Mordende Mitbürger: Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus 3515123113, 9783515123112

Das Phänomen der teils bürgerkriegsartigen Konflikte in griechischen Poleis, das die Forschung unter dem Begriff „Stasis

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German Pages 362 [366] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Stasis
1.2 Hellenismus
1.3 Die Quellen
1.4 Grundlagen und Aufbau der Untersuchung
2. Die literarische Überlieferung
2.1 Das 4. Jahrhundert v. Chr.
2.1.1 Stasis und Alexanderzug
2.1.2 Stasis und Diadochenkriege
2.1.3 Agathokles und die Stasis auf Sizilien
2.2 Das 3. Jahrhundert v. Chr.
2.2.1 Lachares und die Stasis in Athen
2.2.2 Stasis oder Söldnerrevolte?
2.2.3 In Pyrrhos’ Schatten
2.2.4 Aristotimos und die Stasis in Elis
2.2.5 Aratos und die Stasis in Sikyon
2.2.6 Argos und Orchomenos
2.2.7 Interpretatio Graeca: Polybios und der karthagische Söldnerkrieg
2.2.8 Agis IV. und Kleomenes III.
2.2.9 Staseis nach dem Kleomeneskrieg
2.2.10 Staseis im Zweiten Punischen Krieg
2.2.11 Der Ägäisraum vor der Ankunft der Römer
2.3 Das 2. Jahrhundert v. Chr.
2.3.1 Staseis im Zweiten Makedonischen Krieg
2.3.2 Staseis im Antiochoskrieg
2.3.3 Staseis nach dem Antiochoskrieg
2.3.4 Staseis im Dritten Makedonischen Krieg
2.3.5 Die Griechen nach dem Perseuskrieg
2.3.6 Stasis und bellum Achaicum
2.3.7 Staseis im späten 2. Jahrhundert
2.4 Das 1. Jahrhundert v. Chr.
2.4.1 Staseis vor dem Ersten Mithridateskrieg
2.4.2 Staseis im Ersten Mithridateskrieg
2.4.3 Staseis nach dem Frieden von Dardanos
2.4.4 Stasis im römischen Bürgerkrieg
2.4.5 Stasis und pax Augusta
2.5 Ergebnisse: Stasisdiskurse und Realitäten
3. Die lokale Überlieferung
3.1 Die auswärtigen Richter
3.1.1 Staseis und ξενικὰ δικαστήρια
3.1.2 Fremde Richter in Telos
3.1.3 Fremde Richter in Kalymna
3.1.4 Segestaner in Nakone
3.1.5 Zwischenfazit
3.2 Weitere Beilegungsversuche
3.2.1 Mytilene und die Makedonen
3.2.2 Amnestie in Dikaia
3.2.3 Versöhnung? Das Beispiel Alipheira
3.2.4 Ordnung durch Ausschluss: Ptolemais
3.2.5 Die Zitadelle als Risiko: Sagalassos
3.2.6 Der Hegemon sorgt für Ruhe: Dyme
3.2.7 Augustus und die ἀσφάλεια: Knidos
3.3 Bürgereide
3.3.1 Der Eid der Chersonesiten
3.3.2 Der Eid der Itanier
3.3.3 Der Eid der ἀγελάοι von Dreros
3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen
3.4.1 Das Eukratesgesetz
3.4.2 Das Tyrannengesetz von Ilion
3.4.3 Mörder als Euergeten: Erythrai
3.4.4 Verweigerte Versöhnung: Μνησικακεῖν in Eresos
3.5 Ergebnisse: Prävention, Bewältigung und Akteure
4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte
4.1 Verbreitung und Ursachen
4.2 Stasis und hellenistische Demokratie
4.3 Stasis und Hegemonie
5. Ausblick
6. Bibliographie
Indizes
Personen
Sachen und Orte
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Mordende Mitbürger: Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus
 3515123113, 9783515123112

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Henning Börm

Mordende Mitbürger Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus

Alte Geschichte Franz Steiner Verlag

Historia – Einzelschriften 258

Henning Börm Mordende Mitbürger

historia

Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |

Journal of Ancient History | Rivista di storia antica

einzelschriften

Herausgegeben von Kai Brodersen (federführend)

Bernhard Linke | Mischa Meier | Walter Scheidel | Hans van Wees Band 258

Henning Börm

Mordende Mitbürger Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Bruchstück (132Ab) eines Ehrendekrets der Polis Telos für Richter aus Kos nebst Versöhnungsvereinbarung, Urteilen und Bürgereid (IG XII 4, 1, 132) © BBAW, Archiv Inscriptiones Graecae, Foto H. R. Goette (2003) Mit freundlicher Genehmigung von K. Hallof, Berlin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Satz: DTP + Text Eva Burri, Stuttgart Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12311-2 (Print) ISBN 978-3-515-12312-9 (E-Book)

Inhalt Vorwort

9

1.

Einleitung

11

1.1 1.2 1.3 1.4

Stasis Hellenismus Die Quellen Grundlagen und Aufbau der Untersuchung

13 22 30 33

2.

Die literarische Überlieferung

37

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

Das 4. Jahrhundert v. Chr. Stasis und Alexanderzug Stasis und Diadochenkriege Agathokles und die Stasis auf Sizilien

37 38 41 47

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8 2.2.9 2.2.10 2.2.11

Das 3. Jahrhundert v. Chr. Lachares und die Stasis in Athen Stasis oder Söldnerrevolte? In Pyrrhos’ Schatten Aristotimos und die Stasis in Elis Aratos und die Stasis in Sikyon Argos und Orchomenos Interpretatio Graeca: Polybios und der karthagische Söldnerkrieg Agis IV. und Kleomenes III. Staseis nach dem Kleomeneskrieg Staseis im Zweiten Punischen Krieg Der Ägäisraum vor der Ankunft der Römer

52 54 57 58 63 65 70 72 73 79 83 91

6

Inhalt

2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7

Das 2. Jahrhundert v. Chr. Staseis im Zweiten Makedonischen Krieg Staseis im Antiochoskrieg Staseis nach dem Antiochoskrieg Staseis im Dritten Makedonischen Krieg Die Griechen nach dem Perseuskrieg Stasis und bellum Achaicum Staseis im späten 2. Jahrhundert

93 93 95 99 105 117 122 128

2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5

Das 1. Jahrhundert v. Chr. Staseis vor dem Ersten Mithridateskrieg Staseis im Ersten Mithridateskrieg Staseis nach dem Frieden von Dardanos Stasis im römischen Bürgerkrieg Stasis und pax Augusta

131 131 133 147 150 157

2.5

Ergebnisse: Stasisdiskurse und Realitäten

162

3.

Die lokale Überlieferung

171

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5

Die auswärtigen Richter Staseis und ξενικὰ δικαστήρια Fremde Richter in Telos Fremde Richter in Kalymna Segestaner in Nakone Zwischenfazit

171 172 183 188 191 195

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7

Weitere Beilegungsversuche Mytilene und die Makedonen Amnestie in Dikaia Versöhnung? Das Beispiel Alipheira Ordnung durch Ausschluss: Ptolemais Die Zitadelle als Risiko: Sagalassos Der Hegemon sorgt für Ruhe: Dyme Augustus und die ἀσφάλεια: Knidos

200 200 204 209 214 215 219 222

3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3

Bürgereide Der Eid der Chersonesiten Der Eid der Itanier Der Eid der ἀγελάοι von Dreros

226 228 234 237

Inhalt

7

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4

Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen Das Eukratesgesetz Das Tyrannengesetz von Ilion Mörder als Euergeten: Erythrai Verweigerte Versöhnung: Μνησικακεῖν in Eresos

241 241 244 254 259

3.5

Ergebnisse: Prävention, Bewältigung und Akteure

268

4.

Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

273

4.1 4.2 4.3

Verbreitung und Ursachen Stasis und hellenistische Demokratie Stasis und Hegemonie

274 286 295

5. 6.

Ausblick Bibliographie

307 313

Indizes Personen Sachen und Orte

353 353 358

Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2017 von der Geisteswissenschaftlichen Sektion der Universität Konstanz angenommen wurde. Zu erheblichen Teilen entstand sie während eines einjährigen Aufenthaltes als Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“, das im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder an der Universität Konstanz eingerichtet wurde. Ein Vorwort bietet stets die erfreuliche Gelegenheit, Dankesschulden abzutragen. An erster Stelle ist dabei Ulrich Gotter (Konstanz) zu nennen, der allzeit ansprechbar war und von dessen Ratschlägen, Einwänden und Ermunterungen ich sehr profitiert habe. Neben ihm waren Frank Daubner (Trier) und Christian Mann (Mannheim) so freundlich, die Mühe auf sich zu nehmen, als Gutachter zu fungieren; beiden verdanke ich zahlreiche wichtige Vorschläge und Verbesserungen. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Historia-Einzelschriften. Viele aktuelle und ehemalige Konstanzer Kollegen – namentlich Benjamin Biesinger, Steffen Diefenbach, Marc Gehrmann, Stefan Hauser, Wolfgang Havener und Christian Seebacher – haben mir immer wieder Gelegenheit geboten, mich mit ihnen über die oftmals wenig erbaulichen Gegenstände dieser Untersuchung auszutauschen; auch ihnen gilt mein aufrichtiger Dank. Und last but not least sind Soi Agelidis (Bochum), Clifford Ando (Chicago), Eva Baumkamp (Münster), Boris Chrubasik (Toronto), Lisa Eberle (Tübingen), Egon Flaig (Berlin), Peter Funke (Münster), Hans-Joachim Gehrke (Freiburg), Matthias Haake (Münster), Ann-Cathrin Harders (Bielefeld), Moritz Hinsch (Berlin), Carsten Hjort Lange (Aalborg), Nino Luraghi (Oxford), Felix Maier (Würzburg), Jan Meister (Berlin), Stefan Rebenich (Bern), Roland Stein acher (Innsbruck), Johannes Wienand (Braunschweig) und Josef Wiesehöfer (Kiel) zu nennen, die mit mir bei verschiedenen Gelegenheiten die unterschiedlichsten großen und kleinen Probleme diskutiert und damit oft mehr geholfen haben, als ihnen selbst bewusst gewesen sein mag. Gewidmet ist dieses Buch meiner Familie. Henning Börm Konstanz, im Herbst 2018

Griechen – also erstens Mörder von Mitgriechen, zweitens kunstsinnig. Jacob Burckhardt

1. Einleitung In den Jahren 88 bis 86 v. Chr. befand sich die griechische Welt in Aufruhr. In der Polis Adramytteion in Westkleinasien agierte der Rhetor Diodoros als Anstifter eines Massakers, dem laut Strabon der gesamte Rat der Stadt zum Opfer fiel.1 In Kolophon kam es zu Unruhen, die in der Tyrannis eines gewissen Epigonos gemündet haben sollen,2 während in Tralleis die Söhne eines Mannes namens Kratippos gewaltsam die Macht ergriffen.3 Bürgerzwist gab es überdies auch in Magnesia am Sipylos, wo sich zu dieser Zeit zwei Parteiungen, die von Kretinas und Hermeias angeführt wurden, eine langwierige Auseinandersetzung lieferten, die erst an ein Ende gelangte, als sich Letzterer mit seinen Angehörigen ins Exil begab.4 Inschriften bezeugen, dass unterdessen ein Mann namens Chairemon und sein Sohn Pythodoros aus Nysa am Mäander fliehen mussten; auf ihre Köpfe wurde eine hohe Belohnung ausgesetzt, und sie suchten schließlich im Artemistempel von Ephesos Zuflucht.5 Auch auf der anderen Seite der Ägäis, im boiotischen Chaironeia, wurden in diesen Monaten Politiker erschlagen: Plutarch berichtet, angeführt von einem gewissen Damon seien 16 junge Männer über die Beamten (ἄρχοντες) hergefallen, als diese gerade das gemeinsame Abendessen einnahmen. Nach dem Blutbad flüchteten die Täter aus der Stadt und versteckten sich eine Weile in den Wäldern, bevor Damon von der Volksversammlung zurückgerufen, zum Vorsteher des Gymnasion gewählt und anschließend ermordet wurde.6 Sogar für die Südküste des Mittelmeeres sind Konflikte bezeugt: In der Polis Kyrene wurde der Aristokrat Leandros mitsamt seiner Familie getötet;7 in die 1 2 3 4 5 6 7

Strab. 13,1,66. Vgl. Magie 1950: 216, Berve 1967: 430, Bernhardt 1985: 59 f. und Niebergall 2011: 62. Plut. Luc. 3,3. Vgl. Bernhardt 1985: 52. Strab. 14,1,42. Plut. Mor. 809b–d. Syll.3 741 (vgl. I.Nysa 8). Vgl. Fiehn 1931, Quaß 1993: 130 und Marek 2010: 345. Plut. Kim. 1,2–2,2. Vgl. Ma 1994: 60–67, Kallet-Marx 1995a: 279–281, Mackay 2000, Franco 2003, Ellinger 2005 und Niebergall 2011: 63–65. Plut. Mor. 257a–e.

12

1. Einleitung

anschließenden Unruhen waren laut Flavius Josephus auch Mitglieder der örtlichen jüdischen Gemeinde verwickelt.8 Am heftigsten aber scheint, soweit man es der notorisch lückenhaften Überlieferung zum späten Hellenismus entnehmen kann, Athen gebeutelt worden zu sein: Zunächst errichteten offenbar die Anhänger des Philosophen Athenion eine Gewaltherrschaft über die Stadt, der viele Bürger zum Opfer gefallen sein sollen,9 und unmittelbar darauf folgte die „Tyrannis“ des Aristion, der seine Gegner angeblich in Scharen töten ließ, bis nach anderthalb Jahren römische Truppen die Polis eroberten und so seiner Herrschaft ein Ende setzten.10 All diesen Fällen ist gemeinsam, dass sie nur zufällig und in wenigen Sätzen überliefert worden sind, was die Annahme erlaubt, es habe sich lediglich um die Spitze eines Eisbergs gehandelt; vergleichbare Unruhen traten damals mutmaßlich auch in vielen anderen Städten auf. In der Tat bemerkt ein Autor wie Appian pauschal, es sei vielerorts zu Massakern (σφαγαί) gekommen,11 und insgesamt wurden die Vorgänge als so einschneidend empfunden, dass viele Poleis Kleinasiens noch bis weit in die Kaiserzeit hinein Zeitrechnungen benutzen sollten, die ihren Ausgang vom Jahr 85 v. Chr. nahmen, als sich die Verhältnisse endlich wieder etwas beruhigt hatten.12 Einerseits ist diese Gewalteruption auffällig, da sich die Vorgänge auf den begrenzten Zeitraum von nur etwa zwei Jahren konzentrieren. Andererseits aber stehen die Ereignisse pars pro toto für die oftmals blutigen Auseinandersetzungen in griechischen Städten, die den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden: Zwar war die Polis grundsätzlich ein Erfolgsmodell; seit ihrer Entstehung in archaischer Zeit verbreitete sie sich bis an die Küsten des Tyrrhenischen Meeres, in den Schwarzmeerraum und bis nach Baktrien, und letztlich gelangte die urbane Zivilisation des Altertums erst im 7. Jahrhundert n. Chr. an ihr Ende.13 Diese Langlebigkeit kann leicht dazu führen, die Kontinuitäten zu überschätzen, denn inmitten einer sich wandelnden Welt war ein solcher Erfolg nur durch stete Anpassung möglich; bei aller Diversität im Einzelnen war die ‚idealtypische‘ Polis daher in jeder Epoche jeweils von ganz unterschiedlichen Charakteristika gekennzeichnet.14 Doch zugleich blieb manches über die Jahrhunderte hinweg tatsächlich in auffälliger Weise präsent, und zu diesen Konstanten gehörte das Auftreten innerer Konflikte, wie sie um 88 v. Chr. ausbrachen – und die Furcht vor ihnen. 8 9 10 11 12 13 14

Ios. Ant. Iud. 14,7,2 f. Athen. 5,47–53 (= FGrHist 87 F 36). Vgl. Bugh 1992, Habicht 1995a: 299–310, Kallet-Marx 1995a: 205–220, Grieb 2008: 132–138 und Antela-Bernárdez 2015. App. Mithr. 40 f. Vgl. Deininger 1971: 255–258 und Thrams 2001: 393–397. Vgl. zur antiken Rezeption der Eroberung und Plünderung Athens durch Sullas Truppen Eckert 2016: 86–102. App. Mithr. 61. Vgl. Marek 2010: 351. Vgl. Haldon 1997: 99–117. Eine gute, problemorientierte Einleitung bietet Hansen 2006, der die Position vertritt, die Poleis seien Stadtstaaten („city-states“) gewesen; vgl. auch Hansen 2013. Zur Polis als Personenverband vgl. etwa Stein-Hölkeskamp 2015: 134–137. Vgl. zum Charakter der Polis daneben auch die Überlegungen bei Anderson 2009. Wenngleich selbstverständlich in vielen Einzelheiten inzwischen überholt, bietet Jones 1940 nach wie vor einen erhellenden Überblick über die Entwicklung der nachklassischen Polis. Seit dem 4. Jahrhundert wurden dabei „in vielfältiger Weise die Kollektivbezeichnungen δῆμος und πόλις in den Inschriften gang und gäbe, während man früher eher den Plural des Ethnikons verwendet hatte“ (Herrmann 1984: 112).

1.1 Stasis

13

Denn da die Polis in vielen Regionen der zentrale Bezugspunkt des Alltagslebens war, musste eine soziale Desintegration besonders dramatisch und existenzbedrohend wirken, weil sie selbst dann, wenn sie nicht blutig eskalierte, die Funktionsfähigkeit der Institutionen empfindlich beeinträchtigte und die Existenz der Stadt bedrohte. Autonomie und eine auch nur annähernde Autarkie, das theoretische Ideal, waren nur möglich, wenn man eine – mit Max Weber gesprochen – legitime Ordnung hervorbrachte,15 die wiederum Voraussetzung für eine effiziente Arbeitsteilung und die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und Urteilen war.16 Eskalierende soziale Desintegration konnte daher letztlich nicht nur zur weitgehenden Lähmung des Gemeinwesens, sondern auch zur Etablierung monokratischer Ordnungen, sei es eine Tyrannis, sei es die Unterwerfung unter eine auswärtige Macht, führen – etwas, das die meisten Hellenen eigentlich perhorreszierten.17 1.1 Stasis Das Phänomen der inneren Spaltungen und Konflikte in griechischen Poleis, die nicht immer, aber auch nicht selten in extremen Gewaltexzessen und regelrechten Bürgerkriegen gipfelten, wird in der Regel als „Stasis“ bezeichnet, auch wenn antiker und moderner Sprachgebrauch hier nicht deckungsgleich sind: Das griechische Wort στάσις ist ebenso schillernd wie unpräzise, seine jeweilige Bedeutung hängt stark vom Kontext ab.18 Weder verbirgt sich hinter jeder Stasis, von der antike Autoren berichten, ein physischer Gewaltausbruch, noch wurden umgekehrt Vorkommnisse dieser Art von den Zeitgenossen konsequent als Stasis bezeichnet.19 Eine eindeutige Grenze zwischen einem ‚normalen‘ politischen Konflikt und einer Stasis ist vor diesem Hintergrund und angesichts der Quellenlage oft schwer zu ziehen. Typisch für Staseis im Sinne der his15 16 17

18

19

Vgl. Weber 1922: I,1,5. Vgl. einleitend auch Linke 2004 und Maurer 2004: 19–30. Vgl. Flaig 2013a. In einer Gesellschaft, in der Partikularidentitäten und -loyalitäten stärker sind als die Identifikation mit der Gemeinschaft, können gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidungen kaum Legitimität erlangen: „Democratic states need something like a common identity“ (Taylor 1998: 143). Vgl. zum grundsätzlich ‚sekundären‘ Charakter der meisten monokratischen Ordnungen in Hellas und Rom – sie operierten in einem diskursiven Umfeld, das eine legitime Alleinherrschaft eigentlich nicht vorsah – die Überlegungen bei Gotter 2008a: 185 f. Vgl. auch Luraghi 2013a: 139–144 und Börm 2015: 13–15. Die unterschiedlichen Bedeutungen listet Hansen 2006 auf: „The word stasis actually means ‚stance‘; but it underwent shifts of meanings as follows: (1) stance, (2) standpoint, (3) group of people with the same standpoint, (4) in the plural: two or more groups with opposing standpoints, (5) the split between groups, and (6) civil war“ (125). Vgl. zur Etymologie von στάσις Caserta 2005. Vgl. nun auch Armitage 2017: 38–45, der annimmt, im Unterschied zum römischen bellum civile bezeichne στάσις keinen Bürgerkrieg: „In short, it was not ‚civil‘, nor did it necessarily entail the presence of ‚war‘ […]. When conflict took place within the community, they [d. h. die Griechen] called it a war within the extended clan, or emphylios polemos“ (39 f.). Diese Aussage führt allerdings in die Irre. Dass στάσις nicht einfach mit bellum civile übersetzt werden kann (sondern eher mit seditio), liegt auf der Hand; der griechische Begriff ist viel unpräziser. Dennoch gibt es nicht nur für den Hellenismus zahlreiche Quellen, die mit στάσις Vorgänge bezeichnen, bei denen es sich aus heutiger Sicht zweifellos um Bürgerkriege (siehe unten) handelt. Vgl. zu Stasis und bella civilia auch Lange 2017.

14

1. Einleitung

torischen Forschung war aber in jedem Fall die Existenz von fast immer genau zwei verfeindeten Lagern in der Stadt;20 und ein wichtiger Indikator, der die Abgrenzung von alltäglichen, das System und die soziale Kohäsion nicht bedrohenden Konflikten ermöglicht, ist der Rekurs auf Verrat: Wurde eine bestimmte Gruppe oder Position von der Gegenseite als grundsätzlich illegitim betrachtet, kann man zumindest von einer entscheidenden Vorstufe zur internen Gewalt sprechen, denn wenn die Polarisierung des Gemeinwesens einen gewissen Grad erreicht hatte, bedrohte dies die Handlungsfähigkeit der Institutionen und machte politische Aushandlungen und Kompromisse zunehmend unmöglich. Wie in den meisten Fällen sozialer Desintegration wurde überdies eine Befriedung dadurch erschwert,21 dass man dem Gegner vorwerfen konnte, sich mehr oder weniger frei für die jeweilige Seite entschieden zu haben und eben deshalb ein Verräter (προδότης) zu sein. Dies war ein zentraler Unterschied zur Gewalt zwischen präexistenten Gruppen, etwa verfeindeten Poleis, und erschwerte die Einnahme einer neutralen Position erheblich. Hinzu kommt, dass die Bestrafung der Antagonisten ihre Schuld demonstrierte und so die Legitimität des eigenen Handelns erwies.22 Eine solche Konstellation führte häufig zu Versuchen, die jeweils andere Parteiung physisch – durch Tötung oder, sofern man die Kontrolle über die Polisorgane erlangt hatte, durch Verbannung – aus der Stadt zu entfernen.23 Die Konsequenzen einer solchen Eskalation allerdings waren ihrerseits gravierend, da der Wunsch der Hinterbliebenen bzw. der Verbannten nach Rache und Revanche stets wie ein Damoklesschwert über dem Gemeinwesen schweben musste.24 Bereits ein flüchtiger Blick auf die Quellen zeigt, wie verbreitet daher die Stasisfurcht zumindest innerhalb der griechischen Eliten war. Insgesamt erlaubt die antike Überlieferung dabei grundsätzlich zwei Interpretationen, mit unterschiedlicher Axiomatik: Entweder man wertet Staseis als katastrophale 20

21 22 23

24

Vgl. Gehrke 1985: 245–249. Selbst wenn es mehrere Parteiungen gab, scheinen sich diese ab einer bestimmten Eskalationsstufe zumeist zu zwei Bündnissen vereint zu haben; Hdt. 1,60; Diod. 19,5,6. Es sei betont, dass hierbei die Rolle derjenigen Bürger nicht übersehen werden darf, die versuchten, dieser Desintegration entgegenzuwirken, um eine Katastrophe zu verhindern. Die dauerhafte Beilegung gewaltsamer interner Konflikte, die nicht mit dem eindeutigen Sieg einer Seite geendet haben, ist grundsätzlich überaus problematisch; vgl. etwa die Ausführungen bei Zartman 1993. Vgl. Gotter 2006: „In Bürgerkriegen, so zeigte sich, mußte mehr noch als sonst der Verlierer der Schuldige sein, denn anders ließ sich weder mit den eigenen Toten noch mit denen der anderen Seite leben“ (246). Vgl. zu dieser überzeitlich gültigen Beobachtung auch Veit – Schlichte 2011: 160–162. Vgl. zum Phänomen der „exclusionary stasis“ Gray 2015: 223–270. Ein charakteristisches Beispiel ist die wohl auf 357 v. Chr. zu datierende Verbannung von Philon und Stratokles aus Amphipolis, deren Besitz enteignet wurde, während man sie selbst und ihre Kinder für vogelfrei erklärte und jeden, der künftig ihre Partei ergreifen sollte, mit der gleichen Strafe bedrohte; Syll.3 194. Eine bemerkenswerte Inschrift aus dem 3. oder 2. Jahrhundert (SEG 53,565) scheint in den Zusammenhang der Rückkehr eines Verbannten namens Eurydamas in das phthiotische Theben zu gehören; der Volksbeschluss legt fest, man dürfe ihn nur dann (wieder) verbannen, wenn man stichhaltige Beweise dafür vorlegen könne, dass er Übles gegen die Polis plane, andernfalls müsse der Kläger ein Talent Silber bezahlen; vgl. die Diskussion bei Rzepka 2010 und Gray 2015: 134–136. Vgl. zu den Verbannten in der griechischen Welt Telschow 1952, Seibert 1979: 353–407 und Garland 2014: 79–98 sowie jetzt Gray 2015: 293–379. Eine Reintegration war nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen schwierig; vgl. Gehrke 1985: 210–236, Lonis 1991, Loraux 2002: 145–169 und Dössel 2003: 101–144.

1.1 Stasis

15

Ausnahmen, die lange Phasen von innerem Frieden und weitgehend gewaltlosem politischen Wettstreit unterbrachen – dies ist insbesondere in Hinblick auf das klassische Athen eine verbreitete Position. Oder aber man interpretiert Stasis als ein strukturell bedingtes Phänomen, das potentiell jede griechische Stadt betraf, und geht von Konflikten aus, die in vielen Poleis unter der Oberfläche brodelten, oft nur mit Mühe unter Kontrolle gehalten werden konnten und in geeigneten Momenten eskalierten, weshalb das politische Leben auch in Gemeinwesen, die von offenen Staseis verschont blieben, vielfach einem steten Tanz auf einem Vulkan glich. Eine abschließende Antwort lässt sich angesichts der schwierigen Quellenlage kaum geben; die vorliegende Studie wird aber für die zweite Lesart argumentieren. Die Bedeutung der Stasis für das Verständnis der griechischen Polisgesellschaft liegt in jedem Fall auf der Hand,25 und die historische Forschung hat sich dem Problem bereits vor Jahrzehnten zugewandt, ohne dass es allerdings gelungen wäre, sich über den Charakter und die eigentlichen Ursachen der Auseinandersetzungen zu verständigen. Grob gesprochen, stehen einander drei Ansätze gegenüber, die man vereinfachend als das ‚außenpolitische‘, das ‚materialistische‘ und das ‚elitäre‘ Stasismodell bezeichnen kann: Dass außenpolitische und ökonomische Faktoren im Kontext einer Stasis ebenso eine Rolle spielen konnten wie Rivalitäten und Fehden, ist dabei offensichtlich, zumal der Antike das Konzept einer scharfen Trennung von politischer und ökonomischer Sphäre ohnehin unbekannt war; durchaus umstritten ist hingegen die Gewichtung dieser Aspekte.26 So besteht etwa darüber, dass es häufig zu einer engen Verzahnung innerer und äußerer Konflikte kam, in der Forschung grundsätzlich Einigkeit.27 Die Extremposition allerdings, es seien „ausschließlich“ externe Faktoren gewesen, die für den Ausbruch von Bürgerzwist verantwortlich gewesen seien, ist vor allem mit dem Namen Eberhard Ruschenbusch verbunden, der 1978 innere Machtkämpfe und ökonomische Probleme als handlungsleitende Motive der Akteure ausschließen wollte und Stasis als Epiphänomen außenpolitischer Verwicklungen verstand.28 Zwar hat sich dieser Ansatz in seiner Radikalität nicht durchsetzen können, doch da auch die Quellen die Konfliktparteien in den Städten häufig mit externen Mächten in Verbindung bringen, besitzt der Zugang dennoch eine erhebliche Suggestivkraft: Wenn etwa Jürgen Deininger 1971 die Sta25

26 27 28

Vgl. etwa Ober 2003a: „Stasis was a terror that perpetually stalked Greek political landscape […]. Politics, seen from this perspective, is the attempt to manage, through imposing a standard system for the administration of justice, the dangers associated with diversity. That, I think, is the central point of much Greek political theory and practice“ (251). Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch Figueira 1991, der versucht, mehrere Staseis des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. auf einer Skala einzuordnen, die „from sociopolitical conflict to pure political conflict“ (296) reicht. Vgl. etwa Legon 1966: 180–190, Gehrke 1985: 268–308 und Winterling 1991: 220–222. Vgl. die pointierte Formulierung bei Ruschenbusch 1978: „Alle inneren Auseinandersetzungen und Verfassungswechsel der Jahre 454–346 waren ausschließlich außenpolitisch motiviert, und zwar derart, daß die Außenpolitik den Anlaß zur Auseinandersetzung abgab, und nicht etwa so, wie es Thukydides darstellt, daß die Außenpolitik nur zum Austrag innenpolitischer Gegensätze benutzt wurde“ (32). Gegen diese Position wurden bereits früh Einwände erhoben; vgl. etwa Funke 1980, dessen am Beispiel von Rhodos formulierte Kritik Ruschenbusch 1982 zurückwies. Vgl. auch die Erwiderung Funke 1984.

16

1. Einleitung

seis des langen 2. Jahrhunderts v. Chr. in einer einflussreichen Arbeit als „politischen Widerstand gegen Rom“ deutete und davon sprach, die römische Expansion sei gleich einem „Spaltpilz“ in die Poleis eingedrungen und habe dort Richtungskämpfe zwischen Freunden und Feinden Roms ausgelöst, so ging auch er letztlich von einem Primat der Außenpolitik aus.29 Und was sich in der Tat kaum bestreiten lässt, ist, dass eine entsprechende Etikettierung für die Beteiligten zumindest eine sehr attraktive Möglichkeit darstellte, den Konflikt zu strukturieren und zu begründen.30 Die Abgrenzung gegen einen äußeren Feind war ein mächtiges Instrument, um innenpolitische Gegenspieler, die tatsächlich oder vermeintlich mit diesem verbunden waren, als Verräter zu brandmarken und ihre Position zu delegitimieren; die Vorzüge der Anlehnung an eine Hegemonialmacht wiederum liegen auf der Hand. Eher als Anlass denn als Ursache von Staseis verstand 1973 hingegen Alfred Heuss die äußere Situation der griechischen Städte, in denen ein „Klassenkampf in Permanenz“, eine „stationäre Revolution“ geherrscht habe. Diese sei vor allem angesichts fehlender Ressourcen in der Regel nur dann zum Ausbruch gelangt, wenn sich eine entsprechende außenpolitische Konstellation ergeben habe. Dieser Fall sei insbesondere während des Peloponnesischen Krieges (431 bis 404) eingetreten, der daher vielerorts den Ausbruch innerstädtischer Gewalt erst ermöglicht habe.31 Diese Position lässt sich besser als die Idee vom Primat der externen Faktoren mit der Beobachtung vereinbaren, dass eben nicht in sämtlichen Poleis, die sich einer vergleichbaren außenpolitischen Situation gegenübersahen, tatsächlich Staseis ausbrachen – ein entscheidendes Argument für die Annahme, dass äußere Faktoren eher als Katalysatoren für bereits bestehende innere Spannungen fungierten.32 Sucht man die eigentlichen Ursachen von Stasis daher in den Poleis selbst, so liegt es nahe, ein zweites Interpretationsangebot der Quellen aufzugreifen und sozioökono29

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Vgl. Deininger 1971: 39. Bereits Mommsen 1902 hatte in diese Richtung gedacht: „Daß alle national Gesinnten unter den europäischen wie unter den asiatischen Griechen jetzt [d. h. im Perseuskrieg] im Herzen makedonisch waren, versteht sich von selbst“ (760 f.). Dieser Argumentationsstrang wird in der aktuellen Forschung, soweit ich sehe, kaum noch in dieser Radikalität vertreten, schwingt aber mitunter durchaus noch mit; so macht etwa Rhodes 2015a neben politischen Auseinandersetzungen zwischen Oligarchen und Demokraten vor allem die „polarisation of the Greek world, between Athens and Sparta for much of the fifth century, between Athens-plus-Sparta and Thebes in the middle of the fourth century, between Athens and Macedon after that“ (46) für die Instabilität in den Poleis verantwortlich. Deiningers Verdienst ist es, deutlich gemacht zu haben, dass es sich bei den Konflikten nicht, wie die Quellen teils suggerieren und wie es es Fustel de Coulanges bereits 1858 in einem einflussreichen Werk postuliert hatte, um einen Konflikt zwischen prorömischen Aristokraten und „patriotischem“ Demos handelte, sondern dass der entscheidende Riss zumeist mitten durch die Oberschicht verlief; vgl. Deininger 1971: 15–30. Erst Gruen 1984 machte dann deutlich, dass es bei den Auseinandersetzungen innerhalb der Eliten überdies nicht primär um Außenpolitik gegangen sei (332). Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch die heute nur noch selten rezipierte Arbeit Losada 1972, der im (sehr engen) Anschluss an Thukydides die Rolle von prospartanischen und proathenischen „Fünften Kolonnen“ während des Peloponnesischen Krieges untersuchte, neben der Außenpolitik aber auch andere Faktoren, wie insbesondere den Gegensatz zwischen Oligarchen und Demokraten, berücksichtigte und letztlich zu keiner geschlossenen Synthese gelangte. Heuß 1973: 19–24. Zugleich spricht dieser Befund natürlich auch gegen die Annahme, alle Poleis seien von einer stationären Revolution betroffen gewesen.

1.1 Stasis

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mische Probleme,33 vor allem „Klassenkämpfe“ zwischen Wohlhabenden (εὔποροι) und Armen (πένητες), in das Zentrum der Analyse zu rücken. So postulierte bereits Robert von Pöhlmann in seiner ab 1893 in mehreren Auflagen erschienenen Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ in den Poleis sowie die Existenz quasi-sozialistischer Gruppierungen, denen allerdings keineswegs seine Sympathie galt: Vielmehr habe es sich um „Pöbel“ gehandelt, um ein „Element sozialer Zersetzung“, dessen „charakteristische Eigenart in einer instinktiven Feindschaft gegen das Gebäude der Zivilisation“ bestanden habe.34 Es versteht sich, dass die marxistische Forschung zwar ebenfalls Klassengegensätze als entscheidende Faktoren ansah, aber zu einer grundlegend anderen Einschätzung der Akteure gelangte.35 Als der bedeutendste Vertreter dieser Position ist dabei zweifellos Geoffrey de Sainte Croix anzusehen, der 1981 in einer monumentalen und materialreichen Untersuchung Stasis als „class struggle on the political plane“ interpretierte,36 wobei die Eigentümer der Produktionsmittel den Abhängigen bzw. Ausgebeuteten gegenübergestanden hätten.37 Das politische Verhalten sei wesentlich, wenngleich nicht ausschließlich, von der Klassenzugehörigkeit bestimmt worden; so seien etwa die archaischen Tyrannen oft von der Hoplitenschicht unterstützt worden,38 während sich die Entwicklung der Demokratie und der Kampf für dieselbe dem Bestreben verdankt hätten, sich gegen Ausbeutung zu schützen.39 Folgerichtig wurden die Auseinandersetzungen der späten Klassik und des Hellenismus von ihm als Epiphänomene einer absichtlichen Zerstörung der Demokratie durch die besitzenden Klassen interpretiert, die sich zu diesem Zweck zunächst mit den makedonischen Königen und dann mit den 33

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Als Sonderfall sind dabei wohl Auseinandersetzungen wie jene zu betrachten, die um 280 Priene erschütterten, als sich eine offenbar nichtgriechische unterprivilegierte Gruppe, die als πεδιεῖς bezeichnet wird, gewaltsam gegen die Bürger erhob und dabei anscheinend Unterstützung durch andere Poleis erhielt; I.Priene 14. Vgl. zu den Vorgängen Burford 1993: 206 f. Von Pöhlmann 1925: 157. Entschiedene Kritik an dieser anachronistischen Betrachtungsweise übte bereits Passerini 1930, der allerdings seinerseits annahm, Staseis seien nicht zuletzt durch „la furia della canaglia“ (279) verursacht worden. Lesenswert sind ungeachtet ihres Alters noch immer die Ausführungen bei Tarn 1924. Vgl. etwa Oliva 1974. Vgl. de Ste. Croix 1981: 278–326. Absolut lesenswert ist die gründliche Rezension Nippel 1984, der das Werk aufgrund der „Parteinahme für die Schwachen und Unterdrückten aller Zeiten“ als „eines der ungewöhnlichsten altertumswissenschaftlichen Bücher überhaupt“ (623) bezeichnet und die herausragende Quellenkenntnis lobt, zugleich aber nicht mit grundsätzlicher Kritik spart. Vgl. daneben auch Schuller 1983. De Ste. Croix 1981: 42–69. Vgl. aber die Einschränkung: „Of course I have no wish to pretend that class is the only category we need for the analysis of Greek and Roman society“ (45). Dieser Position liegt letztlich die Annahme zugrunde, dass Angehörige einer sozioökonomischen Elite im Zweifelsfall ihre gemeinsamen Interessen gegen die ‚niederen Klassen‘ durchsetzen und verteidigen, statt vor allem Konflikte untereinander auszutragen. De Ste. Croix 1981: „Class struggle on the political plane, then, was above all in most cases for control of the state. If in a Greek polis the demos could create and sustain a democracy that really worked, like the Athenian one, they could hope to protect themselves to a high degree and largely to escape exploitation“ (287). Als antiker Kronzeuge für die Annahme, Staseis seien im Kern ökonomische Konflikte, dient ihm dabei Aristoteles (69–80).

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1. Einleitung

Römern verbündet hätten.40 Während de Sainte Croix also davon ausging, Klassenkämpfe seien ein permanentes Problem der griechischen Geschichte gewesen, vertrat Alexander Fuks in seinen Arbeiten hingegen die Ansicht, ökonomische Konflikte seien in Hellas erst seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. virulent geworden.41 Fortan allerdings sei es zu zahlreichen Versuchen gekommen, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen durch „Revolutionen“ gewaltsam zu verändern.42 Vor allem in der angelsächsischen Forschung erfreut sich das Konzept des „class struggle“ – nicht notwendig mit marxistischen Implikationen – nach wie vor einer erheblichen Beliebtheit, wenn es um die Erklärung von Staseis geht.43 In Deutschland hat sich 2006 insbesondere Armin Eich um eine differenzierte Verteidigung dieser Position bemüht, indem er die Bedeutung ökonomischer Motive und Ziele im Kontext der Stasis betonte und dafür plädierte, die entsprechenden Aussagen der antiken Autoren grundsätzlich ernst zu nehmen.44 Zwar gehe es ihm keineswegs „um eine Monokausalität neuen Stils“, dennoch sei es wichtig, Stasis nicht als reinen Machtkampf zu begreifen, da die an den Konflikten beteiligten Gruppen „anhand sozialer, nicht politischer Kriterien zu beschreiben“ seien und sich auch die jeweiligen „Eigenzuordnungen“ der Protagonisten hieran orientiert hätten. Allerdings gebe es in der Tat keine „eindeutige Korrelation zwischen sozialökonomischer Interessenlage und Parteienwahl“ – kurzum: Die in seinen Augen von großen Teilen der Forschung vernachlässigten sozioökonomischen Hintergründe innerstädtischer Konflikte wollte Eich mit seiner Arbeit wieder stärker in die Analyse der Stasis aufgenommen wissen.45 40

De Ste. Croix 1981: 293. Eine stattdessen mit den Kategorien „Stand“ und „Status“ operierende Analyse, wie sie, aufbauend auf Max Weber, vor allem Moses I. Finley vorgeschlagen hatte, wurde von ihm dementsprechend abgelehnt; vgl. de Ste. Croix 1981: 85–96. Vgl. auch Mann 1986: 216–223 und Morley 2004: 71–87. 41 Vgl. etwa die einigermaßen erstaunliche Behauptung bei Fuks 1984: „The classical age in the history of the Greek polis, from the Persian Wars to the end of the Peloponnesian War, was a time of balance and tranquility“ (12). Möglich wird diese Aussage nur, weil Fuks eine gegensätzliche Passage bei Thukydides (3,84) als spätere Interpolation ansieht (190–197). Den Kern der Sache scheint hingegen eher Jacob Burckhardt getroffen zu haben, der beklagte, das 5. Jahrhundert sei nicht nur die „Zeit der höchsten Kulturblüte“ gewesen, sondern zugleich auch „die der greulichsten Exekutionen“ (Burckhardt 1900: 295). Vgl. Hornblower 2002, der zu bedenken gibt, dass die Quellenlage für das 4. Jahrhundert günstiger sei als für die vorangegangene Zeit (185 f.), weshalb sich möglicherweise ein verzerrtes Bild ergebe. 42 Vgl. Fuks 1984: 9–39. 43 Vgl. etwa (insbesondere für den Hellenismus) Briscoe 1967, Oliva 1974, Mendels 1982, Walsh 2000, Martínez-Lacy 2000 und Cartledge 2012: 323. Auch Thériault 1996 macht „les conflits sociaux sous-jacents entre riches et pauvre, c’est-à-dire entre citoyens possédants et non-possédants“ (5), für Stasis verantwortlich. 44 Eich 2006: 509–603; vgl. auch Eich 2017. In eine ähnliche Richtung gingen bereits die Überlegungen bei Finley 1986: „Wenn auf der einen Seite vielleicht weniger Unsinn über die Übel des antiken ‚Sozialismus‘ geschrieben wird, so bleibt auf der anderen Seite eine paradoxe Verdächtigung unserer (die Perspektive der Oberschicht spiegelnden) Quellen festzustellen, denen paradoxerweise die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird“ (139). „Materielle Fragen liegen nach meiner These hinter dem Interesse des Volkes an Verfassungsformen, Wahlen und politischen Konflikten“ (141). 45 Konzise zusammengefasst findet sich Eichs Position in Form von neun „Thesen“ am Ende seiner Untersuchung; vgl. Eich 2006: 599–603. Eichs detaillierte Ausführungen, die ausdrücklich zum Ziel haben, „die in den letzten Jahrzehnten in der althistorischen Forschung dominierende Position, derzufolge ökonomisch-soziale Gegebenheiten unter den Ursachen, die zur ‚Spaltung‘ von Polisgesellschaften beigetra-

1.1 Stasis

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Diese Kritik ist nur vor dem Hintergrund des Siegeszuges zu verstehen, der sich seit den 1980er Jahren vor allem in der deutschsprachigen Forschung in Hinblick auf den dritten Erklärungsansatz beobachten lässt, den Eich als „elitäres Stasismodell“ bezeichnet und der in vorderster Linie von Hans-Joachim Gehrke vertreten worden ist. Dieser hatte 1985 Staseis als „innere Kriege“ klassifiziert46 und bezweifelt, dass die pauschalen Aussagen der literarischen Quellen zu ökonomischen Ursachen der Konflikte allzu ernst zu nehmen seien;47 Gehrke betonte, dass es sich zumindest bei den entscheidenden Protagonisten der verfeindeten Parteiungen in der Regel keineswegs um Mitglieder verschiedener sozialer Schichten oder Klassen, sondern um Elitenangehörige gehandelt habe, die sich jeweils mit ἑταιρείαι umgeben hätten.48 Bei diesen habe es sich um „einen kleinen, fest umrissenen Kreis, der den Kern bildete, um den sich mit einem unterschiedlichen Maß an Engagement Anhänger scharten“, gehandelt, der „keineswegs eine genuin oder primär oligarchische Ausrichtung“ aufgewiesen habe.49 Vielmehr sei es den Hetairien vornehmlich um die Ausschaltung ihrer Kontrahenten und um die Behauptung bzw. Erringung der Kontrolle über ihre Polis gegangen – „Repräsentanten einer politischen Programmatik“ seien sie hingegen nicht gewesen.50 Die Möglichkeit, zu diesem Zweck größere Gruppen zu mobilisieren, sei dabei seit der Klassik erheblich größer geworden, was die Intensität der Konflikte erhöht habe.51 Wenngleich Gehrke nicht bestritt, dass außenpolitische52 und sozioökonomische53 Faktoren bei den Auseinandersetzungen durchaus eine – allerdings seines Erachtens in der Regel nicht formativ entscheidende – Rolle spielen konnten, war er einem kulturanthropologischen Ansatz verpflichtet, der nach den Bedingungen fragte, die dafür sorgten, dass insbesondere die griechischen Eliten zur Bildung verfeindeter Gruppierungen geneigt hätten,54 die ihre

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gen haben, keine Rolle spielten, in Frage zu stellen“ (509), sind beeindruckend und vielfach erhellend, auch wenn sie in eine andere Richtung gehen als die vorliegende Untersuchung, die einen stärker diskursanalytischen Ansatz verfolgt (vgl. Kapitel 4.1). Vgl. allerdings Migeotte 2008, der Vorbehalte äußert, „parce que la critique des études antérieures paraît excessive, enfin parce que la grille finale d’analyse, où l’on trouve plusieurs lieux communs, ne semble pas très utile“ (520). Kritik hieran äußert etwa Dössel 2003: 12. Vgl. Gehrke 1985: „Es handelt sich allgemein um Schriften publizistisch-rhetorischer und philosophischer Provenienz mit einer stark ausgeprägten demokratiekritischen Tendenz […]. Echte Beispiele hatte man nicht“ (325). Vgl. Gehrke 1985: 328–335. Gehrke 1985: 331 f. Vgl. Gehrke 1985: 336. Vgl. Berger 1992: 57–61, der auch für die westgriechischen Poleis, die Gehrke in seiner Untersuchung ebenso ausgeklammert hatte wie Sparta und Athen, einen vorrangig „politischen“ Charakter der Konflikte konstatierte: „Citizens primarily struggled to acquire better positions within the city’s centers of power […]. The central aim of stasis, therefore, was political“ (57). Vgl. Gehrke 1985: 5. Ähnlich hatten bereits Heuß 1973: 17–19 und Lintott 1982: 254 argumentiert. Vgl. aber Hölkeskamp 1989: 152, der betont, schon in der Archaik seien vor allem inneraristokratische Konflikte zu Staseis eskaliert. Vgl. Gehrke 1985: „Die Außenpolitik ist ein Mittel des inneren Kampfes“ (286 f.). Vgl. Gehrke 1985: „Die mögliche Existenz von genuinen Klassengegensätzen […] soll damit gar nicht geleugnet werden. Nur spiegeln sich diese in den Stasiskonstellationen gerade nicht wider“ (321). Gehrkes Ansatz ist dabei explizit von der Soziologie beeinflusst. Vgl. Coser 1965: „Wenn […] ein einziger Konflikt die Gruppe spaltet und die Mitglieder in zwei feindliche Blöcke teilt – und dies scheint in Gruppen mit enger Beziehung eher der Fall zu sein –, wird diese einzige Spaltung höchstwahrscheinlich

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1. Einleitung

Poleis unter Umständen in den Abgrund eines Bürgerkrieges reißen konnten. Stasis wurde also als eine spezifisch hellenische Variante innerstädtischer Konflikte aufgefasst. Gehrke verwies in diesem Zusammenhang auch auf das griechische Verständnis von Rache (τιμωρία), die einen grundsätzlich überbietenden Charakter gehabt und daher mutmaßlich zur raschen Eskalation von Konflikten beigetragen habe;55 ein Ansatz, der später auch von Forschern wie David Cohen, Nick Fisher und Egon Flaig verfolgt werden sollte.56 Mogens Herman Hansen konstatierte 2004 eine nur schwach ausgeprägte Loyalität der Eliten zu ihrer jeweiligen Polis, deren Wohlfahrt man offenbar weitgehend bedenkenlos dem Streben nach Macht und Ehre untergeordnet habe.57 Auch Peter Funke, 58 Andrew Lintott, 59 Winfried Nippel 60 und Aloys Winterling 61 gelangten zu dem Ergebnis, dass der Elitenrivalität primäre Bedeutung für die den Staseis zugrundeliegenden Konflikte zukomme, wobei sie dem Einfluss sozioökonomischer und außenpolitischer Faktoren daneben unterschiedlich viel Gewicht einräumen wollten.62

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die grundlegende Übereinstimmung in Frage stellen und so die dauerhafte Existenz der Gruppe gefährden“ (92). Das Modell einer „Zirkulation von Eliten“ ist bereits 1916 von Vilfredo Pareto entwickelt worden; Pareto ging davon aus, dass es dann, wenn der Personenaustausch zwischen der „herrschenden“ und der „nicht-herrschenden Elite“ gestört sei, zu Konflikten komme, bei denen man sich der Unterstützung der „Masse“ zu versichern suche; vgl. Pareto 1962: 148–155. Vgl. Gehrke 1987: „Dieses Ethos […] hat in der Regel noch eine kompetitive Seite, die in dem spezifisch agonalen Denken der Griechen ihren Sitz hatte […]. So bemühte man sich darum […], Übles nicht mit Üblem, sondern mit noch Üblerem zu erwidern“ (133). Nicht nur sei die Verpflichtung zur Rache erblich, sondern „Racheloyalität“ auch ein wesentlicher Bestandteil von Freundschaft gewesen. Vgl. auch Flaig 1998: 127 f. Simonton 2017: 53 betont, dieses Denken sei keineswegs nur auf die wohlhabende Elite begrenzt gewesen. Schuller 2002 bezeichnet Gehrkes „Betonung der bedeutenden und akzeptierten Rolle“ der Rache als „anti-griechenbegeistert“ (88). Vgl. Cohen 1995a: 25–33, Fisher 2000: 103–113 und Flaig 2006: „Die eigenhändige Rache führt zur Gewaltanwendung innerhalb der Bürgerschaft und zur Tötung von Mitbürgern. Sie provoziert Gegenschläge und befördert damit Eskalationen, die den inneren Frieden einer Gemeinschaft außer Kraft setzen und damit die Grundlagen des Zusammenlebens einer Polis zerstören“ (50). Auf die unlängst geäußerte These, das antike griechische Recht bringe „die Gefühle um Ehre und Rache erst hervor, die es nach heutiger Ansicht eigentlich bändigen soll“ (Ruch 2017: 390), kann an dieser Stelle nicht angemessen eingegangen werden. Vgl. Hansen 2004. Loraux 2002 nimmt an, die griechische Polis sei grundsätzlich „divided through discourse“ gewesen, habe aber zugleich über Strategien verfügt, um Stasis einzuhegen, und betont insbesondere die Rolle, die die griechische Familie für die Konflikte und ihre Eindämmung gespielt habe; vgl. hierzu auch Loraux 1997. Gerade in Athen habe man zudem – vor allem nach 403 – gezielt eine Politik des Leugnens und Verschweigens von Stasis verfolgt. Vgl. Funke 1980. Auch wenn Lintott die Bedeutung anderer Faktoren nicht bestreitet, konstatiert er dennoch, die Konflikte seien wesentlich „by the pursuit of glory but not by the material gains in prospect“ befeuert worden (Lintott 1982: 255). Vgl. Nippel 1980: 96–98. Winterling 1991. Ein gutes Beispiel für einen Ansatz, der keinen Aspekt besonders privilegiert, ist dabei Bleckmann 2016, der für die Stasis auf Korkyra einerseits „Auseinandersetzungen innerhalb der korkyräischen Führungsschicht“ verantwortlich macht, andererseits aber davon spricht, die „Bürgerkriegsauseinandersetzungen folgten damit nicht nur sozioökonomischen Konfliktlinien zwischen Armen und Reichen, sondern wurden von den Konfliktlinien der gegensätzlichen außenpolitischen Präferenz überlagert“ (57 f.). Kagan 2003: 114–118 schließt sehr eng an Thukydides an und spricht von „a result of personal greed, ambition, and lust for power“ (118).

1.1 Stasis

21

Im Grundsatz ordnet sich die Mehrzahl der neueren Studien zur Stasis in diesen Forschungsstrang ein.63 2015 hat allerdings Benjamin Gray vorgeschlagen, zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Erklärungsansätzen für Stasis zu differenzieren, die von den Griechen selbst formuliert worden seien und zugleich auf verschiedene Konzeptionen des Charakters der Polis schließen ließen: Zum einen gebe es die Vorstellung, Stasis sei „a collective madness or disease, for which individuals could not reasonably be held responsible“, zum anderen existierten aber auch Ansätze, das bewusste Fehlverhalten einzelner Bürger für die Katastrophe verantwortlich zu machen. Für Gray liegen diese grundsätzlich unterschiedlichen „civic political cultures“ in spätklassischen und frühhellenistischen Städten auch an der Wurzel vieler Konflikte, die er also ebenfalls ‚politisch‘ interpretiert, die aber nicht bloße Machtkämpfe gewesen seien, sondern Aushandlungsprozesse, bei denen es letztlich um den Charakter der Polis und die Rolle der Bürger gegangen sei.64 Die vorliegende Arbeit schließt insofern an das von Gehrke entwickelte Modell an, als sie von der Hypothese ausgeht, eine weitgehende Unfähigkeit der griechischen Eliten, allgemein und dauerhaft akzeptierte Kriterien zur Binnenhierarchisierung zu entwickeln, sei eine entscheidende, wenngleich nicht alleinige, Wurzel der meisten Konflikte gewesen.65 Die im Folgenden weitgehend synonym verwendeten Begriffe „Elite“, „Oberschicht“ oder „Aristokratie“ – hier ausdrücklich nicht als Erbadel verstanden – sind dabei natürlich unscharf und grundsätzlich problematisch, ungeachtet der Existenz zeitgenössischer Termini wie εὐγενεῖς oder χρηστοί.66 Eindeutige Zugehörigkeitskriterien fehlen, und bei Definitionsversuchen67 hat man sich auf ein Konglomerat von Merkmalen zu beziehen, von denen keines unverzichtbar oder hinreichend ist. Im 63

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Vgl. etwa Meier 1984: 658–662 und Schmitz 2014: 95–110. Dotter 2014 bleibt bei der Diskussion der Ursachen für die Staseis des 5. Jahrhunderts alles in allem unentschieden und macht „Partizipation des demos, politische Desintegration der Elite, Bipolarität und Demagogie“ (103) verantwortlich, wobei er zumindest implizit einem Konflikt zwischen Demos und Elite eine zentrale Rolle zuspricht, da die „Radikalisierung“ der Demokratie die Oberschicht entfremdet und damit die „innerstaatliche Einheit“ zerstört habe (104). Vgl. Gray 2015: 54 f. „This approach represents a departure from the dominant scholarly tendency to present exclusionary stasis principally as a result of acute power struggle between self-interested citizens, on whose antagonistic prominent norms of citizenship had little effect“ (385 f.). Vgl. nun Driscoll 2016: 142–152, der gegen Gray für „a depoliticized, non-constitutional reading of civil strife“ plädiert; in Fällen wie Dikaia (SEG 57,576) gebe es „no hint of concern for the political institutions of the state“ (148); sowie Blank 2018. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 4.1. Unter anderem ist dabei zu diskutieren, wie sich die Hinweise auf ökonomische Faktoren wie insbesondere Überschuldung – sowohl in literarischen als auch in epigraphischen Quellen (vgl. etwa IP Ark 24) – in dieses Paradigma einordnen lassen. Nicht als synonym werte ich hingegen einen Ausdruck wie „Oligarchen“, da es sich hierbei spätestens im Hellenismus um eine reine Fremdbezeichnung handelte, die oft polemisch verwendet wurde. Vgl. einführend zur hellenistischen „Führungsschicht“ Scholz 2008: 76–82. Verwiesen sei etwa auf die „Arbeitsdefinition“, derzufolge es sich bei den lokalen Eliten des Hellenismus um „eine nicht notwendig homogene Minderheit, die aus ihrer politisch, sozial oder ethnisch begründeten Gesellschaftseinheit hervorgeht“, gehandelt habe: „Sie kann sich zu verschiedenen Zeiten nach unterschiedlichen Kriterien zusammensetzen und bestimmt Entscheidungen maßgeblich mit […], und sie versucht, ihre Handlungen gegenüber der Mehrheit ihrer Gesellschaft dauerhaft zu legitimieren und somit ihre privilegierte Stellung zu perpetuieren“ (Dreyer – Mittag 2011: 10).

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1. Einleitung

Anschluss an Chris Wickham 68 zähle ich hierzu grundsätzlich vor allem die folgenden Elemente: Abstammung, eine Position in einer offiziellen Hierarchie, überdurchschnittlicher Grundbesitz, Nähe zu einem Herrscher, die Anerkennung durch die peers – wohl der wichtigste Aspekt69 – sowie ein entsprechender Lebensstil.70 Dabei ist stets zu bedenken, dass jeder Bürgerzwist – nicht nur in Hellas – grundsätzlich eine ausgeprägt irrationale Komponente besitzt; und der einer Stasis zugrundeliegende Hass dürfte sich dabei nicht selten gegen jene gerichtet haben, die als derart überlegen wahrgenommen wurden, dass man ihnen mit legitimen Mitteln und unter gewöhnlichen Bedingungen nicht gewachsen zu sein glaubte. Es liegt zugleich aber auf der Hand, dass es vielerorts gelungen sein muss, eine wie auch immer geartete Lösung oder Einhegung für dieses Problem zu entwickeln, denn offensichtlich war nicht jede Polis zu jeder Zeit von Stasis betroffen – auch nicht von einer „stationären Revolution“. Denn eine Eskalation innerer Auseinandersetzungen war offensichtlich nicht immer und nicht automatisch die Folge, wenn eine Stadt in das Spannungsfeld rivalisierender Mächte geriet. Doch wenn sich zumindest bereits ein Haarriss durch eine Bürgerschaft zog, konnte dieser unter diesen Umständen in der Tat leicht aufbrechen; und dieser Fall trat oft genug ein. 1.2 Hellenismus Die große Mehrzahl der genannten Untersuchungen richtet ihr Hauptaugenmerk auf die klassische und archaische Epoche. Umso mehr mag es daher auf den ersten Blick überraschen, dass Staseis, wie auf den folgenden Seiten zu zeigen sein wird, auch während des gesamten Hellenismus keineswegs selten auftraten,71 und teils, wie eingangs geschildert, an mehreren Orten zugleich. Versteht man daher Stasis als „an essential aspect“ (Mogens H. Hansen) auch der hellenistischen Polis, so stellt sich die Frage, was ihre Analyse insbesondere zu den beiden großen Problemfeldern beizutragen hat, die die Diskussion über die griechische Stadt in den Jahrhunderten zwischen Alexander und Augustus seit langem prägen: Welche Rolle spielten innere Konflikte bei jenem Prozess, der zunächst zur Etablierung der römischen Hegemonie und schließlich 68 69 70 71

Wickham 2005: 154. Vgl. treffend Eich 2008: „Alle Eliten, auch Werteliten, sind im Grunde stets tautologisch definiert gewesen: Ihnen gehörte an, wer ihnen tatsächlich angehörte, also akzeptiert wurde“ (128). Vgl. auch Gabba 1995, Beck – Scholz – Walter 2008 und Fisher – van Wees 2015. Anders Schmitz 2014, der davon spricht, im Hellenismus sei es zu einer „Eindämmung der inneren Kriege“ gekommen: „Die Entstehung und Bedeutungszunahme größerer Einheiten in Form der Bundesstaaten und großer Flächenstaaten wie der Diadochenreiche wirkten sich als stabilisierender Faktor aus“ (110). Ähnlich äußerte sich bereits Gauthier 1994: „Dès avant 330, la discorde, mère de la guerre civile, stasis, menaçait les cités grecques […]. À partir du dernier quart du IVe siècle, les diadoques puis les rois, devenus maîtres ou protecteurs de nombreuses cités, eurent à enrayer ces crises chroniques“ (165). Laut Gauthier gelang den hellenistischen Monarchen insbesondere durch den Einsatz auswärtiger Richter – siehe unten – eine weitgehende Befriedung der Poleis. Vgl. in diesem Sinne auch Thériault 1996: „Dans les monarchies, l’autorité impose l’ordre et l’obéissance, donc, dans une grande mesure, la paix politique et sociale“ (5).

1.2 Hellenismus

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zur Unterwerfung fast aller Poleis unter die direkte Herrschaft Roms und des princeps führte? Und besteht ein Zusammenhang mit der Transformation der Städte, an deren Ende die kaiserzeitliche Polis stand, in der eine romfreundliche Oligarchie ihr jeweiliges Gemeinwesen so offen dominieren konnte, dass sie oft Züge einer Erbaristokratie annahm?72 Waren die allem Anschein nach wachsende Prominenz und Potenz urbaner Eliten im Hellenismus in einen lange Zeit kaum aufzulösenden Widerspruch zu einem politischen Diskurs geraten, dem im Grunde nur noch die Volksherrschaft als legitime Verfassungsform galt?73 Zu einem Diskurs also, der überdies, soweit wir ihn greifen können, von eben diesen Eliten getragen wurde? Die Frage nach der tatsächlichen Vitalität der Demokratie im Hellenismus bewegt die Forschung dabei bereits seit den 1980er Jahren. Bis zu dieser Zeit herrschte, durchaus im Einklang mit den Urteilen antiker Autoren wie Lykurg74 oder Pausanias,75 die Ansicht vor, das Ende der griechischen Klassik sei mit dem Ende der großen Zeit der Polis76 und dem Ende der griechischen Freiheit einhergegangen; die zentralen historischen Protagonisten seien fortan die makedonischen Monarchien gewesen.77 Zur außenpolitischen Marginalisierung sei ein innerer Verfall der Städte hinzugetreten.78 In den vergangenen drei Jahrzehnten ist diese einstige Orthodoxie insbesondere durch Philippe Gauthier und Erich Gruen intensiver Kritik unterzogen worden, und inzwischen hat sich als neue communis opinio etabliert, dass zumindest für die ersten anderthalb Jahrhunderte nach dem Tod Alexanders, den frühen Hellenismus, keineswegs von einem allgemeinen Niedergang der Polis gesprochen werden könne.79

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Folgt man Aristoteles, so hatten Staseis in Oligarchien und Aristokratien einen grundsätzlich anderen Charakter als in demokratisch verfassten Gemeinwesen; vgl. Arist. Pol. 5,5 f. (= 1304b–1307b). Allerdings spielten dabei in seinen Augen stets Demagogen eine entscheidende Rolle. Simonton 2017 nimmt an, oligarchische Systeme seien prinzipiell anfälliger für Staseis gewesen als demokratische: „Oligarchies required the appearance of overwhelming political harmony in order to maintain citizens in a state of acquiescence, but even minor deviations from the established ‚political script‘ could lead to existential crises for the regime as a whole“ (55). Vgl. Quaß 1979: 40 f., Billows 2003: 209 und Hansen 2006: 112. Der Athener Lykurg äußerte sich bereits 330 v. Chr. in diesem Sinne; Lyk. Leokrat. 50. τὸ γὰρ ἀτύχημα τὸ ἐν Χαιρωνείᾳ ἅπασι τοῖς Ἕλλησιν ἦρξε κακοῦ καὶ οὐχ ἥκιστα δούλους ἐποίησε τοὺς ὑπεριδόντας καὶ ὅσοι μετὰ Μακεδόνων ἐτάχθησαν; Paus. 1,25,3. Noch Worthington 2008: 147–151 folgt im Kern dieser Deutung. Vgl. zur Forschungsgeschichte auch Briant 2017: 283–299. Auf die neuere Forschungsdiskussion über die „Welt der Polis“ kann hier nur am Rande verwiesen werden; vgl. Vlassopoulos 2007: 97–141. Diese Sichtweise mutet nicht von ungefähr hegelianisch an: Hegel selbst äußerte sich voller Verachtung über die Jahrhunderte nach Alexander als Periode, „welche die ausführliche Entwicklung des Unglücks Griechenlands enthält“ (Hegel 1970: 335). Vgl. dazu Zimmermann 2009: 9 f. Vgl. in diesem Sinne etwa Bengtson 1960: 315, Urban 1981: 11 und (allerdings differenziert) Davies 1984: 304–315. Vgl. Gauthier 1985, für den erst der späte Hellenismus den Übergang vom demokratischen Bürgerstaat zur Provinzstadt markierte. Die Vitalität vieler (früh-)hellenistischen Poleis betonen neben Gauthier 1993, der zwischen „la haute époque hellénistique (de 330 à ca. 170–130) et la basse époque hellénistique (fin du IIe et Ier siècle a. C.)“ unterscheidet, besonders Gruen 1993, Gehrke 2003 und Bielfeldt 2012 (aus archäologischer Perspektive). Schmitt – Schwarz 2005 nennen den Hellenismus insgesamt die „Blütezeit der griechischen Stadtkultur“ (1023). Ma 2013 spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „vitalist paradigm“ (291).

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1. Einleitung

Weniger Einigkeit herrscht hingegen darüber, ob dies auch noch für die Zeit nach dem Dritten Makedonischen Krieg (171 bis 168) gilt, als sich die römische Hegemonie über Hellas unwiderruflich etablierte, sowie darüber, wie lange man von der Existenz einer nicht nur äußerlichen Demokratie ausgehen kann: Während vor allem Friedemann Quass in einer Reihe von Publikationen die Position vertreten hat, man habe es bereits seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. in den meisten Städten mit einem mehr oder weniger oligarchischen „Honoratiorenregiment“80 zu tun, ist in den letzten Jahren insbesondere durch Volker Grieb und Susanne Carlsson dafür plädiert worden, dass zumindest die frühhellenistischen Poleis die nunmehr schier omnipräsente Bezeichnung δημοκρατία81 vielfach tatsächlich verdient hätten und die „Aristokratisierung“ der griechischen Städte erst unter römischem Einfluss erfolgt sei.82 Verkompliziert wird die Diskussion dabei nicht zuletzt durch den Umstand, dass es an eindeutigen Kriterien fehlt, um Demokratie und Oligarchie klar zu unterscheiden;83 die antiken Begrifflichkeiten, die Klarheit suggerieren, erweisen sich hier, ähnlich wie in Hinblick auf die römische res publica,84 oft als nicht hilfreich. Im Zentrum der Kontroverse steht daher letztlich die Frage, welche Evidenz man für entscheidend hält – jene Zeugnisse, die einen Fortbestand demokra80

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Vgl. Quaß 1979, Quaß 1993, Hamon 2005, Dmitriev 2005: 140–188 sowie die knappen, aber erhellenden Überlegungen bei Habicht 1995b (die Existenz einer sozioökonomischen Elite sei nicht gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Demokratie), dem etwa Bugh 2013: 119 f. folgt, während Mann 2012 widerspricht: „Mit dieser Argumentation […] lässt sich eine Fortexistenz der Demokratie im Hellenismus nicht plausibel machen; vielmehr kommt man auf diesem Wege zum Ergebnis, dass die hellenistischen Poleis als Demokratien bezeichnet werden können, weil sie zwar Oligarchien waren, aber auch das klassische Athen, welches allgemein als Demokratie akzeptiert wird, in Wirklichkeit eine Oligarchie war“ (23). Scholz 2008: 71 spricht für den Hellenismus von der „informelle[n] Herrschaft der ‚Wenigen‘“ bzw. von „demokratischen Oligarchen“ (97) und betont dabei insbesondere die Rolle des Gymnasion für die Ausbildung der „Honoratioren“ (94–97). Verwiesen sei auf die aristotelische Definition von Demokratie; vgl. Arist. Pol. 6,2 (= 1317a–b). Vgl. dazu ausführlich Grieb 2008, der ähnlich wie schon Gauthier die Mitte des 2. Jahrhunderts als Zäsur sieht, und Carlsson 2010 (bes. 334–343). Bereits Jones 1940: 170 hatte die Position vertreten, zuvor sei die Demokratie noch „a living reality“ (170) gewesen. Laut Pausanias (7,16,9) beseitigte Mummius 146 v. Chr. in vielen Poleis die Demokratie und führte offene Oligarchien ein; diese Maßnahme sei allerdings später wieder rückgängig gemacht worden. Gute Einleitungen in die Diskussion bieten Billows 2003: 209–214, Chamoux 2003: 165–213, Zimmermann 2009, van der Vliet 2011, Ma 2013: 291–307, Scholz 2015: 187–195, Cartledge 2016: 231–245, Müller 2018: 34–38, Chaniotis 2018: 122–147 sowie insbesondere Wiemer 2013. Ando 2018 argumentiert, Ausdrücke wie „actual democracies“ hätten für hellenistische Poleis „close to no analytical or evaluative meaning“ (23). Vgl. Leppin 2013: „There is no clear mark on the spectrum from oligarchy to democracy which might serve as the boundary between the two“ (147). Dies gilt auch für die Frage, ob in griechischen Augen Wahlen im Unterschied zum Los (vgl. Buchstein 2009: 17–110) ein oligarchisches Instrument waren: Aristoteles jedenfalls hielt Wahlen nur dann für undemokratisch, wenn sie an einen Zensus gebunden waren; Arist. Pol. 4,15,5 (= 1300a–b; vgl. aber Arist. Pol. 4,9,2c = 1294b). Am eindeutigsten oligarchisch ist daher wohl ein System, das die Zahl der politisch vollberechtigten Bürger offen limitiert; aber teils wurden selbst solche Ordnungen als demokratisch bezeichnet. Die Übernahme der in den Quellen nicht nur für die Klassik beliebten Klassifikation von Staseis als Konflikt zwischen Demokraten und Oligarchen ist ungeachtet dieser Abgrenzungsprobleme nach wie vor verbreitet; vgl. etwa Teegarden 2014 oder Simonton 2015. Vorsichtiger ist Carlsson 2010: „The prominence that certain poleis gave to democracy should not immediately be taken at face value“ (334). Vgl. hierzu prägnant Walter 2017a: „Die Republik war weder eine Demokratie noch eine kaschierte Oligarchie, und auch das Etikett ‚Mischverfassung‘ zeigt nur, dass die kategorienarme antike Theorie mit der simplen Frage ‚Wer herrscht?‘ wenig hilfreich ist“ (59).

1.2 Hellenismus

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tischer Institutionen belegen,85 oder jene, die bereits früh auf eine dominierende Rolle wohlhabener Euergeten86 in vielen Poleis schließen lassen?87 Schließt die Existenz einer mächtigen sozioökonomischen Elite die einer Demokratie aus?88 Konsens besteht allerdings darüber, dass sich am Ende der hellenistischen Epoche praktisch überall de facto Oligarchien etabliert hatten,89 auch wenn unklar ist, wie weit der Prozess, der schließlich zur Entstehung eines faktisch erblichen Standes von Bouleuten führen sollte, der spätestens für die Hohe Kaiserzeit vielerorts nachweisbar ist, damals bereits fortgeschritten war, ab wann also eine zunächst wohl bloß informelle Dominanz institutionell festgeschrieben wurde.90 Die Frage danach, wie und aus welchen Gründen es zur Errichtung der römischen Hegemonie kam, die vielfach für soziale und politische Umwälzungen in den Poleis verantwortlich gemacht wird, ist bislang, wie gesagt, ebenfalls keineswegs abschließend geklärt worden. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Problem des „römischen Imperialismus“ kann dabei nicht Gegenstand der vorliegenden Studie sein;91 relevant ist allerdings die Frage, ob Rom früh die Etablierung einer Hegemonie über 85 86

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So insbesondere Grieb 2008: 361 f., der in diesem Zusammenhang die Bedeutung außenpolitischer Alternativen betont. Der auf Paul Veyne zurückgehenden Vorstellung, Euergetismus sei bereits seit der späten Klassik omnipräsent gewesen, widersprach wohl am entschiedensten Philippe Gauthier, der eine Zäsur erst im 2. Jahrhundert erblickte: „C’est dans le cours du IIe siècle, semble-t-il, que le rôle et la place des évergètes dans les cités se modifient. Alors, et alors seulement, l’évergétisme devient peu à peu l’équivalent d’un système de gouvernement: une minorité de citoyens riches et influents rend des services et obtient des honneurs tels qu’ils semblent dominer leurs concitoyens“ (Gauthier 1985: 72). Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang Michels’ „ehernes Gesetz der Oligarchie“, demzufolge sich „auch in Staatswesen, in denen sie staatsrechtlich und prinzipiell ganz ausgeschlossen erscheint, automatisch eine Aristokratie“ einführe; vgl. Michels 1911. Zutreffend daran ist wohl zumindest, dass auch in den griechischen Städten mit der Existenz einer Gruppe zu rechnen ist, die sich eingehender als andere mit Politik befasste und daher zunächst einen Wissens-, und dann wohl auch einen Machtvorsprung gewann. Kritik an Michels übt unter anderem Leach 2005, die die begriffliche Unschärfe bemängelt und Oligarchie ihrerseits als „concentration of entrenched illegitimate authority and/or influence in the hands of a minority, such that de facto what that minority wants is generally what comes to pass“ definiert (329): Nicht die bloße Existenz einer Elite, sondern die Illegitimität ihrer Position, die in Gestalt von Widerstand sichtbar werde, sei entscheidend, um von einer Oligarchie sprechen zu können. Winters 2011 betont in seiner erhellenden Studie (in deren Fokus nicht die Antike steht), Demokratie und Oligarchie seien unter bestimmten Umständen durchaus vereinbar: Da Oligarchen primär durch ihren Wohlstand gekennzeichnet seien, seien sie nur dann bereit, demokratische Strukturen hinzunehmen, sofern diese mit Besitzstandsgarantien verbunden seien; mit anderen Worten: Voraussetzung sei eine Trennung von sozioökonomischer und politischer Sphäre, die die Wohlhabenden davor beschütze, in einer Demokratie ihren Besitz abgeben zu müssen: „No protections, no democracy“ (73). Trifft diese Beobachtung zu, so war eine langfristige Koexistenz von Oligarchie und Demokratie athenischer Prägung – mit einer prinzipiell unumschränkten Entscheidungsfreiheit des Demos als κύριος τῆς πολιτείας (Isokr. or. 10,36) – im antiken Griechenland schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Vgl. dazu eingehend Müller 1995 (contra Quass). Vgl. zuletzt Savalli-Lestrade 2003, Scholz 2008, Dreyer – Weber 2011 und Müller 2018. Vgl. auch Wiemer 2013: „By the end of the Hellenistic period, the polis was evidently no longer a democratic city-state“ (65). Und zuletzt hat Cartledge 2016 konstatiert: „The constitutional trend in political actuality was firmly towards various shades of oligarchy“ (244). Vgl. Sirks 1993: 162–167 und Müller 1995: 41 f. Vgl. zu den griechischen städtischen Eliten in der Kaiserzeit den konzisen Überblick bei Schuler 2015: „The political culture of the city-state was not immediately modified under Roman hegemony; it only gradually evolved“ (252). Vgl. daneben auch Heller 2012. Einen knappen Überblick über die Forschungsgeschichte bietet Eckstein 2007: 567–573.

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1. Einleitung

Hellas anstrebte,92 oder ob man letztlich so lange immer wieder in innergriechische Streitigkeiten verwickelt wurde, bis sich im Senat nach Jahrzehnten widerstrebend die Ansicht durchsetzte, nur eine dauerhafte römische Präsenz könne für eine Befriedung sorgen, wie insbesondere Erich S. Gruen und seine Schüler annehmen.93 In diesem Fall wäre die verbreitete Unfähigkeit der Griechen, ihre Staseis beizulegen, also wesentlich mitverantwortlich dafür gewesen, dass der Senat sich entgegen seinen ursprünglichen Absichten schließlich genötigt gesehen habe, sie zu unterwerfen. Letztlich nimmt diese Diskussion ihren Ausgang dabei von der unstrittigen Beobachtung, dass Rom weder nach dem Zweiten Makedonischen Krieg (200 bis 197) noch nach dem Antiochoskrieg (192 bis 188) eine direkte Herrschaft über Hellas und Kleinasien errichtete, sondern sich militärisch zunächst wieder zurückzog und den griechischen Osten jahrelang scheinbar sich selbst überließ, statt dort Provinzen einzurichten. In beiden Fällen scheint die Forschungsdiskussion derzeit an einen toten Punkt gelangt zu sein, die gegensätzlichen Positionen sind ausformuliert. Es ist die Kernthese der vorliegenden Untersuchung, dass sich diese scheinbare Aporie aufbrechen lässt, indem man das in diesem Zusammenhang oftmals vernachlässigte Phänomen der Stasis systematisch in die Analyse der hellenistischen Geschichte einbezieht und innere Konflikte in den Poleis als Faktor begreift, dem sowohl als Inhibitor als auch als Katalysator eine zentrale Bedeutung für die Transformation der griechischen Welt im Hellenismus zukam.94 Denn wie auf den folgenden Seiten dargelegt werden wird, waren die Staseis der Jahre um 87 v. Chr. keine Einzelfälle, sondern fügten sich ein in eine lange Reihe innerer Konflikte, von denen die Quellen für die gesamte hellenistische Epoche berichten. Die entscheidende Paradoxie, die sich mit diesem Befund verbindet, fällt sogleich ins Auge: Gerade der Umstand, dass noch im 1. Jahrhundert v. Chr. Konflikte in mehreren Städten blutig eskalierten und Gemeinschaften vorübergehend kollabierten, belegt die fortdauernde Relevanz der Polis in diesen Jahren.95 Denn Stasis war selbst dann, 92 93

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Die pointierteste Formulierung der Position, Roms Außenpolitik sei von Expansionsdrang und aggressivem Imperialismus geprägt gewesen, findet sich wohl bei Harris 1979. Die grundlegende Arbeit bleibt weiterhin Gruen 1984 (bes. 721–730). Vgl. daneben Eckstein 2006 und Eckstein 2008, der ebenfalls davon ausgeht, Rom sei in die Ereignisse im „anarchischen“ Osten schlicht hineingezogen worden. Dieser einflussreichen Position folgen grundsätzlich etwa auch Bringmann 2002a: 126, der annimmt, die Römer hätten in Hellas nach dem Sieg über Philipp V. „keine weiteren politischen Ziele“ verfolgt, und Blösel 2015: 139. Vgl. auch Rosenstein 2012: 197 f., demzufolge Rom nach dem Sieg über Philipp V. darauf gebaut habe, dass die Poleis – „a gaggle of autonomous little states“ – von selbst zu einer friedlichen Ordnung finden würden; nach dem Antiochoskrieg habe man die Herrschaft über die griechische Welt dann den Attaliden, Antigoniden, Rhodiern und Achaiern überlassen. Vgl. hierzu die Kapitel 4.2 und 4.3 der vorliegenden Untersuchung. Die Gegenposition ist wohl am radikalsten von Runciman 1990 vertreten worden, der die Polis als historische Sackgasse begriff, weil das Beharren auf einer im Hellenismus nicht mehr zeitgemäßen Ideologie und das Festhalten an demokratischen Institutionen verhindert habe, dass sich die griechischen Städte an die neuen Gegebenheiten anpassen konnten, weshalb sie in Bedeutungslosigkeit versunken seien. Vgl. auch Deininger 1993: Man könne „wohl formulieren, daß es nicht eine zu schwache Identifikation der Bürger mit ihrer jeweiligen (Einzel-)Polis als πατρίς oder ein gleichsam zu geringer ‚Integrationsgrad‘ der Bürgergemeinschaft, sondern eher der zu stark und einseitig auf die jeweilige Polis und die Autonomie der einzelnen Bürgerschaft gerichtete ‚Polis-Patriotismus‘ war“ (76), der die Griechen gegenüber Rom habe den Kürzeren ziehen lassen.

1.2 Hellenismus

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wenn die finale Eskalation vermieden werden konnte, mit enormen Risiken und Kollateralschäden verbunden. Wenn es dennoch auch in hellenistischen Städten immer wieder zu derartigen Tabubrüchen kam,96 so bedeutet dies, dass die Akteure annahmen, der zu erringende Siegespreis rechtfertige den gewaltigen Einsatz: Da es bei einer Stasis grundsätzlich um die Kontrolle der Polis ging, muss eine solche noch lange nach dem makedonischen Sieg bei Chaironeia 338 v. Chr. relevant und erstrebenswert genug gewesen sein, um im Zweifelsfall auch Verbannungen, blutige Auseinandersetzungen oder den eigenen Tod in Kauf zu nehmen.97 So bezeugt also gerade die fortbestehende Neigung zur sozialen Desintegration die grundsätzliche Vitalität der Polis und ihre Bedeutung für die Lebenswirklichkeit vieler Hellenen in den Jahrhunderten nach Alexander.98 Für Obsoletes tötet und stirbt man nicht. Die Vorgänge um das Jahr 87 v. Chr. illustrieren aber nicht nur, dass Staseis noch im ausgehenden Hellenismus ein gravierendes Problem darstellen konnten, und bezeugen damit eine bemerkenswerte Kontinuität zur vorangehenden Epoche, sondern sie legen zugleich einen Zusammenhang zwischen dem Ausbruch interner Gewalt und der jeweiligen außenpolitischen Konstellation nahe, der sich, wie dargelegt, bereits für die Klassik beobachten lässt. Denn der Hintergrund dieser bemerkenswerten Gewalteruption lässt sich unschwer erraten: Ein Jahr zuvor war zwischen Rom und König Mithridates VI. Eupator von Pontos ein offener Krieg ausgebrochen,99 und angesichts der überraschenden Anfangserfolge der pontischen Truppen schien die römische Hegemonie über die Hellenen erstmals seit Jahrzehnten wieder in Frage gestellt. Diese Erschütterung manifestierte sich nicht nur in Form von Staseis. Etwa 80.000 Römer und Italiker, die sich in den Poleis Westkleinasiens aufhielten, sollen 88 v. Chr. auf Aufforderung des Königs von ihren griechischen Nachbarn erschlagen worden sein,100 und in Italien bot der Konflikt über die Frage, wem das Kommando über die römische Strafexpedition zukommen solle, den Anlass für Sullas Marsch auf Rom.101 Es dauerte über zwei Jahre, bis die untereinander zerstrittenen Römer die Lage im Osten wieder fest im Griff hatten.102 Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Ersten Mithridateskrieg und dem Ausbruch von innerstädtischer Gewalt in den Poleis ist so augenfällig, dass er schwerlich allein auf einem Überlieferungszufall beruht, auch wenn der römisch-pontische Kon96 Vgl. auch Eckstein 1964: 12, der im Rahmen seiner Definition von „internal war“ diesen Aspekt („conducted practically without mutually observed normative rules“) besonders betont. Vgl. daneben auch Richer 2005: 28–30 und Börm 2016a: 15–17. 97 Allgemeine und sehr erhellende, allerdings nicht auf die Antike oder Hellas bezogene Beobachtungen zur Legitimierung von innerer Gewalt bieten Veit – Schlichte 2011. 98 Eindrücklich wird die herausragende Bedeutung, die die Bezugnahme auf die eigene Stadt im Hellenismus gerade für die sozioökonomische Elite besaß, von Wörrle 1995 herausgearbeitet, der den ‚idealen‘ Bürger, wie ihn die Ehrendekrete schildern, treffend als „Polisfanatiker“ charakterisiert. Die lange Zeit vorherrschende gegenteilige Position formulierte sehr pointiert Tarn 1952: „Man as a political animal, a fraction of the polis or self-governing city state, had ended with Aristotle“ (79). 99 Eine gute Skizze des Kriegsverlaufs bietet Sherwin-White 1984: 121–148. 100 Diod. 37,26 f.; App. Mithr. 22 f. Plutarch (Sull. 24,4) spricht von 150.000 Toten. Vgl. Amiotti 1980, Kallet-Marx 1995a: 138–148, Strobel 1996: 72–75, Thornton 1998b und Gotter 2013: 223–225. 101 Plut. Sull. 8,2–9,3; App. civ. 1,55–57. 102 Vgl. zur Ereignisgeschichte die Skizze bei Fündling 2010: 78–94.

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flikt zweifellos Aufsehen erregte und damit die Chance erhöhte, dass auch Vorgänge, die sonst vielleicht unbeachtet geblieben wären, Eingang in die literarische Tradition fanden. Doch stellen die Quellen wiederholt, wenngleich nicht immer, eine eindeutige Verbindung zwischen der großen Auseinandersetzung zwischen Rom und dem König und dem Ausbruch der internen Konflikte her.103 Unabhängig davon, ob man außenpolitische Faktoren für die eigentlichen Auslöser von Staseis hält, liegt daher auf der Hand, dass man weder die Poleis noch ihre internen Konflikte losgelöst von der internationalen Mächtekonstellation, der sie jeweils ausgesetzt waren, analysieren kann. Diese war zwischen dem Zerfall des Alexanderreichs und der Errichtung des Prinzipats durch Augustus grundsätzlich multipolar.104 Seit den Diadochenkriegen befanden sich viele Poleis im Spannungsfeld zwischen den rivalisierenden hellenistischen Monarchien,105 denn Antigoniden, Ptolemaier und Seleukiden konkurrierten während des ganzen 3. Jahrhunderts um die Hegemonie über Hellas und Westkleinasien.106 In der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts drangen dann die Römer in den griechischen Osten vor und sorgten spätestens mit dem Dritten Makedonischen Krieg dafür, dass eine alternative außenpolitische Option in der Regel nicht mehr erkennbar war. Die „Freunde“ Roms kontrollierten fortan auf die eine oder andere Weise die meisten Poleis.107 Doch der Frieden war brüchig: Jahrzehnte später trat in Gestalt des pontischen Königs unerwartet noch einmal ein Herausforderer auf den Plan, und auch nach dem endgültigen Sieg über Mithridates ergaben sich wiederholt Situationen, in denen sich Poleis zwischen zwei Seiten zu entscheiden hatten – die römischen Bürgerkriege zwischen 49 und 29 v. Chr. hatten einen unmittelbaren Effekt auf viele Städte und konfrontierten griechische Politiker oft genug mit einer bedrohlichen Aporie.108 Erst mit der Etablierung des Prinzipats 103 Siehe etwa Strab. 14,1,42; Paus. 1,20,5; App. Mithr. 28. Dass Chairemon aus Nysa fliehen musste, weil sich Mithridates der Polis näherte, ist inschriftlich bezeugt: Der König hatte ein Kopfgeld auf ihn und seine Söhne ausgesetzt; I.Nysa 7. Chairemon hatte die Römer zuvor mit Getreide unterstützt; vgl. Quaß 1984: 211. All dies spricht gegen das Vorliegen einer Scheinkorrelation. 104 Vgl. Wiemer 2017: 306. Es liegt auf der Hand, dass die griechische Welt auch vor Alexander multipolar gewesen war, da insbesondere Athen, Sparta, Theben, Makedonien und Persien (sowie im Westen Tarent, die Samniten, Syrakus und Karthago) um die Hegemonie konkurrierten. Mithin unterscheidet sich der Hellenismus in dieser Hinsicht strukturell wenig von der Klassik, wohl aber von der Kaiserzeit. Was sich nach Alexander allerdings veränderte, waren die Machtmittel, die den imperialen Akteuren zur Verfügung standen: Seleukiden, Ptolemaier und Antigoniden besaßen in dieser Hinsicht ganz andere Möglichkeiten, als sie zuvor etwa Athen und Sparta gehabt hatten – insbesondere finanziell. Vgl. zur Ökonomie des Krieges im Hellenismus Chaniotis 2005a: 115–142. Ohne den Widerstand der beiden anderen wäre jedes der drei großen Diadochenreiche zweifellos in der Lage gewesen, sämtliche Poleis Griechenlands zu unterwerfen. Diese Übermacht zunächst der Makedonen und später der Römer unterscheidet die Situation im Hellenismus grundlegend von der archaischen und klassischen Zeit. 105 Dies konstatiert bereits Gauthier 1993: 212. Vgl. Rhodes 1993: 173 f., der betont, die meisten Poleis seien bereits vor Alexander nicht frei, sondern de facto abhängig von größeren Städten gewesen. 106 Vgl. Grainger 2017: 9–72. Strootman 2011 betont in diesem Zusammenhang, dass die Rivalität zwischen den makedonischen Monarchien den Poleis auch Handlungsspielräume eröffnet habe: „Rather than coerce cities into submission at any cost, rulers preferred to seek peaceful cooperation with urban oligarchies. This means that there was much to gain for the cities as well“ (145). Vgl. auch Marek 2010: „Die Zeit der hellenistischen Königreiche […] ist alles andere als eine Zeit der Dekadenz der Polis“ (251). 107 Vgl. zuletzt Savalli-Lestrade 2003, Schulz 2008 und Dreyer – Weber 2011. 108 Vgl. Börm 2016b.

1.2 Hellenismus

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war die Machtfrage im Mittelmeerraum daher nachhaltig geklärt – zum Kaiser gab es keine Alternative mehr. Damit ergeben sich die drei Jahrhunderte der griechischen Geschichte zwischen Chaironeia und Actium als der ungefähre zeitliche Rahmen der vorliegenden Untersuchung.109 Denn wenn die hellenischen Städte strukturell einen Hang zum Parteienstreit aufwiesen, ist anzunehmen, dass dies in Hinblick auf die außenpolitische Position der betroffenen Poleis zwei durchaus gegensätzliche Effekte hatte. Zum einen dürfte es, wie bereits dargelegt, dazu geführt haben, dass man nicht selten bereit war, die äußere Freiheit (ἐλευθερία) der Stadt dem Ziel der Herrschaft über den inneren Feind zu opfern;110 aber zum anderen ist zu erwarten, dass Staseis zugleich dafür sorgten, dass es grundsätzlich schwer war, eine stabile Kontrolle über eine Polis zu etablieren, da stets damit zu rechnen war, dass die Gegenpartei in der Stadt sowie gegebenenfalls die bereits Verbannten versuchten, diese Hegemonie abzuschütteln und Rache an ihren internen Feinden zu nehmen.111 In einem außenpolitisch multipolaren Umfeld konnten sie dabei nur zu oft auf externe Unterstützung hoffen.112 Hatte daher der Hass auf die Mitbürger ein gewisses Maß erreicht,113 konnte im Grunde nur dann, wenn ein Aufbegehren vollkommen aussichtlos erschien, eine dauerhafte Befriedung einer derart in sich gespaltenen Polis gelingen, und dieser Fall war vielerorts erst mit der Etablierung der pax Augusta gegeben.114

109 In geographischer Hinsicht umfasst die Untersuchung die gesamte griechische Oikumene von der Krim bis an die Rhone. Konflikte in nichtgriechischen bzw. nicht weitgehend hellenisierten Städten werden hingegen ausgeklammert, obwohl etwa die Auseinandersetzungen in Sagunt um 225 durchaus Parallelen zu einer Stasis aufweisen und von einem Autor wie Polybios (3,15,7) auch als eine solche interpretiert werden (στασιαζόντων αὐτῶν). Selbstverständlich war Bürgerzwist per se kein Privileg der Polisgesellschaft; man denke nur an die norditalienischen Städte in Mittelalter und Renaissance. Doch in den Quellen zum Hellenismus ist lediglich der griechische Bürgerkriegsdiskurs greifbar; man muss daher damit rechnen, dass interne Konflikte in Gemeinwesen wie Karthago (und zumindest teilweise auch in Rom) letztlich einer interpretatio Graeca unterzogen und so potentiell verzerrt dargestellt wurden. 110 Vgl. Gehrke 1985: 359: „Die Griechen ließen sich relativ leicht beherrschen, paradoxerweise nicht, weil sie zur Servilität geboren waren, sondern im Gegenteil, weil sie nichts mehr perhorreszierten als Herrschaft, die Herrschaft ihres inneren Gegners.“ Vgl. auch Pol. 18,15,2 f. 111 Grundlegend zum Phänomen der Verbannten und Flüchtlinge in der griechischen Welt ist nach wie vor Seibert 1979, dessen Arbeit vor allem als Materialsammlung großen Wert besitzt. 112 Trifft diese Beobachtung zu, so ist also damit zu rechnen, dass das Auftreten einer offenen Stasis grundsätzlich ein Indiz dafür ist, dass sich die fragliche Polis zu diesem Zeitpunkt nicht fest unter der Kontrolle einer überlegenen Macht befand – wobei es fraglos Ausnahmen von dieser Faustregel gab. 113 Der irrationale Aspekt innerer Konflikte und sozialer Desintegration sollte stets mitgedacht werden. Neurologische Studien legen nahe, Hass als eine der intensivsten Emotionen aufzufassen, zu denen der Mensch fähig ist. Sie geht anscheinend von ähnlichen Hirnarealen aus wie romantische Liebe; wie diese führt heftiger Hass dabei offenbar – wobei derlei Hypothesen natürlich stets mit Vorsicht zu genießen sind – zu relativer Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen des eigenen Handelns, wobei ein Hassender im Unterschied zu einem Verliebten allerdings zu rationalen, kaltblütigen Planungen imstande zu sein scheint: „The hater may want to exercise judgment in calculating moves to harm, injure or otherwise extract [sic] revenge“; vgl. Zeki – Romaya 2008. 114 Vgl. bereits Tarn 1952: „Not until Rome had crushed all internal feuds was concord achieved“ (91). Vgl. hierzu insbesondere die Überlegungen in Kapitel 4.3.

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1. Einleitung

1.3 Die Quellen Versteht man das Bürgerkriegsparadigma also als Schlüssel zu einem besseren Verständnis der hellenistischen Geschichte, deren Verlauf sich mit Interpretamenten wie „Romfeindschaft“ oder „Klassenkampf “ nicht widerspruchsfrei erklären lässt, so sieht man sich zugleich mit erheblichen Hindernissen konfrontiert. Denn die Überlieferungslage bringt es mit sich, dass eine der beiden wichtigsten Quellengruppen, nämlich die literarische Tradition – vorwiegend Historiographie und Biographik – zum Hellenismus, von oft beklagter Lückenhaftigkeit ist. Die häufig zudem nur fragmentarisch erhaltene Überlieferung ist mit der allerdings zentralen Ausnahme von Polybios115 ganz überwiegend nur indirekt bei späten, zumeist kaiserzeitlichen Autoren wie Diodor, Strabon, Livius, Plutarch, Appian, Polyainos, Pausanias, Justin, Athenaios und Cassius Dio greifbar.116 Zwar bewahren diese zweifellos ältere Traditionen, und gerade in einer synoptischen Betrachtung lassen sie durchaus Rückschlüsse auf den hellenistischen Stasisdiskurs zu;117 doch andererseits bieten sie eben letztlich einen Blick aus der Rückschau, und überdies erlaubt es der Fokus der Berichterstattung in der Regel kaum, den konkreten Ablauf der meisten Staseis zu rekonstruieren. Dies erschwert ihre „narrative Organisierung“ (Arthur Danto) erheblich.118 Vielfach wird lediglich en passant erwähnt, es sei zu Spaltungen oder Gewaltausbrüchen innerhalb von Poleis und koina gekommen, die zumeist allenfalls in wenigen Sätzen skizziert werden, welche zudem oft topischen Charakter tragen. So geben die Autoren zwar Hinweise auf Spaltungen, Disharmonie und Staseis innerhalb der Poleis; doch bleiben sie in Hinblick auf die Vorgänge sehr häufig so vage, dass eine Rekonstruktion oft schwierig oder unmöglich ist.119 Allen literarischen Quellen ist überdies gemein, dass sie fast immer aus einem oftmals ganz erheblichen zeitlichen und räumlichen Abstand berichten und überdies vielfach Genreregeln unterliegen; sie stehen daher grundsätzlich unter dem Verdacht der Stilisierung, Stereotypisierung und Überformung und sind ausgerichtet an den Erwartungen und dem Geschmack eines elitären panhellenischen und teils auch römischen Publikums. Bis zu einem gewissen Grad schafft hier jene Quellengruppe Abhilfe, die für den Hellenismus insgesamt von zentraler Bedeutung ist: Die zahlreichen griechischen Inschriften aus den drei Jahrhunderten nach Alexander dem Großen liefern Hinweise auf die Ereignisse, die zwar meist indirekt sind, denen sich aber jedenfalls entnehmen lässt, wie omnipräsent damals zumindest die Furcht vor einer Stasis war.120 Zugleich ist aller115 Aktuelle Einleitungen zu Polybios bieten McGing 2010 und Dreyer 2011. Erhellend ist daneben auch die Analyse Maier 2012 (bes. 73–208 und 341–351). 116 Einen guten Überblick zur hellenistischen Historiographie und ihren Problemen bietet Dillery 2011. 117 Vgl. hierzu auch Börm 2018. Eine gute allgemeine Einführung in die historische Diskursanalyse bietet Landwehr 2001. 118 Vgl. auch Meuter 2004. 119 Vgl. auch die pessimistische Einschätzung bei Finley 1986: „Selbst wenn wir, was nicht selten der Fall ist, von Verfassungswechseln hören, fehlt jede aufschlußreiche Einzelheit, und oft ist die Datierung der Vorgänge unsicher“ (133). 120 Ein Text wie die kurz vor 300 v. Chr. inschriftlich festgehaltene Amnestievereinbarung von Telos (IG XII 4,1,132), in der immerhin ausdrücklich erwähnt wird, es gehe um eine Versöhnung „zwischen dem Da-

1.3 Die Quellen

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dings zu bedenken, dass Inschriften noch stärker als literarische Texte dazu neigen, die Sicht der Sieger zu bewahren, da anderes wenig Aussicht hatte, in Stein verewigt zu werden, um das kollektive Gedächtnis zu prägen; die Polis schrieb auf diese Weise ihre eigene Geschichte.121 Der Ausdruck στάσις wurde dabei weitgehend vermieden; stattdessen erscheinen Wörter wie ταραχή, διαφορά, κρίσις, σύγχυσις oder νεωτερισμός.122 Viele Details wirken absichtlich verunklart oder verzerrt. Dies gilt auch dann, wenn die Inschrift einen Beilegungsversuch dokumentiert. Ein Grund hierfür dürfte darin bestanden haben, dass sich die Betroffenen scheuten, die konkrete Erinnerung an die Vorgänge wachzuhalten: Noch im 2. Jahrhundert n. Chr. stellte Ailios Aristeides ausdrücklich fest, es gebe nichts, über das so dringend geschwiegen werden müsse wie über eine Stasis; denn sobald man die Ereignisse wieder in Erinnerung rufe, könne der Konflikt nur allzu leicht wieder eskalieren.123 So spät dieses Zeugnis auch ist, das zweifellos auf die bereits seit der späten Klassik gebräuchliche Amnesieformel μὴ μνησικακεῖν anspielt,124 scheint es dennoch auch für den Hellenismus instruktiv zu sein. Vollständigkeit kann angesichts einer so lückenhaften Überlieferung natürlich nicht angestrebt werden, zumal buchstäblich täglich mit neuen Inschriftenfunden zu rechnen ist und zugleich die Dunkelziffer der nicht überlieferten Staseis als hoch eingeschätzt werden darf. Allerdings genügt das Material durchaus, um anhand geeigneter Beispiele grundsätzliche Beobachtungen anstellen zu können und die gleichsam globale Perspektive der literarischen Quellen um lokale Diskurse und Blickwinkel zu ergänzen. Da sich der griechische Epigraphic Habit im Hellenismus zudem grundlegend gewandelt hatte, ermöglichen die Inschriften aus dieser Epoche dabei insbesondere auch einen Blick auf kleinere Poleis, die eher im Windschatten des Weltgeschehens lagen und von der literarischen Überlieferung daher in aller Regel stiefmütterlich behandelt wurden. Ab dem späteren 4. Jahrhundert v. Chr. nimmt zum Beispiel die Zahl der inschriftlich bezeugten Kulte für die Göttin Homonoia – die „Eintracht“ – stark zu, ebenso wie ὁμόνοια als politisches Schlagwort nun noch häufiger erscheint als in der Klassik;125 und wenn innere Eintracht besonders eindrücklich beschworen wird, so liegt stets der

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mos und den mit dem Damos verfeindeten Teliern“ (τὸν δᾶμον καὶ τοὺς διαφερομένους Τηλίων ποτὶ τὸν δᾶμον), stellt in seiner Ausführlichkeit eher eine Ausnahme dar; aber selbst hier bleiben die konkreten Vorgänge unbekannt. Vgl. Luraghi 2010 (am Beispiel Athens). Vgl. ferner allgemein Erll 2017: 98–104. Erwähnung verdienen hier die anregenden, allerdings teils sehr konstruktivistischen Überlegungen zum „cultural trauma“ bei Alexander 2012: „Events are not inherently traumatic. Trauma is a socially mediated attribution. The attribution may be made in real time, as an event unfolds; it may also be made before the event occurs, as an adumbration, or after the event has concluded, as a post-hoc reconstruction“ (13). Vgl. StV III 545 (ταραχή); SEG 30,1119 und SEG 49,1171 (διαφορά); Syll.3 364, IG XII 4,1,132 und Syll.3 426 (κρίσις); Syll.3 684 (σύγχυσις); Syll.3 173, Syll.3 880 und IG XII 4,1,132 (νεωτερίζω bzw. νεωτερισμός). Ael. Arist. or. 24,41. Vermutlich wurde die Rede im Jahr 149 n. Chr. gehalten; vgl. Behr 1968: 73 f. Vgl. Loraux 2002: 141–143 und Carawan 2012, der sich an einer Neuinterpretation der Formulierung versucht. Wichtige Beobachtungen bietet ferner Chaniotis 2013a: 55–60, der betont, dass noch ein Redner wie Lysias stattdessen bewusst versuchte, nach der „Tyrannis“ der Dreißig durch die Erinnerung an das erlittene Unrecht den Zorn (ὀργή) seiner Zuhörer anzustacheln: περὶ τῶν ἐμαυτοῦ πρῶτον εἰπὼν καὶ περὶ τῶν ὑμετέρων ἀναμνῆσαι πειράσομαι; Lys. or. 12,5. Z. B. SEG 40,412. Vgl. zu Konzept und Begriffsgeschichte von ὁμόνοια in klassischer Zeit Moulakis 1973. In Gestalt von Thériault 1996 (bes. 5–70) liegt eine nützliche Übersicht zu den Homonoiakulten vor.

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1. Einleitung

Schluss nahe, dass man der Ansicht war, sie sei bedroht.126 Hierfür spricht auch, dass die ὁμόνοια zudem oft im Kontext einer Maßnahme erwähnt wird, die offenbar angewandt wurde, wenn eine kaum noch überbrückbare Spaltung innerhalb einer Polis aufgetreten war: Geradezu typisch für die hellenistische Welt sind inschriftlich festgehaltene Ehrendekrete für auswärtige Richter (μετάπεμποι δικασταί).127 Diese sind seit dem späten 4. Jahrhundert zunächst in Kleinasien und auf den Inseln sowie spätestens seit etwa 190 v. Chr. auch im Mutterland nachweisbar, bevor die Praxis in der Kaiserzeit wieder erlosch.128 Bislang sind fast 300 Inschriften bekannt, die Männern danken, die von oftmals weit entfernten Poleis entsandt worden waren, um – so zumindest die adhortative Formulierung in vielen Dekreten – die ὁμόνοια innerhalb einer Bürgerschaft wiederherzustellen.129 Zwar erlaubt das Material nicht den Schluss, dass die Anrufung auswärtiger Richter notwendig auf eine offene oder drohende Stasis schließen lässt, da die zunehmend formelhaft verfassten Inschriften es in der Regel sorgfältig vermeiden, konkrete Ursachen für die Herbeirufung der Auswärtigen zu nennen, weshalb auch andere Motive, etwa die Verbesserung der Beziehungen zu anderen Poleis, denkbar sind. Überdies scheint die Herbeirufung fremder Richter aus anderen Städten im Laufe der Zeit zu einem gängigen, standardisierten Vorgang geworden zu sein. Dennoch wird sich zeigen, dass es zumindest naheliegt, in vielen Fällen tatsächlich akute Krisen als Ursache für den Einsatz der ξενικὰ δικαστήρια zu vermuten.130 Diese und andere Beilegungsversuche bieten daher nicht nur indirekte Belege für Staseis selbst, sondern lassen vermittels der jeweils gewählten Ansätze

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Auffällig ist dabei die weite Verbreitung bei den Westgriechen und in Kleinasien, während Thériault für das Mutterland nur sieben Beispiele anführen kann. Gegen die Ansicht von Vinogradov – Sceglov 1997, der Rekurs auf die ὁμόνοια sei stets ein sicherer Hinweis auf die Beendigung einer Stasis, wendet sich Dössel 2003: 187, die annimmt, es sei vielmehr um die „Herstellung der Einigkeit innerhalb der sich gegenüber stehenden Gruppen“ gegangen – statt um ein Zeichen der Versöhnung handle es sich also um einen Hinweis auf fortbestehende Konflikte. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Überlegung bei Simonton 2017: 55, die Beschwörung der Eintracht sei charakteristisch für ein aristokratisch-oligarchisches System. Die grundlegende Studie hierzu ist noch immer Robert 1973, dem es auf wenigen Seiten gelang, systematisch zwischen Schiedsrichtern, die zwischen verschiedenen Poleis vermitteln sollten, und auswärtigen Richtern zu unterscheiden, nachdem schon Wilhelm Dittenberger aufgefallen war, dass es sich bei letzteren nicht um Vermittler zwischen Poleis handle; vgl. OGIS 556. Wichtige Beobachtungen machte zudem bereits Hitzig 1907. Robert ging davon aus, es habe sich bei den fremden Richtern zumeist um erfahrene Rechtsexperten gehandelt; die Praxis habe die herkömmliche Jurisdiktion durch die eigenen Gerichte der Poleis schrittweise verdrängt und sei schließlich nicht mehr auf Ausnahmesituationen beschränkt, sondern beinahe der Regelfall gewesen. Vgl. Crowther 2006: 33. Vgl. zur Frage, ob dieser Befund auf eine veränderte Praxis oder lediglich auf einen veränderten Epigraphic Habit zurückzuführen ist, auch Scafuro 2014. Vgl. etwa Hitzig 1907, Crowther 1992, Crowther 1993, Crowther 1995, Ager 1997, Crowther 1999, Walton 2006, Crowther 2006, Habicht 2007a, Thür 2011 und Magnetto 2016. Eine unvollständige, aber zahlreiche Fälle umfassende Tabelle bietet Cassayre 2010: 131–154. Bereits Robert 1973: 775 stellte zumindest für den frühen Hellenismus einen auffälligen Zusammenhang zwischen der Häufung der entsprechenden Inschriften und anderweitig belegten Krisenphasen fest. Vgl. auch Crowther 1992: „In divided communities in which […] too many people had too much at stake for citizen juries to be easily constituted, the use of foreign judges, initially imposed by the kings, offered a safety valve that helped to prevent disputes from getting out of hand“ (27).

1.4 Grundlagen und Aufbau der Untersuchung

33

zur Pazifizierung auch Rückschlüsse auf die Konzeptualisierung der Konflikte durch die Beteiligten zu.131 Eine dritte hier relevante Gruppe epigraphischer Quellen schließlich wird durch Texte gebildet, die besonders unmittelbar und teils explizit mit Staseis in Verbindung gebracht werden: Bürgereide und Tyrannengesetze. Erstere gehören oft in den Zusammenhang eines Befriedungsversuches, teils wohl auch in den eines Sieges. Vor allem aber zählen die Tyrannengesetze, die insbesondere aus dem 4. und 3. Jahrhundert stammen, zu dieser Gruppe: Unabhängig davon, ob man diese Texte beim Wort nimmt und, wie unlängst David Teegarden, als Belege für ein fortgesetztes Ringen um die Erhaltung und Durchsetzung der Demokratie liest,132 oder ob man hinter ihnen, wie die vorliegende Studie, eher Versuche vermutet, Gewalt gegen innere Gegner zu legitimieren,133 steht fest, dass sie auf Konflikte innerhalb der jeweiligen Polis hinweisen und zugleich die entsprechenden Diskurse unmittelbar abbilden. Letztlich ist dabei fast allen epigraphischen Zeugnissen zur Stasis gemein, dass es sich um Versuche handelt, das Geschehene zu bewältigen – sei es durch einen um Aussöhnung bemühten Befriedungsversuch, sei es, indem eine siegreiche Parteiung die eroberte Deutungshoheit einsetzt, um die Vergangenheit in ihrem Sinne zu interpretieren, die Legitimität der eigenen Position zu erweisen, eine Gruppenidentität zu festigen und den Status Quo auf absehbare Zeit zu zementieren.134 1.4 Grundlagen und Aufbau der Untersuchung Und so ergibt sich aus dem Gesagten der Aufbau der vorliegenden Studie: Zunächst wird die fragmentarische, aber zugleich erstaunlich ergiebige literarische Überlieferung zur hellenistischen Stasis ausgewertet. Da die meisten Fälle nur beiläufig und in wenigen Sätzen behandelt werden, geht es hierbei insbesondere darum, die Verbreitung des Phänomens zu illustrieren; wo möglich, wird zudem eine vorsichtige historische Rekonstruktion der jeweiligen Vorgänge versucht, während zugleich die Art und Weise, auf die Stasis von zeitgenössischen und kaiserzeitlichen Autoren erzählt und interpretiert wird, in den Blick genommen werden soll. Welche Topoi und Muster lassen sich ausmachen, welche Erklärungsansätze werden vorgebracht, wie werden die Konflikte diskursiv gefasst – mit einem Wort, welchen Konventionen, Regeln und Beschränkungen unterlag der literarische Diskurs über Bürgerzwist? Um zu veranschaulichen, wie präsent Stasis während des gesamten behandelten Zeitraumes war, und um vor allem den jeweiligen Kontext des Geschilderten nachvollziehbarer zu machen, wird das Material dabei nicht nach Autoren geordnet, sondern chronologisch gegliedert präsentiert. Es versteht sich, dass dabei an geeigneter Stelle auch die epigraphische Überlieferung herangezogen wird. 131 Einen guten Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit spätklassischen und frühhellenistischen Befriedungsversuchen bietet Dössel 2003. Erhellend sind auch die konzisen Beobachtungen bei Rubinstein 2013; vgl. ferner Gray 2016 und Driscoll 2016: 142–147. 132 Vgl. Teegarden 2014. 133 Vgl. Kapitel 3.4.2. 134 Vgl. auch Ma 2009: „In the polis, memory remained open to constant reworking“ (252).

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1. Einleitung

Diese wird dann in einem zweiten Schritt in das Zentrum rücken. Dabei kann es nicht um Vollständigkeit und um eine chronologische Anordnung gehen; vielmehr wird anhand einer Reihe von instruktiven Beispielen überprüft werden, ob sich das Bild, das die Inschriften von ganz konkreten lokalen Beilegungs- und Bewältigungsversuchen zeichnen, mit jenem in Einklang bringen lässt, das sich aus der Analyse der literarischen Zeugnisse ergeben hat. Dass diese im Rahmen der historischen Interpretation der Inschriften ebenfalls konsultiert werden müssen, liegt auf der Hand; doch steht in diesem Abschnitt eben nicht der gewissermaßen panhellenische Stasisdiskurs im Mittelpunkt, sondern die Art und Weise, wie einzelne Poleis mit dem Problem umgingen und die Konflikte konzeptualisierten.135 Diese Möglichkeit, auch außerhalb Athens auf die Perspektive der unmittelbar Beteiligten zuzugreifen, ist im Grunde erst ab dem 4. Jahrhundert gegeben. In dieser Hinsicht ist die Quellenlage für die Analyse der Stasis im Hellenismus mithin erheblich günstiger als für die Auseinandersetzungen in Archaik und Klassik. Diese weitgehend getrennte Behandlung der literarischen und epigraphischen Quellen mag zunächst überraschen, da sie selbstverständlich bis zu einem gewissen Grad künstlich ist; dies umso mehr, als eine der Thesen der vorliegenden Untersuchung ist, dass die lokalen Stasisdiskurse, die sich in Inschriften greifen lassen, keineswegs entkoppelt sind von jenen, die sich in der literarischen Überlieferung finden. Die Trennung der beiden Quellengruppen ergibt sich allerdings notwendig aus dem Umstand, dass ein anderer Aufbau noch problematischer wäre: Eine rein chronologische Gliederung ist schon deshalb nicht möglich, weil sich eine Vielzahl der Inschriften nicht hinreichend genau datieren lässt. Ein alphabetisch nach Poleis geordneter Katalog wiederum würde weder den Eigentümlichkeiten der verschiedenen Inschriftengattungen gerecht werden noch eine historische Kontextualisierung des Phänomens, insbesondere das gehäufte Auftreten überlieferter Staseis zu bestimmten Zeitpunkten, erlauben. Eine kategoriale Gliederung schließlich, die versucht, die einzelnen Fälle typologisch zu gruppieren, ist meines Erachtens auf Grundlage der vorliegenden Quellen und angesichts der diskursiven Überformung des Geschilderten, die auf den modernen Leser oft ermüdend wirkt, schwer möglich: Auch die Inschriften sind ja nicht absichtslos verfasst worden und stellen uns hinsichtlich der Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse und Kausalitäten oftmals vor große Probleme.136 Die Entwicklung einer Typologie der Stasis ist daher nicht das Ziel dieser Studie. Die Quellenlage – in Hinblick sowohl auf die literarische als auch die epigraphische Überlieferung – macht es zugleich auch unumgänglich, der Untersuchung eine erwei135 Vgl. Ma 2009: „Within cities, the construction of memory may have been the means or the prize in struggles or personal agendas […]. ‚Collective memory‘, like other products of the Greek city, may have to be read against the grain“ (256). Vgl. zum kollektiven Gedächtnis zusammenfassend Erll 2017: 93–123. 136 Derlei ist bei der Interpretation hellenistischer Inschriften grundsätzlich zu beachten. Vgl. hierzu prägnant Luraghi 2018: „Very many Hellenistic documents pose a special challenge precisely to interpreters who approach them in order to extract facts from them – facts of the who-did-what-to-whom-when kind. The ideological constraints presiding over the formulation of these texts often generate statements and narratives that stand in a complex and somewhat oblique relationship to the events they refer to or comment upon“ (210).

1.4 Grundlagen und Aufbau der Untersuchung

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terte Arbeitsdefinition von „Stasis“ zugrundezulegen. Denn da oftmals nicht erkennbar ist, ob ein Konflikt gewaltsam eskaliert ist und es Todesopfer gab – und wenn ja, wie viele –, lassen sich „innere Kriege“ vielfach nicht sauber von anderen Fällen extremer politischer Rivalität und struktureller Gewalt abgrenzen. Vor allem, wenn man auch die epigraphische Überlieferung in die Analyse mit einbezieht, bietet es sich daher an, mit Astrid Dössel eine breitere Definition anzuwenden, die „über die Bedeutung ‚physische Gewalt gegen Personen und Dinge‘ hinaus erweitert wird im Hinblick auf die Anwendung struktureller Gewalt, etwa durch willkürliche Machtausübung einer herrschenden Gruppe in Form von illegalen Urteilen“.137 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es in der Regel im Auge des Betrachters liegt, ob „Ungerechtigkeit“ und „Willkür“ vorliegen, ob die aktuelle Ordnung also als illegitim wahrgenommen wird. Dies gilt gerade auch dann, wenn Konflikte vor Gericht ausgetragen werden. Und auch eine ‚formal korrekte‘ bzw. ‚legale‘ Verbannung kann unter Umständen durchaus ein Stasissymptom sein.138 Unter „Stasis“ wird daher im Folgenden in nur teilweiser Übereinstimmung mit der Verwendung des Wortes in den Quellen die Existenz zweier verfeindeter Parteiungen in einer Polis verstanden, deren Rivalität weit genug reichte, um als Bedrohung für den inneren Frieden und für die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Institutionen angesehen zu werden, unabhängig davon, ob der Konflikt in gewaltsamen Auseinandersetzungen – die hier als ‚offene‘ Staseis im engeren Sinne verstanden werden – oder einem regelrechten „Bürgerkrieg“ gipfelte. Auch dieser Begriff verlangt dabei nach einer näheren Bestimmung.139 Entscheidend scheint Folgendes zu sein: Anders als etwa bei einem Pogrom oder einem Genozid gelten die Opfer – beziehungsweise Gegner – in der Regel als Gruppenangehörige und Statusgenossen.140 Personen, die bislang als Mitglieder derselben Gruppe verstanden wurden, müssen nun ausdrücklich und mit grausamer Konsequenz exkludiert werden; Bürgerkrieg ist also ein gewaltsamer Ausdruck extremer sozialer Desintegration, wobei der Gegenseite die Legitimität abgesprochen wird. Überdies mag der Konflikt asymmetrisch sein, doch kennt er auf beiden Seiten Anführer und Strukturen; gekämpft wird vorwiegend um die politische Kontrolle des Gemeinwesens, wobei diese durchaus 137 Dössel 2003: 13. 138 Vgl. Gray 2015: 197. 139 Die Suche nach einer Antwort darauf, was ein Bürgerkrieg ist, ist schwieriger, als es zunächst den Anschein haben mag; vgl. Waldmann 1998 und Sambanis 2004. Prägnant (und übertrieben) Agamben 2016: „Es herrscht heute allgemein Einvernehmen darüber, dass es an einer Theorie des Bürgerkriegs fehlt […]. Die Ausrichtung auf den Konsens, die heute gleichermaßen die politische Theorie und Praxis dominiert, scheint inkompatibel mit der ernsthaften Erforschung eines Phänomens, das ebenso alt ist wie die westliche Demokratie“ (11). Vgl. zum Beispiel Kalyvas 2007: „When domestic political conflict takes the form of military confrontation or armed combat we speak of civil war“ (416). Einer so allgemeinen Definition – Bürgerkrieg als interner Konflikt mit militärischen Mitteln – fehlt es allerdings an terminologischer Trennschärfe: Es ist schwerlich sinnvoll, jeden Aufstand, jeden Putsch und jedes Pogrom als „Bürgerkrieg“ zu bezeichnen. (Man könnte allerdings argumentieren, dass jede Revolution ein Bürgerkrieg sei; vgl. Armitage 2015.) 140 Dieser Aspekt markierte bereits für Platon einen wichtigen Unterschied zwischen στάσις und πόλεμος; Plat. Pol. 470c–d.

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1. Einleitung

nicht Selbstzweck sein muss. Ob auch der Mobilisierungsgrad der Bevölkerung eine Rolle spielt, ist dagegen schwerer zu sagen.141 Allerdings liegt auf der Hand, dass in Anwesenheitsgesellschaften, wie etwa kleineren griechischen Poleis, im Normalfall schon allein aufgrund der geringen Zahl an Bürgern und der relativen Enge des Raumes ein prozentual höherer Anteil direkt in die Konflikte involviert war als in einem Flächenstaat wie dem Imperium Romanum. Je kleiner die betroffene Gemeinschaft, desto geringer war auch die Chance auf Neutralität. Auf Basis der Einzelbeobachtungen anhand der literarischen und epigraphischen Quellen wird sodann drittens eine zusammenfassende Analyse gewagt werden, die die Bedeutung von Stasis als bislang oft unterschätztem Faktor für die griechische Geschichte des Hellenismus herausarbeiten soll: Einerseits erleichterte die chronische Neigung zur Stasis es äußeren Mächten, Einfluss auf die betroffenen Poleis zu nehmen; doch andererseits erschwerte sie lange Zeit zugleich die Etablierung stabiler Oligarchien, deren Existenz wiederum Voraussetzung für eine dauerhafte Hegemonie der Könige, der koina oder der Römer war.142 Die Durchsetzung offen oligarchisch-aristokratischer Ordnungen scheiterte, so die These, lange Zeit und vielerorts eher an der Uneinigkeit der Eliten als am Widerstand des Demos; dies änderte sich letztlich erst mit der Errichtung des Prinzipats.143 Indem also der ungebrochene Hang der Poleis zu innerer Spaltung und kompromisslosem Konfliktaustrag in die Analyse der Jahrhunderte zwischen Alexander und Augustus einbezogen wird, eröffnet sich ein neuer Blick auf eine entscheidende Phase der antiken griechischen Geschichte.

141 Vgl. Börm 2016a: 16 f. 142 Vgl. Kapitel 4.3. 143 Der in literarischen und epigraphischen Zeugnissen schier omnipräsente Rekurs auf „Demokratie“ belegt also, dass der Demos im Hellenismus mindestens als Publikum und als Quelle von Legitimität weiterhin eine wichtige Rolle spielte; vgl. Kapitel 4.2.

It is impossible to read the history of the petty republics of Greece and Italy without feeling sensations of horror and disgust at the distractions with which they were continually agitated … If now and then intervals of felicity open to view, we behold them with a mixture of regret, arising from the reflection that the pleasing scenes before us are soon to be overwhelmed by the tempestuous waves of sedition and party rage. Alexander Hamilton

2. Die literarische Überlieferung 2.1 Das 4. Jahrhundert v. Chr. Während der gesamten archaischen und klassischen Zeit kam es in zahlreichen Orten zu Staseis, von denen die literarische Überlieferung weiß,1 und wenn man hinter dem düsteren Bild, das Isokrates vom spätklassischen Griechenland malt,2 einen realen Kern annimmt, so war das Problem im Verlauf des 4. Jahrhunderts v. Chr. sogar noch weiter eskaliert.3 Hierfür spricht auch der Umstand, dass sich Demokrit4 und Platon5 eingehend mit diesem Gegenstand befassten und Aristoteles ihm das gesamte fünfte Buch der „Politik“ widmete.6 Folgt man Diodor, so fanden sich anlässlich der 1 2 3

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Vgl. Gehrke 1985: 11–199. Vgl. nun auch Pozzatello 2014. Hansen 2006: 125 kommt auf eine Gesamtzahl von 279 überlieferten gewaltsamen Staseis in 122 Poleis. Isok. Pan. 174. Fuks 1984: 52–79 bietet weitere Belege, seine Analyse fällt allerdings arg schablonenhaft aus. Vgl. etwa die Beispiele in Lintott 1982: 222–238 und Rhodes 2015a: 39–44. Eine zusammenfassende Schilderung der Situation im spätklassischen Hellas als „Agon ohne Ausweg“ bietet Schmidt-Hofner 2016: 226–309. Jehne 1994: 19 betont mit Recht, dass damals „den Griechen die stasis, die in vielfältiger Weise mit den äußeren Kriegen verflochten war, das drängendere Problem“ als diese gewesen sei. Vgl. zum athenischen Stasisdiskurs im 4. Jahrhundert auch Piepenbrink 2001: 33–48, Allen 2006 sowie Rieß 2011 und Rieß 2012, der herausarbeitet, wie insbesondere im Theater verhandelt worden sei, wo die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Gewaltanwendung zu verorten sei. Vgl. hierzu auch Herman 1995. Vgl. McConnell 2012: 98–101. Plat. Pol. 351d–352a; 443d–444e; 545c–549d. Vgl. Bertrand 1999 und Pontier 2006. Im Zentrum der aristotelischen Überlegungen steht die Annahme, Stasis werde letztlich durch Ungerechtigkeit – subjektiv oder objektiv – ausgelöst. Aus der Fülle an Publikationen zur aristotelischen Stasistheorie seien hier nur Davis 1986, Polansky 1991, Kalimtzis 2000, Weed 2007, Skultety 2009, Rogan 2014 und Grangé 2015: 41–57 genannt. Crowther 1992 bezeichnet die „Politik“ treffend als „in many ways a handbook for the Hellenistic period“ (19). Einen guten Überblick zur Wirkungsgeschichte im Helle-

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2. Die literarische Überlieferung

Verkündung des Verbanntendekrets 324 Zehntausende φυγάδες in Olympia ein,7 was als ein weiteres Indiz für die Omnipräsenz und Virulenz des Problems im 4. Jahrhundert gelten kann. Und auch das „Verbot“ innenpolitischer Umstürze durch den Korinthischen Bund im Jahr 338 weist in diese Richtung.8 Doch wie dem auch sei: Mit dem Beginn des Alexanderzuges verband sich allem Anschein nach ein gehäuftes Auftreten von Bürgerzwist in griechischen Poleis, und zumindest einige dieser Konflikte finden Erwähnung bei den Alexanderhistorikern.9 2.1.1 Stasis und Alexanderzug Zwischen der Landung des griechisch-makedonischen Heeres in Kleinasien im Jahr 334 und dem Zusammenbruch der achaimenidischen Position nach dem Tod Memnons von Rhodos und Alexanders Sieg bei Issos kam es zu wiederholten Umschwüngen, die auf die Poleis in Ionien und auf den Inseln erhebliche Auswirkungen hatten.10 Arrian berichtet,11 die in persischen Diensten stehende Garnison von Ephesos sei nach der Schlacht am Granikos geflüchtet; drei Tage darauf sei der makedonische König in der Stadt eingetroffen und habe sogleich in die inneren Verhältnisse der Polis eingegriffen: Die Verbannten wurden zurückgerufen, während jene, denen man vorwarf, während der achaimenidischen Herrschaft eine Oligarchie errichtet zu haben,12 entmachtet wurden.13

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nismus bietet Annas 1995, eine aktuelle allgemeine Skizze zur hellenistischen Philosophie Meister 2016: 175–218. Diod. 18,8,2–7. Vgl. neben Seibert 1979: 158–162, Ladynin 2004 und Worthington 2015 insbesondere Zahrnt 2003, dessen Interpretation des Dekrets als Maßnahme Alexanders, um in Hellas bewusst Unfrieden zu stiften, zweifellos bedenkenswert ist; vgl. auch Zahrnt 2016: 314–317. Auch Bosworth 1988: 220–228 nimmt an, es sei um „Destabilisation“ gegangen, ähnlich argumentiert Wiemer 2015a: 166; anders Dmitriev 2004. Durchaus vertretbar ist aber auch die Position, derzufolge sich Alexander zu diesem Zeitpunkt derart sicher fühlte, dass er annahm, die Poleis angesichts des Fehlens einer alternativen außenpolitischen Option schlicht zum inneren Frieden zwingen zu können; vgl. Heuß 1973: 36 f. und Gehrke 1985: 306 f. Eine ganz andere Interpretation bietet Cartledge 2016: „His overriding motivation was to rid himself of a massive surplus of mercenary troops“ (234). Syll.3 260, Z. 12–14. Vgl. Urban 1981 und Jehne 1994: 166–197. Meines Erachtens ging es wahrscheinlich wesentlich darum, die Position der ‚Makedonenfreunde‘ in den Städten abzusichern; Athen war hierbei wohl eine Ausnahme. Denkbar ist aber auch, dass es bereits Philipp II. vor allem um eine Stabilisierung ging. Vgl. zu den Alexanderhistorikern die Überblicke bei Meister 1990: 102–128, Zambrini 2011, Wiemer 2015a: 19–38 sowie Wiemer 2015b. Vgl. Dössel 2003: 159 f. Vgl. zu dieser Phase des Alexanderzuges Bosworth 1988: 44–55, Cartledge 2004: 112–116, Demandt 2009: 117–127, Lehmann 2015a: 80–88 und Wiemer 2015a: 96–102. Vgl. zu Arrian auch die luzide Skizze Bosworth 2011 (mit weiterer Literatur). Vgl. zu den kleinasiatischen Poleis unter persischer Herrschaft Lund 1992: 111 f. und Wiesehöfer 2008. Wenn Marek 2010 formuliert, Alexander sei „nach Asien gekommen, um die griechischen Städte zu befreien“ (251), so nimmt er die Selbstdarstellung des Makedonen wohl zu wörtlich. Um wen es sich bei den „Tyrannen“ handelte, die Alexander an ihre Heimatpoleis auszuliefern befahl (Arr. Anab. 3,2,7), ist oft unklar. Davor, Alexander in diesem Zusammenhang grundsätzlich als Verfechter der „Demokratie“ in den Poleis anzusprechen, warnt unter anderem das Beispiel von Pellene, wo der Platoniker Chairon bald nach 336 mit makedonischer Hilfe eine Tyrannis errichtet und seine Gegner verbannt und enteignet haben soll;

2.1 Das 4. Jahrhundert v. Chr.

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Dies scheint nun von ihren Feinden als Freibrief verstanden worden zu sein; denn rasch begann man damit, die ersten Männer, die aus – offensichtlich berechtigter – Furcht im Artemistempel Zuflucht gesucht hatten, herauszuzerren und zu steinigen. Arrian nennt als Opfer namentlich Syrphax, seinen Sohn Pelagon und die Kinder seines Bruders.14 Dass offenbar sämtliche männlichen Mitglieder einer bestimmten Familie umkamen, ist dabei schwerlich ein Zufall.15 Bemerkenswerterweise griff Alexander aber laut Arrian in diesem Moment ein und unterband ein weiteres Morden, damit nicht – wie üblich – auch Unbeteiligte aus Habgier oder persönlicher Rache getötet würden. Man darf hier durchaus Kalkül vermuten, hätte doch ein Massaker an den ‚Perserfreunden‘ in Ephesos sicherlich dazu geführt, dass die Makedonen in anderen Poleis auf den besonders verzweifelten Widerstand ähnlicher Gruppen gestoßen wären.16 Bis sich die Verhältnisse bei den Ephesiern wieder beruhigt hatten, scheint es danach jedenfalls noch einige Jahre gedauert zu haben.17

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Athen. 11,119. Vgl. hierzu Bollansée 2002. Ähnliches gilt für Herakleia Pontike, wo sich Dionysios, Sohn des Klearchos, bereits unter Dareios III. zum Herrn der Polis aufgeschwungen haben soll (Diod. 16,88,5; Athen. 12,72), von Alexander und den Antigoniden aber unbehelligt gelassen wurde, gemeinsam mit seinem Bruder Timotheos eigene Münzen schlagen ließ (Sear Nr. 3778) und zuletzt offenbar sogar den Königstitel annahm. Laut Diodor folgten ihm um 305 nach langer Herrschaft seine Söhne nach; Diod. 20,77,1. Und in Messene soll Alexander sogar bereits gestürzten „Tyrannen“ wieder an die Macht verholfen haben; Ps.-Demosth. or. 17,7. Vgl. auch Wallace 2018: 46–52. καὶ Σύρφακα μὲν καὶ τὸν παῖδα αὐτοῦ Πελάγοντα καὶ τοὺς τῶν ἀδελφῶν τοῦ Σύρφακος παῖδας ἐκ τοῦ ἱροῦ ἐξαγαγόντες κατέλευσαν: τοὺς δὲ ἄλλους διεκώλυσεν Ἀλέξανδρος προσωτέρω ἐπιζητεῖν καὶ τιμωρεῖσθαι, γνοὺς ὅτι ὁμοῦ τοῖς αἰτίοις καὶ οὐ ξὺν δίκῃ τινάς, τοὺς μὲν κατ᾽ ἔχθραν, τοὺς δὲ κατὰ ἁρπαγὴν χρημάτων ἀποκτενεῖ, ξυγχωρηθὲν αὐτῷ, ὁ δῆμος. καὶ εἰ δή τῳ ἄλλῳ, καὶ τοῖς ἐν Ἐφέσῳ πραχθεῖσιν Ἀλέξανδρος ἐν τῷ τότε εὐδοκίμει; Arr. Anab. 1,17,12. Vgl. auch Badian 1966: 40–45. In der Literatur wird Syrphax mitunter wie selbstverständlich als „Tyrann“ oder „Stadtherr“ angesprochen; vgl. etwa Berve 1967: 335 f. und Demandt 2009: 75. Arrian ist allerdings nichts dergleichen zu entnehmen. Bereits Obst 1932 verstand Syrphax daher schlicht als einen prominenten Exponenten der ‚perserfreundlichen‘ Parteiung in Ephesos, die zuvor Memnon und die achaimenidischen Truppen in die Stadt gelassen hatte. Gehrke 1985 betrachtet Syrphax als den „Führer der Oligarchen“ (60) in der Polis. Grundlegend zu Alexanders Umgang mit den kleinasiatischen Poleis ist immer noch Badian 1966. Vgl. daneben jetzt Dmitriev 2011: 427–432, der annimmt, es seien erst die Diadochen gewesen, die „the foundations for relations between Hellenistic rulers and the individual Greek cities of Asia Minor“ gelegt hätten. Polyainos berichtet, nachdem ein ephesischer τύραννος namens Hegesias (vgl. Berve 1967: 336) von den Brüdern Diodoros, Anaxagoras und Kodros erschlagen worden sei, habe die Polis die Auslieferung der Täter an Alexanders Statthalter Philoxenos verweigert. Makedonen hätten die Männer daraufhin gewaltsam ergriffen und eingekerkert, aber mit Hilfe von Freunden sei Anaxagoras und Kodros die Flucht nach Athen geglückt. Nach Alexanders Tod sei Diodoros nach Ephesos geschickt worden, um dort κατὰ τοὺς νόμους abgeurteilt zu werden, aber seine Brüder hätten ihn gerettet; Polyain. 6,49. Es liegt nahe, als Hintergrund eine Stasis anzunehmen: Hegesias scheint der Exponent der nach Syrphax’ Tod dominierenden Parteiung gewesen zu sein, die von den Makedonen unterstützt wurde; vgl. Lewis 2004: 72 f. Während Alexander im Osten weilte, erhob sich die Gegenseite, tötete Hegesias und übernahm, wie die Verweigerung der Auslieferung der Täter zeigt, die Kontrolle über Ephesos. Philoxenos stellte daraufhin aber gewaltsam wieder die früheren Zustände her, die andauerten, bis Anaxagoras und Kodros nach Alexanders Tod (erneut?) nach Ephesos zurückkehrten. Auffällig ist, dass wie bei Syrphax auch diesmal Verwandtschaft eine wichtige Rolle gespielt zu haben scheint. Da sich die Ereignisse kurz vor Alexanders Tod abgespielt haben müssen, ist denkbar, dass Diodoros, Anaxagoras und Kodros vor dem Mord an Hegesias aufgrund des Verbanntendekrets von 324 zurückgekehrt waren, doch muss dies offen bleiben. 319 sorgten dann Verräter dafür, dass die Stadt an Antigonos I. fiel; Diod. 18,52,7.

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2. Die literarische Überlieferung

Zur gleichen Zeit soll es auch an vielen anderen Orten zu einem Umsturz zugunsten der ‚Makedonenfreunde‘ bzw. ‚Demokraten‘ gekommen sein;18 doch als Memnon wenig später mit einer persischen Flotte in der Ägäis erschien,19 trat ein erneuter Umschwung ein: Chios fiel durch den Verrat der dortigen ‚Perserfreunde‘ an Memnon, und auf Lesbos leistete ihm einzig Mytilene Widerstand.20 Nach Memnons Tod konnten die Perser auch diese Polis in ihre Gewalt bringen und die im Jahr 334 Verbannten zurückführen; einer von diesen, ein Mann namens Diogenes, wurde offenbar als neuer starker Mann installiert und trieb hohe Abgaben ein – mutmaßlich nicht zuletzt von den ‚Makedonenfreunden‘, über deren Schicksal Arrian sich allerdings nicht äußert.21 Etwa um diese Zeit brachen auf Chios erneute Unruhen aus, als die von Memnon entmachteten ‚Makedonenfreunde‘ einen Umsturz versuchten; der persische Feldherr Pharnabazos ließ die Anführer der Revolte jedoch ergreifen und verhalf einer Gruppe um Apollonides und Athenagoras wieder an die Macht. Dieser Sieg aber war nur kurzlebig, denn wenig später ließ die gegnerische Parteiung laut Curtius Rufus makedonische Truppen in die belagerte Stadt, die die persische Garnison niedermachten, derweil ihnen Apollonides und Athenagoras von den ‚Makedonenfreunden‘ in der Stadt gemeinsam mit Pharnabazos gefesselt übergeben wurden.22 Als Alexander im folgenden Jahr im kilikischen Mallos, einer argivischen Apoikie,23 eintraf, tobte in der Polis laut Arrian gerade eine Stasis, die der König in seinem Sinne beilegte.24 Irgendwann in diesen Jahren soll überdies Leon von Byzantion eine Stasis in seiner Heimatstadt geschlichtet haben;25 sein Werk περὶ στάσεων ist heute aber leider vollständig verloren.26 Der epigraphischen Überlieferung lassen sich Hinweise auf 18

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Arr. Anab. 1,18,1 f. So kam es etwa in Zeleia zu einem Umsturz, bei dem ein perserfreundlicher „Tyrann“ – möglicherweise der Nikagoras, den Athenaios (7,33) erwähnt – gestürzt und das Land seiner verbannten Parteigänger, wie eine Inschrift bezeugt (Syll.3 279), verkauft wurde; vgl. Gehrke 1985: 199 und Gray 2015: 154 f. Vgl. zu Memnon Kahrstedt 1931 und Badian 1999. Diod. 17,29,1 f. Arr. Anab. 2,1,5. Vgl. Gehrke 1985: 122 f. 332 ergab sich Mytilene den Makedonen, die die Einwohner verschont haben sollen; Curt. Ruf. 4,5,24. Sehr wahrscheinlich besteht ein Zusammenhang mit zwei Inschriften (SEG 36,350 und 36,352), die heute meist auf 332 datiert werden (vgl. Worthington 1990) und die Reintegration von Verbannten in Mytilene zum Gegenstand haben. Vgl. hierzu Kapitel 3.2.1. Curt. Ruf. 4,5,23. Vgl. zu den Ereignissen auf Chios auch Gehrke 1985: 47–49. Eine berühmte Inschrift (Syll.3 283) bewahrt einen Brief Alexanders an die Polis, der die Rückkehr der φυγάδες sowie die Verbannung all derjenigen, „die die Polis an die Barbaren verraten“ hätten (τῶν δὲ προδόντων τοῖς βαρβάροις τὴν πόλιν), anordnet; vgl. auch Rhodes – Osborne 2003: 422 f. und Bencivenni 2003: 18–38. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Fiktion; vgl. Scheer 2003: 227 f. Als Gründer der Stadt wurde Amphilochos verehrt (Strab. 14,5,16). Arr. Anab. 2,5,9. Die Hintergründe des Konfliktes sind unklar. Vgl. Gehrke 1985: 101. Plut. Mor. 804a–b. FGrHist 132 T 1. Offenbar bezieht sich Athenaios auf dieses Werk, wenn er berichtet, während der Stasis in Byzantion habe laut Leon der Rhetor Python versucht, die Eintracht wiederherzustellen, indem er die streitenden Parteiungen mit einem dicken Ehepaar verglich, das sich in einträchtigen Zeiten ein Bett teilen könne, während das ganze Haus zu eng werde, sobald man miteinander im Streit liege: καὶ Πύθων δ᾽ ὁ Βυζάντιος ῥήτωρ, ὡς Λέων ἱστορεῖ ὁ πολίτης αὐτοῦ: πάνυ ἦν παχὺς τὸ σῶμα: καί Βυζαντίοις ποτε στασιάζουσι πρὸς ἀλλήλους τοῖς πολίταις παρακαλῶν εἰς φιλίαν ἔλεγεν: ὁρᾶτέ με, ἄνδρες πολῖται, οἷός εἰμι τὸ σῶμα: ἀλλὰ καὶ γυναῖκα ἔχω πολλῷ ἐμοῦ παχυτέραν. ὅταν οὖν ὁμονοῶμεν, καὶ τὸ τυχὸν ἡμᾶς σκιμπόδιον δέχεται: ἐὰν δὲ στασιάσωμεν, οὐδὲ ἡ σύμπασα οἰκία; Athen. 12,74.

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weitere Staseis zwischen 336 und 332 entnehmen, doch die literarischen Quellen richten ihre Aufmerksamkeit nach Issos auf andere Ereignisse. Dass Staseis in diesen Jahren allerdings nicht nur im Kontext des Alexanderzuges auftraten, belegt der Blick auf einen ganz anderen Teil der griechischen Welt, der ebenfalls nur aufgrund anderer Ereignisse in den Fokus der Historiographie geriet: Neapel befand sich im Jahr 327 im Spannungsfeld zwischen der expandierenden Römischen Republik und den Samniten;27 und auch in dieser Polis existierten nach Ausweis der Quellen zwei Parteiungen, die sich jeweils an die verfeindeten Mächte anlehnten.28 Folgt man der Darstellung bei Dionysios von Halikarnassos, so neigte eine Mehrheit der in der Boule versammelten Oberschicht offensichtlich den Samniten zu und brachte die Frage, ob sich die Polis mit diesen verbünden solle, vor das Volk.29 Während der Versammlung kam es zu offener Gewalt zwischen den beiden verfeindeten Gruppen, doch setzten sich die ‚Samnitenfreunde‘ schließlich durch, und Neapel trat zunächst in den Krieg gegen Rom ein.30 Offenbar gaben die unterlegenen Aristokraten allerdings nicht auf, und als sich die Römer als die siegreiche Seite erwiesen und die Polis belagerten, schritten sie zur Tat: Livius berichtet,31 eine Gruppe um die principes civitates Chariolaos und Nymphios habe durch Verrat mit Hilfe ihrer Anhänger (sociis in urbem) die Römer in die Stadt gelassen, die samnitische Garnison vertrieben und die amicitia mit Rom hergestellt.32 Welches Schicksal die griechischen ‚Samnitenfreunde‘ traf, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis. 2.1.2 Stasis und Diadochenkriege Die Ereignisse in Neapel sind uns, wie gesagt, nur überliefert, weil sie ein Epiphänomen der römischen Expansion in Süditalien waren. Die nächste Phase, in der Staseis in der literarischen Tradition wieder verstärkt sichtbar werden, wird dann durch die Diadochenkriege gekennzeichnet,33 ohne dass damit allerdings gesagt wäre, dass die in27

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Vgl. zur Datierung Grossmann 2009: 46 f. Zur römischen Expansion in Italien vgl. Cornell 1989 (bes. 368–372). Vgl. auch Gruen 1984, der annimmt, dass die Erfahrungen, die die Westgriechen im 4. und 3. Jahrhundert mit Rom machten, die übrigen Hellenen nicht weiter tangiert hätten: „The Greeks of south Italy, well within the shadow of Rome, shed no light on attitudes of Greeks across the Adriatic“ (321). Für die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegenden Annahme, dass sich die Verhältnisse bei den Westgriechen ungeachtet mancher Besonderheiten strukturell nicht grundsätzlich von denen im Mutterland unterschieden, argumentiert ausführlich Dreher 2009. Vgl. zum hellenistischen Italien auch Dench 2003; zu den dortigen ‚Romfreunden‘ bis zum Pyrrhoskrieg vgl. Urso 1999. Anders Neumeister 2005: 178 f., der davon ausgeht, eine „samnitenfreundliche“ Partei habe die Volksversammlung dominiert, während der aristokratische Rat „griechisch gesinnt“ gewesen sei. Dion. Hal. 15,6,5. Vgl. zur livianischen Darstellung der Vorgänge zuletzt Lomas 2015: „Livy oversimplifies a much more complex situation“ (53). Liv. 8,25,9–8,26,3. Vgl. zu den Diadochenkriegen Bosworth 2002, Waterfield 2011 und Anson 2014. Meines Erachtens handelt es sich bei den Konflikten im Kern um einen innermakedonischen Bürgerkrieg um die Alexandernachfolge, der vor allem deshalb zum Zerfall des Reiches führte, weil es niemandem gelang, sich gegen seine Rivalen durchzusetzen. Auch aus diesem Grund war den Diadochen daran gelegen, die griechi-

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neren Wirren durch diese Kriege unmittelbar ausgelöst wurden. Ein erstes Beispiel für wachsende Spannungen in vielen Poleis ist dabei vermutlich der Platoniker Timolaos, der 320/19 wegen des Vorwurfs, er habe versucht, sich mit Hilfe des antigonidischen Satrapen Arrhidaios in Kyzikos zum Tyrannen aufzuschwingen, nachdem er durch euergetische Akte eine offenbar recht große Anhängerschaft um sich geschart hatte, von seinen Rivalen angeklagt und vor Gericht gestellt wurde.34 Zwar soll ihm die Verbannung letztlich erspart geblieben sein, doch berichtet Athenaios, er habe den Rest seines Lebens entehrt verbracht.35 Während also die dürren Angaben der Quelle darauf schließen lassen, dass es in Kyzikos nicht zu einer gewaltsamen Stasis kam, berichtet Diodor, wahrscheinlich im Anschluss an Hieronymos von Kardia,36 von mehreren Fällen, in denen die Konflikte in den Poleis eskalierten. Überhaupt erlaubt es uns seine Darstellung, für das letzte Viertel des 4. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Staseis zu identifizieren. In Kyrene kam es so um 322 zu einer Stasis, während die Polis von Thibron belagert wurde,37 der seinerseits von Männern unterstützt wurde, die bereits im Rahmen eines früheren Konfliktes verbannt worden waren.38 Diodor spricht von einem Kampf zwischen Arm und Reich, in dem die „Armen“ zuletzt gesiegt und ihre Gegner aus der Stadt vertrieben hätten. Die Geflüchteten hätten sich nun nicht etwa an Thibron gewandt – was darauf hinweist, dass sie nicht mit den früher Verbannten verbündet waren, die dieser unterstützte –, sondern Ptolemaios um Hilfe gebeten. Erst als dieser ein starkes Heer nach Kyrene entsandte, sollen auch die Verbannten in Thibrons Lager versucht haben, zu ihm überzulaufen, wurden aber entdeckt und niedergemacht. Unterdessen, so Diodor, hätten die „Demokraten“ in der Polis aus Furcht vor der Rückkehr der Geflüchteten ihrerseits eine Verständigung mit Thibron gesucht. Dieser sei aber von Ptolemaios’ General Ophellas besiegt worden, und alle Poleis der Kyrenaika wurden eingenommen.39 Die neue Verfassung, die Ptolemaios anschließend Kyrene auferlegte, ist erhalten und lässt sich mit Diodors Darstellung in Einklang bringen: Die entsprechende Inschrift legt nicht nur ein offen oligarchisches Regiment fest, sondern bestimmt bemerkenswerterweise auch,

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schen Poleis entweder selbst zu beherrschen oder sie zumindest der Kontrolle der anderen Prätendenten zu entziehen. Eine teils erhellende, aber wohl zu einseitige und hermeneutisch wenig ergiebige Interpretation der frühhellenistischen Welt als „a heavily militarized anarchy“ vertritt Eckstein 2006: 79–117. Vgl. Trampedach 1994: 62–64, Haake 2007: 34 f. und Dreßler 2014: 340 f. Athen. 11,119. Vgl. Hornblower 1981, die Diodors Diadochengeschichte für ein reines Hieronymos-Exzerpt hält (Skepsis bei Meister 1990: 177). Die seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte Frage nach Diodors Vorlagen und seinem Umgang mit ihnen kann nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. Neben Hieronymos und Polybios gelten gemeinhin Timaios (für die Westgriechen), Duris von Samos und Poseidonios von Apameia (vgl. Rizzo 1976) als seine wichtigsten Quellen für die hellenistische Geschichte; vgl. Drews 1962, Meister 1967, Meister 1991 und Sacks 1994. Vgl. zuletzt Rathmann 2014, der betont, Diodor sei ein durchaus eigenständiger Autor und kein bloßer Kompilator gewesen; zudem hält er Agatharchides von Knidos gegen die communis opinio für die Hauptquelle der Bücher 18 bis 20; vgl. Rathmann 2016: 265 f. Vgl. zu Thi(m)bron Ehrenberg 1936 und Laronde 1987: 41–94. Vgl. zur Chronologie der Ereignisse Bosworth 1988: 291 f. Vgl. auch Anson 2014: 60 f. Diod. 18,21,6 f.

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dass Verbannungen künftig nur mit Zustimmung der Lagiden erfolgen dürften, was sich als Befriedungsmaßnahme deuten lässt.40 Diodor berichtet des Weiteren von einem regelrechten Bürgerkrieg in Termessos im Jahr 319/8.41 Damals hatte sich Alketas in die Stadt zurückgezogen, die daraufhin von Antigonos Monophthalmos belagert wurde.42 In dieser Situation eskalierte offenbar eine Spaltung innerhalb der Bürgerschaft, die von Diodor diesmal nicht als „Arm“ gegen „Reich“ bzw. „Demokraten“ gegen „Oligarchen“ erklärt wird, sondern als Konflikt zwischen den jüngeren Männern, die sich nun gegen ihre eigenen Eltern aufgelehnt und hinter Alketas gestellt hätten, und den Älteren.43 Da es diese nicht vermocht hätten, sich gegen diesen Widerstand durchzusetzen, hätten sie die Polis an Antigonos verraten und den Leichnam des Alketas ausgeliefert.44 Damit habe man zwar den Belagerer besänftigt, doch zugleich eine offene Stasis provoziert: Die betrogenen Jüngeren hätten gewaltsam einen Teil der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht und zunächst geplant, ganz Termessos niederzubrennen. Zwar sei es hierzu nicht gekommen, doch habe man sich ins Umland zurückgezogen und einen Guerillakampf begonnen – wenngleich Diodor die Gründe hierfür nicht ausführt, ist anzunehmen, dass sich die nun mit den Antigoniden verbündete Parteiung, die die Stadt offenbar bereits zuvor dominiert hatte und von den „Jungen“ herausgefordert worden war, als zu stark erwiesen hatte.45 Wenig später soll Antigonos auch Ephesos dank der Hilfe einer mit ihm verbündeten Gruppe in der Polis eingenommen haben.46 Weitaus ausführlicher ist dann Diodors Bericht über die Vorgänge in Athen im Folgejahr.47 Als Polyperchons Sohn Alexander mit einer Armee in Attika erschien, kam es in der Polis demnach 318 zu einem Umschwung, der sich gegen jene richtete, die die Stadt zuvor, gestützt auf Antipater, dominiert hatten und denen man nun vorwarf, Oligarchen zu sein.48 Mehrere von ihnen wurden zum Tode verurteilt, andere, darunter Phokion 40 41

SEG 9,1 (mit Cary 1928). Zur Verfassung von Kyrene vgl. Bencivenni 2003: 105–149 und Martini 2011. Vgl. Gray 2015: 238. Vgl. auch Vandorpe 2000: 495 f., die einen Zusammenhang mit einer inschriftlich bezeugten Stasis in Sagalassos (SEG 50,1304 und SEG 57,1409) in Erwägung zieht; vgl. Kapitel 3.2.5. 42 Termessos galt als besonders starke Festung; vgl. Strab. 14,3,9; Arr. Anab. 1,27,5 f. Vgl. zu Antigonos I. und den griechischen Poleis auch den noch immer klassischen Beitrag Heuß 1938. Vgl. daneben auch Errington 2008: 28–35. 43 Vgl. Bauer 2014: 221–228, der Zweifel an Diodors Intepretation äußert: „Die Existenz der beiden Altersgruppen wird man nicht bezweifeln wollen. Es erscheint aber fraglich, ob der von Diodor vorgestellte Generationenkonflikt so wirklich stattgefunden hat“ (227 f.). Vgl. daneben Kennell 2013: 221–224. Eventuell besteht ein Zusammenhang mit einem insgesamt wachsenden Einfluss der Alten, den man für den Hellenismus beobachten zu können glaubt; vgl. Schmitz 2007: 148 f. Vgl. zur möglichen Rolle, die die Einteilung der Bürgerschaft in Altersklassen bei Staseis spielen konnte, auch die – teils etwas wolkigen – Überlegungen bei Davidson 2006 (am Beispiel des spätklassischen Athen). 44 Antigonos soll den Leichnam unbestattet gelassen haben, aber die jüngeren Termessier bemächtigten sich laut Diodor schließlich des Toten und setzten ihn in der Stadt bei; Diod. 18,47,3. 45 Diod. 18,46,1–18,47,2. 46 Diod. 18,52,7. 47 Diod. 18,66,3–18,67,6. Vgl. zu den Vorgängen die Zusammenfassung bei Gehrke 1976: 108–120. 48 Erhellend zu den innenpolitischen Auseinandersetzungen im frühhellenistischen Athen sind die Überlegungen bei Luraghi 2018, der argumentiert, der Charakter der Konflikte sei verzerrt dargestellt worden, da die faktische Hegemonie verschiedener Könige über die Stadt mit der Selbstdarstellung der Polis und des Demos, wie sie sich insbesondere in Inschriften widerspiegele, nicht vereinbar gewesen sei.

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„der Gute“,49 enteignet und verbannt. Dieser floh mit einigen anderen zu Polyperchon, der ihn jedoch an die Athener auslieferte.50 In einer tumultartigen Volksversammlung, in der jeder Versuch einer Verteidigung niedergebrüllt worden sein soll,51 setzten sich daraufhin jene, die vor dem Umsturz verbannt gewesen waren, mit der Forderung nach der Todesstrafe durch, wobei Diodor betont, dass sich die Verurteilten in Wahrheit keines Verbrechens schuldig gemacht hätten.52 Dennoch seien sie „durch die Stimme des ganzen Demos“ (πανδήμῳ φωνῇ) verurteilt worden. Beachtung verdient auch der knappe Bericht bei Cornelius Nepos, der betont, dass sich damals beide Konfliktparteien an Makedonen angelehnt hätten: Harum utraque Macedonum patrociniis utebatur: nam populares Polyperchonti favebant, optimates cum Cassandro sentiebant.53 Der Römer Nepos interpretiert die Ereignisse dabei also bezeichnenderweise als eine Auseinandersetzung zwischen Optimaten und Popularen.54 Plutarch schließlich liefert in seiner Phokionvita eine im Kern kompatible Version der Vorgänge, wobei der Protagonist auch hier auffallend positiv geschildert wird.55 Als Repräsentanten der Gegenpartei, die aus vielen heimgekehrten Verbannten bestanden habe,56 erscheinen bei ihm Hagnonides und Kleitos sowie Demophilos und Epikur;57 als Männer, die gemeinsam mit Phokion hingerichtet wurden, nennt Plutarch Nikokles, Hegemon, Pythokles und Thudippos, während außer Demetrios von Phaleron auch Charikles und Kallimedon sowie eine Reihe weiterer Bürger in absentia zum Tode verurteilt worden seien.58 Der Konflikt wird als Konfrontation zwischen Oligarchen und 49

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Grundlegend zu Phokion ist neben Gehrke 1976 auch Tritle 1988, der sich dem positiven Urteil der Quellen im Kern anschließt. Vgl. zur Phokionrezeption auch Bearzot 1985. Zu Phokions „Regime“ vgl. neben Gehrke 1976: 90–97 auch Dreyer 1999: 157–161 und 184 f. sowie Bayliss 2011: 129–151. Habicht 1995a: 54–59 versteht Phokion gemeinsam mit Demades als Exponenten einer von Antipater eingesetzten „gemäßigten Oligarchie“. Auch Oliver 2003 glaubt im epigraphischen Befund Hinweise auf eine nach dem Lamischen Krieg etablierte Oligarchie ausmachen zu können, und Hackl 1987 nimmt für 322 gar die „Aufhebung der attischen Demokratie“ an. Auffällig ist, dass Antipater 322 zahlreiche Athener faktisch enteignet und in Poneropolis („Schurkenstadt“) in Thrakien angesiedelt haben soll (Diod. 18,18,4; FGrHist 115 F 110); vgl. Baynham 2003. Vgl. dagegen Dreyer 1999: 185, der konstatiert, dass man den Männern um Phokion „keine erkennbaren oligarchischen Zielsetzungen“ nachweisen könne. Laut Nepos warf man ihm vor, den Piräus an Nikanor verraten zu haben: Hic ab Agnone accusatus, quod Piraeum Nicanori prodidisset, ex consilii sententia in custodiam coniectus Athenas deductus est, ut ibi de eo legibus fieret iudicium; Nep. Vir. Ill. Phoc. 3,3. Vgl. aber Mossé 1998, die nachzuweisen sucht, dass der Prozess formal korrekt verlaufen sei. Allgemeine Beobachtungen zu den politischen Prozessen im frühhellenistischen Athen bietet daneben O’Sullivan 1997. Vgl. dagegen Habicht 1995a: „Es war nun klar geworden, daß Phokion dem klaren Willen des Volkes zuwiderhandelte“ (58). Nep. Vir. Ill. Phoc. 3,1. Erant eo tempore Athenis duae factiones, quarum una populi causam agebat, altera optimatium; Nep. Vir. Ill. Phoc. 3,1. Vgl. Tritle 1992 und Lamberton 2003. Plut. Phok. 33,2. Plut. Phok. 38,1. Vgl. Habicht 1995a: „In der Stadt bestimmten jetzt die gerade erst aus der Verbannung zurückgekehrten radikalen Demokraten um Hagnonides den Gang der Dinge“ (58). Auch Anson 2014 spricht von einer „radical democracy“ (92). Plut. Phok. 35,2. Das summarische Todesurteil, das über Phokion und die anderen gefällt wurde, war dabei natürlich rechtswidrig, aber nicht ohne Vorbild: Xenophon berichtet, Sokrates habe im Arginu-

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Demokraten bzw. zwischen „den Besten“ und der Menge erzählt; bemerkenswert ist dabei die ausdrücklich formulierte Gruppenhaft: Angeblich wurde Phokions Mitstreitern schlicht ihre Freundschaft zu ihm vorgeworfen.59 Implizit liefert Plutarch dabei überdies auch eine Erklärung für das positive Phokionbild in der literarischen Tradition: Nach einem weiteren Umsturz erhielt der Getötete ein öffentliches Begräbnis und wurde mit einer Bronzestatue geehrt. Während sich aber Phokions Feinde bei dieser Abrechnung in Athen bei aller Irregularität immerhin eines äußerlich geregelten, legalistischen Verfahrens bedienen konnten, kam es zu dieser Zeit laut Diodor in zahlreichen Poleis auf der Peloponnes zu regelrechten Gemetzeln (φόνων) an jenen, die sich auf Antipater gestützt hatten. Polyperchon hatte offenbar die von ihm bereits 319 im Namen der Könige verkündete allgemeine Freiheitsproklamation60 wiederholt und den Städten die Autonomie versprochen.61 Dies war nun nichts anderes eine Ermunterung zur Stasis gewesen,62 denn wenn Diodor den Inhalt des Erlasses korrekt wiedergibt, so wurde nicht nur die Restitution der bisherigen φυγάδες angeordnet, sondern auch die Verbannung und Enteignung all jener, die sich den Königen bzw. Polyperchon widersetzten – ein bemerkenswertes Ausbuchstabieren dessen, was man unter ἐλευθερία verstand.63 Das Ziel war demnach offensichtlich der gewaltsame Austausch der Führungsschicht in den Poleis unter Ausnutzung bestehender Feindschaften. Wer nicht erschlagen wurde, ging in die Verbannung; einzig in Megalopolis konnte sich die bislang dominante Gruppe anscheinend an der Macht halten.64 Man muss diese Aussage allerdings nicht wortwörtlich nehmen. Zum Beispiel deutet nichts darauf hin, dass es damals in Sparta zu Ausschreitungen kam, und auch in Argos scheint sich die Partei Kassanders behauptet zu haben, wie Diodors eigener späterer Bericht lehrt. Doch immerhin lässt sich seiner Darstellung entnehmen, dass es damals in so vielen peloponnesischen Poleis zu Massakern kam, dass die Angabe, Megalopolis sei die einzige Ausnahme gewesen, ihm oder seiner Quelle plausibel erschien.65

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senprozess (Xen. Hell. 1,7,8–35; vgl. zu den Vorgängen zuletzt Flaig 2013b) dagegen protestiert, die sechs Angeklagten gemeinsam zu verurteilen; Xen. Mem. 4,4,2. Zu den internen Konflikten in Athen zwischen 411 (vgl. Schulz 2011) und 403 (vgl. Wolpert 2002: 3–28 und Adak 2003) und ihrer Beilegung durch Amnestie vgl. daneben Nippel 1997, Wolpert 2002: 75–99 und Joyce 2008. Plut. Phok. 34,5. Diod. 18,55 f. Vgl. zur Einordnung zuletzt Poddighe 2013. Vgl. auch Errington 2008: 23–25, der betont, wie überlebenswichtig die Kontrolle der Peloponnes für Polyperchon war. Vgl. in diesem Sinne bereits Gehrke 1985: 287 f. Vgl. zu den Staseis auf der Peloponnes in den Jahren nach 338 nun auch Shipley 2018: 142–154. ποιήσασθαι δὲ δόγμα πάντας τοὺς Ἕλληνας μηδένα μήτε στρατεύειν μήτε πράττειν ὑπεναντία ἡμῖν: εἰ δὲ μή, φεύγειν αὐτὸν καὶ γενεὰν καὶ τῶν ὄντων στέρεσθαι; Diod. 18,56,7. Diod. 18,69,3 f. Vgl. Waterfield 2011: 82 f. Vgl. zum Freiheitsslogan unter den Diadochen eingehend Dmitriev 2011: 112–141, der allerdings annimmt, der Slogan habe dazu gedient, Kriege gegen andere Diadochen vor der griechischen Öffentlichkeit zu legitimieren (128). Gruen 1984: 133–143 erwähnt zwar beiläufig, dass Polyperchons Proklamation zum Sturz der von Kassander installierten Oligarchien geführt habe (134), aber auch für ihn handelt es sich vor allem um „a convenient Instrument for rival dynasts to use against one another“ (142). Auch Seager 1981 konzentriert sich auf den außenpolitischen Aspekt der Parole.

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Nachdem die Belagerung der Stadt gescheitert war,66 sollen aber bereits 318 viele Poleis wieder zu Kassander übergelaufen sein, wobei Diodor allerdings nichts über die damit mutmaßlich verbundenen inneren Wirren in diesen Orten berichtet.67 Auch in Athen wendete sich das Blatt nun erneut; angesichts der militärischen Überlegenheit Kassanders konnten sich hier laut Diodor in wiederum tumultuarischen Volksversammlungen jene durchsetzen, die eine Allianz mit ihm wünschten.68 Dass es hierbei nicht primär um eine außenpolitische Richtungsentscheidung, sondern vor allem um einen inneren Konflikt in Athen ging, wird daraus ersichtlich, dass nach dem Umschwung offenbar auf Druck Kassanders ein Zensus eingeführt wurde; augenscheinlich ging es ihm (ähnlich wie Ptolemaios in Kyrene) darum, seine φίλοι möglichst dauerhaft an der Spitze der Polis zu installieren.69 Der Exponent dieser fortan über mehrere Jahre hinweg dominanten Gruppierung war Demetrios von Phaleron.70 Dass wir nichts von Maßnahmen gegen die ‚Kassanderfeinde‘, die für Phokions Tod verantwortlich gewesen waren, hören, könnte darauf hindeuten, dass sich die nun (erneut) herrschende Parteiung dank der geänderten Verfassung und der makedonischen Rückendeckung – in der Munychia lag weiterhin eine Garnison – sicher genug fühlte, um auf Rache zu verzichten. Bei Ausbruch des Dritten Diadochenkrieges im Jahr 315 verkündeten sowohl Antigonos als auch Ptolemaios erneut die „Freiheit“ der Griechen,71 und kurz darauf zeigte sich, dass Argos noch immer von einer Gruppe um den 318 von Kassander installierten στρατηγός Apollonides dominiert wurde. Während dieser einen Feldzug gegen Stymphalos unternahm,72 erhoben sich laut Diodor seine Feinde in Argos gegen ihn und wandten sich an Polyperchons Sohn Alexander mit der Bitte um Unterstützung. Bevor dieser aber die Stadt erreicht hatte, war Apollonides mit seinen Soldaten bereits siegreich zurückgekehrt; er traf, so Diodor, viele seiner Gegner im Prytaneion versammelt an und ließ das Gebäude verschließen und in Brand setzen, wobei etwa 500 Bürger – offenbar Angehörige der Führungsschicht – den Tod gefunden haben sollen. Einige andere ließ Apollonides hinrichten, viele weitere verbannen.73 Diese Ereignisse scheinen andernorts Unzufriedene ermutigt zu haben, denn wenig später ließen die ‚Alexanderfeinde‘ in Orchomenos Kassander und seine Soldaten in ihre Stadt. Ihre internen Gegner, die mutmaßlich 319 die Macht in der Polis ergriffen hatten, ahnten offenbar, was ihnen nun bevorstand, und flüchteten sich in den Artemistempel. Kassander aber soll den mit ihm verbündeten Bürgern ausdrücklich gestattet haben, mit ihren Feinden 66 67 68 69 70 71 72 73

Vgl. zur Chronologie Errington 1977: 487–496. Diod. 18,74,1. Zur Griechenlandpolitik Kassanders und der ersten Antigoniden vgl. die grundlegende Untersuchung Buraselis 1982. Eine aktuelle Skizze bietet jetzt Grainger 2017: 18–28. Vgl. auch Kralli 2000. Diod. 18,74,2 f. Vgl. zu Demetrios von Phaleron Will 1985, Habicht 1995a: 62–75, O’Sullivan 2009a (grundlegend) und Faraguna 2016. Diod. 19,61. Der antigonidische Gebrauch der Freiheitsparole ist wenig später auch inschriftlich bezeugt; vgl. OGIS 5 und OGIS 6. Vgl. auch Dmitriev 2011: 123–125. Die erfolgreiche Belagerung von Stymphalos lässt sich archäologisch ungewöhnlich gut nachweisen; vgl. Weir 2007: 15 f. Diod. 19,63,1 f. Vgl. zu den Ereignissen Tomlinson 1972: 149 f. und Gehrke 1985: 33 f.

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nach Belieben zu verfahren, und so wurden die ‚Alexanderfreunde‘ aus dem Heiligtum gezerrt und sämtlich niedergemacht, ohne dass Diodor die Zahl der Opfer genau beziffern würde.74 Im folgenden Jahr kam es auch im achaiischen Dyme zu gewalttätigen Auseinandersetzungen: Eine Gruppe belagerte die Akropolis, auf der sich die von Kassander in die Stadt gelegte makedonische Garnison verschanzt hatte. Diese wurde zunächst von Alexander, der mittlerweile die Fronten gewechselt hatte, entsetzt, der einen Teil der Bürger verbannte – ein Vorgang, den man wahrscheinlich dergestalt interpretieren kann, dass er die Feinde der nun Exilierten zu den neuen Herren in der Polis machte. Doch die verbliebenen ‚Alexanderfeinde‘ versicherten sich der Hilfe einer Söldnertruppe und eroberten die Akropolis; nachdem sie die makedonische Garnison getötet hatten, erschlugen sie laut Diodor auch die ‚Alexanderfreunde‘ unter ihren Mitbürgern.75 2.1.3 Agathokles und die Stasis auf Sizilien Während also im Mutterland im Zuge des Zweiten Diadochenkrieges zwischen Polyperchon, Kassander und Antigonos vielerorts Staseis aufflammten, kam es ganz unabhängig hiervon auf Sizilien zu einer der blutigsten internen Auseinandersetzungen des gesamten Hellenismus: Im Jahr 316 (oder 317) ergriff in Syrakus der φύλαξ τῆς εἰρήνης Agathokles gewaltsam die Macht.76 Auch wenn Diodors Bericht,77 etwa was die vermeintlichen Omina und Orakelsprüche betrifft, die die Geburt des späteren Tyrannen begleitet haben sollen, natürlich erkennbar von nachträglichen Ausschmückungen geprägt ist,78 so sind die Angaben zu sozialem Hintergrund und Laufbahn des Agathokles konkret genug, um glaubwürdig zu sein.79 So mag man die Schilderung seines Aufstiegs vom Töpfer zum reichen Mann noch der Topik verdächtigen,80 aber es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, dass er in einen Konflikt mit anderen Angehörigen der sozialen Elite der Polis geriet, als ihm eine weitere Karriere verwehrt wurde, und sich in diesem Zusammenhang laut Diodor zum Anführer einer „demokratischen“ Partei auf74 75 76

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Diod. 19,63,5. Vgl. auch Anson 2014: 132 f. und Campion 2014, der in diesem Zusammenhang mit Recht die Bedeutung von inneren Konflikten betont: „Political struggle, stasis, within the Greek cities was always rife“ (82). Diod. 19,66,4–6. Vgl. Campion 2014: 85. Diod. 19,2–9. Die schillernde Gestalt des Agathokles hat in der Forschung natürlich vielfach Beachtung gefunden; vgl. etwa Berve 1953, Meister 1984, Consolo Langher 2000 (grundlegend), Lehmler 2005: 36–39, Lewis 2006 und Simonetti Agostinetti 2008. Von vornehmlich wissenschaftsgeschichtlichem Interesse ist die klassische Skizze bei Tillyard 1908, der die blutigen Umstände der Machtübernahme des Agathokles bemerkenswerterweise fast ganz übergeht. Zur Geschichte von Syrakus im 4. Jahrhundert vgl. zuletzt Evans 2016: 163–189. Vgl. zu Diodors Darstellung des Agathokles, die wesentlich auf Timaios und Duris zurückgehen dürfte, Meister 1991. Derlei war bereits seit Herodot fester Bestandteil der Tyrannentopik; vgl. Hdt. 1,59. Vgl. auch Will 1979: 114–118. Eine aktuelle Skizze zur Vorgeschichte der Ereignisse von 317/16 bietet nun Tokarczuk 2012. FGrHist 566 F 124c.

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2. Die literarische Überlieferung

schwang, die sich gegen eine angebliche Oligarchie, eine δυναστεία der Sechshundert, auflehnte.81 Da es ihm offenbar nicht gelang, den Demos auf seine Seite zu ziehen – ein Umstand, der die Behauptung, er habe als Vorkämpfer der Demokratie gegolten, natürlich in ein eigentümliches Licht rückt –, konnten ihn seine Gegner Sostratos und Herakleides82 zunächst zusammen mit einigen Anhängern aus Syrakus drängen.83 Während er sich als Söldner durchschlug, kam es in seiner Heimatstadt jedoch ohne seine Mitwirkung zu einer erneuten Auseinandersetzung, die zur Verbannung von Sostratos und seiner Partei führte; die Folge war laut Diodor ein regelrechter Krieg (πόλεμος) zwischen diesen Exilierten, die sich karthagischer Unterstützung versichern konnten, und jenen Bürgern, die für sich die Verteidigung der Demokratie in Anspruch nahmen.84 In diesen Kämpfen konnte sich der nach Syrakus zurückgekehrte Agathokles offenbar so sehr profilieren,85 dass ihn der στρατηγός Akestorides verdächtigt haben soll, selbst nach einer Tyrannis zu streben.86 Da dieser, so Diodor, aber keine weitere Stasis habe beginnen wollen, soll er einen heimlichen Mordanschlag auf Agathokles angeordnet haben, dem dieser jedoch entronnen sei.87 Die dominierende Gruppe in Syrakus schloss nun Frieden mit den Karthagern und der Sostratos-Partei, die in die Polis zurückkehrte, während Agathokles und seine Anhänger verbannt wurden. Erst nachdem er vor den Bürgern einen heiligen Eid geschworen hatte, nichts gegen die Demokratie zu unternehmen, durfte er zurückkehren. Diodor berichtet, die Hetairien in Syrakus seien untereinander weiterhin vielfach verfeindet gewesen, doch als hauptsächlicher Antagonismus habe sich bald der Konflikt zwischen den „Sechshundert“ und Agathokles erwiesen.88 Dieser habe nun eine Armee aufgebaut, die zum einen aus jenen Bürgern von Syrakus bestand, die aufgrund von Armut oder Neid (διὰ πενίαν καὶ φθόνον) mit den „Sechshundert“ verfeindet gewesen seien,89 zum anderen aus etwa 3000 auswärtigen Söldnern. Wohl 316 entschied er sich zum entscheidenden Schlag, lockte Peisarchos und Diokles, die inzwischen als die Anführer der Gegenpartei galten, gemeinsam mit vierzig ihrer Vertrauten in einen Hinterhalt und ließ sie unter dem Vorwand ergreifen, sie planten einen Anschlag auf ihn und die Demokratie. Das πλῆθος von Syrakus habe sich daraufhin, so Diodor, gemeinsam mit den Söldnern auf jene gestürzt, die als Oligarchen galten, und ein furchtbares Blutbad an81 82

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Diod. 19,4,3. Bemerkenswerterweise hatte Agathokles einen Onkel namens Herakleides. Sollte es sich dabei tatsächlich um ein und dieselbe Person handeln, wäre dies ein Indiz dafür, dass der spätere Tyrann durchaus über enge familiäre Beziehungen zur herrschenden ‚Oligarchie‘ verfügte; allerdings lässt sich die Frage bis auf weiteres nicht klären; vgl. Tokarczuk 2012: 153. Diod. 19,3,5. Diod. 19,4,3. Das Marmor Parium erwähnt für das Jahr 319/18 seine Wahl zum στρατηγός für die ἐρύματα auf Sizilien; FGrHist 239 B 12. Vgl. zu Akestorides Seibert 1963: 119. Diod. 19,5,1. Diod. 19,5,6. Diod. 19,6,3. Vgl. zu den „Sechshundert“ Welwei 2011: 392 f.

2.1 Das 4. Jahrhundert v. Chr.

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gerichtet. Die offenkundig von Thukydides90 inspirierte Darstellung des Mordens versammelt dabei auf engstem Raum nahezu alle Topoi, die in den literarischen Quellen zu Staseis erscheinen,91 und verdient es daher, im Wortlaut wiedergegeben zu werden: ὁρμησάντων δὲ πάντων ἐπὶ τὴν ἁρπαγὴν ἡ πόλις ἐπληρώθη ταραχῆς καὶ μεγάλων ἀτυχημάτων: οἱ μὲν γὰρ χαριέστατοι τῶν πολιτῶν, ἀγνοοῦντες τὸν καθ᾽ αὑτῶν κεκυρωμένον ὄλεθρον, ἐξεπήδων ἐκ τῶν οἰκιῶν εἰς τὰς ὁδούς, μαθεῖν σπεύδοντες τὸν θόρυβον, οἱ δὲ στρατιῶται τὰ μὲν διὰ τὴν πλεονεξίαν, τὰ δὲ διὰ τὸν θυμὸν ἠγριωμένοι τὰς ψυχὰς ἀνῄρουν τοὺς διὰ τὴν ἄγνοιαν γυμνὰ τὰ σώματα τῶν ἀμυνομένων ὅπλων παρεχομένους. διαληφθέντων δὲ τῶν στενωπῶν κατὰ μέρος ὑπὸ τῶν στρατιωτῶν οἱ μὲν κατὰ τὰς ὁδούς, οἱ δ᾽ ἐν ταῖς οἰκίαις ἐφονεύοντο. πολλοὶ δὲ καὶ τῶν μηδ᾽ ὁτιοῦν διαβεβλημένων ἀνῃροῦντο, δεόμενοι μαθεῖν τὴν αἰτίαν τῆς ἀπωλείας. καθωπλισμένον γὰρ πλῆθος ἐξουσίαν προσλαβὸν οὐ διέκρινε φίλον ἢ πολέμιον, ἀλλὰ παρ᾽ οὗ πλέον ὠφεληθήσεσθαι διειλήφει, τοῦτον ἐχθρὸν ἡγεῖτο. διὸ καὶ παρῆν ὁρᾶν πᾶσαν τὴν πόλιν πεπληρωμένην ὕβρεως καὶ φόνων καὶ παντοίων ἀνομημάτων. οἱ μὲν γὰρ διὰ τὰς προϋπαρχούσας ἔχθρας οὐδεμιᾶς ἐπηρείας ἀπείχοντο κατὰ τῶν μισουμένων, ἔχοντες ἐξουσίαν διατιθέναι πᾶν τὸ κεχαρισμένον τῷ θυμῷ: οἱ δὲ ταῖς τῶν εὐπόρων σφαγαῖς οἰόμενοι τὰς ἰδίας ἀπορίας ἐπανορθώσασθαι πᾶν ἐμηχανῶντο πρὸς τὸν κατ᾽ αὐτῶν ὄλεθρον. οἱ μὲν γὰρ τὰς αὐλίους θύρας ἐξέκοπτον, οἱ δὲ διὰ κλιμάκων ἐπὶ τὰς ὀροφὰς προσανέβαινον, ἄλλοι δὲ διηγωνίζοντο πρὸς τοὺς ἀπὸ τῶν στεγῶν ἀμυνομένους. οὐ μὴν οὐδὲ τοῖς εἰς τὰ τεμένη καταφυγοῦσιν ἡ τῶν θεῶν ἱκετεία παρείχετο τὴν ἀσφάλειαν, ἀλλ᾽ ἡ πρὸς θεοὺς εὐσέβεια ἐνικᾶτο πρὸς ἀνθρώπων. καὶ ταῦτ᾽ ἐτόλμων ἐν εἰρήνῃ καὶ πατρίδι παρανομεῖν Ἕλληνες καθ᾽ Ἑλλήνων, οἰκεῖοι κατὰ συγγενῶν, οὐ φύσιν, οὐ σπονδάς, οὐ θεοὺς ἐντρεπόμενοι, ἐφ᾽ οἷς οὐχ ὅτι φίλος, ἀλλὰ καὶ παντελῶς ἐχθρός, μέτριός γε τὴν ψυχήν, οὐκ ἔστιν ὅστις οὐκ ἂν τὴν τῶν πασχόντων τύχην ἐλεήσειεν. Alles beeilte sich, an der Plünderung (ἁρπαγή) teilzunehmen, und die Polis war erfüllt von Aufruhr (ταραχή) und großen Grausamkeiten: Denn die Edelsten unter den Bürgern, die nichts von dem Verderben ahnten, das ihnen bestimmt war, strömten aus ihren Häusern auf die Straße, weil sie begierig waren zu erfahren, was die Ursache des Tumultes war; und die Söldner, wild vor Wut und Gier (πλεονεξία), fuhren damit fort, diese Männer zu töten, die ihnen aus Unkenntnis über die Situation bar jeder Waffe, um sich zu schützen, entgegen traten. Besonders die engsten Gassen wurden von den Soldaten besetzt, und so wurden die Opfer ermordet, manche auf der Straße, manche in ihren Häusern. Es wurden auch viele erschlagen, gegen die gar keine Anklage vorlag, während sie noch herauszufinden versuchten, was der Grund des Massakers sei. Denn die bewaffnete Menge (πλῆθος) unterschied nicht zwischen Freund und Feind, sondern vielmehr wurden jene, bei denen man die größte Beute vermutete, wie Feinde behandelt. Und so sah man die ganze Stadt erfüllt von Gräuel, Schlachten und jeder Art von Gesetzlosigkeit. Denn aufgrund von lange gehegtem Hass (διὰ τὰς προϋπαρχούσας ἔχθρας) enthielten sich manche Männer keiner Schandtat gegenüber den Zielen ihrer Feindschaft, nun, da sie die Gelegenheit hatten, alles zu tun, um ihren Zorn (θυμός) zu stillen; andere wollten durch die Ermordung der 90 91

Thuk. 3,81–83; vgl. zur thukydideischen Schilderung die Analyse bei Price 2001: 6–66 sowie Palmer 2017. Diod. 19,6,6–19,7,4. Der Einfluss der tragischen Geschichtsschreibung auf diese Passage ist augenfällig. Eine erhellende Analyse der Gewaltdarstellungen (nicht nur innerer Gewalt) und der entsprechenden Diskurse in der hellenistischen Literatur bietet Zimmermann 2013: 165–218 (bes. 187–197). Vgl. zum hellenistischen Stasisdiskurs nun auch Börm 2018.

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2. Die literarische Überlieferung Wohlhabenden ihre eigene Armut ablegen und scheuten daher kein Mittel, diese zu vernichten. Einige schlugen die Türen der Häuser ein, andere stiegen mit Leitern auf die Dächer, und wieder andere rangen mit Leuten, die sich von ihren Dächern aus zu verteidigen suchten. Nicht einmal jenen, die in die Tempel flüchteten, gewährten ihre Gebete zu den Göttern Schutz, sondern die Verehrung der Götter wurde von Menschen umgestürzt. Inmitten des Friedens und in ihrer eigenen Vaterstadt wagten es Hellenen, derartige Verbrechen an anderen Hellenen zu verüben, Hausgenossen an Verwandten, wobei sie weder die natürliche Ordnung noch beschworene Verträge noch die Götter zurückhielten (οὐ φύσιν, οὐ σπονδάς, οὐ θεοὺς ἐντρεπόμενοι); Verbrechen, so furchtbar, dass niemand – ich sage nicht „kein Freund“, sondern nicht einmal ein Todfeind, wenn er nur einen Funken Mitgefühl in seiner Seele hatte – das Schicksal der Opfer nicht beklagt hätte.

Die Angabe, es seien an einem einzigen Tag etwa 4000 Menschen niedergemacht worden, ist natürlich, wie manches an Diodors Bericht, nicht über jeden Zweifel erhaben, angesichts der Größe von Syrakus aber auch nicht grundsätzlich unglaubwürdig.92 Trotz geschlossener Stadttore, so Diodor weiter, sei es überdies ungefähr 6000 Bürgern gelungen, dem Gemetzel zu entkommen und nach Akragas zu fliehen. Die Anhänger des Agathokles hätten daraufhin systematisch die Frauen und Töchter der Geflüchteten geschändet, um sie auf diese Weise zu entehren.93 Am zweiten Tag soll Agathokles das Töten beendet und sich den Anführern der Gegenpartei, die er anfangs hatte ergreifen lassen, zugewandt haben. Einen einzigen von diesen, einen gewissen Deinokrates, habe er begnadigt, die restlichen getötet oder verbannt, bevor er vor die Volksversammlung getreten sei und verkündet habe, er wolle sich nun, nachdem er der Polis die Autonomie zurückgegeben und sie von der Herrschaft der Oligarchen befreit habe, ins Privatleben zurückziehen. Da aber jene, die nun in der Versammlung den Ton angaben, sich während der vorangegangenen Ereignisse schwerster Verbrechen schuldig gemacht hätten, so Diodor, hätten diese aus Furcht vor Rache und vor dem Verlust des soeben geraubten Besitzes Agathokles angefleht, die Strategie zu übernehmen.94 So sei das gemeinsame Verbrechen an den eigenen Mitbürgern das Fundament für seine Herrschaft geworden. Da er sich geweigert habe, die Macht zu teilen, sei Agathokles schließlich zum στρατηγός αὐτοκράτωρ gewählt worden und habe versucht,95 den ärmeren Teil der Bürgerschaft durch zwei nachgerade klassische Versprechungen auf seine Seite zu ziehen,

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94 95

Diod. 19,8,1. Diod. 19,8,3–5. Hierbei mag es sich um Tyrannentopik handeln; vgl. Trampedach 2006: 8. Syrakus war damit allerdings offenbar, wie kaum anders zu erwarten, keineswegs befriedet. Diodor sowie einem Fragment (Pap. Oxy. XIV 2399) des Geschichtswerkes eines unbekannten Autors (Duris?) ist zu entnehmen, dass es im Jahr 310, als karthagische Truppen vor der Stadt standen, in Abwesenheit des Agathokles zu heftigen Konflikten kam, in deren Folge sein Bruder Antandros weitere 8000 Bürger verbannen ließ (Diod. 20,15 f.). Offenbar fürchtete man, dass sie, angeleitet von einem gewissen Diognetos, im Bündnis mit den bereits Exilierten und den Karthagern gegen die in der Stadt herrschende Parteiung vorgehen könnten; vgl. Berger 1988. Diod. 19,9,2–4. Das Geschilderte gleicht einer recusatio imperii. FGrHist 239 B 14.

2.1 Das 4. Jahrhundert v. Chr.

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indem er vor der Ekklesia einen Schuldenerlass und eine Bodenreform ankündigte.96 In Anschluss an Pompeius Trogus berichtet Justin im Unterschied zu Diodor nichts von einem allgemeinen Massaker,97 sondern konzentriert sich in seinem knappen Bericht auf Agathokles als Hauptakteur, der seine Feinde, die Ratsmitglieder und die reichsten Bürger habe erschlagen lassen; die entscheidende Unterstützung habe er dabei von Seiten Karthagos erhalten.98 Ungefähr zu der Zeit, als sich in Syrakus diese blutigste Eskalation einer Stasis zutrug, von der die erhaltene Überlieferung zum Hellenismus weiß, scheint auch in der Polis Kroton ein Zwist in der Bürgerschaft gewaltsam ausgetragen worden zu sein: Eine Gruppe, der man vorwarf, im Bündnis mit Herakleides und So(si)stratos aus Syrakus die Demokratie bekämpft zu haben, war laut Diodor von ihren Feinden aus der Stadt gedrängt worden und hatte daraufhin über einen längeren Zeitraum hinweg versucht, ihre Rückkehr zu erzwingen.99 Wohl 316 scheiterte eine nächtliche Attacke auf die Parteiung um die στρατηγοί Paron und Menedemos, die Kroton kontrollierte, und kurz darauf wurden die Verbannten ihrerseits von ihren Feinden überfallen und, so Diodor, sämtlich niedergemacht.100 Auch für die Folgezeit ermöglicht uns Diodor einen Blick auf Ereignisse in der Magna Graecia, die erneut den Verdacht erhärten, dass der Zweite Diadochenkrieg im Mutterland den Anlass, nicht aber die eigentliche Ursache für Staseis darstellte.101 312 erschien so laut Diodor Agathokles mit einer Armee vor Messina und zwang die Stadt zunächst zur Auslieferung der dorthin geflüchteten Syrakusaner; anschließend nötigte er sie dazu, die Verbannten aus Messina, die sein Heer begleiteten, wieder aufzunehmen und zu amnestieren, bevor er, wie wir lesen, 600 Bürger aus Messina und Tauromenion, die zur Gegenpartei gezählt wurden, niedermachen ließ.102 Agathokles installierte also seine Freunde wieder in der Stadt und vernichtete ihre Feinde, um die Polis auf diese Weise fest in seine Hand zu bringen.103 96 ἐπηγγέλλετο γὰρ Ἀγαθοκλῆς κατὰ τὴν ἐκκλησίαν καὶ χρεῶν ἀποκοπὰς ποιήσεσθαι καὶ τοῖς πένησι χώραν δωρήσεσθαι; Diod. 19,9,5. Diese beiden Schlagworte werden im Folgenden noch öfter begegnen. Grundlegend zum γῆς ἀναδασμός ist Orth 1986, der annimmt, das Phänomen sei „weniger in der realen sozialen Entwicklung, als vielmehr im Bereich der politischen Schlagworte angesiedelt“ (739). Vgl. auch Gehrke 1985, demzufolge „man bei ‚Bodenreform‘ und ‚Schuldentilgung‘ in erster Linie an Maßnahmen spezifisch tyrannischer Natur“ (325) dachte (so auch Orth 1986: 726 f.). Bereits Passerini 1930 verwies darauf, dass von Enteignungen lediglich die unterlegenen Antagonisten betroffen gewesen seien: „La distribuzione di beni fu limitata ai beni di vinti“ (277). Kritik an dieser Argumentation äußert Eich 2006: 543–555, der dafür plädiert, die Aussagen der Quellen ernster zu nehmen. 97 Selbst wenn man annimmt, Diodor habe das Ausmaß des Gemetzels übertrieben, ist dennoch bemerkenswert, dass Justin die Vorgänge vollständig übergeht. Tun dies unsere Quellen vielleicht auch in Fällen, in denen es keine Parallelüberlieferung gibt? 98 Iust. 22,2. 99 Vgl. de Sensi Sestito 2015: 14. 100 Diod. 19,10,3 f. 101 In der Forschung erscheinen die peloponnesischen Poleis hingegen vielfach als weitgehend passive Opfer der Diadochenkämpfe; vgl. etwa Mackil 2013: „The Peloponnesian cities became crudely trapped between the shifting alliances of the successors in these tumultous years“ (94). 102 Diod. 19,102,5 f. Vgl. Rubinstein 2013: 135 (Anm. 17). 103 Diod. 19,102,1–7.

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2. Die literarische Überlieferung

Kurz darauf rief, so Diodor weiter, umgekehrt eine Gruppe von πολιτικοί aus Kentoripina, in das Agathokles eine Garnison gelegt hatte, die aus Syrakus Verbannten zu Hilfe, die unter Nymphodoros tatsächlich vor der Stadt erschienen, diese aber trotz der Unterstützung ihrer Verbündeten in der Polis nicht einzunehmen vermochten.104 Nachdem Nymphodoros im Kampf gefallen war, hielt Agathokles laut Diodor ein Strafgericht und ließ jene Bürger von Kentoripina, denen er die Schuld an der Stasis gab, töten.105 Und als Syrakusaner φυγάδες um den 316 verschonten Deinokrates106 derweil auch von einer Stasisgruppierung in Galerias zur Hilfe gerufen wurden und zunächst für die Vertreibung der dortigen Partei des Agathokles sorgten, entsandte dieser eine Armee, die Deinokrates besiegte, Galerias eroberte und die Mitglieder der Gegenpartei bestrafte, ohne dass Diodor hier ins Detail gehen würde – angesichts der sonstigen Politik des Agathokles darf man aber wohl von weiterem Blutvergießen ausgehen.107 Ungeachtet der Ereignisse von 312 gab es in Kentoripina fünf Jahre später aber erneut (oder immer noch?) eine Gruppe, die gegen Agathokles’ Anhänger in der Stadt stand und hochverräterisch den στρατηγός von Akragas, Xenodokos (Xenodikos), in die Polis ließ, dessen Angriff aber scheiterte.108 Kurz darauf wiederholte sich dies laut Diodor um ein Haar auch in Apollonia: Einige Bürger verrieten ihre Stadt an Xenodokos, der offenbar mit einer Freiheitserklärung für seine Sache geworben hatte, aber den Widerstand seiner Feinde in der Stadt nur mit großer Mühe brechen konnte; ein Blutbad, dem viele Apollonier zum Opfer gefallen seien, habe sich angeschlossen.109 Und auch in Akragas selbst, wo es bereits 314 zu Unruhen gekommen war,110 fand Agathokles, der sich der Stadt nun bemächtigen wollte, laut Diodor 307 eine Stasis vor. Eine Niederlage gegen die Truppen von Syrakus führte hier demnach schließlich dazu, dass Xenodokos vor seinen eigenen Mitbürgern aus der Stadt flüchten musste.111 2.2 Das 3. Jahrhundert v. Chr. Für die Folgezeit nimmt die Zahl der literarisch bezeugten Staseis erheblich ab, was nicht zuletzt dem Umstand zuzuschreiben sein dürfte, dass die Quellenlage nach dem Abbruch der vollständig erhaltenen Passagen Diodors bedeutend schwieriger wird.112 104 Diod. 19,103,2. 105 Diod. 19,103,2–4; vgl. Tillyard 1908: 68. Ob ein Inschriftenfragment (IG XIV 302) aus der Polis mit dem Wort ὁμονοίας in diesen Zusammenhang gehört, ist unklar. 106 Vgl. zu den φυγάδες um Deinokrates auch Meister 1984: 390–393 und 400–405. 107 Diod. 19,104,2. 108 Diod. 20,56,3. 109 Diod. 20,56,4. Diodors Bericht wird akzeptiert von Huß 1985: 196. 110 Diod. 19,71,1–5. 111 Diod. 20,62,2–5. 112 Offenbar kam es so im frühen 3. Jahrhundert auf Nisyros zu einer Stasis; hierfür spricht zumindest eine sehr fragmentarische Inschrift (Syll.3 1220), die bei hoher Strafandrohung die Beisetzung bestimmter Personen und die Errichtung von Grabbauten verbietet. Die Hintergründe liegen aber vollständig im Dunkeln. Der Text wird meist als Tyrannengesetz gedeutet; vgl. Berve 1967: 422, Lund 1992: 122 und Teegarden 2013: 966.

2.2 Das 3. Jahrhundert v. Chr.

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Gut illustriert wird dies durch das Beispiel des Menedemos, der in Eretria bald nach 300 in einen Konflikt mit anderen Aristokraten geriet und laut Diogenes Laertios versuchte, seine Polis gewaltsam von „Tyrannen“ zu befreien, die von Demetrios Poliorketes unterstützt worden seien.113 Als Gegenspieler wird ein gewisser Aristodemos genannt, der Menedemos später seinerseits vorgeworfen haben soll, Eretria an Antigonos Gonatas verraten zu wollen; da der König ihm nicht zur Hilfe gekommen sei, habe Menedemos zuletzt Selbstmord begangen. Da Diogenes zwei sehr verschiedene Versionen der Geschichte bietet, die beide in sich nichts Unplausibles enthalten, lässt sich wohl nur mit Gewissheit konstatieren, dass Menedemos, der in seiner Heimatstadt als πρόβουλος eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte, Feinde innerhalb der Oberschicht hatte, und dass diese Konflikte sich an die Auseinandersetzungen zwischen den Diadochen anlehnten, ohne von ihnen verursacht worden zu sein.114 Von Duris von Samos berichtet Athenaios beiläufig, er habe als τύραννος seiner Heimatstadt agiert.115 Ähnlich problematisch sind die Informationen zu Hieron von Priene. Bald nach der Schlacht von Ipsos soll sich dieser laut einer dürren Notiz bei Pausanias zum Herren bzw. Tyrannen seiner Heimatpolis aufgeschwungen und ein grausames Regiment geführt haben.116 Näheres erfährt man lediglich dank des inschriftlichen Befundes, dem zu entnehmen ist, dass die Ereignisse sich vor dem Hintergrund einer Stasis abspielten und es wohl 297 einer großen Gruppe aus zuvor Verbannten, die sich zwischenzeitlich als rechtmäßige Bürgerschaft von Priene verstanden und als solche auch Psephismata beschlossen hatten, gelang, die Stadt gewaltsam einzunehmen und (wieder) an die Macht zu gelangen.117 Zuvor hatte sich die Gruppe um Hieron offenbar vergeblich um Unterstützung durch Demetrios und Lysimachos bemüht. Auf Konflikte innerhalb der Oberschicht Thebens schließlich dürfte hindeuten, wenn Demetrios hier laut Diodor wenige Jahre später 14 Männer hinrichten ließ, die man ihm als Schuldige dafür benannt hatte, dass die Polis zuvor von ihm abgefallen war.118 Wahrscheinlich waren die Opfer von ihren Feinden unter den Mitbürgern denunziert worden.

113 Diog. Laert. 2,125 ff.; vgl. hierzu auch Berve 1967: 389, Knoepfler 1991 (grundlegend) und Dreyer 1999: 377–380. 114 Diog. Laert. 2,142 f. Vgl. Haake 2007: 177–181. 115 Athen. 8,18. Vermutlich besteht ein Zusammenhang mit der Rückkehr der Verbannten, zu denen auch Duris gezählt hatte, nach Samos im Jahr 321; Paus. 6,13,5; vgl. Barron 1962. Diese dürfte eine Stasis ausgelöst haben, in der zunächst Duris’ Vater Kaios eine prominente Rolle gespielt zu haben scheint; vgl. Kebric 1977: 1–10, Shipley 1987: 179 und Gray 2015: 304. Durchaus denkbar ist aber, dass sich Duris erst einige Zeit später mit Hilfe von Antigonos oder Lysimachos durchsetzen konnte; vgl. die Diskussion bei Lund 1992: 123–125. Ob Duris tatsächlich Alleinherrscher über Samos oder lediglich ein besonders prominenter Protagonist einer Parteiung in der Polis war, ist unklar. 116 Paus. 7,2,10. Vgl. zu Pausanias als Quelle zur griechischen Geschichte allgemein auch die grundlegenden Beobachtungen bei Ameling 1994, der neben einem besonderen Interesse an Athen vor allem eine grundsätzlich romfeindliche Tendenz konstatiert: „Pausanias lehnte Rom und seine Herrschaft in vielfältiger Form ab“ (158). 117 I.Priene 37; vgl. zur Datierung Crowther 1996: 211–214 und Walser 2008: 84. 118 Diod. 21,14,1. Hammond – Walbank (1988: 221) datieren die Einnahme Thebens durch die Antigoniden auf den Winter 291/290.

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2. Die literarische Überlieferung

2.2.1 Lachares und die Stasis in Athen Wie überaus problematisch, zufällig und lückenhaft die literarische Überlieferung zu innerstädtischen Auseinandersetzungen im Hellenismus sogar für die größten und bedeutendsten Poleis Griechenlands ist, illustriert sodann auf anschauliche Weise das Beispiel jener Stasis, die bald nach der Schlacht von Ipsos Athen erschütterte. Obwohl es sich hierbei um einen länger anhaltenden Konflikt mit heftigen Kampfhandlungen und auswärtiger Einmischung gehandelt zu haben scheint, haben die Ereignisse ungeachtet ihrer Bedeutung nur marginale Spuren in der erhaltenen Überlieferung hinterlassen. Inschriften und knappe Notizen bei Plutarch,119 Polyainos120 und Pausanias121 waren lange Zeit die einzigen Hinweise darauf, dass sich damals ein gewisser Lachares zum Tyrannen aufgeschwungen habe.122 Diese Zuordnung wird bis heute in der Regel akzeptiert, obwohl bereits 1927 drei stark beschädigte Papyri mit Fragmenten eines wohl kaiserzeitlichen Geschichtswerkes publiziert wurden, als deren Autor seit Felix Jacoby manchmal Phlegon von Tralleis vermutet wird.123 Soweit man sieht, handelt es sich um einen nüchternen Bericht – offenbar eine Olympiadenchronik – ohne erkennbare Tendenz, aber von hoher Relevanz. Den wenigen erhaltenen Zeilen lässt sich nämlich entnehmen, dass es in Athen wohl 301 oder eher 300 zu einer Stasis zwischen zwei Gruppen gekommen war, als deren Anführer sich die beiden στρατηγοί Lachares und Charias gegenüberstanden, wobei die Parteiung des Letztgenannten irgendwann die Akropolis besetzte (Χαρίας μὲν τὴν ἀκρόπολιν κατελάβετο) – ein Umstand, der ihn im Grunde genommen viel eher als seinen Rivalen Lachares als Tyrannen kennzeichnen müsste, was in der Forschung aber erstaunlicherweise kaum beachtet wird.124

119 Plut. Demetr. 33. Vgl. zur Demetriosvita nun Diefenbach 2015 (grundlegend). Zu Demetrios’ Agieren nach Ipsos vgl. zuletzt Anson 2014: 173–186. 120 Polyain. 3,7,1–3. 121 Paus. 1,25,7 f. An anderer Stelle (1,29,10) erwähnt Pausanias beiläufig die Grabstätten von Männern, die vergeblich versucht hätten, den „Tyrannen Lachares“ zu töten (τοῖς μὲν ἐπιθεμένοις τυραννοῦντι Λαχάρει). 122 Hinzu kommt ein kaiserzeitliches Papyrusfragment (Pap. Oxy. X 1235), das erwähnt, eine Komödie Menanders habe während des Archontats des Nikokles (302/301) διὰ Λαχάρην τὸν τυραννή¢σαντα nicht aufgeführt werden können. Vgl. O’Sullivan 2009b, die die ältere Forschung eingehend diskutiert und mit bedenkenswerten Argumenten zu der Hypothese gelangt, es handle sich nicht um belastbare historische Informationen, sondern um einen auf eine Fehlinterpretation der Dramen Menanders, eine „unscrupulous extrapolation from comedy“, zurückgehenden späteren Irrtum. 123 FGrHist 257 F 1–3 (= Pap. Oxy. XVII 2082). Vgl. Ferguson 1929 und Post 1930 sowie nun die Edition und den Kommentar bei Rzepka 2011. 124 Vgl. nun Börm (im Druck a). Errington 2008 erwähnt Charias überhaupt nicht, sondern spricht davon, Lachares habe unter Ausnutzung einer Hungersnot durch einen „putsch that formally left the organs of democracy intact“ (53) die Kontrolle über Athen erlangt. Bayliss 2011 führt aus, Lachares habe einer „military junta led by Charias“ die Macht entrissen und so eine Tyrannis errichtet (64). Wie wenig in der Forschung das Verdikt der Quellen, Lachares sei ein Tyrann gewesen, bislang in der Regel hinterfragt worden ist (vgl. auch Berve 1967: 387–389, Shipley 2000: 122 f., O’Sullivan 2009b: 54 und Anson 2014: 176), zeigt exemplarisch Habicht 1995a, der die Nachricht, es sei Charias gewesen, der die Akropolis besetzte, schlicht damit erklärt, dieser habe „offenbar zu seinem Schutz“ gehandelt (91). Skeptischer ist Grieb 2008: 76 f.

2.2 Das 3. Jahrhundert v. Chr.

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Die genaue Chronologie der Ereignisse ist ebenso umstritten wie ihr Verlauf.125 Offenbar aber glaubte die Gruppe um Lachares, sich nach Ipsos von der Dominanz der ‚antigonidischen‘ Partei, als deren Exponent Plutarch zufolge insbesondere Stratokles von Diomeia gegolten hatte,126 befreien zu können, und lehnte sich dabei laut Pausanias an Kassander an.127 Folgt man dem anonymen Fragment, so konnte sie Charias und seine Anhänger, die offenbar die Versorgung des Demos mit Lebensmitteln nicht gewährleisten konnten,128 schließlich zur Aufgabe der Akropolis zwingen und in der Volksversammlung auf Antrag eines gewissen Apollodoros Todesurteile für die vier Anführer der Gegenpartei – neben Charias werden Lysandros, Ameinias und Kalliphon genannt – erwirken,129 die im Athenaheiligtum Zuflucht gesucht hatten.130 Die verbliebenen Anhänger des Charias, denen man freies Geleit gewährt hatte, besetzten daraufhin den Piräus, wo man sie jahrelang vergeblich belagerte.131 Die Parallelen zu den von Xenophon geschilderten Ereignissen ein Jahrhundert zuvor sind offenkundig,132 und es ist sehr wahrscheinlich, dass es Lachares und seiner Parteiung um eine Revision der Regelung von 307 ging. Als nach Kassanders Tod Demetrios Poliorketes vor Athen erschien, unterstützte ihn folgerichtig die Parteiung im Piräus, die wohl ohnehin aus ‚Antigonidenfreunden‘ bestand. Lachares, der in der Überlieferung als nachgerade 125 Sehr einflussreich war de Sanctis 1928; vgl. auch Osborne 1982: 144–153, Habicht 1995a: 88–94 und Grieb 2008: 73–77. Eine sehr gründliche Diskussion bietet Dreyer 1999: 17–110, der ebenfalls dem Urteil der literarischen Quellen folgt und von einer Tyrannis des Lachares spricht, wobei er allerdings angesichts des vorliegenden Materials in Erwägung zieht, dieser sei bis zu einem „Staatsstreich“ im Jahr 295 „nicht notwendigerweise ein völlig außerhalb der Legalität stehender Tyrann“ gewesen (44). Dreyer konstatiert zwar, dass Lachares auch 294 noch weite Teile des Demos hinter sich gehabt zu haben scheint (44), schreckt aber augenscheinlich davor zurück, die Kennzeichnung als „Tyrann“ als Polemik aufzufassen. Vielmehr nimmt er an, Lachares habe sich schrittweise in einen Tyrannen verwandelt und seine Gegner hätten ihn möglicherweise rückblickend bereits zu einem Zeitpunkt als solchen geschildert, als dies objektiv noch nicht zugetroffen habe (47). Beachtung verdient dabei auch, dass Dreyer einräumt, der von ihm postulierte „Staatsstreich“ des Lachares sei von den Zeitgenossen offenbar nicht als Zäsur verstanden worden (44). 126 Vgl. Plut. Demetr. 11 und 24,11. Vgl. Paschidis 2008: 78–106, Bayliss 2011: 152–186 und Luraghi 2014, der nicht nur bezweifelt, dass Stratokles’ mutmaßlich auf zeitgenössische Komödiendichter zurückgehende Charakterisierung als Demokrat zutreffend ist, sondern auch, dass die Übernahme derartiger Etikettierungen für den frühen Hellenismus sinnvoll ist. 127 Paus. 1,25,7. 128 Vgl. Ferguson 1929: 2–4, der als Ursache hierfür vermutet, dass Charias die Kontrolle über den Piräus verloren habe, und überdies annimmt, die Männer, die den Hafen besetzten, seien zu einem späteren Zeitpunkt von Lachares abgefallen. 129 Offenbar wurde das Todesurteil rechtswidrig kollektiv verhängt; ob dies, wie Ferguson 1929 annimmt, bedeutet, dass Lachares hierdurch eindeutig als „a tyrant, in the full sense of this term“ (5) gekennzeichnet werde, kann man allerdings bezweifeln: Es bedurfte keiner Tyrannis, um in der Ekklesia irreguläre Urteile zu fällen. Vielmehr erinnert das Vorgehen gegen Charias und die drei anderen an den Arginusenprozess bzw. an das Schicksal, das Phokion und seinen Mitstreitern widerfahren war. 130 Die entscheidende Passage muss zwar in weiten Teilen ergänzt werden, doch ist Χαρίου eindeutig lesbar, und auch zu τὴν ἀκρόπολιν ist keine sinnvolle Alternative erkennbar: καὶ τοὺς κα[ταλαβόν]τας μετὰ Χαρίου τὴ[ν ἀκρόπο]λιν καταγωνισάμενος [ὑποσπό]νδους ἀφῆκεν, Χα[ρ]ί[αν δὲ κα]ὶ Πει ¢θ¢ίαν καὶ Λύσανδρον [τὸν Κα]λ¢λιφῶντος καὶ ᾽Αμεινίαν [εἰς τὸν] ναὸν καταφυγόντας τῆς [᾽Αθήνη]ς ἐκκλησίαν ποιήσαντ[τες μιᾶι] ψήφωι πάντας ἀπέκτει[ναν … ᾽Α]πολλοδώρ[ου τὸ ψήφι]σμα [γράψαν]τος; FGrHist 257 F 2. 131 Vgl. Habicht 1995a: 92 f. 132 Xen. Hell. 2,3,11–2,4,43. Vgl. zu dieser Stasis Shear 2011 (grundlegend).

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2. Die literarische Überlieferung

archetypischer Tyrann – grausam und habgierig – erscheint,133 musste 294 flüchten und begab sich auf eine Odyssee durch Hellas,134 bis er schließlich ermordet wurde.135 Seine Angehörigen wurden verbannt, und der Sieg des Demetrios und seiner athenischen Anhänger wurde als erneute Wiederherstellung der Demokratie gefeiert.136 Dass Lachares tatsächlich eine unbestimmte Zeit lang als Tyrann herrschte, ist keineswegs auszuschließen; letzte Gewissheit wird sich hier schwerlich je erreichen lassen.137 Doch deutet, soweit ich sehe, nichts in den erhaltenen Quellen darauf hin, dass Lachares nicht nur eine prominente und einflussreiche Gestalt war, die unter den ‚Demetriosfreunden‘ viele Feinde besaß, sondern tatsächlich eine Alleinherrschaft über Athen errichtet hatte.138 Das einzige Indiz hierfür ist seine nachträgliche Etikettierung als Tyrann,139 und für eine solche lassen sich auch andere Ursachen denken als eine Monokratie in Athen – vor allem natürlich der schließliche Triumph der Piräuspartei.140 Der Umstand, dass die Stasis zwischen Lachares und Charias bei Plutarch, Polyainos und Pausanias überhaupt nicht erwähnt und so ein scheinbar widerspruchsfreies Bild ohne Ungereimtheiten geschaffen wird,141 illustriert daher auf anschauliche Weise, dass 133 Thonemann 2005 nennt den Lachares der Quellen treffend einen „implausible stage tyrant“ (64). Vgl. zum griechischen Tyrannendiskurs zuletzt Luraghi 2015. 134 Polyain. 3,7,1–3. Polyainos schildert, wie Lachares zunächst nach Theben, dann nach Delphi und schließlich nach Lysimacheia geflohen sei; die Listen, mit denen ihm dies jeweils gelungen sein sollen – das Verstreuen von Gold, um Verfolger abzulenken, oder das Verkleiden als Frau –, klingen dabei allerdings eher nach Tyrannentopik als nach realen Ereignissen. Steckt darin aber als wahrer Kern eine längere Flucht von Ort zu Ort, so könnte dies darauf hindeuten, dass Lachares vor allem als prominenter ‚Antigonidenfeind‘ verfolgt wurde, weniger als athenischer „Tyrann“. 135 Paus. 1,25,8. 136 Plut. Demetr. 34. Vgl. hierzu Ferguson 1929 und Shipley 2000: 123. 137 Vgl. auch Cartledge 2016: „There occurred an obscure ‚tyranny of Lachares‘; whatever it meant in practice, it symbolised the erosion of the old, largely stasis-free Classical democracy“ (243). 138 Dass damals die demokratischen Institutionen Athens zumindest äußerlich regulär weiterarbeiteten, betont mit Recht unter anderem Habicht 1995a: 91; vgl. auch Dreyer 1999: 78–109. Dies alleine muss keineswegs bedeuten, dass keine Tyrannis vorlag, denn eine solche ‚unsichtbare‘ Monokratie oder Oligarchie ist fraglos möglich; sie stellt den modernen Historiker allerdings vor enorme Probleme, wenn er zwischen Polemik und Realität unterscheiden möchte. Dass es sich bei den in IG II2 1956 genannten Personen um die Leibgarde des Lachares gehandelt hat (Habicht 1995a: 92), ist möglich, aber letztlich unbeweisbar. Dass er Söldner kommandierte, ist gut belegt, macht ihn aber nicht automatisch zum Tyrannen. 139 Bemerkenswerterweise erscheinen weder Lachares noch eine Tyrannis in einem Volksbeschluss vom April 294 (IG II2 646), in dem der Demos Demetrios’ Höfling Herodoros dafür dankt, die Freundschaft mit dem König vermittelt zu haben. Die Inschrift erwähnt zwar δημοκρατία, doch aufgrund einer Lücke im Text ist unklar, ob von einer Beibehaltung oder (wahrscheinlicher) einer Wiederherstellung die Rede ist. 140 Dass der Vorwurf, jemand sei ein Tyrann, die eigentlich perhorreszierte Gewalt gegenüber Mitbürgern legitimieren konnte, bezeugt etwa Polybios: καὶ μὴν τό γε τοὺς πολίτας ἀποκτεινύναι μέγιστον ἀσέβημα τίθεται καὶ μεγίστων ἄξιον προστίμων: καίτοι γε προφανῶς ὁ μὲν τὸν κλέπτην ἢ μοιχὸν ἀποκτείνας ἀθῷός ἐστιν, ὁ δὲ τὸν προδότην ἢ τύραννον τιμῶν καὶ προεδρείας τυγχάνει παρὰ πᾶσιν; Pol. 2,56,15. 141 Ein weiteres Fragment von Pap. Oxy. XVII 2082 erwähnt – allerdings stark ergänzt und in einem unklaren Zusammenhang mit Πειραιεύς und Λαχάρης – die Entlohnung fremder Söldner durch eingeschmolzenes Gold vom ἄγαλμα der Athena: κ¢α¢ὶ ¢ τ¢ὸ¢ [τ]ῆς ᾽Αθ[ηνᾶς ἄγαλμα τὸ] χρυσοῦν, κ¢αὶ ἀπ¢[ὸ τούτων τοῖς] ξ¢έ¢νοις ἐμισθοδ¢ό¢[τει]; FGrHist 257a F4. Die Quelle legt mithin nahe, dass sich Lachares in einer Notlage gezwungen sah, diese zweifellos höchst unpopuläre Maßnahme zu ergreifen, um kampfkräftige Soldaten bezahlen zu können. – Von einer Plünderung der Akropolis durch Lachares – offenbar ließ er die goldenen Schilde, die Alexander nach der Schlacht am Granikos dem Parthenon gestiftet hatte, entfernen –

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sich hinter dem, was in den Quellen als vermeintliche Tyrannenherrschaft erscheint, in Wahrheit oftmals, wenngleich nicht immer, eine Denunziation der Verlierer durch die Sieger (und die Identifikation eines Sündenbocks) verbergen dürfte.142 Dieses Phänomen wird in den folgenden Ausführungen noch häufiger begegnen. Überdies nährt diese Beobachtung auch den Verdacht, dass bereits Demetrios’ erste Einnahme Athens 307 im Kontext einer Stasis erfolgt sein könnte, über die die erhaltenen Quellen schweigen: Es spricht alles dafür, in Demetrios von Phaleron mit Diodor den Exponenten jener Parteiung zu erblicken, die sich 318 mit Kassanders Hilfe an der Macht etabliert hatte; dafür, dass er Feinde in der Stadt hatte, spricht nicht zuletzt das Todesurteil, das man 307 über ihn fällte. Trifft diese Hypothese zu, so brachen allein in Athen zwischen 318 und 300 mindestens dreimal Konflikte aus, die zu Verbannungen und Todesopfern in der Elite führten, wenngleich offene Kämpfe nur für den letzten der drei bezeugt sind.143 2.2.2 Stasis oder Söldnerrevolte? Dank der erhaltenen Diodorfragmente weiß man von interner Gewalt in Syrakus um das Jahr 289,144 wobei sich allerdings die Frage stellt, ob man Diodors Klassifikation der Ereignisse als στάσις folgen möchte: Offenbar hatten die Karthager die Polis gezwungen, zuvor Verbannte wieder aufzunehmen. Der erhaltene Auszug aus Diodors Werk legt nun nahe, dass es sich bei diesen zugleich um die im nächsten Satz genannten „Söldund der Beraubung der Athena (Promachos?) berichtet auch Pausanias, allerdings ohne den Kontext der Maßnahme, die Entlohnung von Soldaten, zu erwähnen; vielmehr scheint Lachares bei ihm – stereotyp tyrannisch – den Frevel aus blanker Habgier begangen zu haben: Er habe auf diese Weise großen Reichtum erlangt und sei aus diesem Grund nach seiner Flucht von „Männern aus Koroneia“ (ἄνδρες Κορωναῖοι) ermordet worden; Paus. 1,25,7 f. Vgl. auch Plut. Mor. 379d. 142 Ähnliches konstatiert Gauger 2005a: 1093 für Demetrios von Phaleron, der bei Pausanias (1,25,5 f.) ebenfalls als Tyrann firmiert. Bereits Helmut Berve hat das Problem teilweise erkannt, indem er feststellte, dass „der Begriff der Tyrannis seit dem 4. Jahrhundert vorwiegend moralisch gefaßt und weniger zur Kennzeichnung der politischen Situation als zur Charakterisierung der Herrschaftsausübung verwendet wurde“ (Berve 1967: 476). „Noch weniger als in den voraufgehenden Zeiten läßt sich daher aus der bloßen Bezeichnung ‚Tyrann‘ auf eine wirkliche Tyrannis schließen“ (Berve 1967: 383). Dennoch ist Berves Darstellung zu entnehmen, dass er faktisch annahm, ‚wirkliche‘ Tyrannen und Monokratien identifizieren zu können, auch weil er davon ausging, man könne objektiv zwischen einer legitimen und einer illegitimen Herrschaft unterscheiden (386–475). – Dabei soll hier nicht grundsätzlich die Existenz von Tyrannen (im Sinne von Monokraten) im Hellenismus bestritten werden; dass etwa Agathokles tatsächlich eine Alleinherrschaft errichtet hatte, scheint außer Zweifel zu stehen und wird schon durch die schließliche Übernahme des Königstitels bezeugt. Vermutlich ist es aber geraten, die Beweislast umzukehren: Sofern keine deutlichen Indizien für eine tatsächliche Autokratie sprechen, sollte der Tyrannisvorwurf eher als subjektiv gefärbte Fremdzuschreibung aufgefasst werden. 143 Vgl. Gehrke 1985: 285. Auch die schließliche ‚Befreiung‘ Athens von antigonidischer Dominanz im Jahr 287 (Shear) bzw. 286 (Osborne) lässt sich als Stasis auffassen, die ausbrach, als sich ptolemaiische Truppen der Stadt näherten; das wichtigste Zeugnis hierzu ist zweifellos das Kalliasdekret, das von einer ἐπανάστασις spricht; SEG 28,60. Vgl. zu den Vorgängen Shear 1978, Osborne 1979, Dreyer 1999: 200–223, Liddel 2010: 17 f. und Shear 2012, die annimmt, die Athener hätten zur Bewältigung dieses Konflikts bewusst auf das Vorbild des späten 5. Jahrhunderts zurückgegriffen. 144 Zur wechselvollen Geschichte von Syrakus und Sizilien nach dem Tod des Agathokles vgl. den Überblick bei de Sensi Sestito 1980 und de Sensi Sestito 2015.

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ner“ handelte, denen man in Syrakus anschließend das Wahlrecht verweigerte, was eine mit Waffengewalt ausgetragene Stasis auslöste. Erst nach längerer Zeit hätten die πρεσβύτεροι der Polis, so Diodor, den Streit beenden können; die „Söldner“ mussten binnen einer vorgegebenen Frist ihren Besitz verkaufen und Sizilien verlassen.145 Die schlechte Überlieferungslage führt zu einer gewissen Ratlosigkeit. Die nächstliegende Erklärung für die geschilderten Vorgänge wäre zunächst die, dass man die unter karthagischem Druck heimgekehrten Verbannten unmöglich wieder in den Bürgerverband integrieren konnte. Vor diesem Hintergrund wäre auch die Lösung verständlich: Indem man ihnen schließlich anbot, ihren Besitz verkaufen zu dürfen, statt enteignet zu werden, hoffte man offenbar, das Bedürfnis nach Rache minimieren zu können; und indem man die „Söldner“ umgekehrt verpflichtete, nicht nur Syrakus, sondern Sizilien überhaupt zu verlassen, nahm man ihren Feinden in der Stadt die Furcht vor einer erneuten Rückkehr ihrer Gegner. Gerade diese letzte Information spräche also für die Interpretation, dass es sich bei den „Söldnern“ tatsächlich um die ehemaligen Politen handelte, die Syrakus wieder hatte aufnehmen müssen.146 Andererseits werden die fraglichen Krieger im heute vorliegenden Exzerpt aber kurz darauf eindeutig nicht als Griechen, sondern als Mamertiner gekennzeichnet;147 trifft dies zu, so hätte man es 289 eher mit einer Art Söldneraufstand zu tun – wobei sich allerdings die Frage stellt, wieso diese Söldner dann Besitzansprüche in Syrakus gehabt haben sollten. Eine denkbare, aber etwas unbefriedigende Erklärung wäre, dass entweder der byzantinische Epitomator oder bereits Diodor selbst hier die zurückgekehrten Verbannten und die ihnen mutmaßlich dienenden oskischen Söldner irreführenderweise nicht voneinander unterschieden haben, doch muss dies letztlich offen bleiben. Dass man anscheinend versuchte, die Konflikte zu beenden, indem eine Parteiung Sizilien gänzlich räumte, ist aber in jedem Fall bemerkenswert. 2.2.3 In Pyrrhos’ Schatten Kaum besser als für diese Vorfälle in Syrakus ist die bruchstückhafte Überlieferung für die Ereignisse, die sich um 280 in Tarent abspielten. Offenbar wurde die Polis zu dieser Zeit von ‚Oligarchen‘ dominiert, die sich an Rom anlehnten, mit dem man einige Jahre zuvor ein foedus geschlossen hatte. 282 scheint nun, folgt man Appian,148 ein Demagoge namens Philocharis oder Thais die Verletzung dieses Vertrages durch römische Kriegsschiffe zum Anlass genommen zu haben, diese Flottille aufzubringen149 und Rom 281 in 145 Diod. 21,18,1 f. 146 Alternativ wäre aber auch denkbar, dass es sich um einen gescheiterten Versuch handelt, italische Söldner auf karthagischen Druck hin in die Bürgerschaft von Syrakus aufzunehmen. Auch dies würde den erbitterten Widerstand erklären 147 Vgl. zur Identität der Mamertiner Orioles 2001; vgl. zu den Ereignissen auch Zambon 2008: 33–52. 148 App. Samn. 7,1 f. Eine positive Einschätzung dieses Berichtes bietet Hoffmann 1936: 15. 149 Liv. per. 12; Oros. hist. adv. pag. 4,1,1. Vgl. Franke 1989: 456–458. Tarent war der Hegemon des Italiotenbundes; vgl. Fronda 2015. Offenbar hatte zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen Tarent und

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einer tumultuarischen Volksversammlung – Cassius Dio spricht von einer σύστασις – den Krieg zu erklären.150 Dabei soll laut Dionysios von Halikarnassos ein gewisser Philonides eine Senatsgesandtschaft schwer beleidigt haben,151 mutmaßlich, um ein Bündnis mit Pyrrhos von Epeiros unausweichlich zu machen.152 Zonaras zufolge kam es in diesem Zusammenhang nämlich zu einer Stasis zwischen den Älteren und Wohlhabenderen, die es mit Rom hielten, und den Jüngeren und Ärmeren, in der sich Letztere durchsetzten und Pyrrhos herbeiriefen,153 während laut Plutarch mindestens ein prominenter Vertreter der Gegenpartei, Meton, von einem Pöbel aus Tarent vertrieben worden sein soll.154 Ob es in diesem Zusammenhang auch Todesopfer gab, ist aufgrund der Quellenlage unklar.155 Nachdem die epeirotischen Truppen die Stadt besetzt hatten, sollen jedenfalls nochmals zahlreiche Bürger die Polis verlassen haben – Plutarch erklärt dies zwar damit, dass das harsche Regiment des Königs den verweichlichten Einwohnern missfallen habe, gibt aber zugleich an, die Exilanten hätten nicht in δουλεία leben wollen, was vermutlich ein Indiz dafür ist, dass es sich um Angehörige der entmachteten Parteiung in der Stadt handelte.156 Dies dürfte auch die weiteren Maßnahmen des Königs erklären: Appian berichtet, er habe die Geflüchteten nicht wieder in die Stadt gelassen,157 und laut Zonaras fürchtete er einen Aufruhr und ließ deshalb das Theater schließen; mehrere führende Politiker Tarents seien überdies entweder hingerichtet oder nach Epeiros de-

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Rom beigetragen, dass beide Seiten versuchten, Thurioi unter ihre Kontrolle zu bekommen; App. Samn. 7,1; vgl. Rosenstein 2012: 38–40. Mutmaßlich standen einander auch in dieser Polis damals zwei Parteiungen gegenüber, und eine der beiden – die schwächere? – hatte wohl spätestens 283 römische Truppen herbeigerufen, doch erlaubt die Quellenlage hier keine Gewissheit. Cass. Dio 9,39. Zur Verwendung von στάσις bei Dio vgl. nun auch Lange 2019. Dion. Hal. 19,5,2. Vgl. zu Dionysios und seinen römischen Quellen Luraghi 2003. Eine Beleidigung der Gesandten erwähnt bereits Polybios (1,6,5). Grundlegend zu Pyrrhos ist noch immer Kienast 1963. Vgl. zu seiner Italienpolitik daneben Berve 1954, Will 1979: 120–131, Borba Florenzano 1992 und Grainger 2017: 136–141 sowie insbesondere Zambon 2008: 97–169. Zon. 8. Vgl. Barnes 2005: 129–137. Die plausibelste Interpretation dürfte sein, dass es sich um eine Revolte gegen jene Aristokraten handelte, die die Polis zuvor mit römischer Rückendeckung dominiert hatten und deren Gegner nun ihre Hoffnungen auf Pyrrhos setzten. Plut. Pyrr. 13,3–5. Meton war demnach als ein scheinbar dionysisch Berauschter vor das Volk getreten und hatte für Frieden mit Rom geworben, bevor man ihn aus der Stadt jagte und für ein Bündnis mit Pyrrhos stimmte; vgl. auch Cass. Dio 9,39. Grundlegend zum Ausbruch des bellum Tarentinum ist Barnes 2005, der die historiographische Überlieferung eingehend analysiert – und in weiten Teilen verwirft. Er hält Philocharis (Thais), Philonides und Meton für freie Erfindungen, die einen Reflex auf ein bereits im 4. Jahrhundert greifbares Klischee darstellten, demzufolge die Tarentiner ein stets betrunkener Pöbel waren (vgl. etwa FGrHist 115 F 233): „While Taras was bound to have its share of demagogues, drunks, and bon vivants, Philocharis, Philonides, and Meton quite likely never existed. Their lack of historicity is detectable, in part, through questionable coincidences“ (15). Meines Erachtens genügt die Beobachtung, dass Schilderungen und Personen topische Züge tragen, nicht aus, um sie als Erfindungen zu verwerfen; es sei aber eingeräumt, dass die Darstellung der Quellen in der Tat nicht ganz unverdächtig ist. Dennoch halte ich eine literarische Gestaltung realer Ereignisse hier für wahrscheinlicher als eine freie Erfindung. Nicht auszuschließen ist auch die Hypothese von Hoffmann (1936: 14–22), der vermutete, insbesondere der Bericht Appians könne letztlich unter anderem auf eine tarentinischen Quelle zurückgehen. Plut. Pyrr. 16,2 f.; vgl. Hoffmann 1936: 16. App. Samn. 8.

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2. Die literarische Überlieferung

portiert worden.158 Lediglich einem gewissen Aristarchos, den der König zuvor vergeblich zu seinem φίλος machen wollte, sei die Flucht nach Rom gelungen.159 Nach Pyrrhos’ Abreise und Tod versuchte sich Tarent laut Orosius an die Karthager anzulehnen, geriet aber dennoch wieder unter römische Kontrolle.160 Mutmaßlich kehrten nun auch die ‚Romfreunde‘ zurück, doch schweigen unsere Quellen zu diesem Punkt. Auch das Mutterland blieb in dieser Zeit weiterhin unruhig. Laut Polybios soll etwa um diese Zeit in Karyneia ein gewisser Iseas nach der Vertreibung der makedonischen Garnison, die ihn als „Tyrann“ gestützt habe, sein Leben gerettet haben, indem er die Seiten wechselte und sich dem Achaiischen Bund anschloss.161 Schlechter erging es offenbar einem namenlosen „Tyrannen“ von Bura, der um 281 nach fünfjähriger Dominanz unter Beteiligung der Achaier erschlagen wurde.162 Dass innere Unruhen keineswegs ein Privileg alter Poleis waren, illustriert sodann das Beispiel des erst 316 gegründeten Kassandreia;163 um 279 kam es laut Diodor auch hier zu einem gewaltsamen Umsturz: Apollodoros, hinter dem sich angeblich insbesondere Handwerker scharten, nutzte anscheinend die Schwächung der makedonischen Macht nach dem Tod des Ptolemaios Keraunos, dessen Witwe Eurydike der Stadt die Freiheit gewähren musste.164 Die Gruppe um Apollodoros setzte einen Volksbeschluss durch, der Kassandreia stattdessen an Antiochos I. band; er suchte sich also offensichtlich an die Seleukiden anzulehnen.165 Mit Hilfe keltischer Söldner griff seine Parteiung anschließend laut Diodor gewaltsam nach der Macht,166 ließ dabei insbesondere eine Reihe wohlhabender Bürger 158 Auf die Existenz einer starken Gegenpartei dürfte auch die Wahl des ‚Romfreundes‘ Agis zum στρατηγός αὐτοκράτωρ hinweisen, dessen Versuch, sich mit Q. Aemilius Papus (cos. 282) zu verständigen, aber laut Zonaras von Kineas, dem Bevollmächtigten des Königs, vereitelt worden sein soll; anschließend wurde eine epeirotische Garnison in die Stadt gelegt; Zon. 8. 159 Zon. 8. 160 Oros. hist. adv. pag. 4,3,1. 161 Pol. 2,41,13–15. Grundlegend zur Verwendung von τυραννίς und verwandten Ausdrücken bei Polybios ist Lévy 1996. 162 Vgl. Berve 1967: 390. 163 Vgl. zu Kassandreia allgemein Cohen 1995b: 95–99. 164 Berve 1967: 391 f. 165 Antiochos I. scheint zu Beginn seiner Herrschaft seinerseits mit heftigen Unruhen in der syrischen Tetrapolis konfrontiert gewesen zu sein (vgl. OGIS 219), wobei aber vollkommen unklar ist, ob es sich um Staseis gehandelt hat. Vgl. zur hellenistischen Tetrapolis auch Engels 2013: „Nominell waren die syrischen Städte als gemäßigte Demokratien nach dem Vorbild der nur begrenzt autonomen makedonischen Städte verfaßt“ (79). 166 In Gestalt der Kelten standen nun augenscheinlich in großer Zahl Söldner zur Verfügung, die angeworben werden konnten, um in innergriechischen Auseinandersetzungen zu kämpfen. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang eine beiläufige Notiz bei Memnon von Herakleia (FGrHist 434 F 11,4), derzufolge die Könige zu dieser Zeit versucht hätten, die Poleis Asiens der Demokratie zu berauben, die Galater aber nach 278 jene unterstützt hätten, die sich diesem Versuch entgegenstellten. Diese etwas enigmatische Bemerkung könnte man als Beleg dafür deuten, dass in Kleinasien keltische Krieger angeheuert wurden, um insbesondere gegen die dominierenden ‚Seleukidenfreunde‘ bzw. ‚Lagidenfreunde‘ in den Städten vorzugehen. Trifft diese Vermutung zu, so scheinen damals in mehreren Orten Staseis ausgebrochen zu sein. Zu dieser Interpretation könnte eine fragmentarische Inschrift aus Priene passen, die etwa um diese Zeit Galater in Zusammenhang mit πο[λλοὶ] [τῶν στασιασάν]των ἐν τῆι χώραι κατὰ [τῶμ] πολιτῶν erwähnt – offenbar (wenn die Ergänzung stimmt) ein Hinweis auf eine Stasis, bei der sich eine Parteiung in das Umland der Stadt zurückgezogen hatte – und einen gewissen Sotas, Sohn des

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töten und erhebliche Besitztümer konfiszieren und verteilte diese offensichtlich unter den eigenen Anhängern.167 Doch das Bündnis mit den Seleukiden erwies sich als nutzlos: Als Antigonos Gonatas Kassandreia 276 nach langer Belagerung einnahm,168 kam es zu einem Massaker an der Partei des Apollodoros, dessen Schicksal unklar ist und der in die Tradition als „Tyrann“ einging.169 Etwa um die Zeit, als Tarent zu Pyrrhos überging, scheint es auch in Lokroi zu dramatischen Ereignissen gekommen zu sein: Die Polis wechselte mehrmals die Seiten, und dass der König dabei laut Zonaras jene Bürger hinrichten ließ, die als ‚Romfreunde‘ galten, deutet auf eine Stasis als Ursache für die Umschwünge hin.170 Folgt man den erhaltenen Fragmenten, so konstatiert Diodor etwas später pauschal, es habe um 280 überall auf Sizilien τυράννους gegeben, die einander teilweise bekriegt hätten.171 Sei es, weil eine ‚echte‘ Tyrannis meist die Folge einer Stasis war, oder sei es, weil man „Tyrann“ als Kampfbegriff auffasst, der eine Parteiung delegitimieren sollte – in jedem Fall lässt sich diese Notiz als Hinweis auf verbreitete Instabilität in den Poleis der Insel lesen. Plutarch bestätigt dies, indem er beiläufig erwähnt, es habe zum Zeitpunkt von Pyrrhos’ Eintreffen auf Sizilien vielerorts Staseis gegeben.172 Unter anderem schwang sich in Akragas um diese Zeit ein gewisser Phintias zum Herrn der Stadt auf; er wird von Diodor zwar als Tyrann gekennzeichnet, der viele Wohlhabende habe töten lassen, führte aber offenkundig den Königstitel und ließ Münzen mit der Legende ΒΑΣΙΛΕΩΣ ΦΙΝΤΙΑ prägen.173 Dass Phintias tatsächlich reiche Bürger, vielleicht Protagonisten der Gegenpartei, töten ließ, ist zwar durchaus möglich; es kann sich angesichts des topischen Charakters dieser Aussage aber auch um üble Nachrede handeln.174 Bemerkenswert ist jedenfalls die knappe Notiz in den Diodorfragmenten, Phintias habe aufgrund einer drohenden Stasis in seiner Polis zuletzt eine versöhnlichere Politik verfolgt und sich so behaupten können.175

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Lykos, dafür ehrt, die Kelten schließlich besiegt zu haben; I.Priene 17 (vgl. OGIS 765). Vgl. auch Mitchell 2003: 287–290. Diod. 22,5,2; Plut. Mor. 555b. Fuks (1984: 71) listet weitere Quellen auf und konstruiert ausgehend von diesem Beispiel eine neue, „sozialrevolutionäre“ Form der Tyrannis, die im 4./3. Jahrhundert aufgekommen sei. Vgl. auch Oliva 1974: 54. Polyain. 4,6,18. Vgl. Tarn 1913: 159–172 (immer noch lesenswert). Vgl. Berve 1967: 392. Auch in diesem Fall ist unklar, ob Apollodoros tatsächlich eine Alleinherrschaft errichtet hatte oder lediglich von seinen Feinden denunziert wurde. Zon. 8,6. Vgl. Fronda 2010: 163. Zonaras dürfte hier Cassius Dio folgen; vgl. Simons 2009: 232–234. Diod. 22,2,1. Plut. Pyrr. 14,4. Diod. 22,2,1–4. Vgl. La Bua 1960, Berve 1967: 458–462 und Zambon 2004: 461. Diod. 22,2,4; vgl. auch Zambon 2008: 56–63, der Phintias als „a minor tyrant“ bezeichnet. La Bua 1960: 98 f. interpretierte die Aussage Diodors, Phintias habe viele Reiche töten lassen, als Beleg für eine Stasis zwischen Demokraten und Oligarchen. Ihm folgt Zambon 2004: „The democratic party of Phintias rebelled against the aristocratic faction which was in power in Akragas, and caused a civil war which lasted for some time. Following the stasis, Phintias, who was one of the most important supporters of the democrats, seized power and established a tyranny“ (462). Letztlich beruht diese Rekonstruktion allerdings auf bloßen Mutmaßungen. Vgl. Zambon 2004: 467, der annimmt, damit habe Phintias einen entscheidenden Fehler begangen, der letztlich zu seinem Sturz geführt habe.

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Sizilien kam also nach dem Tod des Agathokles augenscheinlich nicht zur Ruhe.176 Auch Syrakus bildete dabei keine Ausnahme; nachdem Hiketas, der die Polis zwischenzeitlich dominiert hatte,177 gestürzt worden war, scheint ein gewisser Thoinon, vermutlich gestützt auf einstige Anhänger des Agathokles, die Stadt um 279 zunächst unter seine Kontrolle gebracht zu haben.178 Er scheiterte aber am Widerstand anderer Bürger, die aus Akragas So(si)stratos herbeiriefen, der von Verbannten abstammte und vielleicht ein Enkel des gleichnamigen Agathoklesfeindes war. Dieser Koalition gelang es, den Demos dazu zu bewegen, etwa 1000 Männer zu verbannen, die als einstige Anhänger des Agathokles galten und laut Polyainos von ihren Feinden vor den Stadttoren niedergemacht wurden; im Anschluss habe Sostratos jene, die entkommen konnten, für vogelfrei erklärt und ihren Besitz konfisziert.179 Thoinon konnte sich mit seinen verbliebenen Anhängern indessen nach Ortygia zurückziehen, so dass die eine Gruppe das Festland, die andere hingegen die Insel kontrollierte. Bemerkenswerterweise versuchte keine der beiden Bürgerkriegsparteien, sich an die vorrückenden Karthager anzulehnen, die man offenbar für das größte Übel hielt, sondern stattdessen wandten sich beide an Pyrrhos.180 Nachdem dieser 278 gelandet war, ergaben sich ihm sowohl Thoinon als auch Sostratos, und dem König soll es laut Diodor gelungen sein, die beiden Parteien zu versöhnen und die ὁμόνοια in Syrakus wiederherzustellen.181 Leider schweigen die Quellen darüber, wie Pyrrhos dieses Kunststück gelang – am wahrscheinlichsten ist, dass er die äußerliche Versöhnung schlicht erzwang. Plutarch berichtet nämlich, Pyrrhos habe sowohl Sostratos als auch Thoinon sehr bald misstraut, obwohl ihn beide zunächst bei seinen militärischen Unternehmungen auf Sizilien unterstützt hätten.182 Sostratos sei schließlich aus Syrakus geflohen; Thoinon aber habe der König hinrichten lassen und damit in zahlreichen Poleis auf der Insel den Ausbruch von Staseis provoziert. Da Pyrrhos erkannt habe, unter diesen Umständen Sizilien nicht kontrollieren zu können, habe er die Insel verlassen.183 Dafür, dass er auch in Syrakus keineswegs Eintracht hinterließ, spricht nicht zuletzt der Umstand, dass Hieron wenige Jahre später laut Polybios die Macht erlangen konnte, weil ihn eine Stasispartei in die Stadt ließ und mit seiner Hilfe ihre Gegenspieler in der Polis besiegte.184 Festzuhalten ist in jedem Fall, dass sich Pyrrhos Konflikte in zahlreichen westgriechischen Poleis zu176 177 178 179 180 181 182 183 184

Vgl. Zambon 2008: 17–33. Vgl. Berve 1967: 459 f. und de Sensi Sestito 1980: 345–347. Vgl. Geyer 1936. ἐπεὶ δὲ ἔξω τῆς πόλεως ἐγένοντο ἄνδρες χίλιοι, οἱ προπέμποντες αὐτοὺς ὁπλῖται καὶ ἱππεῖς οὓς μὲν συλλαβόντες ἀπέκτειναν, οὓς δὲ διαφυγόντας Σωσίστρατος ἐπικηρύξας ἀναιρεῖν ἐπέτρεψεν; Polyain. 5,37. Vgl. zu dieser Stasis auch Zambon 2008: 69–76. Diod. 22,8,4. Zu Pyrrhos’ Aktionen auf Sizilien vgl. Berve 1954, Franke 1989: 477–481 und Borba Florenzano 1992. Plut. Pyrr. 23,4–6. Pol. 1,8,4. Vgl. Berve 1967: 463. Polybios (1,9,1) stellt in diesem Zusammenhang bemerkenswerterweise fest, die Bürger von Syrakus neigten vor allem in Abwesenheit des Heeres und seiner Befehlshaber stets zu Staseis – dies ist vermutlich so zu verstehen, dass die Vorherrschaft einer Gruppierung in der Polis prekär war und sich auf die Präsenz von Truppen stützen musste. Vgl. zu Hieron II. Zambon 2006 und Haake 2013. Eine dichte Skizze der Geschichte Siziliens nach Pyrrhos bietet nun Wilson 2013 (mit weiterer Literatur).

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nächst zunutze gemacht hatte, aber zugleich an einer dauerhaften Befriedung gescheitert zu sein scheint. Dass es nach seiner Rückkehr ins Mutterland im Windschatten der antigonidischen Expansion auch auf der Peloponnes zu offenen Staseis kam, ist unter anderem für Argos literarisch bezeugt: Hier standen sich 272 zwei Parteiungen feindlich gegenüber, als deren Anführer Plutarch Aristippos und Aristeas benennt.185 Weil sich dabei ersterer an die Antigoniden angelehnt habe, habe Aristeas seinerseits Pyrrhos zu Hilfe gerufen,186 der in bewährter Tradition den Poleis der Peloponnes die Freiheit versprochen und unmittelbar zuvor bereits in Sparta in einen Konflikt zwischen Kleonymos und seinem Neffen Areus eingegriffen hatte, der in Plutarchs Darstellung ebenfalls Züge einer Stasis trägt.187 Als nun sowohl Antigonos Gonatas als auch Pyrrhos vor Argos erschienen seien, seien sie bemerkenswerterweise von den Gesandten der Polis zum Abzug aufgefordert worden, da die Stadt neutral sei – offenbar kontrollierte zu diesem Zeitpunkt keine der beiden verfeindeten Parteien die relevanten Institutionen.188 Doch als Pyrrhos nachts vor den Mauern erschien, soll ihm die Gruppierung um Aristeas heimlich das Diamperes-Tor geöffnet haben.189 Nachdem man die Agora bereits besetzt hatte, stieß man auf heftigen Widerstand, den Plutarch als Bündnis zwischen Argivern, Antigonos und Areus erzählt; von Aristippos ist bemerkenswerterweise keine Rede mehr. Pyrrhos fand im Straßenkampf den Tod,190 und obwohl Plutarch an dieser Stelle nichts weiter von der Stasis zwischen Aristeas und Aristippos berichtet, scheint sich die Parteiung des Letztgenannten nun in Argos durchgesetzt zu haben.191 2.2.4 Aristotimos und die Stasis in Elis Kenntnis davon, dass es kurz nach Pyrrhos’ Tod auch in Elis zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, verdankt man dem Umstand, dass über den angeblichen Tyrannen Aristotimos, der die Polis um 271 einige Monate lang kontrolliert haben soll, offenbar schon bald Schauergeschichten kursierten, die sich in der literarischen Tradition niederschlugen. Pausanias berichtet dabei lediglich beiläufig und nüchtern, Aristotimos, Sohn des Damaretos, sei mit Hilfe des Antigonos Gonatas an die Macht gelangt,192 aber nach einem halben Jahr durch einen Aufstand gestürzt worden, als dessen Anführer 185 Vgl. Gabbert 1997: 41 und Campion 2009: 134. 186 Plut. Pyrr. 30,1. 187 Plut. Pyrr. 26,8 f. Vgl. zum Konflikt zwischen Pyrrhos und Antigonos Gonatas Gabbert 1997: 29–32, Errington 2008: 85–87 und Dixon 2014: 83. 188 Plut. Pyrr. 31,2. 189 Plut. Pyrr. 32,1. 190 Vgl. zu den widersprüchlichen Schilderungen Edwards 2011. 191 Berve 1967: 396. 192 Vgl. Gabbert 1997: 42. Seit Muret 1880 wird in der Regel akzeptiert, dass man Aristotimos als Tyrann anzusprechen habe; meines Erachtens ist aber auch in diesem Fall unklar, ob der Eleer wirklich eine Monokratie errichtet hatte, oder ob es sich lediglich um Polemik handelt. Letzteres ist wohl wahrscheinlicher.

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Hellanikos, Lampis, Chilon und Kylon bezeichnet werden, wobei Kylon Aristotimos eigenhändig getötet habe.193 Mutmaßlich im indirekten Anschluss an Phylarch erzählt hingegen Justin in schillernden Farben davon, wie Aristotimos viele seiner Gegner, die sich ihrerseits an die Aitoler anlehnten,194 habe erschlagen oder verbannen lassen.195 Als die Aitoler von den Siegern verlangt hätten, zumindest die Frauen und Kinder der Verbannten auszuliefern, soll Aristotimos, so Justin, diesen gestattet haben, sich zu einem festgelegten Zeitpunkt an den Toren zu versammeln; statt sie aber zu ihren Männern zu lassen, habe er ihnen all ihren Besitz entreißen,196 die Söhne töten und die Töchter schänden lassen, was dazu geführt habe, dass er schließlich von einer Gruppe um Hellanikos in einen Hinterhalt gelockt und erschlagen worden sei.197 Auch Plutarch bezeugt in den Mulierum Virtutes, dass Aristotimos in der späteren Tradition als grausamer Tyrann galt, indem er behauptet, dieser habe sich auf Söldner gestützt und sei bei den Bürgern verhasst und gefürchtet gewesen. Seine Version ist die ausführlichste.198 Zunächst berichtet er von Mikka, der Tochter des Philodemos, die von einem offensichtlich italischen Söldner des Aristotimos namens Lucius in den Armen ihres Vater ermordet worden sei, und präzisiert anschließend die Angaben bei Justin: 800 Männer seien aus Elis zu den Aitolern geflohen, und die Anzahl der Frauen der φυγάδες, die man an den Toren in die Falle gelockt habe, habe bei mehr als 600 gelegen.199 Plutarch bietet aber noch eine weitere wichtige Information, die sich bemerkenswerterweise weder bei Pausanias noch bei Justin findet: Unterstützt von den Aitolern hätten die aus Elis Verbannten dann die Festung Anymone besetzt und dort Zulauf durch weitere Politen erhalten.200 Spätestens in diesem Stadium muss man wohl von einem regelrechten Bürgerkrieg zwischen einer ‚aitolischen‘ und einer ‚antigonidischen‘ Partei ausgehen. In der Polis selbst habe unterdessen Hellanikos einen Umsturz geplant.201 Aristotimos soll daraufhin seine Feinde mit ihren als Geiseln festgehaltenen Frauen erpresst und sie aufgefordert haben, das Land ein für alle Mal zu verlassen, während er auf antigonidische Unterstützung wartete. Er habe sich in der Stadt unterdessen derart sicher gefühlt, dass er sich in der Öffentlichkeit ohne eine Leibwache bewegt habe – ein verdächtiger Widerspruch zu seiner sonstigen Stilisierung als Tyrann –, und sei daher von den Verschwörern auf der Agora überfallen worden. Kylon habe dabei den ersten 193 194 195 196 197 198

Paus. 5,5,1. Vgl. zum Aitolischen Bund nun den ausgezeichneten Überblick Funke 2015. Iust. 26,1. Vgl. Oliva 1974: 55. Gómez Espelosín 1991: 106 spricht von einem „aristocratic plot“. Plut. Mor. 250f–253e. Die grundlegende Untersuchung zu Plutarchs Mulierum Virtutes in den Moralia bietet noch immer Stadter 1965 (bes. 86–89). 199 Plut. Mor. 251c. Francisco Gómez Espelosín, der dem Bericht bei Justin und Plutarch ansonsten skeptisch gegenüber steht, scheint die Zahlenangaben für realistisch zu halten und verweist darauf, dass Elis damals für seinen Reichtum berühmt war (vgl. etwa Pol. 4,73,7) und in der Tat über eine große, florierende Aristokratie verfügt habe; vgl. Gómez Espelosín 1991: 105 f. 200 Vgl. Scholten 2000: 57 f. 201 Plut. Mor. 252a.

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Streich geführt, aber nicht etwa Aristotimos, sondern einen seiner Anhänger getötet.202 Als weitere Attentäter nennt Plutarch Thrasybulos und Lampis.203 Aristotimos sei in den Zeustempel geflohen, aber dennoch erschlagen worden. Seinen Leichnam warf man auf die Agora und verkündete den Sieg der Freiheit, während man seine Töchter ergriff und, so Plutarch, bereits im Begriff war, sie zu vergewaltigen, als Megisto, die Gattin des Verbannten Timoleon, deren eigene Tochter Aristotimos mit dem Tod bedroht hatte, einschritt. Sie habe dafür gesorgt, dass man den jungen Frauen die zweifelhafte Gnade erwies, ungeschändet Selbstmord begehen zu dürfen.204 2.2.5 Aratos und die Stasis in Sikyon Darüber, ob es während des Ersten Punischen Krieges in den Poleis Siziliens seit 264 zu Staseis kam, wie zu vermuten ist,205 schweigen, soweit ich sehe, die Quellen weitgehend und bieten nur vage Indizien.206 Während des Chremonideischen Krieges207 202 Auch dies ist meines Erachtens ein Indiz dafür, dass es sich bei Aristotimos eher um den Anführer (oder einen besonders prominenten Protagonisten) einer Parteiung in der Polis als um einen allgemein verhassten Alleinherrscher gehandelt hat. Auch wenn sich letzte Gewissheit kaum erzielen lässt, spricht vieles dafür, den Konflikt als eine Stasis zwischen den ‚Aitolerfreunden‘ und ‚Antigonidenfreunden‘ in Elis zu deuten, in der letztere zeitweilig die Oberhand gewannen, aber letztlich unterlagen und daher als „Tyrannen“ in die Überlieferung eingingen. 203 Plut. Mor. 253a–b. 204 Plut. Mor. 253c. 205 Vgl. zu den griechischen Gemeinden Siziliens im Ersten Punischen Krieg Zambon 2008: 207–233, der sich in seiner Interpretation der Ereignisse allerdings mitunter von der romfreundlichen Tendenz der literarischen Überlieferung beeindrucken lässt. Vor allem für die kleineren Poleis ist die Quellenlage desaströs, weshalb vieles im Dunkeln bleibt. Ob man die Konflikte in Messina, in deren Folge sich eine Parteiung an Karthago, die andere an Rom wandte (Pol. 1,10,1) und die von einem Autor wie Zonaras (8,8) als στάσις bezeichnet werden, als Stasis im Sinne der vorliegenden Studie auffasst, hängt wesentlich davon ab, für wie hellenisiert man die Akteure hält. Bleckmann 1999: 140 betont, Ähnliches habe auch für die Kampaner in Rhegion gegolten. 206 Offenbar gab es in Akragas Bürger, die sich, obwohl ihre Polis mit Karthago verbündet war, bei der Einnahme der Stadt durch die Römer 262 an den Kämpfen beteiligten, was ein Indiz für eine Stasis sein dürfte (vgl. Zambon 2008: 225); sie wurden aber laut Cassius Dio danach von den Eroberern dennoch nicht geschont; Cass. Dio 11,43 (Polybios berichtet hiervon nichts; Pol. 1,19,14 f.). Zonaras erwähnt beiläufig, im Jahr 260 seien zahlreiche Poleis an die Karthager verraten worden; Zon. 8. Im sardischen Olbia, das als griechische Stadt galt (Paus. 10,17,5), soll es 259 zu einer Verschwörung gekommen sein, und die Poleis Enna und Kamikos sollen 258 durch Verrat die Seiten gewechselt haben; Diod. 23,9,5. Verdächtig ist überdies die bei Diodor skizzierte Episode, derzufolge Bürger von Thermai die Stadt an die Römer verrieten; die Anführer der Verräter hätten die Stadttore aber zu früh wieder verschlossen, um sich in Ruhe bereichern zu können, und seien stattdessen selbst niedergemacht worden; Diod. 23,19. Ein möglicher Hinweis auf eine Stasis sind auch Münzen mit der Legende ΟΜΟΝΟΙΑ, die wohl in diesen Jahren in Panormos geschlagen wurden; vgl. Thériault 1996: 34 f. 207 Vgl. zum Chremonideischen Krieg Heinen 1972: 95–213 (grundlegend), Gabbert 1983, Habicht 1995a: 147–153, Gabbert 1997: 45–53 und O’Neil 2008. Bezeichnenderweise scheint Ptolemaios II. in dieser Zeit die „Freiheit“ der Griechen verkündet zu haben; vgl. Dmitriev 2011: 116 f. Es spricht insgesamt vieles dafür, die Vorgänge weniger als eine von Sparta und Athen getragene Rebellion (so noch Momigliano 1966: 31) und eher als einen antigonidisch-ptolemaiischen Konflikt um die Kontrolle von Hellas zu interpretieren; vgl. auch Will 1979: 219–224. Allzu edle Motive scheint mir den beteiligten Griechen deshalb Habicht 1995a zu unterstellen, wenn er annimmt, diese hätten gegen von den Antigoniden gestützte

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kam in Hellas unterdessen um 263 in Megalopolis Aristodemos, Sohn des Artylas, an die Macht, nachdem es, wie Polybios berichtet, in der Polis bereits zuvor τυράννους gegeben hatte.208 Aristodemos soll Gegner verbannt haben und wurde offenbar von Antigonos Gonatas gestützt, an dessen Seite Megalopolis in den Krieg eintrat und erfolgreich gegen Sparta kämpfte. Dafür, ihn weniger als Autokraten als vielmehr als den Exponenten einer herrschenden ‚antigonidischen‘ Parteiung in seiner Polis zu betrachten, die auch nach seiner Ermordung durch zwei zuvor Verbannte die Kontrolle behielt oder zumindest bald wiedererlangte, spricht der Umstand, dass man ihm nicht nur ein prächtiges Grabmal errichtete,209 sondern ihn in der Stadt überdies unter dem Beinamen χρηστός in Erinnerung behielt,210 während die Attentäter Ekdelos211 und Demophanes nicht etwa als Tyrannenmörder gefeiert wurden, sondern Megalopolis um 252 erneut verlassen mussten.212 Sie sollen sich, so Polybios, danach noch an einem Umsturz in Sikyon beteiligt sowie in Kyrene auf Einladung der Polis Bürgerzwist beigelegt haben,213 bevor sie Philopoimens Mentoren wurden.214 Bei der besagten Stasis in Sikyon handelt es sich um den Sturz des Nikokles im Jahr 251, der eine lange Vorgeschichte hatte: Die Polis wurde über Jahrzehnte hinweg von inneren Wirren geplagt;215 dies dürfte sich zumindest hinter der Notiz bei Plutarch verbergen, die Stadt sei von einer Tyrannis in die nächste geraten, weil sie nach dem Ende einer „dorischen Aristokratie“ στάσεις – hier sicherlich als „Parteien“ zu übersetzen – und der φιλοτιμία von Demagogen zum Opfer gefallen sei.216 Nachdem sie einen gewissen Kleon gewaltsam beseitigt hatten,217 seien Timokleidas und Kleinias zu Archonten

208 209 210 211 212

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„Tyrannen, die […] eine in der griechischen Öffentlichkeit längst unzeitgemäß gewordene und verhaßte Regierungsform am Leben erhielten“ (148), vorgehen wollen und daher „nicht für ihre eigene Freiheit, sondern für die Freiheit anderer Griechen, die unter makedonischer Herrschaft standen,“ gekämpft (152), auch wenn dies natürlich der athenischen Lesart (IG II2 687) entspricht. Vgl. zu den Zuständen in Athen nach dem Krieg auch die Skizze bei Oetjen 2014: 42–48. Pol. 10,22,2. Vgl. Wilcken 1895 und Tarn 1925. Paus. 8,36,5. Auch ein Artemisheiligtum wurde mit ihm in Verbindung gebracht; vgl. Paradiso 2016. Paus. 8,27,11. Vgl. Plut. Philop. 1; Diog. Laert. 4,31. Überliefert sind auch die Namensformen Ekdemos und Eudamos. Die dürre Notiz bei Polybios legt nahe, dass die beiden Attentäter (vgl. Thrams 2001: 225–228) von einem früheren Regime verbannt worden und unter Aristodemos zurückgekehrt waren, also vielleicht ursprünglich seiner Parteiung angehört hatten; Pol. 10,22,2. Die Hintergründe der Tat sind unklar. Um 240 scheint es Ekdelos’ Sohn Lydiadas dann gelungen zu sein, eine beherrschende Stellung in Megalopolis zu erlangen; vgl. Haake 2007: 304. Vgl. Laronde 1987: 381 f. Kyrene soll damals eine neue Verfassung erhalten haben, deren Einzelheiten unbekannt sind. Wahrscheinlich gehörte die Stasis in den Zusammenhang der Auseinandersetzungen zwischen Ptolemaios II. und dem aufständischen Statthalter Magas; vgl. Ameling 1999. Pol. 10,22,3. Paus. 2,8,1–3. Vgl. zur Geschichte von Sikyon Griffin 1982 sowie jetzt Lolos 2011: 59–91 (bes. 70–76). ἡ Σικυωνίων πόλις, ἐπεὶ τὸ πρῶτον ἐκ τῆς ἀκράτου καὶ Δωρικῆς ἀριστοκρατίας ὥσπερ ἁρμονίας συγχυθείσης εἰς στάσεις ἐνέπεσε καὶ φιλοτιμίας δημαγωγῶν, οὐκ ἐπαύσατο νοσοῦσα καὶ ταραττομένη καὶ τύραννον ἐκ τυράννου μεταβάλλουσα, μέχρι οὗ Κλέωνος ἀναιρεθέντος εἵλοντο Τιμοκλείδαν ἄρχοντα καὶ Κλεινίαν, ἄνδρας ἐνδόξους τὰ μάλιστα καὶ ἐν δυνάμει τῶν πολιτῶν ὄντας, ἤδη δέ τινα τῆς πολιτείας κατάστασιν ἔχειν δοκούσης Τιμοκλείδας μὲν ἀπέθανεν, Ἀβαντίδας δὲ ὁ Πασέου τυραννίδα πράττων ἑαυτῷ τὸν Κλεινίαν ἀπέκτεινε καὶ τῶν φίλων καὶ οἰκείων τοὺς μὲν ἐξέβαλε, τοὺς δὲ ἀνεῖλεν; Plut. Arat. 2,1 f. Errington 2008 interpretiert dies, meines Erachtens zutreffend, als „longstanding strife among the ruling families“ (93). Vgl. Griffin 1982: 79 f.

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gewählt worden. Da es sich bei diesem um den Vater des Aratos handelte, auf dessen Hypomnemata Plutarchs Vita wesentlich basieren dürfte,218 kann es kaum überraschen, dass der Sturz Kleons hier als positive Tat geschildert wird. Zugleich aber verdankt man es letztlich nur diesem Umstand, dass die literarische Überlieferung ungewöhnlich viele Informationen zu den Vorgängen in Sikyon bietet, wobei Plutarch durch Polybios, Pausanias und Cicero ergänzt wird. Offensichtlich gelang es nicht, die Polis zu befrieden, und um 264 wurde Kleinias, kurz nachdem Timokleidas gestorben war, Plutarch zufolge von seinem eigenen Schwippschwager Abantidas erschlagen, der seine Feinde in der Stadt töten oder verbannen ließ.219 Aratos habe mit Mühe nach Argos entkommen können, während sich in Sikyon die Kette der Umstürze bald fortgesetzt habe: Abantidas habe regelmäßig an öffentlichen Debatten auf der Agora teilgenommen und sei bei dieser Gelegenheit von zwei Philosophen namens Deinias220 und Aristoteles221 in eine Falle gelockt und erschlagen worden.222 Offenbar gelang es diesen aber nicht, anschließend die Macht in der Polis zu übernehmen, da Abantidas laut Plutarch vielmehr von seinem Vater Paseas beerbt wurde, den wiederum Nikokles gestürzt habe.223 Dieser, den Plutarch als Wiedergänger Perianders kennzeichnet, ließ offenbar etwa 80 Bürger verbannen;224 er habe sich aber seinerseits nur vier Monate behaupten können. Offenbar hatten seine Feinde zwischenzeitlich die Aitoler zu Hilfe gerufen, deren Interventionsversuch aber scheiterte.225 Zum Anführer der Verbannten soll unterdessen Aratos aufgestiegen sein,226 der sich an Antigonos und Ptolemaios um Hilfe gewandt habe, die bereits seinen Vater unterstützt hätten227 – ein wichtiger Hinweis darauf, dass Kleinias augenscheinlich versucht hatte, sich mit königlicher Unterstützung in Sikyon durchzusetzen. Nachdem Antigonos Gonatas, der anscheinend ein φίλος seines Vaters gewesen war, tatenlos geblieben war (offenbar stand er inzwischen hinter Nikokles), habe sich Aratos an dessen Rivalen Ptolemaios II. gewandt,228 der aber angeblich zu weit entfernt war, um den Verbannten wirksam helfen zu können, weshalb sich diese selbst zum Handeln entschlossen hätten. 218 Vgl. Negri 2004. Vgl. zur Aratosvita zuletzt Almagor 2014 und Stadter 2015b. Eine gute Skizze zur politischen Funktion hellenistischer Autobiographien bietet daneben Marasco 2011. 219 Plut. Arat. 2,2. Vgl. Griffin 1982: 20 f. Noch Lolos 2011 folgt Plutarchs offenkundig parteiischer Darstellung und stellt den „cruel tyrant“ Abantidas dem Kleinias gegenüber, „who had been elected by the people and was of the highest repute among them“ (74). 220 Ob es sich bei diesem Deinias um den Verfasser einer argivischen Geschichte (FGrHist 306) handelt, ist ungewiss; vgl. Schwartz 1901. 221 Vgl. Goulet 1989. 222 Plut. Arat. 3,3. Vgl. Walbank 1933: 16. 223 Plut. Arat. 3,3. 224 Plut. Arat. 9,3. Berve (1967: 394) folgt den Quellen und hält Nikokles für einen „besonders brutal[en]“ Tyrannen. 225 Plut. Arat. 4,1. Vgl. Schaefer 1940. 226 Nach wie vor grundlegend zu Aratos ist Walbank 1933; nützlich ist daneben die dichte Skizze Walbank 1984: 243–252. 227 Plut. Arat. 4,2 f. 228 Vgl. zum zweiten Lagiden allgemein Volkmann 1959. Einen informativen Überblick zur ptolemaiischen Griechenlandpolitik zwischen dem Chremonideischen Krieg und dem Kleomeneskrieg bietet Grabowksi 2012.

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Unterstützt von einem gewissen Aristomachos und jenem Ekdelos, der in Megalopolis Aristodemos ermordet hatte und darum als einschlägig erfahren gelten durfte, habe Aratos daher, so Plutarch, in Argos gemeinsam mit anderen Verbannten einen Anschlag vorbereitet.229 Zunächst habe man geplant, zu der verbreiteten Methode zu greifen, einen festen Platz in der Chora von Sikyon zu erobern, um sich eine militärische Operationsbasis zu verschaffen, doch entschied man sich stattdessen für einen nächtlichen Handstreich.230 Plutarchs Schilderung macht dabei deutlich, dass es sich bei den Verbannten keineswegs um mittellose Männer handelte, sondern um Menschen, die auch im Exil noch über zahlreiche Diener verfügen konnten, die man nun bewaffnete.231 Auffällig ist überdies, dass die Verschwörer ihr Vorhaben erst im letzten Moment offengelegt haben sollen, laut Plutarch, um Spitzel zu täuschen. Aratos und etwa fünfzig weitere Männer erklommen jedenfalls nachts die Mauern von Sikyon, überwältigten die Söldner, die Nikokles bewachten, und riefen, wie es heißt, ihre Freunde in der Polis herbei.232 Während dem „Tyrannen“ die Flucht gelang, versammelte Aratos die Bürger im Theater, wo er die Befreiung der Stadt und die Rückkehr aller Verbannten verkündete; neben den 80 Männern, die unter Nikokles exiliert worden waren, waren dies laut Plutarch noch etwa 500 weitere, die Sikyon während früherer Staseis verlassen und teils angeblich bereits 50 Jahre lang anderswo gelebt hatten,233 ein Hinweis darauf, dass die Polis offenbar spätestens seit der Schlacht von Ipsos nicht zur Ruhe gekommen war. Es fällt ins Auge, dass Aratos – zumindest wenn man der Quelle glauben will – offenbar ostentativ jedes Blutvergießen vermied, um auf diese Weise endlich eine Befriedung der Polis und eine Stabilisierung seiner Position zu ermöglichen. Besondere Beachtung verdient daher Plutarchs Angabe, es sei nach dem Umsturz dennoch zu Streit gekommen, weil die zurückgekehrten Exilanten Anspruch auf ihr einstiges Eigentum erhoben und damit natürlich in Konflikt mit den neuen Besitzern geraten seien;234 diese ἀπορία war eine schier unausweichliche Folge des Umstandes, dass man auf ein Massaker verzichtet hatte: Es gab kein herrenloses Gut, das hätte verteilt werden können. Sogleich sei es zu neuen Verschwörungen, Parteibildungen und Unruhen gekommen (ταραττομένην δὲ ὑφ᾽ αὑτῆς καὶ στασιάζουσαν), bei denen auch die Antigoniden eine Rolle gespielt hätten.235 Die Stasis war also strukturell noch nicht beendet und drohte jederzeit wieder 229 Plut. Arat. 5,1 f. 230 Vgl. Tausend 2006: 41 f. Zur problematischen Chronologie der Ereignisse vgl. bereits Porter 1932, dessen Vordatierung auf 256/255 sich allerdings nicht gegenüber 251 durchgesetzt hat. 231 Plut. Arat. 6,1 f. 232 Pol. 2,43,3. 233 κατήγαγε δὲ φυγάδας τοὺς μὲν ὑπὸ Νικοκλέους ἐκπεπτωκότας ὀγδοήκοντα, τοὺς δὲ ἐπὶ τῶν ἔμπροσθεν τυράννων οὐκ ἐλάττους πεντακοσίων, οἷς μακρὰ μὲν ἡ πλάνη καὶ ὁμοῦ τι πεντηκονταετὴς ἐγεγόνει; Plut. Arat. 9,3. Cicero spricht aufgerundet von sexcento exules; Cic. Off. 2,81. 234 Vgl. zu diesem Problem allgemein auch Seibert 1979: 404 f. sowie (wenngleich mit einem Fokus auf dem 5. und 4. Jahrhundert) Lonis 1991: 98–102, der betont, zumeist sei den Rückkehrern daher lediglich ein Teil ihres Besitzes erstattet worden. 235 κατελθόντες δὲ οἱ πλεῖστοι πένητες, ὧν κύριοι πρότερον ἦσαν ἐπελαμβάνοντο, καὶ βαδίζοντες ἐπὶ τὰ χωρία καὶ τὰς οἰκίας δεινὴν ἀπορίαν τῷ Ἀράτῳ παρεῖχον, ἐπιβουλευομένην μὲν ἔξωθεν καὶ φθονουμένην ὑπ᾽

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gewaltsam zu eskalieren. Die Quellen berichten, Aratos habe sich in dieser Situation an den Achaiischen Bund angelehnt,236 und überdies habe ihm „ein König“ 25 Talente geschickt, was aber bei weitem nicht genügt habe, um die zurückgekehrten Verbannten zu entschädigen.237 Da man Cicero entnehmen kann, dass es sich bei den Heimkehrern ursprünglich um die locupletissimi der Polis gehandelt hatte, kann dies kaum überraschen. Da deshalb weiterhin ein neuer Umsturz drohte, habe man sich persönlich auf den Weg nach Alexandreia gemacht, um den König um ausreichende Mittel zu bitten, um die ökonomischen Streitigkeiten in Sikyon beizulegen.238 Nachdem Aratos unter Schwierigkeiten nach Ägypten gelangt sei und durch Geschenke die Freundschaft des Königs erlangt habe, habe Ptolemaios II. Sikyon die gewaltige Summe von 150 Talenten gespendet,239 um die Verbannten zu entschädigen und die Polis zu befrieden.240 Aratos habe nach seiner Rückkehr eine 16-köpfige Kommission gebildet, die unter seiner Führung mit Hilfe des ägyptischen Geldes und unter großen Mühen schließlich tatsächlich eine Versöhnung in der Stadt herbeigeführt habe.241 Auch Cicero erwähnt diese Vorgänge und stützt dabei sich augenscheinlich auf dieselbe Vorlage (mit Panaitios als Zwischenquelle), denn sowohl inhaltlich als auch in Hinblick auf die positive Beurteilung des Verfahrens, durch das man in Sikyon die concordia wiederhergestellt habe,242 deckt sich sein knapper Bericht im Kern mit Plutarchs Schilderung: Ita perfectum est ut omnes concordia constituta sine querella discederent.243 Plutarch behauptet zwar, Aratos habe sich fortan der ungeteilten Verehrung seiner Mitbürger erfreuen können; doch nur wenige Zeilen später bemerkt er, dass es dennoch Männer gegeben habe, die versucht hätten, Zwietracht zwischen ihm und Ptolemaios

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Ἀντιγόνου τὴν πόλιν ὁρῶντι διά τὴν ἐλευθερίαν, ταραττομένην δὲ ὑφ᾽ αὑτῆς καὶ στασιάζουσαν; Plut. Arat. 9,3. Vgl. zur Beziehung zwischen Aratos und den Antigoniden auch Porter 1930. Plut. Arat. 9,4. Vgl. auch Pol. 2,43,3. Vgl. Urban 1979: 38–62. Plut. Arat. 11,2. Vgl. Waterfield – Erskine 2016: 458. Da Plutarch den Spender lediglich βασιλεύς nennt, ist teils vermutet worden, die 25 Talente seien von Antigonos Gonatas an Aratos gesandt worden; vgl. Holleaux 1906, Walbank 1933: 35 und Bringmann 1995: 119. Errington 2008: 92 verweist hingegen darauf, dass der nahegelegene lagidische Stützpunkt Mathana Aratos „easy initial access“ zu Ptolemaios II. geboten habe. Grainger 2017: 88 bleibt unentschieden. Für die vorliegende Untersuchung ist die Frage, welcher König gemeint ist, aber letztlich von untergeordneter Bedeutung. Falls es sich um Antigonos handelte, so könnte dies Ptolemaios allerdings dazu herausgefordert haben, seinen Rivalen zu überbieten. Plut. Arat. 12,1. Diese Angabe ist durchaus realistisch. Vgl. Rubinstein 2013: „To a small Greek polis, 150 talents was a formidable amount; but the figure takes on a rather different proportion from an Egyptian perspective. Recent calculation suggests that in 235 bc the cash revenue […] from the Arsinoite nome alone amounted to 79 talents“ (155). Vgl. zu dieser königlichen Schenkung auch Bringmann 1995: 119–122. Es dürfte auf der Hand liegen, dass es darum ging, den ptolemaiischen Einfluss auf der Peloponnes zu sichern. Plut. Arat. 13,4–14,2. Vgl. Walbank 1984: 243 f. und Grabowski 2012: 87 f. Zu Cicero und Panaitios vgl. neben Dyck 1996: 17–28 auch Lefèvre 2001 (mit der Annahme, Cicero habe sich spätestens im zweiten Buch von De Officiis weitgehend von Panaitios gelöst), Brunt 2013 und insbesondere Wiemer 2016. Cic. Off. 2,81 f. Vgl. Dyck 1996: 475 f. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Pausanias (2,8,3), der allerdings die Rolle der Ptolemaier unterschlägt, sondern behauptet, Aratos habe die notwendige Summe aus eigener Tasche aufgebracht: Σικυωνίοις δὲ ἀπέδωκεν Ἄρατος ἐξ ἴσου πολιτεύεσθαι διαλλάξας τοῖς φεύγουσιν, οἰκίας μὲν φυγάσι καὶ ὅσα τῶν κτημάτων ἄλλα ἃ ἐπέπρατο ἀποδούς, τιμὴν δὲ τοῖς πριαμένοις διέλυσεν αὐτός.

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zu säen, indem man ihn der Kooperation mit Antigonos bezichtigte, der sich in der Tat darum bemüht habe, Aratos auf seine Seite zu ziehen.244 Es hat mithin bei näherem Hinsehen ganz den Anschein, als seien durchaus nicht alle seine Mitbürger mit der dominierenden Stellung einverstanden gewesen, die er erlangt hatte. Aber durch die Beilegung der akuten Krise und die Anlehnung an Achaier und Lagiden scheint es Aratos und seinen Anhängern gelungen zu sein, eine erneute gewaltsame Eskalation der Konflikte zu verhindern. Vielsagend ist in diesem Zusammenhang übrigens, woran Polybios seine Behauptung festmacht, Aratos sei ein vollkommener Politiker gewesen: Niemand sei besser darin gewesen, sich in internen Auseinandersetzungen zu behaupten, φίλοι an sich zu binden und mit List, Mut und Tücke Anschläge auf seine Feinde auszuführen.245 2.2.6 Argos und Orchomenos Man muss der Darstellung der Quellen, Aratos sei ein eingeschworener Feind jedweder Tyrannis gewesen,246 nicht folgen; für seine Eingriffe in die inneren Verhältnisse anderer Poleis lassen sich durchaus auch weniger edle Motive denken.247 Jedenfalls unterstützte er laut Plutarch einen Umsturzversuch in Argos, wo Aristomachos, der die Stadt bereits dominiert hatte, während Aratos dort seine Attacke auf Nikokles plante, ermordet werden sollte. Der Anschlag sei aber kläglich gescheitert, weil sich die Anführer der Verschwörer, Aischylos und Charimenes, ihrerseits miteinander überwarfen und letzterer darum den Umsturzplan verriet. Nachdem es zu Kämpfen auf der Agora gekommen war, mussten die meisten Angreifer flüchten und entkamen nach Korinth.248 Bald darauf wurde Aristomachos dennoch getötet, und der Exponent der ‚Antigonidenfreunde‘ unter den Argivern, Aristippos – vielleicht ein Verwandter des gleichnamigen Politikers, der bereits 272 mit den Makedonen verbündet gewesen war –, trat an seine Stelle.249 Aratos wollte diese Wirren offenbar ausnutzen; er versuchte sich diesmal an einer direkten Intervention, erschien mit achaiischen Truppen vor Argos und drang gewaltsam in die Polis ein. Doch hatte er die Machtverhältnisse vor Ort augenscheinlich falsch eingeschätzt, denn der erwartete Umsturz blieb aus. Plutarch erklärt dieses Scheitern damit, dass die Argiver nun einmal an Knechtschaft gewöhnt gewesen seien,250 doch die näherliegende Erklärung dürfte sein, dass Aristippos eben weniger ein Autokrat war als 244 Plut. Arat. 15,1–3. 245 Ἄρατος γὰρ ἦν τὰ μὲν ἄλλα τέλειος ἀνὴρ εἰς τὸν πραγματικὸν τρόπον: καὶ γὰρ εἰπεῖν καὶ διανοηθῆναι καὶ στέξαι τὸ κριθὲν δυνατός, καὶ μὴν ἐνεγκεῖν τὰς πολιτικὰς διαφορὰς πρᾴως καὶ φίλους ἐνδήσασθαι καὶ συμμάχους προσλαβεῖν οὐδενὸς δεύτερος, ἔτι δὲ πράξεις, ἀπάτας, ἐπιβουλὰς συστήσασθαι κατὰ τῶν πολεμίων, καὶ ταύτας ἐπὶ τέλος ἀγαγεῖν διὰ τῆς αὑτοῦ κακοπαθείας καὶ τόλμης, δεινότατος; Pol. 4,8,1–3. 246 Pol. 2,43,8. 247 Vgl. zur pro-achaiischen Darstellung des Polybios Haegemans – Kosmetatou 2005. Eine dichte Skizze zu Aratos’ Politik bietet nun Grainger 2017: 88–92. 248 Plut. Arat. 25,1–3. 249 Vgl. Tomlinson 1972: 157. 250 Vgl. auch Golan 1973: 68, der annimmt, mit der Niederlage in Argos sei das angebliche Projekt des Aratos, ganz Hellas unter seiner Führung zu vereinen, gescheitert.

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vielmehr der Anführer einer Gruppe, die Argos fest im Griff hatte. Es gelang ihm offenbar sogar, vor Gericht eine Entschädigung dafür zu erstreiten, dass die Achaier Argos angegriffen hätten.251 Offenbar im Anschluss an Phylarch berichtet Polybios, nachdem Aristippos schließlich im Kampf gegen Aratos den Tod gefunden hatte, habe sein Bruder Aristomachos der Jüngere um 234 mit antigonidischer Unterstützung die Kontrolle über Argos übernommen.252 Dieser wird als Tyrann und Abkömmling von Tyrannen bezeichnet;253 im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist aber vor allem die Notiz von Bedeutung, Aristomachos habe 80 Mitglieder der Oberschicht (ὀγδοήκοντα τοὺς πρώτους τῶν πολιτῶν), die als Verbündete der Achaier galten, foltern und hinrichten lassen – offenbar erschien seinen Feinden in der Polis seine Stellung nun so geschwächt, dass er einen Umsturz fürchten musste. Interessanterweise scheint man den Opfern vorgeworfen zu haben, bereits bei Aratos’ missglückter Attacke auf Aristippos mit den Angreifern konspiriert zu haben.254 Anscheinend waren die Machtverhältnisse in der Folgezeit so unklar, dass keine Seite auf eine gewaltsame Entscheidung drang. Stattdessen wechselte Aristomachos schließlich die Seiten, schloss sich mit Argos 228 zunächst dem Achaiischen Bund und danach an Kleomenes III. an und blieb jahrelang eine führende Persönlichkeit in der Polis;255 erst 224 wurde er getötet, nachdem in Argos die ‚Antigonidenfreunde‘ die Macht erlangt hatten.256 Dass Aratos seine Hinrichtung gestattete,257 wurde ihm dabei laut Plutarch aber von vielen verübelt,258 und bemerkenswerterweise ließ ausgerechnet Antigonos Doson seine umgestürzten Statuen später wieder aufrichten,259 was ein Indiz dafür sein dürfte, dass die Gruppe, deren Exponent Aristomachos gewesen war, in der Polis nach wie vor stark war und in der Zwischenzeit die Gunst des Königs erlangt hatte. Etwa um diese Zeit scheint es derweil auch im arkadischen Orchomenos zu Wirren gekommen zu sein: Pausanias überliefert eine Episode, nach der der „Tyrann“ Aristomelidas ein junges Mädchen in den Freitod getrieben habe und daraufhin von ihrem Vormund, Chronios, ermordet worden sei.260 Dieser soll nach der Tat nach Tegea geflohen sein und dort ein Heiligtum für Artemis gestiftet haben. Trifft dies zu, so deutet es darauf hin, dass er in Orchomenos keineswegs als Tyrannenmörder gefeiert worden war – hätte er seinen Mitbürgern als Befreier der Polis gegolten, hätte er kaum flüchten müssen. Was genau sich hinter dieser Geschichte verbirgt, ist zwar letztlich unklar;261 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261

Plut. Arat. 25,4 f. Vgl. Tomlinson 1972: 157–160. Pol. 2,59,5 f. Vgl. zu dieser Familie aus angeblichen Tyrannen Mandel 1979. Pol. 2,59,8 f. Vgl. Berve 1967: 399, Gruen 1972: 613 f., Errington 2008: 96 und Rubinstein 2013: 139. Pol. 2,60,6 f. Polybios wirft in diesem Zusammenhang Phylarch vor, die Grausamkeit der Hinrichtung weit übertrieben dargestellt zu haben; Pol. 2,59 f. Vgl. Zimmermann 2013: 177 f. Plut. Arat. 44,4. Vgl. Berve 1967: 399. Paus. 8,47,6. Bittrich 2005: 21 spricht von einer bloßen „Anekdote“.

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dass es vor der Aufnahme der Polis in das Achaiische Koinon um 234 zu einer Stasis gekommen war, ist aber auch inschriftlich bezeugt.262 2.2.7 Interpretatio Graeca: Polybios und der karthagische Söldnerkrieg In diese Zeit der Expansion des Achaiischen Bundes fällt auch ein Ereignis, das zumindest nach der dieser Untersuchung zugrundeliegenden Konzeption von Stasis – als Konflikt innerhalb der Bürgerschaft einer griechischen Polis – zwar nicht als eine solche gelten kann, das aber dennoch Erwähnung verdient: der karthagische Söldnerkrieg nach dem Ersten Punischen Krieg. Polybios bietet einen sehr ausführlichen Bericht zu diesem Konflikt,263 den er wiederholt als στάσις bezeichnet,264 obwohl es sich um einen Krieg zwischen Karthagern und barbarischen Söldnern handelte.265 Das Geschehen selbst soll hier nicht behandelt werden.266 Erwähnung verdient es allerdings aufgrund der allgemeinen Bemerkungen, die der Geschichtsschreiber in diesem Zusammenhang hinsichtlich der Ursachen interner Konflikte macht. Vor allem eine Passage bietet dabei die polybianische Sicht auf die ‚anthropologischen‘ Wurzeln einer Stasis in maximal verdichteter Form,267 weshalb sie hier wörtlich wiedergegeben sei: ταῖς τε ψυχαῖς παραπλησίως τοιαῦται πολλάκις ἐπιφύονται μελανίαι καὶ σηπεδόνες ὥστε μηδὲν ἀσεβέστερον ἀνθρώπου μηδ᾽ ὠμότερον ἀποτελεῖσθαι τῶν ζῴων. οἷς ἐὰν μὲν συγγνώμην τινὰ προσάγῃς καὶ φιλανθρωπίαν, ἐπιβουλὴν καὶ παραλογισμὸν ἡγούμενοι τὸ συμβαῖνον ἀπιστότεροι καὶ δυσμενέστεροι γίνονται πρὸς τοὺς φιλανθρωποῦντας: ἐὰν δ᾽ ἀντιτιμωρῇ, διαμιλλώμενοι τοῖς θυμοῖς οὐκ ἔστι τι τῶν ἀπειρημένων ἢ δεινῶν ὁποῖον οὐκ ἀναδέχονται, σὺν καλῷ τιθέμενοι τὴ τοιαύτην τόλμαν: τέλος δ᾽ ἀποθηριωθέντες ἐξέστησαν τῆς ἀνθρωπίνης φύσεως. τῆς δὲ διαθέσεως ἀρχηγὸν μὲν καὶ μεγίστην μερίδα νομιστέον ἔθη μοχθηρὰ καὶ τροφὴν ἐκ παίδων κακήν, συνεργὰ δὲ καὶ πλείω, μέγιστα δὲ τῶν συνεργῶν τὰς ἀεὶ τῶν προεστώτων ὕβρεις καὶ πλεονεξίας … οὐδέποτε γὰρ χρὴ τὰ τοιαῦτα παρορᾶν οὐδὲ τηλικαύτην οὐδενὶ συγκατασκευάζειν δυναστείαν, πρὸς ἣν οὐδὲ περὶ τῶν ὁμολογουμένων ἐξέσται δικαίων ἀμφισβητεῖν.

262 Im inschriftlich erhaltenen Beschluss der Achaier über die Aufnahme der Polis in den Bund wird ein Klageverbot hinsichtlich aller Dinge, die einen gewissen Nearchos und seine Söhne betreffen, festgelegt; Syll.3 490 (vgl. IP Ark 16). 263 Pol. 1,65–88. 264 Pol. 1,66,10; 1,67,2; 1,67,5. 265 Es sei an dieser Stelle nochmals betont, dass sich die hier zugrunde gelegte Definition einer Stasis nicht mit jener von στάσις in den Quellen deckt. Die Position, dem Zeitgenossen Polybios darin zu folgen, die Ereignisse in Karthago als Stasis aufzufassen, da diesem eine „profunde und überlegene Materialbasis“ zur Verfügung gestanden habe (Dreyer 2016: 90), lässt sich daher sicherlich vertreten. Im Rahmen der vorliegenden Studie, deren Gegenstand einzig die Konflikte in griechischen Poleis bilden, soll Polybios’ Einordnung allerdings stattdessen als Indiz dafür gewertet werden, dass die Denkmuster der Stasis einem Griechen wie ihm derart selbstverständlich erschienen, dass sie topischen Charakter besaßen und daher allgemein auf die Erzählung bewaffneter innerer Konflikte angewandt wurden, auch wenn diese weder Hellenen noch eine Stadt betrafen. 266 Vgl. stattdessen ausführlich Loreto 1995 und Hoyos 2007. 267 Pol. 1,81,7–10 und 1,83,4.

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Ebenso [wie ein Geschwür im Körper] bildet sich auch in den Seelen so etwas Ähnliches wie Brand und Fäulnis, so dass der Mensch schließlich zum ruchlosesten und grausamsten unter allen Lebewesen wird. Wenn man diesen Menschen Verzeihung und Milde entgegenbringt, so halten sie das für List und Heimtücke und werden nur noch verräterischer und feindseliger gegenüber denen, die Milde üben. Wenn man ihnen aber strafend entgegentritt, dann gibt es nichts Furchtbares und keine Schandtat, derer sie nicht, im Wetteifer ihrer Leidenschaften, fähig wären, wobei sie solche Anmaßung noch für gut halten. Am Ende aber verwildern sie so sehr, dass sie nichts Menschliches mehr an sich haben. Den Grund und den Hauptanteil an einem solchen Zustand muss man bösen Sitten und schlechter Erziehung von Kindheit an zuschreiben. Mitwirkende Ursachen gibt es mehrere, die wichtigsten aber sind immer die Hybris und die Habsucht der herrschenden Männer … Denn niemals darf man die Vorsicht vernachlässigen und einer Macht zu einer Höhe verhelfen, bei welcher man nicht mehr in der Lage ist, seine vertragsmäßigen Rechte zu behaupten.

Es liegt wohl auf der Hand, dass Polybios hier nicht nur von den rebellischen afrikanischen Söldnern redet, um die es vordergründig geht, sondern sich vielmehr mit grundsätzlichen Bemerkungen an einen griechischen Leser mit dem Erfahrungshorizont eines Politen richtet: Man hat es hier offenkundig mit einer interpretatio Graeca zu tun. Wie bereits bei früheren Autoren wird die Neigung der Menschen zur Stasis von Polybios gleichsam als eine Erkrankung verstanden,268 wobei er Hybris, Habsucht und Machtmissbrauch der Herrschenden als Gründe kennzeichnet, während die eigentliche Ursache dieser Verwilderung in einer fehlenden oder falschen Erziehung zu suchen sei.269 In einer Nussschale bietet er damit zentrale Erklärungsansätze, die sich auch in anderen literarischen Quellen finden lassen. Beachtung verdient dabei, dass er innere Konflikte auch für die Schwäche eines Gemeinwesens nach außen verantwortlich macht und so auch die karthagische Niederlage gegen die einträchtigen Römer erklären möchte.270 2.2.8 Agis IV. und Kleomenes III. Bereits einige Jahre vor dem Sturz des Aristomachos in Argos und dem Ausbruch des karthagischen Söldnerkrieges hatten in Sparta aufsehenerregende Ereignissen ihren Anfang genommen,271 die literarisch ungewöhnlich gut bezeugt sind: Obwohl bei der Stasis zwischen zwei Gruppen um den Eurypontiden Agis IV. (244 bis 241) und den 268 Vgl. zur Stasis als einer Krankheit der Polis etwa Aischyl. Pers. 715; Plat. Soph. 228a; Dion Chrys. or. 39,5. Vgl. auch Kalimtzis 2000: 17–22. Vgl. Loraux 2002, die konstatiert, im Zusammenhang von Staseis würden die literarischen Quellen „citizens as fighting not against each other but against themselves“ (79 f.) darstellen, sowie insbesondere Loraux 2005: 31–79 und Taranto 2014: 22–36. 269 Vgl. auch seine an anderer Stelle geäußerte prägnante Zusammenfassung dessen, was einen „guten Mann“ ausmache: καὶ γὰρ φιλόφιλον εἶναι δεῖ τὸν ἀγαθὸν ἄνδρα καὶ φιλόπατριν καὶ συμμισεῖν τοῖς φίλοις τοὺς ἐχθροὺς καὶ συναγαπᾶν τοὺς φίλους; Pol. 1,14,4. 270 Vgl. hierzu Dreyer 2016. Vgl. zu Polybios’ sehr griechischer Sicht auf Rom auch Gotter 2008b: 204–210. 271 Einen Überblick zur spartanischen Ereignisgeschichte im 3. Jahrhundert bieten Oliva 1971: 201–318 und Kennell 2010: 159–180. Vgl. speziell zu den hier behandelten Vorgängen einführend Shipley 2000: 143– 147, Préaux 2002 (1978): 530–541 und Cartledge 2002: 38–58. Geske 2009 bietet in seiner gründlichen

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Agiaden Leonidas II. anscheinend nur wenig Blut vergossen wurde, ist Plutarchs ausführlicher und eindeutig von einer apologetischen Tradition abhängiger Bericht instruktiv, da er weitere Rückschlüsse auf die Konzeptualisierung der Konflikte in den Quellen zulässt. Bemerkenswert ist dabei zunächst, dass Leonidas als Antagonist des vermeintlich wahrhaftig lakonischen Agis272 aufgrund seiner Kontakte zum seleukidischen Hof als Repräsentant einer klar negativ konnotierten orientalisch-hellenistischen Monarchie dargestellt wird – ein Vorwurf, der durchaus zeitgenössisch sein mag.273 Als eigentliche Ursache der Konflikte identifiziert Plutarch allerdings eine sozioökonomische Krise: Das Land habe sich in den Händen von nur noch ungefähr einhundert Familien befunden.274 Als dritte Konfliktlinie werden sodann Spannungen zwischen Jungen und Alten benannt, wobei die meisten der Letztgenannten gegen Agis gestanden hätten.275 Diese pauschale Aussage muss Plutarch allerdings sogleich relativieren, indem er prominente ältere Unterstützer des Eurypontiden benennt, namentlich Lysandros, Agesilaos, Hippomedon und Mandrokleidas.276 Während derlei Konflikte zwischen Reich und Arm sowie zwischen Jung und Alt dabei, wie man gesehen hat, auch für andere Staseis behauptet werden, ist die letzte Konstellation, die Plutarch anführt, wohl als typisch spartanisch zu verstehen: Da sich in dieser Polis der größere Teil des Wohlstandes in weiblicher Hand befunden habe, habe die Mehrheit der Frauen Leonidas unterstützt und ihn sogar zum Widerstand gegen Agis gedrängt.277 Agis und seinen Anhängern sei es nun gelungen, so Plutarch, Lysandros zum Ephor wählen zu lassen. Dieser habe der Gerusia eine Rhetra vorgelegt, die die beiden ‚klassischen‘ Maßnahmen, Schuldenerlass (χρεῶν ἀποκοπή) und Bodenreform (γῆς ἀναδασμός), vorsah.278 Überdies sollte eine Vielzahl von Neubürgern aufgenommen werden. Bemerkenswerterweise berichtet Plutarch nicht etwa von einhelliger Ableh-

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Untersuchung erhellende Überlegungen zum „sozialen Reformprogamm“, das Agis IV. und Kleomenes III. verfolgt hätten. Vgl. zur älteren Forschung Niese 1893 und Chloché 1943. Plut. Agis 4. Vgl. zu Plutarchs Darstellung, in der den Leidenschaften der Protagonisten – vor allem Ruhmsucht und Ehrgeiz – eine besonders prominente Rolle zukommt, zuletzt Roskam 2005 und Roskam 2011. Der grundlegende Kommentar zur Agis- und Kleomenesvita ist Marasco 1981. καίπερ γὰρ ἐγκεκλικότων ἤδη τῇ διαφθορᾷ τοῦ πολιτεύματος ὁμαλῶς ἁπάντων, ἦν τις ἐν τῷ Λεωνίδᾳ τῶν πατρῴων ἐπιφανὴς ἐκδιαίτησις, ἅτε δὴ χρόνον ἠλινδημένῳ πολὺν ἐν αὐλαῖς σατραπικαῖς καὶ τεθεραπευκότι Σέλευκον, εἶτα τὸν ἐκεῖθεν ὄγκον εἰς Ἑλληνικὰ πράγματα καὶ νόμιμον ἀρχὴν οὐκ ἐμμελῶς μεταφέροντι; Plut. Agis 3,6. Tatsächlich scheint die schrittweise Transformation der alten spartanischen βασιλεία in eine Monarchie hellenistischen Charakters bereits zuvor eingesetzt zu haben; vgl. hierzu Palagia 2006. Plut. Agis 5,4. Cartledge 2016 spricht von „the gross and growing inequality between rich and poor“ (239). Plut. Agis 6,1 f. Die Einschätzung und Bewertung der Vorgänge ist bis heute umstritten; vgl. zur Frage, ob man in diesem Zusammenhang von einer „Revolution“ sprechen könne, auch die Diskussion bei Martinez-Lacy 1997. Plut. Agis 6,2 f. Plut. Agis 7,3–5. Vgl. zur Rolle der Frauen die eingehende Diskussion bei Powell 1999. Erinnert sei an die berühmte Behauptung des Aristoteles, zu seiner Zeit seien bereits fast zwei Fünftel des Bodens in Sparta in weiblicher Hand gewesen; Arist. Pol. 2,9,4 (= 1270a). εὐθὺς εἰσέφερε δι᾽ αὐτοῦ ῥήτραν εἰς τοὺς γέροντας, ἧς ἦν κεφάλαια χρεῶν μὲν ἀφεθῆναι τοὺς ὀφείλοντας, τῆς δὲ γῆς ἀναδασθείσης τὴν μὲν ἀπὸ τοῦ κατὰ Πελλήνην χαράδρου πρὸς τὸ Ταΰγετον καὶ Μαλέαν καὶ Σελασίαν κλήρους γενέσθαι τετρακισχιλίους πεντακοσίους, τὴν δ᾽ ἔξω μυρίους πεντακισχιλίους; Plut. Agis 8,1. Cicero erblickt sicherlich (im Anschluss an Panaitios) in der geplanten Landreform die direkte Ursache für den Tod des Agis; Cic. Off. 2,80.

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nung, sondern davon, dass der Rat in sich gespalten gewesen sei – ein weiterer Hinweis auf Konflikte innerhalb der Elite.279 Lysandros brachte das Gesetz in dieser Situation direkt vor die Volksversammlung, und als Agis und seine Mitstreiter, die von Plutarch ausdrücklich als „die Reichsten unter den Spartanern“ bezeichnet werden (womit er natürlich seinen eigenen einleitenden Bemerkungen widerspricht),280 sich bereit erklärte, demonstrativ große Summen bereitzustellen, zogen die Reformer die Mehrheit auf ihre Seite. Die Geronten hingegen lehnten die Rhetra ab, wenngleich angeblich mit nur einer einzigen Stimme Mehrheit.281 Die Gruppe um Agis reagierte hierauf mit einem offenbar unblutigen Putsch; Lysandros ließ zunächst Leonidas unter Verweis auf dessen seleukidische Verbindungen absetzen und an seiner Stelle den Agiaden Kleombrotos zum zweiten βασιλεύς erheben.282 Als sich die kurz darauf neu gewählten Ephoren gegen die Agis-Parteiung stellten – ein Hinweis darauf, dass diese keineswegs geschlossen von der Mehrheit der einfachen Bürger unterstützt wurde –, kam es zu einem offenen Staatsstreich: Agis und Kleombrotos zogen mit ihren bewaffneten Anhängern auf den Markt, setzten die Ephoren ab und befreiten viele Gefangene. Wider Erwarten, so Plutarch ausdrücklich, beließen sie es aber bei dieser Machtdemonstration und gingen ansonsten nicht gegen ihre Feinde vor.283 Agis soll einen Mordanschlag auf Leonidas sogar aktiv vereitelt haben; und ungeachtet der apologetischen Tendenz der Quelle ist durchaus plausibel, dass Agis und seine Anhänger die finale Eskalation des Konflikts – Blutvergießen und Massenverbannungen – tatsächlich aktiv zu verhindern suchten, da ihnen allein auf der Peloponnes ja ausreichend Beispiele vor Augen gestanden haben müssen, wie sehr auf Rache und Repatriierung sinnende φυγάδες eine Stabilisierung der Verhältnisse und die Reintegration der Gesellschaft erschwerten.284 Die Schurkenrolle kommt in Plutarchs Darstellung dem Agesilaos zu.285 Dieser wird nicht nur bezichtigt, das besagte Attentat auf Leonidas befohlen zu haben, sondern er soll auch aus eigensüchtigen Motiven das Scheitern des Reformprojekts verursacht haben: Selbst ein hochverschuldeter Großgrundbesitzer, habe er nach dem Umsturz zügig für eine öffentliche Schuldscheinverbrennung gesorgt, doch danach die Bodenreform absichtlich immer weiter hinausgezögert.286 Während sich Agis auf einem Feldzug gegen 279 Plut. Agis 9,1: τῶν γερόντων εἰς ταὐτὸ ταῖς γνώμαις οὐ συμφερομένων. 280 Plut. Agis 9,3. 281 Plut. Agis 11,1. Diese Angabe ist allerdings „mathematically impossible, unless there were abstentions or absentees“ (Cartledge 2002: 44), da der Gerusia regulär 30 Personen (einschließlich Agis und Leonidas) angehörten. Man beachte in diesem Zusammenhang allerdings die – etwas enigmatischen – Bemerkungen bei Herodot (6,57,5), die vermutlich so zu verstehen sind, dass jedem βασιλεύς gegebenenfalls mehr als eine Stimme zukam. 282 Plut. Agis 11,4 f. 283 Plut. Agis 12,3 f. 284 Sehr prägnant schildert bereits Xenophon dieses Problem im Zusammenhang mit der Reintegration von ‚Spartafreunden‘ in Phleius 384 v. Chr.; Xen. Hell. 5,2,9 f. 285 Vgl. bereits Michell 1952: 319 f.: „Agesilaus may have been a villain, but he could not have been powerful enough single handed to impose his ideas.“ 286 Plut. Agis 13. Ein derartiges Verhalten erschien offensichtlich plausibel. Lévy 2003 vermutet als Ursache vielmehr, dass sich nach dem überraschenden Umsturz nunmehr der Widerstand organisiert habe,

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Aratos befunden habe, habe Agesilaos, nunmehr Ephor, in Sparta zunehmend tyrannisch agiert, indem er hohe Abgaben erpresst und sich mit einer Leibwache umgeben habe. Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung habe sich die Gegenseite organisiert und Leonidas aus dem Exil zurückgeholt.287 Während Agesilaos daraufhin mit Hilfe seines Sohnes außer Landes fliehen konnte, suchte Agis im Athenaheiligtum Zuflucht.288 Nun kam es zur erneuten Absetzung der amtierenden Ephoren; Kleombrotos wurde verbannt, Agis durch Verrat gefangengenommen, wobei auch Söldner eingesetzt wurden. Während es unter der Bevölkerung zu einem Aufruhr (θόρυβος) gekommen sei,289 sprachen die neuen Ephoren eilig das Todesurteil über den Eurypontiden, der gemeinsam mit seiner Mutter und Großmutter zügig hingerichtet wurde.290 Die bedeutende Rolle, die Plutarch den Frauen der spartanischen Oberschicht zuspricht,291 wird auch im Zusammenhang seiner Schilderung der Ereignisse rund um Kleomenes III. (235 bis 222) deutlich; denn nach dem Sieg über Agis IV. gab Leonidas II. dessen Witwe Agiatis seinem eigenen Sohn Kleomenes zur Frau, dem sie wiederum viel über ihren ersten Gemahl erzählt haben soll.292 Wenn Plutarchs Behauptung, es sei zu dieser Zeit gefährlich gewesen, über Agis und sein Programm zu sprechen,293 zutrifft, so ist dies wohl ein Indiz für anhaltende Konflikte innerhalb der Bürgerschaft. Zwar behauptet Plutarch, die Spannungen zwischen Reich und Arm hätten weiterhin fortbestanden, aber er folgt wahrscheinlich seiner Vorlage Phylarch darin, nun vor allem die Ephoren als sture Gegner einer Reform zu kennzeichnen. Angeblich, um diesen besser die Stirn bieten zu können, veranlasste Kleomenes die Rückkehr von Agis’ Bruder Archidamos aus dem Exil, doch fiel dieser kurz darauf einem Mordanschlag zum Opfer.294 Gestützt auf eine kleine Gruppe Vertrauter unternahm Kleomenes schließlich 226 einen Staatsstreich: Nach einem erfolgreichen Feldzug gegen die Achaier sandte der βασιλεύς laut Plutarch eine bewaffnete Gruppe um seine Freunde Eurykleidas, Phoibis und Therykion zu den Ephoren und ließ diese niedermachen, ebenso wie mehrere Bürger, die zu Hilfe eilten. Nur einer der fünf Ephoren entkam verletzt dem Anschlag.295

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wodurch die Reformen ins Stocken geraten seien (281). Und Geske 2009 nimmt an, dass zudem auch „die ärmeren Spartiaten“ kein Interesse an der geplanten Bodenreform gehabt hätten: „Zwar würden die Reicheren Land verlieren, sie selbst aber kein weiteres dazugewinnen“ (67). Vgl. Cloché 1943: 67 und Shimron 1972: 16 f. Auf die auffällige Inkonsistenz in Plutarchs Bericht, demzufolge die Menge (οἱ πολλοί) angeblich aus Wut über die Verzögerung der Bodenreform ausgerechnet jenem Mann wieder an die Macht verholfen haben soll, der von Anfang an ein Gegner diese Maßnahme gewesen sein soll, verweist mit Recht Geske 2009: 68 f., der das Geschehen daher schlicht als einen „Gegenputsch“ klassizifiert. Plut. Agis 16. Plut. Agis 19,7. Plut. Agis 20. Lysandros scheint verbannt worden zu sein; vgl. Cic. Off. 2,80. Offenbar wandten sich Anhänger des toten βασιλεύς danach noch vergeblich um Hilfe an die Aitoler; vgl. Grabowski 2012: 91. Vgl. Powell 1999. Plut. Kleom. 1. Plut. Kleom. 2,1. Laut Pausanias hatte Kleomenes zuvor angeblich bereits Agis’ Sohn Eurydamidas umbringen lassen (Paus. 2,9,1). Plut. Kleom. 8. Vgl. Cartledge 2002: 50 f.

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Trotz der begrenzten Opferzahl – folgt man Plutarch, dessen Vorlage die Gewalt allerdings aus apologetischen Gründen heruntergespielt haben mag, so starben einschließlich der vier Ephoren etwa 15 Männer – erscheint es gerechtfertigt, aufgrund der Brutalität des Vorgehens und der Radikalität des damit verbundenen Tabubruchs von einer gewaltsamen Stasis zu sprechen.296 Zwar betont Plutarch, dass ein allgemeines Massaker unterblieb und jene, die sich ruhig verhielten, geschont wurden; doch andererseits floh eine unbekannte Anzahl von Menschen aus der Stadt.297 Am folgenden Tag veröffentlichte Kleomenes, so Plutarch weiter, überdies eine Liste mit den Namen von 80 weiteren Bürgern, die aus Sparta verbannt wurden – vermutlich handelte es sich um den harten Kern der Gegenpartei –, und statt neue Ephoren wählen zu lassen, schaffte Kleomenes das Amt ab, da es in der Großen Rhetra ohnehin nicht erwähnt werde.298 Nachfolger des Archidamos wurde kein Eurypontide, sondern Kleomenes’ Bruder Eukleidas. Auf die anschließenden Reformen, einschließlich Schuldentilgung und Landverteilung, muss an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden; wahrscheinlich ging es Kleomenes nicht zuletzt darum, seine Stellung der eines hellenistischen Monarchen anzunähern.299 Sehr bemerkenswert ist allerdings, dass sich der Widerstand in Sparta offenbar in Grenzen hielt und Kleomenes laut Plutarch für die 80 Verbannten klaroi reservieren ließ und ihnen mittelfristig eine Rückkehr in Aussicht stellte; trifft diese Nachricht zu, so kann man sie wohl entweder als Ausdruck demonstrativer monarchischer φιλανθρωπία lesen oder – wahrscheinlicher – als Versuch, die weiterhin schwelende Stasis zu deeskalieren, indem man den Vertriebenen eine Perspektive bot. Es erscheint gut vorstellbar, dass Kleomenes tatsächlich vorhatte, die Verbannten, die ja außerhalb der Stadt eine stete Bedrohung darstellen mussten, beizeiten heimkehren zu lassen, sobald seine Stellung gefestigt wäre. Die Reintegration dieser φυγάδες wäre immens erleichtert worden, wenn ihnen dann vakante klaroi zur Verfügung gestanden hätten.300 Der militärische Erfolg stärkte die Position des Königs nicht nur im Inneren.301 Plutarch berichtet, dass in zahlreichen Poleis auf der Peloponnes Staseis vor dem Ausbruch 296 Marasco 2004: 194 folgt im Kern Plutarchs apologetischer Lesart und nimmt an, Kleomenes sei es vor allem darum gegangen, die militärische Schlagkraft Spartas zu erhöhen; er habe dabei zu Gewalt greifen müssen, da ihm Agis’ Scheitern „l’impossibilità di mutare la situazione interna con metodi costituzionali“ vor Augen geführt habe; vgl. auch Africa 1961: 25–27 und Marasco 1981: 121 f. Es versteht sich, dass diese verbreitete Argumentation hochproblematisch ist, da sie ein nachgerade überzeitliches Argument zur Rechtfertigung interner Gewalt – auf friedliche und regelkonforme Weise seien die edlen Ziele der Akteure nun einmal nicht durchsetzbar gewesen – einfach übernimmt und so den Tabubruch als „Revolution“ legitimiert. 297 Plut. Kleom. 8,2. 298 ὁ δ᾽ οὖν Κλεομένης ἡμέρας γενομένης προέγραψεν ὀγδοήκοντα τῶν πολιτῶν οὓς ἔδει μεταστῆναι, καὶ τοὺς δίφρους ἀνεῖλε τῶν ἐφόρω πλὴν ἑνός, ἐν ᾧ καθήμενος ἔμελλεν αὐτὸς χρηματίζειν; Plut. Kleom. 10,1. Vgl. zum „revolutionären“ Charakter dieser Maßnahmen auch Marasco 2004. Die Frage nach Alter und Genese der von Plutarch an anderer Stelle (Plut. Lyk. 6) überlieferten Großen Rhetra kann hier ausgeklammert werden. 299 Vgl. Palagia 2006 und Walthall 2013. Vgl. hingegen Cartledge 2002: „Polybius (ii.47.3) was not wrong to call Cleomenes a tyrant“ (52). 300 Plut. Kleom. 11,1. Wie sehr ökonomische Faktoren und Besitzfragen die Wiederherstellung der Eintracht behindern konnten, hatte sich ja erst wenige Jahre zuvor in Sikyon gezeigt. 301 Vgl. zur königlichen Außenpolitik Oliva 1968. Vgl. zu den spartanischen Feldzügen auch Tausend 1998.

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standen,302 wobei er konstatiert, in der breiteren Bevölkerung habe vor allem die Aussicht auf sozioökonomische Reformen für Unruhe gesorgt, während es den ‚Kleomenesfreunden‘ in den städtischen Eliten darum gegangen sei, sich mit spartanischer Hilfe von Aratos und der achaiischen Dominanz zu befreien.303 Die Achaier mussten Truppen entsenden, und in Korinth kam es zu Prozessen gegen angebliche Spartafreunde; doch erst mit dem folgenden renversement des alliances, als sich die Achaier und Aitoler mit den Antigoniden und die Lakedaimonier mit den Ptolemaiern verbündeten,304 und der Niederlage des Kleomenes bei Sellasia endete die Krise. Kleomenes floh nach Alexandreia, wo er einige Jahre später den Tod fand. Polybios, Livius und Pausanias betrachteten ihn rückblickend als Tyrannen, und selbst bei Plutarch finden sich Hinweise auf diese Tradition.305 Beachtung verdienen die polybianischen Bemerkungen zu den Ereignissen, die sich vor und nach der Schlacht von Sellasia im arkadischen Mantineia zutrugen. Seine Schilderung ist dabei nicht in das eigentliche Narrativ integriert, sondern gehört vielmehr in den Kontext der Attacken auf Phylarch, dessen verlorene Darstellung der Vorkommnisse Polybios heftig kritisiert. In weiten Teilen scheinen sich die beiden Autoren dabei durchaus einig gewesen zu sein: Mantineia, das von den Achaiern zunächst zu den Aitolern und dann zu Kleomenes übergetreten sei, sei um 226 von Aratos gewaltsam eingenommen worden. Da die Bürger in der Folge eine Stasis sowie Attacken von Spartanern und Aitolern gefürchtet hätten, hätten sie wenig später um eine achaiische Garnison gebeten.306 Doch als es kurz darauf tatsächlich zu einem Aufruhr in der Polis gekommen sei, habe man die achaiischen Soldaten erschlagen und die Spartaner herbeigerufen.307 Polybios wirft nun Phylarch vor, die anschließende Bestrafung Mantineias durch Antigonos Doson und Aratos verzerrt und übertrieben geschildert zu haben – denn in Wahrheit seien die Bürger nach der Plünderung der Stadt lediglich in die Sklaverei verkauft worden, eine aus polybianischer Sicht gerechte und moderate Strafe.308 302 Bereits einige Jahre zuvor war es offenbar in Tegea und Orchomenos zu Konflikten gekommen, denn Aratos versuchte laut Plutarch (Kleom. 4,1 f.), die beiden Poleis mit Hilfe von Verbündeten in den Städten handstreichartig einzunehmen, scheiterte allerdings. Orchomenos war 229 an Kleomenes gefallen, nachdem ein achaiischer Versuch, eine Stasis in der Polis um 234 durch eine Amnestie beizulegen (Syll.3 490; IP Ark 16), wenige Jahre zuvor anscheinend gescheitert war; vgl. Rubinstein 2013: 138–142. Dabei stand in Orchomenos offenbar, wie erwähnt, eine Gruppe um Nearchos und seine Söhne anderen Bürgern feindlich gegenüber. 303 Plut. Kleom. 17,3. Man darf vermuten, dass sich hinter dieser Aussage ein Hinweis auf Konflikte zwischen dominierenden ‚Achaierfreunden‘ und ihren internen Gegnern in den peloponnesischen Poleis verbirgt. Vgl. in diesem Sinne auch Shipley 2000: „What the élites of the Achaean towns perhaps feared was not that the existing social order would be overturned by an enraged underclass, but that they and their friends would be deprived of political power by rivals – men much like themselves“ (147). 304 Vgl. hierzu auch Gruen 1972, Larsen 1975 und Oliva 1984. 305 Pol. 2,47,3; 4,81,14; 9,23,3; 23,11,4; Liv. 34,26,14; Paus. 2,9,1; Plut. Kleom. 7,1. Zur polybianischen Darstellung der kleomenischen Reformen vgl. auch Shimron 1964. 306 μετὰ δὲ ταῦτα προορώμενοι τὰς ἐν αὑτοῖς στάσεις καὶ τὰς ὑπ᾽ Αἰτωλῶν καὶ Λακεδαιμονίων ἐπιβουλάς, πρεσβεύσαντες πρὸς τοὺς Ἀχαιοὺς ἠξίωσαν δοῦναι παραφυλακὴν αὑτοῖς; Pol. 2,58,1. 307 μετ᾽ οὐ πολὺ δὲ στασιάσαντες πρὸς σφᾶς οἱ Μαντινεῖς καὶ Λακεδαιμονίους ἐπισπασάμενοι τήν τε πόλιν ἐνεχείρισαν καὶ τοὺς παρὰ τῶν Ἀχαιῶν διατρίβοντας παρ᾽ αὑτοῖς κατέσφαξαν; Pol. 2,58,4. 308 Pol. 2,58,12.

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Versucht man also, die Passage auf das zu reduzieren, worin die beiden Autoren offenbar übereinstimmten, so ergibt sich das Bild einer Polis, die über längere Zeit hinweg von einer Stasis geplagt wurde, bei der sich die Parteiungen an unterschiedliche äußere Mächte anlehnten. Der Versuch der ‚Achaierfreunde‘, mit Hilfe des Koinon ihre Position zu stabilisieren, scheiterte dabei zunächst blutig, weil ihre Feinde sich erfolgreich an Kleomenes anlehnten. Dass sie bei dieser Gelegenheit nicht nur achaiische Soldaten, sondern auch verfeindete Bürger Mantineias erschlugen, darf man wohl getrost voraussetzen, auch wenn Polybios diesen Punkt, der für seine Argumentation – es geht ihm ja um das Unrecht, das den Achaiern widerfahren sei – unwichtig ist, übergeht.309 Nach einem erneuten Umschwung bestraften die Achaier dann die Stadt, wobei sie keine Unterschiede mehr unter den Bürgern gemacht zu haben scheinen; mutmaßlich ging man davon aus, dass es nach den vorangegangenen Ereignissen in Mantineia keine ‚Achaierfreunde‘ mehr gebe, auf die man Rücksicht zu nehmen habe. Der Versuch, den Ort indirekt zu kontrollieren, wurde offensichtlich aufgegegeben; die Polis wurde vielmehr wenig später unter dem Namen Antigoneia neu gegründet – mit achaiischen Siedlern und Aratos als οἰκιστής – und behielt diesen Namen danach bis in hadrianische Zeit.310 2.2.9 Staseis nach dem Kleomeneskrieg Mit dem Kleomeneskrieg beginnt ein Abschnitt der griechischen Geschichte, der in der literarischen Überlieferung wieder erheblich besser zu greifen ist – und überdies nicht erst bei kaiserzeitlichen Autoren, denn um diese Zeit setzt der fortlaufende Bericht des Polybios über Griechenland ein. So erfährt man von einer Stasis in Gortyn auf Kreta um das Jahr 220, wobei der Geschichtsschreiber lakonisch anmerkt, derlei sei für die Insel nachgerade typisch (ὅπερ ἔθος ἐστὶ Κρησίν, ἐστασίασαν πρὸς τοὺς ἄλλους).311 Während eines Konfliktes zwischen den Poleis Knossos und Lyttos kämpfte Gortyn demnach zunächst gegen die Knossier, doch als die Stadt gemeinsam mit anderen die Seiten wechseln wollte, brach eine Stasis aus.312 Polybios erklärt diese mit dem wohlvertrauten Gegensatz zwischen Jung und Alt, wobei sich die „Älteren“ (οἱ πρεσβύτεροι) an Knossos angelehnt hätten.313 Dieser Partei sei schließlich die Besetzung der Akropolis gelungen, und nachdem man Knossier und die mit diesen verbündeten Aitoler314 in die Stadt ge309 Vgl. zu dieser Passage auch die präzise Analyse bei Zimmermann 2013: 176 f. Vgl. zur polybianischen Darstellung von Umstürzen („revolution“) daneben auch Mendels 1982, der wie Fuks einen marxistischen Ansatz verfolgt und irritiert feststellt, „the polarity between the ‚haves‘ and the ‚havenots‘ is only implied in Polybius’ Histories“ (87). 310 Plut. Arat. 45,8; Paus. 8,8,12. Vgl. Bölte 1930: 1330. 311 Pol. 4,53,5. Vgl. Chaniotis 2006: 99 f. 312 Vgl. zum Lyttischen Krieg Chaniotis 1996: 36–38. 313 Vgl. Errington 1969: 29 f. und Kennell 2013: 221–224. Spyridakis 1970: 95 f. vermutet, dass die jüngeren Männer ‚ptolemaierfreundlich‘, die älteren ‚Antigonidenfreunde‘ gewesen seien. 314 Vgl. zur aitolischen Beteiligung auch Scholten 2000: 193. Zur kontrovers diskutierten Frage, ob der Aitolische Bund damals systematisch bestrebt war, seinen Einfluss auf die griechischen Inseln auszudehnen, vgl. Funke 2008.

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lassen habe, seien viele der „Jüngeren“ erschlagen oder verbannt worden.315 Nach dem Ende des Krieges, der offenbar mit einer Niederlage der Knossier endete, scheinen sich in Gortyn allerdings letztlich die „Jüngeren“ durchgesetzt zu haben.316 Auch Polybios’ Vaterstadt Megalopolis wurde nach dem Kleomeneskrieg von einer Stasis geplagt, die mehrere Jahre dauerte. Ursache waren offenbar sowohl ökonomische als auch politische Konflikte zwischen jenen, die während des Krieges verbannt gewesen waren,317 und ihren Mitbürgern.318 Ob es zu Gewalt kam, ist dabei unklar. Polybios benennt jedenfalls drei konkrete Streitpunkte: Zum einen den Bau der Stadtmauer, zum anderen die Forderung nach einer Landreform, bei der die Grundbesitzer ein Drittel ihres Bodens abgeben sollten – vermutlich ging es hierbei um die Entschädigung der Rückkehrer –, und drittens und vor allem die neue Verfassung, die der Peripatetiker Prytanis der Polis im Auftrag der Antigoniden gegeben habe.319 Erst als der Achaiische Bund Megalopolis wieder fest unter seine Kontrolle gebracht hatte, scheint es Aratos gelungen zu sein, die Konflikte beizulegen – wie dies genau geschah und ob es wirklich zu einer Versöhnung kam, berichtet Polybios nicht.320 Es ist durchaus denkbar, dass man in Wahrheit einer der beiden Parteiungen zum Sieg verhalf. Etwa um dieselbe Zeit kam es laut Polybios in der arkadischen Polis Kynaitha, die offenbar bereits seit längerem von einer unaufhörlichen und heftigen Stasis (ἐκ πολλῶν χρόνων ἐν ἀκαταπαύστοις καὶ μεγάλαις συνεσχῆσθαι στάσεσι), verbunden mit zahlreichen Morden, Landverteilungen321 und Verbannungen, geplagt worden war,322 zu einer finalen Eskalation des Konflikts.323 Jene Partei, die sich an den Achaiischen Bund anlehnte, hatte zuletzt die Oberhand gewonnen und eine achaiische Garnison in die Stadt geholt,324 und offenbar glaubten sowohl sie als auch die Entscheidungsträger im Koinon, Kynaitha mittlerweile so fest im Griff zu haben, dass man der Bitte der Verbannten um Heimkehr nachkommen zu können glaubte. Polybios behauptet, die Achaier hätten gehofft, die Rückkehrer würden aus Dankbarkeit loyal bleiben, und hätten daher den Ver315 Pol. 4,53,7–9. 316 Vgl. Chaniotis 1996: 38. 317 Umgekehrt hatte Kleomenes im Jahr 224/3 φυγάδες, die sich in Messene aufhielten, zurück nach Megalopolis gerufen. Diese scheinen das Angebot allerdings abgelehnt zu haben; Pol. 2,61,4–11. Vgl. Gray 2015: 2 f. In gewisser Weise dürfte dies die Situation verkompliziert haben, da man die Verbannten nach Sellasia nicht ohne weiteres als ‚Kleomenesfreunde‘ denunzieren konnte. 318 τοῖς μὲν γὰρ φρονήμασιν ἔμενον, ταῖς δὲ χορηγίαις καὶ κοινῇ καὶ κατ᾽ ἰδίαν πρὸς πᾶν ἀδυνάτως εἶχον. διόπερ ἦν ἀμφισβητήσεως, φιλοτιμίας, ὀργῆς τῆς ἐν ἀλλήλοις πάντα πλήρη; Pol. 5,93,3 f. Vgl. Urban 1979: 199 und Mendels 1982: 96–98. 319 Pol. 5,93,1–8. Vgl. zu Prytanis von Karystos Thrams 2001: 269 sowie insbesondere Haake 2007: 89–99. 320 τοιαύτης δ᾽ οὔσης τῆς ἀμφισβητήσεως ποιησάμενος Ἄρατος τὴν ἐνδεχομένην ἐπιστροφὴν κατέπαυσε τὴν φιλοτιμίαν αὐτῶν; Pol. 5,93,9. Vgl. Walbank 1933: 149 f. 321 Tarn 1952: 123 vermutet einen Zusammenhang zwischen dem von Polybios (Pol. 4,17,5) beiläufig erwähnten γῆς ἀναδασμός und Kleomenes III.; die Quelle stellt diese Verbindung allerdings nicht her. 322 Pol. 4,17,4. 323 Vgl. zu dieser „stásis sauvage“ insbesondere Loraux 1995: 301–305. Vgl. zu den Ereignissen und zu Polybios’ Darstellung daneben auch Walbank 1936, Mendels 1982: 88–90 und Rubinstein 2013: 147–149. 324 Vgl. Welwei 1966: „Die Führung des Koinon dachte offenbar nicht an soziale Maßnahmen zur Wiederherstellung des inneren Friedens, sondern hielt militärische Aktionen für das geeignete Mittel, soziale Reformbestrebungen zu unterbinden“ (300). Vgl. zum Kontext auch Larsen 1968: 334 f.

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söhnungsversuch der Politen gestattet.325 Wahrscheinlicher ist aber wohl die Annahme, dass die φυγάδες sowohl der Polis als auch dem Koinon schlicht lästig fielen und man das Problem daher friedlich lösen zu können hoffte. Ungeachtet der Leistung heiliger Eide hätten sich die Heimkehrer nach dem Abzug der achaiischen Truppen jedoch unverzüglich an die Aitoler gewandt und die Polis an diese verraten.326 Mutmaßlich als Zeichen der wiederhergestellten Eintracht waren nämlich einige der Repatriierten zu Polemarchen gewählt worden, und in dieser Funktion sei es ihnen, so Polybios, ein Leichtes gewesen, nachts den Aitolern die Tore zu öffnen.327 Doch machten die Angreifer offenbar keinen Unterschied zwischen Freund und Feind in der Stadt, sondern erschlugen angeblich sogar zuerst jene, die die Polis an sie verraten hatten, bevor sie sich anschließend gegen die ‚Achaierfreunde‘ wandten. Polybios, der nicht umhin kann, das grausame Schicksal der Verräter als gerecht zu bewerten (τῶν ἀδίκων ἔργων ἓν τοῦτ᾽ ἔπραξαν δικαιότατον),328 erwähnt dabei wiederholt, dass es den Aitolern, denen ja keineswegs seine Sympathie gehört, um den Besitz der Getöteten gegangen sei;329 augenscheinlich richtete sich die Gewalt also vorwiegend gegen Angehörige der wohlhabenden Elite. Mutmaßlich ging es den Aitolern, die anschließend eine Garnison in die Stadt legten, aber nicht nur um Beute, sondern auch darum, die ihnen insgesamt nicht vertrauenswürdig erscheinende Oberschicht Kynaithas auszuschalten, um den Ort dauerhaft kontrollieren zu können. Man kann sich hier durchaus an das Schicksal Mantineias erinnert fühlen. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang übrigens, dass Polybios die Brutalität der vorangegangenen Stasis darauf zurückführt, die Bürger Kynaithas hätten es verabsäumt, durch gemeinsame Musik, Reigentanz und Märsche ihre Leidenschaften zu zügeln – hier dürfte insbesondere an eine Erziehung im Gymnasion gedacht sein –, so dass sie zuletzt völlig verwildert seien.330 Polybios greift hier erkennbar einen Gedanken auf, den er bereits in Hinblick auf den karthagischen Söldnerkrieg formuliert hatte. Unterdessen scheint Sparta nach Kleomenes’ Flucht nicht zur Ruhe gekommen zu sein, wobei nach Ausweis der Quellen nun offenbar das Ephorat im Mittelpunkt der Konflikte stand. Die verfeindeten Parteien lehnten sich dabei an die Antigoniden bzw. Aitoler an: Als sich der Ephor Gyridas und seine vier Amtskollegen für die Makedonen erklärt hatten, wurden sie laut Polybios während eines Festes beim gemeinsamen 325 Pol. 4,17,8. Vgl. auch Urban 1979: 179 f. und Ghebali 2001: 469. Unklar ist, wie und ob die Restitution der Rückkehrer in materieller Hinsicht geregelt wurde – stellten vielleicht die Achaier Mittel zur Verfügung? 326 Pol. 4,17,12. Rubinstein 2013 konstatiert in diesem Zusammenhang nüchtern, das Beispiel zeige, „that even when a community appears to have taken the initiative without any obvious external pressure, when both opposing factions genuinely wanted a reconciliation, and when the reconciliation agreement itself appears to have included a requirement that both sides draw a line under the past, this was by no means a recipe for success“ (149). 327 Pol. 4,18,2. Vgl. zur aitolischen Intervention Scholten 2000: 288–293. 328 Pol. 4,18,7. 329 Pol. 4,18,7 f. Dabei ist natürlich zu beachten, dass Polybios die Aitoler grundsätzlich als halbbarbarische Plünderer zu schildern pflegt; vgl. zur polybianischen Darstellung der Aitoler auch Champion 2011. 330 Pol. 4,20 f. Vgl. Gschnitzer 1996: 182. Vgl. zu diesem verbreiteten Denkmuster, nach dem der θυμός der Jugend durch eine Ausbildung im Gymnasion gebändigt werden müsse und könne, nun Gehrke 2016. Vgl. zu hellenistischen Diskursen über den Zorn und seine Zügelung daneben auch Harris 2001: 362–390.

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Opfer von einer Gruppe von νέοι überfallen und unter Missachtung der Asylie niedergemacht;331 nach der Verbannung der führenden ‚Antigonidenfreunde‘ schloss man ein Bündnis mit den Aitolern. Polybios bringt die Attentäter dabei auch mit Kleomenes in Verbindung.332 Anfang 219 errang dann nach einem dreijährigen Interregnum ein gewisser Lykurg, möglicherweise ein Eurypontide,333 die Macht in Sparta, die ihm allerdings bald streitig gemacht wurde. Kurzzeitig erfolgreich war dabei der blutige Putschversuch eines Mannes, der einen ähnlich prestigeträchtigen Namen trug wie Lykurg: Wohl noch 219 scheint Cheilon eine Gruppe von 200 Mitstreitern um sich versammelt und dem Volk, so Polybios, Schuldentilgung und eine Bodenreform versprochen zu haben; in Wahrheit aber sei es ihm nur darum gegangen, selbst βασιλεύς zu werden.334 Wieder waren die Ephoren die hauptsächlichen Leidtragenden: Cheilon und seine Anhänger überfielen sie beim Essen und töteten sie – was der Achaier Polybios, der sie der Bestechlichkeit bezichtigt,335 nicht ohne Genugtuung notiert.336 Lykurg hingegen gelang die Flucht, während die Gruppe um Cheilon auf der Agora ihre Feinde angriff. Als sich jedoch herausgestellt habe, dass es ihnen trotz ihrer Versprechungen nicht gelang, die Mehrheit der Bürger auf ihre Seite zu bringen, habe Cheilon seine Sache verloren gegeben und sei zu den Achaiern geflohen.337 Als Antiochos III. im Jahr 217 Seleukeia Pieria einnahm, führte er laut Polybios Verbannte zurück, was man als Indiz für einen vorangehenden Konflikt in der Stadt deuten kann.338 Laut Plutarch kam es überdies einige Zeit nach dem Kleomeneskrieg auch in Messene zu einer Stasis, und um 215 nutzte Philipp V. demnach diese Parteienkämpfe aus, um zu versuchen, den Ort zusammen mit der Festung Ithome in seine Gewalt zu bringen.339 Angeblich traf der König dabei einen Tag vor dem ebenfalls – wohl von der Gegenseite – herbeigerufenen Aratos in der Stadt ein, wo er die beiden Gruppierungen absichtlich gegeneinander aufgehetzt haben soll.340 Als daraufhin die Archonten ver331 Vgl. Chaniotis 2007: „In Griechenland hat es keine Asylgesetzgebung im engeren Sinne gegeben. Verfolgte konnten in Heiligtümern – in allen Heiligtümern – Zuflucht suchen, dies bedeutet aber nicht primär Schutz durch die Götter, sondern Übergabe ihrer Person an die Zuständigkeit der Götter“ (243). 332 Pol. 4,34,1–4,35,6. Möglicherweise verbirgt sich dahinter die Hoffnung auf ptolemaiische Unterstützung. 333 Zwar soll Lykurg im Gegensatz zum zweiten βασιλεύς, Kleomenes IV., der eines Vormundes bedurfte, laut Polybios keine dynastischen Ansprüche gehabt und die βασιλεία durch Bestechung erlangt haben (Pol. 4,35,14), es ist aber gut möglich, dass er, ähnlich wie später vielleicht auch Nabis, in Wahrheit einer Nebenlinie der Eurypontiden entstammte; vgl. Cartledge 2002: 62. 334 Pol. 4,81,2 f. Vgl. Berve 1967: 406 und Cartledge 2002: 64. 335 Der stereotype Vorwurf, die Ephoren seien käuflich gewesen, findet sich bereits bei Aristoteles; Arist. Pol. 2,10,2 (= 1272a). 336 Pol. 4,81,5. 337 Pol. 4,81,9 f. Vgl. Geske 2009: 86 f. 338 παραλαβὼν δὲ τὴν πόλιν οὐ μόνον ἐφείσατο τῶν ἐλευθέρων, ἀλλὰ καὶ τοὺς πεφευγότας τῶν Σελευκέων καταγαγὼν τήν τε πολιτείαν αὐτοῖς ἀπέδωκε καὶ τὰς οὐσίας; Pol. 5,61,2. Da von einer Rückgabe des Besitzes, nicht aber von einer Verbannung der ‚Lagidenfreunde‘ in der Stadt die Rede ist, kann man mutmaßen, dass der seleukidische König die betroffenen Bürger entschädigte, um die Stasis zu beenden. Vgl. auch Rubinstein 2013: 135. 339 Vgl. zu den Ereignissen Mendels 1980. Allgemein zur Geschichte Messenes im Hellenismus vgl. noch immer Roebuck 1941, nun zu ergänzen um Luraghi 2008: 249–291. 340 ἀρχὴν δὲ ὑποψίας τὰ Μεσσηνιακὰ παρέσχε, στασιασάντων γὰρ αὐτῶν ὁ μὲν Ἄρατος ὑστέρει βοηθῶν, ὁ δὲ Φίλιππος ἡμέρᾳ μιᾷ πρότερον ἐλθὼν εἰς τὴν πόλιν εὐθὺς οἶστρόν τινα κατ᾽ ἀλλήλων ἐνέβαλε τοῖς ἀνθρώποις,

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sucht hätten, die gegnerischen Demagogen ergreifen zu lassen, sei es zu einem Massaker gekommen, bei dem nicht nur die Beamten, sondern überdies noch fast 200 weitere Bürger erschlagen worden seien.341 Folgt man Plutarch, so gelang es dem unmittelbar danach eintreffenden Aratos allerdings, Philipp dennoch zum Abzug zu bewegen. Ob der König dies tatsächlich deshalb tat, weil Aratos ihn bei einem gemeinsamen Opfer in Ithome mit seiner Weisheit und einem Appell an die πίστις beeindruckte, darf man allerdings getrost bezweifeln.342 Auf diese Stasis scheint sich jedenfalls Polybios zu beziehen, wenn er in einer leider nur fragmentarisch in der Suda erhaltenen Passage von einer Vertreibung vornehmer Bürger aus Messene, von einer Umverteilung ihres Vermögens durch Los343 und von Konflikten zwischen Alt- und Neubürgern berichtet.344 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Geschichtsschreiber ausdrücklich konstatiert, fortan hätten jene, die den Besitz der Verbannten übernommen hatten, die nominell demokratische Polis dominiert.345 2.2.10 Staseis im Zweiten Punischen Krieg Unterdessen hatte sich gezeigt, dass der karthagische Sieg bei Cannae 216 indirekt erheblichen Einfluss auf die griechische Geschichte ausübte, da er nicht nur die Voraussetzung für den Ausbruch des Ersten Makedonischen Krieges bildete,346 sondern offenbar auch in mehreren westgriechischen Ortschaften einen Umschwung zugunsten der ‚Romfeinde‘ ermöglichte.347 Hannibal scheint den Poleis die „Freiheit“ versprochen zu haben,348 und Livius stellt pauschal fest, in sämtlichen Städten Italiens habe es nun

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ἰδίᾳ μὲν ἐρωτῶν τούς στρατηγοὺς τῶν Μεσσηνίων εἰ νόμους κατὰ τῶν πολλῶν οὐκ ἔχουσιν, ἰδίᾳ δὲ πάλιν τούς τῶν πολλῶν προεστῶτας εἰ χεῖρας κατὰ τῶν τυραννούντων οὐκ ἔχουσιν; Plut. Arat. 49,2. ἐκ δὲ τούτου θαρρήσαντες οἱ μὲν ἄρχοντες ἐπελαμβάνοντο τῶν δημαγωγῶν, ἐκεῖνοι δὲ μετὰ τῶν πολλῶν ἐπελθόντες τούς τε ἄρχοντας ἀπέκτειναν καὶ τῶν ἄλλων ὀλίγον ἀπολείποντας διακοσίων; Plut. Arat. 49,3. Plut. Arat. 50. Polybios ist zu entnehmen, dass es damals zu Kämpfen um Messene kam, bei denen auf Seiten Philipps V. unter anderem Demetrios von Pharos ums Leben gekommen sei; Pol. 3,19,11. Vgl. zu den Vorgängen auch Mendels 1977 (mit marxistischem Ansatz). Vgl. Asheri 1966: 49. Mendels 1980 entwickelt aufgrund der widersprüchlichen Angaben die Hypothese, es sei in der Polis kurz nacheinander zu zwei Umstürzen gekommen: Zunächst sei um 219 ein pro-achaiisches timokratisch-oligarchisches Regime etabliert worden, erst 215 dann ein „popular regime“, unter dem es zu den Enteignungen und Umverteilungen und dem Konflikt mit Aratos gekommen sei. Diese Rekonstruktion ist in sich durchaus plausibel; allerdings nimmt sie Plutarch und Polybios möglicherweise allzu wörtlich. οὔσης δημοκρατίας παρὰ τοῖς Μεσσηνίοις, καὶ τῶν μὲν ἀξιολόγων ἀνδρῶν πεφυγαδευμένων, τῶν δὲ κατακεκληρουχημένων τὰς τούτων οὐσίας ἐπικρατούντων τῆς πολιτείας, δυσχερῶς ὑπέφερον τὴν τούτων ἰσηγορίαν οἱ μένοντες τῶν ἀρχαίων πολιτῶν; Pol. 7,10,1 (= Suda Ι 626). Es ist unklar, ob diese Passage den Zustand vor oder nach den Ereignissen von 215 schildert. Zumindest im späten Hellenismus weist jedenfalls auch der epigraphische Befund in diese Richtung; verwiesen sei etwa auf die ca. 91 v. Chr. erfolgte Reorganisation des messenischen Mysterienkultes, die eindeutig die prominente Rolle einer Gruppe wohlhabender Bürger dokumentiert; Syll.3 736. Vgl. zum Kriegsausbruch und zu den römischen Motiven die Diskussion bei Rich 1984. Vgl. zum Kriegsverlauf zwischen 216 und 212 Manz 2017: 460–504. Vgl. Kukofka 1990: 16–18. Bereits nach der Schlacht an der Trebia scheint sich Hannibal in entsprechender Weise an ein italisches Publikum gewandt zu haben; vgl. Pol. 3,85,4. Vgl. auch Erskine 1993, der darauf

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gleich einer Krankheit (velut morbus) eine Spaltung zwischen den optimates, die es mit Rom gehalten hätten, und der karthagofreundlichen plebs gegeben.349 Dass es dennoch nicht unverzüglich zu einer Abfallbewegung kam,350 dürfte zum einen auf die Vorbehalte vieler Griechen bezüglich der italischen Verbündeten Karthagos zurückzuführen sein; es ist zum anderen und vor allem aber wohl auch ein Zeichen dafür, wie fest die ‚Romfreunde‘ in den Poleis inzwischen im Sattel saßen – Livius weist ausdrücklich darauf hin, dass sie die Stadträte (senatus) kontrolliert hätten. Zwar muss man sich natürlich hüten, diese Behauptung ohne weiteres wörtlich zu nehmen und ihr allzu viel Beweiskraft zuzusprechen, da sie offenkundig topischen Charakter trägt.351 Dennoch erscheint in der Tat plausibel, dass sich in einem Gebiet, das seit zwei oder drei Generationen fest unter römischer Hegemonie stand und sich in Reichweite der Legionen befand, vielerorts recht stabile romfreundliche Oligarchien – sei es nun de iure oder de facto – etabliert hatten,352 deren Gegner jetzt wohl vielerorts ihre Zeit gekommen sahen. In Lokroi etwa war die Volksversammlung laut Livius gespalten, und eine gewaltsame Eskalation scheint nur unterblieben zu sein, weil die ‚Romfreunde‘ angeblich um ihre Verwandten außerhalb der Stadt fürchteten.353 Mehrere führende Bürger (ab Locrensium principibus) seien von der ‚punischen‘ Gegenpartei vertrieben worden (pulsi ab adversa factione) und nach Rhegion geflohen,354 und als sich Lokroi zehn Jahre später

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hinweist, Hannibal sei der einzige, von dem überliefert sei, dass er die Freiheitsparole gegen Rom in Italien eingesetzt habe: „The Carthaginians were speaking the diplomatic language of the Greek world of the hellenistic east“ (59). Allerdings berichtet Appian (Samn. 10,1), bereits Pyrrhos habe seinen Gesandten Kineas in den Verhandlungen mit dem Senat Entsprechendes fordern lassen (τοὺς δ᾽ ἄλλους Ἕλληνας τοὺς ἐν Ἰταλίᾳ κατοικοῦντας ἐλευθέρους καὶ αὐτονόμους ἐῷεν). Trifft diese Nachricht zu – und nichts spricht dagegen –, so waren die Römer also bereits spätestens bei ihrer ersten Konfrontation mit einem hellenistischen Monarchen mit den entsprechenden Schlagworten vertraut gemacht worden, nicht erst im Hannibalkrieg. Unus velut morbus invaserat omnes Italiae civitates ut plebes ab optimatibus dissentirent, senatus Romanis faveret, plebs ad Poenos rem traheret; Liv. 24,2,8. Vgl. Badian 1958: 147 f., der vermutete, es handle sich um „a second-century myth, invented to uphold oligarchy in Italy.“ Vgl. auch Lomas 1993: 60 f. Grundlegend zu Livius’ Schilderung des Hannibalkrieges ist jetzt Levene 2010 (teils aber sehr optimistisch in der Bewertung des Historikers). Es scheint bis zum Sommer 215 gedauert zu haben, bis die ersten Gemeinwesen von Rom abfielen; vgl. Fronda 2010: 159 f. Diese Verzögerung ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass sich die Machtverhältnisse in den Poleis nicht schlagartig umkehrten. Appian erwähnt in diesem Zusammenhang inbesondere Herakleia und Metapont; App. Hann. 35. Die Behauptung, die in den Räten versammelte Elite sei romfreundlich gewesen und habe einem romfeindlichen Demos gegenüber gestanden, wird bei Livius noch häufiger begegnen. Vgl. zur livianischen Darstellung der Westgriechen und der römischen Expansion in Süditalien jetzt auch Lomas 2015: „Many of these stereotypes are not peculiar to Livy. The notion of decadence and decline of Magna Graecia is a common topos found in fourth- and third-century Greek historiography“ (59). Dies scheint ein entscheidender Unterschied zum griechischen Mutterland des 2. Jahrhunderts zu sein, wo die unmittelbaren Eingriffsmöglichkeiten Roms zumindest bis zur Etablierung einer permanenten militärischen Präsenz wesentlich geringer und die Positionen der ‚Romfreunde‘ mithin prekärer waren. In Italien hingegen war das römische Drohpotential erheblich größer. Liv. 24,1,3–8. Natürlich kann es sich hier auch um eine nachträgliche Apologie handeln. Vgl. zu den Ereignissen Lomas 1993: 64–70 und Fronda 2010: 161–171. Liv. 29,6,5 f. Vgl. de Ste. Croix 1981: 520.

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Scipio Africanus ergeben musste, ließ dieser jene Bürger, die angeblich für die seditio verantwortlich gewesen waren, laut Livius hinrichten und ihren Besitz den ‚Romfreunden‘ übertragen.355 Auch in Kroton kam es 215 eindeutig zu einer offenen Stasis: Der princeps Aristomachos, der als Anführer der plebs gegen die Mitglieder des romfreundlichen Rates (senatores) agiert habe,356 versuchte, so Livius, die Polis direkt an die Punier, nicht aber an die mit diesen verbündeten Bruttier zu übergeben – offensichtlich galten diese als eine zu unmittelbare Bedrohung für die Unabhängigkeit der Stadt.357 Dennoch habe ein einzelner Verräter eigenmächtig dafür gesorgt, dass die Bruttier in die Polis gelassen wurden.358 Die optimates aber hätten sich daraufhin auf die Akropolis zurückgezogen, die sie bereits zuvor für einen solchen Fall präpariert hatten, wo sie im Anschluss von ihren verfeindeten Mitbürgern und den Bruttiern gemeinsam belagert wurden. In der Festung befand sich dabei laut Livius bemerkenswerterweise auch Aristomachos, vermutlich ein Zeichen dafür, dass sich die Gruppe der ‚Romfeinde‘ nun ihrerseits in ‚Bruttierfreunde‘ und ‚Karthagerfreunde‘ gespalten hatte.359 Der punische Feldherr Hanno habe vergeblich versucht, die belagerten Griechen zu überreden, Bruttier in die Bürgerschaft aufzunehmen; schließlich endete ihr aussichtsloser Kampf damit, dass – so Livius – die gesamte Bevölkerung von Kroton ihre Polis aufgab und nach Lokroi übersiedelte.360 Das prominenteste Beispiel ist in diesem Zusammenhang aber zweifellos Syrakus, über das Livius, offensichtlich im engen Anschluss an Polybios,361 ausführlich berichtet. Dass die livianische Darstellung erhalten geblieben ist, ist dabei ein Glücksfall, denn sie erlaubt es, die schrittweise Eskalation einer Stasis – zunächst politische Prozesse, dann ein einzelner Mord, dann gezielte Anschläge auf führende Gegner und schließlich ein Massaker – ungewöhnlich detailliert nachzuvollziehen: Nach dem Tod Hierons II. gelangte 215 sein junger Enkel Hieronymos an die Macht, zunächst unter der Vormund355 Liv. 29,8,2. 356 Vgl. Lazenby 1998: 88. Fronda 2010: 173 betont mit Recht, dass Aristomachos offenkundig selbst ein Aristokrat war und die livianische Klassifizierung als Konflikt zwischen plebs und senatores „over-schematised“ sei und in die Irre führe. 357 Morituros se adfirmabant citius quam immixti Bruttiis in alienos ritus mores legesque ac mox linguam etiam verterentur; Liv. 24,3,12. „Fear and hatred of the Bruttians must have bolstered the pro-Roman position“ (Fronda 2010: 175). Diese radikale Ablehnung ist durchaus glaubwürdig, wenn man annimmt, dass es auch bei dieser Stasis letztlich um die Macht in der Polis ging. Denn in einem bruttisch dominierten Gemeinwesen hätte keine der verfeindeten griechischen Gruppierungen das Sagen gehabt. An diesem Ausgang dürften die meisten Bürger kein Interesse gehabt haben. 358 Vgl. hierzu Fronda 2010: „Livy reports that a single deserter helped the Bruttians attack Croton, though we must imagine that other individuals deserted as well“ (172). 359 Liv. 24,2,11 und 24,3,9. Vgl. de Ste. Croix 1981: 519 und Kukofka 1990: 20 f. 360 Liv. 24,3,14 f. Nimmt man Livius hier wörtlich, so müsste Kroton damit von einer griechischen zu einer bruttischen Stadt geworden sein (akzeptiert von Lazenby 1998: 88); es erscheint allerdings eher unwahrscheinlich, dass auch jene Griechen, die gemeinsam mit den Bruttiern gekämpft hatten, nach Lokroi gezogen sind. 361 Von Polybios’ Bericht ist nur ein wenig umfangreiches Fragment (Pol. 7,2–8) erhalten, das aber genügt, um ihn als die wahrscheinliche Vorlage der livianischen Darstellung zu identifizieren. Vgl. zu Livius’ Umgang mit Polybios zuletzt Eckstein 2015.

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schaft von 15 Männern.362 Nachdem es einer Gruppe von Aristokraten um Zoippos und Andranodoros, Hierons Schwiegersöhnen, gelungen sei, Thrason, den prominentesten Vertreter der unter Hieron dominanten ‚romfreundlichen‘ Parteiung, zusammen mit weiteren Männern als Hochverräter hinrichten zu lassen – ob man Livius darin folgen muss, dass die Vorwürfe falsch waren, sei dahingestellt – und den jungen Herrscher zu einer Abkehr von Rom zu veranlassen,363 entschloss sich die Gegenseite zum Handeln. Hieronymos wurde nach nur 13 Monaten Herrschaft im Sommer 214 in Leontinoi bei einem von einem gewissen Deinomenes organisierten Attentat getötet; die Täter inszenierten sich danach augenscheinlich als Tyrannenmörder und riefen die Freiheit aus.364 Es gelang ihnen, eine Meuterei unter Hieronymos’ Soldaten zunächst durch Versprechungen zu beenden, während Theodotos und Sosis nach Syrakus eilten, um dort die ‚karthagofreundliche‘ Partei zu überfallen.365 Da sie es aber nicht vermochten, die Gruppe um Andranodoros zu überrumpeln, die sich stattdessen an mehreren zentralen Punkten der Stadt verschanzte,366 kam es nach anfänglichen Wirren zunächst zu einer scheinbaren Versöhnung: Sowohl Andranodoros als auch mehrere der Hieronymosmörder wurden zu στρατηγοί gewählt, und die erleichterten Bürger brachten, wie es heißt, Dankopfer dar.367 Doch in den folgenden Tagen hätten, so Livius weiter, insbesondere die Brüder Hippokrates und Epikydes, in Karthago geborene Enkel eines einst während der Wirren nach dem Tod des Agathokles verbannten Syrakusaners,368 gegen die Hieronymosmörder agitiert. Wie es heißt, warfen sie der factio der ‚Romfreunde‘ vor, es gehe diesen lediglich darum, nach der Erneuerung des foedus mit dem Senat selbst unumschränkt über Syrakus zu herrschen: illud moliri clam eos atque struere ut Syracusae per speciem reconciliatae societatis in dicione Romanorum sint, dein factio ac pauci auctores foederis renovati dominentur.369 Angesichts der wachsenden Spannungen habe man allseits mit einem drohenden Umsturz gerechnet, und so ließen die ‚Romfreunde‘ schließlich Andranodoros und Themistos beim Betreten des Bouleuterion erschlagen. Als daraufhin eine aufgebrachte Menge zusammenkam, beschuldigte man die Toten einer Verschwörung, der man lediglich zuvorgekommen sei. Man präsentierte dem Volk einen Zeugen, einen Schauspieler namens Ariston, und es gelang einem gewissen Sopatros, den Demos dazu 362 363 364 365 366

Vgl. zur Herrschaft des Hieronymos Holloway 1969: 1–5 sowie insbesondere Zahrnt 2000. Pol. 7,5,1–8. Vgl. Hoffmann 1961: 484. Liv. 24,5,1–24,7,7. Liv. 24,21,2–4. Livius schreibt im Kontext der Ereignisse Damarata (Damarate), der Gattin des Adranodoros und Tochter Hierons II., eine entscheidende Rolle als treibende Kraft hinter ihrem Mann zu; vgl. Kowalewski 2002: 91–96. 367 Liv. 24,23,1–4. Auffällig ist, welch wichtige Rolle bei diesen Ereignissen der Altar der Homonoia gespielt haben soll (Liv. 24,22,1 und 24,22,13), von dem aus die Demagogen zur Menge sprachen – ein Indiz für den Zusammenhang zwischen diesem Kult und Staseis. Vgl. auch Thériault 1996: 36–38. 368 Die Brüder hatten angeblich bereits eine wichtige Rolle dabei gespielt, Hieronymos auf die Seite Hannibals zu ziehen; vgl. Pol. 7,2,1–6. 369 Liv. 24,23,11. Dieser Vorwurf dürfte umso wirkungsvoller gewesen sein, als er höchstwahrscheinlich – betrachtet man die Verflechtung von Staseis und Außenpolitik synoptisch – schlicht den Tatsachen entsprach; vgl. Kapitel 4.3.

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zu bewegen, die gesamte Familie des Hieronymos, einschließlich der Kinder, zum Tode zu verurteilen.370 Unmittelbar nach der Tat aber sei es, so Livius, wieder zu einem Stimmungsumschwung gekommen: Die Menge habe nun die Wahl neuer Strategen verlangt, und gegen den Widerstand der ‚Romfreunde‘ seien dabei Hippokrates und Epikydes zu Nachfolgern von Themistos und Andranodoros gewählt worden, bevor es anschließend einem gewissen Apollonides gelungen sei, die Gemüter vorerst zu beruhigen und für concordia – also ὁμόνοια – sowie für Frieden mit Rom zu werben.371 Doch schon bald darauf nahmen die Ereignisse dann die entscheidende Wendung. Während der Einnahme von Leontinoi durch die Römer kam es offenbar zu Gräueltaten – auch wenn Livius beteuert, die Berichte seien weit übertrieben und verzerrt worden.372 Als die Nachricht hiervon die Armee und Syrakus erreichte, brach unter Führung von Epikydes und Hippokrates eine offene Revolte gegen die ‚Romfreunde‘ aus.373 Die Strategen flohen, bemerkenswerterweise begleitet von vielen νέοι, zunächst nach Achradina,374 konnten hier aber dem Angriff ihrer Feinde nicht standhalten. Livius berichtet, es habe sich ein Blutbad angeschlossen, das bis zum Anbruch der Nacht andauerte: nox caedibus finem fecit.375 Der Konflikt, der nach der Schlacht bei Cannae und Hierons Tod innerhalb der Oberschicht von Syrakus aufgebrochen war, als die Gegner der ‚Romfreunde‘ offenbar erstmals seit langem wieder Morgenluft gewittert hatten, und der in einer Kette von Aktion und Reaktion zunächst zum Justizmord an Thrason, dann zum Attentat auf Hieronymos und zu ersten unblutigen Unruhen sowie anschließend zum Mord an Andranodoros, Themistos und der Herrscherfamilie geführt hatte, war mit diesem Massaker an der ‚romfreundlichen‘ Partei in der Stadt also schließlich final eskaliert. Die caedes von 214, von denen Livius berichtet, scheinen jedenfalls ihren Zweck erfüllt zu haben; die Parteiung um Epikydes und Hippokrates hatte Syrakus augenscheinlich unter ihre Kontrolle gebracht und wandte sich in provozierender Weise von den Römern ab.376 Ihre überlebenden Gegner hatten die Stadt entweder verlassen oder hielten sich zunächst bedeckt; schließlich nahmen aber die Exilanten im römischen Lager Kontakt zu ihren verbliebenen Gesinnungsgenossen in der Polis auf und planten, so Livius, einen Umsturz. Dieser sei aber von einem gewissen Attalos verraten worden, woraufhin Epikydes etwa 80 führende Bürger habe foltern und hinrichten lassen.377 Auf Seiten der Syrakusaner kam es während der Belagerung durch Marcellus, der sich in dieser Zeit bemerkenswerterweise seinerseits mit Freiheitsversprechungen an die Po370 Liv. 24,24,6–24,26,14. 371 Liv. 24,28,1–9. 372 Liv. 24,30,1–5. Vgl. Pritchard 1975: 35. Zahrnt 2000 spricht von „üblen Kunstgriffen“ der Brüder, um ihre Anhänger aufzuhetzen (513). 373 Vgl. zu den Ereignissen auch Edwell 2011: 328. 374 Praetores in Achradinam cum iuventute popularium confugiunt; Liv. 24,32,7. 375 Liv. 24,32,8. Hoffmann 1961: 489 übersieht bemerkenswerterweise den Stasischarakter dieser Ereignisse, sondern spricht lediglich davon, dass Epikydes und Hippokrates als „Bevollmächtigte Hannibals“ mit Hilfe von Söldnern die Herrschaft an sich gerissen hätten. 376 Liv. 24,33,5–8. 377 Liv. 25,23,4–7. Auch in der Folgezeit soll Epikydes einen Umsturzversuch der ‚Römerfreunde‘ gefürchtet haben; Liv. 25,24,10.

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lis gewandt haben soll,378 offenbar wiederholt zu politischen Morden,379 bevor sich die Stadt schließlich 212 den Römern ergab und – unter Schonung der Häuser der Verbannten – geplündert wurde.380 Im Kontext des Zweiten Punischen Krieges rückt bald nach dem Umsturz in Syrakus auch Spartas Tochterstadt Tarent noch einmal ins Blickfeld der literarischen Überlieferung. Die Polis hatte den Römern (ebenso wie Thurioi) Geiseln stellen müssen, die in Rom im Tempel der Libertas unter Aufsicht gehalten wurden.381 Nicht ausdrücklich bezeugt, aber sehr zu vermuten ist, dass es sich hierbei um Personen handelte, die von den ‚Romfreunden‘ in den Städten als verdächtig angezeigt worden waren.382 Nachdem sich aber ein Bürger Tarents namens Phileas Zugang zu ihnen verschafft und sie zur Flucht bewogen hatte, seien sie, so Livius, unterwegs ergriffen und anschließend in Rom misshandelt und hingerichtet worden.383 Dies wiederum habe allerdings unter ihren Freunden und Verwandten in Tarent für Empörung gesorgt, weshalb sich dort schließlich, wohl im Herbst 213, eine Verschwörung aus 13 jungen Aristokraten gebildet habe, die sich unter Führung von Nikon und Philemenos entschieden hätten, die Polis an die Karthager zu verraten.384 378 Liv. 25,28,2 f. Vgl. Erskine 1993: „In doing this he may have been entering the propaganda competition with Hannibal. On the other hand it may have been a far more conscious attempt to demonstrate to the Greeks of the South that Romans understood Greek preoccupations“ (60). Meines Erachtens belegt Marcellus’ Vorgehen vor allem, dass nicht nur Hannibal, sondern auch die Römer allerspätestens jetzt verstanden hatten, wie der hellenistische politische Diskurs funktionierte und wie man durch den Rekurs auf ἐλευθερία innergriechische Konflikte anfachen und instrumentalisieren konnte. Erskine macht zwar auf die Möglichkeit aufmerksam, dass diese Interpretation auf Polybios zurückgehen könnte, der die Ereignisse mit griechischen Augen sah (61); und dies ist in der Tat nicht auszuschließen. Angesichts der langjährigen Erfahrung der Punier und Römer mit den Poleis der Magna Graecia sowie mit Pyrrhos halte ich es allerdings für unwahrscheinlich. Laut Plutarch (Marcell. 23,7) bestätigte der Senat nach der Einnahme jedenfalls tatsächlich die „Freiheit“ der Stadt. 379 Liv. 25,28,5 f.; Liv. 25,29,8 f. 380 Liv. 25,31,2–11; Plut. Marcell. 18 f. Vgl. auch Jaeger 2003. Darauf, dass es in der Bürgerschaft von Syrakus auch nach der Katastrophe verfeindete Parteiungen gab, könnte hindeuten, dass einige Syrakusaner später zusammen mit anderen Siculi in Rom gegen Marcellus aussagten, andere ihn hingegen offenbar verteidigten; Plut. Marcell. 23. Laut Livius versuchte man, die Schuld am Abfall von Rom allein den „Tyrannen“ um Epikydes und Hippokrates zuzuweisen, deren Opfer die Polis geworden sei, aber die Hoffnung, Syrakus könne so seine formale Unabhängigkeit bewahren, war vergebens; Liv. 26,32. 381 Vgl. zur Vorgeschichte Fronda 2010: 189–211. 382 Dass dem Senat die gesamte Oberschicht der Poleis unzuverlässig erschien und diese daher kollektiv Geiseln zu stellen hatte, ist angesichts der langen Zeit, die sich Tarent und Thurioi bereits unter römischer Hegemonie befanden, sehr unwahrscheinlich. Die Existenz tarentinischer ‚Romfreunde‘ bezeugt auch Polybios (Pol. 8,24,10); diese werden die Stadt bis 213/2 kontrolliert haben. Den Römern muss bewusst gewesen sein, dass ihre Parteigänger in den Poleis Hannibals Vordringen zu fürchten hatten – und dass damit zu rechnen war, dass die inneren Feinde der ‚Romfreunde‘ nun aufbegehrten. 383 Liv. 25,7,9–14. Lomas 1993: 70 datiert die Exekution bereits auf das Jahr 215, was mir sehr unwahrscheinlich erscheint. Vermutlich gehörte die Stellung der Geiseln erst in den Zusammenhang der Maßnahmen des Proprätors M. Valerius Laevinus, der 214 versucht hatte, die Polis gegen Hannibal zu sichern; Liv. 24,20,12 f. Denn bereits damals scheinen sich einige junge Aristokraten aus Tarent mit dem Barkiden getroffen zu haben; Liv. 24,20,14; vgl. Manz 2017: 474. 384 Liv. 25,8,1–3. Polybios, dessen erhaltener Bericht an diesem Punkt einsetzt, nennt überdies Tragiskos als dritten Anführer der Verschwörer; Pol. 8,28,10. Appian benennt hingegen lediglich einen gewissen Kononeus als Verantwortlichen für den Abfall von Rom; App. Hann. 32. Vgl. zu den Vorgängen auch Kukofka 1990: 37–55.

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Mit der Hinrichtung der Geiseln erreichten die Römer also das Gegenteil des Gewünschten, denn die ‚Romfeinde‘ hatten nun augenscheinlich keinen Grund mehr, sich ruhig zu verhalten. Überdies illustriert das Beispiel Tarent, dass entgegen Livius’ pauschaler Aussage, die Oberschicht der Poleis habe zu Rom gestanden,385 gerade die Eliten in sich durchaus gespalten waren, denn auch die ‚Karthagofreunde‘ entstammten der Aristokratie. Man nahm Kontakt zu Hannibal auf und scharte unterdessen in der Stadt heimlich Anhänger um sich.386 Schließlich besetzten die Verschwörer eines Nachts strategisch wichtige Punkte in Tarent und warteten ab, bis es νέοι um Philemenos und Nikon gelang, die Wachen an zwei Toren zu töten und Hannibal in die Stadt zu lassen. Dieser ließ viele Römer niedermachen;387 ein erheblicher Teil der Legionäre konnte sich aber gemeinsam mit den ‚Romfreunden‘ unter den Bürgern auf die Akropolis flüchten und verschanzte sich dort, während die ‚Karthagofreunde‘ durch die Straßen liefen und verkündeten, die Stadt befreit zu haben.388 Während dieser Zeit befand sich die kretische Apoikie Engyon auf Sizilien bereits unter Kontrolle der dortigen ‚Karthagofreunde‘, doch ein führender Bürger der Stadt, Nikias, plädierte laut Plutarch dafür, wieder zu den Römern überzulaufen; seine Feinde hätten daher geplant, ihn zu ergreifen und an die Punier auszuliefern. Da er sich aber daraufhin vor der Volksversammlung wie besessen gebärdet habe, sei ihm und seiner Familie die Flucht aus der Stadt gelungen; nach dem römischen Sieg habe er sich dann bei Marcellus erfolgreich für die Schonung seiner Feinde verwendet.389 Andernorts ging es blutiger zu: Etwa zu derselben Zeit soll es laut Livius und Appian im kalabrischen Salapia zu bemerkenswerten Ereignissen gekommen sein.390 Die 385 Erinnert sei hier an das bereits erwähnte Diktum, dass es die Stadträte der Poleis Italiens mit Rom gehalten hätten (senatus Romanis faveret; Liv. 24,2,8). 386 Auch in Thurioi bildete die Exekution der Geiseln in Rom den Anlass für den Übertritt der Stadt auf karthagische Seite (Liv. 25,15,6–8; App. Hann. 34); ob es in diesem Zusammenhang zu einer Stasis kam, ist nicht bezeugt; vgl. Manz 2017: 493 f. 387 Polybios und Livius berichten, Hannibal habe seinen Männern eigens Tarentiner zur Seite gestellt, die den Karthagern und ihren gallischen Söldnern mitzuteilen hatten, wer ein Römer und wer ein Grieche, wer also zu töten und wer zu verschonen sei; vgl. Liv. 25,9,17; Pol. 8,30,3 f. Es ist kaum zu erwarten, dass die ‚Karthagofreunde‘ diese Gelegenheit, nicht nur Römer, sondern auch Feinde unter ihren Mitbürgern ans Messer zu liefern, ungenutzt gelassen haben sollten, auch wenn die Quellen dies nicht ausdrücklich bezeugen. 388 Pol. 8,31,2 f. Vgl. auch Fronda 2010: 211–217. Der weitere Verlauf der Ereignisse ist für die vorliegende Untersuchung nicht relevant; die Akropolis wurde erfolglos belagert, bis den Römern 209 die Eroberung Tarents gelang – laut Plutarch (Fab. Max. 21 f.) durch Verrat – und angeblich 30.000 Einwohner in die Sklaverei verkauft wurden; vgl. Fronda 2010: 260–269. In anderem Zusammenhang erwähnt Polybios überdies einen gewissen Herakleides, der Tarent habe verlassen müssen, weil er dort als ‚Romfreund‘ galt und man ihm vorwarf, die Stadt verraten zu wollen; es sagt viel über die tatsächliche Bedeutung dieser Etikettierungen aus, dass Herakleides anschließend ausgerechnet zu Philipp V. floh; Pol. 13,4,3–8. 389 Plut. Marcell. 20,3–7. Plutarch benennt als seine Quelle Poseidonios. Vgl. de Ste. Croix 1981: 520. 390 Ob man Appian wörtlich nehmen und Salapia tatsächlich als eine griechische Polis bezeichnen kann, ist, wie bei vielen Orten Apuliens und Kalabriens, nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Wenn es sich bei dem von Strabon erwähnten Ἐλπίας um Salapia handelt – Elpias galt offenbar als Oikist von Salapia (Vitruv. 1,4) –, so glaubte man zumindest zu seiner Zeit, es habe sich um eine von Koern und Rhodiern gemeinsam gegründete Apoikie gehandelt; Strab. 14,2,10. Auszuschließen ist dies meines Erachtens in der Tat nicht. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurden in der Stadt Münzen mit rein griechisch anmutendem Münzbild und der Legende ΣΑΛΑΠΙΝΩΝ geschlagen (BMC 10); doch genügt dies nicht für einen

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Stadt war nach der Schlacht von Cannae an Hannibal gefallen und mit einer karthagischen Garnison versehen worden; innerhalb der Bürgerschaft standen sich dabei zwei verfeindete Gruppen gegenüber, als deren Anführer sowohl Livius391 als auch Appian392 die beiden principes Dasios und Blatios benennen. Die beiden Berichte lassen sich dabei im Kern gut miteinander vereinbaren, wobei Appian allerdings entscheidende Zusatzinformationen bietet. Beide Quellen geben an, dass Blatios sich nach Cannae zunächst ruhig verhalten musste, aber 212 schließlich glaubte, die Zeit sei gekommen, sich offen gegen Karthago zu stellen. Angeblich bemühte er sich zu diesem Zweck zunächst um eine Versöhnung mit Dasios, den er für einen gemeinsamen Abfall zu den Römern gewinnen wollte, doch sein Rivale klagte ihn stattdessen vor Hannibal an.393 Bemerkenswert ist nun, dass der Karthager den Vorwürfen aber keinen Glauben schenkte, da er sie Livius zufolge lediglich für einen Ausdruck der persönlichen Feindschaft zwischen den beiden Parteiungen hielt: aemulationem profecto atque odium esse, et id crimen adferri quod, quia testem habere non posset, liberius fingenti esset.394 Offenbar wollte sich Hannibal nicht in eine Stasis hineinziehen lassen, indem er sich für Dasios die Hände schmutzig machte. Trifft dies zu, so sagt es viel über den Blick des Barkiden auf die Hellenen.395 Jedenfalls berichtet Appian, Blatios habe sich nach diesen Vorgängen entschieden, sich nicht mehr um eine Verständigung mit Dasios zu bemühen; zwar habe man sich zum Schein verabredet, gemeinsam gegen die Karthager zu rebellieren, doch in Wahrheit hätten beide die Vernichtung des jeweils anderen angestrebt und dazu Hilfe beim Senat bzw. bei Hannibal gesucht. Dabei kam Blatios seinen Feinden zuvor und schaltete mit Hilfe römischer Truppen die karthagische Garnison in Salapia aus.396 Nur Appian

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abschließenden Beweis, zumal die Namen der beiden bei Livius und Appian genannten Protagonisten italischen Ursprungs sind (vgl. Schulze 1966: 38 f. und 423). Es spricht aber meines Erachtens vieles dafür, zumindest einen starken hellenistischen Einfluss anzunehmen, der es gerechtfertigt erscheinen lässt, Salapia in die vorliegende Untersuchung einzubeziehen. Salapiae principes erant Dasius et Blattius; Liv. 26,38,6; vgl. Fronda 2010: 60–64, der – ebenso wie ich – annimmt, dass es sich bei den Männern um die στασίαρχοι zweier rivalisierender Parteiungen handelte. Bemerkenswerterweise sind aus Salapia Münzen mit der Legende ΔΑΖΟΥ bekannt; Vollmer 1990: 167. Ἰαπύγων δ᾽ ἐν πόλει Σαλαπίᾳ, Λιβύων ὑπηκόῳ, δύο ἤστην ἄνδρε τῶν μὲν ἄλλων γένει καὶ πλούτῳ καὶ δυνάμει διαφέροντε, ἀλλήλοιν δ᾽ ἐκ πολλοῦ διαφόρω. τούτοιν Δάσιος μὲν τὰ Λιβύων ᾑρεῖτο, Βλάτιος δὲ τὰ Ῥωμαίων; App. Hann. 45. Beachtung verdient an dieser Stelle übrigens der Umstand, dass sich Dasios offenbar entweder nicht an den lokalen karthagischen Befehlshaber gewandt hatte oder aber von diesem an Hannibal weiterverwiesen worden war. Liv. 26,38,10. Appian berichtet Analoges: Ἀννίβας δ᾽ οὔτε ἀπορρῖψαι τὸ ἔργον οὔτε τῷ παρ᾽ ἐχθροῦ πιστεῦσαι ῥᾳδίως ἀξιῶν, μεθίστατο αὐτοὺς ὡς σκεψόμενος ἐφ᾽ ἑαυτοῦ; App. Hann. 45. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den Vergleich mit dem Fall des Altinius, eines führenden Bürgers von Arpi, der die nach Cannae ebenfalls an die Karthager gefallene daunische Stadt laut Livius an die Römer verraten wollte, woraufhin Hannibal Frau und Kinder des Verräters habe lebendig verbrennen lassen; Liv. 24,45,10–14. Offenbar schreckte man hier also, anders als wenig später in Salapia, vor einer direkten Intervention keineswegs zurück. Die Historizität der Episode, die vor allem Hannibals Grausamkeit illustrieren soll, ist dabei natürlich nicht gesichert. Trifft die livianische Schilderung aber im Kern zu, so würde dies verständlich machen, wieso Dasios offenbar hoffte, der Barkide werde mit Blatios ähnlich hart verfahren wie zuvor mit Altinius. App. Hann. 47; Liv. 26,38,11–14.

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schildert, was anschließend geschehen sei: Nachdem er die Stadt unter seine Kontrolle gebracht hatte, habe Blatios alle Stadttore bis auf eines geschlossen und dort sorgfältig einen Hinterhalt für Dasios und seine Anhänger vorbereitet; unter anderem legte man innerhalb der Mauern Gräben an, um die Mobilität der Reiterei einzuschränken. Als Dasios und die Seinen in der irrigen Annahme, Blatios und den Römern zuvorgekommen zu sein, gemeinsam mit punischen Truppen in die Stadt einzogen, seien sie von Blatios und seinen Männern überfallen und bis auf einige wenige, die über die Mauern klettern konnten, sämtlich niedergemacht worden.397 2.2.11 Der Ägäisraum vor der Ankunft der Römer In der Zwischenzeit war offenbar auch Sparta innenpolitisch nicht zur Ruhe gekommen, auch wenn die Quellenlage für die zehn Jahre nach 218 ausgesprochen schlecht ist.398 Livius erwähnt beiläufig die Tyrannis eines gewissen Machanidas, der Krieg mit den Achaiern und Philipp V. geführt habe.399 Mehr erfährt man erst wieder über Nabis, der die Polis spätestens seit 207 beherrschte und später als Tyrann galt. Dass er den Titel βασιλεύς führte,400 ist der Historiographie dabei nicht zu entnehmen; vielmehr ist sein Fall ein weiteres und besonders anschauliches Beispiel dafür, dass die Bezeichnung τύραννος oft weniger deskriptiv als vielmehr vor allem polemisch verwendet wurde. Entscheidend für das negative Nabisbild in der literarischen Überlieferung war dabei fraglos das Urteil des Achaiers Polybios, der berichtet, der Spartaner habe zunächst die verbliebenen Eurypontiden und Agiaden ausgerottet und dann zahlreiche wohlhabende Aristokraten aus der Stadt verbannt; ihre Frauen und ihren Besitz habe er unter seinen Anhängern verteilt.401 Dies wird schwerlich ohne Widerstand vonstatten gegangen sein, so dass man es wohl als einen Beleg für eine Stasis werten und die verbannten Aristokraten als Vertreter der unterlegenen Gegenpartei ansprechen kann; bemerkenswert ist dabei, dass die Quellen im Zusammenhang mit Nabis’ Herrschaft in Lakonien an397 App. Hann. 47. 398 Vgl. Cartledge 2002: 64 f. 399 Liv. 27,29,9. Polybios erwähnt eine Niederlage des Machanidas gegen die Achaier; Pol. 13,6,1. Vgl. Ehrenberg 1928. 400 Vgl. etwa Syll.3 584. Bis 197 wurde er auch von Rom als König anerkannt; vgl. Pfeilschifter 2005: 303 und Burton 2015. Siehe zu Nabis, einer der schillerndsten Figuren der spartanischen Geschichte, Mossé 1964, Shipley 2000: 147 f., Cartledge 2002: 67–79, Birgalias 2005 und Walthall 2013: 146–159, der mit guten Argumenten dafür plädiert, dass Nabis, der als einziger spartanischer βασιλεύς in einem Palast residierte, den Höhe- und Endpunkt der Bestrebungen markiert habe, sich der hellenistischen Monarchie anzugleichen. 401 καταβολὴν δ᾽ ἐποιεῖτο καὶ θεμέλιον ὑπεβάλλετο πολυχρονίου καὶ βαρείας τυραννίδος. διέφθειρε γὰρ τοὺς λοιποὺς ἄρδην ἐκ τῆς Σπάρτης, ἐφυγάδευσε δὲ τοὺς κατὰ πλέον πλούτῳ διαφέροντας ἢ δόξῃ προγονικῇ, τὰς δὲ τούτων οὐσίας καὶ γυναῖκας διεδίδου τῶν ἄλλων τοῖς ἐπιφανεστάτοις καὶ τοῖ μισθοφόροις; Pol. 13,6,2 f. Livius lässt Nabis erklären, man nenne ihn nur deshalb einen Tyrannen, weil er Sklaven (servi) befreit und das Land neu verteilt habe; Liv. 34,31,11. Ob mit den servi Heloten gemeint sind, ist umstritten; vgl. Texier 1974 und Cartledge 2002: 69 f. Abseits von Spezialstudien gilt Nabis bis heute oft als Tyrann; vgl. etwa Teegarden 2014: 205.

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2. Die literarische Überlieferung

sonsten nichts von einer χρεῶν ἀποκοπή berichten.402 Als 195 ein römisch-griechisches Heer gegen Sparta zog,403 wurde es jedenfalls von zahlreichen φυγάδες begleitet, deren Repatriierung Flamininus der Bürgerschaft aber vorerst ersparte und die selbst 192, als sich Sparta nach Nabis’ Ermordung dem Achaiischen Bund anschließen musste, noch nicht zurückkehren durften.404 Bald nach dem Ende des Ersten Makedonischen Krieges kam es auch in der bithynischen Polis Kios zu einer Stasis, wobei der fragmentarisch erhaltene Bericht des Polybios nahelegt, dass die Stadt bereits zuvor von einer Reihe von Unruhen geplagt worden war.405 Um 203 soll sich dann ein Demagoge namens Molpagoras an die Spitze einer Volkspartei gesetzt und diese aufgehetzt haben,406 bis schließlich viele Reiche entweder getötet oder verbannt worden seien; ihr Vermögen habe Molpagoras unter der Menge verteilt und sich so in den Besitz monarchischer Gewalt gebracht.407 Bemerkenswerterweise betont Polybios, es sei nicht etwa die Intervention äußerer Mächte gewesen, die zu diesem Unglück geführt habe, sondern einzig die Dummheit der Bürger, die immer wieder die schlechtesten unter ihnen erhoben hätten, um an das Vermögen ihrer Gegner zu gelangen – offenbar ein Hinweis auf eine länger andauernde Spaltung der Bürgerschaft.408

402 Anders verhält es sich bemerkenswerterweise mit Argos, das Nabis 197 unter seine Kontrolle brachte. Flamininus machte diese Maßnahmen 195 rückgängig, was gleichbedeutend mit der Reetablierung der Herrschaft der Gegenpartei gewesen sein dürfte; vgl. Mendels 1982: 94 f. 403 Vgl. Pfeilschifter 2005: 302–310: „So folgten die Allierten Flamininus in einen Feldzug, der als Kampf für die Freiheit firmierte, in Wirklichkeit aber ein hegemonialer Ordnungskrieg war“ (305). 404 Flamininus scheint 195 lediglich angeordnet zu haben, den Verbannten ihre bewegliche Habe sowie, sofern diese es wünschten, ihre Frauen und Kinder zu übergeben; Liv. 34,35,7. Nabis soll hiervon positiv überrascht gewesen sein; Liv. 34,36,2. Vgl. auch Seibert 1979: 195. Denkbar ist, dass die Römer die Exilierten als Druckmittel in der Hinterhand behielten. Erst Jahre später dankten offenbar unter Nabis Verbannte dem achaiischen στρατηγός Kallikrates in Olympia inschriftlich für ihre Rückführung (I.Olymp. 300). Vgl. auch Pol. 24,10,15. 405 Zu vermuten ist, dass es um diese Zeit auch in anderen Poleis Kleinasiens zu Staseis kam. So scheint eine stark beschädigte Inschrift aus Amyzon, wohl ein Schreiben des seleukidischen Statthalters Zeuxis an die Stadt, die Reintegration und Restitution von zwischenzeitlich verbannten Bürgern organisiert zu haben; SEG 31,897. Vgl. zur problematischen Rekonstruktion des Textes die Diskussion bei Ma – Derow – Meadows 1995. 406 Vgl. Mendels 1982: 92 und Gabelko 2015: 88. Über Molpagoras’ sozialen Hintergrund ist nichts bekannt. 407 Pol. 15,21,1–3. Vgl. auch Suda (Μ 1204): οὗτος ἦν παρὰ τοῖς Κείοις καὶ λέγειν καὶ πράττειν ἱκανός, κατὰ δὲ τὴν αἵρεσιν πλεονέκτης. ὃς πρὸς χάριν ὁμιλῶν τῷ πλήθει καὶ τοὺς εὐκαιροῦντας τοῖς βίοις ὑποβάλλων τοῖς ὄχλοις καί τινας ἐς τέλος ἀναιρῶν, τινὰς δὲ φυγαδεύων καὶ τὰς οὐσίας τούτων δημεύων καὶ διαδιδοὺς τοῖς πολλοῖς ταχέως τῷ τοιούτῳ τρόπῳ περιεποιήσατο μοναρχικὴν ἐξουσίαν. 408 Pol. 15,21,3–8. Vgl. zur Darstellung von Demagogen bei Polybios Champion 2006, der argumentiert, der Geschichtsschreiber habe sich damit insbesondere an ein römisches Publikum gewandt.

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2.3 Das 2. Jahrhundert v. Chr. 2.3.1 Staseis im Zweiten Makedonischen Krieg Der Beginn des Zweiten Makedonischen Krieges409 im Jahr 200 markiert zugleich den Anfang der direkten römischen Einflussnahme und militärischen Intervention im griechischen Mutterland.410 Folgt man Livius, so scheint dabei Chalkis der erste Ort in Hellas gewesen zu sein, an dem sich andeutete, welche Folgen dieses Ausgreifen auch für die inneren Auseinandersetzungen haben sollte: Die Polis beherbergte eine makedonische Garnison und war fest in der Hand der ‚Antigonidenfreunde‘, als φυγάδες aus der Stadt den Römern und ihren Verbündeten verrieten, wie der Ort am leichtesten einzunehmen sei. Chalkis wurde erobert; Römer und Rhodier richteten ein Blutbad an – wobei Livius sich nicht dazu äußert, ob sich auch die Verbannten an dem Morden beteiligten – und brandschatzten die Stadt gründlich, bevor sie sich wieder zurückzogen.411 Wohl 198 kam es im Kontext des römisch-antigonidischen Konfliktes sodann auch in Argos zu Blutvergießen. Die Polis hatte ein foedus mit Rom geschlossen und beherbergte seit kurzem eine achaiische Garnison, doch Livius berichtet, eine Reihe von principes habe die Stadt, gestützt auf die Mehrheit des Demos, an die Antigoniden verraten. Nachdem makedonische Truppen unter Philokles im Schutze der Nacht Argos besetzt 409 Erwähnung verdienen im Zusammenhang der Vorgeschichte des Krieges die Ereignisse, die sich bereits 201 in Abydos zugetragen haben sollen: Folgt man den Quellen – namentlich Polybios (16,34,9–12) –, so kam es in der Polis damals zu einem Massaker, als viele Bürger lieber sich selbst und ihre Familien getötet hätten, statt unter antigonidische Herrschaft zu gelangen. Man könnte vermuten, man habe die Rache der griechischen ‚Antigonidenfreunde‘ mehr gefürchtet als Philipp V., doch muss dies spekulativ bleiben, da Polybios derlei nicht berichtet. In jedem Fall zeigt der Fall jedoch, dass es ihm plausibel erschien anzunehmen, dass Hellenen mitunter bereit seien, den Tod der Unterwerfung unter ihre Feinde vorzuziehen. Leider erlauben es die Quellen nicht, den Einfluss, den die antigonidische Expansion nach dem Tod Ptolemaios’ IV. auf die betroffenen Poleis hatte, im Einzelnen nachzuzeichnen; Ma 1999 betont mit Recht die „variety of local responses“ (79), die bereits anhand der spärlichen Überlieferung erkennbar wird. Das Auftreten von Staseis ist sehr wahrscheinlich, doch schweigen die literarischen Quellen, soweit ich sehe, zu diesem Punkt. 410 Vgl. Will 1982: 149–160, Gruen 1984: 382–398, Errington 1989: 261–274, Warrior 1996 (eine gründliche Analyse zum livianischen Bericht im 31. Buch von ab urbe condita, mit einem Fokus auf der Rekonstruktion der Ereignisgeschichte), Shipley 2000: 374–376, Derow 2003, Errington 2008: 204–213, Blösel 2015: 120–131 und Maschek 2018: 43–49. Die innenpolitischen Gründe dafür, dass die Römer unmittelbar nach dem verlustreichen Hannibalkrieg einen neuen militärischen Konflikt begannen, können an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Nicht recht überzeugen kann jedenfalls die Position bei Green 2007: 84, der annimmt, der Senat habe erwartet, Philipp V. werde sich den römischen Forderungen kampflos beugen. Crawford 1984: 76 weist darauf hin, dass bereits die Wahl des Griechenlandkenners P. Sulpicius Galba zum Konsul für 200 darauf hindeute, dass schon 201 „eine Mehrheit innerhalb des Senats für den Krieg“ gewesen sei. Vgl. auch Eckstein 2009, der die Position vertritt, der Senat habe nicht zuletzt zugunsten der von den Antigoniden „Unterdrückten“ eingreifen wollen und damit auf die entsprechenden Gesandtschaften reagiert. Es ist übrigens möglich, dass Rom bereits lange vor dem Illyrischen Krieg im griechischen Mutterland interveniert hatte – nicht μετὰ δυνάμεως (Pol. 2,12,7), sondern diplomatisch: Der oft für unhistorisch gehaltene Bericht Justins (28,1 f.), der Akarnanische Bund habe um 246 die Römer um Hilfe gegen die Aitoler gebeten, woraufhin eine Senatsgesandtschaft zu letzteren gereist sei, hat möglicherweise doch einen realen Kern; vgl. Corsten 1992. 411 Liv. 31,23,1–11. Vgl. Deininger 1971: 80 und Seibert 1979: 194.

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2. Die literarische Überlieferung

hätten, sei es zu einem Gefecht mit den Achaiern unter Anesidemos von Dyme gekommen, in dem dieser mit seinen Getreuen getötet wurde; ob dabei auch Argiver gegeneinander kämpften, geht aus der Quelle allerdings nicht hervor.412 Eindeutig zu einer Stasis kam es dann kurz darauf in Theben, wo sich um 197 ‚Romfeinde‘ um Brachyllas (oder Brachylles) und ‚Romfreunde‘ unter Antiphilos, Dikaiarchos, Zeuxippos, Stratonidas und Peisistratos gegenüberstanden. Plutarch berichtet, als sich T. Quinctius Flamininus der Stadt erstmalig genähert habe, habe zwar die Brachyllas-Parteiung diese dominiert; man habe den Römern und Attaliden aber aufgrund der Stärke ihrer Armee keinen Widerstand geleistet, sondern zunächst ein foedus geschlossen, nachdem Flamininus vor dem Volk gesprochen hatte.413 Livius berichtet, viele Thebaner hätten angenommen, Antiphilos habe die Polis an die Römer verraten. Brachyllas, der bereits seit dem Kleomeneskrieg mit den Antigoniden liiert war, und andere Bürger kämpften daher ungeachtet des Bündnisses auf Seiten Philipps V. gegen Rom, und viele von ihnen gerieten in römische Gefangenschaft.414 Nach der Schlacht von Kynoskephalai habe man, so Livius, Flamininus erfolgreich um ihre Freilassung gebeten; als diese ‚Makedonenfreunde‘ dann wieder in Theben waren, scheinen sie mit Hilfe des Demos die Macht übernommen zu haben.415 Brachyllas wurde zum Boiotarchen gewählt,416 während ‚Romfreunde‘ wie Zeuxippos und Peisistratos bei der Ämtervergabe leer ausgingen. Da diese, wie Livius berichtet, fürchteten, man werde gewaltsam gegen sie vorgehen, sobald die römischen Truppen Hellas verlassen hätten, entschlossen sie sich zum gewaltsamen Vorgehen, solange Flamininus noch in der Nähe war: Brachyllas wurde nach einem Symposion überfallen und ermordet; aber nach dem Attentat kam es zu Unruhen, und die Menge forderte den Tod der Verantwortlichen.417 Zeuxippos versuchte vergebens, die Volksversammlung auf seine Seite zu ziehen; während ihm die Flucht nach Athen gelang, wurden Peisistratos und mehrere andere gefoltert und hingerichtet, und die ‚Makedonenfreunde‘ behielten die Kontrolle über Theben, wo es im folgenden Winter auch zu Anschlägen auf römische Legionäre gekommen sein soll.418 412 Liv. 32,25,1–10. Vgl. Deininger 1971: 46 f. 413 Plut. Tit. Flam. 6. 414 Vgl. zu dieser langlebigen Parteiung im Koinon Nafissi 1995. Bereits für Brachyllas’ Vater Neon ist eine Nähe zum makedonischen Königshaus inschriftlich bezeugt (SEG 11,414). 415 Dass die Römer die thebanischen ‚Romfeinde‘ offenbar einfach ziehen ließen, ist natürlich bemerkenswert. Es ist im Grunde schwer vorstellbar, dass Flamininus und seiner Umgebung nicht bewusst gewesen sein soll, dass dieser Akt zu massiven Konflikten in Boiotien führen musste. Trifft dies zu, so mag man sich hier an Alexanders Verbanntendekret erinnert fühlen, der damit ja ebenfalls jenen Griechen, die mit seiner Rückendeckung ihre Städte beherrschten, in den Rücken gefallen war. Vgl. zur „Freiheitserklärung“ für Hellas auch Walsh 1996, der allerdings keinen Zusammenhang zu Staseis erkennt, sondern vermutet, es sei Flamininus um gloria gegangen. Ein zentraler Unterschied zwischen der Proklamation von 196 und jener, die 318 Polyperchon veranlasst hatte (vgl. Kapitel 2.1.2), bestand in jedem Fall darin, dass dieser im Unterschied zu Flamininus auf Poleis gezielt hatte, die sich nicht in seinem Machtbereich befanden. 416 Pol. 18,43,3. Vgl. Grainger 2002: 53. Vgl. zum Boiotischen Bund knapp Gauger 2005b sowie nun den aktuellen Überblick Beck – Ganter 2015. 417 Vgl. Grainger 2002: 63. Polybios zufolge stand letztlich Flamininus hinter dem Anschlag, der sich aber seine Hände nicht selbst habe schmutzig machen wollen; Pol. 18,43,7–12. 418 Liv. 33,27,5–33,29,2. Vgl. Seibert 1979: 194 f.

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2.3.2 Staseis im Antiochoskrieg Im Jahr 194 kam es laut Livius auch in Chalkis erneut zu Konflikten. Hier hatte nach dem römischen Sieg über die Antigoniden419 eine Partei um Mikythion und Tenoklides ihre Gegner verbannt. Diese φυγάδες um den ‚Romfeind‘ Euthymides versuchten nun, so Livius, mit Hilfe der Aitoler, deren πρόξενος Euthymides bereits seit 208 war,420 gewaltsam zurückzukehren; aber da ihre Feinde den Angriff erwarteten, scheiterte der komplizierte Plan zunächst.421 Doch die ‚Romfeinde‘, zu denen auch Eubulides und Philon zählten, die sich weiterhin in Chalkis aufhielten, gaben offenbar nicht auf, sondern setzten ihre Hoffnungen nun auf Antiochos III.422 Als dieser 192 vor der Stadt erschien,423 konnten Mikythion und Tenoklides die Volksversammlung laut Livius nicht davon abhalten, die Tore zu öffnen, und die ‚Romfreunde‘ flohen aus Chalkis.424 Am heftigsten aber waren die Konflikte, folgt man Livius weiter, in Demetrias.425 Als dort im Jahr 192 römische Gesandte eintrafen, fanden sie demnach eine tief gespaltene Oberschicht vor, da eine Reihe von prominenten principes unter Führung des Magnetarchen Eurylochos426 die dominierende factio der ‚Romfreunde‘ verlassen hatte (pars principum alienati Romanis) und ihr Heil in einer Allianz mit Aitolern und Seleukiden suchte.427 Hintergrund waren angeblich Gerüchte, die Römer wollten Demetrias den Antigoniden zurückgeben. In Anwesenheit von Flamininus erklärte Eurylochos vor der Volksversammlung, die Polis sei nicht frei, sondern stehe faktisch unter römischer Herrschaft, woraufhin es zu Tumulten kam, weil der Demos, so Livius, seinerseits gespalten war.428 Dem ‚Romfreund‘ Zenon scheint es aber gelungen zu sein, die Versammlung auf seine Seite zu ziehen, und Eurylochos floh aus der Stadt.429 Bemerkenswert ist, dass Livius nur wenige Sätze später diese von ihm selbst beschriebenen Konflikte innerhalb von Elite und Demos ignoriert und stattdessen pauschal behauptet, in allen Städten habe gegolten, dass es die principes mit den Römern gehalten hätten, während die multitudo 419 Die Frage, ob das Jahr 197 für die römische Griechenlandpolitik eine Zäsur und einen absichtlichen Strategiewechsel markiert habe, diskutiert Potter 2012, der die Fähigkeit des Senats zu einer konsistenten Außenpolitik bezweifelt. Vgl. auch Badian 1984. 420 IG I2 31,67. Vgl. Grainger 1999: 439. 421 Liv. 35,37,4–35,38,14. 422 Vgl. zur seleukidischen Expansion in den Jahren nach Kynoskephalai Ma 1999: 82–94. 423 Warum sich Antiochos nach einer Weile darauf einließ, im griechischen Mutterland zu intervenieren, ist vielfach diskutiert worden; vgl. etwa Gruen 1984: 626–636, Eckstein 2006: 294–306, Errington 2008: 214–220 und Grainger 2017: 177–192. Am wahrscheinlichsten ist, dass der Seleukide das vermutlich vor allem innenpolitisch bedingte Zögern des Senats als Zeichen von Schwäche fehlinterpretiert hat und möglicherweise auch annahm, das Hilfegesuch der Aitoler nicht ohne empfindlichen Gesichtsverlust ablehnen zu können. 424 Liv. 35,51,6 f. Vgl. auch App. Syr. 49 f. Zu den Ereignissen vgl. Deininger 1971: 80–84. 425 Vgl. allgemein zu Demetrias, das etwa ein Jahrhundert zuvor von Demetrios I. gegründet worden war, auch Cohen 1995b: 111–114. 426 Vgl. zu Eurylochos Deininger 1968. 427 Liv. 35,31,3 f. Vgl. Seibert 1979: 194 f. Vgl. auch Grainger 2002: 174 f., der annimmt, die dominante Parteiung in der Stadt sei ursprünglich prorömisch gewesen, da sie ihre Stellung letztlich Flamininus verdankt habe. 428 Liv. 35,31,6–13. 429 Liv. 35,31,14–35,32,1.

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an einem Abfall von Rom interessiert gewesen sei.430 Die Parallelen zu seinen wenige Bücher zuvor gemachten Aussagen über die Westgriechen stechen natürlich ins Auge.431 Die unmittelbar anschließende Fortsetzung der konkreten Schilderung der Ereignisse in Demetrias folgt diesem simplen Schema dann aber keineswegs: Der factio des Eurylochos sei es gelungen, seine sichere Rückkehr nach Demetrias zu erwirken, indem seine Angehörigen ostentativ als Hiketiden vor das Volk getreten seien.432 Nachdem Eurylochos aber gemeinsam mit aitolischen Truppen unter dem Hipparchen Diokles, die ihm vorgeblich nur ein Ehrengeleit geben sollten, die Stadt betreten habe, habe er sogleich alle strategisch wichtigen Punkte besetzen lassen; im Anschluss hätten seine Leute dann die principes der Gegenpartei in ihren Häusern aufgesucht und niedergemacht: tum in domos missi qui principes adversae factionis interficerent.433 Opferzahlen nennt Livius nicht. Eurylochos und andere principes Magnetum begrüßten Antiochos III. jedenfalls bald darauf bei seiner Ankunft in Hellas; und als Ende 191 der unterdessen mit Rom verbündete Philipp V. vor Demetrias erschien, flohen viele principes aus der Stadt, während sich Eurylochos das Leben nahm.434 Auch in anderen Poleis kam es im Zusammenhang mit dem Antiochoskrieg zu Auseinandersetzungen, die allerdings, soweit es die literarischen Quellen berichten, nicht gewaltsam eskaliert zu sein scheinen und hier daher nur am Rande erwähnt seien. Ein prominenter Fall war Athen, wo der ‚Romfeind‘ Euthymides aus Chalkis Anfang 192 zeitweilig Zuflucht gefunden hatte, was ein Indiz dafür sein dürfte, dass es in der Stadt ebenfalls eine ‚seleukidenfreundliche‘ Partei gab. Jedenfalls berichtet Livius, die Polis habe einige Zeit später kurz vor einer offenen Stasis gestanden (erat enim haud procul seditione Athenis res), wobei ein gewisser Apollodoros versucht haben soll, die multitudo mit der Hoffnung auf königliche Geldspenden gegen Rom und die Achaier aufzuwiegeln.435 Ob diese Vorwürfe zutreffen, ist unklar; nachdem die Gegenpartei Flamininus und das Achaiische Koinon herbeigerufen hatte, scheint der Widerstand jedenfalls zusammengebrochen zu sein: Apollodoros wurde von einem gewissen Leon436 angeklagt und aus Athen verbannt.437 In Iasos scheint es zu einer Stasis gekommen zu sein, bei der sich zunächst die ‚Antiochosfreunde‘ durchsetzen konnten, denn Livius erwähnt eine große Zahl von Iasiern, 430 Inter omnes constabat in civitatibus principes et optimum quemque Romanae societatis esse et praesenti statu gaudere, multitudinem et quorum res non ex sententia ipsorum essent omnia novare velle; Liv. 35,34,3. Vgl. hierzu bereits die Diskussion bei Deininger 1971: „Die Frontlinie der Entscheidung für oder gegen Rom verlief […] mitten durch die Oberschicht“ (15–20). 431 Senatus Romanis faveret, plebs ad Poenos rem traheret; Liv. 24,2,8. 432 Liv. 35,34,7 f. Vgl. Pfeilschifter 2005: 257 f. Vgl. zur Hikesie als Ritual Chaniotis 2007. 433 Liv. 35,34,12. 434 Liv. 36,33,6. Vgl. Grainger 2002: 252 f. 435 Vgl. Habicht 1995a: 210. 436 Vgl. zu Leons Familie, einem der führenden Geschlechter der Stadt, Habicht 1982: 194–197. 437 Liv. 35,50,3 f. Laut Polybios warb Leon nach der Schlacht von Magnesia vor dem Senat erfolgreich dafür, in den von Rom abgefallenen griechischen Poleis und koina nicht den ganzen Demos, sondern nur die jeweils verantwortlichen Anführer zu bestrafen; Pol. 21,31,6–15. Vgl. Walbank 1979: 133–136. Einen informativen Überblick zur athenischen Politik im Spannungsfeld zwischen Römern und Makedonen bietet Mattingly 1997.

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die aufgrund ihrer Treue zu Rom verbannt worden seien.438 In Phokaia, wo eine römische Flotte überwinterte, brach derweil laut Livius eine von ‚Romfeinden‘ initiierte Stasis (seditio) aus, wobei es diesen schließlich gelungen sei, die Mehrheit des Demos gegen Widerstand in der Boule auf ihre Seite zu ziehen;439 kurz darauf habe man den Seleukiden verräterisch (proditam) die Tore geöffnet. Von etwaigen Opfern erfährt man nichts.440 Polybios identifiziert dabei Gelias und Hegias als die Protagonisten der ῥωμαΐζοντες, als ‚Antiochosfreunde‘ hingegen Aristarchos, Rhodon und Kassandros; für zunächst noch durchaus unklare Machtverhältnisse in der Stadt dürfte sprechen, dass sie alle gemeinsam als Gesandte zu den Seleukiden geschickt wurden.441 Und nach der Einnahme von Herakleia Trachinia durch Glabrio wurden laut Livius Damokritos, sein Bruder und 42 weitere tatsächliche oder vermeintliche ‚Romfeinde‘ nach Italien deportiert, wo sie die damnatio ad metalla erwartete.442 Dass es damals überdies auch Staseis gab, von denen die überlieferten literarischen Quellen schweigen, bezeugt eine bekannte Inschrift aus Delphi.443 Wohl ebenfalls im Zusammenhang mit dem Antiochoskrieg berichtet Polybios in einer fragmentarisch erhaltenen Passage sodann von Wirren in Boiotien, die das Koinon damals allerdings bereits seit einem Vierteljahrhundert geplagt hätten.444 Von offener Gewalt ist dabei zwar nicht die Rede, wohl aber davon, dass in den Städten Gerichte und Rechtsprechung kollabiert seien und man regelmäßig solche Archonten gewählt habe, von denen man sich jeweils juristische und finanzielle Vorteile versprochen habe; mit einem Wort: Polybios schildert Boiotien als nachgerade anarchisch, wobei allerdings zu beachten ist, dass der achaiische Geschichtsschreiber hier nicht nur ältere Topoi aufgreift, sondern zudem natürlich nicht als unparteiisch gelten kann; geht es ihm doch 438 Liv. 37,17,5. Diese Nachricht wird durch zwei heute in London befindliche Inschriften (GIBM 442 [vgl. OGIS 237] und GIBM 443 [vgl. I.Iasos 252]) insoweit bestätigt, als Antiochos III. hier davon spricht, in der Polis nach mehreren Versuchen die Eintracht wiederhergestellt zu haben – offensichtlich durch die Verbannung der ‚Romfreunde‘. Vgl. Crowther 1995: 123 und Ma 1999: 337. Im Kommentar zu GIBM 443 interpretiert Hicks die Vorgänge als Konflikt zwischen demokratischen Seleukidenfreunden und oligarchischen Romfreunden (62), doch die Quellen bieten keine Stütze für diese These: Die in GIBM 442 erwähnte Wiederherstellung von δημοκρατία und αὐτονομία sollte nicht wörtlich genommen werden, sondern dokumentiert wohl lediglich den Legitimitätsanspruch der vorerst siegreichen Parteiung. 439 Liv. 37,9,1–4. Vgl. Grainger 2002: 269 f. 440 Liv. 37,11,15. 441 Pol. 21,6,4. Vgl. Walbank 1979: 96. Offenbar setzten sich die ‚Königsfreunde‘ in der Stadt aber letztlich durch, denn versehen mit seleukidischer Unterstützung leistete die Polis den Römern schließlich lange und hartnäckig Widerstand und wurde zuletzt eingenommen und gebrandschatzt (Liv. 37,32,10–14); vgl. Ma 1999: 247. 442 Liv. 37,3,8. 443 Es handelt sich um den Brief eines nicht sicher zu identifizierenden Konsuls an die Polis, in dem erwähnt wird, drei delphische Gesandte namens Bulon, Thrasykles und Orestas seien nach ihrer Rückkehr in die Stadt getötet und ihre Familien enteignet worden; daher habe der Senat angeordnet, ihr Eigentum zurückzuerstatten und die Verantwortlichen zu bestrafen; Syll.3 611. Offensichtlich hatte es sich bei den drei Getöteten um ‚Romfreunde‘ gehandelt, die den ‚Aitolerfreunden‘ unter ihren Mitbürgern zum Opfer gefallen waren. 444 τὰ δὲ κοινὰ τῶν Βοιωτῶν εἰς τοσαύτην παραγεγόνει καχεξίαν ὥστε σχεδὸν εἴκοσι καὶ πέντ᾽ ἐτῶν τὸ δίκαιον μὴ διεξῆχθαι παρ᾽ αὐτοῖς μήτε περὶ τῶν ἰδιωτικῶν συμβολαίων μήτε περὶ τῶν κοινῶν ἐγκλημάτων; Pol. 20,6,1.

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darum, zu begründen, wieso Megara vom Koinon abgefallen und sich den Achaiern angeschlossen habe.445 Dennoch besteht grundsätzlich kein Anlass, daran zu zweifeln, dass die Poleis Boiotiens um diese Zeit tatsächlich von innerer Instabilität geplagt wurden, weshalb zu vermuten ist, dass die Position jener, die Antiochos III. freundlich begrüßten und nach Theben geleiteten,446 recht prekär gewesen sein dürfte. Mutmaßlich handelte es sich dabei um die Protagonisten jener ‚romfeindlichen‘ Gruppe, die bereits für den Tod des Peisistratos und die Flucht des Zeuxippos verantwortlich gewesen war. Hierfür spricht, dass der römische Senat von Theben laut Polybios bald nach dem Frieden von Apameia die Rückkehr des Zeuxippos und weiterer φυγάδες forderte. Ungeachtet der bedrohlichen Lage habe man dieses Ansinnen, hinter dem Flamininus gestanden habe, aber abgelehnt und vielmehr Zeuxippos erst jetzt in absentia wegen des Mordes an Brachyllas zum Tode verurteilt.447 Offenkundig erschien der herrschenden Parteiung ein potentiell verheerender Waffengang mit Rom immer noch als das kleinere Übel; vermutlich ein Indiz für die Intensität des inneren Konfliktes, den Polybios übrigens pauschalisierend als eine Konfrontation zwischen „übelgesinnten“ Armen und „wohlgesinnten“ Reichen charakterisiert.448 Nur weil die Römer ihre Forderung nicht konsequent durchgesetzt hätten, sei ein Krieg – an dem eine Mehrheit im Senat offensichtlich kein Interesse hatte – vermieden worden.449 Im Windschatten des Antiochoskrieges war derweil laut Livius auch in Sparta nochmals die Situation eskaliert. 191 wurden die Exponenten jener Partei, die die Polis seit dem erzwungenen Anschluss an den Achaiischen Bund dominiert hatte, verbannt, und 189 gelang es der nun herrschenden Gruppe, jene φυγάδες, die in der Festung Las lagerten, zu überfallen.450 Als die Verbannten daraufhin die Achaier herbeiriefen, die den Lakedaimoniern vorwarfen, gegen die von den Römern verfügten Regelungen verstoßen zu haben, reagierte man in Sparta auf die Drohungen, indem man, so Livius, im Zorn etwa 30 Bürger erschlug, die als Parteigänger der Achaier galten – wobei bemerkenswert ist, dass es noch immer eine derartige factio in der Stadt gegeben haben soll –, offen vom Koinon abfiel und sich stattdessen an Rom wandte.451 Nun aber marschierte Philopoimen laut Plutarch in Sparta ein und führte Verbannte in die Stadt zurück, wobei es zu weiteren Gewaltausbrüchen kam: Laut Livius bestand der größte Teil der Truppen, die den achaiischen στρατηγός begleiteten, aus Verbannten, die sich sogleich voll Zorn (ira) 445 Pol. 20,6,8–12 (mit Walbank 1979: 72–74). Vgl. zu den Vorgängen jetzt auch Müller 2011. Offenbar ist die polybianische Darstellung hier älteren Topoi zu Boiotien verpflichtet, die bereits in der Klassik geläufig waren; vgl. Müller 2013. Hennig 1977 geht wohl zu weit, wenn er ausgehend von epigraphisch belegten Umschuldungsverträgen den polybianischen Bericht in Gänze verwirft. Mit Übertreibungen und Ausschmückungen ist aber gewiss zu rechnen. 446 Pol. 20,7,5. 447 Vgl. Pfeilschifter 2005: 347. 448 πολλῆς δὲ περὶ τούτων ἀμφισβητήσεως ὑπαρχούσης διὰ τὸ πλείους εἶναι τοὺς καχέκτας τῶν εὐπόρων, ἐγίνετό τι συνέργημα τοῖς τὰ βέλτισθ᾽ αἱρουμένοις ἐκ ταὐτομάτου τοιοῦτον; Pol. 22,4,3. 449 Vgl. Rubinstein 2013: 132 f. 450 Liv. 38,30,6–9. Vgl. Kennell 2010: 181. 451 Liv. 38,31,3–5.

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auf ihre einstigen Mitbürger stürzten.452 Anschließend habe man entweder 80 oder sogar 350 Spartaner töten lassen.453 2.3.3 Staseis nach dem Antiochoskrieg Dass auch dort, wo sich eine direkte Anlehnung an Rom damals noch nicht anbot,454 Staseis tobten, illustriert das Beispiel der thrakischen Polis Ainos, über die in diesem Zusammenhang zwar nur ein einziger Satz von Polybios erhalten ist, der aber hinreichend aussagekräftig ist: In Ainos habe bereits seit langer Zeit eine Stasis getobt, bevor sich die beiden Parteiungen nach 188 schließlich an Attaliden respektive Antigoniden angelehnt hätten;455 eine selten eindeutige Aussage, die wie selbstverständlich einen Primat des inneren Konfliktes und den lediglich sekundären Charakter der außenpolitischen Orientierung behauptet: συνέβαινε τοὺς Αἰνίους πάλαι μὲν στασιάζειν, προσφάτως δ᾽ ἀπονεύειν τοὺς μὲν πρὸς Εὐμένη, τοὺς δὲ πρὸς Μακεδονίαν.456 Dies erinnert dabei auch an Polybios’ allgemeine Aussage im Rahmen seines „Verräterexkurses“,457 nachgerade der Archetyp des Verräters sei derjenige, der zum eigenen Vorteil458 oder aus Hass auf den innenpolitischen Gegner (πρὸς τοὺς ἀντιπολιτευομένους) eine Polis einer fremden Macht in die Hände spiele: μάλιστα δ᾽ ἂν προστρέχοι πρὸς τὴν ἀλήθειαν ἐπὶ τοὺς τοιούτους φέρων, ὅσοι τῶν ἀνδρῶν κατὰ τὰς ὁλοσχερεῖς περιστάσεις ἢ τῆς ἰδίας ἀσφαλείας καὶ λυσιτελείας χάριν ἢ τῆς πρὸς τοὺς ἀντιπολιτευομένους διαφορᾶς ἐγχειρίζουσι τοῖς ἐχθροῖς τὰς πόλεις, ἢ καὶ νὴ Δία πάλιν ὅσοι φρουρὰν εἰσδεχόμενοι καὶ συγχρώμενοι ταῖς ἔξωθεν ἐπικουρίαις πρὸς τὰς ἰδίας ὁρμὰς καὶ προθέσεις ὑποβάλλουσι τὰς πατρίδας ὑπὸ τὴν τῶν πλεῖον δυναμένων ἐξουσίαν. Am meisten aber wird man sich der Wahrheit annähern, wenn man [die Bezeichnung „Verräter“] all jenen gibt, die in gefährlichen Zeiten aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit, zum eigenen Vorteil oder aus Hass gegenüber ihren politischen Widersachern die Polis Feinden in die Hand spielen, die sogar fremde Garnisonen aufnehmen, sich auswärtiger Hilfe für ihre eigenen Ziele und Absichten bedienen und die Vaterstadt so der Herrschaft Mächtiger unterwerfen. 452 Ferocissimi exulum impetum in Lacedaemonios fecerunt; Liv. 38,33,6. 453 Plut. Philop. 16,2 f. Auch der fragmentarische Bericht des Polybios erwähnt dieses Massaker von Kompasion im Jahr 188; Pol. 22,3,1. Vgl. Walbank 1979: 177. Offenbar sprach er (als Achaier) von nur 80 Toten, während die Zahl 350 auf den spartanischen Autor Aristokrates (FGrHist 591 F3) zurückgeht. Beide Zeugnisse überliefert Plutarch. Vgl. zu den Ereignissen auch Errington 1969: 144–147 und Cartledge 2002: 78. 454 Lediglich epigraphisch bezeugt ist so zum Beispiel eine Stasis in Xanthos, bei der eine Gruppe um Lysanias und Eudemos um 185 die Macht errang und später vom Lykischen Bund bekämpft wurde (SEG 18,570); vgl. Berve 1967: 429 und Quaß 1993: 116 f. 455 Die ‚Attalidenfreunde‘ wurden schließlich aus Ainos verbannt. Vgl. Seibert 1979: 200 f. und Gray 2015: 228. 456 Pol. 22,6,7; vgl. Walbank 1979: 186. 457 Pol. 18,15,2 f. Vgl. Eckstein 1987. 458 Vgl. auch die entsprechende Passage bei Pausanias, der im Zusammenhang seiner Bemerkungen zu Achaia die verhängnisvolle Rolle von Verrätern in der gesamten griechischen Geschichte beklagt: τολμημάτων δὲ τὸ ἀνοσιώτατον, τὴν πατρίδα καὶ ἄνδρας προδιδόναι πολίτας ἐπὶ οἰκείοις κέρδεσιν, ἔμελλε καὶ Ἀχαιοῖς κακῶν ἄρξειν, οὔποτε ἐκ τοῦ χρόνου παντὸς τὴν Ἑλλάδα ἐκλιπόν; Paus. 7,10,1.

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Dass Polybios hier an Staseis denkt, liegt auf der Hand. Ainos jedenfalls geriet auf diese Weise genau wie Maroneia, das die Seleukiden ebenfalls hatten räumen müssen, in den Machtkampf zwischen Eumenes II. von Pergamon und dem wieder erstarkten Philipp V. von Makedonien.459 Livius berichtet knapp, der Antigonide habe unter Ausnutzung von seditiones – also Staseis – zwischen den dortigen principes mehrere Städte in Thrakien unter seine Kontrolle gebracht, indem er die jeweils unterlegene Partei unterstützt habe. Dass damit griechische Poleis gemeint sind, ist angesichts des Kontextes zumindest sehr wahrscheinlich, denn Livius macht ausdrücklich die zuvor gewonnene Freiheit für die Konflikte innerhalb der Oberschichten verantwortlich, eine Formulierung, die in Hinblick auf thrakische Gemeinden wenig Sinn ergäbe.460 Φυγάδες aus Ainos und Maroneia erschienen jedenfalls 184 vor dem römischen Senat und baten um Hilfe;461 laut Livius klagten die verbannten Maroniten dabei über die Herrschaft der ‚Antigonidenfreunde‘ in ihrer Polis: Diese dominierten Rat und Volksversammlung und kontrollierten auch die Besetzung der Magistraturen – ein anschauliches Beispiel dafür, wie man sich die Vorherrschaft einer Parteiung konkret vorstellte.462 Die φυγάδες fanden Gehör. In der Tat wiesen die Römer Philipp V. an, sich aus Thrakien zurückzuziehen. Die Folge aber war, so Polybios, ein großes Massaker (μεγάλη σφαγή) in Maroneia: Der Königsfreund Kassandros habe mit thrakischen Söldnern ein Blutbad in der Stadt angerichtet,463 wobei Livius ergänzt, es habe sich vor allem um eine gezielte Aktion gegen die Anführer der Gegenpartei (partes adversae principes) gehandelt.464 Als die empörten Römer Philipp deshalb zur Rede gestellt hätten, habe dieser erklärt, er sei an den Vorgängen unschuldig, da es sich um eine Stasis innerhalb der Bürgerschaft von Maroneia gehandelt habe: seditione inter ipsos dimicatum, cum ad se alii, alii ad Eumenem civitatem traherent.465 Zwar sei der Antigonide schließlich bereit gewesen, Kassandros auszuliefern; er habe diesen aber vergiften lassen, bevor er Italien erreichen konnte. Es versteht sich, dass Polybios und der hier eng an ihn anschließende Livius damit die römische Lesart der Ereignisse wiedergeben. Es ist daher durchaus möglich, dass Philipps Behauptung, die Initiative für das Blutbad sei letztlich gar nicht von ihm, sondern von seinen Anhängern in der Polis ausgegangen, tatsächlich zutrifft. Im selben Jahr intervenierte eine römische Gesandtschaft im notorisch unruhigen Kreta,466 wobei Polybios beiläufig erwähnt, Appius Claudius Pulcher habe die Verbann459 Liv. 37,60,7. 460 Inde et in Thracia quasdam urbes, novae atque insuetae libertatis vitio seditionibus principum turbatas, partibus, quae domestico certamine vincerentur, adiungendo sese cepit; Liv. 39,23,13. 461 Liv. 39,23,9. 462 Itaque dominari adsentatores regios: his solis loqui et in senatu et in contionibus licere; eos omnes honores et capere ipsos et dare aliis; Liv. 39,27,8 f. 463 Pol. 22,13,6–9; vgl. Walbank 1979: 197 f. 464 Liv. 39,34,2. Ob es sich bei diesen principes um Verbündete jener Maroniten handelte, die vor dem Senat erschienen waren, ist unklar. Möglicherweise waren jene, die in Rom vorgesprochen hatten, bereits in seleukidischer Zeit verbannt worden. 465 Liv. 39,34,4; vgl. Pol. 22,13,9. Unklar bleibt, ob sich auch Politen an den Morden beteiligt haben, oder ob man dies den Söldnern überließ. 466 διὰ γὰρ τὴν συνέχειαν τῶν ἐμφυλίων πολέμων καὶ τὴν ὑπερβολὴν τῆς εἰς ἀλλήλους ὠμότητος ταὐτὸν ἀρχὴ καὶ τέλος ἐστὶν ἐν Κρήτῃ, καὶ τὸ δοκοῦν παραδόξως τισὶν εἰρῆσθαι τοῦτ᾽ ἐκεῖ θεωρεῖται συνεχῶς τὸ γινόμενον;

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ten aus Phalarsana, denen man vorwarf, den Menoitios, einen herausragenden Bürger (ἐπιφανεστάτους ὄντας τῶν πολιτῶν), getötet zu haben – mutmaßlich im Rahmen einer Stasis –, angewiesen, die Insel zu verlassen.467 Offenkundig war an eine Stabilisierung der Verhältnisse in der Stadt nicht zu denken, solange sich die Vertriebenen noch auf kretischem Boden aufhielten. Interessant ist dabei auch, dass Menoitios von Polybios nicht als Tyrann bezeichnet wird, obwohl er offenbar eine sehr exponierte Stellung innegehabt hatte – es liegt nahe, dies als Indiz dafür zu werten, dass nicht seine Mörder, sondern seine Anhänger bestimmt haben, wie er in Erinnerung blieb. Insgesamt scheint auf Kreta allerdings auch nach der römischen Intervention keine Ruhe eingekehrt zu sein, denn im Anschluss an seine Schilderung der einige Jahre später eskalierenden Stasis in Hypata bemerkt Livius beiläufig, mit gleicher Wut wie die Aitoler hätten einander zu dieser Zeit auch die Kreter ermordet.468 Ein erneutes römisches Eingreifen habe die Auseinandersetzungen nur für einige Monate unterbrechen können, bevor sie sich umso heftiger fortgesetzt hätten. Im Winter 184, als die Verbannten aus Maroneia und Ainos nach Rom gereist waren, hatten laut Polybios auch insgesamt fünf teils rivalisierende spartanische Gesandtschaften vor dem Senat gesprochen, und zu einer von diesen hatte auch ein gewisser Chairon (oder Cheiron) gehört,469 der wohl 188 verbannt worden, aber während der schwer durchschaubaren Wirren in der Folgezeit zurückgekehrt war.470 Chairon scheint sich um 181 zum Anführer einer Parteiung aufgeschwungen zu haben, die mit einer anderen Gruppe um Serippos471 verfeindet war – wobei bemerkenswerterweise beide Seiten zu den „alten Verbannten“ zählten, wenngleich sich Serippos jetzt an die Achaier anlehnte.472 In dieser Situation griff Chairon nun wohl noch einmal die alte Idee einer Landverteilung auf; jedenfalls enteignete er laut Polybios den Besitz, den „die Tyrannen“ den weiblichen Angehörigen der zuvor Verbannten gelassen hatten, und verteilte den Boden unter seinen Anhängern.473 Als die Gegenpartei durchsetzen konnte, dass diese mutmaßlich rechtswidrigen Maßnahmen überprüft werden sollten,474 habe Chairon, so

467 468

469 470 471 472 473 474

Pol. 24,3,2. Den Hintergrund bildete wohl wieder ein Krieg zwischen Knossos und Gortyn. Einen Überblick über die römische Kretapolitik bietet Kreuter 1995. Pol. 22,15,6; vgl. Walbank 1979: 200–202. Idem furor et Cretenses lacerabat; Liv. 41,25,7. Da Livius dies in direktem Anschluss an die Schilderung einer blutigen Stasis anmerkt, scheint die Annahme gerechtfertigt zu sein, dass sich seine dürre Notiz zu Kreta nicht auf Konflikte zwischen Poleis bezieht. Kreuter 1995: 136 spricht vage von „innerkretische[n] Kriege[n].“ Vgl. Petzold 1999: 75. Vgl. etwa Pol. 23,17,8 f. Pol. 23,9,8. Vgl. Cartledge 2002: 82. Vgl. Pomeroy 2002: 91 f. Es dürften – neben Agis IV. – Fälle wie dieser gewesen sein, die Panaitios vor Augen standen, als er in περὶ τοῦ καθήκοντος davon sprach, dass Landverteilung und Schuldentilgung nicht nur Eintracht und Gerechtigkeit, die Fundamente der Gemeinschaft, zerstörten, sondern dem Initiator oftmals überdies gar nicht die erhofften Vorteile brächten; vgl. Cic. Off. 2,78 f. Vgl. Dyck 1996: 470–475, der anmerkt, in der fraglichen Passage von De Officiis seien daneben auch Ciceros eigene Erfahrungen, insbesondere natürlich mit der spätrepublikanischen Veteranenversorgung und den damit verbundenen Enteignungen, greifbar. Insgesamt aber spricht nichts gegen die Annahme, dass Cicero hier im Kern Panaitios folgt.

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Polybios, den angesehensten der mit der Kontrolle beauftragten Männer, Apollonidas, ermorden lassen. Die Achaier hätten hierauf mit einer Intervention reagiert; Chairon sei verhaftet und verurteilt worden.475 Nicht zuletzt diese chaotischen Verhältnisse in Lakonien dürften die Geduld vieler Senatoren strapaziert haben.476 Dennoch verzichtete man jahrelang auf ein militärisches Eingreifen, und dies hatte zweifellos Folgen: In einer vieldiskutierten Passage berichtet Polybios, der achaiische Gesandte Kallikrates aus Leontion habe im Jahr 180 vor dem Senat in Rom ausgeführt,477 in allen demokratischen Gemeinwesen (ἐν πάσαις ταῖς δημοκρατικαῖς πολιτείαις) Griechenlands stünden einander zwei Parteiungen bzw. Richtungen (αἱρέσεις) gegenüber, nämlich jene, die sich bedingungslos dem römischen Willen unterwerfen wollten,478 und jene, die sich vordergründig auf die Gültigkeit von Gesetzen, Eiden und Verträgen beriefen, um sich Roms Forderungen gegebenenfalls zu widersetzen.479 Solange der Senat die erstgenannte Gruppe nicht nachdrücklicher unterstütze, seien es die Vertreter der Gegenpartei, die das πλῆθος und den ὄχλος beeindrucken und so die entscheidenden Machtpositionen in den Poleis erlangen könnten.480 Mit deutlicher Missbilligung berichtet Polybios, die Senatoren seien dieser Argumentation gefolgt und hätten sich entschieden, fortan systematisch die sich radikal romfreundlich gebende Gruppe (μέρος) innerhalb der griechischen Oberschichten zu unterstützen.481 Kallikrates, der die schriftliche Antwort des Senats mit sich geführt und die Menge mit dem römischen „Schreckbild“ eingeschüchtert habe (τὸν ἀπὸ Ῥωμαίων φόβον), sei es vor diesem Hintergrund gelungen, sich zum achaiischen στρατηγός wählen zu lassen.482 Polybios rügt ihn harsch dafür, mit seinem Handeln sowohl über die Achaier als auch über die übrigen Hellenen größtes Unglück gebracht zu haben.483 Ohne Not habe er die griechische Unabhängigkeit geopfert. 475 Pol. 24,7,1–7; vgl. Walbank 1979: 259 f. Ob man in diesem Fall von einer regelrechten Stasis sprechen kann, oder ob es sich ‚nur‘ um einen politischen Mord handelte, lässt sich angesichts der wenigen verfügbaren Informationen kaum entscheiden. 476 Vgl. auch Gruen 1984: 486–492: „The stubborn Lacedaemonian problem simply would not go away“ (490). 477 Vgl. zuletzt die Diskussion bei Engster 2014: 182–190 (mit weiterer Literatur). 478 Vgl. Shipley 2000: „All imperial powers need friends among the economic élite of subject states, and cultivate and favour their friends“ (381). 479 δυεῖν γὰρ οὐσῶν αἱρέσεων κατὰ τὸ παρὸν ἐν πάσαις ταῖς δημοκρατικαῖς πολιτείαις, καὶ τῶν μὲν φασκόντων δεῖν ἀκολουθεῖν τοῖς γραφομένοις ὑπὸ Ῥωμαίων καὶ μήτε νόμον μήτε στήλην μήτ᾽ ἄλλο μηθὲν προυργιαίτερον νομίζειν τῆς Ῥωμαίων προαιρέσεως, τῶν δὲ τοὺς νόμους προφερομένων καὶ τοὺς ὅρκους καὶ στήλας καὶ παρακαλούντων τὰ πλήθη μὴ ῥᾳδίως ταῦτα παραβαίνειν, ἀχαϊκωτέραν εἶναι παρὰ πολὺ ταύτην τὴν ὑπόθεσιν καὶ νικητικωτέραν ἐν τοῖς πολλοῖς; Pol. 24,9,2–4. Vgl. zur polybianischen Darstellung auch Derow 1970 und den Kommentar Walbank 1979: 260–264. 480 Pol. 24,9,8. Nimmt man an, dass Kallikrates tatsächlich in der geschilderten Weise argumentiert hat, so könnte er damit bewusst an bestimmte Vorurteile appelliert haben, die nicht nur in der griechischen Oberschicht, sondern auch in der Nobilität weit verbreitet waren; vgl. Champion 2007: 263. Vgl. zur polybianischen Sicht auf die Gesellschaft auch Gómez Espelosín 1987. 481 Pol. 24,10,3–7. Zu den achaiisch-römischen Beziehungen vgl. allgemein Bastini 1987 und Nottmeyer 1995, die teils zu sehr gegensätzlichen Urteilen gelangen. 482 Pol. 24,10,13–15. 483 Pol. 24,10,8. Vgl. auch Gruen 1984: „The principal point at issue is not one between a ‚pro-Roman‘ and a ‚patriotic‘ party, modern formulations that miss Polybius meaning“ (332).

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Das polybianische Urteil ist verständlich.484 Es lässt allerdings in augenfälliger Weise außer Acht, wie sehr Männer wie Kallikrates ihrerseits ein sehr vitales Interesse an einer deutlich spürbaren römischen Präsenz in Hellas haben mussten: Polybios selbst belegt ja, dass sie sich durch ihre Anlehnung an Rom sehr unbeliebt machten; sie waren daher darauf angewiesen, dass der Senat seinerseits eine plausible Drohkulisse aufrecht erhielt, statt sie de facto ihren Feinden auszuliefern.485 Kurzum, Männer wie Kallikrates erwarteten zweifellos, dass die Römer ihren griechischen φίλοι als Belohnung für ihre εὔνοια so konsequent und sichtbar zur Seite standen,486 wie man es von den hellenistischen Monarchen gewohnt war,487 und dürften angesichts der scheinbar erratischen und unberechenbaren Politik des Senats in diesen Jahren verständlicherweise irritiert und überaus besorgt gewesen sein. Zumindest subjektiv muss man sich bedroht gefühlt haben.488 Was Polybios als eine schamlose Frechheit des Kallikrates wertet,489 lässt sich also – jenseits von Kategorien wie „Verrat“ oder „Kollaboration“ – mindestens ebenso gut als Hilferuf deuten.490 Spätestens seit dem Antiochoskrieg galten die Römer den Griechen offenkundig als die neue Hegemonialmacht,491 und ihre φίλοι verstanden allem Anschein nach nicht, wieso sie sich nicht auch entsprechend verhielten. Doch die tatsächlichen Möglichkeiten, effektiv Kontrolle über die Griechen auszuüben, waren im Alltag eben begrenzt, solange kein römisches Heer in Hellas oder Makedonien operierte. 484 Zu bedenken ist dabei, dass Polybios Kallikrates offenbar für seine eigene Deportation nach dem Perseuskrieg verantwortlich machte; Pol. 30,13,9. 485 Diesen Aspekt übersieht nicht nur Champion 2007: „Taking into account Polybius’s impassioned hatred of Callicrates, we may well doubt the veracity of the most extreme allegations against the Achaean politician, but Callicrates’ complete submission to Roman authority stands“ (259). 486 Viel später sollte Plutarch betonen, dass die Römer dafür bekannt seien, ihren Freunden stets Unterstützung zu gewähren (Mor. 814c), doch um 180 gab es gute Gründe, an der Zuverlässigkeit der Rückendeckung durch den faktischen Hegemon zu zweifeln. 487 Laut Livius, der hier höchstwahrscheinlich Polybios folgt, soll bereits Nabis gegenüber Flamininus konstatiert haben, die Römer würden Oligarchien wünschen: Paucos excellere opibus, plebem subiectam esse illis, vultis; Liv. 34,31,17. Grundlegend zur Transition von ‚königlichen‘ zu ‚römischen‘ φίλοι sind die Überlegungen bei Savalli-Lestrade 1998. Vgl. zum Verhältnis zwischen Königen und lokalen Eliten daneben auch den Überblick Dreyer – Weber 2011. Aus der Fülle an Publikationen zum hellenistischen Königtum seien hier nur Bringmann 1993, Ma 2003a, Strootman 2011, Gehrke 2013 und Wiemer 2017 herausgegriffen. Vgl. auch die knappe Skizze bei Thonemann 2018: 40–56. 488 Vgl. in diesem Sinne bereits Gruen 1984: „For the Hellenes, Roman behavior must have been past understanding. Long periods of inaction punctuated by bursts of massive intrusion rendered it incomprehensible“ (337). 489 Auch bei Pausanias wird Kallikrates – mutmaßlich im Anschluss an Polybios – sehr negativ beurteilt; Paus. 7,12,2. 490 Dieser Aspekt wird in der Forschung erstaunlicherweise oft übersehen; vgl. etwa die Diskussionen bei Deininger 1971: 138–143 und Gruen 1984: 497–499. In der Beurteilung des Kallikrates gehen die Forschungsmeinungen weit auseinander; vgl. Badian 1958: 90 f., Lehmann 1967: 294–297, Errington 1969: 203–205, Derow 1980 und Petzold 1999: 92 f. 491 Polybios konstatiert ausdrücklich, dass Rom schon in den Zeiten von Antiochos III. und Philipp V. als übermächtig (τῆς γὰρ Ῥωμαίων ὑπεροχῆς ἤδη) betrachtet worden sei; Pol. 24,11,3. Bereits Larsen 1935 formulierte daher pointiert: „If Greece was free, she was free only to conduct her affairs as Rome desired“ (209). Deininger 1971: 201 f. verteidigt dementsprechend Kallikrates, der ein fähiger Politiker gewesen sei, der schlicht früher als andere erkannt habe, dass „jeder Widerstand gegen das übermächtige Rom von vornherein aussichtslos“ gewesen sei.

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Wenige Jahre später zeigte sich daher, wie berechtigt die Sorge der ‚Romfreunde‘ war. Zu den griechischen Gemeinwesen, die im Kontext der römischen Auseinandersetzungen mit den hellenistischen Monarchien eine massive Destabilisierung erlebten, gehörte nach der Niederlage im Antiochoskrieg allen voran der Aitolische Bund.492 Dieser scheint nach dem Friedensschluss ins Chaos gestürzt zu sein,493 und einen traurigen Höhepunkt erreichte die Entwicklung um 174 mit einer blutigen Eskalation in der Polis Hypata,494 die Livius ebenso knapp wie eindringlich schildert,495 weshalb er hier wörtlich zitiert sei: Per haec tempora Aetolorum in semet ipsos versus furor mutuis caedibus ad internecionem adducturus videbatur gentem. Fessi deinde et Romam utraque pars miserunt legatos et inter se ipsi de reconcilianda concordia agebant; quae novo facinore discussa res veteres etiam iras excitavit. Exulibus Hypataeis, qui factionis Proxeni erant, cum reditus in patriam promissus esset fidesque data per principem civitatis Eupolemum, octoginta inlustres homines, quibus redeuntibus inter ceteram multitudinem Eupolemus etiam obvius exierat, cum salutatione benigna excepti essent dextraeque datae, ingredientes portam, fidem datam deosque testis nequiquam invocantes interfecti sunt. Unterdessen schien der Furor der Aitoler, die sich nun gegen sich selbst wandten, ihr ganzes Geschlecht durch gegenseitiges Morden auslöschen zu wollen. Erschöpft schickten schließlich beide Parteiungen Gesandte nach Rom, während sie zugleich auch untereinander Verhandlungen über die Wiederherstellung der Eintracht führten, ein Vorhaben, das sich allerdings angesichts einer neuen Gräueltat zerschlug, die die alte Erbitterung weckte: Den Verbannten aus Hypata, die zur Parteiung des Proxenos gehörten, war die Rückkehr in ihre Heimatstadt versprochen worden, und der princeps civitatis, Eupolemos, hatte ihnen diesbezüglich sein Ehrenwort gegeben. 80 hochangesehene Männer, denen mit der übrigen Menge auch Eupolemos entgegenkam, empfing man mit freundlichem Willkommen und dem gebotenen Handschlag. Doch als sie durch das Tor traten, wurden sie, unter vergeblichen Berufungen auf das gegebene Wort und auf die als Zeugen angerufenen Götter, niedergemacht.

Beide Protagonisten waren ehemalige στρατηγοί des Aitolischen Bundes – Proxenos hatte das Amt 183/2 innegehabt, sein Rivale Eupolemos 188/7 und 176/5 – und gehörten mithin zur sozialen und politischen Elite.496 Offensichtlich galt dies auch für die 80 492 Vgl. Grainger 1999: 499–531. 493 Laut Polybios war es allerdings bereits einige Jahre zuvor bei den Aitolern zu einer Schuldenkrise gekommen: ὅτι Αἰτωλοὶ διά τε τὴν συνέχειαν τῶν πολέμων καὶ διὰ τὴν πολυτέλειαν τῶν βίων ἔλαθον οὐ μόνον ἄλλους, ἀλλὰ καὶ σφᾶς αὐτοὺς κατάχρεοι γενηθέντες; Pol. 13,1,1. Man habe daraufhin Skopas und Dorimachos zu Nomographen bestimmt, die gerade deshalb für die Aufgabe geeignet zu sein schienen, weil sie selbst hoch verschuldet gewesen seien. Da zumindest Skopas als ehemaliger Bundesfeldherr zweifellos der Oberschicht angehörte und Polybios ja überdies einen ausschweifenden Lebenswandel für die Probleme verantwortlich macht, hat es sehr den Anschein, dass sowohl Schuldner als auch Gläubiger zur Elite zählten. Skopas und Dorimachos scheiterten allerdings am Widerstand einer Gruppe um Alexandros (Pol. 13,1a,1–3), so dass die Spannungen fortbestanden. 494 Vgl. Deininger 1971: 151, Seibert 1979: 209 und Gray 2015: 235 f. 495 Liv. 41,25,1–4. 496 Vgl. Grainger 1999, der zugleich konstatiert, „the problem at Hypata would seem to be local to that city, for Eupolemos is identified as a man of Hypata, not as strategos, or as a league official“ (512).

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inlustres homines, die in Proxenos’ Abwesenheit den Tod fanden, und dieser Umstand dürfte letztlich auch der Grund für das Massaker gewesen sein: Wirkliche Gewissheit lässt die dürftige Quellenlage zwar nicht zu, da Livius nicht auf die ökonomischen Implikationen eingeht; aber zu vermuten ist, dass sich Eupolemos und seine Anhänger mit einer ähnlichen Aporie konfrontiert sahen wie einst Aratos in Sikyon. Weder konnte man die permanente Bedrohung der Polis durch die Verbannten um Proxenos, der sich dank seiner eloquentia anscheinend römischer Unterstützung versichert hatte,497 tolerieren, noch war offensichtlich eine Reintegration der φυγάδες möglich. Denn auch wenn man durch die erwähnten Eidesleistungen auf Rache verzichtet haben sollte, muss die materielle Entschädigung der Rückkehrer schlicht zu kostspielig erschienen sein: Da diese inlustres ja augenscheinlich zur Oberschicht gehörten, dürfte es um erhebliche Besitztümer gegangen sein, die sich mittlerweile in anderer Hand befanden. Auch in Hypata standen also vermutlich Besitzfragen einer Befriedung im Weg.498 Und weil sich, anders als seinerzeit in Sikyon, diesmal kein monarchischer Euerget fand,499 sah man sich offenbar gezwungen, das Verbanntenproblem auf die von Livius geschilderte Weise zu lösen. Bemerkenswert ist dabei, dass Proxenos’ Anhänger ihren Feinden überhaupt in die Falle gingen; am wahrscheinlichsten dürfte sein, dass sie geglaubt hatten, durch die Anlehnung an Rom geschützt zu sein. Eupolemos allerdings konnte die Früchte dieses krassen Tabubruchs nicht lange genießen. Als der Senat seine Legionen gegen Perseus in Marsch setzte, fiel es Eupolemos’ Widersacher im Bund, Lykiskos, angesichts der Vorgeschichte nicht schwer, ihn 171 als ‚Romfeind‘ zu denunzieren und gemeinsam mit vier weiteren aitolischen principes nach Rom deportieren zu lassen.500 2.3.4 Staseis im Dritten Makedonischen Krieg Überhaupt scheint die Verquickung von inneren Konflikten und römischer Expansion, folgt man den literarischen Quellen, im Zusammenhang des Dritten Makedonischen Krieges ihren Höhepunkt erreicht zu haben.501 Ähnlich wie bereits im Zusammenhang 497 Vgl. Deininger 1971: 151. Laut Livius führte Proxenos nach dem Massaker den Konflikt mit seinen Feinden fort; in Delphi seien schließlich beide Seiten von einer römischen Gesandtschaft gehört worden, die eben im Begriff gewesen sei, Proxenos beizupflichten, als dieser aus ungenannten Gründen von seiner eigenen Frau Orthubala vergiftet worden sei; Liv. 41,25,5 f. 498 Vgl. zum Problem grundsätzlich Lonis 1991. 499 Beachtung verdient in diesem Zusammenhang allerdings die bemerkenswerte Behauptung (Liv. 42,12,7), die Aitoler hätten sich angesichts der Staseis, die sie plagten, zuerst an Perseus gewandt: Iam Aetolos quem ignorare in seditionibus suis non ab Romanis, sed a Perseo praesidium petisse? Vgl. Gruen 1984: 503 f. Appian (Maced. 11,1) erwähnt sogar vage Hilfeleistungen des letzten Antigoniden für die Aitoler; vgl. Grainger 1999: 515. 500 Pol. 28,4,5 f. 501 Vgl. zum Hintergrund Gruen 1984: 408–419 und 505–514, der annimmt, die Römer hätten Perseus zwar nicht gefürchtet und auch keinen Waffengang gewünscht, seien aber, als sich der König überraschend entschieden habe, ihren Forderungen nicht bedingungslos Folge zu leisten, gezwungen gewesen, ihren Worten Taten folgen zu lassen, um nicht das Gesicht zu verlieren: „When Perseus, hitherto compliant, was forced to choose, he chose resistance. And Rome had gone too far to retreat“ (419). Mommsen 1902:

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2. Die literarische Überlieferung

des Hannibalkrieges liefert Livius – sehr wahrscheinlich im Anschluss an Polybios – in einer berühmten Passage dabei eine allgemeine Skizze,502 die ein Schlaglicht auf die Verhältnisse in den Poleis am Vorabend des Perseuskrieges wirft: Principum diversa cerneres studia. Pars ita in Romanos effusi erant, ut auctoritatem inmodico favore corrumperent, pauci ex iis iustitia imperii Romani capti, plures ita, si praecipuam operam navassent, potentes sese in civitatibus suis futuros rati. Pars altera regiae adulationis erat; quosdam aes alienum et desperatio rerum suarum eodem manente statu praecipites ad novanda omnia agebat. Unter den Vornehmen ließen sich große Unterschiede in den Gesinnungen beobachten: Zum Teil waren sie den Römern derart ergeben, dass sie durch diese übertriebene Hinwendung ihrem eigenen Ansehen Schaden zufügten; nur wenige aber taten dies, weil sie die Gerechtigkeit der römischen Herrschaft bevorzugten, die meisten hingegen deshalb, weil sie sich in ihren Poleis künftig noch größere Macht versprachen, wenn sie sich als besonders dienstfertig erwiesen. Der andere Teil bestand aus Schmeichlern des Königs; aus jenen nämlich, die die Last ihrer Schulden oder die Hoffnungslosigkeit ihrer Angelegenheiten, wenn die Dinge blieben, wie sie waren, nach einem allgemeinen Umsturz streben ließen.

Livius fährt fort, indem er neben den ‚Romfreunden‘ – die, wie man zwischen den Zeilen lesen kann, aktuell die meisten Städte dominierten – und ihren Gegnern noch eine dritte Gruppe benennt, nämlich jene, die sich weder Römern noch Antigoniden hätten anschließen wollen, sondern gehofft hätten, im Spannungsfeld zwischen den beiden Mächten möglichst frei agieren und gegebenfalls die eine gegen die andere um Hilfe rufen zu können, statt sich unter der unbestrittenen Hegemonie einer Seite wiederzufinden.503 Dass Livius diese tertia pars der griechischen Eliten als optuma et prudentissima lobt, verrät dabei

762 erblickte in Perseus hingegen den Aggressor, der mit Hilfe einer „national-soziale[n] Partei“ versucht habe, die Römer aus Hellas zu verdrängen, worauf diese mit Krieg geantwortet hätten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Interpretationen nicht unterschätzen, wie sehr ein Teil der Nobilität die Auseinandersetzung herbeizuführen wünschte. Aktuelle Skizzen zu Vorgeschichte und Verlauf bieten Waterfield 2014: 165–197 und Grainger 2017: 213–219, deren Einschätzungen – insbesondere hinsichtlich der Motivation der Akteure – ich allerdings nicht immer teile. Vgl. zum Kriegsverlauf Meloni 1953: 211– 440, Will 1982: 270–301 und jetzt Burton 2017: 124–172. Zur Chronologie der Vorgeschichte vgl. Wiemer 2004 (bes. 34–37). Gut denkbar, aber nicht zu belegen, ist meines Erachtens, dass sich im Senat bereits seit der Kallikratesmission 180 die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass ein erneutes militärisches Eingreifen im Osten notwendig sei, da die bisherige römische Strategie, die Machtausübung an φίλοι zu delegieren, an ihre Grenzen stieß; in diesem Fall dürfte es eher darum gegangen sein, welcher nobilis den Krieg würde führen dürfen. 502 Liv. 42,30,1–4. Vgl. auch Liv. 45,31,4: Tria genera principum in civitatibus erant, duo, quae adulando aut Romanorum imperium aut amicitiam regum sibi privatim opes oppressis faciebant civitatibus; media una pars utrique generi adversa libertatem legesque tuebatur. Vgl. zu dieser Passage auch den Kommentar Briscoe 2012: 250–253. Vgl. überdies Rostovtzeff 1941: 611–615, Gruen 1976, Mendels 1978 und de Ste. Croix 1981: 518–529 (contra Gruen). 503 Liv. 42,30,5–7: Tertia pars, optuma eadem et prudentissima, si utique optio domini potioris daretur, sub Romanis quam sub rege malebat esse; si liberum in ea re arbitrium fortunae esset, neutram partem volebant potentiorem altera oppressa fieri, sed inlibatis potius viribus utriusque partis pacem ex aequo manere; ita inter utrasque optimam condicionem civitatium fore.

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wohl die Vorlage für die Passage;504 denn aus Sicht der Römer verdienten jene, die nicht bedingungslos auf ihrer Seite standen und ihren Sieg wünschten, schwerlich ein solches Lob. Vielmehr ist hier eine Position greifbar, die für Polybios charakteristisch ist.505 Vielsagend ist dabei die Schilderung der ‚Romfeinde‘ als „verzweifelte“ und unterlegene Gruppe.506 Denn tatsächlich kann man die hier beschriebene Dreiteilung der griechischen Eliten in extreme Romfreunde, Romfeinde und tertia pars auch anders interpretieren, als dies zumeist geschieht: Gut denkbar ist nämlich, dass fast alle Kontrahenten zunächst versuchten, sich im Rahmen innerer Konflikte an Rom anzulehnen, das seine militärische Überlegenheit ja bereits wiederholt unter Beweis gestellt hatte und daher in den Augen der meisten die beste Wahl gewesen sein muss. Sobald aber einer Gruppe dies gelungen war, blieben ihren Feinden, wollten sie sich nicht in ihr Schicksal fügen, nur noch zwei Optionen: Entweder man setzte notgedrungen auf die Makedonen, oder man hoffte angesichts der oft genug widersprüchlichen Politik des Senats weiterhin darauf, die Römer doch noch davon zu überzeugen, dass man selbst der bessere Verbündete sei – dies wäre zumindest eine nüchterne Erklärung für die Existenz der livianischen tertia pars, die ohne Rekurs auf griechischen Patriotismus auskäme: Trifft sie zu, so handelte es sich bei dieser Gruppe also nicht etwa um Neutrale, sondern vielfach um Griechen, die schlicht weniger erfolgreich als andere darin gewesen waren, φίλοι der Römer zu werden, und daher Männer wie Kallikrates für Sykophanten hielten. Erheblich verkompliziert wurde ihre Lage dabei durch den Umstand, dass man es nicht mit einer Monarchie zu tun hatte: Wer sprach überhaupt für Rom? Mit wem musste man sich gutstellen, um ein Freund der Römischen Republik zu sein? Und konnte man darauf setzen, dass diese nobiles eine in sich konsistente, berechenbare Politik verfolgen würden? Galten für die römische Oberschicht dieselben Normen wie für die griechische? Betrachtet man die weitere Schilderung der Ereignisse in den Quellen, so bestätigt sich die Vermutung, dass man in Hellas vor allem darum rang, wem es gelingen würde, sich erfolgreich als Freund der Römer zu positionieren: In Akarnanien und Aitolien kam es laut Polybios früh zu heftigen Unruhen.507 Obwohl es sich bei diesen Konflikten innerhalb von koina nicht um Staseis im engeren Sinne handelte,508 ist die Schilderung dennoch sehr instruktiv, da nichts gegen die Annahme spricht, dass sich die hier auf Bundesebene beschriebenen Phänomene analog auch in vielen Poleis wiederfanden. 504 Dass Livius hier sehr eng an Polybios anschließt, steht nahezu außer Zweifel; vgl. bereits Deininger 1971: 161. 505 Vgl. etwa Pol. 1,83,3 f. 506 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Nachricht, Appius Claudius habe im Jahr 173, also im Vorfeld des Krieges, zugunsten von Schuldnern in Thessalien eingegriffen; Liv. 42,5,8–10. Dies sollte davor warnen, der pauschalen Behauptung, jene, die sich in ökonomischen Schwierigkeiten befanden, hätten es grundsätzlich mit Perseus gehalten, allzu viel Gewicht beizumessen. 507 Eine berühmte, stark beschädigte Inschrift, die nach 171 in Delphi errichtet wurde und offenbar ein römisches Schreiben mit Vorwürfen gegen Perseus wiedergibt, gibt die Schuld an diesen Vorgängen dem makedonischen König, der „Umstürze betrieben“ (νεωτερισμοὺς ἐποίει) habe; Syll.3 643 (FdD III 4,75). Vgl. auch Champion 2007: 263. 508 Eine sehr gute aktuelle Zusammenfassung des Forschungsstandes zu den griechischen Bundesstaaten bieten Beck – Funke 2015.

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2. Die literarische Überlieferung

Mindestens aber bieten sie Aufschluss darüber, wie die Vorgänge durch einen hellenistischen Autor wie Polybios interpretiert wurden. Dabei fällt die entscheidende Rolle eindeutig rivalisierenden Angehörigen der Elite zu: Gegenüber den Gesandten des Senats habe man während der aitolischen Bundesversammlung in Thermos 170 offen darum gewetteifert, sich selbst als vorbildlichen Freund, seine jeweiligen Gegner hingegen als Feinde der Römer zu präsentieren.509 So habe sich etwa Proandros verzweifelt gegen die Unterstellung gewehrt, ein ‚Romfeind‘ zu sein, die lediglich auf Verleumdungen zurückgehe, während der prominente ‚Romfreund‘ Lykiskos gefordert habe, sicherheitshalber weitere ‚Romfeinde‘ entweder zu verbannen oder zumindest zur Stellung von Geiseln zu nötigen – übrigens ein wichtiger Beleg dafür, dass Geiseln wohl häufig nicht von der gesamten Bürgerschaft, sondern von den Gegnern einer bestimmten Parteiung gestellt wurden. Einer der von Lykiskos indirekt Angegriffenen, Pantaleon, habe daraufhin ebenso wie zuvor Proandros versucht, sich gegen den Vorwurf, ein Feind der Römer zu sein, zu verteidigen; bemerkenswerterweise soll er dies laut Polybios aber getan haben, indem er angab, die Ursache sei, dass sein Ankläger Thoas mit ihm verfeindet sei, obwohl (oder weil?) er einst seine Freilassung durch die Römer erwirkt habe.510 Thoas habe nichts darauf erwidern können, da er aus der Menge mit Steinen beworfen worden sei. In ganz Aitolien sei es anschließend erneut zu Misstrauen und Unruhen (ταραχαί) gekommen: τὰ δὲ κατὰ τὴν Αἰτωλίαν ἐν ὑποψίαις ἦν πρὸς ἀλλήλους καὶ ταραχαῖς ὁλοσχερέσιν.511 Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich auch aus der polybianischen Schilderung der Verhältnisse im Akarnanischen Bund,512 wo Glaukos, Aischrion und Chremas darum gebeten hätten, römische Garnisonen in die Poleis zu legen, um so die φίλοι Roms vor ihren inneren Feinden zu beschützen, da diese mit Makedonien verbündet seien und die Städte in die Hände des Königs spielen wollten.513 Die Bundesversammlung in Tyrrheion habe allerdings keinen entsprechenden Beschluss gefasst, da ein gewisser Diogenes argumentiert habe, nur unfreie, eroberte Städte müssten Besatzungstruppen beherbergen,514 und Glaukos und Chremas überdies vorgeworfen habe, sie würden ihre persönlichen Feinde aus eigensüchtigen Motiven als ‚Perseusfreunde‘ verleumden, während sie in Wahrheit lediglich mit römischer Hilfe die Macht über ihre Mitbürger erlangen wollten.515 Livius

509 Pol. 28,4,3–12. Vgl. Deininger 1971: 170–172, der den Konflikt allerdings als Auseinandersetzung zwischen ‚Romfreunden‘ und ‚Romfeinden‘ interpretiert. 510 Pol. 28,4,10 f.; vgl. Diod. 29,31. 511 Pol. 28,4,13. 512 Vgl. Deininger 1971: 175 f. 513 Vgl. zu den Konflikten im Akarnanischen Bund Dany 1999: 221–230, der sozioökonomische Ursachen zwar nicht ausschließen möchte, aber zugleich mit Recht feststellt, dass es sich nicht um die „typische Frontstellung zwischen Oligarchen und Demokraten“ gehandelt habe, sondern um Auseinandersetzungen in der Oberschicht. Vgl. allgemein zum Arkananischen Koinon auch die konzise Einführung Freitag 2015. 514 Wahrscheinlich handelte es sich sowohl bei Aischrion als auch bei Diogenes um Angehörige von Familien, die bereits seit mehreren Generationen zur Elite gehörten; vgl. Dany 1999: 274. 515 Pol. 28,5,1–5. Gruen 1984: 511 spricht davon, die ‚Romfreunde‘ hätten mit der Bitte um römische Truppen exzessive „sycophancy“ an den Tag gelegt; dies scheint mir nicht hinreichend zu betonen, dass es um viel

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interpretiert die Vorgänge in seiner knappen Zusammenfassung folgerichtig als Parteienstreit: Ibi quoque inter factiones erat certamen.516 Und schließlich bot sich ein ähnliches Bild auch im Achaiischen Bund,517 wobei allerdings zu beachten ist, dass Polybios und sein Vater Lykortas an den Ereignissen persönlich und in prominenter Rolle beteiligt waren.518 Wie kaum anders zu erwarten, schildert Polybios dabei eine Dreiteilung der Elite: Angeblich plädierte Lykortas dafür, eine neutrale Stellung zwischen Römern und Antigoniden einzunehmen, da man als Grieche weder den Sieg der einen noch der anderen Seite wünschen könne;519 trifft dies tatsächlich zu, so verkannte er offenbar die politischen Realitäten, die Unparteilichkeit gegenüber Rom längst nicht mehr erlaubten. Wahrscheinlicher ist aber wohl, dass es sich um eine Spitze gegen die ‚Romfreunde‘ handelte. Zum anderen habe es, so der polybianische Bericht, Politiker wie Apollonidas und Stratios gegeben, die bezeichnenderweise nicht etwa gegen die Römer, sondern gegen deren φίλοι hätten vorgehen wollen.520 Und drittens hätten Archon, Arkesilaos, Ariston und Xenon sowie Polybios selbst sich erfolgreich dafür eingesetzt, gemeinsame Sache mit Römern und Attaliden zu machen.521 Gegen den Versuch, sich mit letzteren zu verbünden und die Ehrungen für Eumenes II., die diesem zuvor entzogen worden waren, wiederherzustellen, gab es allerdings erheblichen Widerstand, den Polybios ausdrücklich auf persönliche Feindschaften und Eifersucht gegenüber den achaiischen ‚Attalidenfreunden‘ zurückführt. Es hat den Anschein, als habe man dabei angesichts der römischen Übermacht versucht, stellvertretend gegen Eumenes zu agitieren, mit dem man sich um den Besitz von Aigina stritt.522 Aber auch die Konflikte innerhalb mehrerer Einzelpoleis, die im Zusammenhang des Perseuskrieges offen ausbrachen bzw. sichtbar wurden, sind literarisch bezeugt und stützen die Annahme, dass diese Auseinandersetzungen strukturell jenen in den koina glichen, mit denen sie wohl ohnehin oft verzahnt waren.523 Besonders instabil zeigte sich insbesondere Theben, wo 173 zunächst eine Gruppe um den eben erst gewählten Boiotarchen Ismenias von ihren Gegnern verbannt wurde, nach einem Umsturz, über den Livius leider nichts Genaueres berichtet, aber in ihre Polis zurückkehrte und nun ihrerseits zwölf ihrer Feinde ins Exil schickte; etwas später ließ Ismenias sie in Abwesenheit zum Tode verurteilen.524 Der livianische Bericht illustriert dabei erneut anschaulich, wie

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mehr ging als nur um bloße Schmeichelei, sondern um handfeste militärische Unterstützung gegen die inneren Gegner. Liv. 43,17,7. Vgl. Bastini 1987: 130–134. Vgl. zum biographischen Hintergrund zuletzt Dreyer 2011: 7–22. Pol. 28,6,3 f. ὁ δ᾽ Ἀπολλωνίδας καὶ Στρατίος ἀντιπράττειν μὲν ἐπίτηδες Ῥωμαίοις οὐκ ᾤοντο δεῖν: τοὺς δ᾽ ὑπερκυβιστῶντας καὶ διὰ τῶν κοινῶν πραγμάτων ἰδίαν χάριν ἀποτιθεμένους παρὰ Ῥωμαίοις καὶ τοῦτο πράττοντας παρὰ τοὺς νόμους καὶ παρὰ τὸ κοινῇ συμφέρον, τούτους ἔφασαν δεῖν κωλύειν καὶ πρὸς τούτους ἀντοφθαλμεῖν εὐγενῶς; Pol. 28,6,6. Pol. 28,6,7 f. Pol. 28,7,2–15. Vgl. zur damaligen Lage auch Will 1982: 264–267. Liv. 42,43,7 f. Gruen 1984: 513 betont mit Recht, dass die Konflikte in Theben bereits vor dem Krieg existierten und nun lediglich eine neue Eskalationsstufe erreichten.

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2. Die literarische Überlieferung

problematisch Zuweisungen wie „Romfreund“ sind, denn sowohl die Verbannten als auch Ismenias versuchten im Anschluss, sich an die Römer anzulehnen: Die Exilanten klagten Ismenias an, er habe ein Bündnis mit Perseus zu verantworten,525 während der Boiotarch seinerseits darum warb, alle Poleis Boiotiens unter römischen Schutz zu stellen; er entging daraufhin angeblich nur knapp der Steinigung durch die Anhänger der φυγάδες.526 Man kann sich ausgehend von der livianischen Schilderung schwer des Eindrucks erwehren, dass auch hier unterschiedliche Parteiungen verzweifelt versuchten, sich jeweils als die wahren φίλοι der Römer zu inszenieren.527 Die daraus resultierende politische Lähmung Boiotiens und die faktische Selbstauflösung des Bundes sollen diesen dabei übrigens hochwillkommen gewesen sein.528 In Theben selbst sortierten sich die Fronten, folgt man Polybios, derweil relativ zügig entlang der Dichotomie ‚Romfreunde‘ und ‚Makedonenfreunde‘.529 Offensichtlich kam es nun zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Parteiungen: κατὰ δὲ τὸν καιρὸν τοῦτον ἐν ταῖς Θήβαις συνέβαινε ταραχὰς εἶναι καὶ στάσεις.530 Ob es Todesopfer gab, berichtet Polybios nicht. Es ist aber anzunehmen. Zunächst habe jedenfalls keine Seite die Oberhand gewinnen können, doch dann sei ein gewisser Olympichos mit seinen Anhängern zu den ‚Romfreunden‘ übergetreten und habe dieser Parteiung so zum Sieg verholfen.531 Neon und Hippias, die einst das Bündnis mit Perseus ausgehandelt hatten, wurden verbannt, und man beschloss, ein foedus mit Rom anzustreben und Verbannte zurückzurufen. Ismenias, der nun offenbar als ‚Romfeind‘ galt, und Diketas wurden inhaftiert und nahmen sich das Leben. Neon gelang die Flucht nach Makedonien.532 Als C. Lucretius Gallus Ende 171 Thisbe besetzte, wo sich 173/2 ebenso wie in Koroneia und Haliartos die ‚Romfeinde‘ durchgesetzt hatten,533 führte er laut Livius zuvor verbannte ‚Romfreunde‘ (qui Romanorum partio erant) zurück in die Stadt und ließ die Familien der ‚Perseusfreunde‘ in die Sklaverei verkaufen: Adversae factionis hominum fautorumque regis ac Macedonum familias sub corona vendidit.534 Beachtung verdient dabei die eigentlich tautologisch anmutende Differenzierung zwischen jenen, die zur gegneri525 Liv. 42,43,9 f. 526 Liv. 42,44,2. 527 Völlig unklar ist, soweit ich sehe, wann das besagte Bündnis mit Perseus geschlossen worden war. Deininger (1971: 153) vermutet einen Abschluss ca. 174/3. Dies ist nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich: Wenn man berücksichtigt, wie sehr die Mehrheit der Oberschicht Boiotiens offensichtlich darum bemüht war, sich an die Römer anzuschließen, die man offenbar für militärisch weit überlegen hielt, so liegt die Vermutung nahe, dass das Bündnis mit Makedonien geschlossen wurde, bevor für die Beteiligten erkennbar war, dass Rom sich auf einen Krieg vorbereitete und einen Vertrag mit Perseus daher als unfreundlichen Akt betrachten würde – am ehesten also bereits um 179/8, als der Antigonide gerade die amicitia mit den Römern erneuert hatte (Pol. 25,3,1) und eine Charmeoffensive gegenüber Griechenland begann (Pol. 25,3,2–4). 528 Pol. 27,2,7 f.; Liv. 42,44,6. Zur Auflösung des Bundes vgl. Müller 2007 und Müller 2014. 529 Vgl. Walbank 1979: 290–294. 530 Pol. 27,1,7. 531 Pol. 27,1,9. 532 Pol. 27,2,9. Er wurde später von den Römern exekutiert. 533 Pol. 27,5,3 f. Vgl. zum Verhalten dieser drei Poleis Müller 1996. 534 Liv. 42,63,12. Sowohl bei Polybios als auch (wohl als Folge hiervon) bei Livius wird in den Handschriften (und in einigen Editionen) Theben mit Thisbe verwechselt; vgl. Deininger 1971: 165.

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schen factio gehört hätten, und den Anhängern (fautores) des makedonischen Königs – der Verdacht liegt nahe, dass sich dahinter eine Unterscheidung zwischen tatsächlich exponierten ‚Romfeinden‘ und weiteren Personen, denen man im Grunde außer ihrer privaten Feindschaft mit den zurückgeführten Verbannten nichts Konkretes vorwerfen konnte, verbirgt, doch muss dies letztlich hypothetisch bleiben. Grundsätzlich allerdings ist es im Falle von Thisbe möglich, die literarische Tradition mit der epigraphischen Überlieferung abzugleichen, denn ein inschriftlich erhaltenes senatus consultum vom 9. Oktober 170 regelt die Rückführung der φυγάδες und bestätigt,535 dass die Römer in Thisbe genau zwischen ‚Freunden‘ und ‚Feinden‘ unterschieden und Erstere massiv protegierten: Die heimgeführten Verbannten erhielten nicht nur ihren Besitz zurück, sondern ihnen wurde unter anderem gestattet, die Burg (ἄκρα) zu befestigen und sich dort niederzulassen;536 den von Lucretius zurückgeführten φίλοι537 der Römer wurde überdies für zehn Jahre die Kontrolle über die wesentlichen Ämter und Priestertümer der Polis gegeben;538 augenscheinlich etablierte man also eine vollkommen unverhüllte Oligarchie.539 Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie wichtig es für griechische Politiker war, sich um jeden Preis gut mit den Römern zu stellen, so hätte Thisbe ihn geliefert: Rom machte seine Freunde zu Herren und seine – oder vielmehr: ihre – Feinde zu Sklaven.540 Denn das Interpretationsangebot, das man den Römern machte, nahmen diese an: Aus einer Stasis wurde so ein Konflikt zwischen Freunden und Feinden Roms. Neben Boiotien berichten die literarischen Quellen im Kontext des Dritten Makedonischen Krieges sodann auch über heftige Konflikte in Epeiros,541 wo sich Charops 535 IG VII 2225 (vgl. Syll.3 646). Vgl. Schmidt 1881, Foucart 1906 und Deininger 1971: 166 f. 536 IG VII 2225, Z. 25–30. 537 Der Beschluss unterscheidet dabei zwischen jenen, die allgemein als Romfreunde galten, sowie einem „harten Kern“, nämlich den zurückgeführten φυγάδες; vgl. auch Gehrke 1993: 149. 538 Walsh 2000: 302 vermutet unter Verweis auf IG VII 1709, dass es in Thisbe zuvor eine Agrarkrise nebst Getreideknappheit gegeben habe, die zu den Konflikten, die er als „class struggle“ deutet, beigetragen habe. Das ist möglich, aber kaum zu beweisen. 539 οἵτινες εἰς τὴν φιλίαν τὴν ἡμετέραν πρὸ τοῦ ἢ Γάϊος Λοκρέτιος τὸ στρατόπεδον πρὸς τὴν πόλιν Θίσβας προσήγα γεν, ὅπως οὗτοι ἔτη δέκα τ[ὰ] ἔγγιστα κυριεύωσιν (Z. 22–24). Augenscheinlich sah man es im Senat in diesem Zusammenhang nicht als sonderlich problematisch an, dass man den Perseuskrieg in gut hellenistischer Tradition im Namen der griechischen Freiheit begonnen hatte; vgl. Liv. 43,8,6. Denn Römer und Könige verstanden unter „Freiheit“ in Hinsicht auf die Hellenen augenscheinlich sehr ähnliche Dinge. Erinnert sei etwa an Antiochos III. und seine vielsagende Forderung, die Poleis Kleinasiens müssten ihre „Freiheit“ ihm verdanken und nicht den Römern: τὰς δ᾽ αὐτονόμους τῶν κατὰ τὴν Ἀσίαν πόλεων οὐ διὰ τῆς Ῥωμαίων ἐπιταγῆς δέον εἶναι τυγχάνειν τῆς ἐλευθερίας, ἀλλὰ διὰ τῆς αὑτοῦ χάριτος; Pol. 18,51,9. Vgl. App. Syr. 3. Und 190 versprachen dann L. Scipio (cos. 190) und P. Scipio (cos. 194) in einem inschriftlich erhaltenen Schreiben der Polis Herakleia am Latmos die Freiheit, nur um wenige Zeilen später die Ankunft römischer Truppen unter dem Kommando des L. Orbius anzukündigen (Syll.3 618). Vgl. auch Mastrocinque 1976a. 540 Vgl. zur Beziehung zwischen Thisbe und Rom insbesondere Gehrke 1993: 150–154, der herausarbeitet, wie es in der Folgezeit gelungen sei, in der Polis eine lokale, loyal zu den Römern stehende Elite zu etablieren, die einen ausgeprägt aristokratischen Habitus entwickelt habe und von Rom auch ökonomisch gefördert worden sei. Vgl. Gehrke 1993: „In mancher Hinsicht sind die Römer hier also nicht anders verfahren als eine griechische Großmacht. Die Differenz liegt […] in ihrer erdrückenden und konkurrenzlosen Machtposition“ (150). 541 Vgl. Deininger 1971: 173–175 und Gruen 1984: 512 f.

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der Jüngere erfolgreich als Protagonist einer ostentativ prorömischen Gruppierung profiliert haben soll, indem er seine Rivalen in der Oberschicht, ἐπιφανεῖς ἄνδρες wie insbesondere Kephalos, bei den Römern angeschwärzt und sie erst damit, wie Polybios ausdrücklich anmerkt, gegen ihren Willen in die Arme des makedonischen Königs getrieben habe.542 Ein Versuch dieser Parteiung, A. Hostilius Mancinus (cos. 170) zu ergreifen und an Perseus auszuliefern, sei allerdings gescheitert; wenn der polybianische Bericht hier zutrifft, dürfte es sich ohnehin um eine Verzweiflungstat derer gehandelt haben, die im Wettstreit um die römische Gunst unterlegen waren. Auf Kos scheint es derweil zu Konflikten gekommen zu sein, über die aber nicht mehr bekannt ist als der Name von zwei prominenten ‚Perseusfreunden‘, den Brüdern Hippokritos und Diomedon, deren Partei sich laut Polybios nicht durchzusetzen vermochte.543 Auf Rhodos schließlich scheint sich, folgt man den Quellen, durch das attalidische Bündnis mit Rom eine etwas kompliziertere Lage ergeben zu haben, denn Pergamon war seit langem ein Rivale der Polis.544 Wie sehr die rhodischen φίλοι der Römer, namentlich Agathagetos, Stratokles, Rhodophon, Philophron, Theaidetos, Hagesilochos und Astymedes, die den Senat unverzüglich mit einer Flotte unterstützen wollten, dennoch die Oberhand hatten, verdeutlicht der polybianische Bericht: Als ein Schreiben des Lucretius eintraf, das um die Entsendung von Schiffen bat, scheint eine Gegenpartei, angeführt von zwei Männern namens Deinon und Polyaratos, die Authentizität des Briefes angezweifelt zu haben. Offenbar versuchte man, ihn stattdessen als attalidisches Fabrikat zu entlarven, durch das Eumenes II. Rhodos und Perseus aufeinander hetzen wolle.545 Polybios behauptet zwar, es sei Deinon und Polyaratos vollkommen bewusst gewesen, dass das Schreiben tatsächlich von Lucretius gestammt habe, doch muss man dem Historiker hier nicht unbedingt folgen; denn während er behauptet, die beiden ‚Romfeinde‘ hätten ökonomische Motive dafür gehabt, sich an Perseus anzulehnen,546 bleibt er doch zugleich – zumindest in den erhaltenen Fragmenten – eine Begründung dafür schuldig, wieso die beiden Politiker hätten hoffen sollen, den Demos durch die Behauptung, der Brief sei gefälscht, für die Makedonen gewinnen zu können. Ob man zu diesem Zeitpunkt mit Polybios wirklich schon von ‚Perseusfreunden‘ auf Rhodos

542 Pol. 27,15,1–16; vgl. Walbank 1979: 313–316. 543 Pol. 30,7,10. Die Kos betreffenden Passagen sind weder bei Polybios noch bei Livius überliefert. Vgl. Habicht 1986, der anhand des epigraphischen Befundes nachweisen kann, dass die beiden Brüder Söhne des Zmendron und Enkel des Diomedon waren. Die Familie war prominent und gehörte zu den wichtigsten auf der Insel. 544 Vgl. auch Liv. 42,14,6. 545 Vgl. zu den Vorgängen zuletzt (mit teils abweichender Interpretation) Burton 2011: 278–294, der meines Erachtens allerdings die Bedeutung der Konflikte im römischen Senat für die Entwicklung der Ereignisse unterschätzt. 546 Beide gehörten offensichtlich zur Oberschicht; Polybios lässt sich so verstehen, dass Deinon die Freundschaft von Königen gesucht hatte, was ihn als lokal bedeutende Gestalt kennzeichnet; Polyaratos hingegen scheint sich als Euerget betätigt und dadurch hoch verschuldet zu haben; vgl. Pol. 27,7,12. Augenscheinlich hatten also beide Aristokraten auf unterschiedliche Weise versucht, mit der dominierenden Gruppierung in der Polis zu konkurrieren.

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sprechen kann, ist daher zumindest ungewiss.547 Ein tatsächliches römisches Ersuchen abzulehnen, zog offenbar niemand in Erwägung. Plausibler erscheint daher die Lesart, dass Deinon und Polyaratos schlicht versuchten, das übermächtige Rom aus der Gleichung zu nehmen und die mit ihnen verfeindete Gruppierung stattdessen als ‚Attalidenfreunde‘ zu denunzieren. Die Parallelen zu den Vorgängen in Achaia, wo man ja Ähnliches versucht hatte, stechen dabei ins Auge. Doch das Vorhaben missglückte, und der Prytane Stratokles konnte das Volk dazu bewegen, die von Lucretius gewünschten Schiffe zu entsenden.548 Livius ergänzt, dass die Polis Perseus zwar nicht den Krieg erklärt, ihm aber für den Fall eines Konfliktes mit den Römern jegliche Unterstützung verweigert habe.549 Dass dieser Sieg der ‚Romfreunde‘ auf Rhodos nicht vollständig war, zeigte sich wahrscheinlich bald nach den überraschenden militärischen Erfolgen der Antigoniden in der Anfangsphase des Krieges mit Rom. Polybios berichtet, nun seien in vielen Poleis jene hervorgetreten, die ihre Hoffnungen auf Perseus setzten – wobei er den Konflikt zwischen Rom und Makedonien bezeichnenderweise mit einem Kampf zwischen zwei sehr ungleichen Boxkämpfern vergleicht, in dem der Unterlegene sich überraschend gut schlägt und daher die Sympathie der Zuschauer auf sich zieht.550 Aller Wahrscheinlichkeit nach gehörte auch Rhodos zu diesen Orten, denn wenig später berichtet der Geschichtsschreiber von einer Stasis auf der Insel.551 Ihm zufolge traten Deinon und Polyaratos nun offen für einen Frieden mit Perseus ein,552 und dass sie den ‚Romfreunden‘ dabei längerfristig die Stirn bieten konnten, kann man wohl als Indiz dafür deuten, dass sie von genügend Bürgern unterstützt wurden, die die Dominanz der Gruppierung um Agathagetos und Philophron ablehnten. Keine Seite konnte sich durchsetzen, und laut Polybios war die Stasis heftig genug, um gewissen Personen – mutmaßlich im römischen Senat – Anlass zu bieten, die Loyalität der Polis in Frage zu stellen, was die alarmierten Rhodier wiederum dazu nötigte, eine Gesandtschaft nach Rom zu entsenden.553 Dass dies ungeachtet der inneren Wirren möglich war, ist erstaunlich und kann eigentlich nur zweierlei bedeuten: Entweder kontrollierten die ‚Romfreunde‘ nach wie vor die entscheidenden 547 Vgl. zu Rhodos und Perseus zuletzt die ausführliche Diskussion bei Dmitriev 2011: 283–314, dessen Hauptthese – „The Rhodians came out in defense of Greek freedom“ (310) – ich allerdings nicht folgen kann. 548 Pol. 27,7,2–14; vgl. Walbank 1979: 301–305. Bereits zuvor hatte man auf Anweisung des Prytanen Hagesilochos eine Flotte ausgerüstet und den erfreuten Römern angeboten; Pol. 27,3,3–5. 549 Liv. 42,46,5 f. 550 Pol. 27,9,1–5. Man mag hier einwenden, dass Polybios um den schließlichen Ausgang wusste und Perseus daher lediglich rückblickend als chancenlos schilderte; führt man sich allerdings die Entwicklungen vor 171 vor Augen, so spricht nichts gegen die Annahme, dass bereits den Zeitgenossen des Dritten Makedonischen Krieges bewusst war, dass alles für einen römischen Sieg sprach – vor allem die gewaltigen Ressourcen der res publica – und ein Bündnis mit den Antigoniden daher aus griechischer Sicht nur eine Notlösung darstellte. 551 ἐκφανέστατα γὰρ ἐδόκουν στασιάζειν ἐν τῇ Ῥόδῳ οἱ μὲν περὶ τὸν Ἀγαθάγητον καὶ Φιλόφρονα καὶ Ῥοδοφῶντα καὶ Θεαίδητον, ἀπερειδόμενοι πάσας τὰς ἐλπίδας ἐπὶ Ῥωμαίους, οἱ δὲ περὶ τὸν Δείνωνα καὶ Πολυάρατον ἐπὶ Περσέα καὶ Μακεδόνας; Pol. 28,2,3. 552 Vermutlich folgt Polybios hier einer rhodischen Quelle; vgl. Wiemer 2002: 306. 553 Pol. 28,2,1–4; vgl. Walbank 1979: 327 f.

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2. Die literarische Überlieferung

Institutionen, oder den angeblichen ‚Makedonenfreunden‘ war gleichfalls noch immer nicht an einem Konflikt mit den übermächtigen Römern gelegen.554 Polybios zufolge eskalierten die Streitigkeiten auf der Insel in der Folgezeit immer weiter: ὅτι ἐν τῇ Ῥόδῳ τὰ τῆς ἀντιπολιτείας αἰεὶ μᾶλλον ἐπέτεινεν.555 Als eine erneute rhodische Gesandtschaft im Senat unerwartet freundlich behandelt worden sei, habe die Gruppe um Deinon dies irrtümlich als Zeichen römischer Schwäche interpretiert. Vor allem aber habe nun einer der rhodischen Gesandten, Hagepolis, berichtet, er sei von Q. Marcius Philippus (cos. 169) persönlich dazu aufgefordert worden, eine Vermittlung zwischen Rom und Perseus in die Wege zu leiten.556 Folgt man Polybios, so führte dies auf Rhodos zu einem Umschwung, und etwas später, wohl im Frühjahr 168, stimmte die Volksversammlung dafür, einen Frieden zwischen Rom und Perseus zu vermitteln. Der Geschichtsschreiber führt dies darauf zurück, dass die ‚Perseusfreunde‘ die Stasis für sich hätten entscheiden können,557 und verurteilt die Insel scharf. Man muss sich der polybianischen Deutung der Ereignisse allerdings nicht unbedingt anschließen: Dass sich führende rhodische Politiker wissentlich und sehenden Auges gegen Rom gestellt haben sollten, ist ungeachtet der wenig erfolgreichen Kriegführung des Senats vor der Entsendung des Aemilius Paullus eher unwahrscheinlich. Dass Perseus Rom regelrecht besiegen würde, konnte auch Anfang 168 eigentlich kaum jemand in Griechenland ernsthaft erwarten, und gerade Rhodos hatte von der römischen Protektion so stark profitiert, dass kleinere militärische Rückschläge wohl nicht ausgereicht hätten, um sich von Rom zu distanzieren und seinen Zorn zu riskieren. Sehr viel weniger unwahrscheinlich ist daher, dass die für die Entscheidung verantwortlichen Rhodier tatsächlich annahmen, durch Marcius Philippus zur Vermittlung aufgefordert worden zu sein. Bemerkenswerterweise behauptet Polybios nirgends, dass Marcius Hagepolis gegenüber in Wahrheit nichts dergleichen geäußert habe.558 Vielmehr ist bezeichnend, dass ausgerechnet Hagepolis selbst nach dem Volksbeschluss erneut als Gesandter nach Rom ging; er scheint also tatsächlich angenommen zu ha554 Dmitriev 2011: 309 scheint am Kern der Sache vorbeizublicken, wenn er konstatiert, es habe sich zwar nicht notwendig um Perseusfreunde gehandelt, wohl aber um Rhodier, die eine römische Einmischung in ihre Angelegenheiten abgelehnt und sich geweigert hätten, sich Rom anzuschließen. 555 Pol. 28,16,1. Vgl. aber Gruen 1975, der Zweifel an der polybianischen Darstellung äußert, die mutmaßlich eine nachträgliche Konstruktion sei, um das Verhalten der Polis zu erklären. 556 Pol. 28,17,4. Vgl. zu Marcius Philippus auch Münzer 1930. 557 καὶ τὴν μὲν Ῥοδίων ἀντιπολιτείαν τοῦτον τὸν τρόπον ὡς ἐν τῷ περὶ δημηγορίας τέθειται διέκρινε τὸ διαβούλιον, ἐν ᾧ πλεῖον ἐφάνησαν ἰσχύοντες οἱ τὰ τοῦ Περσέως αἱρούμενοι τῶν σῴζειν σπουδαζόντων τὴν πατρίδα καὶ τοὺς νόμους; Pol. 29,10,2 f. 558 Auch Appian berichtet davon, dass Marcius die Rhodier gebeten habe, eine Vermittlung anzustreben; App. Maced. 17. Vgl. auch Wilcken 1893: 780, der annimmt, dass (H)agepolis tatsächlich von Marcius, laut Livius ein prominenter Vertreter der nova sapientia, aufgefordert worden war, einen entsprechenden Versuch zu unternehmen. Als historisch akzeptieren den polybianischen Bericht z. B. auch Petzold 1999: 64 f. und Rosenstein 2012: 222. Gruen 1975 nimmt hingegen an, dass es um eine Vermittlung zwischen Ptolemaiern und Seleukiden gegangen sei: „That Philippicus would ask the Rhodians to bring about a settlement of the Macedonian war seems hardly plausible“ (72). Polybios habe das römische Gesuch dann ex eventu uminterpretiert: „That questionable methodology is employed more than once by Polybius“ (74). Zweifel an der polybianischen Darstellung äußert im Anschluss hieran auch Burton 2011: 281 f. Vgl. auch Burton 2003: 362 (mit weiterer Literatur).

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ben, damit den Wünschen des Senats zu entsprechen. Mit einem Wort, daran, dass es sich bei Hagepolis um einen ‚Perseusfreund‘ gehandelt hat, der wissentlich gegen Roms Interessen agierte, sind zumindest erhebliche Zweifel erlaubt.559 Wahrscheinlicher ist, dass er den Charakter der römischen Außenpolitik schlicht nicht verstanden hatte und irrtümlich annahm, der Senat sei an einem Verhandlungsfrieden interessiert. Er und seine Unterstützer glaubten offenbar, sich auf diese Weise den Römern zu empfehlen; sie gehörten also, livianisch gesprochen, zur tertia pars.560 Es spricht daher nichts gegen die Vermutung, dass diese Rhodier hofften, durch ihre Vermittlungsmission letztlich einen Vorteil gegenüber den bisherigen ‚Romfreunden‘ zu erlangen bzw. diese zu ersetzen. Allem Anschein nach hatte Marcius Philippus die Rivalitäten und Konflikte innerhalb der rhodischen Elite ebenso virtuos wie skrupellos ausgenutzt.561 Nachdem aber der illyrische König Genthios von den Römern zu Perseus übergelaufen war und gemeinsam mit dem Antigoniden Gesandte nach Rhodos geschickt hatte, scheint sich die Gruppe um Deinon, folgt man Polybios, tatsächlich offen zu Perseus bekannt zu haben, während Roms φίλοι um Theaidetos zutiefst verunsichert waren.562 Nun scheint man auf der Insel einen makedonischen Sieg oder ein römisches Nachgeben tatsächlich für möglich gehalten zu haben und teilte Perseus und Genthios mit, man werde den Krieg in ihrem Sinne als Vermittler beilegen.563 Nicht ganz klar ist, ob 559 Ähnliches dürfte auch für Eumenes II. gelten, der vor 172 ohne jeden Zweifel als ‚Romfreund‘ par excellence aufgetreten war, gewiss keine Sympathien für Perseus hegte und offenbar ebenfalls in eine ähnliche Falle tappte wie die Rhodier, indem er annahm, durch eine Vermittlungsmission den Römern gefällig sein zu können; vgl. auch Eckstein 1988: 428 f. Bereits 169 scheint Prusias von Bithynien auf diese Weise in Ungnade gefallen zu sein; Liv. 44,14,5–7. Vgl. zur Historizität Eckstein 1988: 433–437. Die Position von Gruen 1975: 78 f. und Ager 1991: 33, die gnädige Aufnahme des unterwürfigen Königs im Senat Ende 167 belege, dass die Römer griechische Vermittlungsversuche nicht per se übelgenommen hätten, vermag nicht recht zu überzeugen; vgl. Scafuro 1987 (contra Eckstein 1988). Vgl. auch Kaščeev 1997: „Nicht ein einziges Mal gehörte Rom bei einer internationalen Gerichtsverhandlung zu einer der streitenden Seiten“ (428). 560 Vgl. auch Gruen 1975, der mit Recht betont, dass Hagepolis und die anderen rhodischen Gesandten, darunter Hagesilochos, keineswegs als ‚Romfeinde‘ gelten können: „The Rhodian mission of 168 does not represent the triumph of Anti-Romanism“ (76). Vgl. auch Gabrielsen 1997: 135 und Dmitriev 2011: 309. 561 Vieles spricht dafür, dass Hagepolis – und mit ihm Rhodos – das Opfer innerrömischer Ränke geworden ist. Marcius Philippus hatte zu jenen gezählt, die den Krieg gegen Makedonien besonders aktiv betrieben hatten, und war laut Livius sogar von einer Minderheit im Senat getadelt worden, weil er Perseus wider besseres Wissen vorgespiegelt hatte, es gebe noch Aussicht auf Frieden; Liv. 42,47,1–9. Vgl. Meloni 1953: 202 f. und Errington 1971: 210–212. Polybios liefert weitere Belege für Marcius’ Neigung, Unfrieden zu stiften; vgl. Pol. 28,13,7–14 und 29,25,2. Valerius Antias berichtete laut Livius, der Konsul habe überdies auch Konflikte im attalidischen Königshaus geschürt; Liv. 44,13,12 f. (vgl. auch Pol. 30,1,7 f.). Er könnte seinem Nachfolger Aemilius Paullus (vgl. Flaig 2000) den Sieg missgönnt und daher die rhodische Vermittlung angeregt haben. Angesichts seiner offenkundigen Neigung zur Intrige ist aber keineswegs ausgeschlossen und sogar wahrscheinlich, dass Marcius Hagepolis bewusst in die Irre führte, weil er so einen Feldzug gegen Rhodos herbeizuführen hoffte. Bereits Polybios erwägt diese Möglichkeit ausdrücklich und hält sie für plausibel; Pol. 28,17,7–9. Allerdings ist zu bedenken, dass ihm selbst daran gelegen war, Marcius als Intriganten darzustellen: 169 hatte er, angeblich auf Wunsch des Konsuls, verhindert, dass die Achaier Truppen an Appius Centho in Epeiros sandten, und sich damit innenpolitischen Angriffen ausgesetzt; Pol. 28,13,6–14. 562 Pol. 29,11,1–4. 563 Vgl. zum rhodischen Vermittlungsversuch allgemein Ager 1996: 327–336, die die relevanten Quellen versammelt (neben Livius und Polybios vor allem Diod. 20,46 und 20,81) und ähnlich wie Wiemer 2002: 317 annimmt, die Polis sei aus ökonomischen Gründen an einem Frieden zwischen Perseus und Rom

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den Rhodiern bereits zu diesem Zeitpunkt bewusst war, dass sie damit aus römischer Sicht hochverräterisch handelten, oder ob ihnen dies erst deutlich wurde, als ihren Gesandten in Rom und bei Aemilius Paullus – die Schlacht von Pydna stand unmittelbar bevor – laut Livius ein ausgesprochen unfreundlicher Empfang bereitet wurde.564 Als Hagepolis endlich in Rom eintraf565 und nach dem römischen Sieg sich und seine Friedensmission zu rechtfertigen suchte, wurde ihm jedenfalls unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Senatsmehrheit das Verhalten der Rhodier als Verrat auffasste – wobei Polybios allerdings bemerkenswerterweise einräumt, man müsse eigentlich vor allem den verantwortlichen Politikern auf Rhodos (τῶν ἐπιπολασάντων ἀνθρώπων τότε κατὰ τὴν Ῥόδον) Vorwürfe machen.566 Dieser Lesart scheinen sich auch einige nobiles angeschlossen zu haben, darunter C. Decimius, der den Rhodiern laut Livius riet, mit den ‚Schuldigen‘ möglichst rasch kurzen Prozess zu machen, um die Römer milde zu stimmen – eine Aufforderung, der man auf der Insel offenbar unverzüglich nachkam.567 Die Zahl der Opfer liegt im Dunkeln. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass es laut Livius und Polybios auf Rhodos während des Perseuskrieges zu einer langen, heftigen Stasis kam, wobei sich bei näherer Betrachtung der Eindruck ergibt, dass die verfeindeten Parteiungen zunächst um die Gunst der Römer konkurrierten und sich die vor 172 unterlegene Gruppierung um Deinon aller Wahrscheinlichkeit nach erst 168 aufgrund einer Fehleinschätzung der militärischen Lage entschied, ganz auf die antigonidische Karte zu setzen, wobei neben den ephemeren Erfolgen der Makedonen auch römische Ränke eine Rolle gespielt zu haben scheinen, die Männer wie Hagepolis, die keineswegs ‚Perseusfreunde‘ waren, in die Irre führten.

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interessiert gewesen. Vgl. auch Ager 1991: 29–37, die darauf hinweist, dass die Rhodier vor 168 zu den wichtigsten Vermittlern in der hellenistischen Welt gezählt hatten. Im Senat wurde den Rhodiern laut Polybios mitgeteilt, der Umstand, dass sie ihre Mission zu einem Zeitpunkt unternommen hätten, als römische Truppen bereits in Makedonien eingedrungen seien und die Lage des Königs verzweifelt gewesen sei, beweise hinreichend, dass es ihr wahres Ziel gewesen sei, Perseus zu helfen; Pol. 29,19,5–9. Vgl. Liv. 44,35,4–6; Zon. 9,23. Laut Livius, der in dieser Passage nicht Polybios, sondern Claudius Quadrigarius folgt, sprachen die Rhodier hingegen bereits vor Pydna erstmals im Senat vor; sie seien dabei arrogant (superbe) aufgetreten und hätten sogar damit gedroht, jeden zur Rechenschaft zu ziehen, durch dessen Schuld der Krieg nicht beendet werde; die patres conscripti hätten hierauf natürlich empört reagiert und zunächst keine Antwort erteilt; Liv. 44,14,8–13. Wenn diese Nachricht tatsächlich zutreffen sollte, so stellt sich die Frage, um wen es sich bei diesen namenlosen Gesandten gehandelt haben könnte, denn dass Hagepolis in einer solchen Weise in Rom aufgetreten sein sollte, ist kaum vorstellbar und widerspricht allem, was man über ihn weiß. Ein derartiger Auftritt vor dem Senat wäre im Grunde einer rhodischen Kriegserklärung an die Römer gleichgekommen. Insgesamt spricht allerdings alles dafür, dass hier die Dinge gründlich durcheinander geraten sind, denn auch der weitere livianische Bericht ist sehr verdächtig: Unmittelbar nachdem die Rhodier gesprochen hätten, habe man sie über den bereits im Vorfeld gefassten Entschluss informiert, Karer und Lykier wieder ihrer Oberhoheit zu entziehen, damit habe man den Hochmut der Gesandten unverzüglich gebrochen; Liv. 44,15,1–3. In dieser Version wären die Rhodier also bereits bestraft worden, bevor sie ihren Vermittlungsversuch überhaupt übernommen hätten. Das ist schwer vorstellbar. Es dürfte sich mithin um eine freie Erfindung handeln; so auch Wiemer 2002: 321. Pol. 29,19,2. Vgl. auch Gruen 1975: 80 f., der annimmt, die Rhodier hätten nach 168 eine Reihe von Politikern zu Sündenböcken gemacht. Liv. 45,10,10–14. Vgl. Pol. 30,31,20.

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Der von ihnen initiierte Vermittlungsversuch der Polis führte indessen zum Bruch mit Rom, das von seinen amici bedingungslose Loyalität erwartete,568 und der Senat hätte die Insel in der Folge um ein Haar mit Krieg überzogen.569 Der praetor pereginus M. Iuventius Tholna hatte sogar bereits einen entsprechenden Antrag vor das Volk gebracht, ohne zuvor ein senatus consultum einzuholen – laut Livius hoffte er, selbst mit dem Oberkommando betraut zu werden.570 Insbesondere M. Porcius Cato verhinderte dies in einer ebenso berühmten wie bemerkenswerten Rede, in der – jedenfalls nach den bei Gellius überlieferten Fragmenten zu urteilen – die Existenz der ‚Romfreunde‘ auf Rhodos übrigens gar nicht zur Sprache kam; sie waren für den Moment augenscheinlich irrelevant geworden.571 Der rhodische Gesandte Astymedes scheint sich unterdessen, folgt man Polybios, durch seine Rede vor dem Senat in Hellas ausgesprochen unbeliebt gemacht zu haben, da seine Verteidigungsstrategie offenbar darin bestand, viele andere griechische Gemeinwesen und Einzelpersonen der Untreue gegenüber Rom zu bezichtigen, um das Verhalten der Rhodier auf diese Weise zu relativieren.572 2.3.5 Die Griechen nach dem Perseuskrieg Nach der Entscheidungsschlacht bei Pydna ordneten die Römer und ihre griechischen φίλοι die Verhältnisse in Hellas und Makedonien in ihrem Sinne.573 Als L. Anicius im Herbst 168 von Illyrien aus in Epeiros einmarschierte, ergaben sich die meisten Orte ohne Widerstand; bei Passaron traf man aber auf Gegenwehr, da die Stadt, so Livius, von den principes Antinoos und Theodotos dominiert worden sei, die die Polis an die Seite von Perseus geführt hätten. Zunächst habe niemand den beiden „übermächtigen Männern“ die Stirn zu bieten gewagt: nemo adversus praepotentis viros hiscere audebat. Angesichts der Aussichtslosigkeit der Lage sei es aber schließlich doch zu einem Aufstand gekommen, den ein anderer Theodotos, nobilis et ipse adulescens, angeführt habe. Dieser habe verkündet, es sei unangemessen, wegen der Verbrechen zweier Männer sämtlich unterzugehen. Die beiden ‚Perseusfreunde‘ hätten daraufhin den Tod im Kampf gesucht und gefunden.574 568 Vgl. zu einer möglichen Wurzel dieses für Rhodos verhängnisvollen Missverständnisses Kaščeev 1997: „Neutralität aus rationalen Gründen war eine der wichtigsten Ideen, auf denen Völkerrecht und Diplomatie bei den Griechen gründeten […]. In der Außenpolitik der Römer, die auf Begriffen wie fides, amicitia, clientela, ius fetiale basierte, konnte es hingegen offensichtlich nicht die Idee der Neutralität geben“ (432). Bemerkenswerterweise hatte zwischen Rhodos und Rom bis zum Perseuskrieg allerdings kein foedus bestanden; Liv. 45,25,9. Gruen 1984: 571 bestreitet vor diesem Hintergrund, dass die Rhodier tatsächlich „disloyalty“ gezeigt hätten. 569 Pol. 30,31 und Liv. 45,20,4–45,25,6. Vgl. Gruen 1984: 569–572, Wiemer 2002: 310–317 und Errington 2008: 260 f. 570 Liv. 45,21,1–4. 571 Gell. Noct. Att. 6,3. Die entscheidende Rolle Catos bezeugt auch Liv. 45,25,2. Vgl. zu Cato Gotter 2009. 572 Pol. 30,4,10–17. Vgl. auch Wiemer 2002: 319–323. 573 Vgl. Will 1982: 279–285. Vgl. zur Behandlung Makedoniens Liv. 45,18,3–7 und 45,29,4–13. Vgl. nun die Diskussion bei Daubner 2018: 52–86, der unter anderem gegen die verbreitete Annahme argumentiert, das Gebiet sei in vier unabhängige Republiken aufgeteilt worden. 574 Liv. 45,26,4–9. Vgl. zu den Vorgängen Deininger 1971: 202 f.

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Ähnliches soll sich auch in Tekmon ereignet haben, wo der princeps Kephalos umgebracht worden sei, bevor sich die Stadt den Römern ergab.575 Beide Episoden lassen sich als Staseis deuten, auch wenn unklar ist, ob außer den drei namentlich genannten Männern noch andere Bürger zu Tode kamen. Wenn Livius keine weiteren Opfer erwähnt, so kann dies durchaus dem Umstand geschuldet sein, dass die drei Aristokraten Antinoos, Theodotos und Kephalos postum zu Sündenböcken und tyrannischen Figuren gemacht wurden,576 die alleine und ohne Unterstützer gehandelt hätten, und muss nicht bedeuten, dass es wirklich zu keinen weiteren Gewalttaten kam. Im Gegenteil, wenn die Position der ‚Perseusfreunde‘ zuvor tatsächlich so gefestigt gewesen war, wie es den Anschein hat, so wird ihr Sturz kaum ohne größeres Blutvergießen bewerkstelligt worden sein. Letztlich muss dies aber angesichts des Schweigens der Quellen Spekulation bleiben. Die Römer ließen sich durch die Ereignisse nach Pydna jedenfalls offenkundig nicht weiter beeindrucken, sondern behandelten Epeiros wie einen besiegten Feind. Das Land wurde 167 gründlich ausgeraubt, und als man etwa 70 Orte plünderte, die angeblich zu Perseus gestanden hatten, und 150.000 Menschen in die Sklaverei verkaufte,577 dürfte man angesichts der gewaltigen Anzahl schwerlich danach gefragt haben, ob es sich bei ihnen tatsächlich um ‚Romfeinde‘ handelte.578 Augenscheinlich verlangten die Legionäre, die sich um die makedonische Beute betrogen fühlten, nach Kompensation, und Aemilius Paullus versuchte – letztlich vergebens –, diesen Wunsch auf Kosten von Epeiros zu befriedigen. In Aitolien sahen unterdessen Lykiskos und Teisippos offensichtlich nun den Zeitpunkt gekommen, ein für alle Mal mit ihren internen Feinden abzurechnen und ihrer Parteiung endgültig zur Vorherrschaft zu verhelfen.579 Livius berichtet, unterstützt von römischen Soldaten hätten die ‚Romfreunde‘ den senatus – offenbar in Arsinoë580 – umstellt,581 550 der dort versammelten aitolischen principes erschlagen und zahlreiche 575 Liv. 45,26,10. 576 Auch Polybios benennt einzig diese drei als Verantwortliche, findet aber bemerkenswert lobende Worte für ihren Todesmut; Pol. 30,7,2–4. 577 Vgl. Liv. 45,34,1–6; Pol. 30,15 (mit Walbank 1979: 438 f.); Strab. 7,7,3; Plut. Aem. 29; Plin. hist. nat. 4,39. Vgl. auch Deininger 1971: 202–204. Appian (Ill. 9) bringt den Plünderungszug mit dem Krieg gegen Genthios in Verbindung, dem die 70 Orte untertan gewesen seien – offenbar eine Verwechslung. 578 Vgl. auch den einflussreichen Beitrag Scullard 1945, der Charops als Anstifter betrachtete. Es scheint aber mehr dafür zu sprechen, dass Aemilius Paullus, wie Livius nahelegt, aus eigener Initiative agierte. Beachtung verdient die livianische Behauptung, Paullus habe seine Leute in den Städten verkünden lassen, man werde ihnen die „Freiheit“ geben; Liv. 45,34,2. Unklar ist überdies, um wen es sich bei den akarnanischen und epeirotischen principes handelte, die Paullus mit sich nach Italien genommen haben soll, um ihre Sache vom Senat untersuchen zu lassen (quorum cognitionem causae senatui reservarat); Liv. 45,34,9. Mutmaßlich handelte es sich um Personen, die als ‚Romfeinde‘ denunziert worden waren, was umgekehrt nahelegt, dass Männer wie Charops zumindest hinter dieser Maßnahme standen. Nicht recht zu überzeugen vermag Ziolkowski 1986, der zu zeigen versucht, dass veränderte ökonomische Bedingungen in Italien die Massenversklavung der Molosser erforderlich gemacht hätten; seine Widerlegung der Argumente Scullards hingegen ist plausibel. Beutegier als hauptsächliches römisches Motiv postuliert Harris 1979: 227–233. 579 Vgl. Gruen 1984: 514 f. 580 Pol. 30,11,5. 581 Livius spricht zwar zunächst nur von per milites Romanos, es erscheint aber schlechterdings ausgeschlossen, dass sich nicht vor allem Griechen an der Tat beteiligten; auf die Gelegenheit, persönlich Rache zu nehmen und sich zu bereichern, hätte man schwerlich verzichtet. Livius dürfte die römische Beteiligung in den Mittelpunkt rücken, da diese, wie sich zeigen sollte, als anstößig galt. Briscoe 2012: 712 inter-

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weitere in die Verbannung geschickt; den Besitz der Getöteten und Exilierten hätten sich die Mörder angeeignet.582 Obwohl Aemilius Paullus in Demetrias auf einige der Verbannten traf, die ihm als Hiketiden in Trauerkleidung ihr Leid klagten – vielleicht ein Indiz dafür, dass sie nicht als ‚Perseusfreunde‘ kompromittiert waren und daher auf Hilfe hofften –, scheint er nichts unternommen zu haben, um sie zu unterstützen. Zwar wurde eine Untersuchung der Vorfälle angeordnet, doch geriet diese zu einer Demonstration der neuen Verhältnisse, da die Römer sich nun ähnlich vorbehaltlos hinter ihre φίλοι stellten wie bereits in Thisbe und daher, so Livius, nicht nach Recht und Unrecht, sondern nur nach Loyalitäten fragten.583 Folgerichtig wurden die Angeklagten freigesprochen, und überdies wurde das Massaker an ihren Feinden ausdrücklich gebilligt. Lediglich der Präfekt A. Baebius sei gemaßregelt worden, weil er zugelassen habe, dass Legionäre bei dem Blutbad assistiert hätten.584 Was sich Kallikrates einige Jahre zuvor gewünscht hatte, war also endgültig eingetreten: Rom stellte sich nach dem Sieg über Perseus zunächst bedingungslos hinter seine griechischen ‚Freunde‘. Vor allem unmittelbar nach der Schlacht von Pydna gab es umgekehrt für jene, die man als Feinde betrachtete, kaum noch einen Zufluchtsort.585 In einer berühmten Passage schildert Polybios, wie nach dem Sieg überall in Hellas sämtliche Schlüsselpositionen – Gesandtschaften und Magistraturen – an die siegreiche Parteiung gefallen seien; vielsagend ist dabei, dass er nicht etwa schlicht von den „Freunden der Römer“ spricht, sondern von „jenen, die Freunde der Römer zu sein schienen“ (οἱ δοκοῦντες εἶναι φίλοι Ῥωμαίων).586 Es ging demnach also weiterhin darum, sich erfolgreicher als andere als zuverlässiger Parteigänger des Hegemons in Szene zu setzen. Jene, denen es wie Kallikrates, Aristodamos, Agesias, Chremas, Mnasippos, Lykiskos und Charops gelang, sich als loyale Ansprechpartner des römischen Senats darzustellen, waren es dann auch, die laut Polybios hinter der wohl berühmtesten Maßnahme der Sieger standen: Die Griechen übergaben Aemilius Paullus lange Listen mit jenen, die nicht nur aus ihren Poleis verbannt, sondern gänzlich aus Hellas entfernt und nach Italien depor-

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pretiert das livianische ad ministerium caedis (Liv. 45,31,2) dahingehend, dass die römischen Truppen lediglich den Versammlungsort der Opfer umstellt hätten; das Morden wäre dann ganz den Griechen überlassen geblieben. Das erscheint plausibel. In itinere sordidata turba Aetolorum occurrit; mirantique et percunctanti, quid esset, defertur quingentos quinquaginta principes ab Lycisco et Tisippo, circumsesso senatu per milites Romanos, missos ab A. Baebio, praefecto praesidii, interfectos, alios in exilium actos esse, bonaque eorum, qui interfecti essent, et exulum possideri; Liv. 45,28,7. Vgl. Deininger 1971: 192 f. In qua cognitione magis utra pars Romanis, utra regi favisset quaesitum est, quam utra fecisset iniuriam aut accepisset; noxa liberati interfectores; exilium pulsis aeque ratum fuit ac mors interfectis; Liv. 45,31,1 f. Welche Strafe Baebius traf, ist unbekannt. Vgl. Briscoe 2012: 712. Den prominentesten ‚Perseusfreund‘ in Theben, Neon, ließen die Römer so gemeinsam mit dem Aitoler Andronikos hinrichten; Liv. 45,31,15. Erwähnung verdient auch die mitleidlose polybianische Schilderung des Schicksals von Deinon, Thoas und Polyaratos, die offenbar so gründlich kompromittiert waren, dass ihnen nach Aussage des Geschichtsschreibers eigentlich nur noch der Freitod blieb. Polyaratos begab sich nach Pydna aber offenbar auf eine verzweifelte Odyssee von Rhodos über Alexandreia nach Phaselis, wo er sich zeitweilig in ein Tempelasyl zu flüchten suchte, und weiter über Kibyra zurück nach Rhodos, bevor er schließlich nach Rom gebracht wurde; Pol. 30,8 f. Pol. 30,13,2. Vgl. Liv. 45,31,5.

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tiert werden sollten.587 Auch wenn Polybios von dieser Maßnahme selbst betroffen war, besteht kein Anlass, seine Aussage anzuzweifeln, es habe sich bei den Verbannten fast ausschließlich um persönliche Feinde jener Männer gehandelt, die die Listen erstellten.588 Insbesondere Kallikrates und Andronidas hätten sich hierdurch allgemein verhasst gemacht.589 All dies dürfte den Römern durchaus bewusst gewesen sein, aber eine Bestrafung tatsächlicher ‚Romfeinde‘ war offenbar gar nicht das eigentliche Motiv hinter der Maßnahme.590 Bei Livius findet sich in diesem Zusammenhang ein unscheinbarer Satz von kaum zu überschätzender Bedeutung: Die ‚Romfreunde‘, so heißt es, hätten die Römer überzeugt, dauerhafte Treue – sprich: eine stabile römische Herrschaft über Griechenland – sei nur möglich, wenn man das Parteiwesen beseitige und jene, denen nichts über das imperium Romanorum gehe, erhebe und nach Kräften stütze.591 Es handelte sich bei der Massendeportation von 167 also weniger um eine gegen tatsächliche Feinde gerichtete „Große Säuberung“592 als vielmehr um den möglicherweise radikalsten Versuch, der je unternommen wurde, um das Problem der Stasis in Griechenland grundsätzlich zu beheben und die römische Hegemonie auf diese Weise zu stabilisieren.593 Es ging nicht vordringlich um Rache, sondern darum, mögliche Unruhestifter zu entfernen.594 Schon allein der Umgang mit den Betroffenen verdeutlicht dies. Anders 587 Zon. 9,31. Vgl. Seibert 1979: 214 f. Vgl. zu den Vorgängen nun auch Löbel 2017, der die milde Behandlung der Verbannten insbesondere mit Unterschieden zwischen griechischer und römischer Rechtspraxis erklären möchte. 588 Pol. 30,13,7; vgl. Walbank 1979: 436. 589 Pol. 30,29,2–7. 590 Anders Gruen 1984, der das römische Vorgehen als bloße Strafaktion interpretiert: „Hellas needed to be taught a lesson“ (517). Anschließend habe Rom die Griechen wieder weitgehend sich selbst überlassen: „Nothing suggests that Rome took steps toward or had any intention of converting Greeks into satellite states of the western power“ (517). Es sei der Wunsch der Senatoren gewesen, von den Griechen und ihren Gesandtschaften einfach nicht mehr belästigt zu werden (518). 591 Non eos tantum, qui se propalam per vanitatem iactassent tamquam hospites et amicos Persei, sed multo plures alios ex occulto favisse regi, qui per speciem tuendae libertatis in conciliis adversus Romanos omnia instruxissent, nec aliter eas mansuras in fide gentes, nisi fractis animis adversarum partium aleretur confirmareturque auctoritas eorum, qui nihil praeter imperium Romanorum spectarent; Liv. 45,31,8. 592 So noch Deininger 1971: 194–197, der annimmt, die große Zahl der Deportierten belege, „wie weitverbreitet der Widerstand gegen Rom in der Oberschicht“ bis zum Perseuskrieg gewesen sei, dabei aber nicht hinreichend beachtet, dass sich Polybios ja eindeutig entnehmen lässt, es sei eher darum gegangen, dass angebliche Romfreunde vermeintliche Romfeinde deportieren ließen. Wenn Deininger annimmt, ungeachtet persönlicher Feindschaften habe es doch stets eine „plausible Begründung“ für die Denunziation geben müssen, so führt dies meines Erachtens in die Irre: Es ging den Römern nicht vorrangig darum, tatsächliche ‚Romfeinde‘ zu bestrafen. Anders jetzt wieder Blösel 2015: 128. 593 In diesem Sinne urteilt auch Errington 2008: „The chief purpose of the action was to reduce political tensions in and between the Greek states“ (250 f.). Die Strategie, eine Region durch die Entfernung bestimmter Personen zu befrieden, hatten die Römer ja bereits einige Jahre zuvor auf Kreta angewandt – wenn auch mit überschaubarem Erfolg; Pol. 22,15,6. 594 Pausanias (7,10,9 f.) überliefert die Episode, Xenon aus Patrai habe sich in der achaiischen Bundesversammlung gegenüber einem Senatsgesandten (vielleicht Appius Claudius Pulcher) dazu bekannt, während des Perseuskrieges einer der στρατηγοί gewesen zu sein, um hinzuzufügen, sich aber deshalb keiner Schuld gegenüber Rom bewusst zu sein. Auch er sei daraufhin gemeinsam mit den von Kallikrates angezeigten Männern nach Italien gebracht worden – ein deutliches Indiz dafür, dass es den Römern primär um die Entfernung möglicher Querulanten ging und der Vorwurf der Makedonenfreundlichkeit

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als die einige Zeit zuvor ad metalla verurteilten Männer595 wurden die Betroffenen bezeichnenderweise nicht etwa wie hostes, sondern durchaus ehrenvoll behandelt,596 wie nicht zuletzt Polybios’ eigenes Beispiel illustriert. Auch wenn er offenbar besonders bevorzugt worden ist,597 scheint man die Deportierten, die zumeist auf italische Landgemeinden verteilt wurden, insgesamt zuvorkommend behandelt zu haben – nicht eben die Art und Weise, wie Rom mit Feinden zu verfahren pflegte. Was am Ende des Perseuskrieges in Aitolien geschehen war, sollte sich offensichtlich nicht wiederholen; denn nun ging es den Römern um Befriedung und Stabilität. Und so war es vermutlich gar kein Zynismus, wenn der Senat Polybios zufolge später feststellte, die Abwesenheit der Deportierten liege im ureigensten Interesse der betroffenen Poleis.598 Ein eindrücklicherer Beleg dafür, wie endemisch das Phänomen der Stasis in der griechischen Welt im 2. Jahrhundert zumindest in römischen Augen war, ließe sich schwerlich denken. Ganz ohne Vorbild war der Vorgang dabei übrigens nicht: Bereits für die klassische Zeit sind Beispiele dafür überliefert, dass man innere Gegner von der Hegemonialmacht in Gewahrsam nehmen ließ.599 Zu dieser Interpretation passt im übrigen auch, dass die Römer laut Polybios wenige Jahre später verhinderten, dass in Epeiros zahlreiche ‚Romfeinde‘ hingerichtet wurden: Offenbar waren die ‚Romfreunde‘ hier in den Jahren nach 167 mit grausamer Gewalt gegen ihre inneren Gegner vorgegangen, und schließlich soll Charops regelrechte Proskriptionen600 veranlasst und Listen mit Geächteten veröffentlicht haben: προέγραφε γὰρ τοὺς εὐκαιροῦντας τοῖς βίοις φυγάδας.601 Diese seien von der eingeschüchterten Bundesversammlung kollektiv zum Tode verurteilt worden. Nachdem die Betroffenen den Senat angerufen hatten, reisten Charops und andere römische φίλοι um 161 persönlich nach Rom, um die Todesurteile durchzusetzen. Sie wurden aber, so Polybios, von wichtigen nobiles wie Aemilius Paullus, mittlerweile censor, und dem princeps senatus Ae-

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höchstens ein Vorwand war. Formal scheinen die entsprechenden Urteile dabei übrigens von Griechen gefällt worden zu sein, wie Polybios zumindest für die Achaier bezeugt; vgl. Pol. 30,32,2. Liv. 37,3,8. Dass nicht jede Entfernung einer Person aus einer Polis eine Verbannung sein musste, gilt bereits für die klassische Zeit: So diente möglicherweise auch der athenische Ostrakismos des 5. Jahrhunderts (Ath. Pol. 22) nicht nur der Elitendisziplinierung, sondern auch der Stasisvermeidung, indem besonders polarisierende Persönlichkeiten nicht verbannt, sondern vom Demos unter ausdrücklicher Wahrung ihrer Ehre und ihres Eigentums zeitweilig der Polis verwiesen wurden. Nach dieser Lesart handelte es sich also weniger um ein Instrument der innenpolitischen Auseinandersetzung und eher um einen Versuch, eine Eskalation von Konflikten zu vermeiden. Vgl. Dreyer 2011: 16. Pol. 30,32,8 f. Die wiederholten Bitten, die Männer nach Hellas zurückkehren zu lassen, wurden jahrelang folgerichtig abgelehnt; vgl. Pol. 32,3,14–17; 33,1,3–8; 33,14. Als den überlebenden Achaiern schließlich doch die Heimkehr bewilligt wurde, verweigerte ihnen der Senat offenbar die formale Restituierung ihrer einstigen Stellung – vermutlich aus Rücksicht auf die, die in den Poleis an die Stelle der Deportierten getreten waren; Pol. 35,6,3. So wurden etwa im Jahr 416 dreihundert führende Argiver von Alkibiades auf von Athen kontrollierte Inseln deportiert; Thuk. 5,84,1; Diod. 12,81,3. Die Frage, ob die Idee, Listen mit todgeweihten Gegnern zu erstellen, schließlich von Sulla aufgegriffen wurde (Plut. Sull. 31; App. civ. 1,95), ob die römischen Proskriptionen also (auch) von hellenistischen Vorbildern inspiriert waren, verdient eine eingehende Diskussion, die an dieser Stelle aber nicht zu leisten ist. Pol. 32,5,7–13. Vgl. zu Charops und Epeiros eingehend di Leo 2005.

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milius Lepidus gar nicht erst vorgelassen, und auch der Senat entschied nicht in ihrem Sinne.602 Da Massenhinrichtungen nur zu Rachedurst und neuer Unruhe geführt hätten, war diese römische Haltung durchaus konsequent. Daran, dass Männer wie Charops noch Jahre nach Pydna dauerhaft über die Stränge schlugen und so für eine erneute Destabilisierung sorgten, hatte man im Senat offenkundig kein Interesse. Ob auch die Griechen die ratio hinter der Massendeportation von 167 verstanden hatten, steht hingegen auf einem anderen Blatt – zumindest das Verhalten der ‚Romfreunde‘ in Epeiros scheint eher gegen eine entsprechende Einsicht zu sprechen. Charops jedenfalls dürfte von der Reaktion seiner bisherigen Patrone unangenehm überrascht worden sein. Wohl um nicht den lebensgefährlichen Eindruck zu erwecken, die Gunst der Römer verloren zu haben, versuchte er laut Polybios, das entsprechende senatus consultum zu verheimlichen, bevor er in Brundisium starb.603 Sehr schwierig einzuordnen sind sodann die knappen Notizen, die Polyainos zu Kyrene bietet. Dort soll es bald nach dem Perseuskrieg zu Unruhen gekommen sein, während die Stadt von einem Ptolemaios belagert wurde – höchstwahrscheinlich handelt es sich bei diesem um Ptolemaios VIII., der sich 163 in einem Bruderkrieg mit Ptolemaios VI. befand und dabei insbesondere in der Kyrenaika operierte.604 Ein Aitoler namens Lykopos soll in diesem Zusammenhang mit dem Oberkommando über Kyrene betraut worden sein, aber gewaltsam nach der Macht gegriffen und viele Männer und Frauen getötet haben.605 Der Verdacht liegt nahe, dass der dynastische Konflikt eine Stasis in der Polis ausgelöst bzw. ermöglicht hatte, doch ist man hier letztlich auf Mutmaßungen angewiesen. 2.3.6 Stasis und bellum Achaicum Ansonsten nimmt die Zahl der literarisch bezeugten Staseis nach dem Perseuskrieg zunächst stark ab, auch wenn es Indizien für innere Konflikte in kleinasiatischen Poleis gibt, in denen nun offenbar ‚Romfreunde‘ jenen gegenüberstanden, die als φίλοι von Attaliden oder Seleukiden galten.606 Hintergrund war vermutlich die Erwartung einer rö-

602 Pol. 32,6,2–7. 603 Pol. 32,5,4. Charops soll sogar zunächst einen gefälschten Beschluss nach Epeiros gesandt haben; Pol. 32,6,9. Nicht ganz klar ist, ob er vor seinem Tod noch einmal nach Epeiros zurückgekehrt war (so Daubner 2018: 140 f.) oder bereits auf der Heimreise starb (so Walbank 1979: 524). Angesichts der Umstände erscheint ein Selbstmord des politisch ruinierten Mannes wahrscheinlich; wenn er tatsächlich falsche Informationen über die römische Position verbreitet hatte, so muss ihm klar gewesen sein, dass er sich und seinen Anhängern damit allenfalls etwas Zeit erkauft hatte. Vgl. zu den Ereignissen auch Deininger 1971: 209–211, dem die Signifikanz der Vorgänge aber entgangen zu sein scheint. 604 Pol. 31,18,6–16. Vgl. zur Datierung Berve 1967: 431. Zum Hintergrund vgl. Huß 2001: 567–571. 605 Polyain. 8,70. 606 Das entsprechende Polybiosfragment berichtet von den Konflikten im Zusammenhang mit der Rivalität zwischen den Königen Eumenes II. und Prusias, wobei dieser dem Attaliden offenbar vorwarf, er bevorzuge seine Freunde in den Städten gegenüber den Anhängern Roms – wahrscheinlich ein Hinweis auf Staseis; Pol. 30,30,2 f. In anderen Poleis Asiens scheinen die Gegner der ‚Romfreunde‘ ihre Hoffnungen hingegen auf Antiochos IV. gesetzt zu haben; Pol. 30,30,4.

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mischen Intervention, die aber letztlich unterblieb.607 Folgt man Polybios, so beruhigte sich die Lage in vielen Regionen des griechischen Mutterlandes hingegen tatsächlich – bemerkenswerterweise allerdings angeblich erst nach dem Tod der prominentesten ‚Romfreunde‘: Neben Charops nennt er Lykiskos in Aitolien, Mnasippos in Boiotien und Chremas in Akarnanien,608 wobei dieser offensichtlich gewaltsam aus dem Leben schied.609 Obwohl literarische Zeugnisse für Hellas nach der Mitte des 2. Jahrhunderts insgesamt sehr viel spärlicher sind und man daher mit Überlieferungszufällen zu rechnen hat, spricht also dennoch nichts gegen die Annahme, dass sich nach dem Ende der antigonidischen Alternative zu Rom eine spürbare Beruhigung der inneren Verhältnisse in den meisten griechischen Gemeinwesen ergeben hatte.610 Die Spielräume für eskalierende Konflikte waren kleiner geworden. Fast zwei Jahrzehnte nach dem Perseuskrieg kam es jedoch noch einmal zu Staseis in vielen Poleis, wobei der Achaiische Bund das Epizentrum der erneuten Unruhe gebildet zu haben scheint. Die Ereignisse sind dabei im Einzelnen kaum zu rekonstruieren. Unklar ist zum Beispiel, ob die römische Entscheidung, den überlebenden Deportierten im Jahr 150 schließlich doch die Rückkehr nach Griechenland zu gestatten, zur Eskalation von Spannungen beitrug. Allerdings berichtet ein Polybiosfragment davon, bald darauf seien die Statuen des 149 verstorbenen Kallikrates entfernt, die des Lykortas hingegen wieder errichtet worden.611 Leider fehlt der Kontext dieser Nachricht, aber es liegt zumindest nicht fern, davon auszugehen, dass man nun meinte, die Gunst der Römer gelte jetzt den Zurückgekehrten – angesichts des Umstandes, dass Männer wie Polybios es in der Zwischenzeit vermocht hatten, einflussreiche nobiles als Patrone zu gewinnen, keineswegs eine abwegige Annahme. Es kam also allem Anschein nach zu einem Machtwechsel in den Poleis des Koinon, indem die Gruppe derjenigen, die bisher als φίλοι Roms galten, nun offenbar durch jene ersetzt oder zumindest ergänzt wurde, die einst die tertia pars gebildet hatten und deren prominentester Protagonist Lykortas gewesen war. Dass der Senat darauf verzichtet hatte, sie ausdrücklich wieder in ihre alten Ämter und Würden einzusetzen, änderte hieran mutmaßlich wenig. Da also, soweit sich sehen lässt, mitnichten ‚Romfeinde‘ nun die Kontrolle in Achaia übernommen hatten, erklären diese Vorgänge allerdings noch nicht die Katastrophe, 607 Vgl. zur Bedeutung inneraristokratischer Rivalität für die römische Außenpolitik auch Bleckmann 2002: 225–243, Rosenstein 2012: 241–269 und Linke 2016. Augenscheinlich betrieben in der Tat mehrere Senatoren einen Krieg gegen Pergamon. Der römische Gesandte C. Sulpicius Gallus (cos. 166) soll sogar in den Poleis Asiens verkündet haben, jeder, der etwas gegen Eumenes vorzubringen habe, möge zu ihm nach Sardeis kommen und dort Anklage gegen den Attaliden führen; Pol. 31,6,1–4. Blösel 2015 wertet dies als „Demütigung“ des Königs (129). 608 Vgl. zu den Ereignissen im Akarnanischen Bund Dany 1999: 212–230. 609 ὅτι τὰ κατὰ τὴν Αἰτωλίαν καλῶς διετέθη, κατεσβεσμένης ἐν αὐτοῖς τῆς ἐμφυλίου στάσεως μετὰ τὸν Λυκίσκου θάνατον, καὶ Μνασίππου τοῦ Κορωναίου μεταλλάξαντος τὸν βίον βελτίων ἦν ἡ διάθεσις κατὰ τὴν Βοιωτίαν, ὁμοίως δὲ καὶ κατὰ τὴν Ἀκαρνανίαν Χρέμα γεγονότος ἐκποδών. σχεδὸν γὰρ ὡσανεὶ καθαρμόν τινα συνέβη γενέσθαι τῆς Ἑλλάδος, τῶν ἀλιτηρίων αὐτῆς ἐκ τοῦ ζῆν μεθισταμένων. καὶ γὰρ καὶ τὸν Ἠπειρώτην Χάροπα συνεκύρησε κατὰ τὸν ἐνιαυτὸν τοῦτον ἐν Βρεντεσίῳ μεταλλάξαι τὸν βίον; Pol. 32,5,1–4. 610 Vgl. zu dieser Phase auch Dmitriev 2011: 326–348, Mackil 2013: 139–143 und Waterfield 2014: 214–236. 611 Pol. 36,13,1. Polybios betont, die Standbilder des Kallikrates seien nachts und heimlich entfernt worden, was ein Indiz dafür sein dürfte, dass ‚seine‘ Parteiung nach wie vor nicht ohnmächtig war.

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die wenig später über den Bund hereinbrechen sollte.612 Pausanias stellt stattdessen eine Verbindung her zu Korruptionsvorwürfen und letztlich undurchsichtigen Konflikten innerhalb der achaiischen Führungsschicht,613 die bereits 151 ihren Anfang genommen und schließlich zu einer neuen Eskalation der Streitigkeiten mit Sparta geführt hätten.614 Offenbar ging der entscheidende Impuls zum militärischen Konflikt aber vom Senat aus, wo sich inmitten des Dritten Punischen Krieges augenscheinlich jene durchgesetzt hatten, die die Macht der Achaier, die im Vertrauen auf römische Rückendeckung eigenmächtig Feldzüge auf der Peloponnes geführt hatten, empfindlich zu beschneiden wünschten, um in Hellas für Ruhe zu sorgen: Der Gesandte L. Aurelius Orestes übermittelte laut Pausanias ein senatus consultum, demzufolge Sparta, Korinth, Argos und weitere wichtige Städte den Bund zu verlassen hätten.615 Daraufhin brachen in ganz Achaia, vor allem aber in Korinth schwere Unruhen aus, und Orestes gelang laut Polybios nur knapp die Flucht, was der Senat wiederum verständlicherweise als feindseligen Akt auffasste.616 Obwohl es weiterhin Männer gegeben habe, die dazu rieten, sich dem übermächtigen Rom zu fügen, konnten sich diese nicht durchsetzen. Eine Gruppierung um Diaios und Kritolaos stellte sich an die Spitze jener, die dem Senat nicht nachgeben wollten, und übernahm inmitten der Wirren das Kommando in den Städten des Bundes. Polybios berichtet, Kritolaos habe die Menge dabei insbesondere auch mit ökonomischen Maßnahmen auf seine Seite gebracht, indem er vorläufig verbot, Schulden einzutreiben und säumige Schuldner zu verfolgen.617 Auf den ersten Blick handelt es sich also um ein patriotisches Aufbegehren gegen die Römer,618 das von Polybios als ein von einigen Demagogen angestachelter Aufstand 612 Anders Petzold 1999: 93, der von einem „nationalistisch eingefärbten Extremismus“ spricht, der letztlich eine Folge der Deportationen von 168/7 gewesen sei. 613 Vgl. zu den Kriegsursachen auch Gruen 1976b, der meines Erachtens mit Recht auf die Bedeutung dieser Konflikte innerhalb der Eliten hinweist. 614 Paus. 7,11,7–7,12,5. Vgl. Larsen 1968: 490 f. In diesem Zusammenhang scheint es auch in Sparta nochmals zu Konflikten gekommen zu sein, da hier 24 Bürger verbannt und in absentia zum Tode verurteilt wurden; Paus. 7,12,7 f. Vgl. Oliva 1971: 313 f. und Cartledge 2002: 88. Bemerkenswert ist überdies, dass laut Pausanias sowohl Diaios als auch sein Gegenspieler Menalkidas nach ihrer Rückkehr von einer Gesandtschaft nach Rom die Entscheidungen des Senats bezüglich Spartas bewusst falsch wiedergegeben haben sollen; Paus. 7,12,9. Vgl. zu den Konflikten mit Sparta Cartledge 2002: 86–90. 615 Paus. 7,14,1. Wenn Polybios behauptet, der Senat habe die Achaier damit nur einschüchtern wollen (Pol. 38,9,6), so ist dies von begrenzter Glaubwürdigkeit. Den Römern muss bewusst gewesen sein, wie hart ihr Beschluss, der quasi die Auflösung des Bundes bedeutet hätte, war. Vgl. bereits Fuks 1970: „The ruling of the Senate, delivered by Orestes, was no doubt tantamount to a deliberate breaking up of the Achaian League, immediate, or to follow, and no amount of explaining away by Polybios can obscure this“ (86 f.). Der Verdacht liegt nahe, dass hinter diesem harten Vorgehen vielleicht erneut bestimmte Senatoren standen, die auf ein einträgliches Militärkommando im Osten hofften. 616 Pol. 38,9,1–5. Vgl. Walbank 1979: 698–700. 617 ἅμα δὲ τούτοις παρήγγειλε τοῖς ἄρχουσι μὴ πράττειν τοὺς ὀφειλέτας μηδὲ παραδέχεσθαι τοὺς ἀπαγομένους εἰς φυλακὴν πρὸς τὰ χρέα, τοὺς δ᾽ ἐράνους ἐπιμόνους ποιεῖν, ἕως ἂν λάβῃ τὰ τοῦ πολέμου κρίσιν; Pol. 38,12,10. Vgl. Fuks 1970: 79–81. Vgl. auch Diod. 32,26,3. 618 Lesenswert ist noch immer Fuks 1970, der den Krieg als „a national war“ versteht, der den Achaiern von Rom aufgezwungen worden sei. Ihm folgt etwa Green 1990: 847. Auch Schwertfeger 1974 wertet die Vorgänge als Freiheitskampf: „Unter der Führung des Achaiischen Bundes erhoben sich Teile Griechenlands in nationalem Bewusstsein und in dem Glauben, Rom die Freiheit Griechenlands doch noch abtrotzen zu können“ (13). Es stellt sich allerdings die Frage, ob es plausibel ist, den Hellenen eine der-

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der πολλοί geschildert wird,619 dem sich besonnene Politiker in der Ratsversammlung vergeblich entgegengestemmt hätten. Bei näherer Betrachtung liegt jedoch eine andere Interpretation der Vorgänge näher: Der Ruf nach χρεῶν ἀποκοπή war ein altvertrautes Instrument des internen, nicht des externen Konflikts, und Polybios berichtet ausdrücklich, die Polemik der Gruppe um Kritolaos und Diaios habe sich weniger gegen Sparta oder Rom als vielmehr gegen die φίλοι Ῥωμαίων in Achaia gerichtet.620 Nimmt man diese Nachricht ernst, so wird erkennbar, was sich offenbar ereignet hatte: Indem der Senat einen Beschluss gefasst hatte, der die Interessen des Bundes dramatisch verletzte, hatte er zugleich prominenten ‚Romfreunden‘ wie Euagoras in Aigion und Stratios in Tritaia621 jede Legitimität geraubt – schließlich beruhte ihre Machtstellung insbesondere auf der Annahme, sie könnten als Freunde der Römer dafür sorgen, dass ihre Gemeinwesen Wohltaten empfingen. Indem sie das senatus consultum nicht hatten verhindern können, lag der Schluss nahe, dass es sich bei ihnen gar nicht (mehr) um φίλοι Roms handelte – und damit war die Stunde ihrer Feinde gekommen: Wenn die Römer sich, aus welchem Grund auch immer, entschlossen hatten, den Achaiern ihre Gunst zu entziehen,622 so gab es auch keine Veranlassung mehr, sich weiterhin von ihren griechischen Freunden gängeln zu lassen; und so ergab sich offenbar rasch ein breites Bündnis zwischen sozial benachteiligten Politen und aristokratischen Politikern wie den ehemaligen στρατηγοί Diaios und Damokritos sowie Kritolaos, Theodektes, Alkamenes und Archikrates.623

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art groteske Fehleinschätzung ihrer militärischen Möglichkeiten zu unterstellen. Rosenstein 2012: 231 nimmt an, die Achaier hätten darauf spekuliert, der Senat sei durch die Kämpfe in Afrika und Makedonien derart okkupiert, dass sie vollendete Tatsachen schaffen könnten, bevor sich die Römer ihnen zuwenden würden. Man tut sich allerdings schwer damit, den achaiischen Politikern derartige Realitätsferne zu unterstellen. Nichts sprach dafür, dass der Senat eine gewaltsame Neuordnung Griechenlands durch das Koinon hinnehmen würde. Deininger 1971: 228 folgt im Kern dieser Interpretation und nimmt an, der aussichtslose Krieg gegen Rom sei fast ausnahmslos von der einfachen Bevölkerung getragen worden. Auch Bernhardt 1985 bezweifelt unter Berufung auf Polybios, dass der Krieg „von der Oberschicht mitverantwortet worden sei“ (17). Vgl. zum polybianischen Bericht eingehend Thornton 1998a. δεῖν γὰρ οὐ Λακεδαιμονίους οὐδὲ Ῥωμαίους ἀγωνιᾶν οὕτως ὡς τοὺς ἐξ αὐτῶν συνεργοῦντας τοῖς ἐχθροῖς: εἶναι γάρ τινας τοὺς πλεῖον Ῥωμαίοις εὐνοοῦντας καὶ Λακεδαιμονίοις ἢ τοῖς σφετέροις πράγμασιν; Pol. 38,13,3. Pol. 38,13,4. Anscheinend war man im Senat angesichts der Wirren und Kämpfe auf der Peloponnes zu der Ansicht gelangt, der Bund erfülle die ihm zugedachte Rolle, für Stabilität in Hellas zu sorgen, nicht mehr, sondern stelle nun vielmehr selbst einen Unruhefaktor dar. Kallikrates hingegen hatte, folgt man Polybios, besser verstanden, was die Römer von den Achaiern erwarteten, und sich vehement gegen eigenmächtige Militäraktionen ausgesprochen: Ohne römische Genehmigung dürfe kein Krieg mehr geführt werden; Pol. 33,16,7. Man kommt nicht umhin, sich hier an den berühmten Brief Attalos’ II. (OGIS 315 VI) erinnert zu fühlen, in dem dieser bereits einige Jahre zuvor ausführte, Kriegführung ohne römische Einwilligung sei nicht mehr opportun, da man sonst im Fall einer Niederlage keine Hilfe, im Falle eines Sieges aber eine Strafe zu erwarten habe. Vgl. Magie 1950: 280 und Gotter 2013: 201 f. Es scheint, als sei den Achaiern eben dieses Schicksal widerfahren. – Ganz anders bewertet den Königsbrief übrigens Sherwin-White 1977: „This letter demonstrates the very opposite of what it is often taken to show. What is remarkable is not the dependence on Roman approval, but that this factor had been entirely forgotten by the king and all but one of his advisers“ (64). Diaios war wahrscheinlich der Sohn des Diophanes; vgl. Walbank 1979: 701. Damokritos war 149 verbannt worden, weil man ihm militärisches Versagen vorwarf, und kehrte nun zurück; Pol. 38,17,9. Ob diese Männer aus der Oberschicht stammten, ist außer im Fall der beiden στρατηγοί unbekannt (Deininger 1971: 225); es spricht allerdings nichts dagegen.

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Dass Diaios und Damokritos dabei tatsächlich exponierte ‚Romfeinde‘ waren, darf man angesichts der prominenten Stellung, die sie nach 167 im Bund bekleidet hatten, bezweifeln; und Pausanias bezeugt ja in der Tat, dass es bei dem seit Jahren schwelenden Konflikt innerhalb der achaiischen Elite vielmehr um Fragen wie Macht und Korruption gegangen war, nicht um das Verhältnis zu Rom. Aber nun dürfte die Auseinandersetzung mit den Römern schier unausweichlich erschienen sein, und es lag daher nahe, zuvor noch mit jenen Griechen abzurechnen, denen man vorwarf, bislang im Namen des Senats ihre Gemeinwesen dominiert zu haben, und die nun schutzlos waren.624 Ungeachtet des römischen Engagements in Nordafrika dürfte den führenden Achaiern dabei bewusst gewesen sein, dass der Senat seine Beschlüsse gegebenenfalls militärisch durchsetzen würde – das harte römische Vorgehen gegen den Andriskosaufstand625 in Makedonien bezeugte dies eindringlich.626 Dennoch blieben Verhandlungen mit dem Prätor Q. Caecilius Metellus im Frühling 146 ergebnislos, obwohl laut Polybios zumindest ὀλίγοι τινές unter den Achaiern immer noch für eine Verständigung plädierten.627 Nicht ganz auszuschließen ist daher, dass die Gruppe um Diaios und Kritolaos den äußeren Konflikt bewusst eskalieren ließ,628 um im Inneren freie Hand zu haben, doch lässt sich diese Vermutung letztlich nicht beweisen. An die Möglichkeit, einen Krieg gegen Rom siegreich bestehen zu können, können die Achaier nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte schwerlich geglaubt haben; doch handeln Menschen nicht immer rational, und so kommt durchaus auch verletztes Ehrgefühl als Motiv dafür in Frage, dass sie sich trotzig auf den aussichtslosen Kampf einließen.629 624 Deininger 1971: 225 konstatiert, augenscheinlich überrascht, dass sich unter den Anführern der Revolte offenbar keine Heimkehrer aus Italien befunden hätten; vielmehr stellt er mit Recht fest, Männer wie Polybios und Stratios seien im Gegenteil Antagonisten der Gruppe um Kritolaos gewesen. Im Kontext der hier vertretenen Interpretation kann dieser Befund allerdings nicht verwundern, sondern ist vielmehr zu erwarten. 625 Vgl. zu Andriskos Wilcken 1894. Schon vor dem Aufstand dieses Pseudo-Philipp waren Makedonien und die nun „freien“ Poleis offenbar von heftigem Bürgerzwist geplagt worden; Pol. 36,17,13. Vgl. Daubner 2018: 142 f. Um 163 soll ein gewisser Damasippos zu Ptolemaios VIII. geflohen sein, weil man ihn für die Ermordung von σύνεδροι in Pella verantwortlich machte; Pol. 31,26. Die Hintergründe der Tat sind unklar; vgl. Walbank 1979: 485. Und 151 wandte sich eine Parteiung an Scipio Aemilianus; Pol. 35,4,11; vgl. Gruen 1984: 429. Ihre Gegner dürften es dann gewesen sein, die als ‚Royalisten‘ den Prätendenten auf den Schild hoben. Zeitweilig scheint Andriskos dabei auch außerhalb Makedoniens zum Hoffnungsträger der ‚Romfeinde‘ geworden zu sein; so soll der Seleukide Demetrios I. bedrängt worden sein, ihn zu unterstützen; Diod. 31,40a. 626 Grundlegend zu den Ereignissen ist nun Daubner 2018: 141–150. Vgl. zum Andriskoskrieg und zur Einrichtung der Provinz Macedonia ferner Morgan 1969, Bernhardt 1985: 13–16 und Helliesen 1986. 627 Pol. 38,12,6. Dass man sich römischerseits überhaupt auf Verhandlungen eingelassen zu haben scheint, könnte ein Indiz dafür sein, dass es Senatoren gab, die – ähnlich wie Cato im Falle der Rhodier – einen griechischen Beutezug ehrgeiziger Standesgenossen lieber vermieden hätten, doch muss dies angesichts der lückenhaften Überlieferung Spekulation bleiben. 628 Kritolaos scheint gegenüber Rom zunächst allerdings auf eine Verzögerungs- und Hinhaltetaktik gesetzt zu haben; vgl. Paus. 7,14,4 f.; Pol. 38,11,1–5. 629 Das berühmteste Beispiel dafür, dass Hellenen unter Umständen bereit sein konnten, übermächtigen Feinden sinnlos verzweifelten Widerstand zu leisten, ist sicherlich das von Thukydides überlieferte Verhalten der Melier im Jahr 416; Thuk. 5,114–116.

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Der anschließende Ausbruch interner Gewalt jedenfalls muss heftig gewesen sein, wobei die lückenhafte literarische Überlieferung zweifellos nur die Spitze des Eisbergs erkennen lässt. Die erhaltenen Polybiosfragmente erwähnen lediglich pauschal, es sei auf der Peloponnes zu Aufruhr (ταραχή) gekommen, ohne allerdings etwas Konkretes, etwa Opferzahlen, zu berichten,630 und wiederholen diese Aussage wenig später noch einmal, diesmal im Zusammenhang mit der Niederlage des Bundesheeres gegen die Römer bei Skarpheia: ἐξ ὧν συνέβαινε γίνεσθαι τὰς πόλεις πλήρεις ἀκρισίας, ταραχῆς, δυσθυμίας.631 Aus Entsetzen über das, was nun in den Poleis geschah – und damit können eigentlich nur Staseis gemeint sein –, seien viele Menschen geflüchtet, während sich andere in ihrer Verzweiflung das Leben genommen hätten.632 Eine Gruppe um Andronidas, die sich um Frieden mit Rom bemühte, ließ Diaios laut Polybios als Hochverräter inhaftieren,633 und nach weiteren Niederlagen griff man schließlich sogar zu dem verzweifelten Mittel, die Sklaven zu bewaffnen.634 Wie sehr dabei laut dem polybianischen Bericht die inneren Konflikte dominierten, illustriert nicht zuletzt das Schicksal von Männern wie Philon, Andronidas, Sosikrates, Lagios und Philinos, gegen die die Gruppe um Diaios brutal vorgegangen sein soll, da man ihnen vorgeworfen habe, bei ihren Friedensverhandlungen mit Metellus lediglich den eigenen Vorteil im Sinn gehabt zu haben. Polybios – selbst keineswegs unbeteiligt635 – betont den internen Aspekt des Krieges noch zusätzlich, indem er den raschen römischen Sieg als Segen auffasst, der verhindert habe, dass Diaios und seine Anhänger noch weitere Gelegenheiten bekommen hätten, sich gegen ihre eigenen Landsleute zu wenden.636 Leider fehlt es an näheren Informationen zu den Vorgängen, doch der Eindruck, dass es vor und nach dem Achaiischen Krieg vielerorts zu heftigen Staseis kam, lässt sich angesichts des polybianischen Berichtes kaum von der Hand weisen; und dass sich die Gewalt zumindest in der Anfangsphase insbesondere gegen jene richtete, die zuvor im Namen Roms ihre Poleis dominiert hatten (oder denen man dies zumindest plausibel vorwerfen konnte), ist, betrachtet man die Vorgänge aus der Vogelperspektive, zumindest sehr wahrscheinlich.637 Gerade das Verhalten von Männern wie Kritolaos oder Diaios, denen die Aussichtslosigkeit einer militärischen Auseinandersetzung mit Rom bewusst gewesen sein muss, ist dabei ein Indiz dafür, dass es ihnen nicht zuletzt darum gegangen zu sein scheint, um jeden Preis mit ihren inneren Gegnern abzurechnen. Als alles verloren war, tötete Diaios laut Zonaras zuerst seine Frau, setzte sodann sein Anwesen in Megalopolis in Brand und nahm sich schließlich mit Gift das Leben – 630 Pol. 38,12,1. 631 Pol. 38,15,8. Vgl. zum Verlauf des Krieges auch die Skizzen bei Schwertfeger 1974: 11–17, Will 1982: 393–396 und Waterfield 2014: 222–225. 632 Pol. 38,16,5. 633 Pol. 38,17,1 f. 634 Pol. 38,15,3. Vgl. Fuks 1970: 81 f. 635 Vgl. Dreyer 2011: 19 f. 636 Pol. 38,17 f. Vgl. zum polybianischen Bericht Walbank 1979: 714–717. 637 Walbank 1979 kommt zum gegenteiligen Ergebnis und interpretiert den Umstand, dass Männer wie Damokritos bald nach dem Beginn der Auseinandersetzung mit Rom zurückkehrten, als Beleg dafür, dass „in this crisis the Achaeans subordinated feuds to the needs of the state“ (715).

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2. Die literarische Überlieferung

nichts sollte seinen Feinden in die Hände fallen.638 Auch in Boiotien, bei den Lokrern und Phokern sowie am Ionischen Golf und auf Euboia scheint es zu Gewalt gekommen zu sein.639 Vor den schließlich anrückenden Legionen habe man, so Polybios, einander dann als angebliche Romfeinde angeschwärzt.640 2.3.7 Staseis im späten 2. Jahrhundert Mit den Wirren des bellum Achaicum endet der überlieferte polybianische Bericht,641 und die erhaltenen literarischen Quellen zu Hellas versiegen für die folgenden Jahrzehnte so weitgehend, dass sich kaum entscheiden lässt, ob es nun zu einer allgemeinen Beruhigung der Verhältnisse in den Poleis kam oder ob weitere Staseis schlicht nicht überliefert wurden.642 In einer vielzitierten Passage konstatiert Pausanias jedenfalls recht pauschal, Mummius habe nach der Plünderung Korinths die Mauern jener Städte, die gegen die Römer aufbegehrt hatten, schleifen lassen und dann gemeinsam mit einer Zehnerkommission die demokratische Ordnung durch offene Oligarchien bzw. Timokratien ersetzt.643 Wenn diese Nachricht im Kern zutrifft, so dürfte man in den betroffenen Poleis wohl ähnlich verfahren sein wie seinerzeit in Thisbe; davon, dass die demokratischen Institutionen regelrecht abgeschafft wurden, ist dabei nicht unbedingt auszugehen, auch wenn es augenscheinlich tatsächlich Eingriffe gab.644 Vielmehr dürfte sich hinter der Notiz verbergen, dass man nun darauf achtete, in den betroffenen Poleis als zuverlässig geltende φίλοι Roms auf die eine oder andere Weise – teils de iure, teils nur de facto – möglichst dauerhaft an der Spitze ihrer Gemeinwesen zu installieren.645 Vielerorts wird dazu 638 Zon. 9,31. 639 Pol. 38,3,8. Leider sind die entsprechenden Passagen des polybianischen Werkes verloren. In Theben scheint allerdings der Boiotarch Pytheas eine wichtige Rolle gespielt zu haben; Pol. 38,14,1 f.; Paus. 7,14,6. 640 καὶ οἱ μὲν ἦγον ἐκδώσοντες ἀλλήλους τοῖς πολεμίοις ὡς ἀλλοτρίους γεγονότας Ῥωμαίων; Pol. 38,16,6. Im Fall von Korinth scheint Mummius nicht mit Freunden in der Stadt gerechnet zu haben; laut Zonaras (9,31,6 f.) wurden die überlebenden Bürger – nicht aber ihre griechischen Verbündeten – sämtlich versklavt. 641 Vgl. zu den auf Polybios folgenden späthellenistischen Historikern auch den Überblick Gowing 2010. 642 Einen möglichen Hinweis darauf, dass es durchaus weiterhin Staseis gegeben haben mag, liefert allerdings eine fragmentarische Notiz bei Diodor, der von einer Mission unter der Leitung des Scipio Aemilianus im östlichen Mittelmeerraum berichtet, die unter anderem Ägypten, Zypern und Syrien umfasst habe und wohl in die Zeit um 140 gehört; Scipio habe dabei, so Diodor, sowohl zwischen Königen als auch innerhalb zerstrittener demokratischer Gemeinwesen als Vermittler und Versöhner agiert; Diod. 33,28b,3 f. Ob hiervon auch Hellas selbst betroffen war, ist allerdings unklar. In Pergamon bedrohte im Jahr 133 ein Volksbeschluss (OGIS 338) alle Bürger, die die Polis verlassen hatten, mit Atimie und der Konfiskation ihres Besitzes – wahrscheinlich besteht hier ein Zusammenhang mit dem Aristonikosaufstand; vgl. Daubner 2006: 81–95. 643 πόλεων δέ, ὅσαι Ῥωμαίων ἐναντία ἐπολέμησαν, τείχη μὲν ὁ Μόμμιος κατέλυε καὶ ὅπλα ἀφῃρεῖτο πρὶν ἢ καὶ συμβούλους ἀποσταλῆναι παρὰ Ῥωμαίων: ὡς δὲ ἀφίκοντο οἱ σὺν αὐτῷ βουλευσόμενοι, ἐνταῦθα δημοκρατίας μὲν κατέπαυε, καθίστα δὲ ἀπὸ τιμημάτων τὰς ἀρχάς; Paus. 7,16,9. Vgl. hierzu Kallet-Marx 1995a: 57–96. 644 Vgl. auch Kallet-Marx 1995a: „While details of Mummius’s constitutional arrangements remain obscure, it is improbable that they were particularly invasive and they surely did not extend outside the part of Greece defeated in 146“ (95); McGing 2003: „In the period after 146 continuity outweighed change“ (80). Vgl. zu den Verhältnissen in Kleinasien Daubner 2007. 645 Hinter der Angabe, die Römer hätten überdies vorübergehend sämtliche koina aufgelöst (Paus. 7,16,9), könnte sich der Entschluss des Senats verbergen, diese nach den Erfahrungen mit den Achaiern fortan

2.3 Das 2. Jahrhundert v. Chr.

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gar kein direktes römisches Eingreifen erforderlich gewesen sein: Mutmaßlich gehört in diesen Zusammenhang auch die Nachricht, Polybios habe nach dem Ende des Krieges mehreren achaiischen Poleis auf deren eigenen Wunsch hin neue Gesetze gegeben.646 Es gibt zwar Indizien dafür, dass diese Neuordnung vielleicht nicht allerorts willig hingenommen wurde,647 so insbesondere eine noch zu besprechende Inschrift aus Dyme,648 doch die literarischen Quellen schweigen zu diesem Punkt.649 Nur durch einen Zufall der Überlieferung erfährt man davon, dass es einige Jahre nach diesen Ereignissen im Mutterland in einigen Poleis Siziliens zu Unruhen gekommen zu sein scheint, deren Ursachen, Ausmaß und Verlauf allerdings im Dunkeln liegen: Um die Verdorbenheit des C. Verres zu illustrieren, erwähnt Cicero den P. Rupilius (cos. 132), der eben kein Geld dafür verlangt habe, im sizilischen Herakleia Konflikte zwischen Alt- und Neubürgern über die Besetzung des Rates beizulegen.650 Von Gewaltausbrüchen ist hier zwar nicht ausdrücklich die Rede, allerdings erscheint es unwahrscheinlich, dass andernfalls die Intervention eines hohen römischen Magistraten erforderlich geworden wäre.651 In eine ähnliche Richtung weist auch Ciceros Angabe, Scipio Aemilianus habe – wohl ebenfalls um 130 – vergleichbare Streitigkeiten in Akragas geschlichtet, indem er der Polis neue Gesetze gegeben und verfügt habe, dass jene, die einige Zeit zuvor durch den Prätor T. Manlius aufgrund eines senatus consultum in die Bürgerschaft aufgenommen worden waren, nicht mehr als die Hälfte der Bouleuten stellen dürften.652 Auch hier sind die Angaben zu vage, um gesicherte Aussagen zu treffen, aber die Annahme, dass Scipio eingreifen musste, weil es zwischen Alt- und Neubürgern zu einer Stasis gekommen war, ist zumindest erwägenswert. Der konkrete Hintergrund dieser nur schemenhaft überlieferten Vorgänge ist also unklar, doch die Chronologie legt die Vermutung nahe, dass ein Zusammenhang mit dem „Ersten Sizilischen Sklavenkrieg“, dem Eunus-Aufstand,653 besteht, an dessen Nie-

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nicht mehr mit der Aufgabe zu betrauen, im Namen Roms für Stabilität zu sorgen. Vgl. auch Kallet-Marx 1995a: 76–82, der in Erwägung zieht, Pausanias sei so zu verstehen, dass die koina bereits vor 146 aufgelöst worden seien. Paus. 8,30,9. Es ist gut denkbar, dass diese Information von Polybios selbst stammt und vielleicht sogar den Schluss seines Werkes markierte. Vgl. zum griechischen Widerstand gegen die römische Herrschaft auch Thornton 2001. Syll.3 684. Vgl. hierzu Kapitel 3.2.6. Angesichts der schlechten Quellenlage ist die Frage, welchen administrativen Status Hellas nach 146 besaß, in der Forschung sehr kontrovers diskutiert worden; vgl. nur Schwertfeger 1974: 65–72, Bernhardt 1977, Baronowski 1988, Ferrary 1988: 186–209, Kallet-Marx 1995a: 42–96 und McGing 2003: 80–84. Für die vorliegende Untersuchung allerdings ist dieses Problem von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, dass sich nun fast überall im Ägäisraum die römische Hegemonie – sei es direkt, sei es indirekt – etabliert hatte und römische Truppen dauerhaft in Reichweite waren. Vgl. hierzu zuletzt Covino 2013: 20–23, der allerdings von „stasis prevention“ ausgeht. Cic. Verr. 2,2,125. Cic. Verr. 2,2,123 f. Diod. 34,2. Vgl. zu Eunus zuletzt Morton 2013. Als Hauptquelle Diodors dürfte Poseidonios gedient haben; vgl. Matsubara 2003. Urbainczyk 2008: 81–90 konstatiert bei Diodor eine auffällige Sympathie für die Rebellen. Vgl. zu den Ereignissen ferner Manganaro 1983 und Bradley 1989: 46–65 sowie Engels 2011, der die Hypothese vertritt, der aus Apameia am Orontes stammende Eunus habe sich am seleukidischen Königtum orientiert, weil das Seleukidenreich zu dieser Zeit „zu einem Symbol antirömischen Widerstands […] und somit, wie später Mithridates, zur Schnittmenge aller auf eine Befreiung von der römi-

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2. Die literarische Überlieferung

derschlagung Rupilius prominent beteiligt war.654 Eine mögliche Verbindung zwischen dieser Revolte und Staseis wird dabei zudem durch ein Diodorfragment nahegelegt, demzufolge viele Politen nicht nur erfreut gewesen seien über das Unglück, das den Reichen und Hochmütigen durch die aufständischen Sklaven widerfahren sei,655 sondern auch selbst zu Gewalt und Brandschatzung übergegangen seien.656 Trifft dies zu, so könnte dies auch erklären, wieso Poseidonios von Apameia657 ausgerechnet in einem Fragment, das offenbar in den Zusammenhang der Schilderung dieses Krieges gehört, eine bemerkenswerte Parallelisierung vornimmt: Jeder, der eine Machtstellung innehabe, sei es nun als Bürger innerhalb eines Polisverbandes oder als Sklavenhalter in einem Oikos, sei gut beraten, jene milde zu behandeln, die unter ihm stünden. Denn der Hochmut (ὑπερηφανία) und die übertriebene Härte (βαρύτης) der Mächtigen seien es, die sowohl zu Revolten der Sklaven gegen ihre Herren als auch zu Staseis innerhalb einer Bürgerschaft führten. Je mehr jene, die die Macht (ἐξουσία) besäßen, sich grausam (ὠμός) und gesetzwidrig (παράνομος) verhielten, desto stärker würden die Unterlegenen zu bestialischen Taten provoziert.658 Auch wenn sich Klarheit kaum je wird gewinnen lassen, bietet die Synopse der spärlichen Quellen also Anlass zu der Vermutung, dass auf Sizilien um 135 im Kontext des Eunus-Aufstandes Staseis ausbrachen, die anschließend ein ordnendes römisches Eingreifen erforderlich machten.

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schen Hegemonie zielenden Kräfte“ (249) geworden sei. Dass sich Eunus „Antiochos“ nannte und den Titel βασιλεύς führte (Diod. 34,2,24), ist durch Münzen jedenfalls belegt, und es ist zumindest gut denkbar, dass er auch unter unzufriedenen Bürgern sizilischer Poleis Anhänger gefunden haben mag, die ihre Hoffnung auf ihn setzten. Dass gerade unter Antiochos VII. (138 bis 129) eine Restauration seleukidischer Macht noch einmal in greifbare Nähe rückte (vgl. Will 1982: 404–416), könnte die Attraktivität des „syrischen“ Modells zusätzlich erhöht haben. Als nach 129 dann die seleukidische Macht kollabierte, scheint es auch in den Städten Syriens zu Wirren gekommen zu sein; vgl. Schneider 1967: 738 f., Berve 1967: 433 und Bernhardt 1985: 99. Seleukeia am Tigris soll während der Endphase der seleukidisch-arsakidischen Konflikte von einem τύραννος namens Himeros beherrscht worden sein; FGrHist 87 F 13. Die Quellen verraten dabei eine gewisse Verwirrung hinsichtlich seiner Stellung: Diodor (34/35,21) nennt Himeros ὁ τῶν Πάρθων βασιλεύς, τοῦ τῶν Πάρθων βασιλέως σατράπης, und Justin bezeichnet ihn als vicarius der Arsakiden (Iust. 42,1). Vgl. Val. Max. 6,9,8. Ob die Charakterisierung des Eunus- und des Tryphon-Aufstandes als Sklavenrevolten, die die antike Überlieferung dominiert, den Ereignissen tatsächlich gerecht wird, oder ob es sich eher um eine allgemeine Aufstandsbewegung handelte, sei hier dahingestellt. Vgl. die Überlegungen bei Bradley 1983, der argumentiert, „any idea that the slave rebels in Sicily intended to establish slave states for their own sake is intrinsically implausible“ (451). Diod. 34,2,48. Die fragmentarischen Quellen, die die Vorgänge konsequent als Sklavenrevolte erzählen, lassen aber letztlich keine gesicherte Aussage darüber zu, ob sich dieser Aufstand mit Auseinandersetzungen zwischen Bürgern verzahnte. Vgl. zum Geschichtswerk des Poseidonios einführend Kidd 1989. Ὅτι οὐ μόνον κατὰ τὰς πολιτικὰς δυναστείας τοὺς ἐν ὑπεροχῆι ὄντας ἐπιεικῶς χρὴ προσφέρεσθαι τοίς ταπεινοτέροις, ἀλλὰ καὶ κατὰ τοὺς ἰδιωτικοὺς βίους πράως προσενεκτέον τοῖς οἰκέταις τοὺς εὖ φρονοῦντας. ἡ γὰρ ὑπερηφανία καὶ βαρύτης ἐν μὲν ταῖς πόλεσιν ἀπεργάζεται στάσεις ἐμφυλίους τῶν ἐλευθέρων, ἐν δὲ τοῖς κατὰ μέρος τῶν ἰδιωτῶν οἴκοις δούλων ἐπιβουλὰς τοῖς δεσπόταις καὶ ἀποστάσεις φοβερὰς κοινῆι ταῖς πόλεσι κατασκευάζει. ὅσωι δ᾽ ἂν τὰ τῆς ἐξουσίας εἰς ὠμότητα καὶ παρανομίαν ἐκτρέπηται, τοσούτωι μᾶλλον καὶ τὰ τῶν ὑποτεταγμένων ἤθη πρὸς ἀπόνοιαν ἀποθηριοῦται. πᾶς γὰρ ὁ τῆι τύχηι ταπεινὸς τοῦ μὲν καλοῦ καὶ τῆς δόξης ἑκουσίως ἐκχωρεῖ τοῖς ὑπερέχουσι, τῆς δὲ καθηκούσης φιλανθρωπίας στερισκόμενος πολέμιος γίνεται τῶν ἀνημέρως δεσποζόντων; FGrHist 87 F 108c (= Diod. 34,2,33).

2.4 Das 1. Jahrhundert v. Chr.

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2.4 Das 1. Jahrhundert v. Chr. 2.4.1 Staseis vor dem Ersten Mithridateskrieg Dafür, dass auch der drei Jahrzehnte später tobende Zweite Sizilische Sklavenkrieg, der Tryphon-Aufstand,659 zu einer vergleichbaren Destabilisierung einiger griechischer Gemeinden auf der Insel geführt haben könnte, spricht Ciceros Erwähnung von Konflikten in der Polis Halaisa: Im Jahr 95, also wenige Jahre nach dem Ende des Aufstandes, habe sich die Stadt hilfesuchend an den Senat gewandt, da es Streitigkeiten bezüglich der Wahlen zum Rat gegeben habe. Der Prätor C. Claudius Pulcher (cos. 92) sei daraufhin damit beaufragt worden, Halaisa gemeinsam mit weiteren Senatoren neue Gesetze zu geben, die für die Ratsmitgliedschaft unter anderem einen Zensus und ein Mindestalter festlegten und in Kraft geblieben seien, bis C. Verres die Statthalterschaft übernahm.660 Die zeitliche Nähe zum Sklavenkrieg lädt dazu ein, einen kausalen Zusammenhang zu vermuten; aber mit Gewissheit konstatieren lässt sich lediglich die Existenz von politischen Konflikten innerhalb der Bürgerschaft, die gravierend genug waren, um nicht ohne römische Intervention gelöst zu werden.661 Die Maßnahmen, die Cicero der Senatskommission zuschreibt, lassen sich dabei unschwer als Etablierung einer unverhüllten Oligarchie entziffern; ob dies den Sieg einer Stasispartei oder eher einen Kompromiss bedeutete, lässt sich anhand der überlieferten Informationen allerdings nicht entscheiden.662 Wohl nur wenig später kam es auch in Nordafrika noch einmal zu einer literarisch bezeugten Stasis, die sich zeitlich allerdings nur ungefähr eingrenzen lässt.663 Nachdem im Jahr 96 Ptolemaios Apion gestorben war, ohne einen Nachfolger zu hinterlassen, zögerte das von ihm testamentarisch zum Erben bestimmte Rom zunächst,664 die direkte Kontrolle über die Kyrenaika zu übernehmen, sondern der Senat erklärte die dortigen Poleis für frei.665 Damit entstand in der Region ein Machtvakuum, das, folgt man Plutarch, von einem gewissen Nikokrates gefüllt wurde, der sich zum Tyrannen von Kyrene aufgeschwungen haben soll.666 Die Mulierum Virtutes bieten dabei eine farbenfrohe Erzählung voller Topoi, die es erschweren, die historischen Ereignisse zu rekonstruieren.667 Nikokrates, so heißt es, habe nicht nur viele Bürger töten lassen, sondern auch eigenhändig den Apollonpriester Melanippos erschlagen, um dessen Amt 659 660 661 662 663 664 665 666 667

Vgl. Münzer 1939. Cic. Verr. 2,2,122. Vgl. zum Verhältnis der späthellenistischen sizilischen Poleis zu Rom zuletzt Prag 2014. Vgl. auch die Einschätzung bei Covino 2013: „The internal dispute mentioned by Cicero can only be one thing – stasis“ (24). Plutarch gibt als Datierung schlicht ἐν τοῖς Μιθριδατικοῖς καιροῖς an; Plut. Mor. 255e. Vgl. auch Daubner 2006: 47–52, der den Fall mit der attalidischen Erbschaft vergleicht. Cic. leg. Agr. 2,51. Eine nützliche Skizze zur Geschichte der Kyrenaika zwischen 96 und der Einrichtung der römischen Provinz bietet Oost 1968. Vgl. daneben auch Laronde 1987: 455–485. Berve (1967: 432) datiert die Ereignisse auf „wohl im Jahre 93/2“, Oost 1968: 17 plädiert dagegen bereits für „ca. 95 or 94“. Plut. Mor. 255e–257e.

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2. Die literarische Überlieferung

zu übernehmen. Um seine Feinde an der Flucht zu hindern, habe er Wachen an den Stadttoren postiert, die sogar Leichen überprüft hätten. Nachdem er überdies auch den Aristokraten Phaidimos getötet hatte, heiratete er, so Plutarch, dessen Witwe Aretaphila. Da diese nun nach einer Weile erkannt habe, dass von den φυγάδες keine Hilfe zu erwarten war, weil diese sich nicht zum gemeinsamen Widerstand organisiert, sondern getrennt hätten,668 habe sie sich selbst zum Handeln entschlossen. Ein erster Versuch, Nikokrates zu vergiften, sei gescheitert, doch dann sei es der zwischenzeitlich grausam gefolterten Aretaphila gelungen, durch ihre schöne Tochter – deren Name verdächtigerweise nicht genannt wird – den jüngeren Bruder des „Tyrannen“, Leandros, dazu zu bewegen, ihn aus dem Weg zu räumen. Doch nachdem Nikokrates durch einen Sklaven namens Daphnis ermordet worden war, habe Leandros der Polis nicht, wie erhofft, die Freiheit gegeben, sondern selbst die Herrschaft über Kyrene angetreten.669 Schließlich aber sei es Aretaphila gelungen, ihn in eine Falle zu locken, indem sie einen libyschen Fürsten namens Anabos durch Geld dazu bewogen habe, Leandros bei Friedensverhandlungen zu ergreifen und an seine Mitbürger auszuliefern. Nun rief man die Freiheit aus, und während man seine Mutter Kalbia verbrannt habe, sei Leandros in einem Sack ins Meer geworfen und ertränkt worden. Das Angebot, sich nun selbst an die Spitze der Stadt zu stellen, habe Aretaphila abgelehnt; tugendhaft habe sie fortan Wolle gesponnen.670 Es versteht sich, dass sich kaum mit Gewissheit ausmachen lässt, wieviel an dieser kleinen Novelle historisch ist. Es liegt allerdings nahe, als Hintergrund eine Stasis zu vermuten, die sich möglicherweise an der Bekleidung des Apollonpriestertums entzündet hatte.671 Ob tatsächlich Leandros für den späteren Mord an Nikokrates verantwortlich war, lässt sich dabei kaum entscheiden – es kann sich durchaus auch um einen Kunstgriff handeln, um eine bloße Unterstellung, die die vermeintliche Niedertracht des jüngeren Bruders unterstreichen soll, dem Plutarchs Vorlage ansonsten offenbar gar keine konkreten Untaten nachzusagen wusste. Dass tatsächlich eine regelrechte Tyrannis vorlag, ist daher auch in diesem Fall zumindest zweifelhaft.672 Gut vorstellbar ist, dass die Parteiung um Nikokrates nach dem Tod des Ptolemaios Apion vielmehr die günstige Gelegenheit genutzt hatte, um sich gegen jene zu erheben, die bis dahin mit lagidischer Unterstützung die Stadt dominiert hatten und deren Exponent Melanippos 668 Plut. Mor. 256a. Dies ist ein auffälliger Unterschied zu den Ereignissen um 322, die belegen, dass es wohl durchaus möglich gewesen wäre, sich im Umland von Kyrene festzusetzen und von dort Widerstand zu leisten. 669 Plut. Mor. 256e–f. Vgl. auch Polyain. 8,38, der hier ganz offensichtlich von Plutarch abhängt. 670 Plut. Mor. 257d. Vgl. zu diesem Frauenbild auch Wiemer 2005: 440. 671 Oost 1968 schließt von der Zwangsverheiratung der Aretaphila hingegen auf eine allgemeine „redistribution of women as well as wealth“ (17) und nimmt daher „economic and social unrest“ als Ursache der Vorgänge an. Es ist allerdings zu beachten, dass Plutarch derlei letztlich nicht berichtet. Für die Heirat mit der Witwe des getöteten Feindes sind auch andere Motive denkbar. 672 Auch die dem Nikokrates nachgesagten Taten lassen sich gut mit den Schrecken einer Stasis erklären, in der er und seine Anhänger sich gegen Melanippos und Phaidimos durchsetzten, und beweisen keineswegs die Errichtung einer Alleinherrschaft; und dass seinem Bruder Leandros nicht einmal die überaus feindselige Tradition, auf die sich Plutarch stützt, konkrete tyrannische Handlungen anhängen kann, unterstreicht diesen Eindruck.

2.4 Das 1. Jahrhundert v. Chr.

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gewesen sein mag, doch besteht hier natürlich die Gefahr, zeitliche und kausale Zusammenhänge zu verwechseln. Naheliegend ist in jedem Fall, dass Aretaphila als Witwe des Phaidimos eine Gallionsfigur der Gegenpartei in der Polis war, unabhängig davon, wie aktiv sie selbst wirklich ins Geschehen eingegriffen haben mag.673 Sonderlich nachhaltig kann die schließliche „Befreiung“ Kyrenes durch die Hinrichtung des Leandros allerdings nicht gewesen sein, denn als Lucullus Anfang 86 vor Ort eintraf, baten ihn laut Plutarch verzweifelte Bürger darum, die aufgrund von „Tyrannenherrschaften und Krieg“ zerrütteten Verhältnisse in der Polis zu ordnen und sich als Nomothet zu betätigen.674 Einer auf Strabon zurückgehenden Notiz bei Flavius Josephus ist überdies zu entnehmen, dass Lucullus in Kyrene in Sullas Auftrag eine στάσις beendet habe, in die auch die große jüdische Gemeinde der Stadt verwickelt gewesen sei; die Frage, ob diese Erhebung mit den von Plutarch geschilderten Ereignissen in direkter Verbindung stand, lässt sich nicht beantworten.675 Der Umstand, dass Nikokrates und Leandros als „Tyrannen“ in die Überlieferung eingingen, dürfte jedenfalls ein Indiz dafür sein, dass es auch diesmal nicht ihre Parteiung war, die sich in der Stadt dauerhaft durchsetzte, weshalb es ihre Feinde waren, die die Geschichte der Polis schrieben. 2.4.2 Staseis im Ersten Mithridateskrieg Bereits einige Zeit vor Lucullus’ Eintreffen in Kyrene war die griechische Welt von der schwersten Erschütterung seit dem Perseuskrieg getroffen worden, als die Römer in Gestalt von Mithridates VI. von Pontos ein letztes Mal von einem hellenistischen Monarchen herausgefordert wurden.676 Wieder steht man dabei vor dem Problem, dass sich nicht mit Gewissheit sagen lässt, ob der Umstand, dass die literarischen Quellen für die Jahre von 88 bis 86 mehrere Staseis bezeugen, einem Überlieferungszufall zu verdanken ist. Denn im Unterschied zu den Jahrzehnten vor und nach den Ereignissen ist der Erste Mithridatische Krieg vor allem bei Appian und Plutarch ungeachtet zahl673 Vgl. Bernhardt 1985: „In den Gegnern der Tyrannis des Nikokrates ist zweifellos eine Oligarchie der führenden Familien zu sehen“ (82). 674 Plut. Luc. 2,3 f.; vgl. Kallet-Marx 1995a: 364. Es ist durchaus gut denkbar, aber nicht zu beweisen, dass die Weihung eines Homonoia-Kultbildes durch die νομοφύλακες der Stadt (SEG 9,135) in diesen Zusammenhang gehört. 675 μαρτυρεῖ δὲ καὶ ἐν ἑτέρῳ τόπῳ ὁ αὐτὸς Στράβων, ὅτι καθ᾽ ὃν καιρὸν διέβη Σύλλας εἰς τὴν Ἑλλάδα πολεμήσων Μιθριδάτῃ καὶ Λεύκολλον πέμψας ἐπὶ τὴν ἐν Κυρήνῃ στάσιν τοῦ ἔθνους ἡμῶν ἡ οἰκουμένη πεπλήρωτο, λέγων οὕτως; ‘τέτταρες δ᾽ ἦσαν ἐν τῇ πόλει τῶν Κυρηναίων, ἥ τε τῶν πολιτῶν καὶ ἡ τῶν γεωργῶν τρίτη δ᾽ ἡ τῶν μετοίκων τετάρτη δ᾽ ἡ τῶν Ἰουδαίων; Ios. Ant. Iud. 14,7,2 f. Es handelt sich um ein Fragment aus Strabons Geschichtswerk (= FGrHist 91 F7). Vgl. Schuol 2007: 247 f. Vgl. zur Verwendung von στάσις bei Strabon Urso 2012, der zeigen kann, dass der Begriff hier keineswegs nur Konflikte innerhalb von Poleis bezeichnet, sondern auch auf den Bürgerkrieg zwischen Pompeius und Caesar (Strab. 4,1,5) und sogar auf die Kriege der Republik gegen Karthago und die hellenistischen Monarchien (Strab. 6,4,2) Anwendung findet. 676 Grundlegend zu Mithridates ist nach wie vor McGing 1986. Eine ereignisgeschichtliche Skizze des Krieges bietet Sherwin-White 1984: 121–148. Vgl. ferner Strobel 1996. Eine prägnante und luzide Zusammenfassung der hellenistischen Geschichte zwischen Mithridates VI. und Kleopatra VII. bietet nun auch Chaniotis 2018: 207–232.

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2. Die literarische Überlieferung

reicher offener Fragen recht gut greifbar. Jedenfalls spricht nichts gegen die Annahme, dass im Zusammenhang des römisch-pontischen Konfliktes vielerorts in Hellas und Kleinasien Staseis ausbrachen, denn die literarische Tradition stellt diese Verbindung ausdrücklich her.677 Das prominenteste und zugleich umstrittenste Beispiel stellt dabei zweifellos Athen dar. Obwohl die Polis davon profitiert hatte, sich im 2. Jahrhundert erfolgreich als treue Verbündete Roms positioniert zu haben,678 und hierfür insbesondere mit der Kontrolle über Delos belohnt worden war, scheint es bald nach der Jahrhundertwende zu einer Krise gekommen zu sein. Ursachen, Ausmaß und Konfliktlinien – möglicherweise zwischen Neu- und Altbürgern sowie zwischen jenen, die mit dem delischen Fernhandel zu Vermögen gekommen waren, und den alteingesessenen Familien der Oberschicht – liegen letztlich im Dunkeln.679 Als Indiz für eine wachsende politische Instabilität kann aber zweifellos der Umstand dienen, dass sich für 91, 90 und 89 drei konsekutive eponyme Archontate eines gewissen Medeios nachweisen lassen.680 Ob man diesen deshalb gleich als Tyrannen anzusprechen hat,681 erscheint zwar zweifelhaft; aber die Vermutung, es habe sich bei ihm um einen Exponenten einer Parteiung gehandelt, die Athen in diesen Jahren dominierte, lässt sich kaum von der Hand weisen.682 Diese im Detail unklare Krisensituation bildete offenbar den Hintergrund für die dramatischen Ereignisse, die Athen letztlich in die schwerste Katastrophe zwischen Persereinfall und Herulersturm führen sollten.683 Die Hauptquellen hierfür bilden dabei Athenaios, Appian, Plutarch und Pausanias, die sich einig darin sind, dass die Polis seit 88 von einer heftigen Stasis erschüttert worden sei, die in den erhaltenen Quellen mit den Namen Athenion und Aristion verbunden wird, die die Stadt als Tyrannen be677 Ñaco etc. 2009 und 2011 bieten gute aktuelle Skizzen zur Bedeutung des römisch-pontischen Konfliktes für die betroffenen griechischen Poleis. Vgl. daneben auch Niebergall 2011 sowie Bernhardt 1985: 33–64, dessen Einschätzungen ich allerdings vielfach nicht teile, da er meines Erachtens die entscheidende Rolle, die innergriechische Auseinandersetzungen spielten, übersieht. Mithridates hatte sich im Vorfeld des Krieges aktiv um Popularität bei den Hellenen bemüht; vgl. McGing 1986: 89–108. Vgl. auch Meißner 2007: „Mithradates’ Expansionismus fand nämlich in der Herrschaft Roms, ihrer Organisation, ihrer Finanzierung und ihren Folgen das geeignete ideologische Feindbild“ (77). Eine recht nützliche Auflistung jener Poleis, von denen bekannt ist, ob sie sich 88 für oder gegen den König positionierten, bietet Niebergall 2011: 67. 678 Vgl. Candiloro 1965 und Kallet-Marx 1995a: 198–205. 679 Vgl. hierzu den klassischen Beitrag Tracy 1979, der vor allem auf den ‚Sklavenaufstand‘ des Jahres 100 (Athen. 6,104) hinweist, aber ansonsten konstatiert: „Except for the slave revolt […] the Athenians of 100 b. c. enjoyed peace, prosperity and relative political stability“ (235). Die „oligarchische Revolution“, die Ferguson 1904 für das Jahr 103/2 postulierte, gilt heute in der Regel als gelehrte Fiktion; vgl. Badian 1976. 680 Syll.3 733, Z. 9–11. Vgl. zuletzt die knappe Diskussion bei Bugh 2013: 113 f. 681 So etwa Badian 1976: 107 f., Bernhardt 1985: 40 und McGing 1986: 118. Skeptischer ist Kallet-Marx 1995a: 206. 682 Vgl. Antela-Bernárdez 2015: „Like the rest of the Hellenistic world after the Roman conquest, the control of Athens seems to have fallen into the hands of a pro-Roman group of aristocrats. The leader of this group was Medeios of Piraeus“ (61). Vgl. zu Medeios Habicht 1995a: 301 und Byrne 1995 sowie zuletzt Antela-Bernárdez 2009a und Antela-Bernárdez 2013. 683 Vgl. zur ersten Orientierung Habicht 1995a: 299–310, Kallet-Marx 1995a: 205–220 und Grieb 2008: 133– 138, von deren Urteil ich allerdings in mehreren Punkten abweiche.

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herrscht haben sollen.684 Athenion erscheint dabei allerdings lediglich bei Athenaios, der ausdrücklich angibt, hier Poseidonios zu folgen.685 Der Bericht ist in seiner vorliegenden Form von augenfälliger Parteilichkeit: Athenion sei ein peripatetischer Philosoph gewesen, der sich als Bastard einer ägyptischen Sklavin unrechtmäßig das athenische Bürgerrecht angeeignet habe und zu Wohlstand gelangt sei. Als die Kunde von den ersten pontischen Siegen die Stadt erreicht habe, habe man ihn als Gesandten zu Mithridates geschickt, der ihn zu seinem φίλος gemacht und reich beschenkt habe. In Briefen habe Athenion sich anschließend gegenüber den Athenern seines vermeintlichen Einflusses auf den König gerühmt und eine χρεῶν ἀποκοπή, eine Rückkehr zur Demokratie sowie zur ὁμόνοια versprochen – Schlagworte aus dem ‚klassischen‘ Repertoire der Stasisrhetorik.686 Da mittlerweile ganz Kleinasien zu Mithridates übergegangen sei, sei Athenion schließlich nach Athen zurückgekehrt, wo ihm von der Mehrheit der Bevölkerung ein triumphaler Empfang bereitet worden sei, weil man große Hoffnungen auf den König gesetzt habe, da man die römische ἡγεμονία für beendet hielt. Athenion habe sich zunächst zum Haus des Diës begeben,687 der durch den Deloshandel zu immensem Reichtum gelangt sei, sei sodann auch von den dionysischen Techniten bejubelt worden688 und habe schließlich das Wort an die Ekklesia gerichtet.689 Dieser habe er versprochen, Athen, dessen Heiligtümer, Theater und Gymnasien verwaist und dessen Gerichte verstummt seien, wofür er dem römischen Senat die Schuld gegeben habe, wieder aufzurichten, woraufhin er zum στρατηγός ἐπὶ τῶν ὅπλων gewählt worden sei.690 Die übrigen Ämter seien nach seinem Wunsch besetzt worden. Nur wenige Tage darauf, so Athenaios vage, habe sich Athenion dann zum τύραννος aufgeschwungen und ein Terrorregime errichtet. Die „Gerechten“ habe er beseitigen und Wachen an den Toren aufstellen lassen, um eine Flucht zu verhindern. Zudem sei eine nächtliche Ausgangssperre verhängt worden. Wiederholt habe er vor der Volksver684 Noch immer lesenswert hierzu sind Niese 1887 und Accame 1946: 163–171. Die grundlegende Untersuchung ist Bugh 1992. 685 Athen. 5,47–53 (= FGrHist 87 F 36). Vgl. zu dieser Passage Touloumakos 1966, van Berneden 1969, Kidd 1989: 41–46, und Bringmann 1997; ich folge der Edition Dowden 2013. 686 Athen. 5,48. Eich 2006 folgt Athenaios: „In der civitas libera Athen hatte der Peripatetiker Athenion seine Wahl zum Strategen durch die Verheißungen einer demokratischen Restauration, einer Chreokopie und äußerer Unhabhängigkeit erreicht“ (587). Ob der angebliche Ruf nach Schuldentilgung wirklich Rückschlüsse auf eine ökonomische Krise erlaubt, wie etwa Kallet-Marx 1995a: 207 annimmt, ist angesichts des topischen Charakters dieser Aussage – eine χρεῶν ἀποκοπή galt ja als typisch tyrannisch – unklar. 687 Vgl. zum ‚Romfeind‘ Diës, der auch anderweitig bezeugt ist, Dow 1942. Meines Erachtens dürfte es sich bei Diës allerdings eher um einen Antagonisten der ‚Romfreunde‘ um Medeios als um einen Feind Roms gehandelt haben. 688 Vgl. Aneziri 2003: 49–51. 689 Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass Athenaios die Behauptungen, die Athenion gegenüber der Volksversammlung hinsichtlich der pontischen Siege gemacht haben soll, stark übertreibt, um ihn und jene, die ihm folgten, der Lächerlichkeit preiszugeben – so soll er sogar verkündet haben, dass sich Karthago dem Kampf gegen Rom angeschlossen habe, also ein Ort, der zur fraglichen Zeit bereits seit sechs Jahrzehnten nicht mehr existierte; Athen. 5,50. Im Grunde ist schwer vorstellbar, dass dieses Detail auf Poseidonios zurückgeht, zu dessen Lebzeiten Karthago verlassen war; eher scheint es eine Zutat des Athenaios zu sein, denn in severischer Zeit, als die Deipnosophistae entstanden, erlebte die Stadt eine neue Blüte. 690 Athen. 5,51.

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sammlung angebliche Romfreunde angeklagt, da diese mit den φυγάδες konspirieren und einen Umsturz planen würden; man habe sie unterschiedslos niedergemacht, und ihr Besitz sei konfisziert worden, während Kataphraktenreiterei691 im Umland Jagd auf Athenions Feinde gemacht habe.692 Viele seien auch von den Gerichten verurteilt worden, sofern sie nicht rechtzeitig geflohen seien. Schließlich sei es aber zu Versorgungsengpässen und einer Hungersnot gekommen, so dass der Tyrann einen wohlhabenden Vertrauten, Apellikon, ausgesandt habe, um Delos gewaltsam unter seine Kontrolle zu bringen. Mit der Niederlage dieser Flotte gegen den römischen Befehlshaber L. Orbius endet der Bericht des Athenaios.693 Diese Schilderung der angeblichen Tyrannis des Athenion enthält mehrere auffällige Doubletten – so wird alleine dreimal berichtet, er habe in der Chora Jagd auf geflüchtete Feinde machen lassen –, und insbesondere die Chronologie und die Gründe für die Flottenexpedition nach Delos werfen zahlreiche Fragen auf. Diese Verwirrung wird noch dadurch vergrößert, dass die übrige literarische Überlieferung, wie erwähnt, nichts von Athenion zu wissen scheint. Die wichtigste Quelle ist dabei Appian, der knapp berichtet, der pontische General Archelaos habe den Athener Aristion, einen Epikureer, mit dem Tempelschatz von Delos nach Attika gesandt, begleitet von 2000 Soldaten.694 Mit Hilfe dieser Truppe habe sich der Philosoph zum Tyrannen aufgeschwungen und sogleich zahlreiche angebliche Romfreunde (ῥωμαΐζοντες) töten lassen, während er andere zu Mithridates gesandt habe.695 Pausanias hingegen erwähnt keine pontischen Truppen, sondern stellt pauschal fest, Aristion habe den stets zum Aufruhr neigenden (ταραχῶδες) Demos überredet, sich Mithridates anzuschließen, während die edleren Athener zu den Römern geflüchtet seien.696 Und Plutarch konstatiert knapp, Athen sei διὰ τὸν τύραννον Ἀριστίωνα gezwungen worden, Sulla Widerstand zu leisten.697 Ohne darauf einzugehen, wie genau Aristion die Macht in der Polis erlangt habe, schildert er ihn in den finstersten Farben und macht ihn dafür verantwortlich, Athen, nachdem 691 Die Emendation des überlieferten φρακτικῶν zu καταφρακτικῶν verteidigt mit guten Argumenten Bugh 1992: 114–117. 692 Athen. 5,52. 693 Athen. 5,53. Vgl. Ferguson 1904: 13–17. 694 Vgl. zu Aristion Deininger 1971: 255–258 und Thrams 2001: 393–397. 695 τά τε χρήματα αὐτοῖς τὰ ἱερὰ ἔπεμπεν ἐκ Δήλου δι᾽ Ἀριστίωνος ἀνδρὸς Ἀθηναίου, συμπέμψας φυλακὴν τῶν χρημάτων ἐς δισχιλίους ἄνδρας, οἷς ὁ Ἀριστίων συγχρώμενος ἐτυράννησε τῆς πατρίδος, καὶ τῶν Ἀθηναίων τοὺς μὲν εὐθὺς ἔκτεινεν ὡς ῥωμαΐζοντας, τοὺς δ᾽ ἀνέπεμψεν ἐς Μιθριδάτην, καὶ ταῦτα μέντοι σοφίαν τὴν Ἐπικούρειον ἠσκηκώς; App. Mithr. 28. 696 ἦν Ἀριστίων Ἀθηναῖος, ᾧ Μιθριδάτης πρεσβεύειν ἐς τὰς πόλεις τὰς Ἑλληνίδας ἐχρῆτο. οὗτος ἀνέπεισεν Ἀθηναίους Μιθριδάτην θέσθαι Ῥωμαίων ἐπίπροσθεν. ἀνέπεισε δὲ οὐ πάντας, ἀλλ᾽ ὅσον δῆμος ἦν καὶ δήμου τὸ ταραχῶδες. Ἀθηναῖοι δὲ ὧν τις λόγος, παρὰ τοὺς Ῥωμαίους ἐκπίπτουσιν ἐθελονταί; Paus. 1,20,5. Eine Flucht athenischer optimates erwähnt auch Cicero (ad Brut. 306). 697 Σύλλας δὲ τὰς μὲν ἄλλας πόλεις εὐθὺς εἶχεν ἐπιπρεσβευομένας καὶ καλούσας, ταῖς δὲ Ἀθήναις διὰ τὸν τύραννον Ἀριστίωνα βασιλεύεσθαι ἠναγκασμέναις ἄθρους ἐπέστη καὶ τὸν Πειραιᾶ περιλαβὼν ἐπολιόρκει, μηχανήν τε πᾶσαν ἐφιστὰς καὶ μάχας παντοδαπὰς ποιούμενος; Plut. Sull. 12,1. An anderer Stelle nennt er Aristion gemeinsam mit Nabis und Catilina als Paradebeispiel für einen Politiker, der das Gemeinwesen wie eine Seuche oder ein Geschwür befällt; Plut. Mor. 809e. Da das Bild von Stasis als Krankheit einer Polis, wie erwähnt, sehr geläufig war, liegt die Vermutung nahe, dass Plutarch hier bewusst auf dieses Motiv anspielt.

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es so viele Kriege, Tyrannen und Staseis glücklich überstanden habe, nun gleich einer Krankheit in den Untergang geführt zu haben.698 Eindringlich schildert dann Plutarch die Hungersnot, die die Stadt während der Belagerung durch die Römer geplagt habe, ohne dass sich Aristion – ganz Tyrann – darum gekümmert habe, und wirft den athenischen Unterhändlern überdies vor, vor Sulla nur mit der großen Vergangenheit der Polis geprahlt zu haben, statt konkrete Vorschläge zu machen, um sie zu retten.699 Die Stadt sei dann durch Verrat gefallen, und zahllose Bürger hätten den Tod gefunden; der völligen Zerstörung sei Athen nur aufgrund der Fürbitte zweier φυγάδες namens Meidias und Kalliphon entronnen.700 Appian berichtet, Aristion und seine Anhänger hätten sich zunächst auf der Akropolis verschanzt, seien aber ausgehungert worden.701 Sulla, der der Stadt zuvor die „Freiheit“ versprochen habe,702 habe sie sämtlich hinrichten lassen, ebenso wie alle übrigen, die eine ἀρχή ausgeübt hätten oder die man dafür verantwortlich machte, gegen jene Ordnung verstoßen zu haben, die die Römer Hellas auferlegt hätten, als sie es unterworfen hatten. Den Rest der Bürgerschaft habe man begnadigt und sei zu jener Verfassung zurückgekehrt, die Rom der Polis vor den Ereignissen gegeben hatte.703 Im Piräus leistete man den Römern unterdessen noch länger Widerstand, denn dorthin hatten sich die pontischen Truppen unter Archelaos zurückgezogen. Nachdem diese den Ort aufgegeben hätten, habe Sulla ihn vollständig niederbrennen lassen,704 bevor er Archelaos bei Chaironeia entscheidend schlug.705 Die Vorgänge haben in der Forschung erhebliche Aufmerksamkeit erfahren, wobei insbesondere die Beziehung zwischen Athenion und Aristion vielfach diskutiert worden ist: Handelt es sich um zwei verschiedene Personen, oder ist Athenion in Wahrheit Aristion?706 Obwohl die Quellenlage absolute Gewissheit nicht erlaubt, spricht doch 698 […] ὁ τύραννος Ἀριστίων, ἄνθρωπος ἐξ ἀσελγείας ὁμοῦ καὶ ὠμότητος ἔχων συγκειμένην τὴν ψυχήν, καὶ τὰ χείριστα τῶν Μιθριδατικῶν συνερρυηκότα νοσημάτων καὶ παθῶν εἰς ἑαυτὸν ἀνειληφώς, καὶ τῇ πόλει μυρίους μὲν πολέμους, πολλὰς δὲ τυραννίδας καὶ στάσεις διαπεφευγυίᾳ πρότερον ὥσπερ νόσημα θανατηφόρον εἰς τοὺς ἐσχάτους καιροὺς ἐπιτιθέμενος; Plut. Sull. 13,1 f. 699 Plut. Sull. 13,2–4. Vgl. zur Darstellung der sullanischen Plünderung Athens jetzt Eckert 2016: 86–101. 700 Plut. Sull. 14,5. Habicht 1995a: 305 vermutet, bei Plutarchs „Meidias“ habe es sich entweder um Medeios, den dreimaligen Archonten, oder um dessen gleichnamigen Sohn gehandelt. Diese Annahme ist verlockend, aber letztlich spekulativ. In jedem Fall ist anzunehmen, dass die beiden φυγάδες (bzw. ihre Parteiung) nach der Katastrophe dafür sorgten, ihre eigene Rolle in ein möglichst positives Licht zu rücken – schließlich hatten sie sich offenbar in der Entourage jenes Mannes befunden, der ihre Vaterstand brandschatzen ließ. 701 Sulla, der von Aristion verhöhnt und provoziert worden sein soll (Plut. Sull. 13,1), hatte Athen allerdings zwischenzeitlich verlassen. Laut Plutarch führte C. Scribonius Curio das Kommando über die Belagerungstruppen; Plut. Sull. 14,7. 702 App. Mithr. 38. 703 καὶ αὐτῶν ὁ Σύλλας Ἀριστίωνα μὲν καὶ τοὺς ἐκείνῳ δορυφορήσαντας ἢ ἀρχήν τινα ἄρξαντας, ἢ ὁτιοῦν ἄλλο πράξαντας παρ᾽ ἃ πρότερον ἁλούσης τῆς Ἑλλάδος ὑπὸ Ῥωμαίων αὐτοῖς διετέτακτο, ἐκόλασε θανάτῳ, τοῖς δὲ ἄλλοις συνέγνω, καὶ νόμους ἔθηκεν ἅπασιν ἀγχοῦ τῶν πρόσθεν αὐτοῖς ὑπὸ Ῥωμαίων ὁρισθέντων; App. Mithr. 39. 704 App. Mithr. 40 f. 705 Liv. per. 81 erwähnt lediglich Archelaos als Sullas Gegner, nicht Aristion. 706 Von einer Identität der beiden ging bereits 1781 Christoph Martin Wieland aus; vgl. auch Geyer 1932: 2171 und Nicolet 1987: 794–796. Die Mehrheit der Forschung folgt hingegen Niese 1887, der unter ande-

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mehr gegen eine Identität der beiden als dafür. Glenn Bugh hat mit überzeugenden Argumenten dafür plädiert, dass bereits Athenaios die beiden Philosophen miteinander verschmolzen habe – so sei etwa der Einsatz von Kataphrakten, der Athenion nachgesagt wird, ein deutlicher Hinweis auf die Präsenz pontischer Truppen, über die jedoch erst Aristion verfügt habe.707 Und Borja Antela-Bernárdez hat, hierauf aufbauend, unlängst die Position vertreten, Athenion sei keineswegs ein Tyrann gewesen,708 sondern habe sich – unabhängig von Mithridates – darum bemüht, Athen, das nach dem Ende der Dominanz des Medeios in Chaos und Verwirrung geraten sei, in seinem Sinne neu zu ordnen. Für das Jahr 88/7 ist kein eponymer Archon verzeichnet.709 Während Christian Habicht vorgeschlagen hat, das Amt sei in diesem Jahr von Mithridates VI. bekleidet worden, der im Nachhinein einer Art damnatio memoriae verfallen sei,710 geht Antela-Bernárdez davon aus, dass es tatsächlich zu einer ἀναρχία gekommen sei,711 die mutmaßlich durch den plötzlichen Tod des Medeios ausgelöst worden sei und den Aufstieg des Athenion ermöglich habe, der diesen Zustand laut Athenaios in seiner Rede vor dem Demos beklagte.712 In diesen Zusammenhang hätten auch die von Athenaios berichteten Missstände wie die Schließung von Theatern, Tempeln und Gymnasien, die von Athenion in seiner Rede vor dem Volk beklagt worden seien, gehört. Wie dem auch sei: Es ist in jedem Fall sehr gut vorstellbar, dass sich Athenion an die Spitze einer Bewegung setzte, die den Einfluss der seit Jahrzehnten dominierenden ‚Romfreunde‘ in der Stadt zurückzudrängen suchte. Zu diesem Zweck musste er sich allerdings nicht unbedingt an Mithridates anlehnen.713 Zwar behauptet Athenaios das Gegenteil, doch ließe sich dies durchaus durch die Vermischung von Athenion und Aristion erklären; dagegen, dass Athenion über pontische Rückendeckung verfügte, spricht jedenfalls der Umstand, dass Mithridates ihn weder militärisch noch mit Geld oder Getreide unterstützt zu haben scheint.714 Überdies berichtet Athenaios selbst, dass

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rem darauf verwies, dass antike Autoren – zumal Poseidonios – schwerlich Epikureer und Peripatetiker verwechselt hätten und die Ereignisse um Athenion vor der Expedition nach Delos, jene um Aristion hingegen nach derselben angesiedelt seien. Folgt man übrigens Ruschenbusch 1993, so endeten die Historien des Poseidonios bereits mit dem Jahr 88, und in diesem Fall könnte, bleibt man bei der gängigen Chronologie, Aristion nicht mehr Gegenstand seines Werkes gewesen sein. Vgl. Bugh 1992: 116–118. Erstmals formuliert wurde diese These, soweit ich sehe, durch von Wilamowitz-Moellendorf 1923: 48–50. Skepsis äußert hingegen Bringmann 1997: 149–151. Vgl. bereits Bugh 1992: „Athenion was no tyrant“ (119). IG II2 1714. Vgl. Habicht 1976, McGing 1986: 119, Habicht 1995a: 302 und Marek 2010: 348. IG II2 1713. Vgl. Antela-Bernárdez 2015: 64 f. Anders Santangelo 2007: 37, der annimmt, die ἀναρχία, von der Athenion gesprochen haben soll, beziehe sich auf die widerrechtliche Iteration des Medeios. Anders Deininger 1971, der zwar ebenfalls annimmt, Athenion habe sich vor allem gegen eine herrschende Parteiung in Athen gewandt, doch sei „ein Kampf gegen die Oligarchie, wie Athenion ihn führte, ohne eine gleichzeitige Feindschaft gegen Rom gar nicht zu denken“ gewesen (254). Vgl. Antela-Bernárdez 2015: „Had Athens sided with Mithridates, he would have come to its aid and secured its control“ (80). Anders Habicht 1995a: „Mit der Wahl Athenions zum Hoplitenstrategen im Frühjahr 88 hatte die Bürgerschaft Athens sich für König Mithridates und gegen Rom entschieden“ (303). Ähnlich argumentiert Errington 2008: 255, der annimmt, Delos habe sich daraufhin gegen Athen und Mithridates und für Rom entschieden. Auch Haake 2007: 272 geht davon aus, Athenion sei es gelungen, „als Gefolgsmann des Mithridates“ in Athen „die Macht an sich zu reißen“. Santangelo 2007: 35–39 er-

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Athenion öffentlich beteuert habe, keinen Bruch mit Rom zu wünschen.715 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es also plausibel, in Athenion den Protagonisten einer Gruppe zu erblicken, die die bislang herrschende Parteiung von der Macht zu verdrängen suchte, ohne sich damit zugleich in den Konflikt zwischen Rom und Mithridates verwickeln zu lassen.716 Trifft dies zu, so mag man sich an die tertia pars aus der Zeit des Perseuskrieges erinnert fühlen. Davon, dass die Quellen die Vorgänge als ein Aufbegehren der Menge gegen die Elite erzählen, muss man sich dabei nicht irritieren lassen, da sich dies leicht als Stasistopik erklären lässt: Folgt man Athenaios, so war Athenion als gebildeter, wohlhabender Mann ein Angehöriger der Elite, dem jedoch aufgrund seiner fragwürdigen Herkunft offenbar der Aufstieg in die politisch führenden Kreise verwehrt wurde. Ähnliches scheint auch für seine namentlich bekannten Mitstreiter Diës und Apellikon zu gelten. Falls tatsächlich eine Verbindung zwischen diesen Männern und einer fragmentarisch erhaltenen „peripatetischen“ Verfassung Athens bestehen sollte,717 so würde dies den primär innenpolitischen Charakter der Auseinandersetzung unterstreichen. Trifft diese Rekonstruktion zu, so versuchten Athenion und seine Mitstreiter im Sommer 88, die Schwächung der herrschenden Partei, ausgelöst durch den Vormarsch des pontischen Königs sowie mutmaßlich auch durch den Tod des Medeios, auszunutzen, solange die Römer abgelenkt waren. Dafür, dass es sich bei ihnen nicht um ‚Romfeinde‘ handelte, könnte der Umstand sprechen, dass Sulla einige von ihnen später begnadigte;718 ihr Furor richtete sich offenbar gegen ihre Feinde in Athen, nicht gegen die Römer. Doch der Versuch der Polis, sich inmitten des Krieges zu behaupten, scheiterte; zwar berichtet Athenaios nichts über Athenions weiteres Schicksal, doch spricht zumindest nichts gegen die Annahme, dass er den Tod fand, als Aristion mit pontischen Truppen in der Stadt einrückte. Appian stellt ausdrücklich fest, dass diese Machtübernahme gewaltsam vonstatten gegangen sei.719 Warum hätte dies nötig sein sollen, wenn Athen bereits zuvor von ‚Mithridatesfreunden‘ dominiert worden wäre?

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blickt in Athenion einen Romfeind, dessen Machtübernahme Sulla zum Handeln gezwungen habe. Und Cartledge 2016: 244 hält die Vorgänge für eine „political revolution“, die sich gegen die römische Herrschaft ebenso wie gegen „the sort of non- or anti-democratic constitution that the Romans consistently favoured“ gerichtet habe. Vgl. Deininger 1971: 253 f. und Bernhardt 1985: 46, der allerdings – meines Erachtens irrtümlich – annimmt, Athenion habe diese Zusicherung „offenbar gegen seine Überzeugung“ gemacht. Van Beneden 1969: 154 vermutet, Athenion habe sich äußerlich romfreundlich geben müssen, um zu verhindern, dass der Demos auf die Seite des Senats übertrat. Kallet-Marx 1995a: 209 nimmt an, Athenion habe auf Zeit gespielt. Und Marek 2010 glaubt, in Athen habe man sich „unfaßbare Illusionen über die wahren Machtverhältnisse“ gemacht und sei deshalb auf Athenions „Schönfärberei“ hereingefallen (348). Dafür, die Ereignisse um 90 vor dem Hintergrund inneraristokratischer Konflikte zu deuten, argumentiert bereits Badian 1976. Vgl. daneben auch Candiloro 1965. Vgl. zur Erweiterung der athenischen Elite in diesen Jahrzehnten auch Schiller 2006: „The aristocracy opened its doors […] by allowing the transmission of gentilitas through adoption, matrileneal inheritance, marriage, or purchase to those enriched for the most part by the Athenian control over the island of Delos“ (283). SEG 59,131. Vgl. Oliver 1980 und Antela-Bernárdez 2009b. Vgl. Badian 1976: 113. App. Mithr. 28. Marek 2010: 348 konstatiert, Archelaos habe Athenion abgesetzt und durch Aristion ersetzt, ohne weiter nach den Gründen zu fragen.

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Nun aber scheinen tatsächlich jene die Kontrolle über Attika übernommen zu haben, die auf einen Sieg des Königs setzten und von diesem aktiv unterstützt wurden.720 Inzwischen hatte Mithridates nämlich überraschend große Erfolge erzielt, während die Römer vielen Griechen durch das bellum sociale und den anschließenden Bürgerkrieg so geschwächt erschienen sein dürften, dass man nun in Hellas erstmals seit Jahrzehnten darauf hoffen konnte, die römische Hegemonie abzuschütteln – und durch eine pontische zu ersetzen. Männer wie Aristion wollten dabei offensichtlich auf der richtigen Seite stehen, um als φίλοι des Königs künftig die Geschicke ihrer Gemeinwesen zu bestimmen. Zweifellos rechneten sie bei dieser Gelegenheit gnadenlos mit ihren inneren Feinden ab,721 wobei, wie gesagt, gut möglich ist, dass sich viele der Grausamkeiten, die Athenaios über Athenion berichtet, erst unter Aristion zutrugen, dessen Parteiung dank pontischer Truppen über bessere Möglichkeiten hierzu verfügte. Seine monatelange Dominanz scheint in der Tat Züge einer Tyrannis getragen zu haben; allerdings ist auch hier Vorsicht geboten, da Aristion durchaus, ähnlich wie einst Lachares, im Nachhinein zum Sündenbock gemacht worden sein könnte: Nach dem römischen Sieg hatte man in Attika jeden Grund, die Schuld am Vorgefallenen einem archetypischen Gewaltherrscher zuzuschieben.722 Denn zum Unglück für Athen hatte es sich erwiesen, dass man Mithridates überschätzt hatte. Nach der Katastrophe etablierten sich die überlebenden Mitglieder der ‚romfreundlichen‘ Oligarchie offensichtlich wieder an der Spitze der Stadt. Dass sie ein Interesse daran hatten, die Zeit, in der ihre Feinde die Polis kontrolliert hatten, in düsteren Farben zu malen, liegt auf der Hand. Bereits damals mag man auch Athenion rückwirkend zu einem Romfeind erklärt haben; dies würde jedenfalls erklären, wieso Poseidonios ihn und Aristion offenbar auf eine so ähnliche Weise schilderte, dass Athenaios später – folgt man Bugh – beide Gestalten zu einem einzigen tyrannischen Philosophen vermischen konnte.723 Auch wenn Athen zweifellos das prominenteste und ungeachtet aller Probleme am besten überlieferte Beispiel ist, so verfügt man dennoch über hinreichende Indizien für die Annahme, dass der Erste Mithridateskrieg auch in zahlreichen anderen Poleis 720 Vgl. auch Kallet-Marx 1995a: „It was only with the arrival of Aristion and his Pontic troops that Athens committed itself irreversibly to Mithridates and against Rome“ (211). Strabon spricht davon, Mithridates habe in Athen τυράννους eingesetzt (ἐπιπεσὼν δ᾽ ὁ Μιθριδατικὸς πόλεμος τυράννους αὐτοῖς κατέστησεν οὓς ὁ βασιλεὺς ἐβούλετο), unter denen Aristion der schlimmste gewesen sei; Strab. 9,1,20. Meines Erachtens deutet dies eher darauf hin, dass Aristion kein Autokrat war, sondern gemeinsam mit einer Parteiung herrschte, als darauf, dass Strabon hier Athenion, Aristion und noch weitere „Tyrannen“ meint, die nacheinander auftraten, wie etwa Deininger 1971: 255 annimmt. 721 Niebergall 2011 bezweifelt hingegen ohne Angabe von Gründen, dass es in Athen zu einer Stasis gekommen sei: „Eine Auseinandersetzung zwischen alteingesessenen Oligarchen und Emporkömmlingen ist nicht anzunehmen, geschweige denn eine Stasis“ (61). Hintergrund dieser Aussage scheint zu sein, dass er offenbar davon ausgeht, eine Stasis sei ein „Dissens zwischen Ober- und Unterschicht“ (76); ein solcher lässt sich für Athen in der Tat nicht nachweisen. 722 Berve 1967: 412–415 ist in diesem Fall skeptisch und bezweifelt vor allem in Hinblick auf Athenion, dass es sich um eine regelrechte Tyrannis gehandelt habe – allerdings mit dem bemerkenswerten Argument, dass „das einzige auswärtige Unternehmen, das er einleitete, nicht seiner persönlichen Herrschaft, sondern den Interessen des attischen Staates“ gegolten habe (414). 723 Vgl. auch Bringmann 1997: 154, der annimmt, schon Poseidonios habe Athenion bewusst als „prototypical political seducer, the opposite of the Platonic Philosopher King“, porträtiert.

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zu offenen Staseis führte. Vielfach sind diese Notizen nur sehr dürr, so berichtet etwa Plutarch beiläufig, Lucullus habe in Kolophon einen τύραννος namens Epigonos beseitigt.724 Es ist mehr als nur wahrscheinlich, dass es sich dabei um den Exponenten einer ‚romfeindlichen‘ Parteiung handelte, die um 88 an die Macht gelangt war. Ähnliches gilt wohl auch für Tralleis, das laut einer sehr knappen Notiz bei Strabon während des Krieges unter die Tyrannis der Söhne eines gewissen Kratippos geraten sein soll.725 Es ist anzunehmen, dass die von diesen geführte Parteiung ebenfalls bereits 88 die Kontrolle über die Stadt übernommen hatte, in der es während der Ephesischen Vesper726 zu ausgesuchten Grausamkeiten gekommen sein soll.727 Strabon verdankt man überdies auch Kenntnis von den damaligen Vorgängen in Adramytteion: Der Rhetor und Sophist Diodoros, ein Platoniker, habe, um sich Mithridates gewogen zu machen, als στρατηγός die Ratsmitglieder der Stadt erschlagen lassen, bevor er selbst zum König gereist sei.728 Nachdem dieser besiegt worden war, habe er vor seinen Mitbürgern fliehen müssen und sich schließlich in Amaseia das Leben genommen. Der Redner Xenokles habe anschließend vor dem Senat die Verteidigungsrede für 724 Plut. Luc. 3,3. Vgl. Bernhardt 1985: 52. Im Namen des Epigonos scheinen Münzen geschlagen worden zu sein; vgl. Milne 1941: 10. 725 τυραννηθῆναι δ᾽ ὀλίγον συνέπεσε χρόνον τὴν πόλιν ὑπὸ τῶν Κρατίππου παίδων κατὰ τὰ Μιθριδατικά; Strab. 14,1,42. Mutmaßlich gehört auch jener Philopoimen in diese Reihe, den Mithridates zum ἐπίσκοπος Ἐφεσίων gemacht haben soll; App. Mithr. 48. 726 Vgl. Amiotti 1980. Da sich diese Massaker nach Ausweis der Quellen gegen die Römer und Italiker in den kleinasiatischen Poleis richteten – Diodor (37,26 f.) betrachtet die Vorgänge als Aufstand gegen Rom – und also nicht von Bürgern an Mitbürgern verübt wurden, handelte es sich offenbar nicht um Staseis im Sinne der vorliegenden Studie, auch wenn im Grunde sehr schwer vorstellbar ist, dass damals nicht auch griechische ‚Romfreunde‘ in den Städten den Tod fanden. Die Frage, ob es sich um einen „Genozid“ gehandelt habe, scheint Marek 2010: 346 f. zu bejahen, da nicht nur römische Bürger, sondern alle Italiker getötet worden seien. Wenig beachtet wurde in diesem Zusammenhang, soweit ich sehe, allerdings bislang eine beiläufige Bemerkung bei Athenaios: Athenion soll in seiner Ansprache an die Athener behauptet haben, die ῥωμαῖοι Asiens lägen entweder vor den Götterbildern, oder aber sie hätten griechische Kleidung angelegt und würden sich wieder nach ihrer Heimat (Polis?) benennen (οἱ δὲ λοιποὶ μεταμφιεσάμενοι τετράγωνα ἱμάτια τὰς ἐξ ἀρχῆς πατρίδας πάλιν ὀνομάζουσι; Athen. 5,50). Nimmt man diese Bemerkung ernst, so liegt der Verdacht nahe, dass bei der Ephesischen Vesper auch zahlreiche Griechen, die zuvor die civitas Romana erworben hatten, erschlagen wurden. Frank Daubner verdanke ich den Hinweis, es könne sich allerdings auch um Italioten oder um liberti griechischer Herkunft gehandelt haben. – Beachtung verdient in jedem Fall, dass der locus classicus, die Schilderung der Vorgänge bei Appian, die Ereignisse wie eine Stasis erzählt: Hierzu gehört insbesondere der Topos der Hinschlachtung unter Missachtung der Asylie. Niebergall 2011: 59 f. überbeansprucht diese Passage daher wohl, wenn er annimmt, die meisten Italiker seien bereits vor den Ereignissen geflohen, weshalb nur noch eine kleine Gruppe von Zurückgebliebenen in den Tempeln getötet worden sei. Vgl. zu den Hintergründen dieser Geschehnisse, die man traditionell insbesondere in der Ausplünderung Asiens durch publicani erblickt, auch die Diskussionen bei Kallet-Marx 1995a: 138–148, Strobel 1996: 72–75, Thornton 1998b und Gotter 2013: 223–225. 727 Laut Appian beauftragten die Bürger der Stadt eigens einen paphlagonischen Söldner namens Theophilos damit, die Italiker (und mutmaßlich auch die griechischen ‚Romfreunde‘) in der Polis zu erschlagen; er habe dies getan, nachdem er die Opfer dazu eigens in den Tempel der Homonoia geführt habe; App. Mithr. 23. Der Verweis auf die Eintracht lässt natürlich aufhorchen – er ergibt eigentlich nur Sinn, wenn die Morde diese wiederherstellen sollten. Vgl. auch Cass. Dio frg. 101 (1). 728 ἠτύχησε δὲ τὸ Ἀδραμύττιον ἐν τῷ Μιθριδατικῷ πολέμῳ. τὴν γὰρ βουλὴν ἀπέσφαξε τῶν πολιτῶν Διόδωρος στρατηγὸς χαριζόμενος τῷ βασιλεῖ, προσποιούμενος δ᾽ ἅμα τῶν τε ἐξ Ἀκαδημίας φιλοσόφων εἶναι καὶ δίκας λέγειν καὶ σοφιστεύειν τὰ ῥητορικά; Strab. 13,1,66. Vgl. auch Anth. Graec. 11,376.

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jene kleinasiatischen Poleis gehalten, die man wegen ihrer Parteinahme für Mithridates zur Rechenschaft zog.729 Was sich hinter dem knappen Bericht verbirgt, lässt sich unschwer erraten: Diodoros setzte sich offensichtlich an die Spitze jener, die den Krieg als Gelegenheit sahen, sich an jenen zu rächen, denen man vorwarf, dank römischer Rückendeckung den Rat der Stadt zu dominieren; als nach der pontischen Niederlage die Gegenpartei wieder die Kontrolle über Adramytteion übernahm, blieben Diodoros – und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur ihm – nur noch Flucht und Freitod übrig. Darauf, dass die Polis möglicherweise bereits vor dem Krieg von Konflikten geplagt worden war, die nun lediglich gewaltsam eskalierten, deutet übrigens ein ungefähr auf die Jahrhundertwende zu datierender Volksbeschluss hin, der μετάπεμποι δικασταί für die Beilegung von Streitfällen dankt.730 Gerade die Spärlichkeit der Zeugnisse lässt auf eine sehr hohe Dunkelziffer schließen. Denn dass sich Ähnliches in der Tat auch in relativ kleinen, unbedeutenden Poleis ereignen konnte, die normalerweise kaum Spuren in der literarischen Überlieferung hinterlassen haben, bezeugt das Beispiel Chaironeia: Hätte Plutarch nicht zufällig aus dieser Stadt gestammt, wären die bemerkenswerten Ereignisse, die sich dort um 88 zutrugen, wohl nicht überliefert worden. Zu Beginn der Kimonvita berichtet der Biograph scheinbar unvermittelt von Damon, einem jungen Mann, der nach seinem mythischen Vorfahren auch den Beinamen Peripoltas getragen habe.731 In diesen habe sich der Kommandant einer römischen Einheit, die während des Mithridateskrieges in Chaironeia überwinterte, verliebt. Als der junge Mann sich seiner Avancen erwehrte, habe der Römer ihm mit Gewalt gedroht, da er angesichts des heruntergekommenen Zustands der kleinen Polis nicht mit Widerstand gerechnet habe.732 In dieser Situation nun habe sich Damon aber mit 16 weiteren jungen Männern verschworen; sie hätten ihre Gesichter bemalt und sich Mut angetrunken, bevor sie den Römer überfielen und erschlugen, als er eben im Begriff war, auf der Agora in der Morgendämmerung ein Opfer darzubringen. Auch zahlreiche seiner Begleiter habe man getötet – Plutarch erläutert nicht, ob es sich dabei um Griechen oder Römer handelte –, bevor man zunächst aus der Stadt geflohen sei.733 729 Vgl. Magie 1950: 216, Berve 1967: 430 und Bernhardt 1985: 59 f., der allerdings annimmt, die Ermordung des Rates sei erst erfolgt, als die militärische Position des Königs zusammengebrochen war. Dies erscheint ausgesprochen unwahrscheinlich, denn während der Phase der pontischen Hegemonie ist der Rat schwerlich weiterhin von ‚Romfreunden‘ dominiert worden. Durch eine Tötung von Männern, die nicht als seine Feinde dargestellt werden konnten, hätte Diodoros aber kaum das Wohlwollen des Königs erlangen können; das Blutbad dürfte also in die Anfangsphase des Mithridateskrieges gehören und die zeitweilige Entmachtung der ‚Romfreunde‘ in der Polis bewirkt haben. 730 IG XII 5,722. Vgl. zu den μετάπεμποι δικασταί Kapitel 3.1.1. Auffällig ist zudem, dass auch Adramytteion zu den Poleis gehört, die von Appian im Zusammenhang der Massaker von 88 gesondert erwähnt werden; die Einwohner der Stadt sollen die Opfer, die an den Strand geflüchtet waren, dort niedergemacht und ihre Kinder ertränkt haben; App. Mithr. 23. 731 Plut. Kim. 1,2–2,2. Vgl. den Kommentar Ma 1994: 60–67. 732 Plut. Kim. 1,2. Hinter dieser Formulierung darf man wohl Plutarchs Lokalpatriotismus vermuten, dokumentiert doch der weitere Verlauf der Geschichte, dass man in Chaironeia eben nicht wehrlos war. 733 καὶ τὴν πεῖραν αὐτὴν δι᾽ ὀργῆς πεποιημένος, ἐπεβούλευε τῷ ἀνδρὶ καὶ συνίστη τῶν ἡλικιωτῶν τινας ἐπ᾽ αὐτόν, οὐ πολλοὺς ἕνεκα τοῦ λαθεῖν, ἀλλ᾽ οἱ σύμπαντες ἑκκαίδεκα γενόμενοι χρίονται μὲν αἰθάλῳ τὰ πρόσωπα νυκτός, ἐμπιόντες δὲ ἄκρατον ἅμ᾽ ἡμέρᾳ προσπίπτουσι τῷ Ῥωμαίῳ κατ᾽ ἀγορὰν θύοντι, καὶ καταβαλόντες αὐτόν τε καὶ τῶν περὶ αὐτὸν οὐκ ὀλίγους ἐκ τῆς πόλεως μετέστησαν; Plut. Kim. 1,3.

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Inmitten des Aufruhrs (ταραχή) habe sich der Rat versammelt und die Angreifer in absentia zum Tode verurteilt; doch noch am selben Abend hätten Damon und die Seinen die ἄρχοντες beim gemeinsamen Essen überfallen und sämtlich erschlagen, bevor sie sich abermals aus der Polis zurückzogen.734 Wenig später sei Lucullus in der Stadt erschienen, habe konstatiert, dass Chaironeia Übles widerfahren sei, und sodann die römischen Truppen abgezogen. Daraufhin sei Damon, der mit seinen Männern das Umland durch λῃστεία unsicher gemacht habe, von den πολῖται per Volksbeschluss zurückgerufen und zum Gymnasiarchen gewählt, aber bald darauf ermordet worden.735 Irgendwann später habe die verfeindete Polis Orchomenos die Bürger von Chaironeia wegen dieser Vorfälle vor dem Statthalter von Macedonia angeklagt, doch Lucullus habe zugunsten der Stadt ausgesagt und sei daher mit einem marmornen Standbild geehrt worden.736 Diese Passage, die von der Forschung lange Zeit vernachlässigt wurde, hat in den vergangenen Jahren erhebliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen.737 Doch obwohl der ungeachtet seiner Kürze komplexe und facettenreiche Text in Teilen enigmatisch bleibt, spricht doch alles dafür, in ihm ein Zeugnis für eine Stasis zu erblicken, das allerdings durch eine zunächst wohl nur mündliche Überlieferung überformt und verzerrt worden sein dürfte.738 Die überzeugendste Rekonstruktion der Ereignisse hat dabei Christopher Mackay vorgelegt,739 dem hier in den wesentlichen Punkten gefolgt werden soll: Die angebliche erotische Komponente des Konflikts soll offenbar überdecken, dass es sich in Wahrheit um einen Umsturzversuch handelte, bei dem sich Damon und seine Anhänger – wohl Anfang 87 – zunächst gegen die römische Garnison wandten, um anschließend ihre Feinde in der städtischen Oberschicht zu töten. Es gelang ihnen allerdings nicht, die Kontrolle über Chaironeia zu erlangen; erst als Lucullus die verbliebenen Legionäre abgezogen hatte, um gegen Archelaos zu kämpfen, trat ein Umschwung in der Polis ein, und die Volksversammlung gestattete den Aufrührern, die zuvor eine Art Guerillakrieg geführt hatten, nicht nur die Rückkehr, sondern betraute Damon sogar mit dem prestigeträchtigen Amt des Gymnasiarchen.740 Möglicherweise verkündete man in diesem Zusammenhang auch eine Wiederherstellung der Demokratie.741 Doch 734 γενομένης δὲ ταραχῆς ἡ τῶν Χαιρωνέων βουλὴ συνελθοῦσα θάνατον αὐτῶν κατέγνω […]. ἑσπέρας δὲ τῶν ἀρχόντων, ὥσπερ ἔθος ἐστί, κοινῇ δειπνούντων οἱ περὶ τὸν Δάμωνα παρεισπεσόντες εἰς τὸ ἀρχεῖον ἀπέσφαξαν αὐτοὺς καὶ πάλιν ᾤχοντο φεύγοντες ἐκ τῆς πόλεως; Plut. Kim. 1,4. Der Kontext lässt meines Erachtens offen, ob mit ἄρχοντες hier die σύνεδροι gemeint sind; es spricht aber mehr dafür, dass es sich um Magistrate handelte: Die üblichen gemeinsamen Mahlzeiten der Würdenträger fanden gemeinhin im jeweiligen Amtsgebäude statt; vgl. Haensch 2003: 182. Vgl. auch Ma 1994: 62, der annimmt, Damon habe die Beamten getötet, um nicht wegen Mordes belangt zu werden. 735 Plut. Kim. 1,6. 736 Plut. Kim. 2,1. 737 Zu nennen sind hier insbesondere Ma 1994, Kallet-Marx 1995a: 279–281, Mackay 2000, Franco 2003, Ellinger 2005 und Niebergall 2011: 63–65. 738 Vgl. hierzu Ma 1994: 60 f., der insbesondere auf die für eine oral tradition charakteristische floating gap zu Beginn der Passage hinweist. 739 Vgl. Mackay 2000. Vgl. auch Ma 1994: „It is quite possible that the story of Damon preserves a trace of factional struggle between pro-Roman and pro-Pontic elements in Chaironeia“ (68). 740 Vgl. zur hellenistischen Gymnasiarchie Schuler 2004. 741 Vgl. Mackay 2000: 101.

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als die pontischen Truppen in Griechenland endgültig geschlagen worden waren, wurde Damon ermordet; seine Familie sowie vermutlich auch seine überlebenden Anhänger wurden verbannt und lebten zu Plutarchs Lebzeiten in Stiris, wo sie noch immer trotzig an ihrem boiotischen Dialekt festhielten. Mackay interpretiert die Vorgänge dabei als Beleg dafür, dass es in Mittelgriechenland noch 87 Widerstand gegen die römische Herrschaft gegeben habe.742 Gerade das Blutbad, das Damon, der für sich mythische Vorfahren in Anspruch nahm und mithin wohl der Oberschicht entstammte, gemeinsam mit seinen Anhängern an den ἄρχοντες verübte, ist allerdings ein starkes Indiz für inneraristokratische Konflikte. Chaironeia scheint kurz vor der Tat an Mithridates gefallen und anschließend wieder unter römische Kontrolle gebracht worden zu sein;743 es ist zu vermuten, dass Damon und seine Getreuen diese Rückkehr zur Herrschaft der ‚Romfreunde‘ in der Stadt so unerträglich fanden, dass sie sich entschieden, die Anführer der Gegenpartei ebenso zu beseitigen wie den römischen Kommandeur, dessen Truppen hinter diesen standen. Da die Einquartierung von Legionären für die betroffenen Gemeinwesen in der Regel mit ganz erheblichen Belastungen verbunden war – erinnert sei nur an Phokaia, wo die Überwinterung einer classis 192 eine Stasis ausgelöst hatte744 –, dürften die Verschwörer auf die Unterstützung der erzürnten Einwohner gehofft haben.745 Wenn dieses Kalkül aufgegangen sein sollte, so berichtet Plutarch nichts davon; doch belegen die Volksbeschlüsse, durch die Damon und seine Mitstreiter amnestiert und zurückgerufen wurden, zumindest die Existenz einflussreicher Parteigänger in der Polis, denen es nach dem Abzug der römischen Truppen gelungen sein muss, zeitweilig die Kontrolle über die Stadt zu erlangen.746 Dass man sich hierfür nicht auf den Rat, sondern auf die Politen gestützt zu haben scheint, könnte ein Indiz dafür sein, dass die Mehrheit der Oberschicht weiterhin gegen Damon und seine Parteiung stand und man daher auf ein ψήφισμα auswich. Seine Wahl ausgerechnet zum Gymnasiarchen bezeugt dabei übrigens nicht nur seine Zugehörigkeit zur sozialen Elite,747 der diese mit erheblichen Kosten verbundene Leiturgie in der Regel vorbehalten war, sondern legt überdies auch eine Unterstützung Damons durch die νέοι nahe, doch muss dies letztlich Spekulation bleiben.748 742 Mackay 2000: „Damon’s attack would thus be indicative of the kind of resistance which was still made against Roman rule“ (99 f.). 743 Vgl. Mackay 2000: 98. 744 Liv. 37,9,1–4. 745 Diesen Kontext übersieht Niebergall 2011: 65, der verwirrt konstatiert, „die Feinde der Römer“ seien in Chaironeia offenbar „zu einem im Grunde unmöglichen Zeitpunkt“ in der Überzahl gewesen. 746 Vgl. zur Datierung der Vorgänge auf 88/87 Ma 1994: 68 f.; Ñaco etc. 2009: 37 gehen mit Mackay 2000 von 87/86 aus. Kallet-Marx 1995a: 281 datiert die Rückkehr Damons hingegen erst auf 86: Da Bürger von Chaironeia eine wichtige Rolle bei Sullas Sieg über Archelaos gespielt hätten (Plut. Sull. 17,5–18,1), habe man sich stark genug gefühlt, um nun den Mörder eines Römers zu amnestieren. Zu dieser Position kann er nur gelangen, weil er Plutarchs Lesart folgt und Damons Tat als private Rache und nicht als Ausdruck einer Stasis deutet. Auch Bernhardt 1985 spricht lediglich von einem „persönlichen Racheakt“ (212). 747 Vgl. Mackay 2000: „It is not impossible that Damon claimed to be a latter day Peripoltas, who would once more establish a powerful and independent Boeotia“ (99). 748 Möglicherweise haben Plutarch bzw. seine (mündlichen?) Quellen bewusst verunklart, wo die Konfliktlinien in der Polis verliefen, um eine Reintegration und Befriedung der Bürgerschaft nach den augen-

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Es ist übrigens gut denkbar, dass Damon und seine Anhänger keine ‚Mithridatesfreunde‘ waren – auch Plutarch behauptet ja nichts dergleichen –, sondern lediglich die günstige Gelegenheit nutzten, die ihnen die wechselvollen Kämpfe zwischen römischen und pontischen Truppen boten, um gegen jene Bürger aufzubegehren, die Chaironeia in ihren Augen dominierten. In jedem Fall aber blieb der Sieg seiner Gruppierung ephemer, und augenscheinlich gelang es der Polis später, ihn gegenüber den Römern als alleinigen Sündenbock darzustellen und auf diese Weise einer Bestrafung zu entgehen. Bedenkt man, wie gnadenlos Rom gemeinhin auf Abfall und Verrat reagierte, so liegt es nahe, die Schonung Chaironeias darauf zurückzuführen, dass bereits Lucullus – immerhin inmitten einer kritischen Phase der Kämpfe mit Archelaos – anerkannt hatte, dass die Gewalt gegen die Legionäre lediglich einen Kollateralschaden einer blutigen Stasis dargestellt hatte und daher augenscheinlich verziehen werden konnte, nachdem die hierfür Verantwortlichen bereits bestraft worden waren. Als ein Abfall Chaironeias von Rom wurden die Ereignisse offensichtlich weder von Lucullus noch später vom Statthalter Makedoniens gewertet, und für diese Sichtweise muss es Argumente gegeben haben. Plutarch berichtet an anderer Stelle noch von einer weiteren Stasis, die sich in diesen Jahren ereignete, allerdings mit einer bemerkenswerten Pointe: In Magnesia am Sipylos hätten sich Kretinas und Hermeias gerade eine Auseinandersetzung geliefert (ἀντιπολιτευόμενος ἀνδρί),749 als sich pontische Truppen der Polis näherten. Statt sich aber an den äußeren Feind anzulehnen, sollen die beiden Parteiungen sich, so Plutarch, friedlich geeinigt haben: Der Aristokrat Kretinas, dem offenkundig die Sympathien des Erzählers gelten, habe Hermeias vorgeschlagen, einer von beiden solle die Stadt verlassen, damit der andere sie erfolgreich gegen Mithridates verteidigen könne. Hermeias sei auf das Angebot eingegangen und habe sich mit seiner Familie freiwillig in die Verbannung begeben, wobei ihn Kretinas aus eigenen Mitteln entschädigt habe, um anschließend tatsächlich die Stadt zu behaupten.750 Plutarchs kurze Skizze ist dabei natürlich alles andere als unverdächtig und wirft Fragen auf.751 Wenn sich die beiden Kontrahenten wirklich friedlich verständigt hatten, wieso musste Hermeias dann überhaupt Magnesia

scheinlich traumatischen Vorgängen zu erleichtern. Ellinger 2005 argumentiert, es sei vor allem darum gegangen, die Ereignisse zu bewältigen und die Homonoia wiederherzustellen. 749 Vgl. Ruschenbusch 1980: 88. 750 ἐνίοις δὲ καὶ τὸ Κρητίνου, τοῦ Μάγνητος ὑπερφυῶς ἀρέσκει Ἑρμείᾳ γὰρ ἀντιπολιτευόμενος ἀνδρὶ μὲν οὐ δυνατῷ φιλοτίμῳ δὲ καὶ λαμπρῷ τὴν ψυχήν, ἐπεὶ κατέσχεν ὁ Μιθριδατικὸς πόλεμος, τὴν πόλιν ὁρῶν κινδυνεύουσαν ἐκέλευσε τὸν Ἑρμείαν τὴν ἀρχὴν παραλαβόντα χρῆσθαι τοῖς πράγμασιν, αὐτοῦ μεταστάντος: εἰ δὲ βούλεται στρατηγεῖν ἐκεῖνον, αὐτὸν ἐκποδὼν ἀπελθεῖν, ὡς μὴ φιλοτιμούμενοι πρὸς ἀλλήλους ἀπολέσειαν τὴν πόλιν. ἤρεσεν ἡ πρόκλησις τῷ Ἑρμείᾳ, καὶ φήσας ἑαυτοῦ πολεμικώτερον εἶναι τὸν Κρητίναν ὑπεξῆλθε μετὰ παίδων καὶ γυναικός. ὁ δὲ Κρητίνας ἐκεῖνόν τε προύπεμψε, τῶν ἰδίων χρημάτων ἐπιδοὺς ὅσα φεύγουσιν ἦν ἢ πολιορκουμένοις χρησιμώτερα, καὶ τὴν πόλιν ἄριστα στρατηγήσας παρ᾽ οὐδὲν ἐλθοῦσαν ἀπολέσθαι περιεποίησεν ἀνελπίστως; Plut. Mor. 809b–d. 751 Es ist offensichtlich, dass Plutarch hier ein exemplum dafür konstruieren möchte, wie schädliche Konflikte innerhalb der Führungsschicht einer Polis im Falle einer äußeren Krise beigelegt werden könnten, und dabei offenkundig erhebliche Verzerrungen in Kauf nimmt. Vgl. zu den Praecepta gerendae rei publicae in den Moralia Halfmann 2002.

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verlassen, statt sich an der Verteidigung zu beteiligen?752 Es erscheint daher deutlich wahrscheinlicher, dass er als Unterlegener in dieser Stasis schlicht genötigt wurde, die Polis zu räumen, da man fürchtete, seine Parteiung werde sie sonst an den König verraten.753 Eine Entschädigung mag er durchaus erhalten haben, doch wenn dies der Fall war, dann dürfte der Grund eher in politischer Vernunft als in Großherzigkeit zu erblicken sein: Auf diese Weise konnte man hoffen, dass der faktisch Verbannte nicht versuchen würde, seine Rückkehr zu erzwingen, indem er die Angreifer unterstützte. Beachtung verdient übrigens der Umstand, dass die Stasis in Magnesia bereits bestanden zu haben scheint, bevor der Mithridateskrieg begann, und also offenbar nicht durch den äußeren Konflikt ausgelöst wurde. Als sich das Kriegsglück endgültig gegen Mithridates wandte, scheinen sich sodann in mehreren Poleis ‚Romfreunde‘ gegen jene erhoben zu haben, die 88 die Kontrolle übernommen hatten. Chios etwa soll der König nun vorgeworfen haben, viele Bürger seien ῥωμαΐζοντες, und die Stadt daher mit einer hohen Strafe von 2000 Talenten belegt und später den Großteil der Politen deportiert haben.754 Doch dies war offenbar nur der Anfang. Nachdem sich Ephesos, Tralleis, Mesopolis, Hypaipa und weitere Poleis gegen Pontos erhoben hatten – ein Vorgang, bei dem es auch zu Gewalt gegen die ‚Mithridatesfreunde‘ gekommen sein dürfte –, soll der König zunächst militärisch gegen die Insurgenten vorgegangen sein. Doch bald scheint er, folgt man Appian, versucht zu haben, in den Gemeinden, die inzwischen auf römischer Seite standen, aktiv Staseis auszulösen, indem er zu altvertrauten Parolen Zuflucht nahm und die ἐλευθερία der Griechen verkündete, Schuldentilgung und Landverteilungen ankündigte und überdies den Metöken das Bürgerrecht und den Sklaven die Freilassung versprach.755 Es liegt auf der Hand, dass Mithridates auf diese nachgerade ‚klassische‘ Weise eine pontische factio in den Städten zu schaffen oder zu ermutigen suchte. In den Orten, die sich noch unter seiner Kontrolle befanden, sollen zudem etwa 1600 Männer getötet worden sein, die von ihren persönlichen Feinden als ‚Romfreunde‘ denunziert worden seien.756 Allein in Ephesos kamen damals laut Appian rund 80 Männer ums Leben.757 Wenngleich den 752 Plutarch spricht nur von Μαγνησία, aber da sich Magnesia am Mäander Mithridates widerstandslos angeschlossen haben soll (App. Mithr. 21), kommt eigentlich nur das lydische Magnesia als Ort des Geschehens in Frage: Dass sich dieses erfolgreich gegen die pontischen Truppen unter Archelaos behaupten konnte, bezeugt Pausanias (1,20,5). 753 Anders Reinach 1895: 122, der Plutarchs Interpretation unkritisch übernahm und Kretinas als „Patrioten“ bezeichnete. 754 App. Mithr. 46 f. Vgl. Reinach 1895: 173 f. und McGing 1986: 127 f. Dies ergibt nur Sinn, wenn die ‚Romfreunde‘ zuvor die Kontrolle über Chios übernommen hatten. Die Vorgänge inspirierten John Greenleaf Whittier zu seinem Gedicht Mithridates at Chios. Noch in augusteischer Zeit führte dies umgekehrt zu einer bevorzugten Behandlung der Polis durch den römischen Statthalter; Syll.3 785. 755 δείσας δὲ περὶ τοῖς λοιποῖς τὰς πόλεις τὰς Ἑλληνίδας ἠλευθέρου, καὶ χρεῶν ἀποκοπὰς αὐτοῖς ἐκήρυσσε, καὶ τοὺς ἐν ἑκάστῃ μετοίκους πολίτας αὐτῶν ἐποίει καὶ τοὺς θεράποντας ἐλευθέρους, ἐλπίσας, ὅπερ δὴ καὶ συνηνέχθη, τοὺς κατάχρεως καὶ υετοίκους καὶ θεράποντας, ἡγουμένους ἐν τῇ Μιθριδάτου ἀρχῇ βεβαίως τὰ δοθέντα αὐτοῖς ἕξειν, εὔνους αὑτῷ γενήσεσθαι; App. Mithr. 48. Entsprechende Maßnahmen scheint Mithridates bereits 88 in Ephesos verfügt zu haben; Syll.3 742. 756 Vgl. Bernhardt 1985: 60. 757 App. Mithr. 48.

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meisten Beteiligten zu diesem Zeitpunkt bewusst gewesen sein wird, dass der Krieg für Mithridates aller Voraussicht nach verloren war, dürften gerade die chaotischen Verhältnisse in dieser Phase dazu eingeladen haben, noch rasch mit persönlichen Feinden unter den Mitbürgern abzurechnen. Als Sullas Truppen nach dem Frieden von Dardanos die Kontrolle über Kleinasien übernommen hatten, verkündete er die Rücknahme der Maßnahmen des Königs,758 darunter auch die Befreiung der Sklaven, und Appian bemerkt knapp, dies habe in mehreren Poleis zu Revolten und Massakern (σφαγαί) sowohl an Freien als auch an ehemaligen Sklaven geführt, oftmals unter irgendeinem Vorwand.759 Die konkreten Hintergründe dieser Gewalttaten sind nicht mehr zu ermitteln und dürften durchaus vielfältig gewesen sein; der Bericht legt nahe, dass es sich um ein verzweifeltes Aufbegehren der ‚Mithridatesfreunde‘ handelte, allerdings steht zu vermuten, dass überdies vielerorts auch die Gegenseite Rache nahm. Appians Einschätzung, man habe verschiedene Vorwände vorgebracht, um zur Tat zu schreiten, lässt dabei tief blicken – zumindest seines Erachtens ging es bei den Gewaltausbrüchen demnach offenbar in Wahrheit gar nicht um den römisch-pontischen Konflikt, der lediglich als πρόφασις gedient habe. Anschließend sollen dann die καππαδοκίσαντες von den Römern hart bestraft worden sein, wobei Appian erneut insbesondere Ephesos hervorhebt,760 das in diesem Zusammenhang wohl überdies vorübergehend seinen Status als civitas libera verlor. 2.4.3 Staseis nach dem Frieden von Dardanos Appian ist es auch, der pauschal feststellt, nach Murenas Niederlage gegen den König seien im Zweiten Mithridatischen Krieg761 erneut viele Griechen auf die pontische Seite übergetreten.762 Während des Drittten Mithridatischen Krieges763 soll dann, so berichtet ein Memnonfragment, Herakleia Pontike durch den Verrat der dortigen ‚Romfeinde‘ um Lamachos an den König gefallen sein.764 Und wohl etwa um diese Zeit scheint 758 Vgl. insbesondere Santangelo 2007, dessen Kernthese lautet, Sulla habe durch eine intensivere Einbindung der lokalen Eliten die römische Herrschaft gezielt auf eine neue Grundlage gestellt. Die Frage ist allerdings, ob man die Entwicklung wirklich durch eine bewusste Politik erklären muss. 759 App. Mithr. 61. 760 App. Mithr. 61. 761 Vgl. Glew 1981 und McGing 1986: 133–135. Zumeist gibt man – im Anschluss an Appian – Murena die Schuld am Kriegsausbruch; anders Kallet-Marx 1995a: 262. 762 App. Mithr. 66. Bemerkenswert ist andererseits die Notiz bei Cicero (Off. 3,87), Sulla habe es mehreren Gemeinwesen gestattet, sich ihre „Freiheit“ zu erkaufen. Vgl. zu Sullas Vorgehen in Kleinasien auch Santangelo 2007: 50–66. Was die Römer spätestens seit dem Achaiischen Krieg unter ἐλευθερία verstanden, lässt sich allerdings sehr gut am Schicksal eines Magistraten der civitas libera Mylasa ablesen, den P. Licinius Crassus Mucianus (cos. 131) schwer bestrafen ließ, weil jener es gewagt hatte, nicht den angeforderten Mastbaum, sondern einen anderen, ihm geeigneter erscheinenden Stamm zu senden. Crassus ließ ihn auspeitschen, wie es heißt, da er nicht Eigenständigkeit, sondern nur Gehorsam erwartete; Gell. Noct. Att. 1,13,11–13. Vgl. Till 1973 und Daubner 2006: 119–123. 763 Vgl. Sherwin-White 1984: 159–185, McGing 1986: 145–163 und Keaveney 1992: 75–128. 764 ἐκεῖ δὲ διὰ τὸν χειμῶνα διατρίβων, Λάμαχον τὸν ῾Ηρακλεώτην, φιλίαν ἔχων πρὸς αὐτὸν παλαιάν, καὶ μαθὼν ἄρχειν τῆς πολιτείας, πολλαῖς ὑποσχέσεσιν εἷλκεν ὥστε παρασκευάσαι αὐτὸν ἐν τῆι πόλει παραδεχθῆναι

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2. Die literarische Überlieferung

es auch in Tarsos zu blutigen Unruhen gekommen zu sein,765 deren Hintergrund aber unklar ist, so dass sich nicht sagen lässt, ob eine Verbindung zu Mithridates besteht oder eine nur zufällige zeitliche Koinzidenz vorliegt: Athenaios berichtet knapp, der Epikureer Lysias sei zum στεφανηφόρος gewählt worden,766 womit in diesem Fall der Heraklespriester gemeint war, der in Tarsos offenbar eponym war und augenscheinlich politischen Einfluss besaß.767 Nach dem Ablauf seines Amtsjahres habe Lysias sich geweigert, einem Nachfolger Platz zu machen, sondern das priesterliche Gewand gegen ein Purpurkleid, lakonische Schuhe sowie einen goldenen Kranz eingetauscht und sich zum τύραννος gemacht.768 Athenaios fährt fort, Lysias habe anschließend eine Umverteilung des Besitzes durchgeführt, und viele Reiche, die sich dagegen gewehrt hätten, seien getötet worden.769 Weitere Details bleibt die Quelle schuldig, und die altbekannte topische Behauptung, es sei zu sozialrevolutionären Maßnahmen gekommen,770 ist nicht über jeden Zweifel erhaben – schließlich geht es Athenaios hier, ähnlich wie im Falle des Athenion, augenscheinlich darum, Lysias als Beispiel für einen Philosophen, der zum archetypischen Tyrannen mutiert, zu schildern. Doch spricht grundsätzlich nichts gegen die Annahme, dass es in Tarsos um das Jahr 70 zu einer Stasis kam, die sich augenscheinlich an der Bekleidung des Stephanephorates entzündet hatte.771 Möglicherweise ist es überdies ein Hinweis auf eine Stasis im kretischen Kydonia, wenn Appian berichtet, ein gewisser Panares habe die Polis unter der Bedingung seiner eigenen Sicherheit an Q. Caecilius Metellus (cos. 69) ausgeliefert, doch bleiben die Zusammenhänge im Dunkeln.772 Auch Eleuthera soll damals laut Cassius Dio durch Verrat an Metellus gefallen sein; angesichts der notorischen Neigung der Kreter zur Stasis liegt es nahe, auch hier einen entsprechenden Hintergrund zu vermuten.773 In Antiocheia am Orontes wiederum war es offenbar bereits während des Ersten Mithridatischen Krieges zu einer Spaltung gekommen, bei der laut Justin eine pontische Partei einer ptolemai-

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(FGrHist 434 = BNJ 434 F 1: 29,3). Vgl. Bernhardt 1985: 70 und Kallet-Marx 1995a: 302. Bereits einige Zeit zuvor sollen römische publicani in der Polis umgebracht worden sein; 27,6. Vgl. zu Tarsos Welles 1962, der betont, wie gründlich die Stadt zu dieser Zeit hellenisiert war (58). Ob er der Lysias ist, in dessen Namen in Tarsos im 1. Jahrhundert v. Chr. Münzen geschlagen wurden (BMC Greek 21: 183), ist ungewiss, aber gut möglich. Athenaios bringt die Vorkommnisse mit Mithridates in Verbindung (vgl. Thrams 2001: 397 f.), bleibt aber nähere Informationen schuldig, so dass prinzipiell auch ein Zusammenhang mit dem Ersten Mithridateskrieg denkbar ist. Cartledge 2016 nennt die Amtsbezeichnung „suspiciously undemocratic“ (236). Vgl. zum Zusammenhang zwischen Ornat und ritueller Machtübernahme auch Chaniotis 2005b: 52, der τύραννος hier mit „König“ übersetzt und von einem „Ritualtransfer“ spricht. Athen. 5,54. Vgl. Welles 1962: 56–58 und Berve 1967: 430 f. Vgl. Grünewald 2004: 77, der diese Nachricht „frankly unhistorical“ findet. Ein indirekter Hinweis darauf, dass es in diesen Jahren in zahlreichen Orten Kleinasiens zu Staseis kam, ist wohl auch die Notiz, ein Großteil jener Männer, die sich den kilikischen Piraten anschlossen, seien φυγάδες gewesen, denen in ihrer Heimat der Tod drohte; Cass. Dio 36,20,2. App. Sic. 6,2; vgl. Bernhardt 1985: 92. Kurz zuvor betont Appian die Stärke der pontischen Partei auf der Insel; App. Sic. 6,1. Cass. Dio 36,18,2. Vgl. zur römischen Einnahme Kretas, die auf eine anfängliche Niederlage (?) des M. Antonius Creticus im Jahr 71 folgte, auch de Souza 1998, der davor warnt, den Wohlstand der Insel im späten Hellenismus zu unterschätzen.

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ischen gegenübergestanden hatte,774 bevor man Tigranes von Armenien herbeigerufen habe, der die Stadt im Anschluss jahrelang kontrolliert hatte. Wohl 67 brach hier dann laut Diodor erneut eine „große Stasis“ aus (γενομένης δὲ στάσεως μεγάλης), als sich ein Teil der Bürger erhob und nach einer ersten Niederlage hilfesuchend an Philipp II. Barypous wandte.775 Offensichtlich war aber Antiocheia nicht die einzige Polis Syriens, die während der Endphase der seleukidischen Herrschaft von Wirren geplagt wurde, denn hinter den namenlosen „Tyrannen“, die Cn. Pompeius 64 laut Plutarch in zahlreichen Orten beseitigt haben soll,776 dürften sich vielfach die Protagonisten von Parteiungen verbergen, die nun wohl durch ‚Romfreunde‘ ersetzt wurden – beweisen lässt sich dies zwar nicht, doch erscheint es, betrachtet man das Gesamtpanorama römischer Ostpolitik, zumindest sehr wahrscheinlich. Für die Städte Palästinas bezeugt Cassius Dio ausdrücklich, dass dort damals Parteiungen gegeneinander kämpften, die sich zum einen an Hyrkanos II., zum anderen an Aristobulos II. angelehnt hätten.777 Ob man diese Auseinandersetzungen als Staseis im Sinne der althistorischen Forschung wertet, hängt dabei nicht zuletzt davon ab, für wie hellenisiert man die Region hält.778 Ähnliches gilt auch für die Einschätzung der Vorgänge im nordmesopotamischen Zenodotion im Jahr 54. Laut Cassius Dio handelte es sich bei dieser Stadt um eine griechische Polis, deren Einwohner von Makedonen und Hellenen abstammten.779 Als Crassus gegen die Arsakiden zog,780 sollen jedenfalls die meisten Orte auf seine Seite übergetreten sein; auch Zenodotion forderte zunächst römische Truppen an. Unter Führung eines τύραννος namens Apollonios sollen diese aber bald darauf überfallen und erschlagen worden sein, was sich als möglicher Hinweis auf eine Stasis deuten lässt: Mutmaßlich hatte zunächst eine Partei in der Stadt die Legionäre herbeigerufen, woraufhin die Gruppe um Apollonios diese (und vermutlich auch die Feinde unter ihren 774 Itaque cum pars Mithridatem Ponticum, pars Ptolomeum ab Aegypto arcessendum censeret, occurreretque quod et Mithridates inplicitus bello Romano esset, Ptolomeus quoque hostis semper fuisset Syriae, omnes in Tigranen, regem Armeniae, consensere, instructum praeter domesticas vires et Parthica societate et Mithridatis adfinitate; Iust. 40,1,2. 775 Diod. 40,1. Vgl. Bernhardt 1985: 103 f. 776 πόλεις δὲ τὰς μὲν ἔκτιζε, τὰς δὲ ἠλευθέρου κολάζων τοὺς ἐν αὐταῖς τυράννους; Plut. Pomp. 39,2. Vgl. auch Ios. Ant. Iud. 14,3,2. Vgl. allgemein zur pompeianischen Neuordnung Syriens Will 1982: 508–512 und Sherwin-White 1984: 206–226. 777 Cass. Dio 37,15,2. 778 Gegen Hengel 1973, der bereits für die Zeit vor Antiochos IV. von einer profunden Hellenisierung der jüdischen Eliten ausgeht, argumentiert etwa Feldman 1986. Die Frage kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht angemessen diskutiert werden. 779 Cass. Dio 40,13,1 f. Plutarch betont, Zenodotion sei der griechische Name der Stadt gewesen, was nahelegt, dass der einheimische anders lautete; Plut. Crass. 17,5,3. Vermutlich hatte es, wie bei vielen seleukidischen Gründungen, bereits eine einheimische Vorgängersiedlung gegeben. 780 Vgl. zu den Hintergründen dieser für Crassus letzlich verhängnisvollen expeditio Parthica zuletzt die Diskussion bei Weggen 2011: 46–82. Vgl. zu den Arsakiden den konzisen Überblick Hauser 2013. Im Umgang mit den Poleis in ihrem Machtbereich scheinen die parthischen Herrscher zumindest teilweise an hellenistische Traditionen angeknüpft zu haben: So vermitteln griechische Inschriften – etwa ein bekannter Brief des Königs Artabanos II. an Susa (IGIAC 3) – den Eindruck von Kontinuität zwischen Seleukiden und Arsakiden.

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2. Die literarische Überlieferung

Mitbürgern) tötete.781 Jedenfalls bestrafte Crassus Zenodotion hart: Die Stadt wurde laut Plutarch gestürmt und gebrandschatzt, die Einwohner wurden in die Sklaverei verkauft.782 2.4.4 Stasis im römischen Bürgerkrieg Im Zusammenhang des Zweiten Triumvirats verdichten sich dann noch einmal die literarischen Hinweise auf Staseis. Inbesondere die Jahre zwischen 43 und 39, als Griechenland und Kleinasien zum Schlachtfeld des römischen Bürgerkrieges wurden, stellten hier eine wechselvolle Phase voller Ungewissheit und Gewalt dar.783 Spätestens seit dem Sieg über Mithridates VI. war die Vorherrschaft Roms nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt worden; und während sich die lokalen Eliten in den Poleis nun mehr denn je an den Hegemon angelehnt haben dürften, war zugleich das lange Zeit so effektive Interpretament, Konflikte in den Städten als Auseinandersetzung zwischen ‚Freunden‘ und ‚Feinden‘ der Römer zu deuten, endgültig obsolet geworden. Doch nun standen die Griechen vor einem Dilemma: Man hatte gelernt, dass Rom stets siegreich war, doch auf welche Seite sollte man sich stellen, wenn Römer gegen Römer kämpften? Bereits 49 hatten im äußersten Westen der hellenischen Welt, in Massalia, die Bürger Caesar mitgeteilt, als socii populi Romani sei es ihnen schlechterdings unmöglich, sich zwischen ihm und Pompeius zu entscheiden.784 Schon damals hatte sich gezeigt, dass den Griechen die Option der Neutralität nicht eingeräumt wurde – die Caesarianer brachen gewaltsam den Widerstand der Polis –, und dies sollte wenige Jahre später auch für den Osten gelten.785 Am ausführlichsten berichten die literarischen Quellen, namentlich Appian, dabei über die Ereignisse auf Rhodos im Jahr 43. Ungeachtet der Bestrafung, die ihr nach dem Perseuskrieg widerfahren war, war die Inselpolis, die im Ersten Mithridateskrieg die rö781 Auf ähnliche Weise lassen sich ja zum Beispiel auch die Ereignisse in Chaironeia während des Ersten Mithridateskrieges erklären (siehe oben). Denkbar ist allerdings auch, dass sich Zenodotion angesichts der römischen Übermacht schlicht gezwungen sah, zunächst eine Garnison aufzunehmen, und die Legionäre erschlagen wurden, als man Crassus in hinreichender Entfernung wähnte. 782 Plut. Crass. 17,5,3. Vgl. Bernhardt 1985: 112. Dass es Griechen gab, die die Arsakiden den Römern vorzogen, scheint Livius zu bezeugen: Id vero periculum erat, quod levissimi ex Graecis, qui Parthorum quoque contra nomen Romanum gloriae favent, dictitare solent, ne maiestatem nominis Alexandri, quem ne fama quidem illis notum arbitror fuisse, sustinere non potuerit populus Romanus; Liv. 9,18,6 f. 783 Das Folgende schließt teilweise an Börm 2016b an. 784 Caes. bell. civ. 1,35; Cass. Dio 41,19,2. Laut Strabon (4,1,5) herrschte in Massalia eine Oligarchie von 600 Männern; vgl. zu den Problemen, die Verfassung der Polis konkret zu charakterisieren, auch Finley 1986: 133–135. 785 Megara fiel nach Pharsalos durch Verrat an die Caesarianer; Cass. Dio 42,14,3; Plut. Brut. 8,7. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch Dyrrhachion, das 48 zwar überwiegend auf Seiten der Pompeianer stand, das ein Teil der Bürger aber offenbar an Caesar verraten wollte, dessen Versuch, die Stadt mit ihrer Hilfe im Handstreich zu nehmen, jedoch scheiterte; App. civ. 2,60; Cass. Dio 41,50,3 f. Dyrrhachion, eine korinthische Apoikie, verlor in der Folge nicht nur den Status als civitas libera, sondern wenige Jahre später auch seinen griechischen Charakter, als Octavian zahlreiche Italiker in der Stadt ansiedeln ließ und sie bald darauf zur Colonia Iulia Augusta Veneria Dyrrachinorum erhob.

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mische Gunst wiedererlangt hatte, noch immer sehr reich; und so war es kein Zufall, dass Cassius ihr gegen Ende jenes Jahres, kurz nachdem die Caesarmörder durch die lex Pedia geächtet worden waren und der Krieg gegen die Triumvirn unausweichlich geworden war,786 seine Aufmerksamkeit zuwandte. Folgt man dem knappen Bericht bei Cassius Dio, so wurden die Rhodier vom Caesarmörder in zwei Seegefechten geschlagen, ließen Cassius sodann widerstandslos in ihre Stadt und wurden von ihm, der dort wie so viele römische nobiles eine Weile studiert hatte,787 verschont, verloren allerdings ihre Flotte und ihre Reichtümer.788 Ganz anders liest sich dagegen der Bericht bei Appian,789 dem offensichtlich andere, detailliertere Quellen vorlagen.790 Appian behandelt die Rhodier im Unterschied zu Dio nicht als geschlossene Gruppe, sondern benennt von Anfang an eine Spaltung innerhalb der Bürgerschaft, wobei die Elite einen militärischen Konflikt mit römischen Truppen unbedingt habe vermeiden wollen, während die Menge sich angesichts der früheren Siege über Demetrios Poliorketes und Mithridates in Hochstimmung befunden habe.791 Folgt man Appian, so lief dies darauf hinaus, dass sich der Demos für den Senat – nach Lage der Dinge in Rom also für die Triumvirn – erklärte, während die Oberschicht versucht habe, sich neutral zu verhalten. Doch ebenso wie Caesar vor Massalia akzeptierte nun auch Cassius vor Rhodos keine überparteiliche Haltung. Nach einem ersten Gesandtenaustausch, bei dem der Römer ultimativ die uneingeschränkte Kooperation der Polis eingefordert haben soll, habe das Volk (πλῆθος)792 die beiden Demagogen Alexandros und Mnaseas zum Prytanen beziehungsweise Nauarchen gewählt; zugleich aber habe man einen weiteren Unterhändler, nämlich Archelaos, den früheren Rhetoriklehrer des Caesarmörders, zu Cassius entsandt. Damit war die Position jener, die die rhodische Politik zu diesem Zeitpunkt bestimmten, deutlich: Im Zweifelsfall entschied man sich für die Caesarianer, in denen man wohl die künftigen Sieger vermutete, und gegen Brutus. Um aber eine riskante militärische Auseinandersetzung möglichst ganz 786 Zur Rechtsstellung von Brutus und Cassius vgl. allgemein auch Girardet 1993. Zweifel daran, dass es bei dieser Gelegenheit zu einer regelrechten hostis-Erklärung gekommen sein muss, äußert Gotter 1996: 201. In jedem Fall sei anzunehmen, dass Brutus und Cassius bereits zuvor mit ihren militärischen Rüstungen begonnen hätten. 787 Vgl. Bringmann 2002b. 788 καὶ Κάσσιος μὲν Ῥοδίους, καίτοι τοσοῦτον ἐπὶ τῷ ναυτικῷ φρονοῦντας ὥστε ἔς τε τὴν ἤπειρον ἐπ´ αὐτὸν προδιαπλεῦσαι καὶ τὰς πέδας ἃς ἐκόμιζον ὡς καὶ ζῶντας πολλοὺς αἱρήσοντες ἐπιδεικνύναι σφίσι, ναυμαχίᾳ πρότερον μὲν περὶ Μύνδον, ἔπειτα δὲ πρὸς αὐτῇ τῇ Ῥόδῳ διὰ τοῦ Σταΐου, τῷ τε πλήθει καὶ τῷ μεγέθει τῶν νεῶν τὴν ἐμπειρίαν σφῶν κρατήσας, ἐνίκησε· καὶ μετὰ τοῦτο καὶ αὐτὸς ἐς τὴν νῆσον περαιωθεὶς ἄλλο μὲν κακὸν οὐδὲν αὐτοὺς ἔδρασεν (οὔτε γὰρ ἀντέστησάν οἱ, καὶ εὔνοιαν αὐτῶν ἐκ τῆς διατριβῆς ἣν ἐκεῖ κατὰ παιδείαν ἐπεποίητο εἶχε), τὰς δὲ δὴ ναῦς καὶ τὰ χρήματα καὶ τὰ ὅσια καὶ τὰ ἱερά, πλὴν τοῦ ἅρματος τοῦ Ἡλίου, παρεσπάσατο; Cass. Dio 47,33,3 f. 789 App. civ. 4,65–74. 790 Appians Quellen sind unbekannt; mutmaßlich basiert seine Darstellung der Bürgerkriege aber nicht zuletzt auf Asinius Pollio; vgl. auch Magnino 1993 und Westall 2015. Vgl. allgemein zur Funktion der Darstellung der römischen bella civilia bei kaiserzeitlichen Autoren Gotter 2011 und Ambühl 2015: 1–54. 791 Ῥοδίων δὲ οἱ μὲν ἐν λόγῳ μᾶλλον ὄντες ἐδεδοίκεσαν Ῥωμαίοις μέλλοντες ἐς χεῖρας ἰέναι, ὁ δὲ λεὼς ἐμεγαλοφρονεῖτο, ἐπεί οἱ καὶ παλαιῶν ἔργων πρὸς οὐχ ὁμοίους ἄνδρας ἐμνημόνευον; App. civ. 4,66. 792 Im Anschluss an die derzeitige communis opinio gehe ich davon aus, dass πλῆθος und δῆμος in dieser Zeit in der Regel synonym verwendet werden; vgl. Wiemer 2010: 744. An dieser Stelle ist dies eindeutig der Fall.

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2. Die literarische Überlieferung

zu vermeiden, sollte die φιλία zwischen dem prominenten Mitbürger Archelaos und seinem einstigen Schüler eingesetzt werden.793 Appian lässt die beiden Männer die unterschiedlichen Positionen in einem kurzen, hoch stilisierten Austausch formulieren. Cassius warf demnach den Rhodiern vor, unter dem Vorwand der Neutralität de facto seinen Gegnern zu helfen; denn die Griechen hätten nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie akzeptierten ihn und Brutus als Repräsentanten Roms und seien daher durch ihr foedus zur Hilfe verpflichtet, oder sie sprächen den Caesarmördern diesen Status ab und schlügen sich damit automatisch auf die Seite ihrer Feinde, die in Rom eine Tyrannis errichtet hätten.794 Damit war die Aporie der eigentlich unbeteiligten griechischen Zuschauer des römischen Bürgerkrieges klar benannt: Die Option einer Neutralität wurde ihnen nicht eingeräumt, da der Gegner zum Frevler und Verbrecher erklärt wurde, gegen den jeder Aufrechte zu kämpfen habe. Cassius habe folgerichtig den Freundschaftsgruß des Archelaos nicht erwidert, sondern ihm seine Hand entzogen;795 die Verhandlungen scheiterten.796 Es kam zu den beiden Seeschlachten, die auch Dio erwähnt, und dann begannen die Römer mit der Belagerung von Rhodos. Dies war der Moment, an dem die Spaltung innerhalb der Stadt offensichtlich wurde: Angesichts der angeblich aussichtslosen militärischen Lage beschlossenen nun die, so Appian, „Einsichtigeren unter den Bürgern“, mit den Angreifern zu verhandeln; und auf einmal standen Cassius und seine Soldaten mitten in der Stadt, da ihnen, so wiederum Appian, offensichtlich jene Einwohner, die auf ihrer Seite waren, heimlich ein Nebentor geöffnet hatten.797 Zwar wurde die Stadt nicht gebrandschatzt, und den Legionären wurde jede Plünderung verboten; offensichtlich hatten sich die Verräter dies ausbedungen. Doch Cassius ließ laut Appian ein Tribunal errichten, pflanzte neben sich einen Speer auf, um zu demonstrieren, dass er die Stadt mit Gewalt genommen habe,798 und ließ sodann fünfzig rhodische Bürger namentlich aufrufen, herbeischaffen und öffentlich hinrichten.799 Etwa 25 weitere Rhodier, denen die Flucht gelungen war, ließ der Römer ächten und verbannen, bevor er 793 Vgl. Savalli-Lestrade 1998, Schulz 2008 und Bloy 2012. 794 App. civ. 4,70. 795 Die Geste des verweigerten Handschlags begegnet unter anderem auch bei Sulla, der Mithridates erst dann den Freundschaftsgruß gewährt haben soll, als dieser seinen Friedensbedingungen zugestimmt hatte; Plut. Sull. 24. Ähnlich verhielt sich bereits C. Popilius Laenas gegenüber Antiochos IV.; Pol. 29,27. 796 App. civ. 4,69. 797 Man darf vermuten, dass Appian hier direkt oder indirekt auf lokale Traditionen zurückgegriffen hat, dass seiner Darstellung also eine rhodische Quelle zugrunde liegt. Trifft diese Annahme zu, so überrascht zunächst die positive Schilderung derjenigen, die Cassius die Tore geöffnet hatten. Bei näherem Hinsehen trägt der Bericht aber apologetische Züge: Die fraglichen Rhodier seien vernünftig gewesen und hätten erkannt, dass Widerstand zwecklos sei; sie ersparten der Polis daher noch größeres Leid. Dass diese Männer bei Appian nicht ausdrücklich als Verräter an ihrer Heimat gekennzeichnet werden, obwohl sie sich nach Philippi als Sündenböcke angeboten hätten, kann man vielleicht als Indiz dafür lesen, dass sie auch nach dem Sieg der Triumvirn die Geschicke der Polis Rhodos und mithin die Art und Weise, wie man sich an die Ereignisse erinnerte, bestimmten. 798 Vgl. zum Konzept der χώρα δορίκτητος auch Mehl 1980. 799 ὧδε μὲν ἑαλώκει Ῥόδος, καὶ Κάσσιος ἐν αὐτῇ προυκάθητο ἐπὶ βήματος καὶ δόρυ τῷ βήματι παρεστήσατο ὡς ἐπὶ δοριαλώτῳ. ἀτρεμεῖν τε κελεύσας τὸν στρατὸν ἀκριβῶς καὶ θάνατον ἐπικηρύξας, εἴ τις ἁρπάσειεν ἢ βιάσαιτό τι, αὐτὸς ἐξ ὀνόματος ἐκάλει Ῥοδίων ἐς πεντήκοντα ἄνδρας καὶ ἀχθέντας ἐκόλαζε θανάτῳ; App. civ.

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alle Schätze, derer man in Tempeln und öffentlichen Gebäuden habhaft werden konnte, beschlagnahmte. Reiche Privatleute wurden aufgefordert, ihren Besitz auszuliefern, und Delatoren wurde ein Zehntel des Gewinns versprochen, sollten sie jene anzeigen, die ihre Schätze verheimlichten. Jenen Sklaven, die ihre Herren verrieten, wurde die Freiheit in Aussicht gestellt.800 Diese Maßnahme erwies sich als so effizient, dass die reichen Rhodier aus lauter Verzweiflung die Gräber ihrer Ahnen geplündert haben sollen.801 Wie gesagt, soll sich der Konflikt auf Rhodos, so suggeriert es Appian, einmal mehr entlang der Sollbruchstelle von „Elite“ versus „Volk“ manifestiert haben. Dass diese simple Zuordnung stimmt, ist allerdings, wie so oft, zweifelhaft; nichts spricht dafür, dass sich der Demos gegen die geschlossene Meinung der Oberschicht gestellt haben sollte, die die Politik der Insel bestimmte. Strabon bezeichnet Rhodos einige Jahre nach den Ereignissen ausdrücklich nicht als δημοκρατία, auch wenn die Herrschenden um das Wohl und die Zustimmung der Menge (πλῆθος) bemüht seien.802 Wenn es Konflikte gab, so dürften sie sich daher eher innerhalb der Oberschicht manifestiert haben: Fest steht, dass irgendjemand die siegreichen Römer mit der Namensliste versorgt haben muss, die jene verzeichnete, die des Todes waren oder der Ächtung verfielen. Irgendjemand muss profitiert haben, und dass es sich dabei um jene handelte, die heimlich die Tore geöffnet hatten, darf als sicher gelten. Da die Angehörigen dieser Gruppe in der Polis zuvor, wie die Ereignisse gezeigt hatten, in der unterlegenen Position gewesen waren – sie hatten sich ja in der Volksversammlung nicht durchsetzen können –, dürfte für sie nun die Stunde gekommen sein, um mit Hilfe der Römer alte Rechnungen zu begleichen und die Dominanz der ‚Caesarianerfreunde‘ zu brechen. Ob sie wirklich glaubten, die Caesarmörder würden sich langfristig durchsetzen, ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Dass in Wahrheit unklar gewesen sein dürfte, ob Rhodos der Belagerung nicht doch hätte standhalten können – immerhin stand Cassius unter einem enormen Zeitdruck und hätte sich nicht unbegrenzt vor Rhodos aufhalten können –, spricht dafür, dass es denen, die die Angreifer in die Polis ließen, nicht um das Wohl der Stadt ging. Vielmehr nahmen sie augenscheinlich in Kauf, dass die Bürgerschaft als Ganzes litt, solange sie durch Cassius Rache an ihren Feinden nehmen konnten. Auch in Tarsos herrschte laut Appian im Jahr 43 eine Stasis zwischen jenen, die auf Cassius setzten, und den Unterstützern Dolabellas.803 Dass man hier zunächst den einen,

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4,73. Die öffentliche Enthauptung, die mutmaßlich von Aemilius Paullus in Hellas eingeführt worden war, nannten die Griechen übrigens nicht zufällig den „römischen Tod“; vgl. Lehmann 1998: 165. Ganz ähnlich hatte gut vier Jahrzehnte zuvor ja bereits Mithridates agiert; App. Mithr. 22. App. civ. 4,73. Die eingetriebene Summe soll 8500 Talente betragen haben; vgl. Marek 2010: 379. δημοκηδεῖς δ᾽ εἰσὶν οἱ Ῥόδιοι καίπερ οὐ δημοκρατούμενοι, συνέχειν δ᾽ ὅμως βουλόμενοι τὸ τῶν πενήτων πλῆθος; Strab. 14,2,5. Vgl. auch O’Neil 1981 und Gabrielsen 1997. Bereits Aristoteles hatte konstatiert, die Armen seien auch dann zufrieden, wenn ihnen der Zugang zu den Ämtern versagt sei, sofern man sie nicht hochmütig behandle; Arist. Pol. 4,13 (= 1297b). Die Rhodier selbst verstanden ihre Polis natürlich durchaus als Demokratie; vgl. Wiemer 2002: 21 f. Ταρσέων δ᾽ ἐς στάσιν διῃρημένων οἱ μὲν τὸν Κάσσιον ἐστεφανώκεσαν ἐλθόντα πρότερον, οἱ δὲ τὸν Δολοβέλλαν ἐπελθόντα: ἀμφότεροι δὲ τῷ τῆς πόλεως σχήματι ταῦτα ἔπρασσον. καὶ παραλλὰξ αὐτῶν προτιμώντων ἑκάτερον, ὡς εὐμεταβόλῳ πόλει χαλεπῶς ἐχρῶντο ἑκάτεροι: Κάσσιος δὲ νικήσας Δολοβέλλαν καὶ ἐσφορὰν ἐπέθηκεν αὐτοῖς χίλια καὶ πεντακόσια τάλαντα. οἱ δὲ ἀποροῦντές τε καὶ ὑπὸ στρατιωτῶν ἐπειγόντων ἀπαιτούμενοι σὺν ὕβρει, τά τε κοινὰ ἀπεδίδοντο πάντα καὶ τὰ ἱερὰ ἐπὶ τοῖς κοινοῖς, ὅσα εἶχον ἐς

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2. Die literarische Überlieferung

dann den anderen feierlich bekränzt hatte, dürfte auf einen zwischenzeitlichen Umschwung in der Stadt hinweisen; ob es dabei zu Todesopfern kam, lässt sich dem knappen Bericht nicht entnehmen. Zum Unglück für die Polis hatte sich jedenfalls zuletzt die ‚caesarianische‘ Parteiung durchgesetzt,804 und so forderte Cassius nach Dolabellas Tod eine Strafe von 1500 Talenten. Um diese gewaltige Summe aufbringen zu können, ließen die Magistrate (ἀρχαί) der Stadt schließlich freigeborene Menschen – mutmaßlich solche, deren Familien zuvor auf der falschen Seite gestanden hatten805 – in die Sklaverei verkaufen, darunter auch viele νέοι.806 Gut möglich, aber nicht zu beweisen, ist, dass es sich bei diesem Konflikt letztlich um die Fortführung jener Stasis handelte, in der einige Jahre zuvor der „Tyrann“ Lysias eine prominente Rolle gespielt hatte; nach Philippi soll dann laut Strabon jedenfalls eine Parteiung um den Rhetor und Demagogen (δημοκοπίαις ἰσχύσαντος) Boethos mit Antonius’ Billigung Tarsos dominiert haben.807 Kurz zuvor waren führende Bürger von Laodikeia, das Dolabella Zuflucht gewährt hatte, von Cassius hart bestraft worden.808 Und im lykischen Patara traf offenbar auch Brutus auf eine zerstrittene Bürgerschaft: Anscheinend war erst kurz zuvor ein Umsturz in der Polis eingetreten, denn Cassius Dio berichtet ausdrücklich, es sei unlängst eine χρεῶν ἀποκοπή erfolgt, und überdies hätten ehemalige Sklaven die Freiheit erlangt.809 Die Hintergründe sind unklar, doch Schuldentilgung und Sklavenbefreiung dürfen als sichere Indizien für eine Stasis gelten, und zudem scheint die nunmehr dominierende Parteiung von den Caesarmördern eine Aufhebung dieser Maßnahmen befürchtet zu haben. Es liegt daher nahe, einen wie auch immer gearteten Zusammenhang mit den Wohltaten zu vermuten, die Caesar drei Jahre zuvor vielen lykischen Gemeinden hatte zukommen lassen.810 Es soll Brutus jedenfalls schließlich gelungen sein, Patara durch die ostentativ milde Behandlung der zuvor gefangengenommenen Xanthier,811 mit denen

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πομπὰς ἢ ἀναθήματα, ἔκοπτον. οὐδενὸς δὲ μέρους οὐδ᾽ ὣς ἀνυομένου, ἐπώλουν αἱ ἀρχαὶ τὰ ἐλεύθερα: καὶ πρῶτα μὲν ἦν παρθένοι τε καὶ παῖδες, ἐπὶ δὲ γυναῖκές τε καὶ γέροντες ἐλεεινοί, βραχυτάτου πάμπαν ὤνιοι, μετὰ δὲ οἱ νέοι; App. civ. 4,64. Cassius Dio berichtet, die Tarsier hätten sogar auf Seiten der Caesarianer in den Krieg eingegriffen, indem sie zunächst versuchten, dem Caesarmörder Cimber die Tauruspässe zu verlegen, und anschließend die mit Cassius verbündete Polis Adana angriffen; Cass. Dio 47,31,1–3. Denkbar ist allerdings auch, dass Appians Bericht so zu verstehen ist, dass man sich innerhalb der Führungsschicht angesichts der Kontributionen darauf einigte, die Schwächsten in der Stadt in die Sklaverei zu verkaufen, statt übereinander herzufallen. Vgl. allgemein zu den hellenistischen νέοι van Bremen 2013 und Kennell 2013. Antonius soll die Versklavten später befreit und Tarsos die ἐλευθερία verliehen haben; App. civ. 5,7. Wie man mit den ‚Cassiusfreunden‘ in der Polis verfuhr, bleibt dabei allerdings unerwähnt. Die Vorgänge scheinen großes Aufsehen erregt zu haben: Noch lange nach den Ereignissen konnte Dion von Prusa in seiner zweiten Rede an die Tarsier davon ausgehen, dass sie in lebendiger Erinnerung waren; Dion Chrys. or. 34,7 f. Strab. 14,5,14. App. civ. 4,62. Cass. Dio 47,34,4. Im Jahr 46 hatte Caesar den Senat veranlasst, ein foedus mit dem Lykischen Bund zu schließen, das fragmentarisch erhalten ist (SEG 55,1452). Vgl. hierzu Mitchell 2005. Patara fungierte als Zentrum des Koinon; vgl. Behrwald 2015: 412. Der erbitterte Widerstand, den die Xanthier zuvor Brutus geleistet haben sollen und der laut den literarischen Quellen dazu führte, dass die Stadt fast komplett niedergebrannt wurde (Plut. Brut. 31; Cass. Dio 47,34,1–3; App. civ. 4,80), dürfte ein Indiz dafür sein, dass die dortige Elite besonders eng mit der

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die Bürger Pataras vielfach verschwägert gewesen seien, zur Aufgabe zu bewegen; offenbar konnte er sich mit der in der Stadt herrschenden Parteiung irgendwie verständigen und gewährte ihr im Gegenzug für Geldzahlungen die ἐλευθερία.812 Als Antonius nach Philippi den Osten im Sinne der Triumvirn ordnete,813 soll er in Syrien laut Appian vielerorts τυράννους beseitigt haben; es liegt nahe, in diesen die Anführer jener Parteiungen zu erblicken, die zuvor auf die Caesarmörder gesetzt hatten.814 Doch einige Zeit darauf fiel Q. Labienus mit einem aus Römern und Parthern bestehenden Heer in den römischen Orient ein und gelangte bis Westkleinasien.815 Während er laut Cassius Dio an vielen Orten auf begeisterte Zustimmung stieß,816 weiß man umgekehrt von mehreren Poleis, die sich ihm gewaltsam widersetzten, darunter Laodikeia, Stratonikeia und Mylasa, über dessen Widerstand Strabon knapp berichtet und anmerkt, der Rhetor Hybreas habe die Stadt ebenso aufgewiegelt, wie es ein gewisser Zenon in Laodikeia getan habe.817 Folgt man allerdings Cassius Dio, so ergibt sich für Mylasa und Alabanda818 ein etwas differenzierteres Bild: Zunächst scheinen sich beide Poleis Labienus angeschlossen und seine Soldaten aufgenommen, sich dann aber gegen ihn erhoben und die Garnisonen niedergemacht zu haben.819 Dio erzählt die Vorgänge dabei so, als habe man sich den Invasoren von Anfang an nur zum Schein ergeben, um ihnen eine Falle zu stellen; doch kann man dies – ähnlich wie in analogen Fällen – auch für eine nachträgliche Uminterpretation halten, die die unverbrüchliche Treue der Städte gegenüber den Triumvirn betonen sollte. Zumindest ebenso wahrscheinlich ist nämlich, dass zunächst die ‚Labienusfreunde‘ in den beiden Orten die Soldaten eingelassen hatten und die Tötung der letzteren im Rahmen von Staseis erfolgte, wobei in Mylasa der besagte Hybreas eine zentrale Rolle gespielt zu haben scheint. Dieser soll laut Strabon nach Rhodos entkommen sein, als Labienus die Stadt eroberte,820 aber später zurückgekehrt sein und den Ort wieder aufgebaut haben.821

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caesarianischen Partei verbunden war. Eine Zerstörung von Xanthos lässt sich archäologisch allerdings nicht nachweisen; vgl. Börm 2016b: 101 f. Cass. Dio 47,34,5 f.; Plut. Brut. 2,8. Jene Gemeinwesen, die mit den Caesarmördern kooperiert hatten, wurden mit hohen Zahlungen belegt; vgl. Cass. Dio 48,24,3; App. civ. 5,5 f. Vgl. Buchheim 1960: 12 f. Unklar ist, ob Antonius in diesem Zusammenhang auch von den Poleis des griechischen Mutterlandes entsprechende Summen einforderte; vgl. Halfmann 2011: 106. ἐν δὲ Συρίᾳ τοὺς κατὰ πόλεις ἐξῄρει τυράννους; App. civ. 5,7. Die Parallele zu den Handlungen des Cn. Pompeius knapp 25 Jahre zuvor ist augenfällig. Cass. Dio 48,24,4–48,26,5; Plut. Ant. 30,2 f. Vgl. zu Labienus und seinen Motiven die erhellenden Überlegungen bei Curran 2007. Cass. Dio 46,26,3. Sowohl Hybreas als auch sein Vorgänger und Rivale Euthydemos erscheinen bei Strabon dabei übrigens als überaus mächtig (δυνατός); sie hätten die Stadt nacheinander fast wie Tyrannen dominiert; Strab. 14,2,24. Dies dürfte auf eine umstrittene Legitimität der politischen Verhältnisse in Mylasa hindeuten. Vgl. Willrich 1899. Cass. Dio 48,26,3 f. Die Stadt wurde schließlich eingenommen und zerstört; Cass. Dio 48,26,4. Eine Inschrift (I.Mylasa 602) beklagt die Einnahme, Plünderung und Brandschatzung durch Labienus; vgl. Canali de Rossi 2000: 172–178. Strab. 14,2,24. Bemerkenswerterweise berichtet Strabon nichts von der Ermordung der zuvor eingelassenen Soldaten des Labienus.

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2. Die literarische Überlieferung

Der epigraphische Befund lässt ferner den Schluss zu, dass es ἐν τῷ πολέμῳ τῷ κατὰ Λαβιῆνον auch andernorts zu Staseis kam, von denen die literarische Überlieferung schweigt: Dass etwa Aphrodisias, das bereits von Caesar gefördert worden war und nach dem Krieg reich belohnt wurde,822 keineswegs wie ein Mann auf Seiten der Caesarianer gestanden hatte, verrät ein Brief von Octavians Bevollmächtigtem Stephanos an Archonten, Rat und Volk der Stadt,823 in dem er mitteilt, er sende ihnen nicht nur wie gewünscht ihre Sklaven zurück, sondern überstelle ihnen überdies freie Männer, augenscheinlich Bürger, die die Aphrodisier wegen der Kollaboration mit Labienus bestrafen sollten.824 Während Octavian 35 in Pannonien operierte, scheint er im dortigen Segesta auf eine Stasis getroffen zu sein, die Appian als Konflikt zwischen Oberschicht (πρωτεύοντες) und Demos deutet.825 Und bereits einige Jahre zuvor dürfte sich auf Kos ein gewisser Nikias zum Herrn der Polis aufgeschwungen haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich bei ihm um jenen Curtius Nicias, der zuvor das römische Bürgerrecht erworben und in persönlichem Kontakt zu führenden nobiles, darunter Cicero,826 gestanden hatte.827 In seinem Namen wurden auf Kos zwischen 40 und 32 zahlreiche Münzen geschlagen,828 und es existierte eine Büste, auf der – offensichtlich nachträglich – das Graffito ΝΙΚΙΑΣ ΤΥΡΑΝΝΟΣ angebracht wurde.829 Claudius Aelianus überliefert in severischer Zeit, die Kinder auf Kos erzählten einander, dem Nikias habe, als er noch ein ἰδιώτης war, ein Lamm einen Löwen geboren, ein Omen für seine spätere Verwandlung in einen Tyrannen.830 Es hat also insgesamt den Anschein, als habe sich Nikias bald nach Philippi tatsächlich zum Alleinherrscher seiner Heimatpolis aufgeschwungen;831 zumindest aber muss er eine dominierende Gestalt auf der Insel gewesen sein, die zu diesem Zeitpunkt von Antonius kontrolliert wurde.832 Einer knappen Notiz bei Strabon lässt sich nun entnehmen, dass ihm dieser Aufstieg offensichtlich im Rahmen einer Stasis gelang, denn der Geograph erwähnt beiläufig einen Mann namens Theomnestos, der Nikias’ politischer Gegenspieler gewesen sei (ἀντεπολιτεύσατο).833 Diese erst im Helle822 Ein senatus consultum gewährte der Polis wenig später aufgrund erwiesener Treue gewaltige Privilegien; I.Aph 2007 8,27. 823 I.Aph 2007 8,30. 824 Vgl. Börm 2016b: 104–106. 825 App. Ill. 23. 826 Cic. Att. 12,26. 827 Vgl. zur Identifikation des Curtius Nicias auch Herzog 1922, dem die spätere Forschung hier in der Regel gefolgt ist. 828 Grundlegend zu Nikias ist Buraselis 2000: 25–65. Vgl. daneben auch Berve 1967: 437 f. und Sherwin-White 1978: 143 f. 829 Vgl. Buraselis 2000: 40 f. Die Büste ist derzeit verschollen. 830 λέγουσι Κώων παῖδες ἐν Κῷ τεκεῖν ἔν τινι ποίμνῃ Νικίου τοῦ τυράννου οἶν: τεκεῖν δὲ οὐκ ἄρνα ἀλλὰ λέοντα. καὶ οὖν καὶ τὸ σημεῖον τοῦτο τῷ Νικίᾳ τὴν τυραννίδα τὴν μέλλουσαν αὐτῷ μαντεύσασθαι ἰδιώτῃ ἔτι ὄντι; Ael. Hist. 1,29. 831 Auf den Münzen erscheinen allerdings weiterhin eponyme Beamte; vgl. Berve 1967: 439. 832 Cass. Dio 51,8,2 f.; Val. Max. 1,1,19. 833 ἦν δὲ καὶ Θεόμνηστος ὁ ψάλτης ἐν ὀνόματι, ὃς καὶ ἀντεπολιτεύσατο τῷ Νικίᾳ; Strab. 14,2,19. Das Verb ἀντιπολιτεύεσθαι scheint dabei eine Neuschöpfung des Theopomp von Chios gewesen zu sein; vgl. Ruschenbusch 1980.

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nismus bezeugte Formulierung kann zumeist als eindeutiger Hinweis auf Bürgerzwist gelesen werden.834 Leider fehlt es an weiteren Informationen; weder lässt sich daher der Verlauf des Konflikts rekonstruieren, noch weiß man, ob er blutig ausgetragen wurde. Gewiss ist nur, dass sich Nikias, offenbar angelehnt an Antonius, durchsetzen konnte. Er scheint bereits um 32 auf unklare Weise den Tod gefunden zu haben, aber seine Parteiung blieb offensichtlich zunächst an der Macht und sorgte für ein ehrenvolles Begräbnis.835 Nach der Schlacht von Actium allerdings muss sich auch auf Kos das Blatt gewendet haben, denn irgendwann entfernte man laut Krinagoras von Mytilene Nikias aus seinem Grab und schändete den Leichnam.836 Allem Anschein nach wurde sein Name zudem aus den Priesterlisten getilgt.837 Auch in Hinblick auf diesen erneuten Umschwung ist unbekannt, ob es zu Gewalt und Morden kam. Octavian jedenfalls scheint mit den neuen Verhältnissen auf der Insel so zufrieden gewesen zu sein, dass er Kos milde behandelte und der Polis laut Strabon 100 Talente des zuvor auferlegten Tributes wieder erlassen haben soll.838 Auch andernorts hatten die ‚Antoniusfreunde‘ das Nachsehen; so wurde der oben erwähnte Boethos, der nach der Schlacht von Philippi mit Antonius’ Billigung einige Jahre lang Tarsos dominiert hatte, nun laut Strabon gemeinsam mit seinen Anhängern von einem gewissen Athenodoros, den Octavian hierzu bevollmächtigt hatte, aus der Stadt verbannt.839 2.4.5 Stasis und pax Augusta Auch in Sparta kam es um diese Zeit noch einmal zu Unruhen. Hier hatte sich ein gewisser Eurykles vielleicht bereits vor den Iden des März erfolgreich als Caesarianer profiliert, war als C. Iulius Eurycles irgendwann römischer Bürger geworden840 und laut Strabon schließlich zum τῶν Λακεδαιμονίων ἡγεμῶν aufgestiegen;841 man schlug Münzen mit der Legende ΕΠΙ ΕΥΡΥΚΛΕΟΥΣ.842 Im bellum Actiacum hatte er Octavian mit einigen Schiffen unterstützt, da Antonius, wie Plutarch ausführt, seinen Vater Lachares 834 So auch Buraselis 2000: 37, der von „a typical Greek stasis“ spricht. Vgl. auch Höghammar 1993: 99–103. 835 Stein 1932 nahm hingegen an, Nikias sei erst nach Actium gestorben. 836 ἄθρει Νικίεω Κῴου μόρον ἤδη ἔκειτο εἰν ἀίδῃ, νεκρὸς δ᾽ ἦλθεν ὑπ᾽ ἠέλιον ἀστοὶ γὰρ τύμβοιο μετοχλίσσαντες ὀχῆας, εἴρυσαν ἐς ποινὰς τλήμονα δυσθανέα; Ant. Graec. 9,81. Sollte man den bereits bestatteten Nikias tatsächlich wieder aus dem Grab gerissen haben, wäre dies natürlich ein außerordentlich schweres Sakrileg gewesen. 837 Syll.3 793. Vgl. Buraselis 2000: 41–44. 838 Strab. 14,2,19. 839 Strab. 14,5,14. Vgl. Marek 2010: 402. 840 Vgl. Niese 1907. Lindsay 1992: 290 vermutet hingegen, Eurykles habe die civitas Romana erst nach Actium erhalten. Das ist durchaus möglich. Vgl. auch Quaß 1993: 148. 841 Vgl. Bowersock 1961: „It is reasonable to suppose that Eurycles was established as dynast of Sparta through the φιλία of a grateful Octavian not long after the battle of Actium“ (112). 842 Vgl. Weil 1881. ΕΠΙ in der Münzlegende ist für hellenistische Könige und Tyrannen typisch, für Magistrate ungewöhnlich. Berve 1967: 415 f. betrachtet Eurykles als Tyrannen. Die grundlegende Untersuchung ist nach wie vor Bowersock 1961; vgl. daneben Spawforth 2002: 97–101.

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hatte hinrichten lassen;843 und anschließend profilierte er sich nicht nur in Lakonien als Euerget.844 Doch muss seine Dominanz, wie kaum anders zu erwarten, Feindschaft provoziert haben, und offensichtlich gelang es seinen Gegenspielern langfristig, Augustus von ihrer Sichtweise zu überzeugen.845 Laut Flavius Josephus wurde er gleich zweimal vor dem princeps angeklagt, weil man ihm vorwarf, ganz Achaea mit Staseis erfüllt und die Städte ausgeplündert zu haben; und schließlich wurde Eurykles verbannt.846 Warum Augustus ihm seine Gunst entzog, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Möglicherweise hatte seine φιλία mit Archelaos von Kappadokien Anstoß erregt;847 wahrscheinlicher ist aber wohl, dass es den Römern missfiel, dass Eurykles – ganz ähnlich wie einst Charops in Epeiros – durch sein Verhalten und seine allzu unverhüllte ἀρχή offensichtlich für Instabilität und Unruhe sorgte.848 Hierzu würde jedenfalls passen, dass der princeps offenbar erst in einem zweiten Verfahren gegen ihn entschied, als mutmaßlich deutlich geworden war, dass eine andere Lösung nicht zur Wahl stand.849 Denkbar ist, dass Augustus in diesem Zusammenhang Sparta überdies die Hegemonie über den Lakonischen Bund entzog.850 Allerdings scheint Eurykles’ Sohn Lakon recht bald darauf wieder die kaiserliche Gunst erlangt und einige Jahre später selbst eine beherrschende Rolle in der lakonischen Polis gespielt zu haben, und Eurykles wurde allem Anschein 843 Plut. Ant. 67,2 f. Antonius soll dem Lachares λῃστεία vorgeworfen haben, was in diesem Zusammenhang wohl nicht mit „Räuberei“ übersetzt werden sollte, sondern eher ein Hinweis darauf ist, dass sich Lachares gegen die Herrschaft des Triumvirn aufgelehnt hatte: Die Römer pflegten Rebellen gegen ihre Herrschaft grundsätzlich als latrones oder λῃσταί abzuqualifizieren, statt sie im juristischen Sinne als Kriegsgegner (hostes) anzuerkennen; vgl. Dig. 50,16,118 (Sex. Pomponius): Hostes hi sunt, qui nobis aut quibus nos publice bellum decrevimus: ceteri latrones aut praedones sunt. Rädelsführer, famosi latrones, wurden in der Regel gekreuzigt; vgl. Dig. 48,19,28. Die Gleichsetzung von inneren Feinden mit „Räubern“ findet sich auch in der historiographischen Überlieferung. Flavius Josephus etwa verwendet λῃστής und στασιαστής geradezu wie Synonyme: τὸ δὲ στασιῶδες καὶ λῃστρικόν (Bell. Iud. 2,511), und auch im biblischen Griechisch ist λῃσταί wohl in diesem Sinne zu verstehen: τότε σταυροῦνται σὺν αὐτῷ δύο λῃσταί, εἷς ἐκ δεξιῶν καὶ εἷς ἐξ εὐωνύμων; Matth. 27,38. Auch wenn es sich bei Personen oder Gruppen, die in den Quellen als „Räuber“ bezeichnet werden, ohne Zweifel tatsächlich auch um gewöhnliche Verbrecher handeln kann, ist dieses Urteil daher mit Vorsicht zu genießen. 844 Vor allem verewigte sich Eurykles im Stadtbild Spartas; vgl. Fouquet 2015: 30–40. 845 Einer der Ankläger des Eurykles soll der letzte Nachkomme des Brasidas gewesen sein; laut Plutarch wurde er vom princeps zunächst in Haft genommen, aber bald freigelassen; Plut. Mor. 207f. Die Eurykliden scheinen hingegen soziale Aufsteiger gewesen zu sein (Lindsay 1992: 291), was zu ihren offenkundigen Legitimitätsdefiziten beigetragen haben könnte. Vgl. auch Bowersock 1967: 105 und Spawforth 2002: 101. 846 δὶς γοῦν ἐπὶ Καίσαρος κατηγορηθεὶς ἐπὶ τῷ στάσεως ἐμπλῆσαι τὴν Ἀχαΐαν καὶ περιδύειν τὰς πόλεις φυγαδεύεται; Ios. Bell. Iud. 1,531. Vgl. Bowersock 1961: „Achaea was engulfed in local στάσις probably, as at Sparta, between opposing factions of city aristocracies“ (116). 847 Ios. Bell. Iud. 1,530. 848 Strabon spricht davon, dass Eurykles in Lakonien für Unruhe gesorgt und die Freundschaft des Augustus missbraucht habe, erwähnt aber keine Verbannung: νεωστὶ δ᾽ Εὐρυκλῆς αὐτοὺς ἐτάραξε δόξας ἀποχρήσασθαι τῇ Καίσαρος φιλίᾳ πέρα τοῦ μετρίου πρὸς τὴν ἐπιστασίαν αὐτῶν, ἐπαύσατο δ᾽ ἡ ἀρχὴ ταχέως, ἐκείνου μὲν παραχωρήσαντος εἰς τὸ χρεών, τοῦ δ᾽ υἱοῦ τὴν φιλίαν ἀπεστραμμένου τὴν τοιαύτην πᾶσαν; Strab. 8,5,5. Vgl. zu dieser Passage Bowersock 1961: 114. 849 Die Chronologie der Ereignisse ist unklar. Zumeist datiert man Eurykles’ Sturz auf die Jahre nach 7 v. Chr.; vgl. Bowersock 1961: 116 (zwischen 7 v. Chr. und 2 n. Chr.) und Lindsay 1992: 294–297 (zwischen 7 v. Chr. und 14 n. Chr.). 850 Vgl. Bowersock 1967: 91 und Spawforth 2002: 101.

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nach postum rehabilitiert.851 Die Familie dominierte Sparta anschließend offenbar bis in neronische Zeit.852 Auch in Athen scheint es eine Weile gedauert zu haben, bis nach der Errichtung des augusteischen Prinzipats Ruhe eingekehrt war. Die Stadt hatte in den Bürgerkriegen zunächst mehrheitlich die Caesarmörder und dann Antonius unterstützt und stand mithin gleich zweimal kurz hintereinander auf der Verliererseite. Die Behandlung durch den schließlichen Sieger war frostig, und noch 22 v. Chr. scheint es in der Stadt ‚romfeindliche‘ Unruhen gegeben zu haben.853 Doch erst Jahrzehnte später kam es in Athen zu Vorgängen, die zwar nur sehr schemenhaft überliefert sind, die man aber dennoch mit einigem Grund als die ‚letzte‘ Stasis des Hellenismus bezeichnen könnte.854 Orosius berichtet, kurz vor dem Tod des Augustus sei es in der Polis zu einer seditio gekommen, die so heftig gewesen sei, dass sie gemeinsam mit einer commotio in Dakien den Anlass geboten habe, nach zwölf Jahren wieder die Pforten des Janustempels zu öffnen.855 Eusebius bietet in seiner Chronik nur wenig mehr Informationen zu den Ereignissen, die er während der 198. Olympiade, also 13 oder 14 n. Chr., verortet: Die Athener hätten sich hochmütig erhoben, doch seien die Unruhen beendet worden, indem man die Anführer bestraft habe.856 Weitere Informationen lassen sich den erhaltenen Quellen bedauerlicherweise nicht entnehmen.857 Kein Autor behauptet, es habe sich um einen Aufstand gegen die römische Herrschaft gehandelt, und auch die in der Forschung teils vorgebrachte Vermutung, es hätten in Athen nun noch einmal Romfreunde gegen Romfeinde gekämpft,858 überzeugt angesichts der auch für die Zeitgenossen offenkundigen kaiserlichen Übermacht nicht 851 SEG 11,922. Bowersock 1961: 116 nimmt an, Lakon habe sich mit den Nachkommen des Brasidas versöhnt und so eine Beruhigung der Situation erreicht. Diese war allerdings wohl nur vorläufig: Ein fragmentarisch erhaltenes kaiserliches Schreiben an Sparta (SEG 45,282) erwähnt [στ]ασιάοντες und scheint eine Ermahnung zu enthalten; es gehört mutmaßlich in claudische Zeit; vgl. auch Shipley – Spawforth 1995. 852 Vgl. Spawforth 2002: 97–104 und Balzat 2008. Cabanes 2001 spricht sogar von einer „faktischen Tyrannis der Eurykliden“ (330). Auch danach blieb die Familie durchaus bedeutend, hielt sich in Sparta selbst aber mit Aktivitäten offenbar zurück: C. Iulius Fabius Eurycles Herculanus Vibullius Pius scheint unter Trajan Senator geworden zu sein; vgl. Quaß 1984: 212 f. und Zoumbaki 2008: 47. 853 Vgl. Hoff 1989. 854 Erwähnt seien allerdings die Vorgänge in Seleukeia am Tigris im Jahr 36 n. Chr. Tacitus betont, die Stadt sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht „barbarisiert“ gewesen (vgl. auch Cass. Dio 40,16,3), und fährt mit einer bemerkenswerten Diagnose fort: Die Polis sei durch einen 300 Mitglieder umfassenden Rat sowie eine Volksversammlung regiert worden; wenn es zu einem Konflikt gekommen sei, hätten beide Seiten die Arsakiden angerufen. In der Endphase der Herrschaft des Königs Artabanos II. (10 bis 38) wurde dieser nun von Tiridates (III.) herausgefordert, den Tiberius entsandt hatte, und die Verwicklung Seleukeias in diesen arsakidischen Bürgerkrieg könnte letztlich dazu geführt haben, dass die alten hellenistischen Institutionen abgeschafft wurden; Tac. ann. 6,42. Vgl. de Ste. Croix 1981: 536. 855 Quas ex eo per duodecim fere annos quietissimo semper obseratas otio ipsa etiam robigo signavit, nec prius umquam nisi sub extrema senectute Augusti pulsatae Atheniensium seditione et Dacorum commotione patuerunt; Oros. hist. adv. pag. 6,22,2. Die Datierung ist offensichtlich fehlerhaft; vgl. Syme 1979: 199–204. 856 Euseb. Chron. Olymp. 198 (armenische Fassung). Vgl. auch Synkell. AM 5513. Vier Jahre später soll Cn. Calpurnius Piso den Athenern vorgeworfen haben, beständig für Ärger zu sorgen; Tac. ann. 2,55. 857 Vgl. zu den Vorgängen Graindor 1927: 41–45, der annimmt, es habe sich um ein unbedeutendes lokales Ereignis gehandelt, und Hoff 1989: 275 f. 858 Vgl. Bowersock 1967: 105–108.

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recht. Der genaue Zeitpunkt der Ereignisse wäre daher von erheblicher Relevanz für die Interpretation; denn sollte es sich tatsächlich um eine Stasis gehandelt haben,859 und sollte diese in das Jahr 14 n. Chr. gehören, so wäre man versucht, stattdessen einen Zusammenhang mit der problematischen Nachfolge des Augustus zu vermuten: Velleius Paterculus, Tacitus und Cassius Dio bezeugen unabhängig voneinander, dass das Imperium Romanum damals am Rande eines Bürgerkrieges stand, da es offensichtlich insbesondere in den Grenzarmeen viele Männer gab, die bereit gewesen wären, Germanicus in einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit Tiberius zu unterstützen.860 Das bellum civile fiel aus, weil sich Germanicus demonstrativ loyal verhielt. Dennoch erscheint es durchaus denkbar – wenngleich natürlich spekulativ –, dass die Prekarität der Sukzession nicht nur die Legionen beunruhigte, sondern dass sich damals auch in Athen zwei Parteiungen gegenüberstanden, die sich in dieser Phase unklarer Machtverhältnisse im Imperium zum einen an Tiberius, zum anderen an Germanicus anzulehnen suchten.861 Dies könnte selbst dann der Fall gewesen sein, wenn der greise Augustus zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen sein sollte.862 Letztlich wird sich diese Frage aber wohl kaum klären lassen, sofern keine neuen Quellen hinzukommen. Die griechische Rede über Stasis endete nicht mit Augustus. Noch Plutarch stellt fest, die Verhinderung und Beilegung innerer Konflikte sei die wichtigste Aufgabe, die einem griechischen Politiker unter den Bedingungen der römischen Herrschaft noch geblieben sei;863 als zentralen Anlass derartiger Staseis betrachtet er dabei persönliche Streitigkeiten: So, wie eine Feuersbrunst oft von einem unbewachten Licht oder einem brennenden Kehrichthaufen ihren Ausgang nehme, so stürze vielfach ein kleiner Streit die ganze Polis ins Unglück.864 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Plutarch betont, Aufruhr und Bürgerzwist seien nun ohnehin sinnlos, weil die Römer derlei nicht duldeten, weshalb auch etwaige Sieger die Früchte ihres Erfolges gar nicht ernten könnten.865 859 Vgl. bereits die Zusammenfassung Bowersock 1967: „The affair is described variously as res novae, stasis, and seditio. These descriptions are perfectly compatible: when an anti-Roman faction gains the upper hand, stasis becomes revolt“ (107). 860 Vell. Pat. 2,125,1 f.; Tac. ann. 1,16–44; Cass. Dio 57,4 f. 861 Letztlich läuft man angesichts der dürren Informationen in den Quellen allerdings Gefahr, hier einen zeitlichen mit einem kausalen Zusammenhang zu verwechseln – es ist selbstverständlich durchaus möglich, dass die seditio in Athen nichts mit Augustus und Tiberius zu tun hatte und die zeitliche Koinzidenz ein bloßer Zufall ist. 862 Wenn die inschriftlich bezeugte Entsendung eines legatus Augusti et Tiberi (IG II2 3233) in den Zusammenhang der Niederschlagung der Unruhen gehören sollte, würde dies belegen, dass die Ereignisse vor dem Tod des Augustus stattfanden und ein kaiserliches Eingreifen erforderlich machten. 863 Plut. Mor. 824c–e. Vgl. auch Halfmann 2002. 864 Plut. Mor. 824f–825a. Bereits Aristoteles hatte festgestellt, um Staseis zu verhindern, sei es notwendig, Konflikte innerhalb der Führungsschicht beizulegen, bevor sie eskalieren könnten: διόπερ ἀρχομένων εὐλαβεῖσθαι δεῖ τῶν τοιούτων, καὶ διαλύειν τὰς τῶν ἡγεμόνων καὶ δυναμένων στάσεις; Arist. Pol. 5,4 (= 1303b). 865 Plut. Mor. 824e. Plutarch bezieht sich hier konkret auf eine Stasis in Sardeis, in der sich zwei Parteiungen um die Protagonisten Pardalas und Tyrrhenos zu einem unbekannten Zeitpunkt im 1. Jahrhundert n. Chr. eine heftige Auseinandersetzung geliefert hatten, bis die römischen Autoritäten eingriffen; vgl. Herrmann 1995: 30.

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Er stößt damit ins selbe Horn wie andere kaiserzeitliche Autoren. In seiner Rede an die zerstrittenen Nikaier preist Dion von Prusa866 gegen 100 n. Chr. die ὁμόνοια867 als das wichtigste Gut,868 und die Tarsier warnt er davor, ihre Stasis fortzuführen, indem er nicht nur an die Ereignisse des Jahres 42 v. Chr. erinnert, sondern auch daran, dass man andernfalls ein Eingreifen der römischen Autoritäten provozieren werde – etwas, das sich offensichtlich kein Bürger von Tarsos wünschen konnte.869 Nichts entgehe der Aufmerksamkeit der Statthalter.870 Und die wohl etwas früher entstandene Apostelgeschichte berichtet im Zusammenhang mit den Unruhen, die um 55 n. Chr. in Ephesos ausbrachen, als der Apostel Paulus in der Stadt weilte, wie der namentlich ungenannte γραμματεύς der Polis die von einem gewissen Demetrios angeführte Menge eindringlich davor gewarnt habe, den Eindruck zu erwecken, es herrsche στάσις in der Stadt – denn sonst laufe man Gefahr, hierfür belangt zu werden: καὶ γὰρ κινδυνεύομεν ἐγκαλεῖσθαι στάσεως περὶ τῆς σήμερον, μηδενὸς αἰτίου ὑπάρχοντος περὶ οὗ [οὐ] δυνησόμεθα ἀποδοῦναι λόγον περὶ τῆς συστροφῆς ταύτης.871 Auch hier lässt sich unschwer erraten, dass der städtische Magistrat mit einem römischen Eingreifen drohte – augenscheinlich erfolgreich.872 Es sind Beispiele wie diese,873 die es gerechtfertigt erscheinen lassen, die vorliegende Untersuchung mit der pax Augusta874 enden zu lassen: Die Rahmenbedingungen, sowohl für das Phänomen an sich als auch für den Stasisdiskurs, hatten sich entschei866 Vgl. Bekker-Nielsen 2008: 119–146. 867 Vgl. Sheppard 1984–1986. 868 οὐ γὰρ δῆλον ὅτι τοῖς μὲν ὁμονοοῦσιν οὐ μόνον οἱ κρατοῦντες, ἀλλὰ καὶ οἱ θεοὶ προσέχουσιν, οἱ δὲ στασιάζοντες οὐδ’ αὑτῶν ἀκούουσιν; Dion Chrys. or. 39,3 f. Vgl. auch Thériault 1996: 56–61. 869 Dion Chrys. or. 46,14. Vgl. zu den Ereignissen in Tarsos Kienast 1971 (bes. 65–68), der einen Zusammenhang mit Trajans expeditio Parthica vermutet, letztlich allerdings ohne wirkliche Argumente für diese Spätdatierung. 870 Zum Umgang kaiserzeitlicher Statthalter mit Konflikten in den Poleis vgl. Meyer-Zwiffelhoffer 2002: 298–306, der betont, dass es in der Regel nicht mehr zu „wirklichen Staseis“ (306) gekommen sei. Von Apollonios von Tyana wird berichtet, er habe wiederholt Staseis geschlichtet: ὁπότε μὴν στασιαζούσῃ πόλει ἐντύχοι, πολλαὶ δὲ ἐστασίαζον ὑπὲρ θεαμάτων οὐ σπουδαίων, παρελθὼν ἂν καὶ δείξας ἑαυτὸν καί τι καὶ μελλούσης ἐπιπλήξεως τῇ χειρὶ καὶ τῷ προσώπῳ ἐνδειξάμενος ἐξῄρητ᾽ ἂν ἀταξία πᾶσα καὶ ὥσπερ ἐν μυστηρίοις ἐσιώπων; Philostr. Vit. Apoll. 1,15. Unklar ist allerdings, ob es sich bei diesen Unruhen um Staseis im Sinne dieser Untersuchung handelte. Vgl. auch Kapitel 5. 871 Apg. 19,35–40. 872 Hintergrund dürfte gewesen sein, dass der proconsul Asiae, Paullus Fabius Persicus, bereits etwa zehn Jahre zuvor aufgrund von Korruptionsvorwürfen rund um das Artemisheiligtum in die inneren Verhältnisse der Polis eingegriffen hatte (I.Ephesos 18a). Vgl. zu den Vorgängen Weiß 2009. Vgl. zum Verhältnis der Griechen zu den Statthaltern auch Alföldi 1994. Das Eingreifen eines ungnädigen proconsul aufgrund von Unruhen in Ephesos ist noch für das 2. Jahrhundert n. Chr. bezeugt (SEG 4,512). 873 Erwähnung verdienen auch die Unruhen, die 38 n. Chr. in Alexandreia tobten, von Flavius Josephus als στάσις bezeichnet werden (Ant. Iud. 18,8,1) und ein hartes Durchgreifen der römischen Obrigkeit bewirkten, die sich überzeugen ließ, dass insbesondere die jüdischen Gemeinde verantwortlich für die Vorgänge sei; vgl. zuletzt Ritter 2015: 132–183. Einen Überblick über Unruhen im hellenistischen Alexandreia bietet Mittag 2003: 168–193; aufgrund des eigentümlichen Charakters der Stadt als Residenz der ptolemaiischen Könige sind diese Auseinandersetzungen im Rahmen der vorliegenden Analyse bewusst ausgeklammert worden, da Alexandreia keine ‚gewöhnliche‘ griechische Polis war und die überlieferten Unruhen ausnahmslos eng mit Vorgängen im Königshaus zusammengehangen zu haben scheinen; vgl. Mittag 2003: 193–200. 874 Das Schlagwort pax Augusta war nicht nur auf einen Siegfrieden an den Grenzen, sondern ganz wesentlich auch auf die Herstellung von Ruhe im Imperium selbst bezogen, denn die Legitimität der au-

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2. Die literarische Überlieferung

dend gewandelt. Einem Mann wie Eurykles etwa hätte sich noch einige Jahre früher eine alternative Machtoption geboten; doch mit der Errichtung einer faktischen Alleinherrschaft im Imperium war diese Zeit an ihr Ende gelangt. Das hauptsächliche Anliegen der römischen Regierung war nun die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, notfalls auch – wie in Lykien – durch radikale Maßnahmen.875 Solange die kaiserliche Autorität nicht ihrerseits durch eine Usurpation herausgefordert wurde, gab es im Römischen Reich in der Regel keinen Raum mehr für offene Staseis.876 2.5 Ergebnisse: Stasisdiskurse und Realitäten Es ist Zeit für ein erstes Fazit. Das offensichtlichste Ergebnis der vorangehenden Synopse liegt auf der Hand, verdient es aber dennoch, ausdrücklich benannt zu werden: Stasis war, folgt man der hellenistischen und kaiserzeitlichen Literatur, zwischen Alexander und Augustus eine überaus verbreitete Erscheinung in der griechischen Welt. Die Errichtung der makedonischen Hegemonie stellte hinsichtlich der Häufigkeit innerer Konflikte in den Poleis keine erkennbare Zäsur dar: Selbst die nur trümmerhaft erhaltene Überlieferung zu den folgenden dreieinhalb Jahrhunderten der griechischen Geschichte weiß von über 120 mehr oder weniger beiläufig geschilderten Fällen, und es spricht angesichts der Zufälligkeit, mit der die entsprechenden Berichte auf uns gelangt sind, nichts gegen die Annahme, dass man es dabei nur mit der Spitze eines Eisbergs zu tun hat und die Dunkelziffer hoch ist. ßerordentlichen Stellung des princeps beruhte insbesondere auf dem Anspruch, die Abwesenheit von Bürgerkrieg zu garantieren; vgl. auch Börm – Havener 2012 sowie Fuhrmann 2012: 89–122. 875 Cassius Dio gibt als Grund für die Provinzialisierung Lykiens an, es sei dort zu Staseis gekommen, bei denen auch römische Bürger ums Leben gekommen seien, worauf der princeps Claudius mit dem Entzug der äußerlichen Freiheit und der Umwandlung in eine provincia (gemeinsam mit Pamphylien) reagiert habe: τούς τε Λυκίους στασιάσαντας, ὥστε καὶ Ῥωμαίους τινὰς ἀποκτεῖναι, ἐδουλώσατό τε καὶ ἐς τὸν τῆς Παμφυλίας νομὸν ἐσέγραψεν; Cass. Dio 60,17,3 f. (Vgl. auch Suet. Claud. 25,3.) Dabei konstatiert Dio ausdrücklich, dass es sich bei den beteiligten „Römern“ um Lykier handelte, die teils nicht einmal Latein sprachen. Im 1993 entdeckten Stadiasmus Patarensis (SEG 57,1670) wird der Zustand vor der Einrichtung der Provinz mit Wörtern wie στάσις, ἀνομία und λῃστεία beschrieben. Offensichtlich hatten die führenden Männer im Lykischen Bund es nicht vermocht, das Gebiet im Sinne Roms zu befrieden, und wurden daher nun entmachtet. Şahin – Adak 2007: 59 vermuten, dass sich die zuvor unterlegene Partei hilfesuchend an Claudius gewandt habe. Vgl. zu den Vorgängen Kolb 2002. 876 Auf Unruhen auf Rhodos nach dem Tod des Claudius könnte Syll.3 810 hindeuten. Die Stasis in Nikaia, auf die Dions 39. Rede περὶ ὁμονοίας ἐν Νικαίᾳ πεπαμένης τῆς στάσεως Bezug nimmt, die offenbar 98 n. Chr. entstand, kurz nach Dions Rückkehr aus dem Exil (vgl. Thériault 1996: 57), könnte so in einem Zusammenhang mit der Nachfolgekrise im Prinzipat nach Domitians Ermordung stehen: Nerva erwies sich als schwacher Kaiser (Cass. Dio 68,3,3 f.), und es scheint ein Bürgerkrieg mit dem syrischen Statthalter M. Cornelius Nigrinus (vgl. Alföldy – Halfmann 1973) gedroht zu haben – ein Szenario, das eine Eskalation schwelender Konflikte in Poleis wie Nikaia und Tarsos begünstigt haben könnte. Letztlich muss dies aber eine bloße Hypothese bleiben: „La nature exacte de la stasis évoquée par le titre n’est pas connue et Dion lui-même n’en explique ni les causes ni les protagonistes“ (Thériault 1996: 57). Genau dieses Schweigen deutet allerdings darauf hin, dass die Rede tatsächlich kurz nach der Beendigung der Stasis gehalten wurde und Dion deshalb, wie üblich, bewusst keine Details ansprach, um keinen neuen Zorn aufkommen zu lassen. Auch eine Stasis in Antiocheia (Philostr. Vit. Apoll. 6,38) scheint in diesen Kontext zu gehören.

2.5 Ergebnisse: Stasisdiskurse und Realitäten

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Die bezeugten Staseis verteilen sich dabei auf die ganze griechische Oikumene, und neben alten Poleis waren auch hellenistische Neugründungen betroffen. Wichtig ist zudem die Beobachtung, dass die Zahl der literarisch überlieferten Konflikte im späten Hellenismus zwar insgesamt abnimmt, aber doch keineswegs so sehr, dass man um die Mitte des 2. Jahrhunderts einen tiefen Einschnitt ansetzen könnte: Für die Zeit nach dem Abbruch des polybianischen Werkes lassen die Quellen ein argumentum e silentio noch weniger zu als vorher, und wenn sich der Nebel kurz lichtet, wie etwa im Zusammenhang mit dem Ersten Mithridateskrieg oder nach den Iden des März, öffnet sich sogleich auch der Blick auf mehrere Staseis. Ob dies bedeutet, dass die lokalen Konflikte im Rahmen größerer Auseinandersetzungen erst möglich wurden, oder ob sie die ganze Zeit über bestanden, aber nur ausnahmsweise Niederschlag in der Überlieferung fanden, ist dabei eine Frage, die kaum endgültig zu entscheiden ist. Lässt man also die literarisch bezeugten Staseis Revue passieren, so fällt zum einen ins Auge, wie sehr sich die immer gleichen Muster bis zur Ermüdung zu wiederholen scheinen, und zum anderen, dass die drei Erklärungsansätze, die sich sowohl in den klassischen Quellen als auch in der modernen Forschung beobachten lassen, auch im hellenistischen Stasisdiskurs omnipräsent sind.877 Zum einen ist dies der außenpolitische Ansatz: Immer wieder ordnen die Autoren innere Konflikte in den Kontext ‚internationaler‘ Auseinandersetzungen ein und etikettieren die Beteiligten etwa als ‚Makedonenfreunde‘ und ‚Perserfreunde‘, als Anhänger unterschiedlicher Diadochen bzw. Könige und schließlich als ‚Romfreunde‘ und ‚Romfeinde‘. Es spricht nichts gegen die Annahme, dass damit häufig tatsächlich die Selbstzuordnung der Gruppierungen wiedergegeben wird; allerdings hat die Analyse deutlich werden lassen, dass diese Orientierung von Autoren wie Polybios zugleich nicht als eigentliche Ursache, sondern eher als Epiphänomen innerer Konflikte konzeptualisiert wird. Teils wird ausdrücklich festgestellt, es sei den Beteiligten lediglich um die Macht in ihrer Stadt gegangen,878 und die verfeindeten Gruppen hätten bereits existiert, bevor sie sich an externe Mächte anlehnten.879 Es lässt sich also ein auffälliges Spannungsverhältnis konstatieren: Einerseits versehen die Autoren Stasisparteiungen gerne mit Denominationen, die die Konflikte als unmittelbar mit außenpolitischen Orientierungen verknüpft erscheinen lassen; andererseits aber stellt der konkret geschilderte Verlauf genau diese Etikettierungen oftmals in Frage, obwohl derlei Zuordnungen sowohl von hellenistischen Monarchen als auch von den Römern gerne aufgegriffen worden zu sein scheinen, um zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden. Dieser Befund deckt sich grundsätzlich mit den Beobachtungen zur archaischen und klassischen Zeit, während der die Außenpolitik – zumindest gemäß der derzeit vorherrschenden Sichtweise – ebenfalls vor allem als ein Instrument des inneren Kampfes fungierte.880 Insbesondere für die Frage, ob man die zahlreichen literarisch bezeugten 877 878 879 880

Vgl. zum postklassischen Stasisdiskurs auch Börm 2018. Liv. 42,30,1–4. Pol. 22,6,7; vgl. Walbank 1979: 186. Vgl. Gehrke 1985: 286 f.

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2. Die literarische Überlieferung

Staseis in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. als Ausdruck eines griechischen Freiheitskampfes gegen Rom deuten kann,881 ist diese Feststellung von hoher Relevanz. Zwar soll hier keineswegs bestritten werden, dass die Römer in Griechenland tatsächlich Gegenstand von Hass und Rachephantasien sein konnten.882 Doch die Analyse zumal der polybianischen und livianischen Schilderung des Dritten Makedonischen Krieges legt nahe, dass es zumindest in jenen Poleis, die von den beiden Autoren eingehender behandelt werden, weniger um Widerstand gegen Rom als vielmehr um ein Ringen um die Gunst der neuen Weltmacht gegangen zu sein scheint. Es hat den Anschein, als seien es oftmals die Verlierer in diesem Wettstreit gewesen, die entweder als tertia pars darauf warteten, dass sich das Blatt wendete, oder ihre Hoffnungen notgedrungen auf die Makedonen setzten.883 Trifft dies zu, so ist dies ein weiterer Beleg dafür, dass die antiken Autoren dem Faktor Außenpolitik ungeachtet der oberflächlichen Prominenz dieses Motivs im Diskurs eine bei näherem Hinsehen lediglich sekundäre Bedeutung für den Ausbruch und den Verlauf von Staseis zusprechen. Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren, bereits aus Archaik und Klassik vertrauten Erklärungsansatz: Die Quellen – gleich, ob sie von hellenistischen oder kaiserzeitlichen Autoren verfasst wurden – rekurrieren immer wieder auf sozioökonomische Ursachen, unter denen vor allem Konflikte zwischen Jungen und Alten884 sowie insbesondere zwischen Armen und Reichen eine prominente Rolle spielen.885 Dies gilt nicht nur für die Historiographie: Im 3. Jahrhundert v. Chr. klagte der Kyniker Kerkidas von Megalopolis eindringlich über die Habgier und Hartherzigkeit der Reichen,886 und laut Aristoteles soll bereits Phaleas von Chalkedon behauptet haben, sämtliche Staseis (τὰς στάσεις πάντας) würden aus materiellen Gründen (περὶ τὰς οὐσίας) ausbrechen.887 Damit wird beim Leser der Eindruck erweckt, Stasis habe sich entlang bestehender gesellschaftlicher Bruchstellen und zwischen sozioökonomisch definierten Gruppen abgespielt. Gerade der Umstand, dass diese Zuschreibungen nicht selten ohne nähere Qualifizierung in den Raum gestellt werden, lädt gemeinsam mit ihrem klar topischen Charakter zunächst dazu ein, sie nicht zu ernst zu nehmen.888 Auch die Beobachtung, dass insbesondere ein γῆς ἀναδασμός zwar immer wieder als angeblich erhobene Forderung in den 881 Am prominentesten wurde diese Position sicherlich von Deininger 1971 vertreten. 882 Vgl. zu einem besonders anschaulichen Beleg (FGrHist 257 F 36), einer Prophezeiung aus der Zeit nach dem Antiochoskrieg, Gauger 1980. Einen Überblick über die Attitüde hellenistischer Autoren gegenüber der römischen Expansion bietet Baronowski 2011: 17–60. 883 Liv. 42,30,5–7. 884 Vgl. etwa Diod. 18,46,1–18,47,2; Plut. Agis 6,1 f.; Pol. 4,53,7–9. 885 Vgl. etwa Diod. 18,21,6; Pol. 22,4,3. 886 Pap. Oxy. VIII 1082. Vgl. Moles 1995: 150–152. Cartledge 2016: 239 nimmt an, Kerkidas habe sich konkret auf die Verhältnisse im Achaiischen Koinon bezogen, die von „a growing economic immiseration of the poor citizen masses and a consequent loss by the elite of those poor masses’ goodwill“ geprägt gewesen seien. Anders Davies 1984, der annimmt, dass Kerkidas’ Werk „probably implies much less socially than it appears to do, having been written by a well-off politician“ (295). 887 Arist. Pol. 2,7 (= 1266a). Vgl. zur aristotelischen Kritik an dieser Position auch Balot 2001. Vgl. allgemein zu Ansätzen in der hellenistischen Philosophie, Privateigentum als Wurzel der Konflikte zu identifizieren, Oliva 1974: 50–53. 888 Vgl. die Diskussion bei Finley 1986: 139–141.

2.5 Ergebnisse: Stasisdiskurse und Realitäten

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Quellen erscheint, aber nur selten – etwa im Falle Spartas, wo allerdings eigentümliche Bedingungen vorlagen – davon berichtet wird, dass derlei Maßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und sich nicht auf die Enteignung getöteter oder verbannter Gegner beschränkten, mag dieses Misstrauen verstärken.889 In der Tat spricht also vieles dafür, dass der Rekurs auf soziale und ökonomische Faktoren oftmals – nicht immer – lediglich topischen Charakter hat, zumal dann, wenn die literarischen Quellen in diesem Punkt auffallend oberflächlich bleiben. Andererseits sind die entsprechenden Angaben aber teils so konkret, dass man zögern sollte, sie ohne weitere Prüfung zu verwerfen. Insbesondere Forderungen nach einem Schuldenerlass sind für den Hellenismus gut belegt – wobei diese allerdings nicht notwendig auf Konflikte zwischen einer reichen Elite und einer verarmten Unterschicht hinweisen müssen,890 denn Verschuldung konnte gerade auch innerhalb der Oberschicht problematisch sein, da sie eine für den Schuldner tendenziell inakzeptable Hierarchie implizierte.891 Bezeichnenderweise soll so etwa Agesilaos, der laut Plutarch ja einer der Hauptverantwortlichen für die unter Agis IV. veranlasste χρεῶν ἀποκοπή in Sparta war, ein hochverschuldeter Aristokrat und Großgrundbesitzer gewesen sein.892 Zumindest in einem Kontext sind die Angaben der literarischen Quellen, die sich auf Streitigkeiten um Land und Besitz beziehen, ohne jede Frage plausibel – nämlich in solchen Fällen, in denen es bereits zu Verbannungen gekommen war: Sikyon ist zwar das am besten bezeugte,893 aber keineswegs das einzige Beispiel dafür, dass das Problem der Restitution der φυγάδες durch die Frage nach einer materiellen Entschädigung extrem verschärft werden konnte, ja, musste.894 Die literarische Tradition bezeugt wiederholt, dass fast jeder Versuch einer Befriedung zum Scheitern verurteilt war, solange man keinen gangbaren Weg fand, um entweder den Heimkehrern oder jenen, die zwischen889 Vgl. Gehrke 1985: 323–325 und Orth 1986: 739. Anders Eich 2006: 543–555. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch Shipley 2000, der Verschuldung und Landverlust im Anschluss an Moses Finley überwiegend für ein Elitenproblem hält: „The people most likely to call for redistribution were those who once had land but had it no longer“ (133). Dass die Schlagworte nicht nur in der Literatur kursierten, illustriert der noch zu besprechende Bürgereid von Itanos, der die Klausel enthält, weder einen γῆς ἀναδασμός noch eine χρεῶν ἀποκοπή anzustreben; Syll.3 526. Vgl. Kapitel 3.3.2. 890 Vgl. hierzu auch die berechtigte Warnung bei Shipley 2000: „References to land and debt should not necessarily be seen in modern terms, as evidence of severe hardship or a proletarian underclass. This was a slave-owning society in which any free man was, by virtue of being free and a citizen, a privileged individual enjoying political and economic rights that set him above other men“ (132). Zu beachten ist ferner der aus heutiger Sicht radikale Charakter des damaligen Kreditwesens, bei dem die Aufnahme einer Hypothek häufig mit einem sehr hohen Risiko behaftet war: „Default led to the forfeiture of the entire value of the hypothecated good(s) to the creditor, even if their value exceeded the amount owed“ (Reger 2003: 341). Auf diese Weise konnte also auch ein wohlhabender Mann sehr rasch in große Schwierigkeiten kommen. 891 Schuldendienst konnte leicht als Abhängigkeit gedeutet werden, als Zwang, für einen anderen arbeiten zu müssen, und dies wiederum widersprach der griechischen Freiheitsvorstellung; vgl. Meiksins Wood 2011: 29 f. Vgl. auch Kapitel 4.1. 892 Plut. Agis 13,2: ἐπειδὴ γὰρ ἐκέκτητο μὲν ἐν τοῖς μάλιστα πολλὴν καὶ ἀγαθὴν χώραν, ὤφειλε δὲ πάμπολλα, μήτε διαλῦσαι δυνάμενος τὰ χρέα μήτε τὴν χώραν προέσθαι βουλόμενος ἔπεισε τὸν Ἆγιν ὡς ἀμφοτέρων μὲν ἅμα πραττομένων μέγας ἔσοιτο περὶ τὴν πόλιν ὁ νεωτερισμός, εἰ δὲ τῇ τῶν χρεῶν ἀφέσει θεραπευθεῖεν οἱ κτηματικοὶ πρότερον, εὐκόλως ἂν αὐτῶν καὶ καθ᾽ ἡσυχίαν ὕστερον ἐνδεξομένων τὸν ἀναδασμόν. 893 Plut. Arat. 13,4–14,2; Cic. Off. 2,81 f.; Paus. 2,8,3. Vgl. Walbank 1933: 35 f., Bringmann 1995: 119–122, Grabowski 2012: 87 f. und Rubinstein 2013: 149–154. 894 Vgl. Lonis 1991 und Gray 2015: 80–98.

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2. Die literarische Überlieferung

zeitlich ihr Land in Besitz genommen hatten, einen akzeptablen Ausgleich zu bieten. Denn in der Regel hatten die neuen Eigentümer das Land der Verbannten gekauft – sei es im Rahmen der Versteigerung konfiszierten Besitzes, sei es von Privatleuten, die es ihrerseits ersteigert hatten.895 In jedem Fall lässt sich also konstatieren, dass die literarische Tradition zum Hellenismus das aus früheren Zeiten vertraute Motiv ökonomischer Konflikte als Ursache von Staseis regelmäßig aufgreift.896 Ungeachtet der Frage nach dem – offenbar schwankenden – Realitätsgehalt dieser Aussagen ist hier demnach zumindest diskursiv kein Bruch auszumachen. Etwas anders verhält es sich in Hinblick auf eine Dichotomie, die für die klassische Zeit mindestens ebenso häufig belegt ist wie der angebliche Konflikt zwischen Armen und Reichen oder Schuldnern und Gläubigern: jener zwischen Oligarchen und Demokraten.897 Dieses Erklärungsmuster ist in den Quellen zum frühen Hellenismus, insbesondere zum Alexanderzug und den Diadochenkriegen, noch sehr präsent,898 büßt dann aber allem Anschein nach an Prominenz ein und ist zumindest für das 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. literarisch kaum noch bezeugt. Sofern man bei aller gebotenen Vorsicht annimmt, dass dies den zeitgenössischen Diskurs grundsätzlich widerspiegelt, obwohl die erhaltenen Quellen erst im Abstand von Jahrzehnten oder Jahrhunderten entstanden sind,899 ergibt sich also ein bemerkenswerter Befund. Dafür, dass diese Annahme zutrifft, spricht die bereits an anderer Stelle erwähnte Beobachtung, dass „Demokratie“ im politischen Diskurs des Hellenismus früh triumphiert hatte und fortan, soweit man sieht, zumeist als die einzig legitime Verfassungsform galt.900 Unabhängig von den tatsächlichen Absichten und machtpolitischen Realitäten war es offensichtlich schlechterdings unmöglich, sich selbst als Vorkämpfer einer offenen Oligarchie zu stilisieren;901 und dies mag sich nach einer Weile auch im hellenistischen Stasisdiskurs niedergeschlagen haben, in dem die Polemik gegen „Oligarchen“ zusehends verblasste, wenngleich hier aufgrund der Lückenhaftigkeit der Überlieferung natürlich Zurückhaltung geboten ist.902 895 Die Konfiskation und Versteigerung des Eigentums von Verbannten dürften im Hellenismus grundsätzlich nicht anders verlaufen sein als in klassischer Zeit; vgl. Gehrke 1985: 210–214. 896 Vgl. etwa auch Pol. 6,45,7–9. 897 Vgl. Leppin 2013 und Müller 2018. Vgl. auch die Bemerkungen bei Winters 2011: 72–90. 898 Vgl. etwa Arr. Anab. 1,18,2; Diod. 18,65,6. 899 Der epigraphische Befund stützt, wie sich zeigen wird, diese Annahme; vgl. Kapitel 3.4. 900 Vgl. Quaß 1979: 40 f., Billows 2003: 209 und Hansen 2006: 112. Wiemer 2013 warnt hingegen zumindest für den frühen Hellenismus davor, den Begriff für weitgehend inhaltsleer zu halten: „In the early Hellenistic period, the word demokratia, far from being a term that had come to mean nothing more than republic as opposed to a monarchy, still was a political concept that referred to a particular type of constitution based on political equality and popular rule“ (57). Anders jüngst Cartledge 2016: 245, der von einer „devaluation, if not actual degradation, of that word’s original force and meaning“ spricht; vgl. ähnlich Gauthier 1993: 218. 901 Beachtung verdient in diesem Zusammenhang allerdings der hellenistische Scholiast, der das homerische οὐ μέν πως πάντες βασιλεύσομεν dahingehend interpretierte, dass Demokratie eben zu Stasis führe: οὐκ ἔσται δημοκρατία, φησίν. εἰ δὲ τοῖς μείζοσι ταῦτα ἔλεγεν, ἐξῆπτε τὴν στάσιν, σπουδαρχιδῶν ἀνδρῶν ἐν τοσούτῳ θορύβῳ καθαπτόμενος; Σ exeg. Il. 2,203. 902 Damit ist nicht gesagt, dass es im Hellenismus unmöglich gewesen sei, die Volksherrschaft zu kritisieren. Ein Autor wie Polybios konnte ungeachtet aller Lippenbekenntnisse zur Demokratie behaupten, Rom sei Karthago deshalb überlegen gewesen, weil bei den Puniern das Volk die Entscheidungen ge-

2.5 Ergebnisse: Stasisdiskurse und Realitäten

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Was angesichts der erhaltenen Quellen allerdings in jedem Fall feststeht, ist der Umstand, dass in der Zeit nach Alexander dem Großen Stasis sehr häufig mit einer Tyrannis in Verbindung gebracht wird. Folgt man der literarischen Tradition zum Hellenismus, so gewinnt man geradezu den Eindruck, der Demos habe nun weniger gegen Oligarchen, sondern vor allem gegen Tyrannen kämpfen müssen; nimmt man diese Berichte ernst, so traten damals kaum weniger Alleinherrscher auf als während der Archaik.903 Nun kann die kontroverse Frage nach dem Wesen der Älteren Tyrannis – handelte es sich wirklich um Monokraten im engeren Sinne oder eher um besonders erfolgreiche Aristokraten? – nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein.904 Die Analyse der literarischen Quellen zur hellenistischen Tyrannis jedenfalls ergibt, dass es bei näherem Hinsehen oftmals Grund zu der Vermutung gibt, es – zumal außerhalb Siziliens – eher mit Character Assassination zu tun zu haben.905 Zwar ist durchaus davon auszugehen, dass es tatsächlich hier und dort Einzelnen gelang, sich zum Herrn über eine Polis aufzuschwingen (wobei auch ein solcher τύραννος natürlich niemals ohne eine Partei war); doch scheint es ratsam, die im Diskurs so prominente Bezeichnung als „Tyrann“ nur dann wörtlich zu nehmen, wenn es belastbare Hinweise auf eine tatsächliche Monokratie gibt – wie etwa bei Agathokles in Syrakus. Nicht selten scheinen sich hinter den τυράννους des Hellenismus stattdessen lediglich die Exponenten einer unterlegenen Parteiung zu verbergen, denen insbesondere die Gegenseite die Legitimität absprach und die man wohl oftmals zudem im Nachhinein zu Sündenböcken machte.906 Zwischen einer bewussten Verzerrung und subjektiver

903 904 905 906

troffen habe, während die Römer zum fraglichen Zeitpunkt aristokratisch regiert worden seien: διὸ καὶ τὴν πλείστην δύναμιν ἐν τοῖς διαβουλίοις παρὰ μὲν Καρχηδονίοις ὁ δῆμος ἤδη μετειλήφει, παρὰ δὲ Ῥωμαίοις ἀκμὴν εἶχεν ἡ σύγκλητος. ὅθεν παρ᾽ οἷς μὲν τῶν πολλῶν βουλευομένων, παρ᾽ οἷς δὲ τῶν ἀρίστων, κατίσχυε τὰ Ῥωμαίων διαβούλια περὶ τὰς κοινὰς πράξεις; Pol. 6,51,6 f. Vgl. auch Grieb 2013: „In den Historien werden außerhalb des sechsten Buches diejenigen Gemeinwesen, die konkret als demokratia benannt sind, sowohl in dem entsprechenden Zusammenhang als auch darüber hinaus negativ charakterisiert. Einzige Ausnahme hiervon ist die ‚wahre Demokratie‘ in Polybios’ eigener politischer Heimat, dem Achaiischen Koinon“ (212). Vgl. Berve 1967: 383–475. Die Ältere Tyrannis ist in nicht mehr als 60 Poleis bezeugt; vgl. Dreher 2017: 168. Die Mehrzahl der tatsächlichen oder angeblichen hellenistischen Tyrannen gehört ins 3. Jahrhundert. Verwiesen sei stattdessen auf den konzisen Überblick Luraghi 2013a (bes. 135–139) sowie Schmitz 2014: 69–84 und Stein-Hölkeskamp 2015: 221–255. Zur polemischen Verwendung des Tyrannisvorwurfs im Hellenismus vgl. Berve 1967: 476 und Gauger 2005a: 1093. Ein gutes Beispiel scheint der athenische „Tyrann“ Lachares zu sein; vgl. Kapitel 2.2.1. Die Geschichte schrieben die Sieger. Vgl. zu „Tyrannen“ als Sündenböcken auch Luraghi 2013b: 57–60. Grundsätzlich ist die Perhorreszierung des Gegners im Kontext interner Konflikte von noch essentiellerer Bedeutung als bei externen Kriegen, da sie zum einen Legitimität und Zusammenhalt der eigenen Gruppierung stiftet und zum anderen eine Aussöhnung mit dem Feind sehr erschweren kann. Vgl. Veit – Schlichte 2011: „Häufig werden Ideologien nur auf ihre Außenwirkung […] hin eingeschätzt. Ihre Kernfunktion liegt jedoch zunächst im internen Bereich […]. Die Wirkung von Erzählungen der Repression durch den ungerechten Feind und dem Versprechen einer besseren Zukunft ist einer der Gründe für die Schwierigkeiten, Bürgerkriege durch Kompromisse zu beenden […]. Die Hypothek der großen Versprechungen wächst mit jedem Opfer in den eigenen Reihen“ (160 f.).

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2. Die literarische Überlieferung

Wahrnehmung ist dabei kaum zu unterscheiden.907 Auf dieses Problem wird noch zurückzukommen sein.908 Mit den Beobachtungen zur Verwendung des Tyrannenbegriffs und der zugehörigen Topoi ist man bereits beim dritten und letzten prominenten Deutungsangebot in den literarischen Quellen: Gerade dort, wo Autoren detailliert auf hellenistische Staseis eingehen, nennen sie meist einzelne Akteure, die oft namentlich gekennzeichnet werden und nicht selten auch anderweitig belegt sind. Bei diesen στασίαρχοι handelt es sich, soweit hierzu Angaben gemacht werden, stets um Angehörige der städtischen Elite, die Livius principes nennt. Dies geht so weit, dass nicht wenige Quellen eine Stasis geradezu als Konflikt zwischen zwei Einzelpersönlichkeiten erzählen, die sich eine Fehde liefern;909 dem jeweiligen Anführer einer Parteiung wird mithin eine zentrale Rolle als ‚Kristallisationskern‘ zugesprochen. Bemerkenswerterweise werden die Ursachen dieser Auseinandersetzungen in diesen Fällen so gut wie nie konkret benannt; stattdessen wird der Streit oft einfach durch den seit dem frühen Hellenismus bezeugten Ausdruck ἀντιπολιτεύεσθαι charakterisiert.910 Das Wort drückt eine gewisse Ratlosigkeit aus und verzichtet auf eine inhaltliche Bestimmung der verfeindeten Parteien sowie auf Polemik.911 Obwohl diese Konflikte also klar auf die Polis bezogen waren, hatten sie augenscheinlich zugleich oft einen sehr persönlichen Charakter – erinnert sei an Plutarchs Bemerkungen über private Feindschaften und Fehden, die ganze Poleis ins Unglück stürzen könnten.912 Insgesamt ist nicht zu übersehen, dass Auseinandersetzungen innerhalb der städtischen Oberschichten in der literarischen Überlieferung zur hellenistischen Stasis eine überaus prominente Rolle spielen. Man könnte nun einwenden, dass die Autoren für ein elitäres Publikum schrieben und ihr Augenmerk daher wie selbstverständlich auf die Aristokraten unter den Akteuren richteten, was die Darstellung verzerrt haben könnte. Ganz ausschließen lässt sich dies in der Tat nicht. Allerdings wäre auch in diesem Fall zu erwarten, dass die Quellen zumindest dort, wo man Staseis stattdessen als eine Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich oder zwischen Plethos und Elite erzählt, Namen von etwaigen der Unter907 Einen anschaulichen Fall aus spätklassischer Zeit diskutiert bereits Xenophon, der feststellt, Euphron von Sikyon, der Anführer der ‚Spartafeinde‘ in seiner Polis, habe den Thebanern als Tyrann gegolten, während ihn seine eigenen Mitbürger nach seiner Ermordung auf der Agora bestattet und als Archegeten verehrt hätten: Die meisten Leute würden eben jene für gute Männer halten, die ihnen Gutes tun: οὕτως, ὡς ἔοικεν, οἱ πλεῖστοι ὁρίζονται τοὺς εὐεργέτας ἑαυτῶν ἄνδρας ἀγαθοὺς εἶναι; Xen. Hell. 7,3,12. Vgl. auch Lewis 2004: „Viewed from the right perspective, almost any ruler or regime could be claimed as a tyranny, and the judgment we make on any given regime depends to a large extent on the ideology of the historian who described it“ (74). 908 Vgl. die Analyse der hellenistischen Tyranneninschriften in Kapitel 3.4. 909 Vgl. etwa Plut. Mor. 809b–d; Pap. Oxy. XVII 2082; Liv. 26,38,6; Strab. 14,2,19. 910 Vgl. Ruschenbusch 1980. 911 Bemerkenswert ist übrigens, dass die lückenhafte Überlieferung die Anzahl derjenigen, die getötet oder verbannt worden sein sollen, auffallend häufig auf 80 beziffert; vgl. Pol. 2,59,9; Liv. 25,23,4–7; Liv. 41,25,3 f.; Plut. Arat. 9,3; Plut. Kleom. 10,1; Plut. Philop. 16,2; App. Mithr. 48. Bis auf weiteres scheint es sich hierbei aber einfach um einen sonderbaren Zufall zu handeln. 912 Plut. Mor. 824f–825a. Vgl. in diesem Sinne auch Tarn 1952: „We know well that a state may have trouble when that is the last thing which the bulk of its people desire“ (91).

2.5 Ergebnisse: Stasisdiskurse und Realitäten

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schicht entstammenden Demagogen nennen; doch selbst im Fall des Agathokles macht Diodor klar, dieser sei vielmehr ein sozialer Aufsteiger gewesen, der es bereits zu Wohlstand und einer aristokratischen Frau gebracht hatte, als es zum Konflikt kam.913 Zwar wird nicht jeder Akteur in den Quellen ausdrücklich als Angehöriger der Oberschicht markiert, doch entscheidend ist das auffällige Fehlen von expliziten Hinweisen auf Männer niederer Herkunft, Hinweise, die etwa hinsichtlich der Anführer von Sklavenrevolten durchaus gegeben werden.914 Vor diesem Hintergrund deutet daher alles darauf hin, dass die Autoren aristokratische Protagonisten deshalb prominent in ihre Berichte einführen, weil tatsächlich diese, und nicht Männer aus der Mitte des Plethos, von ihnen als die entscheidenden Akteure der meisten Staseis wahrgenommen wurden. Somit ergibt die Analyse der literarischen Überlieferung also letztlich das folgende Bild: Stasis wurde während des gesamten Hellenismus als weit verbreitetes, ja, omnipräsentes Problem verstanden und war allgemein gefürchtet. Die Art und Weise, wie man die Konflikte diskursiv zu fassen suchte, blieb dabei im Vergleich zur Klassik grundsätzlich konstant; pauschale Erklärungen treten allerdings vielfach in ein auffälliges Spannungsverhältnis zu den konkret geschilderten Ereignissen. Eine bestimmte außenpolitische Orientierung der Beteiligten wird so zwar häufig benannt, aber bei näherer Betrachtung oft nicht als eigentliche Triebkraft hinter den Konflikten identifiziert, sondern eher als Folge und Begleiterscheinung. Sozioökonomische Faktoren erscheinen in den Quellen ebenfalls häufig, werden aber vornehmlich dann konkret greifbar, wenn es, wie in Sikyon, um die Hindernisse für eine Reintegration des Gemeinwesens geht. Vor allem dort, wo die Ereignisse vergleichsweise detailliert beschrieben werden, sind vielmehr Streitigkeiten innerhalb der städtischen Oberschichten, die von den Autoren nicht selten auf eine Fehde zwischen nur zwei Personen enggeführt werden, die häufigste Erklärung für Staseis. Individuen, die anderen sozialen Gruppen angehören, insbesondere Demagogen aus der Unterschicht, spielen im literarischen Stasisdiskurs hingegen keine Rolle. Demos, Plethos und Ochlos bleiben in unseren Quellen gesichtslose Kollektive. So entsteht der Eindruck, dass man zwar einerseits Feindschaften innerhalb der städtischen Eliten als einen wesentlichen Kern des Problems ansah, andererseits aber auf die traditionellen Erklärungsmuster für eine Polarisierung der Bürgerschaft nicht verzichten zu können glaubte. Dieser Befund wiederum dürfte nicht nur auf den ‚panhellenischen‘ literarischen, sondern auch auf den lokalen Stasisdiskurs im Hellenismus verweisen: Vor allem dann, wenn es um die Legitimierung des inneren Kampfes und um die Mobilisierung von Anhängern ging, griff man, so ist zu vermuten, nach wie vor auf Gegensatzpaare wie „Junge gegen Alte“, „Oligarchen gegen Demokraten“ oder „Makedonenfreunde gegen Romfreunde“ zurück; und diese Rhetorik spiegelt sich umgekehrt in den literarischen Quellen wider, die damit wohl nicht allein bewährte Topoi wiederholen, sondern tatsächlich gebräuchliche Legitimationsstrategien und Schlagworte aufgreifen. Denn persönliche Feindschaften zwischen Aristokraten stellten im Hellenis913 Diod. 19,3,1 f. 914 Diod. 34,2.

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2. Die literarische Überlieferung

mus offenbar, anders als vielleicht noch in der Archaik, keine akzeptable Begründung dar, um eine ganze Polis ins Chaos zu stürzen. Umso problematischer ist es daher, die entsprechenden Etikettierungen unkritisch zu übernehmen und damit Gefahr zu laufen, Diskurse mit Realitäten zu verwechseln.915 Die literarische Schilderung interner Gewalt im Hellenismus ist von zahlreichen Topoi geprägt, darunter die vergebliche Berufung auf den Schutz der Götter und auf heilige Eide, exzessive Gewalt, Heimtücke, Verschwörung, Verrat, die Entfesselung der Wut der Jugend und des Pöbels, Grausamkeit gegen Aristokraten oder die Schändung von Frauen. Die Nähe von Stasis- und Tyrannentopik sticht dabei ins Auge. Wie immer, wenn man es mit diskursiven und literarischen Überformungen zu tun hat, ist die Verwendung von Topoi und Stereotypen dabei aber natürlich keineswegs ein Beweis dafür, dass man es mit freien Erfindungen zu tun hat. Im Folgenden soll es nun darum gehen, das Bild, das die Auswertung hellenistischer und kaiserzeitlicher Autoren von der Zeit zwischen Alexander und Augustus ergeben hat, anhand ausgewählter Beispiele mit dem epigraphischen Befund zu konfrontieren, um zu überprüfen, ob sich in den Inschriften Hinweise auf eine ähnliche Konzeptualisierung von Staseis durch die unmittelbar Beteiligten finden lassen.

915 Es sei nochmals betont, dass damit nicht gesagt ist, dass es die entsprechenden Dichotomien nicht gegeben haben kann: Um die erwünschte Wirkung zu erzielen, greift Polemik nicht selten tatsächliche Probleme und Verfehlungen auf. Eine vollständige Entkopplung von Realität und Diskurs ist daher unwahrscheinlich, vielmehr ist mit einer gegenseitigen Beeinflussung zu rechnen.

Do you remember any instance where tyranny was destroyed and freedom established on its ruins, among a people possessing so small a share of virtue and public spirit? I recollect none. Patrick Henry

3. Die lokale Überlieferung 3.1 Die auswärtigen Richter Kaum ein Beispiel ist besser geeignet, die Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit der literarischen Überlieferung sowie ihre Privilegierung bestimmter Themen zu veranschaulichen, als das Phänomen der auswärtigen Richter (μετάπεμποι δικασταί) in den nachklassischen Poleis.1 Denn wäre man einzig auf die literarischen Quellen zum Hellenismus angewiesen, die hierzu gerade eine Handvoll beiläufiger Erwähnungen enthalten,2 käme man schwerlich zu dem Schluss, es mit einer Erscheinung zu tun zu haben, die für die Jahrhunderte nach Alexander nachgerade typisch war und deren Spuren sich erst im Prinzipat wieder verlieren. Dass dies aber in der Tat der Fall war, ist durch ein Corpus von inzwischen fast 300 publizierten Inschriften aus ganz Hellas und Kleinasien zweifelsfrei belegt.3 1 2

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Ein anderer terminus technicus war möglicherweise der in den Inschriften allerdings nur vereinzelt bezeugte Ausdruck ξενοκρίται, der in der Kaiserzeit überdies eine andere Bedeutung annehmen sollte; vgl. Larsen 1948: 187. Mir sind insgesamt fünf Beispiele bekannt: Das früheste literarische Zeugnis findet sich, soweit ich sehe, bei Polybios, der die beiden Rhodier Sosigenes und Diopeithes erwähnt, die im Auftrag der Achaier als fremde Richter fungiert, aber ihre Kompetenzen überschritten und gegen Recht und Ehrenhaftigkeit verstoßen hätten; Pol. 28,7,8–10. Larsen 1948 argumentiert überzeugend dafür, die peregrinis iudicibus, die Cicero spöttisch im Zusammenhang mit seiner Statthalterschaft in Kilikien erwähnt (ad Att. 6,1,15), ebenfalls als auswärtige Richter zu interpretieren. Pausanias berichtet, die Römer hätten in Sparta im Jahr 184 ξενικὰ δικαστήρια eingeführt, um die Vehandlung von Kapitalanklagen in der Polis den Achaiern zu entziehen; Paus. 7,9,5. Auch Iulius Pollux erwähnt im Onomastikon beiläufig ξενικὰ δικαστήρια; Poll. 8,62. Und schließlich ist Plutarch zu nennen, der den Brauch, fremde Richter herbeizurufen (ξενικῶν δικαστηρίων ἀγωγαί), auf das Misstrauen (ἀπιστία) der Griechen gegeneinander zurückführt und in diesem Zusammenhang sarkastisch anmerkt, die Hellenen müssten Gerechtigkeit ebenso importieren wie Lebensmittel; Plut. Mor. 493a–b. Eine Monographie zu den fremden Richtern ist derzeit noch immer ein Desiderat, obwohl das Phänomen besonders seit dem grundlegenden Beitrag Robert 1973 wachsendes Forschungsinteresse auf sich gezogen hat. Neben den zahlreichen Aufsätzen von Charles Crowther (besonders Crowther 1992) sei

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3. Die lokale Überlieferung

Zumeist handelt es sich um Ehrendekrete, die von jener Polis, die die Richter angefordert hatte, beschlossen und auf ihre Kosten zugleich auch in der jeweiligen Heimatstadt der Dikasten auf Stelen festgehalten wurden. In ihrer ausführlichsten Form enthalten die Inschriften dabei zwei Urkunden, nämlich die Ehrung der Richter durch die anfordernde Stadt und die Annahme dieser Ehrungen durch die entsendende Polis. Die Anzahl der μετάπεμποι δικασταί bewegte sich dabei im einstelligen Bereich; wenn Chios um das Jahr 305 zehn Dikasten ehrt – jeweils fünf aus Andros und Naxos –, so ist dies eine ungewöhnlich große Zahl.4 Die Richter werden regelmäßig als καλὸς καὶ ἀγαθός bezeichnet und gehörten mithin offensichtlich der Elite an; sie wurden, soweit man sieht, nicht durch das Los, sondern durch Wahl bestimmt.5 3.1.1 Staseis und ξενικὰ δικαστήρια Die Relevanz dieser Erscheinung für die Analyse der Stasis im Hellenismus hängt dabei unmittelbar ab von der Frage nach der Genese und Funktion der Einrichtung der auswärtigen Richter: Falls es sich stets um eine Notmaßnahme handelte, die eine gespaltene Polis befrieden sollte, in der die soziale Desintegration bereits so weit fortgeschritten war, dass die Urteile der eigenen Gerichte nicht mehr genügend Akzeptanz genossen, um Konflikte zu regeln, dann bezeugt jeder überlieferte Fall zugleich auch eine Stasis – allerdings mutmaßlich eine, die noch nicht zu tödlicher Gewalt eskaliert war, so dass eine friedliche Schlichtung noch möglich schien.6 Geht diese Gleichung auf? Lässt sich also der Einsatz von μετάπεμποι δικασταί als Hinweis auf das Vorliegen einer Stasis in den jeweils betroffenen Poleis interpretieren und verweist die große Zahl an entsprechenden Dekreten auf eine weit verbreitete Instabilität in den hellenistischen Städten, oder kann man das Phänomen auch anders erklären?7 Es deutet vieles darauf hin, dass es zumindest anfangs die Könige waren, die – auch wenn die Initiative formal stets von der betroffenen Polis ausging – dafür Sorge trugen, Städte in ihrem Machtbereich auf diese Weise zu befrieden.8 Sieht man von einer berühmten Inschrift aus dem arkadischen Tegea ab,9 die wohl im Zusammenhang mit der durch

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hier verwiesen auf Gauthier 1994, Dössel 2003: 258–269, Walser 2008: 258–272, Cassayre 2010: 129–180, Walser 2012: 96–104, Scafuro 2014 und Magnetto 2016. SEG 12,390. Vgl. Robert 1973: 771 f. So erklärt sich, dass dieselben Personen mehrfach als Richter geehrt werden konnten, durchaus auch durch unterschiedliche Poleis. Megara etwa entsandte um die Mitte des 2. Jahrhunderts denselben Dikasten nach Tanagra (IG VII 20) und Orchomenos (IG VII 21), wo er laut dem letztgenannten Dekret Streitigkeiten zwischen den Bürgern beilegte und die Eintracht wiederherstellte. In diesem Sinne argumentiert insbesondere Dössel 2003: 263–269. Tarn 1952 ging davon aus, die Ursache sei schlicht ein allgemeiner Zusammenbruch der städtischen Rechtsprechung im späten 4. Jahrhundert gewesen: „Before 300 the old system of trying cases by a jury composed of a large body of citizens was breaking down, as it deserved; it was about the worst legal system ever invented, for the juries’ decisions were habitually influenced by politics“ (88). Vgl. Gauthier 1994. Syll.3 306. Die Inschrift gehört wohl in das Jahr 323; da der Name des betreffenden Königs nicht vollständig erhalten ist, weshalb prinzipiell auch [Κάσσ]α¢νδρος statt [Ἀλέξ]α¢νδρος möglich scheint, wurde aller-

3.1 Die auswärtigen Richter

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Alexanders Verbanntendekret erzwungenen Rückführung der zuvor Exilierten auch ein ξενικὸν δικαστήριον erwähnt,10 so ist bereits im Falle des ältesten bisher bekannten Ehrendekrets für auswärtige Dikasten, einer fragmentarisch erhaltenen Inschrift aus dem aiolischen Kyme, in der Richtern aus Magnesia gedankt wird, die Streitigkeiten zwischen Bürgern beigelegt hätten,11 die Einflussnahme eines Diadochen ausdrücklich bezeugt: Die Entsendung der Dikasten sei κατὰ τὸ διάγραμμα τὸ Ἀντιγόνω erfolgt. Da Antigonos Monophthalmos hier noch nicht als βασιλεύς bezeichnet wird, dürfte das Ereignis in die Zeit vor 306 gehören, dem Jahr, in dem er und sein Sohn den Königstitel annahmen.12 Teils ist ausgehend von diesem Befund vermutet worden, Antigonos sei der ‚Erfinder‘ der Einrichtung gewesen.13 Allerdings ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass bereits die ältesten bekannten Dekrete nicht den Eindruck erwecken, als habe es sich um eine radikale Neuerung gehandelt. Möglicherweise griffen die Monarchen also lediglich ein Verfahren auf, das grundsätzlich bereits in klassischer Zeit bekannt gewesen war,14 aber erst aufgrund des gewandelten Epigraphic Habit des Hellenismus in den Quellen sichtbar wird.15 Andererseits kann der Rekurs auf fremde Richter vor den Diadochen aber auch nicht allgemein gängige Praxis gewesen sein, denn sonst hätte man sie beispielsweise bei der schwierigen Rückführung von Verbannten nach Mytilene im Jahr 33216 sicherlich eingesetzt.17 Gewissheit wird sich in dieser Frage daher wohl kaum gewinnen lassen, sofern keine neuen Zeugnisse ans Tageslicht kommen.18 In jedem Fall

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dings vereinzelt auch ein Zusammenhang mit der Freiheitserklärung von 319 oder der Belagerung Tegeas durch Kassander 317 in Erwägung gezogen; vgl. Heisserer 1980: 219–229 mit der Erwiderung Worthington 1993. Das auswärtige Gericht sollte jedenfalls 60 Tage lang Anhörungen wegen der Streitigkeiten zwischen den Heimkehrern und jenen, die mittlerweile die Besitzer ihres vormaligen Eigentums waren, durchführen. Woher die fremden Dikasten kamen – vermutlich Mantineia – und wer ihre Entsendung veranlasst hatte, bleibt unklar. Vgl. zuletzt die Diskussion bei Loddo 2016. Vgl. zur Reintegration der Verbannten in Tegea auch Bencivenni 2003: 93–100, Dmitriev 2004: 351–354 und Gray 2015: 90–94. I.Kyme 1 (vgl. OGIS 7). Plut. Demetr. 18,1; Diod. 20,53,2. Vgl. allerdings Lund 1992: 66, die bezweifelt, dass der Königstitel bereits in der Frühzeit der hellenistischen Monarchien notwendig in allen Dokumenten erscheinen musste. Vgl. Tarn 1952: 89. In der Tat scheint die Grundidee, auswärtige Streitschlichter einzusetzen, bereits früh aufgekommen zu sein. Laut Herodot (5,28 f.) riefen so etwa die Milesier im 6. Jahrhundert nach einer zwei Generationen währenden Stasis Richter aus Paros herbei, die den inneren Frieden wiederherstellten, die Polis neu ordneten (κατήρτισαν) und eine Oligarchie etablierten. Engelmann 1967 hat zudem darauf hingewiesen, dass Aischylos in den Sieben gegen Theben die Möglichkeit erwähnt (und verwirft), die Stasis zwischen Eteokles und Polyneikes beizulegen, indem man einen ξένος die Landlose verteilen lasse; Aischyl. Hept. Theb. 727. Vgl. so etwa Cassayre 2010: „Rien n’indique cependant que les rois hellénistiques aient été à l’origine de la pratique des juges étrangers. Ils ont dû reprendre et favoriser une pratique déjà connue des cités grecques“ (130). Die lange Zeit übliche Datierung auf 324 (vgl. noch Gehrke 1985: 122) ist ebenfalls möglich. Vgl. aber Worthington 1990, der überzeugend für eine Datierung in die späten 330er Jahre, am ehesten 332, plädiert. In Mytilene – siehe dazu Kapitel 3.2.1 – wählte man stattdessen die Lösung, ein paritätisch aus Vertretern beider Parteiungen zusammengesetztes Schiedsgericht zu bilden; SEG 36,752 (Z. 21–38). Vgl. auch Dössel 2003: 167–169. Denkbar ist, dass es sich bei den συναλλακταί, die eine Inschrift (SEG 57,576) um 360 für Dikaia (vgl. Kapitel 3.2.2) erwähnt, um Auswärtige handelte. Demetriou 2013 interpretiert überdies die in einer

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3. Die lokale Überlieferung

ist aber bemerkenswert, dass mindestens die Hälfte der Fälle, die sich mit hinreichender Sicherheit auf die Zeit vor 220 datieren lassen, auf königliche Interventionen zurückgeht.19 Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Dabei scheinen sowohl Seleukiden als auch Ptolemaier und Antigoniden tätig geworden zu sein. Das karische Bargylia etwa bat unter Beteiligung des Königs Antiochos I. um einen Richter aus Teos, Tyron, καλὸς καὶ ἀγαθός, der durch Vermittlung und Urteile Streitigkeiten in der Stadt beilegte (ὃς ἀφικόμ[ενος] [τ]ῶν δικῶν τὰς μὲν διέλυσεν τὰς δὲ διέκρινεν, ἀε¢[ὶ ἀπὸ] [π]αντὸς τοῦ βελτίστου ποιησάμενος τὰς κρίσει[ς]).20 Um 280 wird Ptolemaios I. in einer Inschrift erwähnt, in der Naxos Richter aus Kos ehrt, die als δικαστὰς καὶ διαλ[λακτάς] Streitigkeiten über Verträge beigelegt hätten.21 Auf Thera scheint der ptolemaiische Nauarch interveniert und die Entsendung von Richtern aus Iulis arrangiert zu haben.22 Und die kleine Polis Kimolos ehrte im 3. Jahrhundert den Richter Charianthos aus Karystos, der im Auftrag des Königs Antigonos in die Polis gekommen sei, um seit langer Zeit anhängige Fälle durch Vermittlung oder Urteil zu entscheiden.23 Außer den Monarchen konnten ferner auch die koina eine entsprechende Rolle übernehmen; so griff zum Beispiel der Thessalische Bund im frühen 2. Jahrhundert in Larisa ein und vermittelte die Entsendung von Richtern aus Mylasa.24 Da seit ungefähr dieser Zeit die Zahl der bezeugten Fälle im griechischen Mutterland stark zunimmt,25 hat man teils vermutet, dass auch die Römer sich dieses Instrumentes früh und intensiv bedienten.26

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spätklassischen Inschrift aus dem griechischen Emporion Pistiros in Thrakien (SEG 43,486) erwähnten συγγενεῖς, die Streitigkeiten zwischen den Kaufleuten entscheiden sollten, als fremde Richter. Diese Lesart ist nicht ohne Reiz, da in den hellenistischen Dekreten in der Tat oft eine συγγένεια zwischen der anfordernden und der entsendenden Polis behauptet wird (vgl. etwa SEG 26,677; 29,770; 43,202; 47,745; 53,863); doch letztlich steht sie wohl auf zu schwachem Grund. Vgl. Crowther 1992: 23. Beispiele sind etwa OGIS 43, IG XII 4,135 oder I.Priene 59. Überliefert ist die Aufforderung, die Antigonos I. um 303 an Teos und Lebedos richtete: Aus Anlass des bevorstehenden Synoikismos seien die in beiden Orten jeweils bestehenden Streitigkeiten durch Schlichtung oder Urteile (διαλυθῆναι ἢ διακριθῆναι) innerhalb von zwei Jahren beizulegen; die Vermittlung solle Mytilene übernehmen; Syll.3 344, Z. 24–30. Letzteres bedeutet vermutlich, dass Mytilene δικασταὶ καὶ διαλλακταί entsenden sollte. I.Iasos II 608 (vgl. Syll.3 426); vgl. Gauthier 1994: 167. IG XII 4,135 (vgl. OGIS 43). Denkbar ist ein Zusammenhang mit einer Inschrift für die Homonoia, die vermutlich ebenfalls ins frühe 3. Jahrhundert gehört; vgl. Sherwin-White 1978: 330. IG XII 3,320. Vgl. auch Cassayre 2010: 166. Irgendwann im 3. Jahrhundert errichtete ein gewisser Artemidoros auf Thera eine Weihung für die Homonoia (IG XII 3 Supp. 1342), vielleicht besteht hier ein Zusammenhang; vgl. Thériault 1996: 27 f. SEG 44,710. Unklar ist, ob es sich um Antigonos II. oder III. handelt. Vgl. hierzu Jacobsen – Smith 1968 sowie die gründliche Diskussion bei Gauthier 1994: 169–178. IG IX 2,507. Ein wohl in die Jahre nach 192 gehörendes Dekret für fremde Richter in Delphi (SEG 1,132) gilt als der früheste Beleg für den Einsatz der Praxis im Mutterland; vgl. Habicht 1987. Zwar erwähnt SEG 48,660 Dikasten aus Atrax in Mopsion, allerdings ist unklar, ob die Richter innere Streitigkeiten beilegen sollten, und auch die Datierung ins 3. Jahrhundert ist nicht gesichert; vgl. Crowther 2006: 36 f. Vgl. Robert 1973: 780 f., der zumindest eine römische Duldung annimmt. Pausanias berichtet, wie erwähnt, die Römer hätten 184 angeordnet, spartanische Kapitalprozesse nicht durch die Gerichte des Achaiischen Bundes, sondern durch ξενικὰ δικαστήρια zu entscheiden; Paus. 7,9,5. Cassayre 2010: 157 macht den schwindenden Einfluss der koina verantwortlich – nachdem diese durch die Römer zerschla-

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All dies lässt sich durchaus als Indiz dafür deuten, dass in den jeweils betroffenen Städten eine wie auch immer geartete Notlage herrschte, die vielerorts zudem auch die lokalen Gerichte überforderte und die Monarchen oder koina, die schon allein aus machtpolitischen Erwägungen an einer Stabilisierung interessiert sein mussten, zum Eingreifen nötigte.27 Für die Polis Syros ist sogar das Agieren eines im antigonidischen Auftrag handelnden Einzelrichters (ἐπικριτής) namens Eumedes überliefert,28 aber dies dürfte eine seltene Ausnahme gewesen sein, weil sie allzu offensichtlich der Autonomie der Polis widersprach und daher mutmaßlich kontraproduktiv war. Die Vermutung liegt nahe, dass die örtlichen φίλοι der jeweiligen Könige zumindest hinter den Kulissen eine zentrale Rolle spielten; in der Regel waren es aber, wie gesagt, Rat und Volk der Stadt, von denen – zumindest offiziell – die Initiative ausging;29 und dies ist durchaus ein weiterer Beleg für das Vorliegen einer größeren Krise als Ursache für den Einsatz der ξενικὰ δικαστήρια: Auf den ersten Blick hätte es ja nähergelegen, wenn nur die jeweils betroffenen Politen Richter oder Vermittler angerufen hätten, um ihre Händel beizulegen. Doch indem stattdessen stets die ganze Bürgergemeinde agierte,30 unterstrich sie den im Wortsinne politischen Charakter der Probleme und das öffentliche Interesse an einer Beilegung der Konflikte. Vielfach erscheint dabei die Annahme, die fremden Richter seien gerufen worden, weil eine Polis mit einer allzu großen Menge an Streitfällen überfordert war, auf den ersten Blick plausibel und wird von Inschriften gestützt, die dies wiederholt ausdrücklich als Anlass benennen. Das bekannteste Beispiel dürfte in diesem Zusammenhang Kalymna sein,31 wo es in der Mitte des 3. Jahrhunderts um 250 oder sogar 350 anhängige Verfahren ging – hierauf wird noch zurückzukommen sein.32 Und wohl einige Jahrzehnte zuvor berichtet ein bereits erwähntes Dekret von Richtern, die auf Vermittlung Ptolemaios’ I. von Kos nach Naxos gesandt worden seien, um Vertragsstreitigkeiten zu klären ([το]ὺς διακρινοῦντας περὶ τῶν ἀμφι[σβητουμέ]ν¢ων συμβολαίων), und aufgrund der enormen Zahl an Fällen schließlich angemahnt hätten, dass sie sich irgendwann auch wieder um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern müssten.33 Unter Antiochos

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gen oder entmachtet worden seien, seien die Poleis gezwungen gewesen, im Krisenfall stattdessen fremde Richter anzurufen. So auch Cassayre 2010: 161 f. IG XI 4,1052. Ein Teil der Probleme scheint dabei mit συμβόλαια in Zusammenhang gestanden zu haben. Für Aigina ist eine Richtertätigkeit des attalidischen Funktionärs Kleon bezeugt, den die entsprechende Inschrift für seine Überparteilichkeit – offenbar keine Selbstverständlichkeit – preist; OGIS 329. Crowther 2006 interpretiert die Anforderung und Entsendung von Richtern und Schiedsleuten als „an exchange of self-help between cities which, in a paradoxical sense, became almost an affirmation of their autonomy and identity“ (34). Eine Inschrift aus Magnesia am Mäander stellt ausdrücklich fest, die Richter seien aufgrund einer vom Demos beschlossenen Ausnahmeregelung (διόρθωμα) herbeigerufen worden; I.Magnesia 90, Z. 8–10. In Ephesos wiederum wurde um 300 v. Chr. offenbar aufgrund der herrschenden κρίσις ein eigenes Gesetz verabschiedet, nach dem sich die ξενικὰ δικαστήρια zu richten hatten (Syll.3 364, Z. 87 f.): „Entsprechend eng ist ihre Zuständigkeit auf die Fälle beschränkt, die unter die Sonderregelung fallen“ (Walser 2008: 266). I.Iasos 82; vgl. die verbesserte Lesung bei Crowther 1994: 36–42. Vgl. Kapitel 3.1.3. IG XII 4,135 (vgl. OGIS 43). Vgl. den Kommentar bei Crowther 1999: 262–266.

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III. ist eine längere Phase der Streitigkeiten und schwebenden Prozesse in Laodikeia am Lykos bezeugt, weshalb der königliche Statthalter Zeuxis schließlich auf Bitten der Stadt die Entsendung dreier Richter aus Priene arrangierte.34 Antiocheia am Mäander dankte dem Richter Pythodoros aus Magnesia etwa um dieselbe Zeit dafür, durch Vermittlung und Urteile die Eintracht zwischen den Bürgern wiederhergestellt zu haben, und zwar in Zusammenhang „mit den (Privat-)Klagen und den außerordentlichen Fällen“ (περὶ τῶν δικῶν καὶ παραγραφῶν).35 Wohl einige Jahre später empfing auch Athen auswärtige Richter, die offenbar Vertragsstreitigkeiten innerhalb der Bürgerschaft beilegen sollten.36 In einer Inschrift aus Peparethos aus dem 2. Jahrhundert wird gleich zu Beginn ausdrücklich festgestellt, dass man Dikasten aus Larisa habe herbeiholen müssen, weil zahlreiche Streitfälle seit langer Zeit offen gewesen seien (ἀσυντελέστου γενομέν[η]ς [τ]ῆ[ς δι]κ¢ανομίας ἐν τῷ παρεληλυθότι χρόνῳ),37 und Ähnliches wird um 150 v. Chr. für Samos38 sowie etwas später für Delphi berichtet.39 Zu einem unklaren Zeitpunkt wurden überdies Richter aus Kios nach Magnesia am Sipylos in Lydien gerufen, wo es zahlreiche Zerwürfnisse zwischen den Bürgern gegeben haben soll.40 Dass allerdings eine bloße Arbeitsüberlastung der lokalen Gerichte zumeist wohl nicht die eigentliche Ursache für die Anrufung von μετάπεμποι δικασταί gewesen sein muss,41 illustriert ein bemerkenswerter Fall aus dem 3. Jahrhundert: Damals kamen Richter aus Priene nach Erythrai, um dort ein einziges Verfahren zu leiten, in dem es um μήνυσις ging (ἐπὶ τὴν δίκην τῆς μηνύσεος), was sich in diesem Fall vielleicht am ehesten mit „Hochverratsanklage“ übersetzen lässt.42 Es ist kaum vorstellbar, dass man einen derartigen Aufwand betrieben hätte, wenn es sich nicht um einen Notfall gehandelt hätte, der die Polis bedrohte – zumal für diese Zeit die Wahl eigener Richter in Erythrai durchaus belegt ist,43 denen man den Fall aber offensichtlich nicht anvertrauen wollte oder konnte. Auch wenn sich letzte Gewissheit nicht gewinnen lässt, liegt daher der 34 35 36 37 38 39 40 41

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GIBM 421 (vgl. I.Priene 59). Vgl. die revidierte Lesung bei Crowther 1993, die den Hinweis auf Zeuxis liefert. Crowther 1993: 68 betont zudem, dass die Entscheidung, auswärtige Dikasten einzusetzen, offiziell von Laodikeia ausging; erst im Anschluss wandte man sich an Zeuxis. I.Magnesia 90. Vgl. hierzu die eingehende Untersuchung Gauthier 1999. Ähnliches ist etwa um diese Zeit auch für Karthaia bezeugt, wo es ebenfalls um συμβόλαια gegangen zu sein scheint; IG XII 5,1065. SEG 26,677. Die Formulierung τὰ ἐνκλήματα [πρὸς ἑαυτοὺς ἐκ τῆς] προυπαρχούσης διαφορᾶς (Z. 33 f.) legt dabei nahe, dass wohl ein einzelner, konkreter Vorfall die Krise provoziert hatte; vgl. auch Cassayre 2010: 167. IG XII,VI,1,129. FD III,1(1),120. I.Magnesia ad Sipyl. 7. Eine solche Überlastung kann natürlich auch schlicht ein Symptom dafür sein, dass die Polisinstitutionen aufgrund von Konflikten innerhalb der Bürgerschaft nicht mehr funktionierten – verursacht durch eine Kombination aus dem Bedürfnis vieler Politen, gegeneinander zu prozessieren, und einem geringen Vertrauen in die Neutralität der örtlichen Gerichte (siehe unten). Vgl. auch Robert 1973: 774. Der Fall ist durch Inschriften in beiden Poleis bezeugt: I.Priene 50; I.Erythrai 111. Vgl. zur μήνυσις, einer Anzeige wegen „Rechtsverletzungen, die unmittelbar oder mittelbar das öffentliche Interesse berührten“, Busolt 1920: 544 f. Crowther 1992: 31 interpretiert μήνυσις als „denunciation“. Vgl. zum Prozedere etwa OGIS 229, Z. 67 f. I.Erythrai 114.

3.1 Die auswärtigen Richter

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Verdacht nahe, dass man fürchtete, der Vorgang könne eine offene Stasis in der Stadt auslösen, die offenbar bereits so stark polarisiert war, dass man Auswärtige herbeirufen musste, um eine akzeptable Lösung zu finden. Ein anderes, nicht weniger rätselhaftes Beispiel für den Einsatz von μετάπεμποι δικασταί wegen eines einzigen Falles findet sich im thessalischen Demetrias, wo Richter aus Herakleia Trachinia im 2. Jahrhundert laut dem entsprechenden Dekret wegen eines „gesetzwidrigen Vorschlags“ (γραφή παρανόμων) aktiv wurden.44 Es liegt nahe, auch dies als Hinweis auf einen im engeren Sinne politischen Prozess zu deuten. Nicht immer, aber sehr häufig wird in den Inschriften ausdrücklich vermerkt, es sei darum gegangen, die ὁμόνοια unter den Bürgern wiederherzustellen oder zu bewahren.45 So konstatiert ein wohl ins frühe 1. Jahrhundert gehörendes Dekret für thasische Richter in Smyrna, diese hätten Eintracht herbeigeführt, und nichts sei besser für eine Polis als die Beilegung von τὰς φιλονικίας46 καὶ διαφορὰς.47 Einige Jahrzehnte zuvor dankte Chalkis zwei Richtern aus Kos dafür, Rechtsstreitigkeiten geschlichtet oder entschieden und so die ὁμόνοια wiederhergestellt zu haben.48 Und auch die Dikasten aus Milet, Myndos und Halikarnassos, die auf Vermittlung durch den βασιλεύς Philokles von Sidon um das Jahr 280 nach Samos kamen, „als Bürger wegen der schwebenden Vertragsangelegenheiten untereinander zerstritten waren“ (ἐπειδὴ διαφερομένων τῶμ πολιτῶν τὰ πρὸς ἀλλήλους ὑπὲρ τῶν μετεώρων συμβολαίων),49 sollen wieder die Eintracht zwischen den Politen etabliert haben.50 Wohl etwas später dankten Volk und Rat von Iasos einem Richter aus Priene ebenfalls ausdrücklich für die Wiederherstellung der Eintracht zwischen den Bürgern,51 während eine Inschrift aus dem kretischen Malla im ausgehenden 2. Jahrhundert als Grund für die Herbeirufung von Dikasten aus Knossos und Lyttos ausdrücklich Aufruhr und Streit (διχοστασία) in der Bürgerschaft benennt.52 Und in einer Inschrift aus Priene dankt die Polis Alexandreia Troas drei Richtern, „weil sie gerecht und unparteiisch alle Verfahren wegen Gesetzlosigkeit und Gewalt“ (διότι τὰς δίκας ἴσως καὶ δικαίως ἁπάσας ἔκριναν τάς τε τῶμ παρανόμων καὶ τὰς τὼμ βιαίων) ent44 Vgl. Helly 1971. 45 Vgl. Tarn 1952: „Taken in bulk, the surviving dikast decrees are a paean in praise of homonoia, that thing for which men longed but which they could not achieve“ (90). Carlsson 2010: 104–106 ergänzt mit Recht, dass ὁμόνοια in bestimmten Zusammenhängen auch ein außenpolitisches Schlagwort sein konnte; vgl. etwa SEG 40,412. 46 Der Begriff φιλονικία, also wörtlich „Streben nach Sieg“, wird im Hellenismus zumeist im Sinne von „Ehrgeiz“ und „Streitsucht“ verwendet; Plutarch konstatiert, φιλονικία sei geeignet, sogar Brüder zu Feinden zu machen (Mor. 481d), und es sei die Aufgabe eines guten Politikers, die φιλονικία und den θυμός der jungen Leute zu dämpfen (Mor. 795a). Der Ausdruck ist mithin ähnlich negativ konnotiert wie φιλοτιμία. 47 SEG 49,1171; vgl. Scafuro 2014: 385 f. Vgl. auch IG XII 3,172. 48 IG XII 4,1,168. 49 Vgl. Tarn 1952: 90. Nicht auszuschließen ist natürlich, dass es sich bei den Verweisen auf Verträge teils auch um Topoi handelt. 50 IG XII 6,1,95. 51 ἵνα συλ[λυθέντες οἱ ἀντίδ]ικοι τὰ πρὸς αὑτοὺς μεθ’ ὁμον[οίας πολιτεύωνται]; I.Priene 53. 52 οἵτινες παραγενόμενοι καὶ ἀναλαβόντες τὰ ὅλα τῶν πραγμάτων διεφθαρμένα{ν}, τᾶν τε κτησίων καὶ τῶν ποτ’ ἀλλάλος συναλλαγμάτων πάντων ἐν ταραχᾶι τε καὶ διχοστασίαι τᾶι μεγίσται κειμένων; IC I xix 3, Z. 15–19. Vgl. Gschnitzer 1958: 51 f. und Brulé 1978: 179.

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3. Die lokale Überlieferung

schieden hätten,53 was sich kaum anders denn als Hinweis auf eine Stasis deuten lässt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dabei eine Art Standardformular für die entsprechenden Dekrete, das sich geradezu idealtypisch in einer Inschrift findet,54 mit der die Polis Smyrna irgendwann nach 167 v. Chr. Dikasten aus Kaunos ehrte – ein Formular, in dem der Verweis auf die ὁμόνοια zu den regelmäßig wiederkehrenden Elementen gehört: οἵτινες παραγενόμενοι τὰς μὲν διεδίκασαν τῶν δικῶν καλῶς καὶ δικαίως καὶ κατὰ τοὺ[ς ν]όμους, τὴν πᾶσαν κακοπαθίαν τε καὶ φιλοπονίαν προσενεγκάμενοι, τὰς δὲ καὶ διέλυσαν σπουδάσ¢[αν τ]ες καθ’ ὅσον ἦν ἐ[φ’] ἑαυτοῖς, τοὺς δὲ διαφερομένους τῶν πολιτῶν εἰς ὁμόνοιαν κατέστησαν [καὶ ἐ]ν τοῖς ἄλλοις ἀνεστράφησαν ἀξίως τῆς τε ἑαυτῶν πατρίδος καὶ τῆς ἡμετέρας πόλεως. Sie entschieden nach ihrer Ankunft die einen Fälle anständig (καλῶς), gerecht und den Gesetzen entsprechend, wobei sie alle Anstrengungen und Mühen auf sich nahmen, die anderen hingegen schlichteten sie, wobei sie sich, so gut sie konnten, bemühten, und so die entzweiten Bürger wieder in Eintracht vereinten (τοὺς δὲ διαφερομένους τῶν πολιτῶν εἰς ὁμόνοιαν κατέστησαν); und sie gestalteten ihren Aufenthalt im übrigen in einer Weise, die ihrer Heimatstadt und unserer Polis würdig war.

Nimmt man dieses und viele ähnliche Zeugnisse ernst, so kommt man kaum umhin, die Inschriften als Indiz für erhebliche Probleme in den betroffenen Gemeinwesen zu interpretieren, in denen vor dem Eintreffen der Richter die ὁμόνοια bedroht oder gar zerstört gewesen war und zumindest ein Teil der Bürger einander in Feindschaft gegenüberstand.55 Selbst vorangegangenes Blutvergießen erscheint oft nicht ausgeschlossen, vor allem dann, wenn eine königliche Intervention erforderlich geworden war. Für die vorliegende Untersuchung ist dieser Befund natürlich von hoher Relevanz; denn selbst wenn sich nur hinter einem Teil der bezeugten Anrufungen von μετάπεμποι δικασταί tatsächlich eine Stasis verbergen sollte, so bedeutet dies doch zumindest, dass man in der Tat davon ausgehen kann, dass das Phänomen noch viel weiter verbreitet war, als es die literarische Tradition bezeugt. Bereits Louis Robert hatte – für den frühen Hellenismus – einen auffälligen Zusammenhang zwischen der Häufung von Hinweisen auf die Eintracht in den Inschriften und anderweitig überlieferten Krisenphasen konstatiert.56 53 54 55

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I.Priene 44. I.Kaunos 17, Z. 9–13. Grundlegend ist noch immer der ausführliche Kommentar Robert 1949. Das Dekret muss aus der Zeit nach dem Perseuskrieg stammen, als Kaunos im Rahmen der römischen Strafmaßnahmen wieder unabhängig von Rhodos geworden war. Crowther 1992 geht hingegen davon aus, dass die Anrufung fremder Richter primär der Stasisvermeidung gedient und auf diese Weise die Demokratie stabilisiert habe: „By removing a powerful, potential source of social and political conflict, the use of foreign courts helped to provide the conditions of stability in which democracy flourished“ (39). Vgl. in diesem Sinne bereits Gauthier 1984: 102–104. Zu einem gänzlich anderen Urteil war noch Busolt 1920 gelangt: „Wenn die Rechtspflege ‚die erste und höchste Aufgabe des Staates ist‘ (Mommsen) und die griechische Demokratie ihren Staat als den Rechtsstaat und Gesetzesstaat rühmt, so bedeutete die Anerkennung der Unfähigkeit zu eigener selbständiger Rechtsprechung gerade für die demokratische Polis das Eingeständnis der staatlichen Ohnmacht und Impotenz“ (513). Vgl. Robert 1973: 775.

3.1 Die auswärtigen Richter

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Und Charles Crowther konnte vor einigen Jahren zeigen, dass sich mehrere Dekrete für auswärtige Dikasten in Iasos in der Tat zumindest chronologisch mit einer Phase innen- und außenpolitischer Instabilität in den 190er Jahren in Verbindung bringen lassen, die wohl in den Kontext des Antiochoskrieges gehört.57 Ähnliches gilt offenbar auch für das thessalische Gonnoi,58 das in den Jahren um 170 nicht weniger als sechzehnmal fremde Richter herbeirief – was zugleich ein Indiz dafür ist, dass die ξενικὰ δικαστήρια keine Wunder vollbringen konnten, wenn das Konfliktpotential zu groß und der Versöhnungswille zu schwach waren.59 Vor allem die auffällige Zurückhaltung der Zeugnisse hinsichtlich der Details der konkreten Situation, die zur Herbeirufung der Richter führte, hat allerdings Anlass zu der Vermutung gegeben, man habe es vielfach mit bloßen Floskeln zu tun,60 und zwar im Laufe der Zeit in zunehmendem Maße: So vertrat Louis Robert vor allem aufgrund der wachsenden Formelhaftigkeit der Zeugnisse die bis heute einflussreiche Position, der Einsatz fremder Richter, die anfangs tatsächlich nur in Notzeiten und angesichts akuter Krisen angerufen worden seien, habe sich spätestens im 2. Jahrhundert zum Regelfall entwickelt; sie seien zunehmend an die Stelle der städtischen Gerichte getreten und hätten daher im späteren Hellenismus nichts mehr mit akuten Krisen zu tun gehabt, sondern seien die Norm gewesen.61 Langfristig sei auf diese Weise die Autorität der städtischen Gerichte ausgehöhlt worden; der Siegeszug der ξενικὰ δικαστήρια gehöre mithin in einen Zusammenhang mit einem schrittweisen Niedergang der demokratischen Institutionen und der Etablierung von Oligarchien. Für den späten Hellenismus wären die – nun ohnehin immer selteneren62 – Dekrete für fremde Richter demnach nicht mehr als Hinweise auf Staseis zu lesen; vielmehr müsste man sie als Symptome eines Strukturwandels ansprechen. Diese Interpretation ist grundsätzlich möglich. Dafür, dass fremde Richter seit dem 2. Jahrhundert zumindest in manchen Poleis regelmäßig tagten, spricht etwa das Bei57

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Vgl. Crowther 1995: 107–117. Siehe auch Cassayre 2010: 162–164. Mastrocinque 1976b: 312 nimmt eine Schuldenkrise als Ursache der Schwierigkeiten in Iasos an; Antiochos III. hatte, wie GIBM 442 (vgl. OGIS 237) belegt, in der Tat wiederholt in der Polis eingegriffen. Die Probleme können aber auch andere Gründe gehabt haben. Eine Zusammenstellung der in Thessalien bezeugten μετάπεμποι δικασταί bietet Crowther 2006: 40–48, der konstatiert, während das Koinon und die größeren Poleis Richter aus teils weit entfernten und bedeutenden Städte herbeigerufen hätten, seien in kleineren Gemeinden – wie Gonnoi – in der Regel Dikasten aus Thessalien tätig gewesen (38). Mutmaßlich gehört diese innere Krise in Gonnoi in den Kontext des römisch-antigonidischen Konflikts; vgl. Cassayre 2010: 165. Etwa um diese Zeit sind in Phalanna Richter aus Metropolis bezeugt (IG IX 2, 1231), möglicherweise besteht auch hier ein Zusammenhang mit dem Dritten Makedonischen Krieg; vgl. Lenk 1938. Vgl. etwa Crowther 1995, der die Möglichkeit diskutiert, der Verweis auf die Eintracht sei in späteren Inschriften vielleicht eine bloße Floskel, die aus dem Formular anderer Inschriften übernommen wurde: „While they convey what was considered to be the essence of the judges’ role, they need imply nothing about its urgency […]. The foreign courts will have come, not to restore order, but to secure its continuance“ (97). Vgl. Robert 1973: 776. Vgl. zustimmend Fournier 2010: 201–226 und Fröhlich 2011. Vgl. Crowther 1992: 24. Das jüngste mir bekannte Beispiel gehört in die Jahre um die Zeitenwende; damals ehrte die Polis Alabanda Richter aus Chalkis (IG XI 9,905) und Karystos (IG XII 9,4).

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3. Die lokale Überlieferung

spiel von Magnesia am Mäander: Offenbar kamen Dikasten alle sechs Monate in die Stadt.63 Und der Demos von Iasos ehrte in einer Inschrift nicht nur, wie erwähnt, den aus Priene gesandten Richter dafür, die ὁμόνοια wiederhergestellt zu haben, sondern auch den eigenen Mitbürger Herokrates, weil dieser sich so gut um den Auswärtigen gekümmert habe, dass auch diejenigen Richter, die künftig nach Iasos kommen würden, wüssten, dass man sie gut behandeln und ehren werde.64 Das Fehlen konkreter Details bezüglich der Ursachen für die Herbeirufung lässt sich freilich auch anders erklären. Wenn Inschriften, wie gesagt, nur auffallend vage von einer Angelegenheit ἐπὶ τὴν δίκην τῆς μηνύσεος oder einer γραφή παρανόμων sprechen, während sie die Ehrungen und Lobpreisungen der Dikasten in großer Breite auflisten – diese erscheinen geradezu als Euergeten –, so kann man dies meines Erachtens auch als Indiz für eine ἀμνησία deuten. Es wurde bereits erwähnt, dass noch Aristeides konstatierte, es sei notwendig, über eine Stasis möglichst zu schweigen, damit sie nicht wieder ausbreche;65 und in der Tat wäre es kontraproduktiv gewesen, in einem Text, der letztlich die Wiederherstellung der Eintracht in einer Polis zum Gegenstand haben sollte, konkret auf die vorangegangenen Konflikte einzugehen. Der Demos, der die jeweilige Inschrift setzen ließ, schrieb damit immerhin die ‚offizielle‘ Geschichte der Polis.66 Vielleicht ist es daher möglich, Roberts Argument umzukehren und gerade den auffälligen Mangel an konkreten Details hinsichtlich der jeweiligen Anlässe in den ansonsten oft recht geschwätzigen Inschriften als Beleg dafür zu nehmen, dass die Herbeirufung der fremden Richter eben keine bloße Routine war, sondern auch im späten Hellenismus ein – allerdings zunehmend geläufiges – Instrument zur Bewältigung konkreter innerer Krisen,67 über die man im Nachhinein lieber schwieg.68 Die zunehmende Standardisierung des Formulars muss nicht bedeuten, dass es sich um bloße Rhetorik handelt,69 sondern kann ebenso gut als Indiz dafür interpretiert werden, dass sich im Verlauf des 3. Jahrhunderts bestimmte Formulierungen bewährt hatten, die das heikle Problem von Schuld und Verantwortung einigermaßen zuverlässig umschifften, um allen Beteiligten ihre Ehre zu lassen und so Rachegelüste unter Kontrolle zu halten. Wahr63 64

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I.Magnesia 99. I.Priene 53. Offensichtlich ging man also davon aus, dass man auch in Zukunft μετάπεμποι δικασταί herbeirufen werde. In mehreren Poleis ist die Funktion des δικασταγωρός, der für die Herbeiführung und Betreuung fremder Richter zuständig war, sogar als eigene Leiturgie belegt; vgl. Hamon 2012. Diese ist noch für die Kaiserzeit bezeugt; vgl. Mack 2015: 269. Ael. Arist. or. 24,41. Vgl. Luraghi 2010. Vgl. Crowther 1992: „The use of foreign judges had become regular – but in particular circumstances […], and in the short term“ (26). Zum gleichen Ergebnis gelangt auch Walser 2012: „Grundlegend bleibt, dass die fremden Gerichte zwar zu einer mancherorts regelmässig, aber eben doch stets nur okkasionell ins Leben gerufenen Einrichtung geworden sind“ (100). Vgl. auch Cassayre 2010, die für den gesamten Hellenismus konstantiert: „Il n’existe aucune preuve explicite d’un recours systématique à des juges ètrangers qui serait devenu une habitude pour la justice des cités […]. L’appel à des juges étrangers, s’il a pu devenir fréquent pour certaines cités, est resté, dans la majeure partie des cas, un recours exceptionnel pour une situation de crise“ (168). Vgl. bereits Crowther 1992: „References to homonoia were not stripped of their significance by repetition […]. The formal language of Hellenistic honorific decrees should not be confused with formality“ (26).

3.1 Die auswärtigen Richter

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scheinlich sorgten überregionale Netzwerke der städtischen Eliten und der Austausch zwischen den Poleis für die Verbreitung dieser Konventionen.70 Smyrna etwa empfing nach bisherigem Kenntnisstand Dikasten aus mindestens sieben verschiedenen Orten und entsandte seinerseits Richter in wenigstens zwei andere.71 Und zwischen 160 und 120 v. Chr. schickte Messene mindestens 22 Richterkollegien in andere Poleis.72 Wichtig ist im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung überdies die Frage, worin genau die Aufgabe der Fremden bestand – agierten sie als Richter (δικασταί) im engeren Sinne, oder handelte es sich eher um Vermittler (διαλλακταί)? Letzteres spräche für einen unmittelbaren Zusammenhang mit internen Konflikten; auf den ersten Blick allerdings scheint mehr auf eine tatsächliche Richtertätigkeit hinzudeuten: Der Ausdruck „Vermitteln“ (διαιτῆσαι) erscheint in den Ehrendekreten eher selten, meist ist stattdessen von „Bereinigen“ (διαλῦσαι) oder „Entscheiden“ (διακρῖναι) die Rede.73 In manchen Inschriften wird eine Vermittlung oder Versöhnung der Streitenden gar nicht angesprochen;74 in anderen Fällen, wie zum Beispiel dem bereits erwähnten Dekret aus Malla aus dem späteren 2. Jahrhundert, wird hingegen kein Urteil erwähnt, sondern nur die Versöhnung.75 Als Grund für die Herbeirufung der Männer aus Knossos und Lyttos werden dabei ausdrücklich Feindschaft und Streit in der Bürgerschaft genannt. Doch sollte man sich von der uneinheitlichen Terminologie wohl nicht allzu sehr verwirren lassen. Die wahrscheinlichste Annahme ist die, dass die Auswärtigen versuchten, Urteilssprüche in der Regel zu vermeiden – aus naheliegenden Gründen strebten die Hellenen zumeist danach, eine von beiden Parteien akzeptierte Schlichtungsvereinbarung zu erreichen.76 Auf diese Weise vermied man es nämlich zum einen, eindeutige Verlierer hervorzubringen; und zum anderen konnte die Legitimität eines Urteils im Unterschied zu der eines Vergleiches stets angezweifelt und so eine Befriedung vereitelt werden: In einer Inschrift aus Gonnoi wird im zweiten Viertel des 2. Jahrhunderts einem ungenannten Bürger der Stadt vorgeworfen, er habe versucht, die drei Richter aus Skotussa zu bestechen, doch stattdessen hätten ihn diese wegen seiner „verwerflichen und gesetzwidrigen“ Tat angeklagt: ἐπιβαλομένου δέ τινος καὶ φθείρειν αὐτοὺς περί τινων δικῶν, οὐ παρεσιώπησαν ἀλλὰ συναχθείσης προσκλήτου τῶν πολιτῶν κατὰ πρόσωπον κατηγόρησαν τὸν ἐπιβαλλόμενον μοχθηρὰν καὶ παράνομον πρᾶξιν.77 Dieses bemerkenswerte Zeugnis belegt nicht nur, dass man auch in späterer Zeit mitunter vom Stan70 71 72

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Vgl. Cassayre 2010: 167 f. Vgl. Scafuro 2014: 373. Zu den regional durchaus variierenden Bräuchen, was die Auswahl der entsendenden Poleis betrifft, vgl. die Skizze bei Cassayre 2010: 155–160. Vgl. Scafuro 2014: 392. Akzeptiert man die hier vertretene Annahme, dass die Anforderung von μετάπεμποι δικασταί in der Regel ein Indiz für innerstädtische Konflikte war, so liegt es nahe, einen Zusammenhang mit den Nachwehen des Dritten Makedonischen Krieges und mit dem bellum Achaicum zu vermuten. Vgl. Scafuro 2014: 366 f. Vgl. etwa IG XII 6,1; SEG 12,390; I.Erythrai 111. ἐπειδὴ τᾶς γενομένας περιστάσιος πε ρί τε τὰν πόλιν καὶ τὸ[ν] ἄ[λλον] δᾶμον τυ[γ]χάν[ο]ντι τὰ[ν] πᾶσα[ν] πεποιημένοι σπουδάν, ἁμίων [α]ἰτησαμένων δικαστάς; IC I xix 3, Z. 5–8. Vgl. Brulé 1978: 179. Vgl. Avilés – Mirhady 2013: 209 f. I.Gonnoi 91, Z. 20–26.

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3. Die lokale Überlieferung

dardformular abweichen konnte, wenn es die Umstände erforderten, sondern es zeigt zudem, dass auch fremde Richter grundsätzlich der Korrumpierbarkeit verdächtigt werden konnten, denn sonst hätte der namenlose Bürger kaum versucht, sie zu bestechen. Wenn aber Bestechung denkbar war, bedeutet dies, dass auch die Urteile der μετάπεμποι δικασταί von den Verlierern angezweifelt werden konnten – wenn es um die möglichst nachhaltige Befriedung eines Gemeinwesens ging, war ein Vergleich daher fraglos zu bevorzugen.78 Tatsächlich legen mehrere Inschriften nahe, dass man in der Regel zunächst Schlichtungen anstrebte und Urteile nur dann fällte, wenn eine gütliche Einigung ganz unmöglich war.79 So dankt ein Ehrendekret Richtern aus Kos, die in Mytilene darauf geachtet hätten, dass die einen miteinander versöhnt würden, die übrigen durch Urteil ihr Recht bekämen.80 In der bereits erwähnten Inschrift zu Kalymna, die weiter unten noch eingehender betrachtet werden soll, wird ausdrücklich vermerkt, die aus Iasos angeforderten Männer hätten die zerstrittenen Bürger „vor allem versöhnen“ (μάλιστα μὲν διαλυσεῦντι) und nur dort, wo dies misslang, Urteile sprechen sollen.81 Der Demos von Smyrna dankte drei Richtern aus Astypalaia, die „nach ihrem Eintreffen in der Stadt nicht nur in manchen Fällen Urteile gesprochen hätten, sondern in anderen eine Versöhnung gemäß den Gesetzen“ erreicht hätten (οἵτινες [πα]ραγενόμενοι ἃς μὲν ἐδ[ίκα]σ[αν] ἃ[ς δὲ διέλυ]σ[αν δικαί]ως καὶ κατὰ τοὺς νόμους).82 Und auch der Beschluss einer unbekannten Polis für Richter aus Kos dankt diesen dafür, einen Teil der Prozesse durch faire und gerechte Urteile, die übrigen durch Schlichtung auf bestmögliche Weise beendet zu haben ([ἐπὶ] τῶι τὰς μὲν [δια]δ¢ι ¢[κάσαι τῶν δικῶν ἴσως καὶ δικαί]ως, τὰς δὲ συ[λλῦσαι ἀπὸ παντὸς τοῦ βελτίστου]).83 Höchstwahrscheinlich agierten dabei dieselben Männer zunächst als Schlichter (διαλλακταί) und im Anschluss, sofern nötig, als Richter (δικασταί) im engeren Sinne; alles andere wäre ausgesprochen ineffizient gewesen.84 Folgerichtig werden sie manchmal sogar ausdrücklich als δικασταὶ καὶ διαλλακταί bezeichnet.85 Es erscheint daher am treffendsten, die meisten μετάπεμποι δικασταί als Streitschlichter zu charakterisieren, die mit richterlichen Kompetenzen ausgestattet waren.86 78 79 80 81 82 83 84 85 86

Vgl. Scafuro 2014: „There is a political push to settle and not to give a verdict. The disadvantages of rendering judgement are iterated in a number of decrees“ (385). Vgl. Crowther 1995: „Where conciliation failed, the court was expected to apply the existing laws to reach a decision“ (121). Scafuro 2014: 367 betont allerdings mit Recht, es sei insgesamt nur selten ausdrücklich bezeugt, dass auf fehlgeschlagene Vermittlung Urteile folgten. IG XII 4,1,173. I.Iasos 82, Z. 33 f. Vgl. Kapitel 3.1.3. IG XII 3,172, Z. 10–12. Vgl. den Kommentar Robert 1949: 185–188. IG XII 4,1,175. Es versteht sich, dass diese Ergänzung mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln ist. Vgl. Scafuro 2014: „It would be uneconomical for dikastai to do nothing as they waited for the diallaktai to hand over the cases of the few obstinate disputants who could not be reconciled“ (382). Dies ist der Fall in der bereits erwähnten Inschrift des frühen 3. Jahrhunderts, in der Naxos fünf δικασταὶ καὶ διαλλακταί aus Kos ehrt; OGIS 43 (mit den Ergänzungen bei Crowther 1999: 258–260). Ausgehend von seiner eingehenden Analyse der ephesischen Versöhnungsvereinbarungen (Syll.3 364) gibt Walser 2008 allerdings zu bedenken, es sei zu erwägen, ob nicht „bisweilen eine sehr viel komplexere Aufgabenteilung zwischen den fremden Richtern und städtischen Instanzen“ (266) vorgelegen habe. Überdies betont er die gestaltende Rolle der Ephesier: „Wie die Krise zu lösen ist, gibt die Polis im Tilgungsgesetz bis in die Details vor“ (268). Hierbei kann es sich allerdings durchaus um eine Ausnahme

3.1 Die auswärtigen Richter

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3.1.2 Fremde Richter in Telos Wie sah das Ergebnis eines solchen Verfahrens aus? Nicht nur die Ursachen der Schwierigkeiten, die die Herbeirufung der Fremden und die Umgehung der eigenen Gerichte (nicht aber die Suspendierung der eigenen Gesetze) notwendig erscheinen ließen, sondern auch die konkreten Maßnahmen, durch die eine Befriedung der betroffenen Polis erzielt werden sollte, werden in den meisten Fällen nicht näher erläutert. Vielleicht war man der Ansicht, die oftmals ohnehin recht langen Dekrete nicht noch weiter aufblähen zu müssen. Doch wie bereits erwähnt, brachte jedes Urteil notwendig Verlierer hervor, die sich vielfach in ihrer Ehre gekränkt gesehen haben dürften, und bereits einige wenige unversöhnliche Personen konnten den Frieden in einer Polis gefährden. Wahrscheinlicher ist daher, dass man die zweifellos in den Archiven87 abgelegten Details der Vergleiche und – vor allem – der Urteile nicht öffentlich ausbreiten wollte, da man auch hierin neues Konfliktpotential vermutete.88 Aber es gibt Ausnahmen. Das älteste Beispiel hierfür ist dank einer langen, ursprünglich wohl über 140 Zeilen umfassenden Inschrift aus dem Asklepieion von Kos überliefert, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt, aber erst vor wenigen Jahren von Klaus Hallof vollständig ediert worden ist,89 der den Text in die Jahre 306 bis 301 datiert.90 Es handelt sich um ein Ehrendekret für διαλλακταί aus Kos, denen die kleine Inselpolis Telos dafür dankt, Eintracht und Demokratie zwischen den Bürgern wiederhergestellt zu haben.91 Doch während die Ehrungen der fünf Richter hier vergleichsweise knapp dargelegt werden – offenbar erhielten die Männer goldene Kränze im Wert von je eintausend Drachmen und ein Festmahl –, widmet sich der Text in ungewöhnlich ausführlicher Weise den konkreten Maßnahmen, durch die der Konflikt beigelegt werden sollte, und fügt überdies auch den Bürgereid an, den alle anwesenden und abwesenden erwachsenen Politen abschließend zu schwören hatten, bevor schließlich noch das Psephisma aufgezeichnet wird, durch das der δᾶμος von Telos die von den koischen διαλλακταί durch Vermittlung und Urteil erstellte Schlichtung (διάλυσις) in Kraft setzte.92

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gehandelt haben; andernorts scheinen die Polisinstitutionen weniger handlungsfähig gewesen zu sein als in diesem Fall. Vgl. Scafuro 2013: 406–413. Vgl. auch Walser 2008: „Man war sich mithin sehr wohl bewusst, dass die Entscheidung eines Streits durch ein Gericht, selbst dann, wenn dessen Unparteilichkeit nur schwer angezweifelt werden konnte, unweigerlich Zündstoff für weitere Konflikte barg“ (264 f.). IG XII 4,1,132. Vgl. auch Habicht 2007a: 129 f. Solange die Inschrift nur unvollständig ediert war, nahm man teils einen Zusammenhang zwischen der Amnestie und dem Verbanntendekret von 324 an; vgl. Fiehn 1934: 428, Koutelakis 1988: 33 und Krob 1997: 445–447. Grundlage für die neue Datierung ist neben der Buchstabenform, die ins ausgehende 4. Jahrhundert verweist, vor allem die Erwähnung von „Königen“, die Hallof überzeugend als Antigonos I. und Demetrios I. (und nicht als Alexander IV. und Philipp III.) identifiziert; vgl. zur Inselpolitik der beiden Antigoniden auch Walser 2008: 99–104. Vgl. zum historischen Kontext ferner knapp Wiemer 2002: 228–232 und Grieb 2008: 179. Eine Auflistung hellenistischer Inschriften, die sich auf δημοκρατία beziehen, bietet Carlsson 2010: 335– 343. Vgl. Scafuro 2014: „The simple expressions that they ‚judged‘ and ‚reconciled‘ on the same visit do at least inform us […] that two procedures (or one bipartite procedure) were used in bringing cases to

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3. Die lokale Überlieferung

Leider wirft auch diese Inschrift bei genauerem Hinsehen mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt; doch was hier in ziemlich unverblümter Weise konstatiert wird, ist das Vorliegen einer Stasis, die zu einer – mutmaßlich noch nicht blutigen – Desintegration der Polis Telos geführt hatte: Die Leistung der Männer aus Kos sei es nämlich gewesen, das „Volk mit jenem Teil der Telier, der mit dem Volk im Streit lag, zu versöhnen“ (κ¢[ατὰ τάδε διέλ]υσαν τὸν δᾶμον καὶ τοὺς διαφερομένους Τηλί ¢[ων ποτὶ] τ¢ὸν δᾶμον, Z. 39–41). Während sich in diesem Fall also mit seltener Eindeutigkeit sagen lässt, dass die Männer aus Kos, die zwar als διαλλακταί bezeichnet werden, aber offenbar auch Urteile (ἔγνωμες) fällten, wirklich aus Anlass einer Stasis und nicht etwa aufgrund einer bloßen Überlastung der lokalen Gerichte in die Stadt gerufen worden waren, bleibt der ursprüngliche Auslöser dieses Konflikts zwischen den Teliern ungenannt.93 Denn die detailliert aufgeführten Vorgaben und Verfahren,94 durch die der gegen Ende des Textes schlicht als κρίσις95 bezeichnete Konflikt beendet werden sollte, beziehen sich nicht auf den wie auch immer gearteten ursprünglichen Anlass,96 sondern versuchen stattdessen auf bemerkenswert systematische und detaillierte Weise, die prakti-

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a conclusion“ (268). Thür 2011 geht davon aus, die fünf διαλλακταί aus Kos seien von den ebenfalls genannten δικασταί zu unterscheiden; die beiden Gruppen hätten verschiedene Aufgaben gehabt: „Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass im Schiedsvergleich nur die Pflichten der rückkehrwilligen Verbannten festgesetzt werden, im Urteil aber jene der Polis“ – allerdings habe es sich bei den διαλλακταί und δικασταί um dieselben Personen gehandelt (345 f.). Nach Thürs Interpretation ging es um den Versuch, die Rückkehrer abzusichern: „Wenn die Rückkehrwilligen ihre Vorleistungen erbracht haben […], müssen sie ein Instrument in der Hand haben, um die Gegenleistung, die Rückstellung ihrer konfiszierten Grundstücke und ihre Wiedereingliederung in die Polis, rechtlich durchsetzen zu können“ (345). Mir scheint diese sehr formaljuristische Argumentation allerdings zu übersehen, dass die Verbannten so oder so allen Grund hatten, den Gerichten der Polis zu misstrauen, von denen sie sich offensichtlich bereits in der Vergangenheit ungerecht behandelt gefühlt hatten. Obwohl der Text an einigen wichtigen Stellen bedauerliche Lücken aufweist, ist nicht davon auszugehen, dass das Dekret hier ursprünglich mehr Informationen lieferte, denn die entscheidenden Abschnitte sind gut erhalten. Erwähnt wird allerdings in einer schlecht erhaltenen Passage eine „Strafe wegen eines Weges“ (τὰν δὲ δίκαν τᾶς ὁδοῦ, Z. 63), den sich Aristagoras sowie ein gewisser Aristomenes möglicherweise angeeignet hatten. Vgl. Gray 2015, der andere Erklärungen vorschlägt: „Fines arising from a case ‚of the road‘ […] may have been paid to a fund for the upkeep of the road, or they may have been exacted as a penalty for offences relating to the road“ (94). Vgl. hierzu auch die rechtshistorischen Kommentare bei Thür 2011. IG XII 4,1,132, Z. 130. Thür 2011 erläutert wie selbstverständlich, es gehe um „Strafen wegen sakraler und öffentlicher Vergehen, die vor Jahren über Anhänger der Oligarchie verhängt worden waren […]. Vielleicht hatten sich Parteigänger der Oligarchie geweigert, für die Demokratie vorgeschriebene Opfer zu finanzieren“ (342 f.), und geht, indem er offenbar die Bezugnahme des Textes auf die Demokratie beim Wort nimmt, von einem politischen Konflikt zwischen Oligarchen und Demokraten aus. Gray 2015 nimmt stattdessen an, der Streit über die verhängten Bußgelder sei der Anlass der Stasis gewesen: „The conflict between the Telian δᾶμος and theses citizens appears to have arisen because the dissidents refused to accept two or three types of penalty“ (94). Beide Erklärungen sind problematisch. Gegen Thür ist einzuwenden, dass man die demokratische Rhetorik im Hellenismus nicht einfach für bare Münzen nehmen kann, da „Oligarch“ längst zu einem Kampfbegriff geworden war (siehe unten). Und Gray scheint eine Eskalationsstufe – die Weigerung, die verhängten Strafen zu akzeptieren – mit der eigentlichen Ursache des Konflikts zu verwechseln: Er räumt selbst ein, die Bußgelder seien wohl „politically motivated“ gewesen (Gray 2015: 95); dies ergibt aber nur Sinn, wenn es bereits präexistente Spannungen gab, die zu politischen Prozessen geführt hatten. Auch Scafuro 2014: 368 nimmt an, die verhängten Strafen seien der Auslöser der „disharmony among the citizens“ gewesen.

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schen Hindernisse für eine Versöhnung aus dem Weg zu räumen. Offensichtlich waren mehrere Bürger im Verlauf der Auseinandersetzung zu hohen Strafen verurteilt worden, die sie vor allem an das Athena- und Demeterheiligtum entrichten sollten, und als zumindest einige der Betroffenen diese Summen nicht zahlten, nachdem sie dem Urteil vor Gericht widersprochen hatten (ἐν τοῖς δικαστηρίοις ἀντέλεγον), war es im Namen der Polis zu Enteignungen gekommen. Namentlich genannt werden Kleisimbrotidas und Philtylios, die sakrale Strafen schuldig geblieben seien, Aristagoras, der zwar zur Zahlung bereit gewesen, aber in Rückstand geraten sei, weshalb auch sein Land enteignet und verkauft wurde, sowie Aristothemis und Nikagoras, deren Vergehen ungenannt bleibt. Eine Verbannung der Betroffenen ist sehr wahrscheinlich,97 wird aber im erhaltenen Teil der Inschrift nicht ausdrücklich vermerkt. Dass der Bürgereid auch von jenen geleistet werden sollte, die sich aktuell nicht in der Polis aufhielten, kann man allerdings als Hinweis auf φυγάδες deuten.98 Kleisimbrotidas, Philtylios und Aristagoras sollten rehabilitiert werden, sofern sie aufwendige Opfer für Demeter und Athena darbrachten. Von Aristothemis und Nikagoras wurde die Erneuerung des Altars des Asklepios gefordert sowie hohe Geldstrafen, die sie an die Polis zu entrichten hätten. Offenbar hatten die Betroffenen dieser Lösung zugestimmt, die Ausführung wurde städtischen Beamten übertragen. Sobald die Beschuldigten die Auflagen erfüllt hätten, so heißt es weiter, sollten ihre Strafen und Schulden aus den Archiven getilgt und sämtliche Vollstreckungsmaßnahmen revidiert werden. Vor allem betraf dies natürlich die Rückgabe der konfiszierten Güter, die die Polis bereits durch πράκτορες Privatleuten übereignet hatte,99 an die ursprünglichen Eigentümer oder ihre Erben100 – Letzteres ist ein Indiz dafür, dass sich der Konflikt über eine längere Zeitspanne erstreckt oder Todesopfer gefordert hatte. Da die entsprechenden Ländereien von den aktuellen Besitzern offenbar käuflich erworben worden waren,101 mussten diese ihrerseits entschädigt werden. Auch dies wird in der Inschrift daher geregelt (παρὰ μὲν τᾶ[ς πόλιος κομιζέ]σθω ὁ πριάμενος, ὅσον τᾶι πόλι κατέβαλε), wobei die entsprechende Passage allerdings stark beschädigt ist; es fehlen 97 Vgl. Gray 2015: 95. 98 So auch Thür 2011: 342. 99 Thür 2011: 346 interpretiert die Passage dahingehend, dass die konfiszierten Ländereien im Besitz der Polis verblieben und „gegen einen einmaligen Preis“ bestimmten Bürgern zur Nutzung überlassen worden seien, statt, wie sonst meist üblich, an Privatleute versteigert worden zu sein. Trifft dies zu, so könnte es die Restitution erleichtert haben, da die Polis die Neubesitzer nicht formal zu enteignen brauchte. In der Praxis allerdings dürfte der Unterschied zwischen „ersteigertem Eigentum“ und „dauerhaftem Besitz aufgrund einer einmaligen Zahlung“ allerdings eher irrelevant gewesen sein – diejenigen, die das permanente Nutzungsrecht erworben hatten, werden sich gewiss als Eigentümer verstanden und mutmaßlich auch Investitionen vorgenommen haben. 100 τὰν δὲ πόλιν πριαμέναν τὰς γᾶ[ς τὰς δαμευθείσας, ἃς ἀπέ]δοντο τοὶ πράκτορες τοῖς ἰδιώτα[ις …, ἀπο]δόμεν τοῖς τε τὰς ἱερὰς δίκας ὀφ[λοῦσι … αὐ]τοῖς ἢ τοῖς κλαρονόμοις, Z. 79–82. 101 Instruktiv ist in diesem Zusammenhang eine bekannte Inschrift aus Zeleia, in der der Sturz einer „Tyrannis“ und die Erstürmung der Akropolis erwähnt werden – Ereignisse, die wohl in das Jahr 334 gehören –, aber vor allem geklärt wird, was mit dem Besitz der Unterlegenen zu geschehen habe: Zum Teil war das Land offenbar von der Polis verkauft, zum Teil aber auch einfach von Privatleuten okkupiert worden, und es musste eine Kommission eingesetzt werden, um die Besitzverhältnisse zu ordnen; Syll.3 279. Vgl. Schuler 1998: 201 f.

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3. Die lokale Überlieferung

etwa zwanzig Zeilen, weitere sind nur sehr fragmentarisch erhalten, und dies ist deshalb besonders bedauerlich, weil hier auf einmal von βασιλεῖς¢ ὑ¢π¢[ό]μ¢ν¢α¢[μα] die Rede ist: Hatten etwa Antigonos und Demetrios die notwendigen Gelder zur Verfügung gestellt, so wie später Ptolemaios II. in Sikyon? Dies erscheint denkbar, muss aber angesichts der Lückenhaftigkeit der Quelle ungewiss bleiben; vielleicht hatte sich die erwähnte „Bittschrift“ auch lediglich darauf bezogen, die Entsendung der Richter aus Kos zu vermitteln. In jedem Fall aber genügt die Erwähnung der βασιλεῖς, um eine antigonidische Intervention anzunehmen,102 die ähnlich wie bereits einige Jahre zuvor in Kyme eine Stasis beenden sollte. Mutmaßlich war es den Verbannten gelungen, bei den Königen Gehör zu finden. Sicher ist, dass die Organisation der Rückgabe der Grundstücke den Schatzmeistern und Hierapoloi übertragen wurde; ein Zeichen für das allgemein herrschende Misstrauen ist dabei die Androhung, die Beamten mit sehr hohen Geldstrafen zu belegen, sollten sie dies nicht tun.103 Für die Zeit nach dem Abschluss des gesamten Verfahrens schließlich sollte hinsichtlich der ganzen Angelegenheit ein Klageverbot gelten, sowohl gegenüber den involvierten Amtsträgern als auch gegenüber Privatpersonen; bei Zuwiderhandlung drohte eine Strafe von zehntausend Drachmen, die an das Heiligtum von Zeus und Athena Polias zu entrichten seien.104 Den Abschluss der Inschrift bildet dann, wie bereits erwähnt, ein Bürgereid. Geht man davon aus, dass hier auf Dinge Bezug genommen wird, welche die Polis Telos zu dieser Zeit konkret bedrohten, so stellt der Schwur einen weiteren Beleg dafür dar, dass die Stadt damals von einer Stasis erschüttert wurde, in deren Verlauf es entweder bereits zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen war105 oder die – und dies ist wohl wahrscheinlicher – eine derartige Eskalation zumindest als realistisches Szenario erscheinen ließ: Alle erwachsenen Politen hatten zu schwören, die Demokratie zu beschützen, einander nichts nachzutragen, was während der κρίσις geschehen war, nichts gegen die durch die Koer erzielte διάλυσις zu unternehmen und vor allem nicht gegen den δᾶμος zu den Waffen zu greifen und niemanden zu unterstützen, der die ἄκρα besetzen oder die Demokratie stürzen wolle. Jeder Bürger, der von irgendwelchen Umsturzbestrebungen (τινα νεωτερίζοντα) und heimlichen Versammlungen erfahre, solle dies den Beamten melden.106 Wer den Eid verweigere, habe eintausend Drachmen an 102 Vgl. auch den etwas ratlos wirkenden Kommentar bei Thür 2011: „Die Bedeutung der in Z. 108 noch lesbaren Wörter ‚die Könige‘ und ‚Bittschrift‘ im Gesamtzusammenhang der rechtlichen Regelungen ist nicht ersichtlich“ (347). 103 αἰ δέ κα μὴ ἀποδῶντι, ὀφειλόντω ἕκαστο[ς τ]ῶν ταμιᾶν καὶ τῶν ἱεραπόλων πεντακισχιλίας δραχμὰς ἱερὰ[ς τ]οῦ Διὸς τοῦ Πολιέως καὶ τᾶς Ἀθάνας τᾶς Πολιάδος καὶ τῶι ἰδιώτα[ι] δ¢ιπλοῦν ὅ κα μὴ ἀποδῶι, Z. 114–118. 104 αἰ δέ τίς κα ποῆι παρὰ τὰ γεγραμμένα ἢ εὔθυναν γράφηται ἢ τᾶ[ι] [δ]ιαλύσει μὴ ἐμμένηι ἢ ἄλλο τι ἔγκλημα ἐπιφέρηι τοῖς ἄρχουσιν ἢ τοῖς ἰδιώταις ὅσσα ἐς τὰν διάλυσιν καθῖκε, ἀποτεισάτω μυρίας δρα[χ]μὰς ἱερὰς τοῦ Διὸς τοῦ Πολιέως καὶ τᾶς Ἀθάνας τᾶς Πολιάδος καὶ τὸ [ἔ]γκλημα τὸ ἐπενιχθὲν ἄκυρον ἔστω, Z. 121–125. 105 Vgl. Thür 2011: „Wenn man den Text liest, gewinnt man den Eindruck, die stasis sei völlig friedlich verlaufen. Das kann natürlich auch diplomatisch gefärbte Rhetorik sein“ (350). 106 ἐμμενέω ἐν τῶι πολιτεύματι τῶι καθεστακότι καὶ διαφυλαξέω τὰν δαμοκρατίαν καὶ οὐ μνασικακησέω περὶ τῶν [ἐν τᾶι κ]ρίσ[ει] γενομένων οὐδὲ πραξέω παρὰ τὰν διάλυσιν τάνδε οὐδὲν [οὐδὲ] ὅπλα ἐναντία θησεῦμαι τῶι δάμωι οὐδὲ τὰν ἄκραν καταλαμψεῦντι συμβουλευσέω οὐδὲ ἄλλωι ἐπιβουλεύοντι οὐδὲ καταλύοντι τὸν δᾶμον εἰδὼς ἐπιτραψέω· αἰ δέ κα αἴσθωμαί τινα νεωτερίζοντα ἢ συλλόγους συνάγοντα ἐπὶ καταλύσει τοῦ δάμου, δηλωσέω τοῖς ἄρχουσιν· εὐορκεῦντι μέμ μοι ἦμεν πολλὰ ἀγαθά, ἐφιορκεῦντι δὲ τὰ ἐναντία, Z. 128–136.

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Zeus und Athena zu zahlen. Das Misstrauen, das aus diesen Worten spricht, ist schier mit Händen greifbar.107 Obwohl die Inschrift nur sechs Personen namentlich erwähnt,108 erweckt der Text insgesamt den Eindruck, als sei die Gruppe der „mit dem Damos verfeindeten Telier“ erheblich größer gewesen;109 offenbar handelte es sich bei den genannten Männern um die Protagonisten der zunächst unterlegenen Partei, die nun auf antigonischen Druck hin in die Polis reintegriert werden sollte: Dass der geschilderte Aufwand, einschließlich einer königlichen Intervention, betrieben wurde, um nur sechs Personen mit dem δᾶμος zu versöhnen, ist wohl schlechterdings ausgeschlossen; auch die Befürchtungen, die sich am Bürgereid ablesen lassen, etwa die Besetzung der Burg, deuten in diese Richtung. Mutmaßlich standen hinter den namentlich genannten Männern daher Hetairien; jedenfalls aber erscheinen sie in der Inschrift stellvertretend für eine größere Gruppe, die von der übrigen Bürgerschaft – die allerdings schwerlich mehr als einige hundert Politen umfasst haben wird – offensichtlich als ernste Bedrohung wahrgenommen wurde. Dass es sich bei Kleisimbrotidas, Aristothemis, Nikagoras, Philtylios, Aristomenes und Aristagoras um Angehörige der begüterten Elite von Telos handelte, scheint angesichts der Art und Höhe der Strafen auf der Hand zu liegen. Ob man sie deshalb, wie es Gerhard Thür getan hat, als Verfechter einer Oligarchie anzusprechen hat und ihre Gegner als Demokraten,110 ist allerdings durchaus ungewiss.111 Da die eigentlichen Ursprünge der Auseinandersetzungen, wie gesagt, in der Quelle nicht thematisiert werden – dies hätte dem auch hier ausdrücklich angewandten Grundsatz des μὴ μνησικακεῖν112 widersprochen –, ist man hier letztlich auf Mutmaßungen angewiesen. So ist zum Beispiel möglich, dass sich die nun amnestierte und reintegrierte Parteiung bereits vor ihrer Exilierung an die Antigoniden angelehnt hatte, während ihre Gegner von anderen Diadochen – vielleicht Kassander oder Ptolemaios – gestützt worden waren.113 Zu bedenken ist überdies auch die soziale Stellung der διαλλακταί, die – wie üb107 Vgl. auch Gray 2015: „Swearing such an oath, and hearing others forced to swear it, would hardly have encouraged Telian citizens to regard one another as trustworthy civic friends“ (96). 108 Die namentliche Nennung ist ungewöhnlich und widerspricht natürlich im Grunde dem Prinzip, eine Versöhnung durch eine Amnesie zu ermöglichen. Dass die sechs Namen genannt werden, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie einer klar unterlegenen Partei angehörten; wahrscheinlicher ist aber, dass sich die genaue Identifikation aus Verfahrensgründen nicht vermeiden ließ: Die Inschrift hält ja die individuellen Verpflichtungen fest. Zu bedenken ist dabei, dass das Dekret aus Telos eines der frühesten überlieferten Beispiele ist – später setzte sich die Vermeidung der namentlichen Nennung allgemein durch. 109 So ist Aristagoras der einzige, von dem ausdrücklich vermerkt wird, seine Grundstücke seien enteignet worden, während der Gesamtsinn der Inschrift deutlich macht, dass auch die Ländereien anderer Männer konfisziert worden waren. Aristagoras scheint nur deshalb gesondert erwähnt zu werden, weil sein Fall besonders gelagert war, da er sein Land erst verloren hatte, als er mit der Zahlung seiner Strafe in Rückstand geraten war. 110 Vgl. Thür 2011: 342. 111 Zwar wurden Ende des 4. Jahrhunderts auf Telos Münzen mit der Legende ΔΑΜΟΚΡΑΤΙΑΣ geschlagen (Stefanaki 2008: 25), doch belegt dies letztlich nicht mehr, als dass „Demokratie“ während dieser Zeit auf der Insel als Slogan gebraucht wurde. 112 Vgl. Z. 129: οὐ μνασικακησέω. 113 Denkbar wäre etwa ein Zusammenhang mit dem antigonidischen Sieg bei Salamis 306 v. Chr.

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lich – ausdrücklich als Angehörige der Oberschicht (ἄνδρας κα[λοὺς καὶ ἀγαθοὺς])114 gekennzeichnet werden: Ist die Vorstellung, Demokraten auf Telos hätten als Vermittler in einem Verfassungskonflikt mit Oligarchen ausgerechnet Aristokraten von der Nachbarinsel angerufen, wirklich plausibel? Sind nicht Auseinandersetzungen innerhalb der Oberschicht der Insel – wobei „Demokratie“ als Schlagwort durchaus eine Rolle gespielt haben kann – die wahrscheinlichere Erklärung?115 3.1.3 Fremde Richter in Kalymna Ein weiterer Fall, in dem ungewöhnlich eindeutig konstatiert wird, dass ein heftiger Konflikt zwischen den Politen den Hintergrund für die Herbeirufung fremder Richter gebildet habe, wurde bereits erwähnt und betrifft ebenfalls eine Inselpolis: Wohl bald nach der Mitte des 3. Jahrhunderts116 dankten Volk und Rat von Kalymna117 in einer sehr bekannten, heute verschollenen Inschrift dem karischen Iasos – damals noch eine Insel – für die Entsendung von fünf Richtern, ἄνδρας καλοὺς κἀγαθούς,118 um die miteinander verfeindeten Bürger möglichst miteinander zu versöhnen oder eine Schlichtung zu erreichen, notfalls aber durch Abstimmung Urteile zu fällen.119 Der Vorfall sticht schon alleine dadurch hervor, dass in Kalymna, wie erwähnt, mehr als 350 Verfahren einer Entscheidung geharrt hatten,120 von denen die meisten von den Iasiern durch Schlichtung beigelegt wurden, um, wie es ausdrücklich heißt, keinen erneuten Aufruhr (ταραχή) im δᾶμος zu schüren.121 Nur zehn Fälle seien von den unbestechlichen (ἀνερίθευτοι) Richtern durch ein Urteil entschieden worden, das den Gesetzen von Kalymna und dem διάγραμμα τοῦ βασιλέως entsprochen habe.122 Offensichtlich hatte also auch hier ein König eingegriffen und die Entsendung der Männer aus Iasos vermittelt.123 114 Vgl. auch Crowther 1992: „This terminology […] clearly sets the designated individuals apart from their fellow citizens and marks them out as members of a political and diplomatic elite“ (40). 115 Vgl. auch Cartledge 2016: „For agit-prop and self-reassurance reasons, demokratia came to be used standardly in the Hellenistic Greek poleis both new and old as a slogan“ (244). 116 Vgl. zur Datierung Crowther 1994: 36–42, der die zuvor allgemein gängige Datierung auf die Jahre um 280 verwirft. 117 Vgl. zum hellenistischen Kalymna den Überblick bei Carlsson 2010: 184–202. 118 Dössel 2003 weist darauf hin, dass mindestens einer der fünf Richter der Sohn eines Iasiers war, der bereits unter Ptolemaios I. als Richter nach Kalymna entsandt worden war, und wertet dies als möglichen Hinweis auf eine „enge Verbindung zwischen den Oberschichten der beteiligten Städte“ (255). 119 I.Iasos 82. Die erste Häfte der Inschrift (Z. 1–28) enthält das iasische Psephisma, durch das die Polis die Ehrung ihrer Bürger annahm und die Aufrichtung der Stele beschloss. Eine sehr gründliche Diskussion der Inschrift bietet Dössel 2003: 253–272. Grundlegend ist daneben Crowther 1994. 120 Die Lesung [τρι]ακοσιᾶν ist nicht gesichert, wird aber zumeist akzeptiert. 121 [καὶ ἀ]πογραφεισᾶν δικᾶν εἰς τὸ δικαστήριον [πλε]όνων [ἢ τρι]ακοσιᾶν πεντήκοντα, τὰς μὲν πλείσ διέλυσαν [πείσ]αντες τοὺς ἀντιδίκους, ὅπως μὴ διὰ ψάφου τῶν πρα[γμά]των κρινομένων εἰς πλέω ταραχὰν ὁ δᾶμος [καθισ]τᾶται, Z. 38–42. 122 δέκα δὲ δικᾶν εἰσαχθεισᾶν [εἰς τὸ] καστήριον ἔκριναν διὰ ψάφου κατά τε τὸ διάγραμ[μα τοῦ] βασιλέως καὶ τοὺς νόμους, Z. 43–45. 123 Vgl. Dössel 2003: 254. Crowther 1994: 40 hat mit guten Argumenten dafür plädiert, dass es sich bei dem ungenannten βασιλεύς um einen Antigoniden gehandelt habe. Spätestens unter Ptolemaios IV. scheint

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Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als sei in diesem Fall die Ursache der Probleme in der Polis klar zu benennen – eine Überlastung der lokalen Gerichte.124 Doch auf den zweiten Blick wird deutlich, dass auch diese Inschrift im Grunde wenig darüber verrät, welche Konflikte es waren, die zur ταραχή geführt hatten. Gerade der Umstand, dass es einem einzigen ξενικὸν δικαστήριον mit nur fünf Mitgliedern gelungen sein soll, innerhalb überschaubarer Zeit zahlreiche Streitfälle beizulegen, illustriert nämlich deutlich, dass nicht eine Arbeitsüberlastung, sondern andere Probleme die Rechtsprechung in der kleinen Polis behindert hatten: Offensichtlich konnten die Fremden leisten, was fünf Kalymnier nicht vermocht hätten. Die ταραχή, um die sich die Iasier sorgten, dürfte also bereits bestanden haben, als die πολιτικὰ δικαστήρια von Kalymna an der Bewältigung der Fälle scheiterten und den Unmut in der Bürgerschaft damit mutmaßlich noch vergrößerten. Unklar ist dabei nicht nur der eigentliche Anlass für die ausdrücklich bezeugten Konflikte in der Polis, sondern auch, wie groß der Kreis der unmittelbar Beteiligten war. Man hat geschätzt, dass Kalymna im 5. Jahrhundert v. Chr. etwa 1200 männliche Bürger zählte,125 und es besteht kein Anlass, zweihundert Jahre später eine wesentlich größere oder kleinere Zahl anzunehmen.126 Vor diesem Hintergrund erscheint die Summe von über 350 Verfahren zunächst einmal gewaltig. Doch bei genauerer Betrachtung – zumal wenn man von der Annahme ausgeht, dass die Verfahren nicht Anlass, sondern Ausdruck von Konflikten waren –, verringert sich der Kreis der involvierten Politen unter Umständen massiv: Es gibt nämlich keinen Grund für die Vermutung, in den gut 350 Streitfällen hätten einander 700 unterschiedliche Personen gegenübergestanden; vielmehr kann bereits eine relativ kleine Gruppe von Beteiligten eine solche Zahl erklären, sobald man berücksichtigt, dass man durchaus mehr als ein Verfahren gleichzeitig anstrengen kann und dass überdies dieselben Personen mehrere Prozesse gegeneinander führen können. Kurzum, bereits eine Gruppe von vielleicht 40 oder 50 zerstrittenen Bürgern konnte innerhalb kurzer Zeit ohne weiteres 350 Fälle produzieren.127 Dies wiederum würde erklären, wieso die fünf Männer aus Iasos die Verfahren offenbar rei-

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Kalymna dann unter lagidische Kontrolle geraten zu sein und wurde bald darauf zu einer Sympolitie mit Kos genötigt; vgl. Huß 1976: 226. Vgl. Dössel 2003: 252, die allerdings mit Recht eine Stasis als Hintergrund der Ereignisse annimmt: „Die Verwendung des Begriffs ὁμόνοια läßt darauf schließen, daß in Kalymna Stasis herrschte“ (258). Walser 2012 scheint hingegen tatsächlich die große Zahl der Prozesse für die Ursache der Schwierigkeiten zu halten, wenn er vermutet, dass „diese Verfahren im Einzelnen von geringer Brisanz waren und nur wegen ihrer grossen Zahl zum Problem wurden“ (99). Vgl. Ruschenbusch 1983: 142, der die attischen Tributlisten zur Grundlage seiner – selbstverständlich mit Vorsicht zu genießenden – Berechnungen nahm. Vgl. auch Walser 2009: „Vieles spricht dafür, dass es ein eigentliches städtisches Zentrum, das eine ähnliche Rolle wie Kos-Stadt auf der Nachbarinsel gespielt hätte, auf Kalymna nie gab“ (151). Zur Veranschaulichung kann hier etwas Mathematik weiterhelfen. Wenn man annimmt, dass in einer Gruppe jede Person mit jeder anderen genau einen Prozess führt, so kommt man bereits bei 27 beteiligten Personen auf 351 Verfahren (27 × 26/2 = 351). Selbstverständlich wäre dies ein Extremfall. Gerade weil in Kalymna offenbar eine Stasis herrschte, ist nicht von einem Kampf aller gegen alle auszugehen, sondern von einer Parteibildung. Geht man daher von zwei Gruppen aus, deren Mitglieder jeweils in Streitigkeiten mit allen Angehörigen der Gegenseite verwickelt sind, so würden zwei Parteien mit jeweils 19 Anhängern bereits 361 Verfahren hervorrufen. Dies wird in der Praxis natürlich kaum vorgekom-

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bungslos bewältigen konnten – die Zahl der unmittelbar Beteiligten war wahrscheinlich überschaubar. Obwohl auch das Beispiel von Kalymna also nicht geeignet ist, die konkreten Hintergründe zu erhellen, die zu einer Stasis geführt hatten, lässt die Inschrift immerhin einige Rückschlüsse zu: So war die ταραχή höchstwahrscheinlich noch nicht in tödliche Gewalt ausgeufert, denn sonst wäre den Dikasten die Versöhnung der Bürger zweifellos sehr viel schwerer gefallen; und auch zu Verbannungen war es, anders als auf Telos, allem Anschein nach noch nicht gekommen, denn von einer Rückführung von φυγάδες oder einer Restitution ist nicht die Rede. Vielmehr scheint man – entweder die Antigoniden oder, vielleicht wahrscheinlicher, der an einer Befriedung interessierte Teil des δᾶμος, der sich daher an den König wandte – versucht zu haben, einer beginnenden sozialen Desintegration, die sich in einer Vielzahl von Prozessen und einem fundamentalen Misstrauen in die πολιτικὰ δικαστήρια der Insel manifestierte, entgegenzutreten. Allem Anschein nach gelang es den fünf Aristokraten aus Iasos, sich so unbestechlich und unparteiisch zu geben, dass fast alle involvierten Kalymnier in eine Versöhnung oder Schlichtung einwilligten,128 womit tatsächlich Aussichten auf eine Reetablierung der Eintracht bestanden – dies umso mehr, wenn man davon ausgeht, dass an den zehn Fällen, die durch ein Urteil entschieden werden mussten, nicht unbedingt zwanzig verschiedene Bürger beteiligt gewesen sein müssen. Wenn die Polis Glück hatte, konnte auf diese Weise eine Eskalationsspirale durchbrochen und das Schlimmste verhindert werden. Darüber, ob weiterhin schwelende Konflikte in Kalymna den Hintergrund für die einige Jahre später erfolgte Sympolitie mit Kos bildeten,129 kann man allerdings nur spekulieren: Der aus diesem Anlass zu leistende Bürgereid schloss jedenfalls ausdrücklich auch die Verpflichtung ein, stets ein gerechter Dikast (ἐσσεῦμαι δὲ καὶ δικαστὰς δίκαιος) sein zu wollen.130 Den offensichtlichen Mangel an Vertrauen zumindest eines Teils des δᾶμος ὁ Καλυμνίων in die eigenen Institutionen wird der Einsatz der μετάπεμποι δικασταί in jedem Fall schwerlich dauerhaft beseitigt haben.131

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men sein; andererseits aber ist, wie gesagt, durchaus möglich, dass dieselben Personen mehrere Prozesse gegeneinander führten. Dössel rekonstruiert ein „dreistufiges Vorgehen der fremden Richter“: Zunächst sei eine Versöhnung versucht worden, bei der die Iasier lediglich als Mediatoren fungiert hätten, dann erst ein formales Schlichtungsverfahren, bevor im Notfall tatsächlich ein Urteil gesprochen worden sei; vgl. Dössel 2003: 256 f. Vgl. Baker 1991 und Walser 2009: 148–153 (mit der älteren Literatur). IG XII 4,1,152 (vgl. StV III 545; T.Cal test. XII). Die erhaltene Inschrift gehört dabei allerdings nicht in den Zusammenhang der ursprünglichen Sympolitie, sondern bezieht sich auf eine um 208 erfolgte ἀποκατάστασις τᾶς ὁμοπολιτείας; offensichtlich war der Zusammenschluss von Kos und Kalymna auf Widerstand gestoßen. Vermutlich war es in diesem Kontext zu einer Stasis in der vereinigten Polis gekommen; hierfür spricht jedenfalls die Verdammung von Oligarchie und Tyrannis sowie das Verbot, die ἄκρα zu besetzen. Auch der Übergang vom antigonidischen in den ptolemaiischen Machtbereich mag bei diesen Konflikten eine Rolle gespielt haben – vielleicht bestimmten nun andere Bürger als zuvor die Geschicke der Polis. Dies könnte auch erklären, warum eine Polis wie Magnesia fremde Richter, wie erwähnt, offenbar in regelmäßigen Intervallen herbeirief; I.Magnesia 99.

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3.1.4 Segestaner in Nakone Das dritte hier näher vorzustellende Beispiel bezeugt einen besonders bemerkenswerten Versuch, eben dieses Problem dauerhaft zu bewältigen: Es handelt sich um einen Volksbeschluss der kleinen Polis Nakone auf Sizilien,132 der seit der Erstpublikation vor fast vier Jahrzehnten133 vielfach Aufmerksamkeit erregt hat.134 Die Inschrift gehört offenbar ins 3. Jahrhundert135 und beinhaltet im Gegensatz zu den bisher behandelten Fällen kein Ehrendekret für auswärtige διαλλακταί, auch wenn ein solches existiert haben dürfte; denn die drei aus Segesta herbeigesandten Männer namens Apellichos, Dionysios und Attikos hatten bei den Vorgängen in der Stadt offensichtlich eine wichtige Rolle gespielt.136 Sie scheinen in der Polis vorerst für Ruhe gesorgt zu haben (τὰ κοινὰ διώρθωται), höchstwahrscheinlich durch ein Vorgehen, wie es für μετάπεμποι δικασταί üblich war.137 Doch offenkundig traute man dem so erreichten Frieden nicht, weshalb man sich, beraten von den drei Segestanern, die sich anscheinend durch ihr vorheriges Agieren Vertrauen und Autorität erworben hatten, zu einem sehr eigenwilligen Verfahren entschloss, das die Inschrift detailliert beschreibt: Jene Bürger, die miteinander im Streit lagen, hatten sich an einem bestimmten Tag vor dem versammelten Demos einzufinden, und jede der beiden verfeindeten Parteien sollte dabei eine Liste mit den Namen von dreißig Gegnern vorlegen. Die Archonten sollten sodann aus diesen 60 Männern durch das Los dreißig Paare bilden, die aus je zwei Feinden bestehen sollten, und diese durch jeweils drei weitere hinzugeloste Bürger ergänzen, die mit keinem der beiden anderen eng verwandt sein durften. Jede dieser dreißig Gruppen aus je fünf Männern 132 SEG 30,1119 (vgl. ASNP 6,1,2001, 5–6). Vgl. auch SEG 51,1185. Der Text befindet sich auf einer von acht Bronzetafeln, die einer Raubgrabung entstammen und neben dem Beschluss aus Nakone lediglich Dekrete aus dem westsizilischen Entella enthalten. Möglicherweise stammen sie aus einer Werkstatt; vgl. zur Diskussion auch Knoepfler 1986: 13 (skeptisch). Eines der Entella-Dekrete ist wahrscheinlich eine moderne Fälschung; vgl. Loomis 1994. 133 Nenci 1980. 134 Verwiesen sei nur auf Asheri 1982, van Effenterre 1988, Dössel 2003: 235–247, Eich 2004: 95–98, Chaniotis 2010, Gray 2015: 36–41 und Gray 2016: 57–61. 135 Vgl. Hoyos 1988 und Dössel 2003: 235 f. 136 Asheri 1982: 139 f. vermutet, die Männer seien auf eigene Initiative („spontanée“) nach Nakone gekommen, um eine Stasis beizulegen. Diese Vorstellung erscheint recht abwegig – es wäre, soweit ich sehe, das einzige Mal in der griechischen Geschichte, dass fremde Aisymneten oder Nomotheten eigenmächtig in einer Polis aktiv geworden wären. 137 Auch van Effenterre 1988: 698 und Dössel 2003: 240 betonen die wichtige Rolle der Segestaner, gehen aber nicht davon aus, dass diese zuvor als auswärtige Richter in Nakone fungiert hatten; Asheri 1982: 140 verneint es sogar ausdrücklich. Zwar lässt sich der Inschrift in der Tat nicht mit Sicherheit entnehmen, dass Apellichos, Dionysios und Attikos im Vorfeld als διαλλακταί oder δικασταί tätig gewesen waren, aber der gesamte Kontext spricht meines Erachtens dafür – angefangen mit der scheinbar paradoxen Behauptung, die Angelegenheiten der Nakonier seien dank einer glücklichen Tyche geordnet worden, während die Bürger zugleich nach wie vor miteinander im Streit lägen. Denn dieser Widerspruch lässt sich am besten dahingehend auflösen, dass das in der vorliegenden Inschrift geschilderte Verfahren lediglich eine zweite Stufe darstellte: Nachdem die konkreten Streitigkeiten, vielleicht ausstehende Prozesse wie in Kalymna, zunächst beigelegt worden waren, wollte man nun versuchen, sich den eigentlichen Ursachen der Stasis zuzuwenden und das Übel an der Wurzel zu packen. Diese Interpretation erklärt auch, wieso der Volksbeschluss keinerlei Ehrungen für die drei Segestaner auflistet – diese dürften in dem mutmaßlichen Dekret enthalten gewesen sein, das ihnen für ihre Tätigkeit in Nakone dankte.

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sollte fortan eine ἀδελφοθετία bilden, eine künstliche Bruderschaft also.138 Anschließend sollten auch alle übrigen Bürger von Nakone durch das Los in derartigen Fünfergruppen zusammengefasst werden, zwischen denen ebenfalls keine enge Verwandtschaft – der Text spricht von ἀγχιστεία – bestehen durfte.139 Die durch dieses aufwendige Verfahren entstandenen Bruderschaften sollten künftig alljährlich ein Fest feiern, bei dem die Beamten der Göttin Homonoia140 und den Ahnen (γενέτορες) ein gemeinsames Opfer darzubringen hatten.141 Nicht nur die Vorgehensweise ist ungewöhnlich, sondern auch die Eindeutigkeit, mit der der politische Charakter der Konflikte in Nakone benannt wird, indem das Psephisma davon spricht, es gehe um eine Versöhnung derjenigen Politen, die „wegen der öffentlichen Angelegenheiten miteinander im Streit liegen“ (ὅσσοις ἁ διαφορὰ τῶν¢ πολιτᾶν¢ γέγονε ὑπὲρ τῶν κοινῶν ἀγωνιζομένοις, Z. 10 f.).142 Auch die explizite Erwähnung der Existenz von zwei Parteiungen verdient Aufmerksamkeit – was aus der literarischen Überlieferung als ein Charakteristikum der Stasis vertraut ist,143 findet hier eine Bestätigung im inschriftlichen Befund. Was genau der Grund für die Konflikte gewesen war, wird zwar auch im Falle von Nakone nicht näher ausgeführt, was vor dem Hintergrund des bisher Gesagten auch kaum überraschen kann. Dennoch ist bemerkenswert, dass der Text – gerade weil es sich nicht um ein Ehrendekret für μετάπεμποι δικασταί handelt – die Probleme innerhalb der Bürgerschaft nicht anhand von Phänomenen wie „Vertragsstreitigkeiten“ oder „ausstehenden Gerichtsurteilen“ beschreibt, sondern schlicht konstatiert, man streite sich eben ὑπὲρ τῶν κοινῶν. Immerhin waren diese Konflikte offenbar noch nicht blutig eskaliert, und auch von Verbannten oder Flüchtlingen ist nicht die Rede.144 Ferner verdienen die genannten Zahlenverhältnisse Beachtung: Die Initiatoren des Versöhnungsversuchs gingen offenkundig davon aus, dass der harte Kern der beiden verfeindeten Parteiungen aus nicht mehr als jeweils dreißig Personen bestand; unmittelbar an der Stasis beteiligt war demnach eine Gruppe von ungefähr 60 Bürgern. Zugleich eröffnet die Inschrift damit den Blick auf jene, die in den literarischen Quellen, die Staseis meist wie eine Spaltung der gesamten Polis schildern, oft unsichtbar bleiben: Die Mehrheit der unbeteiligten Politen, deren Frieden durch die Konflikte bedroht war. In 138 Vgl. zum Hapax legomenon ἀδελφοθετία, möglicherweise ein Neologismus, die Diskussion bei van Effenterre 1988: 698–700. 139 Die Vorstellung, die Maßnahmen in Nakone seien durch die Kleisthenische Phylenreform mit ihrem Versuch, durch eine künstliche Trennung von Verwandtschaftsverbänden und Dorfgemeinschaften die Stasis in Athen zu beenden (Ath. Pol. 21), inspiriert worden, ist natürlich verlockend. Vgl. zu Kleisthenes Bleicken 1988: 33–39, Welwei 1999: 1–21 und Stein-Hölkeskamp 2015: 269–274. Weitere mögliche Vergleichsfälle diskutiert Loraux 2002: 224. 140 Vgl. Thériault 1996: 22–26. 141 Vgl. Chaniotis 2010: „The emotion of hatred was expelled with the ritualised commemoration of reconciliation. An emotional experience justified the introduction of a new ritual norm“ (225). 142 Dössel 2003: 239 ist meines Erachtens unbedingt zuzustimmen, wenn sie διαφορά hier gegen Savalli 1982: 1060 f. als Synonym für das in Inschriften ungebräuchliche στάσις interpretiert. 143 Vgl. Gehrke 1985: 245–249. 144 Vgl. Gray 2015: „Unusually for a bipartisan post-stasis reconciliation, the document makes no explicit reference to exiles or their reintegration“ (37).

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Nakone dürfte ihre Zahl die der Streitenden deutlich überschritten haben;145 alleine in den dreißig Bruderschaften, in denen die miteinander verfeindeten Männer zusammengefasst werden sollten, befanden sich daneben auch neunzig Unbeteiligte, und hinzu kam noch eine unbekannte Zahl an weiteren Bürgern, die immerhin zahlreich genug gewesen sein müssen, um sie so über die Fünfergruppen zu verteilen, dass enge Blutsverwandte nicht als ἀδελφοὶ αἱτεροί miteinander gepaart wurden. Nakone, das zwar eigene Münzen mit der Legende ΝΑΚΩΝΑΙΩΝ prägte, aber so unbedeutend war, dass heute nicht einmal die genaue Lage des Ortes bekannt ist,146 war zwar eine kleine Polis, doch nichts spricht gegen die Vermutung, dass den 60 Streitenden ein Mehrfaches an Neutralen gegenüberstand. Diese Mehrheit versuchte offenbar, die politisch verfeindeten Gruppen zur Versöhnung zu nötigen. Es hat den Anschein, als habe sich keine der beiden Parteiungen zu diesem Zeitpunkt stark genug gefühlt, um sich zu verweigern.147 Und schließlich sticht natürlich die Bedeutung ins Auge, die der Volksbeschluss dem Faktor Verwandtschaft zuspricht.148 Hier glaubte man das Übel der Konflikte offensichtlich an der Wurzel packen zu können: Die Verquickung von familiären und öffentlichen Beziehungen galt in Nakone offenkundig bereits seit längerem als problematisch, da die Inschrift in diesem Zusammenhang auf ein schon gültiges Gesetz „hinsichtlich der Gerichtshöfe“ verweist (ἇν ὁ νόμος ἐκ τῶν δ¢ικαστηρίων μεθίστασθαι κέλεται), dessen Inhalt als bekannt vorausgesetzt wird – offenbar wurde es regelmäßig angewendet. Allerdings hatte diese Vorschrift anscheinend nicht ausgereicht, um die Eintracht in der Polis zu bewahren, weshalb man nun zu den beschriebenen Maßnahmen Zuflucht nahm. Zwar ist unklar, welcher Grad an Verwandtschaft als problematisch galt,149 doch ist klar ersichtlich, dass Familienbeziehungen in Nakone eine große Rolle spielten,150 denn schließlich erschienen sie nicht nur als Teil des Problems, sondern auch als seine Lösung. 145 Zu einer anderen Einschätzung gelangt Dössel 2003: „Die echten verwandtschaftlich verbundenen Gruppen müssen […] recht groß gewesen sein, da von beiden Seiten dreißig Namen genannt werden sollten, die zu den jeweiligen Gegnern gehörten“ (246). 146 Mir ist nur eine einzige literarische Erwähnung der Stadt bekannt (FGrHist 556 F 26). Vgl. zu Nakone eingehend Balduin 1997 sowie (knapp) Facella 2001. 147 Vgl. zu den Hindernissen für eine Versöhnung allgemein auch Genschel – Schlichte 1997: „Damit ein ‚Verhandlungsfrieden‘ überhaupt zustandekommen kann, müssen zwei Probleme gelöst werden: das Einigungsproblem und das Durchsetzungsproblem. Das Einigungsproblem besteht darin, daß die Führer der beteiligten Parteien sich auf eine einvernehmliche Friedensformel verständigen müssen, das Durchsetzungsproblem darin, daß die in der Formel vereinbarte Verzichtsleistung gegen die Opposition in den eigenen Reihen durchgesetzt werden muß“ (511). 148 Die politische Bedeutung, die enge Verwandtschaft im Hellenismus unter Umständen besitzen konnte, illustriert auf besonders anschauliche Weise der Sympolitievertrag zwischen Herakleia (bzw. Latmos) und Pidasa (SEG 47,1563), der in die Jahre zwischen 323 und 313 gehört; vgl. Blümel 1997, Wörrle 2003 und LaBuff 2010. Nicht nur wurden Eheschließungen innerhalb der beiden bisherigen Bürgerschaften verboten, es wurde sogar angeordnet, dass sechs Jahre lang Latmier nur Pidasier und Pidasier nur Latmier heiraten dürften (Z. 22–25). Es liegt auf der Hand, dass diese Maßnahme der Stasisprävention dienen sollte – bezeichnenderweise beschwört die Inschrift auch die ὁμόνοια zwischen den Bürgern. 149 Zu vermuten ist, dass es um Verwandtschaft ersten, zweiten und dritten Grades ging, die auch für die Frage der Blutrache besonders relevant war. 150 Vgl. Eich 2004: „Das verwandtschaftliche und/oder kommunitäre Integrationsmoment hatte seine Effizienz offenbar gegen die staatliche Einheit gekehrt und den Zusammenhalt von Stasisgruppen gefördert“ (97).

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Ob dies bedeutet, dass es sich bei der Stasis in Nakone um einen „Kampf zweier Familienverbände um die politische Vorherrschaft in der Stadt“ gehandelt hat, wie Astrid Dössel vermutet hat,151 ist allerdings ungewiss.152 Es kann auch einfach ein Zeichen dafür sein, dass Nepotismusvorwürfe in den Auseinandersetzungen von Bedeutung gewesen waren und diesen nun ein für alle Mal die Grundlage entzogen werden sollte. In jedem Fall könnte die Betonung von συγγένεια aber ein Indiz dafür sein, dass man es bei den Beteiligten mit Aristokraten zu tun hat – spielte doch εὐγένια eine wichtige, wenn auch nicht entscheidende Rolle für die Selbstbestimmung hellenistischer Eliten.153 Man mag sich in diesem Zusammenhang an Iambulos erinnert fühlen, der in seiner wohl im 3. Jahrhundert v. Chr. verfassten und dank Diodor in den Grundzügen überlieferten Utopie betonte, in der idealen Polis, die auf einer Insel im Indischen Ozean liege, gebe es keine Ehen und keine Familien, sondern die Kinder würden von allen gemeinsam aufgezogen; aus diesem Grunde gebe es keine Ehrsucht (φιλοτιμία) und die Menschen seien daher ἀστασιαστοί – frei von Stasis.154 Das Verfahren in Nakone ist innerhalb der erhaltenen Überlieferung derartig einzigartig, dass man sich hüten muss, allzu allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen.155 Gewiss scheint nur zu sein, dass sich die Hoffnung des Demos, die διαφορά dauerhaft zu beseitigen und ὁμόνοια an ihre Stelle zu setzen, nicht erfüllte, da die Inschrift ihren vorgesehenen Anbringungsort, den Tempel des olympischen Zeus in Nakone, allem Anschein nach nie erreicht hat. Offenbar hatte der fragile Frieden nicht einmal lange genug gehalten, um die Aufstellung des Volksbeschlusses zu ermöglichen; binnen relativ kurzer Zeit scheint es vielmehr zu Ereignissen gekommen zu sein, die das Psephisma obsolet erscheinen ließen. Hatte sich die Annahme, συγγένεια, ein Konzept, das für die internationalen Beziehungen im Hellenismus eine zentrale Rolle spielte,156 sei auch der Schlüssel zur Befriedung der Polis, als Fehldiagnose erwiesen? Was genau geschah – gewann eine der beiden Seiten die Oberhand und entledigte sich ihrer Gegner? –, entzieht sich unserer Kenntnis.

151 Dössel 2003: 245 f. 152 Wäre in diesem Fall die öffentliche Benennung der jeweiligen Gegner vor der Volksversammlung notwendig gewesen? 153 Vgl. Scholz 2008: 80 f. Vgl. Arist. Pol. 4,4,3 (= 1291b). Anders Eich 2004, der davon ausgeht, man habe in Nakone lediglich künstliche Bruderschaften an die Stelle von ebenso künstlichen Phratrien setzen wollen, da man das grundsätzliche „Konstruktionsprinzip“, nämlich „die Zusammensetzung aus künstlichen Verwandtschaftsgruppen und deren Anhaltung zu ritueller Geselligkeit“ (96), nicht in Frage gestellt habe. 154 διόπερ μηδεμιᾶς παρ᾽ αὐτοῖς γινομένης φιλοτιμίας ἀστασιάστους καὶ τὴν ὁμόνοιαν περὶ πλείστου ποιουμένους διατελεῖν; Diod. 2,58,1. Vgl. zu Iambulos Fernandez Robbio 2010. Vgl. zur Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen im Hellenismus auch van Bremen 2003, die die Position vertritt, in nachklassischer Zeit hätten diese an Bedeutung zugenommen: „In Hellenistic cities divisions within the family extended into the public sphere“ (322). Vgl. zur Bedeutung der Familie für Staseis daneben allgemein die Überlegungen bei Loraux 1997. 155 So auch Dössel 2003: 247. Gray 2015: 40 f. entwickelt ausgehend von diesem Beispiel hingegen ein „Nakonian paradigm“, das er als „strongly communitarian“ bezeichnet, während er die ergriffenen Maßnahmen durchaus als „quite unusual“ auffasst. 156 Grundlegend zur „peer polity interaction“ im Hellenismus ist Ma 2003b.

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3.1.5 Zwischenfazit Wie lassen sich die Ergebnisse dieser tour de force zusammenfassen? Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass zumindest bis in die Zeit des Perseuskrieges vieles auf einen Zusammenhang zwischen inneren Konflikten in den hellenistischen Poleis und der Anrufung auswärtiger Richter hindeutet, der vermutlich nicht immer gegeben war, aber doch eher die Regel als die Ausnahme dargestellt haben dürfte. Schon der Umstand, dass die Fremden offenbar zumeist als διαλλακταί mit richterlichen Kompetenzen fungierten,157 verweist dabei auf den Versuch, möglichst einvernehmliche Lösungen zu finden, um die διαφορά in der betroffenen Stadt in den Griff zu bekommen. Das offensichtliche Bemühen der Dekrete, Formulierungen zu finden, die hinsichtlich der eigentlichen Konflikte, die den Einsatz der Auswärtigen erforderlich gemacht hatten, größtmögliche Vagheit und Unklarheit erzeugten, versperrt dabei zwar einerseits den Zugang zu den konkreten Vorgängen, ist aber andererseits ein Indiz für das Vorliegen einer Situation, in der die Auseinandersetzungen zwischen den Bürgern bereits eine gewisse Eskalationsstufe erreicht hatten: Diese hatte in der Regel wohl noch nicht zu Gewalt geführt, aber der Groll auf beiden Seiten war groß genug, um die Polis in ein Pulverfass zu verwandeln; lediglich externe Schlichter boten noch Hoffnung auf eine Bewahrung oder Rückkehr des Friedens, und deshalb mussten die entsprechenden Inschriften – anders, als es bei hellenistischen Ehrendekreten sonst üblich war – es gerade hinsichtlich der Leistungen der Dikasten notwendig bei Andeutungen belassen, durch die sich niemand provoziert und in seiner Ehre gekränkt fühlen konnte. Von Ausnahmen abgesehen, schildern die Inschriften daher, wenn überhaupt, lediglich Symptome, die als Epiphänomene einer sozialen Desintegration und einer Vertrauenskrise in den betroffenen Poleis interpretiert werden können.158 Hierfür spricht insbesondere der Umstand, dass der Einsatz von μετάπεμποι δικασταί ebenso für Fälle bezeugt ist, in denen lediglich eine einzige Angelegenheit zu verhandeln war, wie für solche, in denen es um Hunderte von Prozessen ging159 – das verbindende Element wird also schwerlich eine technische oder personelle Überlastung gewesen sein,160 sondern muss darin bestanden haben, dass die betroffenen Poleis ganz bestimmte Streitigkeiten nicht beizulegen vermochten, weil die Legitimität ihrer Gerichte angezweifelt oder 157 Vgl. etwa OGIS 43. 158 Die prominenteste Ausnahme ist wohl die lange, bereits 1876 publizierte Inschrift (Syll.3 364), die fremde Richter erwähnt, die um 300 v. Chr. im Rahmen einer κρίσις in Ephesos aktiv waren, die offenbar durch eine Überschuldung vieler Bürger gekennzeichnet war. Dieser Fall ist in der vorliegenden Untersuchung bewusst ausgespart worden: Zum einen, weil Andreas Victor Walser hierzu vor einigen Jahren bereits eine vorbildliche Analyse vorgelegt hat, zum anderen und vor allem, weil die Probleme anscheinend nicht auf eine Stasis, sondern auf den Vierten Diadochenkrieg zurückzuführen sind, der die Polis, die mit den Antigoniden verbündet gewesen war, stark in Mitleidenschaft gezogen und zu einer ökonomischen Krise geführt hatte; vgl. Walser 2008: 47–104 und 273–289. Dass diese Probleme zu Spannungen innerhalb der Bürgerschaft geführt hatten und eine Stasis drohte, ist allerdings sehr wahrscheinlich – daher auch der Einsatz der Auswärtigen. 159 I.Iasos 82. 160 I.Erythrai 111.

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zumindest ihre Zuständigkeit nicht anerkannt wurde.161 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dies bedeutet natürlich im Umkehrschluss mitnichten, dass Schuldenkrisen oder andere ökonomische Schwierigkeiten niemals die Ursache für die Konflikte waren, die die Auswärtigen beilegen sollten.162 Doch die erhaltenen Dekrete ermöglichen hierzu kaum Aussagen, sondern bezeugen in allererster Linie einen Vertrauensverlust hinsichtlich der πολιτικὰ δικαστήρια der jeweiligen Städte und erlauben auch in Fällen wie Telos oder Kalymna keine gesicherten Rückschlüsse auf die konkreten Ursprünge dieses Misstrauens. Dass diese Dysfunktionalität der städtischen Institutionen dabei in vielen Fällen ein Hinweis auf Staseis ist,163 wird auch durch die Verwendung von Ausdrücken wie ταραχή, διαφορά, κρίσις oder σύγχυσις hinreichend illustriert, vor allem aber durch den schier omnipräsenten Verweis auf die Intention, die ὁμόνοια wiederherzustellen.164 Aus diesem Grund versuchte man auch, Urteilssprüche nach Möglichkeit zu vermeiden, sondern möglichst breite Zustimmung für eine διάλυσις zu gewinnen. All dies deutet darauf hin, dass der Rückgriff auf ξενικὰ δικαστήρια in vielen Fällen im Rahmen von Befriedungsversuchen erfolgte, weshalb die vor allem für das 3. und 2. Jahrhundert in großer Zahl überlieferten Dikastendekrete durchaus geeignet sind, die Annahme zu stützen, dass das Phänomen der Stasis in der hellenistischen Welt noch viel weiter verbreitet war, als es die lückenhafte literarische Überlieferung dokumentiert. Dass sich dieser Zusammenhang zwischen dem Einsatz von μετάπεμποι δικασταί und akuten Krisen in den Poleis im späten Hellenismus auflöste, da die ξενικὰ δικαστήρια regelmäßig an die Stelle der πολιτικὰ δικαστήρια getreten seien, ist möglich; doch sind auch andere Erklärungen für die zunehmende Standardisierung des Formulars denkbar. Seit dem späteren 2. Jahrhundert ist ein Zusammenhang mit städtischen Notlagen mithin zwar nicht mehr so naheliegend wie zuvor, er ist aber auch keineswegs ausgeschlossen. Sicher ist nur, dass die überlieferten Dekrete nun sehr viel seltener werden.165 Dass es sich bei den Auswärtigen allem Anschein nach um Elitenangehörige handelte, wurde bereits festgestellt;166 die Frage ist nun, welche Schlussfolgerungen man aus dieser Beobachtung ziehen kann. Ist es ein Indiz für einen bereits im 4. Jahrhundert einsetzenden Niedergang der demokratischen Institutionen, die sich nun das Heft des Handelns aus den Händen nehmen lassen mussten? Spricht hierfür auch die offensichtliche Einflussnahme der hellenistischen Monarchen, die die Existenz einer einflussreichen Elite in den 161 Vgl. auch Wiemer 2013: „This practice is not, however, a symptom of a complete breakdown of the judicial system, as has often been thought, since foreign judges were entrusted with adjudicating a clearly defined range of cases and bound to apply the laws of the city to which they were invited“ (61). 162 Die wiederholte Erwähnung von συμβόλαια in diesem Zusammenhang (vgl. z. B. IG XII 5,1065; IG IX 2,1230) kann durchaus in diese Richtung deuten (vgl. Davies 1984: 294), muss es aber nicht – Vertragsstreitigkeiten sind nicht zwingend ein Indiz für eine Schuldenkrise. 163 Teils waren die Konflikte offenkundig bereits gewaltsam eskaliert, teils scheint man dies lediglich befürchtet zu haben. 164 Vgl. auch Thériault 1996: 5–70. 165 Die Grafik bei Mack 2015: 268 veranschaulicht die chronologische Verteilung der bezeugten Fälle mit einem Höhepunkt in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts und einem ziemlich rapiden Rückgang im 1. Jahrhundert. Zwar muss dabei die Rolle des Überlieferungszufalls bedacht werden; die Zahl der bekannten Ehrendekrete ist aber inzwischen groß genug, um derlei statistische Aussagen dennoch zu wagen. 166 Vgl. Crowther 1992: 25 f.

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Poleis ihres Machtbereichs zumindest nicht gestört haben dürfte?167 Das ist gut denkbar. Allerdings widerspricht es zumindest auf den ersten Blick dem Befund, nach dem die Rolle des Demos im frühen Hellenismus in der Regel noch nicht marginalisiert worden war.168 Vielleicht ist daher auch eine andere Erklärung möglich: Dort, wo die Inschriften Angaben zur Zahl der Beteiligten machen, bewegen sich diese auf einem niedrigen Niveau; in Demetrias und Erythrai geht es jeweils um eine einzelne Person,169 auf Telos werden sechs Männer namentlich genannt,170 in Nakone scheint die Gesamtzahl der in die Konflikte Verwickelten nicht weit über 60 gelegen zu haben.171 Selbst die gut 350 schwebenden Prozesse, die für Kalymna bezeugt sind,172 lassen sich, wie erwähnt, durchaus auch mit der Existenz einer kleinen Gruppe intensiv miteinander verfeindeter Personen erklären. Mit anderen Worten: Ohne dass hier ein abschließender Beweis möglich wäre, liegt die Vermutung nahe, dass es sich häufig nicht nur bei den διαλλακταί und δικασταί um Angehörige der Oberschicht, das heißt der grundbesitzenden Elite, gehandelt hat,173 sondern – wie auf Telos – auch bei denen, deren Streitigkeiten sie beilegen sollten. Nimmt man überdies an, dass sich, wie es aus der literarischen Überlieferung vertraut ist, im Umfeld der verfeindeten Männer häufig Hetairien bildeten,174 so konnte bereits eine Handvoll zerstrittener Aristokraten rasch Gruppen bilden, deren harter Kern 30 bis 40 Personen umfassen mochte und die nur allzu leicht zu einer Bedrohung für den Frieden und für die Funktionsfähigkeit der Polis werden konnten. Trat dieser Zustand ein, so war der Demos – oft wohl unter Anleitung unbeteiligter Elitenangehöriger – daher gut beraten, entschieden einzugreifen; und wenn die Betroffenen den πολιτικὰ δικαστήρια misstrauten oder ihre Zuständigkeit bezweifelten, dann lag nichts näher, als in dieser Notlage ein Dikasterion einzuberufen, das nicht nur aus unbezweifelbar Neutralen, sondern vor allem aus peers der Streitenden bestand, deren Wort daher Gewicht besaß; dies natürlich umso mehr, wenn die Autorität und das Drängen eines Königs hinzukamen.175 Mit anderen Worten: Offenbar schlichteten Elitenangehörige Streitigkeiten innerhalb der Oberschicht einer anderen Polis, deren Mitglieder sich den jeweiligen πολιτικὰ δικαστήρια nicht unterwerfen wollten. Diese Hypothese kann zwar, wie gesagt, aufgrund der Eigenart der Quellen nicht abschließend bewiesen werden, darf aber vor allem vor dem Hintergrund der literarischen Zeugnisse eine erhebliche Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Die Ehrendekrete 167 168 169 170 171 172 173

Vgl. die Diskussion bei Dreyer – Weber 2011. Siehe auch Kapitel 4.3. Vgl. die Zusammenfassung bei Billows 2003: 209–214 und Wiemer 2013: 56–59. Vgl. auch Kapitel 4.2. I.Erythrai 111; Helly 1971. IG XII 4,1,132. SEG 30,1119. I.Iasos 82, Z. 38–42. Zu einem grundsätzlich aristokratischen Charakter der Richter- und Schlichtertätigkeit passt auch, dass etwa das berühmte samische Ehrendekret für Bulagoras um 243 zu den vielen Wohltaten, die er der Polis erwiesen habe, auch den Umstand zählt, dass er zwischen Streitenden geschlichtet (διαλύων τοὺς διαφερομένους) habe; SEG 1,366, Z. 51. 174 Vgl. Gehrke 1985: 328–335. Ein besonders eindrückliches Beispiel liefert Diodor im Zusammenhang mit der Machtübernahme des Agathokles in Syrakus; Diod. 19,5,6. 175 Vgl. zur königlichen Einflussnahme Gauthier 1994.

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für die auswärtigen Richter sind in diesem Fall als Indiz dafür zu lesen, dass bereits im frühen Hellenismus und ganz unabhängig davon, wie mächtig die demokratischen Institutionen damals noch waren, Auseinandersetzungen innerhalb der städtischen Elite ein Problem darstellen konnten, das, wie es Plutarch später in den Moralia schildern sollte,176 die ganze Polis ins Unglück stürzen konnte.177 Hoffnung auf Einhegung gab es, wenn man die Konflikte den eigenen Gerichten entzog und sie stattdessen ἄνδρας καλοὺς κἀγαθούς übertrug. Indem es die Polis war, die dabei formal der entscheidende Akteur war, konnte der Demos überdies sein Gesicht wahren, agierten die ξενικὰ δικαστήρια doch in seinem Namen und auf Grundlage der Gesetze der Stadt.178 Was in jedem Fall feststeht, ist der zweite wichtige Aspekt der Dikastendekrete, der Rückschlüsse auf die entsprechenden Konflikte zulässt: Allen überlieferten Fällen ist gemeinsam, dass es sich nicht um ‚Siegesinschriften‘ handelt. Ein μὴ μνησικακεῖν war nur dann sinnvoll und notwendig, wenn der Konflikt nicht mit der eindeutigen Niederlage einer Seite geendet hatte, sondern die Anhänger beider Parteien versuchen mussten, einen modus vivendi zu finden. Die Hintergründe hierfür konnten vielfältig sein; mal wird man es mit einem Erschöpfungsfrieden zu tun haben, mal mit einer Verständigung, die auf Druck Dritter zustande kam – neben der unbeteiligten Mehrheit des Demos spielten hier natürlich vor allem äußere Mächte, also zunächst Monarchen und koina, später in zunehmendem Maße die Römer, eine entscheidende Rolle. Als erfolglos kann sich dieses Befriedungsinstrument dabei nicht erwiesen haben, denn nicht nur hielt die ὁμόνοια offensichtlich vielfach zumindest lange genug an, um – anders als in Nakone – die entsprechenden Inschriften tatsächlich zu errichten, sondern vor allem deutet die weite Verbreitung darauf hin, dass sich ξενικὰ δικαστήρια oftmals bewährten, wenn es um die Entschärfung interner Konflikte und die Wahrung des Friedens ging – noch Ciceros spöttische Bemerkung, die Griechen seien nur glücklich, wenn man ihnen peregrinis iudicibus gestatte,179 passt zu dieser Beobachung. Mit Cicero ist man auch schon in der Spätzeit der μετάπεμποι δικασταί angelangt, als die entsprechenden Dekrete bereits sehr selten geworden waren und bald ganz verschwinden sollten. Wie lässt sich dieser Befund erklären? Mehrere Ansätze sind möglich. Zum einen ist vorstellbar, dass die ξενικὰ δικαστήρια tatsächlich seit dem späteren 2. Jahrhundert v. Chr. im Zuge einer ‚Aristokratisierung‘ der späthellenististischen Poleis die demokratischen Gerichte teilweise ersetzt hatten und damit, wie Louis Robert annahm, zu einer Alltäglichkeit geworden waren, die keiner gesonderten Erwähnung mehr bedurfte.180 Andere Forscher haben die Errichtung der römischen Hegemonie verantwortlich gemacht: Spätestens nach dem bellum Achaicum hätten die fremden Richter rasch an Bedeutung eingebüßt, weil nun römische Amtsträger ihre Funktion übernom176 Plut. Mor. 824f–825a. 177 Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass sich sämtliche Staseis im Hellenismus auf aristokratische Fehden zurückführen lassen. 178 Vgl. Gruen 1993: 345. Zu beachten ist allerdings, dass die Ehrungen für die Dikasten vielerorts von der Boule beschlossen wurden; vgl. Müller 1995: 43. 179 Cic. ad Att. 6,1,15. 180 Robert 1973: 776. Vgl. auch Fröhlich 2011.

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men und sie damit überflüssig gemacht hätten.181 Aber auch eine dritte Möglichkeit ist zu erwägen, die den römischen Einfluss eher indirekt als Erklärung heranzieht und im Grunde die beiden anderen Ansätze einschließt: Da seit dem Dritten Makedonischen Krieg eine plausible machtpolitische Alternative zu Rom nur noch ausnahmsweise erkennbar war, etablierten sich in den meisten Poleis φίλοι der Römer und nahmen eine zunehmend dominante Position ein.182 Wenn nun selbst Könige wie Attalos II. nichts mehr ohne Rücksprache mit Rom zu unternehmen wagten,183 wie sollten dann auswärtige Richter über Männer urteilen, die für sich in Anspruch nahmen, die Rückendeckung wichtiger Senatoren zu besitzen? In dem Maße, in dem sich die Hegemonie Roms über die Griechen verfestigte und das Übergewicht der ‚Romfreunde‘ zunahm, dürfte das Institut der μετάπεμποι δικασταί daher an Effizienz verloren haben, und zugleich gab es nun seltener Grund für den Demos, den Fremden Ehrungen zu erweisen und Inschriften zu errichten; wenn er es dennoch tat, dann mutmaßlich deshalb, weil es den ξενικὰ δικαστήρια trotz allem gelungen war, einen Kompromiss herbeizuführen. Hinzu kam, dass die Entsendung fremder Richter und Schlichter wohl vielfach ein Epiphänomen des Ringens der hellenistischen Groß- und Mittelmächte um die Kontrolle der Poleis gewesen war: Eine Stadt, in der Stasis herrschte, drohte zur leichten Beute für Rivalen zu werden, wenn diese eine Parteiung unterstützten, weshalb eine Befriedung im ureigensten Interesse des jeweiligen Hegemons liegen musste und man darum zweifellos auch aus diesem Grund entsprechende Maßnahmen in die Wege leitete. Nach dem Perseuskrieg entfiel dieser Faktor in zunehmendem Maße. Spätestens um die Zeitenwende, als in den meisten Städten die φίλοι des princeps dominierten,184 die oftmals die civitas Romana besaßen, büßten die ξενικὰ δικαστήρια ihre ursprüngliche Funktion aller Wahrscheinlichkeit nach endgültig ein.185 Und so über181 182 183 184 185

Vgl. Fournier 2010: 536–542. Vgl. etwa Savalli-Lestrade 2003, Schulz 2008 und Dreyer – Weber 2011. OGIS 315 VI. Mit „φίλοι des princeps“ sind hier jene gemeint, die die Gunst der kaiserlichen Regierung genossen. Spätestens seit 42 v. Chr. war das römische Bürgerrecht mit der Zugehörigkeit zu einer Polis vereinbar; vgl. Ferrary 2005. Es lässt sich denken, wie leicht es zwischen jenen Griechen, die die civitas Romana erworben hatten, und ihren Mitbürgern zu Konflikten kommen konnte, die dann wohl insbesondere vor Gericht ausgetragen wurden, wie es für Kyrene bezeugt ist, wo Augustus 6 v. Chr. mit insgesamt fünf Edikten eingreifen musste: Eine Gruppe von 215 römischen Bürgern in der Kyrenaika hatte zuvor Ankläger und Richter gestellt, auf diese Weise die Poleis dominiert und nicht wenige Griechen zum Tode verurteilt; vgl. von Premerstein 1928; Cabane 2001: 323 f. Bezeichnenderweise rechnete der princeps ausdrücklich damit, dass die Verwandten der Opfer danach streben würden, die Justizmorde zu sühnen, und wies die Statthalter an, bei Tötungsdelikten künftig keine Römer mehr als Ankläger von Griechen zuzulassen, es sei denn, ein Hellene, dem das römische Bürgerrecht verliehen worden sei, erhebe Anklage wegen der zuvor erfolgten Tötung eines seiner Verwandten oder Mitbürger; SEG 9,8 I. Bemerkenswerterweise ordnete Augustus überdies an, dass in jenen Fällen, in denen künftig ausschließlich Hellenen über Hellenen richten sollten, die Richter zudem aus einer anderen Polis herbeigeholt werden müssten – eine ziemlich eindeutige Anweisung des princeps, μετάπεμποι δικασταί einzusetzen, die in der Forschung bislang, soweit ich sehe, übersehen worden ist; SEG 9,8 IV. Alles in allem ist sehr gut möglich, dass sich hinter den Ereignissen in Kyrene, auf die Augustus reagierte, Staseis verbergen, auch wenn augenscheinlich nicht alle 215 betroffenen römischen Bürger Griechen waren.

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rascht es nicht, dass Plutarch die Anrufung auswärtiger Richter offenbar für ein ebenso verwerfliches Manöver hielt wie die direkte Involvierung der Römer: Beides waren in seinen Augen nur mehr Instrumente der Mächtigen, um ihren Willen durchzusetzen, Instrumente, die zudem die Autorität der Polisinstitutionen untergruben.186 Als Mittel zur Stasisvermeidung waren μετάπεμποι δικασταί spätestens in der Kaiserzeit offenbar kaum noch geeignet – und sie wurden auch nicht mehr benötigt: Diese Aufgabe oblag nun, wie erwähnt, den Statthaltern, die die pax Augusta zu gewährleisten hatten.187 3.2 Weitere Beilegungsversuche 3.2.1 Mytilene und die Makedonen Nicht in allen Fällen, in denen Inschriften von Versöhnungsversuchen berichten, wird eine Beteiligung Auswärtiger erwähnt. Das Beispiel von Mytilene, wo zwei Dekrete bezüglich der Rückführung von Verbannten überliefert sind,188 wurde hier dabei bereits kurz angesprochen.189 Trifft die insbesondere von Ian Worthington vertretene Frühdatierung zu, so hat man es mit einem seltenen Fall zu tun, in dem der Hintergrund der Inschrift durch literarische Quellen zumindest ein wenig erhellt wird: Mytilene hatte zwischen 334 und 332, wie bereits dargestellt, wiederholt den Hegemon gewechselt, wobei sich die außenpolitische Konstellation offenbar mit einer Stasis zwischen ‚Makedonenfreunden‘ und ‚Perserfreunden‘ verbunden hatte.190 Obwohl Letztere auf der schließlich unterlegenen Seite gestanden hatten, waren sie, wie Curtius Rufus berichtet, verschont worden, nachdem sie sich ergeben hatten;191 einzig Diogenes, der prominenteste Protagonist dieser Parteiung, war von Alexander etwas später an seine Mitbürger ausgeliefert worden, die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach als „Tyrann“ hinrichteten.192

186 αἰτία δὲ τούτου μάλιστα πλεονεξία καὶ φιλονικία τῶν πρώτων: ἢ γὰρ ἐν οἷς βλάπτουσι τοὺς ἐλάττονας ἐκβιάζονται φεύγειν τὴν πόλιν ἢ περὶ ὧν διαφέρονται πρὸς ἀλλήλους οὐκ ἀξιοῦντες ἐν τοῖς πολίταις ἔχειν ἔλαττον ἐπάγονται τοὺς κρείττονας: ἐκ τούτου δὲ καὶ βουλὴ καὶ δῆμος καὶ δικαστήρια καὶ ἀρχὴ πᾶσα τὴν ἐξουσίαν ἀπόλλυσι; Plut. Mor. 815a. – „Die Schuld hieran liegt vor allem bei der Habgier und Streitsucht der Vornehmen: Entweder bringen sie es in Fällen, in denen sie die Schwächeren unterdrücken, dazu, dass man die [Gerichte der] Polis vermeidet, oder sie ziehen in ihre Auseinandersetzungen die höhere Macht (d. h. Rom) hinein, weil sie sich den Bürgern nicht fügen wollen. Dies führt dazu, dass der Rat, der Demos, die Gerichte und die Beamten all ihr Ansehen verlieren.“ 187 Vgl. Meyer-Zwiffelhoffer 2002: 298–306. 188 SEG 36,752 (vgl. OGIS 2) und SEG 36,750. Die Datierungen schwanken, wie erwähnt, zwischen 334 und 324; vgl. Worthington 1990, Dössel 2003: 177 f., Dmitriev 2004: 357–360 und Lehmann 2015a: 106 f. 189 Vgl. zur Diskussion einführend Bencivenni 2003: 45–50, Dössel 2003: 165–178, deren Interpretation allerdings in mehreren Punkten von der hier vertretenen abweicht, Gray 2015: 80–87, der sich erkennbar schwer damit tut, den Text in sein Schema von „dikaiopolitischen“ und „nakonischen“ Versöhnungskonzepten einzufügen, sowie Lehmann 2015a: 101–109. 190 Gehrke 1985: 122 spricht von einem Konflikt zwischen Oligarchen und Demokraten. 191 Curt. Ruf. 4,5,24. 192 Arr. Anab. 3,2,7.

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Diese besonderen Umstände dürften erklären, wieso die Regelungen in auffälliger Weise um eine Gleichbehandlung der Rückkehrer – anscheinend handelt es sich um die ‚Makedonenfreunde‘ – und der in der Stadt Verbliebenen bemüht sind: Wahrscheinlich hatte es vor der Kapitulation Mytilenes eine Vereinbarung mit den makedonischen Belagerern gegeben, die den meisten ‚Perserfreunden‘ in der Polis Schonung zugesichert, aber zugleich natürlich die Rückführung der im Vorjahr verbannten φυγάδες gewährleistet haben muss. In dieser Situation war man gezwungen, sich zusammenzuraufen, zumal Alexander augenscheinlich eine entsprechende Willensbekundung abgegeben und offenbar sogar selbst über die konkret anzuwendende διάλυσις entschieden hatte ([ἐν τα]ῖς διαλυσίεσσι ταὶς ὀ βασίλευς ἐπέκριννε).193 Unter diesem Druck bildete man eine Kommission aus zwanzig διαλλακταί, wobei die Bürgerschaft jeweils zehn Männer aus den Reihen der zuvor Verbannten und ihrer Widersacher in der Stadt wählen sollte – ein Zeichen dafür, dass die wesentlichen Protagonisten beider Seiten allgemein bekannt waren, und mithin wohl auch dafür, dass es sich um prominente Angehörige der städtischen Elite gehandelt haben dürfte.194 Ihnen oblag es, tragfähige Lösungen auszuhandeln und dem δᾶμος zur Abstimmung vorzulegen.195 Das Gremium sollte ferner die Übertragung der zuvor enteigneten Besitztümer (κτήματα) an die Rückkehrer überwachen. Interessant sind dabei insbesondere die vorgesehenen Sanktionsmöglichkeiten: Sollte die paritätisch besetzte Kommission befinden, dass sich einer der Zurückgekehrten nicht an die Regelungen der διάλυσις gehalten habe, so sollte dieser den Anspruch auf seinen vormaligen Besitz verwirken, der dann wieder demjenigen übertragen werden müsse, der ihn während der Verbannung besessen habe. Umgekehrt scheint der beschädigte Beginn der Inschrift festgelegt zu haben, dass sich die βασιλεῖς – hier sind städtische Amtsträger gemeint – dann, wenn sich ein in der Polis verbliebener Bürger schuldig machen und gegen die Aussöhnung verstoßen sollte, auf die Seite des Rückkehrers zu stellen hätten. Was ist darunter zu verstehen? Eine stark zerstörte und daher unverständliche Textpassage erwähnt Gelder (χρήματα).196 Denkbar ist zwar, dass hier von beweglichem Vermögen die Rede war, das ebenfalls Bestandteil der διάλυσις sein 193 SEG 36,752, Z. 28. 194 Es ist gut möglich, dass die Bildung der Kommission auf besonderen Wunsch der ‚Makedonenfreunde‘ erfolgte – derlei ist jedenfalls für Phleius bezeugt, wo etwa ein halbes Jahrhundert zuvor φυγάδες auf ähnliche Weise in die Bürgerschaft reintegriert werden sollten: Dort forderten die „Dagebliebenen“ laut Xenophon zunächst, dass die Gerichte der Polis über die Angelegenheiten entscheiden sollten, deren Neutralität die Verbannten aber anzweifelten; Xen. Hell. 5,3,10. Erst nach weiteren Auseinandersetzungen und auf äußeren Druck durch Agesilaos bildete man schließlich eine Kommission aus je fünfzig Vertretern beider Seiten; Xen. Hell. 5,3,25. Vgl. zu den Vorgängen in Phleius Gehrke 1985: 129 f. und Gray 2015: 205–215. 195 SEG 36,752 spricht davon, die Zwanzig sollten dem Volk all das vorlegen, worüber sie sich untereinander zu verständigen vermochten (περὶ τούτων πάντων ὄσσα κε ὀμο[λογέωισι πρὸς ἀλλάλο]ις, Z. 32 f.). Vgl. Dössel 2003, die in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass Mytilene bereits seit längerer Zeit von Staseis geplagt worden war: „Innerhalb weniger Jahre dürften durch die häufigen Konfiskationen, Verkäufe, Rückerstattungen und erneuten Konfiskationen die Besitzverhältnisse in der Stadt sehr in Unordnung geraten sein“ (165). 196 SEG 36,752, Z. 30 f.

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3. Die lokale Überlieferung

sollte.197 Wahrscheinlicher aber war Geld bereitgestellt worden – mutmaßlich vom makedonischen König –,198 um die zwischenzeitlichen Besitzer zu entschädigen;199 und in diesem Fall wäre naheliegend, welche Sanktionen denjenigen „Dagebliebenen“ drohten, die sich nicht an den Frieden mit den Rückkehrern hielten: Sie verwirkten ihren Anspruch auf die Entschädigung. Wenn diese Interpretation zutrifft, so könnte hier eine Art Präzedenzfall geschaffen worden sein, an dem man sich auch später orientierte, wenn hellenistische Monarchen als ‚Sponsoren‘ eines Versöhnungsversuchs auftraten: Das Verfahren auf Lesbos wäre dann nicht weit entfernt gewesen von dem, das Aratos später in Sikyon anwandte.200 Wie wenig man in Mytilene der beschworenen Eintracht traute,201 belegen überdies das Klageverbot202 hinsichtlich „dieser Dinge“ – was genau vorgefallen war, verschweigt die Inschrift wie üblich – und der nicht überlieferte Bürgereid, der geschworen werden sollte.203 Bemerkenswert ist ferner ein zweiter Volksbeschluss,204 der offenbar wenig später eine Präzisierung vornahm, die allem Anschein nach erforderlich geworden war: Grundsätzlich sei auf jene, die in einem gesetzmäßigen Verfahren zu Verbannung oder Tod verurteilt worden seien, das Gesetz (νόμος) anzuwenden, nur nicht auf diejenigen, die während der Prytanie des Ditas, Sohn des Saonymos, geächtet, verbannt oder getötet worden seien.205 Offensichtlich war eine Nachbesserung des ursprünglichen Pse197 So interpretieren etwa Dössel 2003: 168, die χρήματα mit „mobilem Vermögen“ übersetzt, und Lehmann 2015a: 108, der von „Geldmitteln“ spricht, die Passage. 198 Lehmann 2015a: 105 hat im Rahmen seiner Diskussion der Datierung der Inschriften auf eine oft übersehene Notiz bei Curtius Rufus (4,8,34) hingewiesen, der berichtet, Alexander habe im Frühjahr 331 einer Gesandtschaft aus Mytilene aufgrund der ihm erwiesenen Treue die Kriegskosten erstattet. Falls sich hinter dieser Zahlung die χρήματα der Inschrift verbergen sollten, spräche dies für eine Datierung des Volksbeschlusses auf den Sommer 331. 199 Für diese meines Erachtens plausiblere Lesart, die bereits Heisserer – Hodot 1986 vorgeschlagen hatten, entscheiden sich auch Rhodes – Osborne 2003: 428, wenn sie καὶ περὶ χρημάτων [ὠς ἔσται εἰς τὸ θέσ]θαι ταὶς διαλύσις ὠς πλεῖστα ergänzen. 200 Plut. Arat. 13,4–14,2. 201 Vgl. auch Gray 2015: „These provisions suggest that their authors were far from certain that competing citizens could be fully reconciled“ (83). Vgl. auch Dössel 2003: 167. 202 SEG 36,752, Z. 11 f. 203 Ein ganz ähnliches Verfahren ist auch für Erythrai bezeugt (I.Erythrai 10), was vielleicht ein Indiz für die Existenz vergleichbarer Vorgaben von makedonischer Seite ist. Die stark beschädigte Inschrift scheint überdies festgelegt zu haben, dass die Verbannungsurteile über Rückkehrer in ihrer Anwesenheit aufgehoben werden sollten. Auf die vorangegangene Stasis verweist wohl ein Ehrendekret für einen gewissen Phanes, der eine Attacke auf die Akropolis finanziell unterstützt habe; I.Erythrai 21. 204 SEG 36,750. Heisserer – Hodot 1986 nehmen an, dieses Psephisma sei zeitlich vor SEG 36,752 anzusetzen, da es mit der allgemeinen Festlegung auf eine demokratische Verfassung beginnt, die die Voraussetzung für alles weitere gewesen sei. Diese Argumentation überzeugt nicht, da die Formel οἱ πόλιται οἴκειεν τὰμ πόλιν ἐν δαμοκρασίαι ohne weiteres als bloße Rhetorik erklärbar ist und nicht mit einer objektiven Zustandsbeschreibung verwechselt werden darf; vgl. auch Dössel 2003: 171 f. Es ist durchaus möglich, dass sich die Polis Mytilene sogar unter achaimenidischer Dominanz als Demokratie verstanden hatte, unabhängig von den tatsächlichen Machtverhältnissen. (Vgl. zur achaimenidischen Monarchie zusammenfassend Rollinger 2017.) 205 SEG 36,350, Z. 14–21. Das Inschriftenfragment bricht an der entscheidenden Stelle ab, doch aus dem Kontext ergibt sich, dass es grundsätzlich darum gegangen sein muss, die Urteile, die während der besagten Prytanie gefällt und vollstreckt wurden, als unrechtmäßig aufzuheben. Ich verstehe hier κὰτ τὸν νόμον im Sinne von „nach geltendem Recht“ – es ging gerade darum, deutlich zu machen, dass dieses

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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phismas erforderlich geworden, die präzisierte, für welche φυγάδες die von Alexander verfügte Regelung gelten sollte – anscheinend hatten auch Personen, die nicht im Zusammenhang der Stasis von 334 bis 332 verbannt worden waren, versucht, Ansprüche anzumelden. Daher musste der Demos klarstellen, dass keineswegs eine allgemeine ἀμνηστία erlassen worden war, sondern lediglich die Folgen eines ganz konkreten Ereignisses bereinigt werden sollten.206 Akzeptiert man die Annahme, dass die Dekrete in den Kontext des Jahres 332/1 gehören, so liegt auf der Hand, was während der Prytanie des Ditas geschehen war: Mit achaimenidischer Hilfe207 hatten die 334 verbannten ‚Perserfreunde‘ um Diogenes im Jahr 333 die Kontrolle über Mytilene übernommen und ihre Gegenspieler getötet oder verbannt.208 Nur für diese Männer, die sich auf Anweisung Alexanders mit ihren zurückgekehrten Feinden, die sich an die Makedonen angelehnt hatten, versöhnen sollten, galt demnach die διάλυσις.209 Doch selbst wenn diese historische Einordnung in die Irre gehen und gar kein Zusammenhang mit den Ereignissen zwischen 334 und 332 bestehen sollte, steht eines fest: Die konkrete Eingrenzung der betroffenen Personen auf die während der Prytanie des Ditas Verurteilten dokumentiert, dass die Versöhnungsmaßnahmen eine Reaktion auf eine zeitlich genau definierte Phase eines ganz bestimmten Konflikts, einer Stasis, darstellten, deren überlebende Opfer nun reintegriert werden sollten, ohne zugleich die damaligen Sieger und späteren Verlierer zu bestrafen. Da ein erheblicher Teil des δᾶμος

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grundsätzlich weiterhin galt. Auch Gray 2015 gelangt zu dieser Interpretation: „It distinguishes between those exiled after a legal judgement and those exiled by some other means in a particular year, excluding the former group from its provisions“ (80). Diese Passage spricht meines Erachtens gegen die Vermutung, die Dekrete stünden im Zusammenhang mit dem Verbanntendekret von 324, das nur jene, die „verflucht“ (ἐναγής) waren – also wohl Mörder und Tempelräuber –, von der Amnestie ausnahm (Diod. 18,8,4). Vgl. dagegen Gehrke 1985: 122, der auf Alexanders Regelung für Chios (Syll.3 283) verweist, die die Verbannung der ‚Perserfreunde‘ vorsah (vgl. Dmitriev 2004: 362–366 und Teegarden 2014: 121 f.), und annimmt, mit Mytilene sei der König 332 ähnlich verfahren. Allerdings kann man Curtius Rufus (4,5,23) entnehmen, dass sich in Chios die ‚Makedonenfreunde‘ bereits gewaltsam durchgesetzt hatten, als die Stadt dank ihrer Hilfe fiel; die Konstellation war also eine ganz andere als in Mytilene: Die Inschrift aus Chios ist eine Dokumentation des Sieges, nicht des Vergleichs. Laut Arrian hatten die Perser unter Pharnabazos die Stadt nicht im Sturm genommen, sondern eine Vereinbarung mit den Verteidigern getroffen: Die im Jahr zuvor Verbannten sollten lediglich die Hälfte ihres Besitzes zurückerhalten. Anschließend hätten sich Pharnabazos und Diogenes aber nicht an diese Vereinbarung gehalten; Arr. Anab. 2,1,4 f. Unklar ist, wie chaotisch dieser Vorgang ablief. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass man alle ‚Makedonenfreunde‘ tötete, derer man habhaft wurde, während man jene, denen die Flucht gelang, in absentia enteignete und mit Atimie belegte; vgl. Gehrke 1985: „Der Rechtsakt kann der eigentlichen Entfernung vorausgehen und diese bedingen, oder er folgt auf eine Flucht oder Vertreibung und jurifiziert diese nachträglich in Abwesenheit des Delinquenten, was der Regelfall gewesen sein dürfte“ (221). – Verbannungen und Deportationen waren den Achaimeniden übrigens keineswegs unbekannt. Gut denkbar ist, dass bereits ein erheblicher Teil der Fälle, die vor 334 das persisch beherrschte Westkleinasien betrafen (vgl. Briant 2002: 505 f.), auf Staseis verweist. Vgl. Dössel 2003: „Die Rückkehrer sind nicht als eine homogene Gruppe mit einheitlichen Auffassungen und Interessen aufzufassen“ (169). Vgl. auch O’Neil 2000: „Alexander was changing the law, but not altering the conceptions of justice. Political exiles could have been recalled by their own communities, but Alexander annexed that right to himself. However, he did not recall those exiled for murder or sacrilege, which would have overturned Greek ideas of what was right“ (430).

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3. Die lokale Überlieferung

in die Konflikte offensichtlich nicht direkt involviert gewesen war, oblag es ihm, die dabei getroffenen Vereinbarungen zu autorisieren.210 Er erscheint damit als der – sit venia verbo – eigentliche Souverän211 von Mytilene. 3.2.2 Amnestie in Dikaia Eine solche prominente Rolle des Demos ist auch durch eine der mittlerweile bekanntesten Inschriften, die sich mit der Beilegung einer Stasis beschäftigen, bezeugt, die an dieser Stelle Erwähnung verdient, obwohl sie rein chronologisch eher der späten Klassik als dem Hellenismus zuzurechnen ist: Um das Jahr 360 v. Chr.212 errichtete man in der kleinen Polis Dikaia auf der Chalkidike eine Stele mit einem bemerkenswerten Text,213 die 2001 entdeckt und 2007 erstmals publiziert wurde. Die Inschrift zog rasch erhebliches Forschungsinteresse auf sich.214 Die Konstellation, die sich ihr entnehmen lässt, entspricht dabei grundsätzlich jener, die auch für viele hellenistische Staseis charakteristisch ist, weshalb es gerechtfertigt erscheint, den Fall von Dikaia in diese Untersuchung einzubeziehen; denn die Polis befand sich offenkundig im Machtbereich eines makedonischen Königs: Der Argeade Perdikkas III., Bruder Philipps II. und Herrscher von 365 bis 359,215 wird in der Inschrift ausdrücklich als Garantiemacht der Versöhnungsvereinbarung benannt: Jene, die den Bürgereid brechen sollten, solle er entweder selbst töten oder es den Dikaiopoliten gestatten, sie zu ergreifen, falls sie in das von ihm beherrschte Gebiet fliehen sollten.216 Die Inschrift bietet ein Dossier aus vier Psephismata und dem abschließenden Eid; eingebracht wurden sie von einem gewissen Lykios sowie einer unbekannten Zahl von ungenannten συναλλακταί. Über diese wüsste man gerne mehr: Wer hatte sie eingesetzt, der Demos von Dikaia oder Perdikkas?217 Waren sie Bürger der Polis oder Auswärtige?218 Für Letzteres spricht der Umstand, dass ausdrücklich nur Lykios damit betraut wurde, 210 Dössel 2003: 166 spricht treffend davon, die Polis sei in die Vorgänge „als quasi dritte Kraft involviert“ gewesen. 211 Vgl. Davies 1994. 212 Driscoll 2016: 127 verweist darauf, dass der im Text erwähnte Perdikkas im Jahr 364 militärisch in der Region aktiv war, und hält daher eine Datierung der Inschrift auf diese Zeit für wahrscheinlich. Zwingend ist dieses Argument aber nicht. 213 SEG 57,576. Ich folge hier der revidierten Edition bei Driscoll 2016: 122–124. 214 Vgl. insbesondere Voutiras 2008, Gray 2013a, Gray 2015: 41–57, Scharff 2016a und Driscoll 2016. 215 Vgl. Voutiras 2008: 784. Vgl. zu Perdikkas zuletzt Müller 2016: 229–234. 216 SEG 57,576, Z. 21–28. Wie stark der Einfluss des makedonischen Königs auf die Polis war, lässt sich allerdings kaum mit Gewissheit sagen. Raynor 2016 hält die Macht der Argeaden vor dem Regierungsantritt Philipps II. für gering, ihr Reich sei „neither large nor powerful“ gewesen: „The free rein given to Dikaian citizens who encounter a Dikaian oath breaker within Macedonia paints a weak picture of Perdikkas’ personal authority in his kingdom“ (242). 217 Vgl. zur Beziehung zwischen den griechischen Poleis der Chalkidike und den makedonischen Königen den Überblick bei Psoma 2011a, deren Annahme, Perdikkas habe in Diakaia selbst als συναλλακτής agiert (130), von der Quelle allerdings nicht gestützt wird. 218 Gray 2015: 49 stellt beiläufig fest, es könne sich bei den Vermittlern entweder um Dikaiopoliten oder um Auswärtige handeln, ohne die Frage weiter zu diskutieren.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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die Anträge vor das Volk zu bringen; dagegen spricht das Fehlen eines dankenden Hinweises auf die Herkunft der συναλλακταί, so dass die Frage, ob man es hier mit einem sehr frühen Beleg für μετάπεμποι διαλλακταί zu tun hat, bis auf weiteres offen bleiben muss.219 Dass es in Dikaia zu einer gewaltsamen Stasis gekommen war, ist hingegen unverkennbar: Ein Teil der Bürger war exiliert worden oder zumindest aus der Stadt geflohen (φυγόντες).220 Der erste Volksbeschluss legt überdies fest, alle anhängigen Mordprozesse müssten bis zu einem bestimmten Datum, dem 26. Tag des Monats Daphnephorion unter dem Archontat des Gorgythos, verhandelt werden;221 wer danach eine solche Anklage erhebe – oder aber eine hinsichtlich der sonstigen Dinge, wegen der zu prozessieren die Volksversammlung gänzlich untersagt habe, da sie ἀπόκλετα seien –, der solle enteignet und verbannt werden sowie der Atimie verfallen.222 Offensichtlich war es also zu tödlicher Gewalt gekommen, die nicht grundsätzlich ungesühnt bleiben sollte, sofern die vorgegebene Frist eingehalten wurde – im Gegensatz zu den übrigen Vorkommnissen, die gar nicht mehr vor Gericht gebracht werden durften. Worum es in dem Konflikt konkret ging, wird natürlich auch im Falle der Dikaiopoliten nicht ausgeführt; auffällig ist allerdings, dass die verfeindeten Parteien hier ausdrücklich über ihren jeweiligen Anführer definiert werden: Das erste Psephisma verbietet es einem gewissen Demarchos und seinen Anhängern, die gemeinsam mit ihm zu φυγόντες geworden waren (Δήμ[αρχο]ς ἢ οἱ μετὰ Δημάρχου φυγόντες, Z. 36 f.), wegen der vor dem Stichtag vorgefallenen Dinge Anklage gegen die Parteiung um Xenophon (Ξενοφῶν ἢ ο[ἱ] μετὰ Ξενοφῶνος, Z. 37 f.) zu erheben, und umgekehrt sollte dies ebenfalls gelten; andernfalls drohte die Enteignung. Offensichtlich war also die Rückkehr der φυγάδες vorgesehen. Die Etikettierung der Konfliktparteien über besonders prominente Protagonisten oder στασίαρχοι ist, wie bereits erläutert, vor allem aus den literarischen Quellen wohlvertraut; die Inschrift aus Dikaia belegt nun, dass diese Praxis auch unter den unmittelbar Beteiligten verbreitet war. Dass man es hier mit Hetairien zu tun hat, die sich um aristokratische Anführer scharten,223 ist 219 In den jüngeren Diskussionen zur Genese der ξενικὰ δικαστήρια scheint der Fall bislang, soweit ich sehe, keine Rolle zu spielen. Dass der Text einerseits die wichtige Rolle der συναλλακταί durch ihre prominente Erwähnung betont, andererseits aber keinerlei näheren Informationen bietet – nicht einmal die Anzahl der Beteiligten –, könnte man vielleicht als Indiz für Unbehagen deuten. Ein solches ließe sich gut erklären, wenn es sich um Beauftragte des makedonischen Königs und mithin um ein allzu deutliches Zeichen für eine äußere Intervention in die inneren Angelegenheiten der Polis handelte. Denkbar ist sogar, dass sie keine Griechen, sondern Makedonen waren, was jedenfalls erklären würde, wieso man ihre Namen und Herkunft lieber unter den Tisch fallen ließ. Folgt man dieser Arbeitshypothese, so könnte es sich bei Lykios um einen φίλος der Argeaden gehandelt haben, der als eine Art Verbindungsmann zwischen den Makedonen und Dikaia fungierte. Es versteht sich aber, dass diese Überlegungen bis auf weiteres hochspekulativ sind. 220 SEG 57,576, Z. 36 f. 221 Gray 2015: 45 zieht in Erwägung, die fragliche Passage dahingehend zu verstehen, dass bis zum Stichtag lediglich die bereits vorgebrachten Mordanklagen verhandelt, aber keine neuen mehr angenommen werden sollten. 222 SEG 57,576, Z. 30–36. 223 Vgl. Driscoll 2016: 129: „Perhaps, then, the two parties were small and well known to the population at large“ (129).

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3. Die lokale Überlieferung

keineswegs unwahrscheinlich, wird aber durch die Quelle auch nicht zweifelsfrei bezeugt.224 In den drei folgenden Volksbeschlüssen wird sodann auf konkrete Einzelfälle eingegangen, die offenbar mit dem Hauptkonflikt zwischen Xenophon und Demarchos zusammenhingen, aber einer gesonderten Behandlung bedurften: Zunächst wird für Epikrates, Argaios und die Söhne eines gewissen Hieron eine Sonderregelung mit einer eigenen Frist festgelegt; der Zweck ist nicht ganz klar, aber Eric Driscolls Interpretation, derzufolge die Betroffenen zunächst untereinander eine Versöhnung anstreben sollten, erscheint plausibel.225 Klarer erscheint der Sinn des dritten Psephismas, das die teilweise abwesenden – also wohl geflüchteten oder verbannten – Söhne von Hermippos, Epicharis und Demopheles auffordert, sich rituell zu reinigen, dann ebenfalls den Bürgereid abzulegen und ansonsten nichts zu unternehmen, was der schriftlichen Vereinbarung widersprechen würde (παραβῇ τῶν γεγραμμένων). Dass die Betroffenen nicht selbst namentlich genannt, sondern über ihre Väter definiert werden, legt den Schluss nahe, dass es sich um sämtliche Söhne von drei während der Stasis getöteten Männern handelte, denen auf diese Weise die Blutrache untersagt werden sollte.226 Und schließlich werden im vierten Volksbeschluss Daphnon und Kephisodoros herausgegriffen, die von Versöhnung und Amnestie zunächst ausgenommen zu sein scheinen: Nur für den Fall, dass sie vor Gericht freigesprochen werden sollten,227 solle es ihnen gestattet sein, ihrerseits den Eid abzulegen und also wieder in den Kreis der Dikaiopoliten aufgenommen zu werden.228 Ob es sich bei ihnen um diejenigen handelte, denen man den Tod von Hermippos, Epicharis und Demopheles anlastete, ist ungewiss; im Gesamtkontext der Inschrift liegt die Vermutung aber nahe.229 224 Driscoll 2016: 128 konstatiert mit Recht, dass keine der Parteien als „demokratisch“ oder „oligarchisch“ gekennzeichnet wird. Dies ist meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass es sich tatsächlich um eine Versöhnungsinschrift handelt, in der Kampfbegriffe wie „Oligarchen“ und „Tyrannen“ keinen Platz hatten. Der abschließende Eid enthält lediglich die Verpflichtung, an der überkommenen πολιτεία festzuhalten (Z. 68 f.). 225 SEG 57,576, Z. 45–52. Vgl. Driscoll 2016: 130. 226 SEG 57,576, Z. 52–61. Trifft diese Vermutung zu, so ist dies übrigens ein auffälliger Unterschied zum drakonischen Gesetz über Totschlag (Syll.3 111), das vorsah, Väter, Brüder und Söhne eines Getöteten hätten jeweils das Recht, gegen eine gerichtlichen Einigung und Aussöhnung Widerspruch zu erheben, und also den Anspruch der Verwandten ersten und zweiten Grades auf Blutrache im archaischen Athen noch nicht antastete. 227 Der Gesamtzusammenhang legt nahe, dass man den beiden Männern besonders gravierende Tötungsdelikte vorwarf und sicherstellen wollte, dass sie sich auch dann vor Gericht verantworten müssten, wenn bis zum Stichtag kein Bürger Klage gegen sie erheben sollte. Gewissheit lässt sich in diesem Punkt allerdings nicht mehr erlangen. 228 SEG 57,576, Z. 61–67. Driscoll 2016: 131 verweist in diesem Zusammenhang auf die athenischen Amnestiebestimmungen von 403, die ebenfalls Ausnahmen enthielten (Ath. Pol. 39,6), als mutmaßliche Parallele. Diese betrafen allerdings Personen, die sich während der Oligarchie besonders exponiert hatten; es ist nicht erkennbar, dass dies auch auf Daphnon und Kephisodoros zutrifft. 229 Gray 2015: 49 geht im Rahmen seiner Analyse hingegen davon aus, es habe sich bei den Männern um „identified stasis ringleaders“ gehandelt. Das erscheint allerdings wenig überzeugend – wäre es darum gegangen, die Anführer einer gesonderten Behandlung zu unterziehen, so hätte diese Maßnahme auch Demarchos und Xenophon betreffen müssen, die ja explizit als die Hauptprotagonisten beider Seiten gekennzeichnet werden.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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Der Bürgereid, der das Dossier, wie erwähnt, abschließt,230 enthält dann die Bestimmung, Fremde weder gegen die Gemeinschaft der Dikaiopoliten noch gegen einzelne Privatleute herbeizurufen (οὐδὲ ξένους εἰσδέξομαι ἐπὶ βλάβηι τοῦ κοινοῦ τοῦ Δικαιοπολιτέων ούδὲ ἰδιώτεω οὐδὲ ἑνός, Z. 69 f.). Hierbei mag es sich um eine Floskel handeln; es könnte sich dahinter aber auch ein Hinweis darauf verbergen, dass genau dies während der vorangegangenen Stasis geschehen war oder zu geschehen drohte, weshalb wohl insbesondere Perdikkas III. und seine Parteigänger in der Stadt Wert darauf legten, eine Intervention Dritter zu vermeiden. Die Antwort auf die Frage, ob es für Dikaia damals eine realistische außenpolitische Alternative zur makedonischen Hegemonie gegeben und worin diese bestanden hätte, hängt dabei nicht zuletzt von der Datierung der Inschrift ab.231 Ferner enthält der Eid die charakteristische Amnesieformel (καὶ οὐ μνησικακήσω οὐδενὶ οὔτ¢[ε] λόγωι οὔτε ἔργωι, Z. 70 f.) sowie die Verpflichtung, niemanden wegen der vergangenen Vorfälle zu töten, zu verbannen oder zu enteignen, während man umgekehrt jeden, der den Eid brechen und das Übel dennoch in Erinnerung rufen sollte, eigenhändig von den Altären reißen solle.232 Bemerkenswert ist überdies, dass der Bürgereid jeden gegenteiligen Schwur, den man eventuell geleistet habe, ersetzen sollte,233 und dass man sich ausdrücklich verpflichtete, die Urteile zu achten, die die Gerichte der Polis fällten – was sich als Hinweis darauf lesen lässt, dass dies in der Vergangenheit nicht immer der Fall gewesen war.234 Angerufen wurden dabei Zeus, Gaia, Helios, Poseidon und Apollon, die die Eidbrüchigen hart strafen, die übrigen aber belohnen sollten. Von Apollon sollte dabei jeder Bürger nach der Eidesleistung ein Pfand (παραθήκη)235 erhalten.236 Im Mittelpunkt der Regelungen von Dikaia steht mithin der Umgang mit den vor dem Archontat des Gorgythos erfolgten Tötungen,237 wobei diese, wie gesagt, von der 230 Das Ablegen des Eides war verpflichtend; wer ihn verweigerte, sollte ἄτιμος sein und zugunsten des Apollonheiligtums enteignet werden; SEG 57,576, Z. 17–21. 231 Während Perdikkas anfangs, wie erwähnt, mit Athen verbündet war, kam es seit etwa 362 zu einem makedonisch-attischen Konflikt, in dessen Zusammenhang die Athener unter anderem Methone und Pydna eroberten; vgl. Errington 1986: 41. Es ist denkbar, dass die Stasis in Dikaia vor diesem Hintergrund zu verstehen ist. Psoma 2011b vermutet hingegen einen ursächlichen Zusammenhang mit den Kämpfen zwischen Olynth und Athen. Vgl. Psoma 2011a: „It may have been this war that divided the people of Dikaia into two factions“ (130). 232 Vgl. hierzu Chaniotis 2013a: „Der Eid ist stärker als jeder andere Eid; er ist sogar stärker als das Asylrecht. Denn wer die ‚Amnestie‘ bricht, dem können nicht einmal mehr die Altäre der Götter Schutz gewähren“ (65). 233 Chaniotis 2013a erklärt dies mit einer „Normenhierarchie“ (65). Überdies dürfte es sich um einen Hinweis darauf handeln, dass man davon ausging, dass sich die Mitglieder der Stasisparteiungen durch Eide miteinander verschworen hatten. 234 SEG 57,576, Z. 73–84. 235 Die Bedeutung von παραθήκη ist in diesem Kontext nicht ganz klar. Voutiras 2008: 792 interpretiert es als „dépôt“, Gray 2015: 47 als „deposit“ und Driscoll 2016: 126 als „token“. 236 Der Kult des Apollon Daphnephoros hatte für Dikaia offensichtlich eine herausragende Bedeutung; vgl. Voutiras 2008: 785 f. Vgl. zu den religiösen Sanktionen auch die Beobachtungen bei Scharff 2016a. 237 Gray 2015 konstatiert wohl mit Recht, „the archonship of Gorgythos was almost certainly the current archonship“ (49).

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3. Die lokale Überlieferung

allgemeinen Amnestie ausgenommen sein sollten. Morde pauschal ungesühnt zu lassen, erschien den Dikaipoliten offenbar unstatthaft oder unmöglich, weshalb sie das nicht unerhebliche Risiko eingingen, die Fälle vor Gericht zu bringen,238 obwohl derartige Prozesse die mühsam ausgehandelte Versöhnung ihrerseits bedrohen mussten: Anscheinend glaubte man eine ungeordnete Blutrache, die leicht zu einer neuen Eskalation führen konnte, nur so verhindern zu können, und war überdies der Ansicht, dass die πολιτικὰ δικαστήρια hinreichende Legitimität besäßen, um die bis zum Stichtag vorgebrachten Mordanklagen zu verhandeln, ohne eine neue Stasis auszulösen. Die Inschrift dokumentiert mithin zum einen die besondere Qualität tödlicher Gewalt und stellt zum anderen nicht etwa, wie spätere Beispiele, die Schlichtung in den Mittelpunkt, sondern betont die Rolle von regulären Gerichtsverfahren für die Regelung von Konflikten. Der überaus heikle Umgang mit Tötungsdelikten sollte wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden – letztlich zwar faktisch auch durch den Rekurs auf die Macht des makedonischen Königs, ostentativ aber vor allem durch das Agieren der Polis und ihrer Gerichte.239 Was hingegen in der ansonsten so detaillierten Inschrift vollständig fehlt, sind auffälligerweise Regelungen zur Restitution der φυγόντες.240 Dies ergibt eigentlich nur dann Sinn, wenn diejenigen, die sich zusammen mit Demarchos im Exil befanden, noch nicht enteignet oder ihre Besitztümer zumindest noch nicht anderen Bürgern übertragen worden waren; andernfalls wäre der Verzicht auf die Behandlung dieses Problems zumindest überaus fahrlässig und kurzsichtig gewesen. Dies könnte ein Indiz für eine erst kurz zuvor eskalierte Stasis sein, deren materielle Konsequenzen noch leicht rückgängig zu machen waren und eine Befriedung der Polis daher nicht zu behindern schienen. Die φυγόντες waren mutmaßlich zwar geflohen, aber noch nicht regelrecht verbannt worden;241 wichtiger war es daher offenbar, die Hindernisse, die ihrer Rückkehr und Reintegration im Wege standen, aus dem Weg zu räumen – und das bedeutete konkret, private Rache zu unterbinden.242 Den Dikaiopoliten und den συναλλακταί um Lykios ging es offensichtlich darum, die weitere Eskalation einer Stasis, die bereits Todesopfer gefordert hatte, zu verhindern, und dies dürfte, wie gesagt, auch im Interesse der Makedonen gelegen 238 Vgl. auch Gray 2015: „The Dikaiopolitans were aware of the boldness of allowing murder suits in the first place, and the risks which doing so posed“ (49). 239 Gray 2015: 49–55 entwickelt ausgehend von dieser Inschrift seine Hypothese, hier lasse sich eine bestimmte Konzeption der Polis besonders paradigmatisch greifen, die von den Bürgern als an Normen gebundene, egoistisch agierende Vertragspartnern ausgehe und der damit eine grundsätzlich andere, weitaus weniger idealistische Vorstellung zugrunde liege als den hier bereits vorgestellten Regelungen aus Nakone. 240 Dies widerspricht der „evident determination to foresee every possible obstacle“, die Driscoll 2016: 131 an der Inschrift beobachtet. 241 Denkbar ist auch, dass der Besitz der φυγόντες dem Apollonheiligtum übertragen worden war, so wie es die Inschrift jenen androht, die den Bürgereid verweigern sollten (SEG 57,576, Z. 17–21), und daher relativ problemlos zurückgegeben werden konnte. 242 Dies war eine nicht zu unterschätzende Hürde. Vgl. zum Problem der Rache bei den Griechen die grundlegenden Überlegungen bei Gehrke 1987, der vor allem auf die Schwierigkeit hinweist, die ein Verzicht auf τιμωρία normalerweise mit sich brachte: „Der Verzicht auf Rache bringt seinerseits Schande, und das bedeutet ganz konkret, in einer Gesellschaft, in der die Ehre nahezu total in der sozialen Geltung eines Menschen beruhte, verachtet, ja ausgelacht zu werden“ (135).

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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haben, die keine weitere Destabilisierung der Polis wünschen konnten. Bemerkenswerterweise vermied Perdikkas III., soweit es die Quelle erkennen lässt, dabei allerdings eine eindeutige Parteinahme zugunsten einer Seite.243 Gemeinsam mit der den Regelungen zugrundeliegenden grundsätzlichen Reziprozität ist dies ein Indiz dafür, dass keine der beiden Parteiungen die Polis zu dominieren vermochte, weshalb der Demos hier ähnlich wie einige Jahre später in Mytilene als ein demonstrativ neutraler Akteur auftreten konnte, der die Streitenden zum Frieden zu zwingen suchte. Die Volksbeschlüsse von Dikaia lassen sich mithin als ein durchaus optimistisches Zeugnis für ein Vertrauen in die grundsätzliche Handlungsfähigkeit der Polis und ihrer Institutionen lesen.244 3.2.3 Versöhnung? Das Beispiel Alipheira Ging es den Dikaiopoliten um 360 also vor allem darum, die Gewaltspirale zu durchbrechen, die durch ein unbekanntes Ereignis ausgelöst worden war, so stand bei einem Befriedungsversuch im arkadischen Alipheira, der aller Wahrscheinlichkeit nach in das Jahr 273 gehört, zumindest auf den ersten Blick eben dieser Anlass im Mittelpunkt: Nebst einer Amnestie wurde hier vor allem ein Schuldenerlass (χρεῶν ἀποκοπή) beschlossen.245 Dies ist ein seltener Fall, in dem sich im epigraphischen Material die tatsächliche Umsetzung dieser Maßnahme, die in den literarischen Quellen zur hellenistischen Stasis eine so prominente Rolle spielt, greifen lässt. Schon allein aus diesem Grund verdient die Inschrift – offenbar ein Volksbeschluss – eine nähere Betrachtung. Gleich zu Beginn spricht der Text dabei eine auswärtige Intervention an – Kleonymos habe die Garnison des Aristolaos sowie eine als πειρατάς bezeichnete Gruppe (τὰν πρωρὰν τὰν Ἀριστολάω¢ καὶ τὸς πειρατὰς) aus Alipheira entfernt und der Polis so die Freiheit wiedergegeben.246 Bei diesem nicht näher gekennzeichneten Kleonymos scheint es 243 Instruktiv ist in diesem Kontext ein Vergleich mit dem Vorgehen, das man wenig später in Amphipolis wählte, wo nach der Unterwerfung der Stadt unter die Makedonen im Jahr 357 Philon und Stratokles mit ihren Familien verbannt, enteignet und für vogelfrei erklärt wurden; Syll.3 194. Unklar ist dabei, ob die beiden Männer auf Wunsch Philipps II. verbannt wurden, wie man zumeist annimmt (vgl. Seibert 1979: 133 f. und Worthington 2008: 42), oder ob die Initiative vielmehr auf ihre Feinde in Amphipolis zurückging, was in meinen Augen mindestens ebenso wahrscheinlich ist – zumal die Makedonen offenbar von einer Partei in der Stadt unterstützt worden waren; vgl. Gehrke 1985: 21. Dass die Inschrift wirklich in den Zusammenhang der Einnahme von Amphipolis gehört, ist zwar nicht ganz sicher (vgl. Rhodes – Osborne 2003: 244); eine Verbannung von ‚Makedonenfeinden‘ bezeugt allerdings auch Diodor (16,8,2). 244 Man kann sich hier an die Verhältnisse im spätklassischen Athen erinnert fühlen, die den Dikaiopoliten durchaus vor Augen gestanden haben könnten. Dort war es im 4. Jahrhundert gelungen, die Gewalt unter Bürgern zumindest zeitweilig zu zügeln, indem man das Problem an die Volksgerichte delegierte; vgl. Flaig 2006: 33–38. Demosthenes konnte um 348 v. Chr. sogar die Vorstellung einer ὑπερβολὴ τῆς τιμωρίας formulieren; Demosth. or. 21,75. Vgl. auch Herman 1995 und Kurihara 2003. 245 Ich folge der Edition IP Ark 24; vgl. auch SEG 25,447. Vgl. neben der gründlichen Diskussion bei Dössel 2003: 225–234 auch Rubinstein 2013: 142–147, die allerdings beide teils zu anderen Ergebnissen als den im Folgenden vorgestellten gelangen. 246 Dabei ist zu beachten, dass hier keineswegs Seeräuber gemeint sein müssen. Das Wort πειρατής wurde auf ähnliche Weise verwendet wie λῃστής und konnte also ganz allgemein auch einen Kämpfer bezeichnen, dessen Legitimität man bestritt; vgl. de Souza 1999: 2–9. Um einen Piraten im engeren Sinne (vgl.

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3. Die lokale Überlieferung

sich nach heute vorherrschender Ansicht um jenen Agiaden zu handeln, der sich um 278 Pyrrhos angeschlossen und gegen Antigonos Gonatas gekämpft hatte, bevor er vergeblich versuchte, spartanischer βασιλεύς zu werden;247 in den Zusammenhang seiner Operationen auf der Peloponnes im Jahr 273 dürfte auch die „Befreiung“ Alipheiras gehören. Seinen Gegenspieler Aristolaos hat Thomas Schwertfeger 1973 mit einem makedonischen Feldherrn gleichgesetzt, der auch bei Pausanias bezeugt ist.248 Doch die außenpolitische Situation der Polis steht nicht im Mittelpunkt des Volksbeschlusses, vielmehr macht die Quelle sofort deutlich, dass überdies eine Stasis vorgefallen war;249 denn der Text bietet bereits im ersten Satz eine Spielart der klassischen Amnesieformel: Niemand solle einem anderen wegen der früheren Streitigkeiten etwas Böses nachtragen,250 und überdies sei es verboten, einen Prozess zu führen wegen eines Verbrechens, das vor der Entfernung der Garnison des Aristolaos verübt worden sei.251 Der dabei verwendete Ausdruck μίασμα sticht ins Auge, da ihm wohl noch immer eine religiöse Konnotation anhaftete und man ihn am ehesten als „Schandtat“ übersetzen kann – was immer vor dem Ende der Kämpfe zwischen den Bürgern vorgefallen war, muss demnach einen sehr hässlichen Charakter gehabt haben.252 Offensichtlich war auch ein Bürgereid (ὅρκος) geschworen worden, der aber auf einer gesonderten Stele angebracht werden sollte, die bislang nicht gefunden wurde.253 Die erste konkretere Bestimmung, die sich anschließt, betrifft den Erlass von Strafen, die zwei Männer namens Milon und Apelichos der Polis „wegen des Getreides“ (τῶ¢ σίτω) schuldig gewesen seien. Überdies sollten die zuständigen Beamten die Fälle der λιποδαμίαι und die Aufzeichnungen prüfen,254 wobei Astrid Dössel überzeugend dafür plädiert hat, dass es sich bei den λιποδαμίαι um Personen gehandelt haben dürfte, die sich der Zahlung fälliger Summen entzogen hatten, indem sie die Stadt verlie-

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Gabrielsen 2003) eindeutig zu bezeichnen, verwendete man eher den Ausdruck καταποντιστής; vgl. Cass. Dio 36,20,1. Plut. Pyrr. 26,8–10. Paus. 6,17,3. Vgl. Schwertfeger 1973, dessen Argumentation heute in der Regel gefolgt wird; vgl. etwa Dössel 2003: 223 und Rubinstein 2013: 143. Kritik äußerten allerdings Robert – Robert 1974: 225, die Schwertfegers prosopographische Rekonstruktion für zu gewagt hielten und die Ansicht vertraten, Kleonymos erscheine in der Inschrift nicht etwa als ein von Pyrrhos abhängiger Feldherr, sondern als „chef indépendant“. Roy 1972 hat für eine Datierung auf 198 plädiert, während Anastasios Orlandos Kleonymos als „Tyrann“ von Phleius identifiziert und die Ereignisse in die 230er Jahre datiert hat; vgl. Orlandos 1968: 131–151. Te Riele 1967: 222–224 schließlich hatte die Quelle im Rahmen seiner Erstpublikation in den Kontext der Einnahme Alipheiras durch Philipp V. im Jahr 219 eingeordnet. Im Kontext der vorliegenden Studie ist die genaue Datierung allerdings von nachrangiger Bedeutung. Vgl. Rubinstein 2013: 143. IP Ark 24, Z. 4–6: μηδένα μηδενὶ μνα[σ]ιχολῆσαι τῶν πρότερον γεγο[νό]των ἀμφιλλόγων πὸς ἀλλάλ¢ος. Vgl. zum ungewöhnlichen Ausdruck μνασιχολεῖν – also etwa „Böses nachfühlen“ – auch Chaniotis 2012: 92 f. IP Ark 24, Z. 6–8: μηδὲ δικάσασθαι μηδένα μηδὲν εἴ τι μ¢ί ¢ασμα γέγονε πρότερον ἢ Κλεώνυμος τὰν πρωρὰν ἐξάγαγε τὰν Ἀριστολάω¢ καὶ τὸς πειρατὰς ἐξέβαλε. Vgl. Te Riele 1967: 216, demzufolge das Wort zu dieser Zeit seinen religiösen Charakter verloren und nun einfach „un crime, souvent un assassinat“ bezeichnet habe. Trifft diese Interpretation zu, so war es während der Auseinandersetzung wohl zu tödlicher Gewalt gekommen. IP Ark 24, Z. 15 f. IP Ark 24, Z. 8–11: τὰς δὲ καδίκας τὰς ὦφλε Μίλων καὶ Ἀπέλιχος ταῖ πόλι τῶ¢ σίτω ἀφεῶσθαι, καὶ τὰς λιποδαμ[ί]ας ἐτάσαι τὸς δαμιοργὸς καὶ τὸς χρεονόμος, καὶ τὰς ἐ¢[π]ιγρ[α]φάς.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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ßen.255 Da die besagte Prüfung offensichtlich als heikles Unterfangen verstanden wurde, legt der Beschluss ferner fest, die beiden zuständigen Gremien um Xenophon und Xenokrates sollten straflos bleiben; falls aber jemand gegen die Abmachung verstoßen sollte, werde eine Strafe von zehntausend Drachmen fällig.256 Ein Klageverbot betraf überdies τῶν ἴνπροσθε συ¢[νγραφῶν] – also, sofern die Ergänzung korrekt ist, „frühere Verträge“ –, falls der Betroffene nicht vom Rat (?) zum Bürgen für die Stadt bestimmt worden war (εἰ μή τις ἰνγεγύευκε ὑπὲρ τὰν πόλιν δόξαν ταῖ [βωλᾶι]). Der schlechte Zustand der folgenden beiden Zeilen erschwert das Verständnis, aber offenbar sollte jeder Privatmann (ἰδιώτης), der klagte, ohne Bürge für die Polis gewesen zu sein, eine hohe Strafe zahlen.257 Insgesamt solle ab sofort niemand mehr an die χρεῶν στάσις erinnern und keine Gelder zurückfordern, und weder die Archonten bzw. Amtsträger noch Privatleute (?) sollten jemanden zum Flüchtling machen; andernfalls drohe ihnen eine Strafe.258 Die ungewöhnliche Wendung χρεῶν στάσις fällt natürlich sofort ins Auge. Hans Taeuber und Gerhard Thür haben vorgeschlagen, hier tatsächlich „die Stasis wegen der Schulden“ zu übersetzen.259 Sollte diese Interpretation zutreffen, so läge hier ein einzigartiges epigraphisches Zeugnis für einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer Schuldenkrise und Bürgerzwist vor; allerdings mahnt gerade die Einzigartigkeit zur Vorsicht: Wie bereits dargelegt, vermeiden es hellenistische Inschriften in der Regel peinlich genau, explizit von einer Stasis zu sprechen, wenn es um Auseinandersetzungen zwischen Bürgern geht, und weichen stattdessen auf Ausdrücke wie διαφορά oder κρίσις aus. Obwohl also eine Übersetzung von χρεῶν στάσις mit „Bürgerzwist um Schulden“ nicht unmöglich ist, erscheint es plausibler, die Wendung hier als „der Stand der Schulden“ zu übersetzen.260 Dies passt auch besser zum Kontext des Satzes, der ja damit fortfährt, eine Rückforderung von χρήματα zu untersagen. Obwohl man die Inschrift also nicht dahingehend interpretieren muss, dass Verschuldungen hier explizit als Ursache der Streitigkeiten identifiziert werden,261 scheint doch zunächst offensichtlich, dass sie als ein wesentliches Hindernis für die Wiederherstellung des inneren Friedens gekennzeichnet wurden und deshalb mit wenigen Ausnahmen getilgt sein sollten.262 Was auf den ersten Blick durchaus plausibel klingt, macht allerdings auf den zweiten stutzig: Eine χρεῶν ἀποκοπή im Zusammenhang mit 255 256 257 258

259 260 261 262

Vgl. Dössel 2003: 228. IP Ark 24, Z. 11–14. IP Ark 24, Z. 18 f. Vgl. die Diskussion bei Dössel 2003: 231 f. IP Ark 24, Z. 20–23: τῶ δὲ κατυστέρ¢[ω χρόνω] μ¢ηδένα μνασθῆναι χρεῶν στάσιος μηδὲ χρήμ¢[ατα ἀπαιτῆ]σαι μηδὲ φυγάδας θῆναι, μήτε ἄρχοντα μήτ[ε ἰδιώταν]· εἰ δέ τις πὰρ τάνυ ποίη, ἴνοχος ἔστω κὰ τ[ὰν συνθήκαν]. Rubinstein 2013: 145 bemerkt mit Recht das Fehlen jeglicher Bestimmungen hinsichtlich der Rückkehr von bereits Verbannten. Vgl. Thür – Taeuber 1994: 279–286. Vgl. auch Dössel 2003: 232. Bereits Te Riele übersetzte den Ausdruck mit „l’état des dettes“; vgl. Te Riele 1967: 213. Rubinstein 2013: 144 schlägt „payment of debt“ vor, und Carawan 2013: 58 erwägt „debt crisis“. Anders Dössel 2003: 233. Vgl. etwa die optimistische Lesart bei Rubinstein 2013, die annimmt, die Regelung sei wahrscheinlich nicht von außen okroyiert worden, sondern habe „considerable support and cooperation from within the community itself “ (146) genossen.

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3. Die lokale Überlieferung

einer Versöhnung wird in der literarischen Überlieferung, soweit ich sehe, nirgendwo erwähnt; vielmehr handelt es sich um ein nachgerade klassisches Instrument des innenpolitischen Kampfes, das, wenn die Maßnahme tatsächlich umgesetzt wurde, notwendig Verlierer hervorbrachte und also eben gerade nicht geeignet war, die ὁμόνοια in der Polis wiederherzustellen. Ein Schuldenerlass war immer asymmetrisch, und die hier bereits vorgestellten Beispiele wie Mytilene, Telos oder Sikyon bezeugen zu Genüge, dass man die materiellen Fragen einvernehmlich klären musste, wenn man eine wirkliche Versöhnung erreichen wollte. Die faktische Enteignung von Gläubigern hingegen war dem inneren Frieden schwerlich zuträglich.263 Und so ist es vielleicht bezeichnend, dass der Beschluss aus Alipheira eben nicht von ὁμόνοια spricht, sondern nur von ἐλευθερία. Obwohl die Inschrift also äußerlich eine Amnestie und Versöhnung dokumentiert, führt diese Beobachtung zu der Frage, ob es sich hier wirklich um einen Ausgleich auf Augenhöhe, um einen „grand apaisement“,264 gehandelt haben kann.265 An diesem Punkt nun wird der eingangs skizzierte Kontext der Vorgänge wieder relevant: Unabhängig davon, ob die Ereignisse wirklich in das Jahr 273 oder erst in eine spätere Zeit gehören, ist deutlich, dass es zuvor zu einem gewaltsamen Machtwechsel gekommen war. Die Polis war längere Zeit von einer mutmaßlich makedonischen Besatzung unter Aristolaos sowie von „Piraten“, hinter denen sich möglicherweise auch Bürger von Alipheira verbergen könnten, die auf der falschen Seite gekämpft hatten,266 kontrolliert worden. Offenbar waren in dieser Zeit verschiedene Personen genötigt worden,267 als Bürge (ἐγγυητής) für die Stadt zu fungieren,268 die mutmaßlich mit Engpässen in der Getreideversorgung konfrontiert war und daher Gelder benötigte.269 Nun aber hatte sich das Blatt gewendet, und jene Politen, die ihre Hoffnungen auf Kleony263 Vgl. zu diesem Problem auch Cic. Off. 2,78 f. (mutmaßlich im Anschluss an Panaitios). 264 So Te Riele 1967. 265 Wenn Dössel 2003: 233 von einer „hohen Verschuldung der Bürger untereinander“ als hauptsächlicher Ursache der Stasis spricht, so scheint „untereinander“ eine gewisse Reziprozität zu implizieren. Deutlich wahrscheinlicher ist, dass ein Teil der Politen Gläubiger eines anderen Teils war, denn eine Situation, in der jeder jedem etwas schuldet, ist weitaus weniger konfliktträchtig – nicht nur ökonomisch, sondern auch hinsichtlich der sozialen Hierarchie. 266 Anders Chaniotis 2013a: 49, der den Ausdruck wörtlich nimmt und davon spricht, die Gegend sei „zudem von Seeräubern heimgesucht“ worden. 267 Vgl. in diesem Sinne auch Dössel 2003: 231. Dass derlei in hellenistischen Städten durchaus vorkommen konnte, belegt etwa Pap. Mich. I 23. Bei den fraglichen Personen muss es sich um begüterte Angehörige der sozialen Elite gehandelt haben, denn andernfalls hätte eine Bürgschaft – ob erzwungen oder nicht – keinen Sinn ergeben. 268 Vgl. Dössel 2003: 230. 269 Die heikle Getreideversorgung der Poleis im Ägäisraum war nicht erst im Hellenismus ein geradezu chronisches Problem; vgl. Walbank 1992: 161 f. und die erhellende Fallstudie (am Beispiel von Rhamnus) Oliver 2001. Um Gerste gedeihen zu lassen, bedarf es während der Wachstumsphase eines Niederschlages von mindestens 200 mm, Weizen braucht sogar etwa 300 mm; da in Hellas und Westkleinasien im Schnitt alle vier oder fünf Jahre weniger als 200 mm und jedes zweite Jahre weniger als 300 mm Regen fielen, waren Missernten ein regelmäßig auftretendes Phänomen; vgl. Reger 2003: 333. In Nordafrika und in Großgriechenland waren die klimatischen Verhältnisse hingegen deutlich günstiger. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang eine bekannte Inschrift aus Kyrene (SEG 9,2), die um 325 v. Chr. auflistet, welchen Poleis man wieviel Getreide zukommen ließ, als in Hellas gerade ein besonders großer Mangel herrschte.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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mos gesetzt hatten, besaßen jetzt die Oberhand.270 Die Stasis war also durch eine äußere Intervention entschieden worden, die einen Teil der Bürger ihrer bisherigen Schutzmacht beraubt hatte. Vielleicht handelte es sich bei ihren Widersachern um eine Parteiung, die sich um Milon und Apelichos gruppiert hatte; dies würde zumindest die prominente Behandlung der beiden Männer erklären.271 Wahrscheinlich hatten sich die beiden bei der Stadt verschuldet, um Getreide einführen zu können,272 vielleicht hatte sich der Streit aber auch an der Frage der Übernahme einer Art σιτηγία durch die beiden entzündet. Die Vermutung, dass sie anschließend die populäre Forderung nach einer allgemeinen χρεῶν ἀποκοπή eingesetzt hatten, um Unterstützer zu mobilisieren, erscheint jedenfalls nicht allzu weit hergeholt; man mag sich hier an die Rolle erinnert fühlen, die Agesilaos unter Agis IV. in Sparta gespielt haben soll.273 Damit diese Parole Wirkung entfalten konnte, musste es zwar zumindest subjektiv ein Verschuldungsproblem geben; die Inschrift bezeugt also in der Tat die Rolle, die ökonomische Faktoren bei einer Stasis spielen konnten. Auf eine regelrechte Schuldenkrise als Ursache der Konflikte hingegen kann man von der Forderung nach einer χρεῶν ἀποκοπή allerdings nicht ohne weiteres zurückschließen,274 und vor allem spricht nichts gegen die Annahme, dass Gläubiger und Schuldner derselben sozialen Schicht angehörten.275 Jedenfalls wurde die Maßnahme nun umgesetzt, wobei bei der Implementierung – ganz anders als in Dikaia – bezeichnenderweise nicht dem Demos, sondern den Beamten der Stadt die entscheidende Rolle zukam. Wie und durch wen festgestellt werden sollte, ob diese sich an die Absprachen hielten, wird überhaupt nicht thematisiert;276 auch von δικασταί oder διαλλακταί ist nicht die Rede. Auch dies spricht für die Annahme, dass die Amnestie zu den Bedingungen jener Parteiung erfolgen sollte, die die Polis nun kontrollierte. Der auffällige Verzicht auf die Verbannung der Protagonisten der Gegenseite, die sich ja augenscheinlich weiterhin in der Stadt aufhielten, mag dabei dem Drängen der neuen Vormacht geschuldet gewesen sein, die keinen zusätzlichen Ärger mit φυγάδες wünsch-

270 Einen Zusammenhang zwischen der Maßnahme und einem „Wechsel der herrschenden Gruppierung in der Stadt“ erwägt auch Dössel 2003, die allerdings letztlich doch davon ausgeht, es habe sich bei der χρεῶν ἀποκοπή um eine „pragmatische Reaktion auf offensichtlich konfliktträchtige Zustände“ in Alipheira gehandelt (234). 271 Vgl. auch die etwas ratlose Bemerkung bei Rubinstein 2013: „The modern reader is left to wonder why these two men and their particular past convictions were singled out“ (144). 272 Auf Grundlage einer anderen Inschrift kann man vermuten, was vorgefallen sein könnte: In einem der beiden Schreiben, die Antigonos I. um 303 an Teos und Lebedos richtete, wird die Praxis erwähnt, gegen eine Sicherheit Gold bei der Polis zu leihen, um als Privatperson Getreide in die Stadt einzuführen und zu verkaufen; binnen Jahresfrist sei das verzinste Darlehen zurückzuzahlen; Syll.3 344, Z. 72–76. Wahrscheinlich hatten Milon und Apelichos in Alipheira genau dies getan, das notwendige Geld aber am Stichtag nicht aufbringen können, und mussten fürchten, ihren verpfändeten Besitz zu verlieren. 273 Plut. Agis 13. 274 Vgl. hingegen Carawan 2013: „A debt crisis had led to civil conflict“ (57). 275 Vgl. auch die Bemerkungen bei Shipley 2000: „Debt was a problem not for the poor as much as for the élite who – like the estate-owners of Ephesos – borrowed large sums against the security of their land and then, for whatever reason, found themselves in trouble“ (133). 276 IP Ark 24, Z. 11–14.

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3. Die lokale Überlieferung

te.277 Trifft diese Interpretation zu, so stellt die Quelle gewissermaßen ein Mittelding zwischen einer Versöhnungs- und einer Siegesinschrift dar. 3.2.4 Ordnung durch Ausschluss: Ptolemais Dies scheint auch für einen ungewöhnlichen Beschluss aus dem oberägyptischen Ptolemais zu gelten, der in zweierlei Hinsicht bemerkenswert ist.278 Zum einen bezeugt die Inschrift, die wahrscheinlich in das Jahr 278 gehört,279 dass auch diese hellenistische Neugründung am Nil von ähnlichen Problemen geplagt wurde wie ältere Poleis,280 und zum anderen erwähnt sie einen Gegensatz innerhalb der Bürgerschaft, der sonst zumeist nur literarisch bezeugt ist. Das Ende des Textes fehlt, doch den erhaltenen Zeilen lassen sich ungewöhnlich viele Informationen entnehmen: Volk und Rat danken den Prytanen für ihre Amtsführung, insbesondere aber für die von ihnen ergriffenen Maßnahmen gegen gewisse Bürger (τινας τῶν πολιτῶν), die vor allem während der Wahlen im Rat und in der Volksversammlung für Unruhe gesorgt hätten und sogar gewalttätig geworden seien. Nachdem diese gemäß den Gesetzen bestraft worden seien, sei wieder Ruhe eingekehrt, und man habe Ratsherren und Richter wählen können, wobei aber nun lediglich ein bestimmter Personenkreis (ἐπίλεκτοι ἄνδρες) eligibel gewesen sei.281 Die Jüngeren (οἱ νεώτεροι) hätten sich zwar herausgefordert gefühlt, den übrigen Bürgern (οἱ ἄλλοι π[ολῖτ]αι) aber sei bewusst gewesen, dass die Polis auf diese Weise besser regiert werden werde. Die Interpretation der Inschrift bereitet im Kern nur wenige Probleme. In Ptolemais war eine Stasis ausgebrochen, die ein normales Funktionieren der Polisinstitutionen zeitweilig unmöglich gemacht hatte. Als es zu Gewalttaten gekommen war, griffen die Prytanen hart durch und stellten jene, die man für die Geschehnisse verantwortlich machte, vor Gericht. Nachdem auf diese Weise wieder eine gewisse Ordnung geschaffen worden war, führte man Wahlen durch, die einen offen oligarchischen Charakter trugen, da ein Teil der Politen von der Kandidatur ausgeschlossen wurde. Obwohl es daher naheläge, die Stasis als eine Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Oligarchen zu deuten, in der sich Letztere schließlich durchsetzen konnten, benennt der Text stattdessen ziemlich explizit einen Konflikt zwischen Jüngeren und Älteren,282 bei dem diese die 277 Vgl. auch Chaniotis 2013a: „In diesem Fall, wie auch sonst sehr oft, kam die Versöhnung durch externe Vermittlung zustande“ (50). 278 OGIS 48. Vgl. auch Jouguet 1897. Vgl. allgemein zu Ptolemais noch immer Plaumann 1910. 279 I.Pros. Pierre 4. Denkbar ist auch eine Datierung auf das Jahr 239. 280 Pointiert formuliert bei Gschnitzer 1974: „Man sieht, es ist auch noch unter der Herrschaft der Ptolemäer im tiefsten Ägypten nicht leicht, eine griechische Bürgerschaft im Zaum zu halten“ (86). 281 Vermutlich handelte es sich um Männer, die vorher vom Rat ausgewählt worden waren; von einem Zensus ist hingegen nicht die Rede. 282 Walser 2012: 80 f. weist mit Recht darauf hin, dass der Text an dieser Stelle nicht eindeutig ist und nicht unbedingt von einem Konflikt zwischen der Bürgerschaft und den Jüngeren spricht, deren Unmut sich prinzipiell auch gegen etwas anderes – etwa die Unruhestifter – richten könnte. In diesem Fall wäre also völlig unklar, welche Konstellation der Stasis in Ptolemais zugrunde lage. Der Gesamtkontext scheint mir aber eher für die hier präferierte Lesart zu sprechen.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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Oberhand behielten – ein Deutungsmuster, das ansonsten, wie gesagt, vor allem aus literarischen Zeugnissen bekannt ist.283 Auf den ersten Blick liegt dabei die Annahme nahe, dass sich die Stasis an der Besetzung von Boule und Dikasterien entzündet hatte, bei der sich die jüngeren Bürger benachteiligt oder ausgeschlossen fühlten.284 Nimmt man die Quelle allerdings wörtlich, so wurden die entsprechenden Restriktionen erst nach dem Ende der Unruhen eingeführt; und tatsächlich wird ja ausdrücklich vermerkt, dass die Auseinandersetzungen gerade in den Gremien (ἐν τ[αῖς] βουλαῖς [καὶ] ἐν ταῖς ἐκκλησίαις) stattgefunden hatten, deren Arbeitsfähigkeit offenbar durch den Ausschluss einer Parteiung wiederhergestellt werden sollte. Diese ziemlich einschneidende Maßnahme legt nahe, dass man glaubte, das Problem auf diese Weise an der Wurzel packen zu können. Mit einem Wort: Die Konflikte – aller Wahrscheinlichkeit nach insbesondere zwischen den Altersgruppen – scheinen überhaupt erst zum systematischen Ausschluss eines bestimmten Personenkreises aus Rat und Gerichten geführt zu haben;285 dieser war demnach nicht Anlass, sondern Ergebnis einer Stasis, über deren eigentlichen Auslöser die Inschrift nichts verrät. Unabhängig davon, ob es zu einer königlichen Intervention gekommen war (was durchaus wahrscheinlich ist),286 ist das völlige Fehlen eines entsprechenden Hinweises zu konstatieren – der erhaltene Teil der Inschrift legt derart großen Wert darauf, die Beendigung der Stasis als selbständige Leistung der Polis bzw. der Prytanen darzustellen, dass unwahrscheinlich ist, dass der heute verlorene Schluss Ptolemaios II. erwähnt hat. Wäre der Text das einzige Zeugnis zu Ptolemais, so könnte man meinen, die Polis sei ihr eigener Herr gewesen.287 3.2.5 Die Zitadelle als Risiko: Sagalassos Ein weiteres hier zu besprechendes epigraphisches Zeugnis für den Versuch einer Stasisbeendigung liefert sodann eine fragmentarische Inschrift aus dem pisidischen Sagalassos.288 Da insbesondere der Anfang des Textes verloren ist, bleiben hier aller283 Prominente Beispiele aus hellenistischer Zeit sind die Staseis in Termessos (Diod. 18,46,1–18,47,2) oder Gortyn (Pol. 4,53,7–9). 284 Eine Unterteilung nach Altersklassen ist auch aus Kyrene bekannt, wo die um 322 von Ptolemaios I. oktroyierte oligarchische Verfassung vorsah, die Vollbürger müssten nicht nur einen Zensus erfüllen, sondern überdies älter als dreißig sein: Für den Rat und die Bekleidung der Strategie war sogar ein Mindestalter von fünfzig (oder notfalls vierzig) Jahren vorgeschrieben; SEG 9,1. Da es sich bei Ptolemais um eine Gründung desselben Herrschers handelt, erscheint es nicht völlig abwegig, hier ähnliche Regelungen anzunehmen. 285 Es liegt zumindest sehr nahe, dass es sich bei den ἐπίλεκτοι ἄνδρες um ältere Bürger und Honoratioren handelte. 286 Dass es gelungen sein sollte, in der wohl einige Zehntausend Einwohner zählenden Stadt die Ordnung (bzw. die Dominanz einer Seite) durchzusetzen, ohne auf lagidische Truppen zurückzugreifen, ist nicht unmöglich, erscheint aber recht unwahrscheinlich. 287 Noch Strabon (17,1,42) betont übrigens den griechischen Charakter der Polis, der offenbar lange Zeit gewahrt blieb. 288 SEG 50,1304 umfasst nur das Fragment B, SEG 57,1409 den gesamten Text. Zwischen den beiden Fragmenten klafft eine Lücke unbekannter Länge. Vgl. nun auch Eck – Eich – Eich 2018: 22.

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3. Die lokale Überlieferung

dings besonders viele Fragen offen, zumal einem die literarische Überlieferung, anders als etwa im Fall von Mytilene, keine ergänzenden Informationen liefert. Nicht einmal die zeitliche Einordnung ist gesichert; es scheint jedoch bis auf weiteres nichts gegen die von Katelijn Vandorpe vorgeschlagene Datierung auf das frühe 3. Jahrhundert zu sprechen, die allerdings vornehmlich auf der Buchstabenform basiert.289 In jedem Fall erlaubt der erhaltene Abschnitt den Schluss, dass es sich um eine Art Friedensvertrag handelt, eine Übereinkunft (ὁμολογία), die offenbar „unter dem Archontat“ (ἐπὶ ἀρχόντων) von 24 namentlich genannten Männern getroffen worden war.290 Das vorliegende Fragment beginnt unvermittelt mit dem Verbot, die ἄκρα von Sagalassos oder eine andere Anhöhe zu besetzen, Verbannungen vorzunehmen, Parteiungen zu bilden (στασιάζειν)291 oder Kriegswaffen (ὅπλα μάχιμα) zu entwenden,292 und erinnert damit an die Formulierungen hellenistischer Bürgereide. Anschließend wird die Strafe im Falle einer Zuwiderhandlung festgelegt: Wenn die Polis und die δικασταί – mutmaßlich Beamte mit richterlichen Aufgaben – die Angeklagten für schuldig befänden, so seien diese hinzurichten; falls man ihrer nicht habhaft werden könne, sollten sie und ihre Nachkommen unwiderruflich verbannt und verflucht sein. Die Betroffenen sollten vogelfrei sein, und eine Restitution oder Entsühnung durch Opfer sollte unmöglich sein – selbst dann, wenn jemand dreihundert dreijährige weiße Stiere, dreihundert dreijährige weiße Widder und dreihundert dreijährige weiße Ziegen sowie einen Menschen opfern sollte, sollten sich die Götter abwenden.293 Es gibt grundsätzlich zwei verschiedene Gründe für die Androhung besonders scharfer Strafen: Zum einen ist dies natürlich der Fall, wenn das entsprechende Vergehen als besonders verwerflich gilt, zum anderen aber auch dann, wenn der Gesetzgeber fürchtet, die Chance, eines Übeltäters habhaft zu werden, sei so gering, dass die Abschreckung umso stärker ausfallen müsse. Dies könnte verständlich machen, wieso die Sanktionen, die die Inschrift vorsieht, derart harsch ausfallen. Allerdings ist, sobald man das zweite Fragment des Textes in die Überlegungen einbezieht, auch eine andere Er289 Vgl. Vandorpe 2000: 490 f. Der Text hat bislang erstaunlich wenig Forschungsinteresse auf sich gezogen; grundlegend sind Vandorpe 2007, Gray 2015: 139–144 und Eck – Eich – Eich 2018: 21–28. 290 Gray 2015: 139 vermutet, es handle sich bei den ἄρχοντες um „elite figures holding magistracies, responsible for the settlement“ (139). Sagalassos war zu dieser Zeit augenscheinlich noch nicht vollständig hellenisiert; die Namen der ἄρχοντες sind ausnahmslos nichtgriechisch (vgl. Vandorpe 2000: 500–505), und da der Anfang des Textes fehlt, lässt sich nicht entscheiden, ob es sich um einen Volksbeschluss handelt. Allerdings ist durchaus möglich, dass es sich bei den ἄρχοντες um Ratsmitglieder oder gar Jahresbeamte gehandelt hat (wobei hier eher an die ebenfalls erwähnten δικασταί zu denken wäre). Dafür, dass Sagalassos bereits eine Polis war, spricht nicht nur die Unterscheidung zwischen ἄκρα und πόλις, wobei Letztere in einem Satz wie [ἀ]ποκτεινάτωσαν δ’ αὐτοὺς ἡ πόλις καὶ οἱ δικαστα[ί] (Z. 8 f.) als Akteur im Sinne von δῆμος erscheint, sondern überdies wird ausdrücklich von Politen gesprochen (Z. 12). 291 Möglich ist auch eine Übersetzung im Sinne von „Staseis anfachen“. 292 ἄκραν μὴ καταλαμβάνεσθαι μηθένα μηδὲ ἄλλο ὄρος μηδὲν μηδὲ ἐκ τῆς πόλεως ἐγβάλλειν μηδένα μηδὲ στασιάζειν μηδένα μηδὲ ὅπλα ἐκφέρειν μάχιμα μηδένα¢ (Z. 1–5). Vandorpe 2007: 128 schlägt vor, den Passus bezüglich der ὅπλα μάχιμα dahingehend zu verstehen, dass es verboten war, Kriegswaffen von der Festung in die Stadt zu bringen. 293 Ich folge hier der von Angelos Chaniotis vorgeschlagenen Lesung ἀνθ¢ρωπ[ωι] (SEG 57,1409, Z. 18). Die ebenso genaue wie sonderbare Angabe zu den Opfern ist wohl so zu verstehen, dass eingeschärft werden sollte, eine Entsühnung sei wirklich unter absolut gar keinen Umständen möglich.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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klärung möglich, die die Quelle insgesamt in ein anderes Licht rückt. Denn während der erste Abschnitt wie ein allgemeines Gesetz formuliert ist, scheint der zweite viel stärker auf ein ganz konkretes Ereignis einzugehen, das sich unschwer als eine Stasis entziffern lässt, auch wenn der Text zum Teil erhebliche Verständnisschwierigkeiten bereitet.294 Denn falls diejenigen, heißt es nun, die die ἄκρα besetzt hätten, nicht abziehen, sondern stattdessen Bürger verbannen sollten, so solle die Polis diese ausfindig machen und zurückholen; und jene, die sich in der Zitadelle aufhielten,295 sollten verpflichtet sein, den zwischenzeitlichen Exilanten aus ihren eigenen Mitteln Entschädigung zu leisten. Ansonsten aber sollten die Täter der Gnade der Götter unterworfen sein; nur ihre drei Anführer seien des Todes, während die übrigen Schuldigen – bis auf weiteres (τέως) zwölf an der Zahl – mit einer Strafe von jeweils zehn Minen Silber davonkommen sollten.296 Benjamin Gray hat vermutet, auch dieser Teil der Inschrift enthalte allgemeingültige Vorschriften.297 Das ist möglich. Vor allem die letztgenannten Angaben sind aber besser verständlich, wenn die Verfasser des Textes hier eine aktuelle Besetzung der ἄκρα durch eine Stasispartei vor Augen hatten298 – nicht nur wegen der auffallend konkreten Zahlenangaben, sondern vor allem auch deshalb, weil sich die Quelle hier selbst widerspricht: Offenbar handelt es sich weniger um eine regelrechte Versöhnung als vielmehr um ein Verhandlungsangebot, das allen außer drei Personen versprach, sie eben gerade nicht so zu bestrafen, wie es der erste Teil des Textes so unerbittlich vorschreibt, sondern sie stattdessen mit einer Geldstrafe und der Verpflichtung, ihre zeitweilig verbannten Gegner zu entschädigen, davonkommen zu lassen. Man kann überdies mit einiger Gewissheit annehmen, dass ihre Parteiung zuvor zeitweilig auch in der Stadt die Oberhand gehabt hatte, denn andernfalls hätte sie schwerlich Verbannungen veranlassen

294 SEG 50,1304. 295 Das Griechische ist hier nicht eindeutig hinsichtlich der Frage, wer genau in die Polis zurückgeholt werden soll – die bereits unrechtmäßig Verbannten oder diejenigen, die aktuell die Zitadelle besetzt hielten, da mit ihrer Flucht gerechnet wurde? Vgl. Gray 2015: 141. Mir scheint die hier vorgeschlagene Deutung der Pronomina am sinnvollsten zu sein. 296 ἐὰν δὲ δια[κρ]ατήσωσιν οἱ καταλ[αβόμε]νοι τὴν ἄκραν κἀγβαλῶσίν τινας ἐκ τῆς πόλε[ω]ς ζητείτω ἥ τε πόλις κἀναγέτω καὶ οἱ θεοὶ ἀνάστατα πάντα ποιο[ῦ]ντες ἕως ἂν ἀγάγωσιν αὐτοὺς καὶ ὅσα ἂν [ἔχω]σιν τῶν ἐγβληθέντων οἱ ἐγβαλόντες καὶ ὅσα ἂν ἀπ[ῆι]· ἀναβάντων δὲ αὐτῶν τινέτωσαν ἅπαντα ἐκ τ[ῶν] ἰδίων καὶ τοῖς θεοῖς ὕποχοι ἔστωσαν καὶ ἀποκτειν[έτω]σαν αὐτῶν τρεῖς τοὺς ἄρξαντας, οἱ δὲ λοιποὶ τέως δ[ώ]δεκα τινέτωσαν ἄνα μνᾶς δέκα ἀργυρίου, Z. 21–29. 297 Vgl. Gray 2015: „These latter regulations could concern an already existing rebellious faction in control of the citadel. However, it is more plausible that these regulations were, like the preceding ones, hypothetical, even if prompted by recent bad experience“ (141). Diese Position ist möglich, weil Gray den Text so versteht, dass die Besatzung der ἄκρα regulär fünfzehn Männer, darunter drei Offiziere, umfasst habe. Ich hingegen interpretiere den Abschnitt καὶ ἀποκτειν[έτω]σαν αὐτῶν τρεῖς τοὺς ἄρξαντας, οἱ δὲ λοιποὶ τέως δ[ώ]δεκα τινέτωσαν ἄνα μνᾶς δέκα ἀργυρίου eher dahingehend, dass hier von drei hinzurichtenden Rädelsführern und „bislang“ (τέως) zwölf weiteren Tätern die Rede ist. Damit ist keineswegs gesagt, dass es sich hierbei nicht um die Besatzung der Zitadelle gehandelt haben kann (dies vermutet Vandorpe 2007: 129 f.), es geht aber aus dem Text meines Erachtens nicht zwingend hervor. Vor allem stellt sich die Frage, wieso eine so kleine Garnison gleich drei Befehlshaber gehabt haben sollte. Vandorpes Erklärung, die Festung habe aufgrund ihrer Bedeutung und strategisch schwierigen Lage dreier Kommandeure bedurft, erscheint wenig plausibel. 298 So bereits Vandorpe 2000: 491.

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3. Die lokale Überlieferung

können; inzwischen aber hatte sich das Blatt augenscheinlich gewendet, und man hatte sich wieder in die Zitadelle zurückziehen müssen. Folgt man dieser Lesart, so dürfte die Mehrheit derjenigen, die die ἄκρα besetzt hielten, in den Vorschlag eingewilligt haben – was mit den drei todgeweihten Anführern geschah, ist ungewiss –, denn anders ließe sich die Existenz der Inschrift kaum erklären.299 Diese hält ja letztlich fest, dass die meisten Besetzer der Festung nicht mit Tod oder Verbannung bestraft werden sollten, sofern sie sich an die Abmachung hielten.300 Wenn der Text gegen Ende also von αἱ δὲ ὁμολογίαι καὶ αἱ συνθῆκαι spricht,301 so ist vermutlich von einer Übereinkunft zwischen den beiden Parteiungen die Rede.302 Dass die Gruppierung derer, die die Zitadelle besetzt hatten, dabei noch weitere Männer umfasste, erscheint zumindest plausibel, denn eine Truppe von nur fünfzehn Personen dürfte für das, was man ihr vorwarf, schlicht zu klein gewesen sein.303 Es ist zwar durchaus möglich, dass es sich beim Kern dieser Parteiung um eine Handvoll Bürger handelte, die zur Bewachung der ἄκρα eingesetzt worden war und diese Gelegenheit genutzt hatte, um gegen ihre Gegner vorzugehen. Es ist aber zu vermuten, dass die Beteiligten über Unterstützer verfügten; man hätte es dann also mit drei Anführern und zwölf prominenten ἑταῖροι sowie möglicherweise einer unbekannten Zahl an Anhängern und Sympathisanten zu tun. Es sei eingeräumt, dass diese Interpretation des enigmatischen Textes nicht die einzig mögliche ist; trifft sie aber zu, so hat man es hier mit einem Fall zu tun, in dem eine Inschrift Regelungen, die auf eine ganz konkrete Krisensituation – hier offenbar eine Stasis in Sagalassos304 – antworten, aufwertet, indem man eine scheinbar allgemeingültige, nicht situationsgebundene Form wählt,305 um den getroffenen Entscheidungen 299 Vandorpe 2000: 492 erklärt die Inschrift schlicht damit, dass die Bestimmungen, wiewohl in einer konkreten Situation entstanden, eben auch künftig gelten sollten. Das stimmt sicherlich, greift meines Erachtens jedoch etwas zu kurz. 300 Vgl. Gray 2015: „The content of the regulations is very consistent with them being contractual ‚agreements and covenants‘, negotiated among competing distrustful citizens or representative magistrates for the sake of mutual security, advantage, and justice“ (142). 301 SEG 57,1409, Z. 33. 302 Vandorpe 2000: 493 f. erwägt einen Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Alketas und Antigonos I.; die Garnison von Sagalassos habe sich dabei mutmaßlich zu Alketas bekannt. In einer zweiten Diskussion der Inschrift vermutet sie, die dokumentierte Einigung „may have been enforced by a Hellenistic king“, nämlich Antigonos; vgl. Vandorpe 2007: 133. Diese Rekonstruktion ist möglich, aber bislang durch nichts zu belegen. 303 Fünfzehn Mann konnten in Friedenszeiten durchaus eine hinreichende Besatzung für eine Zitadelle sein; so erklärt eine Inschrift aus dem 3. Jahrhundert, der Befehlshaber der Festung Kyrbissos solle mindestens zwanzig Bürger (und drei Hunde) für den Wachdienst rekrutieren (SEG 26,1306). Dieser Text macht zugleich deutlich, dass man der Festungsbesatzung mit ganz erheblichem Misstrauen begegnete, da er jeden Kommandanten, der seine eigene Ablösung verweigern sollte, mit Verbannung und Atimie bedroht; vgl. zu dieser Inschrift, auf die auch Vandorpe verweist, die grundlegende Diskussion bei Robert – Robert 1976. 304 So nun auch Eck – Eich – Eich 2018: 24 f. 305 Etwas rätselhaft ist die wie willkürlich angefügte Bestimmung, derzufolge auf Diebstahl, der bislang mit einer Zahlung von drei Minen geahndet worden sei, nun im Falle einer Verurteilung die Todesstrafe stehe: περὶ κλοπῆς· ὃς ἂν κλέψηι τι οὗ πρότερον ἦσαν μναῖ τρε[ῖς] νῦν δ’ ἔστω θάνατος ἡ ζημία ἐλενχθέντι (Z. 31 f.). Gut denkbar ist aber, dass auf diese Weise Chaos und Gesetzlosigkeit, die auf die Stasis gefolgt

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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rückwirkend größere Legitimität zu verleihen.306 Ähnlich wie in Alipheira ging es hier, folgt man dieser Lesart, demnach zwar um eine Reintegration und Befriedung, allerdings nicht um eine Abmachung auf Augenhöhe. 3.2.6 Der Hegemon sorgt für Ruhe: Dyme Ein berühmtes Beispiel für eine Stasisbeendigung durch Intervention statt Versöhnung ist durch eine bereits 1797 entdeckte und heute in Cambridge befindliche Inschrift aus der achaiischen Polis Dyme überliefert,307 die früher zumeist in das Jahr 115 datiert wurde,308 deren Entstehung aber nach heute vorherrschender Ansicht eher in das Jahr 144/3, also in die Zeit bald nach den Erschütterungen des bellum Achaicum, gehören dürfte.309 Es handelt sich um ein Schreiben des proconsul (ἀνθύπατος) Q. Fabius Maximus an Beamte, Ratsherren und Polis, in dem der Römer feststellt, der von den σύνεδροι begleitete Gesandte Kyllanios habe ihn über überaus dramatische Vorfälle in der Stadt unterrichtet: Auf Anstiftung eines gewissen Sosos, Sohn des Tauromenes, sei es zu einem Brand und zur Vernichtung des Archivs sowie der öffentlichen Urkunden gekommen, und überdies habe Sosos Gesetze eingebracht, die sich gegen die Verfassung (πολιτεία) gerichtet hätten, die die Römer den Achaiern gegeben hätten.310 Offenkundig hatte es in Dyme also heftige Wirren (σύγχυσις) gegeben,311 und tatsächlich macht das Schreiben die Anstifter sogar für einen alle Hellenen bedrohenden Aufruhr (ταραχή) und eine ἀσυναλλ[α]ξ[ία] verantwortlich,312 was weder der griechischen Freiheit (ἐλευθερία) noch römischer Gesinnung (προαίρεσις) entspreche.313 Akzeptiert man dabei die bereits seit Foucart und Beasley übliche Ergänzung χρε[ωκοπίας οἰκεί]α¢, so würde dies bedeuten, dass es im Verlauf der Stasis zu einer χρεῶν

306 307 308 309 310 311 312 313

waren, eingedämmt werden sollten. Vgl. Vandorpe 2007: „The measure is undoubtedly taken to avoid looting“ (132). Vgl. auch Gray 2015: „The public epigraphic display of the regulations gave them particular paradigmatic force in themselves“ (143). Syll.3 684. Grundlegend ist Kallet-Marx 1995b, der – mit teils anderen Argumenten – zu ähnlichen Ergebnissen gelangt wie die vorliegende Untersuchung. Vgl. nun auch Rizakis 2008: 54–60 (Achaïe III 5). Vgl. Accame 1946: 149 f. Diese Datierung findet sich durchaus auch noch in aktuellen Arbeiten. Vgl. Kallet-Marx 1995b: 141–143; entscheidend für diese Datierung ist die Identifikation von Κόιντος Φάβιος Κοΐντου Μάξιμος als Q. Fabius Maximus Servilianus (cos. 142) statt als Q. Fabius Maximus Eburnus (cos. 116). Zentrale Vorarbeiten leistete dabei bereits Ferrary 1988: 189 f. λέγω δὲ ὑπὲρ τῆς ἐμπρήσεως καὶ φθορᾶς τῶν ἀρχων καὶ τῶν δημοσίων γραμμάτων, ὧν ἐγεγόνει ἀρχηγὸς τῆς ὅλης συγχύσεως Σῶσος Ταυρομένεος ὁ καὶ τοὺς νόμους γράψας ὑπεναντίους τῆι ἀποδοθείσηι τοῖς [Ἀ]χαιοῖς ὑπὸ Ῥωμαίων πολιτ[εία]ι, Z. 6–10. Vgl. auch die Diskussion bei Champion 2007: 256–260, der als Hintergrund der Inschrift mit Recht eine Stasis annimmt. Will 1982: 397 spricht von „traces de tentatives démocratiques“. Die Bedeutung des sehr seltenen Wortes ἀσυναλλαξία ist nicht eindeutig; am ehesten kann man es hier wohl als „Gesetzlosigkeit“ oder „Vertragsuntreue“ übersetzen; vgl. Kallet-Marx 1995b: 135 f. ἐπεὶ οὖν οἱ διαπρα[ξά]μενοι ταῦτα ἐφαίνοντό μοι τῆς χειρίστης κ[ατασ]τάσεως [κ]αὶ ταραχῆς κα[τασκευὴν] π¢οιούμενοι ¢ [τοῖς Ἕλλησι πᾶσ]ι ¢ν· οὐ μόν[ον γὰρ] τῆς πρ[ὸ]ς ἀλλήλου[ς] ἀσυναλλ[α]ξ[ία]ς¢ καὶ χρε[ωκοπίας οἰκεί]α¢ ἀλλὰ καὶ [τ]ῆ¢ς ἀποδεδομένης κατὰ [κ]οινὸν τοῖς Ἕλλη[σιν ἐ]λευθερίας ἀλλότρια καὶ τῆ[ς] ἡμετέ[ρα]ς προαιρέσεως, Z. 11–16.

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3. Die lokale Überlieferung

ἀποκοπή gekommen war; dies ist zwar denkbar, aber der erhaltene Text lässt durchaus auch andere Möglichkeiten zu.314 Jedenfalls ließen sich Maximus und sein consilium überzeugen, dass Sosos der Anstifter der Unruhen gewesen sei und Gesetze verfasst habe, die dem Umsturz der gegebenen Verfassung dienen sollten (ἐπὶ καταλύσει τῆς ἀποδοθείσης πολιτεί[α]ς), weshalb er hinzurichten sei.315 Zum Tode verurteilt wurde auch der Demiurg Phormiskos, der gestanden hatte, am Brand des Archivs und der öffentlichen Urkunden (τὰ ἀρχεῖα καὶ τὰ δημόσια γράμματα) beteiligt gewesen zu sein.316 Das Leben eines dritten Angeklagten, Timotheos, der gemeinsam mit Sosos als Nomograph fungiert hatte, verschonte man hingegen, da sein Vergehen weniger schwer erschien (ἐπεὶ ἔλασσον ἐφαίνετο ἠδικηκώς).317 Allerdings wurde er nach Rom verbannt, wohin er sich auf eigene Faust, und nicht etwa als bewachter Gefangener, begeben durfte, und wo man ihn daher mutmaßlich nicht wesentlich schlechter behandelt haben wird als jene Achaier, die gut zwanzig Jahre zuvor nach Italien gebracht worden waren.318 Der konkrete Hintergrund der Vorgänge ist auch in diesem Fall unklar und umstritten. Akzeptiert man die nicht unproblematische Ergänzung, derzufolge der Text von einer χρεωκοπία spricht, so liegt es natürlich nahe, eine ökonomische Krise als Ursache der σύγχυσις anzunehmen, wie es insbesondere Alexander Fuks getan hat, der von einer „social Revolution in Dyme“ sprach und annahm, die von Sosos, Timotheos und Phormiskos319 geführten Massen320 hätten zunächst das Archiv mit den Schuldscheinen niedergebrannt, dann „the existing régime“ beseitigt und eine neue Verfassung erarbeitet; entweder durch eine römische Intervention oder aber durch inneren Widerstand in der Polis sei die Revolte aber schließlich niedergeschlagen worden.321 In diesem Fall wäre es beim Brand des Archivs und der Vernichtung der öffentlichen Aufzeichnungen also darum gegangen, tabula rasa zu machen und die Belege für die Verschuldung eines 314 So bereits Kallet-Marx 1995b: 136 f., der unter anderem darauf hinweist, dass der Terminus χρεωκοπία ansonsten erst seit dem späten 1. Jahrhundert bezeugt sei. 315 Ob die Exekution durch die Römer oder durch die Polis durchgeführt wurde, ist unklar; Kallet-Marx 1995b: 138 plädiert für Letzteres. 316 Syll.3 684, Z. 16–23. Dass gerade das Archiv im Mittelpunkt der Ausschreitungen stand, war wohl kein Einzelfall. So ist etwa aus Iasos eine Weihinschrift für die Homonoia überliefert (I.Iasos 252), die im Namen der Beamten, die für das Bouleuterion und das Archiv zuständig waren (τοῦ τε βουλευτηρίου καὶ τοῦ ἀρχείου ἐπιμεληταί), gesetzt wurde; vgl. Thériault 1996: 39–42. 317 Syll.3 684, Z. 23–27. 318 Timotheos hatte sich innerhalb einer gesetzten Frist selbst nach Rom zu begeben; unter welchen Bedingungen der praetor peregrinus ihm die Heimkehr gestatten sollte, ist unbekannt, da die Inschrift an dieser Stelle abbricht. Davon, dass ihm in Rom der Prozess gemacht werden sollte (so Fuks 1984: 283), ist in der Quelle jedenfalls nicht die Rede. 319 Der Name ist nicht gesichert, lesbar ist lediglich ΜΙΣΚΟΣ. 320 Vgl. dagegen den berechtigten Hinweis bei Kallet-Marx 1995b: 149, dass es sich bei den drei genannten Männern offensichtlich um „members of the political élite“ gehandelt habe. 321 Vgl. Fuks 1984: 282–288. Vgl. auch de Ste. Croix 1981: „There was a revolution, evidently caused in part by the burden of debt, for it began with the burning of the public archives and the cancellation of debts and of other contracts“ (307). Schwertfeger 1974: 66 f. spricht von einer „soziale[n] Revolution“, die zum Ziel gehabt habe, „die absolute Demokratie“ in Dyme wiederherzustellen, betont aber zugleich, auch ein Teil des συνέδριον habe mit Sosos sympathisiert. Bernhardt 1985: 222 f. geht zwar von einer Schuldenkrise als Ursache der Ereignisse aus, gibt aber zu bedenken, dass unter den Schuldnern auch Elitenangehörige gewesen sein könnten.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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Großteils der Politen zu tilgen. Der erhaltene Text schließt diese Lesart zwar nicht aus, stützt sie allerdings auch nicht. Für die Vernichtung der δημόσια γράμματα lassen sich auch andere Ursachen denken – es könnte sich beispielsweise um Bürgerlisten gehandelt haben: Einige Jahrzehnte vor den Unruhen in Dyme hatte man im thessalischen Larisa die Namen von Männern, die auf antigonidische Anweisung hin in die Bürgerschaft aufgenommen worden waren, zum Ärger Philipps V. wieder aus den öffentlichen Bürgerlisten getilgt.322 Ähnliches könnte sich auch in Dyme zugetragen haben. Als weitere Möglichkeit wurde schließlich die Erklärung vorgeschlagen, es habe sich bei der Stasis von 144 um ein letztes Aufbäumen der ‚Romfeinde‘ in Achaia gehandelt.323 In der Tat ist nicht auszuschließen, dass sich Sosos und seine Anhänger tatsächlich gegen jene erhoben hatten, die von der neuen πολιτεία profitiert hatten; in diesem Fall hätte es sich bei der σύγχυσις gewissermaßen um ein verspätetes Epiphänomen des bellum Achaium gehandelt. Allerdings wäre in diesem Fall nicht recht ersichtlich, wieso sich der Gewaltausbruch ausgerechnet gegen das öffentliche Archiv gerichtet hatte, während von Todesopfern oder Verbannten bemerkenswerterweise nicht die Rede ist,324 und überdies wäre die römische Reaktion auf die Vorgänge, sollte es sich um einen offenen Aufstand gegen Rom gehandelt haben, als außergewöhnlich moderat und zurückhaltend zu bewerten. Entscheidend ist nämlich ohnehin etwas anderes, nämlich die Art und Weise, wie die Römer agierten. Hier lassen sich zwei wichtige Beobachtungen machen: Zum einen folgte man grundsätzlich der Sichtweise, die Kyllanios vorbrachte, und verurteilte Sosos zum Tode. Es spricht nichts gegen die Annahme, dass es sich bei Kyllanios um einen profilierten ‚Romfreund‘ handelte, dem der proconsul nun den Rücken stärkte.325 Zum anderen ist bemerkenswert, worin genau das in römischen Augen todeswürdige Vergehen der Delinquenten bestand: Sosos wurde vorgeworfen, Gesetze eingeführt zu haben, die der geltenden Ordnung widersprachen, und der Anstifter der σύγχυσις gewesen zu sein; aber der Blick auf die beiden Mitangeklagten zeigt, dass nicht etwa das Vorgehen gegen die von den Römern oktroyierte πολιτεία als Kapitalverbrechen angesehen wurde, sondern vielmehr die ταραχή, die im Niederbrennen des Archivs gegipfelt hatte. Denn wegen seiner Beteiligung an dieser Aktion wurde Phormiskos hingerichtet, während der Nomograph Timotheos lediglich nach Rom verbannt wurde. 322 IG IX 2,517 (vgl. Syll.3 543). 323 Vgl. so etwa Rizakis 2001: „L’échec de la révolte antiromaine, une année seulement après la destruction de Corinthe, a donné le coup de grâce à la bourgeoisie locale impliquée dans la stasis antiromaine“ (47). Ähnliches vermutete bereits Beasley 1900: „The crime formed part of a revolutionary attempt directed against the timocracy established by Rome“ (163). 324 Vgl. in diesem Sinne auch Kallet-Marx 1995b: „We certainly do not hear from Fabius that Cyllanius and the councillors had been expelled from Dyme, nor does the Roman claim that Sosus and Timotheus had illegally usurped the office of nomographos in the course of stasis“ (147). 325 Dass Kyllanios als ‚Romfreund‘ galt, liegt zumindest sehr nahe, da man ihn sonst schwerlich mit dieser heiklen Mission betraut hätte. Ob er überdies als Feind von Sosos, Timotheos und Phormiskos anzusprechen ist, ist schwerer zu entscheiden. Es erscheint gut denkbar, dass die Römer von den Unruhen in Dyme erfahren und daher Rechenschaft verlangt hatten, weshalb die Polis dann eine große, hochrangige Gesandtschaft zum proconsul schicken musste, die nicht notwendig aus Antagonisten der Nomographen bestanden haben muss – auch wenn dies wahrscheinlich ist. Diese Gruppe dürfte auch für die Aufstellung der Inschrift gesorgt haben.

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3. Die lokale Überlieferung

Diese Beobachtung ist von hoher Relevanz, da sie dokumentiert, welche beiden Prinzipien die römische Griechenlandpolitik im späten Hellenismus prägten: Zum einen stützte man jene, die sich erfolgreich als zuverlässige φίλοι der Römer zu inszenieren vermochten,326 zum anderen aber ging es vor allem um eine Befriedung.327 Wie genau die πολιτεία einer Stadt beschaffen war, war offenbar von nachrangiger Bedeutung; aber derjenige, den man als Störer der öffentlichen Ordnung und als Anstifter von σύγχυσις und ταραχή identifizierte, war des Todes, während die Verbannung des Timotheos wohl ähnlich zu interpretieren ist wie die jener achaiischen Politiker, die 167 nach Italien verbracht worden waren: Seine weitere Anwesenheit in Dyme hätte den Frieden gefährdet. Damit bestätigt die Inschrift – unabhängig davon, ob sie auf 144 oder doch erst auf 115 zu datieren ist – den Befund, den bereits die Auswertung der literarischen Zeugnisse ergeben hat: Spätestens seit dem Dritten Makedonischen Krieg verfolgten die Römer augenscheinlich das Ziel, gewaltsame Unruhen in ihrem Machtbereich systematisch zu unterbinden. 3.2.7 Augustus und die ἀσφάλεια: Knidos Was sich in Dyme andeutete, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Um zu illustrieren, wie grundlegend sich daher die Rahmenbedingungen für eine offene Stasis und ihre Beilegung am Ende des hier betrachteten Zeitraums gewandelt hatten, sei abschließend noch in aller Kürze auf ein bekanntes Beispiel aus augusteischer Zeit eingegangen: Im Jahr 6 v. Chr. richtete der princeps ein Schreiben an die karische Polis Knidos, bei der es sich formal um eine civitas libera et foederata handelte, die nicht dem proconsul Asiae unterstand.328 Der kaiserliche Brief wurde im 2. Jahrhundert aus unklaren Gründen gemeinsam mit einem hadrianischen Reskript in der Nachbarstadt Astypalaia inschriftlich festgehalten und 1883 erstmals publiziert;329 er bezeugt, dass es in Knidos kurz vor der Zeitenwende zu einem heftigen Konflikt zwischen mehreren Bürgern gekommen war, in den Augustus nun eingriff.330 326 Vgl. in diesem Sinne bereits Kallet-Marx 1995b: „The Roman proconsul may well have been much more concerned with Rome’s interest in supporting its friends than in the probably messy details of the affair“ (147). Vgl. auch Champion 2007: „The dramatic incident at Achaean Dyme in 144/143 is but one of many examples of second century Greek states turning to Roman authority in order to resolve political conflict“ (258). 327 Anders Eich 2006, der nicht den Aufruhr, sondern die Vernichtung von Schuldverträgen für entscheidend hält: „Nach der Einrichtung einer römischen Provinzialadministration war die Toleranzschwelle für das Eingreifen in lokale Autonomierechte, wie der Brief des Q. Fabius Maximus an die achäische Polis Dyme explizit deutlich macht […], präzise in dem Augenblick überschritten, als bei lokalen Unruhen das Archiv der Polis und damit die privaten Schuldverträge gezielt einem Angriff ausgesetzt waren“ (586 f.). 328 Plin. hist. nat. 5,104. 329 IK Knidos 34 (vgl. Syll.3 780). Die Inschrift gehört offenbar zu einem fünf oder sechs Kaiserbriefe umfassenden Dossier; vgl. Haensch 2009: 186 f. 330 Vgl. zum Folgenden Volkmann 1969: 161–163 sowie zuletzt Wankerl 2009: 2–16, Karabatsou 2010 und Tuori 2016: 84–89, die allerdings vor allem rechtshistorische Aspekte behandeln und den für die vorliegende Untersuchung entscheidenden Punkt weitgehend unberücksichtigt lassen.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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Über den konkreten Anlass der Auseinandersetzung schweigt der Text wie üblich, und auch die Zahl der Beteiligten bleibt im Dunkeln, da lediglich einige prominente Akteure im Fokus stehen. Dennoch genügen die gebotenen Informationen durchaus, um auf einen bürgerkriegsartigen Konflikt zu schließen, in dessen Verlauf schließlich das von Barrikaden umgebene Anwesen eines gewissen Eubulos, Sohn des Anaxandridas, drei Nächte lang von einer Gruppe um Philinos, Sohn des Chrysippos, unter Einsatz von Gewalt belagert worden war (Φιλεῖνον τὸν Χρυσίππου τρεῖς νύκτας συνεχῶς ἐπεληλυθότα τῆι οἰκίᾳ τῆι Εὐβούλου καὶ Τρυφέρας μεθ’ ὕβρεως καὶ τρόπωι τινὶ πολιορκίας).331 Dabei kam es zu mindestens einem Todesopfer: Philinos’ Bruder, ebenfalls Eubulos genannt, wurde von einem Gefäß am Kopf getroffen und starb. Damit war eine neue Eskalationsstufe erreicht. Eubulos und seine Frau Tryphera flohen aus Knidos und wurden offenbar in absentia des Mordes für schuldig befunden. Aber offenkundig verfügten die beiden über ausgezeichnete Verbindungen nach Rom,332 und als bei Augustus eine Gesandtschaft aus Knidos vorsprach, die die beiden φυγάδες des Mordes bezichtigte und dem princeps ein entsprechendes ψήφισμα überreichte,333 akzeptierte der Kaiser dies – anders als es Q. Fabius Maximus seinerzeit im Falle von Dyme getan hatte – nicht etwa,334 sondern ordnete stattdessen eine eigene Untersuchung durch den Statthalter C. Asinius Gallus (cos. 8) an.335 Dieser unterzog die an dem Vorfall beteiligten Sklaven einem peinlichen Verhör; und da diese, wie es in der Inschrift heißt, auch unter der Folter beteuerten, es habe sich um einen Unfall gehandelt – ihr Herr habe lediglich angeordnet, einen Behälter voll Kot über den Angreifern auszuleeren, und das Gefäß sei dabei versehentlich herabgefallen und habe Philinos’ Bruder getötet –, sprachen die Römer den zwischenzeitlich verstorbenen Eubulos und seine Frau vom Mordvorwurf frei, auch wenn es pro forma den Knidiern überlassen blieb, hieraus die Konsequenzen zu ziehen.336 331 IK Knidos 34, Z. 13–16. 332 Da παρούσης etwas uneindeutig ist, ist umstritten, ob die beiden nach Rom flohen und Tryphera dort anwesend war, als Augustus sein Verdikt abgab; vgl. Wankerl 2009: 6 f. und Tuori 2016: 85. Im Grunde spricht aber alles dafür. Wieso die beiden, ohne die civitas Romana zu besitzen, beim princeps Gehör fanden, ist hingegen völlig unklar. Vgl. aber Karabatsou 2010, der annimmt, alle Bürger einer civitas libera et foederata hätten dieses Privileg genossen. 333 Vermutlich besagte der Volksbeschluss, dass die Gesandten, die beide Dionysios hießen, befugt seien, im Namen der Polis zu agieren und Anklage zu erheben; vgl. Wankerl 2009: 6. 334 Wankerl 2009: 5 deutet die formelle Anrede als Indiz dafür, dass Augustus auf die Anklage durch die Knidier „mit einem förmlichen Akt reagiert“ habe. Meines Erachtens ist allerdings wahrscheinlicher, dass die beiden knidischen Gesandten nach Rom kamen, um sich zu rechtfertigen, nachdem sich der princeps bereits in den Fall eingeschaltet hatte. 335 Nicht ganz klar ist, wo genau man die Sklaven verhören ließ; vgl. Millar 1992: 235. Sollte sich Asinius Gallus zum fraglichen Zeitpunkt bereits in Asia aufgehalten haben, spricht alles für Ephesos als Ort der Vernehmung. 336 Wie Wankerl 2009: 14 f. erläutert, lag hier nach römischem Rechtsverständnis eine Notwehrsituation vor. Ob dies auch der griechischen Auffassung entsprach, die weniger scharf zwischen vorsätzlichem Mord (φόνος ἑκούσιος) und unabsichtlicher Tötung (φόνος ἀκούσιος) unterschieden zu haben scheint, ist unklar; dass die augusteische Entscheidung die Angehörigen des Opfers zufriedenstellte, ist jedenfalls unwahrscheinlich: Der Tod durch eine kotgefüllte Amphore war wohl einfach zu schändlich, um ungesühnt zu bleiben.

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3. Die lokale Überlieferung

Doch dabei ließ es Augustus nicht bewenden, sondern er stellte sich nachdrücklich auf die Seite der Beschuldigten: Das Schreiben konstatiert, es wäre gerechter gewesen, hätte nicht Philinos, sondern sein Bruder überlebt (δικαιότερον ἂν σωθέντα τἀιδελφοῦ) – ein Satz wie ein Fausthieb, der die Schuld an den Vorgängen unzweideutig nur einer Partei zuweist, deren Anführer eigentlich den Tod verdient habe.337 Und auch Volk und Rat von Knidos, die sich ja nach den Ereignissen zunächst hinter Philinos gestellt hatten, werden vom princeps scharf getadelt: Es sei kein Wunder, dass die Angeklagten den Prozess und das Verhör der Sklaven in der Polis gefürchtet hätten, sei es doch offensichtlich, dass die Knidier parteiisch seien; immerhin hätten sie sich nicht auf die Seite der Angegriffenen gestellt, sondern auf die der Angreifer, obwohl diese die öffentliche Sicherheit (ἀσφάλεια) durch Frevelmut (ὕβρις) und Gewalttätigkeit (βία) bedroht hätten. Das Schreiben endet mit der ausdrücklichen Aufforderung an die Polis, die kaiserliche Entscheidung zu berücksichtigen und die öffentlichen Aufzeichnungen (γράμματα) entsprechend anzupassen.338 Es liegt auf der Hand, dass den Hintergrund dieser Ereignisse eine Stasis gebildet hatte, die zwar gewaltsam eskaliert war, aber offenbar nur ein einziges Todesopfer gefordert hatte. Zumindest beim Protagonisten der einen Parteiung, Eubulos, Sohn des Anaxandridas, handelte es sich zudem offensichtlich um ein Mitglied der Oberschicht von Knidos, da er und seine Gattin andernfalls schwerlich die Aufmerksamkeit und Unterstützung des princeps hätten erlangen können. Da andererseits sein Widersacher Philinos, Sohn des Chrysippos, in der Lage gewesen war, die Institutionen der Polis in seinem Sinne zu beeinflussen, dürfte es sich aber auch bei ihm um einen Angehörigen der sozialen Elite gehandelt haben – kurzum, allem Anschein nach hat man es mit einer Fehde zwischen zwei aristokratischen Familien zu tun, in die die Polis verwickelt worden war.339 Wäre Knidos nun tatsächlich frei und unabhängig gewesen, hätte der Konflikt mit dem Sieg der augenscheinlich ohnehin überlegenen Parteiung um Philinos geendet, dem es offenbar gelungen war, seine Kontrahenten als Mörder hinzustellen, die fortan mit ihren Anhängern φυγάδες gewesen wären und vielleicht eine gewaltsame Rückkehr geplant hätten. Doch die Zeiten hatten sich gewandelt. Die Befriedung der Polis, die Rehabilitation der Verurteilten und ihre Reintegration in die Bürgerschaft wurden von

337 Tuori 2016: 86 spricht lediglich davon, Philinos habe „possibly“ Begleiter gehabt. Diese Vorsicht ist unbegründet: Dass Philinos und sein Bruder nicht im Alleingang ein verbarrikadiertes Anwesen belagern (τρόπωι τινὶ πολιορκίας) konnten, dürfte offensichtlich sein. 338 ἀλλὰ νῦν ὀρθῶς ἄν μοι δοκεῖτε ποιῆσαι τῆι ἐμῆι π[ερὶ τού]των γνώιμηι προνοήσαντες καὶ τὰ ἐν τοῖς δημ[οσίοις] ὑμῶν ὁμολογεῖν γράμματα, Z. 37–39. Vgl. Wankerl 2009: „Die Anweisung des Kaisers zielt darauf, dass die Knidier ihre Akten dem kaiserlichen Ausspruch angleichen. Dies deutet wohl auf eine vorangegangene Verurteilung der Angeklagten hin“ (8). Was hingegen fehlt, ist die Anweisung, das kaiserliche Schreiben in Knidos als Inschrift aufzustellen – ob dies geschah, ist unklar; vgl. Millar 1992: 443. Tuori 2016: 87 spekuliert, Tryphera sei nicht nach Knidos zurückgekehrt und habe das kaiserliche Schreiben an ihrem neuen Wohnort Astypalaia verewigen lassen; doch ist zu bedenken, dass es sich bei der überlieferten Version offenbar um eine Wiederaufzeichnung handelt, die lange nach den Vorgängen aus unbekanntem Anlass vorgenommen wurde. 339 Es dürfte sich mithin um genau jene Konstellation gehandelt haben, vor der Plutarch einige Jahrzehnte später warnen sollte; Plut. Mor. 824f–825a.

3.2 Weitere Beilegungsversuche

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der Hegemonialmacht de facto einfach angeordnet, statt sich um eine Versöhnung zu bemühen.340 Der Umstand, dass sich Augustus so eindeutig auf eine Seite schlug, sollte dabei nicht als Indiz dafür gedeutet werden, dass Eubulos und Tryphera von vornherein die unübersehbare Unterstützung des princeps genossen hätten. Im Gegenteil, es erscheint kaum vorstellbar, dass sich Rat und Volk von Knidos so offen hinter Philinos gestellt und sogar eine Gesandtschaft nach Rom geschickt hätten, wenn sie davon ausgegangen wären, damit Augustus zu verärgern. Doch die Knidier hatten offensichtlich unterschätzt, wie ernst es dem Kaiser mit der Durchsetzung der pax Augusta war; und als die Untersuchung durch den Statthalter ergeben hatte, dass die gewaltsame Störung der öffentlichen Ordnung – oder römisch gesprochen: die seditio – von der Gruppe um Philinos ausgegangen sei, während sich Eubulos lediglich verteidigt habe, formulierte der princeps seinen Unmut, wie gesagt, auf unmissverständliche Weise. Mithin bestätigt die Inschrift aus Knidos den Befund, der sich aus den literarischen Quellen ableiten lässt: Der kaiserliche Herrschaftsanspruch beruhte wesentlich auf der Garantie von Sicherheit, Ruhe und Ordnung im Imperium, und da Augustus anders als die meisten hellenistischen Monarchen nicht befürchten musste, jene, die er mit seinen Entscheidungen vor den Kopf stieß, könnten sich daraufhin seinen Gegnern anschließen, konnte er seinen Willen auch ohne allzu große Rücksichtnahme durchsetzen – etwas, das vor ihm allenfalls Alexander dem Großen möglich gewesen war. Selbst eine offenbar gerade erst gewaltsam eskalierte Stasis war deshalb ein sicherer Weg, den Zorn des princeps zu erregen: Öffentliche Gewaltausbrüche und Unruhen waren schlicht inakzeptabel. Die Frage, wer in Knidos für die Störung der allgemeinen Ordnung (τὴν κοινὴν ἁπάντων ὑμῶν ἀσφάλειαν) verantwortlich gewesen war, war für Augustus daher offensichtlich weit wichtiger als die, wie genau ein Gefäß mit Kot auf dem Haupt eines prominenten Bürgers gelandet war.341 Dies dürfte auch erklären, wieso er Asinius Gallus mit der Untersuchung beauftragte: Es ging letztlich darum, einem Verdacht auf seditio nachzugehen.342 Die Knidier werden sich daher beeilt haben, seinen 340 Vgl. Tuori 2016: „Augustus would introduce himself into the case with little regard for whatever privileges the city of Knidos had“ (88). Ob civitates liberae formal das Recht besaßen, Kapitalprozesse durchzuführen, ist umstritten; die vorliegende Inschrift scheint aber dafür zu sprechen; vgl. Colin 1965: 86–89. 341 Da Augustus offenbar recht wenig Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der Knidier nahm, erfährt man über die Vorgänge ungewöhnlich viele Details. Andernorts ist dies leider nicht der Fall. Gerne wüsste man zum Beispiel, was genau sich hinter der großen Verschwörung (συνωμοσία) verbarg, die der Polis Kibyra sehr geschadet und die Q. Veranius Philagrus niedergeschlagen haben soll (καταλύσαντα συνωμοσίαν μεγάλην τὰ μέγιστα λυποῦσαν τὴν πόλιν), wofür ihm der Demos im Jahr 25 n. Chr. in einer großen Ehreninschrift dankte; I.Kibyra 41 (vgl. IGR IV 914). Vgl. de Ste. Croix 1981: 307 f. und Nollé 1982: 272 f. Der Ausdruck συνωμοσία entsprach der lateinischen coniuratio und dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Stasis verweisen; in diesem Zusammenhang erscheint er etwa im Bürgereid von Dreros; SEG 46,1210. 342 Wankerl 2009: 7 f. versucht hingegen, das Eingreifen des Statthalters damit zu begründen, dass Tryphera mutmaßlich nicht Bürgerin von Knidos, sondern von Astypalaia gewesen gewesen, weshalb zwei verschiedene Poleis betroffen gewesen seien. Diese sehr formaljuristische Argumentation scheint jedoch am Kern der Sache vorbeizugehen. Asinius Gallus war seit dem fraglichen Jahr proconsul Asiae; da er in der Inschrift aber lediglich als φίλος bezeichnet wird, ist denkbar, dass er die Untersuchung gerade nicht in seiner Funktion als senatorischer Statthalter, sondern als amicus Augusti durchführte. Karabatsou 2010

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3. Die lokale Überlieferung

kaum bemäntelten Befehlen Folge zu leisten,343 denn zweifellos wollten sie nicht den Status als civitas libera aufs Spiel setzen. Ob es daneben auch Maßnahmen gab, die beiden zerstrittenen Parteiungen in der Stadt wieder miteinander zu versöhnen, entzieht sich unserer Kenntnis.344 3.3 Bürgereide Spricht man über epigraphische Zeugnisse für hellenistische Staseis, so kann man eine weitere Quellengruppe kaum übergehen, die hier bereits wiederholt erwähnt wurde: die Bürgereide.345 Diese konnten offensichtlich aus sehr unterschiedlichen Anlässen und vor sehr verschiedenen Hintergründen eingefordert werden, aber zumindest in einigen überlieferten Fällen ist der Zusammenhang mit einer drohenden, beendeten oder schwelenden Stasis unübersehbar;346 so wurden zum Beispiel auch die Beilegungs- und Versöhnungsversuche in Dikaia, in Mytilene, auf Telos und in Alipheira beschworen,347 auch wenn den Beteiligten bewusst gewesen sein dürfte, dass die Reichweite dieser Maßnahme oft begrenzt war.348 Bürgereide waren dabei an sich keine Besonderheit des Hellenismus, sondern bereits Xenophon349 beschreibt sie als eine in ganz Hellas übliche Einrichtung: ἀλλὰ μὴν καὶ ὁμόνοιά γε μέγιστόν τε ἀγαθὸν δοκεῖ ταῖς πόλεσιν εἶναι καὶ πλειστάκις ἐν αὐταῖς αἵ τε γερουσίαι καὶ οἱ ἄριστοι ἄνδρες παρακελεύονται τοῖς πολίταις ὁμονοεῖν, καὶ πανταχοῦ ἐν τῇ Ἑλλάδι νόμος κεῖται τοὺς πολίτας ὀμνύναι ὁμονοήσειν, καὶ πανταχοῦ ὀμνύουσι τὸν ὅρκον τοῦτον. Eintracht (ὁμόνοια) aber gilt als das größte Gut für die Poleis; die Ältestenräte und die besten Männer (αἵ τε γερουσίαι καὶ οἱ ἄριστοι ἄνδρες) drängen die Bürger beständig dazu, einträchtig zu sein, und überall in Hellas gibt es die Sitte, die Bürger aufzufordern, zu schwören, sich zu vertragen, und überall leisten sie diesen Eid.

Der gewandelte Epigraphic Habit des Hellenismus sorgte allerdings dafür, dass fortan nicht wenige der von den Politen geschworenen Eide inschriftlich festgehalten wurden.

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nimmt an, Augustus habe dies formal auf Grundlage der tribunicia potestas verfügt, die ihm gestattet habe, auch Nichtrömern auxilium zu gewähren. Vgl. auch Wankerl 2009: „Insgesamt ist die Entscheidung des Kaisers als faktisches den Fall abschließendes Urteil zu sehen“ (12). Denkbar ist sogar, dass die Knidier nun im Gegenteil dem kaiserlichen Wink folgten und Philinos den Prozess machten. Vgl. zur Bedeutung politischer Eide in Hellas die konzise Einführung Rhodes 2007. Grundlegend ist daneben immer noch Herrmann 1968: 21–49; wichtige Beobachtungen bieten überdies jetzt Sommerstein – Bayliss 2013 (bes. 129–145). Zur Rolle von Eiden in den zwischenstaatlichen Beziehungen der hellenistischen Zeit vgl. nun Scharff 2016b. Vgl. auch Sommerstein – Bayliss 2013: 129 f. Vgl. zur Bedeutung des Eides im Rahmen eines politischen Ausgleichs allgemein Thür 1996. Erinnert sei etwa an Hypata, wo die Verbannten im Jahr 174 nach ihrer Rückkehr laut Livius fidem datam deosque testis nequiquam invocantes erschlagen wurden; Liv. 41,25,4. Xen. Mem. 4,4,16.

3.3 Bürgereide

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Die Anlässe sind dabei, wie gesagt, durchaus verschieden, doch geht es nicht selten um eine Abmachung zwischen zwei Parteien: Um 305 schworen so die Iasier, Ptolemaios I. und Söldner einen Treueid,350 ein anderes Beispiel ist einem Bündnisvertrag zwischen Epidauria und den ersten beiden Antigoniden angefügt,351 während eine Inschrift aus Pergamon um 263 die Eide bewahrt, die Eumenes I. und aufständische Söldner aus Anlass ihrer Versöhnung leisteten.352 Um 290 beschworen Aitoler, Boioter und Phoker ein gemeinsames Bündnis,353 und ein Jahrhundert später taten dies Phoker und Aitoler erneut.354 Ein recht frühes Beispiel ist ferner jener ὅρκος, der aus Anlass der bereits erwähnten Sympolitie von Pidasa und Latmos geleistet wurde,355 während eine fragmentarisch erhaltene Inschrift aus Labraunda offenbar den Eid bewahrt, den die Bürger von Mylasa im 2. Jahrhundert mutmaßlich aus Anlass eines Vertrages mit der Stadt zu schwören hatten.356 Teils leistete auch nur ein Teil der Politen, etwa die Epheben, einen Eid.357 Hinzu kommen mehrere Fälle, deren Kontext unklar ist.358 Soweit ich sehe, wurde dabei fast immer Zeus angerufen, der bereits seit archaischer Zeit als Gott der Ordnung galt,359 aber auch Gaia und Helios werden häufig genannt; andererseits fehlt etwa beim Schwur aus Telos jegliche Bezugnahme auf die Götter.360 Dieser stellt ansonsten allerdings geradezu den Prototyp eines hellenistischen Bürgereides dar und sei hier daher wörtlich zitiert: ἐμμενέω ἐν τῶι πολιτεύματι τῶι καθεστακότι καὶ διαφυλαξέω τὰν δαμοκρατίαν καὶ οὐ μνασικακησέω περὶ τῶν [ἐν τᾶι κ]ρίσ[ει] γενομένων οὐδὲ πραξέω παρὰ τὰν διάλυσιν τάνδε οὐδὲν [οὐδὲ] ὅπλα ἐναντία θησεῦμαι τῶι δάμωι οὐδὲ τὰν ἄκραν καταλαμψεῦντι συμβουλευσέω οὐδὲ ἄλλωι ἐπιβουλεύοντι οὐδὲ καταλύοντι τὸν δᾶμον εἰδὼς ἐπιτραψέω· αἰ δέ κα αἴσθωμαί τινα νεωτερίζοντα ἢ συλλόγους συνάγοντα ἐπὶ καταλύσει τοῦ δάμου, δηλωσέω τοῖς ἄρχουσιν. εὐορκεῦντι μέμ μοι ἦμεν πολλὰ ἀγαθά, ἐφιορκεῦντι δὲ τὰ ἐναντία. Ich werde an der gegenwärtigen Staatsform festhalten und die Demokratie beschützen und weder etwas nachtragen, was während der Krise geschehen ist, noch etwas gegen den Vergleich unter350 I.Iasos 2. 351 IG IV2 1,68. Etwa um dieselbe Zeit schworen auch die Athener einen Eid aus Anlass des Bündnisses mit Antigonos und Demetrios; SEG 41,50. 352 I.Pergamon I 13. 353 Syll.3 366. 354 IG IX 1,98. 355 SEG 47,1563. Um 241 schworen die Bürger von Magnesia am Sipylos einen Eid, in dem sie sich unter anderem verpflichteten, die Eintracht zu wahren und keine Staseis zu beginnen (πολιτεύσομαι μεθ’ ὁμονοίας ἀστασιάστως κατὰ τοὺς Σμυρναίων νόμους); I.Smyrna 573, Z. 64 f. Der Eid der Kalymnier (StV III 545; T.Cal test. XII; IG XII 4,1,152) anlässlich der erneuten Eingemeindung nach Kos wurde hier bereits erwähnt. 356 I.Labraunda 47. Der Text ist sehr stark beschädigt, doch Wörter wie καταλύοντα oder διαφυλάξω legen nahe, dass es darum ging, einen Umsturz zu verhindern und die bestehende Ordnung zu verteidigen. 357 Lykurg überliefert den athenischen Ephebeneid; Lyk. Leokrat. 76 f. Vgl. zur Ephebie im Hellenismus auch den Überblick bei Kennell 2015. 358 Zu nennen sind hier etwa das Fragment eines Eides aus Iulis auf Keos, in dem sich die Bürger verpflichten, die bestehenden Gesetze zu achten und sich nicht an Aktionen zu beteiligen, die sich gegen die Polis oder die Politen richten (IG XII Supp. 235), eine fragmentarische Inschrift aus Erythrai (I.Erythrai 51) und eine Schwurformel aus Ephesos (I.Ephesos IV 1382). 359 Vgl. Linke 2006. 360 IG XII 4,1,132 Z. 128–136.

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3. Die lokale Überlieferung nehmen oder die Waffen gegen das Volk ergreifen, und ich werde keinem mit Rat zur Seite stehen, der die Festung besetzen will oder Böses vorhat oder die Demokratie stürzen will, oder mich ihm wissentlich anschließen. Wenn ich von jemandem erfahre, der einen Umsturz plant oder Zusammenkünfte abhält zum Sturz der Demokratie, werde ich es den Archonten anzeigen. Wenn ich diesen Eid halte, soll mir viel Gutes zuteil werden; wenn ich den Eid breche, das Gegenteil.

Der Eid aus Telos steht damit zugleich stellvertretend für eine Untergruppe, die man als „Verfassungseide“ bezeichnen könnte, da sie die Verpflichtung, die bestehende Regierungsform (πολίτευμα) zu bewahren, besonders hervorheben.361 Wenngleich ein solcher Schwur nicht unbedingt auf aktuelle Konflikte in einer Polis hinweisen muss, ist doch zugleich anzunehmen, dass bereits in archaischer und klassischer Zeit kaum eine Stasis beigelegt worden sein dürfte, ohne die Versöhnung zu beschwören.362 Neben den hier bereits behandelten Beispielen aus hellenistischer Zeit, in denen ein ὅρκος explizit in den Zusammenhang einer Stasis gehört, sind vor allem drei prominente Fälle zu nennen, deren konkreter Kontext nicht ausdrücklich genannt wird: Der gegen 300 aufgezeichnete Eid der Chersonesiten,363 ein Schwur der Bürgerschaft der kretischen Polis Itanos, der in das frühe 3. Jahrhundert zu gehören scheint,364 und der Eid, der wohl um 220 ebenfalls auf Kreta, in Dreros, von in die ἀγέλαι365 eintretenden Jungbürgern geleistet wurde.366 3.3.1 Der Eid der Chersonesiten Die Inschrift aus Chersonesos Taurike, die aufgrund der Buchstabenform in das ausgehende 4. Jahrhundert – also etwa gleichzeitig mit dem Bürgereid von Telos – datiert wird, ist dabei nicht nur der älteste, sondern auch der enigmatischste der drei Texte, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass die literarische Überlieferung für diese Zeit zu den Griechen auf der Krim kaum verwertbare Informationen liefert.367 Die Polis galt Strabon als Apoikie von Herakleia Pontike;368 sie scheint im 4. Jahrhundert eine 361 Makarov 2014: 7 spricht von „constitutional oaths“. Ein frühes Beispiel ist der Eid, den das athenische Demophantosgesetz vorschrieb, das mutmaßlich in das Jahr 410 gehört; Andok. Myst. 95–98. Vgl. zuletzt Teegarden 2014: 30–37. 362 Laut Thukydides wurden so etwa das Ende einer Stasis in Megara und die Rückführung von Verbannten im Jahr 424 beeidet: ὁρκώσαντες πίστεσι μεγάλαις μηδὲν μνησικακήσειν, βουλεύσειν δὲ τῇ πόλει τὰ ἄριστα; Thuk. 4,74,2. Ähnliches ereignete sich laut Diodor im Jahr 400 in Kyrene: μετὰ δὲ τὴν παράταξιν οἱ Κυρηναῖοι πρὸς ἀλλήλους διαπρεσβευσάμενοι διηλλάγησαν, καὶ παραχρῆμα ὁρκωμοτήσαντες μὴ μνησικακήσειν, κοινῇ τὴν πόλιν κατῴκησαν; Diod. 14,34,6. Und bereits in der Odyssee wird die Möglichkeit, einen Streit unter Bürgern durch einen Eid, den beide Seiten zu schwören haben, beiläufig erwähnt: Athena versöhnt auf Zeus’ Anraten Odysseus nach dem Massaker an den Freiern auf diese Weise wieder mit seinen Mitbürgern; Hom. Od. 24,478–486 und 24,546–548. 363 IosPE I2 401 (vgl. Syll.3 360). Vgl. auch SEG 52,733. 364 I.Cret. III iv 8 (vgl. Syll.3 526). 365 Vgl. Cartledge 1996. 366 I.Cret. I ix 1. Vgl. Syll.3 527; SEG 46,1210. 367 Den derzeit wohl besten Überblick über die Griechen im nördlichen Schwarzmeerraum bietet Müller 2010, die auch auf regionale Krisenphasen eingeht (67–79). 368 Strab. 7,4,2.

3.3 Bürgereide

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recht erfolgreiche Expansionspolitik verfolgt zu haben.369 Die Inschrift befindet sich auf einer in zwei Teile zerbrochenen Stele, die bereits 1890/1 entdeckt wurde, und beginnt unvermittelt direkt mit der Eidesformel; der Schluss fehlt, doch legen sowohl der Stein als auch der Text nahe, dass nur wenig verloren gegangen ist. Wer genau den Schwur abzulegen hatte, alle Bürger oder nur ein Teil von ihnen, wird also nicht angegeben; gerade das Fehlen einer Einschränkung legt aber nahe, dass grundsätzlich alle Politen den Eid leisten sollten. Anders als etwa auf Telos wird die Verweigerung des Schwures nicht mit einer Strafe bedroht. Obwohl die Formel mit einer Bezugnahme auf ἐλευθερία, ὁμόνοια und σωτηρία („Wohlfahrt“) beginnt, erweckt die erste Klausel zunächst den Eindruck, die Stadt sei vor allem von außen bedroht gewesen, da die Bürger schwören mussten, weder die Polis noch ihre Festungen an andere Hellenen oder an Barbaren zu verraten;370 doch der Verweis auf Verrat (οὐ προδωσῶ) stellt sogleich eine direkte Beziehung zu den angespannten inneren Verhältnissen her. Diese treten im weiteren Verlauf des Textes dann ganz in den Mittelpunkt: Verboten wird der Umsturz der Demokratie (οὐδὲ καταλυσῶ τὰν δαμοκρατίαν)371 sowie, nochmals, ein Verrat an der Polis (οὐδὲ τῶι προδιδόντι καὶ καταλύοντι ἐπιτρεψῶ); der Eid verpflichtet dazu, ein solches Unterfangen stattdessen den Damiurgen zu enthüllen.372 Dies wird sogar noch ein drittes Mal eingeschärft: Wenn jemand eine Verschwörung und Verrat betreiben sollte, werde man sein Feind sein (πολέμιος ἐσσοῦμαι τῶ ἐπιβουλεύοντι καὶ προδιδόντι).373 Überdies gelobe man, als Ratsherr oder Damiurg stets das Beste und Gerechteste für die Polis und ihre Bürger zu tun und den σαστήρ für den Demos zu bewahren.374 Nachdem ferner auch die Annahme von Bestechungsgeschenken untersagt worden ist, kehrt der Eid aber wieder zu seinem Hauptmotiv zurück: Man werde keine ungerechte Handlung unternehmen oder zulassen gegenüber Politen, die nicht ihrerseits „abgefallen“ seien (πολιτᾶν τῶμ μὴ ἀφεστακότων), und keine Verschwörung (συνωμοσία) bilden, weder gegen die Polis als Ganzes noch gegen einen einzelnen Mitbürger, sofern 369 Grundlegend ist Vinogradov – Ščeglov 1997. Vgl. ferner Kovalenko 2008: 9–23 und Dössel 2003: 179 f. Makarov 2014 arbeitet die russischsprachige Forschungsliteratur auf, die zu rezipieren mir unmöglich war. 370 ὁμονοησῶ ὑπὲρ σωτηρίας καὶ ἐλευθερίας πόλεος καὶ πολιτᾶν καὶ οὐ προδωσῶ Χερσόνασον […] ἢ ἐνέμοντο οὐθενὶ οὐθὲν οὔτε Ἕλλανι οὔτε βαρβάρωι, ἀλλὰ διαφυλαξῶ τῶι δάμωι τῶι Χερσονασιτᾶν; IosPE I2 401, Z. 5–13. Die jüngere Forschung tendiert dazu, dem Verweis auf die βάρβαροι nicht übermäßig viel Gewicht zu geben. Vgl. etwa Stolba 2005: 299, der konstatiert, eine außenpolitische Bedrohungssituation sei für die griechischen Siedlungen auf der Krim erst seit etwa 270 überliefert. Archäologische Untersuchungen der letzten Jahre legen überdies nahe, dass es nur wenig Austausch zwischen den Poleis und ihrer nichtgriechischen Umgebung gegeben hat; vgl. Kovalenko 2008: 22. Vgl. dagegen noch Vinogradov – Ščeglov 1997: 457 f., die vermuten, einheimische Stämme hätten in die Stasis eingegriffen. 371 Vgl. Bugh 2013: „What do the inscriptions reveal about the political institutions of the Black Sea cities? First of all, democracy flourished in the Pontos in the Hellenistic period“ (121). 372 IosPE I2 401, Z. 13–18. 373 IosPE I2 401, Z. 18–22. 374 IosPE I2 401, Z. 22–28. Das Wort σαστήρ (Z. 24 f.) ist rätselhaft und anderweitig nicht bezeugt; vgl. Gavrilov 1998. Vgl. zur Diskussion neben Kocevalov 1948: 169–172, der einen Ortsnamen vermutete, ausführlich Makarov 2014: 17–29, der vorschlägt, es im Sinne von „Staatssäckel“ zu übersetzen: „The probable meaning of the Chersonesite term σαστήρ is ‚sack‘ […], and metonymically ‚polis treasury‘“ (23).

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3. Die lokale Überlieferung

dieser nicht zum „Volksfeind“ ([π]ολέμιος τῶι δάμωι) erklärt worden sei.375 Was sich anschließt, ist für das Verständnis des Textes zentral: Falls man sich bereits verschworen habe und an jemanden durch Schwur oder Gelübde gebunden sei (εἰ δέ τινι συνώ[μο]σα καὶ εἴ τινι καταλέλαμμαι ὅρ[κωι ἢ ἐ]πευχᾶι), so solle es einem wohlergehen, wenn man diesen Eid löse, andernfalls aber solle einem Schlechtes widerfahren.376 Anschließend wird nochmals eingeschärft, jede συνωμοσία, von der man Kenntnis erhalte, den Beamten zu melden. Bevor der Eid mit einer erneuten Anrufung der Götter schließt, enthält er noch eine letzte Klausel, die zumindest auf den ersten Blick etwas aus dem Rahmen fällt: Getreide, das für den Export aus der Ebene bestimmt sei, werde man weder verkaufen noch irgendwohin anders als nach Chersonesos ausführen.377 Während Vasilii Latyšev im Rahmen der Erstpublikation des Textes 1892 noch davon ausgegangen war, es handle sich um einen jährlich abgelegten Ephebeneid,378 setzte sich in der Forschung danach rasch die Ansicht durch, die Inschrift gehöre in den Kontext einer Stasis.379 Erst jüngst ist diese communis opinio von Igor Makarov – mit allerdings recht schwachen Argumenten – wieder in Zweifel gezogen worden, der keinen nachweisbaren Zusammenhang mit konkreten Auseinandersetzungen erkennen kann und erwägt, dass es sich um die späte Aufzeichnung eines Eides handeln könne, der bereits aus der Gründungszeit der Polis stamme, während er die Erklärung präferiert, die Inschrift hänge mit einer Vergrößerung der Bürgerschaft und der Aufnahme neuer Politen im Zuge der Expansion von Chersonesos zusammen.380 Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist dabei Makarovs Annahme, der Bezug auf die ὁμόνοια sei letztlich eine Art Genrekonvention, die für ‚Verfassungseide‘ charakteristisch sei und daher keine Aussagekraft hinsichtlich einer konkreten historischen Situation besitze, zumal die Inschrift seines Erachtens andernfalls diesen Kontext angesprochen hätte.381 375 IosPE I2 401, Z. 30–40. Vgl. Dössel 2003: „Im Falle von Chersonesos soll der einzelne Bürger vor Komplotten und Intrigen geschützt werden. Gleichzeitig mit der Verpflichtung zur Anzeigen solcher Komplotte sicherte man jedoch auch die gesetzmäßige Verfolgung zu“ (193). Vgl. auch Gray 2015: „The protection for the individual citizen from being a victim of conspiracy was explicitly qualified“ (143). Gerne wüsste man übrigens, wie genau und durch wen die Erklärung zum πολέμιος τῷ δάμῳ erfolgte – durch den Demos oder die Boule? Hat man es gar mit einem griechischen Vorbild für den römischen hostis publicus zu tun? 376 IosPE I2 401, Z. 40–44. 377 IosPE I2 401, Z. 47–50. Vgl. Kocevalov 1948: 172–174, der die Wendung σῖτος ἀπὸ τοῦ πεδίου ἀ[πα]γώγιμος als „das von der Ebene abzuliefernde Getreide“ deutete und annahm, es handle sich um eine Pachtabgabe an die Polis, die in Naturalien zu leisten gewesen sei; es gehe also nicht um Handel, sondern um die Verpflichtung zu kostenlosen Getreidelieferungen. Die wohl gründlichste Diskussion der Passage bietet Stolba 2005. 378 Als nächste Parallele schlug er den bereits erwähnten attischen Ephebeneid vor. 379 Am ausführlichsten argumentierte hierfür wohl Zhebelev 1953. 380 Vgl. Makarov 2014: „Was the text of the oath merely a record of a traditional text at a time when the polis began to make public its most significant documents […]? It is possible that the main precondition for the publication of the oath of the Chersonesites at the end of the 4th/beginning of the 3rd century bc was the increase in the civilian population of Chersonesos“ (15 f.). 381 Vgl. die Ausführungen bei Makarov 2014: „There are no definitive references to the prevailing political situation […]. Obligations concerning solidarity of citizens […] were characteristic for the genre of polis oaths in general, so the lines 5–7 in the oath cannot serve as a reliable indicator of a situation involving stasis“ (13).

3.3 Bürgereide

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Der Schwachpunkt dieser Argumentation liegt auf der Hand: Statt den Umstand, dass eine bestimmte Spielart der Bürgereide regelmäßig die Eintracht beschwört, als Zeichen für bloße Topik zu werten, darf man wohl umkehrt postulieren, dass diese Schwüre eben jeweils in innenpolitischen Krisenzeiten eingefordert wurden. Ähnlich wie bei den Dekreten für μετάπεμποι δικασταί sollte man von der Formelhaftigkeit hellenistischer Inschriften nicht vorschnell auf eine Sinnentleerung schließen. Gerade die Parallelen zu einem Eid wie jenem, der etwa um dieselbe Zeit auf Telos geleistet wurde und explizit in den Kontext einer konkreten κρίσις gehörte, legen für Chersonesos eine ähnliche Konstellation nahe. Um seine Position vertreten zu können, muss Makarov überdies eine entscheidende Wendung anders als üblich interpretieren: Statt πολιτᾶν τῶμ μὴ ἀφεστακότων als „Bürger, die nicht abgefallen sind“ zu verstehen, plädiert er dafür, μή konditional aufzufassen und daher „Bürger, sofern sie nicht abgefallen sind“ zu übersetzen.382 In der Tat ist diese Übersetzung gut vertretbar; doch während sie Makarovs Interpretation der Inschrift überhaupt erst ermöglicht, widerspricht sie zugleich nicht der Lesart, dass der Eid in den Zusammenhang einer Stasis gehört – wie sehr man gerade künftigen Verrat fürchtete, geht ja aus fast jeder Zeile des Textes hervor. Vor allem aber spricht eine andere Passage gegen Makarovs Deutung: Die Inschrift geht offensichtlich davon aus, dass zum fraglichen Zeitpunkt bereits Verschwörungen in der Stadt existierten, denn der Bürgereid soll diese ja ausdrücklich ersetzen.383 Bei einem regelmäßig und ohne besonderen Anlass geleisteten Schwur wäre dieser Verweis auf eine συνωμοσία kaum zu erwarten, vielmehr wirkt die Formulierung wie ein Versöhnungsangebot an Überläufer: Wer den Eid leistet und Mitverschwörer anzeigt, kann in die Gemeinschaft der Politen zurückkehren. Obwohl das Wort στάσις, wie so häufig, in der Inschrift nicht fällt und sich letzte Sicherheit daher in der Tat nicht erreichen lässt, spricht also alles dafür, dass der Eid der Chersonesiten nicht bloßer Routine entsprang. Schwieriger ist es, darüber hinaus weitere Aussagen zu treffen: Handelte es sich um einen Schwur, der aus Anlass eines Versöhnungversuchs geleistet wurde,384 oder vielmehr um ein Instrument des innenpolitischen Kampfes, das die Einheit einer Parteiung festigen sollte?385 Grundsätzlich scheint beides möglich zu sein; allerdings deutet mehr darauf hin, dass zum Zeitpunkt der Eidesleistung Unfrieden herrschte: Zum einen ist die bereits erwähnte Formulierung zu nennen, die nahelegt, dass ein Teil der Bürger bereits jemandem die Treue geschworen hatte, der als πολέμιος τῷ δάμῳ galt; zum anderen fällt, wie bereits Astrid Dössel hervorgehoben hat, der Umstand ins Auge, dass der Text davon auszugehen scheint, 382 Vgl. Makarov 2014: 11 f. 383 IosPE I2 401, Z. 40–44. 384 Vgl. Vinogradov – Ščeglov 1997, die annehmen, die Inschrift sei nach der Wiederherstellung der ὁμόνοια in der Polis aufgestellt worden. 385 Vgl. Dössel 2003, die der Ansicht ist, der Verweis auf die Eintracht belege keineswegs eine Pazifizierung: „Ὁμόνοια steht in den geschilderten Ereignissen also nicht am Ende einer Stasis als Ergebnis einer Versöhnung, sondern sie ist vielmehr Teil des Parteienkampfes, indem die Herstellung der Einigkeit innerhalb der sich gegenüber stehenden Gruppen diese gleichzeitig voneinander abgrenzt“ (187). Ihr folgt Chaniotis 2008: Es handle sich um „the oath of the political group which claimed to represent the entire citizen body“ (116).

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3. Die lokale Überlieferung

ein Teil der Chora von Chersonesos befinde sich aktuell nicht unter der Kontrolle des Demos (τᾶς ἄλλας χώρας ἃν Χερσονασῖται νέμονται ἢ ἐνέμοντο).386 Es erscheint daher gut möglich, dass man es mit einer Konstellation zu tun hat, bei der sich eine Parteiung mit einer anderen überworfen und die Stadt verlassen hatte.387 Während ihre Feinde die Kontrolle über die Polis gewannen oder behielten und den überlieferten Schwur veranlassten, besetzte sie einen Teil der Chora und höchstwahrscheinlich auch mindestens eine Festung. Ein solcher Vorgang wäre jedenfalls nicht ohne Beispiel; so berichtet etwa Plutarch Entsprechendes über die einige Jahre später in Elis tobende Stasis, die zur Besetzung der Festung Anymone durch zeitweilig Verbannte führte.388 Ähnliches ist auch für Kyrene bezeugt,389 und eine besonders instruktive Parallele stellen wohl die bereits erwähnten Vorgänge in Priene um das Jahr 300 dar: Hier gelang es einer Gruppe, die anscheinend von einem gewissen Hieron angeführt wurde,390 sich mit Hilfe eines Teils der Bürger zunächst durchzusetzen und ihre Gegner zu verbannen.391 Die φυγάδες baten Rhodos und Ephesos um Hilfe, setzten sich im Umland fest und fassten eigene Volksbeschlüsse, bis sie schließlich nach drei Jahren Priene gewaltsam einnahmen und ihren Sieg über den angeblichen τύραννος fortan mit jährlichen Soteria begingen, deren Gründungsurkunde inschriftlich erhalten ist.392 Dass auch die mutmaßlich aus φυγάδες bestehende Gruppierung in der Chora von Chersonesos durch Dritte, vielleicht durch umwohnende βάρβαροι, Unterstützung erfuhr, kann zumindest nicht ausgeschlossen werden; vielleicht wurde ihnen dies aber auch nur unterstellt, um sie als Verräter brandmarken zu können. Der Eid macht jedenfalls deutlich, dass seine Verfasser um Deutungshoheit bemüht waren und zugleich nicht glaubten, sich auf die Loyalität der Bürger verlassen zu können.393 Möglicherweise erklärt dies auch die Klausel zur Getreideinfuhr: Man fürchtete vielleicht, statt an die Parteiung in der Stadt könnte die Ernte an die Insurgenten geliefert werden.394 Die Existenz der Inschrift legt dabei zum einen einen Konflikt nahe, der lange genug dauerte, um den Eid nicht nur schwören, sondern auch durchaus sorgfältig in Stein meißeln zu lassen,395 386 Vgl. Dössel 2003: 187 f. 387 Ein 1984 publiziertes Inschriftenfragment, das etwa in dieselbe Zeit wie der Eid zu gehören scheint, erwähnt φυγαδεύοντες; SEG 34,750. 388 Plut. Mor. 252a. 389 Diod. 18,21,6 f. Vgl. auch Liv. 38,30,6–9 (spartanische Verbannte in der Festung Las). 390 Eine Tyrannis Hierons erwähnt Pausanias (7,2,10). Epigraphisch ist sein Name nicht bezeugt. 391 Vgl. Berve 1967: 423. Die Vorgänge dürften sich nach der Schlacht von Ipsos zugetragen haben; vgl. zur Chronologie Crowther 1996: 211–214. 392 Die Siegesinschrift ist fragmentarisch erhalten; I.Priene 11. Die Ereignisse spielten offenbar noch ein Jahrhundert später eine Rolle, als es zu einem Streit um den Besitz der Festung Karion kam; I.Priene 37 (vgl. Syll.3 599); vgl. die Diskussion bei Walser 2008: 83–87. 393 Vgl. Chaniotis 2008: „This text represents the anxieties of a government in control of the city […] during a civil war“ (116). Chaniotis bezieht sich dabei auf Dössel, deren Argumentation zu diesem Punkt in der Tat schlüssig ist. 394 Anders Stolba 2005, der einen Zusammenhang mit einer Versorgungskrise sieht, die durch eine mit einer Dürreperiode einhergehende Versalzung verursacht worden sei, die mutmaßlich auch der Grund für den Konflikt gewesen sei: „It cannot be ruled out that the grain shortage provoked internecine feuds, such as those reflected in the text of the oath“ (311). 395 Wieviel Zeit zwischen der Eidesleistung und der Errichtung der Stele verging, lässt sich nicht sagen.

3.3 Bürgereide

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zum anderen spricht sie dafür, dass die mutmaßliche Stasis in Chersonesos Taurike anders ausging als jene in Elis oder Priene: Wahrscheinlich gelang es der Parteiung, die den Schwur veranlasste und ihn verewigen ließ, sich in der Stadt zu behaupten, da die Gegenseite im Falle eines Sieges wohl für eine Entfernung gesorgt beziehungsweise gar nicht erst eine Verewigung in Stein durchgeführt hätte.396 Trifft diese Rekonstruktion zu, so veränderte der Eid danach seine Funktion; aus einem Text, der augenscheinlich während einer heiklen Situation verfasst worden war, wurde so ein Monument des Sieges. Vollkommen unklar ist hingegen, um wen es sich bei den verfeindeten Parteiungen gehandelt haben könnte. Auf den ersten Blick ist die Inschrift zwar ein Dokument der Demokratie,397 doch erscheint es in diesem wie in vielen anderen Fällen zumindest sehr problematisch, diese Selbstzuordnung der Beteiligten einfach beim Wort zu nehmen. Dass sich jene, die den Eid von Chersonesos verfassten, selbst als Demokraten und als Vorkämpfer der Freiheit verstanden, geht aus dem Text zwar eindeutig hervor, doch spricht nichts gegen die Annahme, dass auch ihre Gegner Analoges beanspruchten: Wäre die Stasis auf der Krim so ausgegangen wie die etwa zeitgleichen Auseinandersetzungen in Priene, hätte die Partei in der Chora also schließlich die Oberhand gewonnen, so hätten die φυγάδες nach ihrem Sieg mutmaßlich nicht anders gehandelt, als es die Feinde des „Tyrannen“ Hieron taten, und einen Sieg der Demokratie bejubelt. Wer in einer Stasissituation Legitimität beanspruchen wollte, der konnte – jedenfalls im Hellenismus – offensichtlich gar nicht anders, als sich als Vorkämpfer der Demokratie zu gerieren. Das wird schon daraus ersichtlich, dass „Oligarch“ stets eine Fremdbezeichnung war, denn andernfalls dürfte man erwarten, dass sich auch entsprechende Selbstzeugnisse finden lassen. Dies ist aber, soweit ich sehe, nicht der Fall.398 Dass sich stattdessen auch ein Regime, das nicht nur aus heutiger Sicht klar oligarchische Züge trug, selbst durchaus als demokratisch bezeichnen konnte, illustriert das Beispiel des frühhellenistischen Athen.399 Etwas überspitzt könnte man sagen: Oligarchen waren immer nur die anderen.400 396 Da der Text Freund und Feind nicht beim Namen nennt, ist allerdings grundsätzlich denkbar, dass die Inschrift aufgrund dieser Unbestimmtheit auch einen etwaigen Sieg der Gegenpartei überdauert haben könnte. 397 So Dössel 2003: 188–190, die darauf verweist, dass laut Thukydides die demokratische Partei (bzw. die Flotte) während der Stasis in Athen 411 einen ähnlichen Eid geleistet habe; Thuk. 8,75,2. Vinogradov – Ščeglov 1997: 447 gehen von einem oligarchischen Umsturz aus. 398 Laut Aristoteles soll es zu seiner Zeit in einigen oligarchisch regierten Poleis üblich gewesen sein, einen Eid abzulegen, ein Feind des Demos zu sein und diesem nach Kräften zu schaden: νῦν μὲν γὰρ ἐν ἐνίαις ὀμνύουσι: καὶ τῷ δήμῳ κακόνους ἔσομαι καὶ βουλεύσω ὅ τι ἂν ἔχω κακόν; Arist. Pol. 5,9,3 (= 1310a). Doch da sich meines Wissens kein einziges derartiges Zeugnis erhalten hat, ist anzunehmen, dass der Philosoph hier Verleumdungen und Polemik aufgesessen ist. 399 Laut Strabon behauptete Demetrios von Phaleron in seinen Hypomnemata, er habe die Demokratie in Athen nicht nur nicht abgeschafft, sondern sie sogar gestärkt (οὐ μόνον οὐ κατέλυσε τὴν δημοκρατίαν ἀλλὰ καὶ ἐπηνώρθωσε; Strab. 9,1,20) – und das, obwohl die Verfassung von 317, die die aktiven Bürgerrechte an einen Mindestzensus band, aus diesem Grund eigentlich als offen oligarchisch gelten muss; vgl. Grieb 2008: 66 f. 400 Damit ist übrigens keineswegs gesagt, dass es sich hierbei um eine bewusste Verleumdung gehandelt haben muss; im Gegenteil, aller Wahrscheinlichkeit nach nahm man die jeweilige Gegenseite oft tatsächlich in dieser Weise wahr; vgl. auch Kapitel 4.1.

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3. Die lokale Überlieferung

Auf dieses Phänomen wird im nächsten Kapitel noch einmal näher eingegangen werden. Hier genügt vorerst die Feststellung, dass man davon ausgehen kann, dass Schlagworte wie ἐλευθερία und δαμοκρατία in Chersonesos ähnlich wie in Telos und anderswo zwar zweifellos eine Rolle in der politischen Polemik spielten, dies aber keinesfalls genügt, um von diesem Diskurs auf die realen Verhältnisse zurückschließen zu können, da sich zumindest im Hellenismus kaum eine Stasispartei denken lässt, die sich selbst nicht als demokratisch bezeichnet hätte. So bleibt als Ergebnis festzuhalten, dass sich die Inschrift zwar plausibel als Beleg für eine Stasis lesen lässt, die um das Jahr 300 die Polis Chersonesos Taurike betraf und in deren Verlauf sich wahrscheinlich eine Parteiung zeitweilig in der Chora festsetzte, aber keine Aussagen über den Charakter und die Anlässe der Konflikte und die Motive der Akteure erlaubt. 3.3.2 Der Eid der Itanier Das zweite hier zu besprechende Beispiel ist ein Bürgereid aus dem kretischen Itanos,401 den Stylianos Spyridakis mit erwägenswerten Argumenten in die Jahre nach 270 datiert hat,402 der aber auch etwas älter sein könnte.403 Die Inschrift wirft vergleichsweise wenige Verständnisfragen auf, denn obwohl ebenso wie in Chersonesos kein Kontext geliefert wird, ist offensichtlich, dass eine aktuelle oder potentielle Stasis den Hintergrund des Textes bildet. Nach einer einleitenden Anrufung von Zeus, Hera, Athena Polias und Apollon Pythios und der Feststellung, der Eid sei von allen Itaniern geleistet worden (ὤμοσαν τοὶ Ἰτάνιοι πά[ντες]), wird zunächst wie üblich Verrat verboten, wobei konkretisiert wird, man werde weder die Polis noch das Land verraten, keine Feinde herbeirufen und weder die Flotte noch die Bürger oder ihren Besitz (χρήματα) ausliefern.404 Ferner werde man keine heimliche Vereinigung oder Verschwörung bilden, um der Polis oder ihren Bürgern zu schaden, und sich auch keiner anschließen, sondern vielmehr Anzeige erstatten, falls man von einer solchen hören sollte.405 Überdies werde man weder eine Umverteilung des Bodens oder der Häuser noch einen Schuldenerlass anstreben,406 und auch werde man keine falsche Anklage erheben wegen der Anmaßung von Bürgerrechten.407 Keine Pläne zum Schaden der Polis werde 401 I.Cret. III iv 8. Vgl. auch Syll.3 526 und SEG 13,464 (mit einer alternativen Ergänzung der Zeilen 28–36). 402 Vgl. Spyridakis 1970: 73–75, der vermutet, der Eid gehöre in den Zusammenhang von Wirren, für deren Beilegung (πολιτευομένων τῶν Ἰτανίων κατὰ τοὺς νόμους) eine andere Inschrift aus Itanos, die in die Jahre um 265 gehört, dem ptolemaiischen Feldherrn Patroklos dankt; I.Cret. III iv 2. Ähnlich argumentiert auch Perlman 1995: 165. Angesichts der fast sprichwörtlichen Neigung der Kreter zur Stasis (Pol. 4,53,5) darf man dieses Argument aber auch nicht überbewerten. 403 Vgl. Willetts 1955: 128 f. und 184 f. 404 πόλιν τὰν Ἰτανίων οὐ πρ[οδ]ωσέω, οὐδὲ χώραν οὐδὲ νά[σ]ου[ς] τ¢ὰς τῶν [Ἰ]τ¢ανίων, οὐδὲ [πολ]ε¢μ¢ίους ἐπαξέω, οὐδὲ ναῦ[ς τὰς] τ¢ῶν Ἰτανίων προδωσέω, [οὐδὲ] τῶν πολιτᾶν προδωσέω [οὐδέν]α, οὐδὲ χρήματα πολιτ[ᾶν]; I.Cret. III iv 8, Z. 9–16. 405 I.Cret. III iv 8, Z. 16–21. 406 οὐ[δὲ γᾶς] ἀναδασμὸν οὐδὲ οἰκιᾶν [οὐδὲ] ο¢ἰκοπέδων, οὐδὲ χρεῶν ἀ[ποκ]ο¢π¢ὰν ποιησέω; I.Cret. III iv 8, Z. 21–24. 407 I.Cret. III iv 8, Z. 24–27.

3.3 Bürgereide

235

man schmieden, sondern die eigenen Rechte stets auf Grundlage von Gerechtigkeit und Gleichheit (ἐπ’ ἴσαι καὶ ὁμοίαι) ausüben, sowohl in heiligen als auch in menschlichen Dingen und im Rahmen der Gesetze, die es bereits gebe oder noch geben werde.408 Insgesamt werde man nicht von der Polis Itanos abfallen, weder im Krieg noch im Frieden, soweit man es in der Hand habe (κατὰ τὸ δ[υν]α¢τόν).409 Die Inschrift schließt mit der Formel, es möge jenen, die den Eid einhalten, wohlergehen – sie sollen mit Kindern, reicher Ernte, großen Herden und vielen anderen guten Dingen gesegnet sein. Jenen aber, die ihn brächen, solle das Gegenteil widerfahren, und mitsamt ihren Nachkommen sollten sie jämmerlich zugrunde gehen.410 Zunächst einmal ist die Inschrift ein wichtiger Beleg dafür, dass der Stasisdiskurs, der sich in der literarischen Tradition zum Hellenismus greifen lässt, tatsächlich Schlagworte widerspiegelt, die sich auch in der lokalen epigraphischen Überlieferung finden: Die beiden Diskurse waren also nicht voneinander entkoppelt, sondern aufeinander bezogen. Während die Abwesenheit von δαμοκρατία und ὁμόνοια im Itanosschwur ins Auge fällt und teils zu der Annahme geführt hat, in der Polis habe eine offene Oligarchie geherrscht,411 enthält die Inschrift nicht nur eine Perhorreszierung von Verrat, wie sie aus dem Eid von Chersonesos ebenso vertraut ist wie aus Polybios, Plutarch oder Pausanias, sondern vor allem auch die von Schuldenerlass (χρεῶν ἀποκοπή) und Landverteilung (γᾶς ἀναδασμός).412 Der Text bezeugt damit, dass diese beiden Forderungen, die in der literarischen Überlieferung zur Stasis schier omnipräsent sind, tatsächlich eine Rolle im öffentlichen Diskurs einer Polis wie Itanos spielten.413 Sie werden dabei in demselben Komplex aufgelistet wie die Bildung von Verschwörungen und die Anstrengung politischer Prozesse, was ihre Charakterisierung als illegitime Instrumente der internen Auseinandersetzung unterstreicht.414 Mit einem Wort, der Eid von Itanos bietet im Grunde einen Katalog sämtlicher Elemente, die für Staseis und die Rede über sie typisch waren, ohne den Ausdruck selbst zu verwenden: Bildung von Verschwörungen, Anklagen gegen politische Gegner, Forderungen nach Schuldenerlass und Landverteilungen sowie hochverräterische Bündnisse mit äußeren Mächten. Der Hinweis auf ungerechte Anklagen wegen einer Anmaßung von Bürgerrechten (οὐδὲ δίκαν ἐ[παξέ]ω ξε¢νικὰν¢ τῶν πολιτᾶν¢ [οὐδε]ν¢ὶ ἐριθεοτ¢ὰ¢ν παρεορέσι οὐ¢[δεμι]ᾶι) hat 408 I.Cret. III iv 8, Z. 27–36. 409 καὶ ο πρ[ολειψέ]ω¢ τ¢ὰν πολιτε[ί]α¢ν¢ οὔτε ἐ[ν πολέ]μ¢ω¢ι ¢ οὔτε ἐν εἰ[ρ]ή¢ναι κατὰ τὸ δ[υν]α¢τόν; I.Cret. III iv 8, Z. 36–38. 410 I.Cret. III iv 8, Z. 38–49. 411 Vgl. Willetts 1955: 184 f. und Spyridakis 1977: 305. Tatsächlich lässt der Text keine gesicherten Aussagen über die Verfassung von Itanos zu. 412 Der Text bezeugt damit, dass derlei Maßnahmen keineswegs nur, wie etwa Champion 2007: 260 anzunehmen scheint, von „Greek intellectuals whose writings have survived“ abgelehnt wurden. 413 Vgl. Shipley 2000: 132. Vgl. auch (ohne Bezugnahme auf Itanos) Liddel 2010: „There is considerable overlap between perceptions of constitutional change in publicly-displayed documents of individual Greek states, historiography, and philosophy: it may therefore be the case that this was a discourse which pervaded both political and intellectual life“ (26). 414 Wenn Fuks 1984: 30 f. Itanos daher als Beispiel für einen ökonomisch bedingten inneren Konflikt anführt, geht er damit möglicherweise zu weit: Politische Demagogie muss nicht notwendig auf reale Missstände verweisen.

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3. Die lokale Überlieferung

dabei allerdings einen derart konkreten Charakter, dass man hieraus wohl auf den Anlass des Eides schlussfolgern kann: Offenbar war die Bürgerschaft von Itanos erweitert worden, und nun fürchtete man Konflikte zwischen neuen und alten Politen.415 Diese Sorge war schwerlich aus der Luft gegriffen: Bereits Aristoteles hatte konstatiert, die Aufnahme neuer Bürger führe oft zu Staseis.416 Dabei müssen gar nicht unbedingt Alteritätsempfindungen oder eine grundsätzliche Konkurrenzsituation den Ausschlag gegeben haben; denkbar ist vielmehr auch, dass man auf diese Weise eine Art Sollbruchstelle in die Bürgerschaft einführte, die sich im Falle etwaiger Konflikte als naheliegendes Ordnungssystem anbot, das besonders rasch zu einer Polarisierung führen konnte. Wie problematisch dies für eine hellenistische Polis sein konnte, illustriert das bereits erwähnte Beispiel des thessalischen Larisa, das auf Geheiß Philipps V. um das Jahr 217 neue Politen aufnahm, deren Namen aber wenige Jahre später zum Missfallen des Monarchen aus den Bürgerlisten ausgemeißelt worden waren.417 Diese drastische Maßnahme, die schwerlich mit Einverständnis der Neubürger erfolgt war, lässt sich am besten mit einer Stasis erklären.418 Die Hintergründe dieser mithin grundsätzlich heiklen Ausweitung der Bürgerschaft sind im Falle von Itanos unklar; denkbar ist ein Zusammenhang mit der Etablierung einer ptolemaiischen Präsenz auf Kreta, die nach 280 unter anderem zur Stationierung einer königlichen Garnison (φρούριον) in der Stadt führte.419 Ob zum Zeitpunkt der Leistung und inschriftlichen Verewigung des Eides bereits eine Stasis herrschte, lässt sich nicht sagen; anders als im Falle von Chersonesos Taurike deutet das Fehlen konkreter Hinweise aber eher darauf hin, dass man eine drohende Auseinandersetzung vermeiden wollte und deshalb Alt- und Neubürger gemeinsam schwören ließ. Hierauf könnte auch die fehlende Bezugnahme auf Demokratie, Freiheit und Eintracht, die ja eher als Kampfbegriffe zu gelten haben, und die gleichzeitige Betonung von Gleichheit und Gerechtigkeit hinweisen: Alles in allem gewinnt man den Eindruck, dass man in Itanos vor allem fürchtete, Spannungen innerhalb der Polis könnten von äußeren Feinden angefacht und ausgenutzt werden, und dies durch ein gemeinschaftsstiftendes Ritual zu verhindern versuchte.420 Auch die Monumentalisierung des Schwurs in Form 415 Wenn Eckstein 2006: 192 den Text hingegen als Eid „of new army recruits“ interpretiert, so handelt es sich um einen Irrtum, der wohl auf eine Verwechslung mit dem Eid der ἀγελάοι aus Dreros zurückzuführen ist (vgl. Kapitel 3.3.3). 416 ὅσοι ἤδη συνοίκους ἐδέξαντο ἢ ἐποίκους, οἱ πλεῖστοι διεστασίασαν; Arist. Pol. 5,3,7 (= 1303a). 417 πυνθάνομαι τοὺς πολιτογραφηθέντας κατὰ τὴν παρ’ ἐμοῦ ἐπιστολὴν καὶ τὸ ψήφισμα τὸ ὑμέτερον καὶ ἀναγραφέντας εἰς τὰς στήλας ἐκκεκολάφθαι; IG IX 2, 517, Z. 26 f. 418 Den Hintergrund der Ereignisse dürfte der Bundesgenossenkrieg gebildet haben, in dessen Verlauf Larisa schwer gelitten hatte. Die königlichen Briefe und die entsprechenden Volksbeschlüsse wurden in einem Dossier zusammengefasst; IG IX 2,517 (vgl. Syll.3 543). Vgl. zu den Vorgängen auch Oetjen 2010, der annimmt, es sei vor allem um die Ansiedlung von antigonidischen Soldaten bzw. Kleruchen in Larisa gegangen. 419 I.Cret. III iv 18 und I.Cret. III iv 14. Vgl. Spyridakis 1970: 11 f. und Winter 2011: 66 f. Hintergrund war möglicherweise der Konflikt mit der Nachbarpolis Praisos; vgl. Kreuter 1992: 18–33. Willetts 1955: 148 vermutete hingegen als Hintergrund des Eides, dass eine Oligarchie in Itanos gezwungen worden sei, Personen aus ärmeren Schichten in die Bürgerschaft aufzunehmen. 420 Vgl. zum rituellen Charakter der Eidesleistung auch Perlman 1995: 165–167.

3.3 Bürgereide

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einer Inschrift mag in diesen Zusammenhang gehören. Wirkliche Gewissheit lässt sich allerdings auch in diesem Fall kaum erlangen. 3.3.3 Der Eid der ἀγελάοι von Dreros Als letztes Beispiel für einen Bürgereid mit Stasishintergrund sei hier schließlich, wie angekündigt, noch eine zweite kretische Inschrift betrachtet: Wohl im letzten Viertel des 3. Jahrhunderts – wahrscheinlich um 220 – wurde in Dreros auf einer Stele der Schwur festgehalten,421 den zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich unter dem Vorsitz von Kephalos, Kydilas, Pyros, Hippios und Bison, 180 ἀγελάοι – wohl Epheben422 – als πανάζωστοι geleistet hätten.423 Auf die Anrufung sämtlicher Götter folgt dabei als erster Punkt die Verpflichtung, es niemals mit den Bürgern von Lyttos zu halten, durch keine Kunst (τέχνη) und keine Machenschaft, sondern den Lyttiern vielmehr nach Kräften nur Böses zuzufügen.424 In Gerichtsprozessen und bei Eintreibungen werde man sich nicht durch Eide binden,425 sondern ein Freund der Poleis Knossos und Dreros sein und weder ihre Städte noch ihre Festungen oder Männer an die Feinde verraten.426 Überdies werde man keine Stasis beginnen (μηδὲ στάσιος ἀρξεῖν), sondern jedem, der eine solche anzetteln wolle, entgegentreten; auch Verschwörungen innerhalb und außerhalb der Polis werde man weder initiieren noch einer bestehenden beitreten.427 Falls man aber erfahren sollte, dass jemand eine Verschwörung begonnen habe, werde man es der Mehrheit der κόσμοι melden.428 Eine Selbstverfluchung für den Fall des Eidbruchs schließt sich an – wenn man sich an den Schwur nicht halten sollte, solle man von den Göttern mit Vernichtung, Ruin und Kinderlosigkeit gestraft werden, andernfalls aber solle es einem wohlergehen.429 Die zweite Hälfte der Inschrift umfasst einen weiteren Schwur – einen Zusatz, der den ersten insofern ergänzt, als die ἀγελάοι sich nun überdies verpflichten müssen, dafür Sorge zu tragen, dass die κόσμοι die Vereidigung regelmäßig durchführen: Sollte dies nicht der Fall sein, werde man die fraglichen Beamten vor dem Rat anklagen, der die 421 I.Cret. I ix 1; vgl. Syll.3 527 und SEG 46,1210. 422 Vgl. Chankowski 2010: 311 f. 423 I.Cret. I ix 1, Z. 1–14. Der Ausdruck πανάζωστοι bezieht sich wahrscheinlich auf das Ablegen des kindlichen Gewandes; vgl. Willetts 1955: 120 f. Möglich ist auch, dass die jungen Männer ungegürtet und waffenlos angetreten waren, um die Rüstung eines Hopliten zu empfangen. In jedem Fall aber ging es um einen rite de passage. Vgl. zur Diskussion auch Waldner 2000: 236–239. 424 μὴ μὰν ἐγώ ποκα τοῖς Λυττίοις καλῶς φρονησεῖν μήτε τέχναι μήτε μαχανᾶι, μήτε ἐν νυκτὶ μήτε πεδ’ ἁμέραν, καὶ σπευσίω ὅ,τι κα δύναμαι κακὸν τᾶι πόλει τᾶι τῶν Λυττίων; I.Cret. I ix 1, Z. 36–43. 425 So verstehe ich jedenfalls den Satz δικᾶν δὲ καὶ πρ[αξί]ων μηθὲν ἔνορκον ἤην (Z. 44–46). Gemeint ist wohl, dass sich die ἀγελάοι verpflichteten, sich nicht zum Schaden anderer zu verschwören, sondern als Bürger unabhängig und gerecht zu handeln. 426 I.Cret. I ix 1, Z. 46–60. 427 μηδὲ στάσιος ἀρξεῖν, καὶ τῶι στασίζοντι ἀντίος τέλομαι, μηδὲ συνωοσίας συναξεῖν μήτε ἐμ πόλει μήτε ἐξοῖ τᾶς πόλεως, μήτε ἄλλωι συντέλεσθαι; I.Cret. I ix 1, Z. 60–70. 428 I.Cret. I ix 1, Z. 70–75. 429 I.Cret. I ix 1, Z. 75–94.

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3. Die lokale Überlieferung

Schuldigen mit hohen Geldstrafen belegen müsse; sollte der Rat dies aber nicht tun, so werde man seine Mitglieder den doppelten Betrag zahlen lassen.430 Unvermittelt folgt dann noch ein weiterer, aufgrund einer Lücke schwer verständlicher Zusatz,431 dem zu entnehmen ist, die aktuellen und künftigen ἀγελάοι hätten das ganze von Dreros beanspruchte Territorium zu verteidigen, einschließlich eines umstrittenen Gebietes, das sich die Einwohner von Milatos bei einem nächtlichen Angriff angeeignet hätten; überdies wird jeder der Jungmänner bei Strafandrohung verpflichtet, einen Ölbaum zu pflanzen.432 Insgesamt erweckt die Inschrift also den Eindruck, ein Dossier aus drei Texten zu sein, die jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden, bevor sie gemeinsam publiziert wurden.433 Offenbar wurde zunächst aus einem konkreten Anlass der erste Eid eingefordert, der die ἀγελάοι in einer öffentlichen Zeremonie auf das Bündnis mit Knossos, die Feindschaft mit Lyttos und die Einhaltung des inneren Friedens verpflichten sollte; der zweite Schwur scheint etwas später eingeführt worden zu sein, um aus der Vereidigung ein regelmäßiges Ritual zu machen. Ob der dritte Text ebenfalls ein Eid oder – was wahrscheinlicher scheint – ein Gesetz ist, lässt sich meines Erachtens kaum entscheiden, und auch nicht, ob er ursprünglich älter oder jünger als die beiden anderen ist. Zumindest der Kontext, in den der ursprüngliche Schwur gehört, lässt sich hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmen, denn der Verweis auf Knossos, Lyttos und Milatos legt eine Verbindung mit dem Lyttischen Krieg nahe,434 der wohl zwischen 222 und 218 tobte und auf Kreta zu erheblichen Verwerfungen führte.435 Von der literarisch bezeugten Stasis, die in diesem Zusammenhang in Gortyn ausbrach, ist hier bereits die Rede gewesen,436 und der Eid aus Dreros scheint zumindest auf den ersten Blick zu belegen, dass man Entsprechendes auch dort befürchtete.437 Da sich bei den Auseinandersetzungen in Gortyn die Jungbürger gegen die knossosfreundlichen „Älteren“ aufgelehnt haben sollen, könnte dies erklären, wieso man gerade die ἀγελάοι von Dreros – und nicht, wie etwa in Chersonesos Taurike, die gesamte Bürgerschaft – eidlich auf die bestehende Ordnung 430 I.Cret. I ix 1, Z. 94–136. Der wohl etwa zeitgleich geschlossene Bündnisvertrag zwischen Knossos und Gortyn ist inschriftlich (SEG 60,985) erhalten; vgl. Chaniotis 1999: 291 f. Darin war vorgesehen, dass jeder Bürger die κόσμοι der Stadt anklagen konnte, falls diese sich gegen das Bündnis stellen sollten: „No strict distinction was made between public and private disputes“ (Chaniotis 1999: 293). Die Parallele zu den Bestimmungen aus Dreros ist auffällig. 431 Überdies fehlt zum Beispiel das ὑπομνάμα τα τᾶς Δρηρίας χώρας (Z. 137 f.), das der Text ankündigt – offensichtlich wurde es bereits bei der Fertigung der Inschrift fortgelassen. 432 I.Cret. I ix 1, Z. 136–164. Möglicherweise ist der Text so zu verstehen, dass dieser Ölbaum auf dem (zurück-)eroberten Gebiet gepflanzt werden sollte. Vgl. zu Milatos, das wohl schließlich unterlag und zerstört wurde, Fiehn 1932. 433 Vgl. auch die Diskussion bei van Effenterre 1937. 434 Vgl. Chaniotis 2005: 46 f. 435 Vgl. zum Lyttischen Krieg Chaniotis 1996: 36–38 und Gaignerot-Driessen 2013: 286–288. Während sich Dreros in einem Konflikt mit Lyttos und Milatos befand, wurden diese beiden von Knossos angegriffen, das sich seinerseits mit Dreros verbündete. Da Dreros im ausgehenden 3. Jahrhundert, spätestens aber um 185 zerstört wurde (vgl. Gaignerot-Driessen 2013: 288–292), ist eine spätere Datierung der Inschrift nicht möglich. 436 Pol. 4,53,7–9. 437 Vgl. Chaniotis 1996: 195–201 (grundlegend).

3.3 Bürgereide

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und das Bündnis mit Knossos zu verpflichten suchte: Die Polis war recht klein, weshalb die hohe Zahl von 180 Jungbürgern vermutlich so zu deuten ist, dass zumindest bei der ersten Vereidigung nicht nur ein bestimmter Jahrgang antreten musste,438 sondern alle – möglicherweise, weil man ihnen in einer offensichtlich heiklen Situation misstraute, vielleicht aber auch aus einem anderen Grund. Die Möglichkeit einer offenen Stasis wird jedenfalls ausdrücklich thematisiert: μηδὲ στάσιος ἀρξεῖν. Wo verliefen die Konfliktlinien? Während man einen ursächlichen Zusammenhang mit Spannungen zwischen Jung und Alt letztlich nur vermuten kann, ist die Inschrift in Hinblick auf die Verzahnung von äußerem und innerem Konflikt erfreulich eindeutig: Was durch den Eid unterbunden werden sollte, war eine Verschwörung jener Bürger, die ein Bündnis mit den Lyttiern anstrebten, und bei genauerem Hinsehen zeigt vor allem der zweite Eid, dass sich in der Polis dabei offensichtlich keineswegs (nur?) Jüngere und Ältere gegenüberstanden. Vielmehr wird anhand der Strafandrohungen deutlich, dass man vor allem mit Auseinandersetzungen zwischen den κόσμοι und im Rat rechnete, was auf einen Konflikt innerhalb der Führungsschicht hinweisen dürfte: Man war sich der ‚Linientreue‘ künftiger Amtsträger und Bouleuten offenkundig nicht gewiss.439 Auch die Formulierung im ersten Eid, die ἀγελάοι sollten etwaige Verschwörungen „der Mehrheit des κόσμος“ (τοῦ κόσμου τοῖς πλίασιν) melden,440 spricht Bände und erlaubt die Interpretation, dass es beim Schwur von Dreros wohl vor allem darum ging, eine Verwicklung der mutmaßlich leicht aufzuwiegelnden ἀγελάοι in einen Konflikt innerhalb der Führungsschicht der Polis zu vermeiden – oder vielmehr darum, sie für die Position der aktuell dominierenden Gruppierung zu vereinnahmen.441 Diese, die sich an Knossos anlehnte, fürchtete nämlich augenscheinlich einen Umsturzversuch der ‚Lyttierfreunde‘ in Dreros, wobei damit natürlich nicht gesagt ist, dass die Frage der außenpolitischen Orientierung den tatsächlichen Kern der Konflikte bildete. Vielmehr ist ohne weiteres denkbar, dass hier wie andernorts eine primär innenpolitische Auseinandersetzung lediglich sekundär außenpolitisch aufgeladen wurde, indem sich die verfeindeten Gruppierungen an unterschiedliche Bündnispartner – in 438 Vgl. bereits Busolt 1926, der allerdings keinen Zusammenhang mit inneren Spannungen herstellte: „Wenn die 180 bloß den Jahrgang der Austretenden gebildet hätten, so müßte das kleine Städtchen Dreros, das nicht einmal eigene Münzen prägte, mindestens 6000 Bürger gezählt haben […]. Mehr als etwa 1500 Bürger hat Dreros nicht besessen“ (754). Vgl. zu Dreros auch Kirsten 1940. 439 Als Konflikt zwischen Jüngeren und Älteren deutet hingegen Chaniotis 2005 die Konstellation: „In Gortyn, a civil war had broken out, confronting the young men with the old men, and the same danger threatened Dreros“ (47). 440 I.Cret. I ix 1, Z. 73–75. Die Versammlung der κόσμοι hieß ebenfalls κόσμος. 441 Diese Beobachtung wirft ihrerseits auch ein anderes Licht auf den polybianischen Bericht über die Stasis in Gortyn, die ja von ihm als Konflikt zwischen Jüngeren und Älteren geschildert wird: Möglicherweise war es dort vielmehr einer unterlegenen Gruppierung in der Bürgerschaft gelungen, die Mehrheit der Jüngeren aufzuwiegeln und für sich einzunehmen, so dass sich die Auseinandersetzung äußerlich wie ein gewaltsamer Generationenkonflikt ausnahm. Zu beweisen ist dies nicht. In jedem Fall muss aber das Unruhepotential unter den kretischen ἀγελάοι grundsätzlich erheblich gewesen sein; wahrscheinlich fühlten sich die Jungbürger zumindest subjektiv benachteiligt und waren daher empfänglich für Demagogie. Folgt man Strabon, so unterstanden die jungen Männer auf Kreta einem besonders straffen Regiment; angeblich mussten beispielsweise alle Angehörigen einer Alterskohorte gleichzeitig heiraten, durften ihre Frauen aber zunächst nicht heimführen; Strab. 10,4,20.

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3. Die lokale Überlieferung

diesem Fall eben Lyttos und Knossos – anlehnten,442 wobei die ‚Knossosfreunde‘ zu dem Zeitpunkt, den die Eide und die Inschrift widerspiegeln, offensichtlich eine prekäre Dominanz in der Polis erlangt hatten. Auf die Frage, ob es letztlich zu einer gewaltsamen Eskalation oder zu Verbannungen kam, erlaubt die Quelle hingegen keine Antwort; zumindest die beiden Eide setzen offensichtlich die Anwesenheit beider Parteiungen in der Stadt voraus. Wenn eine große Zahl gerade der kräftigsten jungen Männer der Stadt jährlich öffentlich zusammentrat, um Knossos die Treue zu geloben und zugleich zu schwören, Verschwörer, Verräter und Abweichler zu verfolgen, so wird diese Inszenierung zudem wohl auch dazu gedient haben, die anwesenden Anhänger der Gegenpartei einzuschüchtern.443 Es ist daher sogar möglich, den Eid weniger als Zeichen von Misstrauen gegenüber den ἀγελάοι zu lesen und eher als eine Demonstration, wem die Loyalität der Jungbürger von Dreros galt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Bürgereide bereits in klassischer Zeit eng mit Staseis verbunden waren – sei es, dass es darum ging, die bedrohte oder wiedergewonnene Eintracht in einer Polis zu beschwören, sei es, dass verfeindete Gruppierungen auf diese Weise die Loyalität zu stärken suchten und damit letztlich eine συνωμοσία bildeten, auch wenn dies natürlich stets eine Fremdbezeichnung war – Verschwörer und Verräter waren immer nur die anderen. Dabei gehören keineswegs alle kollektiv abgelegten Eide in den Kontext der Innenpolitik,444 und die Inschriften, bei denen dies explizit oder höchstwahrscheinlich der Fall ist, sind nicht zahlreich genug, um das Gesamtpanorama der hellenistischen Stasis quantitativ wesentlich zu erweitern: Man scheint sich vergleichsweise selten entschieden zu haben, derlei Eidesformeln dauerhaft zu monumentalisieren. Ihr historischer Wert liegt daher vor allem darin, dass sie belegen, wie sehr sich die wesentlichen Elemente des literarischen Stasisdiskurses auch im epigraphischen Befund widerspiegeln: Die außenpolitische Aufladung der internen Auseinandersetzung, die omnipräsente Furcht vor Verschwörungen, die Möglichkeit politischer Prozesse und die Angst vor Forderungen nach Schuldenerlass und Landverteilung, die in den Bürgereiden von der Krim und von Kreta greifbar sind, verleihen den entsprechenden Aussagen in den literarischen Quellen, die diese Elemente fast topisch wiederholen, ein erhebliches zusätzliches Gewicht: Die Art, wie Staseis von den unmittelbar Beteiligten vor Ort konzeptualisiert wurde, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Darstellung hellenistischer und kaiserzeitlicher Historiker und Biographen. Im Folgenden wird zu prüfen sein, ob sich dieser Befund auch für die letzte große Gruppe hier relevanter epigraphischer Zeugnisse bestätigen lässt. 442 Erinnert sei etwa an Polybios’ Äußerungen zur Stasis in Ainos; Pol. 22,6,7. 443 Dieser Aspekt ist in der Forschung, soweit ich sehe, bislang nicht beachtet worden. Das Fehlen eines Verweises auf die ὁμόνοια, vor allem aber die ungewöhnlich unverblümte Warnung vor einer Stasis scheinen mir Indizien dafür zu sein, dass der Konflikt noch nicht offen ausgebrochen bzw. es noch zu keinen Gewalttaten gekommen war und der Hinweis auf eine drohende στάσις eher einschüchternd wirken sollte. 444 Überdies gelangte die Tradition der griechischen Bürgereide nicht mit der Errichtung des Prinzipats an ihr Ende, sondern bestand – durchaus transformiert und nun zumeist als ostentative Loyalitätsgeste gegenüber dem Kaiser (vgl. z. B. OGIS 532) – noch längere Zeit fort; vgl. Connolly 2007.

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

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3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen Dass Verweise auf Tyrannen sowie, zumindest im frühen Hellenismus, auf Oligarchen im literarischen Stasisdiskurs ebenso omnipräsent wie problematisch sind, wurde bereits herausgearbeitet: Zwar soll die Existenz tyrannischer und oligarchischer Herrschaften in der hier behandelten Zeit keineswegs grundsätzlich bestritten werden, doch zugleich hat man es ausschließlich mit polemischen Fremdbezeichnungen zu tun,445 weshalb in den meisten Fällen unklar ist, wie viele Berührungspunkte mit der Realität diese Kampfbegriffe jeweils besaßen. In kaum einem Bereich lässt sich dieses Phänomen dabei besser beobachten als in Hinblick auf die sogenannten Tyrannengesetze der späten Klassik und des frühen Hellenismus,446 deren Analyse daher den Abschluss der epigraphischen Abschnitte dieser Untersuchung bilden soll. 3.4.1 Das Eukratesgesetz Gleich zu Beginn der hier behandelten Epoche, vermutlich im Frühjahr oder Sommer 336 v. Chr.,447 wurde in Athen eine Stele errichtet, die nicht nur ein außergewöhnliches Relief zeigt, auf dem der personifizierte Demos von der Demokratie bekränzt wird,448 sondern vor allem den Text eines Gesetzes gegen die Tyrannis enthält, das auf Antrag des Eukrates, Sohn des Aristotimos, verabschiedet worden war. Die Inschrift ist vollständig erhalten und wurde 1952 entdeckt und erstmals publiziert.449 Es handelt sich um ein geradezu archetypisches Tyrannengesetz, das an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt: Sollte sich jemand gegen den Demos erheben, um eine Tyrannis zu errichten, oder sollte sich jemand einem derartigen Vorhaben anschließen oder auf sonst eine Weise versuchen, den Demos oder die Demokratie in Athen durch einen Umsturz zu beseitigen, so solle jeder, der ihn töte, unbefleckt (ὅσιος) sein.450 Überdies solle es für den Fall, dass die Demokratie beseitigt werden sollte, den Areopagiten verboten sein, sich auf dem Areopag oder anderswo zu versammeln und zu beraten; wer dies dennoch tun sollte, solle mitsamt seinen Nachkommen der Atimie verfallen (ἄτιμος ἔστω καὶ αὐτὸς καὶ γένος τὸ ἐξ ἐκείνου) und enteignet werden. 445 Wie schwer der Tyrannisvorwurf im Hellenismus wog, bezeugt nicht zuletzt Polybios: ταύτης δὲ μείζω κατηγορίαν ἢ πικροτέραν οὐδ᾽ ἂν εἰπεῖν ῥᾳδίως δύναιτ᾽ οὐδείς. αὐτὸ γὰρ τοὔνομα περιέχει τὴν ἀσεβεστάτην ἔμφασιν καὶ πάσας περιείληφε τὰς ἐν ἀνθρώποις ἀδικίας καὶ παρανομίας; Pol. 2,59,6. 446 Das älteste Tyrannengesetz soll gemäß späterer Tradition bereits auf Solon zurückgehen; Ath. Pol. 8,4. Vgl. auch den Überblick bei Eck 2012: 323–381. 447 Das Archontat des Phrynichos, in dem das Gesetz erlassen wurde, fällt in das Jahr 337/6. Vgl. zur Datierung Teegarden 2014: 87. 448 Vgl. hierzu eingehend Blanshard 2004 (teils sehr erhellend, teils vielleicht allzu assoziativ). Möglicherweise gehört auch die Weihung einer Statue der Demokratia im Archontat des Nikokrates (333/2) in diesen Zusammenhang; IG II2 2791 (vgl. SEG 32,238). 449 SEG 12,87. Maßgeblich ist nun die Edition IG II/III3 1,320, der hier gefolgt wird. 450 ἐάν τις ἐπαναστῆι τῶι δήμωι ἐπὶ τυραννίδι ἢ τὴν τυραννίδα συνκαταστήσηι ἢ τὸν δῆμον τὸν Ἀθηναίων ἢ τὴν δημοκρατίαν τὴν Ἀθήνησιν καταλύσηι, ὃς ἂν τὸν τούτων τι ποιήσαντα ἀπο κείνηι, ὅσιος ἔστω, Z. 7–11. Nippel 2017: 248–252 spricht treffend von der „Tyrannis als Kontrastfolie zur Demokratie“.

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3. Die lokale Überlieferung

Das Gesetz greift in seinen Formulierungen ältere Vorlagen aus klassischer Zeit auf,451 allen voran das bereits erwähnte Demophantos-Psephisma, das lediglich literarisch bezeugt ist und mutmaßlich in das Jahr 410 gehört.452 Im Unterschied zum Eukratesgesetz beinhaltete es einen Bürgereid und berief sich ausdrücklich auf Harmodios und Aristogeiton, aber der Kerngedanke war bereits hier entwickelt und entsprach dem des Eukratesgesetzes – wer eine Tyrannis errichte oder sonst irgendwie die Demokratie beseitige, sei als πολέμιος zu behandeln und zu töten; die Täter und ihre Unterstützer aber sollten unbefleckt sein, und falls sie bei dem Unterfangen umkommen sollten, habe sich der Demos um ihre Familie zu kümmern. Dieser Volksbeschluss gehörte aller Wahrscheinlichkeit in einen Zusammenhang mit dem gescheiterten Umsturzversuch des Jahres 411 und kann mithin als ein Dokument des Sieges gelten; aber in welchen Zusammenhang ist das Eukratesgesetz einzuordnen?453 Keine zwei Jahre vor der Verabschiedung des Gesetzes waren die athenischen Truppen bei Chaironeia der makedonischen Armee unterlegen.454 Die Niederlage stürzte die Polis ins Chaos.455 Demosthenes konnte sich der Angriffe seiner Gegner zwar vorerst erwehren und durfte sogar den ἐπιτάφιος λόγος auf die Gefallenen halten;456 dennoch kam es unmittelbar nach Chaironeia zunächst zu heftigen Auseinandersetzungen in Athen, die sich insbesondere mit den Namen Phokion und Charidemos verbinden,457 die um den Oberbefehl rivalisierten. Dass der Areopag hierbei laut Plutarch eine entscheidende Rolle gespielt und Phokion gestützt haben soll, dürfte erklären, wieso er im Eukratesgesetz so prominent hervorgehoben wird;458 denn er beanspruchte fortan faktisch ein Vorschlagsrecht für die wichtigsten Wahlen,459 was seine Bedeutung gerade im Rahmen von schwelenden Staseis signifikant steigern musste. Bemerkenswerterweise scheint ein wirklicher Umsturz in Athen aber letztlich unterblieben zu sein, zumal Philipp II. – Diodor zufolge allerdings erst nach einigem Schwanken – ostentativ darauf 451 Eine Extremposition vertrat dabei Ostwald 1955: „The language of the law of 337/6 b. c. leaves no doubt that it depends upon earlier Athenian legislation against tyranny and subversion, legislation which […] can be traced back as far as Draco“ (103). 452 Andok. Myst. 95–98. Vgl. Hölscher 2010: 251, Teegarden 2012, Teegarden 2014: 15–53 und Nippel 2017: 249. Vgl. zu den Ereignissen von 411 auch Schulz 2011; vgl. zu den Hintergründen Mann 2007: 191–289, der die damalige Rolle der Hetairien als „Einbruch des sozialen Systems in die Politik“ deutet. 453 Vgl. Habicht 1995a: 25, der die Verabschiedung schlicht für „rätselhaft“ hält und sich nicht an einer Erklärung versucht. 454 Vgl. Worthington 2008: 147–151. 455 Vgl. die Skizze bei Will 1983: 8–11. Vgl. auch Kapitel 2.1.2. 456 Plut. Demosth. 21,1–3; in der Folgezeit soll sich Demosthenes dann allerdings bewusst im Hintergrund gehalten haben. 457 Plut. Phok. 16,3. Vgl. Gehrke 1976: 61–63. Auch Hypereides scheint sich in dieser Phase mit radikalen Vorschlägen – darunter die Restitution der Verbannten – hervorgetan zu haben, ohne sich damit allerdings durchsetzen zu können; Lyk. Leokrat. 36–41. 458 Offenbar waren die Anhänger des Charidemos in der Volksversammlung in der Mehrheit gewesen, so dass Phokion nur dank der Unterstützung durch die ehemaligen Archonten seine Wahl zum στρατηγός durchzusetzen vermochte. Vgl. auch Engels 1988: 193–195, der annimmt, die Kompetenzen des Gremiums seien in den Jahren vor 337 schrittweise erheblich ausgeweitet worden: „Durch die Erweiterung der Zuständigkeiten des Rates der ehemaligen Archonten wollte man den souveränen Demos entlasten, nicht entmachten“ (181). 459 Vgl. Engels 1988: 195.

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

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verzichtete, in die inneren Angelegenheiten der Stadt einzugreifen.460 Somit dürfte das Eukratesgesetz den vorläufigen Endpunkt einer überaus kritischen Phase markieren, in der eine offene Stasis um Haaresbreite vermieden werden konnte. Folglich greift es sicherlich deutlich zu kurz, in diesem νόμος einfach die Umsetzung jener Klausel des Korinthischen Bundesvertrages zu sehen, die innenpolitische Umstürze untersagte.461 Auffällig ist vielmehr das Fehlen eines Hinweises auf die ὁμόνοια; statt die Eintracht der Politen zu beschwören, setzte man, ganz ähnlich wie später der Bürgereid von Dreros, auf Einschüchterung und Drohungen, die jene, die an einen Umsturz denken sollten, abschrecken sollten,462 während man zugleich dem Umstand Rechnung zollte, dass die wieder gestiegene Macht des Areopags ihn zu einem naheliegenden Instrument des inneren Kampfes machte. Das Gesetz ist daher zweifellos Ausdruck eines eklatanten Misstrauens, auch wenn umstritten ist, gegen wen genau es sich richtete.463 Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist allerdings die Frage nach dem konkreten Anlass des Eukratesgesetzes von nachrangiger Bedeutung; wichtiger ist, dass sich in der Inschrift ein Denkmuster besonders gut greifbar wiederfindet, das sich, wie Josiah Ober zeigen konnte, in Athen bereits in den Jahrzehnten zuvor entwickelt hatte: Indem als einziger Gegensatz zur Demokratie die Tyrannis aufgebaut, indem also die Herrschaft des Demos als einzig rechtmäßige Herrschaftsform begriffen wurde, blieb grundsätzlich kein Raum mehr für eine legitime Alternative.464 Demos und 460 Diod. 16,87. Es sei dahingestellt, ob der König dergestalt agierte, weil sich die Dinge in Attika ohnehin bereits in seinem Sinne entwickelt hatten. Habicht 1995a: 23 f. übergeht die inneren Konflikte in Athen und nimmt an, Philipp habe sich von der „Entschlossenheit“ der Polis beeindrucken lassen. 461 Syll.3 260, Z. 12–14. In diesem Sinne argumentierte aber Mossé 1970: „La loi d’Eucratès ne traduit la violence de l’opposition anti-macédonienne à Athènes après Chéronée. Au contraire, il est permis de se demander si elle ne s’inscrirait pas plutôt dans la politique de loyalisme à l’égard de Philippe suivie par les dirigeants athéniens, si elle ne serait pas tout simplement l’application de la recommandation faite par Philippe aux grecs de ne procéder à aucun changement de constitution“ (75 f.). 462 Engels 1988: 197 weist beiläufig darauf hin, dass die Stele mit dem Eukratesgesetz bereits 330 offenbar nicht mehr gestanden habe, da Lykurg in diesem Jahr stattdessen auf das Demophantosgesetz verwies; Lyk. Leokrat. 124–127. Unabhängig davon, ob der Stein inzwischen abgeräumt worden war oder ob Lykurg das Gesetz bewusst ignorierte, legt dies nahe, dass der tagespolitische Bezug der Inschrift evident war und sich mutmaßlich bereits bald nach der Aufstellung der Stele jene Richtung durchgesetzt hatte, die sich angegriffen oder herausgefordert fühlte. 463 Die Vermutung von Ostwald 1955, „the law of Eucrates is the first piece of evidence we have to attest the presence in Athens of a group which may have drawn its strength from the poorer classes“ (125), ist dabei allerdings eine reine Spekulation, die keinen Rückhalt in den Quellen findet. Ganz anders Will 1983: „Im Gesetz des Eukrates wird […] der Versuch der Promakedonen gesehen werden müssen, auch während der bevorstehenden Abwesenheit Philipps in Kleinasien die Lage in Athen stabil zu halten und Umsturzversuchen ihrer innenpolitischen Gegner vorzubeugen“ (30). Engels 1988: 198 nimmt hingegen an, das Eukratesgesetz spiegle die Furcht der Athener vor einem Eingreifen Philipps wider; ähnlich Braccesi 1965: 119. Vgl. zuletzt Teegarden 2014: 90, der glaubt, nach der Niederlage habe man die Führung der Stadt unmöglich exponierten „hard-line anti-Macedonians“ übertragen können, sondern sei auf „men accused by leading democrats in previous years of being traitors“ angewiesen gewesen; diesen „potentially subversive men“ habe das Gesetz daher prophylaktisch Grenzen aufzeigen sollen, um die Demokratie zu beschützen. 464 Vgl. Ober 2003b: „Those who seek to replace the democracy with any other form of government are tyrannical. Democracy and tyranny thus define a bipolar political universe. There is no legitimate ‚third way‘ between the rule of the demos and the rule of the tyrant […]. Oligarchs, as nondemocrats, are by democratic ideological definition tyrants. Killers of tyrants are defenders of democracy and therefore

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3. Die lokale Überlieferung

Demokratie werden im Eukratesgesetz wie Synonyme behandelt. Wer gegen sie ist, ist des Todes; Gewalt gegen Nichtdemokraten wird damit, wie es Ober treffend ausdrückt, zu einer „therapeutic stasis“; der eigentlich tabuisierte Mord am Mitbürger wird nicht nur legitimiert, sondern als ‚heilsam‘ überhöht.465 Die Bedeutung, die diese Ideologie, die sich zumindest in Athen im Verlauf der späten Klassik voll entfaltet hatte und nun gewissermaßen zum Gebrauch bereit stand, für die Stasis besaß, ist kaum zu überschätzen: Wenn die Unterscheidung zwischen einem Tyrannen und einer Oligarchie aufgelöst wurde, dann machte dies die Dominanz einer Gruppe in einer Polis zu einem nicht weniger todeswürdigen Verbrechen als die Errichtung einer Monokratie – statt nur die Tötung eines einzelnen Mannes zu erlauben und zu fordern, gestattete diese neue Dichotomie, konsequent zu Ende gedacht, die Rechtfertigung und Überhöhung von Massakern als Dienst an der Demokratie. Es sollte sich recht bald zeigen, dass dieses Deutungsangebot auch außerhalb von Attika aufgegriffen wurde. 3.4.2 Das Tyrannengesetz von Ilion Wohl in den ersten Jahren des 3. Jahrhunderts errichtete man in Ilion466 eine sehr lange, großenteils erhaltene Inschrift, die 1894 erstmals publiziert467 und bald darauf von Wilhelm Dittenberger Lex Iliensium de tyrannis getauft wurde.468 Die ersten acht Zeilen sind vollständig verloren, die folgenden 18 zu stark beschädigt, um ihren Sinn erschließen zu können, was insofern bedauerlich ist, als die Einleitung des Textes vermutlich Hinweise auf den Entstehungskontext hätte liefern können.469 Die Inschrift ist sauber gearbeitet, wirkt aber sprachlich wenig poliert und inhaltlich unsortiert,470 was das Verständnis teils erschwert; doch der Beginn der erhaltenen Abschnitte lässt an Deutlichkeit auch so nichts zu wünschen übrig: Jeder Bürger, der einen Tyrannen, den Anführer einer Oligarchie (ἡγεμών τῆς ὀλιγαρχίας) oder sonst jemanden, der die Demokratie

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deserve immunity, honors, and celebration“ (224 f.). Vgl. auch den bei Demosthenes überlieferten Heliasteneid, der Tyrannis und Oligarchie ebenfalls in einem Atemzug nennt; Demosth. or. 24,149. Ober 2003b bezeichnet als „therapeutic stasis“ in der Polis „a moment in which it is (at least in retrospect) regarded as having been healthy and right for a citizen to run at another with sword drawn and to shed blood in a public place“ (225). Vgl. zum hellenistischen Ilion den Überblick bei Cohen 1995b: 152–157. Brueckner 1894. Es handelt sich um einen auf vier Seiten beschrifteten, in drei Teile zerbrochenen Marmorblock. I.Ilion 25 (vgl. OGIS 218; IMT Skam/NebTäler 128). Lehmann 2015a spricht von einem „Staatsschutz-Gesetz“ (87). Grundlegend sind die Diskussionen bei Frisch 1975: 62–81, Lund 1992: 120–122, Funck 1994, Koch 1996, Dössel 2003: 197–221 und Teegarden 2014: 182–214, deren Interpretationen aber stark voneinander abweichen. Vgl. auch die Vermutungen bei Brueckner 1894: „Nach dem Praescript muss eine allgemeine Bestimmung über die Rechtslage des Tyrannen oder auch des Hauptes der Oligarchie begonnen haben. Es muss über sie und ihr Geschlecht nicht nur der Verlust der bürgerlichen Rechte, wie in den milden attischen Gesetzen des sechsten Jahrhunderts, sondern Verbannung und Ächtung ausgesprochen sein“ (462). Ihm folgt Dössel 2003: 208. Anders Funck 1994: „Das sorgfältig ausgearbeitete Dokument bedient sich zur Formulierung der antityrannischen Haltung der Stadt einer klaren Sprache“ (327).

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

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beseitigen wolle, töte, solle dafür von der Polis spätestens am folgenden Tag ein Talent Silber erhalten, und der Demos solle ihm ein Standbild errichten.471 Überdies verspricht das Gesetz dem Täter für den Rest seines Lebens eine freie Speisung im Prytaneion, einen Ehrensitz im Theater und einen täglichen Ehrensold von zwei Drachmen.472 Anders als im Eukratesgesetz winkte einem Tyrannenmörder in Ilion also nicht allein Straffreiheit, sondern eine hohe Belohnung und eine Ehrung als Euerget der Polis; und dies galt sogar für Nichtbürger: Sollte es sich bei dem Täter um einen freien Fremden (ξένος) handeln, so verspricht ihm das Gesetz zusätzlich das Privileg, sich in eine Phyle seiner Wahl als Bürger einschreiben lassen zu dürfen. Ja, selbst an Sklaven wird gedacht: Einem unfreien Tyrannen- oder Oligarchenmörder winkten die Freilassung,473 die Aufnahme in die Bürgerschaft sowie immerhin eine einmalige Belohnung von dreißig Minen und eine lebenslange Rente von einer Drachme am Tag.474 Die nächste Passage, die nach einer Lücke erhalten ist, betont überdies, auch die Mitkämpfer (συσστρατιώται) desjenigen, der einen Tyrannen oder Oligarchen töte, um danach eine Demokratie zu errichten, sollten straffrei sein und jeweils mit einem Talent Silber belohnt werden.475 Das Gesetz fährt fort, von niemandem, der während einer Tyrannis oder einer Oligarchie ein wichtiges Amt bekleide, der also insbesondere Stratege oder Schatzmeister sei oder die Grundsteuer von Bürgern und Metöken festzusetzen habe,476 dürfe man etwas kaufen oder eine Mitgift annehmen.477 Wer dies dennoch tue, der verliere nicht nur 471 [ὃς δ’] ἂν ἀπ[οκτ]είνηι τ[ὸν τ]ύραννο[ν ἢ τὸν ἡ]γεμόνα τῆ[ς] ὀλιγαρ[χ]ίας ἢ τὸν τὴν δ[ημοκρα]τίαγ (sic) καταλύον[τ]α, ἐὰμ μὲν ἔναρχο[ς, τά]λαντον ἀργυρ[ί]ου λ[αμβάνειν παρὰ τῆς πό]λεως αὐθημερ¢ὸ¢ν¢ ἢ τῆι δευτέραι, [κ]αὶ εἰκό[να] χαλκῆν αὐτο[ῦ στ]ῆ[σ]α[ι τ]ὸ[ν δῆ]μον, Z. 18–24. 472 I.Ilion 25, Z. 24–28. 473 Vgl. hierzu auch die – mir nicht recht einleuchtenden – Überlegungen bei Koch 1996: „Fremde sowie freigelassene und in die Bürgerschaft eingegliederte Sklaven dürften aus der Sicht der emigrierten oder zumindest als unterdrückt vorzustellenden Anhängerschaft der Volkspartei am ehesten zu einem Strukturwandel der Bürgerschaft im Sinne einer demokratischen Orientierung beitragen“ (48). 474 I.Ilion 25, Z. 28–36. Friedel 1937: 87, Berve 1967: 420, Koch 1996: 48 und Teegarden 2014: 184 bezweifeln, dass ein δοῦλος die vollen Bürgerrechte erhalten sollte, sondern gehen eher von einem metökenähnlichen Status aus. Das ist gut denkbar. 475 I.Ilion 25, Z. 41–53. Die Interpretation von τῶν συσστρατιωτῶν ist umstritten. Ich gehe mit Koch 1996: 51 davon aus, dass es sich um die bewaffneten Gefolgsleute des „Tyrannenmörders“ handelt; hierfür spricht, dass davon die Rede ist, sie seien an der Wiederherstellung der Demokratie beteiligt. Durchaus möglich ist aber auch, dass stattdessen Anhänger des Tyrannen bzw. der Oligarchen gemeint sind, die die Seiten gewechselt haben, wie bereits Brueckner 1894: 462 vermutete. Auch Funck 1994 spricht von einem „Tyrannenmord von der Hand der Anhänger des Tyrannen“ (324), und Maffi 2005: 142 f. nimmt an, es gehe um Söldner, die sich den „Demokraten“ im Kampf um die Polis angeschlossen hätten, während Teegarden 2014 vermutet, die Erwähnung der συσστρατιώται, die er als Mitkämpfer des Tyrannen interpretiert, gebe sogar einen Hinweis darauf, wen man am meisten als Feind der Demokratie gefürchtet habe: „The Ilians possibly imagined the potential tyrant to be or have been a mercenary and thus have ‚fellow mercenaries‘“ (203). Berve 1967: 422 blieb unentschieden, ob es sich um „vom Tyrannen verwandte Söldner“ oder um „Bürgersoldaten“ gehandelt habe. 476 Vgl. Koch 1996: „Hierbei ist […] nicht nur an ‚Finanzbeamte‘ zu denken […]; die Verantwortlichkeit für den Umgang mit öffentlichen Mitteln trifft in erheblichem Maße auch andere Funktionsbereiche“ (54). 477 Vgl. Brueckner 1894, der bemerkenswerterweise davon ausging, die Passage richte sich „gegen Übergriffe der demokratischen Behörden“, und fortfuhr: „Wer gegen Tyrann oder Oligarchie Stratege ist oder sonst ein Amt bekleidet […], diesen Leuten soll es untersagt sein, Besitz irgend einer Art zu kaufen oder als Faustpfand für eine erlegte Summe oder als Mitgift anzunehmen“ (463).

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3. Die lokale Überlieferung

den Anspruch auf das Erworbene, sondern vielmehr sei es dem Opfer (τὸν ἀδικ[ηθέ]ντα) gestattet, sich aus seinem Besitz angemessen zu entschädigen.478 Sollte jemand mehr als einmal als στρατηγός fungieren oder in einem anderen Amt gegen das – entweder bereits bestehende oder hiermit eingeführte – Iterationsverbot verstoßen,479 so solle es möglich sein, ihn für seinen Umgang mit den öffentlichen Geldern durch eine Popularklage vor Gericht zu stellen, ohne dass hierfür eine Frist gesetzt wird, solange in der Polis Ilion die Demokratie bestehe;480 und auch jene, die mit denen, die in eine Tyrannis oder Oligarchie involviert seien, Geldgeschäfte machten, sollen hierfür angeklagt werden können.481 Der erhaltene Teil der dritten Kolumne behandelt dann den Umgang mit Todesurteilen, die während einer Tyrannis oder Oligarchie gefällt und vollstreckt worden seien: Die Verantwortlichen sollten der Atimie verfallen, ihre Besitztümer jeweils zur Hälfte an die Polis und an die rechtmäßigen Erben der Hingerichteten fallen; eine Verjährung war nicht vorgesehen, sondern Prozesse wegen dieser Dinge sollten jederzeit angestrengt werden können.482 Sollte jemand während der Tyrannis oder Oligarchie angeklagt und inhaftiert worden sein, so sollte der Ankläger zur doppelten Strafe verurteilt werden; auch hier war eine Verjährung ausdrücklich nicht vorgesehen.483 Die Radikalität der beiden Abschnitte, die sich hieran anschließen, übertrifft die früheren Bestimmungen dann noch bei weitem: Zum einen bestimmt das Gesetz, dass jeder einzelne, der bei einem Kapitalprozess während einer Tyrannis oder Oligarchie für das Todesurteil gestimmt habe, ein Mörder sei und entsprechend behandelt werden müsse; sollte er sich einem Prozess durch Flucht entziehen, so sollten er und seine Kinder rechtlos und verbannt sein, und es solle ihnen unmöglich sein, sich durch Geld oder Einheirat (ἐπιγαμίαι)484 478 I.Ilion 25, Z. 53–71. Wer genau mit „Opfer“ gemeint ist, ist nicht ganz klar. Teegarden 2014: 187 nimmt an, es handle sich um Personen, die von den fraglichen Magistraten widerrechtlich enteignet worden seien. Diese Interpretation erscheint in der Tat plausibel. 479 Vgl. Teegarden 2014: „It is quite possible that the Ilians did not previously have a law on that matter. Henceforth, there is a very clear ‚red line‘“ (188 f.). Anders Maffi 2005: 147, der vorschlägt, τὸ δεύτερον auf die vorangehende Bestimmung zu beziehen und einfach als „zweitens“ zu übersetzen. In diesem Fall ginge es also weiterhin um jene Amtsträger, die etwas – vermutlich enteignetes Gut – verkauft haben. Und Koch 1996 bezieht die Passage auf jemanden, der sich „wissentlich, im Bewusstsein, damit einer Tyrannis oder Oligarchie zu dienen, in das Amt hat erlosen lassen (und nicht nur vom Herrschaftswechsel während seiner Amtszeit überrascht wurde)“ (52). 480 I.Ilion 25, Z. 72–81. Vgl. Dössel 2003: 211 f. 481 I.Ilion 25, Z. 81–86. Meines Erachtens bezieht sich ἐκ τού[των] aller Wahrscheinlichkeit nach auf die vorher genannten kompromittierten Personen; vgl. in diesem Sinne auch Brueckner 1894: 464 f., Friedel 1937: 90, Koch 1996: 57 und Teegarden 2014: 189. Vgl. zu diesem Abschnitt auch die erhellenden Bemerkungen bei Dössel 2003: 210–213. 482 I.Ilion 25, Z. 86–91. 483 I.Ilion 25, Z. 91–97. Vgl. hierzu bereits Brueckner 1894: 464 f. sowie Koch 1996: 57–59. Sollte allerdings der Täter die Strafe bereits gezahlt haben und dennoch vom einstigen Opfer verklagt werden, so sollte der Kläger selbst die doppelte Strafe zahlen müssen. Hier sah man offenbar erhebliches Missbrauchspotential. 484 Verwirft man im Anschluss an Frisch 1975: 77 die Emendation von ἐπιγαμίας (Z. 105) zu ἐπιγαμίαις, so ergibt sich stattdessen der Sinn, dass die Familien der Opfer keine Versöhnung zulassen sollen, auch nicht durch Geld. Auch diese Lesart ist in meinen Augen ohne Weiteres möglich und ändert grundsätzlich nichts am Gesamtsinn.

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vom Mord zu entsühnen – wer ihnen dies dennoch ermöglichen wolle, verfalle stattdessen selbst derselben Strafe.485 Ist bereits diese Bestimmung, die eine ganze Gruppe in Haftung nimmt und mit den härtesten Strafen belegt, in ihrer Radikalität geradezu atemberaubend, so sind die nächsten Zeilen auf andere Weise nicht minder bemerkenswert.486 Nachdem zunächst festgelegt worden ist, dass auch sämtliche Käufe, die Tyrannen oder Oligarchen getätigt hätten, ungültig seien, was wie ein Nachtrag wirkt,487 wird bestimmt, auch jeder, der auf scheinbar korrekte Weise, aber unter Beugung der Gesetze (κακοτεχνῶν περὶ τοὺς νόμους) Wahlen zu einer Magistratur oder zur Boule durchführe und damit den Anschein erwecke, man lebe in einer Demokratie (ὡς ἐν δημοκρατίαι), solle als der Anführer einer Oligarchie betrachtet werden. Mit anderen Worten: Auch dann, wenn die demokratischen Verfahren und Vorschriften eingehalten worden waren,488 konnte man unter Umständen dennoch als ἡγεμών τῆς ὀλιγαρχίας behandelt – sprich: straflos erschlagen – werden.489 Welche Instanz feststellen sollte, wann dieser Fall einer verdeckten Oligarchie gegeben sei und welche Kriterien hierfür heranzuziehen sein sollten, bleibt dabei bezeichnenderweise offen.490 Die Inschrift fährt im Anschluss damit fort, die Strafen gegen Tyrannen, Oligarchen und ihre Anhänger festzulegen.491 In sämtlichen Inschriften, seien es Priesterlisten, Weihungen oder Grabinschriften, solle der Name der Betroffenen ausgemeißelt werden; gegen eine Geldzahlung könne man das Recht erwerben, stattdessen eine andere, hierzu berechtigte Person eintragen zu lassen – die Priestertümer sollten also erneut ver485 [ἐ]άν τις ἐπὶ τυράννου ἢ ὀλιγαρχίας ἀποκτ[είνηι] τινὰ ἐν ἀρχῆι ὤν, πάντας τοὺς τὴμ ψῆφ[ον προσθεμ]ένους ἀνδροφόνους εἶναι, κα[ὶ ἐ]ξεῖ[ναι ἐπεξελθ]εῖν ἀεί, μέχρι τέλος δίκης [γένηται δημοκρατουμέ]νων Ἰλιέωγ· καὶ ἐὰν τὴν δίκ[ην μὴ νικήσηι, ψῆφον πρ]οσθέμενος ὥστε ἀποκτεῖναι, ἄτ[ιμον εἶναι] καὶ φεύγειν αὐτὸγ καὶ ἐκγόνους οἳ ἂν [ἐξ αὐτοῦ γ]ένωνται· φόνον δὲ ἐπιγαμίας μὴ καταλλάσ[σεσ]θαι μηδὲ χρήμασιν· εἰ δὲ μή, ἔνοχον εἶναι τῆι α[ὐτ]ῆι ζημίαι, Z. 97–106. Nach dieser heute üblicheren Lesart der Passage (καὶ ἐὰν τὴν δίκ[ην μὴ νικήσηι, ψῆφον πρ]οσθέμενος ὥστε ἀποκτεῖναι) wäre derjenige, der in einem Kapitalprozess, der mit Freispruch endete, für die Todesstrafe gestimmt hat, der Atimie verfallen; vgl. Koch 1996: 59 f. und Dössel 2003: 214. Mir scheint in diesem Zusammenhang allerdings Dittenbergers Ergänzung τὴν δίκ[ην ἀποφεύγηι τις, ψῆφον πρ]οσθέμενος (OGIS 218, Z. 102 f.) sinnvoller zu sein; vgl. Berve 1967: 420 und Teegarden 2014: 193 f. 486 Vgl. Berve 1967, der angesichts dieser Bestimmung feststellt, „wie sehr bei der Abfassung des Gesetzes politische Leidenschaft rechtliches Denken überwog“ (422). 487 I.Ilion 25, Z. 106–111. Vgl. Dössel 2003: „Hier wurde also eventuellen Zwangsverkäufen der Schutz der Scheinlegalität dieser Transaktionen genommen“ (215). 488 ἐάν τις ἐν ὀλιγαρχίαι κακοτεχνῶν περὶ τοὺς νόμους βουλὴν αἱρῆται ἢ τὰς ἄλλας ἀρχάς, ὡς ἐν δημοκρατίαι θέλων διαπράσσεσθαι τ[ε]χνάζων, ἄκυρα εἶναι καὶ τὸν τεχνάζοντα πάσχειν ὡς ἡγεμόνα ὀλιγαρχίας, Z. 111– 116. 489 Vgl. hingegen die Interpretation bei Dössel 2003: „Möglich ist, daß die wieder eingesetzte Demokratie in Ilion durch diese Bestimmung auf das Vorhandensein eines noch kurz vor dem Sturz der Oligarchie gewählten Rates und einer Exekutive reagierte, deren Legitimität sie bestritt“ (216). 490 Dieses entscheidende Problem wird nicht nur von Teegarden 2014: 195 übersehen, der erläutert, es gehe entweder um einen Wahlbetrug, der während einer Oligarchie begangen werde („the acknowledged political reality“), oder um einen, der zu einer solchen führe („a silent oligarchic coup“). Teegarden nimmt die Aussage der Inschrift, es gehe um die Verteidigung der Demokratie, dabei beim Wort: „The Ilians clearly crafted provision 10 in order to prevent anti-democrats from deceiving the population about the real nature of the ruling regime“ (195). 491 Vgl. hierzu Teegarden 2014: 197–199.

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3. Die lokale Überlieferung

kauft werden.492 Bei Weihgeschenken solle die Entscheidung, was nach der Tilgung des Dedikanten mit der jeweiligen Gabe zu geschehen habe, dem Demos obliegen.493 Und schließlich regelt die vierte und letzte Kolumne, welche Ehrungen und finanziellen Zuwendungen jenen zuteil werden sollten, die sich lediglich indirekt, als Unterstützer und Geldgeber (εἰσενέγκας ἢ ἀναλώσας), an der Beseitigung einer Tyrannis oder Oligarchie beteiligten.494 So werden die Archonten für den Fall, dass sie die fraglichen Personen nicht angemessen – durch eine Bekränzung bei den Großen Dionysien – ehren und die notwendigen Mittel für eine entsprechende Inschrift nicht bereitstellen sollten, mit einer Geldstrafe sowie mit zeitweiliger Rechtlosigkeit bedroht;495 während des ersten Jahres nach dem Umsturz sollten die Beamten und Bouleuten in dieser Angelegenheit ständig ansprechbar sein,496 und auch die Mitglieder des zuständigen Ausschusses wurden mit derselben Strafe wie die Archonten bedroht, falls Bekränzung, Entschädigung und Inschrift ausbleiben sollten.497 Sollte jemand allerdings vor Gericht schuldig gesprochen werden, diese Dinge ungerechtfertigterweise beansprucht zu haben, so habe er die doppelte Summe als Strafe zu entrichten; und dies gelte auch für diejenigen, die die empfangenen Mittel nicht gesetzmäßig ([κα]τὰ τὸν νόμον) einsetzen sollten.498 Der erhaltene Text bricht, soweit die letzten Zeilen verständlich sind, mit der Verordnung ab, derjenige, der etwas als Entschädigung erhalte, das ihm nicht zustehe, oder aber mehr, als gerechtfertigt sei, solle weder bekränzt noch durch eine Inschrift geehrt werden.499 In welchen Zusammenhang gehört dieser bemerkenswerte Text? Bereits im Rahmen der Erstedition hat Alfred Brueckner die Inschrift aufgrund der Buchstabenform in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts datiert und zudem einen Zusammenhang mit dem Ende der Herrschaft des Lysimachos im Jahr 281 vermutet, nach dessen Tod 492 So bereits Brueckner 1894: 465. 493 I.Ilion 25, Z. 116–130. Vgl. Flower 2006: 30–41, die diese Klausel in den hellenistischen Kontext einordnet. Das Verfahren erinnert natürlich an eine abolitio nominis oder damnatio memoriae; wie bei dieser dürfte es auch im hellenistischen Ilion nicht darum gegangen sein, die Erinnerung an die Betroffenen tatsächlich zu tilgen: Charles Hedrick hat vor einigen Jahren in einer grundlegenden Untersuchung zur spätantiken damnatio memoriae zeigen können, dass es bei derartigen Namenstilgungen vielmehr um ein „Remembering to forget“ ging; vgl. Hedrick 2000: 89–130. Auch wenn nach der Rasur neue Namen eingetragen wurden, blieb erkennbar, dass etwas entfernt worden war. Dössel 2003: 218 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im klassischen Athen die Namen tatsächlicher oder angeblicher Tyrannen (Thuk. 6,55) oder Oligarchen (Andok. 1,78) inschriftlich festgehalten wurden. Teegarden 2014: 196 erwägt, dass man in Ilion vielleicht auf persische Praktiken zurückgegriffen habe, nennt aber zugleich selbst auch Beispiele aus dem griechischen Kontext. 494 Dössel 2003: 219 vermutet, dass es sich zum Teil um „eine Art Abgabe, eine Eisphora (innerhalb einer Vertriebenengemeinde?)“ gehandelt haben könnte, „während andere Bürger von sich aus Geld aufgewendet“ hätten. Das ist durchaus denkbar. 495 Die entsprechenden Strafen sind dabei gestaffelt: Ein schuldiger Archon sollte 30, ein Ratsmitglied 10, ein Schatzmeister 100 Statere zahlen müssen. 496 So verstehe ich zumindest die Wendung ἔστω τοῦτο πρῶτον ἔτος; vgl. Friedel 1937: 96, Frisch 1975: 70, Dössel 2003: 205 und Teegarden 2014: 199 f. 497 I.Ilion 25, Z. 131–152. 498 Unklar ist, welches Gesetz hier gemeint ist. Vgl. Koch 1996: „Die denkbaren Möglichkeiten reichen von untergeordneten Formvorschriften über ein ‚Stiftungsgesetz‘ bis hin zu grundsätzlichen Regelungen über die Tyrannis“ (61). 499 I.Ilion 25, Z. 153–172. Vgl. Koch 1996: 61 und Dössel 2003: 220.

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die Seleukiden wieder eine Demokratie in Ilion gestattet hätten.500 Wenig später wurde die Existenz einer Tyrannis, deren gewaltsames Ende zur Errichtung der Inschrift geführt habe, allerdings von Wilhelm Dittenberger unter Verweis auf das Fehlen einer entsprechenden Überlieferung bezweifelt;501 und diese Position, die keinen konkreten Umsturz, keine Stasis als Hintergrund des Gesetzes annimmt, wird in der Forschung bis heute mit unterschiedlichen Argumenten vertreten.502 Wie zuletzt insbesondere Astrid Dössel und David Teegarden gezeigt haben, spricht aber tatsächlich vieles dafür, dass die Inschrift auf ganz konkrete Ereignisse reagiert hat, die sich durchaus um 281 abgespielt haben können – aber nicht müssen.503 Hierfür spricht neben der offenkundigen Hast, mit der der Text verfasst worden ist,504 vor allem die Klausel, nach der das Jahr, in dem das Gesetz beschlossen worden war, zugleich das erste Jahr sein sollte (ἔστω τοῦτο πρῶτον ἔτος), in dem die entsprechenden Ansprüche auf Gelder und Ehrungen angemeldet werden könnten.505 Eine derartige Bestimmung ergibt eigentlich nur dann Sinn, wenn tatsächlich ein Umsturz erfolgt war, der zudem noch nicht lange zurück lag.506 Ähnliches gilt für die Regelungen, wie mit jenen zu verfahren sei, die auf die eine oder andere Weise durch ihr Verhalten während des vorangehenden Regimes kompromittiert zu sein schienen. Unabhängig davon, ob dieser mutmaßliche Umsturz in Ilion etwas mit dem Krieg zwischen Lysimachos und Seleukos oder, konkreter, mit dem seleukidischen Sieg bei 500 Vgl. Brueckner 1894: „Nur aus der Zeit, als Ilion dem Lysimachos gehörte (301–281), fehlt das Zeugnis der Inschriften für das Bestehen der Demokratie […]. So ergiebt sich aus den vereinzelt uns überlieferten Nachrichten die Vermuthung, dass mit Lysimachos’ Sturz die ilische Bürgerschaft, begünstigt von den Seleuciden, den von Lysimachos unterstützten Tyrannen vertrieben hat“ (469). 501 OGIS 218. Brueckner hatte das Fehlen von Hinweisen auf eine Tyrannis oder Oligarchie in Ilion hingegen mit der Bestimmung des Gesetzes, die Erinnerung an die Verantwortlichen zu tilgen, erklärt; vgl. Brueckner 1894: 469. 502 Funck 1994: 335 f. nimmt an, das Gesetz sei einfach Bestandteil eines seleukidischen „Umgestaltungsvorhabens“ ohne konkreten Anlass, denn wenn tatsächlich mit Unterstützung durch Seleukos I. ein Tyrann in Ilion gestürzt worden wäre, so hätte die Inschrift seines Erachtens den Monarchen hierfür als Euergeten gefeiert. Funck führt das Gesetz daher auf eine königliche Initiative zurück, die der Herrschaftslegitimation gedient habe: „Die bewußte Wiederbelebung demokratischer Einrichtungen […] steht im Einklang mit anderen verfassungsmäßigen Grundlagen des hellenistischen Königtums […]. Im Fall des Tyrannengesetzes ist es die dezidiert vorgetragene Abgrenzung von Tyrannis und Königtum“ (336). (Die Quelle, die das Königtum überhaupt nicht thematisiert, erlaubt diese Interpretation meines Erachtens nicht.) Koch 1996: 61 erblickt lediglich einen „Systematisierungsversuch einer idealen Anti-Tyrannis-Gesetzgebung“, und Landucci Gattinoni 1997 stellt den zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der seleukidischen Hegemonie über die Polis grundsätzlich in Frage und versteht die Inschrift als Beleg für den Erfolg des Freiheitsslogans der ersten Antigoniden. 503 Bereits Brueckner 1894: 468 f. hatte darauf hingewiesen, dass die Buchstabenform jener einer anderen Inschrift (OGIS 221) gleicht, die gemeinhin auf die 270er Jahre datiert wird. Dies ist allerdings eine sehr unsichere Datierungsgrundlage. 504 Die Inschrift selbst ist, wie erwähnt, sauber gearbeitet und dürfte also erst angefertigt worden sein, als die akute Krisenphase überwunden schien. 505 I.Ilion 25, Z. 144–149. Vgl. in diesem Sinne auch Dössel 2003: 206 und Teegarden 2014: 199 f. 506 Vgl. auch Dössel 2003: „Für eine noch prekäre Situation der herrschenden Demokraten spricht auch, daß mehrfach die Möglichkeit für eine gerichtliches Verfahren nur unter der Voraussetzung gewährt wurde, daß dieses Verfahren auch unter einem demokratischen Regime abgeschlossen würde“ (206). Auch diese Beobachtung passt zu der Annahme, dass die Inschrift auf ein ganz konkretes Ereignis reagiert.

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3. Die lokale Überlieferung

Kurupedion im Frühjahr 281 zu tun hat oder nicht,507 stellt sich die Frage nach den Konfliktparteien. Soweit ich sehe, folgen alle Forscher, die eine Stasis als Hintergrund des Gesetzes annehmen, der Selbstaussage des Textes und gehen davon aus, dass es um die Wiederherstellung der Demokratie gegangen sei.508 An diesem Punkt ist allerdings große Zurückhaltung angebracht, denn grundsätzlich sind mehrere Szenarien möglich: Zum einen könnte in der Tat eine Oligarchie, die sich vielleicht an Lysimachos angelehnt hatte, durch eine demokratische Gegenpartei gestürzt worden sein. Dass nicht einfach von einem τύραννος, sondern parallel dazu stets vom ἡγεμών τῆς ὀλιγαρχίας die Rede ist, spricht dabei dagegen, dass es sich bei dem mutmaßlich gewaltsam beseitigten Regime um eine regelrechte Monokratie gehandelt hat. Zum anderen könnte aber auch die faktische Herrschaft einer Gruppe gewaltsam durch eine andere beseitigt worden sein, die zwar beanspruchte, für die Demokratie zu kämpfen, aber faktisch lediglich die eine verhüllte Oligarchie durch eine andere, die wohl von den Seleukiden gestützt wurde, ersetzte.509 Dies ist die plausibelste Variante.510 Drittens schließlich ist sogar denkbar, wenngleich eher unwahrscheinlich, dass ein demokratisches Regime durch Oligarchen beseitigt wurde, die sich aber selbst als Vorkämpfer des Demos inszenierten.511 Gegen die Annahme, dass in Ilion vor dem mutmaßlichen Umsturz eine offene, unverhüllte Oligarchie oder gar ein Tyrann geherrscht hatte,512 spricht dabei die bereits erwähnte Klausel, nach der man auch diejenigen als Oligarchen zu behandeln habe, un507 Vgl. auch Lund 1992: 121 f., die ebenfalls den seleukidischen Sieg über Lysimachos für den wahrscheinlichsten Hintergrund hält, aber einräumt, „the Ilian opposition may itself have succeeded in expelling the tyrant before the king arrived upon the scene“ (122). 508 Unentschieden bleibt etwa Koch 1996: „So könnte der Beschluß entweder durch die Volksversammlung […] unmittelbar nach Überwindung einer Tyrannis gefaßt worden sein oder innerhalb einer Abspaltung der Polis, etwa einer Emigrantengruppe, für den zukünftigen und ungewissen Zeitpunkt der Befreiung vom derzeit bestehenden Tyrannenjoch, oder drittens als allgemeines Gesetz, ohne unmittelbar greifbaren Bezug“ (43). Vgl. auch Berve 1967: 422 und Maffi 2005: 141. 509 Teegarden 2014 weist darauf hin, dass in einer Reihe von Inschriften, die mit hinreichender Sicherheit in die Zeit nach 280 datiert werden, der Demos von Ilion erwähnt werde, und folgert hieraus: „The dēmos controlled the polis“ (208). Dies ist meines Erachtens ein Kurzschluss: Selbst in der Kaiserzeit erscheint der Demos ja noch regelmäßig in Inschriften, ohne dass deshalb ernsthaft bezweifelt würde, dass die Poleis damals längst faktisch oligarchisch-aristokratisch beherrscht waren. Und auch der Versuch, die anhand des archäologischen Befundes erkennbare wirtschaftliche Blüte Ilions um die Jahrhundertmitte auf eine „more dynamic, democratic political culture“ zurückzuführen (Teegarden 2014: 209), überzeugt nicht recht. 510 Für diese Lesart sprechen insbesondere die bereits vorgestellten Ergebnisse der Analyse der literarischen Quellen zur hellenistischen Stasis: Es ist unwahrscheinlich, dass die Seleukiden ausgerechnet in diesem Fall auf die gängige Praxis (vgl. Cartledge 2016: 234 f.) verzichtet haben sollten, ihre ‚Freunde‘ in der Stadt zu unterstützen, um so ihre Kontrolle über die Polis zu sichern. Es spricht grundsätzlich nichts gegen die Vermutung, dass der Anspruch, die Demokratie wiederhergestellt zu haben, in Ilion im frühen 3. Jahrhundert nicht realistischer war als etwa in Athen unter den Antigoniden. 511 Ganz abwegig ist diese Möglichkeit keineswegs, wie der Blick auf Agathokles lehrt, der sich laut Diodor an die Spitze der „Demokraten“ in Syrakus setzte, um eine Alleinherrschaft zu etablieren, nachdem er seinen Gegnern zuvor vor der Volksversammlung vorgeworfen hatte, eben dies zu planen: ἐφ᾽ οἷς περιαλγὴς γενόμενος αὐτοὺς ὡς διεγνωκότας ἐπιθέσθαι τυραννίδι κατηγόρησεν ἐν τῷ δήμῳ; Diod. 19,3,5. 512 Während Teegarden 2014 teils vorsichtig einfach von einem „nondemocratic regime“ (199) spricht, scheint er doch insgesamt von einer unter Lysimachos installierten Tyrannis in Ilion auszugehen, deren Sturz die Inschrift dokumentiere (199–205). Dössel 2003 konstatiert zwar einerseits, dass sich „der Charakter des Vorgänger-Regimes nicht eindeutig als Tyrannis bestimmen“ lasse (206), geht aber anderer-

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ter deren Ägide scheinbar demokratische Wahlen durchgeführt worden seien.513 Eine solche Bestimmung ergibt nur dann Sinn, wenn Zweifel möglich waren, ob wirklich eine Oligarchie geherrscht hatte. Anders gesprochen: Das Regime, das mutmaßlich gestürzt worden war, hatte selbst offensichtlich den Anspruch erhoben, demokratisch zu sein – gar nicht so anders als das, das man nach seinem Ende etablierte. Angesichts des hier bereits mehrfach angesprochenen diskursiven Sieges der Demokratie in der späten Klassik kann dieser Befund eigentlich kaum überraschen.514 Niemand verstand sich selbst als Oligarch, da dies ebenso verpönt war wie die Tyrannis, und zugleich war es nach wie vor schwierig, Demokratie und Oligarchie eindeutig und trennscharf voneinander zu unterscheiden.515 Die weitreichenden Konsequenzen dieser Entwicklung für die Analyse der hellenistischen Stasis treten nirgendwo deutlicher zutage als im Falle von Ilion: Wenn beide Seiten beanspruchen konnten, für die Demokratie zu kämpfen, während die Anhänger der jeweiligen Gegenpartei als Oligarchen denunziert wurden, dann bedeutet dies, dass man diese Zuweisungen, auch wenn sie grundsätzlich natürlich zutreffen können, keinesfalls ohne weiteres für bare Münze nehmen darf.516 Was sich über den mutmaßlichen Umsturz in Ilion mit hinreichender Gewissheit sagen lässt, ist daher lediglich, dass eine Parteiung die Stadt offenbar lange genug dominiert hatte, um Todes- und Verbannungsurteile über ihre Gegner aussprechen zu können,517 dass man in dieser Zeit anscheinend die demokratischen Polisinstitutionen unangetastet gelassen und Wahlen durchgeführt hatte, und dass es zuletzt zu einem Umschwung gekommen war, nach dem die nunmehrigen Sieger, deren Triumph zunächst vielleicht noch bedroht war, hart und unversöhnlich gegen ihre Gegner vorgingen und zugleich den Anspruch erhoben, die Demokratie wiederhergestellt zu haben. Das „Tyrannengesetz“ von Ilion verrät also nicht etwa, wie man oft annimmt, wichtige Details über die Durchsetzung und Verteidigung einer Volksherrschaft gegen ihre Feinde, sondern ist vielmehr ein besonders eindrucksvolles Zeugnis hellenistischer Bürgerkriegsrhetorik: Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um das Monument einer Parteiung, bei deren Angehörigen es sich mitnichten um Demokraten gehandelt haben muss, auch wenn sie sich ostentativ über den Bezug auf den Demos legitimiert zu haben scheinen.518 Meines Erachtens vollendete das Gesetz der Ilienser mithin das, was spätestens im Eukratesgesetz angelegt war: die rechtliche Begründung einer Stasis, die den Mord am

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seits davon aus, Anlass des Gesetzes sei eine „eben beseitigte Oligarchie“ und die Frage der „Behandlung von Feinden der Demokratie“ (212) gewesen. I.Ilion 25, Z. 111–116. Gauthier 1993 spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „koinè démocratique“ (218). Vgl. Leppin 2013: 147. Anders Liddel 2010: „Commemorating the restoration of democracy was a way that communities put a closure on the period of tyranny while also providing moral authority to the demos“ (18). Andernfalls wären die harten Strafen, die jene treffen sollten, die für die entsprechenden Urteile gestimmt hatten, unverständlich. Vgl. Teegarden 2014: 201 f., der konstatiert, dass die wenigen ganz erhaltenen Inschriften, die vor 281 in Ilion errichtet wurden, den Demos nicht erwähnen. Für Teegarden ist dies ein Beleg für einen tatsächlichen demokratischen Umsturz. Auszuschließen ist das sicherlich nicht. Vielleicht besteht aber auch ein Zusammenhang mit der im Gesetz angeordneten damnatio memoriae, in deren Kontext, falls sie tatsächlich zur Anwendung gekommen sein sollte, mutmaßlich zahlreiche Inschriften zerstört worden sind.

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3. Die lokale Überlieferung

Mitbürger als Wohltat gegenüber der Polis überhöhte. Indem zunächst die Unterscheidung zwischen Tyrann und Oligarch aufgehoben wurde, übertrug man die Regelungen, die den Mord an einem Autokraten nicht nur erlaubten, sondern sogar forderten und mit höchsten Ehrungen zu belohnen versprachen, auf die Tötung eines weitaus größeren Personenkreises; was das Eukratesgesetz impliziert hatte, wurde in Ilion explizit festgehalten: Alle Oligarchen galten als Tyrannen, und die Atimie betraf nun potentiell gleich eine ganze Gruppe. Dass der ἡγεμών τῆς ὀλιγαρχίας in diesem Zusammenhang faktisch mit einem τύραννος gleichgesetzt wurde, ist dabei übrigens ein weiteres Argument für die hier bereits wiederholt diskutierte Annahme, dass sich hinter vielen „Tyrannen“ in den Quellen keine Monokraten, sondern στασίαρχοι und andere prominente Protagonisten einer Parteiung verbergen. Die Möglichkeit wiederum, diesen Vorwurf, der extreme Maßnahmen rechtfertigen konnte, geradezu nach Belieben einsetzen zu können, wurde geschaffen, indem man die ohnehin unscharfe Grenze zwischen Demokratie und Oligarchie weiter verwischte: Mochte der innenpolitische Feind auch ὡς ἐν δημοκρατίᾳ agieren – vor dem Vorwurf, in Wahrheit dennoch ein ἡγεμών τῆς ὀλιγαρχίας zu sein, konnte er sich kaum schützen.519 Alles in allem liegt damit der Schluss nahe, dass das Tyrannengesetz von Ilion in erster Linie vier Zwecken diente, nämlich zum einen der Etablierung eines neuen Regimes durch die Ehrung und Entschädigung der Anhänger der siegreichen Gruppierung, zum anderen der Rache an den überlebenden Mitgliedern der Gegenpartei, drittens der Abschreckung, um eine Konterrevolte zu verhindern, sowie viertens der Rechtfertigung der vorangegangenen Gewalttaten.520 Es scheint fast, als habe man das Blutvergießen nun mit Hilfe des vorliegenden Gesetzes rückwirkend legalisiert,521 indem man erklärte, dass es sich bei jenen, die man teils getötet, teils vertrieben hatte, ohnehin um faktische Oligarchen gehandelt habe, die hinter einer demokratischen Fassade die Fäden in Ilion in Händen gehalten hätten, und dass die Gewalt, die man gegen diese Bürger angewandt habe, gerechtfertigt und sogar ehrenvoll gewesen sei, da man Oligarchen nicht anders zu behandeln habe als Tyrannen. Dabei sei nochmals betont, dass es durchaus möglich ist, dass Ilion in der Tat von einer Parteiung dominiert worden war, die sich auf Lysimachos gestützt und de facto eine Oligarchie in der Polis etabliert hatte. Wenn die Inschrift tatsächlich in den Zusammen519 Dies wird in der Forschung erstaunlich oft übersehen. Vgl. etwa Liddel 2010, der die Ursache für die Existenz der entsprechenden Inschriften meines Erachtens nicht korrekt erfasst: „In situations where there was no amnesty, or when it was easy to blame political upheaval on a foreign usurper, Greek states were comfortable with remembering an anti-democratic past“ (17). 520 Siegreiche Parteiungen in einem Bürgerkrieg neigen grundsätzlich dazu, besonders hart gegen die jeweils Unterlegenen vorzugehen, um so das eigene Vorgehen nachträglich zu legitimieren; vgl. Veit – Schlichte 2011: 160–162. 521 Der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege war griechischen Rechtsvorstellungen zwar nicht vollkommen fremd, aber auch keine Selbstverständlichkeit (so verstehe ich jedenfalls die Argumentation bei Plat. nom. 9,875d und Demosth. or. 24,118). So erwägt etwa Berve 1967: 422, dass das Gesetz aus Ilion durchaus „rückwirkende Kraft“ gehabt haben könne. Dössel 2003 spricht in diesem Zusammenhang hingegen von einem „Rückgriff auf vermutlich bereits bestehende Regelungen über die Behandlung von Feinden der Demokratie“ (220).

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

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hang der gewaltsamen Beseitigung der Dominanz dieser Gruppe gehört, so bleibt allerdings zu klären, wieso keinerlei Reintegrationsmaßnahmen vorgesehen sind: Wenn es unter dem beseitigten Regime zu Tötungen, Verbannungen und Enteignungen gekommen war,522 warum fehlt dann jeder Hinweis auf die Restitution von Eigentum, die doch nach einer Stasis fast immer ein wichtiges Problem darstellte? Zum einen ist denkbar, dass die entsprechenden Regelungen an anderer Stelle getroffen und nicht überliefert wurden. Zum anderen – und dies ist angesichts der Kompromisslosigkeit des Gesetzes im Grunde wahrscheinlicher – ist aber auch denkbar, dass diese Fragen deshalb keine Rolle spielten, weil es nach der Tötung, Flucht und Verbannung der Gegenseite ohnehin unproblematisch war, etwaige ehemalige φυγάδες materiell zu versorgen. Sollte es sich bei dem Gesetz tatsächlich um die nachträgliche Rechtfertigung und Verrechtlichung von bereits eingetretenen Ereignissen handeln, so würde dies bedeuten, dass etwa die Klausel, jene, die für die Verurteilung bestimmter Personen gestimmt hätten, seien mitsamt ihren Familie zu verbannen,523 in Wahrheit bereits umgesetzt worden war. Ähnliches gilt auch für die Regelung, nach der die vormaligen Opfer sich selbst nach Belieben aus dem Besitz ihrer Widersacher entschädigen dürfen sollten, ohne dass hiergegen ein Einspruch möglich sein sollte.524 Der Verdacht liegt nahe, dass man sich hier letztlich selbst einen Freibrief ausstellte.525 Die allgemein gehaltenen Abschnitte der Inschrift – etwa hinsichtlich des Rechtsstatus des jeweiligen Mörders – wären in diesem Fall letztlich dazu gedacht gewesen, den Umstand zu verhüllen, dass es eigentlich um die Bewältigung ganz konkreter Ereignisse ging. Zusammenfassend lässt sich also Folgendes festhalten: Sprache und Inhalt der Inschrift legen nahe, dass das „Tyrannengesetz“ von Ilion aus Anlass eines kurz zuvor erfolgten gewaltsamen Umsturzes entstand, der mutmaßlich in den Zusammenhang des seleukidischen Sieges über Lysimachos im Jahr 281 gehört. Akzeptiert man diese Hypothese, so bezeugt der Text, wie die bereits im spätklassischen Athen greifbare diskursive Gleichsetzung von Oligarchie und Tyrannis im Hellenismus als Instrument zur Rechtfertigung interner Gewalt gegen eine ganze Gruppe Verwendung finden konnte.526 Darüber, ob es sich bei der mutmaßlichen Stasis, wie die Inschrift auf den ersten Blick nahelegt, tatsächlich um eine Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Oligarchen gehandelt hat, oder ob dem Konflikt ganz andere Ursachen zugrundelagen, sind daher keine gesicherten Aussagen möglich.527 522 Koch 1996: 43 f. vermutet sogar, wie erwähnt, das Gesetz sei möglicherweise bereits formuliert worden, als sich die späteren Sieger noch im Exil befanden. Dies ist denkbar, erscheint allerdings eher unwahrscheinlich. 523 I.Ilion 25, Z. 97–106. 524 I.Ilion 25, Z. 53–71. 525 Wenn Dössel 2003: 209 stattdessen von „Maßnahmen zur Überwindung von Stasis“ spricht, so führt dies wohl in die Irre. 526 Funck 1994 erblickt in der Inschrift ganz im Gegensatz zur hier vertretenenen Position ein Beispiel für „die enge Verknüpfung von demokratischer Herrschaftsform und Gesetz im Rahmen einer griechischen Stadt“ (324). 527 An dieser Stelle sei nochmals betont, dass es keineswegs das Anliegen dieser Untersuchung ist, die Existenz tatsächlich monokratisch-tyrannischer Ordnungen im Hellenismus in Zweifel zu ziehen. Vielmehr

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3. Die lokale Überlieferung

Denn dass der Umsturz tatsächlich die Etablierung oder Wiedererrichtung einer demokratischen Ordnung zur Folge hatte, lässt sich zwar nicht ausschließen. Vor dem Hintergrund der übrigen Überlieferung liegt allerdings die Vermutung näher, dass man es schlicht mit einer Auseinandersetzung zwischen zwei verfeindeten Parteiungen in Ilion zu tun hat, die sich an Lysimachos beziehungsweise Seleukos angelehnt hatten und die Polis nacheinander zu dominieren vermochten.528 Die Inschrift, mit der man das Gesetz auf durchaus repräsentative Weise verewigte, stellt damit wohl nicht zuletzt ein Siegesmonument der ‚Seleukidenfreunde‘ dar,529 deren Selbststilisierung als Demokraten den Tatsachen entsprochen haben kann, aber keineswegs muss, da eine Selbstbezeichnung als Oligarch ebenso undenkbar gewesen wäre wie die als Tyrann. Hier ist, wie in anderen Fällen auch, daher Zurückhaltung geboten, will man vom öffentlichen Diskurs und von der Selbstdarstellung einer Gruppe auf die politischen Realitäten zurückschließen. Vielmehr sind die Quellen grundsätzlich gegen den Strich zu lesen. 3.4.3 Mörder als Euergeten: Erythrai Im Jahr 1863 entdeckte man eine Inschrift, deren Herkunft und Datierung lange Zeit umstritten waren,530 die aber, wie Andrew Heisserer bereits 1979 mit guten Argumenten zeigen konnte, aus Erythrai stammt und mutmaßlich in der ersten Hälfte des 3. Jahrhundert gesetzt wurde.531 Das Ende des Textes ist verloren, doch 29 Zeilen sind erhalten und weitestgehend ohne Schwierigkeiten zu entziffern.

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geht es darum, davor zu warnen, voreilig von Diskursen auf Realitäten zurückzuschließen. Denn fest steht, dass es, würde man den Selbstbeschreibungen der Beteiligten glauben, im Hellenismus im Grunde überhaupt keine Staatsformen außer δημοκρατία und (mit Einschränkungen) βασιλεία gegeben haben dürfte, während zugleich der Oligarchie- und Tyrannisvorwurf ein zentraler Bestandteil des Instrumentariums der politischen Polemik war. Dass eine Stasis nicht alle Bürger gleichermaßen betraf, betont auch Funck 1994, der konstatiert, dass „die Initiative der Tyrannenbekämpfung natürlich zuerst bei demjenigen lag, der sich durch einen politischen Umsturz am meisten bedroht fühlte, also beim ilischen Staatsmann“ (322). Vor diesem Hintergrund ist natürlich gerade die Anweisung, umgekehrt die Namen der Gegner von allen öffentlichen und privaten Monumenten zu tilgen, bezeichnend: Die Sieger schrieben buchstäblich und gezielt die Geschichte der Polis um. Sollte es sich bei denen, deren Namen ausgemeißelt wurden, um Aristokraten gehandelt haben, so muss diese Strafe die Überlebenden besonders hart getroffen haben. Vgl. auch Dössel 2003: „Wenn die gemeinsame Erinnerung einen wichtigen Teil der Identität einer Gruppe ausmacht, dann ist die Verweigerung der Erinnerung, noch dazu auch im Bereich des Religiösen und sogar über den Tod hinaus, gleichbedeutend mit dem Ausschluß aus dieser Gruppe“ (218). Wilhelm Dittenberger plädierte für eine Datierung in die Jahre um 333 (Syll.3 284); und die Herausgeber von I.Erythrai 503 folgten noch 1973 der Hypothese von Wilhelm 1915, der Text stamme eigentlich aus Klazomenai und sei lediglich verschleppt worden. Die ausführlichste Diskussion der Quelle bietet nun Teegarden 2014: 142–172, dessen Grundannahme, es habe sich tatsächlich um eine Auseinandersetzung zwischen Oligarchen und Demokraten gehandelt, allerdings ebenso wie in anderen hier behandelten Fällen problematisch ist. I.Erythrai 503 (vgl. Syll.3 284 sowie SEG 29,1129 und 32,1134). Vgl. Heisserer 1979, der nachweist, dass die im Text erwähnten Beamten ebenso auf Erythrai verweisen wie die überlieferten Fundumstände (285– 290), während vor allem die Buchstabenform eine Datierung auf die Zeit nach 275 nahelege (290 f.). Während die Lokalisierung heute allgemein akzeptiert wird, herrscht hinsichtlich der Datierung nach wie vor keine Einigkeit. Gauthier 1982: 215 bezweifelt grundsätzlich, dass mehr als eine Eingrenzung

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

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Die Stele umfasst dabei zwei Beschlüsse von Rat und Demos der Stadt, die offensichtlich zum selben Zeitpunkt und von derselben Hand festgehalten wurden.532 Bereits das erste der beiden Psephismata beginnt mit einer aufsehenerregenden Aussage: Auf Antrag des Zoilos, Sohn des Chiades, habe man beschlossen, an der Statue (εἰκών) des Tyrannenmörders Philites das Schwert (ξίφος) wieder anzubringen, das die Anhänger der Oligarchie (οἱ ἐν τῆι ὀλιγαρχίαι) zuvor entfernt hätten.533 Diese hätten nämlich, so die Inschrift weiter, angenommen, dass sich die Errichtung des Standbildes534 gegen sie gerichtet habe. Um nun zu demonstrieren, wie der Demos seiner Wohltäter (τῶν εὐεργετῶν) mit großer Sorgfalt und auf ewig gedenke, seien sie nun bereits tot oder noch lebendig, habe man beschlossen, dass die zuständigen Beamten die entsprechende Arbeit in Auftrag geben sollten, um die Statue wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen;535 und überdies hätten die Marktaufseher darauf zu achten, sie stets frei von Grünspan (ἰός) zu halten – es handelte sich also offensichtlich um ein Werk aus Bronze – und aus Anlass bestimmter Feste regelmäßig zu bekränzen.536 Höchstwahrscheinlich noch während derselben Volksversammlung wurde, ebenfalls auf Antrag des Zoilos, überdies durch das zweite Psephisma beschlossen, den Marktaufsehern die notwendigen Mittel für die Pflege und Bekränzung des Standbildes zur Verfügung zu stellen.537 Der grundsätzliche Ablauf der Ereignisse, die den Hintergrund der Inschrift bilden, lässt sich vergleichsweise leicht rekonstruieren: Nach einem ersten erfolgreichen Umsturz, in dem Philites eine wichtige Rolle gespielt hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach umgekommen war,538 war für ihn auf der Agora von Erythrai eine Bronzestatue errichtet

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auf das 3. Jahrhundert möglich ist, während Lund 1992: 127 auch einen etwas früheren Zeitpunkt, zum Beispiel nach der Schlacht von Ipsos, für möglich hält. Ma 2009 spricht von „c. 300 bce or slightly later“ (249). Vgl. Heisserer 1979: „That both were carved by the same mason seems evident from the identical script. The language is koine throughout“ (283). Dass die ursprüngliche Stele noch weitere Beschlüsse enthielt, ist unwahrscheinlich. Scholz 2008 verweist auf diese Inschrift und folgert aus ihr, dass „die Oligarchen offenkundig keinen anderen Begriff als Oligarchie für sich fanden“ (75). Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass hier in Gestalt der Wendung οἱ ἐν τῇ ὀλιγαρχίᾳ eine Fremdbezeichnung vorliegt. Die Selbstbezeichnung hellenistischer Oligarchen lautete, soweit ich sehe, „Demokrat“. Reinhold Merkelbach und Helmut Engelmann übersetzen στάσις hier mit „Zwist“ (I.Erythrai 503); wie bereits Gauthier 1982: 218 gezeigt hat, ist aber stattdessen sicherlich die „Aufstellung“ des Standbildes gemeint. ἐπειδὴ οἱ ἐν τῆι ὀλιγαρχίαι τῆς εἰκόνος τῆς Φιλίτου τοῦ ἀποκτείναντος τὸν τύραννον τοῦ ἀνδριάντος ἐξεῖλον τὸ ξῖφος, νομίζοντες καθόλου τὴν στάσιν καθ’ αὑτῶν εἶναι· ὅπως ἂν ὁ δῆμος φαίνηται πολλὴν ἐπιμέλειαν ποιούμενος καὶ μνημονεύων ἀεὶ τῶν εὐεργετῶν καὶ ζώντων καὶ τετελευτηκότων, ἀγαθῆι τύχηι δεδόχθαι τῆι βουλῆι καὶ τῶι δήμωι, Z. 2–10. τοὺς ἐξεταστὰς το[ὺ]ς ἐνεστηκότ[α]ς ἐγδοῦναι τὸ ἔργον διαστολὴν ποιησαμένους μετὰ τοῦ ἀρχιτέκτονος, καθ’ ὅτι συντελεσθήσεται ὡς πρότερον εἶχεν· ὑπηρετε[ῖ]ν δὲ αὐτοῖς τὸγ κατὰ μῆνα ταμίαν. ὅπως δὲ καθαρὸς ἰοῦ ἔσται ὁ ἀνδριὰς καὶ στεφανωθήσεται ἀεὶ ταῖς νουμηνίαις καὶ ταῖς ἄλλαις ἑορταῖς, ἐπιμελεῖσθαι τοὺς ἀγορανόμους, Z. 10–17. I.Erythrai 503, Z. 18–29. Denkbar ist zwar grundsätzlich auch, dass der Anschlag scheiterte und zwischen dem Attentat und dem schließlichen Regimewechsel – ähnlich wie in Athen um 510 – etwas Zeit verging. Da aber im Falle von Erythrai Indizien fehlen, die in diese Richtung weisen würden, sollte man die einfachste Lesart vorziehen und von einem unmittelbar erfolgreichen Umsturz ausgehen. Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem.

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3. Die lokale Überlieferung

worden, die ihn in ähnlicher Pose wie das athenische Denkmal für Harmodios gezeigt haben dürfte – mit einem zum tödlichen Hieb bereiten Schwert in der Rechten.539 Zu einem späteren Zeitpunkt hatte man die Statue dann dem Verfall überlassen und die Waffe entfernt; dies geschah offenbar durch Gewalteinwirkung, weil die Reparatur allem Anschein nach nicht ohne weiteres zu bewerkstelligen war – offensichtlich war das Standbild erheblich beschädigt worden, weshalb man eine Erneuerung nur μετὰ τοῦ ἀρχιτέκτονος durchführen konnte.540 Diese Reparatur wiederum erfolgte geraume Zeit später, nachdem die Bronze bereits Grünspan angesetzt hatte, und fortan sollte die Statue regelmäßig der Mittelpunkt eines öffentlichen Rituals, einer Bekränzung, sein. Nichts spricht dagegen, dass die entsprechenden Volksbeschlüsse bereits zu diesem Zeitpunkt inschriftlich festgehalten wurden, um eine bestimmte Lesart der Ereignisse vorzugeben.541 In der Regel wird die Quelle dahingehend interpretiert, dass man es mit einer Kette von drei Umstürzen zu tun habe: Die Errichtung des Standbildes sei Folge des ersten, die Entfernung des Schwertes Folge des zweiten und die Wiederinstandsetzung der Statue schließlich Folge des dritten gewesen. Obwohl sich nur die Existenz der ersten Stasis, die durch den „Tyrannenmord“ durch Philites markiert wurde,542 mit absoluter Sicherheit annehmen lässt,543 ist in der Tat wahrscheinlich, dass es in der Folge zu zwei weiteren Machtwechseln in der Polis kam, die allerdings nicht unbedingt mit blutigen Unruhen verbunden gewesen sein müssen. Obwohl denkbar ist, dass die Beschädigung der Statue heimlich, nachts und gegen den Willen der Bürgerschaft erfolgt sein könnte, deutet der offensichtlich längere Zeitraum, in dem das Standbild anschließend dem Verfall überlassen worden zu sein scheint, darauf hin, dass jene, die in der Stadt damals das Sagen hatten, zumindest kein Interesse daran hatten, etwas dagegen zu unternehmen. Die beiden von Zoilos eingebrachten Volksbeschlüsse wiederum rückten nicht nur Philites und seine Tat in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, sondern bedienten sich eines eindeutigen Elementes der Stasisrhetorik – der Brandmarkung der Gegenseite als Feinde der Demokratie –, was als ein ziemlich sicheres Indiz für einen Machtwechsel in der Stadt gelten kann: Es ist schwer vorstellbar, dass sich jene, 539 Vgl. zum athenischen Standbild für die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton Hölscher 2010 (mit weiterer Literatur), Azoulay 2014 und Nippel 2017: 248. 540 I.Erythrai 503, Z. 12. 541 Heisserers Hypothese, die Inschrift sei möglicherweise erst lange nach den Ereignissen entstanden (Heisserer 1979), verwirft mit guten Argumenten Teegarden 2014: 154–157. 542 Vgl. Rieß 2016: 98 f., der betont, dass zumindest im klassischen Athen eine Tötung in der Öffentlichkeit stattfinden musste, wenn sie als Tyrannenmord anerkannt werden sollte. 543 Kein Tyrann war ohne Anhänger. Das gilt nicht nur dann, wenn τύραννος lediglich einen prominenten Protagonisten der Gegenpartei bezeichnete, sondern auch für einen tatsächlichen Monokraten wie Agathokles. Erschlug man daher eine einzelne Person, beseitigte man damit normalerweise nicht zugleich auch ihre Parteiung. Mit anderen Worten: Damit der Mord an einem „Tyrannen“ eine Veränderung der Machtverhältnisse in einer Polis zur Folge haben konnte, musste auch gegen seine Anhänger vorgegangen werden – das gewaltsame Ende einer tatsächlichen oder vermeintlichen Tyrannis war also in aller Regel mit einer Stasis verbunden. Diese konnte durchaus auch mit einem Sieg der Anhänger des Getöteten enden, wie etwa der bereits erwähnte Fall des Aristodemos in Megalopolis bezeugt, dessen Mörder aus der Stadt flüchten mussten, statt als Befreier gefeiert zu werden, während man dem Ermordeten ein prächtiges Grabmal errichtete; Paus. 8,27,11 und 8,36,5.

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die die Inschrift als Oligarchen kennzeichnet, zum fraglichen Zeitpunkt noch in der Polis aufhielten; wenn aber doch, so wurden sie nun öffentlich gedemütigt. David Teegarden hat unlängst mit durchaus bedenkenswerten Argumenten vorgeschlagen, die drei Umstürze in Erythrai mit den drei großen Wendepunkten der frühhellenistischen Geschichte in Verbindung zu bringen: Die Stasis, bei der Philites den Tod fand, gehöre in den Kontext des Alexanderzuges,544 der Umsturz, der zur Entfernung des Schwertes geführt habe, sei nach der Schlacht von Ipsos erfolgt, und die beiden Volksbeschlüsse, die die Inschrift bewahrt, seien nach der Schlacht von Kurupedion getroffen worden, als – ähnlich wie vielleicht auch in Ilion – der seleukidische Sieg über Lysimachos zum Kollaps eines von diesem gestützten Regimes geführt habe.545 Diese Rekonstruktion ist in sich zwar plausibel und lässt sich mit dem vorhandenen Material vereinbaren; als gesichert kann sie allerdings keineswegs gelten, da es bis auf weiteres an Indizien fehlt, die sie stützen würden.546 Vieles bleibt ungewiss. So ist unbekannt, wen genau Philites eigentlich erschlagen hatte,547 und vor allem ist rätselhaft, wieso zwischenzeitlich nicht die Statue, sondern lediglich ihr Schwert entfernt wurde.548 Während sich also die realen Ereignisse, die den Hintergrund der Inschrift bildeten, angesichts der offensichtlichen Parteilichkeit des Textes dem Versuch einer einigermaßen gesicherten Rekonstruktion entziehen, lassen sich anhand des Volksbeschlusses und seiner inschriftlichen Verewigung durchaus Beobachtungen hinsichtlich des zugrundeliegenden Diskurses machen. Zunächst einmal beansprucht man Philites und seine Tat, die als Tyrannenmord interpretiert wird, für sich, und brandmarkt die Gegner zugleich als Oligarchen.549 Am auffälligsten aber ist 544 Vgl. die Kritik bei Cartledge 2016: 237 f., der von „a big stretch“ spricht. 545 Vgl. Teegarden 2014: 157–164. 546 Ähnlich wie bereits im Falle von Ilion sollte man sich davor hüten, die Selbstdarstellung der Seleukiden unkritisch zu übernehmen und ihnen eine grundsätzlich pro-demokratische Politik zuzuschreiben; vgl. auch Cartledge 2016: 234 f. 547 Man könnte spekulieren, dass das Opfer als tatsächlicher oder vermeintlicher Tyrann vielleicht Gegenstand einer damnatio memoriae geworden war, wie sie – wie erwähnt – im Tyrannengesetz von Ilion vorgeschrieben ist. Möglich ist auch, dass die Identität des Getöteten in Erythrai einfach als bekannt vorausgesetzt werden konnte. 548 Gauthier 1982: 219–221 nimmt an, man habe befürchtet, die vollständige Beseitigung der Statue könne einen demokratischen Aufstand auslösen, und sich daher dafür entschieden, das Standbild lediglich durch die Entfernung des Schwertes zu neutralisieren und zu einem gewöhnlichen Siegerdenkmal eines Athleten (ἀνδριάς) umzudeuten. Dies überzeugt nicht recht. Ober 2003b, der der von der Inschrift vorgegebenen Deutung misstraut, aber die Dichotomie „Oligarchen – Demokraten“ dennoch übernimmt, schlägt vor, es sei darum gegangen, die Gleichsetzung von Oligarchen mit Tyrannen symbolisch aufzuheben und die Polis zu befrieden: „Rather than symbolically removing a threat to themselves, the oligarchs were symbolically proclaiming an end to an era of citizen-on-citizen violence, the end of stasis“ (228). Teegarden 2014: 149 nimmt wiederum an, die Entfernung des Schwertes sei eine absichtliche, gezielte Beleidigung der Demokraten in Erythrai durch die Oligarchen gewesen. 549 Auch in diesem Fall ist natürlich Vorsicht bei der Übernahme dieser Etikettierung geboten. Der von der Inschrift vorgegebenen Interpretation, die „Oligarchen“ hätten das Schwert entfernt, weil sie es gegen sich gerichtet sahen, sollte man nicht einfach folgen – diese Aussage unterstellt dem politischen Gegner, er habe offen dazu gestanden, ein Feind von Freiheit und Demokratie zu sein, und sich deshalb vom Schwert des Tyrannenmörders bedroht gefühlt. Das ist wenig plausibel. Als einigermaßen gesichert darf hingegen gelten, dass jene Gruppe, die die Entfernung des ξίφος veranlasst oder zumindest geduldet hatte, Philites den Heldenstatus absprach. Vermutlich bestritt man schlicht, dass es sich bei der unbekann-

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3. Die lokale Überlieferung

wohl, dass Philites ausdrücklich als Euerget gefeiert wird;550 man deutet einen Mord – eigentlich ein schwerer Tabubruch – also in eine Wohltat für die Polis um.551 Die Quelle dokumentiert damit zum einen, wie sich ein Denkmuster, das sich bereits im athenischen Eukratesgesetz und in Ilion greifen lässt, konkret im öffentlichen Diskurs von Erythrai niederschlug, während zum anderen sichtbar wird, wie sich das Ringen um die Deutungshoheit hinsichtlich der jüngeren Vergangenheit der Polis sowohl durch dauerhafte Monumente wie die Statue und die Inschrift als auch durch Rituale wie die regelmäßige Bekränzung manifestierte.552 Es ging um eine Kommemoration des Sieges, und zwar bemerkenswerterweise nicht direkt, also durch eine Bezugnahme auf die offenbar kurz zuvor erfolgte Entmachtung der Gegenseite, sondern vielmehr indirekt durch die Inanspruchnahme und Instrumentalisierung einer Tat, deren Zeitgenossen aller Wahrscheinlichkeit nach bereits nicht mehr am Leben waren. Indem man den einstigen „Tyrannenmörder“ ehrte, feierte man sich letztlich selbst – wohl nicht zufällig ist ausdrücklich nicht nur von toten Euergeten die Rede, sondern auch von lebenden.553 Diese aktive Überhöhung von Philites und seiner Tat wäre dabei wohl kaum notwendig gewesen, wenn es nicht auch gegenteilige Ansichten gegeben hätte.554 Die Existenz der Inschrift legt allerdings nahe, dass sich die in ihr propagierte Lesart – oder vielmehr: Zoilos und die übrigen, die sie vertraten – letztlich durchsetzen konnte.555 Zugleich mit der Kontrolle über die Polis hatte man mithin auch die Kontrolle darüber erlangt, wie man sich in Erythrai künftig öffentlich an die Ereignisse erinnern würde;556 und dieser Sieg war so vollständig, dass er das kollektive Gedächtnis der Polis prägte, bis heute nachwirkt und eine Antwort auf die Frage, was während dieser Stasis tatsächlich vorgefallen war, im Grunde unmöglich macht.557

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ten Person, die von ihm erschlagen worden war, tatsächlich um einen Tyrannen gehandelt hatte, und verstand das Schwert daher als Symbol nicht einer Befreiungstat, sondern eines Mordes an Mitbürgern. Vgl. Ma 2013: „The people of Erythrai crowned the bronze statue of Philetas [sic], the tyrannicide, on festival days, as if he were one of the members of the crowd of citizens“ (301). Vgl. hierzu auch – mit Bezug auf Harmodios und Aristogeiton – Hölscher 2010: „Der Mythos von der Heldenhaftigkeit der Tat konnte die Problematik des Mordes selbst nicht ganz überdecken“ (250). Dies wird treffend zusammengefasst von Ma 2009, der allerdings die Aussage der Inschrift, es sei um die Wiederherstellung der Demokratie gegangen, vielleicht etwas zu bereitwillig übernimmt (und es damit unterlässt, aus seinen erhellenden Überlegungen die letzte Konsequenz zu ziehen): „The restored democracy made a point of restoring the statue very openly, mobilizing public institutions such as magistrates and civic finance […]. The restored democracy also invented new habits and rituals […], reaffirming the potency of the statue and the stories it embodied“ (250). I.Erythrai 503, Z. 8 f. Bereits der Tyrannenmord par excellence, die Tötung des Hipparchos im spätarchaischen Athen, war stets umstritten. Thukydides bezeugt, dass es durchaus möglich war, die Heldenhaftigkeit von Harmodios und Aristogeiton anzuzweifeln und in Frage zu stellen, dass die Ereignisse im Athen des Jahres 514 tatsächlich einen Tyrannenmord (und keinen privaten Racheakt an einer Person, die gar kein Tyrann war) dargestellt hatten; Thuk. 6,52,2–6,59. Vgl. Fornara 1968 und Schubert 2010. Vgl. Ma 2009: „Within cities, the construction of memory may have been the means or the prize in struggles or personal agendas […]. ‚Collective memory‘, like other products of the Greek city, may have to be read against the grain“ (256). Vgl. zu diesem Phänomen grundsätzlich Luraghi 2010: 255–260. So spricht selbst Cartledge 2016, hinsichtlich der Vitalität der hellenistischen Demokratie insgesamt eher skeptisch, hier von „a promising case of genuine democratic sentiment still existing in the old sense“ (236).

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

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3.4.4 Verweigerte Versöhnung: Μνησικακεῖν in Eresos Den Abschluss dieses Überblicks soll eines der bekanntesten epigraphischen Zeugnisse für den hellenistischen Stasisdiskurs bilden, nämlich das sogenannte „Tyrannendossier“ von Eresos auf Lesbos.558 Hierbei handelt es sich um das große Fragment einer Inschrift, die auf einer heute in zwei Teile zerbrochenen Stele angebracht war;559 auf dieser publizierte man wohl gegen 301 zwei Königsbriefe und vier Volksbeschlüsse, die aus den letzten vier Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts stammen. Der erhaltene Text zerfällt dabei in vier Abschnitte, und selbst ein flüchtiger Leser erkennt auf Anhieb, dass mindestens eine Stasis den historischen Hintergrund der Inschrift gebildet haben muss. Die Rekonstruktion der konkreten Ereignisse hingegen bildet bereits seit Jahrzehnten den Gegenstand intensiver Diskussionen.560 Der Anfang der Quelle ist – wie wohl ungefähr die Hälfte der ursprünglichen Inschrift – verloren, und die sechs Einzeltexte scheinen überdies nicht in chronologischer Reihenfolge aufgezeichnet worden zu sein, so dass die Rekonstruktion der Ereignisse erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Der lesbare Text auf dem ersten Bruchstück setzt damit ein, der δᾶμος von Eresos habe per Handzeichen Männer bestimmt, die alle Anklagen gegen die Tyrannen, die in der Stadt gelebt hätten, und gegen ihre Verwandten zu sammeln und dann dem Volk vorzulegen hätten. Anschließend wird festgehalten, König Alexander habe die Eresier durch eine διαγραφή angewiesen, über die Strafen für Agonippos und Eurysilaos – offensichtlich die besagten τυράννους – gemäß den Gesetzen zu entscheiden; und der Damos habe daraufhin einen Gerichtshof (δικαστήριον) eingesetzt, der die beiden Männer zum Tode verurteilt und entschieden habe, dass auch ihre Angehörigen „dem Gesetz auf der Stele“ (τῶ νόμω τῶ ἐν τᾶ [στ]άλλα) unterliegen und ihre Besitztümer versteigert werden sollten: Offensichtlich wurden sie also verbannt.561 558 IG XII,2,526 (vgl. OGIS 8). Ich folge hier dem grundlegenden Beitrag Ellis-Evans 2012: 204–207, der eine auf Autopsie beruhende Neuedition bietet, die insbesondere mehrere Buchstaben, die bislang nur vermutet wurden, als lesbar wertet. 559 Die beiden Teile der Inschrift wurden bereits 1841 bzw. 1852 entdeckt und haben großes Interesse auf sich gezogen, wobei unter der älteren Forschung vor allem Pistorius 1913: 60–66 und 71–75 noch immer lesenswert ist. Eine ausführliche Diskussion bietet Heisserer 1980: 27–78, der die These vertritt, es handle sich um zwei separate Stelen, auf denen nacheinander die fraglichen Texte zu unterschiedlichen Zeiten angebracht worden seien; ihm folgen unter anderem Lott 1996: 27 f. und Rhodes – Osborne 2003: 416. Ellis-Evans 2012 hat im Rahmen einer grundlegenden Reevaluation der Quelle allerdings plausibel machen können, dass es sich im Gegenteil doch um zwei Teile derselben Inschrift handelt, die mehrere zu unterschiedlichen Zeiten entstandene Texte in den letzten Jahren vor der Schlacht von Ipsos zusammenfasste: „One stonemason inscribed the document at a point following the latest datable text in the dossier, the διαγραφή of King Antigonos Monophthalmos (c. 306–301), and it is a safe inference that the whole dossier was created in response to this diplomatic exchange“ (188). 560 Vgl. zur Inschrift neben Heisserer 1980: 27–78 und Ellis-Evans 2012 auch Lott 1996, Labarre 1996: 23–42, Koch 2001, Rhodes – Osborne 2003: 414–419, Bencivenni 2003: 55–73, Teegarden 2014: 115–141, Lehmann 2015b und Wallace 2016. 561 [περὶ ὦν ἀ βό]λ[λα] προεβόλλε[υσε, ἢ ἔδοξ]ε ἢ [μ]ετέδ[οξε τᾶ βόλλα καὶ οἰ] ἄνδ[ρ]ες οἰ χειροτο[ν]ή[θεν] τε[ς πάν]τα [τὰ γράφεντα] κατὰ τῶν τυρ[άν]νων [κα]ὶ τ[ῶν ἐ]μ πό[λει οἰκη]θέντων καὶ τῶν ἐκγ[όνω]ν [τῶν τούτων παρέχ]ονται καὶ ταὶς γράφαι[ς ε]ἰσ[κομίζοισ]ι εἰς τὰν ἐκλησίαν· ἐπειδὴ καὶ π[ρότε]ρον ὀ βασίλευς Ἀλέξανδρος διαγράφαν ἀποσ[τέ]λλαις π[ροσέτ]αξε [Ἐρ]εσίοις κρίναι ὐπέρ τ[ε Ἀγ]ωνίππω καὶ Εὐ[ρυσ]ιλ[ά]ω, τί δεῖ πά[θ]ην αὔτοις, [ὀ δὲ δᾶμος ἀκο]ύ[σ]αις τὰ[ν] διαγράφαν δικαστήριο[ν καλέ]σα[ι]ς

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3. Die lokale Überlieferung

Als dann ein weiteres Schreiben Alexanders eingetroffen sei, in dem der König die Polis gebeten habe, zu entscheiden, ob die Brüder Apollodoros, Hermon und Hiraios, die früher Tyrannen über die Stadt gewesen seien (τῶν πρότερον τυραννησάντων τᾶς πόλιος), gemeinsam mit ihren Abkömmlingen nach Eresos zurückkehren dürften, habe der Demos erneut ein Gericht einberufen, vor dem beide Seiten ihre Position vertreten hätten und das dann entschieden habe, dass auch in diesem Fall der νόμος gegen die Tyrannen gelte und diese zu verbannen seien.562 Daher habe der Demos beschlossen, das auf der alten Stele aufgezeichnete Gesetz auf die drei Brüder und ihre Nachfahren anzuwenden, wie es auch die gegen sie gerichteten Schreiben der Könige (ταὶς διαγρά[φ]αις τῶν βασιλέων) und ein früheres Psephisma festgelegt hätten.563 Der folgende Satz bricht zwar ab, doch ist offensichtlich, dass bekräftigt wurde, die Verbannten seien zu töten, falls sie nach Eresos zurückkehren sollten.564 Der erhaltene Rest des zweiten Abschnitts beginnt dann mit einer Aufzählung von schweren Vorwürfen. Diese belegen zweifelsfrei eine offene Stasis in Eresos: Jemand – der weitere Verlauf des Textes macht deutlich, dass Agonippos gemeint ist – habe die auf der Akropolis Belagerten eingeschlossen, von den Bürgern 20.000 Statere eingetrieben (δισμυρίοις στάτηρας εἰσέπραξε) und die Griechen ausgeplündert. Er habe die Altäre für Zeus Philippios niedergerissen, Krieg gegen Alexander und die Hellenen geführt sowie die männlichen Bürger entwaffnen lassen und dann der Stadt verwiesen; die Frauen und Töchter der Betroffenen aber habe er als Geiseln auf der Akropolis festgehalten und auf diese Weise die Zahlung von 3200 Stateren erzwungen. Gemeinsam mit „Räubern“ (μετὰ τῶν λαΐσταν) habe er die Stadt und die Heiligtümer geplündert und sie mitsamt den darin befindlichen Leichen der getöteten Bürger in Brand gesetzt.565 Schließlich sei er vor König Alexander getreten, wobei er gelogen und die Eresier verleumdet habe (κατ[ε]ψεύδετο καὶ διεβάλλετο τοὶς πολίταις).566 Daher habe ein Schwurgericht in geheimer Abstimmung zu entscheiden, ob er zum Tode zu verurteilen sei; falls ja, solle man, nachdem Agonippos seine Verteidigung vorgebracht habe, über die Hinrichtungsart abstimmen.567 Wenn er aber verurteilt werden

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κ[ατὰ] τοὶς νόμοις ὀ ἔκριν[ν]ε Ἀγώνι[ππ]ομ μὲν καὶ Εὐρυσίλ[αο]ν τε[θ]νάκην, τοὶς δὲ ἀπο[γόνοις] αὔτων ἐνόχοις [ἔμμε]ναι τῶ νόμω τῶ ἐν τᾶ [στ]άλλα, τὰ [δ]ὲ ὐπάρχον[τα π]έπρασθαι αὔτων κατὰ [τ]ὸν νόμον; IG XII,2,526d, Z. 4–18. IG XII,2,526d, Z. 18–28. δέδοχθαι τῶ δάμ[ω κ]ύριομ μὲν ἔμμεναι κατὰ [τῶν] τυράννων καὶ τῶ[ν ἐ]μ πόλι οἰκηθέντων καὶ τῶν ἀπογόνων τῶν το[ύ τ]ων τόν τε νόμον τὸμ περὶ [τ]ῶν τυράννων γεγρά[μμ]ενον ἐν τᾶ στάλα τᾶ [παλαί]α καὶ ταὶς διαγρά[φ]αις τῶν βασιλέων ταὶς κατὰ τούτων καὶ τὰ ψα[φ]ίσματα τὰ πρότερον γράφεντα ὐπὸ τῶν προγό[ν]ων καὶ ταὶς ψαφοφο[ρ]ίαις ταὶς κατὰ τῶν τυράννων; IG XII,2,526d, Z. 28–35. IG XII,2,526d, Z. 35–40. Diese Verweigerung einer angemessenen Beisetzung war natürlich ein schwerer Frevel. [πολ]ιορκήθεν[τας εἰς τὰν ἀ]κ[ρ]όπολιν [ἀ]νοικο[δ]όμ[η]σε καὶ τοὶ[ς πολίτα]ις δισμυρίοις στάτηρας εἰσέπραξε [καὶ τοὶ]ς Ἔλλανας ἐλαΐζετ[ο] καὶ τοὶς βώμοις ἀ[νέσ]καψε τῶ Δίος τῶ Φιλιππίω, καὶ πόλεμον ἐξε[νικ]άμενος πρὸς Ἀλέξανδρον καὶ τοὶς Ἔλλανας τοὶς μὲν πολίταις παρελόμενος τὰ ὄπλα ἐξεκλάϊσε ἐκ τᾶς πόλιος [πα]νδάμι, ταὶς δὲ γύνα[ι]κας καὶ ταὶς θυγάτερας συλλάβων καὶ ἔρξα[ις] ἐν τᾶ ἀκροπόλι τρισχιλίοις καὶ διακοσίο[ις] στάτηρας εἰσέπραξε, ταν δὲ πόλιν καὶ τὰ ἶρ[α] διαρπάσαις μετὰ τῶν [λα]ΐσταν ἐνέπρησε κα[ὶ] σ[υ]γκατέκαυσε σώματα [τῶν] πολίταν, καὶ τὸ τ[ε]λεύταιον ἀφικόμενος πρὸς Ἀλέξανδρον κατ[ε]ψεύδετο καὶ διεβάλλετο τοὶς πολίταις; IG XII,2,526a, Z. 1–15. IG XII,2,526a, Z. 15–20.

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

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sollte, so solle jeder, der danach die Verwandten des Agonippos zurückrufe oder auch nur den Vorschlag mache, sie zu restituieren und ihnen ihren Besitz zurückzugeben, mitsamt seiner Familie verflucht sein; überdies solle auf ihn ein Gesetz hinsichtlich der Zerstörung der Stele über die Tyrannen und ihre Nachfahren Anwendung finden.568 Ferner solle die Volksversammlung jene verfluchen, die ungerecht urteilen und abstimmen, und jenen Heil wünschen, die die Polis mit einem gerechten Urteil unterstützen würden.569 Anschließend wird das genaue Ergebnis der Abstimmung aufgezeichnet: 883 Stimmen seien abgegeben worden, von denen nur sieben Agonippos freigesprochen, alle übrigen ihn aber für schuldig befunden hätten.570 Bevor der Textabschnitt abbricht, ist sodann noch der Anfang eines weiteren Psephismas überliefert: Nachkommen früherer Tyrannen, nämlich Hiroidas, Sohn des Tertikon, und Agesimenes, Sohn des Hermesides,571 seien vor Alexander erschienen und hätten erklärt, sie seien bereit, sich vor dem δᾶμος den gegen sie erhobenen Vorwürfen zu stellen.572 Ob es tatsächlich zu einem Prozess kam oder ob man an der Verbannung der Männer festhielt, bleibt ungewiss. Im Gesamtkontext der Inschrift erscheint es aber sehr unwahrscheinlich, dass man sie anders behandelte als die übrigen τυράννους und ihre Nachkommen: Mutmaßlich wurde also auch ihnen die Rückkehr verweigert.573 Der dritte erhaltene Abschnitt wiederholt sodann noch einmal fast wortgleich die Vorwürfe – Entwaffnung der Bürger, Geiselhaft ihrer Frauen und Töchter, Brandschatzung der Stadt und ihrer Heiligtümer gemeinsam mit πειρατάς –, die gegen Agonippos erhoben worden waren, diesmal allerdings bezogen auf Eurysilaos.574 In geheimer Abstimmung sei auch in seinem Fall zu entscheiden, ob der Angeklagte dieser Vergehen schuldig sei. Sollte er zum Tode verurteilt werden, so solle per Handzeichen über die Hinrichtungsart abgestimmt werden. Überdies wird festgelegt, die Polis solle zehn συνάγοροι bestimmen, die die Stadt in diesem Fall vertreten sollten.575 Dass auch Eurysilaos schließlich schuldig gesprochen wurde, hat die Inschrift ja bereits an anderer Stelle verraten. Der vierte Abschnitt schließlich enthält den Wortlaut des Eides, den die Bürger vor der Abstimmung hatten leisten müssen,576 sowie zwei königliche Schreiben 568 αἰ δέ κε καλλάφθε[ν]τος Ἀγωνίππω τᾶ δίκα κατάγη τίς τινα τῶν Ἀγωνίππω ἢ εἴπη ἢ πρόθη περὶ καθόδω ἢ τῶν κτημάτων ἀποδόσιος, κατάρατον ἔμμεναι καὶ αὖτον καὶ γένος τὸ κνω [κ]αὶ τἆλλα ἔ[ν]οχος ἔστω τῶ νόμω ὠς τὰν στάλλαν ἀνέλοντ[α] τὰν περὶ τῶν τυράννων καὶ τῶν ἐκγ[όν]ων; IG XII,2,526a, Z. 20–26. 569 IG XII,2,526a, Z. 26–30. 570 IG XII,2,526a, Z. 30–32. 571 Mutmaßlich handelt es sich um Enkel oder Großneffen von Apollodoros; vgl. Rhodes – Osborne 2003: 417. 572 περὶ ὦν οἰ πρέσβεες ἀπαγγέλλοισ[ι ο]ἰ πρὸς Ἀλέξανδρον ἀποστάλεντες καὶ Ἀλέξανδρος τὰν διαγράφαν ἀπέπεμψε, ἀφικομένων πρὸς αὖτον τῶν πρότερον τυράννων ἀπογ[ό]νων Ἠρωίδα τε τῶ Τερτικωνείω τῶ Ἠρακλείω κα[ὶ Ἀ]γησιμένεος τῶ Ἐρμησιδείω καὶ ἐπαγγελλα[μέν]ων πρὸς Ἀλέξανδρον ὄτι ἔτοιμοί ἐστι δίκ[αν ὐ]ποσέθην περὶ τῶν ἐγκαλημένων ἐν τῶ δά[μω]; IG XII,2,526a, Z. 33–41. 573 Keine Zweifel hieran haben Rhodes – Osborne 2003: „They were not allowed to return“ (417). 574 Dieser hatte sich zuvor offensichtlich in Ägypten ebenfalls in Alexanders Gegenwart aufgehalten: Lott 1996: 33 weist darauf hin, dass es sich bei dem „Ersilaus“, den Curtius Rufus erwähnt (Curt. Ruf. 4,8,11), aller Wahrscheinlichkeit nach um Eurysilaos handelt. 575 IG XII,2,526b, Z. 1–34. Koch 2001: 201 vermutet ausgehend hiervon, dass Eurysilaos möglicherweise lediglich in absentia verurteilt worden sei. 576 IG XII,2,526c, Z. 1–20. Vgl. Koch 2001: 210.

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3. Die lokale Überlieferung

an die Polis: Zunächst teilte Philipp III. Arrhidaios den Bürgern mit,577 die unter Alexander gefällten Verbannungsurteile seien weiterhin gültig, allerdings seien die φυγάδες fortan nicht mehr ἀγώγιμοι.578 Und einige Jahre später erklärte Antigonos I., er habe eine Gesandtschaft aus Eresos empfangen, die ihm mitgeteilt habe, als Reaktion auf einen Brief, den der König hinsichtlich der Söhne des Agonippos an die Polis gerichtet hatte, habe das Volk einen Beschluss gefasst.579 Der Inhalt dieses Psephismas lässt sich, da die Inschrift hier abbricht, ebenso wie die Antwort des Antigoniden nur erahnen. Es liegt allerdings sehr nahe, dass die Eresier auch diesmal die Rückkehr der Verbannten verweigert hatten und der König diese Entscheidung akzeptierte. Die ungefähre Datierung der Ereignisse liegt aufgrund der Nennung der Königsnamen auf der Hand; die Texte des Dossiers stammen aus der Zeit zwischen 336 und 301. Als etwas schwieriger erweist es sich, die Herrschaft der „Tyrannen“ um Apollodoros näher zu bestimmen.580 Lange Zeit dominierte die insbesondere von Andrew Heisserer vertretene Rekonstruktion, nach der die Inschrift auf gleich vier gewaltsame Umstürze innerhalb von drei Jahren verweise: Zunächst seien im Jahr 336 die „älteren“ Tyrannen gestürzt worden, die im Folgejahr mit achaimenidischer Hilfe wieder an die Macht gelangt seien und die zuvor noch mit Hilfe Philipps II. etablierte Demokratie beseitigt hätten. Nach der Schlacht am Granikos seien sie von den Demokraten in Eresos erneut vertrieben worden. 333 seien dann mit Unterstützung Memnons Agonippos und Eurysilaos gewaltsam an die Macht gekommen,581 hätten den Altar für Philipp zerstört, einen Großteil der Bürger verbannt und mit den Persern Krieg gegen die Griechen geführt,582 bevor 332 mit makedonischer Hilfe endgültig eine Demokratie etabliert worden sei.583 Nach dieser Rekonstruktion hätte es mithin innerhalb kurzer Zeit gleich dreimal per577 Man darf annehmen, dass es sich um ein im Namen des nicht regierungsfähigen Königs verfasstes Schreiben Polyperchons handelt. 578 αἱ μὲν κατὰ τῶν φυγάδων κρίσεις αἱ κριθε[ῖ]σαι ὑπὸ Ἀλεξάνδρου κύριαι ἔστωσαν καὶ [ἣ]ν κατέγνω φυγὴν φε[υγ]έτωσαμ μέν, ἀγώγιμο[ι] δὲ μὴ ἔστωσαν; IG XII,2,526c, Z. 21–29. Vgl. zur Bedeutung von ἀγώγιμοι Wallace 2016: „The person who broke a particular law or committed a crime in one member state was liable to seizure, himself and his property, from all member states […]. Those who were φυγάδες, who had either fled a city or already been exiled from it, could then be made ἀγώγιμος in absentia from the wider hegemonic alliance“ (249). Mit anderen Worten: Der König bestimmte, dass die Verbannten außerhalb von Eresos fortan unbehelligt bleiben sollten. Alexanders Brief an Chios (Syll.3 283) bestätigt, dass die damals Verbannten ausdrücklich zu ἀγώγιμοι erklärt worden waren, in Eresos dürfte man also analog verfahren sein. 579 βασιλεὺς Ἀντίγονος Ἐρεσίων τῆι βουλῆι καὶ τῶι δήμωι χαίρειν· παρεγένοντο πρὸς ἡμᾶς οἱ παρ’ ὑμῶν πρέ[σ]βεις καὶ διελέγοντ[ο], φάμενοι τὸν δῆμον κομισάμενον τὴν παρ’ [ἡ]μῶν ἐπιστολὴν ἣν ἐγρ[ά]ψαμεν ὑπὲρ τῶν Ἀγωνίπ[π]ου υἱῶν ψήφισμά τε π[οήσ]ασθαι ὃ ἀνέγνωσα[ν ἡμῖ]ν καὶ αὐτοὺς ἀπε[σταλκέναι πρ]άσσ[ειν]; IG XII,2,526c, Z. 30–42. 580 Rhodes – Osborne 2003: 417 mutmaßen, Apollodoros und seine Brüder seien an die Macht gelangt, als der athenischen Einfluss in der Ägäis nach dem Bundesgenossenkrieg schrumpfte. 581 Im Jahr 333 nahm die persische Flotte unter Memnon mit Ausnahme von Mytilene ganz Lesbos ein; Diod. 17,29,1 f. 582 Ganz anders Bosworth 1988: 192, der annimmt, Agonippos und Eurysilaos hätten die vorangehende „Junta“ in Eresos bereits um 340 gestürzt, seien zunächst mit Philipp II. verbündet gewesen und dann 333 zu den Persern übergelaufen. 583 Vgl. Heisserer 1980: 58–78. Diese Rekonstruktion war im Kern unter anderem bereits von Pistorius 1913 (bes. 60–76, 86–98 und 121–123) vorgeschlagen worden.

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serfreundliche Tyrannen in Eresos gegeben, die nacheinander mit makedonischer Hilfe gestürzt worden wären. Bereits 1996 hat allerdings Bert Lott in einem wenig beachteten Beitrag darauf hingewiesen, dass die Quelle lediglich zwei Tyrannenherrschaften bezeuge.584 So sei bemerkenswert, dass es Agonippos und Eurysilaos möglich gewesen sei, den Altar für Zeus Philippios zu zerstören – wäre ein promakedonisches Regime bereits 335 erstmals beseitigt worden, wäre unerklärlich, wieso dies nicht bereits damals erfolgt sein sollte. Zudem verwies Lott auf eine Passage bei Pseudo-Demosthenes, in der Alexander ein Bruch der Korinthischen Bundesvereinbarung vorgeworfen wird, die ja innenpolitische Umstürze verboten hatte, indem er auf Lesbos in Antissa und Eresos Tyrannen, die bereits 338 an der Macht gewesen seien,585 unter dem Vorwand, ihre Herrschaft sei unrechtmäßig, beseitigt habe, während er zugleich die Tyrannis der Philiadessöhne in Messene geduldet habe.586 Lott schloss aus diesem Befund, dass die „älteren“ Tyrannen 338 mit Unterstützung Philipps II. an die Macht gekommen seien,587 woraufhin sie den Altar für Zeus Philippios errichtet hätten und mit Eresos dem Korinthischen Bund beigetreten seien. 334 habe Alexander dennoch geduldet, dass ihr Regime beseitigt wurde. Agonippos und Eurysilaos hätten dann, wie bereits von Heisserer angenommen, 333 mit Memnons Hilfe die Macht in der Polis erlangt,588 bevor sie im Folgejahr gestürzt worden seien. Diese Rekonstruktion, die unlängst von Shane Wallace aufgegriffen und verfeinert wurde,589 darf in der Tat grundsätzlich ein hohes Maß an Plausibilität für sich beanspruchen.590 Welche Konsequenzen ergeben sich nun für die vorliegende Untersuchung? Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass es sich bei dem, was sowohl die Inschrift als auch Pseudo-Demosthenes als Tyrannenherrschaften über Eresos klassifizieren, nicht um Monokratien gehandelt haben kann, da jeweils mehrere Männer benannt werden. Hier scheint mithin erneut die bereits mehrfach beschriebene Gleichsetzung von Oligarchie und Tyrannis zu beobachten zu sein: Es geht den Quellen nicht darum, die Stellung der fraglichen Personen ‚staatsrechtlich‘ präzise zu fassen, sondern darum, sie als illegitim zu kennzeichnen. Dass sich die Betroffenen selbst nicht als „Tyrannen“ verstanden, wird schon allein daraus ersichtlich, dass es in Eresos ja offenkundig bereits zu ihrer Zeit ein Antityrannengesetz „auf einer alten Stele“ (ἐν τᾶ στάλλα τᾶ ἀ[ρχαί]α) gab,591 auf das sich 584 Vgl. Lott 1996. 585 Wahrscheinlich handelte es sich um Apollodoros, Hermon und Hiraios; gesichert ist dies aber nicht. 586 ἀλλὰ γὰρ εἴποιεν ἂν οἱ τυραννίζοντες οὗτοι, ὅτι πρὶν τὰς συνθήκας γενέσθαι ἐτυράννουν Μεσσηνίων οἱ Φιλιάδου παῖδες: διὸ καὶ καταγαγεῖν τὸν Ἀλέξανδρον αὐτούς. ἀλλὰ καταγέλαστος ὁ λόγος, τοὺς μὲν ἐκ Λέσβου τυράννους, οἷον ἐξ Ἀντίσσης καὶ Ἐρέσου, ἐκβαλεῖν ὡς ἀδικήματος ὄντος τοῦ πολιτεύματος, τοὺς πρὸ τῶν ὁμολογιῶν τυραννήσαντας, ἐν δὲ Μεσσήνῃ μηδὲν οἴεσθαι διαφέρειν, τῆς αὐτῆς δυσχερείας ὑπαρχούσης; Ps.-Demosth. or. 17,7. Vgl. auch Jehne 1994: 217 f. 587 Vgl. Lott 1996: 38. 588 Labarre 1996: 30 f. nimmt an, dass Memnon schwerlich ein erst im Vorjahr von Alexander installiertes Regime in Eresos geduldet hätte. Diese Schlussfolgerung erscheint aber nicht zwingend. 589 Vgl. Wallace 2016. 590 In offensichtlicher Unkenntnis von Lott 1996 und Ellis-Evans 2012 hat auch Lehmann 2015b dafür plädiert, zwei statt drei Tyrannenherrschaften in Eresos anzunehmen. 591 IG XII,2,526d, Z. 32 (mit der Neulesung ἀ[ρχαί]α statt [παλαί]α nach Ellis-Evans 2012: 204).

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3. Die lokale Überlieferung

die Inschrift wiederholt bezieht.592 Es erscheint also angebracht, die Denomination als τύραννος auch in diesem Fall nicht einfach zu übernehmen; eher dürfte es sich bei Apollodoros, Hermon und Hiraios ebenso wie bei Agonippos und Eurysilaos um besonders prominente Protagonisten zweier Parteiungen gehandelt haben, die nacheinander die Polis dominierten, bevor sie getötet oder verbannt wurden.593 Vor diesem Hintergrund scheint es geraten, die Rolle, die Philipp II. und Alexander bei den Vorgängen spielten, nicht zu überschätzen,594 sondern von vorwiegend intern motivierten Auseinandersetzungen in der Polis auszugehen, deren Verlauf von makedonischer Seite eher geduldet als gesteuert wurde. So ist eigentlich nicht ersichtlich, wieso Alexander 334 aktiv den Sturz einer promakedonischen Oligarchie in Eresos veranlasst haben sollte;595 viel wahrscheinlicher ist stattdessen, dass der Umsturz unabhängig von ihm erfolgte und von dem Argeaden lediglich hingenommen wurde, da sich das neue Regime – das keineswegs demokratisch gewesen sein muss, auch wenn man die Vorgänge wie üblich mit diesem Argument rechtfertigte – offenkundig nicht gegen ihn stellte und daher auch den Altar für seinen Vater nicht antastete.596 Es ist daher nicht nötig, die Stasis, die zum Ende der ‚älteren Tyrannis‘ in der Polis führte, direkt mit dem makedonisch-persischen Konflikt in Verbindung zu bringen; hierfür spricht auch, dass sich Alexander später für die Rückkehr der damals Verbannten einsetzte. Anders verhält es sich wohl mit dem Umsturz von 333, da sich Agonippos und Eurysilaos danach ostentativ auf die Seite der Achaimeniden gestellt und sogar an Kampfhandlungen gegen „die Griechen“ teilgenommen haben sollen;597 sie werden damit eine ähnliche Rolle gespielt haben wie Apollonides und Athenagoras im benachbarten Chios. Bei den „Räubern“ und „Piraten“, die die entsprechenden Anklageschriften erwähnen, dürfte es sich um ihre Mitkämpfer gehandelt haben – mutmaßlich ebenfalls Eresier.598 Folgt man der Darstellung der Inschrift, so führten sie vor allem Krieg gegen 592 Dies ist übrigens ein anschaulicher Beleg dafür, dass die Existenz eines Antityrannengesetzes nichts über die tatsächlichen Machtverhältnisse in einer Polis aussagen muss. 593 Dieser Punkt wird in den zahlreichen Untersuchungen zu Eresos, soweit ich sehe, erstaunlicherweise durchgehend übersehen. Zumeist ist vielmehr unkritisch von „Tyrannen“ und der schließlichen Etablierung einer Demokratie die Rede. Bosworth 1988: 193 bezeichnet Agonippos und Eurysilaos zwar lediglich als „oligarchic leaders“, akzeptiert aber die Angabe, nach ihrem Sturz habe der Demos die Macht übernommen. 594 Vgl. in diesem Sinne auch Ellis-Evans 2012: „It may be incorrect to posit a ‚hyper-interventionist‘ model of Hellenistic kingship“ (192). 595 Vgl. den Erklärungsversuch bei Wallace 2016: „This was, as Ps.-Demosthenes pointed out, unconstitutional, but Alexander’s actions need to be interpreted in the wider context of his promotion of democracy in Asia Minor. After the democratic uprising in Ephesus in 334 Alexander sent a Liberation Decree to the cities of Ionia and Aiolis promoting democracy as pro-Macedonian and demonising oligarchy/tyranny as pro-Persian“ (252). Meines Erachtens genügt hingegen als Erklärung, dass sich das neue Regime gegenüber Alexander loyal gab und er daher keinen Anlass hatte, inmitten der Kämpfe gegen die Perser in Eresos zu intervenieren. 596 Anders Teegarden 2014, der der traditionellen Lesart folgt: „Persia supported the anti-democrats; Macedon supported the pro-democratic faction“ (123). 597 Unklar ist dabei, ob damit tatsächlich Kämpfe gegen das griechisch-makedonische Heer gemeint sind oder vielmehr Auseinandersetzungen mit den ‚Makedonenfreunden‘ auf Lesbos. 598 Zur Bedeutung der Wörter πειρατής und λῃστής siehe auch die Erläuterungen zu Alipheira; vgl. Kapitel 3.2.3.

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

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ihre Mitbürger, die sich ihnen vergeblich entgegengestellt hätten;599 man sollte allerdings bedenken, dass es hierbei darum ging, das Verhalten der Polis gegenüber Alexander zu rechtfertigen: Möglicherweise dienten die beiden „Tyrannen“ daher nicht zuletzt als Sündenböcke; denn dass Agonippos selbst offenbar eine ganz andere Version der Ereignisse verbreitet hatte, in der das Agieren der Bürger von Eresos augenscheinlich als deutlich weniger loyal gegenüber dem Argeaden geschildert wurde, als diese glauben machen wollten, bezeugt der Vorwurf, er habe die Polis vor Alexander „verleumdet“. Der König aber ließ sich von ihm wohl nicht überzeugen, da er ihn offensichtlich an seine Mitbürger auslieferte;600 und diese wussten, was von ihnen erwartet wurde – offenbar hatte der Argeade angeordnet, den „Tyrannen“ den Prozess zu machen, was das Urteil im Grunde bereits vorwegnahm.601 Sie erklärten Agonippos und Eurysilaos zu Alleinschuldigen für den Abfall von den Makedonen und verurteilten sie fast einstimmig zum Tode, womit sie zugleich ihre unbedingte Loyalität gegenüber Alexander dokumentierten. An dieser Lesart hielt man noch Jahrzehnte später fest, wie die Anbringung der Inschrift in den Jahren um 303 bezeugt. Somit ergibt sich, knapp zusammengefasst, die folgende Rekonstruktion der Ereignisse zwischen 338 und 333: Als Eresos dem Korinthischen Bund beitrat, scheint eine Gruppe, als deren Protagonisten später Apollodoros, Hermon und Hiraios galten, die Polis dominiert zu haben. Unklar ist dabei, ob sie sich mit makedonischer Hilfe in der Stadt durchgesetzt hatten; jedenfalls aber kam es nach dem Tod Philipps II., wahrscheinlich 334, zu einem Umsturz im Namen der Demokratie, der von Alexander anschließend zumindest toleriert wurde, da er an der außenpolitischen Orientierung der Polis offensichtlich nichts geändert hatte.602 333 brach eine erneute Stasis aus, deren Heftigkeit schwer einzuschätzen ist, da unsere einzige Quelle die Intensität der Auseinandersetzungen möglicherweise übertreibt, um im Nachhinein die Illegitimität des neuen Regimes zu betonen. Jedenfalls aber fiel Eresos nun von Alexander ab,603 und wahrscheinlich kam es zu Verbannungen und zu Kämpfen zwischen ‚Perserfreunden‘ 599 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass augenscheinlich nicht etwa Agonippos und Eurysilaos die Akropolis besetzt hatten, sondern ihre Gegner (IG XII,2,526a, Z. 1 f.), bei denen es sich wahrscheinlich um jene Gruppe gehandelt hat, die nach dem Tod Philipps II. die Kontrolle über die Stadt übernommen hatte. Nach dem ‚klassischen Drehbuch‘ einer Tyrannis, das auf den Sturz der Peisistratiden zurückging (Hdt. 5,64 f.; vgl. auch Hdt. 5,72), hätte es sich bei denen, die die Akropolis daraufhin belagerten, eigentlich um die Feinde der Tyrannen handeln müssen. Es erscheint daher keineswegs abwegig, dass Agonippos und Eurysilaos die Belagerung im Namen der Demokratie durchführten und ihrerseits den Anspruch erhoben, die Stadt zu befreien. 600 Laut Arrian war dies grundsätzlich das von Alexander gewählte Verfahren: Ἀλέξανδρος δὲ τοὺς τυράννους μὲν τοὺς ἐκ τῶν πόλεων ἐς τὰς πόλεις πέμπει χρήσασθαι ὅπως ἐθέλοιεν, τοὺς δὲ ἀμφὶ Ἀπολλωνίδην τοὺς Χίους ἐς Ἐλεφαντίνην πόλιν Αἰγυπτίαν ξὺν φυλακῇ ἀκριβεῖ ἔπεμψεν; Arr. Anab. 3,2,7. 601 Vgl. auch Ellis-Evans 2012: „The verdict was a foregone conclusion […]. Alexander was therefore ordering the Eresian demos to do what it had wanted to do in the first place“ (194). Vgl. auch Dmitriev 2005: „Alexander gave his consent to political change, while the city used its own laws“ (293). 602 Anders Wallace 2016, der Alexander eine aktivere Rolle zuschreibt: „By expelling the Old Tyrants in 334 in accordance with the Freedom Decree, Alexander was practicing regime change, forcing a loyal League member to change its government to fit with his wishes“ (258). 603 Teegarden 2014 übersieht, dass letztlich dies das todeswürdige Vergehen war, für das Agonippos und Eurysilaos büßen mussten, und hält an der Fiktion des prodemokratischen Makedonenkönigs fest: „Al-

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3. Die lokale Überlieferung

und ‚Makedonenfreunden‘ in der Stadt. Letztere übernahmen nach der Schlacht von Issos wieder die Kontrolle über die Polis,604 klagten Agonippos und Eurysilaos vor Alexander erfolgreich als Verräter und Tyrannen an und erwirkten ihre Überstellung nach Eresos, wo sie zum Tode verurteilt und ihre Angehörigen – sowie wahrscheinlich weitere Anhänger – verbannt wurden.605 Doch ist dies noch nicht alles, was die Inschrift über die Stasis in Eresos verrät. Auffällig ist nämlich überdies, wie sehr sich Unversöhnlichkeit geradezu als Leitmotiv durch die Texte zieht. Bereits der Volksbeschluss über Agonippos bedroht ja jeden, der eine Restituierung der φυγάδες auch nur zur Diskussion stellen sollte, mit schwersten Strafen;606 und als Alexander – vielleicht im Jahr 324607 – die Polis aufforderte, über eine mögliche Rückkehr der Gruppe um Hermon und Hiraios zu entscheiden, wurde diese vom Demos abgelehnt und die Verbannung stattdessen nochmals bekräftigt.608 Das knappe Schreiben Philipps III., das die Restitution der φυγάδες untersagte, dürfte auf eine entsprechende Bitte der Eresier zurückgehen – vermutlich hatte die „Freiheitsproklamation“ von 319, die ja auch eine Rückkehr von Verbannten verkündet hatte, in der Polis für erhebliche Beunruhigung gesorgt,609 so dass man sich die harte Haltung sicherheitshalber noch einmal bestätigen ließ. Vor diesem Hintergrund spricht alles dafür, dass auch Antigonos I., der sich für die Nachfahren von Agonippos verwendet hatte, auf die Durchsetzung einer Restitution verzichtete – andernfalls wäre sein Brief schwerlich in das Dossier aufgenommen worden. Indem man die angeblichen Vergehen der seinerzeit Verbannten ebenso aufzeichnete wie das Ergebnis der damaligen Abstimmung610 und die wiederholte Bestätigung durch Alexander, Philipp III. und Antigonos I., dass gegen den Willen der Polis keine Restitution von φυγάδες – sei ihre Existenz nun auf die Vorgänge von 334 oder auf die von 332 zurückzuführen – erfolgen solle, sollte ganz offensichtlich ein Zeichen gesetzt werden. Es liegt auf der Hand, dass es in Eresos einflussreiche Personen gab, die eine

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exander was thus sending a very clear message that ‚tyrants‘ are bad for the community and thus must be killed“ (140). Möglicherweise spielte bei diesen Vorgängen übrigens auch der Peripatetiker Phainias von Eresos eine Rolle, von dem später jedenfalls berichtet wurde, er habe seine Vaterstadt einst von Tyrannen befreit; FGrHist 1012 T 7. Auch in diesem Falle gilt, dass es immer einer Parteiung bedurfte, um eine Polis zu dominieren. Indem man den στασίαρχοι Agonippos und Eurysilaos die gesamte Verantwortung für die Vorgänge zuwies, mag man einen erheblichen Teil ihrer Anhänger zugleich exkulpiert haben; doch es wäre überraschend, hätte dies für alle gegolten. Selbstverständlich bedeutet all dies nicht, dass die Vorwürfe gegen die „Tyrannen“ aus der Luft gegriffen waren; es ist aber stets zu bedenken, dass die Inschrift keine neutrale Darstellung bietet. IG XII,2,526a, Z. 20–26. Bosworth 1988 nimmt hingegen an, dies sei bereits kurz nach dem Prozess gegen Agonippos und Eurysilaos erfolgt: „The descendants of the previous junta, untainted by medism, now approached Alexander suing for their restoration“ (193). IG XII,2,526d, Z. 20–39. Diod. 18,55 f. Dies nehmen unter anderem auch Heisserer 1980: 62 f., Teegarden 2014: 132 und Wallace 2016: 255–258 an. Vgl. zur Einordnung der Proklamation Poddighe 2013. Dabei ist man in auffälliger Weise darum bemüht, das Verfahren als formal korrekt darzustellen, einschließlich der Erwähnung der geheimen Abstimmungen und der Anhörung der Angeklagten.

3.4 Gesetze gegen Tyrannen und Oligarchen

267

Rückkehr der Verbannten fürchteten;611 zweifellos nicht zuletzt deshalb, weil diese dann ihr vormaliges Eigentum zurückgefordert hätten. Diese Furcht war, wie die wiederholten königlichen Interventionen belegen, keineswegs unbegründet, denn offensichtlich waren die φυγάδες aktiv um ihre Rückkehr bemüht und besaßen Fürsprecher am Hof. Es ist zudem sehr gut denkbar, dass sie ein König wie Antigonos instrumentalisierte, um die Polis Eresos inmitten des Vierten Diadochenkrieges zur Loyalität zu zwingen, indem er – wenig subtil – an die Möglichkeit erinnerte, die Verbannten zurückzuschicken und die Stadt damit ins Chaos zu stürzen. Ob die φυγάδες auch über Anhänger in Eresos selbst verfügten, lässt sich zwar nicht mit Sicherheit sagen; man kann aber vermuten, dass sich die vorliegende Inschrift nicht zuletzt an diese richtete,612 während sie zugleich all denen in der Stadt, die Angst vor einer etwaigen Rückkehr der Verbannten hatten, den Rücken stärken sollte. Es ging um eine ostentative Versöhnungsverweigerung. Die bereits dreißig Jahre zurückliegenden Ereignisse während der Staseis um 334 sollten gerade nicht vergessen, sondern vielmehr bewusst erinnert werden – jedenfalls die Sicht der damaligen Sieger. Es handelt sich hier also nachgerade um das genaue Gegenteil von μὴ μνησικακεῖν. Damit aber stellt die Quelle ein ungewöhnliches Zeugnis dar – nicht nur für eine erbitterte Stasis, die Eresos während des Alexanderzuges erschütterte,613 sondern auch für die Instrumentalisierung des Tyrannenvorwurfs zum Zweck der Stabilisierung einer Polis, Jahrzehnte nach den eigentlichen Ereignissen.614 Denn da allen Beteiligten bewusst gewesen sein muss, dass die Rückkehr beider Gruppen, obwohl sie oder ihre Vorfahren aus ganz verschiedenen Gründen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten verbannt worden waren, in Eresos fast unausweichlich eine erneute Stasis ausgelöst hätte – jedenfalls solange kein König bereit war, die erforderlichen Geldmittel bereitzustellen,615 um zumindest die ökonomischen Hindernisse für eine Reintegration zu beseitigen –,616 scheint eine breite Mehrheit in der Polis bereit gewesen zu sein, das 611 Vgl. auch Teegarden 2014: „It is quite clear that the Eresians were concerned with the prospect of the exiles’ return home“ (133). Wenn Teegarden annimmt, man habe gefürchtet, einer der Könige könne die Verbannten einsetzen, um ein „pro-monarch nondemocratic regime“ zu etablieren, so setzt er – wie in seiner ganzen Studie – voraus, dass sich die Konflikte tatsächlich zwischen Demokraten und Oligarchen abspielten und die Letztgenannten verbannt worden waren. 612 Hierfür spricht das explizite Verbot, eine Rückkehr der Verbannten und eine Restitution ihres vormaligen Eigentums auch nur vorzuschlagen; IG XII,2,526a, Z. 20–26. 613 Vgl. etwa Lott 1996: „The fact that Eresos changed sides so easily can be taken as evidence of factional strife within the city between those who supported Persia (led by Agonippos and Eurysilaos) and those who supported Macedon (in this case, the democrats)“ (33). 614 Teegarden 2014: 134 nimmt hingegen an, die Inschrift habe sich nicht nur an die Bürger von Eresos, sondern vor allem an „the particular king in question“ gerichtet: „Were he to contemplate a change in policy, the Eresians could show him his earlier decision. It was literally written in stone“ (134). Die Vorstellung, man habe geglaubt, einem Monarchen, der persönlich nach Eresos kommen sollte, um die Demokratie abzuschaffen, die Stele mit dem Dossier zeigen zu können, um ihn so von seinen finsteren Plänen abzuhalten, kann man allerdings nur als abwegig bezeichnen. 615 Erinnert sei daran, dass die Rückführung der Verbannten aus dem benachbarten Mytilene vermutlich durch eine Geldspende Alexanders ermöglicht worden war, dies allerdings wohl den besonderen Umständen der Kapitulation der Stadt geschuldet war; vgl. Kapitel 3.2.1. 616 Dass es zu der Zeit, zu der die Inschrift errichtet wurde, gar nicht mehr so sehr darauf ankam, was man den Verbannten eigentlich vorwarf, übersieht nicht nur Lott 1996, der annimmt, die spätere Feindseligkeit gegenüber den Nachfahren von Apollodoros und seinen Brüdern zeige, „that their rule had not

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3. Die lokale Überlieferung

seinerzeit gefällte Urteil, dessen Gerechtigkeit allem Anschein nach durchaus fragwürdig war, immer wieder zu bestätigen, um den Frieden in Eresos nicht zu gefährden.617 3.5 Ergebnisse: Prävention, Bewältigung und Akteure Wenn sich eine griechische Polis entschied, einen Text inschriftlich zu publizieren, statt ihn lediglich in den Archiven zu verwahren, so verfolgte sie mit dieser Monumentalisierung stets eine konkrete Absicht. Die hier vorgestellten epigraphischen Zeugnisse bilden in diesem Zusammenhang keine Ausnahme; vielmehr ist allen Quellen gemein, dass es sich um einen Versuch handelt, auf durchaus unterschiedliche Weise mit zumindest unerfreulichen, oftmals aber traumatischen Geschehnissen umzugehen, die die Stadt betroffen hatten;618 der Demos agierte, wie Nino Luraghi am Beispiel Athens gezeigt hat,619 im Grunde als sein eigener Geschichtsschreiber. Und nicht anders als bei anderen Schriftquellen war daher das Bild, das auf diese Weise entworfen wurde, keineswegs ohne Tendenz; die mémoire collective war grundsätzlich auf die Gegenwart gerichtet.620 Man mag den Einwand erheben, das hier wiederholt formulierte Misstrauen gegenüber den Selbstaussagen der Inschriften grenze an Hyperkritik, und diese Gefahr besteht in der Tat; doch liegt die Beweislast im Falle von Texten, die offenkundig die subjektive Sicht der Sieger nach einer Stasis dokumentieren, eher auf der Seite derer, die die Aussagen für vertrauenswürdig halten. Damit ist nicht unbedingt gesagt, dass diese Quellen absichtlich ‚lügen‘; jedoch geben sie eine bestimmte Perspektive auf die Konflikte wieder. Die öffentlichen Inschriften des Hellenismus bedürfen daher nicht weniger einer kritischen Überprüfung als die literarischen Zeugnisse; ja, sie bedürfen ihrer sogar oft noch mehr, da ihre Verfasser oder Auftraggeber in der Regel viel unmittelbarer in die Ereignisse verwickelt waren, als es bei den meisten Geschichtsschreibern der Fall ist. Was hat die Auswertung der lokalen Überlieferung hinsichtlich des Phänomens der Stasis im Hellenismus ergeben? Zunächst einmal hat sich gezeigt, dass die Zahl der Konflikte noch erheblich größer gewesen sein dürfte, als es die literarischen Quellen dokumentieren.621 So spricht nichts dagegen, die etwa 300 Ehrendekrete für auswärtige Richter und Schlichter als Indiz für eine weitverbreitete Instabilität zu werten, die sich

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been pleasant“ (38). Nicht etwaige einstige Untaten waren das Problem, sondern vor allem die drohende Rückkehr, die den sozialen Zusammenhalt der Polis bedroht hätte. Es ging also nicht darum, die Gültigkeit des Antityrannengesetzes, und damit die Demokratie in Eresos, immer wieder zu bestätigen, wie Teegarden 2014: 134 glaubt. Vgl. zum soziologischen Konzept des „cultural trauma“ einführend Alexander 2012: 6–19. Luraghi 2010. Vgl. zu dem auf Maurice Halbwachs zurückgehenden Konzept der mémoire collective die Skizze bei Erll 2017: 11–16. Zwar waren die griechischen „epigraphischen Kulturen“ auch im Hellenismus insgesamt von größerer Uneinheitlichkeit, als es bei den lateinischen Inschriften der Kaiserzeit der Fall ist; vgl. Bodel 2001: 13–15 und Scafuro 2013: 401 f. Doch gerade in Hinsicht auf den Umgang mit internen Konflikten scheint es – nicht zuletzt dank der auswärtigen Richter – zu einem intensiven Austausch von Strategien, Praktiken und Formulierungen gekommen zu sein.

3.5 Ergebnisse: Prävention, Bewältigung und Akteure

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darin äußerte, dass die Gerichte einer Polis als ungeeignet wahrgenommen wurden, um bestimmte Streitigkeiten zu entscheiden oder beizulegen.622 Die Dekrete belegen mithin in der Regel keine offenen Staseis, die bereits zu bürgerkriegsartiger Gewalt eskaliert waren, wohl aber schwelende Konflikte und Spannungen innerhalb der Bürgerschaft, die als so bedrohlich wahrgenommen wurden, dass man eingriff und die Parteien durch die Heranziehung neutraler Dritter aus anderen Städten zu versöhnen versuchte, oft unter Mitwirkung von Monarchen oder koina. Die nicht seltenen Verweise auf Vertragsstreitigkeiten deuten dabei darauf hin, dass ökonomische Faktoren in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen konnten, doch genügt das Material andererseits nicht, um diesem Aspekt entscheidende Bedeutung zuzusprechen. Unübersehbar ist allerdings, dass die Reintegration von Verbannten und die Befriedung einer Gemeinschaft durch vorangegangene Enteignungen stark erschwert wurden. Wenn die Rückkehr der Exilierten nicht mit der Verbannung ihrer Gegner einherging, mussten daher wohl erhebliche Mittel aufgewendet werden – dort, wo eine solche Restitution tatsächlich versucht wurde, scheinen oft Könige finanziell interveniert zu haben. In einem Ort wie Eresos hingegen wehrte man sich jahrelang gegen die Rückkehr der φυγάδες, die die Polis vor eine Zerreißprobe gestellt hätte: Der Frieden in der Stadt war auch dreißig Jahre nach den Auseinandersetzungen nach wie vor gefährdet, und härteste Strafen wurden jenen angedroht, die es wagen sollten, das Thema einer Restitution der verbannten „Tyrannen“ auch nur anzusprechen.623 Insgesamt belegt die Auswertung der epigraphischen Zeugnisse den engen Zusammenhang zwischen Staseis und äußeren Faktoren, den bereits die literarische Tradition nahegelegt hat. Die inneren Konflikte boten den Königen offensichtlich die Möglichkeit, sich als Wohltäter in Szene zu setzen, die eine gewaltsame Eskalation zu verhindern halfen oder durch die Bereitstellung von Geldern die ökonomischen Voraussetzungen für eine Reintegration schufen. Handelte es sich um Poleis, bei denen die Kontrolle durch die jeweiligen Monarchen mehr oder weniger ungefährdet war, dürfte in der Regel ein entsprechender Druck ausgeübt worden sein; aber viele der Städte, die auf den vorangegangenen Seiten behandelt wurden, befanden sich im Spannungsfeld zwischen den Großmächten, so dass die Maßnahmen der Könige zweifellos auch dem Zweck dienten, sich der Loyalität der lokalen Eliten zu versichern, um die Kontrolle über die jeweilige Gemeinde nicht zu gefährden. Grundsätzlich galt: Herrschte Stasis in einer Polis, die zum eigenen Herrschaftsbereich gehörte, so war dies gefährlich, weil diese Spaltung ein Einfallstor für rivalisierende Mächte schuf, die eine unzufriedene Parteiung in der Stadt unterstützen konnten, um nach einem erfolgreichen Umsturz oder durch Verrat die Kontrolle über die Stadt zu erlangen; die literarischen Quellen berichten nicht selten von diesem Fall. Auch dies dürfte erklären, wieso die Könige gerade im 3. Jahrhundert so eine prominente Rolle bei der Entsendung von μετάπεμποι δικασταί gespielt zu haben scheinen,624 und auch, wieso die Einrichtung zu dieser Zeit lediglich 622 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.1.1. 623 IG XII,2,526a, Z. 20–26. 624 Vgl. Kapitel 3.1.1.

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3. Die lokale Überlieferung

für Westkleinasien und die Inseln bezeugt ist – es handelte sich wohl nicht zufällig um eben jene Gebiete, in denen Antigoniden, Seleukiden und Ptolemaier damals um Einfluss auf die dortigen Poleis rangen. Deutlich geworden ist überdies, dass es sich bei den städtischen Akteuren, soweit sie in den Inschriften sichtbar werden, in der Regel um Mitglieder prominenter, wohlhabender Familien gehandelt zu haben scheint.625 Schon allein die evidenten Probleme, die mit einer Restitution oder Entschädigung verbunden waren, wenn zuvor Exilierte in eine Gemeinde zurückkehrten, bezeugen, dass zumindest ein wichtiger Teil der Beteiligten über ein erhebliches Vermögen verfügt haben muss – hätten sie nicht zur wohlhabenden Elite gehört, wäre die Rückerstattung ihres Besitzes kaum mit derartigen, oft schier unüberwindlichen Hindernissen verbunden gewesen. Auch jene, die nach dem Machtwechsel in Alipheira eine Schuldentilgung durchsetzten,626 gehörten zur besitzenden Schicht, da sie sonst zuvor nicht als Bürgen für die Polis hätten fungieren können. Und schließlich deutet, wie erwähnt, auch der Umstand, dass die μετάπεμποι δικασταί in aller Regel Angehörige der sozialen Elite waren, darauf hin, dass man Fehden zwischen Aristokraten als eine massive Gefahr für den inneren Frieden der Polis wahrnahm und hoffte, diese einhegen zu können, indem man Standesgenossen der Streitenden als Schlichter anrief. Damit ist die Beteiligung anderer Bevölkerungsschichten an den Konflikten selbstverständlich nicht ausgeschlossen, zumal sich der soziale Hintergrund der in den Texten genannten Personen nicht immer bestimmen lässt. Auffällig ist aber, dass eine Inschrift wie das Versöhnungsdekret aus Dikaia die verfeindeten Parteiungen ebenso über ihre Anführer definiert,627 wie es über drei Jahrhunderte später auch der Brief des Augustus an die Polis Knidos tut,628 eine, wie bereits ausgeführt wurde, auch in den literarischen Quellen verbreitete Praxis. Überhaupt ist eines der wichtigsten Ergebnisse der vergangenen Kapitel zweifellos die Beobachtung, dass der Stasisdiskurs, der sich in der an ein panhellenisches Publikum gerichteten literarischen Tradition greifen lässt, durchaus nicht entkoppelt war von der Art und Weise, wie die unmittelbar betroffenen Akteure vor Ort ihre Konflikte konzeptualisierten. So belegt der Bürgereid von Itanos, dass Schlagworte wie Schuldenerlass (χρεῶν ἀποκοπή)629 und Bodenreform (γῆς ἀναδασμός) tatsächlich ihren Platz im öffentlichen Diskurs dieser Polis hatten.630 Am augenfälligsten aber ist die Verzahnung mit 625 Damit soll ausdrücklich nicht gesagt sein, dass es sich bei den Auseinandersetzungen ausschließlich um ein Elitenphänomen gehandelt hat. Die Quellen lassen eine solche Aussage nicht zu; und etwa im Zusammenhang mit den μετάπεμποι δικασταί spricht nichts gegen die Annahme, der Demos habe hierbei mitunter eine aktive Rolle gespielt. Überdies ist zu vermuten, dass sich die prodemokratische Rhetorik an breitere Teile der Bürgerschaft richtete, deren Meinung nicht als irrelevant galt. Auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein; vgl. Kapitel 4.2. 626 Vgl. hierzu auch Kapitel 3.2.3. 627 SEG 57,576, Z. 36–38. 628 IK Knidos 34 (vgl. Syll.3 780). 629 Bereits Tarn 1924: 109–113 machte darauf aufmerksam, dass auch der Darlehensvertrag zwischen Praxikles und der Polis Arkesine (Syll.3 955) vor allem die Sorge des Gläubigers, in der Stadt könne es zu einer Stasis und einer χρεῶν ἀποκοπή kommen, dokumentiert. 630 οὐ[δὲ γᾶς] ἀναδασμὸν οὐδὲ οἰκιᾶν [οὐδὲ] ο¢ἰκοπέδων, οὐδὲ χρεῶν ἀ[ποκ]ο¢π¢ὰν ποιησέω; I.Cret. III iv 8, Z. 21–24.

3.5 Ergebnisse: Prävention, Bewältigung und Akteure

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der literarischen Tradition sicherlich in Hinblick auf die Etikettierung der verfeindeten Parteiungen. Dabei sticht ins Auge, dass der Vorwurf, bei der Gegenseite handle es sich um Oligarchen, sowohl in literarischen als auch in epigraphischen Quellen vor allem im frühen Hellenismus verbreitet ist. Das entscheidende Argument für die Annahme, dass man es in diesem Zusammenhang wohl oft weniger mit Tatsachenbeschreibungen als mit Polemik zu tun hat,631 ist dabei, wie gesagt, das vollständige Fehlen von Aussagen, in denen sich jemand selbst als Oligarch bezeichnet: Vielmehr beanspruchte offenbar jeder, für die Demokratie zu kämpfen, denn bereits im Verlauf des 4. Jahrhunderts war es zu einer Verwischung der Unterscheidung zwischen Oligarchie und Tyrannis gekommen, die schließlich zu dem auch in den hier behandelten Inschriften greifbaren Ergebnis führte, dass beides als gleichermaßen illegitim galt – und mithin als todeswürdig.632 Den Höhepunkt dieser Entwicklung scheint das „Tyrannengesetz“ von Ilion zu markieren,633 aber bereits das „Tyrannendossier“ von Eresos bezeichnet ganze Personengruppen schlicht als τυράννους und nährt damit den Verdacht, dass auch die literarischen Quellen über diese Zeit dieser Praxis häufig folgen.634 Im Verlauf des 3. Jahrhunderts scheint der Oligarchievorwurf dann aber an Durchschlagskraft verloren zu haben und im Tyrannisvorwurf aufgegangen zu sein,635 und bemerkenswerterweise sind für den späteren Hellenismus auch keine Tyrannengesetze mehr überliefert.636 Insgesamt werden die epigraphischen Hinweise auf Staseis ab dem 2. Jahrhundert sehr viel seltener. Sowohl solche Inschriften, mit denen eine Seite ihre Sicht der Dinge dokumentiert und offenbar als die buchstäblich offizielle Lesart des Konfliktes zu etablieren sucht, als auch solche, die im Zusammenhang von Reintegrationsversuchen 631 Damit ist ausdrücklich nicht gesagt, dass der Vorwurf kein fundamentum in re haben konnte. 632 Vgl. zum Vergleich zwischen „Tyrannenmord“ und Terrorismus auch George 1988, dessen Argumentation allerdings ungeachtet einiger guter Beobachtungen letztlich ins Leere läuft, da er nicht von den normativen Diskursen zu abstrahieren vermag. 633 I.Ilion 25 (vgl. OGIS 218; IMT Skam/NebTäler 128). 634 IG XII,2,526 (vgl. OGIS 8). 635 Vgl. zum Tyrannisvorwurf nun Dreher 2017: „Dennoch muss man sowohl antiken als auch modernen Autoren ein erstaunlich zuverlässiges Gefühl für die Einordnung einer Herrschaft als Tyrannis attestieren. Denn darüber bestehen, trotz der Differenzen in der Begrifflichkeit, schon in der Antike selten Meinungsverschiedenheiten […]; nur bei wenigen Monarchen gehen die Meinungen darüber auseinander, ob sie als Tyrannen gelten oder nicht“ (186). Drehers Bemerkung ist vollkommen zutreffend. Allerdings sind meines Erachtens zwei Einschränkungen zu machen: Zum einen ist die Quellenlage in den meisten Fällen so dürftig, dass es schlicht unmöglich ist, etwaige „Meinungsverschiedenheiten“ zu greifen; umgekehrt ist sehr gut denkbar, dass viele herausragende Politiker als Tyrannen bezeichnet wurden, ohne dass die entsprechenden Zeugnisse auf uns gekommen sind. Und zum anderen ist zumindest für den Hellenismus bereits die Frage, ob es sich bei bestimmten Personen tatsächlich um Alleinherrscher gehandelt hat, vielfach – wie bereits erwähnt – unmöglich zu beantworten: Oftmals wird man es mit Polemik gegen στασίαρχοι zu tun haben. Dreher geht es in seinem Beitrag vor allem darum, das Verhältnis und die Unterschiede zwischen Tyrannis und Königtum zu diskutieren; die Frage, wie man eine tatsächliche Monokratie von einer bloß behaupteten unterscheiden kann, spielt für ihn hingegen keine Rolle, wenngleich er durchaus einräumt, dass „die Abgrenzung zwischen der Tyrannis und anderen monarchischen und sogar nichtmonarchischen Regierungsformen nicht immer trennscharf möglich“ sei (169). 636 Auch die Zahl der in den literarischen Quellen als Tyrannen bezeichneten Personen ist für den frühen Hellenismus am größten, im 2. Jahrhundert nimmt sie signifikant ab: Vielleicht schienen damals andere Vorwürfe – insbesondere der, ein ‚Romfreund‘ bzw. ‚Romfeind‘ zu sein – wirksamer zu sein? Für das 1. Jahrhundert jedenfalls sind tatsächliche oder angebliche Tyrannen dann wieder häufiger bezeugt.

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3. Die lokale Überlieferung

entstanden und dabei in aller Regel den Grundsatz μὴ μνησικακεῖν befolgen, sind für den späten Hellenismus kaum noch überliefert.637 Über die Ursachen lässt sich bis auf weiteres nur spekulieren, denn dass es im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert durchaus nach wie vor zu Staseis kam, ist ja durch die literarischen Quellen gut bezeugt. Hatte sich schlicht der Epigraphic Habit geändert? Gab es weniger Versöhnungs- oder Rechtfertigungsversuche, die man hätte in Stein meißeln können, weil Könige und koina marginalisiert worden waren und daher nicht mehr eingriffen? Oder spielte am Ende vielleicht der Demos als Adressat und Veranlasser der entsprechenden Inschriften eine weniger wichtige Rolle als zuvor?

637 Eine Ausnahme stellt zum Beispiel ein Volksbeschluss aus Sagalassos dar, in dem irgendwann im 1. Jahrhundert v. Chr. einem Auswärtigen, Manesas aus Termessos, für seine Hilfe bei der Wiederherstellung von Frieden und Eintracht gedankt wird; TAM III,1,7, Z. 9–16. Weitere späte Versöhnungsversuche sind durch Ehrendekrete aus Kos (SEG 48,1112) oder Mylasa (I. Mylasa 101, Z. 42–46) bezeugt.

La guerre civile est moins détestable que la guerre avec l’étranger. On sait du moins pourquoi l’on s’y bat. Anatole France

4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte Die Polis überdauerte die hellenistische Zeit um Jahrhunderte, wenngleich sich Rolle und Wesen der griechischen Städte,1 mochten sie nun formal civitates liberae sein oder ganz offen der Kontrolle der Römer unterstehen, in der Kaiserzeit erheblich wandeln sollten – oder vielmehr: obwohl sich nun eine Entwicklung fortsetzte, die bereits vor Augustus begonnen hatte. Der Hellenismus stellte für die Poleis mithin nicht etwa das Ende, sondern lediglich eine Transformationsphase dar,2 deren Ergebnis vor allem durch die Herrschaft faktischer Erbaristokratien, die nun die Räte kontrollierten, über die Mehrheit der Städte gekennzeichnet ist.3 Zumindest auf der Oberfläche verhielt es sich hingegen mit dem Phänomen der Stasis, die seit der Archaik schier untrennbar mit der Polis verbunden gewesen zu sein schien, anders, denn im Prinzipat wurde Bürgerzwist in Hellas offenbar von der Regel zur Ausnahme. Da die Quellenlage für die ersten drei Jahrhunderte nach der Zeitenwende nicht wesentlich schlechter ist als für die drei vorangehenden, wird man diese Beobachtung nicht auf einen Überlieferungszufall zurückführen wollen. Insbesondere Plutarch und Dion Chrysostomos bezeugen zwar, dass vor allem die Furcht vor Stasis zu ihrer Zeit nicht verschwunden war; doch hat es den Anschein, als habe man nun insbesondere die römische Reaktion gefürchtet, denn die Hellenen hatten lernen müssen, dass die Kaiser eine Störung des Friedens nicht hinzunehmen bereit waren und seditiones konsequent zu unterdrücken und zu bestrafen pflegten.4 Dass diese beiden Befunde – die faktische 1

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Stets zu bedenken ist dabei der grundsätzliche, aber vielleicht etwas zu pessimistische Hinweis von Müller 1995: 43, dass „es weder so etwas wie die hellenistische Stadt schlechthin gibt noch davon ausgegangen werden kann, daß ‚Hellenismus‘ im Bereich der städtischen Institutionen überhaupt eine abgrenzbare historische Epoche ausmacht“, weshalb man lediglich „den Schemen eines Idealtypus“ entwerfen könne. Vgl. zur Transformation und „Revitalisierung“ der Polis im Hellenismus auch Davies 1984: 304–315. Vgl. zu den griechischen städtischen Eliten in der Kaiserzeit Sartre 2001: 364 f. und Schuler 2015. Erinnert sei hier insbesondere an das Agieren des ersten princeps gegenüber Knidos oder Sparta; vgl. Kapitel 2.4.5 und 3.2.7.

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

Etablierung eines ordo decurionum5 in den meisten Poleis und das nicht vollständige, aber doch weitgehende Verschwinden zumindest sichtbar eskalierender Staseis – zusammenhängen, ist bislang zumeist übersehen worden. Auf den folgenden Seiten soll diese Beziehung daher näher bestimmt werden, um die Bedeutung, die die charakteristische Neigung zum Bürgerzwist für den Verlauf der griechischen Geschichte besaß, zusammenfassend zu erläutern. 4.1 Verbreitung und Ursachen Zu diesem Zweck ist es notwendig, zunächst die Verbreitung, vor allem aber die wahrscheinlichsten Ursachen der Stasis im Hellenismus zu diskutieren. Erstere sollte dabei nach dem bisher Gesagten bereits deutlich geworden sein, weshalb das Offensichtliche lediglich noch einmal zusammengefasst sei: Das Phänomen betraf die gesamte Poliswelt vom Tyrrhenischen Meer bis zur Krim und von Thessalien und Epeiros bis nach Nordafrika. Aufgrund der Zufälligkeit und Lückenhaftigkeit der Überlieferung sowie angesichts des Umstandes, dass die Quellen nicht selten lediglich pauschal berichten, es sei in vielen Poleis einer bestimmten Region zu Staseis und Aufruhr gekommen, ohne nähere Angaben zu machen,6 darf zudem von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Nicht zuletzt weist auch die große Zahl an Ehrendekreten für auswärtige Richter darauf hin, dass interne Konflikte, deren Beilegung die Poleis offenbar oft überforderte, ein weitverbreitetes, fast omnipräsentes Problem waren. Wenn Männer wie Alexander, Hannibal, Philipp V. oder Augustus mit griechischen Poleis kommunizierten, scheinen sie diese Neigung zur Stasis daher geradezu vorausgesetzt zu haben.7 Und Autoren wie Aeneias Taktikos8 oder Polybios9 gingen wie selbstverständlich davon aus, dass sich zum Beispiel in einer belagerten Stadt regelmäßig Verräter finden würden, wobei Aeneias in diesem Zusammenhang übrigens dazu riet, ein Schuldenmoratorium in Erwägung zu ziehen, um die Risiken zu verringern.10 Zeitlich lassen sich die meisten anhand von literarischen oder epigraphischen Zeugnissen konkret greifbaren Fälle dabei auf die Zeit zwischen dem Alexanderzug und dem Dritten Makedonischen Krieg datieren; doch kam es insbesondere während des Ersten Mithridateskrieges und während der römischen bella civilia nochmals zu einer auffäl5

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Vgl. allerdings Heller 2009, die dieses römische Konzept für nicht auf Hellas anwendbar hält. Anders Müller 1995, der von einem „einem römischen ordo decurionum angeglichene[n] τάγμα mit lebenslanger Mitgliedschaft“ spricht und auf die pompeianische lex provinciae für Bithynia et Pontus verweist: „In dieser Doppelprovinz ist durch römische Satzung die Bule zum ordo geworden“ (52). Vgl. etwa Pol. 38,12,1; Diod. 18,68,4 (κατὰ τὰς πόλεις φόνων γινομένων); App. Mithr. 61. In diesem Zusammenhang ist besonders Hannibals Verhalten im Falle von Salapia bemerkenswert, als er sich geweigert haben soll, den Vorwürfen gegen Blatios Glauben zu schenken, da er hinter ihnen lediglich eine persönliche Fehde zwischen zwei führenden Männern der Polis vermutete; Liv. 26,38,10; App. Hann. 45. Aen. Takt. 5,1; 10,20; 11,1 f.; vgl. Lehmann 1980, Urban 1986, Winterling 1991 und Pretzler 2018. Vgl. z. B. Pol. 10,43,8. Vgl. Winterling 1991: 219–222. Vgl. auch Chaniotis 2013b.

4.1 Verbreitung und Ursachen

275

ligen Häufung von überlieferten Staseis,11 bevor mit der Errichtung des augusteischen Prinzipats eine zwar keineswegs vollständige, aber doch sehr weitreichende Beruhigung eintrat.12 Da sich bereits im späten Hellenismus in Inschriften kaum noch Hinweise auf Staseis finden, obwohl die literarischen Zeugnisse zwar einen gewissen Rückgang, aber keinesfalls ein Verschwinden des Phänomens nahelegen, ist zu vermuten, dass es andere Gründe für das weitgehende Versiegen der epigraphischen Quellen zu diesem Bereich gibt. Über diese lassen sich bis auf weiteres allerdings nur Mutmaßungen anstellen – darunter, wie gesagt, die, dass insbesondere die mit Abstand größte hier relevante Gruppe, die Ehrendekrete für auswärtige Richter, möglicherweise so eng mit königlichen Interventionen verknüpft war, dass der Einbruch an überlieferten Beispielen, der nach der Mitte des 2. Jahrhunderts zu beobachten ist,13 weniger auf ein Verschwinden interner Streitigkeiten verweist als vielmehr auf den Bedeutungsverlust der hellenistischen koina und Monarchen.14 Insgesamt dürfte dieser Befund, demzufolge Spaltungen und Konflikte in den Städten, die häufig zu Versuchen führten, die Gegner auf die eine oder andere Weise aus der Polis zu entfernen, und teils sogar zu Massakern und regelrechten Bürgerkriegen eskalierten, die gesamte griechische Welt im Hellenismus nicht weniger plagten als in den Jahrhunderten zuvor, angesichts des bislang Dargelegten kaum zu bezweifeln sein. Staseis stellten auch zwischen Alexander und Augustus eine sehr reale Bedrohung für die Poleis dar und waren entsprechend gefürchtet; dass die Relevanz des Problems in der Forschung bislang dennoch vielfach unterschätzt wurde, hat vor allem wissenschaftsgeschichtliche Ursachen.15 Entwirft man hingegen, wie es hier versucht wurde, ein Gesamtpanorama, so liegt die enorme Reichweite der Erscheinung auf der Hand – zumal dann, wenn man sich vor Augen führt, wie überaus lückenhaft die Überlieferung ist. Sehr viel komplizierter verhält es sich hingegen mit der Frage nach den Ursachen dieser Staseis und danach, ob sich diese im Hellenismus von jenen der vorangegangenen Epoche unterschieden und ob es sich bei ihnen um eine spezifisch griechische Variante von Bürgerzwist handelte, die sich zumindest teilweise mit der politischen Kultur der Hellenen in Verbindung bringen lässt. Insbesondere die literarischen Quellen können sich in dieser Hinsicht als irreführend erweisen, da die Erklärungen, die sie bieten, oftmals den Verdacht erwecken, allzu 11 12

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Vgl. hierzu auch Börm 2016b. Ob in Hellas zwischen dem bellum Achaicum und dem Mithridateskrieg tatsächlich weitgehende Ruhe herrschte, lässt sich bedauerlicherweise kaum entscheiden: Fehlen die entsprechenden Quellen, weil es nichts zu berichten gab, oder wird nichts berichtet, weil die entsprechenden Quellen verloren gegangen sind? Vgl. Robert 1973: 776. Vgl. zu den Limitierungen der späthellenistischen Monarchien im Schatten Roms Gotter 2013. Eine hervorragende Zusammenfassung der Diskussion zum hellenistischen Königtum bietet nun Wiemer 2017. Indem man lange Zeit allgemein annahm, der Hellenismus markiere für die Poleis eine Niedergangsepoche, richteten insbesondere Studien, die die politische Geschichte zum Gegenstand hatten, ihr Augenmerk überwiegend auf die Diadochenreiche oder die Beziehungen zwischen Stadt und König. Der spätestens in den 1980er Jahren eingeleitete Paradigmenwechsel hin zum „vitalist paradigm“ ( John Ma) hat bislang nicht dazu geführt, dass auch die hellenistischen Staseis, zu denen durchaus Einzelstudien vorgelegt wurden, systematische Berücksichtigung erfuhren.

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

sehr von Topik und Tendenz geprägt zu sein. Einerseits sollte man die Aussagen der antiken Autoren daher zwar nicht einfach beiseitewischen, da man sonst Gefahr läuft, ein von der Evidenz entkoppeltes Modell zu vertreten. Dabei ist zu bedenken, dass die Quellenanalyse durch die offensichtliche Unschärfe des Wortes στάσις ganz erheblich erschwert wird – da der Ausdruck nicht exklusiv Bürgerzwist bezeichnet,16 ist damit zu rechnen, dass auch Ereignisse wie Hungerrevolten στάσεις genannt werden, die nicht zu den von der althistorischen Forschung zumeist als „Stasis“ klassifizierten Phänomenen gehören. Diese Beobachtung darf allerdings nicht dazu führen, den ökonomischen Aspekt von Staseis zu negieren, indem man einfach alle Unruhen, für die wirtschaftliche Hintergründe bezeugt sind, nicht zu dem zählt, was man als „Stasis“ definiert – dies wäre ein offensichtlicher Zirkelschluss.17 Andererseits aber ergibt die Analyse der Quellen nicht selten einen auffälligen Widerspruch zwischen den oft stereotypen Deutungen, die die Autoren vorgeben, und ihren konkreten Schilderungen der Vorgänge. So behauptet etwa Plutarch zunächst, die spartanischen Wirren unter Agis IV. seien wesentlich als Auseinandersetzung zwischen Jungen und Alten18 sowie zwischen Armen (ὄχλος ἄπορος) und Reichen zu verstehen,19 nur um dann als tatsächliche Protagonisten beider Seiten ausnahmslos herausragende Aristokraten einzuführen.20 Und Livius benennt pauschal Konflikte zwischen ‚romfreundlicher‘ Oberschicht (optimates bzw. senatus) und ‚karthagofreundlicher‘ Unterschicht (plebs) als Hintergrund der Ereignisse bei den Westgriechen während des Hannibalkrieges,21 erzählt dann aber die konkreten Geschehnisse in Syrakus,22 Tarent23 oder Salapia24 unbeirrt als Auseinandersetzung zwischen Aristokraten (principes). Diese Auflistung ließe sich leicht fortsetzen.25 Dieser offensichtliche Widerspruch sorgt bis heute für eine nicht unerhebliche Verwirrung. Zweifellos wird es sozial und ökonomisch bedingte Konflikte in den Städten gegeben haben, und mitunter werden auch Motive wie Romfeindschaft oder 16 17

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Pol. 1,66,10; Strab. 6,4,2. Vgl. zu diesem Problem auch Finley 1986: 139. Ganz entkommen kann man diesem methodischen Dilemma aber wohl nicht. Zu erwägen wäre der Versuch, verschiedene Idealtypen von Stasis – also etwa „agonale“ und „ökonomische“ Staseis – zu unterscheiden; der heuristische Mehrwert erscheint angesichts der problematischen Quellenlage allerdings begrenzt. Plut. Agis 6,1. ὁ δ᾽ ἄλλος ὄχλος ἄπορος καὶ ἄτιμος ἐν τῇ πόλει παρεκάθητο, τοὺς μὲν ἔξωθεν πολέμους ἀργῶς καὶ ἀπροθύμως ἀμυνόμενος, ἀεὶ δέ τινα καιρὸν ἐπιτηρῶν μεταβολῆς καὶ μεταστάσεως τῶν παρόντων; Plut. Agis 5,4. ἦν δὲ Λύσανδρος μὲν ἐν δόξῃ μάλιστα τῶν πολιτῶν, Μανδροκλείδας δὲ δεινότατος Ἑλλήνων πράγματα συσκευάσασθαι καὶ τὸ συνετὸν τοῦτο καὶ δολερὸν τόλμῃ μεμιγμένον ἔχων Ἀγησίλαον δὲ θεῖον ὄντα τοῦ βασιλέως καὶ δυνατὸν εἰπεῖν, ἄλλως δὲ μαλακὸν καὶ φιλοχρήματον, ἐμφανῶς μὲν ὁ υἱὸς Ἱππομέδων ἐκίνει καὶ παρεθάρρυνεν, εὐδόκιμος ἐν πολλοῖς πολέμοις ἀνὴρ καὶ μέγα δι᾽ εὔνοιαν τῶν νέων δυνάμενος; Plut. Agis 6,2 f. Vgl. auch Kapitel 2.2.8. Unus velut morbus invaserat omnes Italiae civitates ut plebes ab optimatibus dissentirent, senatus Romanis faveret, plebs ad Poenos rem traheret; Liv. 24,2,8. Liv. 24,22–32. Liv. 25,8,1–3. Salapiae principes erant Dasius et Blattius; Liv. 26,38,6. Ein weiteres Beispiel wäre etwa Appians Bericht über die Stasis in Rhodos 42 v. Chr.; App. civ. 4,65–74. Beachtung verdienen die Bemerkungen bei Grieb 2013, der argumentiert, ein durchgängiger politischer Dualismus von „Elite“ und „Volk“ lasse sich noch bei Polybios abseits programmatischer Aussagen nicht beobachten und sei mithin eine Erscheinung erst des ausgehenden Hellenismus.

4.1 Verbreitung und Ursachen

277

ein Streben nach demokratischer Teilhabe tatsächlich eine entscheidende Rolle gespielt haben. Doch ökonomische und außenpolitische Faktoren können den Befund in seiner ganzen Komplexität meines Erachtens nicht befriedigend erklären. Die epigraphischen Quellen wiederum helfen an diesem Punkt nur begrenzt weiter, da sie entweder im Zuge eines Versöhnungs- und Befriedungsversuchs die konkreten Ursachen und Abläufe der Konflikte bewusst verschweigen und vernebeln, um den fragilen Frieden nicht durch Schuldzuweisungen zu belasten,26 oder aber eine offenkundig einseitige, polemische und rhetorisch gefärbte Rechtfertigung der jeweiligen Sieger präsentieren, durch die oft mehr verunklart als erhellt wird: Die Inschriften sind auf die Zukunft gerichtet und zielen auf jeweils unterschiedliche Weise darauf, eine Stabilisierung der aktuellen Verhältnisse zu erreichen; eine objektive Dokumentation zurückliegender Ereignisse ist von diesen Quellen daher nicht zu erwarten, da die Vergangenheit entweder instrumentalisiert oder verschwiegen wird. In kaum einem Punkt wird dies so deutlich wie im Zusammenhang mit jenen Inschriften, die beanspruchen, im Namen der Demokratie errichtet und gegen Oligarchen und Tyrannen gerichtet zu sein.27 Denn die auf den vorangehenden Seiten entfaltete Analyse dieser Texte sollte deutlich gemacht haben, dass man diese Diskurse keinesfalls mit den Realitäten verwechseln darf – gerade bei einem derart problematischen Gegenstand wie einer Stasis, bei der Legitimationsstrategien von zentraler Bedeutung für alle Beteiligten sein mussten.28 Bedauerlicherweise fehlt es für den Hellenismus an einem so ausdrücklichen Korrektiv wie dem thukydideischen Bericht über den Mord an Hipparchos, der zwar seinerseits nicht ohne Hintergedanken verfasst sein mag, aber immerhin dokumentiert, dass es um das Jahr 400 plausibel erschien, ein Gegennarrativ zu entwerfen, in dem verletztes aristokratisches Ehrgefühl und persönliche Rachegelüste als der eigentliche Hintergrund einer ostentativ politischen Tat identifiziert werden.29 Allerdings ergibt die synoptische Analyse der Quellen zumindest das Ergebnis, dass die Gruppen, die die Nuklei der verfeindeten Parteiungen bildeten, jedenfalls im Hellenismus in der Regel nur aus wenigen, oftmals wohl miteinander verschworenen Personen bestanden zu haben scheinen, die immer dann, wenn eine entsprechende Zuordnung möglich ist, wahrscheinlich oder sogar mit Sicherheit der Oberschicht angehörten.30 Ein Autor wie Livius spricht, wie gesagt, regelmäßig von principes. Und auch ein Beilegungsversuch wie jener, 26 27 28 29

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Dies lässt sich sowohl für die Ehrendekrete für auswärtige Richter als auch für andere Schlichtungsversuche, wie in Nakone oder Dikaia, konstatieren. Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 3.4. Vgl. zur Legitimierung interner Gewalt die primär auf moderne Bürgerkriege bezogenen, aber dennoch grundlegenden Ausführungen bei Veit – Schlichte 2011. καὶ ἐν τούτῳ ὁ Ἵππαρχος ὡς αὖθις πειράσας οὐδὲν μᾶλλον ἔπειθε τὸν Ἁρμόδιον, βίαιον μὲν οὐδὲν ἐβούλετο δρᾶν, ἐν τρόπῳ δέ τινι ἀφανεῖ ὡς οὐ διὰ τοῦτο δὴ παρεσκευάζετο προπηλακιῶν αὐτόν […]. τοιούτῳ μὲν τρόπῳ δι᾽ ἐρωτικὴν λύπην ἥ τε ἀρχὴ τῆς ἐπιβουλῆς καὶ ἡ ἀλόγιστος τόλμα ἐκ τοῦ παραχρῆμα περιδεοῦς Ἁρμοδίῳ καὶ Ἀριστογείτονι ἐγένετο; Thuk. 6,54,4 und 6,59,1. Damit ergeben sich für den Hellenismus ähnliche Bedingungen, wie sie Gehrke 1985: 328–335 für die klassische Zeit annimmt: Ausdrücklich bezeugt ist etwa im Kontext einer um das Jahr 400 herrschenden Stasis im boiotischen Theben, dass die Angehörigen beider Gruppen der Oberschicht (οἱ βέλτιστοι καὶ γνωριμώτατοι) entstammt hätten; Hell. Oxy. 20,1.

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

den Aratos in Sikyon unternahm,31 illustriert eindrucksvoll, dass es sich bei den Beteiligten um die locupletissimi der Polis handelte,32 was die Reintegration der Verbannten erheblich erschwerte.33 Im Unterschied zu den vorangegangenen Epochen steht dabei für den Hellenismus eine umfangreiche epigraphische Evidenz für Poleis außerhalb Attikas zur Verfügung, die ebenfalls in diese Richtung weist.34 Denn während die Quellen auch hier, wie man gesehen hat, nur recht selten zuverlässige Aussagen über Anlässe und Verlauf der Konflikte gestatten, verhält es sich in Hinblick auf die Protagonisten der Vorgänge etwas anders: Der Umstand, dass es sich bei den μετάπεμποι δικασταί kaum zufällig in aller Regel um Aristokraten handelte, wurde bereits erwähnt. An Orten wie Dikaia,35 Telos,36 Eresos37 oder Knidos38 werden zudem die verfeindeten Gruppen durch die Nennung der jeweiligen στασίαρχοι gekennzeichnet, was dokumentiert, wie öffentlich diese Konflikte und ihre Akteure waren; und selbst wenn sich einmal, wie im Fall von Alipheira, eine tatsächlich umgesetzte χρεῶν ἀποκοπή konkret nachvollziehen lässt, handelt es sich, wie erwähnt, bei den Nutznießern, die im vorangehenden Konflikt auf der Siegerseite gestanden hatten, offensichtlich um Mitglieder einer wohlhabenden Elite.39 In dieser scheinen daher viele Staseis ihren Ausgang genommen zu haben, ohne deshalb notwendig auch auf diesen Kreis beschränkt geblieben zu sein. Dies bestätigt mithin den Eindruck, der sich aus der Analyse der literarischen Quellen ergibt. Je stärker eine Polis dabei bereits gespalten war, desto weniger konnte der Demos befriedend eingreifen – wie man es etwa in Dikaia versuchte –, und desto leichter konnte sich aus einer Fehde zwischen Aristokraten eine die ganze Gemeinschaft betreffende Auseinandersetzung entwickeln. Wenn aber demnach Konflikte in den Eliten der hellenistischen Poleis den Zeitgenossen nicht nur im Diskurs, sondern, soweit sich sehen lässt, auch in der politischen Praxis eine derart prominente Rolle bei Staseis spielten, wie ist diese fatale Neigung zur Desintegration, die die Griechen stets fürchteten, aber offensichtlich nur schwer in den Griff bekamen, zu erklären? Lassen sich die ihr zugrunde liegenden Strukturen rekonstruieren? Dass das agonale Denken für die griechische Aristokratie zentrale Bedeutung besaß, darf spätestens seit Jacob Burckhardt geradezu als Allgemeinplatz gelten.40 Dies 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Plut. Arat. 13,4–14,2. Vgl. Walbank 1984: 243 f. und Grabowski 2012: 87 f. Cic. Off. 2,81. Vgl. Kapitel 2.2.5. Dabei können diese Inschriften natürlich nur Auskunft über die Verhältnisse im Hellenismus geben, als den städtischen Eliten offenbar ohnehin eine größere Bedeutung zukam als zuvor; vgl. auch Kapitel 4.2. Um Rückschlüsse auf die Staseis der vorangehenden Epoche kann es hier daher nicht gehen. SEG 57,576. IG XII 4,1,132. IG XII,2,526 (vgl. OGIS 8). IK Knidos 34 (vgl. Syll.3 780). IP Ark 24. Vgl. Kapitel 3.2.3. Vgl. die allerdings sehr pointierten Bemerkungen bei Flaig 2010: 353–358. Miller 2016: 385 weist mit Recht darauf hin, dass Burckhardt selbst allerdings der Ansicht war, im Hellenismus sei der „agonale Mensch“ von stark gesunkener Bedeutung gewesen – eine angesichts der epigraphischen Evidenz heute obsolete Position.

4.1 Verbreitung und Ursachen

279

war eine wesentliche Ursache und Folge des Umstandes, dass es während Archaik und Klassik nicht gelang, in Hellas einen regelrechten Adel als politische Führungsschicht zu etablieren.41 Einerseits war die Aristokratie vergleichsweise offen für die Integration von Aufsteigern, andererseits drohte umgekehrt der rasche soziale Abstieg. Anders als die Nobilität der Mittleren Republik42 vermochten es die griechischen Eliten überdies vielerorts augenscheinlich nicht, allgemein und zuverlässig akzeptierte Kriterien für eine Abgrenzung und Binnenhierarchisierung der Oberschicht – insbesondere Leistungen im Dienst der Polis – zu entwickeln.43 Stattdessen mussten Rang und Stellung geradezu permanent neu ausgehandelt und der Status nicht zuletzt durch conspicuous consumption44 und Euergetismus45 immer wieder aufs Neue demonstriert und gefestigt werden,46 und vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, wieso man auf Ehrverletzungen und Herabsetzungen so überaus empfindlich reagierte und weshalb Rache eine so zentrale Rolle spielte.47 Rivalität und Konkurrenz sind zwar für die meisten Aristokratien charakteristisch, doch in Hellas war die Standessolidarität auffallend gering, die Gefahr einer blutigen Eskalation hingegen besonders groß.48 Die Wurzeln hierfür lagen tief und waren kein Spezifikum des Hellenismus. Denn wer nicht zweifelsfrei demonstrieren konnte, dass er ein Herr war, der setzte sich in einer Kultur, die weniger in Abstufungen denn in Dichotomien dachte,49 offenbar früh dem Verdacht aus, ein Knecht zu sein.50 Die Vorstellung, dass nicht nur jede menschliche Gesellschaft grundsätzlich unterteilt sei in Herrscher und Beherrschte, sondern dass jene, die Macht besäßen, diese fast notwendig auch rücksichts41

Vgl. zur archaischen Aristokratie zusammenfassend Schmitz 2008, der in diesem Zusammenhang von „verpassten Chancen“ spricht, und Stein-Hölkeskamp 2015: 186–206. 42 Vgl. Beck 2008: „Im kompetitiven Klima der Republik konnte nur bestehen, wer sich mit Erfolg um die öffentlichen Ämter der Magistratur bewarb. Diese sicherten einer Familie ihre Zugehörigkeit zum Adel, und sie bestimmten auch ihren gegenwärtigen Rang“ (110). Vgl. auch Winterling 2017: 419–422. 43 Vgl hierzu Schmitz 2008: „Die griechischen Adligen strebten nach Ruhm und Ehre, doch anders als in Rom ließen sich Ruhm und Ehre nicht nur in Verdiensten für die Stadt gewinnen, sondern auch in davon weitgehend unabhängigen Bereichen […], ja sogar durch Aktionen, die der Polis Schaden zufügten“ (64). 44 Vgl. Veblen 1986. 45 Vgl. Veyne 1988: 162–311. Grundlegend zur Rolle späthellenistischer Aristokraten als Euergeten bleibt Gauthier 1985: 39–75. Vgl. daneben zuletzt Miller 2016: „From the late 4th century, it appears that the Athenians knowingly and intentionally channeled the elite drive to competition, which was potentially dangerous to the democracy, into something more productive: euergetism“ (386). 46 Vgl. zu diesem Phänomen etwa Stein-Hölkeskamp 2015: „Aristokratischer Status war und blieb stets prekär“ (188). Vgl. auch Schmitz 2008: „Dem Bild von einer wirtschaftlich, sozial und politisch überlegenen Schicht ist daher das Brüchige in der ‚Herrschaft‘ der Aristokraten gegenüberzustellen“ (47). Vgl. ferner Leppin 2013: 154. 47 Vgl. Flaig 1998: 97. 48 Gehrke 1985: 4 f. ging im Einklang mit der damaligen communis opinio noch davon aus, dass sich für die archaische Zeit ein „Gegenüber von Adel und Volk“, eine „Ständekampfkonstellation“ konstatieren lasse; vgl. dagegen Hölkeskamp 1989: 152. 49 Dies erklärt natürlich auch, wieso Staseis in aller Regel binär kodiert wurden. 50 Vgl. auch Flaig 2006, der in diesem Zusammenhang auf die Omnipräsenz tatsächlich erfahrbarer Unfreiheit in Hellas verweist: „Die Peitsche wurde in der Klassik zum politischen Symbol, weil jeder Freie wußte, daß sie ihm niemals drohen würde, wohingegen Sklaven ständig mit ihrer Drohung leben mussten […]. Die Diskurse über Gewalt und über die Differenz zwischen Freien und Sklaven waren deswegen so plausibel, weil die soziale Wirklichkeit diesen Diskursen massive Anhaltspunkte bot“ (33).

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

los benutzten, war zumindest in Athen bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. weit verbreitet, wie Ulrich Gotter vor einigen Jahren gezeigt hat,51 und prägte das griechischen Denken noch im Hellenismus.52 Schon bei Pseudo-Xenophon verschwamm so der Unterschied zwischen Herrschaft und Freiheit,53 und spätere Autoren wie Poseidonios griffen diese Vorstellungen auf.54 Wer eine herausragende Position beanspruchte, musste bereit sein, diese Überlegenheit gegebenenfalls auch ostentativ unter Beweis zu stellen,55 was es wiederum für die Schwächeren zugleich fast unmöglich machte, diese unverhüllte Dominanz zu akzeptieren. Folgt man dieser Argumentation, so lag es für erfolgreiche στασίαρχοι in der Tat nahe, in letzter Konsequenz eine Tyrannis zu errichten.56 Die sozialen Normen, die Unterlegene hätten schützen können, waren unterdeterminiert, und im Falle einer Niederlage mangelte es oft an verlässlichen Kompensationsmechanismen – ein Umstand, der die Aushandlung von Kompromissen fraglos erschwerte und zu Furcht und Misstrauen führte. Umso zentraler war es daher, seine Ehre, und damit seine soziale Stellung, zu verteidigen;57 dass darum noch ein kaiserzeitlicher Autor wie Plutarch annahm, eine private Fehde könne leicht eine ganze Stadt ins Unglück stürzen, wurde bereits dargelegt.58 51

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Vgl. Gotter 2008b: 183–199. Die Griechen neigten demnach – ein wenig überspitzt ausgedrückt – dazu, soziale Hierarchien und Machtverhältnisse grundsätzlich als Dichotomien zu konzeptualisieren; wer nicht Herr war, der war tendenziell ein Sklave, und wo es keine vollkommene Freiheit gab, da herrschte Despotie: „Power was understood as the ability to assert supremacy, if necessary through the application of physical violence; and it rested on the basic premise that whoever had access to power would wield it“ (198). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wieso man dazu neigte, jeden Alleinherrscher unter Tyrannisverdacht zu stellen; vgl. Luraghi 2013a: „In Greek culture there is no legitimization of monarchy as such when applied to a Greek polis“ (136). Das bereits erwähnte Denken in Gegensätzen wiederum erklärt, wieso es in der Polis neben der Demokratie eigentlich keine anderen legitimen Herrschaftsformen geben konnte und man Oligarchie spätestens im Hellenismus im Grunde mit Tyrannis gleichsetzte; vgl. Kapitel 3.4. ὁ γὰρ δῆμος βούλεται οὐκ εὐνομουμένης τῆς πόλεως αὐτὸς δουλεύειν, ἀλλ᾽ ἐλεύθερος εἶναι καὶ ἄρχειν, τῆς δὲ κακονομίας αὐτῷ ὀλίγον μέλει; Ps.-Xen. Ath. Pol. 1,8 f. FGrHist 87 F 108c. Vgl. auch Gotter 2008b: „Political philosophers of the fourth century and the Hellenistic period put the ‚polarity of power‘ at the center of their theories […]. If one accepts Aristotle’s premises, it follows that every social relation has to be understood ultimately as an asymmetrical relation of power“ (194). Vgl. Gotter 2008b: „This concept of power entails a strict dichotomy between those who have it and those who do not. Politics therefore revolves around one crucial question: who possesses power? It is the extreme situation of violent conflict that defines the answer: to be able to rule implies the ability to kill“ (186 f.). Eine derartige Tyrannis musste sich dabei keineswegs ‚staatsrechtlich‘ in einer sichtbaren Verfassungsänderung widerspiegeln, wie sie insbesondere durch die Übernahme des Königstitels markiert werden konnte. Genau dies macht es ja so schwierig, hellenistische Tyrannen eindeutig als solche zu identifizieren. Vgl. auch Flaig 1998: „Wenn die Ehre sich keinem anderen Wert unterordnen muß, dann erlangt das normative Gefüge der Gesellschaft keine Stabilität, die ausreicht, die sozialen Beziehungen weitgehend frei von blutigen Konflikten im Innern zu halten“ (111). Vgl. zur Bedeutung von Rache für die griechische Gesellschaft daneben insbesondere Gehrke 1987. Plut. Mor. 824f–825a. Dabei scheint es zwei zentrale Eskalationsstufen gegeben zu haben: Eine erste Grenze war überschritten, sobald physische Gewalt ins Spiel gekommen war; eine zweite rote Linie wurde durch eine Tötung markiert: Sowohl der Versöhnungsversuch der Dikaiopoliten (SEG 57,576) als auch das 350 Jahre jüngere Schreiben des Augustus an Kyrene (SEG 9,8 I) bezeugen, dass es kaum möglich schien, Mord ungesühnt zu lassen.

4.1 Verbreitung und Ursachen

281

Vor diesem Hintergrund war eine latente Tendenz zur Instabilität geradezu ein Strukturmerkmal vieler Poleis.59 Die skizzierte Denkweise stand der konsequenten Wahrnehmung gemeinsamer Interessen der sozioökonomischen Eliten gegenüber der restlichen Bevölkerung vielfach entgegen.60 Und so lässt sich beispielsweise bereits die Geschichte Athens im 6. Jahrhundert als eine jahrzehntelange Auseinandersetzung innerhalb der Aristokratie deuten,61 die letztlich wohl wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung der attischen Demokratie schuf.62 In dieser scheint um die Mitte des 5. Jahrhunderts eine Trennung von sozialem Status und politischer Rolle das angestrebte Ideal gewesen zu sein, dem sich auch Aristokraten wie Perikles zumindest eine Zeitlang unterwarfen.63 Man ist versucht anzunehmen, dass sie dies vielleicht auch deshalb taten, weil auf diese Weise eine relative Befriedung der Elite möglich schien, deren strukturelle Neigung, in verfeindete Gruppen aus untereinander befreundeten Männern zu zerfallen, unter den Bedingungen der Volksherrschaft gewissermaßen eingehegt wurde, da nun der Demos als Schiedsrichter agierte und Ehrenhändel an die Volksgerichte delegiert werden konnten.64 Folgt man dieser Hypothese, so entwickelte sich die attische Demokratie also möglicherweise nicht zuletzt auch deshalb, weil Aristokraten wie Kleisthenes, Themistokles, Ephialtes oder Perikles sie für ein notwendiges Übel hielten.65 59

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Vgl. Gotter 2008b: „Although Greek communities as well as Greek theorists were obsessed with the problem of socio-political stability, they were unable to identify a satisfactory solution. The discourse of power in its hieratic conception presented an insurmountable obstacle“ (197). Dies galt umso mehr, als die Polis eine Anwesenheitsgesellschaft war; vgl. McAuley 2013: „In the polis, governmental rule was neither distant nor invisible, but exercised by friends (or enemies, for that matter) and colleagues, acquaintances, and relatives“ (177). Vgl. hierzu konzise Flaig 2010: „Die griechischen Adligen [übten] unentwegt die Selbstbehauptung und somit nötigenfalls die Durchsetzung im Konflikt; auch blieb innerhalb eines solch harten Konkurrenz-Ethos wenig Platz für die Ausbildung einer Ethik der Solidarität – darauf hat die Forschung zu Recht insistiert“ (356). Grundlegend hierzu ist Stein-Hölkeskamp 1989: 139–230. Die Rekonstruktion der Geschichte Athens in dieser Zeit ist aufgrund der Quellenlage allerdings notorisch problematisch, auch wenn man wohl nicht so weit gehen muss wie Ehrhardt 1992 – ein lesenswerter Beitrag, der aber eine Neigung zur Hyperkritik aufweist. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle auf die kontroverse Diskussion über das solonische Stasisgesetz (Ath. Pol. 8,5) einzugehen; vgl. van’t Wout 2010 und Schmitz 2011. Den bedeutenden Einfluss der athenischen Aristokraten nach Kleisthenes betont etwa der noch immer grundlegende Beitrag Martin 1974, der allerdings meines Erachtens ihre Unfähigkeit zu kollektivem Handeln unterschätzt. Vgl. Mann 2007: 97–190. Hierbei ist nicht so sehr an den Ostrakismos (Ath. Pol. 22) gedacht, der mutmaßlich vor allem der Entschärfung potentieller Konflikte dienen sollte, indem derjenige, der vom Demos als möglicher Störfaktor angesehen wurde, für eine Weile und unter ausdrücklicher Wahrung seiner Ehre aus dem Verkehr gezogen wurde. Der Medismos-Vorwurf (vgl. Graf 1984) hingegen war offenbar – wie προδοσία insgesamt – zumindest potentiell ein Stasisinstrument. Vgl. Wallace 2013: „Greek oligarchies were mostly restricted democracies“ (197). In eine etwas andere Richtung denkt Leppin 2013: „The strong could be powerful in all constitutions, but the concept was, characteristically, developed within a democracy, since this order offered more possibilities to prove one’s worth than the closely knit oligarchic systems“ (156). Es wäre übrigens zu überlegen, ob auch die spartanische Verfassung, insbesondere das „Doppelkönigtum“ (vgl. Dreher 2001: 43), in ihren Ursprüngen das Resultat einer Stasis war, in der sich keine Seite durchzusetzen vermochte, doch würde eine solche Diskussion hier zu weit führen.

282

4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

Aber wie dem auch sei: Alles spricht dafür, dass sich am skizzierten Charakter der griechischen Oberschichten und an den entsprechenden Diskursen auch nach Philipp II. und Alexander III. nichts Grundsätzliches geändert hatte.66 Im Gegenteil, Autoren wie Polybios und Panaitios bestätigen diese Vermutung ausdrücklich,67 indem sie betonen, wie sehr Rivalität und das rücksichtlose Streben nach Dominanz auch für griechische Politiker ihrer Zeit als charakteristisch galten.68 Dies erklärt auch die hohe Plausibilität des Tyrannisvorwurfs im politischen Diskurs. Insgesamt entwerfen die hier betrachteten Quellen zum Hellenismus damit geradezu das Panorama einer Welt, in der führende Bürger zahlreicher Poleis häufig bereit waren, sich in ihrem Ringen um Ehre, Vorrang und Vorherrschaft – einem Ringen, für das jetzt der vielsagend unspezifische Ausdruck ἀντιπολιτεύεσθαι aufkam69 – im Zweifelsfall auch extremer Methoden zu bedienen.70 Dass die Akteure dabei teils regelrecht selbstzerstörerisch handelten, liegt auf der Hand. Oberstes Ziel musste es sein, eine Dominanz der Gegenseite zu verhindern oder zu beseitigen, und selbstverständlich griff man dabei umso rascher selbst zur Gewalt, je mehr man fürchtete, der Kontrahent könne einem hierin zuvorkommen: Da die physische Beseitigung des Gegners in Hellas, wie die Überlieferung eindrücklich illustriert, grundsätzlich ein Teil des Instrumentariums der politischen Auseinandersetzung war,71 konnte ein Konflikt nur allzu rasch eine eigene Logik der Eskalation entwickeln.72 Die enorme Zahl an φυγάδες darf dabei als eine Besonderheit der griechischen Welt gelten und kennzeichnet zugleich die Stasis, deren Resultat sie im Wesentlichen war,73 66

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Vgl. zusammenfassend Scholz 2008: „[Inschriften] belegen eindrücklich, daß die in archaischer Zeit ausgeprägten Überlegenheitsmerkmale auch in hellenistischer Zeit bewahrt blieben und durchaus noch lebendig waren […]. So sehr jedoch die Adligen auf zahlreichen […] Feldern zweifelsohne brillierten, so wenig erwiesen sie sich imstande, zu einer politischen Vergemeinschaftung mit den Standesgenossen zu finden. Den Aristokraten gelang es nicht, in politicis Geschlossenheit und entsprechende soziale Stoßkraft zu entwickeln“ (73). ἅπαντες γὰρ ἡγεμονικοὶ καὶ φιλελεύθεροι ταῖς φύσεσι μάχονται συνεχῶς πρὸς ἀλλήλους, ἀπαραχωρήτως διακείμενοι περὶ τῶν πρωτείων; Pol. 5,106,5. Vgl. auch Pol. 1,81,10. Panaitios von Rhodos verglich laut Aulus Gellius das Leben von Politikern (qui aetate in medio rerum agunt ac sibi suisque esse usui volunt) mit Pankratiasten, die allzeit auf Angriffe gefasst sein müssten; Gell. Noct. Att. 13,28,3 f. (vgl. auch. Xen. Mem. 3,5,13). Vgl. zu Panaitios Haake 2007: 198–205 sowie zuletzt Wiemer 2016, der überzeugend dafür argumentiert, dass sich die in περὶ τοῦ καθήκοντος entfaltete Ethik des Philosophen primär an griechische Aristokraten (und nicht, wie oft vermutet, vornehmlich an römische nobiles) gerichtet habe. Vgl. zu den dahinter stehenden Denkmustern auch Gotter 2008b: „The basic assumption still is that all groups who share in power try to attain ‚absolute power‘, i. e. tyranny“ (196). Vor diesem Hintergrund überrascht die Prominenz, die gerade diesem Vorwurf insbesondere in der epigraphischen Überlieferung zukommt, nicht. Vgl. Ruschenbusch 1980. Vgl. Scholz 2008: 76–82. Plutarch konstatiert, wie bereits wiederholt erwähnt, Privatfehden führten oft zu Stasis; Plut. Mor. 825a. Dies war ein zentraler Unterschied zum vorgracchischen Rom. Vgl. auch die Überlegungen bei Finley 1986: Da Macht nicht „auf einem Amt oder einer anderen formalen Grundlage“ beruht habe, sei es erforderlich gewesen, Rivalen „durch moralische Schmähung, finanzielle Bestrafung und, am besten, physische Entfernung aus der Bürgerschaft durch Exilierung oder Hinrichtung“ persönlich auszuschalten (152 f.). Vgl. Genschel – Schlichte 1997: „Die Antizipation fremder Gewalt schafft Gewaltbereitschaft auch da, wo sie bisher gar nicht vorhanden war. Gewalt wird zur self-fulfilling prophecy“ (503). Vgl. Gray 2015: 223–270.

4.1 Verbreitung und Ursachen

283

als ein panhellenisches Charakteristikum.74 Dabei ist zu beachten, dass die offenen Konflikte, die in den Quellen sichtbar werden, lediglich solche Fälle markieren, in denen es zu einer Eskalation kam. Es handelt sich aber um Symptome eines tieferliegenden Problems; und die latenten Spannungen, das Misstrauen und die Hierarchisierungsprobleme,75 die die strukturellen Voraussetzungen für Verbannungen, Morde und Massaker darstellten, bleiben für uns oft unsichtbar. Um ein Bild aufzugreifen, das auch die Griechen selbst gerne verwendeten: Diese Krankheit der Polis war chronisch, sie brach nicht immer offen aus. Wenn die Quellen behaupten, soziale Konflikte zwischen Jüngeren und Älteren,76 zwischen Neu- und Altbürgern oder zwischen Reicheren und Ärmeren hätten für Staseis eine wichtige Rolle gespielt, so sind diese Aussagen dabei übrigens ebensowenig einfach zu verwerfen wie jene, die innere Konflikte mit äußeren in Verbindung bringen oder von einem Ringen der Verfechter der Demokratie mit Oligarchen und Tyrannen berichten. Derlei Aussagen bilden nicht zuletzt ab, wie die Zeitgenossen Staseis konzeptualisierten und zu bewältigen versuchten. Eine entscheidende Frage ist allerdings, an welchem Punkt der Auseinandersetzungen diese Faktoren jeweils ins Spiel kamen. Denn der scheinbar widersprüchliche Befund, der sich aus der Analyse der Quellen ergeben hat, lässt sich meines Erachtens erklären, wenn man davon ausgeht, dass in der Regel zwar, wie dargelegt, Konflikte innerhalb der Eliten am Auftreten von Staseis prominent beteiligt waren, die Antagonisten aber bei dem Versuch, ihre Position zu legitimieren und eine Anhängerschaft auch jenseits der Oberschicht an sich zu binden, oft auf Schlagworte und Themen zurückgriffen, die besonders geeignet schienen, einen hohen Grad an Mobilisierung und Rückhalt zu erreichen.77 Ob diese Diskursivierun74 75 76

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Auch ein Text wie die wohl um 230 entstandene Diatribe Περὶ φυγῆς des Kynikers Teles von Megara belegt die schiere Alltäglichkeit des Verbanntenproblems im Hellenismus. Hierarchisierungsfragen sind vor allem zwischen Personen relevant, die derselben Statusgruppe angehören. Die Distinktion gegenüber anderen Schichten ist in der Regel vergleichsweise unproblematisch. Dass es vielerorts einen strukturellen Generationenkonflikt gegeben zu haben scheint, der im Rahmen einer Stasis von Bedeutung sein konnte, soll hier keineswegs in Abrede gestellt werden. In diesem Zusammenhang könnte eine Rolle spielen, dass militärische Leistungsfähigkeit im Hellenismus offenbar insgesamt weniger als zuvor geeignet war, einem Politen Ansehen einzubringen. Vgl. Blok 2013: „Even if military service continued to reflect men’s roles within the polis, clearly the major component of men’s timai after 300 consisted of the performance of political and cultic obligations, and the financial requirements these entailed“ (171). Unter diesen Bedingungen musste sich das Gleichgewicht grundsätzlich zugunsten der Älteren, die über größere finanzielle Ressourcen verfügten, verschieben; diese Konstellation barg gewiss Konfliktpotential. Aus diesem Grund geht meines Erachtens die Kritik von Eich 2006: 530–540, der zahlreiche wichtige und zutreffende Punkte anspricht, letztlich in die Irre, wenn er einwendet, Machtkämpfe innerhalb der Eliten seien „vermutlich eher selten“ gewesen, denn „für die griechische Poliswelt läßt sich eine solche Autarkie der politischen Sphäre nur postulieren, wenn man den überlieferten Textbefund unter den Fundamentalverdacht stellt, daß die griechischen Autoren ein einschlägig verfälschtes Bild entwerfen wollten“ (534 f.). Dies gilt meines Erachtens auch für die Annahme, Positionen wie die in der vorliegenden Untersuchung vertretene setzten voraus, „dass die antiken Autoren sich über ihre eigenen Gesellschaften grundlegend im Irrtum befanden“ (Eich 2017: 135). Denn zum einen berichten insbesondere Autoren wie Polybios, Diodor, Livius und Plutarch für den Hellenismus, wie man gesehen hat, wiederholt explizit von Fehden – vielleicht ein besserer Ausdruck als „Machtkampf “ – zwischen führenden Politikern, und zum anderen ist „willentliche Verfälschung“ hier sicherlich eine irreführende Kategorie: Vielmehr

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

gen den eigentlichen Kern der Konflikte trafen, war dabei von nachrangiger Bedeutung; wichtiger war, dass sie geeignet waren, eine Polarisierung und Dichotomisierung zu begründen. Je eindeutiger der Gegensatz, desto attraktiver das Interpretament. Dabei belegt die Auswertung der inschriftlichen Überlieferung, dass die entsprechenden Diskurse, die die Konflikte als Richtungsstreit zwischen Oligarchen und Demokraten lasen oder als Aufstand verarmter Massen interpretierten, die nach Schuldentilgung und Bodenreform verlangt hätten,78 keineswegs auf die literarische Tradition beschränkt waren, die erkennbar durch Topoi und eine elitäre Verachtung für den ὄχλος geprägt war: Mochte die Konzeptualisierung der Auseinandersetzungen vielleicht auch ursprünglich eher den theoretischen Überlegungen der Akademiker, Peripatetiker und Stoiker entstammen als der politischen Praxis, so drang sie dennoch in diese ein und prägte ihrerseits die Art und Weise, wie man über Staseis sprach.79 Wurde ein Missstand oft genug beklagt, so gewann er auch dann leicht ein Eigenleben, wenn man ihn zuvor womöglich gar nicht als solchen empfunden hatte: If men define situations as real, they are real in their consequences.80 Somit ist das Bild, das die Quellen von den hellenistischen Staseis zeichnen, letztlich das Ergebnis einer komplexen Wechselbeziehung zwischen Diskurs, Wirklichkeitswahrnehmung und Realität. Damit die entsprechenden Schlagworte ihren Zweck erfüllen konnten, mussten sie Probleme und Missstände aufgreifen, die zumindest subjektiv tatsächlich als drängend und drückend empfunden wurden, andernfalls hätten sie kaum die erhoffte Wirkung erzielt.81 Mit anderen Worten: Ohne Zweifel gab es in vielen Poleis des Hellenismus eine erhebliche sozioökonomische Ungleichheit, die sich wahrscheinlich nicht zuletzt in Form von Verschuldung manifestierte, und zwar unterhalb ebenso wie innerhalb der Eliten.82 Es hat allerdings, soweit die Quellen hier überhaupt Aussagen erlauben, den Anschein, als habe diese Ungleichheit vielfach vor allem die Voraussetzungen dafür geschaffen,

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bilden die Quellen einen bestimmten Diskurs ab (vgl. auch Frank 1989 und Landwehr 2001), dessen Voraussetzung gerade die Verflechtung sozialer, ökonomischer, kultureller und ‚machtpolitischer‘ Faktoren darstellte. Der Stasisdiskurs ähnelt damit strukturell dem Tyrannendiskurs, mit dem er gewissermaßen verschwägert ist, und regelte, wie über derart problematische Vorkommnisse gesprochen werden konnte. Die Annahme einer „Autarkie der politischen Sphäre“, für die es in der Tat keine Belege gibt, liegt der hier vorgestellten Interpretation des Phänomens daher nicht zu Grunde, vielmehr geht es um eine Hierarchisierung miteinander verflochtener Faktoren und um die Entschlüsselung des Diskurses. Vgl. etwa die Bemerkungen zu den sozialen Implikationen von Land- und Geldverleih in spätklassischer und hellenistischer Zeit bei Osborne 1988. Zu den ökonomischen Verhältnissen vgl. auch Davies 1984: 270–290, Walbank 1992: 159–175 (u. a. mit Belegen für die Folgen einer expandierenden Geldwirtschaft), Reger 2003 und Schuler 2007. Vgl. zur Inkonsequenz der aristotelischen Einteilung der Polisbürger in „Arme“ und „Reiche“ Winterling 1993. Thomas – Thomas 1928: 571 f. Vgl. auch Finley 1986: „Materielle Fragen liegen nach meiner These hinter dem Interesse des Volkes an Verfassungsformen, Wahlen und politischen Konflikten“ (141). Von durchaus realen Missständen, die im Hellenismus gravierender als zuvor gewesen seien, geht etwa Davies 1984 aus: „Debtors tended to be cultivators, for whom foreclosure meant partial or (more likely) complete loss of land in the absence of systems of collateral security: a consequence which underlay the repeated coupling of agitation for remission of debt […] with that of the redistribution of land“ (293 f.). Zugleich warnt Davies aber davor, „the scale of these movements, and the social unrest they created“ zu überschätzen.

4.1 Verbreitung und Ursachen

285

dass ein Konflikt gegebenenfalls rasch eskalieren konnte, da man durch den Rekurs auf reale oder gefühlte Missstände eine Mobilisierung von Anhängern erreichen konnte. Mochte manch eine Polis also auch in ökonomischer Hinsicht ein Pulverfass sein – der notwendige Funke entstand, so die hier vertretene These, oftmals erst durch die Reibung zwischen Aristokraten, was auch erklärt, wieso die verfeindeten Parteiungen so häufig durch ihre prominentesten Protagonisten gekennzeichnet wurden, wenn man Polemik vermied.83 Wenn die Quellen von Männern berichten, die sich an die Spitze einer verarmten Masse gestellt hätten, so handelt es sich bei ihnen, soweit man sieht, stets um Angehörige der Elite.84 Ähnliches darf man auch für jene Fälle annehmen, in denen die Konflikte nicht ökonomisch, sondern innenpolitisch – vor allem als Kampf um die Demokratie – kodiert wurden; und dies gilt auch für außenpolitische Etikettierungen: Die führenden ‚Romfeinde‘ und ‚Romfreunde‘ waren Aristokraten.85 Unklar bleibt dabei, wieso manche Poleis anfälliger für Staseis gewesen zu sein scheinen als andere, denn hier lassen uns die Quellen ebenso im Stich wie in Hinblick auf die konkreten Anlässe der Auseinandersetzungen. Vielerorts scheint es gelungen zu sein, das destruktive Potential der Elitenrivalität einzuhegen. Wahrscheinlich erwiesen sich die Mittel, die man in den Poleis zur Stasisprävention anwandte, durchaus nicht immer als untauglich; dies galt insbesondere für die Zügelung und Kanalisierung des Agonalen durch Euergetismus und öffentliche Ehrungen sowie vielleicht auch für die Ausbildung der Jugend im Gymnasion, wo man nicht zuletzt lernte, mit Niederlagen umzugehen, Strafen zu akzeptieren und im Wettstreit miteinander Regeln zu beachten.86 Und vermutlich sorgte auch die Institution der auswärtigen Richter dafür, dass Konflikte oft entschärft werden konnten, bevor sie weiter eskalierten. Gewiss ist: Der Umstand, dass sich in Hinblick auf Mentalität und Selbstverständnis der städtischen Eliten ebenso wie in der Art und Weise, wie man Macht und Herrschaft 83

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Es sei hier nochmals betont, dass es sich bei der Berufung auf soziale oder ökonomische Forderungen keineswegs immer um einen bloßen Vorwand gehandelt haben muss, schon allein deshalb, weil diese, wie erwähnt, durchaus auch die Eliten betreffen konnten: Dass Verschuldung vermutlich eher ein Problem der Ober- als der Unterschichten war, wurde bereits angesprochen. Gerade in einer Gesellschaft, in der Elitenzugehörigkeit nicht zuletzt durch Zurschaustellung von Wohlstand dokumentiert wurde, während es zugleich strukturell schwierig war, an flüssiges Kapital zu gelangen, und man durch Fehlkalkulationen und Missernten enorme Verluste erleiden konnte, dürfte insbesondere in der landbesitzenden Oberschicht der Anteil an überschuldeten Personen hoch gewesen sein. Eine χρεῶν ἀποκοπή dürfte daher, mutmaßlich im Unterschied zu einem γῆς ἀναδασμός, auch und gerade vielen Elitenangehörigen nicht unattraktiv erschienen sein, zumal dann, wenn sie ihre Verschuldung als eine inakzeptable Hierarchisierung gegenüber den Gläubigern empfanden. Vgl. hierzu bereits Tarn 1924: „The poor in a Greek state had little chance of making a change constitutionally, and were badly off for weapons; they rather depended on a lead from some individual who was not one of themselves, and possessed some force, for instance mercenaries“ (132). Vgl. Shipley 2000: „Civil strife within Greek cities, quite common in this period, is most likely to have been sparked off by disputes and rivalries among relatively privileged citizens. Calls for reform were, perhaps, not calls for revolution or a new social order, but for a new allocation of places within the existing order“ (133). Wenn etwa Polybios behauptet, für die blutige Stasis in Kynaitha sei nicht zuletzt der Umstand verantwortlich gewesen, dass man die Ausbildung der Jugend vernachlässigt habe, so könnte dies in diese Richtung weisen; Pol. 4,20 f. Vgl. zu dem verbreiteten Denkmuster, der θυμός der Jugend könne und müsse durch eine Ausbildung im Gymnasion gebändigt werden, Gehrke 2016.

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

konzeptualisierte, im 4. Jahrhundert v. Chr. kein Bruch erkennen lässt,87 trug mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht unwesentlich dazu bei, dass im Hellenismus auch die fatale Neigung der Poleis, insbesondere aber der städtischen Eliten zur Desintegration fortbestand – mit weitreichenden Folgen. Denn sowohl die ökonomischen als auch und vor allem die außenpolitischen Bedingungen hatten sich nach Chaironeia und dem Alexanderzug grundlegend gewandelt, und für die Art und Weise, wie sich die Städte an diese neue Umwelt anpassten, spielte der Hang zur Stasis eine wichtige Rolle. 4.2 Stasis und hellenistische Demokratie Sobald im späteren 4. Jahrhundert aufgrund der Vervielfältigung der außerhalb Attikas gesetzten Inschriften ein genauerer Blick auf die Verhältnisse in einer großen Zahl von Poleis möglich wird, tritt überall die Existenz einer wohlhabenden urbanen Elite ans Licht. Diese scheint, soweit es die Quellen – vor allem die seit dieser Zeit üblichen „jüngeren Ehrendekrete“ – erkennen lassen,88 von wachsender Prominenz und Überlegenheit gekennzeichnet gewesen zu sein, die sich in Athen vielleicht unter anderem in der Beseitigung vieler Leiturgien vermögender Bürger durch Demetrios von Phaleron äußerte.89 Zugleich nahm die Abhängigkeit vieler Poleis von der Bereitschaft der Eliten, als Euergeten zu fungieren90 oder „leiturgische Ämter“ (Friedemann Quass) zu übernehmen,91 allem Anschein nach erheblich zu.92 Obwohl selbstverständlich nicht einfach mit einer uniformen Entwicklung in der gesamten Poliswelt gerechnet93 und die Prominenz der Oberschichten in klassischer Zeit zudem wohl nicht unterschätzt werden sollte,94 vermittelt das Material doch den Eindruck, als sei eine entsprechende Tendenz weit verbreitet gewesen, weshalb sich zunächst die Frage nach den Ursachen stellt. 87 88

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Vgl. Gotter 2008b: „The Hellenistic period did not create a real analytical alternative either. Even the concept of the ‚mixed constitution‘, with its roots in Aristotelian philosophy, did not mark a fundamental break with the classical Greek discourse of power“ (196). Vgl. Rosen 1987 und Quaß 1993: 26 f. Vgl. zusammenfassend Habicht 1995b: „Die Merkmale dieses neuen Dekrettyps sind oft beschrieben worden: statt militärischer und politischer Verdienste, statt hingebungsvoller Führung verschiedener Ämter rühmt man jetzt die vornehme Abkunft, den Familienpatriotismus, den Charakter, die Bildung eines prominenten Bürgers, weiter seinen Familiensinn, die Wohltätigkeit, Freigebigkeit und Kultfrömmigkeit“ (88). Vgl. Busolt 1920: 976 f. Vgl. Veyne 1988: 238–250. Vgl. Gehrke 2003: 230. Vgl. zur faktischen Verschmelzung von Amt und Leiturgie de Ste. Croix 1981: 305 f. Vgl. Quaß 1993: „Die großen finanziellen Bedürfnisse der Gemeinden und die leiturgische Belastung der wichtigsten staatlichen Funktionen ließen sie von den wohlhabenden Bürgern abhängig werden […]. Die Beschränkung auf die Wohlhabenden als Funktionsträger und besonders das Prinzip eine relativen Freiwilligkeit, sich einer Wahl zu stellen, führte[n] zwangsläufig zu einer Begrenzung der Entscheidungsmöglichkeiten der Volksversammlung“ (422). Problematisch ist allerdings Quass’ Prämisse, „die Führungsschicht“ bzw. „die Honoratioren“ hätten „der übrigen Bürgerschaft“ als eine weitgehend geschlossen agierende Gruppe gegenübergestanden (402 f.). Vgl. zum Problem des Athenozentrismus konzise Brock – Hodkinson 2000: 4–21. So sind allgemeine Aussagen darüber, wie prominent die Rolle des Demos außerhalb Athens war, für die klassische Zeit nur eingeschränkt möglich; neben die schwierige Quellenlage tritt dabei die Definitions-

4.2 Stasis und hellenistische Demokratie

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Auch wenn man sich natürlich vor einem simplen post hoc ergo propter hoc in Acht nehmen muss, legt die zeitliche Koinzidenz zwischen der Veränderung der öffentlichen Rolle griechischer Eliten und dem Alexanderzug einen kausalen Zusammenhang nahe. Die gewandelten ökonomischen Bedingungen, insbesondere die Intensivierung des Fernhandels und die Ausweitung des Münzumlaufs, könnten dabei zwar in der Tat zu einer wachsenden Ungleichheit beigetragen haben.95 Doch genügt dieser relative Zuwachs an Reichtum meines Erachtens nicht, um die offenbar signifikant gestiegene Unabhängigkeit der städtischen Eliten vom Demos zu erklären; vielmehr muss man nach einer nicht allein quantitativen, sondern qualitativen Veränderung Ausschau halten. Diese wurde markiert durch die Etablierung der makedonischen Hegemonie über die Poleis in Hellas und Kleinasien.96 Denn vor allem die Diadochen und die ihnen nachfolgenden Könige hatten ein vitales Interesse an verlässlichen φίλοι in den Städten,97 und aufgrund der ungleich größeren Machtmittel, über die Seleukiden, Antigoniden und Ptolemaier dabei verfügen konnten, unterschied sich diese Konstellation erheblich von der klassischen Zeit, als Sparta, Athen und Theben miteinander um die Hegemonie gerungen hatten. Spätestens nach der Konferenz von Triparadeisos wurden die Griechen in die Diadochenkriege verwickelt, und insbesondere dank Diodors Bericht ist gut erkennbar, wie Männer wie Polyperchon, Kassander und Antigonos damals versuchten, in den Poleis ihren Parteigängern zur Macht zu verhelfen, um die Gemeinden auf diese Weise unter ihre Kontrolle zu bringen.98 Gerade für Athen ist dies besonders gut bezeugt und bildet geradezu ein Leitmotiv der Jahrzehnte um 300,99 doch selbst für eine kleine,

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frage. Dass als demokratisch geltende Verfassungen im 4. Jahrhundert allerdings keine Ausnahme waren, bezeugen Autoren wie Xenophon und Aristoteles; vgl. daneben die Übersicht bei Robinson 2011: 6–181. So spricht etwa Walbank 1992 pointiert von „a society which enabled kings and certain private individuals to amass vast fortunes“ (165). Tarn 1952: 111 war der Ansicht, vor allem für die Oberschichten in den Poleis Asiens sei der frühe Hellenismus „a prosperous time“ gewesen, während weite Teile des Mutterlandes erst nach der Mitte des 2. Jahrhunderts ökonomisch aufgeholt hätten, zuvor hingegen von ökonomischen Krisen geplagt gewesen seien. Vgl. Scholz 2008: „Die Städte waren nunmehr von den Entscheidungen der hellenistischen Könige unmittelbar betroffen, ja von diesen geradezu abhängig geworden“ (76). Vgl. auch Savalli-Lestrade 2003: „L’oligarchie des notables n’est donc pas une spécificité de l’époque hellénistique […]. La nouveauté est que, indépendantes ou sujettes, les cités devaient toutes se mesurer par la diplomatie avec les rois“ (55). Dreyer – Weber 2011 betonen dabei mit Recht, dass sich eine „Elitisierung“ damals in vielen Poleis ungefähr gleichzeitig beobachten lasse; sie schlussfolgern hieraus, dass „die innergesellschaftliche Position der lokalen Eliten nicht unmittelbar mit der rechtlichen Stellung der [jeweiligen] Stadt gegenüber dem König zusammenhing“ (33). Vgl. Ma 2003a: „The kings must obtain local consent to their power before they can proceed to the vital operations of extraction“ (186). Ein gutes und frühes Beispiel ist der ‚Antigonidenfreund‘ Nikomedes aus Kos; IG XII,4 129–130. Vgl. hierzu auch Kapitel 4.3. Besonders deutlich tritt dies im Zusammenhang mit der „Freiheitsproklamation“ von 319 zutage, die sich, wie gesagt, kaum anders lesen lässt denn als Versuch Polyperchons, die Feinde jener, die sich mit Antipaters Unterstützung als faktische Herren über ihre jeweilige Polis etabliert hatten, zu einer Revolte anzustacheln, um auf diese Weise eine Verbesserung seiner eigenen Machtposition zu erreichen; Diod. 18,55 f. Vgl. Kapitel 2.1.2. Vgl. auch Dreyer – Weber 2011: „Jeder – Kallias, Demochares und Philippides – verfolgte seine eigenen Interessen, wenn auch angeblich zum Wohl der Stadt als höchstem Ziel, deren Verfassung demokratisch zu sein hatte. Wann dieses Kriterium jedoch erfüllt war, oblag der individuellen Interpretation“ (29).

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unbedeutende Polis wie Telos ist eine königliche Einflussnahme nachweisbar.100 Gegen wohlhabende Elitenangehörige aber, hinter denen ein hellenistischer βασιλεύς stand,101 hätte sich der Demos im Grunde nirgendwo behaupten können dürfen.102 Was in Archaik und Klassik nicht verwirklicht werden konnte, wäre nun eigentlich zu erwarten gewesen: eine offene Machtübernahme der Aristokratie.103 Doch stattdessen ist zu konstatieren, dass es zu dieser Zeit vielerorts keineswegs zu einem Untergang der Demokratie und zur Etablierung einer unverhüllten Oligarchie kam, wie sie Ptolemaios I. in Kyrene durchsetzte.104 Trotz der Übermacht der von den Makedonen gestützten Aristokraten bestanden demokratische Institutionen in vielen Poleis fort und scheinen auch tatsächlich Einfluss auf die Tagespolitik genommen zu haben.105 Dieser Befund – das Vorliegen starker Indizien für die vielerorts wachsende Dominanz einer reichen „Honoratiorenschicht“ einerseits und für die Fortexistenz grundsätzlich funktionierender demokratischer Institutionen andererseits – hat in der Forschung für eine nicht unerhebliche Verwirrung gesorgt.106 Doch die entscheidende Frage ist nicht so sehr, wie lange man von einer ‚lebendigen‘ hellenistischen Demokratie sprechen kann,107 sondern vielmehr: Wie ist die berechtigte, aber kontraintuitive Feststellung zu erklären, dass der Demos nicht bereits um das Jahr 320 überall entmachtet worden war? Wieso erfolgte die Aristokratisierung108 der meisten Städte in politischer Hinsicht erst mehrere Generationen später?109 100 IG XII 4,1,132, Z. 108. Vgl. Kapitel 3.1.2. Dabei ist, wie bereits erwähnt, zu bedenken, dass natürlich bereits in klassischer Zeit Vormächte wie Athen oder die Achaimeniden Einfluss auf Poleis in ihrem Machtbereich ausgeübt hatten; vgl. Rhodes 1993: 173 f. Der Unterschied zum Hellenismus hat mithin eher quantitativen als qualitativen Charakter. 101 Müller 2015 betont, es sei bereits im frühen Hellenismus immer üblicher geworden, dass prominente Männer das Bürgerrecht mehrerer Poleis („multi-citoyenneté“) zugleich besaßen, was ihre Unabhängigkeit vergrößert haben mag. Zugleich warnt sie allerdings, die übliche Zäsur zwischen Klassik und Hellenismus sei, „pour partie, artificielle“ (366). 102 Vgl. Scholz 2008: „Zwangsläufig gewannen diejenigen innerhalb der städtischen Führungsschicht an Macht und Einfluß, die über Kontakte oder gar nähere freundschaftliche Beziehungen zu den Königshöfen verfügten“ (77). Vgl. zu den königlichen φίλοι auch Savalli-Lestrade 1998 sowie Dreyer – Weber 2011: „Für die exklusive Stellung der Eliten war der persönliche Kontakt zu einem König […] im politischen Tagesgeschäft zentral“ (17). 103 Vgl. allerdings Walter 2017b: „Eine Aristokratie ist nicht von vornherein auf ein bestimmtes politisches Modell hin angelegt; es kann Phasen größerer Offenheit und solche der Abschließung geben“ (129). 104 SEG 9,1. Vgl. zuletzt Martini 2011. 105 Vgl. Grieb 2008: 355–361, Carlsson 2010 und Wiemer 2013: „Popular rule was alive and well in many poleis during the Early Hellenistic period“ (55). Anders sah noch de Ste. Croix 1981: 305 die Dinge: Obwohl die Volksversammlungen vielerorts gut besucht gewesen seien (vgl. auch Baker 1995), seien diese bereits im 4. Jahrhundert durch königliche Beauftragte oder andere Elitenangehörige kontrolliert worden. 106 Vgl. insbesondere die Diskussion bei Habicht 1995b, der die Existenz eines „Honoratiorenregimes“ sogar für den späten Hellenismus bezweifelt: „Ich meine, daß vom 5. zum 1. Jahrhundert im politischen Engagement der Bürger und im Prozentsatz politisch aktiver Bürger unter ihnen schwerlich größere Veränderungen eingetreten sind“ (87). 107 Vgl. hierzu neben Mann 2012 und Wiemer 2013 zuletzt Cartledge 2016: 231–245. 108 Vgl. Gehrke 2008: 70 f. 109 Anders de Ste. Croix 1981: 309, der davon ausging, dass bereits jetzt ein Prozess eingesetzt habe, in dessen Verlauf „the propertied classes, with assistance of their Macedonian overlords“, die griechische Demokratie systematisch untergraben und schließlich beseitigt hätten.

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Auf den ersten Blick lassen sich hierfür ‚ideologische‘ Gründe anführen: Im Verlauf des 4. Jahrhunderts v. Chr. hatte sich, wie bereits wiederholt erwähnt, nicht nur in Athen im öffentlichen Diskurs die Position durchgesetzt, eine Demokratie sei die einzig legitime und einer griechischen Polis angemessene Regierungsform.110 Vor diesem Hintergrund ließen sich nicht nur Tyrannenherrschaften, die den Königen mutmaßlich am liebsten gewesen wären, nicht dauerhaft durchsetzen, sondern dies galt auch für offene Oligarchien, jedenfalls solange der königliche Zugriff auf eine Polis nicht, wie in Kyrene, vollkommen ungefährdet erschien. Denn gerade weil es den βασιλεῖς in ihrem Streben nach Kontrolle um eine möglichst hohe Stabilität gehen musste, kollidierte die demokratische Polisideologie mit den Machtverhältnissen. Es war schon anspruchsvoll genug, die faktische Hegemonie der Könige über eine Stadt in eine äußerlich akzeptable Form zu überführen,111 die mit dem Anspruch auf ἐλευθερία und αὐτονομία vereinbar schien;112 für die innere Herrschaft der Parteigänger der jeweiligen Monarchen aber galt dies noch viel mehr,113 da diese im Alltag weitaus sicht- und spürbarer war als ein ferner König, dessen Existenz man die meiste Zeit ignorieren konnte.114 Aber wieso blieben der antimonarchische115 und der antioligarchische Affekt in Hellas derart einflussreich, dass sie eine eigentlich fast unausweichliche Entwicklung lange Zeit verzögern konnten und Könige wie Demetrios I. oder Antiochos III. dazu bewogen, sich als Vorkämpfer der Demokratie zu gerieren?116 Den entscheidenden Hinweis auf die Antwort liefert der Umstand, dass der entsprechende Diskurs, der sich in den epigraphischen, vor allem aber in den literarischen Quellen greifen lässt, ganz wesentlich von den Eliten selbst getragen wurde.117 Wäre es diesen vornehmlich darum gegangen, gemeinsame Standesinteressen zu vertreten, und hätten sie daher im Wesentlichen an einem Strang gezogen, so wäre diese Beobachtung kaum zu erklären. Aber die oben geschilderte Neigung der griechischen Aristokraten, einander misstrauisch zu beäugen – viel mehr, als es etwa die nobiles der Mittleren Republik taten – und nicht zuletzt deshalb selbst nach Dominanz zu streben, weil man die Dominanz der eigenen peers so sehr fürchtete, bestand im Hellenismus ungebrochen fort.118 Und so blieb es offensichtlich ein wichtiges und wirksames Instrument der inneren Auseinandersetzungen, sich selbst als Vorkämpfer der Rechte des Demos zu geben und die Rivalen 110 Vgl. Quaß 1979: 40 f., Billows 2003: 209 und Hansen 2006: 112. 111 Hierbei ist wohl mit Bickerman 1939 zu unterscheiden zwischen „freien“ Städten und solchen, die offen der Herrschaft eines Königs unterstanden; vgl. Schmitt – Schwarz 2005: 1023–1028 und Wiemer 2013: 62–64. 112 Vgl. Chaniotis 2003: 439–443. 113 Vgl. zur verbreiteten Furcht der Griechen vor der Herrschaft ihrer inneren Feinde auch Gehrke 1985: 359. 114 Vgl. zur Kritik an einem „‚hyper-interventionist‘ model of Hellenistic kingship“ auch Ellis-Evans 2012: 192. 115 Vgl. Börm 2015: 12–15. 116 Plut. Demetr. 10,1; GIBM 442 (vgl. OGIS 237). Vgl. Gruen 1993: 340 f. 117 Während es im Falle hellenistischer Inschriften, insbesondere Psephismata, vielfach zumindest nicht auszuschließen ist, dass die entsprechenden Bezugnahmen auf die δημοκρατία (vgl. Carlsson 2010: 335– 340) tatsächlich auf die Volksversammlung zurückgingen, ist in Hinblick auf die literarische Überlieferung kaum zu bezweifeln, dass es sich um Produkte elitärer Autoren für ein elitäres Publikum handelte. 118 Vgl. Scholz 2008: 73 und Gotter 2008b: 196.

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als Oligarchen und Tyrannen zu denunzieren. Diese Vorwürfe wurden dabei sicherlich nicht nur rein funktional gebraucht, etwa um Gewalt und andere Tabubrüche zu rechtfertigen,119 sondern dürften die aufrichtige Furcht manch eines Aristokraten vor einer Übermacht seiner Feinde oftmals durchaus authentisch widerspiegeln – und daran, dass es in der Tat Männer gab, die aktiv danach strebten, die Kontrolle über ihre Polis zu erlangen, besteht kein Zweifel. Von einigem Interesse, aber angesichts der Quellenlage wohl kaum zu klären, wäre in diesem Zusammenhang die Frage, ob man es in den hellenistischen Poleis dabei, wie es lateinische Autoren suggerieren, mit einem Phänomen zu tun hat, das Analogien zu den populares und optimates der späten Römischen Republik aufweist.120 Waren jene Aristokraten, die sich gewissermaßen einer Spielart der „popularen Methode“ (Christian Meier) bedienten,121 indem sie Forderungen nach χρεῶν ἀποκοπή und γῆς ἀναδασμός erhoben, die wohl geeignet waren, in Teilen des Demos auf breite Resonanz zu stoßen, Vertreter einer Minderheit innerhalb der Oberschicht? Wandten sie sich ans Volk, um sich auf diese Weise gegen die Mehrheit ihrer Standesgenossen durchsetzen zu können? Verbergen sich hinter jenen, die sich besonders ostentativ als Vorkämpfer der Demokratie gaben, wie es etwa für Agathokles bezeugt ist, des Öfteren Männer, die sich auf diese Weise gegen den Widerstand der restlichen Elite zu Herren ihrer Polis aufschwingen wollten,122 oder macht man sich mit einer solchen Vermutung allzu sehr eine gewissermaßen optimatische Sichtweise zu eigen? Zwischen einer Oberschicht, die nach wie vor chronisch zu Fehden und Desintegration neigte,123 und dem restlichen Demos kam es jedenfalls, so meine Hypothese, zu einer bemerkenswerten Wechselbeziehung: Indem Aristokraten im Rahmen ihrer Rivalitäten und Auseinandersetzungen an die restliche Bürgerschaft appellierten und sich – nicht nur durch demokratische Rhetorik, wie sie uns insbesondere in Bürgereiden und Tyrannengesetzen entgegentritt, sondern sicherlich auch durch Euergetismus124 – ihrer Unterstützung zu versichern suchten, konnte sich zum einen der Demos lange ein erheblich größeres Maß an Handungsfähigkeit bewahren, als es gegenüber ei119 Vgl. Kapitel 3.4.4. 120 Erant eo tempore Athenis duae factiones, quarum una populi causam agebat, altera optimatium; Nep. Vir. Ill. Phoc. 3,1. Vgl. auch Liv. 24,2,8. Dass dabei der Optimatenbegriff einfach als „a synonym for the aristocracy“ (Robb 2010: 145) dient, scheint mir zumindest in diesem Fall nicht zuzutreffen. 121 Vgl. Meier 1965 (bes. 549), Walter 2017a: 220 f. und die Diskussion bei Robb 2010: 11–33. Damit soll natürlich keineswegs gesagt sein, dass hellenistische Aristokraten genau wie spätrepublikanische nobiles agiert hätten, die sich in einem ganz anderen institutionellen und kulturellen Umfeld bewegten. Es ist allerdings durchaus zu erwägen, ob nicht umgekehrt die Senatsaristokratie in den bella civilia Denkmuster, Diskurselemente und Strategien adaptierte, die man zuvor bei den Griechen kennengelernt hatte; vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Gotter 2008b: 210–222. 122 Diod. 19,3,5. 123 Bereits Herodot hatte persönliche Rivalitäten innerhalb der Oberschicht, die zu gewalttätigen Staseis eskalierten, im Rahmen der berühmten Verfassungsdebatte am persischen Hof geradezu als Charakteristikum einer Oligarchie dargestellt: ἐν δὲ ὀλιγαρχίῃ πολλοῖσι ἀρετὴν ἐπασκέουσι ἐς τὸ κοινὸν ἔχθεα ἴδια ἰσχυρὰ φιλέει ἐγγίνεσθαι: αὐτὸς γὰρ ἕκαστος βουλόμενος κορυφαῖος εἶναι γνώμῃσί τε νικᾶν ἐς ἔχθεα μεγάλα ἀλλήλοισι ἀπικνέονται, ἐξ ὧν στάσιες ἐγγίνονται, ἐκ δὲ τῶν στασίων φόνος; Hdt. 3,82,3. 124 Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass Euergetismus zugleich der Etablierung und Demonstration einer asymmetrischen Beziehung zwischen Geber und Empfänger diente; vgl. Wiemer 2013: 65.

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ner geschlossen agierenden Elite möglich gewesen wäre.125 Zum anderen aber war eine fortbestehende Relevanz der Volksversammlungen überhaupt erst eine Voraussetzung dafür, dass sich die Mächtigen, die εὐγενεῖς oder χρηστοί,126 einen Vorteil davon versprechen konnten, sich der Unterstützung der gewöhnlichen Politen zu versichern, weshalb sie mit ihren Rivalen um das Wohlwollen des Plethos konkurrierten. Zu fragen wäre, ob man es hier vielleicht mit Konkurrenzsituationen im Sinne von Georg Simmel zu tun hat, in denen dem Demos die Rolle der „dritten Instanz“ zufiel.127 Insbesondere die wiederholten Freiheitserklärungen, die zunächst die hellenistischen Könige und später auch die Römer einsetzten, um ihre jeweiligen Parteigänger in den Städten zu unterstützen, illustrieren, dass auch die Hegemonialmächte früh erkannten, wie bedeutend unter diesen Umständen die öffentliche Meinung in den Poleis weiterhin war.128 Und für jene Aristokraten, die sich erfolgreicher als andere als Vorkämpfer von Demokratie und Freiheit in Szene zu setzen verstanden, war im Falle eines Erfolges der Preis, den sie möglicherweise zu entrichten hatten – nämlich eine eingeschränktere Machtposition gegenüber dem Demos, als sie in einer offenen Oligarchie möglich gewesen wäre –, sicherlich nicht zu hoch: Die Verhinderung einer Dominanz der inneren Feinde, bei deren Sieg man mit Entehrung, Verbannung oder Tod zu rechnen hatte, war im Zweifelsfall wichtiger als der Versuch, selbst eine Übermacht in der Polis zu erlangen. Und so griff man einander in die Zügel. Wo aber die sozioökonomische Elite aus diesem Grund zu keinem gemeinsamen, koordinierten politischen Handeln fähig war, da blieb der Demos oftmals mächtig genug, um seinerseits versuchen zu können, die agonale Energie zu kanalisieren und die schlimmsten Auswüchse der aristokratischen Fehden einzuhegen – ein frühes Beispiel hierfür scheint der Versöhnungsversuch in Dikaia zu sein,129 und auch bei manch einer Herbeirufung fremder Dikasten mag die Volksversammlung eine aktive Rolle gespielt haben. Insgesamt konnte die Zustimmung des Demos unter diesen Bedingungen weiterhin eine wichtige Quelle von Legitimität sein. Denn die hauptsächlichen Antagonisten eines griechischen Aristokraten waren nicht die gewöhnlichen Politen, sondern seine peers. Mit einem Wort: Die kulturell bedingte Neigung der hellenistischen Oberschichten zu einer rasch eskalierenden Rivalität, die offenbar auch durch Euergetismus nicht ausreichend kanalisiert werden konnte, hinderte sie in vielen Poleis lange Zeit daran, ihre 125 Vgl. Habicht 1995b, der das Phänomen im Kern zutreffend beschreibt, aber nicht erklärt: „Die sog. ‚Notabeln‘ beschenken ihre Stadt und bewirten deren Einwohnerschaft oft und in großzügigem Stil, aber sie herrschen nicht. Sie wollen eher populär als mächtig sein“ (92). 126 Vgl. Scholz 2008: 72. 127 Vgl. Simmel 1908: 186–255. 128 Vgl. hierzu Dmitriev 2011: 112–282, der die meisten bezeugten Fälle behandelt, aber übersieht, dass es nicht vornehmlich darum ging, Aggressionen gegen andere Hegemonialmächte vor einer griechischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen, sondern darum, sich Unzufriedenen in den Poleis einer bestimmten Region als Schirmherr anzudienen. 129 Schwieriger einzuordnen sind die hier besprochenen Tyrannengesetze, die sich zwar ostentativ auf demokratische Ideologeme beziehen, meines Erachtens aber eher als Rechtfertigungen und Siegesmonumente einer Stasisparteiung anzusehen sind – wobei es allerdings durchaus möglich ist, dass diese sich in Poleis wie Ilion oder Erythrai mit Hilfe eines Großteils des Demos durchgesetzt hatte und diesem daher entgegenkommen musste.

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offensichtliche ökonomische Dominanz und die Unterstützung durch Monarchen in eine politische Übermacht zu übersetzen und stabile Oligarchien zu etablieren; denn stets konnte zumindest ein Teil der Aristokraten im Konfliktfall an den Demos appellieren,130 der auf diese Weise weit weniger stark in den Hintergrund gedrängt wurde, als es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Trifft diese Rekonstruktion zu, so wird mit ihr das scheinbare Paradoxon aufgelöst, dass es einerseits allerorts eine prominente und zusehends überlegene Elite gab, sich andererseits aber bis weit ins 2. Jahrhundert v. Chr. Hinweise auf durchaus vitale Demokratien finden: Man war, etwas überspitzt gesagt, schlicht zu uneinig, zumindest aber misstraute man einander zu sehr, um die Bürgerschaft zu entmachten.131 Weder der Demos noch die Könige waren daher hauptsächlich dafür verantwortlich, dass demokratische Institutionen in Hellas zunächst überdauerten, sondern vor allem die chronische Uneinigkeit jener, die eigentlich als ihre wichtigsten Gegenspieler hätten gelten müssen. Um es noch etwas weiter zuzuspitzen: Ohne die Neigung zur Stasis – und ohne die Stasisfurcht, die noch weiter verbreitet gewesen sein dürfte als das eigentliche Phänomen – hätte es wohl nur recht wenige hellenistische Demokratien gegeben. Nach dem hier skizzierten Modell gelangte diese Phase erst an ihr Ende, als die Römer die Bühne betraten und sich rasch als unbesiegbar erwiesen.132 Je deutlicher die römische Dominanz und die militärische Unterlegenheit der hellenistischen Monarchen wurden,133 desto weniger mussten sich jene, denen es gelang, sich der neuen Weltmacht als φίλοι anzudienen, um die Zustimmung des Demos bemühen. An einem Ort wie Thisbe schreckte Rom nicht davor zurück, jene Notablen, die ihre fides demonstriert hatten, ohne jede erkennbare Zurückhaltung als neue Herren über die Polis einzusetzen, ohne der demokratischen Ideologie dabei auch nur äußerlich Reverenz zu erweisen.134 Das Auftreten Roms führte aber allem Anschein nach zumeist nicht unmittelbar zu einer Entmachtung des Demos;135 diese war vielmehr lediglich die mittelfristige Folge 130 Gut denkbar ist, wie gesagt, dass es vielfach gerade jene waren, die innerhalb der Elite eine Minderheit bildeten oder sich von ihren peers nicht hinreichend gewertschätzt fühlten, die ein besonders großes Interesse an einer wichtigen Rolle der Volksversammlung und einer Schwächung der Boule hatten. In diese Zusammenhänge dürften oftmals auch ‚revolutionäre‘ Forderungen nach χρεῶν ἀποκοπή und γῆς ἀναδασμός gehören. Es sind allerdings auch andere Konstellationen denkbar, in denen zum Beispiel eine mächtige Minderheit mit Hilfe des Demos in ihre Schranken gewiesen werden sollte. 131 Dabei geht es keineswegs darum, dem Demos Passivität und eine bloße Opferrolle zuzuschreiben, sondern um eine Antwort auf die Frage, wieso die griechischen Eliten ihre enorme Überlegenheit, über die sie seit der Etablierung der hellenistischen Monarchien offensichtlich verfügten, vielerorts so lange Zeit politisch nicht voll ausspielen konnten. Denn meines Erachtens steht außer Frage, dass auch ein aktiver, aus engagierten Politen bestehender Demos einer von einem König unterstützten Oligarchie nicht hätte widerstehen können. 132 Vgl. Derow 2003. Es ist kaum ein Zufall, dass sich, soweit ich sehe, für die griechischen Poleis Süditaliens bereits für das 3. Jahrhundert wenige Hinweise auf eine ‚lebendige‘ Demokratie finden lassen. Hier war die römische Hegemonie zumindest zwischen Pyrrhos und Hannibal bereits weitgehend ungefährdet, und so dominierten ‚Romfreunde‘ die Städte; vgl. auch Fronda 2010: 30–32. 133 Vgl. zu den Konsequenzen, die dies für die Könige hatte, auch Gotter 2013 und Wiemer 2017: 309 f. 134 IG VII 2225 (vgl. Syll.3 646). Vgl. Gehrke 1993. 135 Vgl. auch Grieb 2008: 358–364, der ebenfalls von einem kausalen Zusammenhang mit der Etablierung der römischen Hegemonie ausgeht, allerdings vor allem dem Demos ein größeres Eigengewicht zuspre-

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der Übermacht von ‚Romfreunden‘ wie Kallikrates oder Charops über ihre Standesgenossen: Nachdem die Rivalitäten innerhalb der Eliten auf diese Weise vielerorts unterdrückt worden waren und die Gefahr offener Staseis angesichts der römischen Präsenz abnahm, konnte die Aristokratisierung Fahrt aufnehmen.136 Seine Hoffnungen auf Rom zu setzen, war aber seinerseits nicht ohne Tücken, wie noch zu zeigen sein wird, und so kam es, dass sich die Transformation der Poleis nach dem Perseuskrieg zwar erheblich beschleunigt haben dürfte,137 aber erst im Prinzipat abgeschlossen wurde.138 Denn die Disposition zur Stasis war nach Perseuskrieg und bellum Achaicum nicht verschwunden; lediglich die Rahmenbedingungen hatten sich gewandelt. Damit wirft die soeben entworfene Rekonstruktion übrigens auch ein anderes Licht auf die verbreitete Aussage der Quellen, Rom habe in Hellas Aristokraten und Oligarchen gefördert, während die ‚Romfeinde‘ sich auf das gemeine Volk gestützt hätten.139 Es wäre jedenfalls nicht überraschend, wenn jene Elitenangehörigen, die sich römischer Rückendeckung nicht rechtzeitig zu versichern vermocht hatten, sich in ihrer wachsenden Verzweiflung nicht nur an Antigoniden und Seleukiden gewandt, sondern auch besonders intensiv um die Unterstützung des Demos geworben hätten. Diese Konstellation wäre dann die Wurzel des alten Missverständnisses, nach dem die Eliten nahezu geschlossen die Römer begrüßt und sich mit diesen verbündet, das einfache Volk aber der entscheidende Träger eines politischen und militärischen Widerstandes gegen Rom gewesen wäre. Dass sich die entscheidende Konfliktlinie in Wahrheit häufig mitten durch die Oberschicht zog, wird heute mit Recht kaum noch bezweifelt;140 entschei-

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chen möchte. Indem er annimmt, erst die römische Hegemonie habe „die Voraussetzung für eine dauerhafte Herausbildung einer politisch dominierenden Elite“ (362) geschaffen, unterschätzt Grieb meines Erachtens, wie stark das Übergewicht der Oberschichten bereits seit dem 4. Jahrhundert war, und übersieht zudem die zentrale Rolle, die die Stasis in diesem Zusammenhang spielte, obwohl er durchaus anerkennt, dass im frühen Hellenismus „hervorragende und einflußreiche Bürger […] den gesamten demos polarisieren konnten“ (359). Die berühmte Angabe bei Pausanias (7,16,9), Mummius habe nach 146 vielerorts in Hellas offene Oligarchien eingesetzt, ist wohl nicht wörtlich zu nehmen; vgl. Kallet-Marx 1995a: 57–96. Es besteht allerdings kein Grund, daran zu zweifeln, dass sich ‚Romfreunde‘ in der Folgezeit faktisch endgültig an der Spitze der meisten Gemeinwesen etablieren konnten und mittelfristig die Rolle des Demos marginalisierten. Hamon 2007: 90–100 skizziert überzeugend, wie es lokalen Eliten im 2. und 1. Jahrhundert gelungen sei, ihre sozioökonomische Dominanz schrittweise in ein politisches Machtmonopol umzumünzen. Sehr nützlich ist nach wie vor auch Touloumakos 1967, der nach einer eingehenden Analyse des damals vorliegenden Materials zu dem Schluss gelangte, dass „nirgends in dem griechischen Bereich des römischen Hellenismus reine Oligarchien vorhanden waren […]. Formell geht es immer um rein demokratische Verfassungen. Nur werden diese Verfassungen praktisch in einem quasi oligarchischen Sinn temperiert“ (152). Vgl. Scholz 2008: 83–87, der von einer „Exklusivierung und Aristokratisierung“ spricht. Vgl. auch Dreyer – Weber 2011: „Um die Mitte des 2. Jh.s v. Chr. wurden [in Ehrendekreten, H. B.] vermehrt die Leistung der Familie, die persönliche Bildung und die eigene prinzipielle Vertrauenswürdigkeit legitimierend herangezogen“ (45). Vgl. Müller 1995: 52–54. Liv. 35,34,3. Vgl. Deininger 1971: 15–30. Wie sehr es sich bei den Auseinandersetzungen um Konflikte innerhalb der Oberschicht handelte, illustrieren etwa die Vorgänge in Theben, wo ein gewisser Olympichos mit seinen Anhängern aus ungenannten Gründen zu den ‚Romfreunden‘ übergetreten sein und dieser Parteiung so zum Sieg verholfen haben soll; Pol. 27,1,9.

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

dend ist daher die Frage, welche Optionen jenen Aristokraten, die sich nicht als ‚Romfreunde‘ zu etablieren vermochten, überhaupt noch blieben. Der Verlauf des 2. Jahrhunderts illustriert dabei eindrücklich, dass das politische Instrument, um den Demos zu werben, angesichts der römischen Überlegenheit nun weitgehend stumpf geworden war,141 auch wenn sich noch im Angesicht des Ersten Mithridateskrieges Männer wie Athenion seiner zu bedienen suchten.142 Indem aber diese populares oder „demokratischen Aristokraten“ an Bedeutung einbüßten, erodierte auch die Handlungsfreiheit der Volksversammlungen, und die Macht konzentrierte sich zusehends in den Händen von Würdenträgern und Bouleuten.143 Dieses Modell ist natürlich notwendigerweise etwas holzschnittartig und erhebt angesichts der Existenz einer Vielzahl von Poleis nicht den Anspruch, jedem Einzelfall gerecht zu werden,144 zumal die Quellenlage für die entscheidenden Jahrzehnte nach dem bellum Achaicum beklagenswert schlecht ist. Wie groß der Einfluss lokaler Besonderheiten und Faktoren war, zeigt schon der Umstand, dass auch unter grundsätzlich ähnlichen äußeren Bedingungen nicht alle Städte gleich agierten. Die Transformation der Poleis verlief nicht gleichförmig oder gleichzeitig;145 und vor allem gilt das eben Gesagte ausdrücklich nur für jene Griechen, die sich im Spannungsfeld verschiedener Großmächte befanden,146 während es hellenistische Demokratien dort, wo es gelang, eine alternativlose Hegemonie zu etablieren, bereits lange vor dem Erscheinen der Römer sehr schwer gehabt haben dürften. Hier konnten sich die φίλοι der jeweiligen Vormacht zweifellos in aller Regel früh durchsetzen. Die letztgenannte Konstellation stellte allerdings in Hellas und Westkleinasien lange Zeit eher eine Ausnahme als die Regel dar. Denn der grundsätzliche Hang der urbanen Eliten dazu, einander in erbitterter Feindschaft gegenüberzustehen, scheint nicht nur 141 Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies im Zusammenhang mit dem bellum Achaicum, als es Teilen der achaiischen Elite gelang, sich durch entsprechende Appelle zunächst gegen ihre internen Gegner durchzusetzen, ohne dass dies die Katastrophe der römischen Militärintervention hätte abwenden können; vgl. Kapitel 2.3.6. 142 Athen. 5,48. 143 Vgl. zur gewandelten Rolle der Räte im späten Hellenismus insbesondere Hamon 2005, der zahlreiche Beispiele diskutiert. Vgl. auch Scholz 2008, der mit Recht konstatiert, dass „die in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts immer häufiger werdenden Dekrete zu Ehren verdienter Männer die Rolle der Bürgerschaft als weitgehend passives Kollektiv beschreiben“ (85). 144 Vgl. zu diesem Grundproblem jeder historischen Modellbildung auch die Bemerkungen bei Morley 2004: „The more ambitious a theory […], the more likely it is that it will be accused of being simplistic, of ignoring the complexities of human behaviour and human development, of reducing everything to a single determining factor […]. On the other hand, the more a theory is reduced in scope, the less explanatory power it has“ (12). 145 Vgl. auch die pessimistische Einschätzung bei Müller 1995: „Somit [sind] Spuren verschiedenartiger Entwicklungslinien zu erkennen, die sich freilich nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenfügen lassen“ (53). Dennoch ist Wiemer 2013 gewiss zuzustimmen, wenn er konstatiert: „After the middle of the second century bce, symptoms of a gradual erosion of the principles on which popular rule was based begin to multiply in many areas“ (65). 146 Nicht von ungefähr handelt es sich bei den Poleis, die Grieb 2008 und Carlsson 2010 als Beispiele für fortbestehende Demokratien im frühen Hellenismus heranziehen – nämlich Kos, Athen, Rhodos, Milet, Kalymna und Iasos –, sämtlich um Gemeinwesen, die sich jeweils an der Peripherie der Machtbereiche konkurrierender Monarchien befanden.

4.3 Stasis und Hegemonie

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dazu beigetragen zu haben, dass Aristokraten die demokratischen Institutionen vielerorts – sei es gezielt, sei es als unbeabsichtigte Folge der Unfähigkeit der Oberschicht zu gemeinschaftlichem Handeln – am Leben erhielten, um eine Herrschaft ihrer jeweiligen Antagonisten zu verhindern, sondern die Neigung zur Stasis erschwerte lange Zeit auch die Etablierung einer stabilen Hegemonie über Hellas.147 Dies galt insbesondere für die hellenistischen Monarchien, aber in geringerem Maße auch für die Römische Republik. Dies sei im Folgenden erläutert. 4.3 Stasis und Hegemonie Gerade im Falle der Errichtung der römischen Hegemonie stellt sich im Grunde eine ähnliche Frage wie bereits in Hinblick auf die Aristokratisierung der Polis: Wieso dauerte der Prozess so lange? Denn spätestens nach dem Frieden von Apameia 188 hätte einer stabilen Herrschaft Roms über die Hellenen im Mutterland und in Kleinasien, wie sie bereits Jahrzehnte zuvor über die Westgriechen etabliert worden war, auf den ersten Blick eigentlich nichts mehr im Wege stehen dürfen.148 Will man nicht zu der verbreiteten, aber unbefriedigenden Erklärung Zuflucht nehmen, der Senat habe an einer Herrschaft über die Gebiete östlich der Adria gar kein Interesse gehabt,149 sondern lediglich die Kontrolle anderer Großmächte über Hellas verhindern wollen, so muss man nach anderen, strukturellen Ursachen fragen. Diese lassen sich meines Erachtens sowohl im innerrömischen als auch im griechischen Bereich ausmachen, und um dies zu veranschaulichen, ist zunächst ein Blick auf die Verhältnisse zwischen dem Tod Alexanders und der Schlacht von Kynoskephalai vonnöten, als der Ägäisraum von der Rivalität der Diadochenreiche geprägt wurde.150 Imperiale Hegemonie stützt sich auf die Kooperation lokaler Eliten; gerade unter vormodernen Bedingungen war eine tatsächliche Kontrolle eines Reiches andernfalls 147 Vgl. zur Differenzierung zwischen Hegemonie und Imperium auch Münkler 2005: 67–77. 148 Vgl. auch Grainger 2017: „It was Rome’s ‚informal empire‘ – Greece, Asia Minor, North Africa. For half a century Rome struggled to avoid imposing direct control; for that same half-century the states of the region struggled to cope with Rome’s non-system“ (212). Dabei scheint die Vorstellung eines „non-system“ meines Erachtens allerdings in die Irre zu gehen; zutreffender ist eher, dass sich das System, das Rom spätestens 188 entworfen hatte, als für griechische Bedingungen ungeeignet erweisen sollte. 149 Diese ungemein einflussreiche Position ist bis heute vor allem mit dem Werk Erich Gruens und seiner Schüler verbunden; vgl. Gruen 1984: 721–730 und Rosenstein 2012: 197 f. Gruen betont die Bedeutung, die die Streitigkeiten innerhalb der griechischen Eliten für die römische Expansion besaßen, allerdings spricht er der Stasis dabei eine etwas andere historische Funktion zu, als es die vorliegende Untersuchung tut: Auch für Gruen und seine Schüler zwang zwar die chronische Uneinigkeit die Römer dazu, gegen ihren Willen zu intervenieren und schließlich eine dauerhafte Präsenz in Hellas und Kleinasien zu etablieren; verkürzt gesprochen: Staseis führten letztlich zur römischen Hegemonie über die ewig unruhigen Griechen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist diese Rekonstruktion aber nur in Hinblick auf eine direkte Herrschaft Roms zutreffend, die der Senat aus innenpolitischen Gründen, deren Bedeutung Gruen unterschätzt, lieber vermieden hätte. Die indirekte Herrschaft hingegen, die man bevorzugte und meines Erachtens bereits nach dem Sieg über Philipp V. zu etablieren suchte, scheiterte wesentlich am Phänomen der Stasis. 150 Vgl. Ager 2003, Braund 2003, Eckstein 2006: 79–117, Schäfer 2014 und Grainger 2017: 11–32.

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

kaum möglich.151 Die Verfügungsgewalt über militärische Machtmittel war zwar eine notwendige Voraussetzung, sie konnte aber nicht für jenen freiwilligen Gehorsam sorgen, der für eine stabile Herrschaft in einem heterogenen Großreich notwendig war.152 Wollten die hellenistischen Monarchen erreichen, dass sich Poleis ihrem Willen beugten, ohne dass eine kostspielige und überdies Illegitimität dokumentierende Garnison in sämtliche Städte gelegt werden musste, so mussten sie sich auf ihre „Freunde“ verlassen können.153 Wenn aber die Eliten, denen diese angehörten, strukturell zu Konflikten und Desintegration neigten, dann musste dies die Etablierung einer stabilen Kontrolle über ein Gemeinwesen immens erschweren – dies umso mehr, als die Existenz von mächtigen königlichen φίλοι ein Ungleichgewicht schuf, das die Wahrscheinlichkeit einer Stasis erhöhen musste; denn natürlich konnten nicht alle städtischen Aristokraten ein Nahverhältnis zum jeweiligen Monarchen beanspruchen. Und in der Tat sahen sich die Könige vielerorts mit genau diesem Problem konfrontiert. Der chronische Hang der griechischen Eliten zur Stasis hatte dabei aus Sicht der Monarchen grundsätzlich zwei Seiten. Zum einen stellte Bürgerzwist nicht selten einen geeigneten Hebel dar, um einem Rivalen die Herrschaft über griechische Poleis zu entwinden; die wiederholten und bereits mehrfach erwähnten Freiheitserklärungen seit 319 illustrieren, wie sehr sich die Könige dieser Möglichkeit bewusst waren.154 Im Kriegsfall verbesserte eine Stasis überdies die Aussichten, eine Stadt mit geringen eigenen Verlusten oder sogar kampflos einzunehmen, da man hoffen konnte, Verräter in der Polis oder zuvor Verbannte, die nun die Belagerer begleiteten, könnten für eine rasche Eroberung sorgen.155 Unter bestimmten Bedingungen – nämlich dann, wenn sie in Städten auftraten, die unabhängig waren oder von Rivalen kontrolliert wurden –, konnten Staseis einem hellenistischen Monarchen also sehr gelegen kommen. Zweifellos versuchte man daher auch aktiv, im Machtbereich anderer Könige oder koina Staseis anzufachen, wie es Polyperchon 319 vorgemacht hatte.156 Gravierender allerdings war die Kehrseite dieser Medaille, denn aus den nämlichen Gründen war die königliche Herrschaft über eine Stadt, in der Bürgerzwist herrschte, überaus prekär. Man musste daher versuchen, Staseis im eigenen Machtbereich möglichst zu verhindern, um zu vermeiden, dass sich 151 Vgl. Burbank – Cooper 2010: 11–14. Vgl. auch Shipley 2000: 381 und Scholz 2015: 183–186. 152 Vgl. zu den unterschiedlichen Kommunikationsstrategien, die die hellenistischen Monarchen gegenüber den diversen Gruppen in ihren Reichen verfolgten, auch Ma 2003a: 179–183. 153 Vgl. Savalli-Lestrade 1998 und Strootman 2011: 143–146. 154 Vgl. Dmitriev 2011: 112–141, der viele durchaus richtige Beobachtungen bietet, allerdings meines Erachtens die Relevanz der entsprechenden Schlagworte für die inneren Verhältnisse in den Poleis übersieht. Auch in den ansonsten sehr luziden Ausführungen bei Gruen 1984: 133–143 kommt dieser Aspekt zu kurz; zwar erwähnt er beiläufig, dass Polyperchons Proklamation zum Sturz der von Kassander installierten Oligarchien geführt habe (134), aber er übersieht, dass es sich bei diesen Konflikten unter Bürgern um Staseis gehandelt haben muss; auch für ihn handelt es sich vielmehr um „a convenient Instrument for rival dynasts to use against one another“ (142). Auch Seager 1981 konzentriert sich gänzlich auf den außenpolitischen Aspekt der Parole. 155 Vgl. etwa Pol. 10,43,8. Insbesondere die literarischen Quellen berichten häufig von entsprechenden Versuchen, die allerdings nicht immer von Erfolg gekrönt waren; vgl. etwa Diod. 17,29,1 f.; 18,47,3; 20,56,3; Pol. 4,17,12; Liv. 25,8,1–3; 37,9,1–4; Plut. Pyrr. 32,1. 156 Diod. 18,55 f.; vgl. Gehrke 1985: 287 f.

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eine unzufriedene Parteiung hilfesuchend an eine rivalisierende Großmacht wandte.157 Herrschte in einer Stadt aber bereits offener Aufruhr, gab es grundsätzlich zwei Optionen: Zum einen konnten die Könige versuchen, durch eine friedliche Intervention eine Versöhnung der Streitenden zu erreichen; in diesem Zusammenhang scheint man bereits früh auf μετάπεμποι δικασταί zurückgegriffen und manchmal auch – vor allem dann, wenn es um eine Reintegration und Entschädigung von Verbannten ging – finanzielle Unterstützung zur Verfügung gestellt zu haben.158 Das berühmteste Beispiel hierfür ist zweifellos das Eingreifen der Ptolemaier in Sikyon.159 Die Alternative bestand darin, einer Stasispartei durch bedingungslose Unterstützung zum Sieg zu verhelfen. Dies dürfte vor allem dann notwendig erschienen sein, wenn die Gegenseite von einer verfeindeten Großmacht unterstützt wurde oder man dies zumindest befürchtete, und es führte regelmäßig zu Tötungen und Verbannungen. Ein gut belegtes Beispiel hierfür sind etwa die Vorfälle in Maroneia 184, als die ‚Makedonenfreunde‘ in der Stadt, unterstützt von antigonidischen Söldnern, laut Polybios ein Blutbad unter ihren mit den Attaliden verbündeten Feinden anrichteten.160 Zum Leidwesen der Könige bestand die Instabilität aber im Anschluss oftmals fort, da die φυγάδες und die Angehörigen der Opfer in aller Regel nach Rache und Rückkehr strebten. Gerade in einem machtpolitisch multipolaren Umfeld, in dem sich Verbannte und Flüchtlinge in dieser Situation hilfesuchend an eine andere Großmacht wenden konnten, musste dies zu einer dauerhaften Bedrohung werden.161 Mitten im Herrschaftsgebiet eines Königs, außerhalb der Reichweite anderer Mächte, mag die Lage hingegen, wie erwähnt, eine andere gewesen sein.162 Aber auch dann, wenn eine Versöhnung der Streitenden oder die endgültige Ausschaltung einer Parteiung gelang, musste diese Befriedung nicht unbedingt nachhaltig sein, da das Problem der potentiell eskalierenden inneraristokratischen Konflikte auch nach einem Sieg grundsätzlich fortbestand: Selbst dann, wenn eine Gruppierung physisch aus der Stadt entfernt worden war, war dies daher kein Garant für eine Reintegration der Polis, da nun zwischen den verbliebenen Politen durchaus neue Auseinanderset157 Dass eine solche Anlehnung in der Regel sekundären Charakter hatte und den Konflikten in der Polis nicht ursächlich voranging, bezeugt Polybios im Fall von Ainos ausdrücklich; Pol. 22,6,7. 158 Vgl. zu den auswärtigen Dikasten als Instrument königlicher Politik Gauthier 1994. 159 Plut. Arat. 13,4–14,2. Vgl. Kapitel 2.2.5. Eine seltene Ausnahme scheint Herakleia Pontike dargestellt zu haben, wo laut Memnon (FGrHist 434 F 7, 3 f.) um 280 eine dauerhafte Reintegration der Nachkommen von Verbannten gelungen sein soll, indem die Rückkehrer auf ihre materiellen Ansprüche verzichteten; vgl. auch Rubinstein 2013: 159. 160 Pol. 22,13,6–9; vgl. Walbank 1979: 197 f. 161 Ein anschauliches Beispiel ist die Stasis in Elis (Plut. Mor. 250f–253e; Paus. 5,5,1; Iust. 26,1), wo es zunächst den ‚Antigonidenfreunden‘ um Aristotimos gelang, die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen und zahlreiche Feinde zu verbannen, diese sich aber an die Aitoler anlehnten, sich in der Chora festsetzten und einen regelrechten Bürgerkrieg begannen, der schließlich mit Aristotimos’ Ermordung ein Ende fand; vgl. Kapitel 2.2.4. 162 Für derartige Poleis darf man wohl tatsächlich (wie Gauthier 1994: 165) eine relative Befriedung annehmen. Nach 168 kann man gewissermaßen die Gegenprobe machen: Bezeichnenderweise behauptet Polybios, es sei nach dem Kollaps der antigonidischen Monarchie in den Poleis im früheren Machtbereich der Könige sogleich zu schweren Auseinandersetzungen und Staseis gekommen, da man mit der neugewonnenen Freiheit nicht habe umgehen können; Pol. 36,17,13.

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zungen aufbrechen konnten. Am anschaulichsten lässt sich auch dies wohl am Beispiel von Sikyon beobachten, wo es in den Jahrzehnten nach 301 offenbar zu immer neuen Staseis, „Tyrannenherrschaften“ und Verbannungen kam,163 die sich eigentlich nur so erklären lassen, dass sich innerhalb derjenigen Parteiungen, die zunächst die Oberhand gewonnen und ihre Feinde aus der Stadt entfernt hatten, wenig später ihrerseits Spaltungen ergaben,164 die zu neuen Auseinandersetzungen führten, bis Aratos eine – durchaus prekäre – Befriedung erreichte.165 Aber auch für Orte wie Kyrene, Syrakus oder Eresos lässt sich Vergleichbares konstatieren.166 Dies ist zum einen ein starkes Indiz dafür, dass tatsächlich Rivalitäten und Misstrauen innerhalb der aristokratischen Ehrgesellschaft Griechenlands die eigentliche Wurzel der meisten – gewiss nicht aller – Staseis bildeten; denn wäre es primär um ökonomische Fragen, um die Verteidigung oder Beseitigung der Demokratie oder um die außenpolitische Ausrichtung der jeweiligen Polis gegangen, so hätte nach dem Sieg einer Partei und der physischen Beseitigung ihrer Gegner Stabilität einkehren müssen, da die angeblichen Ziele nun ja erreicht worden waren. Stattdessen wurden aus bisherigen Verbündeten offenbar nicht selten schon bald darauf Feinde, denn das Hierarchisierungsproblem bestand ja fort, und ebenso der Hang zu Ehrenhändeln. Zum anderen erklärt dies, wieso die Kontrolle einer äußeren Macht über die betroffenen Poleis vielfach bedroht bleiben musste und die Destabilisierung einer Stadt ungleich leichter fallen musste als eine Stabilisierung: Nicht einmal die kompromisslose Beseitigung aller Bürger, die angeblich oder tatsächlich Widerstand leisteten oder mit feindlichen Mächten verbündet waren, und die rückhaltlose Unterstützung der eigenen Freunde in der lokalen Elite konnte garantieren, dass keine neue Stasis zwischen den Siegern ausbrach und an die Stelle der so oft beschworenen Eintracht trat.167 Eine gewaltsame Befriedung versprach nur dann Erfolg, wenn jene in der Polis, die sich entehrt oder unterdrückt glaubten, nicht die geringste Hoffnung auf eine Unterstützung von Außen hegen konnten.168 163 Paus. 2,8,2 f. Vgl. Lolos 2011: 70–76. 164 So ist meines Erachtens der Umstand zu interpretieren, dass sich im Verlauf mehrerer Umstürze, bei denen sich die Zahl der jeweils Verbannten wohl in der Größenordnung von etwa 80 Personen bewegt haben mag, wie es für die letzte Stasis unter Nikokles bezeugt ist, schließlich ungefähr 600 φυγάδες (Plut. Arat. 9,3) angesammelt hatten: Offensichtlich hatten die Machtwechsel nicht zur Rückrufung zuvor Verbannter geführt, was dafür spricht, dass es nicht ihre Parteigänger waren, die nun die Polis kontrollierten, sondern dass man tatsächlich von immer neuen Staseis zwischen denen, die jeweils in Sikyon verblieben waren, ausgehen muss. Offenbar war stets neuer Streit ausgebrochen und hatte zu weiteren Exilierungen geführt. 165 Obwohl Plutarch einer sehr aratosfreundlichen Tradition folgt, konstatiert er dennoch, dass Aratos auch nach der Befriedung der Stadt zahlreiche Feinde unter seinen Mitbürgern besaß; Plut. Arat. 15,1–3. 166 Diod. 18,21,6–9 (Kyrene); Diod. 19,3 f. (Syrakus); IG XII,2,526 (Eresos). 167 Es ist übrigens gut möglich, dass die Ermahnung zur Eintracht und die Warnung vor einer Stasis mitunter auch als politisches Instrument eingesetzt wurden, das dazu diente, die Gegenseite zu diskreditieren: Man konnte den Opponenten vorwerfen, ihr Verhalten drohe, das Gemeinwesen in eine Katastrophe zu führen. 168 Allerdings ist denkbar, dass unter Umständen die Furcht vor einer Rückkehr und Rache der Verbannten dazu führen konnte, den Zusammenhalt der in der Stadt Verbliebenen zu stärken. In Hinblick auf Syrakus wird dieser Gedanke von Diodor einigermaßen ausdrücklich angesprochen (Diod. 19,9,2 f.); al-

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So war es also vor allem ein Zusammenspiel aus der Rivalität der hellenistischen Könige um das Alexandererbe und die Kontrolle des Ägäisraumes einerseits und der Anfälligkeit der Poleis für innere Feindschaften andererseits, das dafür sorgte, dass es keines der Diadochenreiche vermochte, eine Hegemonie über die Mehrheit der griechischen Städte und eine κοινὴ εἰρήνη durchzusetzen.169 Da es der Stellung der Eliten, auf die sich jede Hegemonialmacht zu stützen hatte, in vielen Poleis an Legitimität fehlte – augenscheinlich weniger gegenüber dem Demos als vor allem gegenüber ihren eigenen Standesgenossen –, musste es vor allem dort, wo sich die Anlehnung an eine rivalisierende Großmacht anbot, überaus schwerfallen, eine dauerhaft stabile Herrschaft über diese Gemeinwesen zu etablieren.170 Zu hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass möglicherweise nichtige Anlässe und Ehrenhändel zu einer offenen Stasis eskalierten, die nicht nur eine Katastrophe für die betroffene Stadt war,171 sondern auch einer feindlichen Intervention Tür und Tor öffnete. Diese strukturelle Instabilität der Poliswelt in Hellas und Kleinasien lernte Rom schon bald nach dem Zweiten Makedonischen Krieg kennen. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass die Römer zu dieser Zeit bereits umfangreiche Erfahrungen mit Staseis gesammelt hatten: Schon Neapel war 326 durch den Verrat der aristokratischen ‚Romfreunde‘ in der Stadt eingenommen worden,172 das bellum Tarentinum hatte seine Wurzeln allem Anschein nach nicht zuletzt in einem Bürgerzwist zwischen ‚Romfreunden‘ und ‚Romfeinden‘ gehabt,173 und auch im Rahmen der ersten beiden Punischen Kriege hatte der Senat erleben müssen, wie rasch die römische Herrschaft, die sich augenscheinlich auf die in den Stadträten (senatus) versammelten westgriechischen Eliten gestützt hatte, gegebenenfalls zusammenbrechen konnte.174 Allerdings unterschied sich die Situation in der Magna Graecia in zwei wichtigen Punkten von der im Osten: Zum einen trat hier nach dem Sieg über die Samniten nur noch ausnahmsweise, nämlich zunächst in Gestalt von Pyrrhos sowie später mit Hannibal,175 eine echte Machtalternative zu Rom auf den Plan, was in beiden Fällen tatsächlich in mehreren Orten zu einem Aufbegehren derjenigen führte, die sich zuvor offen-

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lerdings dokumentieren die weiteren Ereignisse, dass diese Hoffnung, sollte sie Agathokles tatsächlich gehegt haben, sich nicht erfüllte. Am nächsten kam diesem Ziel wohl Antigonos I.; vgl. Anson 2014: 166–175. Darüber, wie die Entwicklung der hellenistischen Poleis verlaufen wäre, wenn Alexander nicht vorzeitig gestorben wäre oder die Einheit des Reiches nach 323 hätte gewahrt werden können, kann man nur spekulieren. Es spricht allerdings grundsätzlich nichts gegen die Annahme, dass dem Argeaden eine Befriedung hätte gelingen können: Möglicherweise dokumentiert das Verbanntendekret von 324 die Überzeugung des Makedonen, er könne die Poleis zur ὁμόνοια zwingen; vgl. Heuß 1973: 36 f. und Gehrke 1985: 306 f. Dies gilt übrigens auch dann, wenn man nicht der Ansicht ist, dass die griechische Poliswelt anfälliger für Bürgerzwist war als die meisten anderen urbanen Zivilisationen. Plut. Mor. 825a. Liv. 8,25,9–8,26,3. Zon. 8. Vgl. Barnes 2005: 129–137. Offenbar richtete sich der Aufruhr gegen jene Aristokraten, die die Polis zuvor mit römischer Rückendeckung dominiert hatten und deren Gegner nun ihre Hoffnungen auf Pyrrhos setzten. Dies galt insbesondere für den Hannibalkrieg; vgl. Kapitel 2.2.10. Bemerkenswerterweise scheinen sowohl Pyrrhos als auch Hannibal versucht zu haben, das bewährte hellenistische Instrument der Freiheitserklärung einzusetzen, um in den westgriechischen Poleis die

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

bar von den ‚Romfreunden‘ unterdrückt gefühlt hatten. Dass dies allerdings keineswegs überall geschah, unterstreicht dabei nochmals den Eindruck, dass außenpolitische Konstellationen den Ausbruch von offenen Staseis ermöglichten oder erleichterten, die eigentlichen Ursachen aber in den Poleis selbst zu suchen sind.176 Und zum anderen waren die militärischen Interventionsmöglichkeiten der res publica in Italien im 4. und 3. Jahrhundert sehr groß; kam es zu Vorfällen, die die Senatoren für eine seditio hielten, so konnten Legionäre oder socii den fraglichen Ort innerhalb von Tagen erreichen und energisch für eine Lösung im römischen Sinne sorgen.177 Wie wichtig aber gerade dieser zweite Aspekt war, scheint man im Senat zunächst erstaunlicherweise unterschätzt zu haben. Dort glaubte man offenbar, spätestens mit dem Frieden von Apameia die Voraussetzungen für eine indirekte Herrschaft über Hellas und Kleinasien geschaffen zu haben.178 Denn so, wie man Pyrrhos und Hannibal aus der Magna Graecia vertrieben hatte, so hatte man nun Philipp V. und Antiochos III. aus dem Ägäisraum verdrängt; und zudem muss die militärische Überlegenheit Roms für alle, die einen Blick für die Realitäten besaßen, nach dem Antiochoskrieg endgültig unübersehbar gewesen sein. Warum sollte in Hellas und Kleinasien nicht möglich sein, was man in Hinblick auf die Westgriechen179 bereits erreicht hatte? Doch die Aitoler hatten den Römern nicht ohne Grund unterstellt, die Antigoniden in Wahrheit beerben und die Festungen von Oreos, Eretria, Chalkis, Demetrias und Korinth, die „Fesseln Griechenlands“, übernehmen zu wollen;180 denn dies, also die Etablierung einer dauerhaften militärischen Präsenz in Hellas, wäre in der Tat das probate Mittel gewesen, um eine Hegemonie zu etablieren, und die Hellenen wussten dies offensichtlich selbst nur zu genau. Indem aber Flamininus mit den Legionen wieder abzog und man auch nach dem Sieg über Antiochos keine römischen Garnisonen zurückließ,181 versuchte der Senat etwas, das nicht gelingen konnte: Wie sollte angesichts der chronischen Neigung der griechischen Poleis zur Stasis eine

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Feinde der ‚Romfreunde‘ zum Aufruhr anzustacheln; App. Samn. 10,1; Pol. 3,85,4. Vgl. Kukofka 1990: 16–18 und Erskine 1993. Dieser Punkt sei hier nochmals unterstrichen: Die Außenpolitik selbst scheint in der Regel keine Konflikte in die Städte getragen zu haben; es brachen nicht in jeder belagerten Stadt Staseis aus, und nicht überall fanden sich Verräter. Eine Polis, durch die sich noch kein Haarriss zog, war in einem außenpolitischen Spannungsfeld weniger von Desintegration bedroht. Vgl. Bringmann 2002a: 40–56. Hierbei spielten natürlich insbesondere die coloniae eine wichtige Rolle, aber auch Straßen wie die via Appia, die Rom mit dem griechischen Süden verbanden. Vgl. dagegen Gruen 1984: „For the Romans ‚leaving them free‘ meant leaving them alone“ (429). Vgl. zum Umgang der Römer mit den socii in Italien pointiert Rosenstein 2012: „The Republic interfered not at all in the internal affairs of the socii. Their own elites continued to exercise power as they had always done, although friendly relations with members of the Roman aristocracy might enhance the stature of particular individuals and provide them with an advantage in competition with rivals for influence and honour“ (75 f.). Meines Erachtens spricht nichts gegen die Annahme, dass man im Senat anfangs davon ausging, dieses Herrschaftssystem, das den lokalen Eliten weitgehende Autonomie übertrug, im Grundsatz auch auf den griechischen Osten anwenden zu können. εἶναι δὲ ταύτας Ὠρεόν, Ἐρέτριαν, Χαλκίδα, Δημητριάδα, Κόρινθον. ἐκ δὲ τούτων εὐθεώρητον ὑπάρχειν πᾶσιν ὅτι μεταλαμβάνουσι τὰς Ἑλληνικὰς πέδας παρὰ Φιλίππου Ῥωμαῖοι, καὶ γίνεται μεθάρμοσις δεσποτῶν, οὐκ ἐλευθέρωσις τῶν Ἑλλήνων; Pol. 18,45,5 f. Siehe auch Plut. Flamin. 10,1. Vgl. Dany 1999: 181 f. Vgl. Will 1982: 221–231, Gruen 1984: 455 f. und Grainger 2017: 207 f.

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bloß indirekte Herrschaft Stabilität erlangen können?182 Kallikrates scheint zu den ersten gehört zu haben, die dies verstanden und dem Senat zu erläutern versuchten: Wenn die Römer die Hegemonie über Hellas behaupten wollten, so mussten sie sich nachdrücklich, nachhaltig und effizient hinter ihre φίλοι stellen,183 andernfalls drohten Massaker wie in Hypata, wo 80 ‚Romfreunde‘ erschlagen wurden.184 Überließ man die Griechen sich selbst, so überließ man sie zugleich ihren inneren Streitigkeiten; und dass diese wiederum nur allzu leicht Dritte auf den Plan riefen, wurde bereits erläutert. Attaliden, Rhodier und Achaier vermochten es nicht, das Machtvakuum zu füllen, zumal sie nicht Roms Unmut erregen durften. Dass der Senat kein monolithischer Block war und nobiles, die etwa als Gesandte im Osten tätig waren, daher offenbar mitunter ihre jeweils eigene Agenda verfolgt und mancherorts sogar Öl ins Feuer gegossen zu haben scheinen, verkomplizierte die Lage zusätzlich. Da in den Jahren zwischen dem Frieden von Apameia und dem Perseuskrieg die Kette der Gesandtschaften, die ihren Weg über die Adria fanden, nicht abriss,185 dürfte den meisten Senatoren recht bald bewusst geworden sein, dass das Experiment einer indirekten Hegemonie über Hellas zum Scheitern verdammt war. Ob er wollte oder nicht, wurde nun zudem der makedonische König zusehends in griechische Angelegenheiten verwickelt, da sich die Hoffnungen all jener, die die Dominanz der ‚Romfreunde‘ nicht hinzunehmen bereit waren, schier unausweichlich auf Perseus richten mussten,186 womit dieser nolens volens zur Bedrohung für die römische Stellung in Hellas wurde.187 Wenn man im Senat dennoch längere Zeit zögerte, die Situation durch eine weitere militärische Intervention zu bereinigen, so dürften hierbei jene eine zentrale Rolle gespielt haben, die das Equilibrium innerhalb der Nobilität gefährdet sahen, wenn man es ehrgeizigen Männern gestattete, den reichen Osten als Quelle für militärischen Ruhm und immense Reichtümer zu nutzen.188 182 Vgl. Rosenstein 2012: „In the patres’ view those whom Roman arms had defeated ought to remain properly submissive; gratitude should call forth an appropriate deference from those protected by Rome’s fides“ (211). 183 Pol. 24,9,2–8. Vgl. Engster 2014: 182–190. 184 Liv. 41,25,1–4. Es ist übrigens keineswegs ausgeschlossen, dass gerade demonstrative Romfeindschaft in dieser Zeit besonders geeignet war, um Anhänger zu mobilisieren und Gewalt zu legitimieren. 185 Vgl. Gruen 1984: 481–505. 186 ταῦτα δὲ ποιήσας πολλοὺς ἐμετεώρισε, δοκῶν καλὰς ἐλπίδας ὑποδεικνύναι πᾶσι τοῖς Ἕλλησιν ἐν αὑτῷ. ἐπέφαινε δὲ καὶ κατὰ τὴν ἐν τῷ λοιπῷ βίῳ προστασίαν τὸ τῆς βασιλείας ἀξίωμα; Pol. 18,45,5 f. 187 Vgl. zum Hintergrund und zur Vorgeschichte des Dritten Makedonischen Krieges Gruen 1984: 408–419 und 505–514, Rosenstein 2012: 212–218, Waterfield 2014: 165–197, Grainger 2017: 213–219 und Burton 2017: 78–122. 188 Gotter 2008b: 221 spricht von „increasingly remorseless competition“ nach dem Hannibalkrieg. Vgl. zu diesem Problem zuletzt Linke 2016: „Die Erfolge wurden immer größer und die Siege innerhalb kürzester Zeit im enormen Ausmaß errungen. Die serielle Anschlussfähigkeit für die Leistungsdemonstration anderer nobiles drohte verloren zu gehen […]. Gegen diese Tendenz wehrte sich die Nobilität mit innenpolitischen Prozessen und anderen öffentlichen Druckmitteln, die die Einfügung der herausragenden Individuen in die aristokratische Gemeinschaft erzwingen sollten“ (396). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wieso man ein militärisches Engagement im reichen griechischen Osten tunlichst zu vermeiden suchte, gerade weil zweifellos viele nobiles auf ein entsprechendes Kommando gehofft haben dürften.

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Gerade weil die Römer, der Freiheitserklärung von 196 zum Trotz, den Ägäisraum offenbar sehr wohl als ihr Herrschaftsgebiet betrachteten, war der Krieg gegen Perseus aber schließlich unausweichlich geworden: Der Senat musste demonstrieren, dass seine Unterstützung für Männer wie Kallikrates über bloße Lippenbekenntnisse hinausging. Damit war der Versuch, eine indirekte Hegemonie zu etablieren, bei der griechische φίλοι in den Poleis und koina dafür sorgten, dass Roms Wille geschah, ohne dass man zugleich nobiles Gelegenheit bot, durch militärische Operationen ein Übermaß an gloria zu gewinnen, an der chronischen Stasisanfälligkeit eben jener Eliten, auf die man sich hatte stützen wollen, gescheitert.189 Der Dritte Makedonische Krieg stellte daher den Versuch Roms dar, Hellas ein für alle Mal zu befrieden, ohne zu diesem Zweck zu einer direkten Herrschaft überzugehen. Die antigonidische Monarchie, die als alternatives Gravitationszentrum fungiert hatte, wurde deshalb folgerichtig beseitigt;190 in Städten wie Thisbe etablierte man unverhüllte Oligarchien;191 man gestattete ‚Romfreunden‘ vielerorts, grausam gegen ihre inneren Feinde vorzugehen;192 und schließlich ließ man Männer wie Kallikrates Listen mit den Namen all jener Aristokraten erstellen, die zwar nicht als Feinde Roms, wohl aber als potentielle Unruhestifter galten, und deportierte diese in großer Zahl nach Italien,193 wo man sie durchaus ehrenvoll behandelte. Worauf man allerdings erneut verzichtete, mutmaßlich aus ähnlichen Gründen wie 188, das war die dauerhafte Stationierung römischer Legionen in Hellas und Makedonien; offenbar sollten stattdessen Männer wie Charops in Epeiros sowie insbesondere der Achaiische Bund im Namen Roms für Gehorsam und Stabilität sorgen. Doch wenn dies die Hoffnung des Senats gewesen war, dann wurde sie sehr bald enttäuscht: Polybios macht deutlich, dass das hochmütige und teils überaus brutale Vorgehen der griechischen ‚Romfreunde‘ in den Jahren nach Pydna eine Stabilisierung der Situation eher behinderte als beförderte;194 und schließlich zeigten sich auch die achaiischen Eliten außerstande zu einer friedlichen Kooperation.195 Die Folge war, dass die entnervten Römer dem Koinon faktisch den Krieg erklärten, und die Katastrophe des anschließenden bellum Achaicum ging nicht zufällig noch einmal mit einer durchaus 189 Vgl. zur Spaltung der griechischen Oberschichten (principum diversa cerneres studia) im Vorfeld des Perseuskrieges auch den vermutlich auf Polybios zurückgehenden locus classicus Liv. 42,30,1–7 sowie 45,31,4. 190 Vgl. Will 1982: 279 f. und Derow 2003: 69. 191 Syll.3 646. Vgl. Gehrke 1993. 192 Das eindringlichste Beispiel ist hierbei sicherlich das Blutbad, das eine Parteiung um Lykiskos und Teisippos an weit über 500 aitolischen principes verübte, wobei sie von römischen Truppen unterstützt wurde, die offenbar dafür sorgten, dass niemand entkam; Liv. 45,28,7. Rosenstein 2012 spricht hinsichtlich des Verhaltens der Römer von „a new harshness“ (221). 193 Zon. 9,31; Pol. 30,29,2–7. Vgl. auch Daubner 2018: „Die Zahl der ohne Berücksichtigung der Makedonen und Epiroten aus Griechenland Deportierten war gewiß höher als die gemeinhin akzeptierte konservative Schätzung von 2000 Männern“ (31). 194 Bezeichnenderweise berichtet Polybios, erst nach dem Tod der prominentesten ‚Romfreunde‘ hätten sich in Griechenland die Verhältnisse beruhigt; neben Charops in Epeiros nennt er Lykiskos in Aitolien, Mnasippos in Boiotien und Chremas in Akarnanien; Pol. 32,5,1–4. 195 Vgl. Paus. 7,11,7–7,12,5. Vgl. zu den Kriegsursachen des bellum Achaicum Gruen 1976b, der meines Erachtens mit Recht auf die zentrale Bedeutung dieser Konflikte innerhalb der achaiischen Eliten hinweist.

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heftigen Eruption interner Gewalt einher.196 Erst jetzt biss man im Senat in den sauren Apfel und tat, was viele offensichtlich so gerne vermieden hätten.197 Makedonien wurde zu einer Provinz, und dem dortigen Statthalter, dem auch die Aufsicht über Hellas oblag, unterstellte man Truppenverbände, die dort gegebenenfalls rasch intervenieren konnten. Wenn die überaus lückenhafte Überlieferung nicht täuscht, trat damit tatsächlich eine gewisse Beruhigung ein, und die Situation begann sich jener anzunähern, die in Hinblick auf die Westgriechen schon lange zuvor erreicht worden war. Insbesondere das Agieren des proconsul Fabius Maximus in Dyme illustriert dabei eindrucksvoll, dass es Rom vor allem darum ging, eine Befriedung der Poleis zu erzwingen; wie die Städte im Inneren verfasst waren, war hingegen von untergeordneter Bedeutung, solange die öffentliche Sicherheit gewahrt blieb und Rom mit Gehorsam rechnen konnte.198 Ähnliches dürfte bald nach dem Ende des Attalidenreichs auch in Kleinasien eingetreten sein.199 Es spricht nichts gegen die Annahme, dass diese Unterdrückung der inneren Konflikte bis zur überraschenden Herausforderung durch Mithridates VI. alles in allem tatsächlich funktionierte.200 Doch nicht nur die römische Fehleinschätzung, die griechischen Eliten ohne die Bereitstellung einer plausiblen Drohkulisse befrieden zu können, sorgte für eine Verzögerung der Etablierung von Stabilität, sondern vielleicht auch ein kulturelles Missverständnis auf Seiten der Hellenen. Diese dürften vielfach damit überfordert gewesen sein, den Senat im Allgemeinen und die Verhaltensweisen der nobiles im Besonderen zu verstehen.201 Denn dass man mit dem Senat nicht wie mit einem hellenistischen König verhandeln konnte – was im Zweifelsfall recht unkompliziert war und erprobten Mustern gehorchte –, wird man rasch verstanden haben. Dass aber die im Senat versammelten römischen Aristokraten lange Zeit – mindestens bis zu den Gracchen, eher aber länger – nicht in einer Weise agierten,202 wie man es von einer Boule oder einer Bundesversammlung kannte, muss die Griechen, die an eine Politik gewöhnt waren, die wesentlich an sichtbaren Freund-Feind-Schemata ausgerichtet war, zutiefst verunsichert haben. Es fehlte an Berechenbarkeit. Ein gutes Beispiel hierfür ist Charops, der um das 196 Vgl. Kapitel 2.3.6. In gewisser Weise folgte das aussichtslose Aufbegehren der Achaier gegen die übermächtigen Römer dabei derselben Logik wie manch eine Stasis in einer Polis: Eine Unterwerfung wäre den Akteuren offenbar unerträglicher erschienen als der Tod. 197 Zu einer anderen Einschätzung gelangt Blösel 2015: „Für die Römer bedeutete die Provinzialisierung Griechenlands nur die konsequente Fortsetzung der Politik direkter Herrschaft, die sie in Norditalien und auf der Iberischen Halbinsel schon seit mehr als einem halben Jahrhundert praktiziert hatten“ (131). 198 Syll.3 684. Grundlegend hierzu ist Kallet-Marx 1995b; vgl. auch Kapitel 3.2.6. 199 Vgl. Will 1982: 419–425. Vgl. zum römischen Kleinasien nach 133 auch Mitchell 1999. 200 Dieses argumentum e silentio ist angesichts der Quellenlage natürlich problematisch. Wie das Beispiel der Stasis im lydischen Magnesia bezeugt, die offensichtlich unabhängig vom Mithridateskrieg ausgebrochen war, aber nur in diesem Zusammenhang ihren Weg in die Überlieferung fand (Plut. Mor. 809b–d), ist damit zu rechnen, dass es nach dem bellum Achaicum durchaus noch an mehreren Orten zu Bürgerzwist kam – vor allem natürlich dort, wo der römische Einfluss zu dieser Zeit eher schwach ausgeprägt war. 201 Vgl. auch Gotter 2008b, der hierfür insbesondere grundsätzlich verschiedene Konzepte von Macht und Herrschaft verantwortlich macht: „Misunderstandings and distortions were inevitable“ (204). 202 Vgl. zur Nobilität und ihrem Rollenverhalten die konzise Zusammenfassung Beck 2008.

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

Jahr 160 zu seiner offensichtlichen Überraschung feststellen musste, dass prominente nobiles wie Aemilius Paullus keineswegs bedingungslos hinter ihm standen, sondern sich der Linie des Senats, der mittlerweile der Herstellung von Ruhe in Griechenland Vorrang vor Loyalität eingeräumt hatte, anpassten.203 Und bereits einige Jahre zuvor war es Hagepolis und den übrigen Rhodiern offenbar ausgesprochen übel bekommen, der Aufforderung des Marcius Philippus, eine Versöhnung zwischen Rom und Perseus zu vermitteln,204 nachgekommen zu sein. Dies aber dürfte dazu geführt haben, dass es selbst nach dem bellum Achaicum nicht zu einer endgültigen Stabilisierung kam, denn für viele Hellenen wird der Senat einer Black Box geglichen haben, so dass seiner Politik stets etwas Unberechenbares anhaftete. Auseinandersetzungen innerhalb der Nobilität fanden weniger öffentlich statt als in Hellas; die Konstellationen, Machtverhältnisse und wechselnden Koalitionen waren von außen oft kaum zu durchschauen.205 Selbst jene Aristokraten, die mächtige Römer als amici oder Patrone gewinnen konnten,206 konnten daher nicht sicher sein, ob sich dies zuverlässig auszahlen würde, während all jene, die in ihren Poleis ins Hintertreffen geraten waren, hoffen konnten, dass sich das Blatt eines Tages wenden würde. Und dass es diese unzufriedenen Männer gab, ist evident. Denn wieviel Hass sich im Laufe der Zeit in den Städten aufstaute, illustriert das enorme Blutvergießen im Zusammenhang des Ersten Mithridateskrieges auf das Anschaulichste, als es in mehreren Poleis zu offenen Staseis kam und im Rahmen der Ephesischen Vesper zudem mutmaßlich auch Griechen getötet wurden,207 die die civitas Romana erworben hatten. Und während der römischen bella civilia, in denen es auf einmal wertlos war, ein φιλορώμαιος zu sein, weil nun ja Römer gegen Römer kämpften, kam es dann noch einmal zu einem regelrechten Flächenbrand.208 Und so schuf, wie bereits beschrieben,209 erst die Errichtung des augusteischen Prinzipats eine machtpolitisch so eindeutige Situation, dass eine weitreichende Befriedung der Griechen gelingen und zugleich die Aristokratisierung der Poleis vollendet werden konnte. Wem es gelang, als amicus Augusti zu gelten, und wer überdies darauf achtete, im Falle von Ereignissen, die in kaiserlichen Augen eine seditio waren, nicht den Anschein zu erwecken, an einer gewaltsamen Eskalation und an einer Störung der ἀσφάλεια be-

203 Als Charops, dessen Parteiung Epeiros zuvor über längere Zeit mit römischer Duldung dominiert hatte, in Rom vorstellig wurde, um die fortgesetzten Verfolgungen seiner Feinde und die kurz zuvor durchgeführten Proskriptionen zu rechtfertigen, wurde er von jenen Senatoren, die wenige Jahre zuvor noch hinter ihm gestanden hatten, nicht mehr vorgelassen; Pol. 32,6,2–7. 204 Pol. 28,17,4. 205 Ein wichtiger Punkt war in diesem Zusammenhang sicherlich, dass senatus consulta grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefasst wurden: εἰ γάρ τις τῶν μὴ βουλευόντων ἔνδον ἦν, οὐδεμία ψῆφος αὐτοῖς ἐδίδοτο; Cass. Dio 39,28,3. 206 Vgl. Quaß 1984 und Bloy 2012. 207 Diod. 37,26 f.; App. Mithr. 22 f. Vgl. zur Ephesischen Vesper und ihren Hintergründen auch die Diskussionen bei Amiotti 1980, Kallet-Marx 1995a: 138–148, Strobel 1996: 72–75, Thornton 1998b und Gotter 2013: 223–225. 208 Vgl. hierzu Börm 2016b sowie Kapitel 2.4.4. 209 Vgl. Kapitel 2.4.5.

4.3 Stasis und Hegemonie

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teiligt gewesen zu sein,210 der konnte darauf hoffen, seiner Familie dauerhaft einen Platz an der Spitze seiner Stadt zu sichern und vielleicht sogar in die Reichsaristokratie aufzusteigen.211 Die Furcht vor dem Zorn des princeps, für den die Wahrung des inneren Friedens ein zentrales Element seiner Herrschaftslegitimation war, war nun so groß, dass Streitigkeiten und Fehden nur noch ausnahmsweise gewaltsam eskalierten.212 Die Stasisfurcht in den Eliten blieb zwar bestehen, zumal sich die agonale Mentalität der Aristokraten allenfalls schleichend wandelte und das Konfliktpotential mithin erheblich blieb.213 Solange es aber hinsichtlich der Macht und der Absichten des Kaisers keine Zweifel gab, gab es für gewaltsamen Bürgerzwist im Imperium Romanum im Grunde keinen Raum mehr.214 Die Neigung der Poleis zur Stasis, deren wichtigste Voraussetzung allem Anschein nach in einer chronischen Anfälligkeit der griechischen Eliten für Misstrauen, Rangstreitigkeiten und öffentliche Ehrenhändel bestand,215 die sich aber oftmals mit anderen inneren und äußeren Konflikten verzahnten, hatte es Großmächten einerseits erleich210 Verwiesen sei hier nur auf die Ereignisse in Knidos und vor allem auf den Umgang des Kaisers mit ihnen (Syll.3 780; IK Knidos 34). Vgl. Kapitel 3.2.7. Man muss sich in diesem Zusammenhang vor Augen führen, wie gefürchtet römische Soldaten bei der Provinzbevölkerung, der sie oftmals wie Besatzungstruppen entgegentraten, waren; vgl. Knapp 2012: 238–244. Was geschah, wenn kaiserliche Truppen eingesetzt wurden, um in einer Polis für Ruhe und Ordnung zu sorgen, kann man sich daher leicht ausmalen, auch wenn derlei Aktionen vermutlich nur selten in einer so katastrophalen Weise eskalierten wie Caracallas Vorgehen in Alexandreia (Cass. Dio 78,22,1; vgl. Bérenger-Badel 2005) oder das Massaker von Thessaloniki im Jahr 389 (Soz. HE 7,25,4 f.); vgl. zu diesem Leppin 2003: 153–155. 211 Vgl. Sartre 2001: 365. Vgl. zu den Oberschichten in den kaiserzeitlichen Poleis Kleinasiens insgesamt Stephan 2002: 72–113. Wenn sich Plutarch über die Griechen seiner Zeit beklagt, die nicht damit zufrieden seien, lediglich einen Vorrang in ihren Poleis erlangt zu haben, sondern danach strebten, römischer Senator, Prätor oder gar Konsul zu werden, so dürfte er damit ein Phänomen beschreiben, das grundsätzlich bereits in augusteischer Zeit anzutreffen gewesen sein wird; Plut. Mor. 470c. 212 Für die Herrschaftszeit des Augustus selbst sind nicht nur in Knidos, sondern auch in Sparta, Kyrene, Tarsos und Athen Staseis bezeugt, auf die der princeps jeweils energisch reagiert zu haben scheint. In der Folgezeit werden die überlieferten Vorkommnisse dann immer seltener, wobei Lykien zunächst eine Ausnahme dargestellt haben dürfte – die dortigen Eliten zahlten für ihre Unfähigkeit zur Stasisvermeidung mit dem Verlust der nominellen Freiheit; vgl. Kolb 2002. Ein eindrücklicher Beleg für das harte Durchgreifen der römischen Autoritäten im Falle von Unruhen ist ein Erlass des proconsul Asiae aufgrund eines gewaltsam eskalierten ‚Bäckerstreiks‘ in Ephesos im 2. Jahrhundert; SEG 4,512. Auch die Niederschlagung der jüdischen Revolten illustriert die Härte, mit der die Kaiser auf seditiones reagieren konnten. Vgl. Chaniotis 2018: „As valid as the notion of pax Romana may be as a general characterisation of the early Imperial period, the Roman Empire was less homogeneous and pacified as encomiasts would allow“ (290). 213 Dion Chrys. or. 46,14. 214 Zumindest im frühen Prinzipat dürfte auch die Anlage mancher coloniae dem Zweck gedient haben, die direkte Kontrolle über den griechischen Osten und die Interventionsmöglichkeiten der römischen Autoritäten zu verbessern; vgl. Jones 1940: 62. Die Arsakiden, die einzige neben Rom verbliebene Großmacht, waren meines Erachtens nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen außerstande, rechts des Euphrat dauerhaft Einfluss zu nehmen, und kamen daher als machtpolitische Alternative in der Regel nicht in Frage; vgl. Börm 2019. Die Vorstöße, die man um 40 v. Chr. nach Kleinasien unternahm, blieben eine Ausnahme, die der besonderen Konstellation nach den Iden des März geschuldet war. 215 Die Bedeutung persönlicher Bindungen für die Parteibildungen sollte dabei nicht übersehen werden. Bereits Platon betonte, er sei über seine Verwandten und Freunde in die athenische Stasis von 403 verwickelt worden: τούτων δή τινες οἰκεῖοί τε ὄντες καὶ γνώριμοι ἐτύγχανον ἐμοί, καὶ δὴ καὶ παρεκάλουν εὐθὺς ὡς ἐπὶ προσήκοντα πράγματά με; Plat. epist. 324d.

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4. Die Stasis in der hellenistischen Geschichte

tert, unter Ausnutzung dieser strukturellen Schwäche Herrschaft über Hellenen zu erlangen, und bot ihnen immer wieder einen Hebel, um in Poleis intervenieren zu können. Teils mögen sie auch, wie im Fall von Eresos, die Furcht der Städte vor einer Rückkehr von Verbannten als Druckmittel eingesetzt haben.216 Doch andererseits verzögerte die nämliche Neigung auch die Aristokratisierung der Städte, die angesichts der wirtschaftlichen und politischen Übermacht der Eliten eigentlich bereits im frühen Hellenismus zu erwarten gewesen wäre, um zwei oder drei Jahrhunderte, und war überdies ein wichtiger Grund dafür, dass es den Diadochenreichen niemals, den Römern hingegen erst spät gelang, eine stabile Hegemonie im Ägäisraum zu etablieren. Dies gilt unabhängig von dem Umstand, dass die diskursive Überformung der Konflikte und die Versuche, das Narrativ zu kontrollieren, es in vielen Fällen unmöglich machen, die Frage zu beantworten, wann die Konflikte im Kern auf eine Fehde innerhalb der Elite zurückgingen, und wann es tatsächlich ursächlich um Verfassungsfragen oder um die sozioökonomischen Verhältnisse in einer Polis ging. Statt also eine bloße Randerscheinung oder ein Atavismus zu sein, war Stasis ganz im Gegenteil ein basso continuo der hellenistischen Geschichte, ein integraler Bestandteil, ohne dessen Analyse sich die Transformation der griechischen Welt zwischen Alexander und Augustus sowie die Mechanismen der römischen Expansion im Osten des Mittelmeerraums nur unvollkommen verstehen lassen.

216 Vgl. Kapitel 3.4.4. Es hat den Anschein, als hätten sich im 2. Jahrhundert auch die Achaier und Römer dieses Druckmittels bedient.

Il mondo fu sempre ad un modo abitato da uomini, che hanno avuto sempre le medesime passioni, e sempre fu chi serve e chi comanda, e chi serve mal volentieri, e chi serve volentieri, e chi si ribella ed è ripreso. Niccolò Machiavelli

5. Ausblick Wenn es kulturelle Eigentümlichkeiten waren, die wesentlich für die griechische Neigung zur Stasis verantwortlich waren, und wenn diese nicht auf den Hellenismus beschränkt waren, dann ist zu erwarten, dass diese grundsätzliche Disposition die Etablierung der römischen Alleinherrschaft vorerst überdauerte. In der Tat gibt es Indizien für die Annahme, dass die strukturell bedingte Neigung der Poleis zur Instabilität bestehen blieb und lediglich offene Ausbrüche zur Ausnahme wurden. Von Apollonios von Tyana wird, wie erwähnt, berichtet, er habe in Kleinasien im späteren 1. Jahrhundert n. Chr. mehrere Staseis beigelegt, bevor es zu einer Intervention des Statthalters kam.1 Für Unruhen in Antiocheia am Orontes hingegen soll der dortige legatus Augusti selbst verantwortlich gewesen sein,2 vermutlich gehörten diese Konflikte in den Zusammenhang des Machtkampfes zwischen Trajan und Nigrinus, ähnlich wie jene in Nikaia und Sardeis, von denen man dank Dion Chrysostomos weiß.3 Auch die alarmierte Reaktion des bithynischen Statthalters Plinius Secundus, als ihm um das Jahr 112 Unbekannte eine lange Liste mit den Namen angeblicher Christen zukommen ließen,4 sowie Trajans Anweisung, anonymen Anzeigen keinesfalls nachzugehen,5 dürften Hinweise darauf sein, dass die römischen Autoritäten auch in der Hohen Kaiserzeit um die Fragilität des Friedens und der öffentlichen Ordnung in grie1

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Philostr. Vit. Apoll. 1,15 und 4,8 f. Vgl. auch Magie 1950: 599 f. In Sardeis sollen dabei Getreidemangel und Teuerung den Anlass der Konflikte gebildet haben; unklar ist deshalb, ob es sich eher um eine Hungerrevolte als um eine Spaltung der Bürgerschaft gehandelt hat. In mehreren Briefen, die aber höchstwahrscheinlich nicht authentisch sind, mahnt der Philosoph die Bürger der Stadt zur Eintracht; epist. Apoll. 38–41, 56, 75 und 76; vgl. Penella 1975. Um 117 soll der Rhetor Polemos eine Stasis in Smyrna beigelegt haben; Philostr. Vit. Soph. 1,25,1. Ähnliches soll Demonax einige Jahre später in Athen gelungen sein; Luk. Demonax 64. Vgl. zu seditiones zwischen Augustus und Commodus Pekáry 1987. Philostr. Vit. Apoll. 6,38. Vgl. Alföldy – Halfmann 1973 und Eck 2002: 223 f. Plin. epist. 10,96,5 f. Plin. epist. 10,97,2.

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5. Ausblick

chischen Poleis wussten. Dass Plutarch die Verhinderung von Staseis als die Hauptaufgabe eines griechischen Politikers betrachtete,6 wurde hier bereits mehrfach betont; und noch im 3. Jahrhundert beklagte Dexippos Stasis als das größte Übel, das eine Stadt überhaupt befallen könne.7 Offenbar blieben also auch in der „aristokratisierten“ kaiserzeitlichen Polis interne Konflikte ein signifikantes Problem und eine gefürchtete Bedrohung, auch wenn sie nur noch ausnahmsweise gewaltsam eskalierten. Akzeptiert man dabei die Deutung, dass Staseis, weil es in ihnen letztlich um die Kontrolle des Gemeinwesens ging, zugleich auf etwas makabere Weise ein Indikator für die Relevanz und Vitalität der betroffenen Poleis waren, so deckt sich dies mit der Beobachtung, dass die griechischen Städte der Frühen und Hohen Kaiserzeit nach wie vor wenig an Bedeutung für den Alltag ihrer Bewohner verloren hatten.8 Dies wird nicht nur durch den fortdauernden und sogar noch zunehmenden aristokratischen Wettkampf im Rahmen des Euergetismus dokumentiert,9 sondern auch durch einen sehr ausgeprägten Polispatriotismus, der sich insbesondere in Kleinasien noch im späteren 3. Jahrhundert anhand der erbitterten Rangstreitigkeiten zwischen einzelnen Gemeinwesen gut beobachten lässt.10 Viele Städte genossen eine recht weitreichende Autonomie, prägten eigene Münzen, verwalteten einen Großteil ihrer Finanzen und regelten auch viele Rechtsfragen, die keine Kapitalanklagen waren, selbst; die Mitgliedschaft in der Boule brachte daher nicht nur erhebliches Prestige mit sich, mochte sie nun auch faktisch meist erblich sein, sondern auch realen Einfluss.11 Die kaiserzeitlichen Poleis waren für ihre Bürger noch immer der wichtigste soziale Bezugsrahmen, und daher ist die Vermutung, dass es in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten weiterhin häufig zu Kämpfen um die Kontrolle der Städte gekommen wäre, wenn es die äußeren Umstände denn gestattet hätten, wohl nicht allzu gewagt. Vor diesem Hintergrund wäre daher zu fragen, ob sich mit dem signifikanten Wandel, dem die Poleis in der Spätantike unterworfen waren,12 auch in Hinblick auf die Stasis ein Einschnitt verband. Die Städte verloren nun jedenfalls stark an Handlungsfreiheit, und viele büßten auch die Finanzautonomie weitgehend ein,13 während es zugleich seit den Severern von einer Ehre zu einer wachsenden Last wurde, dem Rat anzugehö6 7

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Plut. Mor. 824c–e. ὅτι ἰσχυρότατον στάσις ταράξαι εὐεξίαν καὶ εὐταξίαν φθεῖραι πόλεώς τε καὶ στρατοπέδων; BNJ 100 F 32 f. Beachtung verdient auch die (nicht unproblematische) Erzählung, um 253 habe ein Aristokrat namens Mareades Antiocheia am Orontes an die Sasaniden verraten, nachdem man ihn aus der Boule verstoßen hatte; Mal. 12,26 (siehe auch Amm. 23,5,3). Vgl. hierzu Hartmann 2006. Vgl. zu den kaiserzeitlichen Poleis auch die knappe Skizze Cabanes 2001: 321–330 (mit weiterer Literatur). Vgl. Stephan 2002: „Wer zu den Ersten der Stadt gehören wollte, mußte durch demonstrative Großzügigkeit glänzen“ (113). Vgl. auch die Skizze bei Jones 1940: 58–84. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel aus Perge (SEG 34,1306), das in die Zeit des Kaisers Tacitus gehört, diskutiert Weiß 1991. Vgl. auch Nollé 1993: 310–317. Vgl. Sartre 2001: 355–371. Grundlegend zur spätantiken Stadt ist Liebeschuetz 2001, der aber teils kontroverse Positionen vertritt. Unter Constantius II. war den Städten die Kontrolle ihrer eigenen Einkünfte entzogen und der res privata übertragen worden; nach 374 gestattete man immerhin, dass sie ein Drittel ihrer Einnahmen zurückerhalten sollten; vgl. Haldon 1997: 86 und Liebeschuetz 2001: 175–178.

5. Ausblick

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ren.14 Zugleich boten sich für jene, die sie ergreifen konnten, nun mehr denn je Alternativen zur Fokussierung auf die Polis. Denn die von Diokletian begründete und rasch expandierende militia officialis bot Angehörigen der städtischen Eliten in viel größerem Umfang als zuvor Aussichten auf eine Laufbahn in kaiserlichen Diensten und auf den Aufstieg in die Reichsaristokratie, und seit Konstantin I. trat zunehmend auch die Kirche als eine alternative Karrieremöglichkeit in Erscheinung.15 All dies dürfte vielerorts zu einer langsamen Erosion der Bedeutung, die sich die Polis als Bühne und politischer Kampfplatz bis dahin bewahrt hatte,16 geführt haben. Indem daher die lokalen Gemeinden – mit Ausnahmen von Metropolen wie Antiocheia17 – ihre Relevanz als Betätigungsfeld teilweise einbüßten und gewissermaßen umgangen werden konnten,18 dürfte aber auch der Siegespreis einer jeden Stasis, die Kontrolle über die Polis, an Attraktivität verloren haben. Es war nun einfach nicht mehr so ungemein wichtig, wer auf lokaler Ebene das Sagen hatte, denn mehr denn je konnte man seinen Rivalen ausweichen.19 Spätestens in justinianischer Zeit begann sogar die uralte Sitte, sich nach der πατρίς zu benennen, langsam außer Gebrauch zu geraten: Traditionalisten wie Prokopios von Kaisareia oder Agathias von Myrina hielten zwar an ihr fest, doch einflussreiche Männer wie Johannes „der Lyder“ oder Johannes „der Kappadoker“ hatten sie offenbar bereits aufgegeben. In den meisten Städten scheint im Verlauf der Spätantike derweil ein sehr kleiner Kreis reichsweit vernetzter Aristokraten als potentes die Kontrolle übernommen zu haben,20 während die Räte ihre Bedeutung mehr und mehr verloren und vielerorts bereits vor der Islamischen Expansion verschwunden zu sein scheinen.21 Verschwand damit aber zugleich auch die Stasis, oder suchten sich die Elitenkonflikte nun andere Wege an die Oberfläche? Kam es zu einer Fortsetzung des Phänomens in anderer Gestalt? Wurden zum Beispiel dogmatische Auseinandersetzungen innerhalb des Christentums, die nicht selten blutig eskalierten, nun herangezogen, um viel basale14 15

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Cod. Theod. 12,1,1; Nov. Iust. 50,4,3,15. Bereits die Constitutio Antoniniana von 212 mag hier eine Rolle gespielt haben. Vgl. Krause 2006: „Der Aufstieg von Curialen in die Reichsaristokratie und in den Klerus schwächte allerdings auf lange Sicht die personelle Substanz der Curien. Denn hierdurch verloren diese gerade ihre reichsten Mitglieder“ (448). Vgl. auch Jones 1940: 85 f., Liebeschuetz 2001: 104–124, Cameron 2012: 146–167 und Mitchell 2015: 193 f. Vgl. die Überlegungen bei Ziegler 1995, der die fortbestehenden Rivalitäten innerhalb der Oberschichten der kaiserzeitlichen Poleis betont. Noch Libanios preist das Prestige und die Bedeutung der Boule von Antiocheia; seine Rhetorik mutet dabei – etwa wenn er betont, wie sehr die im Rat versammelte Elite um die Übernahme von Leiturgien wetteifere – ungemein hellenistisch an; Liban. or. 11,133–137. Damit ist nicht gesagt, dass die spätantiken Poleis in dieser Hinsicht vollständig unwichtig geworden wären. Für das langsame Verschwinden des kaiserzeitlichen Euergetismus mag es durchaus auch andere Ursachen – insbesondere die Christianisierung, durch die die entsprechenden Anstrengungen auf andere Felder als zuvor gelenkt wurden – gegeben haben. Bereits seit der Hohen Kaiserzeit war die räumliche Mobilität der Eliten erheblich gestiegen; vgl. Moatti 2014: 147–151. Vgl. zur Aristokratie des spätantiken griechischen Ostens auch Heather 1994. Es versteht sich, dass dies nicht der Ort sein kann, näher auf die intensive Diskussion über den Charakter der spätantiken Städte zwischen Transformation und Niedergang einzugehen. Sicher ist nur, dass auch hier, ähnlich wie im Hellenismus, mit erheblichen regionalen Unterschieden zu rechnen ist.

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5. Ausblick

re Konflikte und Fehden äußerlich zu legitimieren oder diskursiv fassbar zu machen?22 Zu überlegen wäre auch, ob die Christianisierung des Kaisertums die Durchsetzung der pax Augusta in den Poleis behinderte, da es den Herrschern nun schwerer fiel, eine plausible Drohkulisse aufrechtzuerhalten, weil der Einsatz von Gewalt insgesamt, vor allem aber gegenüber Christen noch problematischer war als zuvor und man den Augusti überdies vorwerfen konnte, sie ergriffen Partei in den religiösen Konflikten. Diese Frage ist hier nicht zu klären; die Voraussetzung dafür, eine Kontinuität zwischen religiösem Streit und Stasis zu vermuten, wäre jedenfalls nicht zuletzt eine Klärung des sozialen Hintergrundes der wesentlichen Protagonisten. Ähnliches gilt auch für die zweite große Form innerstädtischer Gewalt in der Spätantike, die Circusunruhen: Zu fragen wäre hier, ob man es mit Stasismustern zu tun hat, sobald sich die Konflikte auf das strikt dualistische Muster „Grün gegen Blau“ verengt hatten – gleichsam wie eine Stasis in Reinform, die auf weitere Legitimierungen des Konfliktes verzichtete.23 Auch in diesem Fall wäre allerdings zunächst zu prüfen, ob es die Quellen gestatten, eine Verbindung zwischen aristokratischen Rivalitäten und den Auseinandersetzungen herzustellen. Es versteht sich, dass das komplexe Problem der Circusparteien hier daher ebensowenig eine angemessene Behandlung erfahren kann wie das der religiösen Gewalt in der Spätantike.24 Unabhängig davon aber, welche Realitäten man hinter den Schilderungen der spätantiken Quellen verborgen sieht, ist eines festzuhalten: Der klassische und hellenistische Stasisdiskurs hatte deutliche Spuren in der Art und Weise hinterlassen, wie man in griechischer Sprache über innerstädtische Gewalt schrieb und dachte. Indem sich ein Kirchenhistoriker wie Sozomenos entschied, religiös begründete Auseinandersetzungen als στάσις zu bezeichnen,25 übernahm er damit nicht weniger Assoziationen und eine bestimmte Konzeptualisierung der Ereignisse als Prokopios, der den Ausdruck auf den Nika-Aufstand von 532 anwandte26 und sich im Folgenden altbewährter Topoi, darunter die Bezichtigung der νέοι und der Vergleich mit einer Krankheit, bediente.27

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Die grundlegende Studie zu Gewalt und religiösem Konflikt im spätantiken griechischen Osten ist Hahn 2004, dessen Kernthese lautet, die dogmatischen Kontroversen hätten in der Regel keine primäre Rolle für den Ausbruch von Gewalt gespielt. Vgl. zur religiösen Gewalt daneben auch Gaddis 2005. μάχονται δὲ πρὸς τοὺς ἀντικαθισταμένους, οὔτε εἰδότες ὅτου αὐτοῖς ἕνεκα ὁ κίνδυνός ἐστιν, ἐξεπιστάμενοί τε ὡς, ἢν καὶ περιέσωνται τῶν δυσμενῶν τῇ μάχῃ, λελείψεται αὐτοῖς ἀπαχθῆναι μὲν αὐτίκα ἐς τὸ δεσμωτήριον, αἰκιζομένοις δὲ τὰ ἔσχατα εἶτα ἀπολωλέναι; Prok. Hist. 1,24,3. Grundlegend ist nach wie vor Cameron 1976, dessen Position, es habe sich bei den Demen im Grunde um unpolitische Hooligans gehandelt, bis heute die communis opinio bestimmt. Vgl. auch Whitby 1999 sowie zuletzt Bell 2016 (mit weiterer Literatur), der die Ansicht vertritt, die Circusparteien hätten normalerweise der Kanalisierung und Kontrolle von Gewaltpotentialen gedient und also insgesamt eher befriedend als destabilisierend gewirkt. Vgl. etwa Soz. HE 2,20; 2,31; 3,7. ὑπὸ δὲ τοὺς αὐτοὺς χρόνους ἐν Βυζαντίῳ στάσις τῷ δήμῳ ἐκ τοῦ ἀπροσδοκήτου ἐνέπεσεν, ἣ μεγίστη τε παρὰ δόξαν ἐγένετο καὶ ἐς κακὸν μέγα τῷ τε δήμῳ καὶ τῇ βουλῇ ἐτελεύτησε τρόπῳ τοιῷδε; Prok. Hist. 1,24,1. Vgl. zur Wahrnehmung von Circusunruhen als στάσις auch Pol. Scient. 5,103–106. Prok. Hist. 1,24,6. Prokopios spricht in diesem Zusammenhang allerdings ähnlich wie Polybios (Pol. 1,81,7) von einer Krankheit des Geistes (ψυχῆς νόσημα), nicht der Polis. Vgl. zum Nika-Aufstand Greatrex 1997 und Leppin 2011: 142–148.

5. Ausblick

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Man kann sich durchaus darüber streiten, ob eine kulturell bedingt gesteigerte Neigung griechischer Gesellschaften zu Polarisierung und Desintegration tatsächlich ein Charakteristikum der Poliswelt war,28 das im Laufe der Jahrhunderte unter jeweils gewandelten historischen Bedingungen lediglich unterschiedliche Gestalt annahm, und ob diese ‚Kultur des Bürgerkrieges‘ letztlich vielleicht sogar das Ende der Polis und der Antike überdauerte.29 So ist nicht zu bestreiten, dass es auch in ganz anderen historischen Kontexten, etwa in den norditalienischen Stadtstaaten des Spätmittelalters und der Renaissance,30 zu einer auffälligen Häufung von Bürgerzwist kam. Zu überlegen wäre, ob es zumindest in einem vormodernen Kontext einen grundsätzlichen Zusammenhang gibt zwischen einer gesteigerten Neigung zu interner Gewalt und der Existenz einer Elite, die keinen geschlossenen, erblichen Stand darstellt. Daran aber, dass die spezifisch hellenische Diskursivierung und Konzeptualisierung interner Konflikte insbesondere dank Thukydides, Aristoteles, Polybios und Plutarch – und dank ihrer Rezeption in Rom und in der Renaissance – tiefe Spuren in der europäischen Geistesgeschichte hinterlassen hat, besteht kein Zweifel.

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Die Mechanismen, die zur Parteibildung und zur Eskalation von Auseinandersetzungen zwischen Gruppen führen können, sind insbesondere von der soziologischen und psychologischen Konfliktforschung seit Jahrzehnten untersucht worden – besonders eindrucksvoll ist etwa das berühmte Robbers Cave Experiment; vgl. Sherif 1961. Die Frage, inwieweit Stasis eine spezifisch griechische Spielart von Bürgerzwist war, lässt sich auf Basis unserer Quellen kaum abschließend beantworten. Für die vorliegende Untersuchung ist dieses Problem allerdings auch von untergeordneter Bedeutung, denn für die Analyse der Bedeutung von Staseis für die hellenistische Geschichte ist entscheidend, dass das Phänomen sowohl in der politischen Realität als auch im öffentlichen Diskurs omnipräsent war und wesentlich, wenngleich nicht ausschließlich, auf eine strukturelle Neigung zu Konflikten zurückgeführt werden kann, die sich nur mit Mühe beherrschen ließ. An diesem Befund würde sich auch dann nichts ändern, wenn sich in anderen urbanen Zivilisationen vergleichbare Erscheinungen finden ließen. Waley 1969. Konflikte zwischen „Guelfen“ und „Ghibellinen“ erinnern durchaus an jene zwischen „Romfreunden“ und „Romfeinden“; vgl. Cardini 1989a und 1989b.

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Indizes Personen Abantidas 67 Aemilius Paullus 114, 115, 116, 118 f., 121, 153, 304 Aeneias 274 Agathagetos 112, 113 Agathokles 47–52, 57, 62, 86, 167, 169, 197, 250, 256, 290, 299 Agesilaos 74–76, 165, 213 Agesimenes 261 Agiatis 76 Agis IV. 73–76, 101, 165, 213, 276 Agonippos 259–268 Aischrion 108 Aischylos (Argos) 70 Aischylos (Tragiker) 173 Akestorides 48 Alexander (Sohn Polyperchons) 43, 46 Alexander III. 23, 28, 38–41, 56, 94, 173, 200–204, 225, 259–266, 274, 282, 299 Alexandros (Aitolia) 104 Alexandros (Rhodos) 151 Alkamenes 125 Alketas 43, 218 Ameinias 55 Anaxagoras 39 Andranodoros 86 f. Andriskos 126 Andronidas 120, 127 Antandros 50 Antigonos I. Monophthalmos 39, 43, 46, 53, 173 f., 183, 186, 213, 218, 227, 259, 262, 266, 287, 299 Antigonos II. Gonatas 53, 61, 63, 66, 67, 69, 210 Antigonos III. Doson 71, 78 Antinoos 117 f. Antiochos I. 60, 174

Antiochos III. 82, 95–99, 103, 111, 175 f., 179, 289, 300 Antiochos IV. 122, 149, 152 Antiochos VII. 130 Antipater 43, 44, 45, 287 Antiphilos 94 Antonius 154, 155, 157, 158, 159 Apelichos 210, 213 Apellichos 191 Apellikon 136, 139 Apollodoros (Athen, 4. Jh.) 55 Apollodoros (Athen, 2. Jh.) 96 Apollodoros (Eresos) 260–265 Apollodoros (Kassandreia) 60 f. Apollonidas (Achaia) 109 Apollonidas (Sparta) 102 Apollonides (Argos) 46 Apollonides (Chios) 40, 264 Apollonides (Syrakus) 87 Apollonios (Tyana) 161, 307 Apollonios (Zenodotion) 149 Appian 12, 30, 58, 59, 84, 88, 89 f., 105, 114, 118, 133, 136, 137, 139, 141, 146, 147, 148, 150–156, 276 Aratos 65–72, 78 f., 80, 82 f., 202, 278, 298 Archelaos (Pontos) 136 f., 139, 143, 145 Archelaos (Rhodos) 151 f. Archidamos 76 Archikrates 125 Archon 109 Aretaphila 132 f. Areus 63 Argaios 206 Aristagoras 184 f., 187 Aristarchos (Phokaia) 97

354 Aristarchos (Tarent) 60 Aristeas 63 Aristeides 31, 180 Aristion 12, 136–140 Aristippos (Argos 272) 63 Aristippos (Bruder des Aristomachos) 70 f. Aristodemos (Eretria) 53 Aristodemos (Megalopolis) 66, 256 Aristogeiton 242, 256, 258 Aristolaos 209 f., 212 Aristomachos (Kroton) 85 Aristomachos der Ältere (Argos) 68, 70 Aristomachos der Jüngere (Argos) 71 Aristomelidas 71 Aristomenes 184, 187 Ariston 109 Aristonikos 128 Aristoteles (Philosoph) 17, 23, 24, 74, 82, 153, 160, 164, 233, 236, 287, 311 Aristoteles (Sikyon) 67 Aristothemis 185, 187 Aristotimos 63–65, 297 Arkesilaos 109 Arrian 38, 39, 40, 203, 265 Artabanos II. 149, 159 Artemidoros 174 Asinius Gallus 223, 225 Astymedes 112, 117 Athenagoras 40, 264 Athenaios 40, 42, 53, 135–137, 138–141, 148 Athenion 12, 135–140, 294 Attalos (Syrakus) 87 Attalos II. 125, 199 Attikos 191 Augustus 28, 150, 156, 157–160, 199, 222–226, 274, 280, 305, 307 Blatios 89–91, 274 Boethos 154, 157 Brachyllas 94, 98 Brasidas 158, 159 Brutus 151 f., 154 f. Bulagoras 197 Bulon 97 Caecilius Metellus (2. Jh.) 126, 127 Caecilius Metellus (1. Jh.) 148 Caesar 133, 150, 154, 156, 157 Cassius 151–154 Cassius Dio 59, 61, 65, 148, 149, 151, 154, 155, 160, 162 Cato 117, 126

Indizes Chairemon 11, 28 Chairon (Pellene) 38 Chairon (Sparta) 101 f. Charianthos 174 Charias 54–57 Charidemos 242 Charikles 44 Charimenes 70 Chariolaos 41 Charops 111, 118 f., 121 f., 158, 293, 302, 303 f. Cheilon 82 Chilon 64 Chremas 108, 119, 123, 302 Cicero 68 f., 74, 101, 129, 131, 136, 147, 156, 171, 198 Claudius (Kaiser) 162 Claudius Aelianus 156 Claudius Marcellus 87, 88, 89 Claudius Pulcher, Appius 100, 107, 120 Claudius Pulcher, Gaius 131 Cornelius Nepos 44 Curtius Rufus 40, 200, 202, 203, 261 Damarata 86 Damasippos 126 Damokritos (Achaia) 125 f., 127 Damokritos (Herakleia) 97 Damon 11, 142–145 Daphnon 206 Dareios III. 39 Dasios 89–91 Deinias 67 Deinokrates 50, 52 Deinomenes 86 Deinon 112–116, 119 Demarchos 205 f., 208 Demetrios (Ephesos) 161 Demetrios (Phaleron) 44, 46, 57, 233, 286 Demetrios (Pharos) 83 Demetrios I. Poliorketes 53, 54, 55, 56, 57, 95, 126, 151, 183, 186, 227, 289 Demochares 287 Demokrit 37 Demonax 307 Demophanes 66 Demophantos 228, 242, 243 Demopheles 206 Demophilos 44 Demosthenes 209, 242, 244 Diaios (Achaia) 124–127 Diës 135, 139

Personen Dikaiarchos 94 Diketas 110 Diodor (Historiker) 37, 39, 42–52, 53, 57 f., 60 f., 62, 65, 128, 129 f., 141, 149, 169, 194, 197, 209, 228, 242, 250, 283, 287, 298 Diodoros (Adramytteion) 11, 141 f. Diodoros (Ephesos) 39 Diogenes (Akarnanien) 108 Diogenes (Mytilene) 40, 200, 203 Diokles (Aitoler) 96 Diokles (Syrakus) 48 Diomedon 112 Dion (Prusa) 73, 154, 161, 162, 273, 305, 307 Dionysios (Halikarnassos) 41, 59 Dionysios (Herakleia) 39 Dionysios (Knidos) 223 Dionysios (Segesta) 191 Dolabella 153 f. Dorimachos 104 Duris 42, 50, 53 Ekdelos 66, 68 Epicharis 206 Epigonos 11 Epikrates 141 Epikydes 86–88 Euagoras 125 Eubulides 95 Eubulos 223–225 Eudemos 99 Eukleidas 77 Eukrates 241 Eumedes 175 Eumenes I. 227 Eumenes II. 100, 109, 112, 115, 122, 123 Eunus 129 f. Euphron 168 Eupolemos 104 f. Eurydamidas 76 Eurykleidas 76 Eurykles 157 f., 162 Eurylochos 85 f. Eurysilaos 259–267 Euthydemos 155 Euthymides 95, 96 Fabius Maximus 219–222, 303 Flamininus 92, 94–96, 98, 103, 300 Gelias 97 Genthios 115, 118 Glaukos 108 Gyridas 81

355

Hagepolis (Rhodos) 114–116, 304 Hagesilochos 112, 113, 115 Hagnonides 44 Hannibal 83–90, 274, 292, 299 Hanno 85 Harmodios 242, 256, 258 Hegesias 39 Hegias 97 Hellanikos 64 Herakleides (Syrakus) 48, 51 Herakleides (Tarent) 89 Hermeias 11, 145 f. Hermesides 261 Hermippos 206 Hermon 260, 263–266 Herodoros 56 Herodot 14, 47, 75, 173, 265, 290 Herokrates 180 Hieron (Dikaia) 206 Hieron (Priene) 53, 232, 233 Hieron (Syrakus) 62, 87 Hieronymos (Syrakus) 85 f. Hiketas 62 Himeros 130 Hipparchos 258, 277 Hippias 110 Hippokrates (Syrakus) 86–88 Hippokritos 112 Hippomedon 74 Hiraios 260, 263, 265, 266 Hiroidas 261 Hybreas 155 Iambulos 194 Iseas 60 Ismenias 109 f. Isokrates 37 Justin 51, 64, 93, 130, 148 Kalbia 132 Kallias 57, 287 Kallikrates 92, 102 f., 107, 119, 120, 123, 125, 293, 301 f. Kallimedon 44 Kalliphon (3. Jh.) 55 Kalliphon (1. Jh.) 137 Kassander 45–47, 55, 173, 187, 287, 296 Kassandros (Maroneia) 100 Kassandros (Phokaia) 97 Kephalos 112, 118 Kephisodoros 206 Kerkidas 164

356 Kineas 60, 84 Kleinias 66 f. Kleisthenes 192, 281 Kleisimbrotidas 185, 187 Kleitos 44 Kleombrotos 75 f. Kleomenes III. 71, 76–79, 80, 82 Kleomenes IV. 82 Kleon (Aigina) 175 Kleon (Sikyon) 66 f. Kleonymos 63, 209 f. Kodros 39 Kononeus 88 Kratippos 11, 141 Kretinas 11, 145 f. Kritolaos 124–127 Kyllanios 219, 221 Kylon 64 Labienus 155 f. Lachares (Athen) 54–57, 140, 167 Lachares (Sparta) 157 f. Lagios 127 Lakon 159 Lamachos 147 Lampis 64 f. Leandros 11, 132 f. Leon (Athen) 96 Leon (Byzantion) 40 Leonidas II. 74–76 Livius 41, 78, 83–91, 93–98, 100 f., 103, 104 f., 107, 108, 109, 110, 113, 115 f., 117, 120, 150, 168, 226, 276, 277 Lucretius Gallus 110 Lucullus 133, 141, 143, 145 Lykios 204 f., 208 Lykiskos 105, 108, 119, 123, 302 Lykopos 122 Lykortas 109, 123 Lykurg (Athen) 23, 227, 243 Lykurg (Sparta) 82 Lysandros (Athen) 55 Lysandros (Sparta) 74–76 Lysanias 99 Lysias 148, 154 Lysimachos 53, 248–254, 257 Machanidas 91 Mandrokleidas 74 Manesas 272 Marcius Philippus 114 f., 304 Mareades 308

Indizes Medeios 134, 135, 137, 138, 139 Megisto 65 Meidias 137 Menedemos (Eretria) 53 Menedemos (Kroton) 51 Menoitios 101 Meton 59 Mikka 64 Mikythion 95 Milon 210, 213 Mithridates VI. Eupator 27, 28, 133–149, 152, 153, 163, 274, 294, 303, 304 Mnaseas 151 Mnasippos 119, 123, 302 Molpagoras 92 Mummius 24, 128, 293 Nabis 82, 91 f., 103, 136 Nearchos 72, 78 Neon 94, 110, 119 Nerva (Kaiser) 162 Nikagoras (Telos) 185, 187 Nikagoras (Zeleia) 40 Nikias (Engyon) 89 Nikias (Kos) 156 f. Nikokles (Athen) 44, 54 Nikokles (Sikyon) 66–68, 298 Nikokrates 131 f. Nikomedes 287 Nikon 88 f. Nymphios 41 Nymphodoros 52 Octavian siehe Augustus Olympichos 110, 293 Orestas 97 Orthubala 105 Panaitios 69, 74, 101, 212, 282 Panares 148 Pantaleon 108 Pardalas 160 Paron 51 Paseas 67 Paulus 161 Pausanias 23, 24, 53, 54, 55, 56, 57, 63, 69, 71, 76, 78, 99, 103, 120, 124, 126, 128, 129, 134, 136, 146, 171, 210, 232, 235, 293 Peisarchos 48 Peisistratos 94, 98 Perdikkas III. 204, 207, 209 Periander 67 Perikles 281

Personen Perseus 105, 107, 110, 112, 113, 114 f., 118, 139, 301, 304 Phaidimos 132 f. Phaleas 164 Pharnabazos 40, 203 Phileas 88 Philemenos 88, 89 Philiades 263 Philinos (Achaia) 127 Philinos (Knidos) 223–225 Philippides 287 Philipp II. 38, 204, 209, 262 f., 265, 282 Philipp III. 262, 266 Philipp V. 26, 82 f., 89, 91, 93 f., 96, 100, 103, 210, 221, 236, 242 f., 295, 300 Philites 254–258 Philocharis 58 f. Philodemos 64 Philokles 177 Philon (Achaia) 127 Philon (Amphipolis) 14, 209 Philon (Chalkis) 95 Philonides 59 Philophron 112, 113 Philtylios 185, 187 Phintias 61 Phoibis 76 Phokion 43–45, 55, 242 Phormiskos 220 f. Platon 35, 37, 305 Plinius 307 Plutarch 11, 27, 44, 45, 54, 59, 61, 62, 63, 64 f., 66–68, 70, 74–78, 82 f., 89, 98, 99, 103, 131–133, 136 f., 141, 142–146, 149, 157 f., 160, 165, 168, 171, 177, 198, 224, 232, 242, 276, 280, 283, 298, 305, 308 Polemos 307 Polyainos 39, 54, 56, 62, 122 Polyaratos 112 f., 119 Polybios 29, 56, 59,60,62, 66, 70, 72 f., 77, 78, 79–83, 85, 88, 89, 92, 93, 96, 97 f., 99–104, 107–110, 112–117, 119–122, 123, 124, 125, 126 f., 129, 166, 171, 239, 240, 241, 276, 283, 285, 297, 302, 310 Polyperchon 44, 45, 47,94, 262, 287, 296 Popilius Laenas 152 Poseidonios 42, 89, 129 f., 135, 138, 140, 280 Proandros 108 Prokopios 309, 310 Proxenos 104 f.

357

Prusias 115, 122 Prytanis 80 Ptolemaios I. 42, 46, 174, 175, 187, 183, 215, 227, 288 Ptolemaios II. 65, 66, 67, 69, 186, 215 Ptolemaios IV. 93, 188 Ptolemaios VI. 122 Ptolemaios VIII. 122, 126 Pyrrhos 58–63, 84, 88, 210, 292, 299, 300 Pythodoros (Magnesia) 176 Pythodoros (Nysa) 11 Pythokles 44 Python 40 Rhodon 97 Rhodophon 112 Scipio Aemilianus 126, 128, 129 Scipio Africanus 85, 111 Serippos 101 Skopas 104 Solon 214, 281 Sopatros 86 Sosikrates 127 Sosis 86 Sosos 219–221 Sostratos (4. Jh.) 48 Sostratos (3. Jh.) 62 Sotas 60 Sozomenos 310 Stephanos 156 Strabon 11, 30, 89, 133, 140, 141, 150, 153, 154, 155, 156, 157 f., 215, 228, 233, 239 Stratios 109, 125, 126 Stratokles (Amphipolis) 14, 209 Stratokles (Athen) 55 Stratokles (Rhodos) 112, 113 Stratonidas 94 Sulla 12, 27, 121, 133, 136, 137, 139, 144, 147, 152 Sulpicius Gallus 123 Syrphax 39 Teles 283 Tenoklides 95 Tertikon 261 Thais 58 f. Theaidetos 112, 115 Themistos 86 f. Theodektes 125 Theodotos (Passaron) 117 Theodotos (Syrakus) 86 Theomnestos 156 Therykion 76

358

Indizes

Thibron 42 Thoas 103, 119 Thoinon 62 Thrason 86, 87 Thrasybulos 65 Thrasykles 97 Thukydides 15, 16, 18, 20, 49, 121, 126, 228, 233, 248, 258, 277, 311 Tiberius (Kaiser) 159, 164 Timokleidas 66, 67 Timolaos 42 Timotheos (Dyme) 220 f. Timotheos (Herakleia) 39 Tragiskos 88 Trajan (Kaiser) 159, 161, 307 Tryphera 223–225 Tryphon 130 f. Tyron 174

Tyrrhenos 160 Veranius Philagrus 225 Xenodokos 52 Xenokles 141 Xenokrates 211 Xenon (Achaia) 109 Xenon (Patrai) 120 Xenophon (Alipheira) 211 Xenophon (Dikaia) 205 f. Xenophon (Historiker) 44, 55, 75, 168, 201, 216, 287 Zenon (Demetrias) 95 Zenon (Laodikeia) 155 Zeuxippos 95, 98 Zeuxis 92, 176 Zoilos 255–258 Zoippos 86

Sachen und Orte Achaiischer Bund 26, 60, 69, 70, 71, 72, 78 f., 80 f., 92, 96, 98, 101, 102, 109, 113, 120, 122–128, 164, 167, 171, 219, 221, 222, 302 Achaiischer Krieg 122–128, 147, 181, 198, 219, 275, 294, 302 f. Achaimeniden 38, 39, 202, 203, 262, 264, 288 Adramytteion 11, 141 f. Agora 63, 64, 65, 67, 70, 75, 82, 142, 168, 255 Aigina 109, 175 Aigion 125 Ainos 99 f., 240, 297 Aitolischer Bund 64, 67, 76, 78, 79, 81, 93, 95–97, 101, 104 f., 107, 108, 118 f., 123, 227 Akragas 50, 52, 61, 62, 65, 129 Akropolis 47, 54, 55, 56, 79, 85, 89, 137, 185, 202, 260, 265 Alexandreia (Ägypten) 69, 78, 119, 161, 305 Alexandreia Troas 177 Alipheira 209–214, 226, 270, 278 Amnesie 31, 210 Amnestie 30, 45, 51, 78, 144, 183, 187, 203, 204–209, 212, 252 Amphipolis 14, 209 Andros 172 Antigoniden 26, 28, 39, 42, 43, 46, 55, 57, 63, 64, 65, 68, 69, 71, 78, 80, 93 f., 95, 100, 109, 110, 113, 115, 123, 174, 175, 183, 186, 187, 190, 195, 218,

221, 227, 236, 249, 250, 262, 270, 287, 293, 297, 300, 302 Antiocheia (Mäander) 176 Antiocheia (Orontes) 148, 162 Antiochoskrieg 26, 95–99, 103, 164, 179, 300 Anymone 64, 232 Apameia 98, 129, 295 Aphrodisias 156 Apollonia 52 Argeaden 204, 205, 264 f., 299 Argos 45, 46, 63, 70 f., 92, 93 f., 121, 124 Aristokratie 16, 19, 21, 23, 24, 25, 32, 36, 41, 53, 59, 64, 66, 85, 86, 88, 89, 91, 111, 118, 123, 125, 132, 139, 144, 145, 165, 167, 169 f., 188, 190, 194, 197, 198, 205, 224, 250, 254, 270, 273, 276, 277–285, 288, 289, 290 f., 293, 294, 296, 298, 299, 302, 304, 305, 308 f. Arkesine 270 Arsakiden 130, 149, 150, 155, 159, 161, 305 Astypalaia 182, 222, 224 Athen 12, 15, 20, 28, 39, 43–45, 46, 54–57, 65 f., 96, 121, 134–140, 159 f., 176, 192, 206, 207, 209, 227, 233, 241–244, 248, 256, 258, 268, 280, 281, 286, 290, 305, 307 Athena 55, 56, 57, 76, 185, 186, 187, 228, 234 Atimie 14, 62, 128, 203, 205, 209, 216, 241, 246, 247, 252

Sachen und Orte Attaliden 26, 94, 99, 109, 112, 115, 122, 123, 125, 131, 175, 199, 297, 301, 303 Attentat 11, 48, 56, 64, 65, 66, 68, 70, 75, 76, 82, 85, 86, 87, 94, 101, 132, 142, 255, 256 Autonomie 13, 26, 45, 50, 60, 175, 222, 289, 300, 308 Bargylia 174 Belagerung 40, 41, 42, 43, 46, 55, 61, 85, 87, 89, 122, 137, 152, 173, 201, 223, 224, 260, 265, 274, 296, 300 Bodenreform siehe Landverteilung Boiotischer Bund 94, 97, 98, 109 f., 227, 302 Bouleuterion 86, 220 Bundesgenossenkrieg 236, 262 Bundesversammlung 108, 120, 121, 303 Bura 60 Bürgerkrieg 13, 14, 20, 28, 29, 35 f., 41, 43, 64, 133, 140, 150–157, 159, 162, 167, 223, 252, 269, 275, 277, 297, 311 Byzantion 40 Chaironeia 11, 27, 137, 142–145, 150, 242 Chalkis 93, 95, 177, 179, 300 Chersonesos Taurike 228–234 Chios 40, 146, 172, 203, 262, 264 Chora 43, 60, 68, 132, 136, 143, 232, 233, 234, 297 Chremonideischer Krieg 65, 67 Delphi 56, 97, 105, 107, 174, 176 Demetrias 95 f., 119, 177, 197, 300 Demokratie 16, 17, 19, 21, 23–25, 33, 36, 38, 40, 42, 43, 44, 47, 48, 51, 55, 56, 60, 61, 83, 97, 102, 108, 128, 135, 143, 153, 166 f., 169, 178, 183, 184, 186, 187, 188, 196, 198, 202, 206, 220, 227, 229, 233, 241–244, 245, 247, 249 f., 251–254, 255, 257, 258, 262, 264, 265, 268, 270, 271, 277, 280, 281, 283, 286–295, 298 Dikaia 21, 173, 204–209, 226, 270, 277, 291 Dreros 225, 237–240 Dyme 47, 94, 219–222, 303 Dyrrhachion 150 Eid 33, 48, 102, 104, 105, 165, 170, 183, 185, 186 f., 190, 202, 204, 206, 207, 210, 216, 226–240, 241, 243, 261, 270, 290 Eintracht 31, 32, 40, 62, 69, 81, 87, 97, 101, 104, 141, 172, 176, 177, 178, 179, 183, 193, 202, 226, 227, 231, 240, 243, 272, 298, 307 Eleuthera 148 Elis 63–65, 232, 297 Engyon 89 Enna 65

359

Epeiros 59, 111 f., 115, 117 f., 212 f., 302 Ephesische Vesper 141, 304 Ephesos 11, 38 f., 43, 141, 146, 147, 161, 175, 182, 195, 213, 223, 228, 232, 264, 304, 305 Ephoren 74, 75, 76, 77, 81, 82 Eresos 259–268, 271, 278, 298 Eretria 53, 300 Erythrai 176, 181, 197, 202, 227, 254–258, 290 Euergetismus 25, 42, 105, 112, 125, 154, 158, 180, 197, 245, 249, 252, 254–258, 269, 279, 285, 286, 290, 291, 308, 309 Festung 43, 64, 82, 85, 111, 216, 217, 218, 228, 229, 237, 300 Frauen 50, 56, 64, 65, 74, 76, 90, 91, 92, 105, 122, 127, 169, 170, 223, 239, 260, 261 Freiheit 23, 29, 45, 46, 52, 60, 63, 65, 83, 84, 86, 87, 88, 94, 100, 111, 118, 124, 132, 137, 147, 153, 154, 162, 165, 173, 209, 219, 233, 249, 257, 266, 280, 287, 289, 291, 296, 297, 299, 302, 305 Galerias 52 Geisel 64, 88, 89, 108, 260, 261 Gerusia 74, 75 Getreide 28, 111, 138, 210, 212, 213, 230, 232, 285, 307 Gonnoi 179, 181 Gortyn 79 f., 101, 215, 238, 239 Gymnasion 11, 24, 81, 135, 138, 143, 144, 285 Halaisa 131 Halikarnassos 177 Hannibalkrieg siehe Zweiter Punischer Krieg Hegemonie 16, 22, 24, 25, 27, 28, 29, 36, 43, 58, 82, 84, 103, 106, 119, 120, 121, 129, 140, 142, 158, 162, 198, 199, 207, 219–222, 225, 249, 262, 287, 289, 291, 292, 295–306 Heiligtum 11, 39, 46, 47, 50, 55, 65, 66, 71, 76, 82, 86, 88, 119, 135, 138, 141, 153, 161, 185, 186, 194, 207, 208, 260, 261, 262, 263, 264 Hellenisierung 29, 65, 89, 148, 149, 216 Herakleia (Latmos) 111, 193 Herakleia (Sizilien) 84, 129 Herakleia Pontike 39, 147, 228, 297 Herakleia Trachinia 97, 177 Hierarchie 21, 22, 165, 212, 279, 280, 283, 285, 298 Homonoia 31, 86, 133, 141, 145, 174, 192, 220 Hypaipa 146 Hypata 101, 104 f., 226, 301 Iasos 96 f., 174, 177, 179, 180, 182, 188, 190, 220, 294 Ilion 244–254, 257, 258, 271, 291

360

Indizes

Italiotenbund 58, 141 Itanos 165, 234–237, 270 Iulis 174, 237 Kaiser 23, 29, 157–162, 199, 222–226, 240, 273, 304, 305, 309 f. Kalymna 175, 182, 188–190, 196, 295 Kamikos 65 Karthago 28, 29, 48, 50, 57 f., 60, 62, 65, 72 f., 83, 85, 86, 88, 89, 90, 133, 135, 166, 276 Karthaia 176 Karyneia 60 Kassandreia 60 f. Kaunos 178 Kelten 60, 89 Kentoripina 52 Kibyra 119, 225 Kimolos 174 Kinder 14, 39, 50, 64, 65, 73, 87, 90, 92, 142, 194, 235, 237, 246, 260, 261 Kios 92, 176 Knidos 222–226, 270, 278, 305 Knossos 79, 101, 177, 181, 237, 238, 240 Koinon 30, 36, 72, 79, 80, 94, 96, 98, 107, 109, 128, 129, 174, 198, 269, 272, 275, 296, 302 Kolophon 11, 141 König 17, 36, 39, 43, 45, 57, 61, 69, 91, 103, 111, 112, 128, 129, 148, 157, 163, 172, 173, 174, 175, 178, 183, 188, 197, 199, 215, 249, 267, 269, 271, 275, 280, 281, 287, 288, 289, 292, 296 f., 303 Korinth 70, 78, 124, 128, 300 Kos 112, 156 f., 174, 175, 177, 182, 183, 184, 189, 227, 287, 294 Kreta 79, 100 f., 120, 148, 177, 234–240 Kroton 51, 85 Kydonia 148 Kyme 173, 186 Kynaitha 80 f., 285 Kyrbissos 218 Kyrene 11, 42 f., 66, 122, 131–133, 199, 212, 215, 228, 232, 288, 298, 305 Kyzikos 42 Lagiden siehe Ptolemaier Lamischer Krieg 44 Landverteilung 51, 74, 75, 77, 80, 82, 101, 146, 165, 234, 235, 240, 270, 284, 285, 290, 292 Laodikeia 154, 155, 176 Larisa 174, 176, 221, 236 Lebedos 174, 213 Legitimität 13, 14, 16, 21, 23, 25, 27, 33, 35, 37, 45, 56, 57, 61, 77, 97, 125, 155, 158, 161, 166, 167, 169,

181, 195, 208, 209, 219, 233, 235, 243, 244, 249, 252, 263 Leiturgie 144, 180, 286, 309 Leontinoi 86, 87 Lokroi 61, 84 f. Lyttischer Krieg 79, 238 Lyttos 79, 177, 181, 237, 238, 240 Magnesia (Mäander) 146, 175, 176, 180, 190 Magnesia (Sipylos) 11, 145 f., 176, 227, 303 Makedonischer Krieg, Erster 83, 92 Makedonischer Krieg, Zweiter 26, 93 f., 299 Makedonischer Krieg, Dritter 16, 24, 28, 105–117, 120, 122, 139, 164, 178, 179, 181, 199, 222, 293, 301, 302 Malla 177, 181 Mallos 40 Mantineia 78 f., 173 Maroneia 100, 297 Massaker 11, 12, 45, 48, 49, 52, 61, 83, 87, 93, 99, 100, 105, 119, 141, 142, 144, 147, 228, 275, 283, 297, 302, 305 Massalia 150 Megalopolis 45, 65 f., 68, 80, 127, 164, 256 Megara 98, 150, 172, 228 Melos 126 Mesopolis 146 Messene 39, 80, 82 f., 181, 263 Messina 51, 65 Milet 177, 294 Mithridateskrieg 27, 133–147, 148, 150, 163, 274, 294, 303, 304 Mylasa 147, 155, 174, 227 Myndos 177 Mytilene 40, 173, 174, 182, 200–204, 212, 216, 262, 267 Nakone 191–194, 197, 198, 208, 277 Naxos 172, 174, 175, 182 Neapel 41, 299 Neoi 43, 74, 79, 81, 87, 142, 154, 164, 170, 177, 237, 239, 276, 285, 310 Nikaia 162, 307 Nisyros 52 Nobilität 102, 106, 107, 116, 121, 123, 151, 156, 279, 289, 290, 301, 302, 303, 304 Nysa 11, 28 Olbia 65 Oligarchie 16, 19, 21, 23, 24 f., 32, 36, 38, 42, 43, 44, 48, 50, 56, 58, 61, 83, 84, 97, 103, 108, 111, 128, 131, 134, 138, 140, 150, 166 f., 173, 179, 184, 187, 190, 206, 214, 215, 233, 235, 244–254, 255,

Sachen und Orte 257, 264, 271, 277, 280, 281, 284, 287, 289, 290, 292, 293, 302 Olympia 38, 92 Opfer 83, 86, 142, 184, 185, 192, 216 Orchomenos 46, 71 f., 78, 143, 172 Ostrakismos 121, 281 Panhellenismus 30, 34, 169, 270, 283 Panormos 65 Paros 173 Passaron 117 Patara 154 f., 162 Pax Augusta 29, 157–162, 200, 225, 305, 310 Pellene 38 Peparethos 176 Pergamon 100, 112, 123, 128, 227 Perseuskrieg siehe Dritter Makedonischer Krieg Phalanna 179 Phalarsana 101 Philosophen 12, 38, 42, 67, 69, 80, 101, 135, 136, 141, 148, 266, 282, 284, 307 Phleius 75, 201, 210 Phokaia 97, 144 Piraterie 148, 158, 209, 212, 260, 264 Pistiros 174 Poneropolis 44 Priene 17, 53, 60, 174, 176, 177, 180, 232 Ptolemaier 28, 42, 46, 57, 60, 65, 67, 70, 78, 82, 114, 122, 132, 148, 161, 174, 189, 190,214 f., 234, 236, 270, 287, 297 Ptolemais 214 f. Punischer Krieg, Erster 65, 72, 299 Punischer Krieg, Zweiter 83–91, 299 Rache 14, 20, 29, 39, 46, 50, 58, 75, 93, 105, 118, 120, 122, 142, 144, 147, 153, 164, 180, 193, 206, 208, 252, 258, 277, 279, 280, 297, 298 Rat 11, 25, 41, 51, 75, 84, 85, 89, 97, 100, 125, 129, 131, 141, 142, 143, 144, 156, 159, 175, 188, 298, 200, 214 f., 216, 219, 224, 226, 230, 238 f., 241 f., 247, 248, 273, 292, 294, 299, 303, 304, 308, 309 Reintegration 14, 40, 75, 77, 92, 105, 144, 169, 173, 187, 192, 201, 208, 219, 224, 228, 253, 267, 269, 278, 297 Revolution 16, 18, 22, 35, 61, 74, 77, 134, 139, 148, 220, 285, 292 Rhodos 26, 93, 112–117, 150–153, 155, 162, 171, 178, 232, 276, 301, 304 Richter 32, 142, 171–200, 291, 297 Römische Republik 24, 41, 101, 113, 133, 279, 289, 290, 295, 300

361

Sagalassos 43, 215–219, 272 Sagunt 29 Salapia 89–91, 274, 276 Samos 53, 176, 177 Sardeis 123, 160, 307 Sardinien 65 Schuldenerlass 51, 74, 75, 77, 82, 98, 101, 104, 107, 124, 135, 146, 154, 165, 209–214, 219–222, 234, 235, 240, 270, 274, 284, 285, 290, 292 Segesta (Pannonien) 156 Segesta (Sizilien) 191 f. Seleukeia (Tigris) 130, 159 Seleukeia Pieria 82 Seleukiden 28, 60, 61, 74, 75, 82, 92, 95, 97, 100, 114, 126, 129 f., 149, 174, 249, 250, 253, 257, 279, 287, 293 Sikyon 65–70, 105, 165, 186, 201, 212, 297, 298 Sizilien 47–52, 57 f., 61 f., 65, 89, 129–131, 167, 191–194 Sklaverei 70, 78, 89, 91, 110, 111, 118, 127, 128, 129 f., 132, 134, 135, 146, 147, 150, 153, 154, 156, 169, 223, 224 245, 279, 280 Smyrna 177, 178, 181, 182, 307 Söldner 47, 48 f., 56, 57 f., 60, 64, 68, 72 f., 76, 87, 89, 100, 141, 227, 245, 297 Sparta 16, 28, 45, 63, 73–79, 82, 91 f., 98 f., 101, 124, 157–159, 165, 171, 174, 210, 213, 273, 276, 281, 305 Statthalter 39, 66, 92, 131, 143, 145, 146,, 161, 171, 176, 200, 219, 222, 223, 225, 303, 305, 307 Syrakus 28, 47–52, 57 f., 62, 85–88, 197, 250, 276, 298 Syros 175 Tanagra 172 Tarent 28, 58–60, 88 f., 276 Tarsos 148, 153 f., 157, 161, 305 Tauromenion 51 Tegea 71, 78, 172 f. Tekmon 118 Telos 31, 183–188, 196, 197, 212, 226, 227, 234, 278, 288 Teos 174, 213 Termessos 43, 215, 272 Theben (Boiotien) 53, 56, 94, 98, 109 f., 119, 128, 173, 277, 293 Theben (Phthiotis) 14 Thera 174 Thermai 65 Thisbe 110 f., 119, 128, 302 Thurioi 59, 88, 89

362

Indizes

Tralleis 11, 141, 146 Tritaia 125 Tyrannis 11, 12, 13, 17, 31, 33, 38, 39, 40, 42, 47–51, 53, 54–57, 60, 61, 63–65, 66, 67, 70, 71, 78, 86, 88, 91, 101, 131, 132, 133, 135, 136, 140, 141, 148, 152, 154, 156 f., 167 f., 185, 200, 210, 232, 241–268, 271, 280, 282, 284, 289, 298 Verbanntendekret 38, 39, 94, 173, 183, 203, 299 Verbannung 14, 29, 35, 38, 40, 42, 44, 45, 46, 47, 48, 50, 52, 52, 53, 56, 58, 62, 64, 66, 67–69, 76, 77, 80, 82, 83, 88, 91, 92, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 104 f., 108, 109, 110, 111, 119, 120 f., 124, 144, 146, 152, 157, 158, 165 f., 168, 173, 184, 186, 200–209, 216 f., 220, 226, 228, 232, 240, 246, 253, 259, 260, 262, 264, 266 f., 269, 278, 283, 291, 296, 297, 298, 306 Verrat 14, 16, 39, 40, 41, 43, 44, 52, 53, 65, 73, 81, 85, 87, 88, 89, 90, 93, 97, 99, 103, 137, 146, 147,

148, 150, 170, 229, 231, 234, 237, 240, 266, 269, 274, 296, 299, 300, 308 Verschuldung 21, 75, 98, 104, 106, 107, 112, 124, 165, 166, 179, 195, 196, 209, 211 f., 213, 220, 274, 284, 285 Verwandtschaft 39, 50, 70, 84, 88, 191, 192 f., 194, 199, 206, 259, 261, 305 Volksversammlung 11, 41, 44, 46, 50, 51, 55, 75, 84, 89, 94, 95, 100, 114, 135, 143, 153, 159, 194, 205, 214, 242, 250, 255, 261, 286, 288, 291, 292, 294 Zeleia 40, 185 Zenodotion 149 f. Zeus 65, 186, 187, 194, 206, 227, 228, 234, 260, 263 Zorn 31, 49, 81, 98, 101, 114, 162, 170, 305

historia



einzelschriften

Herausgegeben von Kai Brodersen (federführend), Bernhard Linke, Mischa Meier, Walter Scheidel und Hans van Wees.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0056

224. Federicomaria Muccioli Gli epiteti ufficiali dei re ellenistici 2013. 526 S., geb. ISBN 978-3-515-10126-4 225. Claudia Horst Marc Aurel Philosophie und politische Macht zur Zeit der Zweiten Sophistik 2013. 232 S., geb. ISBN 978-3-515-10280-3 226. Maria Osmers „Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“ Vergangenheitsbezüge in der polisübergreifenden Kommunikation der klassischen Zeit 2013. 407 S., geb. ISBN 978-3-515-10299-5 227. Alberto Dalla Rosa Cura et tutela Le origini del potere imperiale sulle province proconsolari 2014. 362 S. mit 1 Karte, geb. ISBN 978-3-515-10602-3 228. Bruno Bleckmann / Timo Stickler (Hg.) Griechische Profanhistoriker des fünften nachchristlichen Jahrhunderts 2014. 228 S., geb. ISBN 978-3-515-10641-2 229. Joseph Geiger Hellenism in the East Studies on Greek Intellectuals in Palestine 2014. 177 S., geb. ISBN 978-3-515-10617-7 230. Klaus Altmayer Die Herrschaft des Carus, Carinus und Numerianus als Vorläufer der Tetrarchie 2014. 506 S. mit 28 Abb. und 2 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-10621-4 231. Björn Schöpe Der römische Kaiserhof in severischer Zeit (193–235 n. Chr.) 2014. 369 S. mit 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10695-5

232. Frederik J. Vervaet The High Command in the Roman Republic The Principle of the summum imperium auspiciumque from 509 to 19 BCE 2014. 369 S., geb. ISBN 978-3-515-10630-6 233. Sara M. Wijma Embracing the Immigrant The participation of metics in Athenian polis religion (5th–4th century BC) 2014. 197 S., geb. ISBN 978-3-515-10642-9 234. Richard W. Burgess Roman Imperial Chronology and Early-Fourth-Century Historiography The Regnal Durations of the So-called Chronica urbis Romae of the Chronograph of 354) 2014. 208 S., geb. ISBN 978-3-515-10725-9 235. Luca Asmonti Conon the Athenian Warfare and Politics in the Aegean, 414–386 B.C. 2015. 200 S., geb. ISBN 978-3-515-10901-7 236. Aideen Carty Polycrates, Tyrant of Samos New Light on Archaic Greece 2015. 260 S. mit 11 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10898-0 237. Anja Busch Die Frauen der theodosianischen Dynastie Macht und Repräsentation kaiserlicher Frauen im 5. Jahrhundert 2015. 256 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11044-0 238. Martin Jehne / Francisco Pina Polo (Hg.) Foreign clientelae in the Roman Empire A Reconsideration 2015. 374 S. mit 11 Abb. und 2 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11061-7

239. Lucia Cecchet Poverty in Athenian Public Discourse From the Eve of the Peloponnesian War to the Rise of Macedonia 2015. 283 S., geb. ISBN 978-3-515-11160-7 240. Altay Coşkun / Alex McAuley (Hg.) Seleukid Royal Women Creation, Representation and Distortion of Hellenistic Queenship in the Seleukid Empire 2016. 322 S. mit 21 Abb. und 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11295-6 241. Sebastian Scharff Eid und Außenpolitik Studien zur religiösen Fundierung der Akzeptanz zwischenstaatlicher Vereinbarungen im vorrömischen Griechenland 2016. 400 S. mit 3 Abb. und 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11203-1 242. Benjamin Biesinger Römische Dekadenzdiskurse Untersuchungen zur römischen Geschichtsschreibung und ihren Kontexten (2. Jahrhundert v. Chr. bis 2. Jahrhundert n. Chr.) 2016. 428 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11339-7 243. David Whitehead (Hg.) Philo Mechanicus: “On Sieges” Translated with Introduction and Commentary 2016. 512 S., geb. ISBN 978-3-515-11343-4 244. Ernst Baltrusch / Hans Kopp / Christian Wendt (Hg.) Seemacht, Seeherrschaft und die Antike 2016. 348 S. mit 8 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11431-8 245. Simone Blochmann Verhandeln und entscheiden Politische Kultur im Senat der frühen Kaiserzeit 2017. 256 S., geb. ISBN 978-3-515-11373-1 246. Marco Vitale Das Imperium in Wort und Bild Römische Darstellungsformen beherrschter Gebiete in Inschriftenmonumenten, Münzprägungen und Literatur 2017. 376 S. mit 185 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11554-4

247. Giovanni Marginesu Callia l’Ateniese Metamorfosi di un’élite, 421–371 a. C. 2016. 200 S., geb. ISBN 978-3-515-11552-0 248. Simon Strauß Von Mommsen zu Gelzer? Die Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft in Staatsrecht und Nobilität 2017. 264 S., geb. ISBN 978-3-515-11851-4 249. Florian Sittig Psychopathen in Purpur Julisch-claudischer Caesarenwahnsinn und die Konstruktion historischer Realität 2018. 576 S., geb. ISBN 978-3-515-11969-6 250. Katharina Knäpper HIEROS KAI ASYLOS Territoriale Asylie im Hellenismus in ihrem historischen Kontext 2018. 348 S., geb. ISBN 978-3-515-11992-4 251. Frank Daubner Makedonien nach den Königen (168 v. Chr. – 14 n. Chr.) 2018. 357 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12038-8 252. Nils Steffensen Nachdenken über Rom Literarische Konstruktionen der römischen Geschichte in der Formierungsphase des Principats 2018. 575 S., geb. ISBN 978-3-515-12136-1 253. in Planung 254. David Rafferty Provincial Allocations in Rome 123–52 BCE 2019. 243 S. mit 2 Abb. und 2 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12119-4 255. Frank Ursin Freiheit, Herrschaft, Widerstand Griechische Erinnerungskultur in der Hohen Kaiserzeit (1.–3. Jahrhundert n. Chr.) 2019. 340 S. mit 11 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12163-7 256. in Planung 257. Rafał Matuszewski Räume der Reputation Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. 2019. 375 S. mit 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12233-7

Das Phänomen der teils bürgerkriegsartigen Konflikte in griechischen Poleis, das die Forschung unter dem Begriff „Stasis“ zusammenfasst, ist in der Vergangenheit vorwiegend mit Blick auf die Archaik und Klassik untersucht worden. Henning Börm zeigt hingegen, dass es auch nach Alexander dem Großen in den Städten, die sich zunächst im Spannungsfeld der makedonischen Monarchien, später dann unter römischer Dominanz wiederfanden, vielfach zu Staseis kam. Ausgehend von einer Auswertung der literarischen und epigraphischen Überlieferung fragt Börm nach den Hintergründen und Konsequen-

zen der auffälligen Anfälligkeit vieler hellenistischer Poleis für innere Konflikte. Die Neigung zur Stasis lässt sich dabei nicht nur als Epiphänomen und Katalysator, sondern auch als Inhibitor von Transformationsprozessen in der griechischen Welt deuten. Statt eine bloße Randerscheinung zu sein, war Stasis vielmehr ein zentraler Faktor, dessen Analyse dazu beiträgt, sowohl die Entwicklung der Poleis zwischen Alexander und Augustus besser zu verstehen als auch die Mechanismen der römischen Expansion im Osten des Mittelmeerraums.

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ISBN 978-3-515-12311-2

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