, Cristina 161 Mell, Max 251 Mende, Jana-Katharina 26 Menger, Karl 381, 383, 386 Metz, Bernhard 89, 92–94, 153 Meyer, Conrad Ferdinand 334 Meyer, Gustav 222 Michaux, Henri 50 f. Militzer, Gerti 7 Minichmayr, Birgit 334 Mirsky, Mark 248, 251 f. Mises, Ludwig von 386 Mises, Richard von 384–386 Mitchell, Mike 11, 16 Mittner, Ladislao 88 Möbius, Julius Paul 399 Mohi-von Känel, Sarah 400 Mombert, Alfred 372 Monaco, Domenico Lo 295 Moncrieff, Christopher 11, 16 f., 237 Monet, Claude 309 Montaigne, Michel de 49, 330 Montale, Eugenio 60 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 308 Montesquiou, Robert de 310 Montessori, Maria 307 Montinari, Elsa 307 Montinari, Mazzino 87 Moreau, Gustave 309 Morgenstern, Soma 164, 179 Morin, Edgar 54 Morris, Charles 384–386 Morus, Thomas 379 Moser, Jakob 410 f. Al-Mozany, Hussain 215–217 Mülder-Bach, Inka 339 Müller, Enrico 406 f. Müller, Robert 403 Müller, Sabine 339 Müller-Funk, Wolfgang 330–333 Müntefering, Michelle 298

Register

Muhammad Ali Pascha 212 f. Musil, Alfred 305, 324, 328 Musil, Alois 294, 324 Musil, Hermine 328 Musil, Martha 3 f., 47–50, 60–62, 72 f., 153, 259, 287–290, 295 f., 299–302, 305 f., 321, 326–328 Musil, Robert 2–7, 9–16, 18–23, 25–28, 30–41, 43–53, 56–65, 67 f., 71 f., 74– 76, 78–81, 83, 85–97, 99, 101–103, 107, 109–113, 116, 120–132, 134–139, 141–145, 147–149, 151–168, 171–197, 199–201, 203–212, 214–221, 224–237, 239 f., 242–264, 269, 275–278, 281, 283–290, 292–294, 299–307, 316, 318, 320–331, 333 f., 337–339, 341, 343–345, 355, 359–364, 366–371, 383 f., 386, 392, 395 f., 402–405, 410 Musso, Isabella 112 Mussolini, Benito 307, 328 Muybridge, Eadweard 383 Nantke, Julia 377 Narekac‘i, Grigor 196 Nercessian, Nora 190 Neto, Nicolino Simone 165, 167 f., 171, 173 f., 178 Neuhauss, Richard 292 Neuhuber, Christian 373 Neurath, Otto 378–380, 382, 384–387 Newman, Barnett 383 Nietzsche, Friedrich 53, 152, 195, 205 f., 216, 234, 255, 260, 308, 330, 332, 361, 398 f. Nopcsa, Baron Franz 222 Novalis 60, 152 Nübel, Birgit 115 Nutt-Kofoth, Rüdiger 372 ¯ Kenzaburo¯ 4 Oe, Omar, Manar 219 Oshakan, Hakob 195 Otten, Karl 47 f., 63 Pachet, Pierre 47 Papoušková, Alena 236 f., 239–241 Parr, Rolf 340 Pasternak, Boris 234 Patrut, Iulia-Karin 369

427

Patsch, Carl 222 Patschjan, Aram 195 Paulhan, Claire 51 Paulhan, Jean 47, 49–51, 53, 55, 57, 59, 61, 67 Payne, Philip 7, 249, 253, 321 Peckhaus, Volker 380 f. Pekar, Thomas 7 Petrarca, Francesco 60 Pfeifer, Wolfgang 70 Pfohlmann, Oliver 163 f., 179 Pichler, Axel 410 f. Pignatari, Décio 153, 157 Pike, Burton 120, 185–187, 192, 248 f., 253, 255, 260, 320–323 Platner, Ernst 279 Platon 55, 60, 407 Plener, Peter 367 f. Plenge, Johann 370 Polt-Heinzl, Evelyne 388 Ponge, Francis 55 Popper, Karl 379, 382 Popper-Lynkeus, Josef 164, 379 Porte, Michelle 77 f., 81 Pound, Ezra 153 Prinzhorn, Hans 53 Proelß, Johannes 342 Proust, Marcel 184, 214, 218, 222, 228 f., 308–314 Przybyszewski, Stanisław 372 Pufendorf, Samuel 276 Rabaté, Ève 53 Racine, Jean Baptiste 35 Radbruch, Gustav 262, 268 f. Rand, Ayn 221 Rathenau, Walther 292 f., 304, 329, 368 Rechel-Mertens, Eva 312 f. Reemtsma, Henrike 372 f. Reichenbach, Hans 381 Reidemeister, Kurt 381 Reidy, Julian 396 Reitani, Luigi 93, 247 Reiter, Heinrich 328 Remarque, Erich Maria 223 Rembrandt van Rijn 309 Rendi, Aloisio 89 Rho, Anita 88, 92, 95, 104, 242–246 Riedel, Wolfgang 404

428

Register

Ries, Therese 390 Rieth, Renate 237, 240 Rilke, Rainer Maria 47, 60, 103, 122, 157, 196, 204, 215, 221, 223, 323, 384 Rispoli, Marco 411 Ritter, Henning 331 Ritter, Nils C. 401 Rittler, Theodor 268 Rittner, Thaddäus (Tadeusz) 391 Ritzert, Philipp 398 Rivarol, Antoine de 35 Robert, Louis de 310 f. Robespierre, Maximilien de 331 Roditi, Édouard 58 Rößler, Robert 338 Roh, Franz 384 f. Romains, Jules 61 Ronai, Paulo 157 Rondinelli, Marcelo 157 Ronsard, Pierre de 35 Rose, Fritz 292 Rosenfeld, Fritz 388 Rosenthal, Annina 62 Rosenthal, Leo 326 f. Rosset, Clément 331 Roth, Joseph 49, 224 f. Roth, Marie-Louise 180 Rothko, Mark 383 Roud, Gustave 61 f. Rousseau, Jean-Jacques 344 Rousset, Jean 60 Rudolf, Bernd 392 Rübisch, Sabrina 296 Ruffenach, Pascal 61 Rugenstein, Kai 409 Rundt, Arthur 388 Rupp, Hans 293 Ruskin, John 309 Russolo, Luigi 383 Ryan, Marie-Laure 354 Rysselberghe, Maria van 53, 56, 58 Sade, Marquis de 330, 332 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 309 Salgaro, Massimo 88 Salih, At-Tayyib 219 f. Salten, Felix 335, 338 Sartre, Jean-Paul 55 Savitsky, Ludmila 159

Scarry, Elaine 331 Schama, Simon 252 Schaunig, Regina 93, 247 Scheerbart, Paul 392–394 Scheler, Max 53 Scherer, Stefan 384, 386 Scherner, Maximilian 44 Schiller, Friedrich 213 Schimmang, Jochen 343 Schlegel, Friedrich 144, 151 Schleiermacher, Friedrich 23, 28, 38 Schlick, Moritz 378, 380–382, 384–386 Schmarsow, August 393 Schmidt, Gary 396 Schmidt, Jochen 176, 180 Schmoller, Gustav 51 Schneider, Marie 266 Schneidermann, Boris 157 Schnitzler, Arthur 204, 224, 251, 335, 338, 371, 381 Schönberg, Arnold 375 Schöttker, Detlev 335 f., 392, 395 Schopenhauer, Arthur 23, 63, 243 f., 398 Schorske, Carl 335 Schottlaender, Rudolf 312 f. Schraml, Wolfgang 304 Schütte, Uwe 350 Schuler, Romana K. 383 Schuster, Klaus-Peter 375–377 Schweinfurth, Georg 296 f. Schwörer-Kohl, Gretel 291 Sciarra, Elena 91 Scott-Moncrieff, Charles 312 Seghers, Anna 88 Seneca, Lucius Annaeus 330 f. Sennett, Richard 393 Sergi, Giuseppe 288, 290, 294 f., 298, 303– 305, 307 Sergi, Quirino 288, 295, 304 Sergi, Sergio 287 f., 290, 294–296, 298– 301, 303–307 Shakespeare, William 151 f., 205, 330 Shin, Jiyoung 7 Shubat, Abdelhakim 219 f. Siebenscheinová, Anna 235 Siess, Jürgen 53 Sigmund, Karl 380 f., 383, 386 f. Simmel, Georg 51–53, 346, 351, 390, 393, 399

Register

Simon, Ralf 392 Simonischek, Peter 334 Şipal, Kamuran 204 f. Sloterdijk, Peter 393 Sneis, Jørgen 408 f. Snow, Charles Percy 360 Soca, Susana 61 Sörgel, Herman 393 Soliman, Angelo 292 Sonino, Claudia 91, 93 Sonne, Abraham 347 f. Spengler, Oswald 18, 57 Spiekermann, Björn 372 f., 375 Spitzer, Leo 26, 35 Sprengel, Peter 372 Stadler, Friedrich 378, 385 f. Stark, Roland 376 Starobinski, Jean 61 Stehr, Hermann 250 Steiger, Claudio 401 Steinecke, Hartmut 347 Steiner, George 5, 45, 249, 255 f., 261 Steiner, Rudolf 393 Stendhal 50, 331 Sternheim, Thea 54 Stierli, Martino 392 Storch, Ursula 337 Storm, Theodor 345 Strauß, Botho 221 Strauss, Richard 375 Strelka, Joseph P. 347 Strnad, Oskar 338, 389 Stumpf, Carl 51 f., 287, 290 f., 295, 299, 366 Šufflay, Milan von 222 Susman, Margarete 56 f. Szondi, Peter 34, 42 f. Tagore, Rabindranath 312 at-Tahtawi, Rifa’a Rafi’ 213 Tamburini, Augusto 295 Tanpınar, Ahmet Hamdi 209 Tasso, Torquato 60, 314 Taussky-Todd, Olga 378 Taut, Bruno 393 Taylor, Kathleen 331 Theise, Antje 374 Thibaudet, Albert 61

429

Thibaut de Champagne, König von Navarra 299 Thomé, Horst 402 Tieck, Ludwig 300 Toal, Catherine 331 Török, May (s. a. Hanum, Djavidan) 328 f. Tolstoi, Lew N. 234, 308 Totzke, Ariane 396, 398 f. Trakl, Georg 60, 223 Tscharenz, Jeghische 196 Türk, Sami 205 f. Uhse, Bodo 162 f. Ungaretti, Giuseppe 50, 60, 73 Unterberger, Rebecca 388 Utz, Peter 5, 30–32, 34, 37, 42, 73, 113, 120, 134, 155 f., 165 f., 175, 192, 238 Valdemarca, Gioia 104 Valéry, Paul 9 f., 22 f., 45, 50 Vanni, Simona 90 Vargas Llosa, Mario 330, 332 Vatan, Florence 2 Vaudoyer, Jean-Louis 310 Verret, François 74 Vian, Boris 196 Vidler, Anthony 393 Viering, Jürgen 372 Vigliani, Ada 91, 93, 95, 104, 242–247 Viragh, Christina 310 Virchow, Rudolf 297 Vischer, Martin 334 Vogel, Carolin 374, 377 Voigt, Christian 263, 276, 329 Vrachliotis, Georg 382 Wagner, Otto 393 Wailly, Charles de 394 Waismann, Friedrich 386 Walcher, Bernhard 373 Waldeyer, Wilhelm von 296, 298 Walser, Robert 196, 351–355 Waltz, Christoph 334 Wandruszka, Mario 109, 187, 191 Wassermann, Jakob 228, 338 Watteau, Antoine 309 Weber Henking, Irene 6, 8 Weber, Max 363

430 Weibel, Peter 383 f. Weidner, Stefan 166, 214 Weigand, Wilhelm 50 Weiß, Ernst 308 f. Weitemeier, Bernd 27, 43 Welan, Manfried 347 Werfel, Franz 53, 164, 234 Werner, Juliane 391 Wertheimer, Max 383 Whiteside, Shaun 11, 16 f., 218, 250 Wieland, Christoph Martin 346 Wilde, Oscar 220, 234 Wilkins, Eithne 4, 6, 11, 15 f., 90 f., 120, 122, 132–140, 144, 148 f., 192, 242 f., 248 f., 252, 256–260, 320 Wilkins, Sophie 6, 185–187, 192, 248 f., 321 Willemsen, Roger 327 Williams, William Carlos 391 Wilmanns, Karl 262, 273 f., 278 Wittgenstein, Ludwig 21, 195, 336, 361, 379 f., 382, 384 Wölfflin, Heinrich 51, 393

Register

Wolf, Burkhardt 66, 342, 364, 366 Wolf, Norbert Christian 164, 232, 405 Wortsman, Peter 166, 249 f., 252, 256–259 Wundt, Wilhelm 295, 303 Youssef, Magdi 215 Zábrana, Jan 234 Zaryan, Kostan 195 Zeller, Rosmarie 84 f. Zerovnik, Martina 388 Zettl, Walter 87 Ziehen, Theodor 293, 296 Zille, Sebastian 398 f. Zima, Peter 208 Zimmermann, Robert 384 f. Zittel, Claus 405–408 Živojinović, Branimir 229 Zohlen, Gerwin 336 Zumthor, Paul 153 Zweig, Arnold 331 Zweig, Stefan 88, 223, 377