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German Pages 382 Year 2020
Erika Hammer Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Literalität und Liminalität | Band 29
Editorial Die literaturtheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben zu einer Öffnung der Philologien insbesondere für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen beigetragen. Die daraus resultierende Erweiterung des Literaturbegriffs bedingt zugleich, dass die unscharfen Ränder der kulturellen Grenzen in den Blick rückten, wo Fremdes und Eigenes im Raum der Sprache und Schrift ineinander übergehen. Die Reihe Literalität und Liminalität trägt dem Rechnung, indem sie die theoretischen und historischen Transformationen von Sprache und Literatur ins Zentrum ihres Interesses rückt. Mit dem Begriff der Literalität richtet sich das Interesse auf Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur, auf die Funktion der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften sowie auf das Verhältnis literarischer Texte zu kulturellen Kontexten. Mit dem Begriff der Liminalität zielt die Reihe in theoretischer und historischer Hinsicht auf Literatur als Zeichen einer Kultur des Zwischen, auf die Eröffnung eines Raums zwischen den Grenzen. Die Reihe wird herausgegeben von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein.
Erika Hammer (Dr. phil.) lehrt am Institut für Germanistik der Universität Pécs (Ungarn). Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben dem Interesse für zeitgenössische Literatur Fragen von Sprachreflexion, Multilingualität und Kulturtransfer.
Erika Hammer
Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität Terézia Moras Romantrilogie »Der einzige Mann auf dem Kontinent«, »Das Ungeheuer« und »Auf dem Seil«
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Inhalt
1 1.1
Aus der Höhle kommen: Grenze, Schwelle, Transit und die Dynamik narrativer Konzeptualisierungen ............................................. 9 Grenzen und Setzungen............................................................................ 9
2 2.1
Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen....... 19 Gesellschaftliche Dynamiken und ihre erzählerischen Äquivalenzen: permanente Liminalität ....................................................... 19 2.2 Liminalität und Monstrosität ................................................................... 28 2.3 Aufbau der Studie ................................................................................. 36 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität. Postmonolinguales Schreiben bei Terézia Mora .............................. 43 Sprachen unterwegs und unterwegs in Sprachen ........................................ 43 Postmonolinguales Schreiben. Eine Standortbestimmung............................... 47 Sprachverwirrung, Sprachlosigkeit, Vielsprachigkeit .................................... 55 Medienreflexion und performative Medienästhetik ........................................62 Mehrsprachigkeit, Monstrosität und das Skandalon von Grenzziehungen ........... 78
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Der »deplatzierte Mann«. Liminale Übergänge und ihre Nicht-Orte in Der einzige Mann auf dem Kontinent ......................................... 83 4.1 Liminalität – Transformationsgesellschaften und die Evangelisten der Medienwelt ................................................................... 83 4.2 Identifikation und Nicht-Orte, neue Medien und Enträumlichung .................... 89 4.3 Modellierungen des Subjekts und Baulogiken des Romans ............................. 98 4.4 Grenzauflösungen und Gattungspoetik ...................................................... 110 5
»Etwas Ökonomie braucht ein Roman«. Ökonomische Diskurse, Arbeits- und Textwelten – Moras ökonomische Poetik ....................... 115
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Grenzüberschreitungen: Begegnungsräume für Ökonomik und Literatur........................................................................................ 115 Transformationen und Krisen in Ökonomie und Literatur...............................120 Ökonomie und posttraditionelle Lebenswelten ............................................126 Modelle von Arbeit und ihre Verflechtungen mit Subjektkonzepten ................ 136 Textarchitekturen und die Logik des Ökonomischen.....................................142
Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer ............ 145 Weiße Fläche, schwarzer Strich. Grenzen und Übergänge ..............................145 Mit der Sintflut zum Ararat. Reise als Übergang.......................................... 148 Stammgast im eigenen Leben: Figurationen von Gastlichkeit .........................155 Der »dunkle Bereich zwischen den beiden Helligkeiten«. Liminalität und Trauer .......................................................................... 166 6.5 Isomorphie von Reisen und Erzählen......................................................... 175
6 6.1 6.2 6.3 6.4
7
»Wie eine Scherbe« – Zerfall, Fragmentierung und Versuche einer Selbstfindung in Das Ungeheuer ............................................. 179 7.1 Grenzen, Ordnungen, Fremdheiten ........................................................... 179 7.2 Deformation kultureller Formationen als erzählkonstitutive Idee. Die Aufzeichnungen .......................................... .................................... 187 7.3 Liminale Grenzbereiche, monströse Artikulationsweisen und die Begegnung mit dem Fremden................................................................................. 200 8
»Ein Verrückter, der schreibt, ist nie ganz und gar verrückt«. Erzählen und Literatur, Schrift und Existenz: Flora unter dem Strich ..................... 205 8.1 Schmerz und Literarizität: Sprache, Schrift, Erzählen und das Unartikulierbare ....................................................................... 205 8.2 Schrift und Abwesenheit – Schrift als Nachlassmaterial ............................... 212 8.3 Schrift als Fläche und mäandrierende Struktur .......................................... 226 Ein Nomade in der Textwelt: Intertextualität statt Lebensweltlichkeit ...... 231 Intertextualität, Buch im Buch und die Selbstreflexivität des Textes ................231 Entgrenzungen: Einverleibung als Textpraxis ............................................. 234 Grenzräume von Identität und Differenz. Strukturhomologien der Figurenkonstellation: László Némeths Roman Ekel [Iszony] ...................................................... 238 9.4 Grenze als unfassbare Erfahrung. Marlen Haushofers Die Wand und Muster der Robinsonade.................................................................................. 243 9 9.1 9.2 9.3
9.5 »›Alternativ‹ sollte ein jedes Leben sein.« Intermediale Grenzüberschreitungen ....................................................... 258 10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6
»Wir leben alle auf der Straße«. Liminalität und Normalisierung in Auf dem Seil ................................................................ 273 Bewegung und Liminalität ..................................................................... 273 Tradierte Ordnungsmodelle, Grenzen und liminale Krisen .............................. 281 Porosität und Liminalität ........................................................................ 291 Schlaf und Wachen: Versuche einer Standortbestimmung des ewigen Touristen ............................................................................ 300 »Legendenbildung ist das ganze Leben.« Mechanismen der Identitätsbildung ...312 Lücken, Hohlräume und die Erzählökonomie .............................................. 324
11
»People are longing for stories«. Liminalität, Krise und narrative Bewältigungsstrategien ................... 331 11.1 »Wer nicht anhalten kann, für den gibt es auch kein Panorama.« Schwellenräume des Transits ................................................................. 331 11.2 Der »Alltag, der Krieg im Kleinen«. Kontingenz und Krise ............................. 339 11.3 Heldenhaftes Aussitzen: Monströse Helden................................................ 343 11.4 Narration und ästhetische Bewältigungsstrategien ..................................... 351 Bibliographie ..................................................................... 357
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Aus der Höhle kommen: Grenze, Schwelle, Transit und die Dynamik narrativer Konzeptualisierungen Einleitung
1.1
Grenzen und Setzungen Die Literatur stellt an und für sich eine Grenze dar, eine Forschungsreise zu neuen Grenzen, eine Verschiebung und Neubestimmung alter. Jeder literarische Ausdruck, jede Form ist Schwelle, ein Übergangsbereich unzähliger Elemente, Spannungen und Bewegungen, eine Verschiebung semantischer Grenzen und syntaktischer Strukturen, ein Zerlegen und Neuaufbauen der Welt, ihrer Kulissen und Bilder wie in einem Filmstudio, wo die Sequenzen und Einstellungen, die Perspektiven der Wirklichkeit ununterbrochen neu geordnet werden. Jeder Schriftsteller, ob er es nun weiß oder nicht, ist ein Grenzgänger, sein Weg führt immer an Grenzen entlang. Er demontiert, er entwertet und führt Werte und Bedeutungen neu ein, er versucht die Welt in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, und hebt ihn wieder auf in einer Bewegung ohne Unterlaß bei ständig gleitenden Grenzen. Wer schreibt, arbeitet an Grenzen und ihren gleitenden Übergängen dort, wo sie verfließen und verschwinden.1
Diese, für die Literatur als zentral herausgestellte Funktion der Grenze überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die Problematisierung und Verhandlung dieser Linie seit den Anfängen zu den wichtigsten Fragen der Ästhetik gehört. Die Grenze steht bereits im Zentrum des griechischen Denkens,
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Magris: 1993, 26-27. Magris geht in diesen »Grenzbetrachtungen« zahlreichen Fragen nach, die für Terézia Mora und so auch für diese Studie signifikant werden.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
das sich für »das Begrenzte, für Zahl, Maß, Form und Begriff« interessiert.2 Somit sind Grenze und Umriss seit der Antike Pfeiler der klassischen Ästhetik, die den Grenzübertritt und alles Unbegrenzte ausschließt, tabuisiert, wodurch die kulturelle Ordnung entsteht und stabilisiert wird.3 Die Grenze wird aber auch in einer ganz anderen Funktion als literarische Qualität erkannt, und sie wird als eminentes Strukturmerkmal literarischer Texte beschrieben, da jede Geschichte, das Erzählen überhaupt im Sinne von ›Ereignis‹ als ein Grenzübertritt gesehen werden kann.4 Diese Theorie enthält, korrespondierend mit obiger Feststellung, eine für meine Fragestellung basale Aussage, dass es nämlich keine Grenze und kein Ereignis ›an sich‹ gibt, sondern dass Grenzen erst kontextuell, in einem bestimmten (kulturellen) Umfeld entstehen.5 Dass die Grenze »zu den großen Fragen der Menschheitsgeschichte«6 gehört, weiß selbstverständlich auch die Philosophie seit der Antike. Wichtig für meine Überlegung werden aus diesem Bereich Fragestellungen nach Ordnung und Norm, Ansätze, die mit Erscheinungsformen von Grenze zusammenhängen, und denen sich Bernhard Waldenfels widmet. Waldenfels nimmt Grenzziehung und Ausschluss, und damit das Fremde in den Blick, versucht mit seinem Nachdenken Ordnungsstiftungen und Normalisierungen immer wieder zu umkreisen und damit eminent auch zu erkunden, wie das Fremde, als das Andere der jeweiligen Ordnung, erzeugt wird. Seine Überlegungen, er nennt sie selbst »Reigen«7 , sind bemüht, die genannten Hauptthemen kultu2 3 4
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Schmitz-Emans: 2012, www.actalitterarum.de/theorie/mse/aufsatz/grenzen.html (Gesehen am 12.9. 2019) Vgl. dazu z.B.: Kurbjuhn: 2014, 93-114, bzw. vgl. dazu auch die Ausführungen zum Klassischen und Grotesken bei Fuss: 2001, z.B. S. 15. Vgl. Lotman: 1993, 332. In diesem strukturalistischen Zugang Lotmans geht es einerseits um die Grenzen im Raum, die die Erzählwelt strukturieren und andererseits um das Ereignis als Grenzübertritt, wodurch die Figur über ein semantisches Feld versetzt wird, was als Basis von Erzählen erkannt wird. Zentral ist in diesem Denken auch, dass die Grenze, die zwei Bereiche voneinander trennt, unüberwindbar ist, da die innere Struktur dieser zwei Teile verschieden ist. (Vgl. ebd., 327.) In der Konzeptualisierung der Grenze gibt es in der Literaturtheorie auch noch weitere Modelle, die hier nicht alle aufgelistet werden können. Vgl. ebd., 331. Es hängt vom Kontext ab, ob »ein und dieselbe Lebensrealität« den »Charakter eines Ereignisses annehmen wie auch nicht annehmen kann«. Vgl. Waldenfels: 2006, 16. Zu der unendlichen Auffächerung diverser Konzeptualisierungsmöglichkeiten von Grenze vgl. lediglich stellvertretend Parr: 2008, 11-64. bes. 1115. Waldenfels: 2006, 9.
1 Aus der Höhle kommen
reller Ordnungsstrukturen abzutasten. Waldenfels interessiert sich nicht nur für die Wahrnehmung, sondern in Bezug auf Foucault auch für die diskursive Herstellung von Ordnungen. Zentral für seine Thesen ist, dass in der Gegenwart keine homogenen Ordnungskonzepte gelten können, die Annahme einer Ordnung ›an sich‹, ist nur Schein.8 Waldenfels räumt selbstverständlich ein, dass es das historische Modell der ›klassischen Ordnung‹ gibt, in dem jedes Seiende seinen gebührenden Platz hat, betont aber, dass moderne Ordnungsformationen die Ganzheitsvision klassischer Ordnungen in Frage stellen.9 Diese Theoriearchitekturen überschneiden sich in vieler Hinsicht mit den in dieser Studie dienstbar gemachten Vorstellungen von Grenze, Schwelle und Übergang bzw. vom Fremden. Besonderes Gewicht bekommt für meine Fragestellung, dass Waldenfels das Außen, das durch Ordnungsstiftung entsteht, nicht als Nichts, nicht als »das Grau in Grau bloßer Unbestimmtheit«10 betrachtet, sondern als eine Grenzzone, die von Fremdheiten unterschiedlichster Art, wie z.B. vom Monströsen, besetzt ist und immer neu besetzt wird. Diese Konzeptualisierungen von Grenze unterminieren selbstverständlich ein identitätslogisches Denken und damit eine dichotomische Struktur des Entweder-Oder, die in der Antike etabliert wurden. Im traditionellen Denken kann man sich nur diesseits oder jenseits der Grenze befinden. Ein Denken auf der Basis von Identität schließt das Unidentische, das Andere als das Fremde aber aus. Kunst und Literatur betreiben, wie das Eingangszitat zeigt, aber seit jeher die Demontage dieser dichotomischen Grenzziehung und unterminieren das identitätslogische Denken durch die Inszenierung verschiedener Grenzbereiche und Grauzonen. Getrieben wird dies von Zweifel und ständiger Hinterfragung des Bestehenden, wobei es um eine Art der Mobilisierung von Kultur und um ihre ständige Neuordnung geht. Als eine Grundlage dieser Dynamisierung kann ein durch die neuzeitliche Säkularisierung eintretender Bewusstseinswandel erkannt werden. Betont wird in diesem Änderungsprozess der »Setzungscharakter aller Grenzziehungen«,11 bzw. die Tatsache, dass jede Ordnung nur als Ordnungsstiftung12 8 9 10 11 12
Vgl. ebd. Ebd., 17ff. Ebd. Schmitz-Emans: 2012, www.actalitterarum.de/theorie/mse/aufsatz/grenzen.html (angesehen 18.9. 2018). Vgl. Waldenfels: 1987, 1998, 2006. Nach Waldenfels gibt es keine homogenen Ordnungskonzepte, die Annahme einer Ordnung ›an sich‹, ist nur Schein. (Vgl. Walden-
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
zu verstehen ist. Das Bewusstsein dessen, dass jede Grenzziehung und jede Ordnung Setzung ist, provoziert eine Änderung der Wahrnehmung und Auffassung der Grenze. Ihre Überschreitung kann so zum »Kerntopos neuzeitlicher Selbstverständigung werden«13 , und wird eigentlich zum »Zentraltropus der Moderne«14 . Schmitz-Emans spricht von einer seit der Neuzeit sichtbaren ständigen »räumliche[n] und diskursive[n] Grenzüberschreitung«,15 was allerdings mit einem hochgradigen Orientierungsverlust, mit einem Ordnungsschwund einhergeht. Während also Grenzziehung Ordnung herstellt, tragen Transgression, Verzerrung, Vermischung u.ä.m. zum Ordnungsverlust bei und erzeugen Ambivalenz und Ambiguität. Im Fokus der Auseinandersetzung mit Grenze steht demzufolge die Einsicht, dass Grenze, Ordnung und Norm diskursiv hergestellt werden und deswegen als variable Größen und Formationen zu betrachten sind. Dem Phänomen Grenze gilt in jüngster Zeit verstärktes Interesse, besonders die interdisziplinär arbeitenden Kulturwissenschaften wenden sich mit Vorliebe der Problematik der Grenze zu. So wurde die Grenze mittlerweile zu
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fels 2006, 9.) Waldenfels‹ Theorien, in deren er sich u.a. auch auf Foucault bezieht, überschneiden sich in vieler Hinsicht mit den hier dienstbar gemachten Konzeptualisierungen der Grenze und des Fremden. Schmitz-Emans: 2012, www.actalitterarum.de/theorie/mse/aufsatz/grenzen.html (angesehen 18.9. 2018). Parr: 2008, 15. Ebd. Dieser von Blumenberg diagnostizierte Ordnungsschwund ist nach Waldenfels als Schwinden einer bestimmten Ordnungsformation zu verstehen, die als ›klassisch‹ bezeichnet werden kann (Vgl. Waldenfels: 1990, 17.) Damit korrespondierend spricht Waldenfels von einer klassischen und einer modernen Ordnung. Klassisch ist in diesem Kontext eine Ordnung, die vorgegeben, ganzheitlich und homogen ist, kein Außen hat und nur im Singular existiert, während die moderne Ordnung diese Ganzheitsvision hinterfragt, sich als eine Möglichkeit von verschiedenen parallel existierenden Ordnungen konstituiert. Moderne Ordnung wird in diesem heuristischen Konzept nicht mehr als etwas Gegebenes, sondern als Ergebnis einer Ordnungsstiftung verstanden. Demzufolge sind Ordnungen nicht fest, sondern wandelbar. In dem Konzept der modernen Ordnung stehen nicht mehr Ordnung und Unordnung einander gegenüber, sondern es steht eine Pluralität von Ordnungen nebeneinander, was auch Ordnung im Potentialis genannt wird. (Vgl.Waldenfels: 1990, 16ff, bzw. 2006, 17ff.) ›Ordnung‹ bedeutet nach der klassischen Figuration, dass jedes Seiende seinen gebührenden Platz in einem System hat, was bei der Potenzierung und Multiplizierung von ›Ordnung‹ nicht mehr der Fall sein kann.
1 Aus der Höhle kommen
einer Leitkategorie der Forschung.16 Dieser Tatsache geschuldet ist aber auch, dass die Grenze zugleich zu einem schillernden Begriff wurde, der analytisch kaum noch erschlossen werden kann. Eine theoretische, begriffliche Präzision ist kaum noch möglich, was generell methodologische Fragen aufwirft. Die Grenze ist, wie Kleinschmidt zeigt, eine Konstante menschlichen Denkens und Handelns, und sie entzieht sich der eindeutigen Bestimmung, sie kann für vollkommen gegensätzliche Bereiche funktionalisiert werden, wie z.B. als Einschnitt für Trennung und Wandel, aber auch für das Dehnbare als Transgression.17 Zur Dehnung gehört auch, dass zur Grenze eine semantische Spannbreite mit verschiedenen Konnotationen passt.18 Man ist, so zeigt ein Blick in die Forschungslandschaft, in Bezug auf das vielschichtige und facettenreiche Phänomen ›Grenze‹ mit einem fast unübersichtlichen Materialreichtum konfrontiert. Dazu kommt, dass die Darstellung der Grenze, die »dichterische Phantasie noch nie so beflügelt hat wie im 20. Jahrhundert«,19 was bedeutet, dass sich auch die Literatur mit Vorliebe der Komplexität der Grenze annimmt.20 So konnte die Gestaltung von Grenzübergängen eine »erstaunliche Karriere« erleben.21 Modelliert werden dabei konkrete Grenzübertritte, oder der Übergang wird als Metapher verstanden für existenzielle soziale, kulturelle, sprachliche Erfahrungen, die auch von Terézia Mora variationsreich in Szene gesetzt werden. Die Grenze ist ein hochgradig komplexes Phänomen, das sich durch eine Ambiguität auszeichnet. Sie beschwört zum einen das Maßlose, zum anderen das Unbestimmte herauf.22 Grenze ist also im abendländischen Denken immer mit einer Ordnung und ihrer Überschreitung verbunden, damit, dass Identität das Nicht-Identische, infinite Modelle des Übertritts auf den Plan ruft. Schon diese Tatsache weist auf die Paradoxie der Grenze hin. Es geht
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Kleinschmidt nennt die Grenze eine Universalie, die in (fast) allen Bereichen des Lebens präsent ist sowohl in der Lebenswelt als auch in der Wissenschaft. (Vgl. Kleinschmidt: 2011, 9.) Kleinschmidt plädiert hier auch dafür, dass man gerade deswegen auch in der Wissenschaft grenzüberschreitend arbeiten, die Schranken zwischen den Disziplinen vernichten sollte. Vgl. Kleinschmidt: 2011, 9. Ebd., 10. Lamping: 2001, 7. Ebd., 13. Ebd. Schmitz-Emans: 2012, www.actalitterarum.de/theorie/mse/aufsatz/grenzen.html (angesehen 18.9. 2018).
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
dabei jedoch nicht nur darum, dass ihre Wahrnehmung erst durch die Überschreitung möglich wird, sondern auch darum, dass Grenze das Trennende und das Vermittelnde in einem repräsentiert. Denn indem sie einerseits trennt, schafft sie Binaritäten und Hierarchien, womit sie Ordnung etabliert. Andererseits werden in der Vermittlung gerade diese Binaritäten angegriffen und verflüssigt. Aus dieser Janusköpfigkeit der Grenze folgt eine Dynamik als Hauptcharakteristikum jeder Grenzziehung, die in den hier zur Diskussion stehenden Büchern von Terézia Mora einen eminenten Reflexionsgegenstand bildet. Diese Einstellung zu Ordnung und Taxonomie, aber auch zur Leistung von Kunst und Literatur prägt das Schaffen von Terézia Mora, die nicht nur biographisch als Grenzgängerin gilt, sondern sich auch in ihrer Prosa mit der Problematik von Grenzen und ihrer Überschreitung und Verschiebung auseinandersetzt. Grenzziehung evoziert Dynamik, indem Differenzierungen ästhetisch inszeniert, gestaltet und umgestaltet, gleichzeitig dadurch aber auch hinterfragt werden. Der Ambivalenz der Grenze geschuldet geht es in den Texten Moras um die Janusköpfigkeit, darum, dass Grenze zum einen als Bedrohung erscheint, »wer aus der Höhle kommt, hat, zack, ein Messer im Rücken« (U 79)23 , zum anderen aber auch im Sinne neuer Möglichkeiten auf die Bühne tritt. Aufhebung und Entgrenzung gehören, das führen die Texte vor Augen, auch zum signifikanten poetologischen Reservoire der Autorin, da die Herausforderung der Grenze, die Initiierung von Geschichten verlangt. Diese Auseinandersetzung mit der literarischen Form, die nicht nur im Fokus der Frankfurter Poetikvorlesungen steht, schlägt sich bei Mora allgemein in einem metapoetischen Reflexionsmodus nieder. Das Oeuvre stellt unter Beweis, dass die Komplexität der Grenze in Anbetracht der verschiedenen Ebenen, wie Thematik, Perspektivik, Narrativität und poetologische Autoreflexion gerade literarisch am adäquatesten verarbeitet werden kann. Erklärtes Ziel dieses Buches ist verschiedene Erscheinungsformen des Phänomens ›Grenze‹ in der Prosa Moras systematisch zu erfassen. Die folgenden Überlegungen sind bemüht, aus einem interdisziplinären Blickwinkel, einen neuartigen Zugang zu den Texten Terézia Moras zu verschaffen.
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Mora: 2013. Aus dem Roman wird im Folgenden im laufenden Text mit der Sigle U und Seitenzahl in Klammern zitiert. Dieses Bild des Aus-der-Höhle-Kommens ist wiederum auch als Grenzüberschreitung im Textraum zu verstehen, die die poetologischen Essays aus Nicht sterben mit dem Roman Das Ungeheuer verbindet.
1 Aus der Höhle kommen
»Alles ist hier Grenze« (SM 58)24 heißt es in einer Erzählung des Erzählbandes Seltsame Materie. Terézia Mora ist also bereits in ihrem Debüt bewusst, dass sie an Grenzen arbeitet. Durchforstet man ihre bisher erschienenen Texte, ist es nicht zu übersehen, dass die Problematik der Grenze einen zentralen Reflexionsgegenstand darstellt.25 Als allgemeines Spezifikum kann bei Mora seit dem ersten Erzählband die Insistenz auf den Setzungscharakter von Grenze und Ordnung hervorgehoben werden. Diese Tatsache hängt eng mit dem Möglichkeitssinn zusammen, mit der Besinnung auf ein Auch-AndersSein-Können, auf Variabilität von Grenzziehungen im Hier und Jetzt, und weist somit gleich die perspektivische Bestimmtheit und den Konstruktcharakter der so entstehenden Ordnungen hin. Es geht in diesem Kontext um verschiedene Praktiken der Signifikation, um das Rubrizieren der Welt der Ordnung durch Bedeutungsnetze, durch soziale und vor allem durch literarische und andere Systeme, die durch ihre Register Fixierungen und Ordnungsmodelle herstellen, die als Orientierung, als ein Bezugssystem herhalten. In den Texten Moras werden jedoch gerade diese Ordnungen, ebenso die sozialen wie die literarischen, die Statik und Stabilität implizieren, durch Modi der Bewegung und des Übergangs unterlaufen. Wie das »20. Jahrhundert […] ästhetisch, politisch, gesellschaftlich, subjektphilosophisch vom Phänomen des Transits geprägt« ist,26 so ist die Prosa von Terézia Mora durch und durch von Grenzüberschreitung und Transit geformt. Ihre Erzählungen, Essays, Romane, die in der letzten Dekade des 20. und in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts erschienen sind, sind geradezu stigmatisiert von der Präsenz der Grenze und ihrer Übertretung, generell vom Übergang als zentrale Denkfigur des thematisch-motivischen genauso wie der Narration. Dominant wird in Bezug auf Entgrenzung auf allen Ebenen ein nomadisches Prinzip. Bei der Etablierung dieses Prinzips »verliert
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Mora: 1999. Aus diesem Band wird im Folgenden im laufenden Text unter der Sigle SM und Seitenzahl in Klammern zitiert. Tatsächlich scheint die Grenze eine zentrale Kategorie in Moras Oeuvre zu sein. Dies gilt nicht allein für die offensichtliche Präsenz von Grenzen, von Landes- oder Systemgrenzen, auf die sich die Mora-Forschung von Anfang an bezieht.Vgl. z.B. Prutti: 2006, 82-104, Kegelmann: 2009, Schlicht: 2009, Horvath: 2016. Eine zwar nicht vollständige, doch ausführliche Liste der Forschungsliteratur zu Texten von Mora findet man in dem »Text und Kritik«-Band, der vom Lektor Moras beim Luchterhand Verlag, Klaus Siblewski, 2019 herausgegeben wurde. Die Liste beinhaltet ausschließlich Publikationen auf Deutsch oder Englisch. Vgl. Siblewski: 2019. Bartl/Klinge: 2012, 9.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
die Identitätslogik ihre Gültigkeit«,27 und dies geschieht dadurch, dass das Anders-Werden akzentuiert wird. Codes kultureller Formationen und symbolischer Ordnungen werden letztlich aufgebrochen. Während Grenze mit Bestimmtheit und Komplexitätsreduktion zusammenhängt und in einem identitätslogischen Denken verankert ist, können Unbestimmtheit und Kontingenz durch die Inszenierung von Grenzüberschreitung erreicht werden. Ein Darstellungsmodus, der dies praktiziert und Unentscheidbarkeit produziert, führt zugleich eine Dekomposition zentraler Elemente der symbolischen und damit auch der literarischen Codes durch. Den Angelpunkt der Untersuchungen bildet hier die Romantrilogie Moras, in der Dynamisierungen und Dekompositionen von Ordnungen im Fokus stehen. Das Hauptgerüst der Bücher bilden einige Jahre aus dem Leben von Darius Kopp, die Trilogie stellt aber zugleich eine Zeitdiagnose über Befindlichkeiten und Möglichkeiten des Menschen, von Krisen, Verwicklungen und doch immer wieder sich auftuenden Wegen auf. Die Romane sind gleichzeitig eine Reise durch das Europa des neuen Jahrtausends. Durch die Lebensgeschichten der Figuren wird jedoch auch ein breites Spektrum von Zusammenhängen und Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts und seinen Bezügen zur Gegenwart eröffnet. Durch die Geschichte von Darius Kopp und seiner Frau Flora werden in den drei Romanen, Der einzige Mann auf dem Kontinent, Das Ungeheuer und Auf dem Seil Bestrebungen der Protagonisten aufgedeckt, mit der Komplexität des Daseins irgendwie zurechtzukommen. Geprägt ist ihr Weg von Grenzüberschreitungen im Sinne von räumlicher Bewegung, aber auch im Sinne von Krisen und Ansätzen der Normalisierung. Der Weg ist immer als ein Seiltanz zwischen Gelingen und Scheitern, Glück und Abgrund konzipiert, als ein Versuch den von allen Seiten drohenden Ungeheuern zu entkommen, wobei jedoch die Figuren selber zu Monstern werden. Diese Studie legt den Akzent auf die Frage, wie Mora über das Thematische hinaus eine Poetologie und eine Ästhetik der Grenze und des Grenzübertritts entfaltet. Der Fokus soll darauf gelegt werden, wie die Grenze nicht nur thematisch-motivisch, sondern auch in ihrem formalen Potential eingesetzt, als gestalterische Kraft relevant wird. Untersucht man die Grenze als eminent literarische, ästhetische Kategorie, wird der Blick über das Thema hinaus auch darauf gerichtet, wie die Grenze zur Produktionsbedingung wird. Nicht nur die Figuren, die die Texte bevölkern, übertreten Grenzen, bewegen sich in Zwischenräumen, sondern der Text selbst inszeniert eine Art 27
Fuss: 2001, 20.
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Tanz an Grenzen, sogar an denen der Textualität. Einen wichtigen Pfeiler der Analyse bildet demzufolge die Frage, wie die Erzählpraxis aussieht, welche Schreib- und Artikulationsweisen, welche Baulogiken sichtbar werden, wenn Übergang, Durchquerung und Passage als Liquidation von Grenzen das Movens des Erzählens bilden.
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2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
2.1
Gesellschaftliche Dynamiken und ihre erzählerischen Äquivalenzen: permanente Liminalität
Als Spezifizierung der Fragestellung versucht die Studie auszumessen, wie bei Terézia Mora Elemente der Ordnung auf dem Prüfstand stehen, wenn die Chiffre des Transits ihre räumliche Anbindung gelockert hat und verabsolutiert wird. Es stellt sich in Anbetracht dieser Materiallage die Frage, von welchem theoretischen Horizont aus und mit welchem methodologischen Werkzeug literarische Phänomene, die grundsätzlich Grenzen und Transgressionen modellieren, analytisch erschlossen werden können. Das wissenschaftliche Interesse gilt der Frage, mit welchen Konzepten eine Situation zu fassen ist, in der Stationen im fremden Raum, das Streifen unbekannter Orte und die Durchquerung von Seins-Zuständen wirksam werden, in denen aber auch Umwandlungen von gesellschaftlich-kulturellen sowie gedanklich-kommunikativen Verhältnissen und diskursiven Praktiken auf dem Prüfstand stehen. Die Basis der Untersuchung bildet hier folglich kein starres, sondern eher ein performatives Konzept von Grenze, das die Grenzlinie und zugleich ihre Überquerung in den Blick rückt. Dienstbar gemacht wird der aus der Ethnologie bzw. Anthropologie stammende Konzept von Viktor Turner, die Liminalität,1 das den Übergang von Seins-Zuständen modelliert. Die Struktur von Übergangsfigurationen interessiert hier nicht direkt im Sinne der Definition von Turner, oder seinem Vorfahren, van Gennep, sondern in einer, davon in einigen Punkten markant abweichenden, neueren Modellierung. Diese stammt aus den Sozialwissenschaften und ist mit dem Namen von Árpád Szakolczai
1
Turner: 2000, 95.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
verbunden.2 Will man den theoretischen Rahmen weiter abstecken und die Problematik der Grenze mit dem anthropologischen Konzept fassen, müssen in einigen Schritten die Unterschiede ausgearbeitet werden, die zeigen, wie das Modell in traditionellen bzw. in posttraditionellen Gesellschaften zu verstehen ist. Das anthropologische Konzept des Übergangs erscheint in vielen seinen Ausprägungen und eignet sich, da es, wie zu zeigen gilt, narratologische Äquivalenzen aufweist, für eine literaturwissenschaftliche Fragestellung ganz besonders.3 Durch diese Perspektivierung wird Liminalität neben den anthropologischen, ethnologischen, sozialen Implikationen auch als eminent ästhetisches Konzept berücksichtigt und akzentuiert. Die Ausgangsbasis bildet bei den folgenden Überlegungen das vom Ethnologen van Gennep festgelegte Dreiphasenmodell gesellschaftlicher Dynamiken, die Übergangsriten, und ihre Funktion in vormodernen, stabilen, magisch-religiösen Gesellschaften. Die Modellierung dieser Riten zeigt, wie Grenze und Grenzübertritt, wie Ordnung und Austritt aus der Ordnung in traditionellen Gesellschaften funktionieren. Es interessiert hier, wie der Grenzübertritt ritualisiert, durch symbolische Aufladungen gestaltet ist, und somit trotz des Übertritts doch als Teil der Ordnung gesehen werden kann. Ausgangspunkt in dem Drei-Stufen-Schema van Genneps ist der Zustand der Ordnung mit klaren, eindeutigen Grenzziehungen markiert. Das Individuum kommt, wie der Ethnologe formuliert, »aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte«.4 Dieser Prozess ist nach van Genneps Darstellung eine Hinüberführung, die durch »spezifische Handlung[en] begleitet«, »reglementiert, überwacht« wird, »damit nicht die ganze Gesellschaft weder in Konflikt gerät noch Schaden nimmt«5 . Die erste Phase des Grenzübertritts ist die Trennung, die nächste ist ein Übergangsstadium, Schwelle oder Umwandlung genannt, in dem die Gesetze der Ordnung außer Kraft gesetzt werden, der Mensch in ein Niemandsland, in die Instabilität und Regellosigkeit, ja in das Chaos kommt. Nach einem Aufenthalt in diesem
2 3
4 5
Vgl. Szakolczai: 2009. Parr betont, dass die Literatur als »Quelle der Wissenstransformation« eine Vorliebe für Grenzen aufweist. (Parr: 2008, 32.) Da auch das Ritual und das Modell des Übergangs als »erzählte Form« verstanden werden können, und somit Korrespondenzen zur Literatur aufweisen, können literaturwissenschaftliche mit anthropologischen Modellen verbunden werden. Ebd. 46. Van Gennep: 1999, 15. Ebd.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
Schwellen-Raum, der auch temporär begrenzt ist, kommt in der dritten Phase eine Eingliederung in die neue Ordnung.6 Lösung, Transformation, Wiedereingliederung sind die Stufen des Modells, das von Turner übernommen und erweitert wird. Wichtig dabei ist unter anderem, dass Turner dieses Muster weiterdenkt und sein Konzept zum einen auch für komplexe und säkulare Gesellschaften geltend macht. Zum anderen betont er, dass dieses Modell, der Begriff des Rituals sich auch auf andere Bereiche übertragen lässt. Die von Turner benannten Phasen, wie Bruch, Krise, Bewältigung und entweder Reintegration oder Anerkennung der Spaltung, korrespondieren mit dem Originalmodell. Wichtig für beide Konzepte ist, dass sowohl der räumliche als auch der zeitliche Übergang stark ritualisiert, d.h. inszeniert ist. Turner nennt die Etappe der Bewältigung Liminalität, eine Schwellenphase, eine Art Anti-Struktur, in der Schwellenwesen agieren.7 Indem jedoch Turner den Blick ausweitet und von sozialen Dramen8 spricht, geht es bei ihm um allgemeine Erscheinungen von Krise und Modi der Krisenbewältigung, die die mittlere Phase, die Etappe der Bewältigung, eine Art Anti-Struktur, in der Schwellenwesen agieren, ins Zentrum rücken. Dieser Teil des Transformationsprozesses gewinnt Eigenständigkeit und wird von Turner als unstrukturiert, paradox, ambig beschrieben, als ein Seinsmodus, in dem alle Klassifizierungen ausgesetzt sind. Schwellenwesen werden als Grenzgänger konzeptualisiert, die ihre »vom Gesetz, der Tradition, der Konvention«9 fixierte Position verlassen. Der kulturell definierte, stabile und wiederkehrende »Zustand« des Ausgangs unterscheidet sich signifikant vom »Übergang«, in dem der Passierende kulturelle Bereiche durchschreitet, die wenig, oder keine Merkmale der bekannten Ordnung aufweisen,10 in denen die soziale Ordnung auf den Kopf gestellt ist.11 Die Reintegration der letzten Phase garantiert jedoch wieder relative Stabilität, Definitionen und Klar-
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9 10 11
Vgl. ebd., 34. Van Gennep versteht dieses Modell heuristisch, methodologisch, betont aber auch, dass dieses Schema Kulturen übergreifend nachzuweisen ist, also als ein anthropologisches Modell verstanden werden kann. Vgl. Turner: 2000, bes. 94-105. Vgl. Turner: 1995. Mit dem Konzept des sozialen Dramas überschreitet Turner die Grenzen der Ethnologie, da es hier um die Betrachtung sozialer Konflikte im Allgemeinen geht, womit das Modell auch für »fortgeschrittene Zivilisationen«, für komplexe Gesellschaften gültig wird. Vgl. ebd. 33, vgl. auch 140-160. Vgl. Turner: 2000, 95. Vgl. ebd., 94. Vgl. ebd., 39.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
heit,12 das Schwellenwesen richtet sein Verhalten wieder nach tradierten Normen und ethischen Maßstäben aus.13 Das von Arnold van Gennep 1909 an traditionellen Gesellschaften erarbeitete, von Viktor Turner in den 60-er Jahren weiterentwickelte und hier kursorisch skizzierte Modell liegt der Analyse in einer Form zu Grunde, in der bedacht wird, dass die Gegenwart, das postindustrielle Zeitalter, in denen Terézia Moras Romane spielen, als eine Zeit des Transitorischen und Säkularen gilt,14 und in der die fortwährende Setzung von Ordnungen und Rahmen, aber auch die Auffächerung von Setzungen im Fokus steht. Hier kann demnach das traditionelle Modell des Wandels und Übergangs nicht mehr unhinterfragt dienstbar gemacht werden. Generell gilt auch heute jedoch einerseits, dass Rituale als »Werkzeuge« zu verstehen sind, die »der Mensch braucht, um Zufall in Ordnung zu verwandeln«.15 Andererseits ist allen Entwürfen gemeinsam, dass sie »überkommene Konstrukte der Identität zugunsten pluralistischen Denkens zu Disposition« stellen.16 Sind aber die traditionellen Modelle von Ritualtheorie einerseits von festen, bleibenden Grenzen ausgegangen, und haben andererseits den Übergang zwischen verschiedenen Ordnungen in einer organisierten, beaufsichtigten Form garantiert gesehen, hinterfragen hingegen die gegenwärtigen Theoretisierungen dieses Konzept. Ein anderer markanter Unterschied ist darüber hinaus, dass im herkömmlichen Modell die Ordnung bewusst und mit Absicht aufgehoben wird, und die Schwellenphase mit Hilfe von Übergangsriten überbrückt wird. Spricht man hingegen von Liminalität im »wirklichen Leben«, ist damit die Situation posttraditioneller Gesellschaften gemeint, in denen die Ordnung tatsächlich zusammengebrochen ist und der liminale Zustand demzufolge nicht nur temporär eintritt.17 In der Dynamik des Wandels ist hier das eigentlich ungestörte Funktionieren
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Vgl. ebd., 94. Vgl. ebd., 95. Die neuere Ritualtheorie betont, dass Rituale seit der Jahrhundertwende um 1900 keinen religiösen Bezug mehr haben, sondern vielmehr als symbolische Handlungen zu verstehen sind. (Vgl. Krieger/Bellinger: 2013, 7.) Der ›harte‹ Ritualbegriff schwindet also, und hervorgehoben wird demgegenüber in der neuen Forschung der performative Aspekt von Ritualen. Vgl. ebd. 9. Vgl. ebd., 17. Parr: 2008, 15. Szakolczai: 2000, bzw. 2009, hier zitiert nach Stenner: 2016, 49f. Die Problematik von liminalen Erfahrungen, bzw. wie diese transitorischen, Zustände verändernden Erfahrungen aussehen und beschrieben werden können vgl. bes. Szakolczai: 2009.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
der Struktur nicht mehr gegeben. Selbstverständlich fehlt bei diesem Übergang im »wirklichen Leben« auch der inszenatorische Rahmen, der im traditionellen Modell doch den Fortbestand der Kultur garantiert. So spricht die Forschung bei der Modellierung unserer Zeit einerseits von einer permanenten18 und andererseits von einer nicht-inszenierten19 Liminalität, wodurch die Grenze als etwas Interliminales20 gesehen werden kann. Will man die Natur der ›modernen‹ Welt verstehen, kann nach Szakolczai Liminalität zu einem Leitparadigma werden21 , nicht zuletzt auch aus dem Grund, da das Konzept,
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Vgl. Szakolczai: 2017. Zu erwähnen sind hier Analysen des Soziologen Àrpád Szakolczai, der mit verschiedenen Theoriekonzepten aus Anthropologie, Soziologie, Philosophie oder Politologie versucht, die ›moderne Welt‹, womit auch unsere Gegenwart gemeint ist, aufzudecken. Eine seiner Konzeptualisierungen ist, dass Modernität eigentlich als permanente Liminalität zu verstehen ist. Er versucht auch mit Hilfe literarischer Texte der deutschen Literatur und des Theatralen die ›modern condition‹ zu fassen: »nature and dynamics of the modern world, through the use of a series of anthropological concepts, including the trickster, schismogenesis, imitation and liminality. Liminality has the potential to be a leading paradigm for understanding situations between defined structures«. »The anthropological concept ›liminality‹ is particularly helpful in understanding the formative aspects of transition experiences«. (Vgl. ebd. Preface ohne Seitenangabe.) Szakolczai misst dem Konzept der Liminalität eine zentrale Rolle für die Beschreibung unserer Zeit zu, was auf eine andere Art und Weise auch Terézia Mora in ihrer Romantrilogie tut. Auch nach Szakolczai sind nicht Soziologie oder Anthropologie am besten geeignet unsere Welt zu beschreiben, sondern der Roman. In diesem Sinne deutet er die Kunst vom Anfang des 20. Jahrhunderts und darunter Hofmannsthal, Kafka, Thomas Mann, Doderer und andere. Vgl. Szakolczai: 2017, vgl. auch Szakolczai: 2015, 6-29. Stenner, 2016, 45-68. bes. 49f. Kurbacher: 2011, 28. Kurbacher stellt hier das Interliminale als eine Möglichkeit des Denkens jenseits von binären Aufteilungen heraus. Für dieses Modell sei das Denken der Grenze nicht mehr konstitutiv. Turner selbst hat in den 80-er Jahren sein ursprüngliches Konzept mit diesem Gedanken ergänzt, wenn er vom ›Liminoiden‹ spricht. Mit dieser Modifizierung reflektiert Turner auf eine, für meine Fragestellung zentrale Beschaffenheit, wenn er betont, dass in Anbetracht des Liminoiden Reintegration in die Gesellschaft nicht mehr möglich wird. Vor allem vgl. Turner: 1995, 28-94. Korrespondenzen können auch zwischen Groteske und Liminalität kenntlich gemacht werden, wenn man darauf fokussiert, dass das Groteske als indifferenter Interferenzraum gesehen, und in diesem Sinne mit »In-der-Schwebe-halten« oder auch mit dem »Dazwischen-Sein« beschrieben werden. Vgl. dazu Fuss: 2001, 60. Vgl. Szakolczai 2017.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
wie Stenner zeigt, »transdisziplinäres Potential«22 hat, und so auch in der Literaturwissenschaft dienstbar gemacht werden kann. Eine moderne, betont Disziplinen übergreifende Re-Konzeptualisierung vom Turnerschen Modell versucht Ralf Parr. Er fragt zum einen nach den verbindenden Elementen der interdisziplinären Auffächerung und geht zum anderen dem nach, wie das Schema von Liminalität in verschiedenen Wissenschaftszweigen dienstbar gemacht werden kann. Parr hebt hervor, und dieser Gedanke muss auch dem vorliegenden Buch zu Grunde gelegt werden, dass die Rede über Grenze, Schwelle oder Passage »fast immer symbolischen oder metaphorischen Charakter« hat, und gerade deswegen sich für »literaturwissenschaftliche Anschlüsse« ausgezeichnet eignet.23 Mit den genannten Konzepten als Neubestimmungen von Liminalität werden die Grenzen der traditionellen Phasen, die in einem identitätslogischen Denken fußen, verwischt, und es geht eminent darum, dass der Aufenthalt im Schwellenbereich erstens überhaupt keine Orientierung ermöglicht, zweitens keine rituelle Überbrückung anbietet und drittens, dass die Übergangszone nicht beendet werden kann, da es keine stabilen Strukturen, keine statischen Sozialordnungen mehr gibt. Das Modell von Einsetzung, Überschreitung und Wiedereinsetzung von Grenzen ist passé, es kommt vielmehr zu einer Ausdehnung der mittleren Phase, die Grenze wird zum Schwellenraum der Interaktion, der Infiltration und der Überlappung. Der Akzent verlagert sich somit auf das transformative Potenzial dieses Zwischenraumes. Während die Ethnologie die an Rituale gebundene Liminalität zwar als anarchischen Übergang, als ›Sein außerhalb der Ordnung‹ beschreibt, definiert sie dies als Phase einer Triade. Es gibt einerseits eine Ablösung und
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Vgl. Stenner: 2016, 46. Parr: 2008, 16. Parr bringt in diesem Aufsatz auch zahlreiche Beispiele für mögliche Anschlüsse für andere Disziplinen wie z.B. die Interdiskurstheorie (ebd. 34ff), der Normalismusforschung (ebd. 38ff), allen voran in Bezug auf Foucaults Die Ordnung des Diskurses die Diskursanalyse (ebd. 31ff) als verbindendes Glied. Auch die von Parr aufgelisteten literaturwissenschaftlichen Anknüpfungspunkte sind immens, es geht um die Problematik von Intertextualität (darin auch Paratextualität) und Intermedialität, um die phantastische Literatur, um Epochen und Gattungsgrenzen, und betont wird, dass im Sinne vom liminalem Übergang die Transgression von der Textebene auf die Rezeptionsebene übertragbar ist. Einige von den von Parr genannten Verknüpfungen vom Turner’schen Modell und der Literaturwissenschaft werden in diesem Buch im Fokus des Interesses stehen.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
Ausgliederung in diesem Prozess, wenn die alte Position aufgehoben ist, aber andererseits auch eine Sicherheit der Wiedereingliederung. Das Subjekt verlässt in diesem triadischen System seine herkömmliche Ordnung, verharrt eine Zeit lang in einem Übergangsstadium der Unsicherheit und der Unschärfe. Nach Vollzug bestimmter Taten kommt das Subjekt in eine höhere Ordnung, und wird in diesem neuen Zustand reintegriert.24 In Bezug auf diese Erfahrungen von Übergang spricht Stenner von inszenierter Liminalität, der ein anderes Modell, die nicht-inszenierte Form des ›wirklichen Lebens‹ gegenübergestellt wird, in der die Änderung, bildhaft gesprochen, »über uns kommt, wie ein Stein«25 . Damit ist unsere Gegenwart, die posttraditionelle Gesellschaft zu beschreiben. In Zeiten, in denen Fluidität26 und der Transit27 zur Normalität werden, erscheinen Stenners Ansichten zutreffend, wenn er behauptet, dass wir in unserer Gegenwart auf das treffen, was als »Hotspots permanenter oder andauernder Liminalität«28 gesehen werden kann. Der Passant ist heute ständig in der Schwebe, »in einem Zustand fortwährenden Übergangs, wie ein rollender Stein, der weder Moos ansetzen noch frei rollen kann«.29 Diesen Zustand, den transitorischen Aufenthalt an Orten und in Zuständen und den fortwährenden Wechsel dieser Zustände gestalten Moras Texte in der hier zur Diskussion stehenden Romantrilogie auf vielen unterschiedlichen Ebenen. Vor allem gilt hier auszuloten, wie ausgehend von den theoretischen Überlegungen die Romanwelten verstanden werden können. Es soll des Weiteren ein Analysemodell entwickelt werden, das die verschiedenen Ebenen der Untersuchung miteinander verbindet. Der Kern dieses Musters ist die Problematik von Liminalität, die bereits in der Definition von Turner an die Gesellschaft gebunden ist. Die Figuren charakterisieren verschiedene Formen und Möglichkeiten des Austritts aus der jeweiligen Ordnung und die Begegnung mit neuen, anderen Ordnungen. Bei Mora gibt es aber in keiner Hinsicht eindeutige Zustände und klar identifizierbare Positionen, denn der Rahmen, in dem sich die Figuren bewegen, ist
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28 29
Turner: 2000, 47. Stenner: 2016, 49. Vgl. Baumann: 1997, 2003, 2007. Vgl. Bartl/Klinge: 2012. Der Transit kann auch als Unterwegs-Sein, als Vagabondage u.ä.m konzeptualisiert werden. Vgl. stellvertretend Bachmann: 1997, Fähnders: 2007a, 2007b. Stenner: 2016, 64. Herv. i. Orig. Ebd. Zu bemerken ist, dass mit dem ›rollenden Stein‹ auch Stenner sich in der Metaphorik von Nietzsche bewegt. Vgl. Nietzsche:1954, 126-128.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
immer schon gemischt und uneindeutig. Es gibt keine Ordnung im Sinne von Statik, sondern immer nur eine, in der Diffusion und Dynamiken signifikant werden. Gezeigt wird, dass diese Grundposition für das ganze Oeuvre von paradigmatischer Bedeutung ist, denn Mora inszeniert sowohl thematisch als auch sprachlich oder narrativ das Beben aller Sicherheiten und damit den Aufenthalt in transitorischen Schwellenräumen. Das Unterwegssein als Bild für Stadien des Übergangs, wenn der Einzelne als Passant zwischen Strukturen und Ordnungen erscheint, wird im Motiv der Reise als thematischer Schwerpunkt der analysierten Bücher manifest, in denen die Hauptfiguren, Flora und Darius, im Niemandsland herumirren, sei dieses Niemandsland die tatsächliche Welt oder die Welt der Literatur. Auch durch das Motiv der Reise und der Bewegung bricht das Außer-Ordentliche, das Fremde in die gewohnte Ordnung hinein. So sind wie bei van Gennep und Turner30 auch bei Mora räumliche Übergänge als Modell von Liminalität zu verstehen, da das Reisen Grenzen verschiebt und das Anders-Werden akzentuiert. Der Prozess wird hier als eine Dynamisierung von Identifikationsprozessen gedeutet. Diese Dynamisierung prägt das Textganze sowohl thematisch als auch strukturell. Aufgedeckt werden sollen im Folgenden die Möglichkeitsräume, die durch die überall forcierte Bewegung und durch eine radikalisierte Mobilität entstehen, der in Form von Verausgabung auch das Erzählen selbst unterworfen ist, da die narrative Gestaltung keine Erzählökonomie kennt. Die Struktur der unendlichen Wiederholung bringt Textmonster31 zustande, die auch zwischen konkreter und figurativer Lesart kippen und sich im Metafiktionalen unendlich spiegeln. Setzt sich die Studie mit diversen Figurationen von Schwelle auseinander, führt sie vor Augen, dass posttraditionelle Vergesellschaftung als eine radikale Transformation tradierter Gemeinschaftsstrukturen gesehen werden muss, die anderen Codes folgt und divergente Praktiken einsetzt. Basal wird bei posttraditionellen Gesellschaftformationen die Reflexion von Kontingenz, was den kategorialen Wandel von Gesellschaft, die von der Annahme einer kosmischen oder essentialistischen, überhaupt einer vorgegebenen Ordnung abrückt, spiegelt. Wenn es keine vorgegebene und allumfassende Ordnung32 gibt, nichts einen notwendigen Existenzgrund hat, öffnet sich der Horizont für die Annahme, dass alles auch anders sein könnte.
30 31 32
Vgl. van Gennep: 1999, 25, vgl. auch Turner: 2000, 36. Helduser: 2009, 669-688. Waldenfels: 1985, 80.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
Es ist ein Kernanliegen dieses Buches darzustellen, dass im Textkorpus die Transformation von Ordnungskonzepten symptomatisch ist, die nicht nur historisch variieren, sondern in gegenwärtigen Gesellschaften, die bei Mora thematisiert werden, parallel präsent sind und die Heterogenität, Simultaneität und damit auch Opazität mit sich bringen. All dies lässt Grenzen verschwimmen, und hat Überblendungen, das Changieren verschiedener Ordnungsressourcen und Figurenkonstellationen zum Resultat. Das Sozialgefüge erliegt einer fundamentalen Änderung, es kommt zu einem Ordnungsschwund, da das sozial Vorgegebene und das Offene verschränkt werden. Individuelle Lebensentwürfe, das Denkmögliche, die Wahl treten auf die Bühne, und gehen oft Hand in Hand mit dem Tradierten, was zu diversen bizarren Vermischungen führt. Die Texte stellen somit eine komplexe Konstellation von Fremdem und Eigenem, von Identität und Differenz zur Schau. Wegen der so entstehenden Disparatheit und Unbestimmtheit ist die Rekonstruktion von Ordnung und Normalität nicht mehr möglich.33 Es geht auch für den Einzelnen nicht darum, »eine vorgegebene Ordnung […] zu reproduzieren und zu wiederholen«.34 Korrespondierend mit Intransparenz und Opazität werden anstelle von Ordnung vielmehr Chaos, Dynamik, Offenheit, und die Unmöglichkeit von Kalkül die Leitbilder der posttraditionellen Gesellschaftsformationen und so der Texte Moras. In diesem Rahmen ist die Institutionalisierung von Grenzübertritt (Ritual) genauso problematisch wie intentionales Handeln. Um eine Art Normalisierung erreichen zu können sind aber bestimmte soziale Kompetenzen und Selbstpraktiken gefordert. Jenseits von vorgegebenen, festen Interpretationsrahmen steht der Einzelne im Zustand des Übergangs einem transitorischen, heterogenen und opaken Gebilde gegenüber, das eine Simultaneität von Möglichkeiten aufweist. In dieser Komplexität sollte sich der Passant verorten, um eine gelingende (Re)Integration zu erreichen. Anstelle von Reintegration wird das ›Subjekt‹ in dem Paradigma der permanenten, nicht inszenierten Liminalität vielmehr als Suchender konzeptualisiert, der sich immer wieder selbst einen neuen Rahmen bilden muss. Dies geschieht in einem performativen Prozess. In diesem Prozess stützt sich der Passant zwar zum einen auf vorhandene Ressourcen und zum anderen auf imaginierte Möglichkeiten. Allerdings kann die Suche nie zufriedenstellend beenden werden. 33 34
Vgl. Waldenfels: 1998, 12f. Waldenfels: 1985, 80.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
In diesem Selbstregime kann sich das ›Subjekt‹ theoretisch an geltende Normen halten, selbst die sind aber weder allgemeingültig noch statisch, und werden nicht nur re-, sondern immer wieder auch neu konstruiert.35 Da gesicherte Erfahrungswerte abhanden kommen,36 versagt der Einzelne in der kapitalen Entscheidungssituation der Krise,37 in die er durch die Grenzüberschreitung gerät. Er ist nicht mehr eingebunden in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext, er ist vielmehr einsam und auf sich gestellt. Während Rituale einen Handlungsverlauf wie ein Rezept, das zur Heilung führt, dargeboten haben, muss bei nicht inszenierter Liminalität ein derartiges Rezept erst noch gesucht werden. Da gerade die Phasen der Transformation bzw. die Handlungsmacht das Subjekt konstituiert haben, kann nun dieser Konstitutionsprozess nicht vonstattengehen. So bleibt es auch weitgehend unklar, was unter dem Label ›Subjekt‹ verstanden werden könnte.38 Ein zentraler Reflexionsgegenstand der Studie ist, dass die Schwellenräume Sprach- ebenso wie Subjektkonzepte und damit korrespondierend narrative Modelle angreifen, indem durch den fortwährenden Übergang monströse Ordnungen instituiert werden. So bekommen liminale Phasen ohne soziale Regulation und vorgegebene Handlungen im ›wirklichen Leben‹ besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf Ziele, Vorgänge, Positionierungen des Einzelnen, und dessen Selbstmanagement. Statt vorgegebener Handlungen dominieren Selbstentscheidungen, bzw. Suchbewegungen, Aufschiebungen, oder gar Verweigerungen. Die Übergangszeit ist ambivalent, denn zum einen kommt es hier zu einer Befreiung von allen sozialen Zwängen und Normen, zum anderen erscheinen in diesem befremdlichen Zustand auch bedrohliche Kräfte: das Ungeheuer, das Monster des diffus Ungreifbaren bricht ein, und erschwert den Übergang in eine mögliche neue Ordnung.
2.2
Liminalität und Monstrosität
Das Monströse kann als zentrale Figur für »die Selbstwahrnehmung des 20. Jahrhunderts« bezeichnet werden,39 es hat aber auch im 21. Jahrhundert »Konjunktur« und reflektiert nach wie vor Fragen von Grenze, Klassifikation, 35 36 37 38 39
Vgl. Waldenfels: 2008, 12. Vgl. Hülk: 2013, 116. Ebd., 115. Reckwitz: 2013, 14. Schmitz-Emans, 2009: 523.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
Norm und Ordnung. So gilt das Monster als »paradigmatische Schwellenfigur«, als »liminale Figur«,40 das ästhetische und kulturelle Strukturen sichtbar macht. Es ist eine Figur der Oszillation und Hybridität,41 die ein »clash der einfachen Differenz und binären Klassifikationsschemata« demonstriert.42 Das Monströse kann andererseits als ein Zeichenphänomen betrachtet werden, das als Reflexionsmedium die »historischen Fiktionen der conditio humana« problematisiert.43 Der Blick in die Forschungslandschaft zeigt, dass Monstrosität in Bezug auf Foucaults Ordnung der Dinge konzipiert werden kann, da monströse Figurationen immer mit Ordnungen und ihren Brüchen, mit individuellen Verhaltensdevianzen zusammenhängen.44 Als diskursive Formation kann das Monströse ex negativo auf Grenzen und kulturelle Codes verweisen. Mechanismen der Grenzziehung und Ausgrenzung, die das Eigene und Heimische rein zu halten versuchen, können als ›Monstrierung‹ verstanden werden.45 Solche Ordnungen bringen, liminale Figurationen des ›Zwischen‹ zu Stande. Das Monster spielt hier als hybrides Mischwesen, als Mixtum eine Rolle, das natürliche Grenzen, Klassifikationen und Kategorien überschreitet.46 Somit wird das Monster als paradigmatische Schwellenfigur konzipiert, unabhängig davon, ob es um Körper, Verhaltensnormen, Subjektdispositionen und deren Repräsentationslogiken oder um ästhetische-kulturellen Kontexte geht.47 40 41 42 43 44
45 46 47
Geisenhanslücke/Mein/Overthun, 2009: 9f. Parr arbeitet in seinem Beitrag die aktuellen Faszinationstypen des Monströsen heraus. Vgl. Parr: 2009, 19-42. Overthun: 2009, 50, 46. Ebd., 51. Ebd., 52. Herv. i. Orig. Vgl. Geisenhanslücke/Mein/Overthun: 2009, 9. Wie der Sammelband von Geisenhanslücke und Mein zeigt, gibt es sehr viele diverse Annäherungen an das Monströse und an Monstrosität. Allen gemeinsam ist jedoch, und damit korrespondieren auch die Überlegungen von Borgards, Holm und Osterle (2009), dass diese Konzepte sich zum einen mit identitätsstiftenden Grenzziehungen und Hand in Hand damit mit Alterität, mit dem Anderen der Kultur befassen. Sie sind Figurationen, die sich dem Denken der Identität sperren, vielmehr als eine paradoxe Denkwidrigkeit, als bestimmte Unbestimmtheit zu sehen sind. Ins Auge sticht darüber hinaus, dass Foucaults Theorien der gemeinsame Nenner zu sein scheinen, egal ob man über Grenzen, Ordnungen und das Fremde (Waldenfels), über monströse Figurationen (z.B. Overthun, Toggweiler), oder über sozialanthropologische Fragestellungen von Liminalität und Krise (Turner, Szakolczai, Stenner) nachdenkt. Vgl. Toggweiler: 2013, 60. Vgl. Geisenhanslücke/Mein/Overthun: 2009, 10f. Vgl. ebd. 11.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Das Monströse nimmt generell eine zentrale Rolle ein, wenn es darum geht kulturelle Strukturen erst sichtbar zu machen. Dabei spielt keine Rolle, ob es sich um soziale Modelle, übergreifende Diskursformationen oder ästhetische Codes handelt. Das Monster stellt somit wichtige Fragen in Bezug auf Ästhetik und Kulturtheorie.48 Das Monströse reagiert dabei auch auf die eigenen Konstitutionsbedingungen und Normalitätsverhältnisse einer Kultur,49 auf Grenzen als Übergangsräume, in denen Positionen neu ausgehandelt werden. So wird in der Studie Monstrosität als allgemeines, für das ganze Textkorpus geltendes Charakteristikum von Grenze und Liminalität exemplifiziert. Monströse Konstellationen, die ins Register des Anders-Werdens und des Nicht-Identisch-Seins gehören,50 reflektieren auf »komplexe Konfiguration von Differenz und Identität« bzw. Konfigurationen von »Innen und Außen, Einbeziehung und Ausgrenzung«.51 Wenn Turner in Bezug auf liminale Phasen von Anti-Struktur spricht, beschwört er durch das Dazwischen, weder hier noch dort, das Monster, dieses »prekäre Grenzwesen«52 als basales Denkmodell zur Konzeptualisierung des Übergangs herauf. Die Studie versucht nachzuzeichnen, dass im Hintergrund bei all diesen Figurationen eine unauflösliche Fremdheit dessen steht, was hinter der Grenze ist. Genau das erscheint als das Monströse, das »mitten in der diskursiven Dialektik von Eigenem und Fremdem«53 nicht dekodiert, vereinnahmt, verschlungen werden kann, das seine oszillatorische Fremdheit zwischen vertraut und fremd bewahrt, da die aufeinander treffenden Elemente ihre »Wesensidentität«54 verlieren. Als Figur der Entgrenzung und jenseits des identitätslogischen Denkens, als Schwellenfigur par excellence, nimmt das Monster eine signifikante Rolle ein. Dieses Monster kann als ein Äquivalent des Stachels55 , oder des Schattens56 bei Waldenfels verstanden werden. Es geht um das Außer-Ordentliche, das jede Ordnung begleitet.
48 49 50
51 52 53 54 55 56
Vgl. ebd. Vgl. Borgards/Holm/Osterle: 2009, 10. Vgl. Toggweiler: 2013, 29, bzw. vgl. Fuss: 2001, 20. Gerade wegen dieser Beschaffenheit übernimmt das Groteske nach Fuss die Funktion des »Zwischengefüges kultureller Formationen« und kann als Medium des Kulturwandels gesehen werden. Vgl. Fuss: ebd. Kleinschmidt: 2011, 12. Herv. v. Verf. Vgl. Borgards/Holm/Oesterle: 2009: 9. Toggweiler: 2013, 69. Overthun, 2009: 51. Vgl. Waldenfels: 1990. Vgl. Waldenfels: 1997, 33.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
Geht man mit Reckwitz davon aus, dass in posttraditionellen Gesellschaften die Fluidität prämiert,57 und Subjektivität unter dem Signum der ›Bewegung‹, als transgressiv konzipiert wird,58 ist einsichtig, dass auch das Subjekt zum Monster wird. Es gibt keine fixen Bedeutungen, es befindet sich eher auf einem »Spielfeld wechselnder variabler Sinnzuschreibungen«,59 und betreibt im »Überfluss von Bedeutungen und Stilen« eine »quasi ästhetische« Selbstbildung60 in einem nie endenden Prozess, in dem sich »konträre Codierungen« überlagern und Hybridität und nicht zuletzt Monstrosität zur Folge haben.61 Versteht man Grenze, Grenzübertritt und Ereignis als eminent literarische Qualitäten, die Handlungsstrukturen initiieren, führen sie uns mit dem Subjekt auf das Terrain der Literatur zurück. Hält man sich vor Augen, dass in der frühen Neuzeit sich »als Formen literarischer Kommunikation jene Schreibweisen und Textgattungen« herausbilden, in denen die Konstitution moderner Subjektivität geschieht,62 empfiehlt es sich, das Untersuchungsfeld auch auf diese Schreibweisen und Textgattungen auszuweiten. Der Roman bildet nämlich nach Schmitz-Emans den medialen Raum, in dem das Subjekt geboren, hinterfragt, oder auch für tot erklärt wird.63 Gemeint ist hier nicht allein die inhaltliche Formulierung dieser Zusammenhänge im Medium des Romans, sondern vielmehr »Schreib- und Artikulationsweisen«, welche die Infragestellung, Auflösung oder die Re-Konstruktion von Subjektivität strukturell betreiben.64 Das heißt allerdings, dass sie auch performativ vollziehen, was sie verhandeln. Somit ist eindeutig, dass in diesem Kontext auch tradierte Modelle der Subjektkonstitution auf dem Prüfstand stehen. Bei näherem Hinsehen ist in der Trilogie eine eindeutige Homologie zwischen Liminalität, Konstitution von Subjektivität und dem Prozess der Narration zu erkennen. Der transitorische Krisennotstand hat somit die Textualität erreicht, das Nachdenken muss auf einer reflexiven Metaebene weitergeführt werden. Rückt man folglich die Schreibverfahren und die Textgattungen in den Fokus des Interesses, kann festgestellt werden, dass die liminale Krise als narratives
57 58 59 60 61 62 63 64
Reckwitz: 2004, 175. Ebd., 155. Ebd., 177. Ebd. Ebd., 180. Schmitz-Emans: 2000a, 79. Vgl. ebd. Ebd., 80.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Muster zentral wird, Gattungstraditionen und Schreibweisen zitiert, und da sie in der Form des permanenten, nicht inszenierten Übergangs erscheint, diese zugleich performativ unterminiert. Manifest wird dies in jedem einzelnen Roman, doch gilt dies auch für die ganze Trilogie. Richtet man das Augenmerk auf diese Zusammenhänge, geraten drei Romantypen ins Visier, der Bildungsroman65 , die Robinsonade oder das Road Novel. Diese entsprechen einem triadischen Modell der Grenzüberschreitung, des Unterwegsseins und der eventuellen Re-Integration, was mit dem dargestellten traditionellen Modell von Wandlung von Seins-Zuständen korrespondiert. Im Kontext der nicht-inszenierten und permanenten Liminalität können die herkömmlichen Muster der Reintegration nicht mehr funktionieren. Der Akteur wird in dieser neuen Konstellation eher zu einem Ohnmächtigen, den der Stein zu überrollen droht. Um dem nicht zu erliegen, wandelt er sich eher zum Zuschauer, der den ganzen Änderungsprozess aus einer gewissen Distanz beobachtet, aber weitgehend passiv bleibt. Wirft man den Blick auf die Struktur der drei Romane Moras, kann weiter festgestellt werden, dass mit Figurationen des Aufbruchs, des Unterwegsseins, des Schiffsbruchs, des Aufenthaltes auf einer Insel und schließlich der ›Heimkehr‹ mit der Trilogie auch die Urform des modernen Romans, die Robinsonade rekapituliert wird. Signifikantes Element dieses Romantyps ist angesichts von Krisensituationen auch der Bezug auf kulturelle Ressourcen. Während jedoch in dem Prätext, der als Einzel-, aber mehr noch als Systemreferenz dient, der Held die Krise bewältigt, wodurch Subjektivität und Identität konstituiert werden können, ist dieser Verlauf bei Mora nicht möglich. Die scheinbar handelnde, dennoch passive, eher betrachtende Instanz ist hingegen im Gesamtverlauf der Trilogie im diffusen Dazwischen. Um diesen Zustand zu beschreiben, bietet sich der von Mora nahegelegte Vergleich mit dem Seiltanz an, der über den drohenden Abgrund des Scheiterns ausgeführt wird. Der Schwellenraum des Übergangs ist bei Mora als Schweben inszeniert, in dem die Instanzen zwar aus einem unendlichen kulturellen Fundus schöpfen, ohne jedoch über Kriterien der Auswahl, des Gelingens zu verfügen. 65
Parr geht in seiner Studie mehrfach darauf ein, dass z.B. der Bildungsroman ein liminales Muster rekapituliert. (Vgl. Parr: 2008.) Der Romantyp reflektiert also eine Auseinandersetzung mit der sozialen Ordnung, den nötigen ständigen Modifikationen und der Tatsache, dass es Narrativen gibt, dessen Aneignung es ermöglicht, in einer krisenhaften Situation eine der Gesellschaft kompatible Lebensform zu wählen, einen solchen Lebensweg zu gestalten. Zum Bildungsroman vgl. Voßkamp: 2004, Selbmann: 2001, Gutjahr: 2007.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
Die lähmende Beschäftigung mit Selbstentwürfen und der Versuch ihrer Einbettung, das Heischen nach Anerkennung generiert eine Endlosschleife und die Offenheit der liminalen Struktur. Bedenkt man, dass es Schreibweisen sind, die Verfestigung konstituieren können, ist einzusehen, dass auch Bewegung und Offenheit durch Darstellungstechniken zustande gebracht werden können. Zu diesen Darstellungsmodi kann die Road-Narration gezählt werden. Moras Romane, allen voran Das Ungeheuer werden auch in der Literaturkritik oder generell im Literaturbetrieb als Road-Novels apostrophiert.66 Der narrative Modus dieses Romantyps kennzeichnet die Kopp-Romane unabhängig davon, ob sie im geschlossenen Raum der Stadt oder auf Landstraßen spielen. Interessant für die Fragestellung ist dieser Romantyp aber nicht allein wegen der Narration, sondern auch aus dem Grund, dass es dabei generell um ein Ausbrechen aus der bestehenden Ordnung geht, um ein Außenseitertum und ein Getrieben-Werden in offenen, nicht definierten Strukturen. Die Tatsache der Auflösung der Ordnung, der Ausbruch aus festgelegten Verhältnissen, das Fehlen von Hierarchien weist zahlreiche Korrespondenzen zwischen dem Road-Novel und liminalen Übergängen auf. Durch die narrative Gestaltung fließen Subjektkonzepte mit der Textgestalt in Eins, das Nomadische und die Ambivalenzen von Freiheit und dem drohenden Abgrund finden ihre Ausformung in der Gattung.67 Zu den Techniken der Bewegung und Offenheit gehört darüber hinaus aber auch die abgründige Struktur ›mise en abyme‹, eine Art Unendlichkeit von Spiegelungen, die für die Trilogie als basales Darstellungsmuster erkannt werden kann. Inhalt und narrative Verfahren sind darin miteinander verquickt, da die Erzählarchitektur parallel zu den Figuren im Rekurs auf kultu66
67
Vgl. die Begründung der Jury zum Deutschen Buchpreis 2013. Vgl. https://www.deutscher-buchpreis.de/archiv/jahr/2013/ (Angesehen am 20.9. 2019). Der Road-Novel ist eine bislang nicht näher definierte Gattung. Die Forschung betont jedoch die Transmedialität und Transkulturalität dieser Romanform. Die Charakteristika dieser Romanform sind sowohl inhaltlicher als auch formal-struktureller Art. Zentral sind also neben motivischen Merkmalen auch die Narrativierungsformen. Das Modell des RoadRomans kann, gerade weil er keine scharfen Grenzen besitzt, für meine Fragestellungen in vieler Hinsicht interessant werden. (Vgl. z.B. den Band von Norbert Grob und Thomas Klein 2006.) Mit der Wahl dieser Form, mit der Berufung und der intertextuellen Bezugnahme auf tradierte Formen des Romans und ihre Umwandlung trägt Mora aber auch zu einer Art »Entinstitutionalisierung« etablierter literarischer Gattungen bei. Auch etablierte literarische Formen bewegen sich in liminalen Schwellenphasen und werden als kulturelle Konstrukte erkannt. Vgl. Gymnich/Neumann: 2007, 43. Zu Charakteristika des Road-Novels vgl. Virant: 2019, 633-651, bes. 637-639.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
relle Ressourcen gestaltet wird. Wenn die Erzählweise in Bezug auf bestimmte Romantypen narrative Muster heraufbeschwört, mit denen an sich schon die Frage nach der Konstitution von Subjektivität verhandelt wird, geht es damit zugleich um Möglichkeiten von sozialer Einbettung, um Handlungsspielräume und den Bezug zur Tradition. Mise en abyme bedeutet auch, dass die einzelnen Romane in der Struktur der Trilogie gespiegelt werden. Die Abgründigkeit oder Grundlosigkeit dieser Erzählweise weist Korrespondenzen zur permanenten Liminalität auf, in der es keine Instanz gibt, die dem Changieren zwischen Gelingen und Scheitern ein Ende setzen könnte, was wiederum dazu führt, dass die Romantrilogie, die diese Strukturen und Modelle gestaltet, performativ auf allen Ebenen einen Seiltanz über dem Abgrund inszeniert. Korrespondierend mit den oben skizzierten Übergangsriten modellieren die Texte von Mora die Änderung des sozialen Status‹, das Unterwegssein und die Heimkehr nach einer langen Reise. Diese bedingen die narrative Inszenierung verschiedener Muster. So rekapituliert auch die hier zur Diskussion stehende Trilogie diesen Verlauf. Loslösung, Übergangsphasen und mögliche Formen der Integration werden durchgespielt. Nicht nur in den einzelnen Romanen und keineswegs ausschließlich thematisch-motivisch, sondern auch was die Erzählarchitektur betrifft, geht es um diese Trias von Lösung, Transformation und Integration. Die Trilogie selbst entspricht einer DreierStruktur, in der die genannten Stadien gestaltet werden. Vereinfacht formuliert könnte die Struktur als Heimat, Reise, Heimkehr, oder als Ordnung, liminale Passage, neue Ordnung auf den Punkt gebracht werden. Diese Triaden stimmen aber bei Mora nicht, und keinesfalls nur in Bezug auf den männlichen Protagonisten, der in jedem Teil der Triade explizit als Passant einer liminalen Passage erscheint. Auch die weiblichen Figuren sind dem permanenten Wandel unterworfen. Der Grundmodus, bereits der Anfang der Triade ist bei beiden ein unstrukturierter Schwebezustand, der zahlreiche Parallelen mit der Übergangsphase aufweist. Die Etappen überlappen sich, es kann kein signifikanter Unterschied mehr gemacht werden. Somit evoziert die Trilogie zwar architextuell das Modell der Robinsonade oder des Entwicklungsromans, der Text Moras verharrt jedoch schwebend auf der Schwelle. Da weder Reintegration noch die endgültige Spaltung erkennbar werden, können die Figuren den Schwellenraum nicht verlassen, können ihre Monstrosität nicht abstreifen. Der Schwebezustand, die Opazität der Verhältnisse kann nicht aufgelöst werden. Die Transition von Zuständen und kulturellen Modellen, Stillstand und Werden und damit Suche nach Wegen und Handlungsmög-
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
lichkeiten sind die zentralen Fragen, die die Bücher diskutieren, allen voran aber die basale Frage nach dem Menschsein bei Konfrontationen mit der Grenze und Grenzübertritten, bei kontingenten, abrupten Erfahrungen von Übergang, wenn auf dem dünnen Seil »alles Gleichgewicht zittert«68 . Diese Studie versucht aufzuzeigen, wie die Prosa von Terézia Mora von diesen Übergangsphänomenen, -zeiten, –räumen und -figuren, wie sie von der Grenze und Liminalität-Problematik inhaltlich, narratologisch und auch mediologisch geprägt ist. Zur Diskussion steht, wie Mora versucht, diverse Grenzregionen des Daseins in komplexen, posttraditionellen Gesellschaften, in denen eine Erosion der traditionellen Lebensstrukturierung erkennbar wird, in vielen ihrer heterogenen Spielformen zu erkunden. Bei diesem Impetus kommt selbstverständlich dem Fremden und auch dem Monströsen als »Grenzphänomen[e] par excellence«,69 eine zentrale Rolle zu. Beide bewegen sich in »Grenzzonen von Ordnung«,70 also an der Schwelle zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit.71 Der Aufenthalt in Schwellenräumen jenseits binärer Ordnungen ähnelt dem Versuch »Gegenwart und Vergangenheit, Wachen und Schlaf oder Leben und Tod in ein Gleichgewicht zu bringen«.72 Diese paradoxe, logische Unmöglichkeit wird bei Mora durchweg als Schwellenposition inszeniert und probeweise arrangiert. Die Texte der Trilogie modellieren sowohl geographisch als auch symbolisch oder ästhetisch Figurationen von Schwelle und in einer metareflexiven Volte inszenieren sie auch die Möglichkeiten von Erzählen und Literatur. In der fiktiven Welt werden damit durch die Erzählung von Geschichten dem Gesichtslosen Gesichter verliehen, die es aus dem Unbestimmten herausholen, ohne es in die Identität des Bestimmten zu überführen, sondern es in einem Zwischenraum des Monströsen situieren. Analytisch begründet werden soll im Folgenden in Bezug auf medientheoretische Überlegungen, dass die Hinterfragung von Ordnungskonzepten in der Romantrilogie so weit geht, dass auch eine wissenskulturelle Umbruchsphase dargestellt wird. Es geht darum, dass die Studie mit dem Verweis auf die Transformation des Buches den Medienumbruch der letzten Jahrzehnte ins Zentrum des Reflexionsprozesses rückt. Mit diesem Wandel steht die ganze Wissensordnung samt ihren Klassifikationen zur Disposition. Auch wenn 68 69 70 71 72
Vgl. Stenner: 2016, 59. Waldenfels: 2006, 15. Ebd. Vgl. ebd., 66. Ebd.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
bei Mora Ritual und Liminalität in erster Linie als Transformation und nicht mehr als Versöhnung und Verschmelzung zu einer neuen Gruppe73 erscheinen und dadurch das Nicht-Codierte und Offene signifikant werden, zeigt das Modell des Übergangs, das durch Grenzüberschreitung neue Erfahrungen gemacht werden und neue Sinngebungen entstehen können. Selbst wenn Krisen nicht gelöst, Kontingenzen nicht bewältigt, Handlungen nicht zu Ende geführt, Fremde nicht ins Bekannte überführt werden können, ist das Motto Moras gleichzeitig ein Appell: Es lohnt sich, aus der Höhle herauszukommen, Grenzen zu überschreiten, neue Narrative auszuprobieren und sie auf ihre Gültigkeit zu testen, um nicht zu sterben (NS 5-8). Diskutiert wird im Folgenden, wie in Terézia Moras Prosa in einer selbstreflexiven Volte diese Forderung der Grenzüberschreitung inszeniert wird, und welche Möglichkeiten sich für den, der die Höhle verlässt, auftun, welche mögliche narrative Optionen zu entwickeln und durchzuspielen sind.
2.3
Aufbau der Studie
Die Untersuchung ist in elf Hauptteile gegliedert. Nach der Einleitung und den theoretischen Annäherungen an neuere Modellierungen von Liminalität wird im dritten Kapitel dargestellt, wie durch den allgemeinen Ordnungsschwund in den Texten auch das Repräsentationsmodell der Sprache angegriffen wird. Die Romane spielen in einer nachbabylonischen Welt, in der die Sprache selbst zum Monster, zu einer Mixtur von Eigenem und Fremdem wird, so dass die Mischungen in diversen Überblendungen zu einer Unidentifizierbarkeit führen. Monströs wird die Sprachordnung auch dadurch, dass sie zwischen Semantik und Materialität, zwischen Wahrnehmung und Bedeutung oszilliert. Darüber hinaus wird dargestellt, dass die Texte in einem multilingualen Grenzraum beheimatet sind. Mehrsprachigkeit wird dabei auch als Modus kenntlich gemacht, mit dem kulturelle Ordnungsmuster, nämlich das diskursive Modell der Monolingualität unterminiert wird. Moras Texte werden durch diese diskursive Grenzüberschreitung im Kontext postmonolingualen Schreibens74 situiert, wodurch zugleich unterstrichen wird,
73 74
Vgl. Krieger/Bellinger: 2003, 25. Vgl. Dembeck/Mein: 2012, Dembeck/Uhrmacher: 2016, 9-18. bzw. auch Dembeck/Parr, 2017., bzw. vgl. Schmitz-Emans: 2004. In diesem Kontext, unter dem Label ›postmonolinguales Schreiben‹ werden traditionelle kulturelle Annahmen rekonzeptualisiert.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
dass in der Studie keine biographische Lesart entwickelt wird, da die Präsenz von Grenze und Transit nicht in diesem Zusammenhang gedeutet wird. Die Studie exemplifiziert vielmehr eine metapoetische Geste als programmatische dichtungstheoretische Idee, die die sprachliche und mediale Verfasstheit von Kommunikation und zugleich von Literatur ins Blickfeld rückt, was als allgemeines Charakteristikum der Texte gesehen werden kann. Das nächste Kapitel widmet sich im Zusammenhang mit dem ersten Teil der Trilogie der Frage, dass in Transformationsgesellschaften, in der Ära der Multimedialität und virtueller Welten und in Zeiten postfordischer Arbeitswelten75 die triadische Struktur gesellschaftlicher Dynamiken nicht mehr funktionieren kann. Die Figuren befinden sich unabänderlich in der liminalen Phase des Übergangs ohne Struktur und Einbettung, was nicht zuletzt damit im Zusammenhang steht, dass sie in einer nachbabylonischen Welt leben.76 Nicht identifizierbare urbane und virtuelle Räume, Nicht-Orte,77 verhindern darüber hinaus, auch in Ermangelung von festen Ordnungsstrukturen, jede Möglichkeit von Eingliederung. Diese Nicht-Orte sind auch als der »Raum der Ununterscheidbarkeit«,78 als Raum des Monströsen zu deuten. Die Analyse diskutiert, wie die Erscheinung dieser Nicht-Orte inszeniert wird, und welche Folgen es für die Figur bzw. die Textarchitektur hat, wenn solche Orte Dominanz gewinnen. Gezeigt wird hier auch, wie auf einer reflexiven Metaebene betrachtet poetologische Fragen verhandelt werden. Dargelegt wird, wie der Textraum selber zu einem Nicht-Ort, zum transitorischen Durchgangsraum verschiedener Romanmodelle wird, wenn eine Oszillation und Überblendung traditioneller Muster und aktueller Realisierungsmöglichkeiten statt findet. Die Behandlung von Formen des Romans und narrativer Strategien bildet auch dann einen wichtigen Pfeiler der Untersuchung, wenn es darauf aufbauend im fünften Kapitel um die interdisziplinäre Grenzüberschreitung zwischen Ökonomie und Literatur geht. Exemplifiziert wird hier nicht nur die »Deregulierung der traditionellen Grenze zwischen Sphären der Arbeit und des Privaten«.79 Im Fokus der Analyse stehen darüber hinaus ökonomische Logiken von Literatur und Hand in Hand damit, wie ökonomische und 75 76 77 78 79
Vgl. Balint: 2017, Reckwitz: 2006. Das zweite Kapitel exemplifiziert die Problematik von Beschaffenheiten einer nachbabylonischen Welt. Vgl.: Schmitz-Emans: 2002, bzw. Schmitz-Emans: 2004. Vgl. Augé: 1991. Borgards/Holm/Oesterle: 2009, 9. Balint: 2018, 8.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
ästhetische Wissensordnungen einander überlappen und Grenzräume entstehen lassen. Gezeigt wird in diesem Kapitel, dass bei Mora von einer ökonomischen Poetik gesprochen werden kann, wenn es dezidiert um die Konfrontation wirtschaftlicher Modelle, um die New Economy, um die Problematik von Entgrenzung, und – verbunden damit – um eine Ästhetisierung von Arbeits- und Lebenswelten geht.80 Der Umgang mit Ressourcen als Zentrum des ökonomischen Diskurses erlaubt indes Rückschlüsse auf narrative Ordnungen, und schafft eine Verbindung zwischen thematisch-motivischen Erscheinungsformen und Fragen der Textökonomie. Das interpretatorische Interesse richtet sich vom sechsten bis zum neunten Kapitel auf den zweiten Roman der Trilogie, auf Das Ungeheuer. Das sechste Kapitel widmet sich dem Protagonisten, während die anderen drei Teile die weibliche Figur und ihre Aufzeichnungen in den Blick holen. Die Analyse zeichnet hier nicht allein eine ganze Reihe thematischer Grenzüberschreitungen und Baulogiken des Roadromans nach, sondern rückt neben der Reise bzw. im Zusammenhang mit der Reise diverse liminale Figurationen in den Mittelpunkt. Hier kommt das anthropologische Konzept von Gastlichkeit81 in den Blick. Benannt und diskutiert werden aber auch andere Erscheinungsformen von Übergangsstrukturen, wie Schmerz, Krankheit oder Trauer. Der Gast wird als die Figur des unassimilierten Dritten, als Figur, die die Logik der abendländischen Klassifizierungen durchbricht,82 relevant. Gastlichkeit kann aber nicht nur als Figuration von Liminalität erkannt werden,83 sondern auch als changierende Bewegungsfigur zwischen Eigenem und Fremden, als Aufenthalt in Schwellenräumen. Das liminale Dazwischen beschwört in diesem Buch jedoch auch andere thematische Konfigurationen und narrative Modi herauf, von denen Reise,84 Trauer85 und Krisen86 sowohl thematisch als auch narratologisch ins Blickfeld des Forschungsinteresses gerückt werden. Grenzüberschreitungen und Grenzzonen werden in diesem Kapitel auch durch architextuelle und intertextuelle Verweisstrukturen ausgewiesen, die auf einer
80 81 82 83 84 85 86
Vgl. Gross: 1999. Vgl. Mein: 2009, Parr/Friedrich: 2009, Parr: 2011, Previšić: 2011, Simon: 2016, Stoellger: 2016. Previšić: 2011, 13. Stoellger: 2016, 403. Vgl. Grivel: 1995, Holzheimer: 1999, Honold: 2000, Gerhard/Nieberle: 2003, Däumer/Lickhardt: 2010. Vgl. Mauser/Pfeiffer: 2003, Goldbrunner: 2006. Nünning: 2007, Lobsien: 2007, Grunwald/Pfister: 2007, Hülk: 2013, Leschke: 2013.
2 Liminale Figurationen und monströse Ordnungen. Erste Annäherungen
formalen Ebene Loslösung, Übergang und Integration reflektieren. Die Grenze kann in dieser Konstellation als komplexe Konfigurationen von Differenz und Identität,87 als die Frage nach dem Monströsen verhandelt werden. Das Schweben bildet aber in Bezug auf Das Ungeheuer in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Analysekategorie. Die parallel neben bzw. untereinander verlaufenden Geschichten, die durch die optisch wahrnehmbare Grenze voneinander getrennt und zugleich miteinander verbunden sind, gestalten einen Schwellenraum, in dem An- und Abwesenheit einander überlappen, Leben und Tod miteinander verschränkt werden, so dass keine Grenze mehr absolut gesetzt werden kann. Gerade in diesem Zusammenhang erscheint die tatsächliche Grenze als zusätzliche Irritation. Die Zeichen, die Sprache und die Schrift bilden einen wichtigen Reflexionsgegenstand der Analyse dieses Romans. Bedacht wird dabei eine metapoetische Thematisierung der eigenen Medialität und Materialität, die eine nähere Kennzeichnung erfahren. Gezeigt wird dabei, dass Materialität durch Modi der Verschriftlichung offen zur Schau gestellt wird. Die Aufzeichnungen der Frau werden im Rahmen einer poetologischen Lesart als Reflexionen auf das System der Literatur interpretiert, in der es nicht nur darum geht, dass durch die Schrift Absenz und Präsenz gegeneinander ausgespielt werden. Das interpretatorische Interesse leitet auch, wie im Roman in einer selbstreflexiven Geste, »was Kunst und was Dichtung ist« (U 141), die Ordnung der Literatur mit Autor, Erzähler, Buch, Leser, aber auch mit Gattungen, Formen der Zeitgestaltung, mit narrativen Schemata u.ä. m. thematisiert wird. Auf der formalen Ebene, in der Baulogik des Romans wird der Übergang und die Hybridisierung demnach auch aus einer medientheoretischen Perspektive greifbar. Der Roman, das Medium Buch wird durch eine intermediale Grenzüberschreitung als Zwitter herausgestellt. Die Schrift, das Blatt tritt aus der Zeile heraus und akzentuiert die Fläche, da das Lesen eine Wahrnehmungsstruktur forciert, die den digitalen Medien, oder dem Bild eigen ist. Es wird gezeigt, wie hypermediale Typen von Komplexitätsmanagement im Roman erprobt werden, wenn die kontingenten access points, die thematisch erscheinen, auch zur Basis der Textarchitektur werden. Angesichts des heterogenen Materials werden somit auch Fragen von Navigation erneut gestellt und diskutiert. Wie diese Grenzüberschreitung zeigt, verorten nicht allein Schleifen- und Labyrinth-Techniken oder die rhizomatische Struktur
87
Vgl. Kleinschmidt: 2011, 12.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
das Buch an der Schwelle der Gutenberg-Galaxis und der Welt der neuen Medien.88 Im zehnten Kapitel soll es in Bezug auf den dritten Teil der Trilogie darum gehen, wie Figurationen von Heimkehr ohne Heim89 funktionieren können, wie zwar keine bleibende doch provisorische Einbettungen den Übergang zeitweise aufheben können. Zur Diskussion steht in diesem Kapitel auch die basale Frage, wie in so einem Kontext des Fließens für den Protagonisten Positionierungen möglich werden. Bemüht wird dabei die Theorie der Aufmerksamkeit,90 ein Modus, der zwar nicht einer willentlichen Steuerung folgt, dem Einzelnen jenseits tradierter Subjektkonzepte doch Momente der Fokussierung und Verfestigung in Aussicht stellt. Die Studie will in Bezug auf den letzten Teil der Trilogie auch ausmessen, wie sich christliche, religiöse, mythologische Modelle, narrative Muster, diskursive Modelle im Transitorischen bewegen, wie sie ihre herkömmliche Ordnung verlassen und in einem liminalen Schwellenraum ineinander geblendet werden und neue, bizarre Verbindungen eingehen. Ausgearbeitet wird aber auch, dass die kulturellen Muster trotz ihrer Deplatzierung und Verflüssigung, und selbst wenn sie ihr traditionelles Konfliktlösungs- und Krisenbewältigungspotential einbüßen, doch als Modelle vorhanden sind. Sie dienen nicht allein als Anknüpfungspunkte bei Fragen nach Integrationsmöglichkeiten, sondern auch als Erzählverfahren, wobei sie als narrative Muster fungieren können. In einem abschließenden Kapitel lenkt die Studie den Blick auf Korrespondenzen von Figurationen von Schwelle und Krise, die sowohl thematischmotivisch als auch poetologisch die Basis der Trilogie bilden. Gezeigt wird, dass die Übergänge und Wandlungsprozesse bei permanenter und nicht-inszenierter Liminalität, selbst bei diesen destabilisierenden Dynamiken nicht ganz ohne Einbettung ablaufen. Ritualisierte Handlungsmodelle, feste Vorschriften sind passé, dennoch gibt es einen unendlichen Fundus an narrativen Schemata, in die sich der Einzelne trotz seiner Losgelöstheit als letzte Hoffnung doch vorübergehend einnisten kann. Summarisch kann festgestellt werden, dass die in der Trilogie gestalteten Krisen zwar nicht durch Handlung, diskursiv aber überwunden werden können. Damit zeigt die Studie,
88 89 90
Vgl. Bolz: 20083 bes. 201ff. Vgl. Juterczenka/Saicks: 2011. Waldenfels: 2004.
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dass Terézia Mora mit ihrer Trilogie ein Plädoyer für Fiktion und Literatur, im Allgemeinen für ästhetische Bewältigungsstrategien ablegt.91 Zeichnet die Studie diese Zusammenhänge nach, stellt sie auch dar, dass in den Texten die Grenzüberschreitungen zwar keine signifikante Änderung bewirken, doch als eine Art Vertreibung aus dem Paradies konzipiert, bzw. in diesem Muster gespiegelt werden. So wie es kein Paradies gibt, so erscheint auch keine Hoffnung auf Einkehr in einen Heilszustand. Denn Gott ist tot, und dies führt, wie Nietzsche zeigt, zur Auflösung aller Werte und Ordnungen. Die Situation wäre mit dem 125. Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft zu skizzieren, in dem, da die Erde von der Sonne losgekettet ist, fortwährend alles »rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten« stürzt. Der ganze Horizont ist mit einem Schwamm weggewischt, es gibt kein oben und kein unten, und so stürzt »der tolle Mensch« im Schrei nach Gott, fortwährend ins unendliche Nichts. Er irrt herum im leeren Raum.92 Der Raum ist bei Mora aber nie leer, sondern immer schon, einem Palimpsest ähnlich, sogar mehrfach beschriftet. Die Problematik von Trennung, Transgression und Einbettung, also die Instituierung einer neuen Ordnung wird zum signifikanten Reflexionsgegenstand auf der Ebene der Textualität selbst. Die allgegenwärtige Präsenz des kulturellen Wissensvorrats, der den Figuren aber auch den Erzählern ohne Taxonomie und die Möglichkeit von Grenzziehung zur Verfügung steht, führt zum Schillern. Hält man sich vor Augen, dass im Textkorpus durchgehend ein Umkippen von Fremd- und Selbstreferenz stattfindet, aber die Selbstreferenz dominant wird, ist evident, dass im Textganzen die ästhetische Aussage im Fokus stehen muss. Bedenkt man weiterhin, dass Moras Texte durch die Hervorkehrung der Materialität aus dem »typographischen Schlaf«93 erwachen, führt das Doppel von semantischem Bezug und formaler Oberfläche zu einer weiteren gegenseitigen Durchquerung der beiden Ebenen und damit zu einer unaufhörlichen Kippbewegung im entautomatisierten Textraum. Die Demonstration von Materialität provoziert auf einer weiteren Ebene Irritation und eine unendliche Spirale der Suche nach Bedeutung. Seltsame infinite Schleifen entstehen zwischen den Ebenen der 91
92 93
Der Komplexität des Themas und der Romane geschuldet können hier nicht alle aufgerissenen Themenkomplexe angemessen dargestellt, nicht alle relevanten Aspekte ausgearbeitet werden. Nietzsche: 1954, 126. Bolz: 20083 , 195. Bolz versteht unter diesem Bild eine, seit der Neuzeit relevante Technik, in der die Schrift, das eigentliche Medium, hinter der Bedeutung verschwindet, da es nicht wahrgenommen wird.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Reflexion, die in ihrem Simultanpräsenz und komplexen Verweischarakter zu einem nicht zu begrenzenden Rauschen führen. Die Vielfalt der Navigationsperspektiven ruft erneut den Steuermann auf den Plan, dem auch bei dieser Volte die Gefahr droht, im unendlichen Meer unbegrenzter Optionen und ohne Navigationshilfen unterzugehen. Weder der Abgrund noch das Festland ist in Sicht, und so geht die Reise auf allen Ebenen permanent und ohne alle Inszenierung, von Kontingenzen bestimmt, weiter. Doch immer wieder tun sich in der unendlichen Transgression auch Momente, vorübergehende Fixierungen, Inseln des Glücks auf.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität. Postmonolinguales Schreiben bei Terézia Mora
3.1
Sprachen unterwegs und unterwegs in Sprachen
»Sprachen kommen und gehen«, heißt es in der Zweig Vorlesung (GT 11).1 »Wir gehen durch die Welt, aber noch mehr geht die Welt durch uns hindurch« (GT 11), lautet der Gedanke, der den Transit, das ›Leben in der Übertragung‹ (GT 9, 24) betont. Diese Bewegung, der Transit der Sprachen ist ein signifikantes Element der Poetologie von Terézia Mora. Das Ziel dieses Kapitels ist jedoch nicht, einen eventuellen Sprachwechsel oder ein zeitliches Nacheinander verschiedener Sprachen im Zusammenhang mit der Biographie der Autorin oder ihrer Texte nachzuweisen. Das Transitorische soll, gekoppelt mit Vielsprachigkeit, vielmehr als ein unaufhörliches Oszillieren gefasst werden, was in einer ästhetisch-medialen Inszenierung erscheint und darin manifest wird, dass es Klassifikationen überschreitet. Mora spricht selber davon, dass die Bewegung zwischen den Sprachen dazu führt, dass man nicht mehr gefangen in alten Strukturen bleibt (GT 27). Zu schauen gilt demnach, wie diese Klassifikationen und Strukturen zu verstehen sind und wie sie sowohl in den fiktionalen als auch in den autofiktionalen Texten Moras, in erster Linie in den drei Romanen der Trilogie Der einzige Mann auf dem Kontinent, Das Ungeheuer und Auf dem Seil inszeniert und überwunden werden. Hand in Hand mit einer dezidiert sprachreflexiven Poetologie, die in einer metapoetischen Geste die sprachliche und mediale Verfasstheit von Kommunikation und von Literatur ins Blickfeld rückt, soll in Moras Schaffen ei-
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Mora: 2016a. Dieses Buch, Der geheime Text, wird unter der Sigle GT und Seitenzahl in Klammern im laufenden Text zitiert.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
ne sprachliche Monstrosität herausgearbeitet werden, in der binäre Klassifikationsschemata ad acta gelegt werden, in denen es vielmehr um ein ständiges Tilgen einfacher Differenzen geht. Das Monströse will uns in seiner ureigenen Qualität als interpellatorisches Zeichen2 etwas zeigen, eine Idee, die verstanden werden will, was jedoch erst durch die Inszenierung sichtbar wird.3 Multilingualismus bedeutet bei Mora – so die vorläufige These – nicht einfach das Nebeneinander mehrerer Sprachen, sondern eine Störung, die einerseits mit einer »penetrante[n] Sichtbarkeit« und andererseits zugleich mit einer unsichtbaren, potentiell unsicheren Referenz und somit mit Monstrosität verbunden ist.4 Der mit Polyglossie verbundene semiotische Entzug und die entstehende semantische Unschärfe, die Unter- und Übercodierung sollen als das Monströse ausgewiesen werden. Multilingualität, Exophonie und Heteroglossie werden dadurch zu Monstern, dass die Elemente der Sprache im oszillierenden Aufeinandertreffen ihre Wesensidentität verlieren.5 Da das Monströse auf bestimmte Ordnungen, Normen, Normalitäten verweist, markiert es eine ästhetische Differenz.6 Es bezieht sich auf ästhetisch traditionelle Codes und auf übergreifende Diskursformationen7 und zeichnet sich durch eine semantische Über- bzw. Unterdeterminiertheit aus.8 Die ästhetisch traditionellen Codes aber auch generelle Ordnungen des Denkens sind die Strukturen und Klassifikationen, die durch die metapoetische Reflexion von Sprachlichkeit und Sprachigkeit9 und Modi von Mehrsprachigkeit bedenkt und dekuvriert werden. Bei Moras sprachlichen Experimenten geht es nicht in erster Linie um das Ludistische. Die Experimente mit Multilingualität können als basale Eingriffe in die Erfahrungswelt gelesen werden,
2 3 4 5 6 7 8 9
Toggweiler: 2013, 14. Vgl. ebd. 6ff. Vgl. Overthun: 2009, 45. Ebd., 51. Ebd., 67. Ebd., 44. Ebd., 49. Vgl. Stockhammer: 2017, 16. »Wenn bestimmte Texte offensichtlich mehrsprachig sind, so sind die besonders deutliche Zeichen von mehr Sprachigkeit, also einer intensivierten Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt, dass sich jeder Text in spezifischer Weise zu mehr als einer langue verhält.« (Herv. i. Orig.) Stockhammer untersucht den Wilhelm Meister und kommt zum Ergebnis, dass Goethe eher gegen Sprachen immunisiert und die Sprachigkeit bändigt. Bei Mora kann selbstverständlich eine gegenläufige Tendenz beobachtet werden, so dass man in Bezug auf die Romantrilogie keinesfalls von Immunisierung sprechen kann.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
als Hinweis darauf, dass wir nicht Herr unserer Erfahrungen und Sprache sind, denn die Suchen nach Sprache und ihr Antreffen überlisten einander. Sie reflektieren darauf, dass Normalisierungen der Erfahrung eine gewisse Ordnung aufprägen. Durch Experimente und Anomalisierungsprozesse werden aber in den Texten die Normalformen des Verhaltens und Erlebens auf die Probe gestellt, Ordnungsraster unterminiert.10 Es überrascht selbstverständlich nicht im Zusammenhang mit Terézia Mora von Mehrsprachigkeit zu sprechen.11 In einer biographischen Lesart drängt sich dieser geradezu auf. Auch heute noch, zwanzig Jahre nach dem Debüt und nach etlichen Literaturpreisen und nicht zuletzt nach dem GeorgBüchner-Preis wird Terezia Mora in Darstellungen immer noch mit der ungarischen Herkunft, der Geburtsstadt Sopron etc. identifiziert. Diese Standortbestimmung hängt mit einem Diskurs zusammen, der eindeutige Zugehörigkeiten beschwört, der auf Geburt, Abstammung, Muttersprache pocht, und die Menschen, die das Land und damit ihre ursprüngliche Zugehörigkeit wechseln, als Sprachwechsler und als mehrsprachige Autoren etikettiert, wobei strikt an den Übertritt aus der einen in eine andere Einzelsprache gedacht wird. Gerade dieses Denkmodell der Monokultur und Monolingualität als verfestigter Rahmen macht das Sprechen über Mehrsprachigkeit schwierig. Problematisch wird dies nicht zuletzt, weil man daran gekoppelt von einer biographischen Lesart ausgeht, vom »migrantischen Hintergrund«, von »interkultureller Literatur« u.ä. spricht und damit impliziert, dass die Autorin ein problematisches, gebrochenes Verhältnis zu der ›deutschen‹ Literatur hat.12 Diesem Denken inhärent ist selbstverständlich auch die Auffassung, dass ›deutsche Literatur‹ eine feste Größe ist, die eindeutige Gren10 11
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Vgl. Waldenfels: 1998, 224-226. Eine ausführliche Analyse legte Burka in ihrer Dissertation dar, in der sie akribisch einzelne latente und manifeste Erscheinungen von Mehrsprachigkeit aufspürte. Es ging ihr um eine Bestandaufnahme und der Einordnung Moras in der Interkulturellen Literatur. (Vgl. Burka: 2016.) Burka hat auch seitdem Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Diese Analysen der Texte von Mora haben einen anderen Fokus. Vgl. Burka: 2014, 54-60. Verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit werden von Szabó in Seltsame Materie nachgewiesen. Vgl. Szabó: 2001. Diese Begrifflichkeit, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, wird auch im Doppel des einschließenden Ausschlusses gesehen und dadurch als problematische Kategorie gehandelt. Nichtdestotrotz ist das Thema von Einordnung auch für Mora relevant, wenn sie behauptet, sie sei »genauso deutsch wie Kafka«. (Vgl. Mora: 2005: 26-31) Es geht in diesem Kontext auf den Hinweis, dass es diskursiv hergestellt wird, was als ›deutsch‹ gelten kann.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
zen aufweist, und die mit einem angestammten Gebiet bzw. einer angeborenen Sprache zusammenhängt.13 Obwohl das Sprechen über diese Zusammenhänge schwierig und fast nur in Anführungsstrichen möglich ist, können Aspekte des nationalen Paradigmas und der Monokulturalität nicht ausgeklammert werden, wenn man das Oeuvre von Terezia Mora anvisiert. Die Autorin spricht nämlich sowohl in zahlreichen autofiktionalen Texten, wie z.B. in den Poetikvorlesungen, in verschiedenen Textsorten, wie z.B. Dankesreden oder Interviews selber darüber und inszeniert selbstverständlich in fiktionalen Texten Sprache und Sprechen, Mehrsprachigkeit, Zugehörigkeiten etc. Auch die Paratexte (wie z.B. Klappentexte etc.) bemühen oft die nationale Einordnung, die vereinfachte Lesarten parat hält. Ein wichtiges Anliegen scheint Mora hingegen zu sein, und das ist ein eminenter Punkt dieser Analyse, essentialistische Modelle zu hinterfragen. Multilingualität interessiert gegenwärtig demnach weniger in Bezug auf lebensweltliche Faktoren, obzwar die – mit Stockhammer gesprochen – literatursoziologisch plausibel, literaturtheoretisch jedoch »unterkomplex« sind14 . Aufgedeckt werden soll vielmehr eine Komplexität, die entsteht, wenn ästhetische Inszenierungen von Mehrsprachigkeit in Moras Oeuvre das interpretatorische Interesse leiten und bemüht sind, ein formelles Ensemble mehrsprachiger Textverfahren in den Erzählungen und Romanen aufzudecken. Geht es also um die Mischung verschiedener Sprachen – Mora nennt sich selber eine »Sprachmischerin« (GT 21, 35) – interessiert hier in erster Linie nicht die lebensgeschichtliche Bedingtheit. Vielmehr soll Mehrsprachigkeit als Sensibilisierung für Sprache verstanden werden.15 Mit diesem Impetus ist eine mediale Selbstreflexion, eine Reflexion der Sprache verbunden. Im Fokus dieser 13
14 15
Die Forschung der letzten zwanzig Jahre setzt sich dieser Auffassung vehement entgegen und problematisiert dieses monokulturelle Denkmodell u.a. mit Beispielen aus der Literaturgeschichte und die Rolle des Lateins oder durch den Verweis auf zahlreiche Autoren wie Canetti, Kafka usw., die trotz ihrer Mehrsprachigkeit und Mehrfachzugehörigkeit durchaus in den Kanons gehören. Wirft man einen Blick auf die wichtigsten Literaturpreise der letzten Jahrzehnte (Nobel-Preis, Büchner-Preis), kann leicht eingesehen werden, dass sog. mehrsprachige Autoren oder sog. Sprachwechsler im Zentrum der ›deutschen‹ Literatur angekommen sind, wie Müller, Pastior, Mora. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auf jeden Fall auch Grass, der ja Mehrsprachigkeit (Dialekt) und dadurch Mehrstimmigkeit für seine Ästhetik dienstbar macht. Stockhammer: 2017, 14. Wie Moras zahlreiche Selbstkommentare belegen, ist man durch die zweisprachige Sozialisation grundsätzlich für die Sprachlichkeit sensibilisiert.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
Reflexion steht das Beschwören ästhetischer und sprachtheoretischer Konzeptionen und generell ein Nachdenken über Möglichkeiten von Literatur und Kunst. Vielsprachigkeit ist ein Phänomen der Grenzüberschreitung. »Wo Dichtung gegen Grenzen anrennt, scheinen die Sprachgrenzen ein so naheliegendes wie signifikantes Angriffsziel zu sein.«16 Versteht man diese Grenzüberschreitung als »Nichtakzeptanz einer bestimmten Spielregel«,17 kommt man beim gesellschaftlichen Normsystem, bei Konvention und der kontingenten kulturellen Ordnung an. Diese Grenzüberschreitung hat in der Sprachmischung zum Resultat, dass es zwischen Fremdem und Eigenem zu einer oszillatorischen Bewegung kommt, dass sie sich aneinander reiben, ohne sich gegenseitig zu negieren. Es entsteht ein Schwellenphänomen, in der der Zentrismus des Normalen eingetauscht wird gegen hybride Formen der Rede, gegen Vielstimmigkeit und Polyglossie. »Die Hervorhebung eines Fremden, das nicht assimiliert oder übertüncht, sondern als halber Fremdkörper gekennzeichnet wird, versetzt uns an die Schwelle von Eigenem und Fremdem, an die Schwelle von eigener und fremder Sprache an einen Ort, wo Normalität nicht bloß durch Anomalien umrahmt, sondern von ihnen durchfurcht wird.«18 Der Ort, der von Abweichungen nicht nur umgeben, sondern die Abnormität selber ist, ist zugleich der Ort bzw. Nicht-Ort des Monsters und des Monströsen in einem liminalen Schwellenraum. Monster als prominente Figuren der modernen Kunst und als paradigmatische Schwellenfiguren, ihre Repräsentationslogiken und kulturellen Einordnungen, die hier im Fokus der Untersuchung stehen, sind, korrespondierend mit der Problematik der Sprachverwirrung, als Reflexionsfiguren der conditio humana zu betrachten.
3.2
Postmonolinguales Schreiben. Eine Standortbestimmung
Monströse Ordnungen stimmen mit der Vielsprachigkeit als ästhetische Faszinationstypen überein. Beide stellen eine Art Abweichung von der Norm dar und bedenken die Beschaffenheit klassifikatorischer Ordnungen. Im Fokus beider Erscheinungen (der Mehrsprachigkeit und auch des Monströsen) steht
16 17 18
Schmitz-Emans: 2002, 17. Ebd. Waldenfels: 1999, 167.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
die Konstitutionslogik von Ordnung(en), also die Frage nach Ordnung und Devianz, Inklusion und Exklusion als Rahmenbedingungen von Ordnung und Norm. Sie machen in Eintracht damit kulturelle und ästhetische Strukturen und Prozesse sichtbar, aber auch das, was zufolge eines Ordnungswillens an den Rand gedrängt wird. Mit diesen Korrespondenzen ist das Feld abgesteckt, auf der sich meine Überlegungen bewegen. Es sollen im Folgenden Fragen diskutiert werden, die diese zwei Größen zusammendenken und in den Texten von Terézia Mora geltend zu machen versuchen. Von den möglichen Ausprägungen des Monströsen interessieren hier in erster Linie monströse Anordnungen im Zusammenhang mit sprachlichen Zeichen und der Kollaps der Zeichenordnung selbst. Das Monströse ist eine Parallele des unkontrollierbar Fremden, das ein unberechenbares Eigenleben lebt und deswegen nicht zu fassen ist. Monster, in diesem Falle in erster Linie Sprachmonster, markieren als paradigmatische Schwellenfiguren und Figuren des Liminalen,19 was unkontrollierbar ist und deswegen ausgegrenzt werden soll, kurzum die gewollte und ungewollte Störung und Überschreitung von Grenzen. Die Rahmen, die hier reflektiert und de-formiert werden sind unterschiedlicher Natur. Es geht zum einen um die Konstruktion von Nationalliteratur und Hand in Hand damit um den Ausschluss ›fremder‹ Elemente und Sprachen, bzw. um die Abweisung abweichender, hybrider Biographien. Zum andern geht es um Sprachgesetze und Sprachgrenzen, Normen des Sprachgebrauchs, die in den Texten von Mora auf dem Prüfstand stehen und die bewusst oder unbewusst verschoben und destruiert werden. Es werden Modi verschiedener ästhetischer Verfahren erprobt, Sprachkontexte in der Inszenierung hergestellt, es wird mit Anordnungen experimentiert, die die basalen Kategorien des Denkens als Folie haben, von der aus sie die Rahmen in Bewegung setzen, bestehende Ordnungen verwirren, ohne die Absicht ein bleibendes Festes zu finden. Monstra werden hier in ihrem Schillern relevant. Moras Literatur wird also nicht in einem wie auch immer verstandenen ›inter- oder transkulturellen‹ Rahmen situiert, sondern vielmehr im Kontext der sprachreflektierenden und sprachkritischen Tradition. Auch wenn auf biographische Einzelheiten eingegangen wird, stehen keine außerästhetischen Kategorien im Fokus. Terézia Mora spricht mehrfach darüber, dass die Problematisierung und Erforschung von Mehrsprachigkeit in der Literaturwissenschaft ein »domi19
Vgl. Geisenhanslücke/Mein/Overthun: 2009, 10.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
nanter Diskurs« (GT 8) geworden ist. Auch das Fach selber konstatiert ein wachsendes Interesse an diesem Phänomen als Folge von Globalisierung und Migration.20 Um die Dominanz dieses Themas, solcher Schreibweisen zu betonen, wird sogar der Begriff »multulingual turn« gehandelt, um soziologische, pädagogische etc., oder eben literarisch-ästhetische Phänomene zu fassen. Dem Sprechen über Mehrsprachigkeit liegen philologische Modelle zu Grunde, die auf den Nationalphilologien fußen und mit eindeutigen Abgrenzungen des Eigenen und des Fremden arbeiten.21 Der Mehrsprachigkeitsdiskurs ist deswegen heute oft gekoppelt mit der Konzeptualisierung einer ›neuen Weltliteratur‹, die dieses nationale Paradigma und damit die »Wirkmächtigkeit des Einsprachenparadigmas«22 überwinden soll. In diesen Konzepten erscheint Multilingualität als die Opposition von Einsprachigkeit, und in dieser Konstellation geht es zugleich um die Dichotomie von Norm und Abweichung. Monolingualität wird dabei als die Norm ausgemacht, womit die Mehrsprachigkeit mit einem Zug als ein Charakteristikum der Inter- oder transkulturellen Literatur erscheint.23 Dies ist aber eine Kontextualisierung,
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Es würde ausufern, würde man hier die einschlägige Forschungsliteratur auflisten. Es interessieren in erster Linie Arbeiten neueren Datums, bzw. die, die Mehrsprachigkeit nicht im Bereich der interkulturellen Literatur, sondern in der sprachreflektierenden Ästhetik situieren. Auf die geht die Studie im Folgenden auch im Einzelnen ein. Schmitz-Emans weist darauf hin, dass hier zwei Konzepte einander gegenüberstehen, die Frage, ob Nationalsprachen linguistische Gegebenheiten oder vielmehr heuristische Fiktionen sind. (Vgl. Schmitz-Emans: 2004, 16.) Nach Auffassung des Einsprachigkeitsparadigmas zeichnet sich die Integrität des Individuums dadurch aus, dass er sich in seiner vaterländischen Sprache ausdrückt. (ebd.: 7.) Diese Annahmen spiegelt auch die Sprache wider, wenn es um Heimatland, Muttersprache u.s.w. geht. Ebd.:11. Vgl. auch Stockhammer/Arndt/Naguschewski Hg.: 2007. Dembeck/Mein: 2012, 134, Dembeck/Uhrmacher: 2016, 9-18. bzw. auch Dembeck/Parr, 2017. Der Diskurs der Multilingualität lehnt sich auch an Bachtins Theoretisierungen von Heteroglossie und Polyphonie an oder an Bhabhas Konzept des ›third space‹, oder der Hybridität bzw. ähnliche Konzepte der Mischung als Metissage oder Creolité. Der Band von Bürger-Koftis, Schweiger, Vlasta: Polyphonie (2010) führt das Konzept schon im Titel. Vgl. in diesem Band noch die Aufsätze von Kretschmer: 2010, 199-222. bzw. Mitterbauer: 2010, 255-272, hier 258. Vgl. Blum-Barth: 2015, 11. Blum-Barth spricht, im Sinne einer weit verbreiteten Einstellung, von einem neu entdeckten Forschungsthema im Zuge von Globalisierung, Migration und Sprachwechsel, also der Präsenz von Autoren, die in einer neuen Sprache schreiben. Es geht hauptsächlich um mehrsprachige Verfasser, um kulturelle polyphone Autoren, die ihre »Erfahrungen in den Texten polyphon verarbeiten«. (Vgl. auch Kretschmer: 2010, 199-222-, hier: 202ff.) Dass dies jedoch nicht allein als ein litera-
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
die Mora in poetologischen Essays, wie die Salzburger Poetikvorlesung, entschieden ablehnt und der sie ein alternatives Konzept gegenüberstellt. Das ›monolinguale Paradigma‹ hängt mit dem politisch-ideologischen Konstrukt der Nationalsprache zusammen, die als Muttersprache oder – neutraler – auch als Erstsprache oder Sozialisationssprache gehandelt wird. Das ideologische Konstrukt macht vergessen, dass es keine monolinguale Nationalliteratur, und wie oben dargelegt wurde, überhaupt kein monolinguales Sprechen gibt.24 Als Normalfall gilt jedoch, dass Literatur in einer solchen Sprache verfasst wird. Diese Kategorisierung macht die sogenannten Sprachwechsler zu einer besonderen Gruppe, und die Mehrsprachigkeit ihrer Texte wird in einem Kurzschluss mit der Biographie, dem migrantischen Hintergrund u ä. plausibilisiert. Dass sprachliche Kompetenzen vieler mehrsprachiger Autoren ihr literarisches Handeln mitbestimmen, steht außer Frage, dennoch kann die Mehrsprachigkeit nicht als eine Erscheinung des neuen Jahrtausends oder als Folge der Globalisierung betrachtet werden.25 Monika Schmitz-Emans stellt – der etablierten Kategorisierung konträr – Multilingualität als die Sprache der modernen Dichtung heraus, zumindest wird klar nachgewiesen, dass Vielsprachigkeit schon seit Jahrhunderten als ein prominentes ästhetisches Prinzip gesehen werden kann, das in der Moderne dominant wird.26 Mehrsprachigkeit ist auch bei Mora nicht allein aus dem migrantischen Hintergrund, aus ihrer ungarischen Herkunft abzuleiten. Ostmittel- oder Südosteuropa, Gebiete die in Bezug auf Mora als Ausgangspunkt herhalten können, sind traditionell polyglotte und heteroglotte Regionen. Die
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tursoziologisches Phänomen gefasst wird, zeigt, dass gleich auch ein neues Bewusstsein für »die sprachliche Formanalyse von Erzähltexten« erscheint. (Vgl. Parr/Dembeck: 2017, 9.) In einem breiteren Horizont nähert sich Schmitz-Emans dem Thema, denn die von ihr besprochenen Autoren wie Jandl, Eich oder die Vertreter der konkreten Dichtung gehören nicht zu dieser Gruppe. Klar ist auch hier, dass es um eine die nationalen Sprachgrenzen überschreitende Poetik, um internationale Dichtungsbestrebungen geht, ähnlich dem Dadaismus vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Allerdings könnten auch Autoren der Dada-Bewegung als »interkulturelle Autoren« bezeichnet werden, hätte es damals dieses Label gegeben. Vgl. Schmitz-Emans: 2004, 11. Diese ursprüngliche Mehrsprachigkeit hängt mit der Entstehungsgeschichte der jeweiligen Literatur zusammen. Die einschlägige Forschung weist mehrfach darauf hin, dass Mehrsprachigkeit in der Literatur seit der Antike präsent ist, und entweder als Zitat aus dem Latein möglich war, beziehungsweise einerseits als Verstoß gegen Puritas verpönt oder andererseits in der komischen Dichtung geduldet wurde. Vgl. auch Zemanek/Willms:2014, 1. Vgl. Schmitz-Emans: 1997, 2002, 2004.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
Metropole der Jahrtausendwende und des neuen Jahrtausends, die sowohl biographisch als auch was die Schauplätze der Texte anbelangt, eine ähnlich zentrale Rolle spielt, kann nicht weniger mit Poly- und Heteroglossie charakterisiert werden. Hält man sich diese Tatsachen und Moras biographisch zweisprachige Prägung vor Augen, kann das multilinguale Textverfahren als die Normalität betrachtet werden. All dies bewegt sich noch zu sehr im Biographischen, oder thematisch-motivischen. Es müssen also andere Aspekte einbezogen werden, um der ästhetischen Qualität von Mehrsprachigkeit auf die Spur zu kommen. Wie ist aber Mehrsprachigkeit in Bezug auf Moras Werke überhaupt zu verstehen? Es kann im Zusammenhang mit Mora auf der einen Seite von einer erfahrenen Mehrsprachigkeit im Alltag und andererseits von einer erzeugten Mehrsprachigkeit gesprochen werden, die einem ästhetischen Willen folgt. Die Multilingualität des Alltags bedeutet, darauf weist Mora mehrfach hin, nicht allein das Vorhandensein verschiedener Einzelsprachen, sondern eine Art innerer Mehrsprachigkeit mit Dia- und Soziolekten, verschiedenen Varietäten, bzw. die Multiplizierung dieser in den verschiedenen Idiomen. In Anbetracht zahlreicher Ausführungen Moras kann behauptet werden, dass wegen der inneren Mehrsprachigkeit eine streng genommene Einsprachigkeit einer Gesellschaft schlicht unmöglich ist. Mora beruft sich dabei gerne auf verschiedene regionale Varianten oder auf die historische Entwicklung der Sprache und damit auf das Nebeneinander der Sprachen unterschiedlicher Epochen.27 Es geht also nicht allein um »Hungarismen«28 kontra ›deutsche Sprache‹, sondern auch um eine innere Polyglossie innerhalb des ›Deutschen‹ wie z.B.«Austriazismen«, »DDR-Deutsch« etc. (GT 13), oder auch um »Regionalismen« oder ›veraltete‹ nicht mehr ›übliche‹ auf jeden Fall aber um ›fremde‹, von der Standardsprache abweichende Wörter, Wörter also, die nicht im traditionellen Sinne Fremdwörter sind. Sprache wird synchron und diachron zusammengedacht und als Einheit gesehen. Wenn Mora von Sprache spricht, geht es bei ihr nicht um die verschiedenen Einzelsprachen, sondern z.B. um die Sprache verschiedener Medien, und gleich zehn ›andere‹ Sprachen innerhalb des ›Deutschen‹ wie: Wendedeutsch, Ostdeutsch, Westdeutsch, Deutsch der alten Politik, Stammtischdeutsch, Straßendeutsch in Ost und West, Großstadtdeutsch, Studentendeutsch, Wissenschaftsdeutsch (GT 24). Auch Sprachwechsler wandeln nicht allein 27 28
Vgl. Mora: 2016a, bzw. Mora: 2011a. Vgl. ebd.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
zwischen eigentümlichen selbständigen Sprachen, sondern auch und hauptsächlich zwischen den verschiedenen Registern dieser Sprachen. »Wenn man nur schreiben dürfte, was gerade ›üblich‹ ist: wie öde wäre das, wie schade, was für verschenkte Möglichkeiten« – heißt es in diesem Sinne in der Dankesrede zum Übersetzerpreis.29 Summarisch könnte man Moras Auffassung vielleicht damit beschreiben, dass man immer ein Anderssprechender ist, indem man nach einem geeigneten Ausdrucksmittel sucht.30 Sprache kann demnach selbst im Alltag nicht essentialisiert werden, und selbstverständlich gilt dies noch viel weniger für die Literatur. Diese Suche spielt bei der Konstitution einer Identität als Autorin eine herausragende Rolle und erscheint bei Mora als der ständig neu ansetzende Versuch, einen richtigen Satz, einen adäquaten Ausdruck für einen Inhalt zu finden (NS 5-30).31 Dieser Impetus macht vor keiner Grenze von ›Nationalsprachen«, oder wie es bei Mora oft heißt, Landessprachen, halt, sondern hat Sprache als solches, im Blick. Der gefundene Satz, der dann zur Basis des jeweiligen Textes wird, ist, darin besteht kein Zweifel, ein Anderssprechen, eine Exophonie, die sich nicht in Einzelsprachen bewegt, sondern ein hybrides Sprachgebilde ist. Die Suche nach dem Satz ist, wie Mora in der Frankfurter Vorlesung ausführt, nicht dem Verlassen des Landes Ungarn geschuldet, sondern vielmehr der Entstehung einer neuen Identität als Schriftstellerin, was zeitlich mehr oder weniger mit der Umsiedlung zusammenfällt.32 Als Autorin ist jedes Buch, jede Äußerung eine neue Sprachfindung.33 Die Basis des Denkmodells der Suche ist, dass man die Sprache nicht hat, womit das essentialistische Denken, die eindeutige Zuordnung von Sprache und Territorium, 29 30
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Vgl. ebd. Vgl. dazu auch den Band Exophonie. Anders-Sprachigkeit in der Literatur, (Arndt/Naguschewsky/Stockhammer Hg. 2007). Die Herausgeber weisen hier in der Einleitung darauf hin, dass Herders Losung, wonach der »Genius der Sprache« auch »der Genius der Literatur einer Nation« ist, selbst damals nicht standhielt und auch seitdem keine allgemeine Gültigkeit bekommen kann. Sie möchten die Idee der Exophonie als Normallfall etablieren, wenn sie z.B. auch was deutsch anbelangt, auf kulturell inhomogene Räume verweisen. Sie betonen aber auch, dass Exophonie in Europa hauptsächlich mit der dritten Phase der Globalisierung zusammenhängt. S. 7ff. Mora: 2014. Die Frankfurter Poetikvorlesungen, unter dem Titel Nicht sterben, werden im laufenden Text mit der Sigle NS und Seitenzahl in Klammern zitiert. Vgl. die erste Frankfurter Vorlesung und die Entstehung der Erzählung Durst. Auch hier werden zentrale Punkte der Sprachproblematik artikuliert. Denken wir z.B. an die Dankesrede zum Büchner Preis, die als Brief konzipiert ist, und schon deswegen ein anderes, ein spezifisches Sprechen verlangt. Vgl. Mora: 2018.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
Sprache und Nation, aber auch die Gebundenheit der Sprache an das Individuum dekuvriert wird. Sprachen und ihre Verbindungen mit Territorien, Völkern, Individuen sind transitorisch und nicht essentiell. Sprachen kommen und gehen, heißt die Devise, sie gesellen sich zu jemandem für eine Dauer und verschwinden dann genauso, wie sie gekommen sind. Die Verbindungen sind somit transitorisch und kontingent. Das Modell von essentialistischer Verbundenheit wird ersetzt von einem Denken, in dem sich die Sprache zu einem gesellt, um ihn dann irgendwann zu verlassen. (GT 11) Die Sprachen kommen aber nicht nur dadurch in Bewegung, dass sie Menschen eine Zeit lang begleiten. Sie kommen z.B. durch »internationale Wanderwörter« (GT 10) auch mit einander in Berührung. Es handelt sich in dem Fall um Lehnwörter, die vor Augen stellen, dass Einzelsprachen nie rein, sondern immer schon Übersetzungen, also ein Sprachgemisch sind. Jede Sprache inkorporiert verschiedene Sprachen und ist durch Wanderbewegungen entstanden.34 Viel expliziter gilt dies für die Literatur, da sie an der literarischen Tradition weiterschreibt und an den vorgefundenen Sprachbeständen feilt. Es finden also sowohl auf der Ebene der Sprache (z.B. Entlehungen, innere Polyphonie der Sprache) als auch auf der Ebene der Sprecher (Code-Switching, Wechsel zwischen den Registern etc.) ständig mehrere Wanderbewegungen statt. Dies führt zu einem unendlichen Changieren und Doppelbödigkeit in einem liminalen Schwellenraum, der nicht identifiziert werden kann. Diesem liminalen Schwellenraum entspricht die Standortbestimmung einer Existenz als Leben in der »Übertragung« (GT 9, 24). Expliziert wird in Moras autofiktionalen Ausführungen und poetologischen Selbstkommentaren in Bezug auf die eigene Familie und Kindheit eine multiethnische und multilinguale Region der »ungarischen Krone« mit Kroaten und mit einer deutschsprachigen Bevölkerung, die die Mehrheit bildet, und natürlich mit den Ungarn. Es geht weiterhin um verschiedene Dia- und Soziolekte, um Varietäten der verschiedenen Idiome, also um eine innere Mehrsprachigkeit. All dies spielt ebenso eine Rolle wie das Zusammentreffen der genannten Einzelsprachen. Man ist bereits im Gesprochenen ein Sprachwechsler, ganz zu schweigen von der Schriftlichkeit, die noch zusätzliche Übertritte verlangt. Der Sprachwechsel wird aber von Mora entessentialisiert und neu definiert, wenn sie sagt, dass dieser Prozess auf Grund von Krisen und Übergängen, die zu einer Wortlosigkeit führen, beginnt, wenn man dazu gezwungen
34
Kilchmann: 2012, 13.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
wird, »immer aufs Neue die Sprachregelung [zu] finden« (GT 11). Davon ist jede Biographie geprägt. Sprachliche Zugehörigkeiten, Sprachwechsel etc. werden neu kontextualisiert, Mehrsprachigkeit erscheint bei Mora, wie auch bei Forschungsansätzen des Postmonolingualen immer mehr als eine Selbstverständlichkeit. Auch wenn Vielsprachigkeit in der Literatur nicht neu ist, gibt es doch zunächst eine eher »verdeckte Geschichte mehrsprachigen Schreibens«.35 Selbst wenn in unterschiedlichen Kontexten diverse heterolinguale Verfahren auszumachen sind, kann generell behauptet werden, dass die Verwendung mehrerer Sprachen doch die monolinguale Norm attackiert. Diese monolinguale Sicht impliziert ja eine Einbettung, ein Beheimatet-Sein in einer Sprache, die dadurch Zugang zu allem gewährt. Sprachphilosophie, wie z.B. Nietzsches Hinweis auf die zweifache Metapher36 und damit auf die Unmöglichkeit die mediale Vermitteltheit umgehen zu können, hinterfragt aber die Leistungen von Sprache. Ähnliches betont die kritische Theorie, wenn sie darauf verweist, dass die fremden Wörter positiv gewendet aber auch ermöglichen, dass man aus dem »Umkreis des Immergleichen, dem Bann dessen, was man ohnehin ist und kennt«37 , ausbricht. Das Fremdwort zerschlägt dadurch auch die »Illusion, es wäre, was geredet wird, unmittelbar das Gemeinte«.38 Die Fremdsprache macht sich zum Träger der Dissonanz, und bringt an den Tag, »wie es um alle Wörter steht, dass die Sprache die Sprechenden nochmals einsperrt; dass sie als deren eigenes Medium mißlang«39 . Ein allgemeines Charakteristikum ist in Moras Schaffen in diesem Sinne neben der Subversion essentialistischen Denkens, oder vielmehr Hand in Hand damit eine ausgeprägte Sprachreflexion, die ja auch an das bereits genannte Übertragen oder ans Übersetzen, bzw. an sprachphilosophische Konzeptualisierungen gekoppelt werden kann. Dies erscheint thematisch-motivisch seit den Erzählungen in Seltsame Materie. Es wird in den Romanen fortgesetzt, und ist – obzwar nicht so ausgeprägt – auch in den Alien-Erzählungen zu finden. Es geht um Reiseführer, Dolmetscher und Übersetzer, Minderheiten, Grenzregionen, Übergänge und Wenden, um das Erlernen von Sprachen, generell um Ausländer, Fremde in einem dominant anderssprachigen Kontext und somit um die Problematik von Verständigung, Integration oder Alienisierung. Es geht auch um die Zunge und ihre Funktionen als Verzehr von Speise bzw. 35 36 37 38 39
Ebd., 11. Nietzsche: 1966, 309-322. Adorno: 1991, 218. Ebd., 221. Ebd.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
als Artikulationsorgan. Es geht um gesprochene Sprache und Schrift und andere mediale Übergänge. Die Reflexion der Sprache umfasst korrespondierend mit Vielsprachigkeit demnach ein breites Spektrum von Möglichkeiten, womit die Grenzen der Sprache und des Sagbaren ständig hinausgeschoben, in Bewegung gehalten werden und damit auf Unmöglichkeit von Integration verweisen. Fremdwörter, die die Basis von Mehrsprachigkeit darstellen, werden als »Stachel«40 oder auch als »Sprengstoff«41 genutzt, von denen ein Funke überspringen kann.42 Sie sind als »Einbruchstellen erkennenden Bewusstseins«, als Orte der Freiheit zu sehen.43 Auch wenn sie unverständlich oder gar bedrohlich sind, haben sie ihr »Recht als Ausdruck der Verfremdung. […] Je fremder in der Gesellschaft den Menschen ihre Dinge wurden, um so fremder müssen die Worte dafür stehen«,44 heißt eine Idee der Legitimation von Mehrsprachigkeit, des fremden Wortes, was zur Basis einer sprachkritischen Poetologie werden kann.
3.3
Sprachverwirrung, Sprachlosigkeit, Vielsprachigkeit
Um den Rahmen abzustecken, in dem der Mehrsprachigkeitsdiskurs verortet werden kann, sollen als Erstes traditionelle Denkmodelle und ästhetische Codes anvisiert werden. Denkt man über Vielsprachigkeit nach, wird klar, dass es hier nicht allein um ein eminent sprachliches und ästhetisches Phänomen, sondern um die conditio humana, um ein Welt- und Menschenbild geht. Damit reicht das Thema viel weiter als Fragen nach Sprachmischung, Interkulturalität u.ä.m. Vielsprachigkeit weist nämlich, wie der Turmbau zu Babylon zeigt, in ihrer metaphorischen Qualität auf eine gestörte Ordnung hin, auf die Verlorenheit des Menschen, auf die Aussichtslosigkeit seines Bestrebens ein selbstgesetztes und damit frevelhaftes Ziel zu erreichen, wenn es möglich ist, gottähnlich zu werden. Die Folgen der babylonischen Sprachverwirrung, die Zerstreuung von Sinn in verschiedene Sprachen und die Unmöglichkeit von Verständigung wurden in der europäischen Kulturgeschichte lange durch die Annahme einer metaphysischen Ordnung eliminiert. Babylonische Zustände werden seit der Neuzeit mit einem allgemeinen »Ord40 41 42 43 44
Waldenfels: 1990. Adorno: 1991, 640. Ebd., 225. Ebd., 543. Ebd.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
nungsschwund«45 in Zusammenhang gebracht. Akzentuiert wird dies eminent seit der Moderne, seit Ordnungsbestrebungen hinterfragt werden, seit parallel mehrere Ordnungen auf die Bühne treten, die einander gegenseitig relativieren. Die eine, seit der Antike als Maßstab genommene Ordnung schwindet dann auch in der Ästhetik und der Literatur, und in einem Zuge werden Grenzüberschreitungen und Innovationen dominante Diskurse, zu denen auch die Sprachmischung gehört. Mehrsprachigkeit, die bis dahin für komische, für ›niedere‹ Genres akzeptabel war, wird zu einer Leitvorstellung für Konventionsbruch und Experiment.46 Die so entstandene Affinität zu Mehrsprachigkeit zieht sich nun als eine ästhetische Leitidee durch die ganze Literatur des 20. Jahrhunderts und auch der letzten Jahrzehnte. Die »Überlagerung der verschiedensten Sprachen und ihre gegenseitige – dann sogar simultanistische – Durchdringung, Montagen aus Zitaten und schließlich die Dissoziation der Einzelheiten des Textes gegen den Zwang des Zusammenhangs«47 werden seit der Moderne zum Programm. Der Ernst polyglotter Poesie hält demnach mit der Moderne Einzug, seitdem der Mensch sich »in einer babylonischen Sprachwelt besser repräsentiert« fühlt »als in einer paradiesisch-homogenen«48 . Multilingualität, der reflexive und kreative Umgang mit Sprache(n) ist also nicht erst seit der ›interkulturellen Wende‹ oder der Globalisierung ein signifikanter Zug von Literatur. Die verschiedenen Sprachen, das Code-Switching, das in den Texten auch als Fremdkörper erscheint, bedeutet eine Irritation, die den Lesefluss stört. Mehr noch verweist es darauf, dass man sich nicht langfristig in einer bekannten Ordnung einrichten, in ihr heimisch werden kann. Durch die provozierende Kombination des Heterogenen entsteht eine Art sprachliche Obdachlosigkeit, denn Vielsprachigkeit rührt an die Fundamente unseres naiven Sprachverständnisses und stellt als reflexiver Zug einerseits die Arbitrarität der Zeichen vor Augen und andererseits verweist es auf die Medialität und Materialität der Zeichen. Der naive Sprachglaube, von dem Nietzsche spricht,49 wird hier dekuvriert, denn durch die Inszenierung von Multilingua45 46 47 48 49
Schmitz-Emans: 2012. Vgl. auch Knaut: 2004, 80ff. Knaut postuliert eine polyglotte und kosmopolitische Literatur sowohl in der ersten als auch in der zweiten Avantgarde. Vgl. ebd. 87, 92. Riha: 1995, 13. Schmitz-Emans: 2002, 13. Nietzsche spricht in seinem berühmten sprachkritischen Text Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne darüber, dass wir vergessen haben, dass die Sprache das Ergebnis einer zweifachen Metapher ist. Nietzsche: 1966, 309-322.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
lität in ihren verschiedensten Ausprägungen kann die Zeichenhaftigkeit nicht vergessen werden, man wird – im Gegenteil – fortwährend daran erinnert. Die hier anvisierten Texte zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie diese Übertragung vor Augen führen. In ihrer eigentlichen Bedeutung als Zeichen, das auf etwas verweist, übernehmen hier Monstra auch die Funktion auf die sprachliche Gemachtheit und die Medialität der Texte zu verweisen. Moras Texte können in diesem Sinne als sprachliche Körpermonster gelesen werden, als de-formierte Sprach- und Textkörper, die in dieser Funktion gleich zu Zwitterwesen werden, zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung, und die zwischen naivem und reflexivem Lesen oszillieren. Monströse Sprachordnungen repräsentieren durch ihr ständiges Umkippen eine Art Heimatlosigkeit. Dies ist auf der motivisch-thematischen Ebene der Texte offensichtlich. Die vorliegende Studie setzt sich zum Ziel diese Unbehaustheit ebenso auf der ästhetischen Ebene aufzuspüren. Summarisch kann behauptet werden, dass das Monströse »paradox und liminal« ist, denn in ihm »koinzidiert die penetrante Sichtbarkeit ausnahmehafter Erscheinungen mit unsichtbarer, potentiell unsicherer Referenz sinnfälliger Zeichenhaftigkeit«.50 Das Monströse oszilliert »zwischen (körperlicher) Wahrnehmbarkeit und semiotischem Entzug«.51 Es kann in Bezug auf Mora von einer semiologischen und mediologischen Monstrosität gesprochen werden. Diese korrespondieren mit den Beschaffenheiten poetischer Sprache. Wenn poetische Sprache in der Moderne auf die Kluft zwischen Sprache und Wirklichkeit, bzw. darauf, dass nur eine sprachliche Wirklichkeit zugänglich ist, reflektiert, insistiert sie darauf, dass nicht gesagt werden kann, was wirklich ist. Die poetische Sprache macht, so meine These, auch bei Mora »auf Bruchstellen in den künstlichen Konstruktionen aller WeltEntwürfe aufmerksam«52 . Die Sprache der Literatur enthüllt somit, was »als Nicht-Stimmiges aus den gängigen Weltdeutungen herausfiel, sie widersetzt sich den beschönigenden Täuschungsmanövern des Alltagslebens und seiner Sprache«.53 Dieses Nicht-Stimmige, was außerhalb des Rahmens einen Platz zugewiesen bekommt, ist das Monster als Grenzfigur, das aber mit seiner bloßen Anwesenheit auf die Konstruiertheit und Kontingenz von Weltdeutungen zeigt. Dieser Konstruktcharakter wird durch die poetische Sprache
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Overthun 2009: 50. Ebd. Schmitz-Emans: 2004, 41f Ebd.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
und das Monströse nicht in der Latenz belassen, sondern manifest gemacht. Wenn Mora ihre Figuren auf die Reise schickt, ist dies nur ein äußerliches Bild dessen, was die Figuren in unauslotbaren Sprachräumen bereisen: Sie tauschen ihre vermeintlichen sprachlichen Heimatterritorien gegen fremde Gebiete aus.54 Dasselbe geschieht aber auch, wenn die Figuren in der Textwelt unterwegs sind und sich einer unendlichen Redevielfalt bedienen.55 Eminente Vertreter, Agenten dieser Transformationsprozesse sind die Dolmetscherund Übersetzerfiguren56 oder die Wissenschaftler mit ihren Recherchen. An diesen wird expliziert, was im Grunde jedes Sprechen ausmacht, die Tatsache, dass Worte stets auch Fremdworte sind.57 Was Vielsprachigkeit anbelangt, sind wir bei Mora von ihrem Debüt an eindeutig in einer nachbabylonischen Welt. Alles erinnert an Kafkas BabylonText,58 in dem überall Dolmetscher, Uneinigkeit, Missverstehen, Ziellosigkeit und Ersatzbeschäftigungen prägend sind. Es gibt keine Existenz außerhalb dieses Zustandes, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft und auch von der Glossolalie des Pfingstwunders ist keine Spur. Auch zu Pfingsten ist statt Einklang vielmehr Kakophonie zu vernehmen (U 43). Oder das Pfingstwunder wird schlicht Massenhysterie (AT 35) genannt. Es gilt nun zu verfolgen, wie bei Mora diese nachbabylonische Welt aussieht, welche Rolle die Mehrsprachigkeit spielt. Schon in Seltsame Materie gibt es eine manifeste Vielsprachigkeit, denn englisch, französisch, rumänisch, russsisch und ungarisch sind »glottamimetisch«59 präsent so, dass den Erzählungen ein Glossar angehängt wird. Auch glottadiegetisch ist aber Multilingualität nachzuweisen. Über die manifeste (glottamimetische oder glottadiegetische) Multilingualität hinaus gibt es auch eine latente Vielsprachigkeit schon im ersten Erzählband. Mora selber gibt an verschiedenen Stellen einige Hinweise auf die ungarische Literatur54
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Vgl. Darius Kopp, bzw. die Wissenschaftlerin in A la recherche in den Aliengeschichten. (LA 187-212.) Darius Kopp ist auch im ersten Teil der Kopp-Romane beruflich bedingt in realen und virtuellen Sprachräumen unterwegs. Der Erzählband Die Liebe unter Aliens wird im laufenden Text mit der Sigle LA und Seitenzahl in Klammern zitiert. Vgl. Flora vor allem in Das Ungeheuer Solche sind Abel Nema und verschiedene Figuren aus Seltsame Materie, aber auch Flora in den Kopp-Romanen. Waldenfels: 1998, 11. Vgl. Das Stadtwappen. Kafka: 1982, 306. Kafka kann in vieler Hinsicht, nicht nur biographisch, sondern auch poetologisch als Referenzfigur für Mora gesehen werden. Vgl. Stockhammer: 2015, 146-172. In diesem Aufsatz erarbeitet Stockhammer eine Begrifflichkeit zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in literarischen Texten.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
und Kulturgeschichte. Vor allem scheint dies plausibel, wenn man bedenkt, dass sie in den Frankfurter Vorlesungen Seltsame Materie als die ›Arbeit am Mitgebrachten‹ beschreibt (NS 5-30).60 Die Sprachen sind verwirrt, das wird als unbezweifelbare Tatsache vor Augen geführt. Es gibt keine Verständigung, vielmehr ist es Isolation, die die Texte dominiert. Die emblematischen Figuren sind die Dolmetscher und Sprachlehrer, die Moras Texte nicht nur im ersten Band bevölkern. Bei beiden geht es um die Folgen der babylonischen Katastrophe,61 von der Moras Texte herrühren. Das Desaster von Babylon ist in den Texten jedoch janusköpfig. Während inhaltlich-motivisch Babel als Chiffre für Entzweiung, Unverständnis, Ziellosigkeit, bzw. für das Bemühen um Verständigung und Mitteilung steht, das nie erreicht werden kann, geht es dichtungstheoretisch eher darum, dass der Turm als Chance gesehen wird. Mora scheint nicht im Haus der Sprache, sondern vielmehr im babylonischen Turm zu wohnen. Ihre sprachkritische Poetologie, deren Nukleus das Fremdwort, die Mehrsprachigkeit ist, bedenkt, mit Adorno gesprochen, die »Unmöglichkeit von Sprachontologie«62 . Noch »den Begriffen, die sich geben, als wären sie der Ursprung selber, halten sie [die fremden Wörter EH] ihr Vermitteltsein vor, das Moment des subjektiv Gemachten, der Willkür«.63 »Das Fremdwort mahnt krass daran, dass alle wirkliche Sprache etwas von der Spielmarke hat, indem es sich selber als Spielmarke einbekennt.«64 Der Schriftsteller könne, so Adorno, »die Spannung zwischen Fremdwort und Sprache, indem er sie in die eigene Reflexion und die eigene Technik einbezieht, sich zu Nutze machen«.65 Die
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Für diese Studie interessieren nicht konkrete Bezüge oder Spuren aus dem Ungarischen oder aus anderen Sprachen. Selbst wenn es im Einzelfall auch um das Unbewusste geht, ist von den Texten die Polyglossie intendiert und bewusst eingesetzt. Auch wenn viele Exempel für Mehrsprachigkeit auch für die Autorin latent sind, wird auch daraus kein Hehl gemacht, dass das Zusammentreffen mehrerer Idiome (in beiden Bedeutungen des Wortes) auch kalkuliert wird, und explizierbare Intentionen nachweisen lässt. Wie Schmitz-Emans zeigt, kann die Sprachverwirrung nicht allein als Katastrophe, sondern auch als eine Möglichkeit, eine Gabe gelesen werden. Hier beruft sie sich in erster Linie auf Eco, der das Katastrophenszenario in eine Chance umdeutet. 2002, 7-36, bes.10f. Adorno: 1991, 221. Ebd. Ebd. Ebd., 220.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Illusion einer sprachlichen Geborgenheit, des Beheimatetseins, wird bei Mora, wie dies bereits erwähnt wurde, mit zahlreichen Mitteln herausgestellt.66 Korrespondierend mit Nietzsches oder Adornos Bemerkungen werden im Reflexionsprozess über die Sprache gerade die störenden Elemente genutzt. Viel signifikanter ist dennoch der damit verbundene Hinweis auf falsche Sicherheiten, welche durch Sprache vorgetäuscht werden. Babel wird also zum Programm. Das ganze sprachliche Instrumentarium zeigt, unabhängig von den explizierten Themen, die Brüchigkeit des Sprach- und so des Weltverständnisses. Die störenden Elemente erfüllen ihre Rolle als Reflexionsmomente über das Sprachmaterial, indem sie das Sprachkontinuum stören und herausstreichen, »was von der schlechten Allgemeinheit vorgetäuscht wird«67 , nämlich das Vergessen der Arbitrarität der Sprache, aber auch die essentialistischen Vorstellungen des Einsprachigkeitsparadigmas. Die augenscheinlichen Erscheinungsmodi sind neben den Fremdwörtern die Hinweise auf die innere Mehrsprachigkeit durch Fachtermini, Archaismen, Dialekte und durch die zahlreichen Phrasen und Redewendungen u.ä.m. Dadurch, dass neben der Hoch-, der Standard- und der Umgangssprache auch noch Sprachvarietäten, Dia- und Idiolekte beim Erzählen herbeizitiert werden, werden die Modalitäten des sprachlichen Instrumentariums vergegenwärtigt, reflektiert und zum Teil auch spielerisch durchexerziert. Festgestellt werden kann, dass die Sprachverwirrung, mit anderem Wort die Mehrsprachigkeit im Textgeflecht als Programmatik fungiert. Um das Terrain weiter abzustecken und der Intention, die sprachkritische Folie der Textur herauszuarbeiten, näher zu kommen, soll nun der Reichtum, die Virulenz von Störfaktoren anvisiert werden. Diese können gleichsam als eine Attacke auf den herkömmlichen Sprachgebrauch verstanden werden, wodurch der Automatismus des Sprechens hinterfragt wird. Ein Eckpfeiler dieser Reflexion bilden die Dolmetscher und Sprachlehrer, dessen bloßes Dasein schon eine nachbabylonische Welt heraufbeschwört. Der Dolmetscher als literarische Figur hat metaphorischen Charakter.68 Interessant für unseren Problemzusammenhang ist der Dolmetscher als Medium, als Mittler, in einer Zwischenposition von Multikulturalität und Mul66 67
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Zu der Frage der ›sprachlichen Heimat‹ bzw. ihrer Dementierung vgl. Mora: 2011b, bes. 105. Ebd. Insofern diese Wörter die Täuschungen im Blick haben und sie hinterfragen, weisen sie auf vermeintliche Sicherheiten der Sprache und auch des Weltverständnisses hin. Vgl. Andres: 2008, 351.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
tilingualität, aber auch generell in jedem sprachlichen Vermittlungsprozess. Dolmetscher und Sprachlehrer sind die Schwelle, Personifizierungen von Liminalität, als Lebewesen in der »Übertragung« (GT 9, 21), im Über-Setzen. Sie stellen zugleich vor Augen, dass bleibende Grenzziehungen und Identitäten problematisch sind. Diese Figuren destabilisieren in ihrer metaphorischen Qualität symbolische Ordnungen, sie insistieren auf die Brüchigkeit identitätslogischen Denkens. In ihrem exterritorialen, wilden Zwischenraum jenseits von Grenzen, markieren sie auch das Monströse schlechthin. Dolmetscher und Sprachlehrer bzw. -lerner werden zum Ort der Transgression und der Mischung.69 Diese Figuren werden hier nicht in erster Linie im Kontext von Globalisierung etc. untersucht, sondern als Figuren, die Eckpfeiler einer sprachkritischen Poetologie sind. Als Galionsfigur steht Abel Nema aus Alle Tage an der Spitze aller Dolmetscher, Sprachlehrer und –lernerfiguren. Moras Texte, so auch Alle Tage und die Kopp-Romane entstehen auf der Folie eines Sprachkonzepts, das an Waldenfels‹ (bzw. Bachtins) Ausführungen über Hybridität und Vielstimmigkeit der Rede erinnert. Es geht um das Durchdrungensein der Sprache mit dem Fremden, das nicht assimiliert werden kann. Konstitutiv ist die unausweichliche Mischung. Das fremde Wort ist bei Mora somit nicht allein als Störfaktor, als Verfremdung zu verstehen, sondern das Fundament, das jeder Äußerung unterschwellig inhärent ist. Dies bedeutet aber auch, dass intentional kontrolliertes Sprechen unmöglich ist, was zur Dissoziation des Subjekts führt. So kann als eine Kernthematik in den Texten die Dezentralisierung der Figur ausgemacht werden, die Inszenierung dessen, dass das Ich sich sprachlich entgleitet. Der Dolmetscher exemplifiziert Bachtins Konzept, dass jedes Sprechen polyphon ist,70 dass Rede 69
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Der Dolmetscher wird gerne im Kontext von Multikulturalität und Globalisierung besprochen. Andres weist darauf hin, dass diese Figuren eigentlich nicht zum Figurenarsenal des Romans, sondern eher in den Reisebericht gehörten, die jedoch in europäischen Literaturen zunehmend nach 1990 erschienen sind. (Vgl. Andres: 2008, 17f.) Generell werden diese Figuren im Zusammenhang mit Postkolonialismus, Globalisierung und Hybridität in Verbindung gebracht. Vgl. auch Kurz/Kaindl: 2005, 2010 Die »Sprache des Romans ist ein System von Sprachen«. »Der Roman ist künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt.« Es geht um die »innere Aufspaltung der einheitlichen Nationalsprache« und darum, dass der Roman seine Themen, die abzubildende Welt »in der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden individuellen Stimmenvielfalt« orchestriert. (Bachtin: 1979, 157.) Dies ist eine »philosophische Konzeption des poetischen Wortes«, die nicht von einem »System der einheitlichen Sprache und das Individuum, das diese spricht« ausgeht. (ebd. 161 bzw. 163. Herv. i. Orig.) Bachtin spricht von Aufsplitterung, Aufspaltung,
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
immer – mehrfach sogar – fremde Rede ist. Der Benutzer der Sprache ist unaufhörlich unterwegs in Sprachräumen ohne festen Wohnsitz. Sesshaftigkeit, das Sich-Einrichten werden abgelöst von Bewegung und Grenzüberschreitung. Sprechen bedeutet demnach einen Aufenthalt in liminalen Grenzräumen, was die Einsicht in die Kontingenz jeglicher Ordnung demonstriert. Die Bachtin’sche Polyphonie weist eine Nähe zum Monströsen auf, wenn es darum geht, dass es eigentlich keine ›eigene‹ Sprache gibt, dass das scheinbar Eigene immer schon – mit Waldenfels zu sprechen – vom Fremden durchfurcht ist.
3.4
Medienreflexion und performative Medienästhetik
Die bis zum Exzess getriebene Reflexion der Sprache ist der eine Pfeiler der Texte Moras. Die Problematik von Multilingualität erscheint bei Darius Kopp, auf eine vollkommen andere Art und Weise als bei Abel Nema. Kopp ist nicht sprachbegabt, spricht englisch, die ›basics‹, was er berufsbedingt auch immer wieder benutzen muss, da diese Sprache in der Arbeitswelt und auch bei Reisen als lingua franca fungiert. Das Code-Switching ist auch in der Trilogie auf zahlreichen Ebenen präsent. Ein gemeinsamer Nenner mit den anderen Texten ist darüber hinaus die Problematik der Kommunikation und der Verständigung. Auch die drei Romane der Kopp-Trilogie sind in einer nachbabylonischen Welt situiert, in der die Isolation als Folge der Sprachverwirrung im Fokus steht. Ging es aber in Alle Tage hauptsächlich um Sprachlichkeit, also um Sprache im Allgemeinen, um die Universalgrammatik, um allgemeine Prinzipien von Sprachen, geht es in den anderen Romanen eher um Sprachigkeit, um die verschiedenen Idiome. Das Zusammentreffen verschiedener Sprachen, hauptsächlich des Englischen und des Deutschen, negiert auch das Konzept der eindeutigen Sprachigkeit, das Vorhandensein von Sprachgrenzen.71 Klar wird hier auch vor Augen gestellt, dass die einzelnen Sprachen »sich niemals vollständig, aber doch in verschiedenen Graden« einzelnen
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von zentrifugalen und zentripetalen Kräften, so von Zentralisierung und Vereinheitlichung bzw. Dezentralisierung und Differenzierung als von Prozessen, die unaufhaltsam nebeneinander laufen. (ebd. 165.) Der Ort der Überschneidung dieses Prozesses ist das Subjekt. Hier wird auch der Dialog zwischen konkretem Wort und fremdem Wort entfaltet. ebd. 169. Vgl. Dembeck/Mein: 2012, 136.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
Sprachen zurechnen lassen.72 Mora will die verschiedenen Sprachen nicht immunisieren, im Gegenteil, es gehört zum ästhetisch-poetologischen Konzept, dass ›fremde‹ Sprachen manifest präsent sind in den Texten. Neben Standards und diversen Varianten erscheint die Verwendung fremder Elemente. Zum einen dienen sie zur Charakterisierung der Figur und ihrer Arbeit. Über diese augenscheinliche Oberfläche hinaus gibt es jedoch eine Reflexionsebene in Form ästhetischer Entgrenzung. Es geht hier nicht in erster Linie, wie so oft, um Fragen kultureller Identität, es geht auch nicht mehr um Einzelkulturen im traditionellen Sinne, denn man ist in der globalen Weltwirtschaft und Informationstechnologie, also bei den Motoren der Globalisierung angekommen. Dies bedeutet selbstverständlich noch lange nicht, dass die Frage nach Identität, Identifizierung und Zugehörigkeit keine Rolle spielen würde. Traditionelle kulturelle Annahmen werden rekonzeptualisiert, es geht eher um Mehrfachkodierungen und komplexe innere Differenzierungen. Zu fragen ist, wie Mehrsprachigkeit in den Kopp-Romanen erscheint. Darius Kopp arbeitet in Der einzige Mann auf den Kontinent bei einer global agierenden Firma mit Sitz in den USA und Zweitsitz in England, was die Verwendung der englischen Sprache nahelegt. Auch mit Kollegen und seiner nicht deutschen Klientel muss er, um die Kommunikation überhaupt möglich zu machen, auf Englisch ausweichen. Reflektiert wird in diesem Kontext auch auf die Mehrsprachigkeit im Sinne von Fachjargons. Es geht hier um Fachsprachen, konkret um die Sprache der Wirtschaft, die eine den Einzeloder Nationalsprachen übergeordnetes Kommunikationsmittel ist. Dabei geht es u.a. um Lehnwörter oder Neubildungen mit englischen Versatzstücken oder nach englischem Muster, wie Businesscenter, Businessman, Job, Boom, Crash, New Economy Blase, Joint-Venture, Startup, Leasing etc. ganz bis zu After-Work-Party (EM 66)73 , die sich mittlerweile im Deutschen eingebürgert haben. Der Protagonist wird allerdings auch »Businesmann« (EM 17) genannt, ein Zwitter aus englisch und deutsch, der zugleich auf Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede, auf die Verwandtschaft der beiden Sprachen verweist. Die Präsenz des Englischen hängt auch damit zusammen, dass Kopp als IT-Fachmann arbeitet, (wiederum ein englisch-deutsches Mischwort) und die Sprache der Informationstechnologie ebenfalls Englisch ist. So erscheinen im Text allerdings wieder Anglizismen, oder dem englischen 72 73
Stockhammer: 2017, 15. Mora: 2004. Aus dem Roman wird im Folgenden im laufenden Text unter der Sigle EM und Seitenzahl in Klammern zitiert.
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nachgebildete Wörter, die längst in der deutschen Sprache angekommen und allgemein gebräuchlich sind, wie Internet, Headset, MP3-Player, E-Mails, Handy, Surfen, Update, Wifi, Wlan, Browser etc. Die Sprachmischung ist aber nicht allein auf der Ebene des Textes, sondern schon auf der des Wortes festzustellen, wenn es z.B. um MP3-Player, Walking-Schuhe, Hightech-Materialien (EM 217), Sightseeingschiffe (EM 175), Scheißjob (EM 339), aufpicken (AT 92) etc. geht, denn sie werden z.B. halb deutsch, halb englisch ausgesprochen, wie MP3-Player, oder es geht häufig um Komposita, deren Grund- und Bestimmungswort aus einer anderen Sprache kommen. Herausgestrichen wird durch diese und andere Modi der Bastardisierung die Unreinheit der Sprache. Das lenkt den Blick auf die ›Gastwörter‹, auf die Wanderung der Sprache, der kein Einhalt geboten werden kann. Mora nennt sich eine »Sprachmischerin« (GT 21). Sie will nicht beim Bekannten, bei den Konventionen stehen bleiben. Sie verweist mit Jandl eher darauf, dass in der Literatur bzw. in der Sprache »unerhörte Sachen« passieren (GT 20): »Wenn Sprachen miteinander in Berührung kommen, verändert sich das Sagbare« (GT 23). Das klingt wie eine Devise, die die Überschreitung von Grenzen beschwört. Strikte Abgrenzungen werden als unnatürlich erklärt, da in der Welt alles nebeneinander steht und sich überlappt (GT 23). Diese Überlappung dominiert die Kopp-Geschichte sowohl in Der einzige Mann auf dem Kontinent als auch in Das Ungeheuer bzw. in Auf dem Seil. »An der Grenzen einer jeden Ordnung taucht das Fremde auf«,74 das hier nicht eliminiert oder assimiliert und neutralisiert, sondern vielmehr wahrnehmbar gemacht wird. Wenn es im Zusammenhang mit dem männlichen Protagonisten dieser Romane signifikant um Multilingualität geht, korrespondiert damit auch ein Subjektkonzept, in dem das Subjekt, das das ›fremde Wort‹ spricht, keine »Bastion der Ordnung« mehr ist, das »Ungeordnetes abschneidet«.75 Der Ordnungsprozess des Einsprachigkeitsparadigmas zieht Grenzen. Die Romane Moras zeigen aber, dass der Mensch nicht in Grenzen, auch nicht in Sprachgrenzen eingeschlossen werden kann. Dies kann als die Basis der Mora’schen Sprachauffassung betrachtet werden. Wenn es um Verstehen und Verständigung geht, wie in diesen nachbabylonischen Texten von Terezia Mora, dann ist eine zentrale Frage, welche Antworten darauf gegeben werden, dass die Ordnung der Dinge ins Wanken geraten ist. Wenn reflektiert wird, dass zwischen fremder Provokation und 74 75
Waldenfels: 2006, 8. Ebd.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
eigener Produktion ein Hiatus klafft, ist man zu einem Paradox der »kreativen Antwort« gezwungen.76 Auf die Provokation des Fremden wird nicht mit Schlichtung, und Einebnung geantwortet, sondern mit der Herausstellung des Fremden. Wenn also in einem dominant deutschsprachigen Text andere Sprachen und auch andere Schriften erscheinen, weist dies auch darauf hin, dass jede Ordnung, so auch jede Sprachordnung »vom Schatten des Außerordentlichen« umgeben77 ist. Der Sprachstandard ist ja Ergebnis eines Ordnungsmechanismus‹, der nicht nur andere Einzelsprachen, sondern auch Sozio- und Dialekte ausmerzt, an den Rand drängt. So öffnet sich eine Kluft zwischen Schrift- und gesprochener Sprache, und auch zwischen Standard und Idiolekt, denn letzterer ist von Sozio- und oft auch von Dialekten durchdrungen. Gerade das Fehlen dieser Färbung, des Fremden, macht Abel Nema zum Monster, zu einem Automaten, zu einer Maschine, derer Welt das Sprachlabor, eine künstlich geschaffene Realität ist. Abel wird gerade dadurch zum Fremden. Es scheint geradezu, als wäre er nicht von dieser Welt. Darius Kopp wiederum ist von dieser Welt, scheint mit beiden Füßen im Leben zu stehen. Mehrsprachigkeit ist dennoch auch bei seinem Charakter ein konstitutives Element. Sein Idiolekt ist vom fremden Wort, auch von seinem Soziolekt, der Berufssprache des IT-Bereichs und der globalisierten Arbeitswelt durchdrungen. Er lebt darüber hinaus in einer Metropole, die sich durch Sprachhybridität auszeichnet. Oder er ist unterwegs, kommt mit anderen Sprachen, mit anderssprechenden Menschen in Kontakt. Nähert man sich dem postmonolingualen Schreiben aus einer anderen Perspektive, bekommt das Fremde, auch das fremde Wort, völlig divergente Bedeutungen. Der männliche Protagonist der Kopp-Romane ist kein Zehnsprachenmensch, er hat – und auch darin ist er ein Widerpart von Nema – einen ausgezeichnet ausgeprägten Geschmacksinn und eine Vorliebe für den sinnlichen Genuss, für Essen und Trinken. Wenn er sich also von »Artischockencarpaccio« (EM 169), Aubergine (EM 169), Capuccino, Chianti (EM 169), Croissants (EM 272) über Rib-Eye-Steak (EM 35) und Sushi (EM 211) bis zu Teriyaki-Hühnchen (EM 212) und Vitello tonnato (EM 169) oder von »Margherita bis Speciale« (U 14) durchfrisst und durchtrinkt, inkorporiert er nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch die fremde Sprache. Poetologisch gewendet, geht es hier um die Einverleibung des fremden Wortes und fremder 76 77
Vgl. ebd., 67. Ebd., 116.
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Rede. Englisch erscheint nämlich nicht nur in der Form von Anglizismen oder einzelnen englischen Sätzen, sondern auch in längeren Passagen, die meistens als Teile von Nachrichten in den Text montiert werden. Dieser Montagecharakter erscheint durch die Thematisierung des Surfens im Internet. Es werden Homepages geöffnet und deren Inhalt wird dann als fremdsprachliches Versatzstück in den Text aufgenommen. Es geht, wenn die Seite von Kopps Firma geöffnet wird, gleich in der Begrüßung um viele verschiedene Sprachen: »Welcome, Benvenuto, Välkomen, Sulamat datang« (EM 133. Herv. i. Orig.). Bei der Darstellung der Firma heißt es dann: »the Leader in End-to-End Broadband Wireless Networks, with more than 20 years of experience. WE MAKE YOUR WIFI VISIBLE. TURN TO US. (I will.)« (EM 133. Herv. i. Orig.) Nach diesem kurzen Entree geht es dann um »News & Events« und es werden verschiedene Fenster geöffnet: Im vorletzten Quartal lagen unsere revenues bei $15.1 million, an increase of approximately 47 % in total GAAP revenue from $ 10.2 million fort he quarter ended March 31, and a decrease of approximately 11 % from $ 16.9 million fort he quarter enden June 30, last year. (Und was genau bedeutet das? Ich gebe zu: ich habe keine Ahnung.) (EM 133. Herv. i. Orig.) Die fremden Textteile erscheinen auch wegen der abweichenden Schriftform, des Wechsels von Groß- und Kleinschreibung, Normalschrift und Kursivierung, und der in Klammer gesetzten eigenen Gedanken als Montage, sie werden also in doppelter Hinsicht in ihrer Materialität präsent. Dieser Wandel der Schriftform geschieht auch beim Inkludieren von Schlagzeilen (EM 230). Es geht hier um die Amalgamierung von verschiedenen Textsorten, unterschiedlichen Sprachen und abweichenden Schriftformen, die sich mitten im Satz ändern. Bei einer solchen Inszenierung der Schrift wird eine Doppelstrategie verfolgt: sowohl die Inkorporierung des Fremden als auch die Herausstellung des Fremden. Es geht dabei um Störfaktoren, die mit Automatismen brechen und dadurch den Blick z.B. für die Wahrnehmung von Medialität schärfen. Mehrsprachigkeit ist hier demnach auf verschiedenen Ebenen ein zentrales Phänomen der Reflexion. Es geht hier nicht allein um Verstehen oder Nichtverstehen. Durch das digitale Medium, bzw. das Internet wird auch im übertragenen poetologischen Sinne klar, dass Fenster geöffnet und damit Grenzen eliminiert oder zumindest durchgängig gemacht werden. Das Öffnen immer neuerer Fenster ist der Nukleus der Narration. So kann das Internet auch als Bildspender für eine selbstreflexive Poetik gelesen werden, die
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die eigenen narrativen Muster, allen voran die Inkorporation durch Grenzüberschreitungen bedenkt. Über die narrative Ebene hinaus geht es in Bezug auf Multilingualität selbstverständlich immer auch um die Problematik von Verstehen und Verständigung. Multilingualität, das Einverleiben fremder Elemente auf der Ebene der Sprache und des Erzählverlaufs greifen die Konsistenz des Subjekts an. Durch diese sprachlichen Einsprengsel geht es nicht nur um Steigerung der Komplexität und Hybridisierung des sprachlichen Instrumentariums. Der Protagonist gibt zwar den weltgewandten Weltbürger, doch geht es bei ihm bei der Einverleibung vielmehr um die Dissoziation des Subjekts, darum, dass er sich in den vielen Kontakten und Rollen, in den vielen Sprachen verliert. In dieser Vielheit der Sprachen und der fremden Texte ist jedes regelkonforme Sprechen passé, die intentional kontrollierte und verständliche Mitteilung ist der Kontingenz und der Unverständlichkeit gewichen. So befindet sich Kopp immer auf der Schwelle zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Es kann trotz der Einverleibung nicht mehr um Assimilation gehen, vielmehr führt die Inkorporation zu einem Aufenthalt im Übergang, im liminalen Transit, in dem sich Fremdes und Eigenes oszillatorisch aneinander reiben. Die montageartige Vermengung fremder Textteile in einer Fremdsprache, die zahlreichen Anglizismen in dem dominant deutschen Text, aber auch die Mischung innerhalb des Wortes durch deutschenglische Komposita usw. führen zu einer Polyphonie, in der das Eigene nicht zu vernehmen ist. Dieser Vielstimmigkeit fällt das Subjekt zum Opfer, denn es besteht aus heterogenen Komponenten, die nicht mehr bruchlos ineinander übergehen können, sondern den Zerfall, die Zerrissenheit des Subjekts zeigen.78 Es entgleitet sich auch sprachlich. Es gibt kein Einfügen, die Brüche bleiben offensichtlich. Der Schein des Geordneten schwindet, statt Beherrschung kommt die Unkontrollierbarkeit der Mitteilung zum Vorschein und damit auch eine Dezentralisierung des Subjekts. Das Nebeneinander der Codes macht bewusst, dass das Fremde in jeder Artikulation schon präsent ist. Somit wird explizit, dass herkömmliche, geregelte Kommunikation und Verstehen etwas ist, dass sich vom Hintergrund des Nicht-Geordneten abhebt, ohne dieses in die Ordnung zu überführen, zu assimilieren. Das Unverständliche, das Widerständige ist
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Auch Schmitz-Emans weist darauf hin, dass Vielsprachigkeit mit der Dezentralisierung des Subjekts zusammenhängt. Schmitz-Emans: 2004, 19.
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in diesem Denken nicht bloß eine Erscheinungsform der Verfremdung, sondern die Basis jeder Äußerung.79 Pate steht bei diesen Gedanken Bachtins Theorie der Polyphonie und sein Verweis auf die Hybridität jeder Aussage, die unkontrollierbar vom Eigenem und Fremden konstituiert wird. Wenn Bachtin sagt, dass Sprache immer Redevielfalt ist, artikuliert er, dass »Sprache[] in jedem gegebenen Moment ihrer Genese […] in linguistische Dialekte« und in »sozioideologische Sprachen« gespalten ist. Er spricht von Aufsplitterung und davon, dass die »zentrifugalen« und »zentripetalen« Kräfte ununterbrochen nebeneinander arbeiten, so dass »neben der verbal-ideologischen Zentralisierung und Vereinheitlichung […] ununterbrochen Prozesse der Dezentralisierung und Differenzierung« stattfinden.80 Die Mehrsprachigkeit dient nicht allein der Charakterisierung der Figur durch ihr Sozio- und Idiolekt, durch die Sprache ihrer Lieblingsbereiche, die Wirtschaft und die Informationstechnologie oder eben die Gastronomie. Durch die massive Präsenz dieser Sphären kommt es zu der überbordenden Verwendung des Englischen und auch anderer Sprachen. Der Lieblingsslogan des Protagonisten, »Essen, Trinken, Internet (EM 294) oder »Pizza, Alkohol, Fernsehen« (U 56), stehen für Einverleibung. Das Subjekt verliert seine Kontur und löst sich im Konsum von Nahrung und Medieninhalten auf. Dies trägt aber massiv auch zu seiner Isolation bei. Medienangebote werden, da der nötige soziokulturelle Kontext fehlt, die dominanten Inhalte der Figur. Die Medien avancieren zu Instanzen, die die Räume füllen, so dass eine Art Medienidentität81 entsteht. Deshalb wird auch die Sprache der Medien bestimmend, in der Fremdsprachen, allen voran das Englische, dominant sind. Dies wiederum führt zur Entstehung multilingualer Kontexte. Durch diese Inhalte wird das Subjekt zu einem hybriden Arrangement82 aus einem unendlichen Reservoir. Ähnlich dem Flaneur der Moderne ist der Protagonist auf den Datenhighways unterwegs, grassiert in Foren etc., öffnet Fenster oder zappt wahllos weiter, ohne das aufgenommene zu verdauen, also kognitiv zu verarbeiten. Damit wird aber der Konsum auf Dauer gestellt, wodurch der Roman verschiedene Sprachen, Stile, Textsorten etc. in sich aufnimmt, ohne sie miteinander in Beziehung zu setzen.
79 80 81 82
Vgl. Waldenfels: 1999, 152ff. Bachtin: 1979, 165. Vgl. Winter/Thomas/Hepp: 2003 Reckwitz: 2006, 505.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
Ähnlich wie in diesem narrativen Konzept werden während der Reise der Kopp-Figur durch Ostmittel- und Südost-Europa immer neue Gebiete und Länder einbezogen und eingenommen. Der andere Kontext der Sprachmischung ist so die Reise: »My own private Roadmovie« (U 69). Neben dem sporadischen Auftauchen des Französischen und der Dominanz des Englischen, kommen hier noch Latein, Ungarisch, Russisch und Griechisch vor. Englisch erscheint unterwegs als Lingua franca. In Ungarn kann auch die deutsche Sprache, die eigentliche Muttersprache des Protagonisten, eine gemeinsame Plattform darstellen, da es immer Personen gibt, die diese Sprache verstehen und als Dolmetscher auftreten können. Hier verläuft die Kommunikation meistens in drei Sprachen (U 138ff). Im Gegensatz zu Englisch werden die ungarischen Ausdrücke immer ins Deutsche übersetzt,83 so dass es zu einer Doppelung kommt, in der die beiden Versionen nebeneinanderstehen und durch ihre Entsprechung oder Abweichung vor Augen treten. Auch hier gibt es jedoch nicht nur transparente Sprachmischungen und Multilingualität, sondern auch latente Sprachmischungen. Dazu gehört der sprechende Name der Albanerin, die Odeta, abgekürzt Oda heißt, was im Ungarischen ›dorthin‹, ›dahin‹ bedeutet und wodurch sie, wie ihr Name verrät, zum Wegweiser des Protagonisten wird. In diesem Roman ist man nicht nur immer wieder mit der manifesten Präsenz anderer Sprachen, sondern auch mit der Anwesenheit anderer Schriften konfrontiert. Verschiedene Schriften erscheinen diegetisch wenn über »kyrillische und armenische Buchstaben« (U 542) erzählt wird. Kyrillische, griechische Sätze, Satzteile werden aber auch mimetisch in den Text montiert (U 501, 558, 598, 606, 673) und konfrontieren die Leserinnen und Leser nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf einer medial reflexiven Ebene mit Grenzübertritt und Fremdheit. Somit verschwindet die Medialität der Schrift nicht hinter dem Inhalt, sondern tritt in ihrer medialen Verfasstheit hervor. In ihrer Materialität werden die fremden Alphabete einverleibt und zugleich abgesondert, so dass sie in einem oszillierenden Schwebezustand vor Augen treten. Die Lesbarkeit wird so im konkreten
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Ein Grund dafür ist selbstverständlich auch die Leserfreundlichkeit, denn für das deutschsprachige Publikum würden die ungarischen Wörter eine unüberwindbare Hürde darstellen, während bei basic english für die Meisten keine Schwierigkeiten entstehen. Interessant ist hier zu bemerken, dass Multilingualität in der ungarischen Literatur eher eine Ausnahme darstellt. So sind die ungarischen Leser des übersetzten Romans irritiert von den vielen englischen Einsprengseln. Vgl. Gilbert: 2015.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
ebenso wie im übertragenen Sinne gestört und im Extremfall unmöglich gemacht. Andere Sprachen treten in ihrer Materialität auch dadurch hervor, dass sie im Erzähltext kursiviert werden. So lenken unterschiedliche Schriftarten, kursivgesetzte Einsprengsel, andere Schriftformen den Blick auf sich und so auf die Materialität der Schrift. Fremdheit erscheint auch dann, wenn russische oder griechische Ausdrücke in die lateinische Schrift übertragen werden, wie »Moja schena« (U 472), »Iswinite« (U 473), oder »Spassiba« (U 539). Diese Übersetzungen bringen Verschiebungen hervor, auch die Wörter, die Schriftzeichen sind durch die Transkription aus dem einen in das andere Alphabet im Transit. Die Reflexion auf die Unterschiedlichkeit der Schriftsysteme verweist auf die Unnatürlichkeit, die Konstruiertheit dieser und nicht zuletzt auch darauf, dass jede Transkription die Wörter in einem liminalen Bereich zwischen Ausgangs- und Zielsprache- bzw. -schrift situiert. Eine eindeutige Identität wird negiert, die Sprache ist in einer schwebenden Bewegung unterwegs. Diese Formen sind leicht als Schwellenwesen auszumachen zwischen kyrillischem und lateinischem Alphabet. Sie befinden sich aber auch insofern auf der Schwelle, dass ihre Umschreibung der deutschen Aussprache (aus ж wird sch) nicht aber der deutschen Orthographie (Substantive werden großgeschrieben) angeglichen wird, womit sie auch in einem liminalen Zustand zwischen Russisch und Deutsch verortet werden müssen. Demnach sind Sprache und Protagonist »on the road« (U 417). Kopp nimmt unterwegs Tramper in seinem Auto mit, mit denen er längere Gespräche führt, in denen Englisch der gemeinsame Nenner ist, wobei es jedoch trotz der Sprachkenntnisse zu zahlreichen Missverständnissen, oft eher zu einem Nicht-Verstehen als zu einem Verstehen kommt. Babylonische Zustände herrschen während der Gespräche mit Oda und Doiv, denn ständige Uneindeutigkeiten behindern die Kommunikation. Doiv, der eigentlich Dave (U 426) heißt, spricht so, dass »Därjäss! From Börlän!« (EM 322), seinen Dialekt so gut wie nicht verstehen (U 411) kann trotz ständiger Rückfragen: »Do you understand, what I mean?« (U 424 Herv. i. Orig.) Es werden Dialoge geführt wie: »Enfemili?/Pardon?/Familie? Hast du Familie?« (U 250 Herv. i. Orig.) »Uatjonaim?/Pardon?/What’s your name? (U 420 Herv. i. Orig.), in denen Enfemili und Uatjonaim zu nichtidentifizierbaren Sprachmonstern werden. Erzählerisch gestaltet wird die Übertragung von Lauten in Schriftzeichen, also die Urszene der Entstehung der Schrift. Auf einer reflexiven Ebene wird damit gezeigt, dass hier schon eine Übertragung, eine Vermittlung, mediale Verwandlung stattfindet, was durch die mehrfache Hin-
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
und-Her-Bewegung des Übersetzungsprozesses eine Verfremdung bis zur Unkenntlichkeit vor Augen führt. Im Extremfall wird das Gesagte vollkommen unidentifizierbar und »unverständlich«. Es erscheint nur als Punkte »….« (U 412), als »……………….?« (U 238). Die Punkte sind Platzhalter etwa für einen Gesichtsausdruck der Ratlosigkeit, für etwas, was im Oszillieren gar nicht identifiziert werden oder nicht in Sprache übersetzt werden kann. Es ist ein Rauschen, etwas Wahrnehmbares, was zwar als dunkler Punkt auf der weißen Fläche erscheint, aber eigentlich nicht auf den Punkt gebracht werden kann. Thematisiert wird damit auf einer Metaebene, dass mündliche und schriftliche Form, Hochsprache und Dialekt, Standard und Idiolekte nicht identisch sind, sie zeigen vielmehr auf die innere Mehrsprachigkeit und nicht zuletzt auf die mediale Bedingtheit von Kommunikation. Darüber hinaus wird in diesen Kontexten klar, dass Kommunikation immer im liminalen Schwellenbereich zwischen Identität und Differenz stattfindet. Die Verwirrung ist groß, alles ist gemischt, selbst in Georgien wird der Protagonist auf der Straße von jemandem im bayrischen Dialekt angesprochen: »Brauchst koi Angst ham!« (U 499), was für den Preußen84 Darius bekannt und fremd zugleich ist und auf einer Straße in Tiflis mit »(mutmaßlich) georgischem Akzent« (U 500. Herv. i. Orig.) einem Monster ähnelt, das man überhaupt nicht mehr verorten kann. Es geht bei Mora also nicht allein um Mehrsprachigkeit im Sinne von Sprachlatenz oder Code-Switching bzw. um die babylonische Sprachverwirrung, sondern um eine tiefgehende Reflexion der Medialität von Sprache und Schrift. Ein allgemeines Charakteristikum dieser Selbstreflexivität ist, dass in Bezug auf beide Medien die Zeichenhaftigkeit sichtbar gemacht wird. Statt sie verschwinden zu lassen, werden die Zeichen hervorgekehrt. Sie können manchmal durch mehrfache Verfremdungsprozesse nicht mehr in ihrem Verweischarakter erkannt werden, sie zeigen auf nichts mehr, nur auf sich, sind allein in ihrer Materialität präsent. Verstehen kann oft erst in einem zweiten Anlauf möglich werden. Durch die Zeichen hindurchschauen kann man auch in dem unteren Teil in Das Ungeheuer nicht, vielmehr muss man sie anschauen und in ihrer Materialität wahrnehmen. Es geht um Verräumlichung, Dynamisierung und Entgrenzung von Sprache und auch von Schrift, wenn sie oft zu einem sinnfreien Lautgebilde ohne Referenz, zu einem Monster werden.
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Darius wird aber in Ungarn für einen Österreicher gehalten, also falsch identifiziert (U 141).
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Nach Waldenfels hängen Anomalisierungseffekte mit dem Bewusstsein zusammen, dass man »Wirklichkeit nicht [als E.H.] etwas, das von vornherein feststeht«, betrachtet. In diesem Denken ist die »beruhigende Normalität«85 eine Täuschung. »Bei Bewährtem übersieht man leicht seine Gewordenheit, und so neigt man dazu, offene Ränder und Brüche wegzuretuschieren.«86 Anomalisierungen rütteln hingegen an den Stützpfeilern der Wirklichkeit, sie sind Störungen, die sich nicht »programmgerecht entschlüsseln und einordnen lassen, da sie von den bestehenden Regeln abweichen, da sie den jeweiligen Ordnungsrahmen verlassen«.87 Aus diesem Ordnungsrahmen treten die Erzählungen und Romane von Terézia Mora aus. Störungen sind im Oeuvre »Schwellenwerte und Randgrößen, die auf Außer-Ordentliches verweisen«, das ermöglicht und zugleicht verunmöglicht wird.88 Dieses Doppel erscheint in den Texten der Autorin exemplarisch in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Monstrosität als reflexiver Zug, indem es darum geht, nichts wegzuretuschieren, die Gemachtheit der Ordnung als ›beruhigende Normalität‹ vor Augen zu stellen und damit zugleich zu hinterfragen. Diese Anomalisierungen und Störungen erscheinen auf der Eben der Sprache und der Schrift und haben Multilingualität und insgesamt monströse Sprachordnungen zum Resultat. Exzessiv erscheint all dies in der Kopp-Trilogie im Textteil des weiblichen Protagonisten, Flora in Das Ungeheuer. Da in der Welt der Fiktion89 dieser Text ungarisch vorliegt, ist der männliche Protagonist gleich mit einem Verständnisproblem, mit Folgen der babylonischen Sprachverwirrung konfrontiert. Er bedarf eines Übersetzers. Darius Kopp ist während der Suche nach seiner Frau mehrfach mit ähnlichen Problemen konfrontiert, die er dann mit Übersetzungsmaschinen und mit Computerprogrammen zu lösen versucht. Indem der Text auf die Problematik von »lost in translation« (U 347) explizit eingeht, wird hier zugleich die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Übertragung reflektiert. Der Komplexität des Romans entsprechend erscheint auch hier die Fremdsprache, der englische Ausdruck, und darüber hinaus auch die ›fremde Sprache‹ im Sinne Bach-
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Waldenfels: 1998, 227. Ebd. Ebd. 245. Ebd. Es ist bekannt, dass Terézia Mora diesen Text eigentlich ungarisch verfasst und dann selbst ins Deutsche übersetzt hat. Diese Tatsache spielt aber für meine Überlegungen keine Rolle.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
tins, denn Lost in translation90 ist auch als Filmtitel zu erkennen. Der Film selbst weist zahlreiche Parallelen zu dem Roman Moras auf: durch die Darstellung von Isolation in einer durch Entfremdung gezeichneten modernen Großstadt- und Medienwelt und nicht zuletzt aufgrund der Dolmetscher. Die Problematisierung des Übersetzens führt durch diese Spiegelung zu einem semantischen Überschuss, zur Einverleibung unterschiedlichster disparater Bereiche und heterogener Themen, mithin zum Monströsen. An diesem Punkt kommt die Ambiguität von Dolmetscher und Übersetzer zum Vorschein, von Vermittlerfiguren also, die die Aufgabe haben, Sprachbarrieren zu beseitigen, auf die sie eigentlich schon mit ihrem Wesen hinweisen. Dolmetscher und Übersetzer haben zu bewerkstelligen, dass die Kommunikation zwischen den zwei Seiten einwandfrei funktioniert. Doch stehen diese immer zwischen zwei Seiten, und der Verdacht kann nicht eliminiert werden, dass etwas im Prozess der Übersetzung verloren geht.91 Wenn also Übersetzung als kulturelle Praxis die Funktion hat zwischen Menschen und Kulturen in einer nachbabylonischen Zeit zu vermitteln, bleibt immer fraglich, ob die Übertragung restlos erfolgen kann, oder ob man vielmehr in einer kafkaesken Situation gefangen bleibt, wie es in Stadtwappen,92 aber auch im genannten Film passiert. Hält man sich den Darius-Teil des Romans vor Augen, ist klar, dass wir uns auch bei Mora in einem solchen Zustand befinden. Zu zentralen Paradigmen der Übersetzung gehört eben das Doppel des Übertragens und doch nicht Vermitteln-Könnens. Die Inszenierung von Dolmetschen und Übersetzen sind zentrale Pfeiler einer sprachkritischen Poetologie und der Problematik von Mehrsprachigkeit. Das Vertrauen in die Sprache wird aber im Text stark bezweifelt und nicht nur, was ihre Beziehung zur »Welt« anbelangt, sondern auch in ihrer sozialen Funktion. Wenn die Sprache in ihrer Medialität erscheint, ist sie als Störelement präsent, weil die Materialität auf eine Brechung verweist, darauf, dass durch den Übersetzungsprozess kein nahtloses Zusammenführen möglich ist, keine Adäquatheit erreicht werden kann. Es gibt zwar das Ziel der Mitteilung auf der einen und das Ziel der Verständigung auf der anderen Seite. Die darstellerischen Mittel und ganz explizit der Sprachgebrauch untergraben jedoch diese Intention. Was die sprachliche Gestaltung betrifft,
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Vgl. Sofia Coppola 2003. Vgl. Andres: 2008, 81. Kafka: 1982, 306.
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steht der Leser, der hier doppelt oder dreifach besetzt ist,93 vor einer vollkommenen Konfusion. Darius Kopp erhält die übersetzten Dateien seiner verstorbenen Frau und beginnt sie zu lesen. Er ist nicht im Stande zu überprüfen, ob die Übersetzung dem Original entspricht, er ist auf die Übersetzerin, auf das Vertrauen in sie angewiesen, um den Text als ›echt‹, als mit dem Original identisch wahrnehmen zu können. Diese Reflexion vollzieht er nicht. Er geht naiv von der Identität der beiden Texte aus. Weil aber der Roman die Problematik von Sprachlichkeit, Übersetzung etc. auf verschiedenen Ebenen diskutiert, kann der implizite Leser diesen naiven Zugang nicht mehr haben. Ganz explizit stellt sich dem Leser die Frage nach Entsprechung zwischen Original und Übersetzung insbesondere, wenn der Leser des ungarischen, also der Originalsprache von Floras Dateien mächtig ist. Die ungarischen Einsprengsel im Text sind oft fehlerhaft, bis zur Unidentifizierbarkeit entstellt. Fiktionsintern gibt es keine Möglichkeit, diese Dissonanzen zu erklären. Es geht aber um eine andere Art von Mehrsprachigkeit, in der es auch um ein fremdes, um falsches, nicht identifizierbares, nur sporadisch vorhandenes Sprachmaterial geht. Zweifelsohne ist auch dieser darstellerische Zug mit der Problematik von Vielsprachigkeit und mit der eminenten Sprachreflexion zu koppeln. Auch hier geschieht ein Grenzübertritt: eine Bewegung findet mit Hilfe von Neologismen und Einmalbildungen statt, ein Gang nicht in das Vorhandene, sondern vielmehr in das Mögliche hinein. Es geht hier durchaus um eine fremde, um eine nicht klassifizierbare Sprache, die zwar Ähnlichkeiten mit dem Ungarischen aufweist, damit aber nicht identisch ist. Da die Dateinahmen oft ungarisch, oder in der nicht-existenten bzw. nur im Roman existenten Sprache erscheinen, kann die Entstellung nachvollzogen werden. Dies erscheint z.B. bei »lelek« vs. »lélek« (U 276) oder »delibab« (U 279) wo erst aus dem dazu gehörenden Kontext erschlossen werden kann, was gemeint ist. Die Sprache kommt in Fluss, Grenzen und Identitäten sind nicht erkenn- und feststellbar. Klar wird auch nicht, ob es hier um versehentliche Fehler geht, ob die Übersetzerin sich vertippt hat, oder ob es mit mangelnden Sprachkenntnissen zusammenhängt, dass Fehler auftreten. Womöglich geht
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Der Leser ist erstens die Übersetzerin, dann Darius Kopp aber als dritte Stufe selbstverständlich auch der implizite Leser des Romans.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
es hier – das kann lediglich vermutet werden – um bewusste Entstellungen.94 Dadurch lösen sich die Grenzen von Sprache auf. Selbst die Übersetzung der tagebuchartigen Dateien ist und bleibt also mehrsprachig und polyphon. Die dominanten Sprachen sind Deutsch, Ungarisch und Englisch, aber auch aus anderen Sprachen, wie z.B. aus dem Französischen oder aus dem Latein gibt es Einsprengsel. Der Text verkörpert die unaufhörliche, kontingente Konfrontation mit dem Fremden, was selbst dann gilt, wenn man die verwendeten Sprachen kennt. Die Störelemente bleiben erhalten, sie können nicht eliminiert und in eine Eindeutigkeit überführt werden. Die Sprache wird zu einem chimärischen Doppelwesen, zu einer schwebenden Figur im Grenzbereich verschiedener Sprachen. Overthun charakterisiert Zeichenmonster als Zeichen, dessen Deutung unsicher ist, da sie Zeichen sind, die nichts zeigen. Aus seinen Ausführungen geht hervor, dass bereits Saussure sich mit Monstrosität befasst, wenn er darüber nachdenkt, dass es keine isolierbaren Bedeutungsidentitäten in der Sprache gibt, denn diese werden nur durch Differenzen und Verweise erkenntlich.95 In diesem Sinne kann auch in Bezug auf Floras Text von sprachlicher Monstrosität gesprochen werden. Der Text unterminiert mit den eigenen darstellerischen Praktiken sich selber. In extremster Form erscheint dies in verzerrten Wortkorpora, in Buchstabenvermengung und nicht zuletzt in bedeutungslosen Phonemkombinationen und anderen Wortmonstern. Diese verursachen nicht nur einen Aufenthalt im Grenzbereich von Verständlichkeit und Unverständlichkeit, sondern auch auf der Schwelle von Bedeutung vs. Materialität der Zeichen. Die Aufzeichnungen sind in diesem liminalen Bereich, also in der Unbestimmtheit zu Hause, was ihre Deutung erschwert oder sogar zunichtemacht. Eine Zuspitzung erfährt man in der Datei »Dokument1«, das aus undeutbaren Buchstabenreihen besteht, die keinen Sinn ergeben. »Ampaampaampabim owaowaowawim benebenebeneben« Der Text ähnelt hier einem dadaistischen Sprachexperiment, einem Lautgedicht, oder ersten Versuchen eines Kindes Laute zu artikulieren. Es ist nicht klar, ob es als eine fremde Sprache, ob es überhaupt als Sprache identifiziert 94 95
Vgl. Mora: 2011a. Das bewusste Patzen war eine berühmte Technik von Péter Esterházy, auf den sich Mora auch bezieht. Vgl. Overthun: 2009, 68.
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werden kann, oder vielmehr schon auch diese Grenze überschritten hat und durch eine mediale Umwandlung nur noch, einem Bild ähnlich, in einer körperlichen Präsenz sichtbar wird. Die Transkriptionen und Übersetzungen und schließlich alle translingualen Praktiken, die in den Texten betrieben werden und als monströse Anordnungen klassifiziert werden können, weisen auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Sprachen hin, darauf, dass die Trennschärfe zwischen den Sprachen gar nicht so groß ist, wie ihre Abgrenzungen dies nahelegen. Das ganze Ensemble der praktizierten Methoden ist darum bemüht, die Sprachen, ob Deutsch, Ungarisch in einem liminalen Bereich anzusiedeln und die Auflösung der Grenzen von Schrift- und Sprachordnungen zu betreiben. Multilingualität fehlt auch im dritten Band der Kopp-Trilogie, in Auf dem Seil nicht. Da der eine Schauplatz des Romans Sizilien ist, ist hier Italienisch als Fremdsprache dominant, aber auch das Englische spielt als Lingua franca weiterhin eine Rolle. Was aber bei diesem Roman ins Auge sticht, ist die Tatsache, dass die narrative Praxis hier sowohl mit Fremdsprachen als auch mit Durchstreichungen und anderen Störelementen sparsamer umgeht. Das inhaltliche Maßhalten ist auch auf der Ebene des Erzählens zu finden. Da es keine Fress- und Trinkorgien mehr gibt, ist das narrative Einverleiben in den Hintergrund gestellt, was auch das exzessive Auftreten verschiedener Idiome verhindert. Die Tatsache, dass die Protagonisten kein Zuhause haben, bezieht sich auch hier nicht allein auf ihr Unterwegssein von Sofa zu Sofa. Es manifestiert sich eher in einem Anderssprechen, das nichts mit Fremdsprachen zu tun hat. Die semantische Unschärfe erscheint hier eher im Verschweigen und in einer den ganzen Roman dominierenden Doppelstrategie, im divergenten Nebeneinander von Gemeintem und Gesagtem. Das Monströse als interpellatorisches Zeichen96 erscheint hier in der Inszenierung dieses unauflöslichen Ineinanderfließens konträrer Optionen. Sichtbarkeit, jedoch zugleich auftretende semantische Unterdeterminiertheit,97 und eine unsichere Referenz sind hier die sprachkritischen Implikationen, die im Fokus der ästhetischen Strategie stehen. Sprachigkeit wird gerade im Modus des Verschweigens und darüber hinaus in den Variationen von Lebensgeschichten hervorgekehrt, die jedoch die Sprache als Medium zum Fundament haben. Sprache ermöglicht und verunmöglicht alles, könnte zusammenfassend resümiert werden. Die
96 97
Toggweiler: 2013, 14. Overthun 2007, 49.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
Sprache wird zum Monster, zum unkontrollierbaren Fremden, das ein unberechenbares Eigenleben zu leben scheint. Die Porosität98 als allgemeine Beschreibungskategorie dieses Romans, die Negation des So-und-nicht-Anders ist auch auf der Ebene der Sprache ein signifikantes Mittel der Gestaltung, ein Bild des Ineinanderfließens nicht nur von verschiedenen Sprachen, sondern auch von den auf ihnen beruhenden Ordnungsmodellen. Die schwierige Verständigung entsteht aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und nicht zuletzt, weil man die nonverbale Sprache der Fremde, »Gesten und Mimik« (AS 37)99 nicht versteht. Man ist sowieso doppelt und mehrfach in der babylonischen Sprachverwirrung, wenn man mit den Einheimischen und Mitarbeitern ein »fehlerhaftes Englisch gemischtes Italienisch spricht, mit Itzehoe Deutsch, mit den Jungs in der Küche simple English« (AS 38). Solche Situationen gibt es auch in Berlin, wenn mehrere Sprachen gesprochen werden, es doch zu einer Verständigung kommt: »broken English und sogar deutsch«, französisch, italienisch, es wird ein Gemisch von Sprachen gesprochen, auch wenn man diese Sprache nicht gut oder sogar kaum beherrscht (AS 196). Das Code-Switching wird nicht nur diegetisch erzählt, sondern im Satz auch mimetisch praktiziert. Das Italienisch des Protagonisten ist nicht perfekt, den sizilianischen Dialekt beherrscht er kaum, die Körpersprache noch weniger. Kommunikation scheint schwierig zu sein, doch wird geredet und geredet (AS 196). Die fremden Sprachen blockieren nicht die Kommunikation, demgegenüber entstehen gerade bei Menschen gleicher Muttersprache Blockaden. Der Roman demonstriert, dass Unüberwindbarkeit oder Zugang nicht aufgrund von Sprachgrenzen, der Existenz von fremden Sprachen entsteht. Die Abgründe des Nicht-Verstehens tun sich aber, und davon legt das Buch ein beredtes Zeugnis ab, wenn man scheinbar dieselbe Sprache spricht, wie im Falle von Darius und Lore. Beide praktizieren in ihrer Kommunikation eine Doppelstrategie, ein uneigentliches Sprechen, in dem es im Sprechen nicht um Mitteilen, sondern vielmehr um Verschweigen geht. Auch die fremde Sprache, wenn man auf Englisch ausweicht, wird aber dazu benutzt, um sich zu verstellen, um die eigene Identität zu verbergen (AS 163). Da Darius jedoch im Englischen einen starken deutschen Akzent hat oder sich beim Buchstabieren verrät, kann die Tarnung nicht gelingen. 98 99
Benjamin: 1989, 307-316. Mora: 2019. Aus dem Roman wird im Folgenden im laufenden Text mit der Sigle AS und Seitenzahl in Klammern zitiert.
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Um sich doch nicht identifizieren zu müssen, gibt er sich dann für einen »Schweden aus« (AS 163). Die Problematik von Sprache und Verortung, Sprache und Zugehörigkeit und Identität stehen hier auf dem Spiel. Während der Protagonist des ersten Romans von Mora dadurch gezeichnet war, keinen Akzent, keine dialektalen Färbungen zu haben, ist Darius Kopp, der Protagonist der Trilogie einer, den sein Sprechen verrät. Die angestrebte Maskierung mit Hilfe der Sprache kann nicht gelingen. Trotz Entgrenzungen und Grenzübertritte wird hier Sprache als ein Modus der Identifizierung herausgestellt. Was man ist, Darius oder Dario, »Matteo oder Metin? Oder was anderes?« (AS 320) ist aber nicht essentiell, sondern hängt vom Umfeld, vom Gegenüber ab. Das Eigene und das Fremde, Identität und Alterität werden als Relationsbegriffe in Szene gesetzt. Das entessentialisierte Denken, bzw. postmonolinguales Schreiben wird auch im letzten Teil der Kopp-Trilogie aufgegriffen und inszenatorisch in verschiedenen Modi durchgespielt. Auch wenn es hier um Normalisierung und Maßhalten geht, bedeutet dies noch lange nicht, dass Einsprachigkeit als der Normalfall gilt oder dass die vermeintlich fremde Sprache den Einlass verwehrt. Identität und Alterität sind relational und nicht substanziell. Exophonie, das Anderssprechen erweist sich als das Fundament jeder Kommunikation, dieses Anderssprechen hat jedoch nicht an den traditionellen Sprachgrenzen seinen Ort. Gerade wegen der Unbehaustheit in einer nachbabylonischen Welt wird vielmehr auch die Sprache zu einem nicht Nicht-Ort.
3.5
Mehrsprachigkeit, Monstrosität und das Skandalon von Grenzziehungen
»In jedem Fremdwort steckt der Sprengstoff von Aufklärung, in seinem kontrollierten Gebrauch das Wissen, dass Unmittelbares nicht unmittelbar zu sagen, sondern nur durch alle Reflexion und Vermittlung hindurch noch auszudrücken sei.«100 Die Mehrsprachigkeit hat bei Mora in diesem Sinne reflexiven Charakter und weist auf die generelle Brüchigkeit von Sprachlichkeit und Sprachigkeit hin. Mora sträubt sich nicht gegen das Fremdwort und »bringt so an den Tag, wie es um alle Wörter steht: dass die Sprache die Sprechenden nochmals einsperrt; dass sie als deren eigenes Medium eigentlich misslang.101 100 Adorno: 1999, 640. 101 Vgl. ebd.
3 Sprachverwirrung, Vielsprachigkeit und sprachliche Monstrosität
Es muss in Bezug auf das Fremdwort und das fremde Wort nicht unbedingt die Literatur mehrsprachiger Nationen oder Werke mehrsprachiger Autoren im Fokus stehen. Vielsprachigkeit kann in der Literatur einen signifikant anderen Charakter bekommen, indem die eigene Medialität auf dem Prüfstand steht. Selbst wenn die Grenzen der Medien getilgt werden, geht es um eine Form der Mehrsprachigkeit, des Anders-Sprechens und der Reflexion dessen, dass Literatur immer schon ein Anders-Sprechen102 und nicht die gesprochene Sprache ist. Hält man sich diese Überlegungen vor Augen, können die Romane Moras auch als eine Reflexion über Literatur und die Leistungen der poetischen Sprache gelesen werden. Die Multilingualität bleibt aber in den untersuchten Texten selbst bei diesem Punkt nicht stehen. Mora inszeniert in Erzählungen, Romanen die Menschheits- bzw. Sprachkatastrophen, um die Situation des Menschen und seine Angewiesenheit auf Sprache vor Augen zu stellen.103 Geht man davon aus, dass das Bedürfnis nach scharfen Grenzen […] zur natürlichen Grundausstattung des Menschen« gehört, dass die »klare, feste Grenze […] unabdingbar zu sein« scheint, »ob die Menschen nun irdische Paradise schaffen oder jenseitige Paradise träumen«,104 wird hier durch Inszenierung von Grenzübertritten und monströse Ordnungen gerade dieses Bedürfnis zunichte gemacht. Das Fremdwort attackiert diese scheinbare Sicherheit, in der sich der Mensch mit den Grenzziehungen einrichtet. Diese Grenzen und zahlreiche Konventionen der Distanzierung, Festsetzungen und Normen überhaupt dienen zur Herstellung von Sicherheit. Durch Multilingualität und zahlreiche andere ästhetische Darstellungstechniken, Modi der Verunsicherung wird bei Mora gerade dieses Sich-Einrichten in einer scheinbar paradiesischen Welt unterminiert. Es wird Komplexität und Unbestimmtheit produziert. In diesem Sinne werden bei Mora mit Vorliebe die biblischen
102 Vgl. Stockhammer/Arndt/Naguschowsky: 2006, 21. Vgl. auch Lotman: 1972, 39. »Die Literatur spricht in einer besonderen Sprache, die als sekundäres System auf und über der natürlichen Sprache errichtet wird. […] Die Behauptung, Literatur habe ihre eigene Sprache, die nicht mit der natürlichen Sprache zusammenfalle, besagt, dass die Literatur ein nur ihr eigenes System von Zeichen und Verknüpfungen besitzt, das zu Übermittlung besonderer, auf andere Weise nicht zu übermittelnder Mitteilung dient.« 103 Komfort-Hein deutet auch die Frankfurter Vorlesungen in diesem Sinne, da Mora hier die existentielle Bedingtheit ihres Schreibens exemplifiziere. In den Vorlesungen ginge es darum, »Narrativen des Überlebens« zu entwickeln, die rettende Form von literarischer Sprache herauszustellen. Vgl. Komfort-Hein: 2019, 81, 83. 104 Neumann: 2004, 327.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
(Sprach-)Katastrophen inszeniert. Bereits im ›Paradies‹ – Mann, Frau, Garten (EM 126, AS 5) – gibt es in den Romanen keine Verständigung und Sicherheit, sondern Rätsel, Unwohlsein und Zwiespalt, womit die Idee vom idyllischen Urzustand dekuvriert wird. Man ist von vornherein in einer nachbabylonischen Welt, in der die Unmittelbarkeit schwindet und Vermittlung nötig ist. Dolmetscher treten auf die Bühne und weisen schon in ihrer Präsenz auf den Riss hin, der auch mit ihrer Hilfe nicht mehr getilgt werden kann.105 Auch die Sintflut ähnliche Überschwemmung (U 15-17) bringt keine grundsätzliche Erneuerung. Sprachverwirrung und Isolation bedingen den Menschen. »Der Mensch, der den Kontakt zu seinen Artgenossen verliert, ist verloren. Das habe ich irgendwo gelesen. Oder Flora hat es gelesen.« – heißt die Erkenntnis (U 382). Dies hat zu Folge, dass der Mensch sich einsam, verloren und ausgeliefert fühlt. Der zitierte Satz weist aber über diese Standortbestimmung hinaus. Er inkorporiert die ›fremde Rede‹, die sogar als mehrfach Fremdes ausgezeichnet wird, da dieser Satz durch eine andere Figur und ein Buch vermittelt wurde. Durch den Bruch kommt eine zusätzliche Unsicherheit ins Spiel. Wenn das Subjekt aus solchen Zitatenreihen besteht, führt dies zu seiner Dissoziierung und Desintegration. »In der eigenen Sprache wohnen Momente der Fremdsprache, die wir wohl oder übel übernehmen und schon vernommen haben, wenn wir Antworten geben, die mehr oder weniger unsere eigenen sind.«106 Das Eigene und das Fremde treten in ein bizarres, oszillierendes Verhältnis zueinander, vereinnahmen einander und sondern einander zugleich ab. »Ein Zitat, das nicht nur dazu angetan ist eine vorgegebene Rede wiederzugeben, sondern vielmehr fremde Rede in der eigenen Rede mitklingen läßt, durchbricht die Zentrierung auf das Normale und das Heimisch-Werden im Eigenen.«107 Paradiesische Einfriedungen sind unmöglich, man befindet sich im Liminalen auf der Schwelle. Hier hat das Monströse seinen Ort, besser gesagt seinen Nicht-Ort ohne die Möglichkeit jeglicher Identifizierung. Das Monster bildet »Formen des >NichtMonstrisierung< des politischen, kulturellen, körperlichen, [und hier müsste man betonend hinzufügen: sprachlichen EH] Anderen die heimischen Bereiche rein zu halten«.111 Genau dies passiert auch durch die Ausrufung und Etablierung des Labels ›interkulturelle Literatur‹, wodurch erst das Andere definiert wird und eine Kontur erhält. Liminalität als eine Art Unordnung bei gleichzeitiger Möglichkeit der Strukturbildung, ist nicht mehr und noch nicht klassifiziert, »mitten der diskursiven Dialektik von Eigenem und Fremdem«112 zu verorten. Sie kann als Ort und zugleich als Nicht-Ort bestimmt werden, an der sich mehrsprachige Poetologie befindet. In der Welt steht alles nebeneinander oder überlappt sich und »wenn Sprachen miteinander in Berührung kommen, verändert sich das Sagbare«. (GT 23)
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Waldenfels: 1998, 10. Toggweiler: 2013, 60. Ebd., 69.
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4 Der »deplatzierte Mann«. Liminale Übergänge und ihre Nicht-Orte in Der einzige Mann auf dem Kontinent
4.1
Liminalität – Transformationsgesellschaften und die Evangelisten der Medienwelt
Seit eh und je entwerfen literarische Texte verschiedene Szenarien von epistemologischen Vorstellungen des Raumes, von Raumpraktiken, oder nutzen den Raum zu poetologischen Reflexionen. Nicht erst seit Ansätzen der kulturwissenschaftlichen Raumwende gibt es in der Literatur eine Reflexion über vieldeutige Konzepte des Raumes. Durch Räume werden mentale Prozesse, auch Muster der Selbstwahrnehmung, geprüft und modelliert. Auch in dem hier untersuchten Roman geht es um diese Entwürfe. Im Fokus stehen anthropologische Konzepte des Raumes, die mit Modellierungen des Übergangs gekoppelt werden. Die Omnipräsenz des Raumes und transitorischer Bewegungen ist ein Markenzeichen der Literatur von Terézia Mora. Besonders deutlich wird dies beispielsweise in Alle Tage in einem Raumspiel und in der damit verbundenen Behauptung, unsere Gegenwart sei so, als »würde die ganze Welt Die Reise nach Jerusalem spielen« (AT 93). Dieses Spiel, das Getrieben-Sein, nicht Stillhalten-, Verharren-Können und die Tatsache, dass man keinen festen Platz in einer bleibenden Ordnung einnehmen kann, bzw. die Angst, dass man gar keinen Platz findet, ist das Grunderlebnis aller Mora-Texte. Grenzen, Flüchtlinge, Menschen, die ihren Platz suchen, bevölkern die Erzählungen in Seltsame Materie, der konturlose Fremde, der Migrant Nema, mittlerweile auch in der Forschung zur emblematischen Figur des Transitraumes und der Bahnhöfe gekürt, dominiert den ersten Roman der Autorin. Es überrascht eigentlich nicht, dass auch das vierte Buch, Das Ungeheuer, ein
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Road Movie durch ganz Südosteuropa ist und auch im letzten Roman, Auf dem Seil, geht es darum, dass man auf der Suche nach einer Bleibe ist. Allein der zweite, hier zur Diskussion stehende Roman, Der Einzige Mann auf dem Kontinent, der zugleich der erste Teil von Moras Romantrilogie ist, passt scheinbar nicht in diese Reihe. Der Protagonist, Darius Kopp, ist weder ein Migrant noch geht es hier um Grenzregionen oder Vertreibung, Flucht o.ä.m. Die Hauptfigur ist kein Repräsentant von Migrationsströmen, er verlässt kaum die Stadt und ihre nähere Umgebung. Was berechtigt uns also, so könnte die Frage lauten, auch in Bezug auf diese Figur doch vom Transitorischen zu sprechen?1 Die mittlerweile zur Epochensignatur geadelten transitorischen Identitäten können – so meine These – auf verschiedenen Ebenen des Romans reflektiert werden: auf der Ebene des Thematisch-Motivischen in Bezug auf NichtOrte, aber auch auf der Stufe der Textualität selbst. Es sollen hier demnach nicht nur die Infiltrationen von Raum und Subjekt, die Entortung des Subjekts wegen konturloser, unspezifischer Nicht-Orte2 exemplifiziert werden. Der Anthropologe, Augé, grenzt Orte von sogenannten Nicht-Orten ab und spricht in Bezug auf anthropologische Orte von Ordnung, vom »eingeschriebenen symbolischen Sinn«, in dem jeder seinen festen Platz hat.3 Dieser Ort zeichnet sich von Zugehörigkeit und Kontinuität aus. Die Nicht-Orte hingegen sind im Jetzt, haben keine Geschichte, wodurch sie einen provisorischen Status markieren.4 Als Schwellenräume zeichnen sie sich von Einsamkeit und Anonymität aus. Diese Nicht-Orte können zugleich als Manifestationen von liminalen Übergängen gelesen werden. Die mittlere Phase von Übergangsriten entspricht sowohl in van Genneps als auch in Turners Modellierung einem 1
2
3 4
Das Zitat im Titel ist auf (EM 316) zu finden. Es würde den Rahmen dieser Analyse sprengen, wollte ich hier all die Rezensionen und Studien erwähnen, die seit 1999, dem Erscheinen des ersten Erzählbandes der Autorin, sich dieser Problematik widmeten und mit diesem Fokus Seltsame Materie oder Alle Tage analysierten. Der hier zur Diskussion stehende Roman Moras wurde weniger unter diesem Aspekt gelesen, man konzentrierte sich vielmehr auf die schillernde Medienwelt, die Wirtschaftskrise und die globale Arbeitswelt, in denen sich der ›kleine Mann‹ nicht behaupten kann. Auf Augés Konzept gehe ich auch in einem, in der ZIG erschienenen Aufsatz ein. Augés Theorie wird in jener Studie aber mit der Problematik von Übergangsriten und Liminalität nicht in Verbindung gebracht. Auch darüber hinaus werden hier zahlreiche neue Akzente gesetzt. Vgl. Hammer: 2016, 117-130. Augé: 1991, 64-66. Vgl. ebd., 121-123.
4 Der »deplatzierte Mann«
Transitzustand, der auch den umgebenden Raum neu definiert. Seinszustände des Übergangs haben ihre Entsprechungen im Raum. Die Nicht-Orte Augés korrespondieren mit Orten von Transformationsprozessen, die von Victor Turner als unstrukturiert, paradox, ambig, als ein Seinsmodus beschrieben werden, in dem alle Klassifizierungen ausgesetzt sind. Augés Theoriekonstrukt kann mit Konzepten permanenter, nicht inszenierter Liminalität verbunden werden. Die Figuren des Romans von Mora sind Schwellenwesen, sie werden als Grenzgänger konzeptualisiert, die ihre »vom Gesetz, der Tradition, der Konvention«5 fixierte Position verlassen. Es geht im ursprünglichen Konzept des Übergangs um die Triade von fixen Positionen und Transit. Die Positionen von Ordnung und Struktur entsprechen den anthropologischen Orten Augés, während der Übergang, die Schwelle als Nicht-Ort zu erkennen ist. Der kulturell definierte, stabile und wiederkehrende »Zustand« des Ausgangs bzw. von anthropologischen Orten unterscheidet sich signifikant vom »Übergang«, in dem der Passierende kulturelle Bereiche durchschreitet, die wenig, oder keine Merkmale der bekannten Ordnung aufweisen,6 in denen die soziale Ordnung auf den Kopf gestellt ist.7 Die Ordnung ist zusammengebrochen und der liminale Zustand tritt nicht nur temporär ein,8 sondern wird zur Normalität. Exemplarisch für liminale Schwellenräume, für Lösung und Transformation werden die identitätslosen Nicht-Orte, die durchaus mit Schwellenphasen verbunden und als Niemandsland der Instabilität gelesen werden können.9 Gerade die Tatsache, dass die Figuren sich an Nicht-Orten aufhalten, sich mit diesen identifizieren, in ihnen eine Art Heimat zu finden glauben, unterstreicht den Zustand von permanenter Liminalität. Der erste Roman der Trilogie reflektiert den Übergang nicht nur in Bezug auf Figuren und Räume, sondern wendet die Problematik des Transitorischen durch die fluktuierenden Perspektiven, durch die Blickpunkte, die sich auf der Durchreise befinden, durch architextuelle Systemreferenzen und intertextuelle Einzeltextreferenzen auch noch ins Metafiktionale. Der Roman 5 6 7 8 9
Vgl. Turner: 2000, 95. Sowohl Turner als auch Augé stellen ethnologische, anthropologische Konzepte dar, in denen zahlreiche Korrespondenzen festzumachen sind. Vgl. ebd., 94. Vgl. ebd., 39. Szakolczai: 2000, bzw. 2009. Szakolczai spricht anstatt von temporärem von permanentem Übergang. So beschreibt van Gennep die mittlere Phase des rituellen Übergangs. Vgl. van Gennep: 1999, 34.
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zeigt damit, dass weder Weltdeutungs- noch Erzählmuster auf Dauer gestellt werden können, sondern vorübergehen. In dem erzählerischen Impetus des Romans wird nämlich das Paradigma des Romans mit dem Ephemeren gekoppelt, was eine transitorische Bewegung exemplifiziert, ein unaufhörliches Spiel und damit eine nie endende Verschiebung zwischen Identität und Differenz, dem nicht nur die Gattung, sondern auch das scheinbar agierende Subjekt zum Opfer fällt. Der einzige Mann auf dem Kontinent ist, wie auch die Folgeromane, ein zeitdiagnostischer Roman.10 Der Roman reflektiert zahlreiche Zusammenhänge der globalen Informations- und Wirtschaftwelt und die Position des ›kleinen Mannes‹, der in der Komplexität den Überblick verliert und sich nicht mehr positionieren kann. Der Roman geht explizit auf die Wirtschaftskrise 2008, auf die Immobilien- und Bankenkrise und auf die fiktive Geldwirtschaft ein. Nicht nur diese konkreten Verweise auf den wirtschaftlichen Boom, der sich dann als die New-Economy-Blase entpuppte, nicht allein die Darstellung der verschlungenen Welt der Wirtschaft im globalen Raum verankern aber das Buch in der Problematik des dritten Jahrtausends. Inszeniert wird nämlich der problematisch gewordene Wirklichkeitsbegriff, eine Grundsatzfrage, die außer der Wirtschaft nicht zuletzt mit den neuen Medien zusammenhängt. Die Auffächerung des Realitätsbegriffs, die alle Bereiche des individuellen und sozialen Lebens bestimmt, markiert zugleich die Grenzen einer postfaktischen Welt, die in der Trilogie Moras einen zentralen Reflexionsgegenstand bildet. Markant erscheint dies auch in Bezug auf das Individuum, seine Selbstkonstruktion und sein Verhältnis zur Welt in der globalen Telekommunikationsgesellschaft. Trotz dieses globalen Bezugs und des Unspezifischen der Räumlichkeit ist der Roman doch in einem konkreten Raum zu situieren,11 was allerdings
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Bereits die ersten Rezensionen lasen den Roman als Zeitromans. Die oben bereits erwähnten Themen wie die globale Arbeitswelt, die Dominanz der Neuen Medien, das Leben in globalisierten Metropolen u.ä.m. sind die Aspekte, auf die man sich bei der Kategorisierung berief. Eine tiefgreifende Analyse dieser Problematik legte Monika Shafi in ihrem Aufsatz dar. Vgl. Shafi: 2013, 307-324. Die Tatsache, dass wir wissen, dass der Schauplatz des Romans Berlin ist, bedeutet nicht, dass man in Bezug auf diese Stadt im Roman nicht von einem Nicht-Ort sprechen könnte. Die Charakteristika der Nicht-Orte werden im Folgenden exemplifiziert. Genügen soll an dieser Stelle, dass nach den neueren Raumtheorien der Raum nicht als etwas Bestehendes, sondern als etwas performativ Hervorgebrachtes gesehen wird. Die Art und Weise, wie hier die Hauptfigur den Raum konstituiert, entspricht der Ka-
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zu einer Oszillation von Mehrfachkodierungen führt. Der Text kann auch als ein spezifisch (ost)deutscher (bzw. osteuropäischer) Nachwenderoman gelesen werden. Der Protagonist des Romans, Darius Kopp, geboren und aufgewachsen in der DDR, wechselt zwar nicht den Raum, aber das System wechselt sich über seinen Kopf hinweg. Grenzen zerbröckeln, aber sie verschwinden nicht, sie erscheinen vielmehr in einer verwandelten Form. Hier wird die herkömmliche Koppelung des Transitorischen an Grenzüberschreitung, an Migration, Flucht etc. um eine neue Perspektive erweitert: Nicht nur Menschen, sondern ganze Systeme bewegen, verschieben sich und zwingen dadurch den Menschen in alt-neue Räume und Ordnungen, zur Überprüfung und Modifikation von Lebensentwürfen und Weltbildern. Nicht nur Einzelne, sondern ganze Gesellschaften geraten in liminale Übergangsphasen. Die Brüchigkeit von Grenzen und Ordnungen ist eine kollektive Erfahrung, die sich allerdings auch in den Lebensläufen der Protagonisten des Romans, Darius und Flora, manifestiert. Der Systemwechsel bringt, wie der Roman reflektiert, im Eigenen eine genuin andere, neue, fremde Welt und damit Orientierungslosigkeit mit sich. Eigenes und Fremdes überlappen sich, es ist keine Grenzziehung mehr möglich.12 Auch wenn die Wende auf den ersten Blick nur am Rande erscheint, reflektiert der Text in meiner Lesart, dass dieser Wandel, der Systemwechsel, eine (scheinbare) Grenzenlosigkeit, eine neue Vorstellung, ein neues Bild des Subjekts fordert. Die neue Ordnung ruft einen Menschen auf den Plan, der von allen von außen auferlegten Grenzen, Normen, Bestimmungen – so der Schein zumindest – befreit ist. Damit stellt der Roman auch die Disposition zur Schau, was passiert, wenn der Mensch die absolute Befreiung, damit aber auch die Ambivalenz dieser Freiheit, der unbeschränkten Möglichkeiten erlebt. Man kann jetzt »selbständig werden« (EM 100) und »seinen Traum erfüllen« (EM100), man ist sein »eigener Chef« (EM 100), man kann schließlich etwas »eigenes auf die Beine stellen, besonders jetzt, da es endlich nur noch auf dich ankommt« (EM 101). Die Fesseln sind durch die Wende
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tegorie der Nicht-Orte. Darüber hinaus gehört m.E. die Gegenüberstellung von Berlin als emblematische Chiffre für die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf der einen und die Konstituierung dieser Stadt durch die Erzählung als identitätsloser, ahistorischer Nicht-Ort auf der anderen Seite zur Doppelstruktur des ganzen Romans, worauf noch einzugehen ist. Die Unterminierung und dadurch gegenseitige Auslöschung der beiden Positionen ist m.E. kein Widerspruch, sondern markanter Teil der Textarchitektur. Dies ist bereits in Seltsame Materie eine Grunderfahrung und wird zum basalen Moment im ganzen Oeuvre von Mora.
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weg, der Mensch hat Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit bekommen. Gerade diese Chancen und Möglichkeiten und die Last, die mit ihnen einhergeht, ist einer der zentralen Reflexionsgegenstände dieses Romans. Es gibt auf der einen Seite keine Normen, nichts Beengendes, auf der anderen Seite gibt es aber auch keinen Halt, keinen Rahmen mehr, der die Bestimmungen noch garantiert und somit den Menschen in einer Ordnung verortet hat. Es geht hier um die liminale Anti-Struktur13 des Transits. Bestimmung und Ordnung, die hier zur Diskussion stehen, werden mit einer Raummetaphorik zum Ausdruck gebracht, damit, dass man einen unverwechselbaren, ihm allein zugewiesenen Platz sucht. Gerade diesen Platz gibt es, wie das Spiel, die Reise nach Jerusalem darauf verweist, nicht mehr. Transition, permanente Liminalität bestimmen die Figuren, es gibt keine Einkehr in einen Bereich jenseits des Übergangs. Deutlich wird im Buch gerade durch die Akzentuierung der genannten liminalen Anti-Struktur, dass ein Subjektkonzept, in welchem das Ich Gestaltungsfreiheit besitzt, und welches zur Herausbildung des modernen Romans führte, hinterfragt werden muss. Mit der Reflexion dieses Subjekttypus‹ bewegt sich die Analyse auf der poetologischen Ebene. Mit dieser Geste bekommt der Text auch einen selbstreflexiven Zug, denn im Laufe des Erzählens werden architextuell Modelle des Romans herbeizitiert und zugleich demontiert. Der Roman kann also nicht nur als ein Zeitroman, sondern auch als ein selbstreflexiver Identitätsroman gelesen werden, in dem selbst die Identität der eigenen Gattung zur Diskussion steht. Die im Roman reflektierte Lebensstrategie ist poetologisch gewendet auch die Textstrategie. Dass dem Text die literarische Tradition als Folie dient, trägt zur genuinen Mehrstimmigkeit des ganzen Romans bei, was zu einer oszillierenden Bewegung zwischen Identität und Nichtidentität führt. Gezeigt werden soll im Folgenden, wie der Roman durch eine Raummetaphorik, durch Wege, Bewegung und Behausungen die Subjektkonstitution thematisiert, indem er die Möglichkeiten von Selbstfindung aufscheinen lässt, tatsächlich jedoch einen Selbstverlust inszeniert. Durch den ständigen Bezug auf traditionelle Vorstellungen, durch ihre Persiflage und nicht zuletzt durch die potenzierte Multiperspektivität entsteht eine Mehrstimmigkeit, die zu transitorischen Identitäten, zuletzt aber vor allem zu einem nicht identifizierbaren Rauschen führt.
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Vgl. Turner: 2000, 94-105.
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4.2
Identifikation und Nicht-Orte, neue Medien und Enträumlichung
Der erste Teil der Romantrilogie, Der einzige Mann auf dem Kontinent, zeigt uns eine kurze Zeitspanne aus dem Leben von Darius Kopp, einem IT-Fachmann, in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands. Die Erzählgegenwart beträgt eine Woche,14 es fließen aber durch eine aufgefächerte analeptische Struktur mehrere Jahrzehnte in die Handlung ein. Kopp ist die Hauptfigur, es dreht sich in der Geschichte um seine Ehe, seine Familie, aber hauptsächlich um seinen Beruf, um seinen Büroalltag. Wir verfolgen Darius Kopp eine Woche lang in seinem Arbeits- und Privatleben. Auf beiden Seiten steht er vor Aufgaben, die er meistern sollte, und obwohl er ständig beschäftigt ist, häufen sich die zu lösenden Probleme nur an. Bildhaft erscheint dieses Problem in Form von Kartons, die er in seinem Büro stapelweise lagert und die seinen Bewegungsraum immer mehr einengen. Er fühlt sich zwar wie ein »Held« zu »große[n] Taten« (EM 216) fähig, seine Praxis, mit Problemen umzugehen, ist jedoch das Stapeln (EM 226, 359) und das Aussitzen (EM 28, 169). Die Hauptfigur wird mit einem Paket, das er erhält und das viel Bargeld beinhaltet, vor eine Prüfung gestellt. Es gibt demnach eine konkrete Aufgabe mit einem fassbar vorgegebenen Ziel, das Darius erreichen sollte: Ordnung in diese mysteriöse Angelegenheit, in das Chaos zu bringen. Seinen Tag verbringt der Protagonist, in einem Bürohochhaus, namens Businesscenter, wo ihm seine Firma, Fidelis Wireless, einen Raum angemietet hat. Diese weltweit agierende Firma mit Sitz in den USA vertreibt Sicherheitssysteme für drahtlose Kommunikation. Kopps Aufgabe besteht darin, diese Systeme an eine internationale Kundschaft zu verkaufen. Er selbst ist, obgleich alleine auf dem Kontinent, doch – scheinbar zumindest – Teil eines die Welt umspannenden Netzwerkes einer boomenden Branche. Er ist Kind der
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Hervorgehoben werden muss hier, dass zahlreiche Ereignisse diese Woche als die Karwoche ausweisen: (z.B. Fußwaschung, der Freitag und die Hoffnung auf die Erlösung, das Paket als Symbol des Kreuzes etc.) Gestaltet wird im Roman eine Passion, die jedoch nicht zu Ende gebracht wird. All diese Symbole und Zusammenhänge erscheinen hier jedoch in einem säkularen Kontext. Mit diesem darstellerischen Zug, dem Bezug auf das biblische Arsenal und seiner gleichzeitigen Unterminierung, kommt es zu einer Auffächerung verschiedener Bedeutungsebenen, die parallel zueinander verlaufen und die den ganzen Text zu einem nicht identifizierbaren, transitorischen NichtOrt verwandeln.
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globalen Welt und Repräsentant der Kommunikationsgesellschaft, ein Evangelist der neuen Medien.15 Nach eigener Einschätzung steht er mit beiden Beinen im Leben, ist in seiner Ehe, in der Stadt und der Wohnung sowie in der Firma fest verwurzelt. Diese Position erweist sich im Laufe des Romans einerseits durch die Handlung, andererseits insbesondere durch die polyfokale Darstellung, durch die sich auffächernde Multiperspektivität und Stimmenvielfalt, durch die fortwährende Transgression als ein Trugbild. Kopps Bindungen und Identifizierungsmöglichkeiten zerfasern allmählich und lösen sich im Nichts auf. Die Dissoziation des Subjekts manifestiert sich im Roman häufig durch die einander widersprechenden Sichtweisen der verschiedenen Perspektivträger. Es wird greifbar dadurch, dass fast jede Aussage und Feststellung durch eine andere Betrachtungsweise gebrochen wird, so dass eigentlich nichts fest stehen bleiben kann. Dieser Darstellungsmodus kann nicht zur Festigung des Subjekts beitragen, spaltet es vielmehr auf, so, dass statt Verwurzelung oder Identifizierung vielmehr Kopps Dissoziation manifest wird.16 Positionierungen im Raum, geosoziale Identitätsvorstellungen spielen in der Literatur eine zentrale Rolle. Gekoppelt sind diese Identitätsvorstellungen traditionell an anthropologische Orte, wie z.B. oft das Dorf, und assoziieren Statik, Verwurzelung, Sesshaftigkeit und eine dauerhafte Verbindung, mit dem Raum, der auch als Bürge für Identität fungiert. Diesem Konzept der Verbundenheit mit dem Ort werden schon immer Modelle des Nomadischen gegenübergestellt, die, gebunden an das Transitorische, zugleich die Entortung des Individuums bedenken und mit nomadischen Figuren oder seit der Moderne auch mit der Großstadt modelliert werden.17 Der topologische Ort von Multiplizierungen und Auffächerungen des Subjekts wird die Metropole. 15
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Enzensberger nennt die Befürworter der neuen Medien, die in denen eine Art Heilbringer sehen, Evangelisten. Diese grenzt er von den Apokalyptikern ab, die in Bezug auf die neuen Medien kulturkritische Töne laut werden lassen. Vgl. Enzensberger: 2000, 10ff. Nach der Kategorisierung von Nünning entsteht hier echte Multiperspektivität, denn die einzelnen Sichtweisen sind widersprüchlich, sie relativieren einander. Zum Widerspiel der Einzelperspektiven trägt in hohem Maße bei, dass die einzelnen Blickpunkte nicht hierarchisch angeordnet werden und inhaltlich nicht kongruent sind, wodurch verhindert wird, dass man sie zu einer Einheit zusammenführt. Vgl: Nünning/Nünning 2000a: 3-38, bzw. Nünning/Nünning: 2000b, 39- 76. Vgl. Fähnders: 2007a, 3-10, bzw. Fähnders: 2007b, 33-54. Bereits die Moderne profilierte sich durch das Flüchtige und demontierte mit diesem Impetus vehement die Figuren des Sesshaften. Seitdem bevölkern nomadische Existenzen die Literatur. Dieses Motiv
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Die Dichotomisierung von Stadt und Land, die Spiegelung des Einen im Anderen führt bei Mora aber auch dazu, dass eine Auffächerung von Ordnung stattfindet. Das Dorf kann als Kontrastfolie herhalten, eine divergente Ordnung am gewohnten Ort der symbolischen Cods aufscheinen zu lassen, die Ordnung von innen zu alterisieren.18 Während anthropologische Orte für Abgrenzung, Geschlossenheit und klare Verhältnisse stehen, bekommt die Stadt, die Schauplatz der Romane ist, eine ganz andere Rolle. Sie vertritt das Rhizomatische ›und, und, und‹ der unendlichen Aufnahme und des Nebeneinanders. Die Offenheit artikuliert sich aber nicht nur räumlich, sondern auch in einer Gleichzeitigkeit und Simultaneität, also in einer mehrfachen Entgrenzung. Dies korrespondiert nicht nur mit Reisenarrativen, sondern auch mit Modi der intertextuellen Verweise, die ein serielles Muster ergeben. Die labyrinthische Stadt und das rhizomatische Textgeflecht werden Eins. Wenn das Dorf als Kontrastfolie Zugehörigkeit und Verortung symbolisiert und zugleich dekuvriert, steht die Stadt für displacement und Identitätslosigkeit. Gleichzeitig versinnbildlicht sie auch Transgression und das Transitorische anstelle des Begrenzten, Statischen. Die unaufhörliche Bewegung und der Übergang sind auch an Subjektpositionen gekoppelt. Während anthropologische Orte statische Identitätsmuster zum Ausdruck bringen, stellt die Stadt Identitätskonzepte eindeutig auf Dynamik, auf Änderung und Wandel um. So wird die Stadt auch zur Chiffre für Ordnungsschwund und Orientierungslosigkeit, was nicht zuletzt durch die polyfokale Darstellung, der fluktuierenden Perspektiven seinen Ausdruck findet. Die Problematisierung von Identifikation geschieht auch durch eine Infiltration von Raum und Subjekt, durch die Entortung des Subjekts wegen konturloser, unspezifischer Nicht-Orte. Der Flüchtling Abel, der »Dahergelaufene« (AT 96), der Barbar, der keine scharf umrissenen Grenzen hat und so in der Unbestimmbarkeit aufgeht, ist ein Exempel für die Grenzenlosigkeit und dadurch des Fremden, einer Welt, in der alles eine unbekannte Größe bleibt (AT 18). Nicht allein Abel, der Barbar, ist aber ohne Ort (AT 15), sondern auch Darius, der Heide. Beide sind Figuren des Entgrenzten und des
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ist heute im Zuge von Globalisierung und Migration sowohl in der Theoriebildung als auch in Textwelten mehr denn je allgegenwärtig. Wichtig ist hier zu bemerken, dass bei Mora bereits im ersten Erzählband auch das Dorf von Innen alterisiert wird, und eher als Nicht-Ort als Ort mit Geschichte, Identifikation, als heimischer Ort sozialer Beziehungen betrachtet werden kann. Dorf und Stadt können so nicht als Binäroppositionen verstanden werden.
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Übergangs, des Aufenthaltes jenseits von Grenzen einer bestimmten Ordnung. Flora, ebenfalls fremd, bewegt sich zwischen Stadt und Land, Kultur und Natur, zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen, kann weder hier noch dort ankommen.19 Der Raum gilt generell als Informationsträger von gesellschaftlichen Prozessen der Veränderung, ganz besonders gilt dies seit der Moderne für den urbanen Raum, als Sinnbild von labyrinthischer Orientierungslosigkeit, Verlust von Individualität und Identität, für Entfremdung, als Allegorie des Übergangs und der Instabilität, als Bild des Inkohärenten. Die Großstadt bewahrt bis in unserer Zeit die genannten Eigenschaften. Die Metropole wird gerade deswegen heutzutage im Roman als Modell für einen Erfahrungsraum gehandelt, der nicht mehr als Heimat- oder Identifikationsraum im traditionellen Sinn gesehen wird. Es gilt vielmehr als Chiffre für Partikularität, Zerstörung von Kontinuität, als Ballungsraum für die Masse, für divergente Schichten und Diskurse, sowie soziale Verhaltensweisen. In diesem Kontext ist auch der Protagonist zu situieren: Darius Kopp ist ein ausgewiesener Stadtmensch, der in der Stadt-Land-Dichotomisierung kulturkritische Konzepte umkehrt. Er erklärt die Großstadt für den idealen Raum, der den einzig richtigen Lebensstil und so Lebensraum bieten kann. Diese Vorstellung entpuppt sich allmählich als Trugbild, da die Stadt als Schwellenraum, als Niemandsland im van Gennep’schen Sinne,20 erscheint, in dem es keine festen Bezugspunkte und Identitäten gibt. Die Stadt ist bei Mora jedoch nicht vollständig mit der modernen Figuration zu beschreiben, denn die Metropole, und eigentlich jeder Ort, wird in den Romanen eindeutig zu einem Nicht-Ort. Die Metropole erscheint nämlich anders als noch bei Döblin oder Joyce, nicht bestimmbar, nicht kartierbar. Sie ist nicht die, sondern irgendeine Stadt, die (fast) überall liegen könnte, denn es ist möglich, »darin nichts Konkretes zu sehen, also auch nicht zu se-
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Die Bewegung artikuliert sich aber in Bezug auf diese Figur noch vielmehr im Vagabundieren durch die Textualität, durch eine Zuhilfenahme unendlich vieler Diskurse und ihrer Textzeugnisse. Dies wird im zweiten Teil der Trilogie dargestellt. Bewegung und Übergang manifestieren sich bei der Protagonistin in der exzessiven Bewegung in einem Textraum, der genauso zum Nicht-Ort wird. Der letzte Roman Auf dem Seil setzt die Inszenierung von Ordnungsschwund und Orientierungslosigkeit fort, er lässt jedoch, indem das Seil eine Metaphorik der Mitte impliziert, auch die Möglichkeit von Ordnung und Orientierung, die Aussicht auf Grenzziehung aufscheinen. Vgl. van Gennep: 1999,
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hen, wo er [Darius] genau war« (EM 295. Herv. i. Orig.).21 Die Stadt ist als ein transitorisches System dargestellt, was noch durch die Kommunikationstechnologie weiter potenziert wird. Die hier reflektierte Problematik ist trotz der zahlreichen Korrespondenzen nicht mehr die Welt der Moderne. Obzwar die Großstadt – entsprechend der Tradition – auch hier für Komplexität steht, erlebt dies jedoch eine enorme Steigerung. Chiffren für Orientierungslosigkeit sind in dem Roman aber nicht allein Großstädte, sondern auch die neuen Medien, die auch das Rhizomatische akzentuieren und als digitale Nicht-Orte gesehen werden können. Das Internet mit seinen Datenhighways ähnelt der Struktur der Metropolen, die mit ihren nicht zu überblickenden Straßen, mit der Fülle der Informationen für das Undurchsichtige schlechthin stehen. Die Nutzung der neuen Medientechnologie – PC, Internet, Mobiltelefon, Fernseher – steigert noch die Unbestimmtheit dadurch, dass alles auf den globalen Raum projiziert wird. Man verlässt sogar den physischen Raum, und begibt sich in eine virtuelle Welt hinein. Diese Medien multiplizieren nicht nur die Wirklichkeit, sondern bringen herkömmliche dichotomische Ordnungen des Denkens und Wahrnehmens, wie die Grenzen des Raumes, das Hier und Dort, Nähe und Ferne etc., durcheinander und steigern die Komplexität ins Unendliche.22 Durch die Verwischung
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Corbineau-Hoffmann weist darauf hin, dass die beiden großen Klassiker der Moderne, die auch heute noch als Kartographierer der Metropole gelten, zwar zahlreiche erzählerische Innovationen mit der modernen Großstadt gekoppelt haben, ihre Figuren aber noch in einem konkreten, nachvollziehbaren Raum situieren, und Wege entwerfen, die auf der Karte verfolgt werden können, da sie konkrete realweltliche Elemente angeben. Corbineau-Hoffmann betont aber zugleich, dass auch Döblin mit den Benennungen nur bloße Namen und keine Orte mit einer »eigenen Atmosphäre« hervorbringt. Die Orte sind nicht in ihrer »Eigenart wahrnehmbar«, sie sind nicht mit einer »bestimmten Physiognomie« versehen, da sie sich der Deutung entziehen. (Vgl.: Corbineau-Hoffmann: 2003, hier besonders154-164 bzw.157f.) Diese Momente können als eindeutige Korrespondenzen zum Roman Moras gelesen werden. Bei Mora wird aber nichts mehr konkret benannt, selbst der Name Berlins wird nur als ›Hauptstadt‹ erwähnt, und erst aus dem Gesamtkontext kann erschlossen werden, dass es hier um die deutsche Hauptstadt geht. Viel wichtiger ist es im Roman, dass alles – wie später noch zu erläutern ist – ›(fast) überall‹ stattfinden könnte. Die Parallelen werden später im Einzelnen dargelegt und am Text exemplifiziert. Zu Charakteristika der neuen Medien bzw. zur Steigerung der Komplexität. (vgl.: Bolz: 1993, bzw. ders. 1990, 139-157). Bolz zeigt hier auch einige Techniken, mit denen der Roman der Gegenwart die Linearität aufbrechen und Komplexität steigern kann. Dieses Moment erscheint in Der einzige Mann auf dem Kontinent nicht zuletzt durch das Spiel
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von Ordnungsstrukturen durch die neuen Medien entsteht ein liminaler Zwischenraum, in dem Polaritäten Eins werden, unauflöslich ineinander verwoben sind, womit sie den Nicht-Ort-Charakter noch betonen. Dadurch werden jedoch Positionierungen jeder Art erschwert oder unmöglich gemacht, werden von Transitärem und Liminalem ersetz. Da aber auch die Identifizierung des Subjekts an Raumvorstellungen gebunden ist, führt das Leben in diesen urbanen, globalen und virtuellen Räumen zu einer Dynamisierung des Selbst, dazu, dass die Orte und das Selbst nicht mehr in einem verbindlichen Verhältnis zueinander stehen. Diese Dynamisierung wird seit der Moderne ein zentraler Aspekt der Literatur, aber auch der Theoriebildung. Neben vielen anderen Theoretikern reflektiert Marc Augè über das veränderte Verhältnis zum Raum, nicht zuletzt im Zusammenhang mit modernen Kommunikationstechnologien. Nach Augé ist das, was der ›Übermoderne‹ ein neues Profil verleiht, nicht allein die Allgegenwart von identitätslosen, unspezifischen, sogenannten Nicht-Orten, die auch das Bewusstsein des Menschen infiltrieren, sondern auch der Wechsel der Größenordnung,23 die Globalisierung. Augé weist auch darauf hin, dass der Raum und die mentale und seelische Verfassung von Individuen ineinander verschachtelt sind. Es wird durch die Änderung des Raumes und der Raumkonzepte auch die Frage nach dem Subjekt neu gestellt, denn Transiträume, transitorische Bewegungen, das egalisierte, anonymisierte Nebeneinander zeigen nach Augé die Position oder vielmehr die Dis-Position des Subjekts an. Am Anfang des dritten Jahrtausends sind es aber nicht nur konkrete Räume und Orte, die die Befindlichkeiten der Epoche zur Schau stellen, sondern auch noch virtuelle Orte und Netzwerke24 als Nicht-Orte, die exemplarisch das Bild des Subjekts zeigen: eines Subjekts, das zum Durchgangsort vieler Reize und Informationen, also selber zum Transitraum wird. Das Subjekt befindet sich in einem liminalen Zwischenbereich, im Schwellenraum zwischen Realität und Virtualität. Die Fäden beider Sphären sind so ineinander verwoben, dass ihre Grenzen unsichtbar bleiben. Diese Zusammenhänge bilden den Hauptgegenstand von Der einzige Mann auf dem Kontinent, dessen Protagonist sich
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mit der Zeit und den fluktuierenden Perspektiven, durch Inter- und Architextualität und letztlich im dadurch entstehenden Stimmengewirr. Augé: 1991, 45f Augé zählt auch das »komplizierte Gewirr der verkabelten und drahtlosen Netze« (ebd. 94) der Kommunikation zu den Nicht-Orten.
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durch den ganzen Text hindurch nur an Nicht-Orten aufhält: im Bürohochhaus, in Kneipen, Einkaufzentren, in Zügen und anderen Verkehrsmitteln, in einem Krankenhaus, auf der Straße, oder eben vor dem Fernseher oder einem Computerbildschirm. Um das Untersuchungsfeld weiter abzustecken soll zunächst das Augenmerk auf Kopps Beziehung zu seiner Stadt gerichtet werden. Das ist meine Stadt. Ich betrachte sie wie ein Heimkehrender sein Zuhause und gleichzeitig wie ein erstmals hier gelandeter Außerirdischer. Die Straßen sind breit, die Gebäude sind gemäßigt hoch und sandfarben, die Wege sind gut gepflastert und sauber gehalten, die Abgase gefiltert, es liegen Schienen, es fliegen Flugzeuge: eine wohlhabende Gesellschaft auf hohem technischen Entwicklungsstand. Wohlgenährte, gesunde, fröhliche Population. (EM 130) Kopps Worte unterstreichen hiermit die Beliebigkeit der Stadt, die man nicht weiter identifizieren kann. Es geht nicht um individuelle Charakteristika, etwa Typonyme, symbolische Orte etc. durch die sich eine genaue, spezifische Stadt auszeichnet.25 Darüber hinaus wird auch die ambivalente Beziehung zur Stadt angesprochen, wenn es darum geht, dass die Figur sich hier sowohl zu Hause fühlt als auch so, als wäre sie ein radikal Fremder26 von einem anderen Planeten. Der Erzähler nimmt hier sogar die Perspektive des Außerirdischen ein, des neutralen Beobachters, der das Umfeld sieht, aber nicht deutet, als würde er die kulturellen Codes zur Deutung nicht besitzen. Der Protagonist scheint nicht eingebettet zu sein in die Lebenswelt. Er ist weniger ein Akteur und vielmehr ein Zuschauer in der eigenen Gegenwart. Der Roman inszeniert mit diesen Momenten ein Leben auf Distanz.27 Der Protagonist spricht aber von »meine[r] Stadt« (EM 130), wodurch sich die Perspektive verdoppelt und zu einem Oszillieren führt in einem liminalen Schwellenraum. Heimat und Fremde fließen ineinander und weisen auf die Entortung 25
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Ramshorn-Bircsák liest den Roman nicht in diesem Kontext, denn sie spricht in Bezug auf den »Platz«, der im Zentrum des Romans steht, im Text jedoch nie beim Namen genannt wird, explizit vom Potsdamer Platz. Vgl.: Ramshorn-Bircsák: 2011, 129-138. Das radikal Fremde wird hier im Sinne von Waldenfels verstanden, als etwas, was jenseits unserer bekannten Ordnungen steht. Vgl.: Waldenfels: 1997, 16-65, hier bes. 52f. Sander spricht im Zusammenhang mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur von Subjektentwürfen, in denen der Einzelne durch Teilnahmslosigkeit gekennzeichnet, und einfach nur ein Zuschauer des Lebens ist. (Vgl. Sander: 2015, 9.) Die Nicht-Orte sind zugleich als Orte dieser Teilnahmslosigkeit zu deuten.
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der Figur hin. Ähnlich sind Darius‹ Gefühle in Bezug auf seine Geburtsstadt. Er schaut sie aus einem Taxi an, blickt auf die Stadt, »die er kennt, wenn er sie auch nicht so kennt, in 20 Jahren wird vieles anders […]. Darius Kopp konzentrierte sich auf die Unterschiede, auf das andere, so lange, bis er das Gefühl hatte, nicht mehr hier, sondern woanders zu sein, wo man ganz und gar fremd, also frei wäre.« (EM 292. Herv. i. Orig.) Der Wechsel der Perspektiven bedeutet auch den Übergang von einer Zuschauerposition in den Standpunkt des Involviert-Seins. Das ständige Umkippen zwischen diesen beiden Haltungen, diese Positionierung bedeutet eine Verankerung in einem schillernden Zwischenbereich der perspektivischen Betrachtung, wird zu einer Kippfigur und zugleich der Ort des Transits fluktuierender Perspektiven. Die ›Heimatstädte‹ des Protagonisten sind nicht wiedererkennbar, nicht identifizierbar, als ob es gar nicht um geografische, sondern vielmehr um abstrakte Orte ginge. Die Städte sind ihm fremd, was er aber positiv konnotiert, denn dies garantiert für ihn die Freiheit. Diese Freiheit hat aber einen – wie Augé sagt – ambivalenten Zug, denn sie ist der Grund für die Deplatziertheit und Einsamkeit des Menschen.28 Nach Augés Auffassung sind Nicht-Orte, da sie keine Geschichte haben und so in keine Relationen eingebunden sind, Orte der Einsamkeit, der Entleerung der Individualität. An diesen Orten agieren Personen miteinander, deren Präsenz sich nicht zeigt29 und diese Nicht-Orte bringen keine Individuen, sondern nur Durchschnittsmenschen, oder höchstens provisorische Identitäten hervor30 . Auch Kopps Wohnung wird nur damit charakterisiert, dass sie im Strom des Luftverkehrs und Mitten im Straßenverkehr liegt. Man telefoniert, surft im Internet oder sieht fern und zappt vom einen zum nächsten Programm. Es gibt in diesem Zuhause keine Eigenarten, die der Wohnung ein individuelles Antlitz verleihen würden. Die Wohnung wird mit Offenheit und Verkehrswegen beschrieben, eine richtige Privatsphäre entsteht nicht. Diese spürt Kopp hingegen im Einkaufszentrum in Form einer Fußmassage, bei der man von fremden Frauen verwöhnt wird und Geborgenheit erlebt (EM 213). Nähe und Ferne, Intimität und Fremdheit werden ineinander geblendet und lösen sich auf.
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Vgl: Augé: 1991, 103f Vgl. ebd., 113. Vgl. ebd., 118.
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Den »Hafen« (EM 294), eine Verankerung, findet Darius in einem Bahnhofscafé, in der Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist. Dieser Hafen bedeutet für ihn allerdings: »Essen, Trinken, Internet« und »rundherum kann (fast) sein, was will« (EM 294. Herv. i. Orig.). Diese Triade: Essen, Trinken, Internet ist das, was auch körperlich zu ihm gehört. Bei der Beschreibung des Cafés, das als Hafen apostrophiert, mit dem Heimischen assoziiert wird, werden die Schönheit der »saubere[n] Wassertoilette« (EM 295), der Barhocker und die »langstieligen Kaffeelöffel« (EM 295) genannt, Allgemeinheiten also, die keinesfalls zur Identifikation beitragen können. An diesem Ort ist Kopp, obwohl er in »der falschen Stadt« (EM 295. Herv. i. Orig.) ist, »unterwegs ins Behagen« (EM 295). Er sieht aus einer Zuschauerposition durch das Fenster den Bahnhofsvorplatz, immer »dasselbe Bild und daher war es möglich, darin nichts Konkretes zu sehen, also auch nicht zu sehen, wo er genau war. In einer wohlhabenden Gesellschaft auf hohem technischen Entwicklungsstand« (EM 295, 130). Bekannt klingt dieser Schlusssatz, denn mit ihm wurde bereits die Hauptstadt charakterisiert. Auch durch diese Wiederholung wird die Verwischung von Identitäten zum Ausdruck gebracht. Die eigene Wohnung als eigentlicher Ort der Identifikation ist als Durchflugschneise charakterisiert, Behagen, eine Art Heimat findet man hingegen in einem Café, einem unidentifizierbaren Nicht-Ort. Die eigentlichen Bedeutungen von Hafen, Heimat und Zuhause werden zudem dadurch entfremdet, dass sie mit dem Internet und der eigenen Firma in Verbindung gebracht werden. Im Café der Heimatstadt geht Kopp gewohnheitsmäßig ins Internet »bis er ein wenig regeneriert« ist (EM 296). Beim Öffnen des Internetbrowsers geht er auf die Homepage von Fidelis, er beginnt »›zu Hause‹« (EM 133. Herv. i. Orig.), schaut, was »im Hause« los ist (EM 133). Alles, was der Protagonist mit Heimat und Zuhause, dem Hafen, verbindet, bietet jedoch keine Möglichkeit der Identifikation. Seine Firma ist der globalisierungsbedingten Instabilität unterworfen, sie geht eine Fusion ein, kann ihre Identität nicht wahren. Genauso wie sein ursprüngliches Heimatland, die DDR, durch eine Fusion verschwand, kommt ihm auch seine Firma, Fidelis, abhanden. Treue, eine dauerhafte Bindung, was ihr Name verspricht, kann die Firma nicht gewährleisten. Weder das Land, die Stadt, noch der Arbeitsplatz als eine Art Zuhause können Darius einen Ankerpunkt bieten, denn sie sind alle dem Transitorischen anheimgefallen. Sein eigener Name, darin versichert sich Kopp doppelt, steht zwar auf der Homepage, er spricht in der Wir-Form von der Firma, hat aber keine wirklichen Beziehungen, er ist der einzige Mann auf dem Kontinent und alle Medien versagen, wenn er
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Kontakt mit Übersee aufnehmen will. In der technisierten Kommunikationsgesellschaft, das Einzige, womit er sich identifiziert, funktionieren gerade Technik und Kommunikation nicht. Darius Kopp verbindet sich so im Realen wie im Virtuellen ausschließlich mit egalisierten, unspezifischen Orten, also Nicht-Orten, die ihm keine Identifikation anbieten können.
4.3
Modellierungen des Subjekts und Baulogiken des Romans
Darius Kopp meint anfangs voll im Leben und in der Berufswelt zu stehen. Er fühlt sich als Gewinner der Wende. Da er gerade in der Wendezeit sein Diplom in Elektrotechnik erwarb, standen ihm »alle Wege offen« (EM 100) für einen geglückten Eintritt ins Berufsleben. In der Selbstinterpretation seines Lebensweges sieht er sich immer als der Glückliche, dem alles gelingt. In seinem gesteigerten Selbstgefühl hält er sich sogar für einen Gott (EM 23). Dieser Vergleich, selbst wenn er nicht ganz ohne einen selbstironischen Ton ist, spielt in Bezug auf Darius eine zentrale Rolle. Das Bild der Gottähnlichkeit wird in einigen Punkten, die den ganzen Handlungsverlauf und auch die Textarchitektur bestimmen, maßgeblich. Es geht hier um Handeln und Überblick, um Vorsehung, Planung und Ausführung. Obwohl der Protagonist sich für einen Gott hält, fehlen in ihm vollkommen die Attribute des Göttlichen. Gerade das ist es, worauf der Roman sich konzentriert: die Unmöglichkeit von Überblick, Ordnung und Handeln, bzw. das Nicht-Vorhandensein von einer olympischen Position in der Erzählarchitektur. Der einzige Mann auf dem Kontinent ist sein »eigener Chef« (EM 100), und sein Beruf und die dort erforderliche Vorgehensweise zitieren ein Subjektkonzept und Konstruktionsprinzipien von Identität und Bewusstsein. Diese zeigen sich auch in der Baulogik des Romans. Kopp muss nämlich planen, ein Forecoast erstellen, den Plan erfüllen und dann berichten. Diese Konstellation impliziert Ordnung und Linearität. Durch die Folgerichtigkeit von zielgerichteter Handlung, ein teleologisches Prinzip also, wird die Konsistenz des Handlungsverlaufs garantiert. In diesem Fall scheint das Subjekt das Organisationszentrum der Geschehnisse zu sein, denn das Subjekt ist die autonome strukturierende Instanz der Handlung und eigentlich seiner ganzen Welt. Die Hauptmerkmale des hier skizzierten Konzeptes sind das autonome Subjekt, das über eine Selbstbestimmung verfügt, das in einen Handlungsverlauf eingebunden ist dadurch, dass er Taten vollbringt, Probleme löst. Die Handlung verläuft linear in der Zeit und mit einem
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dementsprechend geradlinigen Weg, der als Ort der Durchführung gelten kann. Gekoppelt wird das Konzept des Handelns mit einem zielgerichteten Streben des Subjekts. Das ist der gedankliche Rahmen, in dem sich die Hauptfigur bewegen sollte. Obwohl diese Konstellation ins Blickfeld gerückt wird, korrespondiert der Erzähl-, aber auch der Handlungsverlauf nicht mit diesem Konzept, sondern führt ein von diesem grundsätzlich abweichendes Modell vor Augen. Ein Telos und ein ordnendes Individuum stehen dennoch, wenn auch ex negativo, im Fokus der ganzen Textarchitektur. »Schließlich bin ich nicht das Orakel von Delphi« (EM 39), heißt es beim Forecoast, womit das ganze Modell ironisch gebrochen und unterminiert wird. Im Spannungsfeld dieser Denkansätze gilt es nun zu schauen, wie die divergierenden Modelle, das zitierte und das exemplifizierte, im Text in einem spannungsvollen Verhältnis miteinander stehen und zum ständigen Kippphänomen werden, womit sie eine Bewegung zustande bringen, die nicht zum Stillstand gebracht werden kann. Zu Beginn des Romans bekommt Darius von armenischen Kunden in einem Pappkarton eine große Summe Bargeld für die von seiner Firma gelieferte Ware. Dieses Paket steht symbolisch für den ganzen Inhalt des Buches. Das Paket erinnert den Protagonisten daran, dass er eine ganze Reihe von Problemen lösen, sein Leben in den Griff bekommen sollte. Anstatt zu handeln stapelt er den Pappkarton unter vielen bereits vorhandenen anderen in seinem Büro. Obwohl der Protagonist »Dinge zu Ende bringen« (EM 124) will, handelt er nicht danach. In der ganzen kommenden Woche trägt er das Paket wie eine unsichtbare Last mit sich herum. Darius hat also »ein Paket [zu] tragen« (EM 168), das er am Freitag bekommt. Er kann diese Last nicht loswerden, obwohl er gerade Samstagnacht einen Lösungsplan zusammenstellt, Ordnung zu schaffen beabsichtigt. In dieser Nacht scheinen die Stunden der Wahrheit zu kommen, die den »Nebel« vertreiben, den »Schleier« lüften und seine »Augen« öffnen (EM 124). Hier befindet sich Darius in einem Garten mit »Schlange« (EM 57), »ein Mann, eine Frau, ein Garten« (EM 126), was aber für ihn kein paradiesischer Zustand, kein Garten Eden, sondern ein Garten der Qual, ein markanter Teil seines Leidensweges ist. Den Sonntag würde Darius am liebsten überspringen (EM 118), er hat aber keine andere Wahl als zu warten, »bis das, was man nicht ändern kann, von alleine vorbeigeht« (EM 126). Diese Worte und die ganze Situation wiederholen das Geschehen der Karwoche, erinnern an die Worte Jesu im Garten Gethsemane und lassen den Protagonisten als eine Art
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Jesus-Figur erscheinen.31 Die zwei Gärten, Eden und Gethsemane, Paradies und Ölberg werden ineinander geblendet, und sie werden dadurch zu einem nicht identifizierbaren Ort. Es geht dabei nicht nur darum, dass selbst der geschützte Garten keinen Schutz vor dem Fremden und der Kontingenz bieten kann. Wichtig wird hier auch, dass die ursprüngliche Triade von Ordnung und dann Übergang in eine neue Ordnung, was das biblische Modell impliziert, schwindet. Es gibt keine identifizierbaren Größen, Ordnung stiftenden Grenzziehungen und zielgerichteten Entwicklungen. Das Gebet Jesu mit der Bitte um Hilfe geht bei Darius, dem Heiden, in die Leere, da es nicht in einen größeren Bedeutungszusammenhang eingebettet werden kann. Das Kreuz, in der Form des mysteriösen Pakets, muss weiter getragen werden, dominant wird somit ein Übergang in Permanenz, eine unendliche Passion. Kopps Lähmung kommt daher, dass er in der Komplexität seiner Welt keine Ordnung herstellen kann. Er hat keine Orientierung und die Lösungswege, die er wählt, tragen statt zu einer Reduktion vielmehr noch zur Steigerung von Komplexität bei. Der Zusammenhang zerfällt für ihn in Einzelteile, was u.a. mit der Metapher des Zerfaserns (EM 123) zum Ausdruck gebracht wird. Auf textueller Ebene korrespondiert dies mit der Auflösung der Textur, aber auch der Textur des Ich. Die Figur kann zwischen den Einzelteilen ihres Lebens und Handelns keine Verbindung mehr herstellen, kann sie nicht mehr zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen. Selbst wenn Darius »in Teilen alles richtig« zu machen scheint, »dennoch, am Ende des Tages ist das Ganze dann doch nicht das, was es sein hätte können/müssen/sollen« (EM 123. Herv. i. Orig.). Details lassen sich nicht zu einem Zweck addieren. Es entsteht kein einheitsstiftendes Moment, kein Zusammenhang, denn jede sinngebende Totalisierung zerbricht. Die Erzählkonstruktion ergibt eine paradigmatische Konstellation anstatt von teleologischer Linearität. Das Erzählen wird nicht von einem Plan oder Zweck, sondern vielmehr vom Zufall beherrscht. Die Erzählsequenzen haben eine Art Simultaneität zum Resultat, was die »Abwesenheit eines Sinnzentrums beschwört«.32 Handlung, Weg und Ziel sind die klassifikatorischen Prämissen der Gattung des Romans. Sie evozieren zugleich ein Subjektkonzept, in dem das Individuum sich auf den Weg macht mit dem Willen, durch seine Handlungen an
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Lengl deutet Abel Nema als Christusfigur. (Vgl. Lengl: 2012, 85ff.) Man kann aber auch Darius Kopp zweifelsohne als Jesusfigur charakterisieren. Vgl. Fulda: 2004, 254.
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ein bestimmtes Ziel zu gelangen.33 Diese traditionellen Konzepte kann man mit dem vorliegenden Roman Moras Revue passieren lassen, denn Der einzige Mann auf dem Kontinent reflektiert bestimmte Konstellationen der Gattung, wie z.B. die Konsistenz und den linearen Handlungsverlauf, durch die Problematisierung des Helden und seiner Wege, Ziele und Lösungen. Da aber das Subjekt in keine sinnstiftenden Muster eigebettet ist, kann seine Wirklichkeit diesem Konzept nur diametral entgegengesetzt werden. Der Roman bemüht dazu die Weg-Metapher34 , die für Bewegung, Suche, Ziel, Fortgang, Ende, Lösung, die zum einen für Ortsveränderungen im Raum, aber auch für das teleologische Prinzip des Lebens- und auch des Erzählweges steht. Diese Metaphorik der Fortbewegung ist aber auch mit der Problematik des Helden und seinen Handlungen verbunden und mit der, durch diese Taten entstehenden Ordnung. Der Held braucht, um in einer Situation entsprechend handeln zu können, Orientierung. Kopps Losung fürs Leben heißt »Essen, Trinken, Internet« (EM 294), diese sollen ihn aus dem »frustrierenden Hier und Jetzt« (EM 112) herausholen. Orientierung und Motivation, die zur Bewältigung der aktuellen Situation beitragen, bedeuten, dass man oberste Kriterien als leitende Maßstäbe setzt. Nach denen werden Handlung und Weltsicht bestimmt und begründet. Diese tragen dazu bei, dass Kohärenz und Sinn entstehen können. Diese obersten Kriterien sind beim Protagonisten »Essen, Trinken, Internet«, die diese Erwartung jedoch nicht zu leisten vermögen. Diese sind sein Lebensinhalt, als das Paket in sein Leben einbricht und ihn zwingt, wieder »tätig zu werden« (EM 125). Trotz der guten Vorsätze wird alles doch nach dem genannten Grundsatz fortgesetzt. Das Paket ist ein Ballast, der Kopp bedrückt, der ihn von allen Begegnungen und Gesprächen ablenkt. Diese Angelegenheit bedeutet, dass er immer abwesend anwesend ist, sich nie in der Situation, in der er sich räumlich, körperlich befindet, aufhält. Er kann im liminalen Schwellenraum keine bleibende Position einnehmen. Der Karton mit dem Geld ist die Zuspitzung, der Kulminationspunkt für seine Situation, seine Art mit Problemen umzugehen. Das Paket und Kopps Umgang damit nehmen so eine symbolische Funktion
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Als Parallele dazu wird, wie gezeigt wurde, das biblische Modell zitiert. Die Problematik der Weg-Metapher und die daran gekoppelte labyrinthische Struktur ist auch in Alle Tage bzw. in Das Ungeheuer, in Moras Road Novel, ein zentrales Motiv. Zu der Funktion und den Deutungsmöglichkeiten dieser Metaphorik vgl.: Hammer: 2007,79-104.
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an. Sein Credo lautet nämlich: »aussitzen« (EM 28, 163) und »wegsortieren« (EM 139). Gerade diese Abstumpfung macht ihn zum Zuschauer anstatt aktiv, ein Handelnder zu werden. Dies bringt das distanzierte Selbst- und Weltverhältnis zum Ausdruck, das den Protagonisten definiert. Im ganzen Text wird eine Oppositionsstruktur aufgebaut, die aus den Gegensatzpaaren Ordnung vs. Unordnung, Tun vs. Getrieben werden, Weg vs. Verirrung, Zeit vs. Raum besteht. Reflektiert werden diese Zusammenhänge in Bezug auf den Garten, auf zielgerichtetes Handeln oder eben in Verweis auf den Kalender, in dem »anders als außerhalb, alles in schönster Ordnung ist« (EM 41). Die Zeit als Ordnungskategorie, auch als Gestaltungsmuster des Romans soll dazu herhalten, eine Reihenfolge herzustellen. Dies bedeutet für den Helden Bewegung, Suche, Ziel, die zum einen für Ortsveränderungen in Raum, aber auch für das teleologische Prinzip des Lebens- und auch des Erzählweges stehen. Obwohl der Roman nach Tagen bzw. Tageszeiten wie Nacht und Tag gegliedert ist, was einen Fortlauf, eine Bewegung, eine Art kalendarische Ordnung impliziert, täuschen diese Überschriften, denn die Erzählung unterminiert diese Ordnung. Trotz der Angabe der Wochentage gibt es im Text kein Vorwärtsschreiten, sondern ein bizarres Durcheinander von Zeiten. Die Tatsache, dass trotz Zeitlichkeit hier eher eine Zeitlosigkeit inszeniert wird, wird im Sinnbild der Uhr, der stehenden Zeit (EM 84) bzw. im Eindruck, als würde man sich im Kreis drehen, zum Ausdruck gebracht. Das teleologisch-lineare Prinzip weicht einer Kreisstruktur. Die Möglichkeit einer zeitlichen Ordnung ist nur im Kalender da, außerhalb gelten seine Prinzipien nicht. Das Leben der Hauptfigur wird nicht durch Kategorien der Zeit, sondern vielmehr durch die des Raumes bestimmt, was sich in der steigenden Irritation und der allgemeinen Zunahme an Unordnung manifestiert (EM 132). Nicht das Nach- sondern das Nebeneinander, die Simultaneität bestimmt die Geschehnisse, so dass statt Linearität, statt geradliniger Wege eher eine Labyrinth-Struktur entsteht, in der es kein zielgerichtetes Streben mehr gibt, sondern nur ein Herumirren. Der Weg, gekoppelt mit der Idee der ›Taten‹ und des ›Helden‹ (EM 126, 167, 216), auf die sich der Roman mehrfach beruft, ist sowohl für die Identifikation der Figur als auch für die Reflexion von Sinnmustern des Romans signifikant und konstitutiv. Die großen Taten (EM 216) erscheinen hier in Form von Telefonieren und E-Mailen, dies sind die »Heldentaten« (EM 216) der Zeit. Dies ist die Folie, die zeigt, dass der hiesige Held nur noch eine Parodie seines Selbst ist. Der ganze Text besteht darin, dass Darius Wege für Lösungen sucht. Egal in welche Richtung er geht, immer stößt er aber auf Wände, die ihn daran
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hindern, weiter zu kommen, das Ziel zu verfolgen. Gefasst werden sowohl die Wege als auch die Hindernisse im Roman nicht zuletzt unter der poetologischen Metapher des Fadens. Es ist immer dasselbe Schema. »Dinge verknäuln sich« (EM 119), der »Tag zerfasert« (EM 123). Das Sich Auftürmen der Hindernisse erscheint am eindrücklichsten, wenn Kopp zu einem wichtigen Geschäftstermin muss. Es geht darum, eine Strecke zu bewältigen (EM 201), doch er gerät bald in einen Stau. »Ab da lief es dann überhaupt nicht mehr« (EM 202). Es kommt zu einer »allgemeinen Verknäulung« (EM 202), der man so zu entkommen sucht, dass man in die Seitenstraßen abbiegt. Auch da gibt es aber immer wieder Hindernisse. Egal wie Kopp fährt, immer hat er »den Stau vor der Nase« (EM 203). Das Taxi fährt in fast alle Himmelsrichtungen, kommt aber nicht in die richtige Richtung, »als wäre mitten in der Stadt eine Mauer« (EM 203).35 Dieser konkrete Fall stellt eigentlich den allgemeinen Zustand der Figur dar, seinen Modus Probleme zu lösen bzw. nicht zu lösen. Der Text ruft aber auch in Erinnerung, dass die physische Mauer, die als eine absolute Grenze galt, mit der Wende gefallen ist. Trotz dieser Tatsache ist man immer wieder mit anderen, neuen, oft unsichtbaren Mauern konfrontiert. Es stehen einem, obwohl die Wendeeuphorie dies nahelegte, nicht alle Wege offen. Die hier genannten Modi der Problemlösung, sind die Wege und Taten des uneigentlichen36 , des ›Zuschauer-Helden‹. Diese Wege sind auch nicht mehr geradlinig, sie führen nicht unbedingt zu einem Ziel, sie sind vielmehr Bilder des Simultanen. An Stelle von Ordnung rückt eher das Gefühl von Chaos. Man kann sich keinen Überblick mehr verschaffen und zum Schluss kann letztendlich weniger von Lösung und vielmehr vom Scheitern die Rede sein. Hand in Hand damit, wie im Roman die Wege im ›realen‹ oder virtuellen Raum des Internets abbrechen, so ist auch das Erzählen durch Abschweifungen, »Verknäulung« (EM 202), Stocken und vor allem durch ständige Wechsel und Sprünge in Perspektive, Zeit und Raum geprägt. Korrespondierend zur 35
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Hier erinnert der Roman an Marlen Haushofers Die Wand. Das Motiv der Wand erscheint in Der einzige Mann auf dem Kontinent leitmotivisch als sichtbare (Glas)Wand oder als unsichtbar, weist aber in beiden Ausprägungen auf die Ohnmacht der Figur hin. Auf die Rolle dieses intertextuellen Verweises gehe ich im neunten Kapitel ein. Die Tatsache, dass hier eine textuelle, Haushofers Wand, und eine reale, die Berliner Mauer, oft ineinander geblendet werden, unterstreicht zum einen die Identitätslosigkeit des konkreten Ortes, seinen Nicht-Ort-Charakter. Zum anderen geht es mit diesem darstellerischen Zug auch um eine Grenzauflösung zwischen Fiktion und Realität. Voss nennt diese Art von Helden den ›uneigentlichen Helden‹. Vgl. Voss: 2011, 184ff.
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Handlung ist auch die Textarchitektur durch Kontingenzen bestimmt. Besonders irritierend sind die »(ständig, immer, überall lauernden) Unterbrechungen« (EM 124. Herv. i. Orig.), die Kopp daran hindern, »Dinge zu Ende [zu] bringen« (EM 124). Ausgetragen wird dieser Konflikt in der Opposition von Heldenhaftigkeit, Tat auf der einen und Handlungsohnmacht, Lähmung auf der anderen Seite. Die Wegmetapher ist überdies poetisch fiktionalisiert, indem die Entfaltung von Held und Narration ineinander geblendet werden. Der ›Held‹, der sich im Rausch mal sogar »Gott«, »oder zumindest gottähnlich« (EM 23 Herv. i. Orig.) nennt, bekommt jedenfalls keinen Überblick, findet keine olympische Position, von der aus er »Herr über etwas« (EM 314) werden könnte. Die Figur kann den Weg nicht meistern, da er kein richtig Handelnder, sondern vielmehr ein »Schauplatz von Ereignissen«37 ist. Um handeln, um den richtigen Weg erkennen zu können, braucht man Orientierung und Klarsicht. Orientierung und die Erkenntnis des richtigen Weges werden im Roman mit der Lichtmetapher reflektiert. Die wichtigsten Mittel der Problemlösung sind für den Protagonisten die neuen Medien, allen voran das Handy und sein Laptop und damit selbstverständlich das Internet. Diese Tatsache macht den Protagonisten zum Evangelisten der neuen Medienwelt.38 Diese ist für ihn die adäquate Lichtquelle, die bei Dunkelheit, im Falle von Orientierungslosigkeit den Weg weist. Seine ganze »Sehnsucht« sind »die künstlichen Helligkeiten« (EM 310). Die Lichtquelle, die Instanz, von der man Hilfe erwarten kann, ist hier also nicht mehr Gott, sondern es sind Medien der Telekommunikation. Kopp als »geborener Heide«39 (EM 97) assoziiert beim Lichtstrahl auf seinem Handy nicht »Gottes Licht«, er denkt in die »andere Richtung« (EM 97) und deutet es »als wäre das der sichtbare Strahl, der vom Satelliten direkt zu ihm fiel und ihm die relevanten Informationen« (EM 97) bringt.40 Im Laufe der Handlung entpuppen sich die in den 37 38 39
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Vgl. Däumer/Lickhardt: 2010, 9. Vgl. Enzensberger: 2000, 10ff. Der Ausdruck ›geborener Heide‹ ist mehrdeutig. Zum einen ist aus christlicher Sicht jeder bei seiner Geburt ein Heide. In der figurativen Bedeutung impliziert diese Formulierung jedoch auch, dass Kopp dazu bestimmt ist, eine besondere Begabung dazu hat, ein Heide, also jenseits einer fest definierten Ordnung zu sein. Diese Mehrfachkodierungen, die Unterschiede zwischen eigentlicher und figurativer Lesart spielen bei Mora eine zentrale Rolle. Dieser darstellerische Zug verortet die Sprache selber in einem liminalen Schwellenraum zwischen verschiedenen Lesarten. Die Tatsache, dass das Internet und digitale Medien im Allgemeinen für Kopp als Grundnahrungsmittel dienen, macht ihn zu den Evangelisten der neuen Medienwelt. Das heilsgeschichtliche Vokabular Enzensbergers scheint gerade in Bezug auf Kopp
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Medien gefundenen Informationen jedoch als irrelevant, sie werden vielmehr zu Quellen von Irritation, zu Einbruchstellen der Kontingenz. Die scheinbaren Allheilmittel von Kopp, die modernen Medien, konfrontieren ihn statt mit den richtigen Wegen eher mit Unwegsamkeit: das »Chaos wird uns verschlingen« (EM 189), heißt es. Auch Chronos verschlingt seine Kinder (EM 189), und bringt damit, als eine Erscheinungsform von Chaos, das Verschwinden der Zeit als Organisationsprinzip zum Ausdruck. Wenn auch die Verkehrsmittel, die der Figur den Anschein von Bewegung verleihen, versagen, bricht alles zusammen. Seine Wege brechen ab, es stellt sich für ihn nun immer wieder die Frage: wie weiter? Kopp bleibt orientierungslos (EM 314), hält immer Ausschau nach Wegen, sucht ein Ziel, verirrt sich jedoch zunehmend in einer komplexen und sich immer mehr verkomplizierenden Welt. Der Protagonist versucht, sich immer wieder neu zu orientieren, er kann aber keinen Fixpunkt, keinen festen Standpunkt mehr finden, von dem aus er die Fäden fassen, die Geschehnisse auffädeln, die sich zerfasernde Textur seines Lebens und seines Selbst noch in eine konsistente Struktur zurückführen könnte. Sein physischer Bewegungsraum ist durch Wände, Mauern, Türen eingeengt. Dem wird aber als Bewegungsmöglichkeit der unendliche Raum des Internets gegenübergestellt, wo ihm tatsächlich alle Wege offen zu stehen scheinen. Die wichtigere Möglichkeit zur Problemlösung wird das Internet, das auch mit der dominierenden Wegmetaphorik in Verbindung gebracht wird. Steht nämlich Darius vor einer Aufgabe, geht er ins Internet. Wege beschreitet der Protagonist demnach nicht im wirklichen, sondern allein im virtuellen Raum. In der realen Welt ist er wie gelähmt, oder verirrt sich auf Wegen wie »Essen, Trinken, Internet« (EM 294), die ihn nie zum abgesteckten Ziel führen können.41 Die allgemein um sich greifende Konfusion und das Fehlen von Anhaltspunkten wird der Tradition entsprechend auch hier in der Metaphorik von
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nicht weit hergeholt zu sein. Enzensberger spricht von religionsgeschichtlichen Mustern in Bezug auf die Einstellung zu neuen Medien. Er spricht von Propheten, die die Medien mit negativem (Apokalyptiker) oder positivem (Evangelisten) Vorzeichen versehen. Der technische Fortschritt erscheint, so die Diagnose von Enzensberger, in der Rolle von Offenbarungsreligionen. Das Heil wird bei den Evangelisten, genauso wie bei Kopp, von der technischen Zivilisation erwartet. Vgl. Enzensberger: 2000, 10ff. Obgleich mit einem ganz anderen Fokus, stellt aber auch Szilvia Gellai in ihrer Studie die Verstrickungen des Protagonisten in der Medienwelt dar. Vgl: Gellai: 2013, 231-258.
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Dunkelheit und Sehen, sowie anderen Erkenntnismetaphern wie Schleier, Nebel etc. gefasst. Der Protagonist tappt im Dunkeln, immer leuchtet aber in Form der neuen Medien eine Lichtquelle auf, die verspricht, dass man den richtigen Weg, also die Lösung für die Situation finden kann. Das Aufscheinen der Lichtquelle ist ein wiederkehrendes Motiv des Textes. Die Problematik von Dunkelheit und Licht rekapituliert bekannte Erkenntnismetapher, die hier den Geschehnissen ein besonderes Timbre verleihen. Ihr Herbeizitieren setzt nämlich wieder eine oszillierende Bewegung in Gang. Das herkömmliche biblische Modell erscheint zwar, ist also auf der Ebene der Sprache, der Semantik, allgemein als Zitat präsent, ohne seine ursprüngliche Funktion zu erfüllen. Ein im Roman wiederkehrendes Bild ist, dass der Protagonist sich gerade verirrt hat, aus einem Grund nicht mehr vorwärts kommt. In der ihn umgebenden Dunkelheit leuchtet ihm »eine einzige Lichtquelle«, sein Handy oder sein Laptop auf (EM 97, 114, 132). Die modernen Medien bekommen demnach die Aufgabe, den Weg zu zeigen. Beim Handy führt der Weg meistens nicht weit, der Protagonist stößt auf eine unsichtbare Wand, da kein Strom, keine Netzverbindung da ist. Das richtige Medium der Wegsuche ist der Computer, das Internet, konkreter der Browser, der auch mit der Wegmetaphorik verbunden wird.42 Die eingeübte Taktik Kopps ein Problem zu lösen, ist, als ein erster »Schritt« (EM 228), das Öffnen des Browsers. Darius sucht im Internet Informationen zu dem Paket, das er bekommen hat, findet aber nichts, was ihm helfen, ihn vorwärtsbringen würde. Die Informationen sind unbrauchbar, nur »Kraut und Rüben« (EM 298). Doch wird die Suchmaschine zu seinem wichtigsten Begleiter, denn »weil er nachdenken wollte, öffnete er den Browser« (EM 230). Die moderne Kommunikation und ihre Medien werden janusköpfig dargestellt. Sie suggerieren, der Weg zum Ziel zu sein, 42
Hermann spricht in Bezug auf Moras Romane von einer ausgeprägten Vernunftkritik. Neben Alle Tage betrachtet er die ersten zwei Teile der Kopp-Trilogie und akzentuiert in ihnen, hauptsächlich im Verweis auf die weibliche Figur die Kritik der Vernunft. (Vgl. Hermann: 2017, 202-219, hier bes. 212ff) Die hier diskutierte Problematik der Lichtmetapher ist in diesem Kontext zu verorten. Ergänzt werden kann man die Vernunftkritik noch mit Technik- oder Medienkritik. Für meine Fragestellung ist jedoch die Doppelung, und der dadurch entstehende Schwellenraum wichtig, der von Gottes Licht und dem Licht technischer Mittel konturiert wird. Denn dieser Zwischenraum ist eine nicht identifizierbare Sphäre, in der keines von den Modellen in Kraft treten kann, sie löschen einander vielmehr aus.
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entpuppen sich aber vielmehr als Hindernisse. Das unendliche globale Netz zeigt eine rhizomatische Struktur, in der es keine konkreten, vorgegebenen Wege mehr gibt, in der aber die Wege und Verbindungen unendlich potenziert werden können. Wenn man bedenkt, dass bereits die Großstadt der Moderne für labyrinthische Orientierungslosigkeit stand, dann gilt es noch viel mehr für das Rhizom des Internets. Ergänzt werden muss dies damit, dass es hier nicht um einen physischen, sondern um einen virtuellen Raum geht. Bereits die Metropole wurde mit Plötzlichkeit, mit der unerwarteten Begegnung mit dem Fremden konnotiert und mit einer Reizüberflutung verbunden. Das Internet kann noch stärker damit charakterisiert werden. Dadurch aber, dass das Gegenüber unsichtbar ist, ist in diesem Falle die Unbestimmtheit noch markanter. Der eigentliche Ort der Verirrung ist die Telekommunikation. Die Analogie zu traditionellen Konnotationen wird im Text explizit angesprochen, wenn das Internet mit dem Wald, mit den – »klassisch« (EM 116) – dort verborgenen Ungeheuern in Verbindung gebracht (EM 116) wird. »Das Grassieren in den Foren [war] amüsant, brachte aber seit einer Weile keine neuen Erkenntnisse mehr. Nur die Zeit verging« (EM 231) – heißt ein summierender Satz. Es ist ein Zustand wie im »Rausch« (EM 300). Man geht »ins Netz«, lässt »sich ein wenig treiben« oder fängt an »gezielter zu suchen« (EM 296), das Endergebnis ist aber »zusammengefasst: Nichts, nichts, nichts, nichts, nichts« (EM 299). In der großen Verwirrung hat man »sogar Schwierigkeiten, das Nichts zu ordnen, das er [Kopp] sich die letzten Stunden einverleibt hatte« (EM 300). Die Bewegung im Internet führt nicht zu dem gewünschten Ziel, nicht zur Ordnung, sondern vielmehr zur Konfusion. Die Telekommunikation wird aber auch in ihrer Doppelbödigkeit reflektiert und mit der Problematik von Kontingenz in Verbindung gebracht. Der erste Punkt, der diese Zusammenhänge bedenken kann, ist die zentrale Problematik des Romans, die drahtlose, also vom Raum, vom konkreten Ort losgelöste Kommunikation und die damit verbundenen Medien. Die mobile Telekommunikation, der Datenverkehr, das Internet spielen eine zentrale Rolle, was die Entortung des Einzelnen nur noch bekräftigt, da es um drahtlose, um nicht an einen konkreten Ort gebundene Kommunikation und Datenübertragung geht. Die Entfernungen zwischen Deutschland, England, Amerika, Griechenland etc. verschwinden, auch im entlegenen Wald kann man noch von den Verwandten erreicht werden. Die Nachrichten aus Hongkong oder Kalifornien, Paris oder Athen erreichen einen im Nu.
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Reflektiert wird im Roman im Zusammenhang mit der Stadt die Beschleunigung. Was aber viel maßgeblicher zur Auflösung von Koordinatensystemen der Orientierung beiträgt, ist der globale Blick, der ständige Gedanke daran und die Erwägung dessen, wie spät es zum Zeitpunkt der Handlung, des Sprechens oder Denkens in London, Amerika, Hongkong, Athen etc. ist. Man kann nie in der eigenen Zeit verharren, denn um etwas erledigen zu können, müssen mehrere Zeitzonen in Betracht gezogen werden, wodurch zeitliche Ordnungsmuster reflektiert und der Schein einer natürlichen Zeitlichkeit hinterfragt werden. Die Entortung der Figur wird nicht allein durch die Auffächerung von Raum, sondern auch durch die von Zeit betont. Durch die drahtlose Telekommunikation ist man losgelöst vom Raum, damit aber auch von der einen gültigen Zeit. Man kann darüber hinaus immer und überall erreicht werden oder jemanden erreichen. Dies wird hier aber eher negativ konnotiert, denn gerade diese Tatsache bringt die ständigen Unterbrechungen und die Abschweifungen mit sich, was dazu führt, dass man nie einen Plan verwirklichen kann. Diese von der Geographie, von der zeitlichen und räumlichen Gegenwart abgeschnittene Kommunikationsmöglichkeit ist nicht allein inhaltlich-motivisch signifikant. Sie rekurriert auch auf das Subjektkonzept. Der ganze Komplex hat zwei Seiten, denn diese Kommunikationswege funktionieren beim Protagonisten zum Teil nur in die eine Richtung. Er kann einerseits, obwohl die Technik als Allheilmittel erscheint, auch auf dieser Ebene nicht tätig werden, da er an virtuelle Wände stößt, die andere Seite, seinen Arbeitgeber nämlich nicht erreichen kann. Ihn schützt andererseits keine Wand, denn in jedem Moment kann jemand unerwartet in seine Sphäre einbrechen und seine Einheit zum Bröckeln bringen. Sein Schutzwall funktioniert nicht. Er arbeitet zwar für eine Firma, die die persönliche Sicherheit garantieren will, er kann für sich selber dies aber nicht leisten. Das Ausgeliefert-Sein, Kontingenzen werden hier dominant. Die technischen Geräte schränken demnach die Handlungsmacht der Figur ein, ermöglichen vielmehr Scheinhandlungen, die eher dem Schlaf, als Taten ähneln. Die drahtlose Kommunikation macht einen unabhängig vom Ort, schneidet die Bezüge von Individuum und Geographie ab. Die Losgelöstheit vom Raum und von der Zeit, dass der Protagonist sich nie im »Hier-und-Jetzt« (EM 152) befindet, bringt aber die Unmöglichkeit von Verortung mit sich, so wird der Protagonist im Roman ein »deplatzierte[r] Mann« (EM 316). Die Identität der Hauptfigur ist ohnehin problematisch. Seine Abstammung väterlicherseits ist ungewiss, er wird ein Bastard genannt (EM 97).
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Nicht nur dieser Punkt reflektiert aber im Laufe des Textgeflechts implizit oder explizit auf die problematische Identität des Protagonisten. Er heißt offiziell Darius, was auf das fremdländische in ihm verweist, ihn aber durch den Heiligen und den Perserkönig auch noch mit anderen Orten und einer anderen Zeit in Verbindung bringt. Diesen Namen hat ihm sein Vater gegeben. Seine Mutter nennt ihn aber konsequent Hansi, da sie mit dem richtigen Namen nicht einverstanden war (EM 98). Bereits diese Tatsache weist auf eine Doppelung hin. Aufgefächert wird dies noch dadurch, dass Kopp sich in Gesprächen mit Mitarbeitern Därjäss nennt, also die amerikanische Aussprache seines Namens verwendet. Weitere Verdoppelungen und Vervielfachungen seiner Identität kommen z.B. dadurch zu Stande, dass er über sich oft in der Wir-Form spricht bzw. denkt, oder sich in der Du-Form anspricht. In einem Selbstgespräch spaltet er sich weiter auf, schlüpft in die Rolle eines Freundes, Juri, und versucht, eine andere, eine Außenperspektive auf seine Taten und Gedanken einzunehmen, den advocatus diaboli zu spielen. So überrascht nicht, wenn im Textverlauf mehrfach die Frage gestellt wird, wer er eigentlich ist. Rückt man noch weiter die Frage der Identität in den Fokus, kann man zu der tradierten Hinterfragung der Identität in der Formel ›Ich ist ein anderer‹, womit die mehrfach erwähnte Zuschauerposition und die Deplatzierung herbeizitiert werden. Diese könnten mit der Wendung ›Ich ist anderswo‹ zum Ausdruck gebracht und subsummiert werden. Beide weisen auf Entortung, auf die Unmöglichkeit von Positionierung hin. Die Hauptfigur kann sich keine Verankerung durch die Situierung in einem Koordinatensystem von Raum und Zeit, also im Hier und Jetzt verschaffen. Da hier das Augenmerk eher auf den Raum gerichtet wird, soll nur kurz ein Ausblick auf die Zeit gemacht werden, denn dieses Deplatziert-Sein hängt eng damit zusammen, dass keine konzise Figur mehr entstehen kann, dass es zur allgemeinen Zerfaserung kommt. Der Mangel an Konsistenz kommt nämlich auch durch die Inszenierung von Zeit zum Vorschein. Das Jetzt als eine Grundbedingung der Positionierung löst sich auf. Durch innere oder äußere Anstöße ausgelöst durchlöchern zahlreiche Erinnerungssplitter, Analepsen das Netz der Gegenwart. Auch in die andere Richtung, von der Zukunft aus gibt es aber Einbrüche in die Sphäre des Jetzt. Die festen Grenzen zwischen den Zeitebenen verschwimmen. Sie verschwinden auch dadurch, dass die Figur in Gedanken mögliche zukünftige Gespräche, Telefonate durchspielt, womit er eine denkbare, realisierbare Zukunft bereits in die Gegenwart hereinholt. Es gibt eine Verflechtung, ein ständiges Hinüberfließen, die Zeiten sind genauso wie die Räume nicht mehr
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
voneinander zu trennen. Es gibt eigentlich kein Jetzt, der Protagonist wird zu einer Transitzone von Zeitbezügen, was seine Konsistenz unaufhaltsam auflöst. Wendet man den Blick auf das Hier, kommt man schnell zu der Feststellung, dass auch die Kategorie des Raumes nicht in einem Koordinatensystem zu verankern ist. Man erkennt, dass es keinen Bezugspunkt gibt, von dem aus dann alles geordnet, aufgefädelt werden könnte. Das Subjekt kann sich aus dem überwältigenden Dickicht nicht mehr hinausbewegen. In dieser Situation bleibt nur die Hoffnung auf ein Wunder. In diesem Sinne zitiert der Roman eine Aussage der Bibel, und sprich nur ein Wort (EM 317), was in mehreren Evangelien bei der Hoffnung der Heilung eines Gelähmten als Seufzer an Jesus ausgesprochen wird. In Der einzige Mann auf dem Kontinent gibt es aber keine rettende Instanz, Erlösung ist nicht in Sicht.43 Die Kompositionsfrage hängt mit der inneren Zerrissenheit des Subjekts zusammen, in dem kein Zentrum mehr auszumachen ist, und das sich in einer unendlichen Vielheit der multiplen Optionen verliert.44 Der Text ist der Struktur des Subjekts nachgebildet, seine Ohnmacht als die ordnende Instanz wird im Erzählgeflecht gespiegelt. Die Hauptfigur verliert sich in kleinen, scheinbar nichts bedeutenden Einzelheiten, die sich zu keiner größeren Einheit zusammenfügen lassen.45 Die eklektischen Versatzstücke können nicht funktional werden, im Großen und Ganzen entsteht eine irrgangähnliche Erfahrung, in der keine Ordnungskriterien festzumachen sind.
4.4
Grenzauflösungen und Gattungspoetik
Die subversive Durchquerung von (Text)Räumen und von Zeiten scheint jede Ordnung aufzulösen. Markant trägt dazu die Inter- und Architextualität bei, die zu »Mehrfachkodierung« und »Sinnkomplexion« führen, und so neue, 43
44 45
Durch den intertextuellen Verweis auf Modelle der Bibel und der Heilsgeschichte wird die Situation des Protagonisten mit dem ursprünglichen Narrativum der Krise gekoppelt. Durch diese Allusion erscheint die Situation von Darius als eine Krankheit, die nach dem eigentlichen Krisenverlauf geheilt werden kann. Dieses Modell kann hier aber nur ex negativo herbeizitiert werden. Vgl. Nünning: 2007, 59. Vgl. dazu: Bürger, 1988: 75. Eine Einheit entsteht erst auf einer anderen, der metareflexiven Ebene, wenn man den Roman als poetologische Reflexion liest, als eine Struktur und eine Ordnung, in der sehr wohl Zusammenhänge zu erkennen sind.
4 Der »deplatzierte Mann«
zusätzliche Sinndimensionen ins Spiel bringen.46 Einerseits erscheint diese Technik als Affirmation und-oder Dementierung der literarischen Tradition. Indem hier auch Systemreferenzen im Sinne von Architextualität heraufbeschworen werden, geht es nicht nur um punktuelle Bezüge, sondern genauso um strukturelle Beziehungen. Gattungskonventionen werden reflektiert und hinterfragt und in den Reflexionsprozess einbezogen, so, dass eine Konfusion der Anspielungen entsteht. Für den Erzähler dient alles als »Steinbruch« oder »Magazin«47 , die mit ihrer Fülle jederzeit zur Verfügung stehen. Zwischen den einzelnen Segmenten entsteht eine semantische Spannung, die überraschende, zusätzliche Sinnschichten zustande bringt. Die fremden Texte und verschiedenen Modelle bzw. Gattungsmuster exponieren auch die Spannung zum Eigenen und fokussieren auf die Frage nach Eigenen und Fremden und der möglichen Grenze zwischen ihnen.48 Die Tradition kann dem Erzähler kein Instrumentarium in die Hand geben, ihre Vergegenwärtigung schafft hingegen eine ewige Gegenwärtigkeit. Die Neueinbettung der Erzählsegmente wird als eminentes Verfahren der Textkonstitution erkennbar. Ebenso wie die einzelnen Elemente der Sprache bekommen hier die Erzählsplitter in ihren neuen Kontexten neue, modifizierte Bedeutungen, indes sie einander gegenseitig infiltrieren49 und in einem liminalen Zwischenbereich verorten. Die so entstehende Mehrfachkodierung eröffnet zahlreiche zusätzliche Sinnschichten, was als Basis der Erzählstrategie gelesen werden kann. Da sich dieser Roman in vieler Hinsicht im Paradigma des Raumes bewegt, überrascht es nicht, dass auch das Subjekt mit Kategorien des Raumes reflektiert wird. Oben ist darauf bereits verwiesen worden, dass im Buch das tradierte neuzeitliche Subjektkonzept – Hand in Hand mit der Romanform – hinterfragt wird. Der neuzeitliche Roman, der dieses Subjektkonzept zum 46 47
48 49
Schulte-Middelich: 1985, 206 bzw. 208. In Bezug auf intertextuelle Bezugnahmen spricht Plett metaphorisch von Steinbrüchen (Plett: 1985, 78) und Magazinen (ebd.: 79). Das Schema der intertextuellen Verweise auch innerhalb des eigenen Œuvres gehört zum konstitutiven Prinzip bei Mora und zu dem signifikanten Konzept der Erzählgestaltung. Auch die ausufernde Intertextualität bringt das Ineinanderfließen von Zeiten und Räumen zum Ausdruck. Das ist das Spiel zwischen Identität und Differenz als kooperierendes Doppel, das auch als Kippfigur zum elementaren Teil des Rauschens wird. Auch als Affirmation und Destabilisation intendiert diese Strategie eine zusätzliche Ebene der Sinnkonstitution, was sowohl für die Systemreferenz als auch für die Einzelreferenz geltend gemacht werden kann. Vgl. dazu: Pfister: 1985, 22.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Ausdruck bringt, organisiert sich mit Hilfe der Zeit. Dieses Konstruktionsprinzip wird hier zugunsten des Raumes aufgelöst. Der Raum, verstanden auch als Textraum, wird mit seiner Simultaneität und Komplexität zum Bildspender für das Subjekt. Es entsteht keine Tiefe mehr, da das Subjekt nicht mehr ein Origopunkt markiert, aus dem durch die Zentralperspektive eine Ordnung hergestellt werden könnte. Der Protagonist bewegt sich den ganzen Roman hindurch zwischen Heldenhaftigkeit und Ohnmacht, Größenphantasien und Lähmung. Diese zwei Extreme und das Oszillieren zwischen ihnen zeigen, dass die Figur ihre Balance verloren hat, der Übergang vom einen zum anderen Pol kann kein konzises Ich mehr herstellen, es kommt zur Zerfaserung. Das Ich ist ein anderer und ständig anderswo, also deplatziert (EM 316). Die Figur ist im Koordinatensystem der Raum-Zeit-Bezüge nicht mehr zu verorten. Es gibt eigentlich kein Jetzt, die Figur wird vielmehr zu einer Transitzone von Zeitbezügen, was unaufhaltsam seine Konsistenz auflöst. Wendet man den Blick auf das Hier, kommt man schnell zu der Feststellung, dass es keinen Bezugspunkt gibt, von dem aus dann alles geordnet, aufgefädelt werden könnte. Die Grenzen von Zeiten und Räumen werden flüssig, weder das Jetzt noch das Hier sind verfügbar, da sie von früher/später, bzw. von anderswo/überall/irgendwo/nirgendwo infiltriert werden. Diese Beschaffenheit ist ein allgemeines Charakteristikum des Romans. Diese Auflösung von Grenzen erscheint aber nicht allein auf der inhaltlichen Ebene. Sie ist auch in der Systemreferenz auf herkömmliche Gattungen des Romans und im daraus resultierenden Widerspiel tradierter Vorstellungen des Subjekts, des Raumes und der Zeit vorhanden. Die inhaltliche Präsenz und zugleich sinnstiftende Absenz historischer Modelle und hauptsächlich des Raumes ist auch eine Figur der unaufhörlichen transitorischen Bewegung, des liminalen Schwellenraumes im Textganzen.50 Ein ähnliches Oszillieren ist in den zahlreichen intertextuellen Verweisen festzumachen, in den Bedeutungen, die im Drittland, im Niemandsland des Transits zwischen dem Prä- und Folgetext entstehen. Der Roman ist aber auch eine Fusion vieler unterschiedlicher Diskurse, Sprachen und Fremdsprachen, was zur weiteren Diffusion des Textgeflechts
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Durch die Re-Zitation von Muster des Romans, also durch poetische Verfahren entstehen hier zusätzliche Sinnschichten, die miteinander konkurrieren und damit ein Spiel mit Identität und Differenz in Gang setzen. Dieser dialogischen Koexistenz zufolge findet fortwährend eine Verschiebung statt, die auch als transitorische Bewegung gedeutet werden kann.
4 Der »deplatzierte Mann«
führt. Die so entstehende Vielstimmigkeit und Multiperspektivität51 bringt ein Stimmengewirr zustande, in dem das Subjekt seine eigene Stimme nicht mehr finden, nicht mehr hören kann. Es gibt im ganzen Roman keine konkrete Erzählinstanz, nur transitorische Perspektiven, wodurch die Möglichkeit von Identifizierung suspendiert wird. Die Kontingenz als Motor des Erzählverfahrens hält den Erzählfluss aufrecht, wobei aber nichts von Dauer ist und auch das Subjekt unverfügbar, verflüssigt wird. Das Subjekt kann sich aus dem es umgebenden und überwältigenden Dickicht nicht mehr heraus bewegen. »Lost in Links« (EM 138. Herv. im Orig.) verschwindet die Figur im Nicht-Ort des Erzähl-Netzes und seiner rhizomatischen Irrwege. Das heterogene Perspektiven- und Themenangebot, die Auffächerung der möglichen Erzählschemata und ihre alternierende Gleichordnung führen zu einer Simultaneität. Die entstehende Dominanz zentrifugaler Kräfte und das Fehlen eines gemeinsamen Fluchtpunktes unterminieren das thematisch vorgehaltene heilsgeschichtliche Schema. In dieser Koexistenz gegenläufiger Modelle bekämpfen die Botschaften einander. Es kommt ein Wechselspiel von Extrempositionen, von Identität und Differenz zustande, dem kein Ende gesetzt werden kann. Rekapitulation und Relativierung, ein Plus-Minus-Verfahren verursachen, dass der Text zu einem Kipp-Phänomen wird. Mit dieser Form reflektiert der Roman auf das Transitorische der Sinnbildungsmodelle, darauf, dass auch die literarische Ordnung (mit Gattungen, Erzählweisen, Stilen etc.) ein kulturelles Konstrukt ist. Mora aktiviert auf einer metareflexiven Ebene ihrer Texte literarisch-kulturell vermittelte Wirklichkeitsreferenzen der Tradition und führt uns vor Augen, dass diese Modelle zwar auf der semantischen, symbolischen oder narrativen Ebene präsent sind, ihre Rolle als sinnstiftende Instanzen jedoch nicht mehr erfüllen können. Sie sind vielmehr nur Versatzstücke, da sie in der Lebenswelt der Figuren eher als verfremdet, als nur Zitat erscheinen, ohne ihre ursprüngliche und genuine Funktion als Orientierung in der Lebenspraxis gewährleisten zu können.
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Dieses Stimmengewirr manifestiert sich in einer Darstellungsform, die in der Forschung »heterogenes Perspektivenangebot« und die »Dominanz zentrifugaler Kräfte« genannt wird. Vgl.: Nünning/Nünning: 2000b, 39- 76, hier 54, 62.
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5 »Etwas Ökonomie braucht ein Roman«. Ökonomische Diskurse, Arbeits- und Textwelten – Moras ökonomische Poetik
5.1
Grenzüberschreitungen: Begegnungsräume für Ökonomik und Literatur
»Um die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Literatur- und Wirtschaftswissenschaft steht es nach wie vor schlecht.«1 Wie unerforscht und neu dieses Thema, die Korrespondenz von Wirtschaftswissenschaft und Literatur ist, darauf weist Michael Horvath in seiner Studie Das ökonomische Wissen der Literatur hin.2 Diese Feststellung, also die Ferne der beiden Bereiche, galt sowohl für die Literaturwissenschaft wie auch für die Literatur selber, obwohl, wie Urs Urban konstatiert, das Ökonomische aus der Literatur nicht wegzudenken ist.3 Wirft man einen weiteren Blick in die Forschung der letzten Jahre
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Horvath: 2011b, 331. Horvath spricht hier davon, dass gerade im Zuge der sog. Wirtschaftskrise 2008 Annäherungsversuche unternommen werden, die aber seiner Meinung nach vielmehr die tiefen Gräben zwischen den Disziplinen feststellen, als dass sie Brücken bauen könnten, da das Selbstverständnis der Disziplinen sehr weit voneinander entfernt sei. Ebd. Horvath: 2016, 1. Ähnliches stellt Sandra Pott in ihrer Untersuchung von 2004 fest, obwohl auch sie betont, dass in anderen Bereichen des Lebens, in den Medien z.B., Wirtschaft zwar eine Konjunktur habe, dass diese aber in der Literaturwissenschaft noch nicht angekommen sei. Zwischen den zwei Publikationen liegt zwar ein Jahrzehnt, doch korrespondieren die Aussagen, was darauf hinweist, dass das Thema Wirtschaft in der literaturwissenschaftlichen Forschung noch nicht angekommen ist. Vgl. Pott: 2004, 202-217. Vgl. Urban: 2018, 21. Man muss feststellen, dass seit der Publikation von Poott bzw. Horvath diverse Untersuchungen zum Thema erschienen sind, die das Bild weiter nuanciert haben.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
zum Thema der Verflechtung beider Disziplinen, sind die Funde jedoch nicht so spärlich, wie ältere Arbeiten dies nahe legen. In den letzten Jahren zeigt die Literaturwissenschaft ein reges Interesse für das Thema. Zu erwähnen sind hier die Arbeiten von Iuditha Balint, die für meine Fragestellung auch aus dem Grund wichtig sind, weil auch sie Entgrenzungen im Blick haben. Dieses eher neu entstandene Interesse an ökonomischen Themen und Strukturen in der Literatur und Literaturwissenschaft täuscht vielleicht darüber hinweg, dass, wie Steinfeld nicht ohne Ironie konstatiert, in der deutschen Gegenwartsliteratur »intensiv von den Bedingungen abgesehen wird, unter denen sich längst jedes Leben vollzieht«4 . Die deutsche Gegenwartsliteratur behandelt das Thema der Wirtschaft nicht, so die Diagnose Steinfelds, als sei sie immun dagegen. Selbst wenn in Familienromanen Unternehmen und Unternehmergenerationen à la Buddenbrooks dargestellt werden, fehlen ökonomische Diskurse.5 Die Gründe für Ferne und Absenz liegen womöglich in einer allgemeinen Konstitution des Wesens von Ökonomie und Literatur in der Vergangenheit. Der literarische Diskurs sah im Ökonomischen lange Zeit einen Kontrahenten und umgekehrt. Dem Geld, dem Tauschwert von allem, stehen Konzepte des Künstlers und des Künstlerischen seit der Herausdifferenzierung beider Bereiche, des Ästhetischen und des Ökonomischen, gegenüber. Sie verweisen zugleich auf einander entgegengesetzte Wissensordnungen und Wertesysteme. Die Ferne und das gegenseitige Desinteresse sind aus dem Konstrukt Geist kontra Geld zu erklären, aus der Tatsache, dass die Welt der Literatur dem romantischen Konzept6 zufolge aus dem Nützlichkeitsdenken enthoben 4 5
6
Steinfeld: 2015, 554. Steinfeld nennt hier Nora Bossong (2012), aber auch am Roman von Reinhard Goetz (2012) wird Kritik geäußert. Selbst an avancierten Schilderungen des Wirtschaftslebens wie bei Ernst-Wilhelm Händler (2009) wird negative Kritik geübt, da die Wirtschaft zwar als unausweichlich, aber dennoch auch als verwerflich geschildert wird. Vgl. ebd., 555. Historisch gesehen beginnt Steinfeld seine Ausführungen bei Goethes Wahlverwandtschaften und geht dann auf die großen Realisten Keller, Fontane, Raabe ein und mit ihnen darauf, dass das die Zeit ist, in der das Thema der Wirtschaft ein besonderes Gewicht bekommt. Steinfeld interessiert sich aber in erster Linie für die großen Erzähler des französischen Realismus und Naturalismus. Horvath entfaltet seine Ausführungen in Bezug auf Shakespeare, Kleist und Georg Kaiser. Vgl. Horvath: 2016. Gerade die Romantik verhandelt selbstverständlich dieses Thema mit Vorliebe nicht nur im Diskurs des Taugenichtses, sondern auch im Zusammenhang mit Geld und dem Wert des Menschen. Vgl. Eichendorff: Das Leben eines Taugenichts, Chamisso: Peter Schlemihl, Tieck: Der Runenberg, Tieck: Des Lebens Überfluss etc.
5 »Etwas Ökonomie braucht ein Roman«
wird. Noch selbst nach Entstehung des literarischen Marktes, des sog. Literaturbetriebs, bleiben wirtschaftliche Themen weitgehend unberührt oder wirtschaftliche Akteure eher negativ konnotiert. Wirtschaftliche Zusammenhänge spielen selbstverständlich in einem sozialkritischen Zugang eine Rolle, indem die Literatur sich auf die Seite des kleinen Mannes stellt, oder aber, wenn Künstler und Müßiggänger als Pendants zum wirtschaftlichen Akteur, zum nach Besitz strebenden Philister inszeniert werden. Selbst für die Literatur der Gegenwart attestiert Steinfeld die Tatsache, dass der Kapitalismus zum Dämon wird, über den nicht gesprochen wird, obwohl er »groß und übermächtig« im Raum steht.7 Zum einen wird also seit dem 18. Jahrhundert eine Ferne, sogar Feindschaft zwischen den beiden Bereichen Literatur und Ökonomie diagnostiziert, zum anderen ist gerade seit dieser Zeit auch ein eminentes Interesse für bestimmte Teilbereiche des Ökonomischen in der Literatur nachzuweisen. Die Hinwendung der Literaturwissenschaft bzw. der Wirtschaftswissenschaft zu diesen Themen hinkt dieser Tatsache jedoch nach. Die Kluft ist selbstverständlich nicht nur, oder nicht in erster Linie, wegen der genannten historischen Konzeptualisierung so tief, sondern vor allem auch deswegen, weil die Ökonomik sich als ›hard science‹ darzustellen bemüht und sich so von den Humanwissenschaften abgrenzt. Vor allem seit der sog. kulturwissenschaftlichen Wende versucht man, den in der Tradition entstandenen tiefen Graben zwischen Ökonomik und Literatur, wenn nicht zu schließen, doch zumindest zu überbrücken. Es gibt vermehrt Interesse für interdisziplinäre Zugänge, dafür, dass man nach gemeinsamen Nennern u.a. auch zwischen scheinbar so entfernten Bereichen wie Literatur und Ökonomik sucht. Durch die Suche nach Vermittelndem geht es dann in erster Linie um die Erforschung kultureller Realitäten innerhalb der Ökonomik. Betont wird in diesem Kontext vermehrt, dass in der Gegenwart (eigentlich seit den 90-er Jahren des vorigen Jahrhunderts) diese Unterschiede zwischen den beiden Disziplinen gar nicht so groß sind, da im Zuge der Transformation von Ökonomik eine Annäherung, geradezu eine Verschlingung stattfindet. Manifest wird dies nicht zuletzt seit der Finanzkrise am Anfang des 21. Jahrhunderts, die zeigt, dass Realismus und Ökonomie in einem prekären Verhältnis
7
Steinfeld: 2015, 554. Das Dämonische erscheint auch im Roman, wenn von Repräsentanten der Wirtschaft als von »snakes in suits« (U 403) gesprochen wird. Darüber hinaus kann auch das Ungeheuerliche mit der Undurchsichtigkeit, mit der latenten Macht der Welt der Wirtschaft gekoppelt werden.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
zueinander stehen.8 Die »Wirtschaftstheorie hat wieder die Kultur entdeckt«, heißt es.9 Sucht man nach Gemeinsamkeiten, wird vor allem auf die historische Entwicklung und kulturelle Prägung der Disziplinen das Augenmerk gerichtet. Es geht in manchen Fällen so weit, dass in der New Economy eine Ästhetisierung der Ökonomie vonstatten geht.10 Es geht bei diesen und ähnlichen Bemühungen darum, dass man durch die Umstellung von der Old zur New Economy, worunter postfordische Organisationsformen verstanden werden, auch die Ökonomik eine Krise der eigenen Disziplin erlebt. Dies führt dazu, dass man sich auf alte Modelle besinnt oder neue sucht. Diese Transformationsprozesse werden als Krisenerscheinungen modelliert. In der Neudefinition der Ökonomie bekommen kulturelle Fragestellungen, der Wille, soziale Zusammenhänge zu verstehen, und vor Allem die Fragen nach Ästhetisierung von Arbeit11 und ganzen ökonomischen Prozessen eine akzentuierte Position. Ökonomik will sich zunehmend als eine umfassende soziale Interaktionstheorie verstehen und sucht einen Zugang z.B. zur Spieltheorie, aber auch zur Literatur, ihren Narrativen und Inszenierungstechniken. Manche ökonomischen Schulen (z.B. die New Economic Criticism in Chicago) gehen so weit, dass man Ökonomik letztendlich als Literatur verstehen muss, da beide mit Sprache und nicht zuletzt rhetorischen Techniken arbeiten.12 Nähert man sich dem Problem von der anderen Seite, von der Position der Literatur bzw. der Literaturwissenschaft, kann z.B. auf die Diskursanalyse verwiesen werden, die sich um eine Annäherung verschiedener Disziplinen bemüht. Hier betont u.a. Jürgen Link13 die Rolle der Literatur als Inter-
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Vgl. Balint, Engels, Parr: 2018, 1. Vgl. Hegmann: 2004, 11. Zu den Korrespondenzen von Kulturwissenschaft und Ökonomik vgl. Gross: 1999. Hier geht es u.a. um eine Art philosophische Annäherung an die Wirtschaftswissenschaft, und die Betonung der Ästhetisierung wird auf drei Probleme zurückgeführt: Pluralisierung und Heterogenität bzw. Fiktionalisierung. bes. 273ff. Vgl. Sutter/Flor/Schönberger: 2017, bzw. verschiedene Arbeiten von Reckwitz, auf die im Laufe der Studie noch einzugehen sein wird. Allen voran ist hier jedoch die These von der Ästhetisierung der Gesellschaft, vom ästhetischen Kapitalismus im Zusammenhang mit der Erfindung von Kreativität relevant. (Vgl. Reckwitz: 2012.) Dieses Kreative ist nach Reckwitz in erster Linie im Bereich der Arbeit und des Berufs präsent. ebd. 11. Hier wird oft von einem ›interface‹ zwischen Ökonomie und Literatur gesprochen. Vgl. Link: 2011, 433-458. Vgl. auch Link: 2008, 115-134, bes. 129-133. Auch Links Ausgangsthese ist aber, dass die Spezialdiskurse in der modernen, ausdifferenzierten Welt keine Überschneidungen, Berührungspunkte mehr miteinander haben. Um den
5 »Etwas Ökonomie braucht ein Roman«
diskurs, also als einen Diskurs, der viele andere in sich integrieren könne. Nach Link kann die Literatur als ein solcher fungieren, um eine Reintegration zu ermöglichen, Diskursgrenzen zu überschreiten. Ob also Diskursanalyse oder kulturwissenschaftliche Zugänge14 , einig ist man sich in der Forschung darin, dass – trotz der zitierten Befunde – die Literatur bei der Aufdeckung wirtschaftlicher Tatbestände und Änderungen eine wichtige Rolle übernehmen kann.15 Bauer geht so weit, dass er die Entstehung der ökonomischen Kultur mit der »Vermittlungsleistung literarischer Texte« verbindet, »indem diese die ökonomische Kultivierung von Figuren beschreiben und selbst zu analogen Prozessen bei der Leserschaft beitragen«.16 Gerade durch die Diskursanalyse bzw. kulturwissenschaftliche Zugänge gibt es eine Öffnung und Grenzüberschreitung17 der beiden Disziplinen Literatur und Ökonomie. Auch in dieser Analyse soll es um die Korrespondenzen beider Bereiche gehen, wenn dargestellt wird, wie bei Terézia Mora die Begegnung zwischen dem wirtschaftlichen und dem literarischen Diskurs inszeniert wird, indem in den Texten narrative Szenarien geschaffen werden für ökonomische Themen und für Figuren, die in diesem Kontext beheimatet sind oder zumindest darin agieren. Es geht hier also zum einen um die literarische Modellierung ökonomischer Themen, des ökonomischen Menschen. Bei der Diskussion und Erforschung solcher Themen geht es zugleich um eine Art Annäherung des Außerästhetischen an das ästhetisch kodierte Wissen
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Austausch zwischen Disziplinen zu ermöglichen, das Wissen zu kanalisieren, zugänglich zu machen, bedarf es – so Link – des Interdiskurses. Hervorgehoben werden muss hier, dass die Interdiskurs-Theorie in enger Beziehung zu der Problematik der Grenzüberschreitung und Liminalität steht. Parr geht in seinem Aufsatz auf mögliche Anknüpfungspunkte zwischen Liminalität und Interdiskurs ein. Vgl. Parr: 2008, 11-64, hier 34ff. Hier geht es in erster Linie um Interdisziplinarität, um Korrespondenzen von Literatur und Soziologie, Ethnologie u.ä.m. bzw. um die Erforschung von Semantiken der Kreativität etc. Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ging bereits auch an einen Forscher, der das Verhalten der Menschen untersucht (Verhaltensökonomik). Gerade die Verhaltensökonomik kann zahlreiche Korrespondenzen mit literarischen Texten zeigen. Vgl. Bauer: 2014, 229. Nicht zu vergessen ist hier selbstverständlich auch Bourdieus‹ Theorie des Kulturellen bzw. literarischen Feldes als ein gleichrangiger Teil der verschiedenen Felder in der Sozialtheorie. Hier wäre der Literaturbetrieb, die angewandte Literaturwissenschaft eine mögliche Korrespondenz. Diese Zusammenhänge werden aber in der vorliegenden Arbeit nicht diskutiert.
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und umgekehrt. Ein zentrales Anliegen dieser Studie ist, das Ökonomische und auch das Literarische als einen Diskursraum darzustellen, in dem Möglichkeiten des Menschseins und menschlicher Verhaltensweisen verhandelt werden können. Es soll das Augenmerk im Folgenden jedoch nicht allein auf die Modellierung ökonomischer Themen oder im Allgemeinen auf eine Ästhetisierung von Gesellschaften und ihrer Erscheinungsformen in den Texten von Mora gerichtet werden. Zur Diskussion steht auch der strukturelle Haushalt der literarischen Texte, die Erzählökonomie,18 und damit auch, wie menschliche ökonomische Verhaltensweisen mit narrativen Logiken korrespondieren.
5.2
Transformationen und Krisen in Ökonomie und Literatur
Das Augenmerk muss bei der Erörterung des Themas nicht allein auf die thematisch-motivische Erscheinung wirtschaftlicher Themen, sondern auch darauf gerichtet werden, dass in literarischen Texten Figuren, Berufe etc. Vertreter einer ökonomischen Welt sind. Balint beschreibt, das Thema betrachtend, ökonomische Poetiken, indem sie darauf hinweist, dass sich die Ökonomie sehr häufig mit der Lebenswelt verquickt und dadurch im Allgemeinen die »Ökonomisierung der Lebenswelt«19 festzustellen ist. Da wir es mit einem kulturellen und textuellen Phänomen zu tun haben, das auch von poetologischen Praktiken hervorgebracht wird, kommen noch ganz andere Zusammenhänge des Problems in den Blick. Analysiert man kulturelle Praktiken, die auch die Ökonomie beinhalten, erkennt man, dass Literatur und Textualität dabei beteiligt sind.20 In diese Reihe ließe sich sicher Moras Trilogie einordnen, denn sie inszeniert ökonomische Modelle, verweist thematisch auf die New Economy Blase, beschäftigt sich mit dem Motiv des Geldes und reagiert auf ökonomische Änderungen, vor allem auf die damit zusammenhängenden Arbeitswelten.21 Hervorzuheben ist dabei, dass die Texte dies nicht nur auf der motivisch-thematischen Ebene tun, sondern Erzählverfahren entwickeln, die Ökonomisches in die Narration umcodieren. Die möglichen Felder, 18 19 20 21
Vgl. Urban: 2018, 8. Balint: 2014, 199. Bauer: 2014, 224. Auch wenn es hier um Moras Trilogie geht, muss darauf verwiesen werden, dass diese Zusammenhänge auch für den Erzählband Die Liebe unter Aliens, aber auch auf die früheren Texte, wie Alle Tage, oder den ersten Erzählband geltend gemacht werden können.
5 »Etwas Ökonomie braucht ein Roman«
die in Moras Romantrilogie als Korrespondenzen im Bereich von Wirtschaft und Literatur erforscht werden könnten bzw. sollten22 , sind, wie Ökonomie in den Texten erscheint, wie und mit welchen ökonomischen Problemen sich der Text auseinandersetzt. Denn gerade die Sparte der Mikroökonomik, worin die Institutionenökonomik enthalten ist, spielt in den Romanen von Mora eine zentrale Rolle. Wichtig können aber auch makroökonomische Fragen sein wie Arbeitslosigkeit und Wachstum oder Fragen von Kooperation bzw. Macht etc. Ökonomische Sachverhalte werden überformt, womit die Texte über den unmittelbar gegebenen Kontext hinausgehen. In den Romanen der Trilogie werden, und das bildet einen wichtigen Pfeiler der Studie, komplexe ökonomische Zusammenhänge modelliert23 , die Krisenerfahrungen in den Fokus rücken und ökonomische Krisen mit narrativen Modellen, mit dem Narrativum der Krise24 verflechten, in denen Krise also nicht allein als Sujet, sondern auch als Erzählmuster dominant wird. So wäre gerade der Umgang mit Krisen aller Art ein Überschneidungspunkt zwischen den zwei Bereichen, denn die »New Economy Blase« (EM 9) und der damit verbundene »Crash« (EM 12) stehen pars pro toto für die ganze Romanhandlung. Dies gilt nicht zuletzt auch deswegen, weil der »wirtschaftliche[…] Boom[…]« (EM 9) sich erst im Nachhinein als Blase, als virtueller Aufschwung entpuppt, und so Boom und Crash unzertrennlich miteinander verzahnt sind. Diese Krise wird im liminalen Bereich zwischen Ordnungen angesiedelt, ökonomische Entwicklungen werden als unidentifizierbar ausgestellt, gerade weil Fiktionen auf Kosten von Fakten dominant werden. Immer mehr wird dadurch die Fiktionalität wirtschaftlicher Prozesse vor Augen gestellt. In dieser Szenerie wird die Fiktion, die eigentliche Heimat der Literatur, auf den ökonomischen Bereich übertragen, wodurch sich zahlreiche Korrespondenzen auftun. Hingewiesen wird z.B. auf den Sprachgebrauch der Wirtschaft und seinen trügerischen Charakter, Dinge und Erscheinungen von Fakten und empirischer Realität
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Horvath weist auf eine Studie Joseph Vogels hin, in der ausführlich die Korrespondenzen von Literatur und ökonomischem Diskurs für das 17., 18. Jahrhundert aufgedeckt wurden. Vogel weise hier nach, dass Literatur, der Roman, das Theater eine wichtige Rolle spielen in der Entstehung von Wissensordnungen der Zeit. Vogel zeigt, wie Horvath darstellt, eine Affinität von erzählerischen und ökonomischen Ordnungen auf (Horvath: 2011b, 15). Selbstverständlich können diese hier nicht im Einzelnen dargelegt werden, ausgearbeitet werden im Folgenden nur bestimmte Aspekte dieses komplexen Problemzusammenhangs. Vgl. Hülk: 2013, 113-132.
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abzukoppeln, Blasen mit ›schönem Schein‹ gefüllt herzustellen. Literarische Inszenierungen Moras zeigen gerade durch diese Korrespondenzen, die Verflechtungen von Wirtschaft und Literatur, aber auch, dass bei der sich als hard science definierenden Ökonomie Fiktionen die Fakten verdrängen, so dass von einer Ästhetisierung der Ökonomie gesprochen werden kann. Es geht im Zusammenspiel von Wirtschaft und Literatur auch gerade in Bezug auf inszenatorische und erzählerische Strategien um die narrative Vermittlung wirtschaftlicher Diskurse. Die Frage der Virtualität verbindet den ökonomischen Diskurs hier darüber hinaus auch mit der Frage nach der neuen Medienwelt, mit der »Technologiegesellschaft« (EM 81), wofür der ITFachmann steht. Ein weiterer zentraler Angelpunkt der Fragestellung dieses Kapitels ist aber auch, wie Arbeitswelten modelliert werden und welche Subjektkonzepte in der die Romane prägenden, postindustriellen, postfordischen Ära auf den Plan gerufen werden. Gerade Subjekt- und Handlungskonzepte, die Frage des Helden, Krisennarrative, Kontingenzbewältigungsstrategien werden hier relevant, die in literarischen Texten modelliert, gestaltet und ausagiert werden können, und die in Moras Büchern einen basalen Reflexionsgegenstand bilden. Die Arbeit, der die Figuren in den Texten nachgehen, spielt eine zentrale Rolle im Gesamtkontext des Erzählens. Selbst wenn sich die Figuren durch Nicht-Arbeit auszeichnen, wie der Bäcker in Seltsame Materie, symbolisieren sie dadurch eine Haltung, nämlich eine Haltung der Verweigerung. In diesem Erzählband und auch im ersten Roman, Alle Tage, sind die Arbeiten eher allegorisch zu verstehen: Fischer, Fremdenführerin und Dolmetscher(in), Verkäuferin oder Soldat sind alle Typen, die z.B. für die Begegnung mit dem Fremden stehen. Oder sie symbolisieren eine Haltung, in der es darum geht, nur zu vermitteln, wie der Dolmetscher, also keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Auf die Arbeitswelt und den ökonomischen Diskurs fokussieren die drei letzten Romane Der einzige Mann auf dem Kontinent, Das Ungeheuer und Auf dem Seil, aber in vieler Hinsicht auch die Erzählungen aus Die Liebe unter Aliens. Ein neuer Modus des Arbeitens erscheint zeitweise im letzten Roman, Auf dem Seil, da hier mit dem Pizzabäcker traditionelle körperliche Arbeit und die Materialität der Ressourcen rekapituliert wird. Auch hier geht es dann doch eher um Nicht-Arbeit, denn die Tätigkeit des Protagonisten konzentriert sich darauf, dass eine Arbeit gesucht wird. Die weibliche Figur wiederum zeichnet sich durch eine Verweigerungshaltung aus. Gerade die Suche nach Arbeit bringt aber in diesem letzten Roman der Trilogie die Verflechtungen von ökonomischen und literarischen Wissensformen und Diskursen zum Vorschein.
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Dargestellt werden soll im Folgenden die Problematisierung von Erwerbstätigkeit und Wirtschaft. Gezeigt werden soll, dass auch diese Lebensbereiche durch das Liminale geprägt sind. Gerade der ökonomische Diskurs der Romantrilogie leistet einen wichtigen Beitrag zur Grenzverwischung und dazu, dass Liminalität als ein allgemeiner Zustand der Lebenswelt der Figuren identifiziert werden kann, die zugleich maßgeblich von ökonomischen Prozessen geprägt ist. Vieles geht über das Wörtliche hinaus und verweist auf einen übergeordneten Rahmen. Literatur ist damit imstande, die ganze Vielschichtigkeit und Komplexität zu transportieren, die mit den Mitteln der ökonomischen Theorie kaum zum Ausdruck gebracht werden könnte. Durch symbolische oder allegorische Darstellung werden verborgene Mechanismen offen gelegt, so dass individuelle und gesellschaftliche Konflikte, soziale Missstände oder moralische Dilemma-Situationen umso deutlicher hervortreten.25 Horvath stellt fest, dass die Wirtschaftskrise 2009 einen interdisziplinären Dialog zwischen Ökonomie und Literatur geradezu herausgefordert hat. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang ins Blickfeld rückt, ist das Problem, wie Literatur mit Krisenerscheinungen und Übergangsphasen umgeht. Da Moras Texte Krisenerscheinungen aller Art inszenieren, was hier unter dem Begriff der Liminalität subsumiert und dadurch konzeptualisiert wird, überrascht es nicht, dass auch die Wirtschaftskrise, aber auch andere Krisen, die einen ökonomischen Hintergrund haben (können), bzw. die Transformationen von Gesellschaften und dadurch von Wissensformen und Vorstellungen eine zentrale Rolle spielen. In Moras Texten werden narrative Szenarien geschaffen für ökonomische Themen und Figuren. Gekoppelt wird dies damit, dass Charakteristika von Transformationsgesellschaften im Fokus stehen, bzw. dass verstärkt auf den gesellschaftlichen und sozialen Wandel unserer Zeit fokussiert wird. Die Gesellschaft wird eindeutig als Transformationsgesellschaft markiert, in der die ökonomische Sphäre sehr stark von Übergang und Wandel geprägt ist und somit als Modell herhalten kann für die Darstellung gesamtgesellschaftlicher 25
Vgl. Horvath: 2016, 27. Charakteristisch für Moras Texte ist auch im Allgemeinen eine Ununterscheidbarkeit von eigentlichem und uneigentlichem Sprechen, oder von konkreten und figurativen Lesarten, was zu einer Bedeutungsexplosion, ja geradezu zu einer Unausdeutbarkeit führt, da zufolge des uneigentlichen Sprechens ständig zahlreiche Kontexte aktiviert werden, die die Bedeutung unendlich auffächern. Der Sprachgebrauch inszeniert einen Seiltanz an der Grenze zwischen normaler und figurativer Lesart, wodurch Bedeutungszuordnungen sich gegenseitig auslöschen.
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Wandlungsprozesse. Zugespitzt erscheint dies in Das Ungeheuer während der Reise Kopps durch Osteuropa. Hier sind viele Länder analog zur DDR nicht einfach auf dem Weg aus dem einen Wirtschaftssystem in das andere, aus der Plan- in die Marktwirtschaft bzw. aus Sozialismus in den Kapitalismus, denn zentral ist, dass zahlreiche Länder vor kurzem erst entstanden sind, indem sie sich aus größeren Einheiten wie Jugoslawien oder der Sowjetunion abspalteten. Die DDR, Jugoslawien, die Sowjetunion lösen sich auf, ihre Grenzen verschwinden bzw. neue Grenzen entstehen durch Inkorporation oder Abspaltung, wodurch ganze Landkarten in Bewegung geraten und die Länder in vieler Hinsicht zu Übergangsgesellschaften werden, in denen sich alte Strukturen auflösen und neue im Entstehen begriffen sind, sich aber wegen des ständigen Wandels nicht mehr herauskristallisieren können, opak bleiben.26 In diesen ehemaligen Ostblockstaaten als Transformationsgesellschaften stehen u.a. Fragen der neu gewonnenen »Unternehmungsfreiheit« (EM 99) und damit der Handlungsfähigkeit des Menschen im Rahmen des ökonomischen Diskurses zur Diskussion. Die Gewinner der Wende sind nämlich die, welche die gewonnenen Freiheiten nutzen konnten und sich nicht der »Angststarre und der rückwärtsgewandten Lethargie« hingeben (EM 101). Gerade damit im Zusammenhang werden Kopps Eltern einander diametral gegenübergestellt: er baut Wege, sie kann keinen Schritt tun. Der Vater, der unternehmungslustige Gewinnertyp,27 und die Mutter, die, wie gelähmt, sich in Passivität zurückzieht und nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Kopp identifiziert sich eher mit seiner Mutter, und die Begegnungen mit seinem Vater sind Störungen, da der Vater ihm einen Spiegel vorhält, in den Kopp nicht gerne blickt. Bewegungs- und Unternehmungsfreiheit stehen eng gekoppelt mit Grenzen bzw. Grenzauflösungen im Fokus, die aber auch in Erinnerung rufen, dass die grenzenlose Freiheit nicht zu realisieren ist. Der ökonomische Diskurs spielt auf verschiedenen Ebenen eine herausragende Rolle: Wenn bei Mora ökonomische Vorstellungen literarisch verarbeitet werden, geht es auch um Fragen von Werteorientierung, um Moral und Ethik. Der Einzige Mann auf dem Kontinent schreibt sich in die Tradition des
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Vergessen werden darf hier aber auch die Tatsache nicht, dass, wie Reckwitz zeigt, auch die westeuropäischen Gesellschaften sich in einer Situation des liminalen Übergangs befinden zwischen zwei unterschiedlichen wirtschaftlichen Modellen. Vgl. Reckwitz 2012. Einige Jahre später, in Auf dem Seil, ist aber auch der Vater krank, wird starr, ist in seiner Bewegungsfreiheit eingeengt.
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Kaufmannsromans ein. Mit Darius Kopp als Salesmanager wird hier der Urtyp der ökonomischen Figur, der Kaufmann, in Szene gesetzt. Charakteristisch ist darüber hinaus, dass seine Tätigkeit sehr vage ist und von nicht zu kontrollierenden Faktoren bestimmt wird. Hier geht es um einen Salesmanager einer postklassischen Organisation, der nicht nur verkaufen, sondern alles auch organisieren muss. Er ist ein Einzelgänger, auf sich gestellt, allein gelassen, (fast) ohne Rückkoppelungen zum Unternehmen bzw. ohne direkte, unmittelbare Beziehung zu den meisten Kunden oder Partnern. Auf der Figuren- und der narrativen Ebene, in den narrativen Szenarien bekommt auch der Unternehmer, derjenige, der handelt, autonom und souverän ist, eine zentrale Rolle. Der Manager steht hier auf dem Plan als derjenige Typus von Menschen, der agiert, mit eigenen Händen etwas tut, plant, realisiert, kontrolliert etc.28 Er verfügt demnach über planerische, organisatorische und, da es hier um einen Salesmanager geht, auch über ausgezeichnete kommunikative, rhetorische Kompetenzen. Diese Charakteristika des Jobs korrespondieren mit der Gesamtstruktur der Bücher, mit dem Verharren im Dazwischen, mit der Grenzverwischung. Kopp ist aber auch in anderer Hinsicht nicht der klassische Manager-Typ, denn er ist nicht der aktive, handelnde Held, sondern vielmehr einer, der den Mund ganz weit öffnet, »damit ihm […] gebratene Krammetsvögel hineinfliegen« (EM 9). Die Vorstellung eines Schlaraffenlandes wird hier evoziert, eines utopischen Zuhauses für Faulenzer und Müßiggänger. Kopp fühlt sich trotz Kündigungen und Krisen wie in diesem Schlaraffenland, und erst das Verschwinden und dann der Tod seiner Frau bringen ihn aus diesem Gefühl heraus. Die Präsenz des ökonomischen Diskurses stellt an sich schon Szenarien her, die auf verschiedenen Ebenen den Übergang akzentuieren und die Bücher Moras dadurch verstärkt im Liminalen situieren. Die traditionellen Grenzen und Strukturen der Kaufmann- und Managerfigur sind in der postindustriellen Zeit verschwunden, der Typus befindet sich im Wandel, in dem sich noch keine neue Struktur herauskristallisiert hat. Wegen des ständigen Wandels und gleitenden Übergangs der wirtschaftlichen Akteure, der dauernden Auflösung von Arbeitswelten ohne die Entstehung neuer, fester Umrisse, gerät alles in Bewegung ohne einen festen Punkt.
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Anders kontextualisiert entspricht dieser Typus dem Märchenhelden, der auch eine zentrale Figur bei Mora ist. Reflexionen dazu finden sich vor allem in der Frankfurter Poetikvorlesung.
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Die Texte können im Allgemeinen auch als Sozialkritik gelesen werden, die am konkreten Einzelfall wirtschaftliche und gesellschaftliche Erscheinungen veranschaulichen und dies aus der Perspektive des Alltagsmenschen tun. Man kann nicht sagen, dass dieser Mensch, Kopp, aber auch die meisten anderen Figuren der ›kleine Mann‹ oder Loser (EM 15) sind, denn die Hauptfigur befindet sich auch in diesem Bereich im Dazwischen, da er sich für den sympathischen Mitarbeiter, für den Gewinner hält, wobei er letztendlich doch zu den Verlierern gehört. Als IT-Fachmann gehört er in der Technologiegesellschaft zu den eigentlichen Erfolgsmenschen, in Wirklichkeit befindet er sich in einer Dauerkrise. Gerade in diesem Sinne wird das latente Losertum (AS 173, 227) im letzten Roman zum wichtigen Reflexionsgegenstand. Gerade dieses Doppel von Schein und Realität gehört mit zu den wichtigsten Reflexionsgegenständen der Bücher Moras und der Korrespondenzen von Wirtschaft und Literatur. Zugespitzt wird die liminale Phase noch durch die Ununterscheidbarkeit, Nichtidentifizierbarkeit des Einen bzw. des Anderen durch Unterstützung moderner Medien. Mit »einem taufrischen Informatikdiplom in der Tasche« scheint man vor einer »wunderbare[n] Zukunft« (EM 8) zu stehen. Darius ist »mittendrin« (EM 9), heißt es, und dieses Mittendrin ist nicht nur der Wortbedeutung nach das Zentrum, sondern auch ein Schlüssel, das Zentrum des Textverständnisses. Denn Darius ist nicht allein mittendrin im Leben und im Prozess des (scheinbaren) wirtschaftlichen Aufschwungs. Das Mittendrin kann als Zeichen des Liminalen gedeutet werden, als Seiltanz an einer Grenze, von der aus Boom im Nu in Crash, Erfolg in Niederlage, Gewinn in Verlust, Gelingen in Scheitern usw. umkippen kann. Der »Beginn des goldenen Zeitalters« wird verschoben (EM 12), Trunkenheit kippt um in Ernüchterung, und das Buch ist gebrandmarkt von diesem Kipp-Phänomen, was mit dem Liminalen des Mittendrin auf den Punkt gebracht wird, und was etwas spielerisch auch das Kopp-Phänomen genannt werden könnte, von dem die Romane der Trilogie handeln. Die Verschiebung des goldenen Zeitalters hat zugleich narrative Konsequenzen, denn mit dieser Aufschiebung läuft eine Erwartungshaltung einher, die fortwährende Bewegung des narrativen Prozesses zwischen Scheitern und Gelingen, Eintreffen oder Verschiebung.
5.3
Ökonomie und posttraditionelle Lebenswelten
Ökonomie ist nicht einfach als textimmanente Erscheinung des Themas Arbeit zu sehen, sondern als ein vielfältiger Diskurszusammenhang aufzufas-
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sen, der auch ästhetische Dimensionen hat.29 Ein Hauptakzent der Untersuchung liegt aber auf der Thematisierung von Arbeitswelten, auf die sich das interpretatorische Interesse im Folgenden richten soll. »Ein Roman, in dem das Geldverdienen keine Daseinsbedingung ist, tendiert zur Operette, und sei’s zur schwarzen.«30 Diese Ansicht aus einem Essay von Martin Walser weist wieder auf ein Charakteristikum der deutschsprachigen Literatur hin, nämlich auf ihre »Arbeitsscheu« oder sogar »Arbeitsabstinenz«31 . Heimburger nennt einige Gründe, die dazu beitragen können, dass abgesehen von der sog. Arbeiterliteratur der 70-er Jahre das Thema der Arbeit in der Literatur textimmanent kaum eine Rolle spielt. Die Arbeitswelt biete keinen literarischen Stoff, heißt es, da sie nicht mit Abenteuer verbunden, sondern monoton sei. Außerdem sei die moderne Arbeitswelt kompliziert, und da Autoren, im traditionellen Sinn, nicht ›arbeiten‹, können sie sich in diesem Thema auch nicht auskennen. Eine Änderung sei nach Heimburger jedoch in der Gegenwartsliteratur zu verzeichnen.32 Auch Vedder berichtet von der Rückkehr »eines längst etablierte[n] aber Jahrzehnte marginalisierte[n] Sujets.«33 Bauer weist wiederum, und damit können diese Feststellungen noch ergänzt werden, darauf hin, dass die Thematisierung der Arbeit oft die Skizzierung von Gegenentwürfen bedeutet, das Aufzeigen einer Welt jenseits ökonomischer Bedingungen.34 Das Thema Arbeit sei also auch als Protestnarrativ zu verstehen, wenn dadurch z.B. eine Subkultur, Außenseiter, Aussteiger akzentuiert werden35 , wo also eher eine Verweigerungshaltung36 im Fokus steht. Dies trifft auf einige Phasen aus dem Leben von Darius Kopp zu, kann aber auch für Flora bzw. Lore als charakteristisch angesehen werden kann. Um das Untersuchungsfeld weiter abzustecken, soll nun zuerst ein Blick auf die Änderungen in der Ökonomie geworfen werden, die die Wahrneh29 30 31
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Bauer: 2014, 223. Walser: 1994, 45. Vgl: Heimburger: 2010, 17, 22. Erwähnt werden kann hier z.B. der Künstlerroman, der sich bewusst vom Thema abwendet. (Vgl. ebd. 4, 40). Man denke nur an die Konflikte der Philister und des Künstlers in der Romantik, etwa in ETA Hoffmanns Werk. Heimburger: 2010, 12. Vedder: 2016, 63. Bauer: 2014, 230. Balint: 2017, 10. Die Verweigerungshaltung von Loreley im letzten Roman hat andere Gründe. Ihr allgemeiner Rückzug kann aber auch als Protest gegen die Machenschaften in der Familie gesehen werden.
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mung und die kulturellen Praktiken im Allgemeinen maßgeblich verändert haben bzw. verändern. Dass es bei der Präsenz des Themas in der Literatur zu einer Wende kommt, hängt nach Heimburger einerseits damit zusammen, dass sich die Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten stark ändert und das »Primat der Ökonomie in der Welt […] die Literatur heraus[fordert]«37 . Andererseits finden in der Arbeitswelt »enorme Transformationen statt,38 die z.B. durch den Eintritt in das Informationszeitalter bedingt sind. Die gegenwärtige Risikogesellschaft rechnet mit den Bedingungen der Industriegesellschaft, mit dem sog. Fordismus39 , ab und wendet sich multidimensionalen Berufsbildern zu. Charakteristika dieser neuen Welt seien Innovationsdynamik,40 die Vielfalt von Waren statt Massenproduktion, ein schnelles Verfallsdatum von Waren und sog. flache Hierarchien41 , die einen Zugewinn an individueller Freiheit bedeuten. Im Fokus stehe überall die Vernetzung, man arbeite in Projektform, denn so brauche man schlankere Unternehmen und könne schneller auf Kundenbedürfnisse reagieren. Besinnt man sich auf die Argumentation von Reckwitz, können die Akzente auch anderswo liegen, denn Reckwitz macht sich dafür stark, dass die Transformation der Ökonomie in erster Linie nicht mit den technischen Änderungen einhergeht, sondern aufs Engste mit kulturellen Prozessen verbunden sei, allen voran damit, dass Kreativität42 zum maßgeblichen Movens von westlichen Gesellschaften wurde. Diese Änderungen inszeniert der erste Roman der Trilogie Moras. Der ökonomische Diskurs, aber eigentlich die ganze Romanhandlung, pendelt in Der einzige Mann auf dem Kontinent auch ständig im Zwischenbereich zwischen Witz und Ernst, also Realität und Erfindung. Die Darstellung der Welt der Wirtschaft geschieht durch einen Witz: »Lass uns ein Joint-Venture aufmachen, sagt das Huhn zum Schwein. Ham and eggs. Ich liefere die Eier und du …« (EM 13). Dieser Witz ist hier zentral, denn ein Hauptthema sind die 37 38 39
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Heimburger: 2010, 42. Ebd., 51. Zum Fordismus vgl. auch stellvertretend Reckwitz: 2006, 2012. Im Allgemeinen werden fordistische Arbeitsregime mit der traditionellen Herstellung von materiellen Gütern, mit geregelten Arbeits- und Freizeiten, mit getrennten Arbeits- und Privaträumen, mit hierarchischen Strukturen und grundsätzlich mit Rationalismus und Standardisierung gekoppelt, mit Basisökonomischem, mit körperlicher Arbeit und Materialität der verwendeten Ressourcen verbunden. Vgl. Heimburger: 2010, 52, vgl. auch: Sutter/Flor/Schönberger: 2017, 7ff. Ebd., 53. Reckwitz spricht hier zum einen von einem »Kreativitätswunsch«, zum anderen von einem »Kreativitätsimperativ«. Vgl. Reckwitz: 2012, 9ff, 12.
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Fusionen und die Ungleichheit der Akteure in der heutigen Weltwirtschaft. Es geht um Firmen, die weltweit nur noch als Joint-Ventures agieren, was dazu führt, dass sie ständig verschwinden, umbenannt und Teil von anderen werden und so unidentifizierbar bleiben, und mit denen sich demzufolge auch die Arbeitnehmer nicht identifizieren können. Der immerwährende Prozess von Auflösung und Zusammenschluss, der gleitende Übergang, das Verschwinden von Grenzen ist gekoppelt mit Krisen, die durch Kündigungen entstehen, die aber durch After-Work-Partys verharmlost werden. Doch selbst wenn man behalten wird und lange in einem Büro sitzt, ändert sich die Firma, der Arbeitgeber ständig über den Kopf der Angestellten oder der Mitarbeiter hinweg. Einige solche Prozesse werden im Roman angesprochen und zeigen eine kaum noch nachvollziehbare Verwicklung und die Unmöglichkeit von Grenzziehungen und Identifizierungen. Vor zwei Jahren verkaufte ein gewisser Seppo Salonen seine Firma Eloxim, die er erst 7 Jahre zuvor gegründet hatte, an die Konkurrenz […]. Der neue Besitzer entließ die gesamte Eloxim-Belegschaft. Das hatte nichts mit unserer Person oder unserer fachlichen Kompetenz zu tun […]. Das mag im Fall von Darius Kopp auch nicht anders gewesen sein, nur, dass man ihn als Einzigen nicht feuerte, sondern ihm die Leitung des »gemeinsamen« Büros für das deutschsprachige Mitteleuropa sowie Osteuropa anvertraute. […] Sales and regional sales manager Darius Kopp in the D/A/CH region and Eastern Europe, in Diensten von Fidelis Wireless, the global pioneer in developing and supplying scalable broadband wireless networking systems for entreprises, governments and service providers. TURN TO US. (EM 23. Herv. im Orig.) Das so lückenlos Heruntererzählte ist jedoch – worauf der Witz verweist – nicht so harmlos, wie es scheint. Diese als Normalität hingestellte metamorphotische Bewegung des ständigen Übergangs ist mit zahlreichen existenziellen Krisen verbunden. Nur der Witz zeigt, wie einst der Hofnarr, die Wirklichkeit. Er fungiert als Ventil für das Verschwiegene, für all das, was unter oder hinter der schillernden Oberfläche zu finden ist. Fidelis, die neue Firma, bietet Kopp einen Vertrag, »angestellt« (EM 121, im Orig. kursiv) ist er aber nicht, sondern ist in einem undefinierbaren grauen Bereich, nachdem das alte Büro aufgelöst und das neue errichtet wurde. Es werden keine Arbeitgeberanteile gezahlt, kein Gehalt, sondern ein Honorar (EM 122, im Orig. kursiv), und alles ist eher inoffiziell und nicht-transparent. Man ist »freier Mitarbeiter« (EM 122), der »korrekte Weg« wird von beiden Seiten nicht eingehalten und, wie es sich entpuppt, ist Kopp ein »Nullsum-
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menspiel« (EM 123). Er spricht von Moral und Vertrauen (EM 124, 125), die Firma ist aber wie eine ferne abstrakte Macht, und demzufolge sieht man die anderen Mitarbeiter, mit denen man »an einem Strang« zieht (EM 148), sporadisch zu Sales Meetings (EM 148), wo sie keine Identität bekommen können und auch deswegen metonymisch nur »Nasen« (EM 148) genannt werden. Bei diesen Treffen wird auch die »wahre Geschichte der Firma« (EM 147. Herv. i. Orig.) erzählt, denn die Geschichte ist »ebenso der hohe Mythos der Corporate History« (EM 147), die Geschichte von Sam und Dan, die während einer Tequila-Party Fidelis gründen, da Sam ein Access Point entwickelt hat. Die Firma wird also auf eine Innovation aufgebaut, da aber schon seit langem keine originellen Ideen mehr kamen, ändert man die Strategie: »Fällt dir nichts mehr ein, kauf‹ dir welche, denen etwas eingefallen ist, oder […] kauf sie einfach vom Markt weg« (EM 147-149). Auch der alte Eigentümer hätte mit der Firma Eloxim reich werden können, »aber das wäre Arbeit gewesen und Risiko, nicht alle sind wir dafür prädestiniert« (EM 149. Herv. i. Orig.). Es geht also darum, dass man reich und erfolgreich werden möchte ohne Arbeit und Risiko, so ist das Leben (EM 149). Dargestellt wird eine Welt, in der diese Auffassungen und Maßstäbe herrschen, und eine Welt, die sich eigentlich ständig im Fiktionalen bewegt, Mythen, also der Fiktion nahe stehende narrative Muster produziert als Bewältigungsstrategie. Für die »unerfüllbaren Vorgaben« werden als Austausch »astronomische Boni« versprochen, damit man »den Rest des Quartals zwischen Panik und gieriger Hoffnung schwanken« kann (EM 148). Man scheint demnach in einer utopischen, fiktiven, virtuellen Welt zu Hause zu sein, in einer Welt, in der nicht Fakten, sondern Gerüchte, Mythen, Märchen die Geschehnisse beeinflussen, wie bei den Aktienoptionen, bei denen Kopp bei »700000 virtuellen Dollar angekommen« war, als alles zusammenkrachte (EM 10). In der Welt der Wirtschaft, wie sie im Buch dargestellt ist, gibt es nichts Reales mehr bzw. es ist nicht mehr zu unterscheiden zwischen Realität und Schein. Man ist mittendrin, an der Grenze beider Bereiche und so auch im liminalen Zustand zwischen Hoffnung und Panik. Gezeigt wird hier aber auch, dass die Wirtschaft mit Modi der Literatur, mit Fiktionen und Narrativen agiert. Die Geschichte der Firma ist kurz zusammengefasst: Eloxim wird von Fidelis gekauft, und Fidelis schließt sich mit Opaco zusammen (EM 282f). Die Namen der Firmen sind sprechende Namen und zeigen, dass alles sich in Richtung Undurchsichtigkeit bewegt, alles wird opak. Das erste könnte als Heilungsmittel (Eloxim) wirken gegen Schmerzen, der zweite evoziert noch Treue (Fidelis), denn auch Kopp möchte loyal (EM 23) sein, alles wird jedoch, korrespondierend mit der allgemeinen
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Struktur des Romans, von Opazität (Opaco) bedroht, und in der alles umgreifenden Intransparenz kommt es zu einem allgemeinen Identitätsverlust. In Der einzige Mann auf dem Kontinent dominiert der ökonomische Diskurs offensichtlich, er spielt auch in Das Ungeheuer eine zentrale Rolle und erscheint in einer neuen Perspektivierung auch in Auf dem Seil. Obwohl die Hauptfiguren in den letzten drei Romanen im traditionellen Sinne nicht mehr oder kaum noch arbeiten, bildet diese Thematik einen wichtigen Reflexionsgegenstand auf verschiedenen Ebenen des Textes. Schon in den ersten zwei Teilen der Trilogie haben die Hauptfiguren, Darius und Flora, mehrfach ihren Job verloren und auch einen neuen gefunden, im ersten Band scheint es, als ob Darius nichts anderes tun, nur arbeiten würde, obwohl er in Wirklichkeit kaum arbeitet. Im zweiten Band reflektiert er aus einer zeitlichen und räumlichen Distanz, als eine Art Aussteiger, auf diese Zeit. Er betrachtet sich nicht als Aussteiger, sondern euphemistisch nur als einen Reisenden, der eine Pause macht. Obwohl seine Einstellung zur Arbeit sich ändert, nimmt er keine Gegenposition, sondern eigentlich gar keine Position ein und verharrt, auch was dieses Thema anbelangt, im Dazwischen. Flora ist diejenige, die eine eindeutige Opposition zu der Arbeitswelt entwickelt und als Aussteigerin zu betrachten wäre. Auch über ihre Einstellungen erfahren wir im zweiten Band viel. Dies geschieht z.T. anhand ihrer Notizen oder durch Kopps Erinnerungen. Obwohl sie in der Arbeitswelt in vieler Hinsicht einander entgegengesetzte Positionen einnehmen, gibt es doch zahlreiche Korrespondenzen in ihrer Beziehung zur Ökonomie und Arbeit. Was das augenfälligste ist, ist die Tatsache, dass auf den ersten Blick Darius der Gewinner und Flora der Verlierer ist. Darius Kopp kann als IT-Fachmann alle Vorteile seiner Branche genießen, während Flora sich mit schlecht bezahlten kleinen Jobs herumschlägt. In ihrem Milieu geht es auch explizit um Ausbeutung und Missbrauch oder Entwürdigung, wenn sie als Übersetzerin, Assistentin oder Kellnerin ihren Chefs offensichtlich untergeordnet ist, die das ausnutzen. Alle Jobs sind so, dass man »flexibel, mobil und motiviert« (EM 484) sein sollte, gerade das ist es aber, was sie beide überfordert. Die Thematik von Arbeit bzw. Ökonomie ist eng mit dem Problemkreis der Liminalität verbunden. Ein Grund ist, dass beide Protagonisten immer wieder arbeitslos werden und neue Jobs suchen. Darüber hinaus ist Darius im zweiten Band nach eigenem Bekunden gerade in einem Übergangsstadium. Selbst wenn die Protagonisten arbeiten, ist nichts beständig, sondern alles im unendlichen Wandel. Sie bekommen ihre Jobs auf begrenzte Zeit,
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und selbst die Unternehmen befinden sich im ständigen Übergang. Sie bilden Joint-Ventures, werden aufgekauft und eingeschmolzen und deswegen auch umgetauft, sind nicht identifizierbar. Die Arbeitnehmer werden versetzt oder bekommen neue Arbeitsbereiche. Die Reihe könnte noch fortgesetzt werden, aber selbst, wenn man nicht alle Einzelheiten auflistet, ist klar, dass der Wandel, die Bewegung den allgemeinen Zustand ausmacht. Zwar wird der Job (U 53) oder bei Flora die Arbeit im Garten und auf Feldern als Rettung gesehen, doch kann den Protagonisten die Arbeit keinen richtigen Halt geben. All dies wird Darius jedoch erst aus der Distanz klar. Im ersten Band, solange er ›drin‹ ist, bleiben diese Zusammenhänge verdeckt. Erst während der Reise, indem er von seinem früheren Leben Abstand gewinnt, sieht er klarer. Ein wichtiger Pfeiler seiner Identität ist, dass er IT-Spezialist, »gut verdienender engineer mit entsprechender Vollausstattung an Technik und Lifestyle« (U 89. Herv. i. Orig.) ist, was mit »Reichtum« und »Optimismus« (U 89) verbunden ist. Flora hat dagegen eine »Reihe von Scheißjobs« (U 91). Darius ist konkreter als sales engineer »seit zwei Jahren mutterseelenallein in einem 12 qm großen Arbeitskabuff in der ersten Etage eines sogenannten Businesscenters«, eben der »einzige Mann auf dem Kontinent« (U 205). Er soll technisch gute, aber für Osteuropa teure Geräte verkaufen, die etwas mit drahtloser Netzwerkkommunikation zu tun haben. Seine Kunden kennt er aber nur als »Telefonstimmen«, sein direkter Vorgesetzter ist in London, er selber in Berlin (U 205). Einmal haben sie sich auch persönlich getroffen, und einmal im Monat redeten sie per Telefon. Da ging es um einen »forecoast«, also die Planung dessen, was Kopp in den nächsten Wochen verkaufen wollte. Dies wird hier, wie schon im ersten Band, einfach »Märchen«, etwas Unwahres genannt. Dass nichts mehr funktioniert, wird klar, denn weder Kopp entspricht den Erwartungen der Firma, da er nichts macht, noch entspricht die Firma der Erwartung der Kunden, da sie nichts liefert (U 205). Zu dem Arbeitsverhältnis gehört, dass Kopp seit Monaten in London niemanden erreichen kann, und es ist klar, dass es die Firma eigentlich gar nicht mehr gibt (U 206). Diese Passagen rekapitulieren also die Tatbestände, die wir aus dem ersten Band bereits wissen oder ahnen, die Darius aber dort noch nicht wahrnehmen wollte. Erst der Perspektivenwechsel, der durch die Grenzüberschreitung zu Stande kam, ermöglicht ihm diese Erkenntnis. Die Situation kulminiert mit London in einer Zeit, in der auch Flora ihren Job verlor, »in der gerade aktuellen Strandbar« (U 206). Die Frau zieht danach aber in den Wald und versucht, sich dort zurecht zu finden. Darius ist seit der Kündigung von allem »abgekoppelt« (U 209), als wäre er »vom Netz genom-
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men« (U 209). Hier wird bereits seine vollkommene Isolation angesprochen. Er steht nun »an der Schwelle« seines Büros (U 211), steht an der »Schwelle« (U 215) und sieht sich alles an, räumt dann sein mit Kartons vollgestopftes, bereits gekündigtes Büro und gibt, ohne von der Firma noch etwas gehört zu haben, den Schlüssel ab. Das ist, kurz zusammengefasst, seine Arbeitsstelle als IT-Spezialist gewesen, und seine Kündigung ist es, womit Der einzige Mann auf dem Kontinent endet.43 Auch diese Passagen, noch mehr aber der nächste Band, geben uns Einblicke in eine Arbeitswelt in der so genannten post-fordischen Ära. Die Bedingungen des Industriezeitalters lösen sich auf, was mit einer Hinwendung zu multidimensionalen Berufsbildern einher läuft.44 Das bedeutet, dass eine Person in einen komplizierten mehrschichtigen Arbeitsverlauf gezwungen wird, wie Kopp, der ja alleine auf dem ganzen Kontinent ist. Die digitale Revolution ermöglicht eine »institutionelle Grenzüberschreitung45 , was die Auflösung der Arbeitsbedingungen der Gleichräumlichkeit und Gleichzeitigkeit begünstigt,46 Man spricht vom Ende der Großorganisationen und damit von einem »postbürokratischen Zeitalter«.47 In diesem Sinne spricht Iuditha Balint von einer Entgrenzung von Arbeit, was zugleich als Grenzauflösung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit konzipiert wird. Es geht also nicht allein um die Deregulierung der traditionellen Grenzen, um Flexibilisierung, wodurch Arbeit und Privates nicht mehr getrennt sind, wo die Strukturierung des Alltags dem Arbeitnehmer überlassen wird und die herkömmliche berufliche Arbeit zunehmend verschwindet.48 Was Raum und Zeit anbelangt, ist das markanteste, dass die Arbeit wegen der modernen Kommunikationstechnologie nicht an bestimmte Orte gebunden und deswegen auch jederzeit auszuführen ist. Dies führt dann dazu, dass Arbeits- und Freizeit bzw. Arbeitsplatz und Privatsphäre nicht mehr voneinander getrennt sind, Zeiten und Räume fließen ineinander. Diese Tatsache
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Ökonomische Diskurse im ersten und zweiten Teil der Trilogie überschneiden sich maßgeblich, denn im oberen Teil in Das Ungeheuer wird in einer analeptischen Struktur in vieler Hinsicht die Welt aus Der einzige Mann auf dem Kontinent, also die Vergangenheit von Darius und Flora erzählt. Vgl. Heimburger: 2010, 52. Vgl. Reckwitz:2006, 501. Ebd., 503. Ebd., 500. Balint: 2017, 7ff. Balint geht hier darauf ein, dass im wissenschaftlichen Diskurs seit den 1990-er Jahren von einer Entgrenzung der Arbeit gesprochen wird.
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repräsentiert Kopps Arbeitsstil in Der einzige Mann auf dem Kontinent. Die Arbeitsessen, die ständigen Telefonate und Internetrecherchen, das Anklicken von Emails und Newslettern zeigen alle die Verwischung der Sphären, dass man sich immer im Dazwischen befindet, da keine Konturen des einen oder anderen wirklich sichtbar sind. Der Protagonist, der eigentlich eine Technische Universität absolviert hat und engineer ist, ist von diesen neuen Strukturen überfordert, vor allem davon, dass ihm die freie Strukturierung des Alltags nicht gelingt, er sich in den zu großen Freiheiten verliert. Die Ambivalenzen dieser Freiheit artikulieren sich aber auch darin, dass er unfähig ist, Verantwortung zu übernehmen, obwohl dies eine Grundbedingung der Freiheit wäre. Wegen der räumlichen Entfernung von den Arbeitskollegen und Vorgesetzten gibt es keine erkennbaren Hierarchien, so dass man sein eigener Chef ist, was aber Verantwortung und die Fähigkeit der Selbstorganisation verlangt. Der Zugewinn an individueller Freiheit kann leicht überfordernd wirken, wie dies auch bei Kopp der Fall ist. Er will zwar nie wieder Weisungsempfänger werden, wenn jemand die Peitsche knallt (U 431), dennoch muss er zugeben, dass er bei seinem vorletzten Job gerade daran scheiterte, dass »keine Richtungsangaben mehr auszumachen waren« (U 433. Herv. i. Orig.). Aris Stavridis war aber sein »väterlicher Freund und Führer« in der international agierenden Firma (U 366), und so ein Führer ist, was Darius eigentlich braucht. Wie wir in Das Ungeheuer sehen, braucht er dies nicht allein in der Arbeitswelt, sondern auch, um den Alltag zu meistern. Die Ambivalenzen der Freiheit sind ja Selbständigkeit auf der einen und Unsicherheit und Orientierungslosigkeit auf der anderen Seite. Gerade wegen seiner Orientierungslosigkeit, die im ersten Band motivisch-thematisch und auch narrativ präsent ist, ist Darius die ganze Zeit in Krisenstimmung und fühlt sich in Bedrängnis. Diese Stimmung führt bei ihm nicht zur Produktivität, sondern vielmehr zur Blockade. Gefordert wird von dem Typus der Arbeit in einer posttraditionellen Arbeitswelt, die in den Texten bemüht wird, das Unternehmer-Subjekt, das ständig aktiv und risikobereit ist. Charakteristisch für Darius ist dagegen gerade die Passivität, bzw. dass er nur zu Tätigkeiten, aber nicht zu Taten fähig ist. So kann er dem Unternehmertyp nicht entsprechen, demzufolge wird er in einer Arbeitswelt, die diese Fähigkeiten verlangt, nur versagen. Eine Ausnahme, eine vom Gesamtzusammenhang isolierte Zeit, erscheint in Auf dem Seil auf der Insel Sizilien, wo alles auch deswegen in Ordnung zu sein scheint und der Protagonist nur glücklich sein kann (AS 5), weil er in eine mehr oder weniger traditionelle Arbeitswelt eingebunden ist, bei hand-
5 »Etwas Ökonomie braucht ein Roman«
werklichen Tätigkeiten oder in der Tourismusbranche aushilft, oder in einem Restaurant als Pizzabäcker tätig ist. Er übt körperliche Arbeit aus, hat handfeste Zutaten und ein materielles Endprodukt, ist an feste Zeiten und an einen konkreten Raum gebunden. Er hat eine fest umrissene Struktur und konkrete Aufgaben, hat seine Vorgesetzten vor Ort, und auch Mitarbeiter sind räumlich und zeitlich gegenwärtig. Außer einem Kühlschrank gibt es kaum elektronische Geräte. Nicht nur dieser Rahmen entspricht aber dem klassischen, fordischen Typus des Arbeitens, sondern auch die festen Vorschriften der Herstellung der Produkte. Er arbeitet nach Rezepten, nach genauen Vorgaben von Maß, Zutaten etc., und die Arbeit ist monoton (AS 39-40), wie an einem Fließband. All dies wird von Kopp positiv konnotiert, auch wenn er sich nach der einen oder anderen kleinen kreativen Abweichung über Lob freut. Will oder muss man aber aus dem Mehlstaub aufblicken (AS 70), und etwas an dieser Konstellation ändern, werden gleich andere Ressourcen erforderlich. Diese sind dann nach der Rückkehr nach Berlin gefragt. Die Zeit in Catania war genauso eine Übergangszeit wie die Situation in Berlin, wenn die Hauptfigur wieder diese Tätigkeit des Pizzabackens, die er eigentlich nicht gelernt hat, ausübt, während er darauf wartet, dass er als IT-Fachmann wieder in das ›richtige‹ Berufsleben einsteigen kann (AS 332). Rückt man die anderen Figuren, das Umfeld des Protagonisten, ins Zentrum, wird erkenntlich, dass diese (Olli, Rolf) in ihrem Heimbüro tätig sind. Olli verfasst blogs, Rolf arbeitet im IT-Bereich. Beide sind durch eine Behinderung (Agoraphobie, Multiple Sklerose) in ihrem Bewegungsraum eingeschränkt, finden aber für ihre Situation eine kreative Antwort. Der einzige, der im traditionellen Sinne richtig arbeitet, auch wenn auch er etwas anderes gelernt hat, ist Muck, der Hausmeister. Er repräsentiert die alte Welt, in deren Strukturen er sich wohl fühlt. Er ist als Aussteiger zu sehen, der für sich auf Dauer eine Nische gefunden hat, wo er sich einrichtet und in der er sich aufs Wochenende, auf die wohlverdiente Freizeit freut. Darius ist also mit verschiedenen Modellen konfrontiert, er probiert auch etwas Neues aus, entscheidet sich jedoch dafür, wieder in den IT-Bereich einzusteigen. Dieser Entschluss fällt am Ende des Romans. Bis dahin dominiert die Suche, in erster Linie das Ziel, eine Unterkunft zu finden, und auch die Bestrebung, wieder in die Arbeit integriert zu werden. In der Romanhandlung arbeitet Kopp aber die meiste Zeit nicht, ist aus verschiedenen Gründen in der Stadt unterwegs und versucht das Leben von Lore und sein eigenes zu managen, und die Fäden zu seiner Vergangenheit wieder herzustellen.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Ob sie arbeiten oder sich durch Nicht-Arbeit auszeichnen, für die meisten Figuren in Moras Texten gilt, dass Grenzen eliminiert sind. Entnormalisiert, dereguliert sind nicht allein die Raum-Zeit-Grenzen oder die Grenzen zwischen hierarchischen Abstufungen, die einst auch Grenzmarkierungen waren. Diese Grenzauflösungen bringen mit sich, dass die Protagonisten sich im liminalen Bereich zwischen verschiedenen Ordnungen aufhalten, die einander infiltrieren und so unidentifizierbar bleiben. So besteht die Gefahr einer alles übergreifenden Beliebigkeit, was im Text u.a. mit der Unübersichtlichkeit des Waldes oder des großstädtischen Verkehrs oder mit der Wand metaphorisiert wird. Es gibt keinen Weg, keinen Pfad oder Spalt, mit Hilfe derer man einen Durchgang finden und aktiv werden könnte.
5.4
Modelle von Arbeit und ihre Verflechtungen mit Subjektkonzepten
Obwohl Arbeit seit dem aufkommenden Kapitalismus im 18. Jahrhundert als Form der Selbstverwirklichung fungiert, ist es interessant, dass die Literatur dies aus den Subjektkonzepten eliminiert.49 Die nachhaltigsten Auswirkungen hat die Arbeitsthematik in den hier zu untersuchenden Texten hingegen auf das Subjektkonzept, das sich unter der Innovationsdynamik aufzulösen scheint.50 Narratologische Implikationen bekommt diese Thematik jedoch auch dadurch, dass durch die wirtschaftlichen Prozesse auch das Erzählverfahren umcodiert wird,51 da die Dynamik des ständigen Wechsels keine durchgängige Erzählung52 mehr möglich macht. Kreativität und Mobilisierung aller Eigenschaften der Arbeitskräfte werden prämiert. »[F]lexibel, mobil, motiviert« (EM 484), muss man sein, heißt es bei Mora, um Erfolg zu haben. Mit der Auflösung der räumlichen Gebundenheit im gemeinsamen Büro ist der Arbeitnehmer auf sich gestellt. Zu den Reservoiren des postmodernen Arbeitssubjekts gehört in erster Linie die Fähigkeit, allein arbeiten zu können, selbständig bzw. sein eigener Chef zu sein (EM 100). Die Tatsache,
49 50 51 52
Vgl. Heimburger: 2010, 41. Die Auseinandersetzung mit Subjektkonzepten bildet in anderen Kapiteln einen wichtigen Pfeiler der Untersuchung und wird hier deswegen ausgeklammert. Heimburger: 2010, 73. Ebd. 66.
5 »Etwas Ökonomie braucht ein Roman«
dass man eventuelle Kollegen einmal im Jahr trifft, bedeutet, dass es zwischen den Menschen nur schwache Bindungen gibt und selbst diese nicht in einer Face-To-Face-Kommunikation, sondern durch Medien zustande kommen. Darius spricht zwar auch noch im zweiten Band in der Wir-Form über seine ehemalige Firma und von »unserem« Mann in Athen (U 365), diese Form täuscht jedoch darüber hinweg, dass es eine Gemeinschaft im traditionellen Sinne nie gegeben hat. Man saß vielleicht einmal in einem Whirlpool unter der kalifornischen Sonne (U 365), es kommt aber nicht zur Entstehung von intimen menschlichen Beziehungen, nur zu einer Scheinintimität, die über die Abgründe hinwegtäuschen soll. Verlässlichkeit, gegenseitige Hilfe und ähnliche Werte werden gerade in der Beziehung mit Stavridis erwartet, sind aber nicht vorhanden, wie die bittere Erkenntnis zeigt: »ständig verarschen sie einen, sie können gar nicht anders« (U 431). Wegen der großen Fluktuation und Mobilität aller können auch keine Kontakte entstehen, die eine dauerhafte Beziehung wären. Es sind immer nur kurzfristige, zeitweilige Allianzen, die entstehen. Das Arbeitssubjekt ist nicht eingebettet in ein Regelsystem, sondern kann souverän zwischen Alternativen wählen und sich entscheiden. Ohne Maßgaben und Wegweiser, wie zum Beispiel ethisch-moralische Regeln etc., gehen aber, wie wir am Beispiel von Darius sehen, Bindungen verloren. Während zu den sog. fordischen Arbeitsbedingungen fixe Strukturen gehörten, die eine identische Wiederholung ermöglichten,53 gibt es in der postmodernen Arbeitswelt keine Statik, nichts Bleibendes. Von der allgemeinen Auflösung, Wandlung und neuem Zusammenschluss sind sowohl Firmen als auch Einzelpersonen betroffen. Die Triade eines Schwellenzustandes ist auch im ökonomischen Bereich offensichtlich. Es gibt nichts Bleibendes, es entsteht keine dauerhafte Ordnung, so dass man auch in diesem Bereich von permanenter Liminalität54 sprechen kann. Das Karussell dreht sich, denn das ist seine Natur. Darius Kopp hat bis dato bei 8 Firmen gearbeitet, von denen er 6 im Zusammenhang mit einer bald eintretenden Pleite verließ, 4mal freiwillig, 2mal unfreiwillig, aber das ist nicht das Interessante, sondern, dass es all diese Firmen immer noch gab, nur arbeitete kein Einziger mehr dort, den ich von früher kenne. (U 486) 53 54
Reckwitz: 2006, 508. Nach Reckwitz hat der ökonomische Diskurs, die Verquickung der Ökonomie mit der Lebenswelt, zur Folge, dass auch außerhalb des Ökonomischen und der Arbeitswelt dies zur Norm, zum Maßstab wird. Er spricht von Habitualisierung dieser Prozesse und Praktiken.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Die Firmen existieren also weiter, haben nur womöglich einen »schicken Doppelnamen« (U 487), »nur das Pack wird ausgewechselt, als hätte es allein an denen gelegen« (U 486). Es geht um die Fitness der Struktur (U 487), und verursacht ist der Wandel von »[t]he depression«, also von Krisen (U 487. Herv. i. Orig.). Die Krise ist der Ort des Übergangs, der Schwelle, und die anhaltende Bewegung von Auflösung und Integration als permanente Krise markieren einen Zustand des ewigen Übergangs. »Ab dem Moment, da ich denken konnte, befand sich der Staat, in dem ich geboren wurde, als solcher in der Krise«, aber aus der Sicht Kopps befinden sich »alle Funktionen«, »Gebäude«, Maschinen«, oder »Ehen« in der Krise. (U 487f. Herv. i. Orig.) Die Frage ist, wie man mit dieser Situation umgeht, welche Lösungsmodi man entwickelt, um die Krisen managen, überwinden zu können. Wir haben unsere Methoden damit fertigzuwerden. Zum Beispiel kann man einen ganzen Tag lang ausschließlich amerikanische Landschaften, englische Immobilien und Usermeinungen zu schottischen Bars im Internet ansehen, so dass man am Ende des Tages sagen kann: ja, es kommen viele von vielen Orten an viele Orte, und das ist wesentlich besser, als wenn keiner, nirgends, nirgendwohin käme. (U 488) Es ist klar, dass dieses Verhalten nichts mit Krisenmanagement, mit einer entschlossenen Tat zu tun hat, sondern nur Ersatzbetätigung ist, eine Abschweifung, die zwar die Zeit und den Raum der Handlung, die Leere füllen kann, die durch die Krise, also durch die Auflösung von Ordnungen erscheint. Diese Tätigkeiten können aber nicht zu der Entstehung einer neuen Ordnung führen, was das Ende des Liminalitätszustandes bedeuten würde. Orientierung könnte das nicht genannt werden, denn anstatt eines fixen Punktes, dem man zustrebt, kommt es nur zu Beliebigkeit, Chaos, Zerstreuung, oder Desorientierung, die zu keinem Ergebnis, sondern vielmehr zur Absurdität oder zur Tautologie führen. Gerade die Tautologie bringt dann mit sich, dass man sich nicht fortbewegt von einem Platz, sondern sich im Kreis dreht. Darius selber ist so ein Karussell, denn sein Name ist ein Anagramm von Radius, und dieser sprechende Name charakterisiert ihn schon als eine Figur der Kreisbewegung. Der Kreislauf bedeutet aber die fortwährende Wiederkehr von Krisen und verhindert das Austreten aus dem Laufrad. Eine Grenzüberschreitung, die die Schwellensituation beenden würde, ist unmöglich. Erst wenn man aussteigt, hat man die Chance auf eine Änderung. Die Frage ist, ob das Aussteigen in Form der Reise dies gewährleisten kann.
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Konzentriert man sich auf den Arbeitsalltag, wie er in den Texten erscheint, kann festgestellt werden, dass mehrere Modi reflektiert und einander z.T. auch diametral entgegengesetzt werden. Augenscheinlich ist der Unterschied selbstverständlich, der zwischen dem urbanen Business und der landwirtschaftlichen Produktion, die an das Dorf gekoppelt ist, besteht. Diese werden einerseits von Darius, andererseits von Flora repräsentiert. Mit Arbeiten mit der Hand wird Darius aber auch während seiner Reise in der Türkei konfrontiert. Eine Opposition besteht nicht zuletzt auch zwischen den Jobs, die Reichtum und Lifestyle entsprechen, und den »Scheißjobs«, die auch offensichtlich Ausbeutung und Demütigung bedeuten. Dargestellt werden darüber hinaus Weisen der Erwerbstätigkeit bei Darius‹ Stelle in Auling in Bayern. Konfrontiert wird man durch die Beschäftigungen von Doiv auch mit einer nächsten Form der Tätigkeit oder Arbeit, was aber nicht mehr unbedingt als Erwerbstätigkeit benannt werden kann. Für die Welt von Darius steht z.B. auch Aris, »der sich Independent wholesale Professional nennt« (U 579. Herv. i. Orig.) und ein Musterbeispiel für »[f]lexibel, mobil, motiviert« (EM 484) ist. Er ist ständig unterwegs, fliegt in Europa herum, hat neue, innovativ erscheinende Ideen, kann sich wegen seiner verbalen Begabung gut darstellen usw. Er strahlt Energie aus, eine Art Vibration, denn wo er erscheint, entsteht Hektik. Ob das alles authentisch ist, bleibt fraglich, der Freund, Aris, kann aber als ein Repräsentant der sog. New Economy gesehen werden. Die skills, die in diesem Bereich erwartet werden, sind eben neben Flexibilität, Mobilität und Motivation auch noch Innovation, Unabhängigkeit und »Selbstorientierung«55 . Ständig in Aktion repräsentiert er Risikobereitschaft und Aktivität, was in der postfordischen Doktrin die Normalität darstellt. Eng verbunden damit ist das Primat der Netzwerke, das Eingebunden-Sein, wodurch man agieren kann. Diese Netzwerke in Form von menschlichen Beziehungen entsprechen nicht dem tradierten Modell von Nähe und Ferne bzw. Intimität. Auch Darius hat 4000 Namen in seinem Handy als Möglichkeiten des Kontakts, dennoch ist die Bekämpfung von Einsamkeit sein größtes Problem. Es geht hier trotz der scheinbaren Eingebundenheit in Netzwerke um eine Art Anonymität. Wegen der gebrochenen Perspektive von Darius, zufolge des neuen Sehens, das er durch das Aussteigen erreicht, wird dieses Verhalten bloßgestellt. Die Vertreter von Innovationen werden abwertend Schrotthändler genannt (AS 246). Für den distanzierten Blick ist in dieser Welt der Wirtschaft alles unecht, wie auch die glänzenden falschen Zähne von 55
Reckwitz: 2006, 503.
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Aris. Selbst wenn Kopp also erkennt, dass man nur »Mist« erzählt (U 585), ist auch klar, dass er, wenn er sich als Computerfachmann ausweist, wieder integriert ist (U 425). Das führt dann dazu, dass er trotz der Erkenntnis doch noch in seine Rolle zurückrutscht und sich in Armenien »Independent Consulting Professional« (U 583) nennt. Während in der urbanen Wirtschaftswelt zum Wertmaßstab gehört, dass man seinen neuen, im Kaufhaus des Westens eingekauften »Anzug und sein Lächeln« anhat (U 490), spielen andernorts ganz andere Werte eine Rolle. Mit einer anderen Welt wird die Hauptfigur in Bayern bei seinem Vorstellungsgespräch konfrontiert. Er kommt da aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, so fremd ist für ihn diese andere Situation. Hier ist alles gesetzlich geregelt, steht fest, und das zeigt, dass die Individualität eher im Hintergrund steht. Innovationen, Kreativität werden nicht erwartet, man muss nur abnicken (U 490). Für Darius erscheint dies als eine »ausgemachte Zumutung, eine Beinahe-Sittenwidrigkeit« (U 490). Genauso überrascht wie von diesem Umgang in der Arbeitswelt ist er von der Herzlichkeit seines Kollegen Gero. Die Tatsache der Intimität, und dass es klare Anweisungen vom Chef gibt, Regeln, die eingehalten werden und dadurch eine übersichtliche Ordnung schaffen, überrascht ihn, den ehemaligen sales engineer einer international agierenden Firma. Reflektiert wird im Zusammenhang mit dieser Stelle in Bayern aber auch eine andere Bedeutung von Mobilität und Flexibilität, die von einem verlangt werden, will man schnellstmöglich einen neuen Job bekommen. Man muss den Wohnort wechseln und nimmt damit lange, gefährliche Fahrten auf sich, entfernt und entfremdet sich von seiner Familie und verbringt inklusive Fahrt die meiste Zeit seines Lebens mit der Arbeit. »Arbeit und Schlaf, Arbeit, Arbeitsweg und Schlaf. That’s my life« (U 42). Ein vollkommen divergentes Modell des Arbeitens repräsentieren die Beschäftigungen von Doiv, die man im klassischen Sinne gar nicht mehr Arbeit nennen kann. Hier scheint die unüberwindbare Grenze von Arbeit und Müßiggang obsolet geworden zu sein, man befindet sich im liminalen Dazwischen, Arbeit und Müßiggang werden eins. Die Tätigkeiten des Engländers sind von seinem üblichen Alltag überhaupt nicht mehr getrennt. Er ist auf Reise, trampt durch Europa und lebt zum einen von der Hilfsbereitschaft der Menschen, die ihn einladen. Zum anderen lebt Doiv zum Teil von den Geschichten, die er von ihnen hört, bzw. davon, was er sieht und selbst erlebt. Er schreibt alles auf, und macht das Gehörte und Beobachtete mit Hilfe von neuen Medien, in Form von Blogs für ein größeres Publikum zugänglich.
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Er repräsentiert so nicht den Parasiten, sondern den Müßiggänger und den Künstler, der unabhängig und innovativ ist, dafür aber auch außerhalb oder am Rande der Gesellschaft lebt. Sein Außenseitertum erscheint bereits im unkonventionellen ewigen Unterwegssein ohne festen Wohnsitz. Seine Arbeit besteht einerseits darin, dass er einen Reiseblog schreibt, zum andren entwickelt er immer neue Projekte im Zusammenhang mit Fotografieren und Geschichtenschreiben. »Mit seiner [Doivs E.H.] Sorte« (U 421. Herv. i. Orig.) hat Kopp noch nie etwas zu tun gehabt. Die Projekte, wie The convoy, A living (U 422), X times of getting lost (U 425), Homes (U 433), Traveler (U 437. Herv. immer i. Orig.) verschmelzen den Alltag mit der Kunst. Die Projekte beschäftigen sich damit, wie Menschen versuchen, auch in extremen Situationen ihr Überleben zu sichern (U 422). Damit werden wieder verschiedene Modi des Arbeitens, wie z.B. der Verkauf von Tempotaschentüchern, thematisiert. Doiv dokumentiert mit Fotos und schreibt eine Geschichte dazu. Sie stellen dar, in was für Behausungen Menschen leben (U 433) oder warum sie reisen. Klar wird hier, dass die Menschen alle aus einer Lebenssituation hinausreisen, sich hinausbewegen wollen, und hoffen, dass sie während der Reise neue Weisheiten erfahren (U 437), die ihnen versprechen können, das Leben zu ändern, aus der Krise herauszukommen. Dieses Projekt ist eine Schlüsselpassage des Romans, der die Metapher der Lebensreise bemüht und vermittelt, dass jeder mal herauskommen muss, um festzustellen, ob man noch mit dem Unbekannten klarkommen kann. Die Begegnung mit dem Fremden ist die Begegnung mit dem Unberechenbaren, dem Tod in »kleinen Dosen« (U 437), was man noch meistern kann. Es geht wieder um den Grenzüberschritt, den Eintritt in die Liminalität als die Möglichkeit, sich auf die Probe zu stellen, sich besser kennen zu lernen. Die Arbeitsmodi Doivs stehen für das Nicht-Reglementierte, stehen allein unter dem Signum von Kreativität und Spiel. Deren Ort ist im Liminalen, da Phantasie und Schöpferkraft die Verschiebung der Grenzen in unbekannte Gefilde hinein bedeuten. Doiv überlässt sich dem Zufallsprinzip und inszeniert ein erprobendes Vorwärtstasten, das ohne Beispiele und Erfahrungen da steht, womit er sich in Richtung Unbekanntem und Fremdem bewegt. Ob die Idee funktioniert, ob man dadurch zu einem interessanten, aufschlussreichen etc. Ergebnis kommt, ist nicht festgelegt und auch nicht berechenbar. Dieses Spiel im hic et nunc ist jenseits jeglicher Rationalität. Die Ideen entstehen aus einer gegebenen Situation plötzlich und können genauso plötzlich einem neuen Umstand entsprechend geändert oder verworfen werden. Sie repräsentieren also ein flexibles Stegreifmodell und absolute Beliebigkeit nicht nur ihres Ab-
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laufs, sondern auch ihrer Entstehung und ihres Verschwindens. Die Arbeit hat kein Telos, und es gibt auch keine vorgegebenen Wege, sie entstehen erst durch das Betreten, und so kann Doiv die Wege erst im Nachhinein aufzeichnen, rekapitulieren. Dieses Modell entspricht einer rhizomatischen Struktur. Es ist wie ein assoziatives Experiment, das Ergebnis ist das, was auf einen zukommt, was einem sozusagen zufällt, es basiert auf Chancen, die man einfach willkommen heißt. Das Arbeitsmodell Doivs, seine Versuche sind, ins Narrative gewendet, Modelle, Episoden, aus denen die narrative Struktur des Textes besteht. »Unterwegs zu sein heißt, immer neue Allianzen eingehen zu müssen und zu können.« (U 437) Hier sind aber nicht allein die Figuren unterwegs, sondern mit ihnen auch der Erzählprozess. Die Passage über den Engländer kann auch als eine metapoetische Reflexion gelesen werden, die die ganze Struktur des Romans abbildet. Es geht dabei nicht allein um die Auseinandersetzung mit dem Tod, um das Sich-Herantasten an eine Grenze, sondern vielmehr noch um die Modellierung von narrativen Mustern, die im Erzählverlauf bemüht werden. Liminalität ist nach Sennet gekoppelt mit Spontaneität,56 da befreit von rationaler Struktur, aber auch rationaler oder pragmatischer Motivation, ein »Augenblick reiner Potenzialität«57 entsteht. Ohne Wegweiser, bzw. nur mit emotionellen evtl. ausgestattet, führt dies zum Orientierungsverlust, was im Text mit dem beschriebenen narrativen Modell zum Ausdruck gebracht wird. Um den Text in Bewegung zu halten, müssen die Themenbereiche immer neue Allianzen eingehen, was die semantische Kombinierbarkeit von eigentlich unzusammenhängenden Elementen meint, aus dem sich die ganze Geschichte speist. Es entstehen semiotische Ketten von Bedeutung und Bedeutungsgenerierung. Liminalität bedeutet die Transition zwischen Zuständen, und die Erzählstruktur bildet diese Prozesse von Transgression und Transition ab.
5.5
Textarchitekturen und die Logik des Ökonomischen
Die Arbeit ist ein Zeichen von Integriert-Sein, dessen, dass man drin ist (U 642). Die Erwerbstätigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Rolle und
56 57
Stenner: 2016, 59. Ebd.
5 »Etwas Ökonomie braucht ein Roman«
auch der Identität. Die Auffassungen, ob die Arbeit zur Entfaltung des Subjekts beiträgt oder vielmehr dagegen wirkt, divergieren in diesem Zusammenhang stark im Laufe der Geschichte und ändern sich auch damit, wie Modi der Arbeit sich wandeln. Wie man bereits um 1900 in der modernen Industriearbeit die Entfremdung und Dissoziation des Ich wahrnahm und prognostizierte, so fragt man heute nach dem Ort des Subjekts in postmodernen oder posthistorischen Arbeitsverhältnissen. Aus unserer Perspektive steht das Verhältnis des Subjekts zur Gesellschaft zu Disposition. Eine kulturelle Form, in der sich dieses Verhältnis manifestiert, ist die Arbeit. Die Krisensituation der Liminalität kann einerseits »unablässige Aktivität« andererseits Lähmung mit sich bringen58 . Beide Modelle sind in Der einzige Mann auf dem Kontinent bzw. in Das Ungeheuer erkennbar. Im ersten Band dominiert die Aktivität, wobei klar ist, dass Darius »immer einer war, der die Dynamik nur simulierte. Weil [er E.H.] das für die Aufgabe hielt« (U 603). Da die Krise damit verbunden ist, dass man eine Lösung oder, wie es in den Büchern immer heißt, einen Weg sucht, ist diese Schwellenerfahrung mit Aktivität gekoppelt. Das wird uns mit dem tätigen Darius Kopp im ersten Band vor Augen geführt. In Das Ungeheuer kommt dann die Phase der Lähmung, die auf äußeren Druck hin überwunden wird. Die Aktivität, die durch Antritt der Reise beginnt, ist schon eine andere Art der Tätigkeit. Sie ist nicht mehr von Anspannung, von einer falschen Geschäftigkeit und Rastlosigkeit bestimmt. Doch ist auch diese Phase ein Doppel von Bewegung und Stillstand, das Auto bewegt sich zwar, es geht aber auch hier eher um ein Aussitzen. Im Fokus steht hier eher das Warten, dass man sich auf die Potentialität, auf die Chance verlässt und die dann nutzt. Das ist, was einem zufällt oder, in der Semantik des Textes, über den Weg läuft. Im letzten Teil der Trilogie, worauf im zehnten Kapitel ausführlich eingegangen wird, werden in der Figur des Kochs bzw. des Pizzabäckers traditionelle Arbeitsformen mit festen Orten und Zeiten rekapituliert. Viel wichtiger zu sein scheint aber auch noch, dass diese Berufe mit festen Vorschriften arbeiten, mit Rezepten, die ein Gelingen garantieren, während alle anderen eher mit Scheitern gekoppelt werden konnten. In der für die Moderne konstitutiven Ökonomisierung des Lebens spielen Texte eine signifikante Rolle, da sie die »konsistente ökonomisierte Auffassung der Welt selbst in Situationen und Räumen, die einen ökonomischen
58
Stenner: 2016, 57.
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Zugriff enthoben scheinen«, transportieren.59 So kann man summieren, dass literarische Texte die ökonomische Kultur, deren Teil sie sind, exponieren, beeinflussen, verbreiten und kritisieren.60 Die Logik des Ökonomischen infiltriert, wie uns die Romane zeigen, alle Lebensbereiche. Postklassische (postfordische) Verhältnisse wirken sich nicht nur auf Lebensbedingungen, sondern auch auf die Zeit- und Raumwahrnehmung und verschiedene Wissensordnungen aus, nicht zuletzt auf die Möglichkeiten von Subjektentwürfen. All diese Phänomene weisen zugleich enge Korrespondenzen zur Narration auf, sind aufs Engste mit der Erzählökonomie verbunden. Wenn die Texte von Irrwegen, von medialer Überflutung, vom Zerfall der Subjektivität geprägt sind, hat das strukturelle Entsprechungen im Erzählverlauf, in dem Linearität und Teleologie von einer kaleidoskopisch-seriellen Struktur abgelöst werden. Der strukturelle Haushalt der Texte wird von einer Wucherung unterlaufen, wodurch auch die Textarchitektur von der Logik des Ökonomischen bestimmt wird. Der ökonomische Diskurs zeigt bei Mora nicht allein die Wandlung des ökonomischen Menschen zu einem neuen Typus, in dem das Ökonomische vom Ästhetischen überformt wird, sondern Hand in Hand damit auch, wie tradierte literarische Formen und Gattungen von neuen liminalen Mustern geprägt sind in einem Prozess der Grenzauflösung.
59 60
Bauer: 2014, 228. Ebd., 239.
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
6.1
Weiße Fläche, schwarzer Strich. Grenzen und Übergänge
So offensichtlich, also auch optisch wahrnehmbar ist die Grenze nirgends in Moras Werk wie im Roman Das Ungeheuer. Hier ist nämlich jedes Blatt des Buches durch eine schwarze Linie, durch einen Strich zweigeteilt. Diese Linie erscheint als Markierung einer Grenze zwischen einem beschriebenen und einem anfangs unbeschriebenen Teil des Blattes. Diese Zweiteilung ist eine Störung, die zahlreiche Rätsel aufwirft. Geht es hier um die Absetzung eines beschriebenen Blattes als Modus der Ausdifferenzierung, der Entstehung von Identifizierung einerseits und Potentialität, den Raum der Möglichkeiten andererseits, also um das Doppel, das ambivalente Nebeneinander von Begrenzung und Unbegrenztheit? Blättert man im Buch weiter, sieht man, dass diese Leere (oder Fülle) nur eine Übergangsphase ist, der Strich, die schwarze Linie, jedoch durchgehend erhalten bleibt und ein Oben und Unten, als zwei Sphären, zwei Entitäten voneinander trennt, bzw. wie es der Grenze inhärent ist, sie gleichzeitig miteinander verschränkt und aneinander bindet. Klar ist von Anfang an, dass beide Teile einander gegenseitig bedingen, da sie nur in der Korrelation als zwei unterschiedliche Größen wahrgenommen werden können. Die mediale Erscheinung der Schrift und der Linie werden einem durch diese Struktur bewusst. Dadurch wird die Tatsache greifbar, dass erst durch die Schrift bzw. durch Sprache sich etwas ausdifferenzieren, die Leere bzw. die Fülle des weißen Blattes eingeschränkt werden kann, in dem der Unendlichkeit des Weißen durch Schwärze ein Ende gesetzt wird. Mit der Grenze sind demnach auch Anfang und Ende, bzw. Unendlichkeit und Einschränkung an die Grenze gebundene Reflexionsgegenstände des Romans. Obwohl die schwarze Linie mitten auf dem Blatt einen Störfaktor darstellt, schafft sie auch eine Art Ordnung, indem das Oben und Unten, das
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Einerseits und Andererseits klar voneinander getrennt sind. Es stellt sich die Frage, ob der Strich auf eine Rechnung verweist, wo nach der Auflistung dann unter dem Strich die Summe, eine Art Ergebnis, eine Schlussrechnung erscheint. Die Frage ist dann auch, ob letztendlich die Rechnung aufgeht. Verfolgt man dieses Bedeutungsfeld, wäre natürlich auch die Deutung möglich, dass jemandem ein Strich durch die Rechnung gemacht wird. Klar ist, dass in Bezug auf die Gesamtbedeutung auch diese Assoziationen nicht weit hergeholt sind. So ordnen sie sich nämlich zum einen in den omnipräsenten ökonomischen Diskurs ein, zum anderen bringen sie die Problematik von Kontingenz in die Diskussion. Das Buch besteht aus zweiundzwanzig Kapiteln. Die ersten drei Kapitel sind im oberen Teil. Die Beschriftung des unteren Teiles beginnt mit der Nummer 4. Auf der gleichen Seite setzt oben das fünfte Kapitel an. Schon diese Tatsache zeigt, dass oben und unten miteinander verbunden sind und trotz der Trennung einen Zusammenhang aufweisen. Die Kapiteleinteilung folgt dann aber nicht der Zweiteilung. Der optische Aufbau und die Kapiteleinteilung verwirren, weisen auf eine Offenheit, Uneinholbarkeit, Unbegrenzheit hin, auf etwas, dem kein Ende gesetzt werden kann. Fest steht allein, dass beide Teile miteinander verwoben sind, dass aufgrund des Durchnummerierens die beiden Teile eine Art Chronologie ergeben. Entsprechend den Lesegewohnheiten könnte dies auch ein Nacheinander im Lesen bedeuten. Der Leser hat keinen Hinweis zur Leserichtung, dazu, wie die Verbindung zwischen den beiden Teilen beim Lesen hergestellt werden soll. Auf den Plan gerufen wird damit die Frage von Navigation. Die Erzählstruktur impliziert nicht allein durch die narrative Gestaltung, sondern schon auf den ersten Blick, dass es hier um Parallelwelten geht, die sichtbar voneinander getrennt sind. Es gibt selbstverständlich weitreichende kausale Verknüpfungen und Übergänge zwischen den Welten, doch sind sie voneinander getrennt. Wir erleben durch diesen darstellerischen Zug eine Semantisierung der Form, die Struktur wird zum Bedeutungsträger. Schon die Form spiegelt eine pluralistische, fragmentierte Welt wider, in der die Figuren isoliert sind und an einem Ordnungs- und Einheitsverlust leiden, da ihr Leben von Offenheit, Bruch- und Leerstellen dominiert wird. Was noch in Bezug auf die Struktur ins Auge fällt, ist die Tatsache, dass die unteren Kapitel aus kleineren Einheiten, die Dateien heißen, bestehen. Die Dateien haben immer einen ungarischen Namen, der Großteil des Textes ist auf Deutsch, aber mit zahlreichen ungarischen Einsprengseln. Dieser untere Teil scheint gleich auf den ersten Blick fragmentarisch zu sein, es gibt
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
kaum einen fortlaufenden Text, während die oberen Kapitel aus fortlaufenden Texten bestehen. Steigt man in den Text ein, wird schnell klar, dass der obere Teil Darius Kopp als Protagonisten hat, der nun ohne seine Frau leben muss (U 15), der zehn Monate lang, von August bis Juni, bereits eine schwere Zeit überstehen musste, und nun seit acht Wochen bei seinem Freund Juri weilt (U 12). Das sind die Eckdaten des Anfangs, bzw. ein möglicher Job-Interview, zu dem Darius gehen soll. Da der erste Band der Kopp-Trilogie damit endete, dass Darius arbeitslos wurde, überrascht dieser Moment wenig. Wie wir erfahren, hat Darius in den letzten zehn Monaten die Wohnung nicht verlassen, lebte »in Klausur« (U 22), ohne mit Menschen Kontakt gehabt zu haben. Sein Freund Juri kommt nun, um ihn aus dieser Situation herauszuziehen. Darius könne für eine »Übergangszeit« bei ihm wohnen bis er sich reintegrieren könne (U 21), heißt es. Darius Kopp befindet sich an einer Zäsur seines Lebens, er erlebt eine Krise, die in erster Linie mit dem Verlust seiner Frau, mit Floras Selbstmord zusammenhängt (U 39), und in der er wie ein Gelähmter sich nicht von der Stelle bewegt. Nicht allein der konkrete Verweis auf die Schwelle zeigt, dass es hier in vieler Hinsicht um eine Grenze und ihre Übertretung bzw. in mehrfacher Hinsicht um einen Ausnahmezustand geht, der mit der Kategorie der Liminalität zu fassen wäre. Die Eingangspassagen des Romans inszenieren den Übergang, alles, nicht nur Darius Kopp, sondern die Stadt, die Natur, die Wohnung etc. scheinen ihre Identitäten zu verlieren, Grenzen werden undicht, und es kommt zu einer Verschränkung, zu einem Ineinanderfließen aller Bereiche als Auflösung der gewohnten Ordnung. Der Roman beginnt mit einer Traumszene – im Bewusstseinsmodus des Halbschlafs –, wo Wirklichkeit und Traum vollkommen verschwommen und ineinander verwoben sind. Darius träumt vom Zusammensein mit Flora, träumt, dass er ein Stier mit Hörnern ist (U 7), als er aber nach dem Aufwachen in den Spiegel guckt, schaut ein Mischwesen, eine Kreuzung von einem jungen Mann und einem Reptil auf ihn zurück (U 9). Selbst die Figur ist von der allgemeinen Metamorphose betroffen. Es ist ihm, als ob er auf einem Schiff, in einem Hotel, an einem unbekannten Ort (U 8) wäre. Schiff und Hotel als Heterotopien sind Orte des Übergangs, des Transitorischen, und sie sind unidentifizierbare Nicht-Orte, die den Verlust jeglicher Kontur herausstreichen. Noch viel mehr repräsentieren die sintflutartigen Wassermassen, die durch das Tauwetter entstanden sind, diese Umwandlung. Das Tauwetter als Übergang, das die Schneeberge zum Schmelzen bringt, korrespondiert
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
als Verschmelzung von Stadt und Natur mit den anderen Umformungen. Die Änderung des Wetters und die dadurch entstehenden Wassermassen strömen durch alle Grenzen und Abdichtungen, so dass selbst zwischen Innen und Außen keine Grenze mehr besteht, wenn die Risse der Wand sich zu breiten Adern ausdehnen und die Wand durchlässig werden lassen (U 13). Nach dem Wetterumschwung sieht alles in der Stadt wie nach einem Krieg aus (U 16), aber auch Darius‹ Wohnung ist ruiniert, »Meine Hütten und mein Gezelt zerstört« (U 17. Herv i. Orig.), heißt es hier mit einem biblischen Bild1 . Die Schwellenphase wird, wie in diesem Kapitel gezeigt werde soll, in verschiedenen Modi relevant für den zweiten Teil der Romantrilogie. Der Fokus richtet sich bei den Ausführungen auf den männlichen Protagonisten, also auf den oberen Teil des Textes, und auf Figurationen von Liminalität im Zusammenhäng mit Krise, Reise, mit Gastlichkeit und mit Trauer. Diskutiert werden soll, dass all diese Erscheinungsformen von nicht-inszenierter Liminalität im Text nicht allein in thematisch-motivischen Ausprägungen präsent sind, sondern als narrative Verfahren, auf die sich das Forschungsinteresse richtet.
6.2
Mit der Sintflut zum Ararat. Reise als Übergang
Die Zerstörung, die Bewegung des Wassers bringt alles in Gang. Darius muss die Wohnung, seinen Rückzugsort, wie nach einer Naturkatastrophe verlassen, er muss über die Schwelle und dadurch ändert sich zwangsläufig auch sein Leben, ohne dass er dabei aktiv geworden wäre. Mit diesem Schwellenphänomen beginnt der Roman Das Ungeheuer. Schwellenzustände und das Liminale erscheinen aber nicht allein in dieser Szene, sondern sind konstitutive Momente des ganzen Textgeflechts. Es soll im Folgenden gezeigt werden, wie die Übergangszeiten motivisch-thematisch und auch auf der narrativen Ebene erscheinen, welche Metaphern und rhetorischen Strategien zur Darstellung von Schwellenerfahrungen bemüht werden. Festzustellen ist, dass die sichtbare Grenze, die schwarze Linie, im Blickfeld des Betrachters auf unsichtbare Grenzen verweist und überhaupt das Unsichtbare, was sich jenseits der wahrnehmbaren Grenze befindet, ins Bewusstsein rückt. Diese sichtbaren und die in ihrer Verborgenheit sichtbar werdenden Grenzen sollen im Folgenden anvisiert werden. 1
Jeremia 10:20.
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
Die bereits erwähnten ersten Seiten des Romans reflektieren die Problematik von Grenze auf mehrfache Weise. Es geht darum, dass im Leben von Darius Kopp eine Art Ordnung herrschte, was zerstört wurde, als seine Frau in das Dorf, in die Hütte zog. Kopp ist bemüht, trotz dieser Änderung die Ordnung aufrechtzuerhalten bzw. eine neue Ordnung zu etablieren. Er richtet sich in seinem neuen Leben ein, indem er einerseits große Mengen Getränke und Kaffee bestellt, sich jeden Tag von einer Karte der Reihe nach »von Margherita bis Speciale« (U 14) Pizzen bestellt, und andererseits den ganzen Tag und auch in der Nacht fernsieht. Besucher, Anrufe, die diese Ordnung stören würden, hat er kaum. Der Protagonist hat bereits hier eine Grenze überschritten und hat nach einer kurzen Übergangsphase sich in der neuen Situation eingerichtet. Er ist zwar nicht über die Schwelle seiner Wohnung gegangen, doch überschritt er eine unsichtbare Linie. Die erste Grenzüberschreitung, die auch mit einer räumlichen Veränderung verbunden ist, ist der Moment, als er seine Wohnung verlassen muss, weil alles undicht geworden ist und die Wohnung von sintflutartigen Wassermassen ruiniert wird. Mit dieser Überschreitung der Grenze kommt es zu einer Ausweitung der Handlungsoptionen, vor Darius eröffnen sich neue Horizonte. Anfangs kommt er zwar noch in eine nächste Phase des Eingegrenzt-Seins in Juris Wohnung, die wie eine Schiffskoje ist. Die störende Enge des Raumes, dass man überall an Wände stößt, zeigt, dass dies nur eine Übergangsphase sein kann, aus der Kopp ausbrechen muss. Die Koje als heterotoper Ort weist schon darauf hin, dass er da und auch nicht-da ist. Juri spricht diese Situation auch explizit aus, wenn er sagt: für eine Übergangszeit, bis Darius beginnt sich zu reintegrieren (U 21) könnte er bei ihm wohnen. Diese Abstellkammer (U 22) zu verlassen erscheint nun für Darius als ein »durchaus zu verfolgendes Nahziel« (U 22). Darius hat kein Zuhause mehr und keine Pläne, ist im zeitlichen und räumlichen Niemandsland. Aus den Erinnerungen von Darius wird klar, dass es in seinem Leben Zeiten gab, in denen er sich unangreifbar (U 46) fühlte. Auch wenn sich das im Nachhinein als Illusion entpuppt, freut er sich, diesen Zustand zu kennen. Doch vom neuen Jahrtausend an fängt »die Welt an, den Bach hinunterzugehen« (U 47), so dass man »im Grunde nie mehr in etwas andrem […] als in Krise, Zusammenbruch, Erholung, Zusammenbruch, Erholung« war (U 47). Das Leben erscheint wie ein »Spießrutenlauf« (U 31), in dem »dich von überallher der Wahnsinn anspringt« (U 31). Diese Gedanken markieren sowohl die Grundaussagen als auch die Struktur des Romans. Sie fassen kurz nicht nur die Situation, das grundlegende Lebensgefühl von Darius (und auch Flora) zu-
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
sammen, sondern auch die Narration, den Lauf der Erzählung als hektischen Prozess, als Road Novel und damit den Weg von Darius. Die Allgegenwart der Krise in Form des Wahnsinns, des bedrohlichen Ungeheuers, ist das, was jenseits einer Grenze ist, und was man das Unbestimmte nennen könnte. Die Unangreifbarkeit steht für das Ideal einer unveränderlichen Wirklichkeit, für Integrität und Macht des Subjekts, für die Utopie einer festen Grenze, von der alles abprallt, die unverletzlich ist und die dadurch einen vor Angriffen jeder Art schützt, eine Sicherheit bietet. Das Bedürfnis nach scharfen Grenzen, wie ein paradiesischer Zustand, ist das Grundbedürfnis des Menschen. So eine dichte Schutzzone gibt es, wie die zitierten Bilder zeigen, nicht, oder nur als eine Illusion. Die Unangreifbarkeit impliziert, dass eine Ordnung aufrechterhalten bleibt mit dem Ziel, sie auf Dauer zu stellen. Selbstverständlich kann so ein Status quo nicht aufrecht gehalten werden. Kommt es jedoch zu einer Änderung, muss es immer bedeuten, dass eine Grenze überschritten wird, der Protagonist also die Vertreibung aus dem Paradies erleben muss. Das Bröckeln von Grenzen, der Einbruch von Krisen markiert diesen Wandel. Beim Übergang von der einen in die andere, nächste Seinsform muss es nach Turners Konzept »eine Nahtstelle oder […] ein – wenn auch noch so kurzes – Intervall geben, eine Schwelle (limen), an der die Vergangenheit für kurze Zeit negiert, aufgehoben oder beseitigt ist, die Zukunft aber noch nicht begonnen hat«.2 An dieser Schwelle löst sich das Vertraute auf, und das Monströse, das Ungeheuerliche hält Einzug in das Leben der Protagonisten. Nach Turner bzw. van Gennep hängen Schwellenerfahrungen mit Krisensituationen zusammen, mit einem anarchischen Moment, das hier als Naturerscheinung bzw. als der Tod der Frau eintritt. In der Beschreibung der Ethnologen ist der Schwellenzustand z.B. im Zusammenhang mit Übergangsriten beschrieben worden, was eine Lösung von der vorherrschenden Ordnung bedeutet, einen vorübergehenden Zustand außerhalb der Gesellschaft und ihrer Gesetze, ja geradezu die Sphäre gesetzwidrigen Verhaltens. Diese Situation ist jedoch nur eine liminale Phase, die in die Triade Loslösung, Schwelle, Integration eingebettet ist. Dieser Beschreibung von Liminalität ist eine Teleologie inhärent, derzufolge eine Rückkehr, eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft gesichert ist. Man macht eine Verwandlung durch, eine Transformation, und kehrt auf einer anderen Stufe in die Ordnung zurück.
2
Turner: 1995, 69. Herv i. Orig.
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
Die Eigenschaft des Schwellenzustandes (der Liminalität) oder von Schwellenpersonen (Grenzgänger) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz von Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern existieren zwischen den von Gesetz, Tradition, Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.3 Darius Kopp und seine Frau Flora sind beide als solche Grenzgänger zu betrachten, die weder hier noch da, weder das eine noch das andere sind, sondern als Zwischenwesen existieren. Eine ambivalente Ab- und Anwesenheit ist ihr Ort. Flora war, wie man in Der einzige Mann auf dem Kontinent sehen konnte und wie es auch in Das Ungeheuer klar wird, zwar da, doch nie richtig präsent im Leben von Darius. Es scheint, als ob sie sogar schon zu Lebzeiten hinter einer Grenze gewesen wäre. Jetzt ist sie tatsächlich jenseits der Grenze, die – wie es zum Schluss heißt – die Lebenden und die Toten trennt (U 647, 664), doch viel mehr anwesend im Bewusstsein des Ehemannes als je zuvor. Wie er reflektiert, tritt er gerade durch den Tod Floras in den Ehemannstatus ein. Und trotz der irreversiblen Grenzüberschreitung, die mit dem Tod beginnt, trotz des absolut Fremden, das sich nach der Terminologie von Waldenfels hinter dem Tod verbirgt, ist die Präsenz Floras offensichtlich. Dies wird nicht zuletzt durch die Schrift (das Anwesend-Abwesende), also die Aufzeichnungen bzw. durch ihre Asche in der Urne möglich. Darius ist zwar am Leben, in seiner Klausur und wegen seiner Lähmung ist er aber von der Gemeinschaft abgeschnitten, wie ein (Schein)Toter im liminalen Schwellenraum. Die Unbestimmtheit, das Nicht-Vorhandensein klassifikatorischer Ordnungen bestimmt aber den ganzen Text. Ein Changieren zwischen An- und Abwesenheit charakterisiert den Roman, denn die sichtbaren und irreversiblen Grenzen sind z.B. durchlässiger, verschwommener als die unsichtbaren, die nicht überschritten werden können. Nach dem Tod seiner Frau versucht der Protagonist »in der Routine zu bleiben« (U 53), kann aber nicht so tun, »als wäre etwas normal, wenn es nicht wenigstens ein Minimum gibt, mit dem du übereinstimmen kannst« (U 53). Dann lässt er auch die Routine, die sowieso nicht funktioniert, und stellt sich auf einen langen Winterschlaf (U 56) ein. Es ist klar, dass er »halb drin, halb draußen« (U 56) ist, eine »depressive Krise« (U 57) erlebt und nahe daran ist,
3
Turner: 2000, 95.
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zum Verrückten« gestempelt zu werden (U 57). Wegen Floras Tod, ihrer Abwesenheit hat Darius das Gefühl, rasend zu werden (U 70, 71, 73). Er wartet (U 73) in seiner Naivität darauf, dass die Situation seines Übergangs sich von alleine ändert. Es ist leicht zu erkennen, dass es hier um eine Grenzsituation geht und um eine liminale Phase, in der Darius schon nahe daran ist, in den Wahnsinn zu kippen. Die Normalität der Routine ist unmöglich. Wenn diese von einem langen Winterschlaf abgelöst wird, impliziert es noch, dass danach, nach dieser Übergangszeit, eine Rückkehr in die Normalität möglich ist, dass man noch »integrierbar« (U 58) ist. Anstatt sich aber einen neuen Job zu suchen, scheint für Kopp allein das Verreisen die einzige erträgliche Tätigkeit (U 59) zu sein. Aber das ist nicht der einzige Punkt, der im Zusammenhang mit Liminalität symptomatisch und signifikant ist. Will man den Schwellenzuständen näherkommen, muss das von Turner und van Gennep beschriebene triadische Modell anvisiert werden. Der Übertritt aus einer Ordnung in eine Übergangsphase bringt einen Zustand der Verwirrung und Orientierungslosigkeit mit sich, da alles im Ambivalenten seinen Ort hat. Während jedoch das befremdliche Dazwischen in der Theorie eine zeitlich begrenzte Phase ist, dehnt sich die Schwelle in Moras Roman unendlich aus, wird unlimitiert, was bedeutet, dass eine Wiedereingliederung nicht stattfinden kann. Die Ablösung findet zwar statt, man befindet sich in ständiger Bewegung, im Übergang zwischen Situationen, Ordnungen und Seins-Bereichen, die Bewegung scheint aber kein Ende finden zu können. Der ganze Handlungsverlauf und die Narration sind so angelegt, dass es immer wieder Kipp- und Wendepunkte gibt, die kein Zur-Ruhe-Kommen zulassen. Die ewigen Krisen, über die Darius nachdenkt, sind markante Erscheinungen dieser Problematik. Kopp kommt immer »vom Regen in die Traufe« (U 30), was beschreibt, dass der eigentliche Schwellenzustand bei ihm zum Dauerzustand wird. Die Situation von Darius unterscheidet sich auch darin von den Riten, dass es dort um eine »inszenierte Liminalität« geht, was eine Art Schutz bietet. Bei der »nicht-inszenierten Liminalität«, die über uns kommt wie ein Stein,4 kann die Ordnung nicht einfach wieder hergestellt werden, und was noch wichtiger scheint, man ist alleingelassen in seiner Orientierungslosigkeit. Das Außer-Kraft-Treten der Ordnung und damit die Einsamkeit sind auf Dauer gestellt, es kommt zu einer ständigen Transgression und Transition von Zuständen. Thematischmotivisch erscheint dies darin, dass Darius beschließt »hier wegzufahren« (U 4
Stenner: 2016, 49.
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
60), und sich dann für eine Reise nach Ungarn entscheidet. Sein Ziel dabei ist, die sterblichen Überreste seiner Frau irgendwo zu begraben, für Flora also eine Ruhestätte zu finden. Diese Ruhestätte wird aber erst im dritten Teil der Trilogie präsent, ein Ort, der für die Frau als eine ewige, für den Mann jedoch nur als eine vorübergehende Stelle der Ruhe erkannt werden kann. Der Protagonist setzt sich ein »bewegliches Ziel« (U 66) und erklärt sein Auto zu seinem Aufenthaltsort, zu seiner Behausung. Dies wird auch ganz bis zum Schluss durchgehalten, wenn das Auto verschrottet werden muss, da es zusammengeschlagen und dadurch vernichtet wurde. Die Fahrt aus der Hauptstadt wird als der nächste Grenzüberschritt beschrieben, wobei es hier noch nicht um eine Landesgrenze geht. Kopp hat das Gefühl »als käme man aus einer geschlossenen Stadt frei. Als wären von einer Stunde zur nächsten Sperren weggefallen5 , die es bis dahin an jeder Ausfahrt gegeben hat. Er freute sich über das zunehmende Gefühl von Befreitsein« (U 67). Damit beginnt auch, wie er feststellt, »[m]y own private roadmovie« (U 69). Das Gefühl der Freiheit, das durch die Grenzüberschreitung entstand, hält aber nicht lange an, denn die Fahrt ist mit zahlreichen Komplikationen verbunden: »wer aus seiner Höhle kommt, hat, zack, ein Messer im Rücken«6 (U 79). Die positive Konnotation der Überschreitung ist umgekippt, statt Unantastbarkeit geht es darum, dass Körper durchdringbar, verletzbar sind (U 79). Durch den performativen Akt, womit Kopp sein Auto zu seiner Behausung ernennt, stellt er den Übergang auf Dauer. Die Ordnung ist in seinem Leben bereits seit einer Zeit suspendiert, er befindet sich schon in der selbstgewählten Klausur in einer Schwellensituation, und so kann auch seine Koje bei Juri aufgefasst werden. Wenn man Liminalität als Transition zwischen Zuständen7 versteht, ist es evident, dass durch die Reise diese Transition zum Normalzustand wird, obwohl dies keineswegs als Rückkehr in die Ordnung, im Sinne von Reintegration aufgefasst werden kann. Da Kopp befreit ist von Strukturen, kann er spontan, von Konventionen losgelöst Entscheidungen treffen. Die Grenzerfahrungen zwingen ihn dazu, Wege zu finden, die neu Formen und Strukturen in sein Leben bringen, damit nicht das Chaos einbricht. Sein Grenzzustand stürzte ihn in Lähmung, und nun stürzt er sich in unablässige Aktivität. Dieser
5 6 7
Dies kann als eine Anlehnung an Marlen Haushofers Roman, Die Wand erkannt werden, worauf noch eingegangen wird. Dies erscheint selbstverständlich als Korrespondenz mit der Ausgangsidee in Nicht Sterben. Vgl. Stenner: 2016, 58.
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Wandel von Stillstand in Aktion ist aber trügerisch, denn seine Unternehmungslust wird zugleich eine Rastlosigkeit, die ihn zwar vom Stillstand und vom Chaos rettet, ihn jedoch trotz Beweglichkeit in einer Passivität gefangen hält. Sein liminaler Zustand wird dadurch nicht behoben, abgeschlossen, vielmehr erlebt er während der Reise zahlreiche liminale Situationen, Transit und Übergang in Permanenz. Eine markante Ausprägung ist in diesem Bereich die Gastlichkeit, aber auch die Tatsache, dass Kontingenz, das »AuchAnders-Sein-Können«8 sein Leben bestimmen wird. Der Druck von außen (Natur, Juri) zwingt ihn dazu, in der Lebenskrise sich irgendwie zu managen. Er macht sich auf den Weg, sucht sich aber ein »bewegliches Ziel« (U 66), wodurch die Flüchtigkeit, das Ephemere des liminalen Zustandes anhält, und wodurch keine feste, sondern nur eine amorphe Struktur entsteht. Die wird von fortlaufenden Kipp- und Wendepunkten dominiert und hält den Protagonisten in einem paradoxen Sowohl-Als-Auch bzw. in einem WederNoch-Zustand gefangen. Sein Schwellenzustand ist nicht temporär, und es geht auch nicht darum, dass er nach der Befreiung von Struktur dazu nun revitalisiert zurückkehren würde. Die Lösung, um seine Situation zu managen, scheint für Darius zunächst der Weg zu sein, womit aber auch eine antistrukturelle Potenzialität verbunden ist, die reine Kontingenz. Kopps Weg führt, wie es zu zeigen gilt, nicht aus einer Struktur in die andere, vielmehr bleibt er den ganzen Roman hindurch in der Schwebe auf der Schwelle, in einem Zustand der Unbestimmtheit. Von der allgemeinen Ambiguität bleibt auch die Identität von Darius nicht unangetastet. Jenseits der Gesellschaft, ihrer Gesetze, Traditionen und Normen, als Arbeitsloser ist er in einem Zustand, in dem die Ordnung auf den Kopf gestellt ist. Der komplexe Ausnahmezustand, in dem sich Darius befindet, macht ihn auch zum Außenseiter, wodurch selbst seine Identität fraglich wird, inkonsistent bleibt und neu begründet werden muss. Die Frage dabei ist, ob er aus dieser Verwirrung, die durch den fremden Zustand verursacht wird, in eine Vertrautheit zurück kann, ob der Weg, den er wählt, dies ermöglicht. Damit beginnt Darius nach Überquerung unsichtbarer Grenzen seine Reise in die Zukunft. Er ist auf der Schwelle, indem er die Vergangenheit verlassen hat und der ungewissen Zukunft entgegensteuert. Bei dieser Reise werden aber Vergangenheit und Gegenwart aufs engste miteinander verwoben, da Darius z.B. an eine frühere Reise mit seiner Frau denkt und damit die Grenze zwischen den beiden Zeitebenen verwischt. Durch das Ineinanderblenden der beiden Zeitsphären wird auch die Grenze des Todes 8
Makropoulos: 1998a, 23.
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
getilgt, Flora wird anwesend gemacht. Ihre Präsenz ist auch deswegen gegeben, weil Kopp den Laptop mit Floras Aufzeichnungen, bzw. die Übersetzung dieser Notizen auf dem Beifahrersitz hat und sie immer wieder liest. Durch die Schrift und die digitalen Speichermedien überdauert die Frau den Tod. Nicht nur Darius, auch Flora wird zum Schwellenwesen.
6.3
Stammgast im eigenen Leben: Figurationen von Gastlichkeit
Literatur problematisiert seit der Antike die Gastlichkeit und ist ein zentraler Ort der Reflexion über Gast und Gastgeber. Die Forschung weist darauf hin, dass durch Figurationen von Gastlichkeit der »Mensch als Grenzwesen«9 erkundet wird. Nach Simon ist Gastlichkeit als »Urszene der Kultur« zu verstehen, denn »jede Begegnung zwischen Personen [ist] eine transformierte Form der Schwellensituation […], in der sich Gast und Wirt gegenüberstehen«.10 Gastlichkeit ist also immer dann im Spiel, »wenn Kommunikation und allgemeiner: überhaupt Interaktion stattfindet«.11 So ist Gastlichkeit als »Grundsituation konkreter Interpersonalität«12 zu betrachten, bei der alle Beteiligten diverse Grenzen überschreiten. Der Gast ist der Beweglich-Sesshafte, ein Paradoxon an sich, und sein Ort ist das Zwischen,13 weder ganz hier noch ganz dort. Er lebt auf der Grenze, im Bereich des Liminalen, wodurch jegliche Identität eine Relativierung erfährt, da der Gast auch den Gastgeber in die Zone des Liminalen überführt.14 Bedenkt man all diese Zusammenhänge, wird klar, dass durch Figurationen von Gastlichkeit, als ein Grundimpetus von Moras Schaffen, zugleich die Fragilität jeder Ordnung vor Augen gestellt wird. Der Eintritt des Fremden in das Eigene führt so zu einer Relativierung dieser Größen, zur Erfahrung von Alterität im Dazwischen. Die Erzählung dient (als Gastgeschenk) zur Vermittlung beider Seiten.15 Gastlichkeit und Literatur sind durch Kommunikation und Interpersonalität aufs Engste miteinander verwoben, da diese Situation eng mit dem Erzählen, mit Erklärungsnot und
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Parr/Friedrich: 2009, 4. Simon: 2016, 681. Ebd. Ebd. Stoellger: 2016, 426. Ebd., 427. Simon: 2016, 685.
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Unterhaltungszwang verbunden ist.16 Die Gastlichkeit ist also nicht nur literarisches Motiv, sondern auch Schreibmodell, narratives Muster, das, mit der Frage nach dem Fremden, Entfremdung in der dissoziierten Gesellschaft im Blick hat.17 In Figurationen von Gastlichkeit sind diese liminalen Zwischenräume die Orte der Erzählung von Geschichte. Gastlichkeit kann demnach als eine basale Grundfigur der Narration erkannt werden, die nach der Baulogik des Romans die Erzählung weitertreibt. Parr beschreibt korrespondierend damit diese Situation auch als ambivalenten Doppelraum, als »temporären Schwebestatus zwischen Fremdsein und Selbstsein«.18 Der Gast wird somit als Schwellenexistenz verortet, der zwar nicht bedrohlich ist, doch nicht zum Bereich des Eigenen gehört und dem Heimischen auch nicht ganz angegliedert werden kann und soll.19 Der Gast gehört nicht zur Familie und wird doch in den familiären Raum eingelassen, ohne dass man ihn integrieren möchte oder könnte. So ist der Gast »weder ganz hier noch ganz dort«, lebt eine Grenze, womit Identität und Identifizierung, aber auch Differenz eine Relativierung erfahren und zum Kipp-Phänomen werden.20 Die Erlebnisse von Gastfreundschaft und Bewirtung beschränken sich nicht nur auf die Zeit der Reise in Das Ungeheuer. Darius ist auch in Deutschland, in Auling eingeladen und erlebt kaum vorstellbare Nähe und Offenheit. Das Schema ist bei diesen Begegnungen ähnlich wie während der Reise: zum guten Essen gehört immer auch eine Geschichte. Da Darius sich eher ausschweigt und die intime Offenheit befremdlich findet, ist er irritiert, wenn Grenzen so überschritten werden und man sehr persönlich wird. Diese Art von persönlicher Beziehung liegt für ihn außerhalb des Normalen und ist nur vorstellbar, wenn man in einem veränderten Bewusstseinszustand, wie unter Drogen, steht. Durch die thematisch bedingte Reise sind Konstruktionen von Gastfreundschaft zentral im Text, da die Reise als paradigmatischer Testfall für solche Art Begegnungen gilt. Der Roman reflektiert und inszeniert somit unterschiedliche Formen von Gastlichkeit. Der strukturelle Rahmen der Handlungsereignisse ist das Unterwegssein. Da der Protagonist sich im Ausland aufhält, sind diese Begegnungen auch von interkultureller Fremdheit
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Parr/Friedrich: 2009, 3. Ebd., 11. Parr: 2011, 156. Vgl. ebd. Stoellger: 2016, 427. Herv. i. Orig.
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
geprägt, von der Begegnung mit anderen Sprachen, Schriftsystemen, Sitten etc. markiert. Der Gast befindet sich in einem Ausnahmezustand der Liminalität, da er dem Alltagsdasein enthoben ist, aber auch den Anderen, den Gastgeber, des Alltagsdaseins enthebt.21 Obwohl also der Gastgeber keine räumlichen Grenzen überschritten hat, kommt auch er nolens volens in eine Schwellensituation. Diesen Tatbestand inszenieren im Text die Tramper-Szenen, die Begegnungen mit Oda und Doiv. Die klassische Situation der Gastlichkeit ist etwas verzerrt dadurch, dass sich beide, Gastgeber (Darius) und Gast, nicht im Heimischen, sondern im Ausland befinden und unterwegs sind. Hält man vor Augen, dass Darius sein Auto zu seinem Wohnort erklärt hat, sind eigentlich Oda bzw. Doiv vorübergehend Gäste, denen Kopp nicht nur eine Bleibe, sondern auch, willentlich oder unwillentlich die Bewirtung anbietet. In diesen Situationen kommt es auch zur Überschreitung der interpersonellen Grenzen durch Erzählung von Geschichten. Alle sind auf die Gnade des Anderen angewiesen (U 275, NS 78) und diese Gegenseitigkeit der Gnade ist es, was als prinzipielles Gastrecht die ganze Handlung dominiert. Darius ist in seiner Schwellenphase der »Passierende«, der (Kultur)Räume durchschreitet und ganz bis zum Ende aus der Ambiguität dieses Zustandes nicht herauskommen kann. Das erste Ziel des Protagonisten ist Ungarn, die ursprüngliche engere Heimat von Flora im Westen des Landes und Budapest. Da Darius sich »so schnell nicht entscheiden« (U 52) kann, wie er seine Frau bestatten soll, wird die Urne »für eine Weile« aufbewahrt (U52). Dann macht er sich auf den Weg, um irgendwie vielleicht in Ungarn die letzte Ruhestätte der Frau zu finden. Die Reise bis nach Ungarn verläuft nicht ohne widrige Ereignisse und Überraschungen. Kopp beginnt auch Floras Notizen, die »Fragmente einer Frau«, zu lesen (U 83), und reflektiert auf ihre Vergangenheit. Es wird mit Hilfe von Analepsen nacherzählt, wie sie sich kennenlernten, wie ihr Leben war, ihre Vorlieben, ihr Alltag, aber auch Floras Zusammenbrüche fließen ein, ihr psychischer Zustand, und dass sie irgendwie immer zwar präsent, doch jenseits seines Horizonts war, als hätte sie von Anfang an damit angefangen, sich vor ihm zu verstecken (U 101). Zu diesem Gefühl, zu der Feststellung von der grundsätzlichen Fremdheit seiner Frau, bringt ihn jetzt auch die Tatsache, dass die Notizen seiner Frau voll von Abkürzungen sind, wodurch sie für ihn in großen Teilen unverständlich bleiben. Als Ausweg, um die Lücken, die noch zu Lebzeiten nicht gefüllt 21
Previšić: 2011, 8.
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worden waren, zu füllen, um hinter Geheimnisse zu kommen, googlet er sie mit überraschenden Ergebnissen (U 108). Zu dieser Spurensuche gehört auch der Besuch ihres einstigen Gymnasiums, das er allerdings nur von außen betrachten kann. Kopp läuft herum in der Stadt, sucht das Schülerwohnheim und dann durch das Internet, durch Suchbegriffe wie Zuckerfabrik und Thermalbad, das Dorf Floras. Er fragt sich aber selbst, »wie […] einem das, was anwesend ist, überhaupt Auskunft über das Abwesende geben« kann (U 134). Weit kommt er aber nicht, seine Recherchen reichen, um festzustellen: »ja, meine Frau hat es gegeben, sie hat hier gelebt« (U142). Ihr nahe kommen kann er aber nicht. Darius war auch noch zu Lebzeiten von Flora ihr »Stammgast« (U 148), also durch das Paradox der Fernnähe22 mit ihr verbunden. So ist es nicht verwunderlich, dass er auch damals schon unter »Ungenügend-informiert-Sein« (U 149) litt, was sich auch im Nachhinein nicht beheben lässt. Als Gast sind sie einander niemals als Ganzes fassbar,23 was durch die multiple Uneinschätzbarkeit des Gastes24 zugleich die unauflösbare Fremdheit von beiden Figuren hervorhebt. Sein »Leben mit dem Beruf und mit seinen Freunden überschnitt sich irgendwann kaum mehr mit dem Leben, das er mit seiner Frau führte« (U382). Die Frau war einfach nicht mehr von seiner Welt (U 405), also in einer Parallelwelt, wie auch jetzt, eigentlich wie tot. Es verlief also eine eindeutige Grenze zwischen ihnen, die man nicht mehr eliminieren konnte. Die Tatsache, dass er nur als Gast bei ihr einkehrte, zeigt, dass auch diese Ehe zum einen nur eine Übergangsphase war und zum anderen die Alterität der Figuren nicht eliminieren, Ferne nicht in Nähe verwandeln konnte. Darius kann auf seiner ersten Station, in Ungarn, nichts erledigen, kann die Sache nicht abschließen (U 372), seinen Weg nicht beenden. Es scheinen durch Zufälle Lösungsmöglichkeiten auf, dennoch kann er keinen Ort finden (U 228, 231), an dem er seine Frau beisetzen würde. Er hat zwar die Urne nach Ungarn bringen lassen, um sie dort zu bestatten, doch kann er das nicht durchführen. Auch dies weist auf seinen Schwellenzustand hin, auf die Tatsache, dass er diese Überganssituation, sich von der toten Flora nicht trennen zu können, nicht beenden kann. Er verfrachtet die Urne nun im Kofferraum und fährt mit ihr durch ganz Süd-Ost-Europa, um die Beisetzung vielleicht am Ararat zu vollziehen. Wenn ihn schon die Sintflut aus der Wohnung, aus
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Ebd., 11. Ebd., 12. Ebd., 11.
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seiner Lähmung vertrieben hat, könnte er vielleicht am Ararat, der auch die Arche Noah auffing, das Herumirren beenden. Nach biblischem Muster wäre nach der Krise am Ararat Festland zu erreichen und ein Neuanfang möglich. Der Zufall führt ihn dann in Person einer Albanerin nach Kroatien und nach Tirana weiter. Er hat eigentlich wieder kein konkretes Ziel, liest auf dem Schild der Tramperinnen die Aufschrift LOS (U 241), was sich im Nachhinein als SLO für Slowenien identifizieren lässt. Die eine Frau, Odeta, die sich Oda nennt, was im Ungarischen ›dorthin‹ bedeutet, weist ihm nun bis nach Albanien den Weg. Sie, diese zufällige Beifahrerin, wird seine Helferin, »sie passt auf ihn auf« (U 283) wie die Göttinnen auf Odysseus. Selbst nachdem sie, so wie sie auch aufgetaucht ist, verschwindet, organisiert die Suche nach ihr das Leben von Darius. Während der Fahrt erfahren wir einiges aus der Vergangenheit von Darius und Oda, ein Stück DDR-Geschichte und etwas aus der Geschichte Albaniens. Es geht nicht zuletzt auch über Migrationszwänge und das schwierige Leben von Migranten und ihrer Familien. All diese scheinbar zufälligen Geschichten sind eng mit den Hauptgegenständen des Romans verwoben. Vor allem wird aber die Verlorenheit und Ziellosigkeit von Darius in diesen Passagen erkennbar. All die besuchten Orte sind wieder transitorisch, »Orte, die nur für den Übergang taugen« (U 364), und sie sind Hotels, Schiffe oder eben die Autobahn, eindeutig Nicht-Orte25 . Darius fährt immer weiter, auch wenn ihm klar wird, dass das Reisen zwar, wie auch das Sprichwort sagt, bildet, es lenkt aber auch ab, füllt aus, ist »etwas statt des Nichts« (U 369). Dies zeigt, dass sich der Protagonist eigentlich im Nichts befindet, das er mit der Reise ausfüllen will. Ich »bin Tourist« (U 169. Herv. i. Orig.) sagt er, und weist damit wieder auf seinen liminalen Zustand hin. »Meine Hütten und mein Gezelt zerstört« (U 17. Herv i. Orig.) lautet die Devise, die zeigt, dass die stabilitas loci wie Heim, Heimat26 vernichtet sind. Für den Protagonisten bleibt nur der Weg, das Auto zum Heim zu erklären, und sich auf die Reise zu begeben, bzw. die Reise weiter fortzusetzen. Verschiedene Formen von Gastlichkeit kommen auch in den Gesprächen von Darius und Oda vor, wenn sie ihm etwas über die Reisecommunity »Sofas überall auf der Welt« (U240), »Divani international« (U 355), also über Couchsharing, über Gast-Sein überall auf der Welt erzählt. Zu einem ähnlichen Gast wird auch Darius nun während seiner Reise, ob in Tirana, im 25 26
Vgl. Auge: 1991. Stoellger: 2016, 401.
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bulgarischen Kloster oder in zahlreichen anderen Ländern, bis zu seiner Abreise von Athen, dem Ende des Romans. Es geht um ein Gast-Sein im Leben des Anderen, wenn nicht auf dem Sofa dann doch auf dem Beifahrersitz, in verschiedenen Behausungen bei Bekannten, doch meistens bei Unbekannten, die einem durch den Zufall durch den Weg laufen. Auch Oda ist im Auto von Darius als Gast aufzufassen. Ihre Migrationserfahrung, aber auch ihre Vorliebe für Couchsharing thematisieren die Problematik von Hospitalität, und zwar auf entgegengesetzte Weise. Als Gast auf verschiedenen Sofas in Europa ist sie als gerngesehener Gast anwesend, als Migrantin in Italien musste sie aber zahlreiche Demütigungen erleben, man hat sie nicht dem Gastrecht entsprechend traditionell willkommen geheißen. Hier erfuhr sie eher Hostilität als freundschaftliche Aufnahme. Diese Situation, die Problematik von Migranten, wiederholt sich mehrfach im Text, immer mit demselben Ergebnis des Ausschlusses und der Feindlichkeit. Verbunden ist diese Konstellation indirekt aber auch mit der Geschichte von Flora, der Geflüchteten, die eine Zeit lang Menschen in einem Strandcafé bewirtet, nirgends aber Gastfreundschaft erlebt. In etwas abgewandelter Form steht diese Tatsache auch im Zusammenhang mit den international agierenden Firmen (EM, U), die in jeder Großstadt ihren Sitz haben, deren Anwesenheit nicht in Frage gestellt wird. Gäste, Touristen, das internationale Kapital sind erwünscht, nur Migranten fallen unter das Ausländerrecht.27 Der Umgang mit dem Fremden ist janusköpfig. Oda und Darius befinden sich beide in einer liminalen Ausnahmesituation, die Frau mit, der Mann ohne Ziel. Diese Situation der Grenzauflösung und Transformation wird im Fall von Oda auch noch dadurch deutlich, dass Darius in ihr Flora sieht oder zu sehen versucht. Beide Frauen werden ineinander geblendet, und für eine Übergangszeit wird Darius glücklich. Das Gast-Dasein von Darius beginnt aber bereits in der Abstellkammer, die Koje von Juri. Während der Reise dominierten dann die Hotels und mit ihnen eher die Einsamkeit. Nun ist der Protagonist durch Oda in eine soziale Relation, in eine reziproke Situation eingebunden. Er hat wieder eine Gemeinschaft, und das ist beruhigend, selbst wenn es um unbekannte Personen und eine begrenzte Zeitspanne geht. Dem Gast ist eine spezifische Zeitlichkeit inhärent,28 es ist ein vorübergehender, endlicher Zustand. »Das Temporäre, die
27 28
Vgl. Previšić: 2011, 9. Vgl. ebd., 11.
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Unstetigkeit, das Zeitweilige markieren die zeitliche Grundstruktur von Gastlichkeit.«29 Betrachtet man dies abgelöst von der thematischen Ebene, kann festgestellt werden, dass dies die ganze Struktur des Romans beschreibt. Gerade das Temporäre, Unstetige, Zeitweilige gibt die zeitlichen Modalitäten her und korrespondiert mit der alles umfassenden Übergang. Ins Auge sticht hier aber, dass dieses Zeitweilige kein vorübergehender Zustand ist, sondern dass der Protagonist sich in einer permanenten Liminalität30 befindet. Die Narration ist dadurch vom Episodischen und Seriellen dominiert und weist eine gewisse Wiederholungsstruktur auf. Darius bekommt durch die Gastsituationen neue Ziele, denn meistens sind es seine Mitfahrer oder Gastgeber, die die Regie über sein Leben übernehmen (U 592). Die Begegnung von Darius und Oda ist auch ein interkulturelles Erlebnis und inszeniert eine Urszene von Gastlichkeit und Begegnung. Diese Szenen entsprechen »ritualhaften Konventionen in Form von Begrüßung, Bewirtung, Erzählung der eigenen Herkunft usw.«31 Die Figuren geben, und das gestaltet den Handlungsrahmen, das treibt die Narration voran, einiges aus ihrer Biographie, aus ihrer Vergangenheit, über ihre Familie etc. bekannt. Hält man sich die hier bemühte narrative Dimension von Gastlichkeit vor Augen, wird einleuchtend, dass damit das Erzählen unendlich potenziert werden kann, denn es gibt immer eine neue Story (U 251). Hier, indem ausgesagt wird: »people are longing for stories« (U 419), kommen wir aber auch auf der reflexiven Ebene des Romans an. Die Sprache, das Erzählen haben die Funktion, Sicherheit zu schaffen, dies kann jedoch nicht eingelöst werden. Die Szenen des gegenseitigen Erzählens stellen vielmehr das Doppel von Nähe und Distanz, Mitteilen und Verschweigen dar, denn beide Gesprächspartner befinden sich im Zwischenraum dieser Optionen. Charakteristisch für diesen Zustand ist eine multiple Uneinschätzbarkeit, was bei Darius im »ich kenne mich einfach nicht aus mit euch« (U 325) erscheint.32 Der Gast befindet sich in einer Schwellensituation der Begegnung von Fremdem und Eigenem, Innen und Außen, Nähe und Ferne, Intimität und Öffentlichkeit. Diese Verfassung kann als »Schwebezustand zwischen Fremdsein und Selbstsein« beschrieben. werden.33 Gastlichkeit ist mit Irritation
29 30 31 32 33
Ebd. Vgl. Szakolczai: 2015. Previšić: 2011, 7. Ebd., 11. Parr/Friedrich: 2009, 3.
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verbunden, denn sie bedeutet trotz der gemeinsamen Sprache und des gemeinsamen Horizonts doch eine Art Unverfügbarkeit.34 Potenziert wird dies im Text Moras jedoch dadurch, dass durch die Reise in verschiedene Länder auch verschiedene Sprachen bzw. Schriftsysteme aufeinandertreffen, die das Verstehen stören oder geradezu unmöglich machen. Oft wird ein Vermittler, ein Übersetzer nötig, damit Verständigung stattfinden kann. Erschwert wird die Identifizierung oft auch wegen der Abweichung zwischen Aussprache und Schriftbild (DOIV, Därjäss), wegen dialektalen Färbungen u.ä.m. So steht eigentlich der ganze Roman unter dem ironischen aristotelischen Spruch: Ich weiß, dass ich nichts weiß, was im Text auch explizit erwähnt wird (U 598). Eine wichtige Station von Darius‹ Gast-Dasein ist die Zeit bei Odas Großmutter, wo er im doppelten Sinne eine Schwellensituation erlebt. Er ist nämlich ein kranker Gast, der wegen eines hohen Fiebers, einer Hirnhautentzündung, die durch eine Zecke verursacht wurde (U 310) Tage im Delirium, also in einem veränderten Bewusstseinszustand verbringt. Erst nach einer Zeit und ärztlicher Hilfe kann er in die Normalität zurückkehren und sich überhaupt dessen bewusst werden, was mit ihm passiert ist. Während des Deliriums, das eine ganze Woche anhält, kommt es wieder zu einer Verwischung von Grenzen. Ineinander geblendet werden zwei voneinander eigentlich in jeder Hinsicht sehr entfernte Welten. Eins werden zum einen Kopps Geburtsort Maidkastell und Tirana, zum anderen seine Mutter, ihre Freundin und eine fremde Frau. Darius kann sich weder räumlich noch zeitlich verorten, sondern schwebt in einem Zwischenbereich, in der Amalgamierung zweier Sphären. Er kann absolut keine Grenzen mehr ziehen zwischen Realität und Irrealität, aber auch nicht zwischen Wachen und Traum (U 305). Auch hier liegt er wieder in einem »Kojenbett« (U 306), also an einem heterotopen Ort des Dazwischen. Herausgekommen aus diesem Zustand versucht er nun, sich wieder eine Ordnung aufzubauen. Es ist anstrengend, da ihm der Zusammenhang fehlt, da ihm nur »isolierte Sachen« einfallen (U 308). In die Situation des Gastes kommt er erst nach seiner Heilung richtig hinein. Er erlebt dabei Fremdheit, was auch mit Unkenntnis der Landessprache zusammenhängt. Trotz der freundlichen Aufnahme ist eine unüberwindbare Grenze gezogen zwischen ihm und der alten Frau. Gerade die Begegnung, die körperliche Nähe macht ihm diese Grenze und die Ambivalenz, worin Nähe und Ferne verbunden sind, bewusst. Der Gast kann als derjenige definiert werden, der kommt und geht, der aber gerade wegen des Doppels von Nähe und Distanz 34
Vgl. Mein: 2009, 81.
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eine Irritation auslöst. Klar ist, dass sowohl Oda als auch die Großmutter mysteriös bleiben, Darius nur verwirren, da er ihr Verhalten, das Gemisch aus Nähe und Distanz nicht deuten, klassifizieren und einordnen kann (U 325). Doch auch er erlebt in der Fremde eine unerklärliche »Heimeligkeit« (U 330), was ihn positiv stimmt und hoffnungsvoll macht. Das Bekannte im Fremden und das Fremde im Bekannten werden hier angesprochen und damit eine Grundaussage des Romans, dass nämlich nichts ganz fremd und auch nichts ganz bekannt sein kann. Zu Schau gestellt ist damit, dass Gastlichkeit mit Irritation verbunden ist, denn sie bedeutet eine Art Unverfügbarkeit.35 Oda ist bereits verschwunden, und es gibt nun niemanden mehr, der Darius den Weg weisen würde. Seine Reise geht mit der Suche nach ihr weiter, eigentlich ohne Plan, vielmehr so, dass Darius sich dem Zufall überantwortet. Aus der Suche macht er ein Spiel, und das wird nun sein »Faden, ein Führungsseil, an dem man entlanggehen konnte« (U 334). Dem ähnlich sucht er auch den nächsten Punkt als sein Ziel mit Hilfe der Landkarte, Athen, das einen Tag entfernt ist. Da will er seinen alten Bekannten, Aris, treffen, will mit ihm sprechen, um zu »wissen, was zu tun ist« (U 366). Obwohl die Richtung entschieden und das Ziel gesetzt ist (U 365), geht der Weg nicht so weiter, denn Darius kommt nach einer großen Schleife erst Wochen später in Griechenland an. Diese Abzweigung entsteht wieder durch eine zufällige spontane Begegnung. Um das Warten auf Stavridis auszufüllen ist die nächste Etappe Bulgarien, wo der Protagonist in einem Kloster Doiv, dem Engländer begegnet, der seit Monaten unterwegs und ein echter Streuner, ein Vagabund ist. Auch diese Begegnung wird, schon in der Türkei, reich an Themen und Szenen, die die Gastlichkeit reflektieren. Dem bewährten Modell entsprechend kommt es bei den Begegnungen dazu, dass man seine Story erzählt. Analog zu der Begegnung mit Oda gibt es auch hier eine Geschichte von Hospitalität und eine von Hostilität. Letztere hängt hier wie dort mit dem Migrantenstatus zusammen, denn Doivs Frau bekam in England nicht einmal bis zum Ende ihrer Schwangerschaft eine Aufenthaltsgenehmigung. Auf der anderen Seite genießen sie beide, Darius und Doiv/Dave die »oriental hospitality« (U 417. Herv. i. Orig.) eines Hotelbesitzers in Istanbul. Doiv ist wiederum auch Kopps Gast, sie teilen alles brüderlich (U 425). Doiv wird in Form eines Spiels auch zum Wegweiser für die gemeinsame Weiterreise (U 433). »Sie fuhren, hielten an, aßen, übernachteten, wo immer Doiv es sagte.« (U459) »Das Spiel heißt: Doiv nennt ein Nahziel, sie fahren hin, dort geschieht etwas oder eher nicht. Das 35
Vgl. ebd.
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ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass es einen Rahmen gibt.« (U 433) Dieses Spiel kann aber auch als Erzählprogramm gelesen werden, denn die Setzung neuer Ziele, Fortfahren, Unterwegssein, eventuelle Ereignisse sind das Movens des Erzählens, eine Road-Narration. Die zwei Kompagnons überqueren dabei mehrere Staatsgrenzen, schließen viele flüchtige Bekanntschaften, trennen sich dann, und Darius fährt nach Georgien, nach Tiflis (U 498) weiter. Weil sein Auto repariert werden muss, er also seine Behausung für eine Übergangszeit verliert, wird er der Gast von Dawit. Der ist gelernter Koch (U 500) und bewirtet nun eine Zeit lang den Deutschen. Hier erfährt Darius die »Story« von Dawit und seiner Familie. Auch hier wird ihm neben ortsspezifischen Leckereien auch eine Migrationsgeschichte aufgetischt. Auch Dawit hat eine Zeit als (Arbeits)Migrant in Deutschland gelebt, da er aber eine Sehnsucht nach Georgien hatte, kehrte er zurück. Er wollte hier ein Gasthaus aufmachen, woraus jedoch wegen der Auflösung der Sowjetunion und neuer Grenzziehungen nichts wurde. Darius wird hier ein Platz zugewiesen (U 505), und er geriet »in die Mitte der Familie eines anderen. Ein Dutzend Intimitäten gleich am ersten Abend« (U 509). »Sie nehmen dich auf, als hätte es hier schon immer einen Platz für dich gegeben, du hast es bloß nicht gewusst. Du könntest auf ewig hierbleiben« (U 520). »Aus irgendeinem Grund scheinen sie den Ehrgeiz zu haben, mich so lange wie möglich zu beherbergen. Eine Gastfreundschaftsgeschichte vermutlich, und ich bin zu nordisch, um es verstehen zu können.« (U 523) Wie Dawit und seine Familie Kopp aufnehmen, ist irritierend. Wenn er hier überall einen Platz hat, impliziert, dass er gar nicht mehr in seinem Status als Gast betrachtet, sondern vielmehr integriert wird. Er verliert dadurch seine Andersheit, seine Identität als Fremder.36 Der einfachste und leichteste Weg zum Sich-Einfügen führt durch den Alkohol, den Rausch, der durch seine Grenzverwischung alle Identitäten löst. Es wimmelt in diesen Szenen nur so von der Thematik der Gastlichkeit. Die Tochter von Dawit ist Fremdenführerin, der Sohn Fahrer, der Gäste vom Flughafen abholt, und der Gast ist derjenige, dem sich alle öffnen und der dadurch über alle die Wahrheit erfährt, die doch in der Öffentlichkeit verborgen bleiben soll. Diese überraschende Intimität gilt dem, der kommt und geht, der keine Erwartungen äußert, nicht die traditionelle Ordnung einfordert, da er ja außerhalb dieser steht. Nach sieben Tagen (wie in Märchen) Gastfreundschaft (U 529) fährt Kopp nun, da das Auto endlich repariert wurde, nach Armenien. Es wird ihm schon 36
Vgl. Previšić: 2011, 8.
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hier gesagt, dass es eine Sackgasse ist, da von dort keinen Weg mehr weiterführe, außer in den Iran (U 537). Damit verlässt er bereits sein früheres Vertriebsgebiet DACH und Osteuropa. Hier haust er dann in einem skurrilen Hotel und wird vom Eigentümer bewirtet. Nach einigen Tagen des Aufenthalts nimmt er nun tatsächlich den Weg zurück über die Türkei nach Athen, um dort den alten Freund, seinen »einzigen Anlaufpunkt« (U 592) zu treffen. Er wird auch von ihm herzlich willkommen geheißen. »Einen Reisenden versorgt man innerhalb der ersten Stunde mit Trank und Speis« (U 592. Herv. i. Orig.). Inzwischen ist es der 20. Dezember. Nun gibt Stavridis die Richtung in Darius‹ Leben an, er übernimmt die Regie (U 592) und verschwindet (U 602). Der Grieche bietet ihm sein Haus zum Wohnen an, sorgt für Kopp bzw. lässt für ihn sorgen (U 602). Es stellt sich auch heraus, dass der Freund noch eine andere Person hier als Gast beherbergt. Darius fühlt sich hier wieder heimisch, »als würde einer nach langer Zeit zurückkehren von den Rändern des Orients oder woandersher« (U 601). Viele Details kommen ihm bekannt vor, und so fühlt er sich nicht mehr fremd. Zu dieser Heimeligkeit gehört aber nicht nur das Mobiliar, sondern auch, dass er sich aus der Fremde zurückziehen kann in bekannte Verhaltensweisen wie essen, trinken, fernsehen. Er bekommt zwar auch am gemeinsamen Tisch einen Platz, richtig zufrieden ist er aber ohne Gesellschaft, wenn er sich in die Abgeschiedenheit seines Zimmers, in sein »Asyl« (U 634) zurückziehen kann. Darius hat sich auf den Weg gemacht, weil er seinen letzten Fixpunkt, seine Wohnung verlor und nun das Auto zur seiner Behausung erhob. Mit diesem Schritt überwindet er zumindest scheinbar seine Lähmung, denn er kommt in Bewegung. Am Ende ist ihm klar, dass das Reisen »eine Weile« (U 659) helfen kann. »Asozial werden oder sozial. Das sind die Möglichkeiten.« (U 659) Darius betrachtet sich aber nicht als Aussteiger, sondern als einer, der nur ein bisschen herumfährt (U 639). Er ist aus seiner Ordnung, aus der Normalität der Gesellschaft nur halb ausgetreten und sieht sich als einen, der vorhat zurückzukehren, also nicht asozial zu werden. Der Grenzübertritt, mit dem er sich aus der Ordnung hinausbewegte, bedeutet auch einen Aufenthalt jenseits der Norm. Nun befindet er sich im Transit, der aber nicht beendet werden kann, da Kopp die nötigen Ressourcen nicht besitzt, die dazu beitragen könnten, die von ihm als Zwischenphase empfundenen Zustand zu beenden. Auch hat er sich so weit von der Normalität entfernt, dass Rückkehr und Wiedereingliederung auch dadurch gefährdet erscheinen. Es ist ihm am Ende des Romans klar, dass er sich immer noch in einer Schwellensituation
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befindet, als säße er »auf dem Mars fest und müsste das geeignete Gerät, mit dem eine Rückkehr möglich wäre, noch erfinden« (U 639).
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Der »dunkle Bereich zwischen den beiden Helligkeiten«. Liminalität und Trauer
Der Gast wird als Schwellenphänomen gesehen, als das Fluide, das mit herkömmlichen Kategorien nicht zu fassen ist. Das Dasein des Gastes korrespondiert also mit den Erkenntnissen von Liminalität.37 Der Gast steht für Neuformierung, für eventuelle Richtungswechsel, denn er steht für eine Verhaltensmodifikation. So markiert Gastlichkeit eine Ausnahmesituation, die jenseits der Normalität stattfindet. Der Gast kann nicht nur eine Person, sondern auch eine Empfindung38 sein. So kann die Trauer als Gast betrachtet werden, die zu Darius oder zu der er einkehrte.39 Die Trauer als Phänomen des Dritten, der an- und zugleich abwesend ist, kann durch seine Uneinholbarkeit als das Unheimliche, das Ungeheuerliche wirken. Wenn der Gast als Störung, potenzielle Beunruhigung aufgefasst wird, wodurch einen plötzlich das Ungewöhnliche überfällt, bedeutet, dass der Gast schon mit seiner puren Anwesenheit eine Rolle einnimmt, nämlich die des Hinterfragens.40 Diese Eigenschaft bewirkt, dass alles mit anderen Augen gesehen werden kann. Es geht mit ihm ein Perspektivenwechsel, eine mögliche andere Bedeutung und Deutung und damit ein hybrides Oszillieren einher. Mit Überschreitung von Grenzen, mit dem Eintritt in die Schwellensituation geschieht dieser Ruck, wodurch die Offenheit des Fragens eintritt. Was weder integriert noch ausgegrenzt werden kann, ist im Text auch das Ungeheuer. Es erscheint als störende, fremde, unheilvolle Gestalt, als eine Gefahr, die man zu tilgen sucht, die sich aber sowohl der Assimilation als auch dem Ausschluss widersetzt. Darius‹ Ungeheuer ist die Trauer, die sich in der Urne manifestiert, die er gerne loswerden möchte. Das Ungeheuer von
37 38 39
40
Vgl. Mein: 2009, 74. Vgl. Previšić: 2011, 12. "Die Literatur verfügt über mannigfaltige Beispiele dieser Art, die nahelegen, dass die Anwendung des >Gastes> auf andere Verhältnisse als zwischen zwei Personen eine lange Tradition hat«. Ebd. Vgl. ebd., 15.
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
Flora ist die psychische Krankheit, die nach der Kategorisierung von Bahr wiederum auch als Gast gelesen werden kann.41 Der ganze Roman stellt die Liminalität dar, aus der der Protagonist nicht herauskommen kann. Diese unendlich scheinende Übergangszeit ist an seine Trauer gekoppelt. Solange er seine Frau wirklich und auch im übertragenen Sinne nicht beerdigen (U 658), die Tüte irgendwie loswerden kann, wird er auf der Schwelle verharren. Der Kummer und die Zeit des Leidens sind wie »mind-altering substances« (U 475), verursachen einen geänderten Bewusstseinszustand. Es ist wie »der dunkle Bereich zwischen den beiden Helligkeiten« (U 335). Die Frage dabei ist, ob Darius, der ständig im Dunklen tappt, je aus diesem Dunkel herausfinden kann. Er sucht Wege, die aus diesem Zustand hinausführen, die helfen könnten, die Krise zu managen. Die Modi, die er findet, sind auf den ersten Blick sehr unterschiedlich, denn zum einen flüchtet er sich zum Alkohol, zum Essen und zum Schlaf42 , andererseits ist das Warten eine seiner Hauptstrategien der Problemlösung, des FertigWerdens. Beide Modi bedeuten eine Art Passivität, was allerdings auch auf das Unterwegssein zutrifft. Der Roman reflektiert selber diesen Tatbestand, wenn er von Tätigkeit statt Tat spricht. Der lange Weg ist trotz seiner zahlreichen Grenzüberschreitungen nicht der Schritt, der die Figur aus der Phase des Schwellendaseins herausbewegen könnte. Obwohl klar ist, dass gerade der Schritt es ist, was fehlt, was Kopp wirklich weiterbringen könnte, gerät er bereits durch die Überquerung eines Baches in einen euphorischen Zustand. Eigentlich ist er auf der Suche nach dem adäquaten Schritt, gerade den kann er aber nicht finden. Auf die Trauer soll nun der Blick gerichtet werden, die eine emotionale Grenzsituation, ein traumatisches Ereignis und (im Normalfall) auch einen liminalen Zustand darstellt, den vorübergehenden Austritt aus der Normalität, dem eine veränderte Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstruktur entspricht. Der Grenzübertritt hat als Änderung des Denkens, Fühlens, Verhaltens Folgen, und markiert ein besonderes Zeiterleben. Die Trauer kann als eine Aufgabe, als eine Herausforderung gesehen werden, auf das Geliebte zu verzichten, Verlust zu verarbeiten.43 Trauer ist aber auch an Sozietät gebunden, und 41 42 43
Vgl. ebd., 12, bzw. vgl. Bahr: 2005, 54. Vgl. Shafi: 2017, 139-150. Trauer hat als Folge allgemeiner Verlusterfahrungen viele Parallelen mit dem Modell der Krise. Betrachtet man Trauer als allgemeine Verlusterfahrung, kann zum Beispiel auch der Verlust der Arbeit, was in den Romanen mehrfach vorkommt, in diese Kategorie fallen.
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während sie in traditionellen Gesellschaften hochgradig ritualisiert war, können wir von der Romanwelt als von einer Zeit sprechen, in der auch Trauer zur nichtinszenierten Liminalität gehört. Dieses Nicht-Inszeniert-Sein wird sogar ins Extreme getrieben, da selbst das Ritual des Begräbnisses, die räumliche Distanzierung, nicht stattfindet. Die tradierten Kulturmechanismen werden nicht eingesetzt, was bereits die Nichtabschließbarkeit des Prozesses impliziert, denn der Protagonist scheint mit seiner verstorbenen Frau ein Pseudoleben zu leben. Die Dramaturgie des Trauerprozesses ist selbst an Phasen gebunden, wie an die Zeit der apathischen Erstarrung, mit der der Roman beginnt. Gekoppelt ist der Prozess aber auch an Ausbruch und Erinnerung, an das Erleben des »Es war einmal«44 . Dies wird im Buch z.B. mit der Reise nach und durch Ungarn exemplifiziert. Durch diese Erinnerungsarbeit wird die eigene Identität neu besetzt, dies ist also eine Bewältigungsstrategie des Verlustes, ein dynamischer Rekategorisierungsprozess. Es werden neue Grenzen gezogen, der Erinnernde verortet sich neu in einem Kontext, der ja auch einer Wandlung unterworfen war. Durch diese Rekategorisierung wird ein Sich-Einfügen, ein neuer Ichund Weltbezug möglich. Der Ausgangspunkt des Ausweges ist ein Moment der Realitätsprüfung, dem folgen die Erinnerung und Neuverortung, was das Wiedereinfügen in die Sozietät ermöglicht. Dies bedeutet zugleich das Ende der liminalen Phase. Das Beenden dieses Prozesses ist aber eng an Trennung, also Grenzziehung gebunden. Solange man sich nicht trennt, sind Reorganisation und Reintegration unmöglich. Der Trauernde muss zwischen adäquaten und nicht mehr adäquaten Denk-, Gefühls- und Verhaltensmustern unterscheiden. Um aus dem Gefühlschaos, aus der Desorganisation herauszukommen und eine Reorganisation erleben zu können, ist eine Umorganisation nötig.45 Der Protagonist verfügt aber nicht über eine Subjektposition, die es ermöglichte, Entscheidungen zu treffen, Grenzen zu ziehen, zu trennen und zu unterscheiden. So kann für ihn keine neue Ordnung entstehen, in die er sich einfügen könnte. Er bleibt im transitorischen Zustand befangen. Verstärkt wird dies dadurch, dass die Grenzüberschreitung der Trauer, verursacht durch den plötzlichen Eintritt des Todes, eine Normalität voraussetzt, aus der man nun herausgerissen wird. Da es aber für den Protagonisten keine Normalität, kein geordnetes Alltagsleben gab, kann auch kein Zurück in
44 45
Goldbrunner: 2006, 14. Vgl. Mauser/Preiffer: 2003, bzw. vgl auch: Strasser: 2003, 37-52.
6 Homo viator in Trauer. Liminale Figurationen in Das Ungeheuer
die Normalität eintreten. Die literarische Prozedur der Trauer mit den Phasen, mit Erinnerungs- und Wiederholungsprozessen, mit dem Entwurf neuer Konfigurationen und Kategorien ergibt auch narrative Muster, die zahlreiche Korrespondenzen zur Narrativität der Krise aufzeigen und darauf verweisen, dass auch das Modell des Trauervorgangs auf eine permanente Liminalität hinausläuft. Hält man sich in Anbetracht der zahlreichen kontingenten Begegnungen und räumlichen und symbolischen Grenzüberschreitungen die Erzählstruktur vor Augen, wird klar, dass es hier um eine Art kaleidoskopisches Erzählen geht. Es entstehen auch weitgehend immer neue Modi der Trennung und Verknüpfung ohne jegliche kausale Motivation. Durch die ständige Fortbewegung entsteht eine unendliche Möglichkeit für die Bildung neuer Muster. Trotz des Weges gibt es weder Chronologie noch Linearität, sondern nur Offenheit und Bruchstellen. Es geht um eine narrative Zersplitterung in das Episodische, und von dieser Zerstückelung bleiben die Figuren, egal ob es um Haupt- oder Nebenfiguren geht, nicht unberührt. Nach dieser skizzenhaften Konturierung des allgemeinen Schemas gilt nun das Augenmerk der Ausdifferenzierung dieser Zusammenhänge. In Das Ungeheuer geht es um eine Selbsterfahrung, um einen zurückzulegenden Weg als eine Veränderung der Position des Individuums im Lebenskontext, im Lebensraum. Der Weg, die Reise von Berlin bis Athen, spielt in vieler Hinsicht eine zentrale Rolle. Erzähltechnisch nimmt er einen signifikanten Platz ein, da er die Narration vorantreibt. Mit diesem tradierten Topos, der Reise, dem Unterwegssein, aber auch mit der Bergbesteigung in Bulgarien, werden nicht nur narrative Muster bereitgestellt, denn die Topoi sind auch geeignet z.B. das Subjektproblem zu reflektieren. Nach Sybille Krämer sind Reisen Modi, die Welt zu verstehen,46 denn indem Wege auf einer Karte festgelegt sind, kann eine kontrollierbare, verständliche Welt entstehen.47 Die Reise ist in der Tradition aber nicht nur ein Modus, mit der die Welt, sondern auch das Ich erforscht werden kann. Der Weg, das Unterwegssein ist mit dem Topos der Lebensreise verbunden. Das Ich als Reisender gehört zu den historisch begründbaren Formen der Selbsterfahrung.48 Plant Darius alleine seinen Weg, benutzt er dazu die Karte des Navigationssystems, hat er 46 47 48
Krämer: 2007, 74f Schenkel: 1994, 178. Holzheimer: 1999, 59. Erwähnt werden muss hier, dass auch die Trauer ein individueller und prozesshafter Weg ist, der dem Subjekt die Möglichkeit bietet, sich zu erkennen. Die Lebenskrise, die mit Schock und In-Frage-Stellung verbunden ist, ermöglicht, dass
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einen Beifahrer, bestimmt der den Weg. Die Wegmetapher, reflektiert somit auch die Autonomie, ein vorhandenes Navigationskonzept und das dazu nötige Instrumentarium. So ein Konzept, so ein Instrumentarium scheint der Protagonist nicht zu besitzen, Kontingenzen übernehmen die Regie über sein Leben, er ist nicht selbst- sondern eher fremdbestimmt. Vergessen werden darf hier nicht, dass auch die Trauer als ein individueller und prozesshafter Weg zu erkennen ist, der dem Subjekt die Möglichkeit bietet, sich zu erkennen. Die Lebenskrise, die mit Schock und InFrage-Stellung verbunden ist, ermöglicht, dass neue Antworten, neue Positionen gefunden werden. Trauer als »Selbst-Werdungsweg« impliziert einen Umschlag, einen Neubeginn, nach einem Prozess der Transformation eine neue Identität.49 Parallel zur Reise endet im Roman aber auch der Prozess der Selbstwerdung nicht. Das Ende ist offen, erst der letzte Teil der Trilogie bringt diesen Prozess zum Abschluss, womit auch Möglichkeiten einer neuen Standortbestimmung aufscheinen. Die Reise, ähnlich wie Krise, Gastlichkeit und auch Trauer, die als Grundmodelle herhalten können, bedeutet einen Bruch, einen Riss im normalen Lauf der Dinge. Man wird aus dem Leben, aus einer Ordnung fortgewirbelt in die oder das Fremde, oft auch in die Einsamkeit. Darius ist herausgerissen aus seiner Lebenssituation, mit der er hadert, in der er alles in Frage stellt, er begibt sich in das Neue, Unbekannte hinein und hofft auf eine Änderung, auf Heilung. Der Text modelliert diesen Weg. Reise und Trauer, aber auch Gastlichkeit gelten als Praxen, Dinge in Frage zu stellen. Damit stehen sie für die Öffnung dem Neuen, Fremden gegenüber. Der Weg ist als Neupositionierung im Lebensraum zu lesen und ist in diesem Sinne eine Kategorie viatorischer Prosa. Der Austritt aus der bekannten Ordnung, oder der Eintritt des Gastes in die eigene, der liminale Zustand sind Vorbedingungen des Blickwechsels, wodurch hergebrachte Schemata, die die Statik begünstigen, allmählich verschwinden. Reise, Gastlichkeit, Trauer sind Modelle von Grenzüberschreitung, Bewegung, die durch die Begegnung und Bekanntschaft mit dem Neuen den Beteiligten dazu zwingen, sich, sein Umfeld, sein Weltbild zu hinterfragen. Alle sind also mit dem Fragen verbunden, damit, dass man den Bereich der festen Antworten, die heimische Ordnung verlässt und sich der Gefahr der Ungewissheit aussetzt. Diese Haltung prononciert die Verquickung von
49
neue Antworten, neue Positionen gefunden werden. Trauer als »Selbst-Werdungsweg« impliziert einen Umschlag, einen Neubeginn. Vgl. dazu: Brathuhn: 2006, 19. Vgl. ebd.
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äußerer und innerer Reise, was im Roman dann auch geschieht. Die Auseinandersetzung mit Reise, Trauer, Liminalität und Hospitalität bringt aber auch mit sich, dass Grenzen getilgt und eigentlich divergente räumliche und zeitliche Bereiche miteinander verwoben werden. Die Reise ist also nicht nur als Begegnung mit der Welt, mit fremden Kulturen und Menschen, sondern auch als die Begegnung mit sich selbst, mit der eigenen Vergangenheit zu betrachten. Wenn Reise als hermeneutischer Prozess aufgefasst wird, muss gesagt werden, dass der Akzent bei Mora weniger auf dem Verstehen von fremden Kulturen als vielmehr darauf liegt, die eigene Ehefrau und die gemeinsam verbrachte Zeit besser zu verstehen und diesen Lebensabschnitt irgendwie abzuschließen. Während der Reise werden die Wahrnehmung und Erfahrung des Fremden mit dem Kontext des Eigenen verschachtelt, was durch die assoziative Erzählweise begünstigt wird. Die Chronologie wird aufgehoben, es werden verschiedene Zeitebenen ineinander montiert, so dass eine Art Allgegenwart des Früheren und des Gegenwärtigen, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen impliziert wird. Diese Zeitstruktur korrespondiert sehr eng mit dem Motiv der Spurensuche, mit einem Eingeflochten-Sein in die Geschichten anderer. Verflochten sind in erster Linie die Geschichten von Darius und Flora. Unterwegs dominiert diese Beziehung die Gedanken des Protagonisten. Er ist nämlich oft abwesend aus seiner eigenen Gegenwart und ist mit Flora in der Vergangenheit, rekapituliert Schönes und Schlimmes, führt mit seiner Frau ein Zwiegespräch. Auch in Athen lebt er viel in der Vergangenheit und rekapituliert die gemeinsame Zeit mit Flora. Die Weihnachtsfeiertage erinnern ihn an das letzte gemeinsame Weihnachtsfest, und so ist während der ganzen Reise die Vergangenheit in die Gegenwart eingeblendet. Die Zeiten ihrer Bekanntschaft und Ehe werden in diesem Band ausführlicher erzählt als in Der einzige Mann auf dem Kontinent. Dies zeigt auch, dass Flora noch zu Lebzeiten viel mehr außerhalb von Kopps Horizont war, während sie nun im Laufe der Reise einfach immer anwesend ist. Dazu trägt der Laptop mit den Aufzeichnungen bei, viel mehr aber noch die Urne, deren Beisetzung für Darius eine Sisyphusarbeit bedeutet, mit der er nicht fertig werden kann. Kommt er beinahe an einem potentiellen Ziel an, kommt es doch zu einer Kehrtwende, und das Ziel wird nicht erreicht. Als Modell für die Zeit dient hier der Weg, der in der Triade Antritt, Unterwegssein, Heimkehr als sinnführendes Modell herhalten kann, durch den Erzählvorgang Schemata der Sinnstiftung zu reflektieren. In diesem Buch
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von Mora ergibt der Weg die Form, obwohl hier auf ein Telos größtenteils verzichtet und stattdessen vielmehr die Irrweg-Metapher bemüht wird. Vorgreifend kann behauptet werden, dass der Roman unterschiedliche Erzählmodelle reflektiert, zum einen das teleologische Schema und zum anderen den Irrweg, die Serialität oder die zyklische Struktur bemüht, bzw. die verschiedenen Modelle miteinander konfrontiert. Das Buch weist Aspekte eines Abenteuerromans auf, in dem der Held unterwegs ist, Grenzen überschreitet, viele Begegnungen erlebt und irgendwie für sein Leben kämpft. Bei Kopp ist das ein eher unsichtbarer Kampf mit einem unsichtbaren Gegner, dem Ungeheuerlichen, das er aber nicht besiegen kann. Der Erzähler bedient sich zahlreicher Erzählmuster des Schelms, dessen Leben aus einer Reihe von Ereignissen und Schauplätzen besteht. Es sich bei den untersuchten Texten jedoch um Abenteuerromane nach dem »Ende der Abenteuerzeit«50 . Im Erzählverlauf gibt es keine Gewichtung der Details, das Ganze ist ein Nebeneinander disparater Teile. Der ganze Erzählverlauf ist in den Kapiteln ein additives Nebeneinander ohne jegliche organische Verbindung der Sequenzen. Die in heterogene Bestandteile zerbrochene Welt dementiert jegliche Kontinuität, und die Struktur und Ausdrucksmodalität sind das erzählerische Äquivalent dessen, dass es keine Entwicklung der Figur gibt. Dieses Erzählverfahren führt zur Serialität,51 zur Beliebigkeit der Reihenfolge der vielen Reisen, Ereignisse und Begegnungen, und auch dazu, dass sich die Details nicht zu einem Zweck addieren lassen. Es entsteht demnach kein einheitsstiftendes Moment, kein Zusammenhang, denn jede sinngebende Totalisierung zerbricht. Die Erzählkonstruktion ergibt eine paradigmatische Konstellation anstatt einer teleologischen Linearität, sie ist als Road-Narration zu kennzeichnen. Das Erzählen wird nicht von einem Plan oder Zweck, sondern vielmehr vom Zufall beherrscht, sodass die gradlinigen Handlungsabläufe von Episode zu Episode unterbrochen werden. Die seriellen Erzählsequenzen haben eine Art Simultaneität zum Resultat. Wird die Serie als »grundsätzlich offenes Prinzip«52 verstanden, das zugleich aus Kontinuitäten und Diskontinuitäten besteht, werden wieder das Doppeldeutige 50
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Alexander Honold weist darauf hin, dass in der technisch vernetzten Weltgesellschaft auch die letzten Winkel bereits erreicht wurden, er spricht von einer »vollständigen Verfügbarkeit« und davon, dass die geographischen Abenteuer unwiderruflich zu Ende sind. Dies bedeute jedoch – so führt Honold weiter aus – keineswegs das Ende dieses Romantyps. Vgl.: Honold: 2000, 371. Zur Problematik der Serialität vgl: Blättler: 2003, 502-517. Ebd., 507.
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und die daraus entstehende Spannung betont, die das Erzählen durchgehend konstituiert und durch die Serialität die »Abwesenheit eines Sinnzentrums beschwört«53 . Die Semantik der Isolation entspricht dieser Form. Treber nennt die hier praktizierte Erzählform »Short-Cut-Narration«.54 Wenn die Episode zur Haupthandlung wird, besteht die Welt aus »mobilen Verbindungsnetzen und Grenzübergängen«.55 Die Thematik der Liminalität und der Grenze wird also durch die Erzählstruktur nur noch verstärkt, da es keinen durchgehenden Erzählstrang, sondern nur Übergänge gibt. Gekoppelt mit kaleidoskopischen Mustern führt dies zum Ordnungsschwund. Verstärkt durch das Episodische entsteht auch eine überbordende Vielstimmigkeit und Multiperspektivität, was den allgemeinen Orientierungsverlust bekräftigt. Zum Ausdruck gebracht wird durch diese Struktur eine heterogene Welt, in der anstelle von kausalen Verbindungen Relationen der Similarität und Kontiguität als textkonstituierende Elemente dominieren. Trotz der Fragmentierung entsteht durch Äquivalenzen und Ähnlichkeiten zwar ein Zusammenhang, aber ohne jegliche Hierarchie. Das herrschende Strukturprinzip ist in Das Ungeheuer das der kleinen narrativen Einheit, die Segmentierung und die mehr oder weniger beliebige alternierende Kombination der Segmente. Dies manifestiert sich u.a. in den Situationen, in denen es um die Weiterreise des männlichen Protagonisten geht, die entweder durch den Zufall bestimmt wird, oder er wählt ein Reiseziel, wie Losinj oder Bulgarien, wo er schon mal war und wodurch eine biographische Verknüpfung da ist. Da aber durch die Strukturmerkmale hermeneutische Codes geschwächt werden, wird die ganze Erzählstruktur vom Übergang, von der Abwesenheit von Einheit und Abgeschlossenheit beherrscht. Wegen der vielen Bruchstellen und der Offenheit hat man eine Art Montagestruktur vor Augen, worauf der bereits zitierte Begriff der »Short-Cut-Narration« verweist. Diese Tatsache führt aber auch zur Verzögerung der Handlungsentwicklung,56 also zum eigentlichen Stillstand in der permanenten Liminalität. Der ganze Roman ist als ein pluralistisches Netz, als ein »Geflecht von narrativen Abwegen« zu
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Ebd., 509. Nach Treber ist dies heute keine Sonderform mehr, sondern die Regel. Vgl. Treber: 2005, 10. Ebd. Ebd., 14.
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betrachten57 und die Figur als »Schauplatz von Ereignissen«58 , wodurch kein Umschwung, keine Grenzüberschreitung möglich wird. Gekoppelt wird dies mit dem Urmotiv des Reisenden in der abendländischen Kultur, dem Aufbruch und dem Unterwegssein in fremden Welten,59 und nicht zuletzt mit der Problematik von Heimkehr, aber auch mit der Gefahr von Irrgehen.60 Das Unterwegssein als Grundmuster reflektiert aber auch Zielgerichtetheit und die Möglichkeit teleologischer Sinnstiftung. Das modellieren in der Erzählkonvention Reisen und Bergsteigergeschichten, und auch Das Ungeheuer lehnt sich an dieses Modell an. Zielgerichtetheit wird hier jedoch mit dem Irrweg-Muster oder auch der zyklischen Bewegung, mit Kreisbewegung konfrontiert. Durch die Gegenüberstellung der Muster spitzt sie die Problematik zu: Orientierung, Identität werden problematisch, Scheitern, Fehl-Gehen hingegen dominant.61 Dieses Fehl-Gehen hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass der Protagonist kein Ziel und keinen Überblick hat. Parat sind immer nur die momentanen Ausschnitte einer möglichen Einheit, eines Zusammenhangs und einer Homogenität. Einen Überblick, Weitsicht, ein Panorama könnte er auf einem Berg bekommen, wenn er also aus dem Horizontalen austritt und sich auf das Vertikale zubewegt. Diese Möglichkeit nimmt Kopp in Bulgarien in 57 58 59
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Ebd. Vgl. dazu: Däumer/Lickhardt: 2010, 9. Die Irrfahrt ist nach Erhard von der Unmöglichkeit jeglicher Heimkehr bedroht, aber auch von der Gefahr des menschlichen Unvermögens, über Zweck und Ziel der eigenen Reise zu verfügen. Vgl. Erhard: 2003, 9-25. Gerade die Heimkehr ist in den hier untersuchten Romanen problematisch, da beide Hauptfiguren keine richtige Heimat haben. Die Triade von Aufbruch, UnterwegsSein und Heimkehr kann hier nicht entstehen, es kommt, in Ermangelung eines festen Punktes, der als Heimat und Verankerung dienen könnte, stets zu erneuten Aufbrüchen. Wegen der Offenheit der Texte gibt es keinen Aufschluss darüber, ob denen je ein Ende gesetzt werden kann. Vgl. Nünning: 2011, S. 7-9, vgl. auch Juterczenka/Saicks: 2011, S. 9-32, hier S. 9. Däumer/Lickhardt: 2010, 8. Nach Christine Waldschmidt kommt die Irrweg-Thematik nach 1945 in Texten vor, die auf einen Verlust, auf Verlust von Orientierung hinweisen wollen, bzw. die von Brüchen ausgehen und Sprach- und Identitätskrisen thematisieren. Während traditionell der Weg in eine übergeordnete Sinnperspektive eingebunden ist und der Irrweg als Scheitern, als Negation teleologischer Sinngebung inszeniert wird, wird diese Gegenüberstellung in der Literatur nach 1945 problematisch, da weniger zwischen Weg und Irrweg unterschieden werden kann. Oft erscheinen sogar die Irrwege als die einzig möglichen Wege. Vgl. dazu: Waldschmidt: 2010, 213-232, hier: 213-215.
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der Nähe eines Klosters wahr. Auch Bergsteigen kann als Raumtechnik gesehen werden. Der Berg wird im Roman im Gegensatz zum kulturell orientierten Raum als Wildnis, als Rand der Welt der Ordnung konnotiert, da die Wege, die dorthin führen, vom Navigationssystem gar nicht mehr angezeigt werden. Anstatt eines spirituellen Erlebnisses fühlt sich Kopp im Nichts (U 369), Niemand erscheint (U 377). Das Modell, der Berg als Ort der spirituellen Begegnung, des Transzendenten, als Sitz der Götter, wird hier zwar bemüht, durch die Szene wird der traditionelle Topos der Bergbesteigung zitiert und gleichzeitig dekuvriert. So kann aber der Berg weder Ort des Gotteserlebnisses noch Ort der Selbstbegegnung werden. Der Berg verliert für Kopp diese Funktion und bleibt ein transitorischer Übergangsraum, was ihn von anderen Orten nicht unterscheidet. Der bulgarische Berg, genauso wie das Kloster,62 markiert keinen sinnstiftenden Weg oder Ort, alles bleibt eher ein Nicht-Ort.
6.5
Isomorphie von Reisen und Erzählen
Charles Grivel63 spricht in Bezug auf das 20. Jahrhundert von einer Verquickung von Reisen und Schreiben, sogar von einer metonymischen Bewegung des »Reise-Schreibens«. Gemeint sind damit zum einen eine Bewegung des Körpers im Raum und zum anderen eine elementar-mentale Verschiebung des Schreibens bzw. Erzählens. Poetologisch gewendet können Wege und Irrwege – in Rückführung auf das erwähnte Reise-Schreiben – nicht nur als Handlungsgerüst gelesen werden, sondern auch als Erzählstrategie. Die Wegmetapher ist auch in Moras Trilogie, obwohl es hier meistens nicht um Icherzählungen geht, poetisch fiktionalisiert, indem die Entfaltung von ›Held‹ und Narration ineinander geblendet werden. Poetologisch betrachtet kann der Irrweg nicht nur als Handlungsgerüst gelesen werden, sondern auch als Erzählstrategie.64 Wandern, Gehen und Bewegung werden in der Geschichte der Literatur oft als körperliche und geistige Grenzerfahrung erzählt, was auch im hier diskutierten Buch eine zentrale Rolle spielt. Der Roman vertritt ei-
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Klöster verlieren im Roman ihre sakrale Funktion und werden zu Hotels, in denen man einfach übernachten kann (Budapest, Bulgarien). Mit Honold übereinstimmend spricht auch Grivel davon, dass in der Literatur Reisen und Schreiben oft Hand in Hand gehen. Vgl. Grivel; 1995, 615-634. Vgl. Däumer/Lickhardt: 2010, 10.
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ne Art Geopoetik,65 ein Schreiben, in dem Fahren bzw. Gehen und Erzählen wesensgleich sind. Der Irrweg ist im Text nicht nur mit dem Lebensweg gekoppelt, sondern ist auch poetologisch als Nukleus eines sich reflektierenden Erzählens zu lesen.66 Im Fokus des Interesses steht demnach auch dieser Aspekt, die Isomorphie von Reiseverlauf und Erzählen.67 Außerdem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die das Erzählen organisierende Triade von Aufbruch, Unterwegssein und Ankommen hier stark mit dem liminalen Modell von Schwellensituationen, mit Ablösung, Übergang und Eingliederung korrespondiert. Es kann gleich festgestellt werden, dass im Textganzen allein die ersten zwei Etappen eingelöst werden, und dass der Akzent auf dem Unterwegssein, auf Übergang beruht, was kein Telos zu haben scheint. Ziele werden immer neu gesetzt, womit es zu einer ständigen Grenzverschiebung, zu neuen Grenzsetzungen kommt, wodurch das Überqueren einer festen, bleibenden Grenze unmöglich erscheint. Eine narrative Erscheinungsform der Liminalität ist nach Stenner die Struktur mise en abyme. Die Episoden, aus denen der Roman von Mora besteht, entsprechen nicht der Bedeutung Nebenhandlung oder Zwischenstück, denn hier werden, wie bereits gezeigt wurde, die Episoden zur eigentlichen Handlung, das Teil-Ganzes-Verhältnis ändert sich beträchtlich. Die Episode ist zwar ein flüchtiges Ereignis innerhalb eines größeren Geschehens, doch keine unbedeutende, belanglose Begebenheit, sondern Bedeutungsträger. In diesen Episoden sind nämlich die Verlinkungen, die eine Beziehung zwischen den Episoden und dem Ganzen herstellen. Hier erscheinen sie in Form von Short Stories, die im Roman einfach nur Story genannt werden und Einzelschicksale darstellen, die immer mit dem größeren Zusammenhang verzahnt sind.68 Auch diese entsprechen schon einer Art mise en abymeStruktur, da sie das Große im Kleinen spiegeln. Eine Episode, ein Gespräch zwischen Darius und Christina in Athen während eines Spazierganges am
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Holzheimer: 1999, 135. Vgl. ebd., 9. Vgl. Honold: 2000, 372. Wird die Isomorphie von Reiseverlauf und Erzählen mit der Problematik von Irrwegen gekoppelt, wird klar, dass Irrwege ein digressives Erzählen zum Resultat haben. Dieser größere Zusammenhang kann gerade wegen der Polyvalenz verschiedenes sein. In meiner Annäherung steht die Liminalität im Fokus, und ohne Zweifel können diese Geschichten unter dem Begriff ›Grenzen‹ und ›Übergang‹ subsummiert werden.
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Meer, ist aber auch nach der etwas strengeren Definition diesem Gestaltungsmodell zuzuordnen.69 Hier erzählt Christina mehr oder weniger ohne Übergang, aber doch nach einer im Text mit drei Punkten markierten Pause nun ihre Geschichte. Hier berichtet sie von ihrem Ehemann, der Selbstmord beging und ein Tagebuch hinterließ, das von der Frau entdeckt und gelesen wurde. Sie erzählt auch über ihre Beziehung, von der gleichzeitigen An- und Abwesenheit des Mannes noch zu Lebzeiten. Bekannt wird, dass es in der Familie des Mannes bereits ähnliche Fälle gab. All diese Details sind Korrespondenzen mit Darius‹ und Floras Geschichte. Der ›großen Geschichte‹ entspricht diese Geschichte bis in die kleinsten Details, wie z.B, dass der Mann seine Frau im Tagebuch nicht erwähnt. Diese Episode ist aber nicht nur wegen dieser Äquivalenzen eine Schlüsselszene im Textganzen. Sie liefert Informationen zum besseren Verständnis von Selbstmord, thematisiert die absolute Isolation des Menschen trotz der Familie, und bringt etwas zur Sprache, was Kopp bislang nicht wahrhaben wollte oder konnte. »Zwischen den Lebenden und den Toten verläuft eine Grenze. […] Man kann es sich nicht vorstellen, aber mit der Zeit nimmt die Trauer ab und auch alle anderen Gefühle. Ein Lebendiger kann nicht mit einem Toten leben, so ist es einfach.« (U 647) Trauer als Schwellensituation hält demnach nicht unendlich an, man muss die Grenze wieder überqueren und den Bereich der Toten70 und auch den liminalen Zwischenraum verlassen. Diese Passage gibt also nicht nur inhaltlich eine Interpretation des Buches, sondern liefert auch für die Form, für die Grenze, die schwarze Linie inmitten des Blattes eine Erklärung.71 Durch diese Episode scheint, als ob der ganze Text als eine Art Höllenfahrt72 inszeniert wäre, wobei die Fahrt jedoch nicht ins Vertikale, sondern nur in das Horizontale geht, da es hier die vertikale Dimension gar nicht zu geben scheint. Damit bekommt der ganze Text auch einen selbstreflexiven Zug. Durch Kunst können die Toten aus ihrem Reich
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Vgl. Scheffel: 1997, bzw. Scheffel/Martinez: 1999, 79f. Es erinnert an den Mythos von Orpheus und Eurydike. Betonen möchte ich hier, dass dies nur eine und nicht die einzige Bestimmung der Linie sein kann, da dafür auch in meinen Überlegungen mehrere Interpretationen möglich sind. Umkippen der eigentlichen und uneigentlichen Bedeutung. Dieses Motiv der Höllenfahrt scheint auch deswegen nicht weit hergeholt, da Darius mit einem Satz, »[K]einer sei bei mir als nur mein Kummer« (U 65. Herv. i. Orig.) sich mit Orpheus identifiziert. Aus dem dritten Teil der Trilogie wissen wir, dass der Protagonist tatsächlich bei einem Höllenschlund (U 69), bei der Ätna umkehrt.
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von den Menschen nicht befreit werden, ihre Geschichte kann erzählt werden. Und wollte man noch einmal die mise en abyme Struktur bemühen, könnte man sagen: »People are longing for stories, so ist es einfach« (U 647).
7 »Wie eine Scherbe« – Zerfall, Fragmentierung und Versuche einer Selbstfindung in Das Ungeheuer
7.1
Grenzen, Ordnungen, Fremdheiten
Das Ungeheuer ist durch und durch von der Grenze und einer dichotomischen Ordnung Oben und Unten, Mann und Frau, Leben und Tod, gesund und krank, Stadt und Land, Zivilisation und Natur, Fremdes und Eigenes, Einschluss und Ausschluss, früher und jetzt, Gut und Böse, wahr und falsch, Schein und Wirklichkeit, schwarz und weiß usw. geprägt. Die schwarze Linie, die jede Blattseite trennt, hebt diese Zweiteilung nur noch hervor, denn sie wird auch optisch präsent, wobei doch die gestalterische Praxis des ganzen Textgeflechts darum bemüht ist, sowohl thematisch-motivisch als auch durch verschiedene Modi der Darstellung diese sichtbare Grenze, aber auch alle unsichtbaren Gegensätze zu durchbrechen. Anstatt die Grenze zu stabilisieren liegt der Akzent auf ihrer Untergrabung. Der Inhalt, die Modi der Erzählgestaltung kollidieren mit der optischen Darstellung und bringen einander zum Sturz, löschen sich gegenseitig aus. Hält man sich die Problematik von Grenze und Übergang vor Augen, konzentriert sich aber auf die weibliche Hauptfigur der Romane, Flora, ist leicht zu erkennen, dass Kategorien des Dazwischen auch bei ihr geltend gemacht werden können. Flora, eigentlich Theodora Meier, ist gebürtige Ungarin, die nach Deutschland auswandert, dort zunächst mit Hilfe eines Stipendiums, dann mit Gelegenheitsjobs versucht, sich über Wasser zu halten. Sie ist in vieler Hinsicht das absolute Gegenteil ihres Mannes, der männlichen Hauptfigur, Darius Kopp, des IT-Fachmanns und technikbegeisterten, korpulenten Stadtmenschen, des scheinbaren Erfolgsmenschen. Sie ist dünn, sensibel, intellektuell, belesen, literarisch veranlagt, ordentlich, naturverbunden und hat
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nur Misserfolge in ihren auch an sich schon schlechten Jobs. Es trennt und verbindet die beiden jedoch viel mehr, als das auf den ersten Blick erkenntlich werden könnte. Betrachtet man die Korrespondenzen, kann behauptet werden, dass die Romane Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer, obzwar zeitverschoben, den Leidensweg, die Passionsgeschichte der beiden Protagonisten nachzeichnen. Auch darüber hinaus gibt es sowohl im Inhaltlichen als auch in der ästhetischen Gestaltung zahlreiche Parallelen. Das Hauptcharakteristikum beider Figuren ist die Grenzverletzung. Während Kopp die Wohnung, die Stadt, das Land verlässt und sich ganz bis Ende des Romans im Raum bewegt, wechselt Flora den Ort kaum. Der geographische Raum ist für sie irrelevant, sie bewegt sich vielmehr in einem Textraum als Flaneurin. Grenze und Übertretung erscheinen bei ihr darüber hinaus in verschiedenen Implikationen, im Traum- und Wahndiskurs, aber auch im Selbstmord als moralischer Grenzübertritt.1 Gerade durch diese Diskurse kann der Setzungscharakter, nämlich die gesellschaftliche Konstruktion von Grenzen ins Blickfeld gerückt werden. In einem Zug der Radikalisierung erreicht in diesem Text die Präsenz der Grenze auch die Sprache und die Schrift, geht also über die thematische Dominanz hinaus und artikuliert sich auch im Medialen. Greifbar wird hier die Tatsache, dass die Grenze und ihre Eliminierung einander herausfordern, zum Motor der ganzen Erzählgestaltung werden. Dieses Doppel und das Oszillieren in einem liminalen Grenzraum geben dem ganzen Roman ein markantes Gepräge. Flora scheint zwar im ersten Roman, Der einzige Mann auf dem Kontinent, eher eine Randfigur zu sein, wie sie auch im Leben von Kopp eher in ihrer Abwesenheit präsent ist. Von ihrem Leben erfahren wir wenig, einiges über die Begegnung und die Ehe, sporadisch wird etwas darüber erzählt, wie sie versucht, sich nach der Umsiedlung in der Großstadt, durchzuschlagen, Fuß zu fassen, eine Anstellung zu finden. Bei all dem muss sie sich ständig eher mit Misserfolgen abfinden. Es scheint kaum etwas Bleibendes in ihrem Leben zu geben, bis zu der Eheschließung zieht sie von Untermiete zu Untermiete und von Job zu Job, wobei sie aber nie Zufriedenheit, Akzeptanz, Achtung, Gerechtigkeit erfährt, sondern im Gegenteil vielmehr Niedertracht, Ausbeutung, Missachtung und Missbrauch. Während für Darius die Welt die beste aller möglichen Welten zu sein scheint, ist für sie die Welt eher die schlechteste, in der zwischenmenschliche Beziehungen versagen, eine Welt, die nicht 1
Diese Thematik ist in Moras Werken von dem Anfang an präsent, dominiert schon die Erzählungen in Seltsame Materie.
7 »Wie eine Scherbe«
von Liebe und Zuneigung, nicht von gegenseitiger Achtung geprägt ist. Sie befindet sich einerseits in allen Bereichen ihres Lebens im fortwährenden Übergang. Zwar ständig in Bewegung und unterwegs kommt sie andererseits nicht von der Stelle, kann nicht aus ihrem desolaten Zustand, aus ihren Depressionen heraus. Sie dreht sich, genauso wie Darius, eigentlich im Kreis, ihr Weg, ihre Bemühungen haben nichts Finales. Dem Kreislauf setzt allein die autoaggressive Grenzziehung, der Selbstmord, ein Ende. Durch die Romankonstruktion, durch die Aufzeichnungen der Frau wird aber selbst diese Grenze eliminiert, werden dichotomische Ordnungen durchgängig verflüssigt. »Wie eine Scherbe« – heißt es in einer Datei in den Aufzeichnungen der weiblichen Hauptfigur im Roman Das Ungeheuer (U 382. Herv. i. Orig.). Diese drei Wörter stehen von allem losgelöst und ohne einen Zusammenhang oder eine Erklärung einfach da. Gerade in dieser Position sind sie aber dazu berufen, als komprimierter Ausdruck für die Aufzeichnungen der Protagonistin, bzw. für den ganzen Textteil des Romans unter dem Strich und parallel dazu für die Identität der Verfasserin dieser Dateien zu stehen. In ihrer Losgelöstheit, in ihrem Dasein ohne Kontext verweisen diese Wörter nicht nur auf die Isolation als zentrales Thema des Romans, sondern sie verkörpern diese auch in ihrer Materialität. Die Fragmentiertheit beschreibt aber nicht allein die Situation beider Protagonisten und auch der Nebenfiguren, sondern das Fragmentarische ist auch als zentrale poetologische Metapher des Romans auszumachen. Die Tatsache, dass alles Ganze zerbrochen ist, eine Krise, die beide Protagonisten betrifft, ist das Grundgefühl im Roman. Entwickelt werden daraus zwei Wege, ein Weg aus dem Leben und ein Weg in das Leben. Das Gemeinsame beider Wege ist die Inszenierung von Verbindungen, die keine bleibenden Konfigurationen ergeben, sondern dem liminalen Übergang, dem Wandel unterworfen sind. Das Inszenieren von Beziehungen verwischt auch nicht die Brüche, bringt eher vielmehr die Nahtstellen zum Vorschein, die das Trennende und Verbindende eins werden lassen. Verknüpfung und Spaltung, Vermengung und Scheidung, Einverleibung und Ausschluss sind die Eckpfeiler, zwischen denen, wie in einer Transitzone die Basis des Romans zu erkennen ist. Diesem Doppel und dem Dazwischen entsprechen die Hauptfiguren, Darius zum einen, der sich nach dem Tod seiner Frau auf den Weg macht, auf dem er zahlreiche neue Verbindungen eingeht und Beziehungen herstellt, um seine Isolation zu überwinden. Zum anderen geht es um Flora, die »durch ein geöffnetes Fenster in diese Welt gefallen« (U 292) ist. Sie kann nur durch die Verkörperung durch die Schrift präsent sein, indem ein Fenster auf dem
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Computer geöffnet wird. Hier werden die, in den von ihr verfassten Dateien, Schriftstücke, Fragmente aus Literatur und anderen Texten miteinander in Beziehung gesetzt. Flora existiert in einem rein schriftlichen Universum: »Ich muss mich neu erfinden, wie eine literarische Figur« (U 208), heißt das Fazit. Nimmt man die optisch wahrnehmbare schwarze Linie, die jedes Blatt des Romans in zwei Hälften trennt, ins Visier, wird klar, dass es hier nicht um eine Ganzheit gehen kann, sondern dass vielmehr Bruchstücke nebeneinander stehen, getrennt sind und doch zusammengehören, und, zumindest auf dem Blatt, in ihrer Materialität eine Einheit bilden. Diese Einheit entsteht durch die dichotomische Ordnung von oben und unten, schwarz und weiß, Leben und Tod etc. Evident ist auch, dass gerade diese trennende Grenze es ist, die die zwei Teile miteinander verbindet, die Teile ineinander spiegelt. Solche Spiegelungen können auf mehreren Ebenen auch inhaltlich nachgewiesen werden. Die Frage nach der Grenze ist ein zentrales Anliegen in den Dateien und in vieler Hinsicht ein Initiationspunkt des Textes. Das wird ein Eckpfeiler der folgenden Untersuchung sein. Als Scherbe, als bruchstückhaft erweist sich auch der untere Teil des Romans. Das ist aber nicht die einzige Ausdrucksform seiner Zerstückelung. Diese Passagen bestehen nämlich aus zahlreichen Erlebnis- und Gedankensplittern einer reflektierenden Verfasserin, aber auch aus verschiedenen aneinandergereihten Text-Bruchstücken, die intertextuelle Übernahmen sind, die sich nicht richtig fügen, und so den ganzen unteren Textcorpus als einen Scherben- oder Trümmerhaufen zeigen. Aus den Zitaten kann nichts Ganzes mehr errichtet werden, da sie nicht zu einer Einheit integrierbar sind. Die Scherbe weist auch darauf hin, dass etwas zu Bruch gegangen ist. Allgemein kann behauptet werden, dass die im Laptop gefundenen Dateien kleinere Aufzeichnungen, Skizzen sind über unterschiedliche Themen, sie sind unstrukturiert, stellen eine eher chaotische Ordnung dar. Dominant ist in ihnen aber die Auseinandersetzung Floras mit ihren Depressionen und mit ihrer psychischen Erkrankung. Das scheinen die Dämonen, das Ungeheuer2 2
Nach einigen Deutungen ist der Titel des Romans eindeutig auf die Depressionen zu beziehen. Meiner Meinung nach schränkt diese Gleichsetzung wie ein Kurzschluss die Deutungsmöglichkeiten des Titels unendlich ein. Meine Bemühungen gehen eher in die Richtung, das Ungeheuer als das Monströse herauszustellen und als allgemeines Charakteristikum der Bücher überhaupt zu diskutieren. So gelesen sind beide Figuren Ungeheuer, aber auch die sie umgebende Welt ist monströs. Vgl: »Terézia Mora – Eine Frau schreibt sich in die Freiheit.« Von Elmar Krekeler, veröffentlicht am
7 »Wie eine Scherbe«
zu sein, gegen die sie anzukämpfen versucht. Ihr fehlt ein Fundament. »Mutter tot, der Vater fort, weder Gott noch Heimatort. Das ist die Ursache« (U 277. Herv. i. Orig.), heißt es. Zieht man in Betracht, dass der kursivierte Satz eine Allusion auf das Sterntaler-Märchen, aber auch auf Büchners Woyzeck ist, wird klar, dass hier die wichtigsten ordnungsstiftenden Systeme, wie Religion, Familie, Heimat, aber auch die Literatur zerbrochen sind und keine Einheit, keinen Sinn mehr stiften können (U 280). Die ordnungsstiftenden Muster verlieren ihre Gültigkeit. In der transzendentalen Obdachlosigkeit werden alle dichotomischen Ordnungen obsolet. Statt Festigkeit, Stetigkeit, Zugehörigkeit, Bindung treten Fluidität, Nomadismus, Einsamkeit auf die Bühne. Die Metaphorik der Bewegung zeigt, dass Grenzen sich in Auflösung befinden. Was das Dasein von Flora bestimmt, ist als liminaler Schwellenraum zu sehen, in dem herkömmliche dichotomische Ordnungen, die verschiedene, gut trennbare Größen diesseits und jenseits der Grenze verorten, ad acta gelegt werden. Auf die Spitze getrieben wird die Grenzauflösung, wenn sogar Himmel und Hölle als ein Kompositum »Himmel-Hölle« erscheinen, oder noch mehr als »H-H«, also als zwei identische Größen, markiert werden (U 293. Herv. i. Orig.). Schon das Oszillieren dieses Kompositums zeigt eine für den ganzen Roman typische semantische Überdeterminiertheit, eine Bedrohung der Ordnung und Liminalität, die sich im Monströsen manifestieren. Das Monströse spielt in vielen unterschiedlichen Ausprägungen in allen Texten Moras eine signifikante Rolle. Das Ungeheuer ist aber ein Roman, in dem die Figur des Monströsen bzw. der Verweis auf monströse Ordnungen auch expressis verbis erscheint.3 Auch im Zusammenhang mit Floras Geschichte wird die Problematik von Grenze und Liminalität, also dieser Ausnahmezustand, signifikant. Der Transit und das Nomadische, verschiedene Modi des Übergangs, können somit nicht allein für den Teil des männlichen Protagonisten geltend gemacht werden. Eine exponierte Rolle bekommt im Gesamttext auch die metapoetische Selbstreflexion, die bereits durch die optische Grenze, durch die weiße Blatthälfte und andere darstellerische Modi präsent ist. Anhand von Spielarten
3
07.10.2013 Die Welt, in: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article120710595/ Terezia-Mora-Eine-Frau-schreibt-sich-in-die-Freiheit.html (gesehen am 10.1.2018). Overthun weist darauf hin, dass das Ungeheuer bereits im Grimmschen Wörterbuch, aber auch seitdem oft synonymisch zum Monströsen gebraucht wird. Vgl. Overthun, 2009: 46.
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der Grenze soll im Folgenden in Bezug auf die weibliche Figur die gleichzeitige Instituierung und Unterminierung der Ordnung ausgearbeitet werden. Der Akzent liegt dabei auf Verflüssigung von Grenzen und ihre Überschreitung. Es sollen gesellschaftliche und ästhetische Implikationen anvisiert werden. Grenzerfahrung ist somit als Erfahrung von Fremdheit, als Verstörung und als ein Umordnen zu verstehen. Dieses Umordnen, das Abrücken von einer vereinbarten Wirklichkeit, was auch als literarische Wirklichkeit, wie z.B. Gattungstradition zu verstehen ist, soll im Folgenden im Fokus der Untersuchungen stehen. Die verschiedenen möglichen Bedeutungsschichten des Romans werden in vier Schritten exemplifiziert. Anvisiert wird in Bezug auf den Textteil der weiblichen Figur, wie Ordnungen und damit Grenzen und Grenzüberschreitungen konstitutiv werden. Der Text der unteren Blatthälfte entsteht aus der Lücke heraus, daraus, dass kein fester Grund, keine stabile Ordnung auszumachen ist. Das Fremde, das Monströse lauert überall und versucht, die Grenzen der Ordnung zu durchqueren, wodurch alles instabil, zu einer Bedrohung wird. Der Einbruch und die allgegenwärtige Präsenz des Fremden lösen Grenzen auf, wodurch liminale Grenzbereiche wie Rausch, Traum, Wahn zu zentralen Reflexionsgegenständen des Romans avancieren. Auf diese wird in einem ersten analytischen Schritt ein Licht geworfen. Zweitens wird die Verschriftlichung in den Blick genommen. In einem dritten Schritt werden intertextuelle Verweise ins Zentrum gerückt, um in einer vierten Annäherung mediale Grenzüberschreitungen darzulegen. Anvisiert werden sollen im Folgenden verschiedene Modi dieser Grenzübertretung in Das Ungeheuer. In Bezug auf die Grenze stehen hier Ordnungsgedanken und nicht zuletzt normative kulturelle Ordnungen, darunter auch Sprachordnungen auf dem Prüfstand. Die Existenz von Ordnung und die damit verbundene Annahme von Bestimmtheit implizieren die Unbestimmtheit, das Fremde als das »außerhalb jeder Ordnung«4 . Das Fremde ist durch eine Nichtzugehörigkeit zur kulturellen Ordnung markiert, die das Dämonische zu verdrängen sucht, das jedoch im Fremden einen Platz, eine Artikulationsform findet. Der immerwährende Zugang auf das Fremde, der Versuch, zumindest mit Hilfe der Sprache, durch die Aufzeichnungen ein Terrain, einen festen Boden zu erobern, die Dämonen (U 439) zu bekämpfen, treibt die weibliche Figur immer in Grenzbereiche vor. Es scheint jedoch ein
4
Waldenfels:1997, 36.
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paradoxes Unterfangen zu sein, denn gerade der Wunsch nach einem Fundament führt zur Verflüssigung von Ordnungsstrukturen, zu einem Ordnungsschwund und statt zu Stabilität vielmehr zu Instabilität. Die Möglichkeiten des Ich sind begrenzt (U 438), alles hat seine Grenzen (U 439). Dieses Negative wird aber gleich in das Positive überführt, dadurch nämlich, dass auch das Schlechte nur eine »Episode« (U 440), also ein liminaler Zustand ist. Solange dieser Zustand anhält, ist Spielen angesagt, um die Krise, die sich als Dauerkrise entpuppt, zu überbrücken. So wird der ganze untere Teil zu einem gewissen makabren Spielarrangement, in dem eine doppelte Lesart zu erkennen ist, die das Thematisch-Motivische mit dem Metareflexiven verknüpft. Die Doppelstrategien und ihre Inszenierung, die alle Ebenen des Textes prägen, sollen in den Fokus des analytischen Interesses gerückt werden. Grenzen und Ordnungen werden vom Fremden attackiert und stürzen ein, verursachen Krisen, so dass liminale Übergangszonen die maßgeblichen Orte des ganzen Textgeflechts werden. Der Übergang kann in verschiedenen Ausprägungen zur zentralen Figuration des Textes erklärt werden. Um das Untersuchungsfeld abzustecken gilt nun zu fragen, wie sich die Auflösung von Grenzen und Identitäten sowohl im Inhalt als auch in der Gestaltung manifestiert. Diverse Grenzformationen werden als Realisierungen des Übergangs nachgewiesen, das Augenmerk wird dabei in erster Linie vor allem auf das Liminale und Mediale gerichtet. Diese erleben sowohl im Thematischen als auch auf einer Metaebene, wie auch in der Reflexion der Medialität eine außerordentliche Virulenz. Das Augenmerk gilt innerhalb dieser Zusammenhänge der Tatsache, dass der Roman seine eigene Medialität auf verschiedenen Ebenen bedenkt, und dass durch Operationen der Grenzauflösung, durch Verzerrungen und Mischungen eine Sprachchimäre und ein Textmonster entstehen. Von diesem Aufenthalt im Grenzbereich zeugt auch folgendes Zitat durch die Akzentuierung des Dazwischen, das unauflösliche Ineinanderfließen von allem: Um unser Herz wachen Steine, Tiere, Pflanzen. Unsere Feinde sind unsere besten Freunde. Man kann sich nirgends ausschließen, sich einfach zurückziehen, denn auch was außer uns ist, ist in uns, wie im Quadrat der Kreis und umgekehrt. Wenn wir etwas Neues entdecken, so haben wir uns selbst entdeckt. (U 177)5
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Diese Passage ist im Roman als ein Zitat von Lajos Kassák gekennzeichnet. Das EinsWerden von Quadrat und Kreis ist auch in Alle Tage eine zentrale Denkfigur.
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Zur Scherbe zersplittert ist im Teil Floras aber nicht nur die Rückkoppelung auf Gott oder Heimat, sondern zum Beispiel auch die Beziehung zwischen Mann und Frau. Wendet man sich dem unteren Teil zu, der aus diversen Dateien besteht, die sich als Aufzeichnungen der weiblichen Hauptfigur entpuppen, bekommen die Scherben auch noch andere Bedeutungen. Beide Figuren stehen vor den Scherben ihres Lebens, und Darius setzt sich, die Dateien lesend, auch mit den Scherben seiner verstorbenen Frau auseinander. Möchte er auf die Schliche seiner ehemaligen Frau kommen, muss er diese Scherben zusammenfügen. Er findet die »Fragmente einer Frau« (U 83), die er deuten möchte, in denen er Erklärungen für Geschehnisse ihres gemeinsamen Lebens finden möchte. Da sie einander Unbekannte/Bekannte sind (U 634), kann ein nahtloser Zusammenhang weder zwischen oben und unten noch zwischen den einzelnen Splittern der Dateien entstehen. Gerade der Strich, der die Textteile trennt, kann aber als die Naht gedeutet werden, als eine Verbindungslinie, die das, was zerrissen, zerbrochen ist, auf dem weißen Blatt zusammennäht, trotz des Bruchs zusammenhält. Was im Leben getrennt war, kann auf dem Papier, auf paradoxe Weise gerade durch die trennende Linie, vereint werden. Besinnt man sich auf diese Zusammenhänge, ist man mitten in einer medialen Reflexion, in der Sprache, Schrift, Text, Blatt augenscheinlich werden und damit ins Zentrum gerückt werden. Die weiße Fläche der unteren Blatthälfte kann auf einer metapoetisch-reflexiven Ebene als eine Lücke, aber auch als anamorphotische Masse gelesen werden, aus der diskursive Modelle entworfen, aufgebaut und demontiert werden. Die Leere, das weiße Blatt erscheint als das Monströse, als »Phänomen prekärer Klassifizierbarkeit«,6 als Ort der semantischen Unschärfe, des semiotischen Entzugs trotz körperlicher Wahrnehmbarkeit. Unsagbarkeit und Undarstellbarkeit führen aber auch im bereits beschrifteten unteren Textteil nicht nur zu einem Changieren und Umkippen, sie werden vielmehr gerade durch die sprachliche Anordnung dem Anamorphotischen des weißen Blattes angenähert. Zentrales Anliegen des Romans ist gerade, in seinen monströsen Anordnungen darauf zu verweisen, dass die Zeichen selbst Monster sind, da sie nicht deutbar werden, keinen Sinn fixieren können, Zeichen sind, die nichts zeigen.7 Tritt man auf die nächste Stufe der Reflexivität, kommt man bei der Problematisierung der ein- bzw. der zweidimensionalen Lesart des Romans an. Man kann als Leser nicht umhin, die lineare Lesart und das Betrachten der 6 7
Overthun: 2009, 50. Vgl. ebd., 68.
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Fläche miteinander zu koppeln, aus dem einen zum anderen zu wechseln, ständig Grenzen zu überspringen. Dies erfordert einen ständigen Aufenthalt in einem Grenzbereich zwischen Linearität und Fläche, sowie zwischen dem Inhalt und der Materialität des Textes. Buch, Text, Schrift, Sprache werden in ihrer Medialität bedacht, genauso wie durch die Form der Aufzeichnungen als Dateien auf das Medium des Computers Bezug genommen wird. Diese Verschränkung und das Schweben zwischen verschiedenen Ebenen ist ein Grundcharakteristikum des Romans Das Ungeheuer, das für unseren Problemzusammenhang ein primäres Anliegen darstellt. Die Scherbe ist also nicht allein inhaltlich signifikant, sie gibt auch ein Bild her für die metapoetische Reflexionsebene des Textes, da sie auch auf die Produktionsbedingungen von Literatur reflektiert. Im Folgenden sollen also neben inhaltlichen Charakteristika in erster Linie poetologische Fragestellungen im Fokus der Ausführungen stehen. Zu den monströsen An-Ordnungen gehören auch Heterogenität und Fragmentiertheit, Hybridität und Multimedialität, die ebenfalls eine eminente Rolle spielen im Romanganzen. Erkennbar sind nicht allein eine monströse Logik, Darstellungsbrüche und das Hervorkehren der Materialität. Es kann nicht mehr von einer Latenz des Medialen gesprochen werden, vielmehr wird die Technik des Machens ins Blickfeld gerückt, anstatt es zu verbergen,8 was fortwährend liminale Grenzübertritte impliziert. Diese Problemkomplexe bilden die zentralen Fragen der folgenden Überlegungen.
7.2
Deformation kultureller Formationen als erzählkonstitutive Idee. Die Aufzeichnungen
Durch den Grenzübertritt vor einigen Jahren, als Flora eine eher ländliche Region in Ungarn verließ um sich in Berlin, in der Großstadt, niederzulassen, ein neues Leben zu beginnen, befindet sie sich im Übergangsstadium. Die Einkehr in eine Ordnung konnte bislang nicht erreicht werden, da sowohl der Herkunfts- als auch der Ankunftsort sich in Transformation befindet und nichts eine bleibende Gestalt hat. Zwar könnte auch die Eheschließung als Verlassen dieser Übergangszone gesehen werden, doch kommt das Leben von Flora weder in der Ehe, oder in der Arbeitswelt, noch was ihre Gesundheit betrifft zu einem endgültigen Ruhepunkt. Vielmehr sieht es so 8
Vgl. ebd., 69.
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aus, als ob der neue Grenzübertritt, zurück in die Natur, das ländliche Leben, nun den ersehnten Ruhepunkt, die Sicherheit, etwas Festes, Bleibendes und ein menschenwürdiges Leben bringen könnte. »Das Bedürfnis nach scharfen Grenzen scheint zur natürlichen Grundausstattung des Menschen zu gehören«,9 die Tatsache, dass diese Bedürfnisse nicht zufrieden gestellt werden können, öffnet die Lücke, aus der sich der Text speist. Gerade diese scharfen Grenzen schwinden, indem sie durch Aussagen, aber nicht zuletzt auch durch darstellerische Praktiken zum Oszillieren gebracht, aufgelöst werden. Wie wir sehen, wird die Tatsache, dass man keinen »Heimatort« (U 277) hat, als Grund für die Krise angegeben. Während also Grenzziehung die Ordnung stabilisiert, wirkt die Auflösung, Verflüssigung der Grenze destabilisierend, alles gerät in Bewegung, es gibt keinen Fixpunkt. Dieses Doppel wird deutlich erkennbar, wenn die weibliche Hauptfigur aus der Stadt flieht und sich in den umzäunten Garten, in eine Art ländliche Idylle, in das Paradiesische zurückzieht. Diese paradiesische Umfriedung, ein Ort mit Grenzen, soll Ruhe und Heilung in ihr Leben bringen. Dieses Ideal von Raum und Landschaft bestimmt auch die dort lebenden Menschen. Hier erlebt man Freundschaft, Selbstlosigkeit, Unterstützung, Gegenseitigkeit, Hilfe, Zuneigung, Achtung, Menschlichkeit, Ordnung, wobei man, dem diametral gegenübergestellt in der Stadt Ausnutzung, Missbrauch, Eigennutz, Einsamkeit, Unmenschlichkeit und Diffusion erlebt. Die Sehnsucht nach dem Garten ist auch als Wunsch nach Begrenzung, statt Komplexität und Diffusion nach Ordnung geprägt. Diese dichotomische Richtschnur, wodurch die Entstehung einer Idylle impliziert wird, verschwindet, die Hoffnung auf Ordnung entgleitet der Protagonistin aber immer mehr. Das Monströse bricht auch in die Umzäunung ein, das Ungeheuer kennt keine Grenzen. Wie Waldenfels deutlich macht, gibt es keine Welt, in der der Mensch »völlig heimisch« werden könnte,10 die Frage sei nur, ob man diese Herausforderung annehme oder verdränge. Wenn im Roman auf den fehlenden »Heimatort« reflektiert wird, ist damit nicht die verlassene ›ungarische Heimat‹ gemeint, es geht hier um eine generelle Obdachlosigkeit, in der selbst die Sprache nicht als Behausung empfunden werden kann. Es wird klar, dass es die bereits von Kleist evozierte Hintertür zum Paradies11 nicht gibt, nicht ge9 10 11
Neumann: 2004, 327. Waldenfels: 1997, 17. Vgl. Kleist: 2010, 429. Bede Protagonisten sind von vornherein vertrieben aus dem Paradies, (das es für sie eben nie gab). Der Garten als Wald ist für Flora der Garten, in dem die Qual fortbesteht. Der Wald ähnelt auch vielmehr dem biblischen Ölberg. Es
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ben kann, obwohl es für Flora einen Moment gibt, in dem neben der Schlange auch die rettende Hand da ist, was neben Versuchung auch ein HeimischWerden, die Rettung, in Aussicht stellt. Vielmehr geht es aber in der Präsenz der beiden um das Oszillieren zwischen Verstoß und Rettung zugleich, die nicht auseinander gehalten werden können. Das Paradies gibt es also nicht, vielmehr ist die weibliche Hauptfigur das Fremde schlechthin, das gerade dadurch gekennzeichnet ist, nie und nirgendwo heimisch zu werden. Dies artikuliert sie auch, wenn sie sagt »Ein verschlossener Fremder bin ich für mich selbst« (U 198) und »ich bin fremd wie überall« (U 626). Es ist klar, dass weder Ungarn oder Deutschland, Stadt oder Land, noch die Ehe und die gemeinsame Wohnung das Heimisch-Werden für Flora ermöglichten können. Obwohl wir aus der Zeit auf dem Land, als mögliche Heimat, kaum Informationen haben, zeigt der Ausgang der Geschichte der Figur, der Selbstmord, dass auch am »sogenannten Busen der sogenannten Natur« (U 208) kein Zuhause gefunden werden konnte. Die Annahme einer Idylle ist zweifach gebrochen, den ›Busen der Natur‹ kann es nicht geben. Selbst die Verschriftlichung kann aber, wie noch zu zeigen gilt, keine Beheimatung, keine Einbettung ermöglichen. Die Etablierung einer bleibenden Ordnung kann nicht gelingen, Kontingenzen dominieren, und es wird klar, dass die Grenze »nicht mehr im Verfügungsbereich des Subjekts liegt«12 . Das Außerordentliche, das Monströse ist und bleibt auch im Bild des Ungeheuers Teil jeder etablierten Ordnung13 und verhindert ihre Einheit. Die Frage nach Figurationen von Grenze und Grenzüberschreitung impliziert, dass man mit einer Imagination unverrückbarer Ordnung, dem Paradiesischen, einer eingerichteten heimischen Welt konfrontiert wird. Wird aber diese Einfriedung vehement dementiert, treten Heimatlosigkeit, Nomadentum, Vagabondage und ähnliche Figurationen auf den Plan. An die Stelle von Eingrenzung, Statik rücken Modi der Dynamik und parallel dazu der Grenzübertritt, aber nicht zuletzt auch bewegliche Grenzen und Schwellenräume des Übergangs, des Dazwischen. Die Auflösung der Ordnung läuft aber auch mit Verunsicherung einher. Denn während die Erwartung Gewissheit erzeugt, ist ihre Nichterfüllung mit Verlust von Sicherheiten, auch von Verhaltenssicherheit verknüpft. All dies hebt die Janusköpfigkeit hervor, und
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gibt keine Rettung. Darius wiederum reist um die halbe Welt, kehrt zurück, kann aber auch von hinten keine Tür finden, die ins Paradies führen würde. Ehlers: 2015, 14. Waldenfels: 1987, 189-194.
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gilt einerseits als Befreiung, Freisetzung von der Norm, andererseits jedoch auch als Verlust von Sicherheit, als Gefahr. Auch von diesem Doppel sind beide Figuren betroffen. Rekapituliert man, dass es inhaltlich in der Geschichte der männlichen Figur um die Reise durch den Balkan in Richtung Kleinasien, und damit um Register des Nomadischen geht, stellt sich die Frage, wie die weibliche Figur zu situieren wäre. Die Protagonistin trägt zum einen durch ihren Migrationshintergrund zur Verflüssigung, zur Kulturmischung und zum Kulturtransfer bei, doch repräsentiert sie noch vielmehr durch die Vertreibung aus dem Paradies das Nomadische. Es kommt zu einer ständigen Überlagerung und Spiegelung von Ungarn und Deutschland, ländlicher Region und Großstadt, früher und heute, Heimat und Nomadentum. Die Koexistenz verschiedener Zeiten und Räume, kultureller Formationen und Lebensweisen bringt das Ineinander-Blenden von Werten und Normen mit sich, die sich dadurch gegenseitig relativieren. Es geht nicht allein um die Dichotomie von Stadt und Land, Landwirtschaft und Dienstleistungen, die unterschiedliche Norm- und Wertsysteme markieren. Die Begegnung von kulturellen Formationen trägt darüber hinaus auch zu einer Sprachmischung bei und zu einem Kulturtransfer in Form intertextueller Bezüge. Denn parallel zur männlichen Figur, die sich im Raum bewegt, vagabundiert die Protagonistin in einem Textraum und in der Welt der Fiktion, der Imagination, des Traumes herum. Dies ist dann verbunden mit der Überlappung von Eigenem und Fremdem, wobei beide als relative Kategorien und liminale Größen gelten. Transit, Transgression und Transformation sind die Register, in denen man sich bewegt, wenn man das Leben der weiblichen Figur und ihre Rolle im Textgeflecht anvisieren möchte. Grenzen entstehen aus Ordnungsprozessen,14 gerade Ordnungsprozesse bringen hier aber transitorische, liminale Grenzzonen zustande, die »Brutstätten des Fremden« sind.15 Das Fremde als das Außer-Ordentliche ist, was die Ordnung wie ein »Schatten« begleitet16 und das oszillierende Doppel hergibt, das den ganzen Roman konstituiert. Zur Topographie des Fremden gehört nach Waldenfels eben nicht allein der Aufenthalt außerhalb des Bereiches des Eigenen, an einem anderen Ort, der einem anderen gehört, sondern, und darauf soll im Folgenden der Akzent gelegt werden, die Art, worunter Unterscheidung, Differenz, Andersheit und
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Waldenfels, 2006: 15. Ebd. Ebd., 33.
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Heterogenität gezählt werden.17 Unterscheidung und Differenz sind in einem identitätslogischen, dichotomischen Denken und in einer dadurch konstruierten Ordnung verankert. Die dichotomische Ordnung als das Symbolische, oder die Norm sind in diesem Kontext wichtig, um den Rahmen herzustellen, in dem die subversiven, transformativen Kräfte erst aktiv werden können. Bei Transformationen, der Verschiebung des Rahmens von Norm und Normalität, bekommen Schmerz und Krankheit eine außerordentliche Rolle. Lässt man den Grundimpetus des Romans, die Ordnungsstrukturen, Revue passieren, wird eindeutig, dass man es zum einen mit sogenannten klassischen Ordnungen zu tun hat, die die Tendenz zur Grenzziehung, zur Stabilisierung haben, indem sie von allgemein verbindlich geltenden Normen, von einer konventionalisierten, kanonisierten Ordnung ausgehen. Nicht-klassische, wie sog. moderne oder auch groteske Ordnungen18 hingegen bemühen sich um die Auflösung der allgemeinen Verbindlichkeit, sind bestrebt, bestehende Ordnungen zu destabilisieren. Die Dämonen (U 439) kommen durch die Wand, überschreiten die Grenze von Innen und Außen und bringen die Normalität zum Kippen, verursachen eine Relativierung und Liquidation von Ordnungen. Ein Register des Fremden ist demnach die nomadische Grenzübertretung. Die verschiedenen Ordnungsformationen des Romans stellen die klassischen und die davon abweichenden Formationen einander gegenüber, halten die klassischen Muster als Negativfolie parat, gestalterisch durchqueren sie jedoch die Vorstellungen von Ordnungsstrukturen, die klassisch genannt werden könnten. Thematik und Erzählverfahren führen die gleichzeitige Instituierung und Unterminierung der Ordnung vor Augen. Der Akzent liegt dabei auf Verflüssigung von Grenzen und ihrer Überschreitung. Es ist eine konstitutive Idee im Roman, wie die Erfahrung des Fremden, Fremdwahrnehmung und -erfahrung im Horizont eines Ordnungsrasters möglich wird,19 so wird auf Norm und Ordnung reflektiert und beide werden als ein Spiegel vorgehalten, in dem dann transformierte Ordnungen erkennbar werden. Die Krankheit wird als ein Phänomen in Szene gesetzt, wodurch das ›normale Leben‹ reflektiert werden kann.20 Die Protagonistin 17 18 19 20
Vgl. Waldenfels, 1997: 20f. Vgl. Fuss: 2001, 61. Waldenfels: 1997, 29. Diese Grenzziehung und der radikale Ausschluss des ›Kranken‹ bilden die Grundfragen in zahlreichen Texten von Foucault, der z.B. in Wahnsinn und Gesellschaft diese als eine basale Grenze zu erkennen meint, durch die die Ordnung der Vernunft erst in Kraft treten kann. Foucault geht hier u.a. auch darauf ein, wie diese Grenzziehung Macht-
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fühlt sich nicht zuletzt wegen der psychischen Erkrankung ausgeschlossen aus der Gesellschaft, was sie dazu veranlasst, über Norm und Abweichung und so über kulturelle Ordnungen nachzudenken. Es geht um die »grundaufstellung« (U 117 sic!), also die Ordnung, die das Denken und Handeln der Menschen bestimmt, und die nach der Protagonistin von Grobheit und Rohheit dominiert wird, wenn man abweicht, wird man an den Rand (U 603) gedrängt. Es »schmerzt, wie die Normalen sind« (U 598), und obwohl Flora »asozial« (U 184) genannt wird, möchte sie »nicht angepasst sein« (U 276). Die Reflexion auf kulturelle Ordnungen und deren Rand, auf Anpassung und Abweichung, auf Norm und das Abnormale sind Überlegungen über Grenzziehungen im Allgemeinen.21 Durch diese entstehen kulturelle Ordnungen, die das Normale vom Abweichenden trennen, bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen als Randphänomene erscheinen lassen. Durch die Grenzen kommen die Dichotomien zustande, zu denen die Trennung von gesund, also ein der Norm entsprechendes, und krank, ein der Norm widersprechendes Verhalten, Wahrnehmung, Denken etc. gehören. Das, was außerhalb dieser gezogenen Grenze liegt, wird zum anderen, zum Fremden, das nicht integriert werden kann. Die Ich-Erzählerin hat eine gebrochene, dem Herkömmlichen zuwiderlaufende Perspektive, durch die die Grenzen von Normalität und dem Abnormalen verflüssigt und ineinander verwoben werden. Eine private, von der allgemeinen Konvention abweichende Ordnung tritt an die Stelle von Normalität und Normativität. Bedacht wird auch hier, wie bei den anderen Modi, dass die Normalität relativ ist und Setzungscharakter hat. Gerade dies macht die Liquidierung des Ordnungsrahmens möglich. Betont wird die Relativität auch dadurch, dass die Therapeuten, die eigentlich die Norm vertreten, hier für die Abnormalen gehalten werden, da sie oft devianter sind als die psychisch Kranken (U 623). Die Rollen werden umgekehrt oder verflüssigt, wenn ein Psychiater sich wegen Depressionen und burn out umbringt (U 654-663). Es geht um Grenzphänomene, den »normalen] Grad des Wahnsinns« (U 368),
21
praktiken impliziert. Die Fragen von Ausschluss und Macht können auch bei Mora als zentrale Fragen erkannt werden, wie z.B. die dichotomische Gegenüberstellung von Arzt und Patient. Die Ausarbeitung dieser Zusammenhänge bildet aber keinen Forschungsgegenstand der Analyse, da es hier um Modi von Subversion von Ordnungen geht, die dann weniger im Thematischen, sondern vielmehr im Poetologischen, Metareflexiven exemplifiziert werden. Vgl. Foucault: 2007 Diese Reflexionen hängen hauptsächlich nicht mit der Umsiedlung nach Deutschland zusammen, sondern sind viel grundsätzlicherer Natur, indem sie Setzungen reflektieren, in denen verschiedene kulturelle Formationen überhaupt erst entstehen.
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um Fehlverhalten wegen Depressionen oder Alkoholismus, wovon breite Teile der Gesellschaft betroffen sind. »Der Wahnsinn des Einzelnen ist ein Ausdruck des Wahnsinns der Verhältnisse« (U 405), heißt es. Die Aussage bringt zum Ausdruck, dass die Ver-rücktheit nicht die Eigenschaft der Figur ist, vielmehr spiegelt sie die Abnormität ihrer Lebenswelt wider, die an sich schon ver-rückt ist. All diese Erscheinungen wirken grotesk, da sie die Grenzen der Kulturordnung durchqueren und übertreten und sich deswegen nicht nur gegen Ordnungen, sondern auch gegen Vernunft, Moral, Norm etc. auflehnen. Bedacht werden aber nicht allein Arzt-Patient-Rollen, sondern auch verschiedene Verhaltensweisen, die sich zwischen Normalität und Abnormität bewegen, es geht um verschiedene Arten des Kriminellen (U 402), um Diktatoren (U 404), um Geschäftsleute als »Snakes in suits« (U 403. Herv. i. Orig.) und ähnliche Monster, die in der Gesellschaft mehr geduldet, viel weniger ausgeschlossen und als dissoziativ betrachtet werden als »psychiatrisch Auffällige« (U 404). Auf die Relativität dieses Ausschlusses weist die Bemerkung hin, dass der »›Idiot‹« im Altgriechischen die Privatperson bedeutete, während »›Idiota‹« im antiken Rom bereits eine dumme Person bezeichnete und zugleich den Einsamen (U 581) meinte. Durch die Reflexion der Bedeutungsverschiebung wird der Setzungscharakter von Ordnungen manifest, der bereits durch die Sprache mitgeliefert wird. Hervorgehoben wird dadurch, dass jede einzelne Kulturordnung willkürlich ihre Grenzen zieht, den Ein- und Ausschluss bestimmt. Die entstellte Wahrnehmung der weiblichen Figur konzentriert sich auf den Schmerz und seine Verursacher, die in der Gesellschaft eigentlich als die Normalen gelten, obwohl sie Menschen demütigen, misshandeln etc. Verhandelt wird in den zitierten Passagen die Konstruktion und zugleich die Subversion von Norm und Normalität, was hauptsächlich durch die durch den Schmerz entstellte Wahrnehmung der Frau vonstatten geht. Die weibliche Figur verbildlicht das Fremde sowohl zu Lebzeiten als auch nach ihrem Tod, da sie der paradoxen Form einer anwesenden Abwesenheit22 entspricht. Reflektiert wird darauf in Bezug auf den Ehemann bzw. der Beziehung des Ehepaars zueinander in der Datei »ismeretlen_ismerös«,23 indem es um das Doppel von Zusammensein und Ignoranz, sowie Beziehung und Immunität gegenüber jeglicher Beeinflussung geht (U 634). Beide Figuren sind, wie das
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Vgl. Waldenfels: 1997, 30. Der, die, das Bekannte heißt im Ungarischen ›ismerős‹, wird also ›ő‹ und nicht mit ›ö‹ geschrieben.
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Fremde, das da ist, indem es sich entzieht.24 Der Bezug auf sie manifestiert zugleich einen Entzug, so dass Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit, Zugehörigkeit in der Nichtzugehörigkeit, Verständlichkeit in der Unverständlichkeit präsent sind.25 Flora bewegt sich also als das Fremde in Grenzzonen von dichotomischen Ordnungen, im Treiben im Flüssigen, wie auf einer Eisscholle (U 377), und entpuppt sich somit als Grenzphänomen par excellence.26 Der Dämon, die personifizierte Krankheit durchbricht als das Fremde Grenzen von vermeintlichen Beheimatungen des Eigenen. Dieser Durchbruch des Fremden, des Rahmens führt, wie man im Roman verfolgen kann, anstatt zur Bekräftigung der Grenze vielmehr zur Liquidation von Ordnung durch ihre Relativierung. Der Einbruch und die durchgehende Infiltration durch das Fremde führen zur Dekomposition und Permutation und zur eventuellen modifizierten Rekombination von Ordnungsmöglichkeiten, aber immer zu einem Prozess, der nicht abgeschlossen werden kann, da nie eine letzte Ordnung greifbar wird. Diese Prozesse stellt uns der Text vor Augen und zeigt, selbst wenn eine Ordnung in Kraft tritt, kann dies nur vorübergehend sein, denn sie bleibt amorph, eine gestaltete Ungestalt, einem Monster ähnlich, das im Liminalen als ein Aggregatzustand vor jeglicher bleibenden Fixierung verharrt. Die nicht-inszenierte Liminalität27 kommt einem Aufbruch ins Ungewisse, einem Eintritt in einen Möglichkeitsraum gleich, in dem es jedoch keine sichere Position mehr gibt, der demgegenüber vielmehr von Instabilität, Disparatheit und Kontingenzen bestimmt ist. In der Wahrnehmung der Figuren erscheint dadurch das Leben als eine Reihe von Krisen, als permanenter Krieg (U 379). Verortet ist die weibliche Figur zweifelsohne im Krisendiskurs, was nicht zuletzt mit der Krankheit zusammenhängt. Handgreiflich ist die Krise im Schmerz, der durch die psychische Erkrankung verursacht wird und Flora in einem Grenzbereich von Normalität, Traum, Rausch und Wahn situiert. Die Tatsache, dass alles in Scherben daliegt, verbildlicht die Krisensituation, in der sich beide Figuren befinden. Sie beide sind eigentlich schon im ersten Teil in Der einzige Mann auf dem Kontinent in einer Lebenskrise, die sich als Dauerkrise entpuppt, auch wenn es zeitweise so aussieht, als wären die Probleme
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Vgl. Waldenfels: 1997, 29. Vgl. Waldenfels: 2006, 115f. Vgl. Ebd. 15. Vgl. Stenner: 2016.
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gelöst. Die Figuren entwerfen unterschiedliche Modelle der Krisenintervention. Besonders ernst ist die Notlage bei der weiblichen Figur, die auch wegen ihrer psychischen Erkrankung nicht im Stande ist, die Krise zu bewältigen.28 Das ist auch der Grund, warum sie beginnt, ihre Gedanken und Gefühle auf einem Computer ›festzuhalten‹, eine Art Tagebuch zu verfassen. Der Wunsch, Buch zu führen, ihr Leben zu erfassen, aus der Konfusion eine Ordnung herzustellen, motiviert wohl das ganze Unternehmen des Schreibens. Es geht unter dem Strich um eine Art Schlussrechnung (U 83), um ein Abrechnen durch Reflexion in Berücksichtigung vergangener Ereignisse und gegenwärtiger Zustände. Damit bewegt sich auch der Textteil von Flora in einer ökonomischen Metaphorik, kann im ökonomischen Diskurs verortet werden. Da es kein Vergessen gibt, bleibt als einzige Möglichkeit die sprachliche bzw. schriftliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben. Das Leben scheint der Protagonistin »sinn- und wertlos« zu sein, sie hat »keine Freunde und keine Lieben« (U 280). Die alles beherrschenden Depressionen, die mit Dämonen personifiziert werden (U 279), werden auf drei Gründe zurückgeführt: Veranlagung, Traumata, ein organischer Defekt (U 438). Diese Depressionen und der damit zusammenhängende Schmerz bzw. der Kampf gegen sie sind die Hauptthemen der Aufzeichnungen, aber sie geben auch ein narratives Muster her, das hier dienstbar gemacht wird. Die Skizzen der Protagonistin scheinen ein Zettelkasten zu sein, der ad hoc für den Moment wichtig oder interessant erscheinende Ereignisse, Erinnerungen oder das Gelesene festhält. Schon daraus entsteht die Diffusion des Gesamtcorpus‹, da das Eigene mit dem Fremden gemischt wird, ohne eine klare Grenze anzugeben. Trotz des scheinbar kontingenten Charakters stehen auch die Notizen aus literarischen Werken oder anderen Büchern in einer Verbindung mit dem Alltag der Figur, ohne dass eine Absonderung der beiden möglich wäre. Der an das Diktum Wittgensteins erinnernde Unsagbarkeitstopos, »Amiröl nem lehet [Worüber man nicht (sprechen kann)]« (U 83 sic!) wird gleich mit dem ersten Satz angesprochen.29 Es weist auf der einen Seite auf die Unmöglichkeit, auf der anderen jedoch auf die Unausweichlichkeit des Sprechens und zugleich des Schreibens hin. Mit dieser ersten Notiz (aber auch mit der zweiten) sind wir auf der Grenze von Sagbarkeit vs. Unsagbarkeit, und auch auf
28 29
Vgl. die Einleitung dieser Studie. Ein ähnliches Muster gibt es auch in der ersten Geschichte in Seltsame Materie. Amiről wird im Ungarischen mit langem ő geschrieben.
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einer Scheidelinie von Gegenwart und Vergangenheit, also mehrfach in einem Grenzbereich. Floras Aufzeichnungen sind eine Art gestaltlose Gestalt, da sie zwar diffus, unzusammenhängend und mosaikartig sind, und doch ergeben sie in dem Medium der Schrift und im digitalen Medium der Datei eine Gestalt. Im Roman entsteht zwar ein Nacheinander dieser Notizen, sie scheinen aber in der Wirklichkeit keiner Ordnung zu folgen. Die Notizen sind als Dateien gespeichert, die in einer beliebigen Reihenfolge abgerufen, geöffnet und gelesen werden können. Die Reihe beginnt zwar mit einem A [Amiröl nem lehet] (U 83 sic!), doch zeigt schon die nächste Datei [marhaszív] (U 85), dass es hier um keine alphabetische Ordnung geht. Die erste Zeitangabe ist der 28. September (U 89), aber es kann nicht gesagt werden, ob dies als Datum gelesen werden kann, das eine Chronologie einleitet. Die Hinterfragung der Ordnung des Kalenders wird nämlich spätestens bei der Datei [Oktober] (U 111) klar, da es dort um die Übernahme eines Gedichts einer ungarischen Dichterin geht, das den Titel Oktober trägt. Die Dateien scheinen also in keinerlei Beziehung miteinander zu stehen, sondern ergeben vielmehr eine kaleidoskopartige, kontingente Ordnung. Es wird schnell klar, dass es hier um die vollkommene Demontage der Zeit geht. Damit werden gleich chronologischer Fortschritt und Entwicklung unterminiert. Die Aufzeichnungen sind zwar in ein Buch gebannt, sie entsprechen formal jedoch vielmehr der alternativen, chaotischen Ordnung eines Zettelkastens oder eben der digitalen Welt, eines Nebeneinanders und der Gleichzeitigkeit. Diese Ordnung bringt die inhaltliche Konstante der Notizen bzw. der Situation der Ich-Erzählerin zum Ausdruck. Ein Zustand außerhalb etablierter Ordnungen ist auf Dauer gestellt, es gibt keine Hoffnung auf ein Entkommen im Sinne von Einbettung und Zusammenhang. Die repetitive Wiederkehr verschiedener Themen entspricht dem Kreislauf im Hamsterrad, einer Bewegung, der erst mit dem Aussteigen ein Ende gesetzt werden kann. Eine Erscheinungsform der Grenze ist in Bezug auf die weibliche Figur, dass die Grenze als Ort gesehen werden kann »der nicht mehr im Verfügungsbereich des Subjekts liegt«.30 Die Problematik von Identität ist somit ein zentrales Thema. Flora hat nicht mehrere, sondern manchmal »nicht einmal eine« Persönlichkeit (U 665. Herv. i. Orig.). Vom Identitätsschwund ist nicht allein das Innere betroffen. Zwischen Innen und Außen gibt es keine Grenze, als wäre man ohne Haut (U 665). Es geht aber auch in Form des Flacher30
Ehlers: 2015, 14.
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werdens durch den Schmerz um das Verschwinden von Kontur, so dass man zum Schluss seelisch und körperlich zu einem Monster wird (U 277). Parallel zur Figur, als ihre materielle Manifestation, wird aber auch der von ihr verfasste Text zu einem Monster, der jenseits von Grenzziehungen ist, keine feste Kontur aufweisen kann. Die Grenzen des Körpers werden flüssig und aufgelöst, und auch die Persönlichkeit ist nicht greifbar. Flora befindet sich in beiden Romanen jenseits etablierter Ordnungen, Grenzziehung wird bei ihr zu einer permanenten transgressiven Überschreitung. Sie hat (auch wegen des Schmerzes) keinen Platz mehr in einem normalen Alltagsleben, was fordert, dass sie sich mit existentiellen Grenzsituationen auseinandersetzt. Augenscheinlich werden Grenzsituationen durch die Verweise auf Mischungen zwischen Tier und Mensch in Bezug auf beide Figuren, wenn Darius als Reptil (U 9), als Stier mit Hörnern (U 7)31 erscheint. Die Frau ist selbstverständlich auch eine Mischung aus Mensch und Pflanze, was bereits ihr Name nahelegt. Mischungen erscheinen aber auch auf unterschiedliche Weisen und auf unterschiedlichen Ebenen im Roman. Literatur modelliert und inszeniert Grenzüberschreitung seit jeher mit Reflexionen auf Traum, Rausch oder Wahn, was auch in Das Ungeheuer nicht zuletzt vor allem in Bezug auf Flora in Artikulationen von Neurose und Wahn zu einem zentralen Reflexionsgegenstand wird. Beim Rausch, oder bei rauschähnlichen Zuständen wie z.B. Ohnmacht, werden die Wahrnehmungsdaten transformiert, weil die Verarbeitung nicht auf die herkömmliche Weise geschieht. Der Rausch entfernt von der vereinbarten Wirklichkeit, bringt herkömmliche Kategorien durcheinander, löst Strukturen auf oder setzt sie außer Kraft.32 Im Zusammenhang mit Flora erscheint der Rausch als Trugbild, als Sehnsuchtsort, der mit dem Glücklich-Sein zusammenfällt, was bei nüchternem Zustand nicht gegeben ist (U 247). Noch radikaler ist der grenzauflösende Charakter von Wahn. Auch Wahnzustände oder die Neurose, von der die weibliche Figur betroffen ist, dekomponieren Ordnung. Die weibliche Figur identifiziert sich mit der mythologischen Figur »Lyssa = der personifizierte Wahn, die Tollwut, die Wut« (U 609), und betont damit den Exzess, die Verletzung
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Der Stier mit Hörnern erinnert an das Ungeheuer im Labyrinth. Diese Konnotation an den Mythos spielt im Textganzen in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Rolle. Durch die Darstellung des Menschen als Tier wird die Figur darüber hinaus in einen liminalen Zwischenbereich versetzt, an der Schwelle von Mensch und Tier angesiedelt. Vgl. Fuss: 2001, 95f.
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der Selbstbeherrschung, die durch die Norm vorgegeben ist. Zum Vorschein kommt auch dadurch eine verzerrte Wahrnehmung. Neben Schmerz ist es noch das Gefühl der Wut, das »die Lage der Welt« (U 395) zum Ausdruck bringt. In dem erscheint eine Art Grenzüberschreitung, Abnormität, was nicht allein im Thematischen, sondern in der vollkommenen Auflösung der sprachlichen Artikulation seinen Ausdruck findet, worauf im Laufe der Analyse noch einzugehen ist. Isotopische Ketten von Wahn, Irrenhaus etc. sind auch mit Traumzuständen vermischt, so dass keine Grenze mehr zu ziehen ist (U 205). Wir befinden uns gleich am Anfang des Romans auch an der Grenze von Wirklichkeit und Traum, denn die Skizze kann auch eine Traumszene aus der Gegenwart oder der Vergangenheit beschreiben, was darauf verweist, dass keine Grenzziehung vorgenommen wird.33 Das Beständige im Textganzen ist die fortwährende Präsenz von traumähnlichen Bewusstseinszuständen und von Träumen. Aus diesem Grund haftet den Dateien etwas Surreales an, das jeder klassifizierenden und ordnenden Logik widerspricht. Die Traumszenerie scheint pars pro toto den ganzen Textkorpus der Aufzeichnungen zu charakterisieren. Die Dateien gehorchen keiner herkömmlichen Ordnung, keiner Logik, keiner Chronologie oder Kausalität. Der Traum trägt deshalb zur Dekomposition symbolischer Ordnungen bei, indem er Chimären gebiert, mit Mechanismen der Verdichtung und Vermischung arbeitet. Der Traum markiert ja durchlässige Grenzen Richtung Unbewusstes, er betreibt einen Prozess der fortwährenden Marginalisierung und Re-zentrierung, eine Transformation von Ordnungen.34 Es gibt zahlreiche Traumszenerien in den Romanen, die in erster Linie die Wahrnehmung hinterfragen und entstellen, die Figur in einem Zwischendasein verorten und somit die Grenzen der kulturellen Ordnung verrücken. Als markanter Ausdruck dafür kann die Datei »delibab« gesehen werden (U 279 sic!). Eigentlich heißt die Erscheinung, die optische Täuschung délibáb und wäre mit Trugbild oder Fata Morgana zu übersetzen, was – wie eine Art Tagtraum – die problematische Wahrnehmung bedenkt. Passagenweise werden Träume und Alpträume (U 202-206) beschrieben in den Dateien, und es ist nicht immer klar, ob es um einen Traum oder einen
33
34
Die Szenerie erinnert an die Welt von Seltsame Materie, womit durch die Scherben der ersten Passagen eine Verbindung zu früheren Texten der Autorin hergestellt wird. Damit treten wir selbstverständlich heraus aus dem Text und auf eine andere Ebene, die aber genauso von Grenzverflüssigung gebrandmarkt ist. Vgl. Fuss, 2001: 94.
7 »Wie eine Scherbe«
Wachzustand geht, so nahtlos sind die Übergänge (U 145). Das Oszillieren erscheint nicht zuletzt durch traumähnliche Darstellungsmodi, die für weite Teile des Textes nachgewiesen werden können. »Meistens verstehe ich überhaupt nicht, was vor sich geht. Wer, was, warum tut. Wie in einem Traum« (U 130), in dem Identitäten als Charakteristika dichotomischer Ordnungen außer Kraft gesetzt sind. Die surreale Artikulationsweise hat, über die Suspendierung von Zeit, Raum und Logik eine Dynamisierung und nicht zuletzt Verzerrungsmechanismen im Blick. Es geht um Überblendungen und Verdichtungen, und nicht zuletzt um anamorphotische Umgestaltungen. Wie die Zeiten und Orte können durch die Personalpronomina auch die Personen nicht identifiziert werden, was für beide Sprachen (ungarisch und deutsch) gilt, obwohl die Identifikation im Ungarischen durch die Unbestimmtheit des Geschlechts noch schwieriger ist, worauf die Übersetzerin mit ihren Anmerkungen (U 218) auch verweist. Perspektiven werden fließend, eine ent-stellte Wirklichkeit wird sichtbar. Da es keine Zusammenhänge und Identifikationen, keinerlei Festlegungen gibt, da konventionelle Verknüpfungen liquidiert sind, wird auch die Sinnstiftung, das Verstehen (U 130) problematisch. Diese Art des Ausdrucks ist der Ort für Zufälle und Kontingenzen, was das Geläufige von vorhandenen Registern und bekannten Ordnungen außer Kraft setzt. Der Traum kann, ähnlich den anderen genannten Zuständen, eine parallele Ordnung instituieren, die doch als Teil, als das Außen der vereinbarten Ordnung der Norm gelten kann. Traum und traumähnliche Zustände interessieren hier gerade in dieser Beschaffenheit. Sie stellen verschiedene Ordnungsoptionen nebeneinander, ohne sie ganz in Kraft zu setzen. Es geht in Bezug auf Ordnung immer um feste Nachbarschaften. Diese Ordnungen können nach Waldenfels durch »Vieldeutigmachen, Sinnvervielfältigung« und zum Beispiel durch den Traum ins Außer-Ordentliche verschoben werden, indem Verwandtschaften gestiftet werden, die »in Form von produktiven Assoziationen über semantische Regelungen hinausgehen«,35 die in Das Ungeheuer dienstbar gemacht werden. Als Techniken können im Weiteren auch die »Steigerung der Extreme« genannt werden, Wortkreuzungen, Wortkaskaden, aber auch mikroskopische Beschreibungen, Wechsel der Fokussierung überhaupt, die sich »unterhalb der Schwelle normaler Alltagspraktiken bewegen«36 und im Roman eine wichtige Rolle spielen. Ähnlich funktionieren aber auch Bedeutungsverknappungen oder 35 36
Waldenfels: 1999, 183. Ebd.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
die Heterogenität der Ausdrucksmittel wie Simultaneität,37 die in erster Linie durch diverse Sprachschichten, Sprachen und durch die Archi- und Intertextualität erscheinen. Die können als das Spiel an den Grenzen und als das Ekstatische, als die Durchkreuzung von Ordnungen gesehen werden.38 Ähnliches gilt für die Fokussierung und die anderen hier im Verweis auf Waldenfels aufgelisteten Charakteristika. Anamorphotische Übergänge, metonymische Verschiebungen und ähnliche Techniken zeichnen Träume oder traumähnliche Bewusstseinszustände aus. Zusammenhänge und Nachbarschaften werden zerrissen, alles ist »wie eine Scherbe« (U 382. Herv. i. Orig.) herkömmliche raumzeitliche Erfahrungshorizonte werden ad acta gelegt. Anhand dieser Eigenheiten ist es berechtigt, von traumähnlichen Ausdrucksweisen zu sprechen. Dies bedeutet, dass der Traum nicht allein als Thema, als Reflexionsgegenstand dienstbar gemacht wird, sondern bei der Protagonistin eine Schreibweise nachgewiesen werden kann, die dem Traum nachempfunden ist.39
7.3
Liminale Grenzbereiche, monströse Artikulationsweisen und die Begegnung mit dem Fremden
Der Transit bedeutet auch einen Durchgang von Seinszuständen,40 was sich zum einen in den bereits erwähnten Ich- und Weltentwürfen artikuliert. Zum anderen erscheint es aber auch im Übergang von verschiedenen Bewusstseinszuständen wie Traum und Wachen und nicht zuletzt in narrativen Artikulationsweisen des Übergangs. Besonderen Akzent bekommen soll in mei37 38 39
40
Vgl.: ebd. Ebd., 184. Das bedeutet auch, dass der Traum absolut gesetzt ist, auch wenn er nicht als Traum markiert ist, geht es oft um traumähnliche Erzählweisen. (Vgl. Steinhoff: 2008.) Mit den Assoziationen des Traumes sind Neukontextualisierungen, neue Nachbarschaften gemeint. Die hängen mit Loslösung von der gewohnten Wahrnehmung, mit dem Verbinden von disparaten und inkommensurablen Elementen, der Auflösung von Linearität, als wichtige Darstellungstechniken, zusammen. Vgl. dazu: Bartl/Klinge: 2012, 8. Waldenfels beschreibt den Traum als das absolut Fremde, das der Mensch nie lückenlos auflösen kann. Der Traum bringt darüber hinaus etwas Verborgenes zum Vorschein, was im Wachen nicht artikuliert werden kann. Wenn man bedenkt, dass der Traum das Fremde im Eigenen ist, kommt auch darin die Begegnung mit dem genuin Anderen der domestizierten Kultur zum Ausdruck. Vgl. dazu: Waldenfels: 2007.
7 »Wie eine Scherbe«
nen Ausführungen der Traum mit seiner die Wirklichkeit entstellenden Wahrnehmung und der Verrückung aller Zusammenhänge. Die narrative Ordnung scheint also auch durch den Traum der Erkundung des Fremden zu dienen. Realität wird zu einem dehnbaren Begriff, die Grenzen zwischen Realem und Surrealem, zwischen Wirklichkeit und traumähnlicher Irrealität verschwimmen. Die Artikulation von Sinnesschwellen, wie Waldenfels sie beschreibt, erscheinen nicht nur als Thema oder Motiv, sondern korrespondieren mit Erzählweisen, die summierend als traumhaftes Erzählen spezifiziert werden können. Der Traum als entstellte Form des Vernünftigen ist davon gebrandmarkt, dass er herkömmliche Ordnungen außer Kraft setzt, indem er ihre Grenzen beliebig verschiebt. Der gewohnte Zusammenhang und die Sinnhaftigkeit der Welt werden zerrissen und verzerrt, was in der Baulogik des Textes erkannt werden kann. Wenn man bedenkt, dass das Wahrgenommene in raumzeitliche Erfahrungshorizonte eingebettet ist, dass wir alles in Zusammenhängen wahrnehmen, ist evident, dass Risse, Fragmentierungen und Zerrungen zum Vorschein kommen, wenn dieses raumzeitliche Gefüge passé ist.41 Solche künstlerisch herbeigeführten Experimente markieren Eingriffe in die Erfahrungswelt und führen zur Auflösung des Wirklichkeitsglaubens, der »heimeligen Weltsicht«.42 Durch solche Anomalisierungsprozesse kommt es zu Unstimmigkeiten, wodurch sich die Wahrnehmungsgestalt ändert. Die kulturell zurechtgelegte Welt, die eigentlich undurchdringlich ist und nur durch Schemata als erkannt erscheint, das Vertraute, wird einem Erfahrungsschock unterzogen. Wenn Standardisierungen durchbrochen werden, entsteht, da Erwartungen nicht erfüllt werden, ein Loch im Erfahrungsgewebe. Wenn das Interesse auf traumhaftes Erzählen als grundlegendes Gestaltungsmuster gelenkt wird, was als ein wirklichkeitsverzerrendes Modell zu deuten ist, können Passagen aus Das Ungeheuer als exemplarisches Beispiel herangezogen werden. Es geht hier nicht in erster Linie um die thematische, motivische Erscheinung des Traumes, obwohl im Text mehrfach Träume beschrieben werden. Der konkrete Bezug des Buches auf Träume ist kein Traumbericht im engeren Sinn, denn auch wenn der Traum erwähnt wird, ist er nicht richtig vom Nicht-Traum zu trennen, beide Ebenen fließen ungestört ineinander. Die expliziten Bezüge auf Schlaf und Traum verstärken nur die 41 42
Waldenfels: 1998, 220. Auch nach Waldenfels bedeutet es eine partielle Entwicklung, wenn etwas aus seinem Zusammenhang gerissen und in einem neuen Kontext situiert wird. Vgl. ebd., 222.
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Tatsache, dass hier Traumanalogien43 als grundlegende Gestaltungsmuster vorliegen, die als ein wirklichkeitsverzerrendes Modell die Erzählweise, den Text dominieren. Der Text erscheint in den Aufzeichnungen der Frau explizit als ein Traum, nicht entzifferbar, ohne Sinn, ist nicht zu knacken (U 198f). Indem jedoch mit »wacher Logik das Ende eines Traums« gesucht wird (U 199), wird das ganze Dasein und so auch der Text mit einem traumähnlichen Zustand identifiziert, es werden aber gleichzeitig auch die Grenzen zwischen Wachen und Traum verwischt. Dazu gehört die akausale Erzählweise, eine Art Montagetechnik, mit ihrer Simultaneität des Disparaten genauso, wie Verzerrungen und Vermischungen. Wirklichkeitsverzerrung entsteht durch die Unsicherheit von Grenzen, was ein Gleiten, eine Verschiebung, anamorphotische Bewegungen verursacht. Die gradlinige Logik der Welt wird durch Sprunghaftigkeit, das Ganze durch das Fragment ersetzt. Es dominieren eigensinnige Verbindungen. Alles erscheint auseinandergerissen. Das Zusammengehörende kann nicht mehr gefunden werden, da es Grenzziehungen und Identifikation voraussetzen würde. Identitäten werden aber vollkommen aufgelöst. Das ganze Textgebilde besteht aus Fragmenten, aus Splittern, Gedanken, Eindrücken, Wahrnehmungen, Zitaten aus Büchern, ohne Überleitungen und erkennbare Logik. Alles wird fließend, die eigenen Gedanken vermischen sich mit Ansichten anderer Personen, und auch die Zeit gehorcht dieser eigensinnigen Ordnung. Inkommensurable Fragmente werden durch ihr Nebeneinander Verbindungen eingehen, die jeglicher Logik entbehren und dennoch ein Bild hergeben. Alles hat im Liminalen, also an der Grenze, seinen Platz. Die digitalen, oft assoziativ skizzenhaften Notizen der Frau sind aus einem Krisenbewusstsein entstanden, wegen ihrer Struktur können sie jedoch aus der liminalen Grenzzone nicht herausführen. Zeitlich bewegen wir uns in der Geschichte Floras »an der Schwelle des 21. Jahrhunderts« (U 89). Aber die erwähnte Zeitperiode ist nicht die einzige Schwelle, die wichtig wird. Wie es sich herausstellt, ist man nicht nur zeitlich an einer Grenze, an einem Übergang angelangt. Die Protagonistin ist zwanzig Jahre alt, sie wechselte aus dem einen Land in das andere, aus Ungarn nach Deutschland, und freut sich über die neue Lebenssituation, obwohl es keinen Grund zu Freude gibt, da sie Ausländerin ist, und somit vom ersten 43
Vgl. dazu: Steinhoff: 2008. Steinhoff grenzt in diesem Buch das traumanaloge Erzählen als Traummimesis vom Traumbericht z.B. und ähnlichen Erzählweisen ab, die doch alle mit dem Traum zusammenhängen.
7 »Wie eine Scherbe«
Moment an skeptisch beäugt und misstrauisch behandelt wird. Fremdheit, Außenseitertum und das Gefühl der Angst werden zu Grundkonstanten der Dateien. Wie die Dateien inhaltlich keine Kohärenz aufweisen, so gibt es auch innerhalb der einzelnen Notizen scheinbar lose aneinandergerückte Sätze, Satzteile, wodurch die Texte fragmentiert und zersplittert, wie Scherben wirken. Oft bringen sie Resignation und Verzweiflung, oft Wut zum Ausdruck. Das Bruchstückhafte und Unzusammenhängende und damit die Rekurrenz auf Ordnungsschwund sind die einzigen Konstanten im Textganzen, als ob man auf einer Eisscholle treiben würde (U 377). Weder die Familie in Ungarn noch die Ehe bedeuten für die Protagonistin eine Zugehörigkeit zu einem Wir, und so bleibt Flora Zeit ihres Lebens aus einer »kollektiven Eigenheitssphäre ausgeschlossen«44 . Wenn in Bezug auf die weibliche Figur von Fremdheit gesprochen wird, heißt das nicht in erster Linie, dass es um ihre ungarische Abstammung und ihren Migrationshintergrund ginge. Kontur gewinnt hier eher eine – nach der Waldenfels’schen Kategorisierung45 – radikale Fremdheit, die nie aufgelöst, nie in das Bekannte überführt werden kann. Ein Grund dafür ist die Unmöglichkeit der Übersetzung vom Erlebten in Sprache und Schrift, weil es keinen Ausdruck dafür gibt, was man fühlt und wahrnimmt (U 250). Die Grenzüberschreitung fordert eine neue Sprache jenseits sprachlicher Konventionen und Ordnungen, die aber zu monströsen Anordnungen, selbst zu Monstern werden.46
44 45
46
Waldenfels: 1997, 22. Traum, Wahn, Rausch, Tod gehören u.a. nach Waldenfels in die Kategorie des radikal Fremden. Gerade um diese geht es aber in der Geschichte, in den Aufzeichnungen der Protagonistin. Vgl. Overthun: 2009, 68.
203
8 »Ein Verrückter, der schreibt, ist nie ganz und gar verrückt«.1 Erzählen und Literatur, Schrift und Existenz: Flora unter dem Strich
8.1
Schmerz und Literarizität: Sprache, Schrift, Erzählen und das Unartikulierbare
Der zentrale Ausgangspunkt und Motor der Aufzeichnungen ist die Herrschaft, die Tyrannei des Schmerzes2 . Wichtig für den Gesamtzusammenhang ist, dass diese Plage nicht einfach als Thema oder Motiv erscheint, sondern aufs Engste mit dem Erzählen gekoppelt ist. Man kann von einer »Literarizität des Schmerzes« sprechen, von einem performativen Prozess seines »Beund Umschreibens«, da die Benennung des Schmerzes schlicht unmöglich ist.3 Die Annäherung an den Schmerz ist vielmehr eine Annäherung an seine Beschreibung. Es geht ja in den Dateien der weiblichen Protagonistin um einen Versuch, die Not, ihre persönlichen Erfahrungen zu notieren. Von einem Wunsch nach Mitteilung kann hier nicht gesprochen werden, denn die Aufzeichnungen haben keinen Adressaten, es gibt auch kein imaginiertes Gegenüber.4 Der Wunsch nach bzw. der Zwang zum Schreiben hängt vielleicht gerade mit dem Fehlen eines konkreten Adressaten, eines Gesprächspartners zusammen. Selbst dies ist aber eng an den Schmerz gekoppelt, denn der Schmerz schließt den Betroffenen in sich selbst ein. Der Mensch ist durch den Schmerz von den Anderen getrennt, und er ist sich dieses Getrennt-Seins
1 2 3 4
U 250. Der Satz wird im Text als ein Zitat von Roland Barthes gekennzeichnet. Scheffler: 2015, 9. Ebd., 5. Herv. i. Orig. Zur Problematisierung von Trauer, Schmerz und Grenze bei Mora vgl. auch Pabis: 2017, 84-102.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
bewusst.5 Die Isolation Floras wird, folgt man diesen Gedanken, nicht allein durch das soziale Umfeld verursacht, sondern vielmehr durch die Erfahrung von Leid und Not. Im Fokus des unteren Romanteils steht somit ein Versuch der puren Transformation, das Experiment des Übersetzens des Nicht-Sprachlichen in Sprache. Über den Schmerz zu schreiben bedeutet demnach auch eine unendliche Bewegung der Annäherung, was als eine Narration des Schmerzes beschrieben werden kann. Die Bedrängnis durch die psychische Krankheit kann als Phase oder »Episode« (U 440), als der mittlere Teil der Krise betrachtet werden, die einem Normalzustand gegenüber gestellt wird. Der Schmerz ist mit Grenze, Grenzüberschreitung und Liminalität verbunden und somit ein zentrales Element der Narration. Der Schmerz schreit nach Normalität und Heilung, nach einer Lösung, wodurch das Erzählen vorangetrieben wird. Der Schmerz interessiert hier jedoch nicht allein in dieser Funktion als Phänomen der Grenze. »Der ›Unglückliche‹, der seelische/körperliche Schmerzen leidet, überwindet die Mauern seiner inneren Fühlbarkeit, die Begrenzung des Körpers, in die sein Schmerz eingeschlossen ist, um dadurch Linderung und (medizinische) Hilfe zu erfahren.«6 In diesem Sinne geht es hier auch um die Mauern, die zwischen Körper, Wahrnehmung, Affekt und Sprache bestehen. Einen eminenten Reflexionsgegenstand bildet die Problematik von Wahrnehmung und die basale Frage nach Versprachlichung bzw. Verschriftlichung. Da es keine direkte Verbindung zwischen dem Einen (Körper) und dem Anderen (Sprache) gibt, geschieht die Grenzüberwindung durch Umwege. Es findet nicht in Form eigentlichen Sprechens, sondern vielmehr »mit ganzen Orchestren von Assoziationen«7 , durch das Ineinanderfügen unendlich vieler diverser Diskurse und eine figurative Sprache, durch ein uneigentliches Sprechen statt. Signifikant für unseren Problemzusammenhang ist der Schmerz aber auch als kulturelles Phänomen, als »eine kulturhistorische Variable«,8 denn
5 6 7 8
Vgl. dazu Scheffler: 2015, 9. Ebd. Eine Aussage Kafkas über den Schmerz und seiner Mitteilung ist hier zitiert nach Scheffler: ebd. Scheffler: ebd. Scheffler belegt auch damit im Zusammenhang, dass der Schmerz gerade deswegen nur interdisziplinär, in seiner Artikulation und Deutung in Wissenschaft, Kunst, Religion, Philosophie etc. betrachtet werden kann. Es würde den Rahmen dieser Untersuchungen sprengen, auf all diese Bereiche einzugehen.
8 »Ein Verrückter, der schreibt, ist nie ganz und gar verrückt«
der Schmerz fragt auch nach jeweiligen kulturellen Ordnungen,9 die bereits die Wahrnehmung, aber auch die Artikulation und die Narrativierung des Schmerzes bestimmen. Der Schmerz wird hier auch an das Monströse gekoppelt, denn gerade seit dem 20. Jahrhundert erscheint das Monströse oft an die Affekte Angst und Ekel gekoppelt,10 wodurch Bedrohungen und Kontingenzen zur Sprache gebracht werden und wodurch die Figur in exterritorialen Räumen verortet wird. Eine eminente Rolle bekommen Körpermonster, die beide Protagonisten charakterisieren, denn beide weichen von einem Ideal des harmonischen Körpers ab, Darius ins Zuviel, da er, Übergewicht hat und Flora ist zu wenig, da sie extrem dünn ist. Gerade bei Flora bekommt jedoch neben der Deformierung der disfunktionale und unkontrollierbare monströse Körper eine zentrale Rolle. Der monströse Körper korrespondiert selbstverständlich mit der Problematik des Sittenmonsters, da wegen dieser Monstrosität Normen nicht erfüllt werden können. So befindet sich Flora (aber auch Darius) dem Monster entsprechend außerhalb der sittlich-religiösen Gesellschaft in einem exterritorialen, wilden Raum, im Wald oder im Niemandsland des Transits. Die Rekurrenzen auf Körper- bzw. Sittenmonster sind nur Artikulationsformen der Präsenz von Subjektmonstern. Das Subjekt wird durch seine »Deontologisierung« zum Monster, es ist eine leere Hülse ohne substanziellen Inhalt, es wird erst diskursiv, durch verschiedene Konstruktionen erzeugt. Dieser Prozess der Erzeugung geschieht bei Flora durch die Schrift, das Aufzeichnen, die Ausufernde Intertextualität das jedoch das Monströse nicht in das Identische überführen kann. Hier interessiert in erster Linie, wie das Textgewebe zum Ort des Schmerzes wird, bzw. wie sich durch den Versuch der Annäherung die Liminalität artikuliert, indem es um die erzählerische Ausgestaltung geht, ohne das Ziel, eine Lösung zu finden. Im Textteil unter dem Strich ist der Schmerz eine der leitenden Denkfiguren. Darin entsteht aber auch eine Verbindung mit dem oberen Teil, allerdings zeitverschoben, denn auch der männliche Protagonist leidet, er trauert nämlich um seine verstorbene Frau. Durch die Konstruktion des Romans werden diese zwei Zeitebenen ineinander geblendet. Mit
9 10
Vgl. ebd., 40. Vgl. Overthun, 2009: 47.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Blick auf die Dateien der Frau, auf die Transformation des Schmerzes11 , kann in diesen Passagen eine Narration des Schmerzes kenntlich gemacht werden. Der Umgang mit der Not, ihre Verbalisierung, ist eng mit der Tätigkeit des Schreibens, mit der Entstehung des Schriftkörpers – als eine Äquivalenz des gepeinigten Körpers bzw. der Psyche – verquickt. Der Prozess der Annäherung, die an die Dynamik der Entstehung der Textur gekoppelt ist, ist die Konfrontation mit einer Grenze, einer unüberwindlichen Mauer,12 mit einer zwar unsichtbaren, aber nicht passierbaren Wand. An der Grenze von Bestimmtheit und Unbestimmtheit herrscht das Dunkle, Unheimliche. Nicht nur die Themen- und Motivkomplexe rekurrieren darauf, sondern viel signifikanter noch die darstellerische Praxis. Als Ringen mit dem Dämon, als personifiziertem Schmerz, entsteht ein monströses Textgebilde. Gerade auch aus dem Grund, weil konkretes Sprechen in Anbetracht des Schmerzes nicht möglich ist, wird vielmehr ein »Erfahrungs- und Metaphernhintergrund«13 aufgerufen. Leiden kann nur mit rhetorischen Figuren, mit Als-Ob-Modellen14 gefasst werden. In einem Be-zug auf Pein ist man immer mit Ent-zug, nie mit Gewissheit, sondern mit Zweifel konfrontiert. Zwischen Fühlen, Transformation und Mitteilen ist eine Diskrepanz, da tut sich der Abgrund auf, der nicht eliminiert werden kann. Der Schmerz ist hier also nicht allein als Leitmotiv auszumachen, denn er wird zum Nukleus der Sprachverwendung und der Textorganisation. Versteht man den Schmerz als einen Herrscher und Tyrann,15 steht auch das Subjektkonzept unter seiner Ägide. Durch die Unausweichlichkeit des Schmerzes wird die Freiheit des Individuums hinterfragt, so dient der Schmerzdiskurs auch zur Positionsbestimmung des Subjekts. Es ist von der unausweichlichen Tyrannei, von der NichtIntegrierbarkeit und Nicht-Mittelbarkeit des leidvollen Gefühls geprägt. Diese Triade dominiert den ganzen Text und bestimmt auch die Spaltung und Auflösung des Ichs. Der Schmerz ist mit einem Verlust von Ordnung gekoppelt. Die Figur ist zum einen isoliert, zum anderen ist ihre Welt wegen ihrer Wahrnehmung vom
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12 13 14 15
Scheffler betrachtet den Schmerz als ein Hauptthema der Literatur und betont, dass die Literatur die Erzählung des Schmerzes mit kulturgeschichtlichem Wissen und Fiktion verbindet. Vgl. Scheffler, 2015: 10, 14. Vgl. ebd., 9. Ebd., 41. Ebd., 45. Vgl. ebd., 9.
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Konstrukt der Normalität verschoben, verzerrt, vermischt, auf den Kopf gestellt. Einen Ausdruck findet dieser Zustand in der sprachlichen und narrativen Gestaltung. Die Suche nach neuen Verbindungen von Affekt und Sprache läuft damit einher, dass tradierte Muster, kollektive Sprachnormen und Denkschemata rekapituliert, aber auch innovativ überwunden werden. Während es bei Darius Spiegelungsbeziehungen zwischen räumlichen und psychischen Abgründen gibt,16 was sich vor allem in den Architekturen der Großstadt und der Infrastruktur der Wege manifestiert, ist diese Grenze bei Flora von räumlichen Abgründen losgelöst. Es ist metaphorisch besetzt und bezieht sich auf Zukunftsängste und auf die Haltlosigkeit der Figur. Der Randstellung Floras ist die signifikante Konnotation des Sturzes inhärent. Da die Grenzerfahrungen auf Dauer gestellt sind, Flora sich also im Liminalen aufhält, sind es die mentalen Strukturen, wie der Schmerz, die ihr Denken und Handeln bestimmen. Rückt man auf die sprachliche und narrative Gestaltung den Fokus, kommen Phänomene in den Blick, die mit Ausdrucksmodi des Grotesken gefasst werden können. Als erstes leitet die auch mit dem Schmerz verbundene Selbstreflexion der Schrift das Interesse. Die Präsenz der Schrift in Form von digitalen Dateien, auch als Metareflexion des Romans, ist als Figuration des Inversen zu erkennen. Hervorgehoben wird dabei ein Moment, in dem das Innen nach Außen gekehrt wird, womit die Grenzen des Artefaktes zu denen der »Welt« verwischt werden. In einem nächsten Schritt wird das Chimärische bedacht. Exemplarisch gemacht werden soll dies in erster Linie durch den Nachweis verbaler Missgeburten, die die Unbestimmtheit akzentuieren, aber auch durch Perspektivenüberlagerungen, sowie durch die Koexistenz von Momenten unterschiedlicher Zeiten. Weiter verfolgt werden Konfigurationen in Form von hyperbolischen Übertreibungen, anhand der überbordenden Intertextualität. In allen Modi geht es darum, den Abgrund zu bewältigen, die Lücke, die durch den Schmerz und das Bewusstsein der Unmöglichkeit seiner Mitteilbarkeit besteht, zu überwinden, ohne jedoch dabei die Lücke zu eliminieren. Generell gilt, dass durch diese Mechanismen der Anamorphose bestehende kulturelle Ordnungen liquidiert, verrückt, verflochten werden. Zu diesen kulturellen Ordnungen gehört auch die Ordnung der Literatur mit Autor, Erzähler, Buch, Leser, aber auch mit Gattungen, Formen der Zeitgestaltung, mit narrativen Schemata u.ä.m. Auch auf die wird im Folgenden das interpretatorische Interesse gerichtet. 16
Schmitz-Emans: 2016, 14.
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Das Grenzdasein der weiblichen Figur, ihre gleichzeitige An- und Abwesenheit wird in Das Ungeheuer auch dadurch augenscheinlich, da sie bereits im Reich der Toten ist, in Form ihrer Asche in einem Karton im Kofferraum vom Auto ihres Mannes jedoch anwesend. Dieses Doppel findet seine Form auch noch dadurch, dass ihre Tagebücher gefunden werden, durch die sie eigentlich anwesender ist, als noch zu Lebzeiten. Sie wird, indem der Ehemann die Aufzeichnungen liest, aus dem Tod zurückgeholt, sie überschreitet eine absolute Grenze und beginnt in den Erinnerungen des Protagonisten ein Pseudoleben. Nach ihrer Selbsttötung findet Kopp in einem Computer, den er ihr geschenkt hat, Dateien, die als eine Art Tagebuch zu lesen sind. Es ist nicht genug, dass der Tod schon eine Grenze zwischen den zwei Menschen zieht, die Begegnung wird erneut durch eine Schranke verhindert, durch die Fremdsprache. Floras Dateien sind nämlich auf Ungarisch, in ihrer Muttersprache, verfasst, die Darius jedoch nicht beherrscht. Er bedarf eines Dolmetschers, um die Sprachbarriere zu überwinden. Hier wird nun auf der thematischen Ebene die Tatsache, die bereits im Laufe des ersten Romans unterschwellig zu spüren war, dass es um eine nachbabylonische Welt geht, und dass beim Ehepaar Kommunikationsstörungen vorhanden sind, explizit. Sie beide sind voneinander getrennt und isoliert und fristen in ihrem Inseldasein ihr Leben, woran auch der Tod kaum etwas ändert. Die weibliche Figur als Ich-Erzählerin des Textes unter dem Strich verfasst ihre Dateien nicht rückblickend, sondern in actu. Sie besitzt den ordnenden Blick der Postkohärentisierung nicht. Deswegen sind die Dateien wie ein Zettelkasten, aus denen der Ehemann, der die Texte zwar aus einer anderen Perspektive, aus dem Nachhinein und in ihrer Abgeschlossenheit liest, das Fremde doch nicht eliminieren kann. Der Prozess des Gewordenseins ist nicht auszumachen und so kann die Schrift auch nicht die gewünschte Funktion einnehmen, zur Stabilisierung der Identität beizutragen.17
17
Die Replik auf Vergangenes, die Bemühung um Erinnerung, Ordnung und Bedeutung, hat eine Art »Diskurs des Selbst« zum Resultat. (Vgl. Schlaeger: 1993, 317.) Schlaeger verweist auf die Erinnerungskultur, die aufs Engste mit der Prüfung und gleichzeitigen Verschriftlichung verknüpft ist. Er stellt den »Diskurs des Selbst«, ausgehend von der Auffassung eines »feste[n] Menschenbildes« zur Konstitution des Individuums, in seiner historischen Entwicklung durch Entwicklung und Erfahrung dar. (ebd. 316). In Bezug auf die Renaissance- und die puritanische Tradition zeigt er Muster der Selbstdarstellung durch eine in der Einsamkeit erfolgten »Selbstentblößung«, die nur in der Schrift möglich wird. Ebd., 319.
8 »Ein Verrückter, der schreibt, ist nie ganz und gar verrückt«
Weil es keine Gewichtung gibt, gibt es keine biographische Bedeutsamkeit einzelner Momente als Sinnzentren, als zentrale Ereignisse. Während im Nachhinein »das Leben unter dem Gesichtspunkt der Resultativität aufzeichnungsfähig« wird,18 ist hier alles prozessual. Die Aufzeichnungen finden statt, werden vorangetrieben, ohne dass Resultate ausgemacht werden können. Das einzige Resultat ist die Entstehung des Schriftkörpers, was jedoch nur scheinbar den Sieg über das Unsagbare bedeutet. Auslöser der Schreibbewegung sind zum einen ein Vakuum, die Abwesenheit eines Gegenübers, das Fehlen von sozialen Kontexten. Zum anderen geht es um Konfusion, die Bewältigung des Schmerzes, und die Reflexion, dass durch die Schrift etwas Bleibendes entstehen, eine Identität konstituiert, verfestigt werden kann. Darüber hinaus geht es aber auch darum, der Flüchtigkeit des Moments, ja des Lebens ein Ende zu setzen, aus der Liminalität herauszukommen, die ja einem bereits zitierten Mangelzustand, »Mutter tot, der Vater fort, weder Gott noch Heimatort.« (U 277. Herv. i. Orig.) geschuldet ist. Das ganze Textgeflecht reflektiert mit der thematischen Dominanz des Todes die Flüchtigkeit menschlichen Lebens, das Transitorische schlechthin und den Wettkampf mit der Zeitlichkeit, das jedem Erzählen inhärent ist. Indem Schrift als Medium das Bleibende in der Zeit, den vermeintlich dauernden Besitz beansprucht, reflektiert die Besinnung auf die Schriftlichkeit neben dem Festhalten auch eine Art Bewahrung von etwas, das nicht dem Verschwinden, dem Vergessen anheim fällt. Schrift als das Bleibende, Verfügbare ist als ein »Aufbegehren gegen den Wandel der Dinge«,19 gegen die Zeit, zu deuten. Sie ist auch eine Manifestation von Sehnsucht nach dem HeimischWerden in der Welt, einem Paradies, was dem Oszillieren ein Ende setzen könnte. Da könnten die Dinge Struktur bekommen und Gestalt annehmen. Gelingen könnte es durch Absonderung und Grenzziehung, durch die eine Ordnung entstehen könnte. Zur Verfestigung, zum Ordnen benötigt das Ich nicht nur die zeitliche Distanz, sondern auch ein Sprachverständnis, in dem die »Schärfe des Wortes, das als Messer«20 , das schneidet, also Grenzen zieht, im Fokus steht. Da im Roman das Wort jedoch vielmehr durch Unschärfe und Monstrosität gekennzeichnet ist, kann es, da keine Schärfe vorhanden ist,
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Assmann, J.:1983, 70. Schmitz-Emans: 1995, 26. Schlaeger: 1993, 319.
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nicht mehr als Instrument der Grenzziehung gelten. Die Form der Verschriftlichung bringt erneut zum Ausdruck, dass, wie dies in Bezug auf Waldenfels bereits gezeigt wurde, es kein völliges Heimisch-Werden gibt.21 Ordnungen sind nämlich Setzungen, die schon durch eine neue Perspektive ins Wanken geraten und sich wandeln, so dass man statt in Bleibendem und Festem nur in Flüssigem, Anamorphotischen beheimatet werden kann. Flora ist tot, also abwesend, doch doppelt präsent als Asche und als Schrift bzw. in Form digitaler Codes. Doch erfährt man, der Leser genau so wie Kopp, erst jetzt etwas mehr aus dem Leben der weiblichen Figur. Der Ausgangspunkt ist, dass sie gestorben ist, sich an einem Baum im Wald abseits des Weges erhängt hat (U 39). Davor hat sie zwei Jahre auf dem Land verbracht, hat harte Winter durchstanden und ist im Frühling gestorben. Der Selbstmord geschah zu Pfingsten, während Darius seine Mutter und Schwester besuchte. Von Maidkastell fährt er zwar in den Wald, um Flora zu treffen, findet sie aber nicht, und erst im Nachhinein wird es klar, dass sie in dieser Zeit bereits tot war, während er unweit wartete. Auch diese Szene weist auf das zwischen den Ehepartnern vorhandene Doppel, auf eine Fernnähe, auf Isolation trotz räumlicher Nähe hin. Ein Grund dieser Isolation ist das Kommunikationsproblem, das Unverständnis des Anderen und seine unauflösliche Alterität. Sie scheinen nach der babylonischen Sprachverwirrung zu leben, die den Zugang zueinander erschwert. Die Tragik wird noch dadurch verstärkt, dass klar ist, dass selbst das Pfingstwunder diese Kluft nicht tilgen, nicht überwinden kann. Alle spielen ihre eigene Musik (U 43), das kann aber nicht zur Verständigung führen, sondern ist vielmehr als ein Tohuwabohu zu deuten. Die Grenzen zueinander können, selbst wenn es nicht um eine Fremdsprache geht, nicht aufgehoben werden. Das Pfingstwunder findet nicht statt, es gibt weder in der Sprache noch jenseits der Sprache eine Verständigung, ein Zueinanderfinden, und so bleiben alle auf ihrer einsamen Insel gefangen.
8.2
Schrift und Abwesenheit – Schrift als Nachlassmaterial
Die eigene Schriftlichkeit ist »Generalthema moderner Literatur«,22 der Themenkomplex von Schreiben, Lesen, Büchern etc. wird in Das Ungeheuer auf
21 22
Vgl. Waldenfels: 1997, 17. Schmitz-Emans, 1995: 12.
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obsessive Weise aufgegriffen. Wie im Allgemeinen, ist die literarische Reflexion der Schrift, ja der Literatur selbst generell signifikant im Oeuvre Moras. Der Text entwickelt verschiedene Strategien, um in einer metapoetischen Selbstbetrachtung zahlreiche Implikationen von Schriftlichkeit, Text, Buch und Literatur, »was Kunst und was Dichtung ist« (U 141) zu bedenken. Reflexion und das Schreiben als geistige Tätigkeiten werden in Bezug auf die ungarische Philosophin, Àgnes Heller, als besondere Momente, vielleicht sogar als Glücksmomente erfasst, die es ermöglichen, nicht nur einen Alltag zu haben, sondern darüber hinausgehen zu können, Grenzen zum Geistigen zu überschreiten (U 420). Diese Tätigkeiten gestatten demnach ein höheres Dasein und spielen auch aus diesem Grund eine zentrale Rolle. Der Akzent der Reflexion von Schrift und Sprache liegt aber nicht allein auf den thematisch-motivischen, sondern auf den formalen Eigenheiten. Um das Untersuchungsfels weiter abzustecken, sollen auch diese anvisiert werden. Durch Floras Aufzeichnungen entsteht ein Buch im Buch,23 in dem dann noch zahlreiche andere Bücher Einzug finden, wodurch eine Art mise en abyme-Struktur erscheint. Dies suggeriert eine unendliche Wiederkehr, den Kreislauf, der nichts Finales hat, sondern vielmehr den Abgrund heraufbeschwört. Schreiben und Lesen gehen auch Hand in Hand, denn man kann einerseits annehmen, dass die Depressionen, der Schmerz die Verursacher der Schrift sind. Die Depressionen stürzen einen »wie ein Dämon ins Entsetzen« (U 574) und sind verantwortlich für die »Zersetzung der gesamten Struktur. Wie Rost das Eisen« (U 574). Die Enttäuschung in den verschiedenen Therapien führt dann andererseits zum Entschluss, statt diesen sich lieber den Büchern zuzuwenden und zu lesen (U 623). So speisen sich die Aufzeichnungen selbst aus verschiedenen Schriften. In Bezug auf die Rolle und Bedeutung der Schrift muss zwischen den beiden Figuren des Romans eine Unterscheidung gemacht werden. Als Schrift in der Schrift erscheinen Floras Aufzeichnungen. Sie ist der Urheber des einen Textteils, der aus einer inneren Motivation heraus die Dateien verfasst hat. Darius jedoch ist der Rezipient dieser Texte, für den diese Aufzeichnungen eine ganz andere Rolle bekommen. Bei der weiblichen Figur geht es vorrangig um das Ordnen, um eine Kontur zu gewinnen, in der hauptsächlich durch
23
Das Bild des Buchs im Buch passt hier selbstverständlich nicht genau, denn die Aufzeichnungen sind Word-Dateien, die auf einem Laptop gespeichert wurden und nur digital existieren. Sie aber auf jeden Fall durch die Schrift entstandene Dokumente, die in vieler Hinsicht dem Buch ähneln.
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die Krankheit verursachten Diffusion eine Art Klarheit zu schaffen und nicht zuletzt darum, für den Schmerz einen möglichst adäquaten Ausdruck zu finden (U 251). Bei der männlichen Figur bedeutet die Schrift die Begegnung mit Nachlassmaterial und eine Art Kommunikation mit der abwesenden Verstorbenen, aber auch mit sich selbst. Die Reflexion von Schrift erscheint also auf mehreren Ebenen. Zum einen geht es darum, dass sich die weibliche Hauptfigur schreibend vergewissern will. Die Aufzeichnungen führen zum anderen dazu, dass sie auch nach ihrem Tod im Text fortbesteht und durch den Ehemann lesend heraufbeschworen werden kann. Das Abwesende wird durch die Schrift anwesend gemacht. Die alles umfassende Dominanz des Todes ist als das Abwesende zu sehen, das durch die Schrift heraufbeschworen wird und worauf sie verweist. Die Thematik des Todes reflektiert die Entstehung des Textgeflechts, der Schrift. Schrift ist mit Abwesenheit des Subjekts gleichzusetzen, und der »Tod ist die paradigmatische Form dieser Abwesenheit«24 . Die Rezeptionsarbeit ist im Roman ein »Umgang mit Nachlassmaterial«25 . Die Verwandtschaft zwischen Schrift und Abwesenheit bezieht sich auf die Absenz des Sprechers, denn einen unmittelbaren Austausch gibt es nicht, der Dialog entsteht erst vermittels der Schrift, die ja aus einem Vakuum, aus einer Absenz entsteht. Hier bekommt dann der Tod – als Paradigma der Abwesenheit schlechthin – eine zentrale Rolle. Die Schrift erscheint als ein den »tod-überdauernder Diskurs«,26 sie kann die Verstorbene auf eine Art und Weise ins Leben zurückholen. An die Stelle dieser Präsenz tritt nun die Präsenz des Textkörpers in der Verkörperlichung von Schrift. Eine körperliche Präsenz der eigentlichabwesenden Frau entsteht demnach im Schriftkörper, der in seiner Materialität in digitalen Codes zwar zugänglich, aber letztendlich auch undeutlich bleibt. Bedacht wird durch die Reflexion von Schrift und Sprache in erster Linie, und damit sind wir bei einem anderen Aspekt der Metaebene, die Beschreibbarkeit von Erfahrungsinhalten, also die Übersetzbarkeit von Erfahrung in Text.27 Ganz besonderes Gewicht bekommen hier die Schmerzen, der psychische Zustand der Protagonistin und die Verbalisierbarkeit, sowie die mögliche Verschriftlichung des eigentlich Unsagbaren. Der Schmerz kann als
24 25 26 27
Assmann J.:1983, 70. Ebd., 72. Assmann, A. u. J.:1983, 88. Vgl. Schmitz-Emans: 1995, 17.
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ein Modell gesehen werden, als extremer Zustand einer allgemeineren Erfahrung der Unsagbarkeit. Wenn es also darum geht, wie der Schmerz greifbar ist, geht es generell darum, wie das Nicht-Sprachliche in Sprache übersetzt werden kann, also um eine Frage der Formgebung und Vermittlung. Mit der Frage nach dem Kommunizieren des Schmerzes ist man in einem viel weiter gefassten Komplex situiert, bei der auch für die Literatur grundsätzlichen Frage nach Darstellbarkeit. Was die Existenz wirklich bedroht, kann man mit Worten nicht ausdrücken. Solange ich noch sprechen kann, kann ich nichts darüber mitteilen. Und wenn es einmal so weit ist, habe ich keine Worte mehr. Depression oder der Tod, was die Mittelbarkeit anbelangt, ist das beides gleich.« Auch »positive Extreme« sind nicht verbalisierbar. (U 251 Her. i. Orig) Das Schreiben kommt, wie eine Datei zeigt, auch immer wieder ins Stocken, da die Figur sich nicht traut zu schreiben (U 326), Dinge in der Seele zu benennen (U 380).28 Die Artikulation kann als ein Zuhalten auf Nichtartikulierbares gesehen werden.29 Die Buchstaben grenzen eigentlich an das Fremde, das Abwesende, was nicht gesagt und geschrieben werden kann. Auch visuelle Mittel, die abwesenden Schriftzeichen auf dem leeren Blatt bzw. auf der leeren Blatthälfte stellen ein Vakuum vor Augen, das an die Realität der Wörter grenzt. Einen Reflexionsgegenstand bedeutet die Materialität der Sprache an sich. Durchstreichungen, Kursivierungen, Groß- und Kleinschreibungen, alles was falsch geschrieben oder nur mit Anfangsbuchstaben angegeben wird und deswegen schwer entziffert werden kann, aber auch andere darstellerische Praktiken, kehren die eigene Medialität hervor. Die Figur arbeitet immer wieder als Übersetzerin, sie identifiziert sich auch mit dieser Tätigkeit. Das Übersetzen kann aber in diesem Kontext, nach einer metareflexiven Lesart nicht allein die Übersetzung aus einer Sprache in eine andere bedeuten, sondern vielmehr die Übersetzung des Fremden, des Anderen, der »Welt« bzw. vornehmlich des Schmerzes in Sprache. Das ist, was die Erzählerin immer wieder mit den eigenen Grenzen konfrontiert. Es wird deswegen mehrfach darauf reflektiert, dass es Hochstapelei sei, sich eine Übersetzerin zu nennen
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Diese Aussagen korrespondieren mit Auffassungen der sprachkritischen Tradition, die u.a. darauf reflektiert, dass die konventionalisierte Sprache das individuelle Erlebnis nicht fassen kann. Vgl. Schmitz-Emans: 1995, 19.
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(U 591). Als nicht naiver Erzähler weiß die weibliche Figur, dass diese Mediatisierung einen Transformationsprozess bedeutet, eine Verschiebung aus dem Nicht-Sprachlichen in Sprache und aus Sprache in Schrift. Buchstabe und Schrift können in ihrer Funktion als bewahrende Instanzen der Inventarisierung und Fixierung dienen und somit dazu beitragen, eine Identität zu begründen und zu präsentieren. Das Aufschreiben erscheint einerseits als eine Lösungsmöglichkeit, in der bedrängten Lage Heilung zu finden, zum anderen ist es aber auch klar, dass mit den Worten der wahre Nerv der Dinge nicht erreicht werden kann. »[I]ch weiß es. Dass das alles nur Worte sind, also zu ertragen. Während die Wirklichkeit nicht zu ertragen ist.« (U 374) Die Schrift, das Schreiben, die Worte machen alles etwas erträglicher, das Fremde fassen oder bewältigen können sie jedoch nicht. So entsteht, auch an den Schmerz gekoppelt, die Kippfigur zwischen Bezug und Entzug, was sich in einer Um-Schreibung realisiert. Das Um-Schreiben wird hier in der Bedeutung verstanden, dass die Protagonistin versucht, etwas abzugrenzen und zu bestimmen, festzulegen. Gleichzeitig kann aber nicht mit den direkten Worten, sondern verhüllend geschrieben werden, so dass das direkte Wort durch einen anderen Ausdruck ersetzt wird bzw. werden kann. Die virtuelle Seite der Datei wird beschrieben, mit Schriftzeichen versehen, ohne jedoch das Zu-Beschreibende wiederzugeben, mit Worten darzustellen. Der ganze Schriftkörper wird so zu einer gegenseitigen Relativierung seiner Aussagen, was zur Auslöschung führt. Allmählich gewinnen aus den tagebuchartigen Aufzeichnungen die Probleme, das Seelenleben der Frau eine vage, verschwommene Kontur. Erhellung, Erklärungen zu finden, was Flora und die ganze Beziehung in neues Licht rückt, darauf hofft Darius. Diese Hoffnungen werden aber nicht erfüllt. Die zum Großteil ungarischsprachigen Dateien bedürfen obendrein eines Vermittlers, um für Darius zugänglich zu werden. Die Rolle des Dolmetschers übernimmt eine junge Frau, Judit. Was Darius in Form von WordDateien in der Hand hält, die ihm als Schrift zugänglich werden, ist also das Ergebnis eines zweifachen Übersetzungsprozesses, einer doppelten Transformation, einer wiederholten Verschiebung. Dies wirft aber die Frage nach Kompatibilität der verschiedenen Versionen auf, bzw. ob man statt Entsprechung nicht vielmehr mit ›lost in translation‹ konfrontiert ist. Floras Dateien sind, ein Sammelsurium, kleinere oder größere Fragmente, die kaleidoskop-artig neben- bzw. hintereinander stehen. Die Dateien beinhalten Erinnerungssplitter aus der Vergangenheit, aus der Kindheit von Flora im Dorf, aus Pest bzw. aus ihrer Zeit nach der Umsiedlung in das andere
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Land, in die Stadt (U 88). Es geht um Armut, um Begegnungen mit Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz und nicht zuletzt um eine Kritik an patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und ihrer Sprache. In diesem Sinne kann ziemlich am Anfang der Aufzeichnungen das Feministische Manifest von Virág Erdős,30 einer berühmten ungarischen Dichterin, stehen (U 92 ff). Insgesamt kann festgestellt werden, dass in den Notizen der Protagonistin die ungarischen Bezüge dominieren. Somit ist der Roman auch als ein Exempel der interkulturellen Erinnerung,31 als Kulturtransfer zu lesen. Neben den bereits erwähnten Themen geht es in ihnen um Bekanntschaften, vorwiegend Männerbekanntschaften, um die Suche nach einem Job, der einem eine Art finanzielle Sicherheit, ein Existenzminimum gewähren würde und darüber hinaus eine feste Stellung im Leben, eine Art Integration und Akzeptanz ermöglichte. Diese oft wechselnden, auch was die Arbeit anbelangt meistens unbefriedigenden Stellen, können der Frau keinen Halt geben, sie ziehen ihr vielmehr immer mehr den Boden unter den Füßen weg und begünstigen damit ihren Zusammenbruch. In den Jobs ist sie hauptsächlich als Praktikantin angestellt, befindet sich demnach nicht allein zwischen den 30
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Nähe zu der ungarischen Dichterin Virág Erdős ist nicht allein in der Erwähnung des Feminismus festzumachen. Erdős ist auch eine Frau, die in einem ihrer Gedichte die Melancholie in Schutz nimmt. [A melanchólia védelmében] (Vgl. Erdős: 2017.) Die Dichterin kann auch aus diesem Grund als eine Art Identifikationsfigur für die Protagonistin auftreten. Darüber hinaus korrespondiert das Feministisches Manifest von Erdős mit dem Manifest des Surrealismus von Andre Breton. Der Text, wie der von Flora übernommene Auszug auch zeigt, ist traumhaft, traummimetisch, alogisch und beinhaltet keine Erklärung von Zielen und Absichten, in den Diensten einer Idee, sondern ein hochästhetischer Text, dessen Bedeutung nur schwer manifest, also offensichtlich werden kann. Liest man dies pars pro toto, kann eine Analogie zu den Aufzeichnungen der Protagonistin gefunden werden, die trotz ihrer Manifestation in der Schrift durchgehend nebulös und vage bleiben. Literatur ist ein wichtiges Medium der Erinnerung. Fiktive Texte können Elemente der Erinnerungskultur auf unterschiedliche Arten und Weisen darstellen, sie neu kontextualisieren, aber auch neu inszenieren. Sie haben die Fähigkeit, die Erinnerungskultur zu repräsentieren, aber auch, neue, unbekannte Diskurse, alternative Vorstellungen zu vermitteln. (Vgl. Erll/Nünning: 2005, 188f, bzw. Erll/Gymnich/Nünning: 2003, III-XI) In der Inter- oder transkulturellen Literatur bekommt die Erinnerung, oder umgekehrt, diese Literatur im Erinnerungsdiskurs eine zentrale Rolle. Nach Chiellino kann interkulturelle Literatur dadurch definiert werden, dass sie eine bikulturelle Erinnerung repräsentiert. Diese verschiedenen Erinnerungen stehen miteinander im Dialog. Im interkulturellen Roman ist nach Chiellino die Figur oder der Erzähler bemüht, seine eigene kulturelle Erinnerung zu bewahren. Vgl. Chiellino: 2001, 89ff.
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verschiedenen Stellen unterwegs in einem Zwischendasein, sondern auch in dem jeweiligen Beruf ist sie in einer Übergangszone zwischen Anstellung und Nichtanstellung in einem Oszillieren beheimatet. Gerade um diesen fortwährenden Übergang zu bewältigen, beginnt sie mit den Aufzeichnungen, die berufen wären, schon durch die Schrift der Konfusion eine Form zu geben, die unfassbare Masse des Lebens in irgendeine Form zu gießen, eine Ordnung herzustellen. Dies erscheint in Anbetracht der psychischen Krise der Figur umso wichtiger. Bereits im Roman Ein einziger Mann auf dem Kontinent erfahren wir einiges über die Zusammenbrüche von Flora, von ihrer psychiatrischen Behandlung, über ihre Ängste. Im Nachhinein gewähren die Aufzeichnungen eine Art Innenschau der Figur. Der Beginn der Notizen weist jedoch gleich auch auf ein Paradoxon, auf die eigentliche Unmöglichkeit des ganzen Unterfangens hin, nämlich auf die Unsagbarkeit, die Unfassbarkeit dessen, was eigentlich gefasst, erzählt werden sollte. Worüber man nicht sprechen kann, darüber wird aber nicht geschwiegen, sondern geschrieben. Hingewiesen wurde bereits auf die gestörte Kommunikation zwischen den Ehepartnern, die trotz oder gerade wegen moderner Technik nicht zustande kommt oder vorzeitig abbricht. Auch wegen ihres Habitus‹ und ihrer Interessen trennen Flora und Darius Welten. Obwohl sie ein Ehepaar sind und in einem Haushalt leben, sind sie voneinander aus verschiedenen Gründen isoliert. In diesem Moment fließt aber die inhaltlich-motivische mit der metapoetischen Ebene zusammen, denn gerade das Aufschreiben hebt die sprachliche Verfasstheit von allem hervor und reflektiert auf Beschaffenheiten von Sprache und Schrift. Wobei aber Sprachlichkeit auch als Thema ständig präsent ist, denn die Figur träumt von der Sprache und davon, dass sie versagt. Die Sprache ist also ein zentrales Element, das das Erzählen konstituiert. Das Metapoetische erscheint jedoch nicht allein in diesen selbstreflexiven Thematisierungen, sondern massiv auch in der Besinnung auf die Materialität von Zeichen. Auch die Sprachordnung ist Teil der kulturellen Ordnung und eine Erscheinungsform des Symbolischen.32 Die Reflexion von Sprachlichkeit kann als ein weiterer Aspekt des Nachdenkens über Grenzen erkennbar werden. Die Sprache ist ein auf Konventionen beruhendes kulturelles Produkt, aber auch, wie Fuss formuliert, »Quellpunkt der Selbstzeugung der Kultur«33 . Das ist auch der Grund, warum die Reflexion auf diese Zusammenhänge einen 32 33
Vgl. Fuss, 2001: 195. Ebd., 175.
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durchgehenden Zug in Moras Prosa darstellt. Selbst das Subjekt wird selbstverständlich gerade durch die Aufzeichnungen als Produkt der Sprache erkannt. Als ein Beispiel kann hier die Namensgebung angesprochen werden. Die Hauptfigur ändert willkürlich ihren eigentlichen Namen, wird aus Theodora zu Flora, und unterminiert schon damit die Identität und Unhinterfragbarkeit des Subjekts. Das Vertrauen in die Sprache wird im Text stark bezweifelt, und nicht nur, was ihre Beziehung zur »Welt« anbelangt, sondern auch in ihrer sozialen Funktion. Wenn die Sprache in ihrer Medialität erscheint, ist sie als Störelement da, weil die Materialität auf eine Brechung verweist, darauf, dass durch den Übersetzungsprozess kein nahtloses Zusammenführen möglich ist, keine Adäquatheit erreicht werden kann. Es gibt zwar das Ziel der Mitteilung auf der einen und der Verständigung auf der anderen Seite, die darstellerischen Mittel und ganz explizit der Sprachgebrauch untergraben jedoch diese Intention. Der Teil unter dem Strich ist demnach nicht allein wegen der »Zersetzung der gesamten Struktur« (U 574) eine Behinderung der Kommunikation. Man hat einen vielsprachigen Text vor sich, in dem die Übergänge aus der einen Sprache in die andere fließend sind, was an sich schon zu Polyphonie führt. Der Text verkörpert auch durch seine Multilingualität die unaufhörliche, kontingente Konfrontation mit dem Fremden, was selbst dann gilt, wenn man die verwendeten Sprachen kennt, es tut sich nämlich immer wieder eine Dekodierungs- und Verstehensgrenze auf. Was die sprachliche Gestaltung anbelangt, steht der Leser vor einer vollkommenen Konfusion. Dies gilt für die impliziten Leser, für den Leser in der Figur von Judit, die die Texte ins Deutsche übersetzt, es betrifft aber auch Darius, der diesen übersetzten Text vor sich hat. Darüber hinaus steht auch der reale Leser einem Textgeflecht gegenüber, das ihm nur Rätsel aufgibt. Die Leser werden dadurch damit konfrontiert, was die Verfasserin selbst erlebt, wenn sie sich ausdrücken will, damit nämlich, dass man keine Sicherheit hat, sondern immer nur raten kann (U 262). Der Text nennt sich selbst ein Kauderwelsch (U 206) und lotet alle Bedeutungsinhalte des Wortes aus, er ist unverständlich, ein Sprachgemisch und oft eine fehlerhafte Ausdrucksweise. Die Virulenz der störenden Elemente und ihr Zusammenspiel verursachen Unverständlichkeit, denn jede Annäherung stellt einen vor neue Grenzen. Die Irritation der Figuren wächst dadurch, dass sie sich nach Antworten sehnen, nach Lösungen streben, von ihrem Sehnen und Streben jedoch nie erlöst werden können. Ein Grund für das Versagen der Bemühungen ist die Janusköpfigkeit aller Erscheinungen und die Tatsache, dass der Ambiguität
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kein Ende gesetzt werden kann. Die Ambiguität entsteht nicht zuletzt aus einer chimärischen Sprachenmengerei.34 Die Dateien erscheinen immer zuerst ungarisch, dem folgt dann die Übersetzung des Dateinamens bzw. die des Textes. Viele der Dateien haben kein Datum, so ist nicht klar, wann sie beginnen. Selbst wenn die Dateien ein Datum haben, fehlt die Angabe der Jahreszahl. Das erste Datum ist der »28.Sept« (U 89) und das letzte der »26. März« (U 674). Wie viel Zeit zwischen diesen zwei Angaben verlief, kann nur aus dem Darius-Teil rekonstruiert werden, was eine Art Zeitlosigkeit und so die genannte Konfusion zum Ausdruck bringt. Was die Übersetzung bzw. das Tippen der Aufzeichnungen anbelangt, muss von einer fehlerhaften Ausdrucksweise gesprochen werden, die in manchen Fällen sogar die Unverständlichkeit oder eine Kipp-Figur zwischen Verstehen, Unverständlichkeit bzw. Missverstehen zum Resultat hat. Ob diese Fehler bereits im Original enthalten sind oder erst durch die Übersetzung entstehen, ist nicht herauszufinden. Hauptsächlich geht es hier um die langen Vokale, die im Deutschen keine Entsprechung haben wie das »ő« in »amiről« gleich in der ersten Datei (U 83), die mit einer deutschen Tastatur auch nicht automatisch zu bewerkstelligen sind.35 Das Weglassen des Akzents verändert manchmal die Bedeutung der Wörter oder macht die Wörter sinnlos. Diese Sinnlosigkeit erscheint z.B. bei ›parkak‹ (U 132), denn erst aus der dazu gehörenden Aufzeichnung stellt sich heraus, dass es hier um die Parzen, die Schicksalsgöttinnen, geht, denn die ungarische Version, sie hieße ›párkák,‹ ist nicht zu identifizieren. Eine vollkommene Bedeutungsveränderung ist u.a. bei »almok« (U 199), wo es eigentlich um Träume, ungarisch ›álmok‹ geht, wobei ›almok‹ die Pluralform von Streu, Gestreu wäre. Ähnlich ist es bei ›örült‹ (U 269) oder ›örültek‹ (U 396). Die Version der Datei bedeutet im Ungarischen ›sich freuen‹ während die Version ›őrült‹, ›őrültek‹ den Wahnsinnigen oder die Wahnsinnigen meint. Im Text geht es um Wahnsinnige, diese Version des ungarischen Titels verspricht jedoch etwas ganz Anderes. Die Frage, ob der Dateiname falsch getippt wurde oder die Übersetzung falsch ist, kann nicht beantwortet werden. Der kleine Unterschied zwischen ›ö‹ und ›ő‹ führt zu der Diskrepanz ob die 34 35
Vgl. Fuss; 2001, 42. Generell kann behauptet werden, dass in der Schreibweise keine Einheitlichkeit zu finden ist, denn der Buchstabe ›á‹ wird manchmal in dieser ungarischen Form, also mit Akzent und manchmal als ›a‹ geschrieben, was auch für den Buchstaben ›é‹ bzw. ›e‹ gilt. Ähnlich ist es beim langen ›í‹ bzw. kurzen ›i‹. Diese Änderungen stören das Verständnis meistens nicht.
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Großmutter sich gefreut hat (nagymama örült), oder ob sie wahnsinnig ist (nagymama őrült). Das Rätsel bleibt bestehen, kann nicht eliminiert werden, so ist das Ergebnis des Lesens (egal ob für die fiktive Figur der Übersetzerin oder den realen Leser, der beide Sprachen beherrscht) statt Klarheit vielmehr Verwirrung.36 Darius merkt, da er des Ungarischen nicht mächtig ist, diese Verzerrungen und Verschiebungen nicht. Was jedoch auch ihm auffällt und ein allgemeines Charakteristikum der Aufzeichnungen ist, sind die zahlreichen Abkürzungen, die zu der Aktivität des Ratens zwingen. In diese Sparte gehört die Tatsache, dass alle Namen von Floras Bekannten nur mit ihrem Anfangsbuchstaben erscheinen, und so, selbst wenn Darius Floras Bekannte kennen würde, nicht identifizierbar wären. Alles bleibt im Nebulösen, es ist nicht herauszufinden, wer hinter den Namen bzw. Initialen steckt. Da im Ungarischen die dritte Person Singular nicht an das Geschlecht gebunden ist, erscheinen all diese Figuren in der nichtidentifizierbaren Form ›ő‹. Darauf weist im Text auch Judit, die Übersetzerin hin. Unter diesem ›Ő‹ und mit einem ›D.‹ markiert erscheint auch Darius in den Aufzeichnungen seiner Frau. Erst durch die Umstände und den Hinweis auf den Perserkönig kann er sich identifizieren (U 323).37 In dem völlig Dunklen und Nicht-Identifizierbaren bleibt auch das »Ich« befangen. Hier kommt es durch die unendliche Aufsplitterung zu einer Konfusion. Wegen der zahlreichen einmontierten Texte, des Collagehaften sind es viele unterschiedliche Ichs, die hier zur Sprache kommen. Diese sind von der Urheberin der Aufzeichnungen nicht zu unterscheiden. Das Ich zersplittert und wird völlig im Unidentifizierbaren aufgelöst. Die Aufzeichnungen entstehen, darauf wurde bereits verwiesen, aus dem Paradoxon der Unsagbarkeit. Es wird zwar kein konkreter Grund für ihre Entstehung angegeben, die erste Datei »Amiröl (sic!) nem lehet«, ›worüber man nicht‹ erinnert einen an Wittgensteins Axiom, dennoch kann hier nicht geschwiegen werden, so groß sind die Schmerzen und Leiden der Protagonistin. Ihr Schmerz, dieser Dämon, bleibt jedoch unfassbar und dadurch unsagbar. Wenn die ›Wirklichkeit‹ gestaltlos ist, dies leuchtet ein, kann auch ihre Darstellung keine konkrete, eindeutige, fest umrissene Kontur annehmen.
36 37
Die Reihe dieser Anomalien könnte noch fortgeführt werden. Vgl. lelek vs. lélek (U 276), delibab (U 279), Ö (U 321), megöll (U 365). Anders geht aber Flora mit anderen Namen um. Ihre Notizen beziehen sich auf zahlreiche Dichter, Schriftsteller, Philosophen, Esoteriker u.ä.m., die oft mit ihrem ganzen Namen oder zumindest mit ihrem Nachnamen und Initialen festgehalten werden.
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Das Gestaltlose der Sprache konstituiert das Erzählen, das Konturlose, das im Thematischen und parallel auch in dem Sprachgebrauch oder in der Erzählorganisation zum Vorschein kommt, wird mit allem Nachdruck akzentuiert. Als Parallele zu der gestaltlosen Wirklichkeit, in der keine eindeutigen Grenzen auszumachen sind, erscheint auch die Sprache, erscheinen die Zeichen als unidentifizierbar. Die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem ist gebrochen, und der Text will dies auch nicht verbergen, vielmehr ist er bemüht, diese Störung auch zur Schau zu stellen. Indem keine »Entitäten« entstehen, keine scharf umrissenen semantischen Grenzen, eindeutigen Konturen präsent sind, nimmt weder das Bezeichnete noch das Bezeichnende eine konkrete Gestalt an.38 Explizit gemacht wird, dass die Grenzen der Darstellbarkeit und der Verständlichkeit bedacht werden mit dem Ergebnis, dass es »kein fixierbares Sein« gibt.39 Bedacht wird hier die »Überschreitung des Spektrums des Darstellbaren« als eine Figuration des Monströsen, womit die Grenzen des bisher Sagbaren verschoben werden.40 Eine spezifische Konstante des Erzählgeflechtes ist, dass das Erfassen nie vollständig sein kann, denn alles ist doppelbödig, unbegrenzt, ein nicht identifizierbares Fließen, was dem Rauschen nahe kommt, nur als ein »Geräusch oder Lärm« (U 261) identifiziert werden kann.
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Die Spracheflexion bezieht sich hier auf die Saussure’sche Erkenntnis, wonach Sprache von einer »ihr vorgängigen Ordnung der Dinge oder Begriffe« losgelöst, autonom ist. (Vgl. Krämer, 2001: 27) Bedeutungen können »nicht im Zeichen lokalisiert werden« (Ebd., 34). Der Akzent verlagert sich damit auch auf das Faktum, dass die Sprache irrational ist, sich »unserem Willen, damit auch unserer Gesetzgebung« entzieht. (Ebd., 30). Eine Identifikation der Zeichen ist allein wegen der Unterschiedlichkeit der Zeichen möglich und in Abgrenzung der einzelnen Sprachzeichen voneinander. (Vgl. dazu: Krämer: 2001, 21). Das sprachliche Zeichen ist keine Entität, seine Identität entsteht ausschließlich aus der »Koexistenz« mit anderen Zeichen. Dass es das Identische nicht gibt, ist abzuleiten daraus, dass »es nichts gibt, was dauernd in einem Term residieren kann«. (Krämer: 2001, 23.) Pointiert gesagt, gibt es also nichts Beständiges, die Ordnungen und Zuordnungen werden labil, wechseln von Kontext zu Kontext. (Ebd. 21ff.) Diese sprachtheoretischen Erkenntnisse reflektiert der untere Teil des Romans durch die Hervorhebung des Sprachmaterials. Herv. im Orig. Auch Hiepko und Stopka nennen das Rauschen das Gegenstandslose und Diffuse, was jenseits von allem Konkreten liegt, und sprechen damit im Zusammenhang von einem Bedeutungsüberschuss. Vgl. dazu: Hiepko/Stopka: 2001, 9, bzw. 11. Parr: 2009, 25.
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Es sprach also jemand mit mir, von Anfang an, und später hatte ich die Schule, dort sprachen alle, ohne Unterlass, und dann Zuhause das Radio, zwischen zwei Ufftarara sprechende Jemande, irgendwas ist immer, irgendein Geräusch oder Lärm, dennoch kenne ich die Sprache der Menschen nicht. Wie eine, die nach einer Katastrophe allein übrig blieb, im Wald aufwuchs, oder ein Pharao oder ein anderer König hat seine Experimente mit ihr getrieben. So fühle ich mich. Als würde ich nur simulieren, dass ich spreche. Ich simuliere, dass ich verstehe, was zu mir gesagt wird. Während ich in Wahrheit nur rate. (U 261-262) Es entsteht durch Sprache kein Bezug zwischen den Menschen, zumindest keine, auf die Verlass wäre, die eine problemlose Verständigung garantieren könnte. Das ganze Textgeflecht ist so ein Doppel von Bezug und Entzug, ein Oszillieren in der Mitte, an der Grenze von beiden. Der Text unterminiert mit den eigenen darstellerischen Praktiken sich selbst. In extremster Form erscheint dies in verzerrten Wortkorpora, in Buchstabenvermengung und nicht zuletzt in bedeutungslosen Phonemkombinationen und anderen Wortmonstern. Diese verursachen nicht nur einen Aufenthalt im Grenzbereich von Verständlichkeit und Unverständlichkeit, sondern auch auf der Schwelle von Bedeutung vs. Materialität der Zeichen. Die Aufzeichnungen sind in diesem liminalen Bereich, also in der Unbestimmtheit zu Hause, was ihre Deutung erschwert oder sogar zunichte macht. Die erste längere Passage im Text ist die Datei »megöll« (U 365 sic!). Hier wird »ichbringdichum«41 oder »ichbringichbringdichum« fünfundsechzigmal hintereinander geschrieben, wobei das Ganze willkürlich zweimal mit einem Leerzeichen unterbrochen wird. Der Satz wird dann mit hundertfünfzehn Ausrufezeichen beendet. Die Identität von ›ich bring dich um‹ wird in der Passage mehrfach zerstört, die Grenzen können in diesem Fluss der Zeichen auch anders gesetzt werden. Ichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringichbringdichumichbringdichumichbring-
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Einen Verweis, dass die Phonemreihe mit ›ich bring dich um‹ identifiziert werden kann, gibt der ungarische Dateiname »megöll« wobei auch hier eine Brechung ist, eine Konfusion eintritt, denn die ungarische Entsprechung von ›jemanden umbringen‹ wäre ›megöl‹.
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dichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringichbringdichumichbring dichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichum ichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbri ngdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichumichbringdichum!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! Eine ähnliche Formation erscheint in der Datei Dokument02 (U 604), in der die Sätze aus der Wiederholung des Wortes »nein« bestehen, was immer willkürlich wieder durch »ja« unterbrochen wird. Eine Zuspitzung erfährt man in der Datei Dokument1, das aus undeutbaren Buchstabenreihen besteht, die keinen Sinn ergeben. »Ampaampaampabim owaowaowawim benebenebeneben« und zum Exzess getrieben wird der Prozess der Zeichenauflösung gegen Ende der Aufzeichnungen in der Datei »semmi« (U 668), was ›nichts‹ bedeutet. »s´á´s´s´s´´a á s´s ´s´s´saás´sa´sa´sa´saás´sa´sa´sa´sá á aáá´ááá áááá´ááa´ sisisisiissisisisiissizuophaaaaaasieeee sdoiu keioaewöoih…« und so geht es noch zwölf Reihen lang weiter. Diese bedeutungslosen Phonemkombinationen führen uns zurück zu der Kulturordnung, zu bedeutungslosen Zeichen als Monstren. Umgekehrt sind bedeutungslose Zeichen jenseits, an der Grenze der symbolischen kulturellen Ordnung, die ihnen Bedeutung verleiht.42 Diesen Zeichen kann keine eindeutige Bedeutung zugeordnet werden, da sie außerhalb der kulturellen Ordnung stehen. Auch nach der Kategorisierung von Overthun geht es bei Zeichen, die nichts zeigen, um Zeichen-Monster.43 Allerdings erinnert die Kombination »sisisisiissisisisiissi-
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Fuss: 2001, 339. Auch nach Parr verhandelt die Frage nach dem Monströsen die Frage nach Norm bzw. Anomalie und Abweichung und bezieht das auf verschiedene gesellschaftliche Praxisbereiche. Vgl. Parr, 2009: 20f Vgl. Overthun: 2009, 68. Overthun sieht Monster als Zeichen, dessen Deutung unsicher ist.
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zuophaaaaaasieeee« an Schizophasie, womit der Text wieder, als unverständliche Sprachproduktion, sich selbst thematisiert. Die vorliegenden Sprachgestalten zeigen, dass es keinen souveränen Zugriff mehr auf die Faktizität gibt, und dass das additive Nebeneinander ohne jegliche organische Verbindung der Sequenzen in ein Rauschen der Phonemreihe führt. Die in heterogene Bestandteile zerbrochene Welt dementiert die Kontinuität, und die Struktur und Ausdrucksmodalität der Textkonstitution ist das erzählerische Äquivalent dieser zerbrochenen Wahrnehmungsund Bewusstseinsprozesse. Das Ich maßt sich nicht an, das Diffuse zu durchdringen, seine subjektiven Wahrnehmungssplitter zu verallgemeinern und zu ordnen. Es gibt eine »Skala der Verstummung« (U 396) aber auch eine »Skala des Redens«, was »dasselbe [ist], nur in einem anderen Gewand« (U 397). Reden und Schweigen werden zusammengeführt, die Grenze zwischen ihnen verschwindet, denn auch Reden ist wie »Schizophasie = gespaltene Sprache = irres Reden« (U 397), wie ein Rauschen, dem, ähnlich zum Schweigen, keine Bedeutung zugeordnet werden kann. Dieses Rauschen, das im »Geräusch oder Lärm« (U 261) zu einem Klangraum wird, lässt das Einzelne im Fluss der Sprache nicht mehr hervortreten. Die Semantik wird undurchsichtig, bezuglos.44 Dies hat Auswirkungen auf die syntaktische Struktur und bringt ein »rhythmisches« und »logisches« Rauschen zustande. Andererseits entsteht durch die »Komplexität der semantischen Bezüge« ein »referentielles« Rauschen.45 Lässt man Revue passieren, dass die Problematisierung von Schreiben und Lesen zunehmend auch die Hinterfragung des Sprachsubjekts und der Wahrnehmungsvorgänge ist, ist evident, dass es in den Aufzeichnungen der weiblichen Figur nicht zuletzt um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Semantisierung geht. Die vom Schmerzen verursachte Ohnmacht fordert eine reflexive Haltung von der Ich-Erzählerin, die gleich das Metapoetische mit einbeschließt. Der Zustand führt zu inhaltlichen und formalen Innovationen, zum Experimentieren mit neuen Schreibweisen und vornehmlich auch zu einem Rekurs auf die Grenzen von sprachlicher Kodierung und Mittelbarkeit. Hand in Hand mit der Reflexion der Schrift bedeutet dies zugleich ein Nachdenken über die Produktionsbedingungen von Literatur. Gestalterisch artikuliert sich dies in der Abweichung von stilistischen und ästhetischen, sowie kollektiven Sprachnormen. 44 45
Vgl. ebd. Seel: 2000, 241.
225
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
8.3
Schrift als Fläche und mäandrierende Struktur
Die sprachlichen Zeichen gehören einer konventionellen Ordnung an, hier sind sie aber zum Schluss nicht mehr als bedeutungstragende Einheiten, sondern allein in ihrer Materialität, ihrer Körperhaftigkeit präsent. Die Zeichen sind rematerialisiert, sie sind »in ihrem Eigensinn restituiert«.46 Sie sind nach kontingenten Mustern miteinander kombiniert. Damit stellt der Text wieder eine seiner zentralen Fragen, den Setzungscharakter von Ordnungen, zur Schau. Die Kombinatorik der Tradition ist an unverrückbare Ordnungen gekoppelt,47 die es aber hier nicht mehr gibt, so kann die Kombinatorik der Zeichen keiner Ordnung mehr gehorchen, sondern in ihrer beliebigen Variabilität sich an den äußeren Grenzen jeglicher Ordnung situieren. Dies bedeutet aber zugleich, dass diese Kombinationen nicht identifizierbar sind, sondern nur wunderschöne Worte ohne Sinn (U 199) ergeben. Der gestaltlosen Wirklichkeit wird keine Gestalt verliehen. Der zentrale Angelpunkt, was im Textganzen variationsreich in Szene gesetzt wird, ist, dass die Zeichenkombinationen keine konkrete Gestalt annehmen, nicht zu identifizierbaren Einheiten werden, da ihnen die Grenzen fehlen. Der Text selbst geht darauf ein, dass es Gebilde gibt, die erscheinen, als wären sie »ein sinnvolles Arrangement«, aber sie sind es nicht, sie treiben nur ein Spiel, um Andere zu verwirren (U 673). Tatsache ist, dass wegen der Liquidation von Grenzen keine Gestaltwerdung ausgemacht werden kann. Alles Tradierte und Konventionelle, die herkömmlichen Koordinaten der Ordnung und der Orientierung sind durcheinandergebracht.48 Das identitätslogische Denken fehlt, weswegen es keine klaren Umrisse geben kann.49 Damit korrespondierend erscheinen die tagebuchartigen Dateien in ihrer Diffusion als Manifestationen einer Kippfigur, die aus dem »permanenten Gestaltungsversuch« und gleichzeitigen »Gestaltungsschwund«50 entsteht. Es läuft eine fortwährende Suche ohne einheitsstiftende, Grenzen aufweisende Momente,
46 47 48 49
50
Kotzinger/Rippl: 1994, 7. Vgl. ebd. Vgl. Seel: 2000, 228. Vgl. dazu: Geyer: 1992, 12f. Geyer spricht hier auch davon, dass wegen der Auflösung der Entweder-Oder-Logik die Begriffe durchlässig werden und »situationsabhängig kommunikativ« neu bestimmt werden müssen. Zitat: S. 13. Vgl. dazu auch: Hagebüchle: 1992, 32ff. Seel: 2000, 232.
8 »Ein Verrückter, der schreibt, ist nie ganz und gar verrückt«
nichts kann auf die Dauer Kontur gewinnen. Der Wille verdeutlicht indes geradezu die implizierte Unverfügbarkeit der Wirklichkeit und die Erkenntnis, dass in Ermangelung des darzustellenden Gegenstandes die Intention in ein dem Unsinn nahes Gerede, in Unfug umschlägt. Der Text reflektiert selbst auf diese Tatsache in einer Traumszene, in der die Figur im Traum einen Text sieht, ihn jedoch weder aus der Nähe noch aus der Ferne entziffern kann. Manchmal träume ich von einem Text. Es kostet mich große Mühe, ihm nahe genug zu kommen, dass ich ihn überhaupt entziffern kann. Schöne Worte, sehr alltäglich, zum größten Teil modifizierte Bindewörter. Der Text ist nur wenige Sekunden nah genug. Ich schnappe bereits in der Erinnerung nach den Worten. Sobald ich aufgewacht bin, aber vielleicht auch schon im Traum, habe ich sie vergessen. Die wunderschönen Worte ergeben keinen Sinn. Manchmal komme ich ganz weit in dem Text, dennoch ergibt sich kein Sinn. Vielleicht ist er kodiert. Ich möchte ihn einmal knacken. Mit wacher Logik das Ende eines Traums suchen. (U 198-199) Dem floralen Wesen der Hauptfigur entsprechend ist der Text kein Klartext,51 sondern vielmehr eine ornamentale, mäandrierende Struktur, bei der in einer selbstreflexiven Geste ein Roman über den Roman entsteht. Die Sprache ist wie ein flächendeckendes Ornament, das schön, aber ohne Bedeutung ist, da sie der Semantisierung entgeht,52 »Semiosen aller Art« in Frage stellt.53 In dieser Figuration entsteht eine Korrespondenz zwischen dem Textkörper und der weiblichen Figur, Flora. Die Protagonistin nimmt ja diesen Namen willkürlich auf, da sie sich »Niemandskind« (U 277) nennt und behauptet »durch ein offenes Fenster« in die Welt gefallen zu sein (U 292), also nicht aus Gottes Gnaden zu existieren, wie dies ihr eigentlicher Name, Teodora,54 nahelegen würde. Selbst der Name, mit dem sie sich identifiziert, akzentuiert das Florale, was dann auch als maßgebliches Textgestaltungssystem erkannt werden kann.
51 52 53 54
Es ist leicht einzusehen, dass das biographische Muster Klarheit fordert. Gerade diese Klarheit wird hier durch die ornamentale, mäanderartige Struktur negiert. Vgl. Kotzinger/Ripl: 1994, 11. Kotzinger und Ripl beschreiben ornamentale Strukturen, wie die Arabeske mit diesen Charakteristika. Ebd., 6. Nach eigenen Angaben ändert sie den Namen auch deswegen, weil sie nicht mit einer grausamen Kaiserin identifiziert werden wollte.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Strukturen des Mäanders, des Rhizomatischen55 sind nicht nur ein kompositionales Element, das die Themenkomplexe miteinander in Beziehung setzt, sondern sie verleihen auch dem biographischen Muster eine Artikulation. Es expliziert die für das ganze Werk paradigmatische Thematik des Unbehagens an falschen Zusammenhängen. Von diesem Hintergrund aus gilt nun zu schauen, was es damit auf sich hat, wenn ein Text sich aus gleichrangigen, gleichwertigen additiven Reihen zusammensetzt, die nicht durch eine ordnende Instanz, sondern vielmehr durch Kettenreaktionen entstehen. Das Fehlen von Entwicklung und der serielle Charakter, die Polyphonie und die Zwecklosigkeit, die Beliebigkeit und die Multiperspektivität, denen Ausdruck verliehen wird, sind maßgeblicher Teil eines viel weiter gefassten Interesses. Es geht hier nämlich um die Darstellung des Undarstellbaren, um eine Exemplifikation des Amorphen. Diese Strukturen machen es möglich das Erzählen weiterzutreiben und zugleich jede konkrete Aussage zu verweigern. Das gradlinige, ein Telos verfolgende Erzählen ist passé, an dessen Stelle übernimmt eine rhizomatische Struktur die Organisation. Gradlinige Sukzession und Nichtumkehrbarkeit können nicht als Ordnungskategorien fungieren, weil sie einen Fixpunkt verlangen, der hier nicht auszumachen ist. Motiviertheit würde einen Zusammenhang, eine Grund-Folge-Relation voraussetzen, die ja zugunsten der Beliebigkeit weichen muss. Die Grenzen verschieben sich, werden verflüssigt und führen so zu einer unendlichen Anamorphose, anstatt zu einer abgeschlossenen, ganzen Lebensbeschreibung. Mäanderartige, rhizomatische Strukturen sind nicht allein mit der Reflexion des Zeichens oder der Textorganisation, sondern auch mit der der Schrift aufs engste gekoppelt.56 Die Forschung spricht von den »metaphorische[n] Valenzen der Farbe Weiß«,57 die hier geltend gemacht werden können, zumal sie auf wichtige Zusammenhänge mit Identität, Kontur auf der einen und Fülle, Diffusion oder Ungreifbarkeit auf der anderen Seite hindeuten. Schmitz-Emans zeigt, dass die »leere Fläche« »Inbegriff des Amorphen« ist, und dass die schwarzen Zeichen »dem Versuch der Begründung einer Ord-
55
56 57
Der Mäander ist nach Kern eine offene Form ohne ein Zentrum. Als Flächenmäander ergebe er »eine Vielzahl von Wegkreuzungen, es handelt sich […] um eine Vielzahl von Linien, deren Zielgerichtetheit […] sich in ihrer Gesamtheit aufhebt.« (Kern: 19824, 14.) Nach der Typologie von Schmitz-Emans hat das Rhizom pflanzliche Struktur. Vgl. Schmitz-Emans: 2000, 27. Vgl. Krotzinger/Rippl: 1994, 14. Schmitz-Emans, 1995: 45.
8 »Ein Verrückter, der schreibt, ist nie ganz und gar verrückt«
nung«58 gleichkommen. Das Setzen der Schriftzeichen eines nach dem anderen bedeutet eine Grenzziehung, ein Schwinden von Fülle und Potenzialität. Die Schrift, die Buchstaben sind notwendig, dennoch sind sie janusköpfig, ihre Ambivalenz besteht darin, dass sie zur Fixierung führen, die dem Leben doch nicht gerecht werden kann. Die Inszenierungen des Erzählers treiben ein Spiel mit Absenzen und Präsenzen, denen nie ein Ende gesetzt werden kann. Auch auf dieser Ebene wird jedoch bedacht, dass Schrift nicht für richtiges, unanfechtbares Besitzen steht. Die Kommunikation bleibt eindimensional. Die Entzifferungswünsche des Betrachters, Darius, können keine Sicherheit bieten, und dies nicht nur deswegen, weil auch der bereits übersetzte Text der Frau zahlreiche Leerstellen aufweist, die wegen der Abwesenheit auch nicht mehr gefüllt werden können. Darüber hinaus ist die Schrift, wie dies auch immer in der schriftkritischen Tradition bedacht wurde, weil sie keine persönliche Präsenz garantiert, dem Missbrauch, dem Missverständnis ausgesetzt.59 Die Ehefrau bleibt trotz der Aufzeichnungen nach wie vor ein Rätsel, als weißes Blatt eine offene Leerstelle. Die in Das Ungeheuer optisch vorhandene Grenze zwischen den Lebenden und den Toten wird durch Darstellungsmodi, durch Techniken der Grenzauflösung eliminiert, so dass man sich in einem Zwischenraum der Begegnung befindet. Diese Begegnung ist jedoch in einem paradoxen Raum der Anund Abwesenheit beheimatet.60 Sowohl inhaltlich-thematisch als auch auf der metareflexiven Ebene der Schrift bewegt sich der Roman auf der Grenze von Verfügbarkeit und Nichtverfügbarkeit, das eine begleitet das andere wie ein Schatten. Es bleibt der Dauerzustand des Aufeinander-Bezogen-Seins, ohne die Fremdheit eliminieren zu können. Der Versuch, zwischen Eigenem und Fremdem eine endgültige Symmetrie herzustellen und beide einander anzugleichen, gliche letzten Endes dem Versuch, Gegenwart und Vergangenheit, Wachen und Schlafen oder Leben und Tod in
58 59
60
Ebd., 41. Vgl. dazu ebd. Die Annahme, dass die Schrift Lebenssurrogat, etwas Nachträgliches, Sekundäres, Abgeleitetes ist, haftet der ganzen abendländischen Tradition an und nicht nur seit der vielbeschworenen Formel vom lebendigen Geist und vom toten Buchstaben. Obzwar Der einzige Mann auf dem Kontinent keine optisch wahrnehmbare Grenze zeigt, sind An- und Abwesenheit, auch wenn in einer anderen Form, gleichzeitig präsent.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
ein Gleichgewicht zu bringen, als könnte man die Schwelle, die eines vom anderen trennt, nach Belieben in beide Richtungen überqueren.61 Diese Doppel, die auf allen Ebenen zu finden sind, manifestieren sich in einem Schweben zwischen Präsenz und Absenz, Transparenz und Intransparenz. Gerade dieses Oszillieren läuft mit Gestaltlosigkeit einher, und die Unidentifizierbarkeit ist, was als das Monster, das Ungeheuer identifiziert werden könnte.
61
Waldenfels: 2006, 66.
9 Ein Nomade in der Textwelt: Intertextualität statt Lebensweltlichkeit
9.1
Intertextualität, Buch im Buch und die Selbstreflexivität des Textes
Nimmt man den Schmerz als desintegrierbare Erfahrung, die nach Ausdruck sucht, Konventionalisierungen aber überwindet, als Movens der Textarchitektur, gilt nun zu fragen, welche restituierenden Modi erscheinen, mit denen die sprachliche Notlage, die Ausdrucksnot überwunden werden kann. Ein primäres Anliegen wird für unseren Problemzusammenhang das kombinatorische Textverfahren, das anhand intertextueller Bezugnahmen dargestellt werden soll. Schrift überwindet räumliche und zeitliche Distanz, unterläuft die scheinbar lineare Zeitordnung.1 Sie ist also im Stande, die Grenze zwischen hier und dort, sowie zwischen früher, jetzt und später zu durchbrechen. Sie verfügt aber auch über Modi, die Schwelle zwischen Text-Innen und -Außen zu durchqueren. Der Rezipient wird genauso Leser der Aufzeichnungen wie der Ehemann, wodurch die Grenzen von Innen- und Außenwelt des Buches ineinander übergehen. Da der Leser »›seinesgleichen‹« im Buch antrifft, kann von einer »Öffnung« des Buches gesprochen werden.2 Treten die Protagonisten als ›Leser‹ auf, so fungieren sie oft als mögliche Leerstellen, in welche sich der Leser hineinversetzen kann.«3 Ein fließender Übergang zwischen dem poetischen Artefakt und der Welt entsteht aber auch dadurch, dass die Materialität des Textes auf vielfache Weise vor Augen gestellt wird. Es geht um die leeren Teile unter dem Strich, um Leerstellen und andere typographische
1 2 3
Vgl. Schmitz-Emans: 1995, 31. Ebd., 13. Ebd., 14.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Besonderheiten wie Durchstreichungen, um falsch geschriebene Wörter, die gerade dadurch ihre Materialität, die einzelnen Buchstaben hervorkehren und die Lektüre behindern.4 Die weibliche Hauptfigur gleicht aber auch dem »Musterbild«5 aller Grenzgänger zwischen Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit, Don Quijote, indem sie die Grenze zwischen Lesen und Leben verwischt. Auch hiermit reflektiert der Roman auf einer Metaebene die Tatsache, dass die Literatur die Welt in sich hineinholen, absorbieren und präformieren kann.6 Flora verflüssigt die Grenzen zwischen Leben und Text schon zu ihren Lebzeiten, und nach ihrem Tod geht sie endgültig in den Text ein. Die Grenzen werden auf vielen verschiedenen Ebenen durchlässig. Verwiesen wird durch die metareflexive Ebene neben den bereits genannten Zusammenhängen aber auch auf die Welt des Geschriebenen, darauf, dass »jeder Einzeltext immer schon in der Literatur«, in anderen Texten gründet, dass Literatur ein Kontinuum ist, beziehungsweise dass alle »Textgrenzen relativ sind«7 . Diese Relativität der Textgrenzen wird zum einen darin sichtbar, dass die einzelnen Texte Moras ineinander haken, Elemente aus Seltsame Materie und den Romanen scheinen auf, und zum anderen in den intertextuellen Verweisen, durch die die Romane in einem Textuniversum situiert werden, das allerdings nicht allein aus literarischen, sondern auch aus Gebrauchstexten, aus zahlreichen Textsorten bestehen. Selbst das so entstandene Textmonster steht jedoch dem Schweigen nahe, bezieht sich bei der Protagonistin zuerst auf die schmerzlich erfahrene Unmöglichkeit der Erfassung des Inneren, was dann in ein tatsächliches Schweigen mündet. Darauf weisen die Leerstellen in Das Ungeheuer hin. Die Selbstinterpretation ist durch die Prismen der Sprache gebrochen, damit korrespondierend verläuft die Entstehung der graphischen Form. Die Wörter kommen eins nach dem anderen wie Bausteine, die aber nur in einer losen Verbindung zueinander stehen und kein festes Konstrukt hergeben können. Die Transkription ist brüchig, mit Leerstellen besetzt, so dass das Sagbare mit dem Unsagbaren Hand in Hand geht, das Eine das Andere bedingt. Auf die Selbstreflexivität des Textes weist auch hin, dass Intertextualität an die Stelle von Lebensweltlichkeit tritt.8 Auch mit der schwächsten Form der 4 5 6 7 8
Vgl. ebd., 15. Ebd., 16. Vgl. ebd. Ebd. Lindner: 1985, 130.
9 Ein Nomade in der Textwelt: Intertextualität statt Lebensweltlichkeit
Kennzeichnung des Prätextes wird das intertextuelle Verfahren reflektiert. In Floras Aufzeichnungen ist ein dominanter Modus des Erzählens, dass Texte aufeinander und nicht auf Wirklichkeitsmodelle Bezug nehmen. Es gibt ja in diesen Passagen keine Historie, sondern nur die Serialität verschiedener Texte. Mit dieser ›self-consciousness‹ des Textes stellt sich der Roman als Konstrukt heraus. Register des Nomadischen und Transitorischen bedeuten hier demnach ein Vagabundieren durch die Textwelt. Artikuliert wird die Hoffnung, durch Lesen (U 623) aus der Krise herauskommen zu können. Die Hinwendung zu den Texten erscheint also als eine mögliche Krisenintervention. Da das Heil auch hier nicht gefunden wird, geht die Suche unendlich weiter, so dass es monströse Maße annimmt. Ähnlich wie die endlosen Zeichenreihen auf der Ebene der Sprachreflexion besteht der Text aus einer endlosen Reihe von intertextuellen Bezügen, die sowohl Einzeltext- als auch Systemreferenzen herstellen. Auch dieses Modell zeigt ein oszillierendes Doppel, das dem ganzen Textgeflecht inhärent ist: durch die Reise durch die Literatur und psychische Ratgebertexte kann kein sicheres Fundament entstehen, es führt vielmehr zu der eigenen Untergrabung. Was gefunden werden soll, entgleitet immer mehr. Bildhaft gesprochen, was uns ja der Text selber nahelegt, kann diese Textwelt mit dem undurchsichtigen Wald gleichgesetzt werden, aus dem kein Ausweg mehr gefunden werden kann.9 Es entsteht keine Ordnung, vielmehr wird eine monströse Übertreibung betrieben, indem Widersprüchliches, Diffuses, Ambivalentes nebeneinander einen Platz finden, und wo kein Unterschied zwischen Zentralem und Marginalem gemacht werden kann. Statt Ordnung, Struktur und Maß ist man mit Maßlosigkeit konfrontiert, in dem die eigene Vergangenheit genauso wie die Literaturgeschichte als Steinbruch dient. In der Schnittmenge sich überlagernder, oft inkompatibler Ordnungen entsteht Unentscheidbarkeit. Die miteinander rivalisierenden Ansichten und Modelle neutralisieren einander in diesem Interferenzraum, so dass der Text sich selbst destruiert. Floras Aufzeichnungen werden zu einem Textmonster.10 Sie kommen aus dem Monströsen, aus dem als zu gewaltig empfundenen Ausmaß der Schmerzen, die wegen der psychischen Erkrankung und der »Lage der Welt« (U 395)
9 10
Der Wald wird als Ort der Orientierungslosigkeit, des Undurchsichtigen beschreiben, wie z.B. EM 135. Vgl. Helduser: 2009.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
entstehen, die einander ja gegenseitig bedingen. Charakteristisch für die intertextuellen Grenzauflösungen ist aber außer dem Monströsen auch die chimärische Vermischung des Heterogenen und Inkompatiblen. Spiegelbildlich zum männlichen Protagonisten geht es auch hier um das Verschlingen, hier geht es aber nicht um Speisen, von denen man dickleibig wird. Demgegenüber bekommt hier das Verschlingen von Geschriebenem, von Buchstaben, von denen man aber so dünn und flach wird, dass man kaum noch zu sehen ist (U 427), eine außerordentliche Bedeutung. Es läuft ein wechselseitiger Prozess ab, die Verfasserin des Textes schrumpft, der Text aber nimmt Unmaße an. Die Rolle von Essen und Einverleibung, die im Text gekoppelt an die zwei Hauptfiguren einer dichotomischen Ordnung entsprechen, reflektiert die Denkfigur des Unterschieds zwischen Körper und Geist,11 indem körperliche und geistige Nahrung durch den Charakter der zwei Protagonisten voneinander getrennt werden. Darius liest nicht, er isst und trinkt, und zwar exzessiv, während Flora kaum Nahrung zu sich nehmen kann, anstelle derer verschlingt sie aber Bücher und andere Texte, eigentlich alles Geschriebene, was ihr in die Hand gerät. Der physische Körper von Darius und der Textkorpus sind Parallelen, beide platzen aus allen Nähten (U 84), sie sprengen ihre Grenzen.
9.2
Entgrenzungen: Einverleibung als Textpraxis
Die Liebe zum Buch macht Flora zu einem Bücherwurm. Sie ist einerseits froh, dass sie ein geistiges Dasein führt, ihr Körper verkümmert aber, so dass sie dünn wird wie Papier. Ott sieht die Rolle des Essens in der Literatur als »obsessives Bedürfnis sich die Welt schreibend einzuverleiben«,12 und es soll gezeigt werden, dass dies im vorliegenden Roman eine zentrale Rolle spielt. Nach Ott wird die literarische Reflexion dieser Fragen in »Umbruchsphasen«, in denen man das Verhältnis von Lesen und Büchern neu definiert, stärker.13 Sowohl die Disposition der weiblichen Figur als auch die zeitliche Situierung
11
12 13
Nach Christine Ott ist die Verbreitung der Essensmetaphorik in der Literatur als »Aufweichung der traditionellen Hierarchie« zwischen Körper und Geist zu sehen. (Ott: 2011, 17.) So ist auch diese Thematik im Kontext der Demontage von Ordnungsstrukturen zu verorten. Ott: 2011, 22. Vgl. ebd., 13.
9 Ein Nomade in der Textwelt: Intertextualität statt Lebensweltlichkeit
des Romans sind mit der Reflexion von Verschlingen zu verbinden. Auch dieser Aspekt hängt demnach mit den Umbrüchen, Grenzen, Schwellen und liminalen Übergängen am Ende der Gutenberg Galaxis zusammen. Der Roman Das Ungeheuer, aber in Bezug auf die männliche Figur reflektiert schon Der einzige Mann auf dem Kontinent an der Schwelle zum 21. Jahrhundert den Übergang vom Buch zu elektronischen (Fernsehen) und digitalen Medien (Handy, Computer, Internet), die auch im Thematisch-Motivischen eine zentrale Rolle einnehmen. Es geht um eine Sattelzeit, eine Zeit, in der fraglich ist, ob sich noch jemand für das Buch, für Kunst und Dichtung interessiert (U 141). Als Leser des Romans Das Ungeheuer ist man im Gutenberg’schen Universum, der Text selbst inszeniert aber nicht nur thematisch, sondern auch durch die Textarchitektur, durch die Dateien oder Verlinkungen vielmehr das digitale Zeitalter und wird auch dadurch zum Monster. Das Phänomen der Schrift und ihr Verhältnis zu anderen, vor allem zu den digitalen Medien und Aufzeichnungsverfahren, die Medienkonkurrenz bilden ein zentrales Moment des Romans in der Übergangszeit der digitalen Medienrevolution. Dies geschieht nicht allein durch die Opposition der Schriftbegeisterung Floras auf der einen und der Vergötterung der digitalen Medien bei Darius auf der anderen Seite. Trotz der Gegenüberstellung dieser zwei Sphären befindet sich der Text eigentlich im Übergang zwischen ihnen, denn die Vertextung gehorcht Modi, die nicht für die Schrift, sondern vielmehr für die digitalen Medien konstitutiv sind. Entgrenzung und Übergang erscheinen aber auch in anderen Bereichen verschiedener Reflexionsebenen. Verknüpft werden durch den Diskurs des Essens und der Einverleibung auch poetologische und anthropologische Fragen, wodurch ein Diskursfeld entsteht, in dem »der Mensch als essendes und als Zeichen produzierendes Wesen in den Blick gerät.14 So ist auch das Essen, wie zahlreiche andere Phänomene, die bereits diskutiert wurden, ein »zentrales Medium der Kultur- und Literaturreflexion«.15 Die Thematik von Essen und Einverleibung bedenkt auch die Frage nach Realität,16 danach, ob sie sich im Bewusstsein der Figur der Sprache und der Schrift entzieht. Dieser Entzug, die Reflexion des Unartikulierbaren führt dann noch expliziter zu einer obsessiven Maßlosigkeit der Einverleibung. Anvisiert werden sollen auch im Folgenden Modi des Bezugs und Entzugs und zwar durch die Fokussierung auf Intertextualität.
14 15 16
Ebd., 17. Ebd., 13. Vgl. ebd., 13.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
Es wurde darauf verwiesen, dass im Roman eine mäanderartige Struktur anzutreffen ist, und die additive Reihung inkommensurabler Geschichten und Sprachen mündet in eine Polyphonie. Eine Sprachenvielfalt entsteht auch durch die Intertextualität, durch das Heraufbeschwören verschiedener Sprachvarietäten und Idiome.17 Für die Textorganisation ist auch maßgeblich, dass die Vielstimmigkeit bestehende Ordnungen hinterfragt und die Verbindung von voneinander Geschiedenem, wie Leben und Tod, was ja zentraler Angelpunkt in Das Ungeheuer ist, herstellen kann. Die ganze Textur ist eine relativierende Umwertung jeder Hierarchie und festgefügten Struktur. Wenn man sich auf das Durcheinander der vielen Sprachen besinnt, ist plausibel, dass kein einheitlicher Stil entstehen kann. Der zustande kommende Synkretismus kann als »Provokation von Stil«18 gelesen werden, der die Heterogenität nicht verschleiert, sondern als »eigene Qualität entwirft«19 , als das Mischen unterschiedlicher »textueller Kodes«, ihre »wechselseitige Infizierung« und »Doppelkodierung«20 zum Ausdruck bringt. Während, wie Lachmann zeigt, »der ungemischt reine Stil durch selektive Maßnahmen« zustande kommt, die sich nach »übergeordneten Kriterien«, also nach klaren Grenzziehungen orientieren,21 entsteht hier wegen der Nebenordnung keine Einheit. Um eine Klarheit zu erreichen ist demnach eine eindeutige Grenzziehung, ein »Selektionsprozeß« mit Restriktionen, Ausschluss und Reduktion nötig.22 Die im Roman sich manifestierende Infiltration und das Ineinanderhaken sind jedoch Gegenmodelle zur Selektion. Vielmehr manifestiert sich darin eine synkretische Überlappung oder es geht um Hybridisierung, die keine Grenze und so keinen Ausschluss erlaubt. Weil, wie wir bereits gesehen haben, im Roman kein Fixpunkt, kein Kern festzustellen ist, kann kein zentripetales Organisationsprinzip zur Geltung kommen, es kann vielmehr die Dominanz zentrifugaler Prinzipien erkannt werden. Insofern Stil »die Spiegelung der Persönlichkeit« ist, hat das Erzählen in Das Ungeheuer zur Folge, 17
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Die schon besetzten Stimmen, die »aus einem anderen Kontext kommen«, wo sie schon von »fremden Auffassungen durchdrungen sind«, gehen in einen neuen Kontext ein, das Eigene wird im »Medium eines fremden Wortes, […] Stils, einer fremden Manier gebrochen«. Bachtin: 1971: 225f. Lachmann: 1986, 541. Ebd. Ebd., 542. Ebd. Ebd., 543. Wie Lachmann bemerkt, ist der synkretische immer ein »Meta-Stil«, der die Hierarchien mitreflektiert. Dies korrespondiert mit der allgemeinen reflexiven Geste des vorliegenden Romans.
9 Ein Nomade in der Textwelt: Intertextualität statt Lebensweltlichkeit
dass der »subjektzentrierte Stilbegriff«23 obsolet wird, was die Auflösung des Subjekts zum Ausdruck bringt. Die Wiederholungsstruktur, die als Wieder-Holen das Zitat, die intertextuelle Bezugnahme24 ins Blickfeld rückt, steigert die Komplexität bis ins Extreme. Das Gerüst wird mit unendlich vielen Themengebieten gefüllt. Die thematische Fülle bringt jedoch auch eine Polyphonie der Sprachen mit sich, die vom Subjektiven bis zum wissenschaftlich Objektiven, von einem dem Mündlichen nahen Gestus bis zum offiziell Schriftlichen reicht. Die Mischung der Sprechmodi resultiert auch aus der ausufernden Intertextualität, aus der Häufung von Zitaten, Anspielungen und Anlehnungen. Das textuell Fremde und das Eigene werden genauso gemischt wie das Nahe und das Ferne. Um das Untersuchungsfeld abzustecken, soll nun die Figur Floras weiter ins Visier genommen werden. Um ihr innerstes Wesen differenzierter zu erkennen, empfiehlt es sich, die Problematik der Intertextualität in die weitere Argumentation einzubeziehen. Zahlreiche von der Protagonistin herangezogene Texte sind Beschreibungen von Arzneimitteln und ihre Gebrauchsanweisungen, oder die Auseinandersetzung mit verschiedenen psychischen Erkrankungen. Es gibt Verweise auf Zeitungsartikel, die skurrile Selbstmordfälle darstellen. Hinweise, Andeutungen auf die schöne Literatur beziehen sich zum Teil auf Personen, die Selbstmord begangen haben, wie die Frau von Lajos Kassák, oder Autoren wie Thomas Bernhard, Attila József, Jean Amery, mit dem die weibliche Figur auch durch ihren Namen, Meier, in eine Verwandtschaft tritt. Sie sind darüber hinaus berühmte Künstler des 20. Jahrhunderts, die auch als Schreibende eine Art Identifikationsfigur für Flora darstellen. Die Grenzauflösung findet auch dadurch statt, dass verschiedenartige Diskurse, literarische und außerliterarische, wie der ökonomische, der religiöse, der medizinische, der philosophische u.ä.m. vermischt werden. Zwischen den zitierten Modellen entsteht ein Dialog oder ein Polylog, aber durch die komplexe Verschränkung auch eine gegenseitige Aufweichung, Relativierung und Auslöschung. Die überbordende Intertextualität führt zu einer Dezentrierung des Subjekts, zur Entgrenzung des Textbegriffs, zum Ineinanderfließen von Eigenem und Fremdem, also zu einer vielfachen 23 24
Brack: 1988, 252. Es ist nicht Ziel der vorliegenden Analyse die intertextuellen Bezüge des Romans aufzudecken. Das Forschungsinteresse leiten hier vielmehr einige Implikationen der Intertextualität, in erster Linie die Ambivalenzen des Bedeutungsaufbaus und strukturelle Modelle der Textkonstitution, die auch für andere Erzählstrategien des Romans gelten.
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Verflüssigung von Grenzen und Identitäten. Verstärkt wird die Liquidation noch dadurch, dass der manifeste Text zum Prätext oft eine ideologische und semantischeDifferenz aufweist. Auch diese Divergenz verursacht Neuperspektivierungen, und dass letztendlich alles in Bewegung gerät, die Begegnung der Texte zu einem Kipp-Phänomen wird, zu einem Aufenthalt im liminalen Grenzbereich. Auch darin sind Doppeltextualität und Mehrfachkodierung zu erkennen, die den Text in der Nähe von Rauschen25 situieren. Bei den intertextuellen Verweisen geht es meistens nicht um Integration, um eine naht- und bruchlose Einordnung der Textelemente: Textbrüche werden bloßgelegt, Bezugnahmen sind von Inkompatibilität oder gar Inkommensurabilität der einmontierten Textsegmente geprägt. Statt Einheitlichkeit und Integration wird Heterogenität dominant, die zu weiteren Sinnkomplexionen führt, da herangezogene Prätexte einander oft gegenseitig perspektivisch brechen und relativieren.
9.3
Grenzräume von Identität und Differenz. Strukturhomologien der Figurenkonstellation: László Némeths Roman Ekel [Iszony]
Hervorgehoben werden sollen im Folgenden weniger die punktuellen Bezüge als vielmehr die Strukturhomologien, ein Text, der als Einzeltextreferenz erscheint, und einer, der darüber hinausgeht und ein ganzes System von Texten reflektiert, diese in den Roman hereinholt und dadurch seine Grenzen sprengt. Zum einen geht es um einen ungarischen Roman von László Németh, Iszony [Ekel],26 zum anderen um Marlen Haushofers Roman Die Wand, der die Problematik der weiblichen Robinsonade mit einschließt. Ins Blickfeld gerückt werden soll zu erst der Roman von Németh, auf den in Das Ungeheuer mehrfach explizit hingewiesen wird durch die Markierung des Titels bzw. durch Zitate. Was aber nur unterschwellig erscheint, ist die Strukturhomologie der Figurenkonstellation in beiden Texten. Trotz der Unterschiede in der Darstellungsweise entpuppt sich die weibliche Protagonistin als alter ego von Flora in Das Ungeheuer. Zahlreiche Parallelen sind mit László
25 26
Vgl. Hiepko/Stoka: 2001, Sonderegger: 2001 Vgl. Németh: 1971 (Ersterscheinung 1947). Der Roman Némeths wird auch in Der einzige Mann auf dem Kontinent erwähnt. Es gibt direkte Markierungen dieses Prätextes, da die weibliche Figur diesen Roman liest.
9 Ein Nomade in der Textwelt: Intertextualität statt Lebensweltlichkeit
Némeths Roman Ekel nachzuweisen, der das Leiden einer Frau in ihrer Ehe und wegen ihrer Ausgeliefertheit an Männer beschreibt. Bei Németh wird die Frau nach ihrer eigenen Einschätzung, denn wir erfahren die Ereignisse aus ihrer Rückschau, selber zum Ungeheuer, zur Furie, da sie ihr wahres Ich, ihre eigentlichen Interessen nicht zum Ausdruck bringen, nicht nach ihren eigenen Vorstellungen leben kann. Es geht im Roman aber nicht allein um Abscheu gegen den Ehemann und andere Männer, sondern vielmehr um das Grauen, das Entsetzen, was der ungarische Titel auch bedeutet, als dauerhafte Krise und die damit zusammenhängende panische Angst, die das Leben der Frau dominieren. Die weibliche Protagonistin betrachtet sich als Person, die nicht in diese Welt gehört und doch gezwungen wird, hier zu agieren. Sie ist eine Art homo sacer, der in keiner Lebenssituation eine Heimat findet. Die Frauenfigur, Nelli, wird durch die Umstände getrieben, deren Movens der Tod von Angehörigen ist, sie handelt nie aus eigener Entscheidung, ist immer in einer Zwickmühle, und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Dies manifestiert sich auch darin, dass sie immer irgendwie fremdbestimmt ist und ihre wahre Person erst nach dem Tod ihres Mannes und auch nur ansatzweise findet. Sie ist in all ihren Beziehungen einsam, als Tochter, als Mutter einer Tochter, und, obzwar mit einem Partner liiert, wegen der Fremdheit der beiden, doch isoliert. Ihre eigene Position verteidigt sie erst nachdem sie ihren Mann willentlich-unwillentlich umbringt. Hier erlebt sie dann eine Art Befreiung und Selbstfindung. Der Text ist der Bericht einer Frau über ihre Bewusstseinszustände, Gefühle, Ängste, und ein nachträgliches Protokoll davon, wie ihr Leben immer wieder in eine Sackgasse gerät, aus der es kein Fortkommen mehr gibt. Bereits in dieser skizzenhaften Zusammenfassung des Inhalts zeigen sich die Parallelen und Abweichungen zu der Protagonistin in Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer. Was die beiden Frauen eng verbindet, ist ihre grundsätzliche Fremdheit und ihr Getrieben-Sein als dauerhafte Krise. Im Fokus des Romans von László Németh steht nicht allein die Abgeneigtheit, der Widerwille dem Mann gegenüber. Es geht vielmehr um eine allgemeine Verstörtheit und Verwirrung, allgemeiner formuliert um eine grundsätzliche Fremdheit in der Gesellschaft und im Leben selbst. Erklärt werden kann das Entsetzen aber auch mit einem Gefühl, mit der Erkenntnis, dass man dem Numinosen, einer namen- und gestaltlosen schrecklichen Macht ausgeliefert ist, der gegenüber man nichts aufbringen kann. Dieses Unheimliche, Ungeheuerliche kann auch mit ›Grauen‹ benannt werden. Der Struk-
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tur des Romans kommt man näher, wenn man Abscheu/Ekel27 im Sinne von Abneigung, Unversöhnlichkeit aber auch in der Bedeutung Unvereinbarkeit versteht. Denn der Nukleus des ganzen Textes ist eine grundsätzliche Unzugänglichkeit und Inkommensurabilität, die zwischen den Ehepartnern, aber auch in der hier als radikale Fremdheit dargestellten Beziehung der Frauenfigur zu allem besteht. Ihre Parallele findet dies bei Flora, die auch nicht von dieser Welt zu sein scheint. Es gibt welche, die sind nur zur Hälfte Mensch. Mein Körper war der Körper anderer Frauen. Meine Seele war es, die sich mit dieser Welt nicht vereinigen konnte. Solche Menschen darf man nicht dazu zwingen, dass sie in das eintauchen, was ihnen so zuwider ist. … nur damit sie normal erscheinen. (U 672)28 Der Text ist so konstruiert, dass die unauflösliche Fremdheit, das Dunkle, von Anfang an anwesend ist zwischen dem Mann und der Frau. Erkennbar wird dies bei Németh in der Konstruktion der Figuren, die schon anthropologisch Unterschiede aufweisen und voneinander entfernt werden: sie dünn, eine Pflanze, er der dickliche Fleischfresser. Aufgebaut wird die Dichotomie weiterhin dadurch, dass sie sich in der Stille, in der Einsamkeit der Wälder wohl fühlt, während er die Turbulenzen und Geräusche der Stadt vorzieht, und das Leben nur in seiner Materialität erleben kann. Die für László Némeths Nelli charakteristische Einsamkeit und Stille wird im Falle von Flora auch noch mit dem Lesen ergänzt, als einer Beschäftigung, die nur in dieser Zurückgezogenheit möglich ist. Damit werden der Charakter, der Habitus der beiden Hauptfiguren, Nelli und Sanyi bzw. Flora und Darius einander gegenübergestellt. Die introvertierte, intellektuelle Nelli bzw. Flora ist der Gegensatz des offenen, ja hochstaplerischen, aber eher mittelmäßigen Maulhelden, den Sanyi bzw. Darius repräsentieren. Die männlichen Protagonisten erkennen die Andersheit, die Fremdheit der Frau, sind dieser aber nicht abgeneigt, sondern vielmehr von ihr angezogen. Auch Darius schätzt das Intellektuelle, Introvertierte an Flora und prahlt damit, so eine Frau seine eigene nennen 27 28
Der Roman von Németh ist in viele Sprachen übersetzt. Die deutschen Übersetzungen tragen den Titel Ekel, bzw. Abscheu. Im Roman Moras wird die erste Version erwähnt. Diese Textstelle ist eine Übernahme aus Némeths Roman. Die weibliche Figur des Romans von Németh repräsentiert jemanden, der das als selbstverständlich empfundene und für richtig, für ›normal‹ gehaltene Alltagsleben hinterfragt, was sich in der zitierten Textstelle summarisch wiederspiegelt.
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zu können. Er akzeptiert die Frau, will sie nicht ändern, dennoch kann der Abstand, der zwischen ihnen besteht, nicht überwunden werden.29 Sie stellen ein Modell zweier vollkommen unterschiedlicher Menschen dar, sind die Gegenüberstellung von zwei Typen, auf der einen Seite das pflanzliche Wesen und auf der andren das Raubtier, einerseits Zurückhaltung und andererseits Gier, vor allem Fressgier, zum einen Intellekt und zum anderen Triebhaftigkeit. Die unüberwindliche Grenze besteht bei Németh aber auch darin, dass einem bewussten Charakter eine verlogene, posierende gesellschaftliche Oberflächlichkeit und Seichtheit an die Seite gestellt wird, dass eine Persönlichkeit sich mit einem Alltagsmenschen, Qualität sich mit Qualitätslosigkeit konfrontieren muss, und dass in dieser Konstellation eine richtige Begegnung versagt bleibt. Entsetzen und Schrecken entstehen auch, weil zwischen den Figuren sich ein Abgrund auftut. Der intertextuelle Verweis auf László Némeths Roman Iszony, von der Protagonistin als Ekel angegeben, zeigt die Grundkonstellation der Charaktere und der zwischenmenschlichen Beziehungen der zwei Romane Moras. Dieser Abgrund, als eine unüberwindliche Grenze, ist es, was die zwei Figuren zu einsamen Inseln macht, die nebeneinander existieren, einander jedoch nicht erreichen, nicht berühren können, da eine unsichtbare Wand sie voneinander trennt. Es sind eindeutige Parallelen zum Roman Némeths zu erkennen, doch ist die Bezugnahme kein Zitat, obzwar die Figurenkonstellation eine literarische Vorlage hat, die jedoch Modifikationen erlebt. Auch dadurch entsteht eine mehrstufige Vermitteltheit, was auf verschiedenen Ebenen des Textes zu entdecken ist. Die fremden Elemente des intertextuellen Verweises sind z.T. also lokalisierbar, wie hier durch die starke Markierung, durch die Angabe des Verfassers und des Titels. Durch die Übernahme von Thematik, Handlungssequenzen, der Figurenkonstellation und bestimmter Ideologeme entsteht hier eine intertextuelle Folienbildung.30 Trotz einzelner Divergenzen ist eine Nähe zum Roman von Németh festzustellen. Es gibt zahlreiche Parallelen, aber auch
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Neben all den Korrespondenzen muss hier jedoch auch darauf verwiesen werden, dass Nelli zum Beispiel, weil sie die Konfrontation sucht, doch in vieler Hinsicht anders ist als Flora. Darüber hinaus ist ihre psychische Verfassung divergent, was sich auch darin artikuliert, wie beide mit ihrem Schicksal fertig werden oder eben daran scheitern. Vgl. Lindner: 1985, 119. Trotz dieser Folienbildung, die sich in erster Linie auf inhaltliche Elemente bezieht, kann selbstverständlich nicht von einer allgemeinen Homologie der Texte gesprochen werden.
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Kollisionen und Bedeutungsverschiebungen, die ein Oszillieren zwischen Affirmation und Negation ergeben. Die markanteste Abweichung ist selbstverständlich der Ausgang, der in erster Linie mit dem Unterschied, der sich zwischen bestimmten Charaktereigenschaften der Frauen auftut, zusammenhängt. Die durch intertextuelle Bezugnahmen entstehende Präsenz des eigentlich Entfernten und Fremden als Mittel der Textkonstitution führt parallel zur Auffächerung, auch zu einer »Mehrfachkodierung« und »Sinnkomplexion«, und bringt so neue, zusätzliche Sinndimensionen ins Spiel.31 Die intertextuellen Bezugnahmen splittern die Geschichten, Sprachen und Stimmen weiter auf, ergeben als Resultat ein facettenreiches Mosaik, das dennoch nicht mehr zur konzisen Einheit werden kann. Neben solchen Einzeltextreferenzen, wie die dargestellten Parallelen zu dem Roman von Németh, erscheint diese Technik als Affirmation oder Dementierung der literarischen Tradition. Der systemreferentielle Bezug als Verweis auf Textkollektiva impliziert eine Norm und dadurch eine Erwartungshaltung, sie aktiviert ein Repertoire von Elementen, die erkannt und identifiziert werden oder eben in ihrer Differenzqualität erkannt werden, wenn der Prätext eher als Negativfolie erscheint. Indem hier auch Systemreferenzen im Sinne der Architextualität heraufbeschworen werden, geht es nicht nur um punktuelle Bezüge, sondern genauso um strukturelle Beziehungen. Gattungskonventionen werden reflektiert und hinterfragt, die Beschaffenheit der Sprache wird vorgehalten und in den Reflexionsprozess einbezogen, theoretische und dichterische Passagen verfilzen sich, so dass eine Konfusion der Anspielungen und Sprachen entsteht. Für den Erzähler dient alles als »Steinbruch« oder »Magazin«,32 als eine unendliche Bibliothek, die mit ihrer Fülle jederzeit zur Verfügung steht. Zwischen den einzelnen Segmenten entsteht eine semantische Spannung, die überraschende zusätzliche Sinnschichten zustande bringt. Dieses spannungsvolle Schweben von Affirmation und gleichzeitiger Negation, die durch den Bezug und der damit zusammenhängenden Abweichung entstehen, zeigen, dass der ganze Text sich in einem liminalen Schwellenraum verschiedener Texte, Strukturen, Gattungen, Normen und Ordnungen aufhält.
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Schulte-Middelich: 1985, 206 bzw. 208. In Bezug auf intertextuelle Bezugnahmen spricht Plett metaphorisch von Steinbrüchen (Plett: 1985, 78) und Magazinen (ebd.: 79).
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9.4
Grenze als unfassbare Erfahrung. Marlen Haushofers Die Wand und Muster der Robinsonade
Die Kette der intertextuellen Bezüge soll mit dem Einflechten eines Prätextes fortgesetzt werden, der Einzeltextreferenz mit Systemreferenz verbindet.33 Floras Teil in Das Ungeheuer ist als ein Experiment zu lesen: Um das hereinbrechende Ungeheuer, die Dämonen zu besiegen, verfasst eine weibliche Protagonistin ein Tagebuch. Sie macht sich Notizen in der Hoffnung, die drohende Konfusion durch die Gestalt der Schrift aufzuhalten, das Dämonische sprachlich zu bezwingen. Pate stand dabei ein Buch, Marlen Haushofers Die Wand, das Flora liest.34 Es gibt konkrete intertextuelle Verweise auf den Roman, in dem eine einsam gewordene Frau durch Aufzeichnungen den Wahnsinn, die Auslöschung35 aufhalten möchte. Der Roman DieWand ist nicht nur in seiner individuellen, sondern auch in seiner generischen Qualität präsent und demonstriert darüber hinaus das Doppel von Verweis und Destruktion in einem. Hier schreibt die Referenz auf literarische Texttypen die Muster nicht fort, variiert sie eher und macht durch den impliziten oder expliziten Dialog mit der Gruppe von Texten die Unterschiede und Abweichungen bewusst.36 Eine ins Auge stechende Konvergenz zu Moras Texten ist, dass es auch hier um die Fassungslosigkeit angesichts des Numinosen, um den kontin33 34
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Vgl. Broich, 1985: 50. Der Roman Die Wand wird im Folgenden mit der Sigle W und Seitenzahl in Klammern im laufenden Text zitiert. Dass Die Wand in Moras Schaffen eine zentrale Rolle spielt, zeigt, dass es bereits in Seltsame Materie wörtliche Übernahmen gibt aus Haushofers Buch. Es geht um den Kampf zwischen Mensch und Natur, um den Sieg der Natur, um das unaufhaltsame Hereinbrechen dieser Macht und um die Ohnmacht des Menschen. Dies kann dann auch als roter Faden gedeutet werden, denn auch in Der einzige Mann auf dem Kontinent bzw. im Ungeheuer geht es um diese Problematik Aufgedeckt werden kann hier als gegenaufklärerische Geste der Zweifel an der Macht der Ratio, und im selben Zug wird auch der Glaube der technischen Moderne an die Allmacht der Technik negiert. Gerade die Rolle der Technik wird in den zwei ersten Romanen der Trilogie auf die Spitze getrieben durch die Tatsache, dass die digitalen Geräte zu einer Art Gottheit erhoben werden, von der man erwartet, dass sie die Probleme lösen, dass sie, man kann getrost sagen, zum Erlöser werden. In Die Wand kann letztendlich nicht gesagt werden, ob der Auslöschung Halt geboten werden kann, denn die Aufzeichnungen haben keinen Adressaten, die Protagonistin geht davon aus, dass sie nie gefunden werden, und versteckt die vollgeschriebenen Papiere vor sich selbst, um später damit nicht konfrontiert zu werden. Selbstverständlich inszeniert auch schon Die Wand in vieler Hinsicht Abweichungen vom Prätext, was dann im Buch Moras noch weiter vorangetrieben wird.
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genten Einbruch des Fremden, des Unsichtbaren geht. Bedacht werden Entsetzen, Angst und Bedrohung sowie die Suche nach einem Weg, einem Modell des Umgangs mit der Krise, die Verstörtheit und Verwirrung verursacht. Ein unerwartetes, unerklärliches Ereignis zerstört die bestehende Ordnung, setzt mit einem Schlag alles, was bis dahin als normal galt, außer Kraft. Dieses Numinose wird von der Frau des Romans willkürlich, da ihr nichts Besseres einfällt, einfach ›die Wand‹ genannt (W 14). Es ist ein »glatte[r] kühle[r] Widerstand«, an dem eigentlich nichts zu sehen ist, nur Luft (W 13). Es ist etwas Unsichtbares, das die Frau »im Weitergehen hindert[]« (W 14), ein »schreckliche[s] unsichtbare[s] Ding« (W 14), das einem die Sprache verschlägt, das das Denken blockiert angesichts der rätselhaften (W 15), »unfassbaren Erfahrung« (W 14). Logik und Kausalität schwinden, die Sprache versagt, doch zwingt einen dieses harte Etwas aus durchsichtiger Luft zur Auseinandersetzung. Inszeniert wird hier eine Begegnung mit dem absolut Fremden, das außerhalb des Erfahrungsbereichs des Menschen steht, und wodurch die bekannten Modelle und Modi des Umgangs mit dem Gegenüber, der »Welt« versagen. Es ist eine zugespitzte Krise, die Frau wird in eine liminale Phase jenseits der bekannten Ordnung gedrängt. Das Buch gestaltet dann, wie dieser Übergang aussieht und welche (Kultur-)Techniken die Protagonistin nutzt, um die Liminalität zu überwinden, eine neue Ordnung zu konstituieren. Es ist ein unsichtbares Hindernis (W 14), wodurch die Frau im Wald eingesperrt wird, als wäre sie auf einer unbewohnten Insel. Sie schlägt mit der Hand gegen die Wand, die sie »von dem Unbegreiflichen trennte« (W 16). Das Erscheinen dieser neuen Grenze ist ein heftiger Schock (W 17), und nach einer Weile hat die Frau nur eines im Kopf, nach einer Medizin zu suchen, die »die dumpfe Benommenheit« (W 19) aus ihrem Kopf treibt. Nach der ersten Besinnung darauf, »daß über Nacht eine unsichtbare Wand niedergegangen oder aufgewachsen war«, wofür keine Erklärung gefunden werden kann, bleibt der Protagonistin allein die Hoffnung, dass sie doch noch aus dem »Waldgefängnis erlöst« werden kann (W 20). Trotz dieser Hoffnung wird ein erster aktiver Umgang mit dem Unsichtbaren unternommen, seine Benennung, ›Wand‹ und seine Eingrenzung, was eigentlich zwei unterschiedliche Weisen derselben Operation, der Begegnung sind. Die Protagonistin steckt die Linie der Wand ab, verspürt Angst davor, dass die Wand näher rücken würde, was aber nicht geschieht. Klar wird jedoch auch, dass es keinen Fluchtweg gibt, dass man so die Situation einfach überstehen muss (W 24). Das Entsetzen entsteht dadurch, dass mit dem Erscheinen der Wand eine »schreckliche Unordnung« hereingebrochen ist (W 26). Diese Unordnung versucht die Frau bereits am
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nächsten Tag mit Arbeit zu bewältigen, durch das Abstecken, die Wand auf »einen angemessenen Platz zu verweisen« (W 26). Dies bringt einen »Hauch Ordnung« (W 26) in ihr Leben und ist der erste Schritt eines Neubeginns. All das erfahren wir aus den Aufzeichnungen der Protagonistin, die nach einem längeren, mit Arbeit erfüllten Aufenthalt im Wald nun im Winter beginnt, auf Papier, das sie im Haus ihrer Freunde findet, aus der Erinnerung ihre Situation zu beschreiben. Dass sie zu schreiben beginnt, ist dadurch motiviert, dass sie Angst hat vor dem »Abgrund« (W 39), vor dem Verlust des Menschseins. Die namenlose Frau klammert sich gerade mit Hilfe ihrer Aufzeichnungen »an die spärlichen Reste menschlicher Ordnung« (W 39), und die Angst lässt sie den Bericht schreiben (W 39). Seit dem unbegreiflichen Ereignis lebt sie nun »in einer Welt der Mühen und Einsamkeit« (W 45) mit ihren Tieren, die als eine Art Ersatzfamilie herhalten. Da sie beschlossen hat durchzuhalten, ohne zu fragen, warum, ohne an die Wand zu denken, arbeitet sie nun, um sich und die Tiere zu versorgen. Sie sind gegenseitig aufeinander angewiesen, Herren und Knechte zugleich. Ihre Arbeit beginnt damit, dass sie die gefundene Kuh melkt, womit ein langer Prozess des Planens und Tuns beginnt. Es muss ein Stall hergerichtet, ein Acker angelegt werden und so weiter. Der Roman Haushofers kann als weibliche Robinsonade gelesen werden, indem ein Lebensentwurf einer Frau nach der völligen Isolation von der menschlichen Zivilisation, jenseits der tradierten Ordnung beschrieben wird. Die weibliche Robinsonade stellt die Versuche einer Emanzipationsbewegung der Frau dar, die Möglichkeit der Frauen »an dem Konturieren ihrer Selbst« mitzuwirken.37 Zwar nicht im herkömmlichen insularen Kontext, dennoch wird auch hier eine Isolationsszenerie erprobt, die als »Initialzündung für Robinsonaden ähnliche Handlungsabläufe«38 erkannt werden kann. In der Tradition der Robinsonaden und Anti-Robinsonaden wird die »Spezifikation ›insular‹ zugunsten weiterer topographischer, temporärer und psychischer Isolationsformen erweitert.«39 Korrespondierend mit dem Typus der weiblichen Robinsonade geht es auch hier um eine »introspektive Verlagerung des Sujets«40 . In Das Ungeheuer werden psychische Isolationsformen und erfahrungen durchexerziert, was noch mit Sprachreflexion und dem Erlebnis 37 38 39 40
Torke: 2011, 16. Torke nenn die Robinsonade eine »ideale Szenographie für die Darstellung und Aufarbeitung der Lebensbedingungen von Frauen«. Ebd., 33. Ebd., 31. Ebd., 33. Ebd., 194.
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gekoppelt wird, dass die Sprache unzureichend ist. Die Figur Moras ist zwar physisch nicht isoliert, innerlich fühlt sie sich jedoch von Allem und Allen abgeschnitten und missverstanden. Sie treibt wie auf einer Eisscholle (U 377), ist in einer ähnlichen Krise, da sie ihre Lage als aussichtslos empfindet. Sie wählt für sich den Wald als Ort des Exils, das Landleben als Gegenmodell zur urbanen, technisierten Gesellschaft. Auch die Umsiedlung nach Deutschland, ihr anderes Exil, das sie von ihrem früheren Umfeld trennt, ist eine eigene Wahl. Es geschieht keine Naturkatastrophe, doch ist die weibliche Figur eine Schiffsbrüchige, die in ihrem Leben strandete. Die Lage der Welt (U 395) wird wie eine permanente Katastrophe dargestellt, die gar nicht beendet werden kann. Auch in Moras weiblicher Robinsonade scheint analog zu der Fragestellung der Gattung die ganze Kultur auf dem Prüfstand zu stehen, dieser Rekurs auf die kulturelle Ordnung und die Position des Subjekts in dieser Ordnung sind, das hier interessiert. Die Wand als eine der Lieblingslektüren der weiblichen Protagonistin könnte für sie ein Modell bieten, wie man in der Krise, außerhalb der Ordnung und trotz der Einsamkeit Sinn stiften, Ordnung schaffen, ganz einfach den Alltag meistern kann, ohne an Selbstmord zu denken. Diese Option wird bei Haushofer nämlich, obzwar das Leben der Frau von Mühen, Plage, Einsamkeit oder Angst geprägt ist, nicht bedacht. Ein Modus der Bemühung, den Alltag zu strukturieren sind kleine Notizen, aus denen dann im Nachhinein die Aufzeichnungen entstehen, die die Figur vom Abgrund fernhalten sollen. Auch Moras Figur ist bemüht eine neue Existenz aufzubauen, sie ist zwar nicht ganz auf sich gestellt, da sie finanziell durch den Ehemann abgesichert ist, sie sehnt sich aber nach einer sinnvollen Beschäftigung, bei der sie ihre Persönlichkeit einbringen, sich entfalten kann, doch das misslingt ihr. Sie versucht ein menschenwürdiges Leben zu leben, flieht deswegen in ein neues Land, doch sie wird auch hier missverstanden, ausgenutzt und missbraucht. Zwischen den zwei Frauen und ihrer Situation gibt es zwar zahlreiche Unterschiede, doch gibt es eine gemeinsame Struktur mit der Krise und dem liminalen Zustand bzw. mit der Suche nach einer Lösung. Die Beziehung von Prätext und Referenztext ist nicht die der Wiederholung, sondern der Analogie auf einer höheren Abstraktionsstufe.41 Diese Analogien sollen nun herausgearbeitet werden.
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Vgl. Lindner, 1985: 126.
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Hält man sich vor Augen, dass in den Robinsonaden die Frage diskutiert und inszeniert wird, welche Lebensadäquatheit eine jeweilige Kultur bei Krisen, bei physischen und psychischen Überlebensbemühungen bieten kann,42 kann gleich auf die wichtigste Korrespondenz der beiden Texte verwiesen werden. Der architextuelle Verweis bringt Codes, Modelle und ein Normsystem ins Spiel, in dem dann der manifeste Text gespiegelt wird, der Divergenzen zeigt. Gerade die Code-Durchbrechung, die Abweichung macht die Norm bewusst, der deviante Text wird vor dem Hintergrund der Gruppe erkennbar, und das situiert den manifesten Text jenseits der Ordnung. Da zur Systemreferenz auch das Zitieren von Diskurstypen, hinter denen sich Sinnsyteme verbergen, gehört,43 müssen hier neben den punktuellen Homologien auch diese Sinnsysteme unter die Lupe genommen werden. Es kann gleich vorweggenommen werden, dass Robinsonaden generell extreme Krisen inszenieren, Situationen, in denen man von der menschlichen Kultur völlig getrennt, aus ihr ausgeschlossen, von ihr entfernt ist. Das entspricht einem Grenzübertritt aus Ordnung in Unordnung. Da aber Robinsonaden einer triadischen Struktur entsprechen, ist diese Unordnung bloß eine liminale Phase des Übergangs, da diese Romanform ein Modell entwirft und bemüht, das die Herstellung einer neuen, der alten in vieler Hinsicht ähnlichen Ordnung darstellt, bis dann schließlich die Rückkehr in die menschliche Ordnung erfolgt. In Anbetracht dessen gilt nun zu fragen, welche Techniken es sind, die in den Robinsonaden das Beenden der Liminalität ermöglichen. Die liminale Phase, die extreme psychische Belastung der Isolation ist leichter zu meistern, wenn man schreibt.44 Die psychologische Strategie des Tagebuchs lebt, obzwar in einer abgewandelten Form, weiter. Diese wäre berufen, einen Ort zu bieten, an dem man seine Freuden und Ängste, Erlebnisse und Rückschläge verarbeiten, aber auch in die Zukunft blicken und planen kann, wenn einem das Gegenüber fehlt. Ein Pfeiler, der für Schiffsbrüchige als eine wichtige Stütze galt, ist darüber hinaus die Religion, die aber hier nicht mehr herhalten kann, Sinn zu stiften. Die Aufzeichnungen und die Religion helfen in der Tradition dabei, ein Gleichgewicht halten zu können, aber auch dabei, dass die Figur ihr Inneres aufdeckt, sich »auf die Schliche« kommt, wie es in Die Wand heißt (W 57). Das garantiert die Entwicklung der Figur. So ein Wachsen gibt es aber bei Mora nicht. Genauso wie Darius bewegt sich auch
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Stuhlfauth: 2011, 13. Vgl. Broich: 1985, 55. Vgl. Stuhlfauth: 2011, 14.
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Flora im Hamsterrad im Kreis herum, in dem man trotz der vielen Mühe nicht weiterkommt. So sind Floras Aufzeichnungen von Wiederholung bestimmt, von der Wiederkehr derselben Themen und Probleme, für die nie eine Lösung gefunden wird. Auch in Die Wand ist die Situation perspektivlos, doch überwindet die Protagonistin mit einer vernünftigen Planung ihre erste Verstörtheit und Fassungslosigkeit. Durch Aktivität entkommt sie der Verzweiflung. Auch Flora versucht zu arbeiten, doch die Jobs, die sie hat, führen nicht zur Befriedigung, geschweige denn zur Sinnstiftung. Womöglich flieht sie auch wegen der Erniedrigungen bei der Arbeit in den Wald bzw. auf das Land, wo sie mit physischer Arbeit, mit körperlicher Anstrengung sich ein besseres, ein heilsameres Leben erhofft, nachdem das Lesen nicht geholfen hat. Durch die Flucht in den Wald kann sie die Außenwelt zwar von sich fernhalten, die Errungenschaften der modernen Großstadt und überhaupt der sogenannten Zivilisation und all der Technik kulturkritisch ignorieren, doch trägt dies zu einer Vertiefung der Isolation der Frau bei. Auch das Dorf als Insel, als Ort des utopischen gegenzivilisatorischen Landlebens kann für Flora keine Heilung, keinen Ausweg aus dem Teufelskreis bringen. Die weibliche Figur bei Haushofer erklärt ihre Entscheidung, den Kampf gegen die Verzweiflung aufzunehmen, damit, dass sie neugierig und offen dem Neuen gegenüber ist, und dass sie Rätsel faszinieren, bzw. dass die Tiere auf ihre Fürsorge angewiesen sind. Bei Moras Figur scheint es kaum solche Punkte zu geben. Erwogen wird allerdings, ob die Liebe zu einem Menschen ein ausreichender Grund sein kann, weiterzuleben, die Existenz als sinnvoll zu empfinden (U 327). Die Frage wird nicht beantwortet und der Selbstmord bedeutet eher eine Negation dieser Frage. Die Zivilisation ist bei Haushofer genauso wie bei Mora durch eine Lieblosigkeit charakterisiert, so kann die Erscheinung der Wand nicht nur negativ, als Ausschluss, sondern auch positiv, als Schutz vor den schädlichen Einflüssen der Zivilisation betrachtet werden. Es gibt keine Sehnsucht danach, in der Abgeschiedenheit ihre Errungenschaften zu rekapitulieren. Bei Mora scheint das Dorf, auch was die Liebesfähigkeit der Menschen betrifft, eine Art Gegenwelt zu sein. Hier gibt es noch Freundschaft (mit Gaby), Geselligkeit, ein Füreinander und ein Aufeinander-Angewiesen-Sein. So wie Haushofers Figur, die sich in der Stadt ängstigte, während sie im Wald selbst in der Nacht keine Angst hatte, so hofft vielleicht auch Moras Protagonistin im Wald Sicherheit, seelische Ruhe finden, sich am sogenannten Busen der Natur ausruhen zu können (U 208), was aber im Roman selber ironisch unterminiert wird. Gerade diese Ironie zeigt, dass Modelle, Kulturtechniken der Vergangenheit versagt haben. Diese Modelle exerziert der Ro-
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man aber auf allen möglichen Ebenen durch, wie auch zum Beispiel architextuell in Anlehnung an die Robinsonaden. Selbst metapoetisch wird dies in den Aufzeichnungen Floras reflektiert. Sie sitzt im Wartesaal bei einer Analytikerin und setzt sich, wenn ein Stuhl frei wird, um. »Mit der Zeit sämtliche Stühle im Wartesaal ausprobiert. Ob es einen gab, der geeigneter wäre als die, auf denen ich bis dahin gesessen habe. Es gab keinen.« (U 618)45 Die Tradition kann der Erzählerin kein Instrumentarium in die Hand geben, kein Stuhl ist geeignet, da gerade die sinnstiftenden Momente negiert werden. Das Muster der Robinsonade wird re-zitiert und verwandelt, da gerade die Elemente wie Benennung, Grenzziehung, Planung, also Identifizierung und Handeln, subvertiert werden. Damit sind aber die wichtigsten Pfeiler des Modells dementiert, und durch diese Lücken wird das Modell zu einer leeren Hülse, die nicht mehr Halt geben kann. Die Vergegenwärtigung des Überlieferten schafft dennoch eine ewige Gegenwärtigkeit, und die Neueinbettung der Erzählsegmente als eminentes Verfahren der Textkonstitution reflektiert zugleich auf Verschiebungen und Vermischungen, auf Liquidierung von Grenzen. Die überlieferte Gattungsordnung wird verflüssigt, kann ihre Funktion als Lösung der Krise nicht mehr übernehmen. Ebenso wie die einzelnen Elemente der Sprache bekommen hier die Erzählsplitter in ihren neuen Kontexten neue, modifizierte Bedeutungen, indem sie einander gegenseitig infiltrieren.46 Der Erzähler wird zur Echokammer, erfüllt vom Hall und Rauschen fremder Texte.47 Die so entstehende Mehrfachkodierung, was als Basis der Erzählstrategie gelesen werden kann, eröffnet zahlreiche zusätzliche Sinnschichten. Die Auffächerung der Möglichkeiten, das alternative Modell kann aber nicht zur Integration, zum Abschluss der Krisensituation führen. Während die Wiederholung durch »Prozesse des Wiedererkennens« zur »Herausbildung fester Identität« und
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Auf ähnliche architextuelle Bezüge ist bereits hingewiesen worden im vierten Kapitel dieser Studie. Das ist das Spiel zwischen Identität und Differenz als kooperierendes Doppel, das auch als Kippfigur zum elementaren Teil des Rauschens wird. Auch als Affirmation und Destabilisation intendiert diese Strategie eine zusätzliche Ebene der Sinnkonstitution, was sowohl für die Systemreferenz als auch für die Einzelreferenz geltend gemacht werden kann. Vgl. dazu: Pfister: 1985, 22. Vgl. ebd., 21. Pfister spricht hier in Bezug auf poststrukturalistische Theorien vom Autor als Echokammer, der sich im Textuniversum bewegt. M.E. kann aber hier diese Tatsache eindeutig als Charakteristikum des Erzählers beschrieben werden.
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zur »Vertiefung kognitiver Kontinuität« führt, indem sie Ordnung stiftet,48 negiert die ständige Verschiebung und Änderung all diese Möglichkeiten. Hält man sich vor Augen, dass Robinsonaden immer nach der Lebensadäquatheit von Weltentwürfen trachten, stellt sich die Frage, welche entsprechenden Techniken die gegenwärtige Kultur, das zeitliche Umfeld der Romane bieten kann, um Krisen zu meistern. Wie das Zitat zeigt, gibt es keine Hoffnung darauf, einen passenden Platz oder einen stimmigen Vorgang zu finden, der als (Er)-Lösung herhalten könnte. Der Stuhl steht für die Suche nach einem Ruhepunkt, nach einer endgültigen Bleibe, um die unendliche Bewegung und Suche nach Ergebnissen beenden zu können. Das Ausprobieren der Stühle kann aber auch als poetologische Metapher gelesen werden, als Ausprobieren von Möglichkeiten, von allen Mitteln, die erreichbar sind, um eine Lösung zu finden. Zum einen sind die Therapeuten da, um den »Leuten in ihren Lebenskrisen zu helfen« (U 612). Sie teilen aber klar mit, dass sie manches nicht lösen, also heilen können (U 611). Darüber hinaus artikuliert die Ichfigur auf verschiedenen Ebenen Kritik und Skepsis den Therapeuten gegenüber, sie kann ihnen nicht glauben, nimmt sie nicht ernst und hält sich nicht an ihre Vorschriften. Die Therapeuten fungieren als eine Art Gottesersatz, ihre Allmacht wird aber mit allen Mitteln destruiert. Um das Untersuchungsfeld weiter abzustecken, sollen nun einige weitere von den vorgeschlagenen Alternativen anvisiert werden. Wo findet man Hilfe, wenn nicht mehr in der Bibel oder bei den Göttern in Weiß. Ein Ort, wo man sich alles Nötige besorgen kann, scheint das Internet zu sein (U 581). Hier kann man alles bestellen, »abgesehen von der Realität«, und abgesehen »von einer bewahrten Souveränität« (U 581f). Das Internet kann einem, weil es für alles eine Lösung verspricht, als Allheilmittel vorkommen, woran selbstverständlich gleich Kritik geübt wird, da einem im virtuellen Raum gerade Realität und Souveränität abhanden kommen. Das Internet erscheint aber nicht nur, weil man da alles besorgen kann, als eine Lösung. Denn der Computer und die digitale Welt können auch bei einer Panikattacke wie ein Medikament wirken, wenn man sich beim Aufsteigen von Panik hinsetzt und spielt und spielt, bis man über die Attacke oder die depressive »Episode« triumphiert hat (U 436, 440). Die digitalen Medien können wie eine Pille gegen Schmerzen eingesetzt werden, die einen für eine Zeit betäubt. Eine Episode als liminaler Zustand kann dadurch beendet werden, doch ist das keine endgültige Lösung. Es kommen immer wieder solche Episoden, für die man 48
Haupt: 2002, 17.
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nur Scheinlösungen hat, und so kann die Phase des Übergangs nicht beendet werden. Der Sinn dieses Spiels ist, keine Lücke zu lassen (U 440), wo sich ein Abgrund auftun könnte. Unter Spiel kann aber nicht nur das Computerspiel verstanden werden, sondern im Allgemeinen verschiedene Kulturtechniken, die helfen können, Krisen zu überwinden, wie das Planen. Aus Robinsonaden ist bekannt, dass die rationale Tätigkeit, sich einen Plan zu entwerfen, zur Bewältigung der Probleme beitragen kann. In so einem durchgeplanten Leben funktioniert man aber wie eine Maschine (U 440), und so wird dieses Modell verworfen. Als Alternative wird die Möglichkeit in Aussicht gestellt, ein Kind zu bekommen (U 583), doch ist dies im Falle Floras aussichtslos. Damit im Zusammenhang steht auch die Möglichkeit nicht zu versagen, wenn man sich um jemanden oder etwas kümmern (U 598) muss, was ja in Die Wand als eine realisierbare Option erscheint. Umfassender formuliert geht es hier generell um das Handeln und um Arbeit bzw. um Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit. Es ist egal, ob es um Blumen pflanzen (U 626) oder um das Kochen, das Befolgen von Rezepten geht (U 431ff). Dem Ich scheint neben dem Schreiben das Lesen (U 623) ein Lösungsmodus zu sein als Krisenintervention. Die Aufzeichnungen gestalten eigentlich die Suche nach einem wirksamen Medikament oder einem Rezept, mit dem man die Lösung der Krise erreichen könnte. Als solche Rezepte, Modelle können inter- oder architextuelle Bezugnahmen herhalten, da aber die von ihnen angebotenen Sinnsysteme aus verschiedenen Gründen nicht mehr aktiviert werden können, können sie nicht mehr als Heilmittelverordnung dienen. Wenn es um die Frage nach einem Heilmittel geht, dürfen selbstverständlich auch Religionen nicht fehlen. Auch hier wird Pluralismus und Synkretismus angestrebt, und so finden neben Modellen des Christentums, der Bibel, andere Religionen Einzug in den Text, wie die griechische Mythologie oder der Hinduismus. Erwogen wird auch, hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Lesen, die Rolle von religiösen oder pseudoreligiösen Aktivitäten. Die Protagonistin liest nämlich neben Ratgebern bei psychischen Erkrankungen auch zahlreiche Bücher aus der esoterischen Literatur und reflektiert in mehrfacher Hinsicht die Rolle der Religion. Es geht hier um den »Triumph« (U 415), darum, eine Art Änderung mit Hilfe von Übungen herbeizurufen. Doch diese werden als lächerlich »(Höre mein irres Lachen)« (U 415. Herv. i. Orig.) abgetan und ironisch gebrochen dargestellt. »Jeden Morgen vor dem Aufstehen sprechen Sie mit Kraft und Energie: ›Wir sind stark. Wir sind reich. Wir sind voll des Glückes und der Harmonie. ›OM, OM, OM.‹ (Und wenn
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ich es ohne ›OM‹ sage? Oder nur mit zwei ›OMs‹? Oder vier?)« (U 416f. Herv. i. Orig.). Unter dem Stichwort Lebenshilfe oder Religion werden selbstverständlich nicht allein esoterische Lehren verhandelt, denn es geht prinzipiell um Religiosität, darum, dass man den Himmel betrachtet, aber nur mit den Wolken redet (U 658), denn da »ist niemand«, der einen auserwählt hätte (U 664). Der Bezug geschieht mit Skepsis, so erfährt die angebotene Lösungsoption mit dem Aussagen auch gleich ihre eigene Unterminierung. Selbst die bizarre Mischung der verschiedenen Modelle führt schon zu einer gegenseitigen Relativierung und Hinterfragung. Die Ichfigur gibt das Lesen als möglichen Ausweg aus ihrer Krise an. Das ist ein Grund, warum sie extensiv liest, ein Modell sucht, das sie als Rezept auf ihr Leiden anwenden könnte, um die Erkrankung, die Beschwerden zu bekämpfen. Modell stehen dafür Kochrezepte, die erprobt sind, und wenn man sich an sie hält, eine Garantie fürs Gelingen haben. Literarische Modelle, Sinnsysteme werden hier wie Rezepte gehandhabt, man will aus ihnen etwas zubereiten und sich auftischen. Die Rezepte, obwohl sie erprobt sind und in der Tradition Geltung hatten, führen hier zu keinem Ergebnis, es entsteht nichts Bekömmliches. So ein altbewährtes Rezept der Literaturgeschichte ist auch die Robinsonade, ein Sinnsystem, das jedoch feste Zutaten hat und ohne die ihr Lösungsmodell nicht in Kraft treten kann. Die namenlose Erzählerin rekapituliert in Die Wand, in dieser weiblichen Robinsonade, Modelle, die auch von Moras Figur praktiziert werden. Auch kulturelle Entwicklungsstufen und Systeme werden der Robinsonade gemäß bedacht, doch können die nicht zum Erfolg führen. Der eine Grund dafür ist, dass Flora im Gegensatz zu der weiblichen Figur bei Haushofer das Leben nicht bejaht (U 573). Zurückgeführt werden kann der Misserfolg aber auch darauf, dass die Protagonistin bei Mora bei allen Möglichkeiten nur die Grenzen (U 438) spürt, und so scheint alles »für die Katz« zu sein (U 439), die Dämonen haben über alles Macht und sie können selbst von Wänden nicht aufgehalten werden (U 439). Die Einsamkeit kann nicht zur Weisheit führen (U 637). Flora beschreibt die Situation als »absurd« (U 441), und bringt damit den ununterbrochenen Kampf, die Sisyphus-Situation zum Ausdruck.49
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Bei Sartre, dem Vater des Absurden, geht diese Diagnose jedoch nicht mit Selbstmord einher, nicht die Selbsttötung erscheint als ein Ausweg oder Lösung der Situation zu sein, sondern das Aushalten des Absurden, was die weibliche Figur in Die Wand auch umzusetzen sucht.
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Die Erlösung kommt also nicht vom Lesen. Auch die Frau bei Haushofer hört auf zu lesen (W 113) und gibt sich ganz der Arbeit hin. Den Wald betrachtet sie als den ihr angemessenen Platz (W 192), und die aufkommende Leere versucht sie mit Arbeit zu füllen (W 200). Sie will sich damit beschäftigen, was zu tun ist, die Suche nach einem Ausweg verschiebt sie in die unbestimmte Ferne (W 238). Sie ist trotz der Einsamkeit »gerne im Wald« (W 68), die unheimliche, unbegreifliche Wand zwingt sie zwar zu einem neuen Leben (W 130), doch sie findet sich damit ab, fügt sich, indem sie sich betäubt (W 114), und nicht mehr alles begreifen will (W 95). Durch den Ackerbau und die Verantwortung, die sie übernimmt, ist sie dazu gezwungen, nach einem Plan zu leben (W 91), was sie vor Langeweile schützt. Die unerklärliche Erscheinung der Wand bedeutet, dass alles Frühere verschwindet, worauf die »einzig normale Reaktion« der Wahnsinn wäre (W 162), oder dass man sich umbringt (W 173). Doch wird hier ein anderer Weg beschritten, und obwohl sich die Frau wie ein »blinder Maulwurf« fühlt, sitzt in ihr eine vollkommen unerklärliche, wahnsinnige Hoffnung (W 76). Trotz der Zuversicht ist die Angst ihr dauernder Begleiter, der sie »hilflos ausgeliefert« (W 114) ist, und die sie mit Arbeit und dann mit dem Schreiben abzuwehren versucht. An einem Weihnachtsabend stellt sie sich ihrer Vergangenheit und ihrem innersten Selbst, ohne zu lügen (W 116). Bei ihrer Selbstreflexion spricht sie über die Weisheit, über die sie aus der Distanz zur Welt und zu ihrer Vergangenheit verfügt, die ihr aber nichts bringt (W 118). Im Gegenteil zu Flora vertritt sie die These, dass man in Abgeschiedenheit und Einsamkeit zwar weiser wird, auch dies kann aber nicht helfen, nichts ändern. Aus der für das ganze Buch dominanten kulturkritischen Perspektive kann der Einzelne nichts verwandeln und umgestalten, die Welt ist verdorben, ihr ist nicht zu helfen. Die Welt wird hier genauso wie bei Mora als feindlich, rüde beschrieben, in ihr herrschen nicht Liebe, Zuneigung, Fürsorge, sondern Hass und Gewalt (W 140, 206). Der Mensch ist ein Triebwesen und deswegen unfrei (W 66). Die Freiheit gab es immer nur auf Papier (W 66), sie ist eine Fiktion, konnte in die Wirklichkeit nicht umgesetzt werden. Dadurch wird das Konzept der souveränen Entwicklung der Persönlichkeit, die innere und äußere Freiheit, ähnlich wie bei Mora, als Utopie entlarvt.50 Wie das Morden scheinen einem aber auch die Liebe und der Instinkt, dass man Anvertrautes nicht im Stich lässt, eingepflanzt (W 66, 174) zu sein. Es wäre also »möglich gewesen, anders zu leben«, wenn man erkannt 50
Gerade die Frage nach Freiheit bzw. Unfreiheit ist auch, was die drei Romane, Ekel, Die Wand und Das Ungeheuer, miteinander verbindet.
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hätte, dass die Liebe die »einzige Möglichkeit« wäre für ein besseres Leben (W 206). Warum aber der falsche Weg eingeschlagen werden musste, bleibt unbeantwortet (W 206). Beide Frauen kommen in dieser Hinsicht also – obzwar durch unterschiedliche Denkwege –zum selben Ergebnis. Die namenlose Hauptfigur in Die Wand will diese Fragen nicht beantworten, ist deswegen nicht resigniert oder zynisch, denn sie stellt fest, dass gerade die Tatsache, dass die Menschen nach dem Sinn suchen, sie böse und verzweifelt und so wenig liebenswert werden lässt (W 206). Wenn die Liebe die Motivation ist, die einem eingeschrieben ist und den Kreislauf des Lebens bestimmt, kommt es nie zu solchen Erscheinungen wie der Wand (W 140), die Versteinerung, Erstarrung und Tod bringen. Gerade so eine, von Liebe, Akzeptanz dominierte Welt ersehnt sich Flora, bzw. sie leidet daran, dass sie in deren Gegenteil leben muss. Während Haushofer die Frage in einer apokalyptischen Vision aufgehen lässt und an das Neue, dass etwas Neues herankommt (W 239) appelliert, obzwar dieses Neue unsichtbar bleibt (W 117, 239), gibt es dieses Gefühl bei der Figur Moras nicht. Die Möglichkeit einer neuen Ordnung, wo alles neu beginnen kann und alles noch eine Chance hat, wird nicht in Betracht gezogen. Das Paradies gibt es hier wie dort nicht, der utopische Ort des vollkommenen Glücks, das Ende der liminalen Krise, der Eintritt in die letzte Stufe der Triade, die Integration wird negiert. Der Wald entspricht hier dem Modell des Ortes außerhalb der Kultur, und auch dem Grenzübertritt mit dem Ziel »[w]oanders neu [zu] beginnen. Immer und immer wieder. … Aber ich will nicht immer wieder von vorn anfangen. … Als müsste ich permanent von Eisscholle zu Eisscholle hüpfen« (U 396, 377), der Transit und die permanente Liminalität können nicht beendet werden. Statt einer vorübergehenden soll eine endgültige Lösung gefunden werden (U 633), die die fortwährende Suche und Konfrontation mit dem Neuen ausschließt. Als endgültige Lösung erscheint für Flora dann der Tod. Integration wird aber auch auf der Ebene der Textualität negiert, intertextuelle Referenzen setzen vielmehr Liminalität und Transit in Kraft. Geschuldet ist dies auch der Tatsache, dass hier Rezepte verschiedener Kulturen, Diskurse, Register und Zeiten vermischt werden und kein kohärentes und konsistentes System hergeben können. Verursacht wird dies zum einen also auch durch die Anzahl und Streubreite der Verweise, die wegen ihrer Heterogenität kein Sinnpotential freisetzen können. Sie schleppen ihr Bedeutungspotential mit, die Maßlosigkeit ihrer Reihen kann nicht mehr identifiziert werden. Aus ihrem Zusammenhang gelöst und beliebig kombiniert werden die Referen-
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zen stark entfremdet. Ihre Neukontextualisierung beraubt sie ihrer eigenen Identität, da sie ihre ursprünglichen Grenzen verschiebt. Wertkodierungen, Hierarchien, Dichotomien werden aufgeweicht. Die Verweise können nicht nahtlos ineinandergefügt werden, sondern verursachen vielmehr eine Kollision, die aus ihrer Inkompatibilität und der großen Streubreite resultiert. Will man den Vergleich beider Texte weiter ausführen, muss ein Blick auf die Beschaffenheit der Aufzeichnungen geworfen werden. Während Haushofers Figur im Winter innerhalb von vier Monaten rekapitulierend ihren Bericht schreibt, ist die weibliche Hauptfigur in Das Ungeheuer meistens mitten drin im Geschehen. Es gibt keine zeitliche und räumliche Distanz, und dadurch kann es auch keinen Überblick und keine Wertung geben. Die Frau in Der Wand überblickt die zwei Jahre ihres Aufenthaltes im Wald und blickt aus dieser entfernten Sphäre auf ihr Leben in ihrem ehemaligen Umfeld, auf die Zeit vor dem Erscheinen der Wand zurück. Auch bei Mora gibt es Verweise auf die Vergangenheit, auf die Kindheit der Protagonistin, auf ihre Mutter etc., doch gibt es auch zu denen keine emotionale Distanz. Ihre Aufzeichnungen entstehen ad hoc und ohne Plan, sie ergeben auch keinen Zusammenhang, sind vielmehr »Fragmente einer Frau« (U 83), kleine Splitter, die sich zu keiner Einheit verbinden lassen. Es gibt zwar ein Netz von Themen, die der Verlinkung ähnlich miteinander in Beziehung gesetzt werden können, aber Logik und Kausalität und auch eine eindeutige Linearität fehlen. Während bei Haushofer der Grund angegeben wird, warum die Figur mit dem noch vorhandenen Bleistift auf das noch vorhandene Papier schreibt, ist bei Mora nichts begründet. Beide schreiben für sich, und nicht in der Hoffnung, dass ihr Text gefunden und von anderen gelesen wird. So ist der Rahmen für eine ehrliche Auseinandersetzung mit den verhandelten Problemen gegeben. Haushofers Figur gelingt es auch »sich auf die Schliche zu kommen« (W 57), während bei Flora dieser Eindruck nicht entsteht. Sie verzettelt sich vielmehr, als dass sie eine Einheit finden könnte. Die losen, voneinander sehr divergierenden Dateien können keine Einheit stiften, sie sind die moderne, digitale Form des Zettelkastens. Speicherkapazitäten des Computers stehen (fast) unendlich zur Verfügung, die Frau im Wald muss aber ihre Aufzeichnungen beenden, da ihr das Papier ausgeht. Von der Situation Floras in den letzten Dateien bekommen wir ein Bild von ihrer Verzweiflung. Wiederholt stehen nicht nur vollkommen unzusammenhängende, sondern eindeutig sinnlose Zeilen und Passagen da. Es entsteht der Eindruck, dass es nur noch darum ging, überhaupt etwas festzuhalten, ein Zeichen zu setzen gegen die Verzweiflung oder den Wahn. Die Kompositionsfrage hängt mit der inneren Zerrissenheit
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der Figur zusammen, in der kein Zentrum mehr auszumachen ist, und die sich trotz der Aufzeichnungen in einer unendlichen Vielheit der multiplen Optionen verliert. Geht man von der Prämisse aus, dass Robinsonaden mit dem Gedankenexperiment spielen, ob ein isoliertes Individuum vollkommen auf sich gestellt eine neue Zivilisation schaffen kann,51 muss festgestellt werden, dass der Roman von Haushofer diese Frage offen lässt. Es gelingt zwar der Protagonistin, einen Neuanfang zu schaffen, den Zivilisationsprozess zu rekapitulieren. Das Misstrauen der Zivilisation gegenüber, das sich aus der Distanz nur noch verstärkt, lässt jedoch den Wunsch gar nicht erst aufkommen, eine andere, eine neue Alternative anzubieten. Auch diese namenlose Frau demontiert zahlreiche Elemente kultureller Konstruktionen,52 wie z.B. die Zeit und die Identität. Die Zeit dehnt sich in das Unendliche aus, obwohl sie sie am Anfang noch fassen, bändigen möchte. Dominieren wird die subjektive Zeit und die Zeit in Form des Kreislaufs in der Natur. Das Verschwinden der Zeit hängt auch mit der Problematisierung der Identität zusammen. Auch das Empfinden der Unendlichkeit trägt zur Ichauflösung bei, was noch mit dem Verlust des Namens und dem Eins-Werden mit den Tieren zugespitzt wird. Die Frau wird ihrer neuen Familie, den Tieren, ähnlich, befindet sich in einer Art Metamorphose, zurück in die Fauna. Flora hingegen, die Protagonistin Moras, ist mitten in der Zivilisation einsam, fühlt sich vollkommen auf sich verwiesen. Das Landleben, körperliche Arbeit scheinen für sie lebbare Alternativen zu der technisierten, urbanen Gesellschaft zu sein, der Schritt zurück zur Natur kann letztendlich doch keine Rettung bringen. Das Dorf, der Wald, die Natur können vorübergehend als Auswege aus der Krise aufscheinen, eine endgültige (Er)-Lösung können sie aber nicht bieten. Fasst man die Krise als liminalen Zustand auf, und geht man von der triadischen Struktur Ordnung – Chaos – neue Ordnung aus, muss hier festgestellt werden, dass die utopische paradiesische Ordnung auch bei Haushofer dementiert wird, wenn die Protagonistin feststellt, dass es das Paradies nie gegeben hat (W 68). In diesem Falle kann es natürlich auch keine Rückkehr in den paradiesischen Zustand geben. Das Leben wird von vornherein als krisenhaft angenommen, was mit Aussagen des Mora-Buches korrespondiert. Interessant ist, dass es in Das Ungeheuer keine Katastrophe braucht, um in eine Situation zu gelangen, in der der Mensch vom Mitmenschen voll51 52
Stuhlfauth: 2011, 12. Vgl. Bunzel: 2000, 33.
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kommen abgeschnitten ist. Die Wand erscheint in der Zivilisation, und es ist nicht bekannt, seit wann und wie lange sie noch Bestand hat, sie ist keine Ausnahmesituation, sondern vielmehr die Normalität, denn das »Unerhörte ist alltäglich geworden«.53 Die dicht bewohnten Metropolen werden zu einsamen Inseln, zum möglichen Ort der Begegnung, aber auch der Isolation. Alles ist ungewiss, die liminale Situation ist auf Dauer gestellt, und da es kein Davor und kein Danach gibt, gibt es auch keine Alternative außerhalb, jenseits einer Grenze. Man ist dem Ungeheuer schutzlos ausgeliefert. Allein die Selbsttötung scheint für die Protagonistin den Austritt aus dieser Situation zu versprechen. Die desintegrierende Erfahrung des Schmerzes führt zu einer Hinterfragung der Identität und zum Versuch einer Neuorientierung. Der Schmerz wird zum Tyrannen,54 zum Ungeheuer, dem nicht zu entkommen ist, demgegenüber man Ohnmacht und Hilflosigkeit erfährt. Freiheiten und die Mündigkeit werden eingeschränkt, was zu einer allgemeinen Verlorenheit des Ich, zum Gefühl der Ausweglosigkeit führt.55 Die Narration ist so angeordnet, dass sie zeigt, wie der Schmerz wächst, auch angesichts der Hilflosigkeit. Während als Ziel erscheint in den Schmerz auch sprachlich-narrativ einzudringen, wachsen jedoch dadurch nur Divergenz und Ohnmacht, das Ich verliert sich. Der Ich-Erzähler will immer tiefer in den Schmerz hineindringen. Die Figur wird zum Schluss ganz vom Schmerz eingenommen, anstatt ihn zu beherrschen. Sie kann nur noch unartikulierte Schreie äußern. Eine Negativität nimmt Überhand, wodurch die Wahrnehmung weiter verzerrt wird. In der Verzweiflung wird die Realität als ausweglos wahrgenommen. Die Figur Floras wird als eine Art allgemeiner Zustand des Menschen in einem grundlosen Universum entworfen. Das ist, was als Absurdität erscheint, als Ekel des sich Fremd-Werdens. Mora entwirft in der Figur Floras eine ›Schmerzensfrau‹.56 Ihre Wunden sind unsichtbar, und die Poetologie
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54 55
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Hier taucht eine Grundidee von Mora wieder auf, die bereits in Alle Tage eine zentrale Rolle spielt. In Bezug auf Ingeborg Bachmanns Gedicht wird die Situation des Krieges auf Dauer gestellt, »Panik ist der Zustand der Welt«. Der »Krieg wird fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden«. Bachmann: 1981, 46. Vgl. Scheffler: 2015, 9. Der Schmerzdiskurs kann als ein allgemeines Moment, als ein Modell der Reflexion auf die Ohnmacht des Ich gesehen werden, das einen Bogen spannt und von Sprachkrise und Sprachkritik über Handlungsunfähigkeit bis zur Erfahrung von totaler Desillusionierung reicht. Verstanden wird dies hier nicht allein als leidende Frau, sondern als Analogie, als weibliche Variante zur Ikonographie des sog. Schmerzensmannes.
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des Leidens, die in Bezug auf die Figur artikuliert wird, situiert die Leidende in einem areligiösen, säkularen Kontext, in dem das Leiden keinen Grund, keinen Sinn mehr hat. Es gibt kein Kreuz, man endet auf einem Baum hängend im Wald.
9.5
»›Alternativ‹ sollte ein jedes Leben sein.«57 Intermediale Grenzüberschreitungen
»Du kannst das Paradies nicht zur Voraussetzung/zum Ziel machen« (U 632), das Paradies als umzäunter, begrenzter Garten existiert genauso wenig wie die dritte Stufe triadischer Modelle als Re-Integration in eine feste Ordnung, egal ob es um das Modell der Liminalität oder ob es um Muster des Romans wie Bildungsroman oder Robinsonade58 geht. Grenzen und Wege werden neu definiert, erscheinen nicht mehr als feste, sondern als wandelbare Größen einer nie endenden Bewegung, der permanenten, nicht inszenierten Liminalität. Das Paradiesische und das Liminale oder Transitorische sind miteinander kollidierende Konzepte, die in Das Ungeheuer nicht nur als Themen dominant werden, sondern auch die Baulogik des Romans, so in seiner formalen, wie auch in seiner medialen Eigenheit hergeben Sukzession und Telos sind in der Textarchitektur nicht auszumachen, weder ein überirdisches noch ein immanentes Paradies erscheint. Die ganze Erzählstruktur entsteht ganz und gar als Gegenmodell. Allenthalben entstehen rhizomatische Labyrinthe im Textganzen, die Figuren suchen nach dem Weg, der sie heraus- oder hineinführen, also eine Art Lösung bringen würde, sie verirren sich jedoch bei jedem neuen Versuch immer mehr in sich unendlich öffnenden Wegen oder Systemen. Das lauernde Ungeheuer ist nicht mehr eine fassbare und demnach besiegbare Gestalt im Inneren des Labyrinthes, sondern die Ungestalt, die Unfassbarkeit des Labyrinthes selbst. Die Ungestalt im Doppel der gestaltlosen Gestalt manifestiert sich in der rhizomorphen Sicht auf die Welt. Es ist unmöglich, aus diesem Labyrinth theseusartig herauszukommen. Die Figuren sind keine Helden mehr, die eine Tat vollbracht haben,
57 58
U 632. Herv. i. Orig. Hält man sich vor Augen, dass im dritten Teil von Moras Trilogie, in Auf dem Seil, der männliche Protagonist wie ein Schiffsbrüchiger auf einer Insel ankommt und losgelöst von seinem alten Leben sich neu erfinden, seinen Weg finden muss, bekommt die Reprise auf die Robinsonade nicht nur in der weiblichen Form besondere Relevanz.
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sondern eher Sisyphus-Figuren, die ewig ihre Last tragen müssen. Die Frage ist nicht nur, ob die Sisyphusarbeit sinnstiftend werden kann,59 sondern ob es überhaupt noch etwas gibt, was man bewegen kann in einer Welt, die alle Konturen verliert. Korrespondierend zur männlichen ist auch die weibliche Hauptfigur ein Nomade, sie ist aber nicht im realen oder virtuellen Raum, sondern in der Textwelt und in der Fiktion unterwegs. Auch sie befindet sich auf Transit, wie sie sich vom einen auf den anderen Stuhl setzt (U 618), um den richtigen zu suchen. Ausgehend von ihrer schwierigen, unübersichtlichen, verwirrenden Situation konsultiert sie unendlich viele diverse Texte oder auch Filme, die für sie aber zu einer Art Labyrinth werden, in dem sie sich verliert, wie im Wald, aus dem sie nicht mehr herausfindet.60 Es ist unmöglich, sich in einem Muster einzurichten, darin heimisch zu werden, vielmehr geht es um das Ausprobieren diverser Alternativen, wodurch an Stelle von Geradlinigkeit, Kohärenz und Konsistenz vielmehr Heterogenität, Kontingenz und Fragmentiertheit treten. Es entsteht eine Struktur, die Prinzipien entspricht, die mit dem Rhizom verbildlicht werden können. Was als Erzählmuster sofort ins Auge sticht, ist das unendliche Themenaufgebot, das nur lose, mit Hilfe von Assoziationsketten, als Zusammenhang erscheint ohne einen thematischen Kern. Der Zusammenhang entsteht im unteren Teil zunächst dadurch, dass ein Ich- Erzähler das bunte Allerlei an Themen und Geschichten anbietet. Das unendliche Aufgebot von Sprachen und Themenkomplexen rankt ineinander und bildet so das Erzählgeflecht. Die Textverflechtung konstituiert sich aus der allgegenwärtigen Tendenz der Fortbewegung, der Suche. Das Rhizomatische ist hier in metaphorischem Sinn zu verstehen als Gleichnis für das Vieldeutige, Verrätselte, das eine Bewältigung nicht mehr unbedingt garantiert. Es ist mit dem Irrgarten zu vergleichen, steht für das Bild des Herumirrens und zugleich für die unendliche Suche, die nicht mehr von der Existenz des Gesuchten ausgehen kann.61 Das Labyrinth kann für 59 60 61
Vgl. Kern: 1982, Schmitz-Emans: 2000b, Schmitz-Emans: 2009. Vgl. dazu: Kern: 19824, 9. danach bedeute Labyrinth als Metapher eine »schwierige, unübersichtliche, verwirrende Situation«. Vgl. auch: Schmitz-Emans: 2000, 7ff. Kern: 1982, 14. Labyrinth im eigentlichen Sinne ist eine »graphische«, »geometrische« Form, die aus den eher unwesentlichen »Begrenzungsmauern« und aus einem Weg zwischen ihnen besteht, der nach »vielen Umwegen«, zum Zentrum führt. Symptomatische Merkmale des untersuchten Erzählgeflechts sind, dass es keine zwangsläufige Richtung im Erzählvorgang gibt, die in eine Mitte und daraus heraus führen könnte,
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Das Ungeheuer allein im metaphorischen Bedeutungsfeld gelesen werden, im Sinne eines undurchschaubaren Daseins ohne Einsicht, einen Anfang und ein Ende. In einem ›quasi modernen Labyrinth‹62 bewegen sich die Figuren, in dem sie sowohl als Theseus, als auch als die Mädchen oder das Ungeheuer erscheinen, wie auch die weibliche Figur einem Doppel entspricht, indem sie in sich auch das Ungeheuer entdeckt. Die rhizomatische Konstruktion ergibt eine paradigmatische Konstellation anstatt einer teleologischen Linearität. Das Erzählen wird nicht von einem Plan oder Zweck, sondern vielmehr vom Zufall und vom Spiel beherrscht, so dass die gradlinigen Handlungsabläufe unterbrochen und von überschäumende[n] Assoziationsreihen63 ersetzt werden. Das perspektivische Durchleuchten möglichst vieler Optionen, dieses Prozessieren des Erzählens wird durch die rhizomatische Darbietung möglich. Fülle, Mannigfaltigkeit, Komplexität64 werden beibehalten, indem die Inhalte nicht in ein einfaches Nacheinander gezwungen werden, sondern zugleich als Variantenreichtum von möglichen alternativen Zugängen erscheinen. Die genannte Komplexität entsteht auch dadurch, dass die seriellen Erzählsequenzen eine Art Simultaneität provozieren, indem sie »das lineare zeitliche Nacheinander« aufbrechen und »zeitlich Getrenntes in gleichzeitiger Wahrnehmung in Beziehung« setzen,65 so dass eine »Simultaneität« und »Koexistenz« der einzelnen Erzählsplitter, ja
62
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weil die dogmatischen Wege traditioneller Ordnungen, die als einzige Möglichkeit die Fortbewegung bedeuten würden, wie das im herkömmlichen Labyrinth der Fall ist, für obsolet erklärt werden. Auch Eigenheiten wie Isoliertheit und Eingeschlossenheit können als Korrespondenzen des Labyrinthischen betrachtet werden, denn es ist offenkundig, dass sich auch die Erzählinstanz des untersuchten Textes in dieser Situation befindet. Das Faszinosum an der Bewegungsfigur des Rhizoms könnte auch wegen des Unterwegsseins in der Erzählung bzw. in der Schrift als Sinnbild der Textbildung genommen werden, dennoch fehlen in ihm Merkmale der Individuation, der notwendigen Selbsterkenntnis, der Entwicklung zu einer runden, in sich ruhenden Persönlichkeit, die zu den Sinnbildern des Labyrinths gehören. (Kern: ebd., 447). Die Kreisbewegung wird vom Erzähler zwar heraufbeschworen, nur gibt es in Das Ungeheuer keinen Ausweg aus dem Kreis. Nach Kern stellt der Irrgarten unsere »zeitgenössische Bewusstseinslage« zur Schau, indem er das uralte Symbol des Labyrinths modernisiert und profaniert, sowie seine »eindeutige Führung« und Geschlossenheit aufbricht (ebd., 447). Schäfer: 1999, 54. Vgl. Haupt: 2002, 87. Blättler: 2003, 506.
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sogar eine Disjunktion heterogener Serien66 sichtbar wird, deren Entstehung eng an intertextuelle Verflechtungen gebunden ist. Durch das Nebeneinander öffnen sich ständig neue Anschlussmöglichkeiten für neue, beliebige Themenbereiche als Erkundung dieser Linien. Mangels eines sicheren Fokuspunktes und einer orientierenden Apparatur bleiben die Figuren und auch die Erzähler in den Wendungen (in beiden Bedeutungen des Wortes) und Windungen gefangen und irren herum. Wenn wir Revue passieren lassen, dass die mannigfaltigen Fragmente, aus denen sich sowohl im oberen als auch im unteren Teil das Erzählgewebe zusammensetzt, gleichrangig und gleichwertig sind, dass es im ganzen Geflecht keine Hierarchisierung gibt, erscheint plausibel, dass es hier um eine »Vielzahl gleichberechtigter Führungsansprüche«,67 um ein Rhizom geht,68 das darüber hinaus auch noch keine vorgegebenen Wege hat. Weil es »keine vorgegebene Architektur«69 mehr gibt, muss das Herumirren dominieren, durch das erst diverse alternative Architekturen entstehen. Für den vorliegenden Roman kann geltend gemacht werden, was SchmitzEmans über das postmoderne Labyrinth feststellt: Die teleologischen Denkmuster eines privilegierten Weges der Prä-Moderne werden obsolet, weil es keine Entscheidungen mehr zwischen Wahrem und Falschem gibt.70 In dem postmodernen Labyrinth gibt es keine Wege, weil sich alle Architekturen verflüssigen, so dass »ein bewegliches Knäuel von Wegen ohne Ziel und ohne Ursprung«71 entsteht. Figuren und Erzähler entwerfen eigene Wege ohne Wegweiser und Baupläne, weil die alle nicht mehr funktionieren. So werden verschiedene Baupläne des Romans bemüht, während der Explikation jedoch zugleich unterminiert.
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69 70 71
Ebd., 507. Kern: 1982, 13. Das Erste, was bei der Betrachtung des Themas ins Auge fällt, ist die für unsere Fragestellung zentrale Tatsache, dass diese labyrinthische Struktur zahlreiche unterschiedliche Wege anbietet (vgl. Kern: ebd., 13), die beschritten werden können. Diese Wege führen nicht zwangsläufig zu einem Zentrum, vielmehr stellen sie sich als Sackgassen heraus, oder als Linien, die »in die Irre führen« (ebd., vgl. auch: Schmitz-Emans: 2000, 21). Der grundsätzliche Unterschied zum Rhizom ist, dass es da gar keine vorgegebenen Wege mehr zu finden sind, wodurch auch das Irre-Gehen neue Konnotationen und Strukturen bekommt. Schmitz-Emans: ebd., 23. Ebd. Ebd., 24.
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Diesen Typ des Labyrinths nennt Schmitz-Emans in Bezug auf Eco Netz oder Rhizom, da hier jeder Punkt mit einem anderen verbunden werden kann. Die Ambivalenz dessen besteht darin, dass die Wahl des Weges zwar denkbar frei ist, dennoch ist es denkbar schwer zu beantworten, wo und ob das Ziel zu finden wäre. Die Wege entstehen, und hier ist wieder die eindeutige Korrespondenz zum vorliegenden Textgeflecht zu sehen, erst im Gehen. Sie sind zunächst virtuell72 vorhanden, und dies gilt selbst dann, wenn man sich nicht in der virtuellen Welt der neuen Medien bewegt. Die Verfasserin der Dateien sucht ja explizit nach alternativen Modellen, die es gibt, die aber nie realisiert wurden (U 629), denn die »Minimalvoraussetzung für alle Welten muss lauten: Glück ist, wenn du wenigstens zwei Alternativen hast« (U 632). Das Faszinosum an dieser Bewegungsfigur des Rhizoms könnte auch wegen des Unterwegsseins in der Erzählung bzw. in der Schrift als Sinnbild der Textbildung genommen werden. Die Kreisbewegung wird vom Erzähler zwar heraufbeschworen, nur gibt es in Das Ungeheuer keinen Ausweg aus dem Kreis, das Erzählen bleibt ein Einkreisen, in dem nur durch den Tod »eine endgültige Lösung gefunden« werden kann (U 633). Dieses Ausprobieren ist das poetologische Muster, aber auch das epistemische Modell des Romans. Es gibt hier keine festen Strukturen und Ordnungen, die vorgegebenen Muster der Tradition werden beliebig miteinander verknüpft, wobei nicht Exklusion, sondern vielmehr Inklusion dominiert. Das identitätslogische Denken als richtig vs. falsch ist passé, vielmehr geht es um ein performatives Modell des Passens, in dem die Überlieferung als Steinbruch73 herhalten kann und die Tradition in ihrer Instituierung zugleich destruiert wird. Akzentuiert werden Vielheit, Heterogenität, a-zentrische und a-hierarchische Verbindungen, kurz rhizomatische Wahrnehmungs- und Ordnungsfiguren. Signifikant in ihnen sind auch vorläufige Konfigurationen, die immer neue Möglichkeitsräume, und wie es im Text heißt, »Alternativen« öffnen (U 632). Es geht um eine alternative Wissensorganisation und ein Wissensmanagement, in denen die Vielheit, die Mannigfaltigkeit und generell die Subversion des binären Denkens konstitutiv wird. Es entstehen keine binären Ordnungen und Oppositionspaare, sondern vielmehr komplexe Beziehungsnetze, die nicht statisch, sondern nur in ihrer Instabilität und Prozessualität erfahrbar sind. 72 73
Vgl. ebd., 26. Vgl. Broich: 1985.
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Die (Un)Struktur des Rhizoms bekommt in Bezug auf den Roman Das Ungeheuer noch eine zusätzliche Konnotation. Das Rhizom stellt auch medientheoretisch gewendet ein neues Leitparadigma her.74 Um die medienreflexive Zurichtung des Romans weiterdenken zu können, müssen noch einige medientheoretische Fragen diskutiert werden, vor allem die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Buch und digitalen Medien. In Das Ungeheuer ist dieses Doppel nicht nur thematisch präsent, sondern auch in der unübersehbaren formalen Tatsache, dass das Buch im unteren Teil diverse Dateien bündelt, und so schon eine Transformation aus dem einen in das andere Medium schafft, wobei sie doch in vieler Hinsicht unterschiedliche Strukturen haben. Nach Bolz und Winkler75 reagiert in der Gegenwart auch das Buch auf die zunehmende Komplexität und erprobt alternative Ordnungsmuster, was zu Hybridbildungen, also zur medialen Grenzauflösung führt. Dies kann auch für den hier untersuchten Roman nachgewiesen werden. Um das Untersuchungsfeld weiter abzustecken, sollen nun die Mechanismen der medialen Hybridisierung ins Blickfeld gerückt werden. Die Grundlage ist hier für beide (Buch, digitale Medien) die Sprache und die Schrift. Geht man aber über diese Konvergenz hinaus, nimmt man die Organisationsstrukturen ins Visier, tun sich zahlreiche maßgebliche Divergenzen auf. Während die klassifikatorische Ordnung in der Gutenberg-Galaxis alphabetisch, linear, kausal organisiert ist, ist Wissensmanagement und -speicherung in der digitalen Ära akausal, nichtlinear, also vielmehr mit Rekursivität, Konfiguration, Konstellation zu modellieren und entspricht einem gewandelten Komplexitätsmanagement. Das Augenscheinlichste ist, dass der Roman Das Ungeheuer, genauer seine Blattseiten, als ein Bild bzw. wie ein Bildschirm, auf jeden Fall aber wie eine Fläche wahrgenommen werden müssen, um die Trennung der beiden Teile durch den Strich zu realisieren, wodurch die Linearität gebrochen wird. Die einzelnen Seiten des Buches treten in ihrer Zweidimensionalität und Räumlichkeit vor Augen und widersprechen somit der Sukzession der Schrift, beziehungsweise ergänzen, erweitern diese in einer intermediären Relation. Es muss also von einer medialen Inszenierung gesprochen werden, die ein ständiges Oszillieren zwischen Schrift und Bild, Zeile und Fläche, Zeit und Raum erfordert. Die Differenz der Ausdrucksformen wird in dieser Konfiguration 74 75
Vgl. Bolz: 1993. Vgl. Winkler: 2002, bzw. Bolz: 1993.
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wahrgenommen.76 Es entsteht eine Medienkombination, die den Blick auf die Metareflexion, konkret auch auf die mediale Verkörperungsform lenkt. Steigt man dann linear in den Text ein, ist man in der unteren Blatthälfte mit der leeren Fläche konfrontiert, wobei der Versuch der linearen Lesart versagt. Erreicht man dann im unteren Teil den Text, die Notizen der weiblichen Figur, sieht man, dass die eigentlich als Dateien konzipiert sind, also mit dem Computer geschrieben und dort gespeichert wurden. Dadurch weichen sie von nicht digitalen Aufzeichnungen ab, da hier Schreiben und Text auseinanderfallen. Darüber hinaus können Dateien unterschiedlich gespeichert und in einer beliebigen Reihenfolge geöffnet werden, was aber durch die Buchform schwindet. Für den fiktiven Leser, Darius, wird die Frau durch das elektronische Medium noch weniger greifbar als in einem analogen Speicherungsund Übertragungssystem. In der Begegnung des männlichen Protagonisten mit den Dateien ist das technische Gerät dazwischengeschaltet. Auch wenn der Rezipient in vieler Hinsicht analog zum Protagonisten verfährt, verfahren muss, fehlt hier das Gerät, denn der reale Leser ist mit dem Medium Buch konfrontiert. Moras Buch Das Ungeheuer ist demnach ein Zwitter, denn es imitiert zwischen zwei Buchdeckeln und durch die Schrift elektromagnetische Lese- und Schreibsysteme. Durch das Nacheinander der Dateien schwinden Alternativen, die Komplexität wird reduziert. Da zwischen den Dateien weder eine Chronologie mit Sicherheit festgelegt werden kann noch eine Kausalität auszumachen ist, könnten sie auch im Buch ihrem Format entsprechend fast in beliebiger Reihenfolge betrachtet werden. Diese von der Tradition des Buches abweichenden Muster entstehen durch neue Verbindungen, dadurch, dass Charakteristika unterschiedlicher Medien ineinander geblendet und ästhetisch dienstbar gemacht werden. Das Buch kann als inter-medial betrachtet werden, denn es überführt das »multi-mediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander« und eröffnet dadurch »neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens«.77 Fragt man mit Füger danach, wo Intermedialität78 beginnt, muss in Bezug auf den Roman behauptet werden, dass es hier auf der Reflexionsebene auch
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78
Vgl. Wirth: 2007, 254-257. Müller: 2009, 31. Müller spricht sich generell gegen die traditionelle Vorstellung »isolierter Medien-Monaden« aus und beweist ein seit der Antike vorhandenes Konzept von Intermedialität. Vgl. ebd. Fügers Aufsatz trägt den Titel: »Wo beginnt Intermedialität?« Vgl. Füger: 2009, 41-57.
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um den ersten Schritt der Transformation vom Prämedialen in die Mediatisierung79 geht, was oben in Bezug auf Übersetzung des Nicht-Sprachlichen in Sprache bereits gezeigt wurde. Der Argumentation Fügers folgend muss aber auch betont werden, dass diese Transformation unterschiedlich verläuft, abhängig davon, ob es sich um die orale oder skripturale Form bzw. um Poesis oder Mimesis, ob es um die Sprache der Fiktion oder der Wissenschaft geht. Das Prämediale erscheint hier zum einen transportiert in umgangssprachliche Formen der gesprochenen Sprache, weiterhin im Versuch, das NichtSprachliche mit dem medizinischen Diskurs zu fassen oder diesem Prämedialen mit Hilfe der poetischen Sprache gerecht zu werden. Das alles wird in das Medium der Schrift übertragen, wobei auch auf die Reflexion dieses Mediums großer Wert gelegt wird, denn sie wird in ihrer optischen Wahrnehmung durch Kursivierungen, Durchstreichungen, Groß- und Kleinschreibungen, Verwendung von Klammern und Anführungsstrichen, durch die Anordnung der Sätze bzw. der Zeilen auf der Seite, also durch Verfremdungstechniken entautomatisiert. Die Übersetzung der nichtschriftlichen Form in die Schrift wird, genauso wie bei der Sprache, nicht als selbstverständlich hingenommen, die Verfremdung kehrt gerade die Medialität hervor, indem die Form nicht hinter dem Inhalt verschwindet, sondern auf unterschiedliche Arten sichtbar gemacht wird. Die Verkörperung in der Schrift versucht den Prozess der Verschriftlichung darzustellen, bei dem z.B. die verworfenen Elemente nicht eliminiert werden. sondern in der durchgestrichenen Form erscheinen und auf den Prozess des Denkens und der Übersetzung hinweisen.80 Durchbrochen wird dadurch die Annahme, dass die Schrift durch die lineare Anordnung nur ein bestimmtes Element zur Geltung bringen würde, wobei andere Elemente ausgeschlossen werden müssten.81 In Das Ungeheuer, aber auch in anderen Texten Moras, bedeutet Schrift keinen Ausschluss, und die optische Erscheinung rekurriert auf einer reflexiven Ebene auf dieses Charakteristikum. Hier wird das Denken trotz der Verschriftlichung nicht diszipliniert, es bleibt vielmehr ein vagabundierendes Denken, das sich auch in der schriftlichen Form manifestiert. Trotz der Schrift bleiben die alternativen Möglichkeiten, das gleichzeitige Nebeneinander präsent. 79 80
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Vgl. ebd., 41. Die durchstrichenen Elemente werden gerade durch diese Erscheinungsform noch hervorgehoben, sie treten mit der akzeptierten, nicht durchgestrichenen Variante in einen Dialog ein und haben so eine Kippfigur als Resultat, was die Bedeutungskonstitution stört, und in vielen Fällen zu einem unidentifizierbaren Rauschen führt. Vgl. Winkler: 2002, 22.
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Verfolgt man weiter Beschaffenheiten der Schrift, muss sich das interpretatorische Interesse weiteren Aspekten dieses Mediums zuwenden. Der Fokus liegt hier auf Zeitlichkeit und Kausalität. Wenn die Schrift in der Theorie mit konsekutiven, konditionalen bzw. kausalen Denkschemata verknüpft wird,82 kann die Schreibpraxis des Romans als eine Abweichung von diesen charakterisiert werden.83 Zeitliche Abläufe werden nicht genau geordnet, UrsacheFolge-Verhältnisse interessieren nicht. Wie Sukzession und Linearität werden auch Denkschemata der Kausalität subvertiert und Ursache-WirkungKonstellation durch das Modell der Konfiguration ersetzt.84 Verwirklicht wird hier eine Art simultanpräsenter Darstellung, die sich in intermedialen Bezugnahmen artikuliert. Wir haben es mit einer Amalgamierung, mit Überblendung der verschiedenen Medientechniken zu tun. Mediale Eigenheiten unterschiedlicher Herkunft fließen ineinander, indem die Anordnung der Schrift den Rezipienten zu Switching zwingt zwischen normalem und durchgestrichenem Text, zwischen oben und unten u.s.w. Gerade der Wechsel zwischen den getrennten Blattteilen wird nicht gesteuert, eine punktuelle Vernetzung wird individuell erzeugt, so dass im Prinzip jeder Rezipient, aber auch jedes neue Lesen neue Verbindungen und Texte generiert.85 Der Roman wird zu einer Art Hypertext,86 der keine verbindliche, feste Form hat. Folgt man der 82 83
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Vgl. ebd., 23f. Sowohl z.B. Bolz oder Winkler gehen darauf ein, dass in den vergangenen Jahrzehnten (aber vielleicht schon seit der Moderne) in der Literatur Darstellungsmodi auftreten, die Linearität, Kausalität der Schrift subvertieren. (Vgl. Bolz:1993, 202, bzw. Winkler: 2002, 23.) Diese wären nach Winkler essayistische, gebrochene, offene Strukturen, die sich nach Winkler auch in der Musik nachweisen lassen. (Erwähnt werden muss hier, dass Bolz und Winkler in ihren medientheoretischen Arbeiten zwar unterschiedliche Auffassungen vertreten, doch weisen sie beide –obzwar mit unterschiedlichem Vorzeichen – auf diese Tatsachen hin.) Vgl. Winkler: 2002, 24. Diese Konfiguration wird in den Texten mehrfach mit dem Bühnenbild und seiner Umstellung metaphorisiert, also aus der Sukzession in das Räumliche übertragen. Dadurch geschieht selbstverständlich eine rezipientengesteuerte Kohärenzbildung. Nach Hickethier ist dies eine »kulturelle Disposition«, die bereits durch das Fernsehen (Zappen mit der Fernbedienung) »angelernt«, Teil der Medienwahrnehmung ist und sich bereits habitualisiert hat. (Vgl. Hickethier: 2010, 116.) Das Modell ist also durch andere Medien im Rezipienten internalisiert, und wird bei Mora im Medium des Buches durch die Konfiguration der Schrift hergestellt. Es ist klar, dass es hier nicht um einen ›richtigen‹ Hypertext geht, denn es gibt keine technische Apparatur, und es gibt auch keine exakte Verlinkung durch vorgegebene Links. Es gibt im Text allerdings im unteren Textteil immer wieder Seitenzahlen mit
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Annahme, dass der Hypertext sich durch Offenheit, Variabilität, Kombinatorik und Partizipation auszeichnet,87 ist eindeutig, dass Das Ungeheuer diesen Paradigmen entspricht. Der Roman weist keine lineare, sondern eher eine knoten- oder knäuelartige Struktur88 auf, er verläuft quer zur Linearität, bzw. ist eine Mischung aus Linearität und Nicht-Linearität. Was allerdings dem Hypertext-Prinzip entspricht, ist, dass mit der Linearität gebrochen wird, da immer wieder mindestens zwei Wege offen stehen.89 Der Leser partizipiert an der Welt der Fiktion, Alternativen, zwischen denen die Figuren eine Wahl treffen müssen. Der Leser muss navigieren, den Weg managen, womit er eine Art Browsing praktiziert.90 Der jeweilige Leser muss den Text performativ, in actu selbst zusammenstellen. Dies subvertiert die Idee, dass Texte zur Übermittlung von Inhalten dienen, denn es gibt keine Mitteilung im konventionellen Sinn. Durch die Rekurrenz des Textes auf mäandierende Darstellungsmodi wird dies nur noch betont. Das Buch suggeriert Greifbarkeit, Ordnung und Sicherheit, dadurch aber Überschaubarkeit und Trost in einer Welt der sich steigernden Komplexität. Trotz der das analoge Notationssystem auflösenden Techniken bleibt das Buch ein Ort der humanen Kompensation.91 Der Roman Das Ungeheuer strebt mit zahlreichen Modi die Unterminierung des Mediums Buch und seiner Exemplifikation in Form des Romans an und erzeugt damit eine Chimäre. Geht man davon aus, dass die Robinsonade auch die Entstehungszeit der Gattung des Romans bedenkt, der in dieser Form die »Diskursfiguration der neuzeitlichen Moderne reflektiert«,92 kann hier geltend gemacht werden, dass hier die Gattung, also das Buch selbst auf dem Prüfstand steht. Die Robinsonade ist also auch in dieser medialen Hinsicht auf zeitgenössische Zustände zugeschnitten. Durch den Aufbau und noch mehr durch die Hauptfigur, der Self-made-man, steht das starke Subjekt, das alles regelt und ordnet, alles managt im Zentrum, was die Figuren bei Mora, selbst wenn sie
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einem Pfeil, die man als Links deuten könnte. Man hat aber keine Anhaltspunkte, wie sie zu verstehen sind, ob sie auf den unteren oder oberen Textteil verweisen und eine Art Leserichtung angeben wollen, oder womöglich auf andere Texte hindeuten. Vgl. Hickethier: 2010, 116. Vgl. Schmitz-Emans, die das Rhizomatische als Knäuel bezeichnet. Vgl. Hickethier: 2010, 116ff. Vgl. ebd., 117. Der Rezipient wird zum Pendant der Figuren und partizipiert auch an deren Orientierungslosigkeit. Vgl. Bolz: 1993, 196ff. Torke: 2011, 31.
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Manager sind, nicht mehr können.93 Wegen der Isolation kann der Held nur auf die Ressourcen zurückgreifen, die er in seinem Umfeld verinnerlicht hat. So steht »die ganze Kultur, die ihn hervorgebracht hat« auf dem Prüfstand.94 Gerade bei dieser Prüfung wird klar, dass die Protagonisten Moras sich in ihrer Individuation nicht mehr auf den Glauben an den Verstand und an den Willen, sowie an die Rückversicherung von der Religion berufen. Auch die Kulturtechnik des Schreibens ist ein Modell, das dem Helden bei der Selbstversicherung beisteht. Analog dazu stehen auch bei Flora alle Angebote ihres Umfelds zur Verfügung, auch sie stellt die eigene Kultur auf den Prüfstand, die aber versagt. Sinnstiftungsangebote verschiedener Religionen und auch Sinnstiftungsangebote der Literatur werden, wie auch in Anlehnung an die Robinsonade, durchgespielt, sie können aber nicht instituiert werden, sondern werden stattdessen subversiv unterminiert. In der Erinnerungsarbeit der Figur, die auch hier an das Schreiben, allerdings nicht mehr an die Handschrift und an den Schriftkörper, der auf Papier entsteht, gebunden ist, erscheinen auch die Gattungen als Erinnerungsorte, die jedoch ihre Funktion als tragbare Modelle verloren haben, nur noch ex negativo erscheinen. Wenn die weibliche Robinsonade die »introspektive Verlagerung des Sujets« mit sich bringt und die Einengung der Frau durch die Isolation veranschaulicht,95 kann dieses Modell hier in seiner Funktion als Möglichkeit und Modell der Individuation keine Relevanz mehr bekommen. Der Roman als solches, seine traditionellen Sinnangebote und Subjektkonzepte stehen hier im Kontext und in der Form der Robinsonade auf dem Prüfstand, mit ihnen aber auch eine kulturelle Ordnung und daran gebundene Denk- und Verhaltensschemata und nicht zuletzt Schreibpraxen. Der Roman kann »an der Schwelle des 21. Jahrhunderts« (U 89) diese Angebote nicht mehr ernst nehmen, womit aber am Ende der Gutenberg-Galaxis auch die Frage nach dem Roman schlechthin gestellt wird. Diese poetologische Selbstreflexion und das gattungstheoretische Selbstverständnis sind damit verbunden, dass die eigene Medialität auch ästhetische Aspekte berührt. Nimmt man die Medialität und Materialität des Buches Das Ungeheuer in den Fokus, wird klar, dass es in einer liminalen Umbruchsphase am Ende der medientheoretischen Ära des Buches und am Beginn der
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Das alles betrifft selbstverständlich auch den Rezipienten, von dem vollkommen unterschiedliche Haltungen gefordert werden. Torke: 2011, 31. Ebd., 194.
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Ära der neuen, digitalen Medien steht.96 Um den Gedankengang weiterführen zu können, wie das Liminale mit der Reflexion des Gattungsparadigmas verschmolzen wird, soll der Blick erneut auf das Rhizomatische gerichtet werden. Der Ausganspunkt ist, dass der Roman in der Tradition als eine Einheit betrachtet wird. Er muss gleich sein »mit einem wohl gemachten Cörper/und zusammen gesetzt auß verschiedenen unter einem einzigen Haupt geebneten Theilen«. Die »vornehmste That oder Handelung« ist das »Haupt das Romans« und es ist »enig«, wobei die anderen Taten und Handlungen als die »Glieder« angesehen werden, die sich aber »nach diesem Haupt richten«, dass sie sich dem »unterwerffen«, sonst würde der Roman einem »Leihnamb« mit »vielen Hauptern« gleichen und dementsprechend »ein Monstrum und garstig sein«.97 Diese aus dem Jahr 1670 stammende Definition versteht den Roman als eine Einheit, die einen streng hierarchischen Aufbau hat. Diese Auffassung des Wohlgeformten beherrscht lange die Romantradition. Die Struktur der Romane Moras ist dem diametral gegenübergestellt, und gleicht statt des wohlgeformten Körpers einem antihierarchischen Wurzelsystem, das mit dem Bild des Rhizoms gefasst wird. Merkmale des Rhizoms sind Konnexion und eine relationale Heterogenität, indem es »unaufhörlich semiotische Kettenglieder« verbindet.98 Während das Buch binär ist, immer aus einer Einheit hervorgeht, ein Zentrum hat und somit der Einheit der verwurzelten Baum-Struktur ähnelt,99 ist das Rhizom ein »Zwischenstück«, ein »Intermezzo«,100 das weder Anfang oder Ende noch ein Zentrum hat. Hier verkümmert die Hauptwurzel, wodurch ein »Nebenwurzel-System« entsteht.101 Beherrscht wird diese Struktur von Mannigfaltigkeit, Kontingenz und Formenvielfalt. Somit lehnt es sich gegen jede Form und Einheit auf.102 Die Form 96
Die verschiedenen Leitmedien entwerfen unterschiedliche »Zeichen-Räume, innerhalb derer sich die verschiedenen Botschaften und Texttypen entwickeln«. Großklaus: 2002, 81. 97 Huet, 1966 (Faksimiledruck), hier zitiert nach Helduser 2009: 669. Hervorhebung vom Verf. 98 Deleuze, Guattari:1992, 16. Die Vielheit ist eine zentrale Idee im Zusammenhang mit dem Rhizom und den darin entstehenden signifikanten Brüchen und Verbindungen, Deterritorialisierungen und Reterritorialisierungen, die alle mit den Grundsatzfragen dieses Buches zusammenhängen. 99 Vgl. ebd., 14. 100 Ebd., 37. 101 Ebd., 15. 102 Vgl. ebd., 18.
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wird mit ›wuchern‹ beschrieben, was dem nomadischen Prinzip entspricht. Dieses Modell verbildlicht, wie oben bereits ausgeführt wurde, das nomadische Denken und eine solche Verschriftlichung, die Organisation des Textes als Verknäulung, Gewebe und Netz. Das Rhizom wird als eine Metapher einer postliterarischen Kultur aufgefasst, die Dualismen und damit kulturelle Ordnungen und Übereinkünfte hinterfragt. Entspricht der Roman dem Wissensbau der Aufklärung, so muss er für die Wissensorganisation der neuen Medienwelt eine davon abweichende Form annehmen. Da kommt die Forderung nach einem Rhizom-Buch her.103 Mit dem ›Monster‹, dem Ungeheuer des Rhizom-Buches, sind wir an der »medientechnischen Schwelle« des 21. Jahrhunderts angekommen.104 Bedenkt man mit McLuhan, dass das Medium nie neutral, nie inhaltsleer nur ein pures Transportmittel ist, sondern die Botschaft, Inhalte, Struktur und Bedeutung105 mitbestimmt, sie sogar konstituiert, ist klar, dass die digitalen Medien eine signifikante Abweichung von der Gutenberg-Galaxis aufweisen. Führte die durch den Buchdruck und das stille Lesen sowie durch die Isolation entstandene Wahrnehmung zu einem neuen Selbstverständnis des Einzelnen, zur Konstitution des Individuums,106 so wird im neuen Medienzeitalter gerade dieses Individuum, das auch als Zentrum des Romans gesehen werden kann, dissoziiert. Logozentrische narrative Strukturen zerfallen, sie werden von ikonozentrischen verdrängt,107 damit bekommt aber die Fläche statt der Linie eine zentrale Bedeutung, eine labyrinthisch-rhizomatische Struktur scheint zwischen den Buchdeckeln auf, was auch den linearen Lektüreprozess unterminiert. Festgestellt werden kann, dass die Romane Moras, allen voran Das Ungeheuer, die Möglichkeiten neuer Medien erproben. Durch typographische Gestaltung und graphische Anordnung wird nicht allein der Lektüreprozess präformiert, sondern auch die gestalterischen Normen des Romans werden durch das experimentelle Arrangement gesprengt. Der rational geordnete Diskurs schwindet nicht vollkommen, denn er erscheint durch die Allusion auf die Robinsonade, die ihrerseits bei der Entstehung der Gattung zur Konstituierung der Norm beigetragen hat. Die Transformation dieser Norm geschieht in Das Ungeheuer anhand des inversen Ineinanderwebens verschiedener Diskursformationen und Medien, die im Einzelnen nicht zur 103 104 105 106 107
Vgl. ebd., 38. Bolz: 1990b, 25. Vgl. McLuhan: 1995, 21. McLuhan: 1968, 113. Dücker: https://themen.iablis.de/2007/duecker07.html (Gesehen am 02.02. 2019).
9 Ein Nomade in der Textwelt: Intertextualität statt Lebensweltlichkeit
Geltung kommen können, sondern im Zusammenspiel zu einer Bedeutungsexplosion führen oder einander auslöschen. An Stelle von Hierarchie tritt eine horizontale Organisation, statt Ordnung Diffusion, denn die digitale und netzförmige Kommunikation verändert die Wahrnehmung und das Wissensregime der Gegenwart,108 ihre Wirklichkeitsmodelle, Wertstrukturen etc.109 Ein zentraler Angelpunkt dieser Änderungen ist, dass die neuen Medien einerseits nicht mehr hermeneutisch sind,110 während die Lektüre des Buches Bedeutungskonstitution voraussetzt. Andererseits geht es beim Buch um intellektuelle Erkenntnis, während die neuen Medien vielmehr mit physiologischen Effekten verbunden sind.111 Es geht nur noch um die Wahrnehmung, und nicht mehr um die Deutung.112 Bedeutungszuschreibungen lösen sich auf. Trotz all dem geht es hier um ein Buch und um einen Roman. In Szene gesetzt wird aber in dem Roman ein Aufenthalt auf der Grenze, im liminalen Zustand zwischen den beiden hier kurz skizzierten Paradigmen. Weder für das eine noch für das andere wird ein Votum abgegeben, vielmehr geht es hier um die Inszenierung möglicher Konstellationen auf der Schwelle, auf dem Seil. Argumentiert man mit Bolz, wird der Roman, trotz Identitätsangeboten anderer Medien, auch in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen, da es ein dem Menschen entsprechendes Medium ist. Auch wenn der Roman heute im Wissensmanagement, oder in der Formulierung von Bolz im »Wissensdesign«, anderer Medien rekapituliert und dadurch neue Wege geht, bleibt er trotz der Medienkonkurrenz erhalten.113
108 Zum Begriff Wissensordnung bzw. Wissensregime siehe Coy:2002, 29f, bzw. Großklaus: 2002, 89. Der Wechsel der Leitmedien bringt eine Änderung der Wissensordnung, des Wissensregimes, des Wissenstransfers mit sich. Damit verändern sich auch die Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Kommunikation und auch die der Wissenserzeugung. Vgl. Großklaus: 2002, 87f. 109 Ebd., 78. 110 Vgl. Bolz: 1990b, 7. 111 Vgl. Bolz: 1990b, 44. Zu bemerken ist hier, dass Bolz diese Verschiebung nicht um 2000 ansetzt, sondern um 1900, denn seine Argumentation bezieht sich auf Baudelaire, Nietzsche, Wagner, Benjamin u.a.m. Die »Mediale Epochenschwelle« ist bei ihm in dieser Zeit anzusetzen, von der er behauptet, die Kunst sei »jenseits der Bücher angesiedelt« z.B. in Wagners Gesamtkunstwerk. Vgl. ebd. 24. 112 Vgl. Bolz: 1990b. 84f. 113 Bolz präzisiert den Funktionsverlust des Buches in Am Ende der Gutenberg-Galaxis 1993.
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10 »Wir leben alle auf der Straße«. Liminalität und Normalisierung in Auf dem Seil
10.1
Bewegung und Liminalität
»Wir sind immer noch unterwegs, aber wir wissen nicht mehr wohin«, diagnostiziert Zygmunt Baumann1 ein zentrales Moment der (post)modernen conditio humana. Transit, verschiedene Modelle des Unterwegs-Seins und der Bewegung sind auch basale Elemente der Kopp-Trilogie von Terézia Mora, in der es – korrespondierend mit der Feststellung Baumanns – um zielloses Unterwegssein geht, was auch im mehrfach wiederkehrenden Satz »Wir leben alle auf der Straße« (AS 127, 184) zum Ausdruck kommt. Nicht anders ist dies im letzten Teil, in dem, wie bereits der Titel zeigt, der Protagonist – zumindest metaphorisch – sich auf einem Seil bewegt. Die genannten Metaphern der Bewegung bringen Befindlichkeiten der Gegenwart zum Ausdruck, die im Laufe dieses Kapitels spezifiziert werden sollen. Das omnipräsente Schlagwort der Bewegung, als markantestes Signum unserer Zeit, wird, so in der Theoriebildung wie im Roman, als Gegenpart von Beständigkeit und Ordnung konzipiert und Hand in Hand damit mit Vagheit, Fragilität der Weltund Selbstordnung assoziiert. Transformationen, Konzepte von Unschärfe und Instabilität sind auch im dritten Roman zentrale Angelpunkte, die sowohl thematisch als auch in Bezug auf die Narration signifikant werden. Diese fluide Verfassung der Zustände lässt keine Möglichkeit des Bewahrens zu. Es gibt kein langfristiges Bestehen. Die Ordnung der Gesellschaft, die Beständigkeit des Subjekts und die Stätigkeit seiner Verhältnisse werden in der Metaphorik der Bewegung hinterfragt2 . Zu fragen gilt im Folgenden erstens wie, in wel1 2
Baumann: 1997, 61. Reckwitz stellt Gleichförmigkeit und Bewegung einander gegenüber, wenn er versucht, dem Subjekt der Gegenwart auf die Spur zu kommen. Gleichförmigkeit hieße in
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
chen Modellen sich die Fluidität artikuliert und zweitens, wie vor dem Hintergrund dieser Dispositionen eine Orientierung für die Figuren, aber auch für die narrative Gestaltung möglich wird. Hier stellt sich die Frage, ob das Seil, als Ort von Balanceakten, Semantiken und Modelle der Mitte heraufbeschwört, oder ob das Seil als Richtschnur erscheint, als eine Art Faden, an dem man entlanggehen kann, sei es die Figur oder die narrative Bewegung. Einen Pfeiler der Argumentation bildet auch in Bezug auf diesen Roman das Konzept der permanenten oder nicht inszenierten Liminalität, mit der gesellschaftliche Befindlichkeiten, Subjekttypologien aber auch narrative Muster gefasst werden können. Fokussiert werden soll dabei auch auf Bewegung als heuristische Kategorie (Reckwitz) in Bezug auf das Subjekt und seine Konstitutionsformen. Das interpretatorische Interesse muss sich deswegen auf diese Konzepte lenken, da Auf dem Seil als eine Art Entwicklungsroman gelesen werden kann, in dem es zwar nicht mehr um das »Wilhelm Meisterliche Lebenlernen«3 geht, wir sind doch – mit Baumann gesprochen – nach dem »Ende der Entwicklungssaga«4 . Nichtsdestotrotz nimmt im Roman Auf dem Seil das Lernen eine fundamentale Rolle ein. Die Reise von Darius wird im Nachhinein als »Bildungsreise« (AS 248) dargestellt, während der man eine Menge lernen konnte. Was genau, ist nicht richtig festzustellen. Es geht bei dem Weg zwar nicht mehr um die »Freude an Handlung«,5 Emanzipation oder bewusste Steuerung, doch ist ein Erkenntnisgewinn zu verzeichnen. Man weiß nun, »welche Teile der Realität man durch Willen verändern kann und welche nicht. Was gegeben ist und was nicht« (AS 248). Die Leitideen für das Lernen sind nicht mehr »Willen oder Wünschen« (AS 249). Es geht vielmehr darum, dass eine Bewegung des Dazulernens durch Modi der Aufmerksamkeit (Waldenfels) ermöglicht werden kann, und somit ist der Protagonist nicht mehr nur zur »Flucht aus dem Leben«6 gezwungen.
3 4 5 6
diesem Sinne Wiedererkennbarkeit sowie Berechenbarkeit, diese zwei Charakteristika sind jedoch dem gegenwärtigen Subjekt nicht eigen. Das wird mit dem Schlagwort der Bewegung konzipiert und nicht mehr mit dem bürgerlichen, sondern dem avantgardistischen Subjektmodell verbunden. Auf diese Konzeptualisierung wird noch einzugehen sein. Vgl. Reckwitz: 2004, 155-184. Hofmannsthal: 1956, 148f. Baumann: 1997, 59. Hofmannsthal: 1956, 148. Ebd.
10 »Wir leben alle auf der Straße«
Die Aufmerksamkeit bekommt hier als Schwellenfigur, als »Doppel- und Zwischenereignis«7 besondere Relevanz. Sie wird als eine Art Kipp-Figur zwischen »affizierende[r] Widerfahrnis« und der darauf gegebenen Antwort8 zur Basis der Textarchitektur. Das Subjekt Moras entspricht auch in diesem dritten Roman nicht mehr den Subjektcodes des bürgerlichen Subjekts, der Stetigkeit und Gleichförmigkeit, obwohl im Vergleich mit den zwei anderen Teilen der Trilogie eine markante Änderung zu verzeichnen ist. Diese Modifikation ist als Resultat von immer wieder aufblitzender Aufmerksamkeit zu sehen. Selbst nach Verlust von traditionellen Problembewältigungspraktiken, was sich auch in Subjektkonzepten artikuliert, kann sich das Individuum mit Hilfe von Aufmerksamkeit zeitweise vorübergehend stabilisieren. Auch in Auf dem Seil kann der Protagonist einerseits mit dem Fokus auf Bewegung mit Baumanns Modellen des Touristen, des Spielers, des Vagabunden beschrieben werden, andererseits kann die Hauptfigur mit Akzent auf diskursive und narrative Einbettungen als das avantgardistisch-ästhetische Subjekt (Reckwitz) typologisiert werden. Das »Ende der Entwicklungssaga« (Baumann) hängt auch damit zusammen, dass der Glaube an einer vorgegebenen Weltstruktur verschwindet. Dies bedeutet gleichzeitig die Nivellierung einer festgelegten, manifesten Struktur des Selbst. Ordnungen sind disponibel, ihre Wege und Strukturen entstehen performativ. Ordnung befindet sich im permanenten Umbau, sie muss immer wieder neue konstituiert werden. Ganzheit wird durch Partialität, und Serialität, Geradlinigkeit durch Komplexität ersetzt. Multiple Auffächerungen und Pluralisierungen geben einen ständig wandelnden Rahmen her, eine »Ordnung in Potentialis«,9 in dem sich der Mensch, wie von Sofa zu Sofa, von einer vorübergehenden zur nächsten flüchtigen Bleibe bewegt. Es geht dabei um ein »Offenhalten von Optionen«,10 um »Vermeidung jeglicher Festlegung«,11 um Fluidität und permanente, nicht inszenierte Liminalität. Die »Regime der Selbstformung«12 gehorchen nicht der Gleichförmigkeit13 , son-
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Waldenfels: 2004, 17. Ebd. Waldenfels: 2006, 19. Baumann: 1997, 133. Ebd., 146 Ebd., 186. Ebd., 182. Von der Gleichförmigkeit spricht auch Reckwitz als ein Charakteristikum des bürgerlichen Subjekts.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
dern entstehen in einem, dem Ästhetischen ähnelnden, Prozess des Fingierens und Projizierens von Alternativen. Die Frage nach Selbstbehauptung ist eine der zentralen Ideen des Romans, durch die die Trilogie Strukturen des Bildungsromans rekapituliert und die Triade Normalität, Ausstieg und Versuche der Normalisierung nachzeichnet.14 Da der Roman (und dies gilt für die ganze Trilogie) keine geschlossene Struktur aufweist, kann von einer Integration nicht die Rede sein. Entwickelt werden vielmehr Techniken und Modi, die Ordnen, Kategorisierung, Aufstellung von Reihenfolgen, Strukturierung, denn »der Mensch braucht Strukturen« (AS 354), ermöglichen. Dies kann zu einer punktuellen Normalisierung und Einbettung beitragen. Die entstehende Ordnung kann selbstverständlich nie eine bleibende, sondern nur eine vorübergehende sein, die in alle Richtungen offen ist, und der der Wandel inhärent ist. Diese Ordnung baut nie auf Identität, sie ist »nie ganz auf der Stelle«, sondern »immer verrutscht« (AS 234), »der Mensch ist schief« (AS 355), doch besteht trotz des Oszillierens, der Uneindeutigkeit und der Simultaneität unendlicher Optionen die Möglichkeit einer Art von Selbstbehauptung nach dem Motto: »Tu, was du kannst« (AS 359). Nichts ist ganz auf seiner Stelle, alles ist verrutscht, die Entwicklungssaga ist zu Ende, doch ist auch bei Mora das Fazit von Baumann relevant: »Wie zuvor müssen wir handeln, ohne des Sieges von vornherein gewiß zu sein. Dies war übrigens immer der Fall. Nur jetzt wissen wir, daß es so war und so ist.«15 Nachgezeichnet werden soll im Folgenden, wie Lebensentwürfe, Möglichkeiten dessen erprobt und inszeniert werden, dass trotz der Porosität und der permanenten Liminalität der Protagonist, Darius Kopp, in diesem Roman nicht in den Abgrund stürzt. Er befindet sich zwar in einer Warteschleife, im Dazwischen von Krise und Erwartung. Er ist aber nicht mehr von Dauerwarten, aufgrund von Ohnmacht, befangen,16 denn Tun und Warten halten eine Art Balance. Auf dem Seil inszeniert gekoppelt an die Hauptfiguren, die auch 14 15 16
Ursprünglich geht es ja in diesem Modell um Ordnung als feste Größe, ihren Verlust und die Integration in eine neue fest umrissene Ordnung. Baumann: 1997, 264. Hirsch diagnostiziert für die Gegenwartliteratur diese Statik in einer Warteschleife, da in den von ihr untersuchten Texten die Protagonisten nicht die nötige Energie aufbringen können, sich von alten Strukturen zu lösen. Auch Hirsch stellt die Gegenwartsliteratur unter das Signum der Liminalität und spricht von einer zeitlich und räumlich ausgedehnten Schwellenphase, in der die Protagonisten verharren. Als einen Grund nennt sie die Unfähigkeit zu trauern. Vgl. Hirsch: 2008, 273f.
10 »Wir leben alle auf der Straße«
als Doppelgänger zu lesen sind, zwei Modelle. Es geht einerseits in der Figur Lores um eine Verweigerungshaltung, die durch das Schließen der Augen, durch den Schlaf, durch das Nichts-Tun manifest wird und ein parasitäres Dasein vor Augen stellt. Andererseits wird bei der Figur von Darius der Modus der aufblitzenden Aufmerksamkeit, durch die »Ressource der Fokussierung und der kontinuierlichen Aufrechterhaltung«,17 betont, der durch Wachsamkeit und Handeln greifbar wird. Der Modus Lores impliziert einen Wartetext, in dem sich das Alltägliche dem Nichts nähert und bodenlos wird.18 Anders ist das Vorgehen von Darius, der sich bemüht, wach zu bleiben, Kontraste zu erzeugen, zu polarisieren,19 abzuwägen20 und damit Konturen herzustellen, die ermöglichen, wenn auch nicht eine bleibende und festgelegte, doch mindestens eine vorübergehende, disponible Ordnung zu stiften. Es gibt keinen Abschluss, das Warten nimmt kein Ende, doch wird etwas ausgetragen, es werden Entscheidungen getroffen, es wird gehandelt ohne einen letzten Sieg. Somit ist Darius Kopp als Durchquerung sowohl des müßiggängerischen als auch des unternehmerischen Subjekts zu sehen, als Schwellenfigur im liminalen Übergang zwischen zwei Subjektkonzepten, aber in keines von den beiden eingebettet. Durch die Gestaltung von Porosität und Liminalität wird das ganze Buch mit der Problematisierung von Grenze verbunden. Die Grenze ist eine Konstante menschlichen Denkens und Handelns und sie entzieht sich der eindeutigen Bestimmung, sie kann für vollkommen gegensätzliche Bereiche funktionalisiert werden, wie z.B. als Einschnitt für Trennung und Wandel, aber auch für das Dehnbare als Transgression.21 Dehnung meint auch, dass zur Grenze eine semantische Spannbreite mit verschiedenen Konnotationen gehört.22 Diese Spannbreite trägt maßgeblich dazu bei, dass die Problematik der Grenze die dichterische Phantasie beflügelt, was bedeutet, dass sich auch die Literatur der Komplexität der Grenze annimmt, sie reflektiert und rekonstruiert.23 So erlebt die Inszenierung
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18 19 20 21 22 23
Waldenfels: 2004, 11. Die genannte Kontinuierlichkeit kann hier nicht mit Dauer gleichgesetzt werden, ist demgegenüber vielmehr als zeitweise kontinuierlich zu verstehen. Vgl. Waldenfels: 2004, 36. Ebd., 9. Ebd., 10. Vgl. Kleinschmidt: 2011, 9. Vgl. Ebd., 10. Lamping: 2001, 13.
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von Grenzen und Grenzübergängen auch in dem dritten Band der Trilogie Terézia Moras eine erstaunliche Karriere. Darius Kopp überschritt als Protagonist der sogenannten Kopp-Trilogie zahlreiche Grenzen und hielt sich in Grenzräumen auf, bis er nun im abschließenden Teil auf Sizilien eine vorübergehende Bleibe findet. Korrespondierend mit den anderen Teilen der Trilogie, aber auch den Erzählungen und Essays von Mora ist an die Grenze und ihre Überschreitung das Vorübergehende, die Tatsache, dass man immer nur kurzfristig, flüchtig, notdürftig eine Lösung finden kann, gekoppelt. Man ist, so wird die ständige Grenzüberschreitung modelliert, ununterbrochen zwischen solchen momentanen Situationen, und parallel dazu in einer seriellen Narration unterwegs, anstatt das Anhaltende, Beständige zu finden. Die Trilogie ist wie eine Passage, der Protagonist ist ein Passant ohne das beständige Endgültige. Das Leben der Figuren wird metaphorisiert als Übergang, und zwar auf einem Seil, das über den Abgrund gespannt ist und einen Balanceakt erfordert. Das Seil versinnbildlicht den Abgrund, narrativ gewendet aber auch die Krise,24 die zu meistern es ein Seilkunststück verlangt, da es eine fortwährende Bewegung an der Grenze von Gelingen und Scheitern, Glück und Unglück impliziert. Das interpretatorische Interesse richtet sich auf die Erforschung dieser Zusammenhänge. Um das Untersuchungsfeld abzustecken empfiehlt es sich, einige kulturhistorische Bilder, Chiffren und Modelle zu rekapitulieren. Ihr Nebeneinander stellt Beziehungen her, was einer Infiltration gleichkommt. Nicht nur die Figuren überschreiten Grenzen, sondern auch die rezitierten Modelle bringen durch ihre Berührung eine Entgrenzung, einen beinahe grenzenlosen Schwellenraum hervor. Man muss aus dem Motivkomplex des Romans gar nicht heraustreten, um diesen Schwellenraum zu konzeptualisieren. Der Vulkan kann hier der Bezugspunkt sein. Eine mögliche Annäherung an den Diskurs der Entgrenzung kann durch einen Text von Walter Benjamin, Neapel,25 geschehen, in dem in Beziehung auf vulkanisches Gestein das Poröse im Fokus steht. Das vulkanische Gestein gilt dabei als Modell, das eine alternative, von befestigten Grenzen divergierende, eindeutige Identitäten meidende Kulturformation hervorbringt. In deren Fokus steht nicht die Definition und Identifikation von ›so und nicht anders‹, sondern Kontingenz und Wandel des ›so und auch anders‹.
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Vgl. Hülk: 2013, 113-132. Benjamin: 1989, 307-316.
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Diesem Prinzip gehorchen auch Modelle, in denen mythisches, biblisches, literarisches und kulturgeschichtliches Gedankengut ineinander geblendet werden, wodurch ein unidentifizierbares Schillern entsteht. Durch diesen Modus der Verschränkung wird aus der Lorelei eine Figuration, in der die in den Abgrund reißende Frau mit helfenden Göttinnen verwoben wird und nicht identifizierbar bleibt. Verbunden wird der Lorelei-Mythos mit dem »Rauchhaar« (AS 5, 31) des Ätnas, der Rhein mit Sizilien, Zeit und Ort sind entgrenzt und alles deplatziert. Böhmen liegt am Meer, nichts hat einen festen Grund,26 alles gerät in Bewegung. Gerade dieser Punkt, der Zweifel an Identitäten, dem nie ein Ende gesetzt werden kann, ist das Abgründige, das den Roman dominiert. Das ganze Erzählgeflecht ist ein Doppel aus Sagen und Verschweigen, Verstehen und Miss- oder Nichtverstehen, Verdacht und Gewissheit. Den Figuren ähnlich balanciert auch der Leser in einem Seilakt über den Abgrund. Um das Untersuchungsfeld über Grenze und Grenzübertritt abzustecken, sollen im Folgenden die Problematik der Bewegung und ihre Konzeptualisierungsmöglichkeiten ausgearbeitet werden. Leitbilder des menschlichen Lebens sind seit jeher mit dem Unterwegssein auf dem Festland oder auf dem Wasser, mit Bildern der Schifffahrt, mit einer »nautische[n] Daseinsmetaphorik«27 gefasst worden.28 Von Blumenberg bis Sloterdijk haben viele darauf hingedeutet, dass in der ›westlichen Kultur‹ das Wasser bereits seit der Antike eine Grenze verkörpert, zum absolut Fremden, zu einer unbekannten, anderen Ordnung erklärt wurde. Das Meer ist Inbegriff des Fremden, indem es die paradigmatische Erscheinung des Unbegreiflichen ist.29 Mit Blumenberg argumentiert könnte hier behauptet werden, dass das Unbegreifliche – 26 27
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29
Vgl. Bachmann: 1978, 167. Blumenberg: 1979, 9. In diesem Kontext wird das Wasser zu dem Element, das als eine Gegenposition zu den menschlichen Annahmen, wonach alles beherrschbar, begrenzbar und übersehbar ist, erscheint. Das Wasser ist der Ort der Ungeheuer, ein anderes Einflussgebiet, das die Grenzen der domestizierten Welt umgibt, an deren Grenze liegt. Das Festland hingegen ist nach dieser binären Metaphorik der Ort, wo der Mensch festen Boden unter den Füßen hat, was er kennt und beherrscht, wo er sich sicher fühlt. Demnach verkörpert aber das Wasser das Unbekannte, was auf Mangel an Sicherheit verweist. Hier dominiert eindeutig die Schifffahrtsmetaphorik, die nicht allein im LoreleiMythos, sondern in zahlreichen Anspielungen z.B. an die Odyssee erscheint. Da hier aber in Bezug auf den Vulkan und der porösen Erde auch das Festland nicht als fest gilt, sind Grenzen des Festen und Beweglichen verwischt. Schmitz-Emans: 2003, 40.
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denn Nicht-Begriffliche – mit Hilfe von Metaphern zugänglich gemacht wird. Diesen Zugang bietet auch die Wassermetaphorik. In Schiffbruch mit Zuschauer erläutert Blumenberg, dass der Mensch sein Leben zwar auf dem »festen Lande« führt, die »Bewegung seines Daseins« versucht er jedoch, mit der Metaphorik der Seefahrt zu begreifen,30 seinen Weltzustand in der »Imagination der Seefahrt« darzustellen.31 Es ist einerlei, ob es dabei um die Wogen, um Schiffbruch, um Irrfahrt, Anker oder den Hafen geht. Seit dem 20. Jahrhundert, seitdem Transit, Bewegung als maßgebliche Metapher erscheinen32 und zum omnipräsenten Schlagwort zur Beschreibung der Gegenwart herhalten, überrascht die Metaphorik der Bewegung kaum. Diese Metaphorik des Unterwegsseins und der damit verbundenen Unbestimmtheit versucht die Befindlichkeiten der Gegenwart zu verbildlichen. Durch die Einbettung in tradierte Bilder und narrative Modelle, wie Schiffsbruch, Lorelei, Abgrund, aber auch Vulkanismus, Porosität oder Paradiesgarten und Vertreibung, werden auch gleichzeitig Bewältigungsrezepte bereitgestellt, auf die affirmativ, negierend oder subversiv durchquerend eingegangen werden kann. Im Fokus steht eben die Durchquerung, das Cross-Over, das bezeugt, dass selbst die Konzepte, als Verdichtungen von Wissen, gerade weil sie Bestandteile von Ordnungen sind, keine bleibende Gestalt haben, sondern flüssig werden und einander infiltrieren. Als zitierbare Wissensbestände hält man sie parat, sie können jedoch in ihrer tradierten Form keine Gültigkeit mehr bekommen. Diese Wissensbestände sind fester Bestandteil von Konzeptualisierungen von Ordnungen, deren Grenzen hier jedoch gerade durch die Mischung tradierter Entwürfe unterlaufen werden. Das Leitbild der Bewegung, die Reise und damit der Reisende in Form des Seefahrers,33 des Vagabunden oder des Touristen werden zu Modellen, die versuchen, Typologien herzustellen, die es vermögen, die Verfassung der Gegenwart auszuloten, Selbst- und Weltverhältnisse, Subjektentwürfe bereitzustellen. Moras Roman-Trilogie kann als eine literarische Suche nach möglichen Entwürfen und Konzeptualisierungen gelesen werden. Die tradierten Modelle werden nach ihrem ›Passen‹ befragt und nie ganz affirmiert, aber auch nicht nur als Gegenmodelle ex negativo herbeizitiert, vielmehr werden 30 31 32 33
Blumenberg: 1979, 9. Ebd., 10. Vgl. Bartl/Klinge: 2012, vgl. auch Schroer: 2006, 115-125. Auch die Seefahrermetaphorik erscheint explizit im Roman, in abgewandelter Form wird die Schifffahrt und die Wassermetaphorik im Rekurs auf den Loreley-Mythos präsent.
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sie nie als starr, sondern als wandelbar betrachtet. Wenn sie nicht passen, so können sie doch angepasst werden. Diese Bestrebung des Anpassens bedeutet gleichzeitig die Mobilisierung, das Flüssig-Werden dieser Modelle durch verschiedene Grenzauflösungen. Selbst wenn das Subjekt als isoliert erscheint, ist es nie ganz losgelöst von Schemata des Denkens und Handelns bzw. von narrativen Mustern, die es nolens volens aktiviert. Diese bilden trotz der allgemein empfundenen Isolation und Auflösung doch den Faden, an dem entlang ein Weg im Raum und auch der des Erzählens bewältigt werden kann. Diese Leitbilder sind als Entwürfe für Modelle des Wandels zu lesen, sie sind aber auch selbst Teil der Veränderung, der Variabilität und der Bewegung.
10.2
Tradierte Ordnungsmodelle, Grenzen und liminale Krisen
Nimmt man die Problematik der ›Bewegung‹ als Ausgangspunkt, kommt man nicht umhin, seinen Gegenpart, den Stillstand als eine Art bleibende Ordnung zu konzipieren. Diese erscheint als ein Regelsystem, das sich einerseits durch Grenzziehung identifiziert, andererseits durch Grenzüberschreitung in Bewegung gerät. Dieses Doppel setzt der Roman durch den Garten als einen umzäunten Raum, bzw. im Kontrast damit durch einen Prozess unaufhörlicher Grenzübertritte in Szene. Dieser Komplex leitet nun das Forschungsinteresse, denn, was in Auf dem Seil inszeniert und narrativ gestaltet wird, könnte als allgemeiner Ordnungsschwund (Blumenberg) auf den Begriff gebracht werden. Dieses Schwinden von Ordnungszuständen gilt Hand in Hand mit der Konzeptualisierung von Kontingenz als basale Welterfahrung seit der Moderne, als das »Zerbrechen gesicherter Erfahrungswerte« und Ordnungsmodelle,34 das Fehlen eines festen Grundes und von Begründbarkeit. Dieses für die Moderne35 herausgestellte allgemeine Muster von Ordnungsschwund und Kontingenzkultur wird für die sog. Postmoderne als Dauerzustand er-
34 35
Vgl. Hülk: 2013, 116. Bei Blumenberg ist damit der Beginn der Neuzeit gemeint. Das Handeln als Antwort auf die Änderungen erscheint als ein Konzept, das den sog. unternehmerischen, bürgerlichen Menschen prägt, der jedoch schon um 1900 (oder in der Romantik bereits um 1800) von anderen Modellen, hauptsächlich vom ästhetischen Subjektmodell abgelöst wird. Es kann hier nicht der Ort sein, diese Konzepte im Einzelnen darzustellen. Vgl. dazu Reckwitz: 2004, 2006.
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klärt.36 Es bringt einen Bewusstseinswandel mit sich, der bedeutet, dass der Mensch nicht mehr in Ruhe die Welt und sich als Zuschauer der Welt betrachten kann, sondern handeln muss, um die Unbestimmtheit zu kompensieren. Dies bewegt ihn dazu, über Grenzen hinauszugehen, Möglichkeitsräume zu durchlaufen, und trotz der Vakanz und Partialität der Erfahrung, tätig zu sein, sich zu behaupten. Ordnungsschwund und Selbstbehauptung laufen Hand in Hand. Diese Selbstbehauptung als Antwort auf den Ordnungsschwund wird in Moras Trilogie obsolet. Sie geschieht vielleicht im Traum, in Wirklichkeit bleibt demgegenüber alles vage und offen, ist vielmehr als ein Durchspielen von Möglichkeiten in einem ästhetischen Modus zu erkennen. Alles ist auf der Grenze, in einem liminalen Übergang zwischen Fakt und Fiktion zu verorten. Grenzen werden unscharf und eher als Schwellenräume greifbar. Der Grenzübertritt, im Sinne von Handeln, bringt keine markante Änderung der Zustände, da die eher von Fluidität gekennzeichnet sind, was
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Grunewald/Pfister: 2013, 17. Denkt man hier über Ordnungen und abweichende Muster nach, bezieht man sich auf Schreibweisen, Muster, Romantypologien und Gattungen, wie z.B. den Bildungsroman, muss an dieser Stelle auch die Tradition der Gattungseinteilung kurz reflektiert werden. Konsens herrscht heute darüber, dass Gattungen nicht ontologisch, sondern Konstrukte sind, die kulturell und historisch entstanden und das Ergebnis von Konsensbildung sind. (Vgl. Neumann/Nünning: 2007, 1-28, bes. 3-4., vgl. auch Zymner: 2010, 1-5, bes. 3.) Darüber hinaus muss im Zusammenhang mit Gattungstypologisierung seit dem 20. Jahrhundert betont das Doppel von Konstanz vs. Bruch bedacht werden. (Vgl. Zipfel: 2010, 213-216, bes. 213.) Gattungen bringen sowohl Kontinuitäten als auch kulturelle Wandlungsprozesse zum Ausdruck. (Vgl. Borgstedt: 2010, 218.) Generell verlieren aber Gattungen in ihrer traditionellen, prototypischen Auffassung seit der Moderne ihre Selbstverständlichkeit und Gattungsmuster werden allmählich zum »Spielmaterial für Bricolage-Verfahren«. (Vgl. Baßler: 2010, 5354.) Hält man sich all dies vor Augen, kann festgestellt werden, dass in Moras Poetik auch eine Art Gattungsreflexion stattfindet, die mit dem allgemeinen Nachdenken über Normen und Ordnungen aufs Engste verwoben ist. Wenn Gattungen als »relative Normen« zu verstehen sind, die ausgehandelt und durchgesetzt werden, sind sie im Rahmen von Ordnungsstrukturen zu situieren. Sie sind gerade in ihrer prototypischen Form zum einen und ihrer Wandelbarkeit zum anderen geeignet auf bestimmte Probleme und Bedürfnisse divergenter kultureller Kontexte zu reagieren. (Vgl. Zymner: 2010: 3-4.) Das Zitieren traditioneller Modelle bedeutet bei Mora nicht nur, dass der Wandelbarkeit Rechnung getragen wird, sondern es geht immer auch um eine Konfrontation von inhaltlichen und formalen Kriterien, ästhetischen Strategien, die die historisch sich ändernden Herausforderungen reflektieren und die Porosität der Gattungsordnung betonen. (Zum Porösen der Gattungsordnung vgl. Neumann/Nünning:2007, 9.)
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Grenzübertritte im eigentlichen Sinne verunmöglicht. Indem das Vertrauen in eine Ordnungsstruktur schwindet und sich Kontingenzen auftun, übernimmt die Möglichkeit die Dominanz. Dies heißt in der Waldenfels’schen Theoriebildung »Ordnung im Potentialis«, und bedeutet, dass Ordnungen immer Setzungen und so immer auch anders möglich sind, bzw. dass sie ausschließlich im Plural vorgestellt werden können.37 Es geht demzufolge, wie Waldenfels zeigt, um mögliche Welten und Lebensformen, die »sich nicht in das binäre Raster […] zwingen lassen«38 und auch nie zu einer endgültigen Begründbarkeit kommen, nie abgeschlossen werden können. Dem entgegengesetzt ist ein als klassisch zu bezeichnendes Konzept einer allumfassenden Ordnung, die keine Alternative hat und als fest umgrenzt gedacht werden kann. Diese zerfällt laut dieser Modellierung in Ordnungen, die wandelbar sind, bewegliche Grenzen aufweisen und so expandierende und diffundierende Kräfte freisetzen.39 Diese Ordnungsmuster des Allumfassenden vs. Optionalen, des Natürlichen vs. Gemachten dienen als Folie, wenn man bei Mora von Grenze und Grenzübertritt, von Liminalität oder eben von Ordnung und Normalität spricht. Die Insistenz auf Grenze und Ordnung und die gleichzeitige Besinnung auf ihren Setzungscharakter bringen die Möglichkeit unendlicher neuer Grenzen und Alternativen auf den Plan. Dies führt statt zu Ab- und Eingrenzung bzw. Ordnung vielmehr dazu, dass Unübersichtlichkeit und Komplexität zur determinanten Kategorie werden. Die Extremposition, in der sich die Figuren Moras befinden, ist keine Selbstbehauptung. Es gibt keine Antworten, sondern vielmehr Fragen, es ist ein Ausnahmezustand in Permanenz, also ein Verharren in der Liminalität40 des Übergangs, in dem es keinen dauerhaft gesicherten Zustand gibt. Die ständige Grenzverschiebung, das Anders-Werden und Nicht-Identisch-Sein kann mit dem Modell der permanenten und nicht inszenierten Liminalität beschrieben werden. Statt stabilen Grenzziehungen ist alles auf Dynamik eingestellt. Es gibt keine Dauer und keine auf Sicherheit eingestellten Zustände. 37
38 39 40
Waldenfels: 1990, 15-27, hier 18. Herv. i. Orig. Waldenfels bezieht sich bei der Erläuterung dieser Problemkonstellationen oft auf die Literatur, vor allem auf Musils Mann ohne Eigenschaften, auf den Roman, der den Möglichkeitssinn stark macht. Literatur ist wegen ihrer Beschaffenheit als Fiktion besonders gut geeignet zur Inszenierung von Welt im Potentialis. Waldenfels: 1990, 17. Vgl. ebd., 18f. Turner universalisiert das Prinzip für die Beschreibung von Bewegungs- und Ordnungsmuster, und er legt den Fokus auf die mittlere Phase der Triade.
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Die Figuren sind in diesem Rahmen Schwellenwesen. Der permanente Wandel erscheint auch als eine Reihe von Krisen, als ein fortdauernder Ausnahmezustand. Das ist der eine Komplex, der in Auf dem Seil immer wieder in Szene gesetzt wird und hier als Figur des permanenten Übergangs thematisch-motivisch und auch narratologisch konzeptualisiert wird. Der Anfang des letzten Teils der Kopp-Trilogie scheint diesem offenen Modell der Potentialität und Bewegung kontradiktisch gegenüberzustehen. Am Beginn des Romans steht der Protagonist, Darius Kopp, in der Mitte eines Gartens41 in Sizilien, losgelöst von Raum und Zeit, wie im Paradies. Alles läuft bestens (AS 23) solange nicht jemand »Dari« (AS 11) ruft, was einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommt. Hier tut sich auch gleich eine Doppelstruktur auf, die bis zum Schluss des Romans signifikant bleibt. Wie Gift wirkt einerseits die Begegnung mit der Schwester auf den Protagonisten, erscheint aber andererseits auch als »würde man mich mit Gewalt wecken« (AS 15). Tötung und Rettung, Vertreibung und Chance werden ineinander geblendet. Die Hauptfigur wird mit einem Ruck aus einem dem Schlaf ähnlichen Zustand hinausgeschubst und in diesem Moment beginnt etwas Neues. »Plötzlich ist nichts mehr gut« (AS 22), »mit einem Mal gibt es zu allem eine Frage«, alles wird »richtig hässlich« (AS 23). Die Einfriedung des Gartens, die den Frieden, eine Art Glückseligkeit hätte garantieren sollen, ist durch Einbruch des Unerwarteten in den als fest umgrenzt gedachten Raum, zerstört. Die Grenzüberschreitung, die hier vonstatten geht, ist kein bewusster, willentlicher Akt, im Gegenteil. Der Anstoß kommt von außen und plötzlich, wonach sich die scheinbare Ordnung mit einem Schlag als Unordnung entpuppt. Darius‹ Augen werden geöffnet, und das gibt ihn den Ruck zur Änderung. Es kommt die »schreckliche, stinkende Erinnerung« (AS 28), denn nur in wilden Träumen ist es möglich, die Vergangenheit in den Krater eines Vulkans zu werfen (U 8) und zu einer Tabula rasa zu werden. Kopp wird von seiner Vergangenheit eingeholt, und dieser Grenzübertritt verursacht auch, dass sich alles, eigentlich ohne sein Hinzutun, neu zu ordnen beginnt. Angekommen ist der Protagonist auf der Insel Sizilien am Berg Ätna, dem Vulkan, den er sich als Ziel gesetzt hatte.42 Diesen Berg sah er als den Ort, an
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Angesprochen wird hier nicht allein die biblische Garten-Thematik, sondern mit Italien auch ein Sehnsuchtsort der deutschen Kultur. Der Krater des Ätna als Ziel erinnert auch an die Legenden um Empedokles, oder auch an Hölderlins Empedokles-Figur und die Fragen von Legenden und Dichtung, den Freitod etc. Vgl. Hölderlin, 1992.
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dem er sich die letzte Ruhestätte seiner Frau vorstellen kann. In Athen, wo sein Auto zertrümmert wurde und er nichts mehr hatte außer seinem puren Leben und natürlich der Urne seiner Frau, beschließt er plötzlich, zum Vulkan kommen zu wollen. Ein Ziel, eigentlich das einzige Ziel, war ja während seiner langen Reise durch Mittel- und Südosteuropa, für Flora einen Ort zu finden, der ihre Begräbnisstätte werden könnte. Als erstes Endziel wurde ein sagenumwobener Berg, der Ararat, ausgewählt, der in der Überlieferung als Festland nach einer langen Fahrt auf dem Wasser gilt. Der Ararat wird jedoch im Roman aus verschiedenen Gründen nur gesehen, nicht aber wirklich erreicht. Das neu gesetzte Ziel, ein anderer Berg, wird auf Sizilien bewältigt, die Asche der Frau wird in einem nahezu mysteriösen, einsamen und zeitlosen Moment und in einen Nebelschleier gehüllt, weggeschüttet. Flora wird der Natur zurückgegeben, Asche zu Asche, so, dass keine Differenz mehr erkannt werden kann, alles sieht so aus, »als gehörte es immer schon zum Berg« (AS 9). Mit dem an die Bibel erinnernden Bild wird im Prolog des Romans Auf dem Seil der Weg alles Irdischen nachgezeichnet. Damit hatte Darius Kopp sein Ziel erreicht, seine Aufgabe gelöst. Kopp ist, nachdem er in Das Ungeheuer in Griechenland eine Art Schiffbruch erlitten und alles verloren hatte, auf der Insel Sizilien angekommen, als ob er von Göttern ans Ufer gespült worden wäre (AS 19). Geographisch-räumlich ist er zwar auf einer Insel, er ist aber viel weniger isoliert als in seinem früheren Leben. Aufgenommen und integriert wird er von Francesco, Gabriela und Salvatore. Diese sprechenden biblisch und christlich konnotierten Namen betten diese ganze Szenerie gleichzeitig in einen Diskurs ein, was mit einer inhaltlichen Aufladung, einer Doppeloder Mehrfachkodierung einher läuft. Nun scheint für Darius Kopp ein neues Leben zu beginnen in der Hoffnung, isoliert von Familie und Vergangenheit, als eine Art unbeschriebenes Blatt leben zu können. Er scheint außerhalb seiner alten Ordnung zu sein, ohne Auto, Telefon, Geld und Kleider. Alles, was er hat, ist geliehen, doch stellt es sich schnell heraus, dass man die Vergangenheit nicht so einfach loswerden kann. In Träumen vielleicht, aber in Wirklichkeit ist das unmöglich, denn die Erinnerung lauert überall und holt einen im unerwarteten Moment ein. Weder ein ewiges Ruhen in einer paradiesischen, idyllischen Einfriedung, noch einen unbefleckten Neuanfang kann es auf einer Insel geben. Gegen störende Einwirkungen kann man sich nicht abschirmen, den Garten Eden gibt es nicht.
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Das Bedürfnis nach scharfen Grenzen scheint zur natürlichen Grundausstattung des Menschen zu gehören. Die klare, feste Grenze scheint unabdingbar zu sein, ob die Menschen nun irdische Paradiese schaffen oder jenseitige Paradiese träumen und dieses Bedürfnis nach Um- und Abgrenzung prägt auch den menschlichen Alltag: nicht nur durch Zäune, Mauern, Grenzen, sondern auch durch zahlreiche Konventionen der Distanzierung.43 Die Imagination dieser erscheint im Bild des (Paradies)Gartens als ein InSich-Ruhen. Gerade dies wird in den Anfangspassagen des Romans aber zerstört. Nach ersten Ernüchterungen und Schritten das Leben neu zu organisieren, in einer neuen friedlichen Konstellation, erscheint jedoch plötzlich Lorelei, die Nichte des Protagonisten. Nach kurzer Zeit wird klar, dass sie schwanger und auch sonst in jeder Hinsicht auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist. Der zweite Eindringling in den scheinbar umzäunten Graten verändert dann alles, die Insel der Utopie wird verlassen. Nicht nur der Garten ist aber im Roman ein Ort, der über seine reale Präsenz hinausgeht. Der ›reale Ort‹ Sizilien, aber schon der Ararat und seine Landschaft, die Insel, die Figuren sind im Romanganzen als Chiffren konzipiert, um die sich zahlreiche kulturelle Vorstellungen und Modelle ranken. Der ›reale Ort‹ bzw. die ›realen Orte‹ sind somit zugleich ein diskursives Feld und müssen in dieser doppelten Qualität wahrgenommen werden. Das Eine fließt in das Andere hinüber und wird ein Erscheinungsort der allgemein charakteristischen Fluidität und Infiltration. Mit der Vertreibung aus dem Paradies, dem Schiffbruch, der Insel, dem Berg und schließlich der Lorelei schreibt sich Terézia Mora in die europäische Kulturgeschichte hinein, da sie Bilder, die als Daseinsmetapher herhalten können, rezitiert. Was sofort ins Auge fällt, ist, dass hier griechische Mythologie mit biblischem und christlichem Gedankengut vermischt wird. Angereichert wird dies mit kulturgeschichtlichen Modellierungen des Berges und des Vulkans. Schließlich wird das Ganze mit dem literarischen Mythos der Lorelei gewürzt, woraus dann zum Verzehr und Genuss etwas zubereitet wird. Die Verschränkung verschiedener Ebenen ist ein basales Element der Textarchitektur. Kochen, als Bild des Mischens unterschiedlichster Zutaten, worauf ich anspiele, entpuppt sich als zentrales Motiv und poetologische Metapher, worauf noch einzugehen sein wird. Hier interessieren jedoch vielmehr die gemeinsamen Nenner des kulturhistorischen Streifzugs, denn diese
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Neumann: 2004, S. 327-341, hier S. 327. Herv. v. Verf.
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stellen die gedankliche Basis des ganzen Romans her. Diese Einbettungen öffnen zugleich Tür und Tor für eine ästhetisch-narrative Modellierung von Ort, Zeit, Handlung und so der Figur. Dieses Narrativ-Ästhetische wird zur Folie des ganzen Romans. Auch wenn man nur Sofas als vorübergehende Bleiben hat, ist man doch eingebettet in narrative Muster und Kontexte, in denen nicht nur die Figur, sondern auch der Roman verortet wird. In allen herbeizitierten Modellen geht es um Grenzübertritte, die kontingent strukturiert sind. Alle implizieren eine Krise und damit die Problematik von Gelingen und Scheitern, Glück und Unglück. Wenn die Grenze überschritten, ein Zustand verlassen und ein neuer betreten wird, tut sich der Abgrund auf. Über den Abgrund ist hier jedoch ein Seil gespannt, auf dem balancierend, stets von Untergang bedroht, vorwärtsgeschritten wird. Dies geschieht nicht nur motivisch, sondern ist auch Nukleus und Movens der Narration. Der Handlungsstruktur liegt ein Ereignis zugrunde, etwas Unerwartetes, Außergewöhnliches, was vorgefallen ist und die Vorstellung der Akteure erschüttert.44 Damit entsteht eine Krisennarration, die durch die Inszenierung neuer und neuer Krisen bis zum Ende durchgehalten wird. Im letzten Roman der Kopp-Trilogie ist nun der Protagonist auf der Insel Sizilien angekommen. Vor zwei Jahren wurde Kopp vom sintflutartigen Tauwetter aus Berlin weggespült und machte sich auf eine Weltreise (U 24), die zwar nur durch Mittel- und Südosteuropa führte, ihn aber auch so in zahlreiche unbekannte Gebiete navigierte. Nach zwei Jahren des Unterwegs-Seins findet er, wie der Anfang des Romans dies darstellt, nicht nur für seine Frau, sondern auch für sich eine Art Ruhestätte, wo er ca. ein Jahr bleibt. Doch schon der Ort, an dem er sich befindet, markiert gerade das Gegenteil des In-Sich-Ruhens, des Statischen. In diesem Bild, auf einem nicht ruhenden Vulkan Halt machen, stehen bleiben zu wollen, spitzt sich die Doppelstrategie des Romans zu. Denn im Vulkan, der als Schauplatz des Erzählanfangs dient, manifestieren sich Grenze und Grenzübertritt, darin erscheint das Vorübergehende, die sich wandelnde Gestalt. Der Berg Ätna, der durch den Vulkanismus seine Kontur ständig plötzlich ändert, aber auch sonst nie ruht, wird zum Sinnbild des Wandels und der Umformung. Er steht nicht mehr für Festland und einen möglichen Neuanfang, wie der Ararat das impliziert hätte. Der Vulkan ist kulturhistorisch auch Chif-
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Vgl. Nünning: 2013, 58.
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fre des eruptiven Wandels,45 des Plötzlichen und damit der Kontingenz. Die scheinbare Normalisierung des Lebens von Darius erscheint darüber hinaus als ein Tanz auf dem Vulkan, als eine brüchige Sicherheit. Die ganze Szenerie des Erzählanfangs steht stellvertretend als Konzeptualisierung für Diskursfigurationen, als Konstruktion eines Rahmens, der nichts Bleibendes ist, sondern ständig unter dem Signum des Wandels steht. Der Vulkan wird zum Bild der Krise, des Grenzübertritts, der nie ein Ende nehmen kann. Dem entsprechend ist alles der Differenz und dem Nomadischen, dem Unterwegssein verpflichtet. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass es in den hier untersuchten Texten um eine Grenzüberschreitung geht, um einen Ausnahmezustand, in der die Ordnungsstrukturen, Vieles, was als Normalität gilt, außer Kraft gesetzt wird. Es geht vielmehr darum, dass die Frage nach Normalität zwar gestellt, nicht aber beantwortet werden kann. Die Normalität des Vulkans ist der Wandel, die Dementierung eines bleibenden Ist-Zustandes. Der Vulkan ist somit Ort und zugleich unidentifizierbarer Nicht-Ort, an dem nun alles erneut seinen Anfang nimmt. Aus der Perspektive des Hier und Jetzt scheint für den Protagonisten das Leben bei Gabriela eine Ordnung zu sein, aus der er hinausgestoßen wird, und aus einem schönen Garten in eine modrige Wohnung kommt. Auch die narrative Gestaltung kippt zwischen diversen Hier-und-JetztMomenten, denn Kapitel 0 ist losgelöst von der Geschichte und zugleich ihr Teil. Dieser doppelte Anfang lässt Parallelwelten entstehen, die doch ineinander übergehen. Der Prolog könnte auch als eine Traumszene gelesen werden, aus der nun der Protagonist im ersten Kapitel erwacht (AS 33). Es entstehen chronologische Verbindungen zu der paradiesischen Szenerie (AS 35), wodurch eine Konstellation der Unschärfe zustande kommt. Selbst wenn der Beginn des Sizilien-Aufenthaltes kein richtiger Traum war, so scheint doch diese Zeit ein dem Schlaf ähnelnder Bewusstseinszustand zu sein, in dem Fäden zur Realität gerissen sind. Diese werden dann wiederhergestellt, wenn Familienmitglieder plötzlich auf die Bühne treten. Auch dies geschieht doppelt, denn beim ersten Fall kann der Bezug zu der Vergangenheit noch ignoriert werden, als wäre die Erscheinung von Marlene nur ein böser Traum gewesen, aus dem der Protagonist erst richtig erwacht, als seine Nichte
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Gedacht werden kann hier an die herkömmliche Ordnung umstülpende Revolution, aber auch daran, dass das verdrängte Innere, das Gefühl ans Tageslicht kommt und die rationale Beherrschung des Lebens durch das Individuum dementiert.
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Lorelei auftaucht. Lorelei zerstört zwar ihrem Namen getreu den vorgesetzten Weg des Protagonisten, seine neu eingerichtete Ordnung, es kann aber nicht behauptet werden, dass sie ins Verderben führt. Diese eindeutigen Oppositionen wie Heil oder Verderben gibt es hier nicht. Lorelei bewirkt zwar eine Art Vertreibung aus dem Paradies, was jedoch nicht eindeutig negativ konnotiert ist, da die Vertreibung zugleich als Erwachen, als Öffnung Richtung Möglichkeit gesehen werden kann. Klar wird hier auch, dass man die Vergangenheit nur in einem wilden Traum löschen (AS 131), von sich loslösen, vergessen machen kann. Die Konfrontation mit dem Hier und Jetzt stellt die Frage nach dem »wahren Leben« (AS 332), doch gerade auf diese kann nicht geantwortet werden. Es gibt Rätsel und Ungewissheiten, parallele ›Realitäten‹. Diskurse und Geschichten stehen nebeneinander und kreuzen sich, ohne je zu einem Fixpunkt zu kommen. Die Übergänge sind gleitend, als wäre man in einer permanenten Umwandlung. Die Traumszenerien und die Frage nach Realität bilden auch mit dem Ende des Romans einen Rahmen. Sie richten den Fokus auf zentrale Fragestellungen des Textes, auf Identität vs. Potentialität, auf Modi des So-undnicht-Anders oder des So-und-auch-Anders. Der Traum als Schwellenzustand bekommt hier eine signifikante Rolle, der auch nach seiner möglichen Leistungsfähigkeit, nach seinem Bezug zur ›Realität‹ befragt wird. Während hier im Eingangskapitel Traum und Realität inkompatibel sind, bildet der Traum am Ende des Romans eine Vorstufe der Realität, eine Potentialität, stellt eine mögliche Realisierung dar. Wenn sich das Forschungsinteresse auf die gleitenden Übergänge, auf das Nicht-Identifizierbare richtet, kann das Modell der Liminalität herhalten, um dem Konzept des Textes näher zu kommen. Der permanente Übergang und der Aufenthalt in einem Dazwischen als Prozess-Konstrukte modellieren, wie in den Texten eine dauerhafte Krise inszeniert wird. Bei dem hier bemühten Modell wird der Übergang aber nicht – wie noch bei Turner – an ein Ritual gebunden, das nach einer Übergangsphase die Reintegration in eine alt-neue Ordnung garantiert. Bei Mora geht es auch in Auf dem Seil gerade darum, dass einerseits gar nicht definiert werden kann, was als Ordnung, was als ein Ausgangspunkt gelten könnte. Andererseits ist die Grenzüberschreitung, das Austreten aus einem Rahmen, aus einer Ordnung auf Dauer gestellt. Weil es überhaupt keinen festen Rahmen gibt, kann es keine Garantie für eine Wiedereinfügung, für eindeutige Grenzziehung und Absonderung geben. Im Gegensatz zur Grenze, die Definition und damit Identitätakzentuiert, ist Liminalität ein Phänomen der Unschärfe und der Vagheit. Selbst dann gilt dies,
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wenn die Erscheinung im traditionellen Sinn als das Flüchtige konzipiert ist, das sich zwischen klar beschreibbaren Vorgängen befindet. Während im traditionellen Konzept die Ablösung, die Aufhebung der Ordnung wegen der Sicherheit der Wiedereingliederung positiv gesehen werden kann, bleibt hier nur die befremdliche Situation im unlimitierten Dazwischen, also die Irritation präsent. Vagheit und Changieren, die bereits dem traditionellen Konzept inhärent sind, werden die zentralen Angelpunkte. Ein markantes Charakteristikum der Texte Moras ist, dass hier ein permanenter Wechsel stattfindet und die Phase des Übergangs nicht mehr flüchtig ist, sondern als Dauerzustand inszeniert wird. In Zeiten, in denen der Transit zur Normalität wird, wenn es keine dauerhaft gesicherten Zustände, keine Fixpunkte gibt, erscheinen Stenners Ansichten zutreffend, wenn er behauptet, dass wir in unserer Gegenwart auf das treffen, was als »Hotspot permanenter oder andauernder Liminalität«46 gesehen werden kann. Es ist demnach klar, dass man in der Schwebe ist. Diesen Zustand, den transitorischen Aufenthalt an Orten und in Zuständen und den fortwährenden Wechsel dieser Zustände, gestaltet der letzte Roman der Trilogie Moras und auch Auf dem Seil auf vielen unterschiedlichen Ebenen. Die Verflüssigung von Grenzen hat eine Auffächerung der Möglichkeiten, ein Changieren und Oszillieren zum Resultat, was sich in einem »Auchanders-sein-Können als wirkliche Alternative manifestiert«.47 Prägnant für unseren Problemzusammenhang sind die Begriffe »Alternative« und das »Auch-anders-sein-Können«, denn sie scheinen Dreh- und Angelpunkte des Erzähltextes und im Allgemeinen Moras Prosa zu sein. Durch die fortwährende Grenzverschiebung und Grenzauflösung des Vulkans werden im vorliegenden Erzählgeflecht Changieren und Oszillieren als Ordnung der Dinge angeführt. Verschiedene Bewusstseinszustände, Wachen und Traum fließen ineinander, aber auch der Traum selbst bleibt nicht identifizierbar, bringt unentwirrbare Konstellationen zustande. Ähnlich wie narrative Modelle und diskursive Praktiken sind mögliche Realitätsebenen derart verwoben, dass ihre Fäden nicht im Einzelnen fassbar werden, nicht aufgetrennt werden können. Identifizierungen als Auflösungen von Unschärfe sind unmöglich. Während dennoch Grenzen als ordnungsstiftend fungieren, entsteht mit ihrer Dementierung Unordnung,48 Unbestimmtheit und Konfu-
46 47 48
Stenner: 2016, 64. Herv. i. Orig. Makropoulos: 1998a, 23. Makropoulos: 1998b, 63.
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sion. Das ganze Textgebäude hat, und hier kommt das Paradoxon ins Spiel, die Kontingenz als Fundament nach dem Motto: »Kontingenzbewältigung« durch »gezielte Kontingenznutzung«,49 Die alles übergreifende kontingente Ordnung wird Hand in Hand mit dem Modell der Krise zum Nukleus des narrativen Prozesses, einer Ordnung in Potentialis und somit der Offenheit. Durch den Erzählakt, durch Transit und den Eintritt in Zonen des Übergangs wird die Kontingenz hervorgerufen, und sie soll auch dadurch bewältigt werden. Durch die »Entgrenzung des Möglichkeitsbewußtseins«50 werden Prinzipien einer chaotischen Ordnung in Szene gesetzt. Die Verweigerung jeglicher bleibenden Grenzziehung als Grundposition ist für den Roman von paradigmatischer Bedeutung.
10.3
Porosität und Liminalität
Der Schauplatz und die oben kurz skizzierten Denkfiguren der Kulturgeschichte modellieren Menschheitskatastrophen, existentielle, soziale, kulturelle und sprachliche Erfahrungen des Wandels, der Umformung, des Übergangs, die im Roman in divergenten Szenerien durchgespielt werden. Darius Kopp scheint in der vergangenen Zeit in Sizilien Fuß gefasst zu haben. Anstatt unterwegs zu sein, steht er nun auf der anderen Seite, er arbeitet in der Tourismusbranche, obwohl er selbstverständlich auch noch als Reisender angesehen werden kann. Er ist beides, Gast und Gastgeber zugleich. Er vermutet nicht nur für die Asche seiner Frau, sondern auch für sich selbst einen Platz gefunden zu haben, einen festen Ort, von dem aus man agieren kann. Es entsteht der Eindruck, dass sein Leben sich normalisiert hat, dass er festen Boden unter den Füßen hat. Doch dieser Boden ist »poröse Vulkanerde« (AS 16). Ähnlich wie bei Walter Benjamin kann das Poröse des Gesteins als Bild für die allgemeine Durchdringung von Allem gelesen werden, das das »Definitive« »›so und nicht anders‹«51 eliminiert. Auch im Roman ist nicht nur die Erde porös, sondern auch die Hauswände (AS 54), an denen man sich festhalten möchte. Die Durchlässigkeit, Permeabilität, also das Nicht-Vorhandensein von festen Grenzen und eines festen Grundes, scheint auch in diesem Roman die Grundstruktur zu bestimmen. Als Gestein steht
49 50 51
Makropoulos: 1997, 32. Makropoulos: 1998b, 63. Benjamin: 1989, 309.
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der Vulkan in der Porosität auch noch für Durchlässigkeit, für das Undichte, die in einem Diskurs über mögliche Formationen der Grenze eine wichtige Rolle spielen kann. Jenseits vom Definitiven, vom So-und-nicht-anders bekommt der Zwischenraum des Porösen, des Übergangs eine zentrale Rolle. Dieser liminale Schwellenraum wird der Rahmen in Auf dem Seil, innerhalb dieses Rahmens findet dann die weitere Odyssee von Darius Kopp in Sizilien und dann hauptsächlich in seiner mittlerweile fremden Heimat, in Berlin, statt. Darius Kopp hat schon während seiner Reise durch Europa jeglichen Kontakt zu seinem früheren Leben abgebrochen, er ist ausgestiegen aus jener Welt und ist immer wieder in lose Bindungen involviert gewesen, in Übergangsbegegnungen, die mit dem Schwellenphänomen der Gastlichkeit beschrieben werden können. Auch in Auf dem Seil nehmen Szenerien von Gastlichkeit eine signifikante Rolle ein. Hier befindet sich der Protagonist noch vielmehr in dem Schwebezustand des Gastes, er ist zwar fremd, gehört jedoch bereits zu einer Gemeinschaft. Obwohl er in verschiedene Arten und Weisen eingebunden ist, ist er in Sizilien nicht ganz heimisch. Dies führt zur dauerhaften Verflüssigung der Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem, indem Nähe und Ferne, Innen und Außen, Intimität und Öffentlichkeit ineinander übergehen und zu einem Stoff werden wie zähflüssiges Magma, in dem das Eine nicht vom Anderen zu trennen ist. Gerade diese Zusammenhänge beschreibet Walter Benjamin52 mit seinem Bild der Porosität in Bezug auf vulkanisches Gestein. Die Betrachtungen Benjamins sollen für die weitere Analyse fruchtbar gemacht werden. Der Gegenpol dieses Modells des Porösen sind die klaren, eindeutigen Grenzziehungen, die Gesetzmäßigkeiten und eine stabile, eine feste (klassische) Ordnung herstellen. Dies entspricht einer symbolischen Ordnung, die dem identitätslogischen Denken gehorcht und als Gegensatz des magmatisch 52
Benjamin ist bekanntlich ein Beschwörer der Schwelle und des Übergangs. Er fasst in dem Essay, auf das hier Bezug genommen wird, seine Wahrnehmungen und seine kulturdiagnostischen Bemerkungen in Bezug auf Neapel zusammen. Bei Mora geht es nicht um Neapel, sondern um Catania und so nicht um den Vesuv, sondern um den Ätna. Richtet man den Blick auf die zentrale Idee der Porosität spielt dies jedoch keine Rolle. Einen wichtigen Unterschied macht aber, dass Benjamin in seiner Kulturdiagnose einen Gegensatz zwischen Norden und Süden aufbaut, seine Beobachtungen des Durchdringens aller Bereiche nur für Neapel als charakteristisch ansieht, während bei Mora für den »Norden«, für Berlin, ähnliche Zustände gelten, es kann kein Unterschied mehr gemacht werden.
10 »Wir leben alle auf der Straße«
Flüssigen gesehen werden kann. In diesem Identitätslogischen ›so und nicht anders‹ wird bei Benjamin gespiegelt, wie durch Porosität diese Ordnung außer Kraft gesetzt wird, was aus dieser Perspektive wie Instabilität, Regellosigkeit, ja als Chaos daherkommt. Benjamin konfrontiert in dem Reiseessay Neapel zwei unterschiedliche, alternative Formationen, eine Polarität von Norden und Süden, Ordnung und Chaos, Grenze und Übergang. Es entsteht einerseits eine anarchische, verschlungene Ordnung,53 dieses Verschlungene, Durchlässige ist andererseits eine Möglichkeit »Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden«,54 was eine doppelte, eine PlusMinus-Konstellation hervorbringt. Das Poröse ist in der Deutung Benjamins ein »Spielraum«,55 der mit dem liminalen Schwellenraum jenseits von Ordnungen und Kategorien gleichgesetzt werden kann. »Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr ›so und nicht anders‹.«56 Das Poröse, Durchlässige bringt ein Ineinanderfließen, eine Mischung zustande, was mit Turners Konzept der Liminalität, des Dazwischen,57 korrespondiert. Ein Schwellenbereich, eine Übergangszone entsteht, der zufolge man die Grenze neu konzeptualisieren muss. Man kann sie nicht mehr in ihrer Ambivalenz als Doppelwesen zwischen zwei Größen, als Polarität begreifen, sondern muss sie als einen »multidimensionaler Grenzraum«, für den die »Variabilität von Grenzziehungen konstitutiv« ist, sehen.58 Es entsteht durch das Poröse, das Hinüberfließen ein Doppel von Differenz und Identität« bzw. von »Innen und Außen, Einbeziehung und Ausgrenzung«.59 Statt feste Grenzen und Ordnungen ist hier die Liquidation dieser als ein alternatives Gesetz, eine alternative mögliche Ordnung am Werk. »Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens.«60 Es geht also nicht darum, dass das Poröse eine Übergangsphase beschreiben würde, vielmehr ist dies ein allgemeiner Zustand, der bei Mora auch kein Außen hat. Während bei Benjamin der Norden anderen Gesetzen gehorcht, unterscheidet sich in Auf dem Seil Berlin nicht
53 54 55 56 57 58 59 60
Benjamin: 1989, 310. Ebd., 309. Ebd. Ebd. Turner: 1998. Kleinschmidt: 2011, 12. Kleinschmidt argumentiert hier mit dem metaphorischen Modell des dritten Raumes von Homi Bhabha. Ebd. Benjamin: 1989, 311.
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unbedingt von Catania.61 Das Wetter, der Sonnenschein ist anders, aber das ›So und nicht anders‹, die eindeutige Differenz, das identitätslogische Denken gibt es weder hier noch dort. Die Durchlässigkeit von Poren wird zum allgemeinen Gesetz, durch die das Ineinanderfließen verschiedener Bereiche zustande kommt, wodurch eine monströse Ordnung entsteht. Der liminale Übergang ist demnach eigentlich gar keine Übergangsphase, sondern eine solche Ordnung in Permanenz. In anderen, in (klassisch) geordneten Zuständen scheint niemand zu leben. Nicht nur der Flüchtling Metin, die schwangere Lore, der erwerbslose Darius befinden sich in einem Schwellenraum des Übergangs. Selbst wenn man eine Wohnung und eine Stelle hat, lebt man in Situationen des Wandels, des Transitorischen und in keinen festen, bleibenden Verhältnissen. Von Umformung betroffen sind auch die Körper, der von Darius, der ab- und dann wieder zunimmt, der von Lora wegen der Schwangerschaft und der von Darius‹ Vater oder von Rolf wegen Alzheimer bzw. Multiple Sklerose. Es geht hier aber auch weiter gefasst um transitorische Bewegungen, um allgemeine gesellschaftliche Prozesse wie die Urbanisation (AS 158), die Gentrifizierung (AS 126), die Wohnungsnot und die damit verbundene Preisexplosion, die Menschen zum Umzug zwingt. Behandelt wird die allgemeine Mobilität, Auslandsaufenthalte, Studium, Medien etc., durch die sich Lebensverhältnisse ändern, die den Menschen zu Flexibilität, zur ständigen Neuanpassung zwingen. Miteinbegriffen ist z.B. die Umwandlung von Dörfern in urbanisierte Vororte (AS 208), oder die Änderung der sozialen und räumlichen Organisation von Arbeit im Zusammenhang mit dem Heimbüro, das auch hier in Bezug auf Olli und Rolf (AS 121) thematisiert wird. Noch wichtiger als solche sozioökonomischen Strukturänderungen ist der Wandel von Lebensentwürfen und Bindungen, die Auflösung der Familie als fester Rahmen der individuellen und kollektiven Lebensgestaltung. Statt einer rezeptiven, vorgegebenen Ordnung entstehen neue Konstellationen, die im Alltag erprobt werden müssen und die Unbestimmtheit, Unsicherheit verursachen. Man weiß nicht, was mit den Menschen los ist, alle scheinen zu spinnen (AS 203), und es ist schwer, jemanden zu finden, »der wenigstens ein bisschen in Ordnung ist« (AS 204). In dieser undurchsichtigen Welt muss der Protagonist lavieren und durchkommen, wenn nicht ein61
Im Roman Moras ist vielmehr eigentlich Sizilien der Ort, an dem der Protagonist eine Art Ordnung und Übersicht spürt, denn es ist ihm klar, dass in Berlin plötzlich alles kompliziert wird und die Konfusion droht.
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mal das stimmt: »Unsere Mütter und Väter, unsere Kinder und Nichten. Das müsste doch stimmen.« (AS 204) Wenn die Familie als Ordnung und Bezugspunkt schwindet, wenn sie nicht schützt und hilft, sondern »als Terrorgemeinschaft« (AS 204) auftritt, überrascht die Grundfrage, ›was ist los‹, was die Orientierungslosigkeit zum Ausdruck bringt, nicht. Der Ordnungsschwund ist eine Verschiebung und Zerfaserung von Normalität, des tradierten kulturellen Rahmens, was Konfusion verursacht, und Neudefinitionen, also Grenzziehungen, Kategorisierungen verlangt. In diesen Techniken muss sich der Einzelne zurechtfinden, um nicht im allgemeinen Ordnungsschwund zu verschwinden. Die ideelle Familie ist aufgelöst, man ist verwitwet oder geschieden bzw. verlassen worden und geht neue Verbindungen und Partnerschaften ein, unter ihnen nicht nur hetero-, sondern auch homosexuelle. Kinder kümmern sich nicht um ihre Eltern, haben kaum Kontakt zu ihnen und umgekehrt. Man muss allein klarkommen (AS 156), egal ob als Witwer, als Flüchtling oder eben als Tochter aus einer nicht intakten Familie. Obwohl das Band der Familie zerrissen ist, ist man nicht ganz allein. Auch im zerrissenen Band sind zum einen noch Fäden (AS 50), die zueinander führen können, zum anderen werden Ehen und Verwandtschaftsbeziehungen von anderen Bindungen abgelöst, nämlich von Partnerschaften, Freundschaften und von unverbindlichen Bekanntschaften. Menschliche Beziehungen werden entessentialisiert, erscheinen vielmehr in ihrer unendlichen Potenzialität und durch Verbindung und Mischung verschiedener Ebenen querfeldein. Zentral scheint zu sein, dass es jemanden gibt, der einem zur Seite steht, dass man eine Stütze hat (AS 29). Der Akzent liegt nicht mehr auf einer Auffassung der Familie, die eine natürliche, substanzielle Gemeinschaft herstellt. Der Protagonist wird, als ob ihn die Götter nach sieben Jahren Wartezeit mit seinem Schiff ans Ufer geweht hätten, von Gabriela mit einer »familiäre[n] Freundlichkeit« (AS 22) angenommen, dann bietet ihm eine andere zufällige Bekanntschaft, Itzehoe, eine Wohnung zur vorübergehenden Nutzung. Hier wird Metin/Matteo, ein Illegaler aus dem arabischen Mittelmeerraum, der mit Kopp in der Pizzeria arbeitet, sein Mitbewohner. Auch er will nur provisorisch diese bleibe nutzen, bleibt jedoch auch. Es bilden sich also entessentialisierte und entsubstanzialisierte Gelegenheitsgemeinschaf-
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ten, die unverbindlich, kontingent, ungeplant sind, in denen die Menschen aber einander helfen, damit jeder über die Runden kommt.62 Die Figuren des Romans werden einander nicht nur in Sizilien, sondern auch in Berlin zu einer Art Ersatzfamilie. Ein Sinnbild dieser alternativen Beziehungen ist das Sofa. Auch wenn es hier nicht in erster Linie um Couchsurfing geht, ist dieses Möbelstück das Symbol einer vorübergehenden Bleibe, als Liegestelle des Gastes, als Leitbild des liminalen Übergangs. Die hier gelebte Situation ist jeweils an der nicht identifizierbaren Schwelle zwischen verbindlich vs. unverbindlich, zwischen Couch-Surfing bzw. eigenem Heim situiert. Darius und Lore verbringen nach ihrer Rückkehr nach Berlin Monate in einem Übergang von Sofa zu Sofa, was im Roman in verschiedenen Konstellationen inszeniert wird. Die Sofas in Catania und Berlin bieten eine kurze vorübergehende Bleibe. »Ausgeteilt, porös und durchsetzt ist das Privatleben, […] jede private Haltung und Verrichtung wird durchflutet von Strömen des Gemeinschaftslebens«,63 als wäre Catania, und noch vielmehr Berlin, keine Großstadt, sondern ein Hottentottenkral, das Existieren ist nicht die »privateste Angelegenheit«, sondern vielmehr »Kollektivsache«.64 Das Private und das Öffentliche, das Eigene und das Fremde infiltrieren einander durch die Poren. Aufgelöst werden dadurch herkömmliche, fest eingegrenzte Identitäten, und machen neuen Alternativen und auf jeden Fall beweglichen Modellen Platz. Die traditionelle Familie mit ihren substanziell und essentialistisch gedachten Verwandtschaftsbeziehungen löst sich auf, ihr Platz wird aber von neuen Formationen eingenommen, die zwar jenseits von essentialistischem oder substanzialistischem Denken stehen, doch eine ähnliche Rolle wie die herkömmliche Familie erfüllen. Dies ist die Situation, die im Gedankengang auch von Benjamin mit Porosität dargestellt wird, Quasifamiliäre Beziehungen entstehen, »so durchdringen sich Familien in Verhältnissen, die der Adoption gleichkommen können«65 . So ist Metin wie ein Sohn von Dario (AS 36) oder eben ein Bruder (AS 256), oder sogar wie der Vater (AS 237). Pfleger, wie Herr Müller oder Mitarbeiter, wie Daggi, Gastgeber, wie Gabriele sind 62
63 64 65
Viel Unterstützung bekommt Darius auch von Francesco, der als Helfer gilt und auf den in Not immer Verlass ist, oder von Salvatore und Luisa, den Eigentümern der Pizzeria. Die christliche bzw. biblische Konnotation verortet diese Figuren schon dem Namen nach in einer Figuration des altruistischen Helfens. Benjamin: 1989, 314. Ebd., 316. Ebd., 315.
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zugleich Partner. Darius spricht in Bezug auf seine Nichte Lore als von der eigenen Tochter (AS 329) und Metin wird, obwohl er die Frau erst während der Schwangerschaft kennengelernt hat, offiziell als Vater des neugeborenen Kindes angegeben (AS 351). Das Beziehungsgeflecht ist unüberschaubar »alles ist ein bisschen kompliziert« (AS 56), Grenzziehungen und Identifizierungen sind unmöglich. Nichts ist »abgeschlossen« und »fertiggemacht«, wodurch »Spielflächen« für »improvisieren« und des Simultanen entstehen.66 Die herkömmliche Ordnung mit ihren essentialistischen Kategorien wird von innen durchlöchert. Darius, der »Partigiano« (AS 37, 81) untergräbt unbewusst den offiziellen Herrschaftsanspruch identifizierender, fester Ordnungen. Es geht um eine Art Sabotage, um die Störung von herkömmlichen Abläufen. Angegriffen wird hier unterschwellig die dichotomische Ordnung mit ihren Grenzziehungen und dem Herrschaftsanspruch, der alternative Ordnungsmuster außer Kraft setzen möchte. Dies ist die Liquidation der Grenzen im Sinne des Durchlässigen, Porösen. Benjamins Konzept korrespondiert an vielen Punkten mit dem Konzept der Liminalität, das jedoch nicht einfach einen Übergang darstellt, sondern als Schwellenraum zwischen zwei Ordnungen gefasst wird. Hält man sich Szakolczais These vor Augen, »[l]iminality has the potential to be a leading paradigm for understanding situations between defined structures«67 , leuchtet ein, dass für die hier inszenierten transitorischen Erfahrungen dieses Modell herhalten kann, die permanente oder nicht-inszenierte Liminalität zu fassen. Zu schauen gilt nun, was diese Übergansstruktur als Modell beschreibt. Das nie Ruhen, die eruptiven Ausbrüche des Vulkans und seine ständigen Umformungen, aber auch das poröse Gestein sind Bilder, in denen ein allgemeiner Ordnungsschwund sichtbar und mit denen eine monströse Ordnung in Kraft gesetzt wird. Die als klassisch bezeichnete Ordnung wird hier, durch den Vulkan modelliert, abgelöst. Durch Freisetzung von Kräften, durch Mobilisierung von wandelbaren, beweglichen Grenzen, werden binäre, oszillierende, diffuse Ordnungen hergestellt. Zum einen sind die schwer zu überblicken, zum anderen öffnen sie jedoch einen Raum von Möglichkeiten, in denen neue, unvorhergesehene Konstellationen68 entstehen können. Das Po-
66 67 68
Ebd. Vgl. Szakolczai: 2016. Zu betonen ist jedoch, dass es bei Mora überhaupt keine definierten Strukturen gibt. Benjamin: 1989, 309.
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röse wird demnach zur Basis für das Spiel der Imagination, aber gleichzeitig auch die Voraussetzung eines ästhetischen Subjektkonzepts. Der eruptive Ausbruch des Vulkans und der Einbruch des Unerwarteten in das Leben des Menschen ist die Kontingenz. Die Nähe und die Präsenz des Vulkans zeigen, dass Providenz, Planung, Steuerung problematisch werden. Die Figuren befinden sich in einer dauerhaften Krise. Dem modernen Wortsinn nach bedeutet Krise korrespondierend mit dem Konzept und der Praxis von Liminalität einen ereignishaften Wendepunkt, den Umschlag in eine unbestimmbare, schwierige Situation,69 die auch als Ohnmacht erlebt wird. Die erste Krise in Auf dem Seil ist das Erscheinen der Schwester, eine Steigerung erfährt die Krise, als Lore auftritt und für Darius von ihrer Schwangerschaft erfährt. Hier gibt es einen längeren inneren Monolog während einer Busfahrt, in der mehrfach bedacht wird, dass der Protagonist unwillentlich in diese Situation hineingeraten ist und nicht weiß, wie weiter (AS 89). Wenn »die Familie auf der Bildfläche erscheint, [bricht] alles zusammen und keiner räumt für einen auf«, heißt es (AS 90). Darius ist gezwungen in die entstandene Unordnung wieder Struktur zu bringen. Wie in den früheren Romanen der Trilogie kann die Krise aber auch hier bis zum Schluss nicht beendet werden. Das Paradoxon der ›Normalität der Krise‹70 hängt auch damit zusammen, dass in den Texten die Grenzen zwischen Normalität und dem Anormalen verwischt werden. Das narrative Schema der Krise hält das Gefühl von Bedrohung, Unsicherheit aufrecht und kein Abschluss ist in Sicht. Zur Normalität wird die Krise durch die Schwangerschaft bedingt fast neun Monate lang, wobei Darius hofft, dass er Lorelei bald wieder loswerden kann. Nach Erzählungen des Mädchens geht es bei ihrem Aufenthalt bei Darius nur um die Überbrückung einer kurzen Zeit. Sie behauptet zum einen bald bei Freunden einziehen zu können. Zum anderen erreicht sie bald auch ihr 18. Lebensjahr, und lebt in der naiven Vorstellung, dass sie machen kann, was sie will. Hier kommen Darius und Lore in eine Warteschleife und Monate vergehen bis klar wird, dass der Auszug Lores, bzw. dass alles sich von selbst löst, eine trügerische Hoffnung war. Spricht man von Liminalität, kommt man nicht umhin, auch vom Pendant, von Ordnung zu sprechen. Es ist allerdings schwer auszumachen, was für Darius Kopp Ordnung bedeutet. Er befindet sich ja bereits im ersten Teil
69 70
Grunwald/Pfister: 2007, 10. Vgl. ebd., vgl. auch Hülk: 2014.
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der Trilogie, in Der einzige Mann auf dem Kontinent in einer allmählichen, allgemeinen Auflösung und fortschreitenden Konfusion. Verschärft wird die Lage noch durch das mysteriöse Paket mit dem Geld, das sich außerhalb jeglicher Normalität befindet und deswegen in einem Banksafe deponiert und somit auf Eis gelegt wird. Dieses Paket ist nur eine äußere Erscheinung der bereits vorhandenen Verflüssigung jeglicher Struktur im Leben von Kopp. Der letzte Stoß ist, wenn er seinen Job verliert und die Katastrophe tritt mit dem Verlust seiner Frau ein. Verfolgt man seinen Weg weiter, kann im Nachhinein festgestellt werden, dass er als sales manager noch einigermaßen in geordneten Verhältnissen lebt. Nach dem Tod seiner Frau eskaliert die Krise und nach Monaten der Starre bewegt er sich wie in einem Trauermarsch durch halb Europa. Bei seiner letzten Station in Athen verliert er dann alles. Von Ordnung und Normalität kann keine Rede sein, obwohl für Kopp sein Auto einen wichtigen Teil der Normalität ausmachte, da es als eine Art Heim galt, das Sicherheit bietet. Auch die ersten beiden Teile der Trilogie sind vom liminalen Übergang beherrscht, wobei ein zunehmender Ordnungsverlust zu verzeichnen ist. Während der langen Reise verliert der Protagonist jeglichen Kontakt zu seinem früheren Leben und dessen Ordnungsstrukturen, wie Familie, Arbeit, Freunde, Wohnung etc. Dieser Standpunkt, außerhalb jeglicher Ordnung zu sein, bedeutet eine unendliche Freiheit, eine neue »geheime Identität« (AS 94) fern von allen, die ihn kennen. Er trägt nun die italienische Variante seines Namens, und steht nach all den erlittenen Niederlagen wie ein Stehaufmännchen im sonnigen Garten einer Mittelmeerinsel zwischen Blumenbeten und Olivenbaumen, als wäre er im Paradies oder zumindest in einer Idylle angekommen. Diese scheinbare Harmonie hält aber nicht lange an. drei Jahre lang ist er schon draußen und musste sich keine Gedanken über seine Identität, seine Verhältnisse und Zukunft machen. Taucht aber die Familie auf, beginnt man gleich »in Kategorien zu denken« (AS 90) und damit ist der paradiesische Zustand außerhalb von Raum, Zeit und Kategorien beendet. Bei Mora gibt es in keiner Hinsicht eindeutige Zustände und klar identifizierbare Positionen, denn der Rahmen, in dem die Figuren sich bewegen, ist immer schon gemischt und uneindeutig. Es gibt keine Ordnung im Sinne von Statik, sondern immer nur eine, in der Dynamiken signifikant werden. Diese Grundposition ist für das ganze Oeuvre von paradigmatischer Bedeutung. Mora inszeniert sowohl thematisch als auch sprachlich oder narrativ das Beben aller Sicherheiten. Ein Modus davon ist die Darstellung von Übergangsgesellschaften und die Tatsache, dass die Figuren schon ab ovo, wegen ihrer
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Familienverhältnisse, nicht in Tradition, Konvention und Zeremonial eingebunden sind. Diese haben sich auch aufgelöst, nur noch ihre Spuren bleiben sichtbar. Die offensichtlichen Krisen, die durch Kriege, den Tod, durch Unfälle und Krankheit u.ä.m. ausgelöst werden, sind mit anderen Ausnahmezuständen verwoben, die als Schwellenzustand zwischen Wachen und Traum, Sprache und Lärm, Sprache und Sprachlosigkeit erscheinen oder sich in der Figur des Gastes manifestieren. Liminalität konzeptualisiert Gesellschaften auch ursprünglich schon als ein Konglomerat sich kontinuierlich verändernder Bewegungen,71 es ist ein Modell des Werdens. So überrascht es nicht, wenn im Zeitalter des Transits dieser Schwellenraum als das geeignete Konzept erscheint, um die Welt der Texte Moras aufzudecken.
10.4
Schlaf und Wachen: Versuche einer Standortbestimmung des ewigen Touristen
Hält man das Fließen für ein Zeichen unserer Zeit, und beschreibt man die Situation gegenwärtiger posttraditioneller Gesellschaften mit den Schlagwörtern des Fluiden, Hybriden, Optionalen, Flexiblen, Multiplen etc. wird deutlich, dass in diesem Kontext Identitäten als ›so und nicht anders‹ problematisch werden. Die radikale Transformation unserer Gesellschaften löst die bekannten Sozialgefüge auf, die vorgegebenen Lebensformen sind einem kategorialen Wandel unterworfen, der auf einem Kontingenzbewusstsein beruht, wonach alles auch anders möglich ist, »weil es keinen notwendigen Existenzgrund hat«72 . Hält man die Multioptionalität des ›So und auch Anders‹ vor Augen, was einem »akzelerierenden Weltrelativismus«73 gleichkommt, wird klar, dass es für die Figuren in diesem Umfeld schwer ist, Position zu beziehen, sich zu verorten, was doch Ausgangspunkt von Integration und Selbstbildung werden könnte. Die Subjekt-Bildung kann in diesem Kontext nur mit Konzepten modelliert werden, die der Unschärfe, der Vagheit, der Instabilität gerecht werden.74 Diese Vagheit versucht Baumann mit seiner Modellierung 71
72 73 74
Wie die Urväter der Liminalität van Gennep und Turner dies entwarfen. Der Akzent liegt hier auf der Dynamisierung von Gesellschaften seit der Industrialisierung und der Moderne. Dieses anthropologische Modell erlebt heute gerade wegen der Konzeptualisierung von Dynamiken seinen Siegeszug. Makropoulos: 1997, 13. Gebhardt/Hitzler/Schnettler: 2006, 9. Junge: 2006, 84.
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des Subjekts als Pilger, Flaneur, Spieler und/oder Tourist zu bewältigen. Obwohl alle Figuren das Unterwegs-Sein darstellen, ist der Pilger, obwohl auch er sich nicht situieren kann, doch in eine andere, eine metaphysische Dimension eingebettet.75 Er glaubt weiterhin daran, an einen einzigartigen, unverwechselbaren Ort zu gelangen. Dem heutigen Subjekt fehlt nach Baumann jedoch diese Dimension, er ist sich seiner Verlassenheit bewusst.76 Er kann sich »nicht an einen Ort binden«, will sich nicht festlegen77 und möchte »Auswirkungen der Vergangenheit auf die Zukunft […] unterbinden«78 . Als existentiell verlassenes Subjekt ist er, wie auch Kopp, als wäre er grundlos. Gott gibt es für ihn nicht, doch deutet er seine Situation und die vergangenen Jahre nicht vollkommen in Übereinstimmung mit der Diagnose Baumanns. Für die Beschreibung gegenwärtiger Zustände potenziert der Soziologe die Wüstenmetapher, wenn er behauptet, dass die Welt »an den Türschwellen wüstengleich« ist.79 »In einer wüstengleichen Welt bedarf es keiner großen Anstrengung, sich einen Weg zu bahnen – schwer wird es nur, ihn nach einer Weile noch als solchen zu erkennen.«80 Es wird nämlich »unmöglich, die durchwanderten Sandstrecken zu einer Reiseroute zusammenzuflicken – von einem Planfür eine lebenslange Reise ganz zu schweigen«.81 Auch diese Aussagen zielen darauf ab, dass es kein dauerhaftes Bewahren gibt. Die Wüste wird hier darüber hinaus als Ort des Indifferenten und Orientierungslosen, aber auch des Unfesten konnotiert und wird darüber hinaus auch explizit als eine nicht gastfreundliche Welt82 dargestellt. Die Konstruktion des Romans von Mora korrespondiert in vieler Hinsicht mit der Diagnostik Baumanns. Man kann hier aber auf keinen Fall von einer wüstenhaften, was bei Baumann auch heißt, ungastlichen Welt sprechen. Es gibt zwar keine eindeutige, unumstürzbare Ordnung hinter der Türschwelle, und auch die Bedeutung der Welt »muß im Wandern erst noch erbracht werden«,83 und dennoch wird all das, was hinter der Türschwelle ist, doch auch positiv gedeutet. 75 76
77 78 79 80 81 82 83
Baumann: 1997, 136. Ebd. 145. Dieser unverwechselbare Ort entspräche in der Kategorisierung Augés dem Ort, der übe eine unverwechselbare Identität verfügt und dem identitätslosen NichtOrt gegenübergestellt werden kann. Baumann: 1997, 145. Ebd. Ebd., 141. Ebd., 142. Ebd., 142f. Ebd. Ebd., 141.
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Die Tatsache, dass Darius sein gegenwärtiges Leben nur für einen Übergang hält, zeigt, dass er in Bezug auf seinen IT-Job, in dem er Experte ist, vom »wahren Leben« (AS 332) spricht. Damit ist die Zeit als Netzingeneur gemeint, eine Zeit, in der er sich mit sich selbst identisch wahrgenommen hat. Das war ein Leben, das er gerne geführt hat und in dem seine Vorstellungen hauptsächlich mit der Realität übereinstimmten. Dies ist demnach im Jetzt das unwahre Leben, dass damit begann, dass der Freund Juri ihn »in die Wüste. Nicht ganz. In das schöne Leben« hinausgejagt hat (AS 165). Die Interpretation der vergangenen Jahre ist ambivalent, oszilliert zwischen Wüste, also Orientierungslosigkeit, Versagen einerseits und positiven Konnotationen des schönen Lebens andererseits. Es scheint keine feste, eindeutige Grenze zwischen den beiden Polen zu geben, sie gehen unaufhaltsam ineinander über. Dieses Hinüberfließen und Eins-werden von verschiedenen Größen und Oppositionen markiert alle Bereiche des Lebens von Darius Kopp. Diese Tatsache zeigt jedoch auch, dass man auch in der neo-nomadischen Ära nicht nur scheitern kann, denn es gibt das »schöne Leben« (AS 165). Ein zentraler Pfeiler dessen ist, dass es trotz Kontingenzen, Brüchigkeit, Sprachlosigkeit, doch auch noch etwas Anderes gibt als Isolation und Einsamkeit. Die Familienstrukturen sind zwar aufgelöst, man lebt ja nicht mehr im traditionellen Rahmen, doch entstehen an seiner Stelle quasi-familiäre Beziehungen, Fürsorglichkeit, Zutrauen, was die Figuren aus einer weitreichenden, totalen Isoliertheit herausholt. Es gibt Verbindlichkeiten, und zum Trotz der häufigen Selbstwahrnehmung, sind die Protagonisten nicht ganz auf sich gestellt. Es entstehen zufällige, nicht unbedingt dauerhafte Konstellationen der gegenseitigen Hilfeleistung, doch, man hilft und es wird einem geholfen. Wir sind auf die Gnade voneinander angewiesen, heißt es in Das Ungeheuer (U 275) und in Nicht sterben (NS 78), und dieser Gedanke wird auch hier zur Basis des menschlichen Miteinanders. Über die biblisch bzw. christlich konnotierte Hilfe wurde bereits gesprochen. Auch Landsleute helfen einem in der Ferne (Itzehoe), und auch in Berlin kann man sich auf die alten wahren Freunde (AS 141) verlassen. Meistens sind es einsame Menschen (Gabi, Itzehoe, Metin, Darius, Lorelei, Rolf, Muck), die zueinander finden, Stütze brauchen, aber gerade dadurch, dass sie einander gegenseitig stützen, nehmen sie nicht nur, sondern werden auch zu Gebern. Wahr ist allerdings, dass diese Beziehungen oft nicht von Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit, Ehrlichkeit geprägt sind, doch ist man aufeinander angewiesen (AS 137). Es ist dabei oft nicht ganz klar, wieviel in den Kontakten Selbstlosigkeit und wieviel Berechnung, wieviel wahre Freundschaft oder Verwandtschaft und wieviel Ausnutzung ist. Die Bezie-
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hungen sind also ambivalent, es gibt nie Sicherheit darüber, was den Einzelnen wirklich motiviert. Extrem ausgeprägt ist dies in der Beziehung von Lorelei und Darius, den beiden Hauptfiguren. Abgründigkeit beherrscht im Romanganzen die zwischenmenschlichen Beziehungen. Aber auch die beiden Hauptfiguren des Romans sind nach dem Büchner’schen Motto, ›der Mensch ist ein Abgrund‹84 , strukturiert. Akzentuiert und explizit gemacht ist der Abgrund durch den Auftritt der weiblichen Hauptfigur Lorelei. Es wäre zu schnell geurteilt, würde man das Mädchen mit der unausweichlichen weiblichen Macht, die in den Abgrund, ins Verderben führt, gleichsetzen und sie identifizieren. Sie ist vielmehr ein monströses Doppelwesen, in dem Gut und Böse, Helfen und Schaden, Eins werden. Lorelei wird zur paradigmatischen Schwellenfigur, die den »clash der einfachen Differenz und binären Klassifikationsschemata« demonstriert.85 Als Figur der Oszillation und der Hybridität,86 ist sie mit dem männlichen Protagonisten wesensgleich, der als »Dottore« (AS 37) und zugleich »Partigiano« (AS 37, 81) eine Doppelung, eine Kipp-Figur zwischen Helfen und Zerstören wird. Im Sinne der Krisenmetaphorik ist er einerseits als Heiler zu sehen, der die alte Ordnung wiederherstellt und andererseits als jemand, der eine vorgegebene Ordnung von innen untergräbt. Aus dem ständigen Umkippen aus dem einen ins andere entsteht ein nicht greifbares Rauschen, eine Überkodierung im Schwellenraum, die Identifikation unmöglich erscheinen lässt. Auch hier taucht, indem binäre Klassifikationsschemata ad acta gelegt werden, das Monströse auf. Monstrosität ist hier als ein interpellatorisches Zeichen87 zu verstehen, das eine Idee verständlich machen will, die sonst unscharf, konturlos bleiben würde.88 Die Inszenierung der beiden Figuren stellt erst ihre Monstrosität vor Augen Beide sind durch ihre »penetrante Sichtbarkeit« auf der einen und ihrer unsichtbaren, potentiell unsicheren Referenz89 auf der anderen Seite als Monster zu erkennen. Lore und Darius scheinen aneinander gebunden zu sein und sie ziehen in Berlin von Sofa zu Sofa und trotz der Verbundenheit und Hilfeleistung tun sich zwischen ihnen Abgründe auf. Ihre Beziehung wird hauptsächlich vom Zweifel, vom Nichtgesagten geprägt. Alles ist undurchsichtig und Darius, der 84 85 86 87 88 89
Büchner: 1984, 143. Overthun: 2009, 51. Ebd., 50, 46. Toggweiler: 2013, 14. Vgl. ebd., 6ff. Vgl. Overthun: 2009, 45.
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vom ersten Moment an kein Vertrauen in das Mädchen hat, hegt immer mehr den Verdacht, dass sie lügt (AS 243).90 Sicherheit hat man aber auch über Darius, der Lore gegenüber auf jeden Fall ein doppeltes Spiel spielt, nicht. Was er denkt und sagt, stimmt nicht überein, divergiert häufig bis aufs Extremste. So befinden sich in der Narration im Zusammenhang mit Darius zwei Versionen derselben Sache nebeneinander, wobei das nur Gedachte immer durch Klammern markiert ist. Auch dies, das Auseinanderdriften von Gesagtem und Gedachtem, verursacht ein Oszillieren und kann als Grund dafür angegeben werden, dass die Kommunikation nicht funktionieren kann, dass statt Verstehen eher ein Nicht- oder ein Missverstehen zustande kommt. Die falschen oder nicht ganz korrekten Informationen sind Hinderungen, führen zu Fehlschlüssen und falschen Entscheidungen und Handlungen. Der Ausgangspunkt ist, dass die Frau, wie aus heiterem Himmel, plötzlich auftaucht, dass ihre Unterstützung keine bewusste Entscheidung von Darius war. Er ist da vielmehr unwillentlich hineingeraten, und auch ganz bis zum Schluss weiß er nicht, was seine Rolle in der Beziehung, wo sein Platz in Lores Leben ist.91 Er hat das Gefühl trotz seines Willens »in jemandes Leben hineingezogen« (AS 324) zu sein. Darüber hinaus fürchtet er sich vor zu viel Nähe, da dies mit Öffnung, Ehrlichkeit, Verpflichtungen verbunden ist. »[W]as wird aus mir, wenn ich sie liebgewinne« (AS 220), fragt er sich. Beherrscht wird aus der Perspektive von Darius diese Beziehung vom Zweifel, vom Verdacht, belogen, an der Nase herumgeführt zu werden. Die mehrfach verwendete Wendung, »sie erzählt mir was vom Pferd« (AS 50) zeigt die Angst vor List, und die Tatsache, dass nicht entschieden werden kann, ob man es in dieser Beziehung mit einem Freund oder dem Feind zu tun hat. Das Beziehungsgeflecht der beiden Protagonisten ist, als wäre es auf einem dünnen Seil angesiedelt und drohte mit Umkippen. Sie beide zeigen nie ihr wahres Gesicht, und diese Verstellung führt zu Unklarheit, wodurch die dominante Beziehung des Romans eine Unbestimmtheitsstelle bildet, die Orientierung und so Handeln schwierig macht. Trotz der vielen Zweifel stehen die beiden Figuren nolens volens doch einander zur Seite. Darius unterstützt die Frau, obwohl er Lore immer wieder loswerden möchte, er kümmert sich darum, 90
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Lores Gedanken kennt der Leser nicht, auch ihr Wissensstand bleibt verborgen, so kann nie mit Sicherheit entschieden werden, ob die Anschuldigungen seitens Darius, die aber auch nie explizit ausgesprochen werden, zutreffen oder nicht. Dadurch bleibt diese Problematik auch vor dem Leser abgründig. Als Beispiel kann die Situation im Krankenhaus erwähnt werden, die Situation nach der Geburt, in der Darius nicht weiß, wo er sich hinstellen soll (AS 352).
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dass sie ein Dach über dem Kopf hat, dass sie die nötigen Lebensmittel und Kleidungsstücke hat etc. Lore wiederum gibt ihm, obzwar nicht bewusst, eine Art Haltung, wird zur Antriebskraft des Weitermachens, des Suchens. Da Darius nicht will, dass die Frau seine Schwächen sieht, lernt er diese zu bekämpfen. Dies schubst ihn aus der Passivität, konkret aus dem Bett hinaus, und bewegt ihn dazu, tätig zu werden. Anders strukturiert ist die Beziehung Kopps zu Rolf und Muck, die als wahre Freunde (AS 141) gelten. Sie tragen nicht nur dazu bei, dass der Protagonist ein Dach über dem Kopf hat, sondern auch dazu, dass er an die Zukunft denkt, da sie ihn nach seinen Plänen fragen (AS 176, 292). Damit bewirken sie nicht nur, dass er zurechtkommt (AS 130), sondern auch, dass er sein Leben auf die Reihe kriegt (AS 277). In der allgemeinen Konfusion sehnt sich der Protagonist nach »einer gewissen Konsolidiertheit« (AS 233), danach, aus »abgestandenem Zwielicht« herauszukommen (AS 324), sich zumindest vorübergehend »etwas Norm und Ordnung« zu leisten (AS 171). Norm und Ordnung würden jedoch eine Identifikation, Kategorisierung, Dichotomie, ein Entweder-Oder verlangen, was hier unmöglich zu sein scheint. Die mehrfach wiederholte Aussage, wir leben auf der Straße (AS 127, 184), zeigt, dass keine bleibende Identität und so Ordnung möglich ist. Auch wenn man nicht wortwörtlich auf der Schwelle sitzt, wie Itzehoe (AS 128) in Catanien, ist man doch ständig auf der Schwelle zwischen Möglichkeiten: nicht drinnen und nicht draußen, nicht im Eigenen und auch nicht im Fremden, nicht ganz im Dunklen, aber auch nicht im Übersichtlichen, nicht ganz in der Wüste und auch nicht vollständig im schönen Leben. Die Schwelle steht für vorläufige und Not-Lösungen (AS 143, 147), für das Vorübergehende, für ein Auf-dem-Weg-Sein, und dafür, nie ankommen zu können. Die Schwelle kommt auch dem »Schweben zwischen Leben und Tod« (AS 276) gleich, dem Aufenthalt auf einem Seil über den Abgrund. In Zeiten permanenter und nicht inszenierter Liminalität gibt es keine Anleitung dazu, wie man sich im Schwellenraum verhält, bzw. wie und wann man herauskommen kann. Man spielt auf Zeit, will das noch Verbliebene überbrücken, um dann an einen festen Punkt zu gelangen. Die poröse Erde zeigt, dass der Protagonist sich aus der Sphäre der festen Gründe hinausbewegt hat an einen Ort der Schwelle, wo ihm aber der Selbstverlust droht.92 Der poröse Boden impliziert eine Spiegelbeziehung zwischen räumlichen und psychischen 92
Vgl. Schmitz-Emans: 2016, 12.
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Abgründen,93 die hier in Bezug auf die Verfassung des Subjekts maßgeblich sind. In Ermangelung des festen, eines dichten, nicht porösen und durchdringlichen Grundes und von Stabilität tritt der Sturz als Abgrundnarrativ in den Fokus. Die Bewegung auf dem Seil ist Chiffre für die so entstehende Gefährdung, für die Disposition des Ich jenseits des Stabilen, für Möglichkeiten des Scheiterns. Setzt man das Vorläufige, den Übergang mit dem Modell der Krise gleich, tut sich hier die Gefahr auf, dass die Situation keinen positiven Ausgang hat, keine endgültige Lösung findet. In Moras Oeuvre und auch in diesem Roman steht die nicht-inszenierte, permanente Liminalität im Fokus. Diese kommt einem Aufbruch ins Ungewisse, einem Eintritt in einen Möglichkeitsraum gleich, in dem es jedoch keine sichere Position mehr gibt, was demgegenüber vielmehr von Instabilität, Disparatheit und Kontingenzen bestimmt ist. Darius ist sowohl in Catania als auch in Berlin Tourist und Einheimischer, In- und Outsider, fremd und heimisch, bekannt und unbekannt (AS 103) zugleich. Alltag und Urlaub machen sind nicht eindeutig getrennt (AS 56). Wie ein »verdammter Tourist« (AS 164) fährt der Protagonist in Berlin zu einem Besichtigungspunkt, wo ihn das »berauschende Gefühl von Heimatlichkeit überkam« (AS 164). Die Rückkehr nach Berlin wird einerseits als Heimkehr empfunden (AS 112, 132), obwohl Kopp sich andererseits wie die kleine Meerjungfrau fühlt (AS 181), der bekanntlich die Füße beim Gehen weh tun, weil sie am falschen Ort ist. Es ist aber auch klar, dass es in der Großstadt schwer ist einen klaren Kopf zu bewahren (AS 112), da »die Dinge so kompliziert werden, dass ich nicht mehr weiß, was ich tun soll, und das weiß ich so leicht nicht« (AS 112). Darüber hinaus denkt Kopp, kaum in Berlin angekommen, gleich darüber nach, z.B. nach Irland auszuwandern, oder mit einem Van auf Reise zu gehen. Heimelig (AS 117) wird es ihm auch gar nicht wegen der Umgebung, sondern wegen der Gewohnheiten, die er in seinem alten Leben hatte, wie z.B. das Fernsehen, der lockere Tagesablauf, die Nicht-Eingebundenheit in eine rigide Arbeitswelt. Der männliche Protagonist des Romans ist, und das korrespondiert mit Baumanns Diagnostik, ein »Umsteiger« (AS 103) und überall, in all seinen Beziehungen ein Tourist,94 der in einer Art Ausnahmezustand, im Vorübergehenden sein Dasein waltet, ein unstetes, unverbindliches Leben hat. Da er nirgendwo mehr richtig beheimatet ist, ist für ihn dieses Touristen-Dasein 93 94
Vgl. ebd., 14. Ähnlich ist auch Metin ein Vagabund, obwohl sein Name Beständigkeit, Standhaftigkeit versprich, woran er sich jedoch nicht hält (AS 58).
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eine permanent liminale Phase ohne Fixpunkte. Wieder in Berlin angekommen, beginnt er nun daran zu arbeiten, sich reintegrieren (AS 287) zu können: Papiere und damit einen Identitätsnachweis zu bekommen, eine angemessene Arbeit zu finden und vielleicht auch zu der sozialen Gruppe der Ehemänner zu gehören. Was die Arbeit wäre und vor allem, wo, ist zunächst noch unklar. Identifizierung ist darüber hinaus nicht mit Hilfe der Papiere zu erreichen, sondern durch eine reflexive Selbstthematisierung und Selbstbildung. Wie das im Roman vor sich geht, soll Thema des nächsten Kapitels sein. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen gilt nun zu fragen, welche Muster und Modi im Text dafür angeboten werden, aus dieser Diffusion und Überlappung divergenter Bereiche herauszukommen und das Fließen in Form zu gießen, Konturen zu finden. Am Beginn der ganzen Prozedur könnte das »Hier bin ich nun« (AS 166) stehen, das geflügelte ›Lutherwort‹, zwar eine Legende, doch ein Muster dafür, einen Standpunkt zu finden, und den zu verteidigen. Dieses ›Hier bin ich nun‹ als Folie, ist aber nicht nur in dieser Bedeutung als Bestimmung eines festen Punktes im Hier und Jetzt zu sehen, sondern auch als Modell dafür, dass Verortungen Teil eines kulturellen Gewebes sind, die sich darüber hinaus, und darauf liegt hier der Akzent, als narrative und zugleich performative Akte, in dieser Beschaffenheit in einem Schwellenraum von Realität und Fiktion befinden. Der Schlüssel zu einer Ortsbestimmung scheint die Aufmerksamkeit zu sein, die nach der Waldenfels’schen Theoretisierung nicht fixiert, sondern ein Schwellenphänomen ist, in dem selbst der Einzelne auf der Schwelle von Anspruch und Antwort steht. Aufmerksamkeit ist demnach prozessual, eine Hinüberführung von Widerfahrnis zur Antwort.95 Aufmerksamkeit wird nicht als intentionaler Akt als Plan oder Steuerung gesehen, da in ihr alle Grenzen, so auch die von Aktivität vs. Passivität, Innen vs. Außen perforiert,96 mit anderem Wort, porös sind. Diese Tatsache ist für meine Überlegungen einerseits deswegen signifikant, weil bei Mora nicht ein Subjektkonzept inszeniert wird, in dem intentionales Handeln fundamental wäre. Andererseits wird Aufmerksamkeit in der Forschung nicht als rationaler Akt, nicht als Dichotomisierung und Kategorisierung konzipiert, nicht als ein Prozess des Zählens und Messens, sondern als einer des Abwägens, da die Aufmerksamkeit den spektakulären Gegensätzen wahr/falsch, gut/böse, Recht/Unrecht,
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Waldenfels: 2004, 9, vgl. auch Müller/Nießeler/Rauh: 2016, 8. Vgl. ebd., 12.
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nützlich/unnützlich, Eigenes/Fremdes widerstrebt.97 Aufmerksamkeit wird von Trieben, Bestrebungen, Vorlieben, Interessen etc. gesteuert, die in der Regel in gemischter Form auftreten und darüber hinaus auch noch flüchtig, kaum zu bemerken sind.98 In einer kontingenten Ordnung ist es als ein Begriff der »Ermöglichung«99 zu verstehen. Die Aufmerksamkeit, ein Widerfahrnis bringt als exogener Eingriff einen Grenzübertritt im Sinne eines neuen Sehens mit sich, wenn das Eintreffen von Lorelei in Catania dem männlichen Protagonisten klar macht, dass er bislang wie eine Blindscheiche gelebt hat, als wäre er unterirdisch verkrochen, und nun sei die Zeit da, »den Kopf aus dem Mehlstaub zu heben« (AS 70). Von da an zeichnet sich für Darius ein Weg des Wandels ab. Zentral erscheint auf diesem Weg die Wachsamkeit, die gegen den Schlaf und andere schlafähnliche Zustände ausgespielt wird. Wachsamkeit kontra Schlaf ist auch die mögliche Polarisierung zwischen Lorelei und Darius. Lore nimmt durch den ganzen Text hindurch eine extreme Weigerunsghaltung ein. Sie bleibt durchgehend passiv, und diese Passivität manifestiert sich im Schlaf. Sie verbringt fast die ganze Zeit im Bett, schließt die Augen oder schläft. Sie ist wie gelähmt, fast zu jeglicher Handlung unfähig. Ihre vollkommene Passivität und Starre wird nur immer wieder von einem Spaziergang unterbrochen. Als einer Minderjährigen wird ihr ja die Handlungsmacht offiziell verweigert, sie nistet sich in dieser Position ein und wartet auf ihre Volljährigkeit. Ihre ohnmächtige Passivität wird darüber hinaus zum Teil auch durch die schwere Schwangerschaft legitimiert, kann jedoch auch damit nicht vollkommen plausibilisiert werden, da sie sich auch nicht um ihr zukünftiges Kind kümmert. Lore scheint im Erzählganzen als Modell dieser Verweigerung zu stehen, als eine Art Negativfolie der männlichen Figur. Die verfällt nur sporadisch in diese Haltung, ist sonst eher hellwach, was man auch braucht, damit nicht alles im nicht-identifizierbaren »tiefen Schwarz« (AS 178) untergeht. Lore scheint schon bei der ersten Begegnung ohnmächtig zu werden (AS 51), wenn »es eng wird, wird ihr schlecht« (AS 74) und dann schläft sie ständig ein (AS 333) oder schließt einfach die Augen und lässt die Tage auf sich zukommen (AS 69). Diese Haltung entspräche auch dem Habitus von Darius, der, hätte er ein Wappen, sich darin mit einer Sänfte am besten repräsentiert fühlte (AS 23). Er ist träge, würde sich also am liebsten von anderen herumtragen lassen.
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Vgl. Waldenfels: 2004, 10f. Ebd., 14. Ebd., 25.
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Dies ist ihm verwehrt, so ist er dazu gezwungen, selbst Schritte zu tun, also zu handeln. Gerade in dem Punkt des Handelns identifiziert er sich mit dem Schwimmen, als der »Handlung eines freien Menschen« (AS 83). Doch entpuppt sich dies als eine uneinlösbare Idealvorstellung, wenn er während des Schwimmens wegen eines Krampfes fühlt, als würde ihn »das legendäre Meeresungeheuer« verschlingen, ein Aal einverleiben oder ein Monster in die Tiefe ziehen (AS 84).100 Er kommt zwar heil davon, er ist aber fast einer Kleinigkeit zum Opfer gefallen. Diese Szene versinnbildlicht die Unmöglichkeit dessen, eine Situation auf Dauer zu beherrschen, ohne Eingriffe von Innen oder Außen, ohne Kontingenzen leben zu können. Darius maßt sich dann auch nicht an, wie ein freier Mensch zu handeln. Klar wird aber auch, dass man trotz Beeinträchtigungen und Überfällen nicht dazu prädestiniert ist, in den Abgrund zu stürzen. Man hat eine weitere Hand und zwei Beine, die während des Schwimmens arbeiten können, und darauf, auf diese »Arbeit« (84) kommt es schließlich an. Man nimmt den alltäglichen Laokoon-Kampf (AS 292) gegen die Drehung auf. Um uns dem Untersuchungsgegenstand weiter anzunähern, stellt sich als nächste Frage, wie Handeln möglich wird. Im Sinne von Aufmerksamkeit bedeutet Arbeit nicht, dass man katalogisierte Daten verwalten würde. Es geht vielmehr um ein Hervortreten und Zurücktreten, darum, dass ein Thema auf diese Weise relevant wird, aus der Fläche hervortritt und Kontur gewinnt, als Relief erscheint.101 Diese Reliefbildung bedeutet Sammlung und Konzentration, also Wachsamkeit und die Vermeidung von Zerstreuung. Gerade diese »Abhebung der Gestalt von einem neutralen Hintergrund«, und die »hinreichende Prägnanz« dieser Gestalt bedeuten eine »Weckung«, eine Kraft »gegen die Kraftlosigkeit des Schlafs«.102 Der Prozess, der hier vor sich geht, ist demnach keine konkrete Zielsetzung und auch kein teleologisches Voranschreiten, es ist vielmehr eine fortwährende Bewegung des Hervor- und Zurücktretens, indem allmählich etwas Gestalt annimmt, diese Form dann aber auch wieder verliert. Es gibt zwar eine Unsicherheit, was Figur und was Grund ist, 100 Interessant ist hier, dass sich der Text wieder in der Wassermetaphorik bewegt. Mit Lorelei, aber auch mit der kleinen Meerjungfrau wurde die Metapher bereits bemüht. Beide Erzählungen, die Geschichte von der Loreley und auch die von der Meerjungfrau sind aber auch mit der Frage nach Gelingen und Scheitern gekoppelt, was der Wassermetaphorik inhärent ist. Die kleine Meerjungfrau rekapituliert darüber hinaus das Deplatziert-Sein, aber auch die Unmöglichkeit von Kommunikation und Mitteilung. 101 Vgl. Waldenfels: 2004, 102f. 102 Vgl. ebd., 96. Alle Zitate des Satzes.
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doch läuft hier eine Bewusstseinssteuerung, die Konzentration und Fokussierung ermöglicht und polarisierenden Kräften der Vielheit eine Absage erteilt. Der maßlose Konsum von Lebensmitteln, Alkoholika, Kleidern und vor allem Medieninhalten wird eingestellt, die galten ja für den Protagonisten in den ersten zwei Teilen der Trilogie als Formen der Ablenkung und Zerstreuung, als gegenläufige Reiztendenzen zur Sammlung und Konzentration. Lore ist der Anstoß, sie bringt Kopp zurück nach Berlin, wo man dann nur zum Teil an das Alte anknüpfen kann, denn fast alles ist verloren. Es muss ein neuer Anfang gemacht werden. Nach seiner Rückkehr wird der Protagonist nach seinen Plänen gefragt, er selbst hat aber auch keine Vorstellungen davon, wie das Leben weitergehen könnte oder sollte. Als Stadtmensch fühlt er sich »in seinem Element« (AS 156), es wird hier, in Berlin, viel geboten, die »Möglichkeiten sind mannigfaltig« (AS 156), man könnte »in so viele verschiedene Richtungen losgehen« (AS 156). Es wäre gut, wenn jemand »einen entscheidenden Hinweis« geben würde, man ist aber auf sich gestellt, alles beginnt und endet bei der eigenen Person (AS 156). Die Ideen, die der Protagonist hat, gehen in diverse Richtungen, reichen vom Ziel, wieder in Berlin oder in Irland EDV zu machen, ganz bis zum Plan, mit einem Van durch die Welt zu fahren (AS 180) oder einfach nur zu saufen (AS 176). In dieser Konfusion drückt dem Protagonisten Muck, der eine Freund, einen Teil einer überregionalen Zeitung in die Hand, »ausgerechnet jenen, in dem die Stellenanzeigen waren« (AS 181). »Es ist interessant zu beobachten, dass sich Darius Kopps Herzfrequenz beim Betrachten solcher Anzeigen erhöht.« (AS 182) Er hat zwar das Gefühl, als bewege er sich in einem Möbiusband, doch wird auch klar, dass er die Verbindung zur EDV-Welt noch nicht ganz verloren hat. Immer wieder begegnet er ›Irland‹, was er schon als Zeichen deutet (AS 183). Es gibt aber noch keine Richtung, Kopp treibt auch durch die Straßen (AS 161) oder verheddert sich in der Stadt (AS 181). Neben der Wohnungssuche und amtlichen Angelegenheiten verbringt er den Großteil seiner Zeit damit, für sich und die anderen Lebensmittel zu besorgen. Es gibt noch keinen Fokus, aber er kehrt in Gedanken immer wieder zu den Anzeigen zurück. Er versucht, sich auf das Wesentliche und auf das Positive zu konzentrieren. Da wird ihm bewusst, dass die Anzeigen seine Phantasie angeregt haben, dass er sich eine Zukunft vorstellen kann, dass überhaupt »etwas Anderes da ist, als nur Vergangenheit und Gegenwart« (AS 245). Diese Bewusstseinssteuerung, dass eine Art von Fokus entsteht, ist durch die Änderung der Blickrichtung, bzw. die Erhöhung der Herzfrequenz markiert. Kopp beginnt sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern (AS 246), und trifft die Entscheidung, Bewer-
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bungen nach Cork zu schicken. Dazu benötigt er aber einen »aktualisierten Lebenslauf«, was heißt: »eine gute Story« (AS 246) zu haben, mit der man sich verkaufen kann. Durch diese Entscheidung gerät dann Vieles in Bewegung, er kümmert sich um die Unterlagen, die Recommendations, merkt aber auch, dass die Gefahr besteht, dass er sich auf einem Umweg verläuft (AS 249). Er besorgt sich einen Anzug, den man bei einer Bewerbung braucht (AS 252). Klar ist, dass man »investieren muss«, »denn aus nichts wird bekanntlich nichts« (AS 253). Eindeutig wird durch diese Handlung aber auch, dass Kopp, wie auch in den beiden anderen Teilen der Trilogie, durch Scheinbeschäftigungen ein Tätig-Sein mimt. All dies weckt in ihm das Gefühl mit den anderen mitzuschwimmen (AS 253. Herv. v. Verf.),103 wie ein handelnder Mensch und normalisiert zu sein. Bald schläft er aber in der Straßenbahn ein und der neue Anzug kommt abhanden (AS 254). Danach, nach diesem Ereignis des Scheiterns, möchte er nur noch schlafen, nicht mehr aufstehen (AS 260), möchte am liebsten eine Verweigerungshaltung einnehmen. Hier bekommt Lore eine zentrale Rolle, da Kopp nicht will, dass sie sein wahres Gesicht, seine Schwächen sieht. Aus der Situation wird klar, dass das Nachlassen von Aufmerksamkeit schnell zum Scheitern führen kann, der Schlaf ist eine Gefährdung, Wachsamkeit jedoch wird prämiert. Das Leben erscheint zwar beschissen (AS 259), aber es geht weiter, egal, was passiert (AS 261). Die Praktiken, mit denen der Protagonist aus der aktuellen Krise herauskommt, eine Entwicklung meistert, entsprechen dem bürgerlichen Subjekttypus: es geht nämlich um Reflexivität, Selbstkontrolle und Selbstbeobachtung, Bändigung des Exzessiven, um Disziplin, um das Abstreifen des Maßlosen, Nutzlosen.104 Zu diesen Technologien des Selbst (Foucault) gehört die Zähmung mentaler Fluidität, also eine bewusst-unbewusste Steuerung der Aufmerksamkeit. Die Fokussierung geschieht durch Reflexion und rationale Praktiken des Ordnens in Einerseits/Andererseits, in einem Denken in Kategorien, in der Aufstellung von Reihenfolgen und Listen, denn »der Mensch braucht Strukturen« (AS 354). Das Parasitäre Im-Bett-Liegen ist nur erlaubt, wenn man krank ist (AS 300). Kopp ist zwar nicht mehr am Berg, fühlt sich aber »auf dem Gipfel (seines Lebens)« (AS 191. Herv. i. Orig.), von dem aus
103 Oben ist darauf verwiesen worden, dass das Schwimmen mit eigenständigem Handeln gleichgesetzt ist, damit, dass der Protagonist Herr über sein Leben wird. 104 Vgl. Reckwitz: 2004, 166-168.
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er eine Art Überblick zu haben scheint, der Ordnen, Strukturierung ermöglicht, »als wäre jetzt wieder alles in der Reihe« (AS 247). Er erarbeitet in einem Selbstgespräch, den Blick auf drei Schornsteine gefesselt, seinen möglichen Bewegungsraum für einen Lebenslauf, für eine Identifizierung. Die aus dem Umfeld markant hervorstechenden Formen, die Schornsteine, bändigen seine Aufmerksamkeit und helfen bei der Strukturierung in erstens/zweitens und im weiteren Ordnen des zweiten in drei Unterpunkte, wodurch eine hierarchisch geordnete Struktur entsteht.
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»Legendenbildung ist das ganze Leben.« Mechanismen der Identitätsbildung
Die zentrale Frage ist für den Protagonisten, wenn er sich (re)integrieren will, Arbeit zu finden, wofür man einen plausiblen Lebenslauf braucht. Dieser ist nicht von allein da, er muss narrativ konstruiert werden, und man hat bei der Zusammenstellung gewisse Freiheiten und Möglichkeiten. Kopps Eingebundenheit liegt in weiter Ferne, denn seit drei Jahren ist er im konkreten oder übertragenen Sinne unterwegs. Er ist auch beruflich nicht in feste Beziehungsgeflechte eingebunden, ist ohne Arbeit, zumindest ohne Anstellungen, die für den EDV-Bereich plausible Kohärenzen herstellen könnten. Die Frage ist für den Protagonisten somit, wie eine Integration in die Arbeitswelt und damit auch eine Reintegration in die Gesellschaft möglich wäre. Die Praktiken des gegenwärtigen Subjekts bauen nach Reckwitz nicht mehr auf soziale Regeln, sondern »auf stories und performances«.105 Die Verfahren der Selbstbildung gehören demnach zur Semantik von Innovation und Fluidität, was die permanente Auflösung von Strukturen mit sich bringt, und eine offene Aktivität, eine Kombination verschiedener Möglichkeiten bedeutet.106 Wenn es nicht mehr darum geht, dass man sich zu sozialen Regeln in Beziehung setzt, geht es bei der Identitätsbildung nicht mehr um Einbettung in einen sozialen Rahmen. Dieser Rahmen ist gerade wegen der permanenten Liminalität aufgelöst. Es geht vielmehr um die Einbettung in narrative Muster und um den Entwurf eines möglichen neuen Rahmens in einem performativen Akt. Einen vorgegebenen Rahmen gibt es nicht, er entsteht erst durch seine Hervorbringung. 105 Reckwitz: 2006, 509. 106 Ebd., 508.
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Was Lebensläufe und Selbstthematisierungen anbelangt, setzt der Erzähltext auf Pluralität, und führt ein Reservoir verschiedener Wege und Varianten vor Augen. Damit wird zur Schau gestellt, dass es keine Notwendigkeiten und auch keine Eindeutigkeiten und Gewissheiten gibt. Komprimiert erscheint diese Idee im Textganzen im mehrfach durchgespielten Satz: ›Was ist deine Geschichte?‹ Bei diesen wiederholten Selbstthematisierungen geht es nicht in erster Linie um offizielle und schriftliche Lebensläufe, die man evtl. zu einer Bewerbung braucht. Es geht vielmehr um Figurationen von Gastlichkeit, um die ganz normale Begegnung mit Fremden oder Bekannten, denen man je eine Version des eigenen Lebens oder eines Lebensabschnittes erzählt. Was erzählt wird, wird nicht in erster Linie von der ›Wirklichkeit‹, sondern vielmehr vom Gegenüber gesteuert. Es gibt nämlich Varianten »für ältere Damen« (AS 286), für Bekannte und Unbekannte etc. Diese ›Geschichten‹ unterscheiden sich aber im Wesentlichen nicht davon, und das ist zentral, was man offiziell, in einem juristischen Fall oder bei Bewerbungen angibt. Diese verschiedenen Variationen existieren darüber hinaus nicht nur im realen, sondern auch im virtuellen Raum und werden dadurch noch aufgefächert. Neben den realen stehen nämlich auch noch diverse aktuelle und nicht mehr aktuelle Netzexistenzen (AS 112) ein und derselben Person. Klar ist jedoch, dass die realen Varianten sich im Prinzip nicht von den virtuellen unterscheiden, da in beiden das Reale mit dem Imaginierten, Wirklichkeit mit Fiktion aufs Engste verwoben ist. »Legendenbildung ist das ganze Leben«, könnte man die Devise des Romans nennen (AS 266). Durch dieses Moment, ein Plädoyer für die Fiktion, bzw. für das Verwoben-Sein von Fiktion und Realität wird die ganze Romanstruktur zum Ausdruck gebracht. Die Geschichte von Darius Kopp ist auf einer Metaebene eingewoben in Legenden und Erzählungen über die Lorelei, den Ararat, über Luther u.s.w. und generell in narrative Formen und Schemata. Bei Legenden geht es primär um eine biographische Kernnarration, in der die reale und fiktive Ebene ineinanderfließen. Die Grenzen zwischen beiden sind aufgelöst und man befindet sich in einem liminalen Schwellenraum, in dem das Eine vom Anderen nicht zu trennen ist. Fast alle Figuren, Gabriela, Itzehoe, Metin, Lore, Olli, Rolf, Muck, Darius‹ Vater, Mutter und Schwester erzählen ihre Geschichte, und auch Darius erzählt die seine. Hauptsächlich geht es dabei in verschiedenen Versionen um sein Unterwegssein nach dem Motto: Wer eine Reise macht, der kann auch was erzählen. Die Varianten bewegen sich auf der Schwelle von Identität und Differenz. Sie repräsentieren eine je andere narrative Ausgestaltung von Ereignissen seines Lebens der ver-
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gangenen Jahre in einer längeren oder einer gebündelten Form und mit je verschiedenen Selektionsmechanismen und Akzentuierungen. Diese Geschichten repräsentieren jedoch nicht allein die Porosität, des So-und-auch-Anders, sondern sind gleichzeitig als basaler Movens der Narration zu sehen. Jede Begegnung treibt die Erzählung weiter, indem immer neuere und neuere Geschichten erzählt werden können, wodurch aus der Kette von Begegnungen eine Reihe von Erzählungen wird. Man ist nicht nur im Raum, sondern auch in den Geschichten unterwegs. Eine besondere Komplexität, eine weitere Ebene der Verwobenheit entsteht, wenn diese persönlichen Geschichten mit den ›großen Erzählungen‹, mit Mythischem und Biblischem zum Beispiel, ineinander geblendet werden. Es geht hier nicht um eine In-Kraft-Setzung von ›großen Erzählungen‹ der Tradition. Betont wird vielmehr die Relevanz von narrativer Weltbewältigung. Mit dieser Tätigkeit des Geschichten-Erzählens werden nicht nur Isolation und Einsamkeit, sondern auch die Ungeheuer bekämpft. Narrative Muster arbeiten daran generell das Fremde, worunter auch das eigene Fremde zu verstehen ist, sowie das Ungreifbare, die Ohnmacht der Wirklichkeit gegenüber zu mildern. Narrativa stellen eine Art der Weltbewältigung dar, indem sie ordnen, rekapitulieren, vorwegnehmen etc. Man ist zwar unbehaust, doch ist man in Geschichten integriert. Das bedeutet jedoch nicht, dass man in eine von Ihnen fest eingebettet wäre. Vielmehr sind diese Geschichten als Möglichkeiten, oder noch mehr als »Ermöglichung« zu sehen, die das Heterogene, das Simultane nicht in Homogenität oder in ein zeitversetztes Nacheinander überführen möchten. Der Möglichkeitssinn erscheint in Form multipler Identitäten und Identifizierungsmöglichkeiten. Der Protagonist hat ja schon als Sohn, Bruder, Onkel, Witwer, Freund, EDV-Experte, Koch etc. verschiedene Identitäten, die hier noch weiter aufgefächert werden, wenn man neben der ›realen‹ auch noch eine oder mehrere virtuelle Netz-Existenzen (AS 112) hat, die sich miteinander oder mit der momentanen Realität nicht mehr decken. Durch diese fortwährende Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart fließen die Zeiten ineinander, es wird auch klar, dass man die Vergangenheit nicht wie E-Mails aus einer Mailbox einfach löschen (AS 131) kann. Laut Netz und des Businessprofils ist Kopp noch angestellt bei Fidelis Wireless, und selbst wenn er sich wünscht, »er hätte doch alles vergessen« (AS 112), ist die Vergangenheit da, sie kann nicht eliminiert werden. Es ist im Netz, als würde die Zeit stillstehen (AS 240). Doch in Wahrheit sind seit dem Bruch mit Fidelis drei Jahre vergangen, die wie ein Abgrund dastehen, den man überbrücken muss.
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Man muss »etwas Plausibles und vor allem Vorteilhaftes ausdenken« (AS 241), um diese Lücke im Lebenslauf zu füllen, Zusammenhänge herzustellen. Richtet man den Blick auf das Wort ›ausdenken‹, wird klar, dass es hier um Fiktionen und Imaginationen geht, kurz um Legendenbildung, als Herstellung einer biographischen narrativen Form von Kohärenz und Plausibilität. Es muss eine Geschichte gestrickt, etwas Attraktives aufgetischt werden, man hat aber kein vorgegebenes Rezept dazu, das man einfach nehmen könnte. Wir haben hier ein geändertes Subjektkonzept vor uns, ein Modell, das nicht mehr dem bürgerlichen Subjekt entspricht, das nicht mehr durch »Gleichförmigkeit« beschrieben werden kann, bei dem es keine »fixe Struktur der Identitätswiederholung«107 gibt. Es geht nicht mehr um hierarchische Strukturierungen und Innovationsfeindlichkeit, sondern um offene Aktivitäten, die Reckwitz Exploring, eine assoziative Kombination von Möglichkeiten nennt.108 Daran gebunden ist auch eine »ständige Revidierbarkeit von Wahlentscheidungen«, das »Ausloten verschiedener Optionen« im Ausprobieren.109 Es basiert darüber hinaus nicht auf einer rationalen Entscheidung der Wahl, sondern gehorcht einem anderen Muster, der mit Reckwitz explored choices genannt werden kann.110 Diese soziale Praxis gehört zu den Verhaltensroutinen des postmodernen Subjekts, für den die Welt keine Handlungswelt mehr darstellt, sondern vielmehr aus Reizen besteht. So ist auch das Subjekt kein gleichförmiges und zielgerichtet handelndes,111 kein ›Charakter‹112 im traditionellen Sinne, sondern ein radikal ästhetisches, erratisch, sich ständig änderndes Konstrukt. Ein wildes,113 haltloses, phantastisch-ästhetisches Denken114 ist sein eigen. Das Subjekt ist deswegen jedoch dazu prädestiniert, die Grenzen der Gleichförmigkeit ständig zu überschreiten.115 Das Ästhetische ist als ein Gegenpol zum Rationalismus der Weltbearbeitung zu sehen,116
107 108 109 110 111 112 113 114 115 116
Reckwitz: 2006, 507. Ebd., 575. Ebd., 578. Ebd. Reckwitz nennt die bürgerliche Form gleichförmig-strukturiert, voranschreitend, die ästhetische Form hingegen erratisch, beweglich. Vgl. Reckwitz: 2004, 158. Ebd., 167. In ihrer Salzburger Poetikvorlesung betont Mora bereits in der ersten Vorlesung die Rolle und Omnipräsenz des Wilden. Reckwitz: 2004, 168. Ebd., 169. Ebd., 165.
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was heißt, dass kein längerfristiges Denken, keine Planung, keine Kalkulation vorhanden ist, sondern an Stelle dieser eine imaginative Vorwegnahme tritt. Es gibt nach dem allgemeinen Ordnungsschwund nicht mehr das Wissen oder die Versicherung von einer vorgegebenen Ordnung, die man finden könnte, oder einen vorgegebenen Platz, den man einnehmen könnte. So sucht man fortwährend, zieht von Sofa zu Sofa und genauso von Story zu Story weiter, ohne in einer endgültig eingebettet zu sein. Alles kann auch anders sein, es gibt mehrere Optionen und Variationen, da nichts einen notwendigen Existenzgrund hat. Der Grund ist porös, fluide, beweglich, es gibt kein unveränderbares Fundament. Da die traditionellen Ordnungen ihre Gültigkeit eingebüßt haben, und die Kontingenz an ihre Stelle trat, gibt es für das Individuum nichts Vorgegebenes, was es nur nachvollziehen sollte, um ans Ziel zu gelangen, sich verorten, eine dauerhafte Identität finden zu können. Statt eines solchen festen Ortes schwebt dem Protagonisten im Roman Moras vor, sich zu normalisieren, nicht so zu sein, wie einer, den das Meer an einen Ort geschwemmt hat (AS 249). Er will nicht wie ein Flüchtling (AS 248) sein, will vielmehr aus dunklem Zwielicht in Geordnetheit und Helligkeit kommen (AS 324). Sein Ausgangspunkt ist Null, nämlich nichts zu haben und nichts zu sein (AS 111). Er hat Vieles verloren (lost everything) (AS 237. Herv. i. Orig.), eine ganze Reihe Menschen und Dinge stehen auf seiner Liste (AS 271). Dieses Nichts-zu-Haben, scheint, wie die andere Seite der Liste zeigt, doch nicht ganz zu stimmen. Denn, was da ist, ist der »Lebenslauf, den du gestalten kannst, wie du willst« (AS 271), also eine Artikulationsform der unendlichen Möglichkeit. Von diesem Punkt aus beginnt der Protagonist seine Identität aufzubauen, eine gute Story zu finden, die ihm garantieren könnte, jemand zu werden und dann auch etwas zu haben. Die Suche nach einer adäquaten Geschichte führt zu der bereits genannten Legendenbildung, zu einem narrativen Muster, in der Wirklichkeit und Fiktion Hand in Hand gehen. Es entstehen verschiedene Variationen zu einem Thema, zu der Überbrückung der vergangenen drei Jahre. Um dies zu meistern, werden diverse Optionen als Möglichkeitsräume durchgespielt. Zum einen die Version, wonach der Protagonist einen alten Freund, Aris, in dessen Firma unterstützt hätte, zum anderen die Selbständigkeit in Italien mit einer eigenen Firma namens ›Work a wawe‹, die beide mit dem EDV-Bereich in Verbindung stehen. Drittens geht es um eine ganz andere Option, in der man sich zu der eigenen Reise bekennen, die Reise an sich jedoch als Bildungsreise titulieren würde. Es gehört nämlich nicht zur Normalität, nichts zu machen, kein Ziel zu verfolgen, also ein parasitäres
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Dasein117 zu haben. Die Sache nur für sich, Reise der Reise wegen, wird nicht akzeptiert, es muss am Ende etwas herauskommen, ein Ergebnis vorhanden sein. Um nicht zugeben zu müssen, dass man ziellos umherirrte, werden die Legenden erfunden, bzw. aus vorhandenen Rohmaterialien gestaltet und umgestaltet. Diese Formung und Umformung ist ein kreativer Prozess, der rationale Überlegungen und Abwägungen nicht ausschließt, aber im Grunde nach ästhetischen Prinzipien geschieht, Gesetzen der Imagination folgt. Es geht darum, Details auszumalen (AS 339). Die Selbstbildung geschieht in einem oszillierenden Prozess, einem Hin-und Her zwischen rationalen Entscheidungen und Ordnungsversuchen zum einen und nicht rationalen Geschichten, die einem u. a im Traum erscheinen, zum anderen. Die stehen nicht nur für ein divergentes Erleben, für einen anderen Bewusstseinszustand, sondern auch dafür, dass der Schlaf nicht nur ein passiver Zustand ist, in dem nichts geschieht. Auch wenn es nicht als aktives Handeln gesehen werden kann, werden in ihm Variationen durchgespielt, inszenatorisch erprobt und damit eigentlich schon ermöglicht. Erschien der Schlaf stellenweise als Gefahr, der Traum als etwas, das sich nicht mit der Wirklichkeit überlappt, wird hier sowohl der Schlaf als auch der Traum auch als fruchtringend inszeniert. Damit sind beide, Schlaf und Traum, dem Doppelprinzip des Romans unterworfen, ihre Funktion kann nicht eindeutig bestimmt werden. Sie können Passivität und Aktivität, Realitätsferne aber auch die Vorwegnahme von Realität zum Ausdruck bringen. Der Protagonist träumt, dass er neu durchstartet (AS 240). Dann träumt er eine kafkaeske Geschichte, dass er nämlich im Beruf zwar ein »high player« (AS 301) wurde, für die Anstellung jedoch etwas unterschreiben musste und im Schreiben versichert hat, dass er nie heiraten bzw. mit 65 sterben würde (AS 301). Er träumt auch »von zukünftigen Jobs« (AS 305) und in seinen letzten zwei Träumen erscheinen Metin und Lore. Zwei Fragen sind zentral in seinen Träumen: zum einen seine Zukunft und zum anderen die Skrupel, die Skepsis dem Gesagten und dem Verhalten der Mitmenschen gegenüber. Im Fokus von beiden steht die Frage, was ist real, bzw. was kann real werden. Maßgeblich dabei wird also auch der Zweifel der scheinbaren Realität gegenüber, die Tatsache, dass es zwischen ›Realität‹, dem Gesehenen und
117
Zum bürgerlichen Subjektkonzept gehört Tüchtigkeit, während die feudale Faulheit ähnlich zum künstlerischen Nichtstun als Müßiggang, als ein parasitäres Dasein gelten. Wertkomplexe sind mit Arbeit konnotiert, Nichtstun ist demgegenüber eine Untugend, impliziert ein parasitäres Dasein. Vgl. Fähnders/Asholt: 1991, 9ff.
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Gehörten und dem Traum in vieler Hinsicht keinen Unterschied gibt. Das Nicht-Ausgesprochene wird thematisiert, das Misstrauen und die Skepsis den Mitmenschen, hauptsächlich den beiden jungen Leuten, Lore und Metin, gegenüber, wenn es heißt, dass bei Metins Abschiebung gar kein Flugzeug da war, bzw. dass Lores Bauch »eine Art Fass« ist, das »mit nichts Anderem als mit medizinischer Luft […] gefüllt war.« (AS 349) Gemeinsam in beiden Träumen ist die Unsicherheit, die Ungewissheit und Unentschiedenheit von jedem Verhalten und jeder Aussage, die Bodenlosigkeit, wodurch die Zukunft noch fraglicher erscheint, da man im Jetzt keine feste Position einnehmen kann. Alles ist Lüge (AS 329), Verstellung (AS 235), man geht Scheinehen ein (AS 340). Im Fokus steht nicht nur die Legendenbildung, vielmehr scheint das ganze Leben, wie der Lebenslauf, Fake zu sein: »Fake-Jungpionier, FakeFunkmechaniker« (AS 234), es gibt kaum etwas Echtes, etwas, in dem man wirklich »anwesend« (AS 235) und nicht verrutscht (AS 234) ist. Die Wirklichkeit ist im Traum genauso wie beim Rausch verrutscht, sie unterscheiden sich jedoch kaum vom Wachzustand. Es gibt keine Sicherheit, Wachen ist nicht realer als der Traum und der Traum nicht unwahrer als die Realität, wodurch die Orientierung noch weiter erschwert wird. Alles bewegt sich im liminalen Zwischenbereich zwischen verschiedenen Ebenen, und es gibt keine Sicherheit darüber, was echt und was gefälscht, was Schwindel und Imitation ist. Bereits im früheren Leben des Protagonisten, im sog. real existierenden Sozialismus, war dies das Grundprinzip und auch in der Gegenwart ist das »the name oft he game« (AS 235): »Dass du etwas darstellen musst, bevor du es bist, damit sie dir erlauben, es irgendwann auch zu sein«. (AS 235) Dieses ›fake it‹ ist das Modell, dass bei der Identitätsbildung das maßgebliche Spiel wird. Nicht nur der Traum dient dazu, etwas vorwegzunehmen, eine Konstellation durchzuspielen, denn im Wach-Sein funktionieren die Dinge genauso. Die Voraussetzung ist ja schon, dass niemand eine konstante Identität hat, sondern zwischen den Möglichkeiten »zügelloses Arschloch – Nichts – Engel« (AS 169) unterwegs ist, also verschiedene »Erscheinungsformen« (AS 168) hat. Dazu kommt aber, dass man auch bewusst in die Legendenbildung, in das Fake-Spiel einsteigt, indem man versucht, für sich eine »gute Story« (AS 246) zu basteln, sich eine Geschichte auszumalen (AS 247-249). Das Subjekt wird nicht nur ein hybrides Arrangement,118 sondern es wird auch zu einer »semiotischen Projektionsfläche«,119 wodurch ein Selbst kreiert wird, 118 119
Reckwitz: 2006, 509. Reckwitz: 2004, 179.
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das »an sich arbeitet, um in seiner äußeren Wirkung zunehmend attraktiv zu erscheinen«.120 Es werden also Attrappen entworfen, die dann nachgeahmt werden in einem unendlichen performativen Prozess. In diesem Prozess wird die Bewegung prämiert, es gibt keine fixen Bedeutungszusammenhänge, der Selbstbildungsprozess ist eher als »Spielfeld wechselnder, variabler Sinnzuschreibungen«121 zu sehen. Dieser Spielcharakter bedeutet nach Reckwitz eine »Veralltäglichung des Kontingenzbewusstseins«122 und in dieser Verfassung wird die »Ambiguitätstoleranz« zu einem der wichtigsten Ressourcen des Subjekts.123 Es gibt nur ein »fragmentarisches Weltwissen«, in dem Ambiguität als die »interpretative Unterdeterminiertheit von Situationen, Personen und Objekten«124 zu verstehen ist. In so einer ambigen Unterdeterminiertheit befindet sich der Protagonist Moras, aber auch die anderen Figuren des Romans, allen voran Lorelei. Andererseits tragen die Figuren selbst, so Darius wie Lore, zu dieser Ambiguität in hohem Maße bei, indem sie sich verdeckt halten. Sie nehmen eine oszillierende Position zwischen Gemeintem und Gesagtem, aber auch zwischen Realem und Erfundenem ein, und produzieren damit selbst Kontingenz und Ambiguität, was zu einer nicht eliminierbaren Instabilität, zu einem ständigen Umkippen im liminalen Schwellenraum führt.125 Um das Untersuchungsfeld weiter abzustecken, muss noch ein weiterer Blick auf die Problematik von Selbstbildung geworfen werden. Es geht hier um die Frage nach einer kohärenten und plausiblen Biographie, um die Möglichkeiten und Bedingungen biographischer Kernnarration. Damit im Zusammenhang kommt auch die Frage auf, welche Muster in posttraditionellen Gesellschaften herhalten können den Herausforderungen einer Lebensgeschichte Genüge zu leisten. Ursprünglich ist die Biographik das herkömmliche Sinnmuster des Romans, doch weil seit der Moderne die Lebensgeschichten eines autonomen Ich zerfallen, fällt das Sinnmuster des Romans weg. Diese Erscheinungen reflektiert Hofmannsthal bereits um 1900 und beklagt, dass das »Wilhelm-Meisterliche[] Lebenlernen«126 , das Handeln, im klassischen Sinne, als zielgerichtetes Streben eines autonomen Subjekts, seine Ent120 121 122 123 124 125 126
Ebd., 180. Ebd., 177. Reckwitz: 2006, 582. Ebd., 608. Ebd., 609. Darius fragt sich: »Was bist du eigentlich? Das zu wissen wäre gut.« (AS 341). Hofmannsthal: 1956, 147.
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wicklung zur persönlichen Identität, unmöglich wird. Die Heraufbeschwörung des Lernens, dass die Reise als eine Entwicklung zu sehen ist (AS 248), weist auf das herkömmliche Sinnmuster des Romans, auf den klassischen Bildungsroman Goethe’scher Prägung hin. Der klassische Bildungsroman ist von einem rational geprägten Reifeprozess gekennzeichnet, der die organische Entwicklung des Protagonisten in einer textuellen Kohärenz darstellt, in der durch ein Sinnzentrum Verknüpfungen zwischen Handlungselementen entstehen. Die Frage ist nämlich, wie von diesem Hintergrund aus, in einer Kontingenzkultur, in einer Kultur der Fluidität und der Vakanz Selbstbildung geschehen kann. Bereits Goethes Konzept von der Disposition des Individuums ging davon aus, dass der Raum und die Lebenswelt bzw. die Zeitverhältnisse, in die das Individuum eingebettet ist, seine Selbstbildung maßgeblich bestimmen.127 Das Goethe’sche Konzept, das die »Bewegung des Wirklichkeitsgefüges« als Steigerung, als Entwicklung, als Aufwärtsbewegung von Stufe zu Stufe verstand, fußt nicht in der Welterfahrung des permanenten Übergangs, der Kontingenz.128 Es hat, obgleich kein festgelegtes Ziel, doch eine teleologische Komponente, indem es annimmt, dass der Mensch dazu bestimmt ist, seine Anlagen auszubilden, und dass er darüber hinaus zu einer bewussten Selbstgestaltung fähig ist.129 Das Individuum wird obendrein als Handelnder konzipiert und die Gesamtheit seiner Handlungen ergibt seinen Lebensgang.130 Dem entspricht in der Kategorisierung von Reckwitz das bürgerliche Subjekt. In der posttraditionellen Gesellschaft der Gegenwart, über die in dem Roman Auf dem Seil von Terézia Mora eine Diagnose aufgestellt wird, hat dieses Konzept seine Gültigkeit eingebüßt. Dennoch entwirft Mora einen Weg des Dazu-Lernens, eine Art Entwicklungsroman, der jedoch jenseits von Bestimmung, bewusster Steuerung, rationalem Handeln liegt. Selbstbildung fußt nicht mehr auf einer stufenweisen Entwicklung, aber auch nicht auf Handlung, es geht, wie bereits gezeigt wurde, nicht mehr um Besinnung auf soziale Regeln, sondern »auf stories und performances«131 . Das Subjekt der posttraditionellen Gesellschaft erscheint als »semiotische[] Projektionsfläche«,132 das nur narrativ an sich arbeitet. Dies geschieht in einem 127 128 129 130 131 132
Vgl. Jannidis: 1996, 41. Vgl. ebd., 43f. Vgl. ebd., 44. Vgl. ebd., 62. Reckwitz: 2006, 509. Reckwitz: 2004, 179.
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performativen Prozess, in dem die Richtschnur nicht von der ›Realität‹ vorgegeben wird. Die ›Realität‹ wird vielmehr dem Entwurf angepasst. Das Anpassen geht in eine der Tradition entgegengesetzte Richtung. In der Tradition bedeutet das Handlungsschema des Entwicklungsromans, dass die Reisestationen die Addition von Erfahrung herstellen, eine Sukzessivität, ein »Lebenlernen«133 , das zu einer Harmonie führt. Dieser geschichtsphilosophisch intendierte Aufbau – Paradiesischer Zustand, Vertreibung aus dem Paradies bzw. Einkehr in eine neue Harmonie – wird entfaltet, was die Grundstruktur des Romantyps bildet. Dieses geschichtsphilosophische Modell kann bei Mora selbstverständlich nicht mehr funktionieren. Die Stationen bilden hier eher ein loses Nebeneinander, die Handlungen führen nicht zwangsläufig zur Harmonie, sie bleiben vielmehr offen. Das Dreiermodell des historischen Romantyps korrespondiert einerseits auch mit dem traditionellen Modell von Liminalität, und andererseits entspricht es dem Schema der Krise. An der Schwelle von permanentem, nicht inszeniertem Übergang und bei einer Krise in Permanenz kann die Dreierstruktur als eine Einfügung, Normalisierung oder Heilung auch bei der Gattung ›Roman‹ nicht funktionieren. Die den Prozess abschließende Sequenz fehlt, da kein fester Rahmen auszumachen ist. Der Fokus soll nun darauf gerichtet werden, wie das hier inszenierte Modell Moras gestaltet ist. Als allgemeines Charakteristikum der Gegenwart wurde Benjamins Bild der Porosität und korrespondierend damit die Fragilität von Ordnungen ausgearbeitet. Diese manifestieren sich in einer ständigen Grenzüberschreitung, in der Verflüssigung von festen, starren Grenzen. Wenn, wie Waldenfels zeigt, jede Erfahrungsordnung einer Labilität unterliegt, miteinander konkurrierende Erfahrungen ein oszillierendes Nebeneinander, eine Multioptionalität hervorbringen, kann nicht von einer stabilen, sondern von einer doppelbödig organisierten Ordnung ausgegangen werden. Diese entzieht sich jedoch einer bewussten Steuerung, dem, was ›Lebenlernen‹ genannt werden könnte.134 Es stellt sich die Frage, wie in diesem Kontext die Organisation von Erfahrung geschehen kann, wenn jede Position transitorisch ist und die Situation des Protagonisten als permanente Liminalität beschrieben werden kann. Wie ist Selbstbildung möglich, wenn man Ordnung und Norm nicht mehr als transzendent oder substanzialistisch betrachtet, wenn man Identitäten nicht reessentialisieren will. Mora führt 133 134
Hofmannstahl: 1956, 147. Vgl. Waldenfels: 2004, 103.
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uns im Roman ein Ensemble von Selbstthematisierungen vor Augen, die die Hybridität des Subjekts hervorheben und das Individuum der Gegenwart als ein Arrangement aus dem bürgerlichen und dem ästhetischen Modell,135 generell als ein zwitterhaftes Doppelwesen entwerfen. Eine bewusste Steuerung ist im Handeln unmöglich, steuern kann man allein die Geschichte, die man über sich darbieten will. Die subversive Durchquerung des bürgerlichen wie des ästhetischen Subjekts manifestiert sich einerseits in Reflexion, Selbstbeobachtung und einer Art Rationalisierung des Verhaltens. Andererseits bekommt einerseits der Traum, oder andererseits, dass man sich etwas ausdenken muss (AS 240f), die Imagination, eine zentrale Rolle. Dabei stehen einem (fast) unendliche Möglichkeiten zur Verfügung. Der Prozess ist als ein Oszillieren von zentripetalen und zentrifugalen Kräften zu beschreiben: Wichtig werden dabei Kategorisierung, Katalogisierung, verschiedene Modi der Organisation. Den Ausgangspunkt bieten Aufmerksamkeit, Selbstbeobachtung und Reflexion. Ein langer Reflexionsprozess erscheint mit Hilfe von Symbolen (Pfeilern) »↑«, »↔«, »↓«, und dem Fragezeichen, die Gefühle, den Gemütszustand des Protagonisten zum Ausdruck bringen sollen (AS 183-186). Dieses Ordnen und Kategorisieren in gut ↑, schlecht ↓, unentschieden ↔, das Sich-Sortieren (AS 192), die Erstellung von Listen etc. sollen dem »völlige[n] Verkennen« (AS 184) Schranken setzen. Die Einordnung in Kategorien wird ein zentraler Modus (AS 148), der hilft, Norm und Ordnung herzustellen. Gleichrangig stehen aber neben diesen rationalen Mustern des Ordnens die ästhetischen Modi der Selbstbildung. Im allgemeinen Ordnungsschwund und der Multiplizierung von Norm, wenn die tradierten Konzepte der Subjektkonstitution nicht mehr tragfähig, selbstverständlich und unhinterfragbar erscheinen, ist das Subjekt auf sich zurückgeworfen. In einer für wüstengleich gehaltenen Welt, in der alles beweglich ist und wie auf Sand gebaut zu sein scheint, bedarf es nach Baumann zwar »keiner großen Anstrengung, sich einen Weg zu bahnen – schwer wird es nun, ihn nach einer Weile noch als solchen zu erkennen«.136 Es müssen also in einem Umfeld der Unschärfe, Instabilität und Vagheit fortwährend neue Wege gebahnt werden. Nach Junge wird in diesem Kontext die »Fähigkeit zur Imagination« zum »Antrieb zur Entwicklung zur Identifikation«.137 Darüber hinaus wird, das Imaginierte in
135 136 137
Reckwitz: 2004. Baumann: 1997, 141. Vgl. Junge: 2006, 84f.
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einer »unendlichen Annäherung durch Mimesis«138 angestrebt. Man muss also etwas erfinden, »darstellen«, um dann am Ende auch »irgendwann zu sein«, was man bereits gemimt hat (AS 235). Identifikation ist demnach als eine »mimetische Annäherung an das Imaginierte«139 vorstellbar, und ist an die ständige »Überprüfung der Ähnlichkeit zwischen Imagination und Identifikation«140 gebunden. Die Identifikation ist als das Füllen eines Hohlraumes konzipiert, als offenes Feld ohne vorgegebene Möglichkeiten. Doch konfiguriert dieses Möglichkeitsfeld das Handeln des Subjekts durch Schaffung von Wahrscheinlichkeiten, zu denen sich dann das Subjekt reflexiv verhält.141 Durch die Imagination werden aber die Grenzen auch immer weiter verschoben in Richtung »Ermöglichung«.142 Auch die Norm wird, wie Hark zeigt, ein »imaginärer Punkt«, eine »Leerstelle«, die erst durch das wiederholte Handeln bekräftigt und evtl. neu verschoben wird.143 Zentripetale Kräfte (Aufmerksamkeit, Fokussierung, Kategorisierung, Ordnen) gehen Hand in Hand mit zentrifugalen Kräften, der Vielheit und der Multiplizierung. Diese Zerstreuung ist aber auch der Ort von neuer Optik und von Kreativität,144 die zum imaginativen Entwerfen neuer Wege unentbehrlich sind. Die dynamische Beweglichkeit bedeutet zugleich eine grenzüberschreitende Offenheit der Selbstorientierung. Dies ist in posttraditionellen Gesellschaften als ein autopoietisches System145 zu beschreiben, das aber das Leitmodell der Gleichförmigkeit und Berechenbarkeit, der rationalen Steuerung des bürgerlichen Subjekts nicht ganz hinter sich lässt, sondern beide in einem heterogenen, oszillierenden Miteinander auf der Schwelle verzahnt. Was im Roman Moras inszeniert wird, ist eine nomadische Durchquerung verschiedener Konzepte ohne feste Grenzen in der permanenten Liminalität. Es heißt konkret, dass man immer tun muss, was man tun kann, dass man immer wieder seinen eigenen Laokoon-Kampf führen muss, und nie aufgeben darf (AS 346). Planen und die Fäden in der Hand halten, kann man aber nicht. Diese nomadische Durchkreuzung ist das Grundmodell des
138 139 140 141 142 143 144 145
Ebd., 84. Ebd., 85. Ebd. Hark: 1999, 81f. Waldenfels: 2004, 25. Vgl. Hark: 1999, 77. Vgl. Waldenfels: 2004, 105. Reckwitz: 2006, 506.
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Romans, wonach alle Diskursfigurationen der Tradition einander überlappen. Wie die Lorelei im Rauchhaar mit dem Vulkan gekreuzt wird, sind auch Subjekt- und narrative Konzepte hybridisiert. Der feste Rahmen erscheint als wandelbares kulturelles Konstrukt ohne Substanz, ein Hohlraum, der beliebig mit Setzungen146 gefüllt werden kann.
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Lücken, Hohlräume und die Erzählökonomie
Von diesem Hintergrund aus soll im Folgenden ein Blick auf die ästhetischen Prinzipien gerichtet werden. Permanente Liminalität, Möglichkeitssinn und Porosität als Leitideen des Romans sollen auch in Bezug auf die narrative Gestaltung anvisiert werden. Es gibt zwar keine Steigerung von Stufe zu Stufe, wie wir dies aus dem Bildungskonzept Goethes kennen. Es gibt zwar keine teleologische Ausrichtung des Erzählprozesses, doch entsteht ein Bogen, denn in manchen Bereichen wird Unschärfe vorübergehend in Schärfe verwandelt, bestimmte Zusammenhänge gewinnen temporär eine Kontur. Gerade darin unterscheidet sich der dritte Teil der Trilogie von den anderen zwei. Der Protagonist ist auch im dritten Band wie einer, den das Meer auf die Stelle gespült hat, wo er sich gerade aufhält. Sein Leben gestaltet sich nicht nach bewussten Entscheidungen, Handlungen und Plan, sondern durch Kontingenzen. Das dominante Prinzip des Lebens von Darius Kopp ist auch in Auf dem Seil die Instabilität, das Vorübergehende. Der Grundsatz seiner Entscheidungen wird vom Zufall bestimmt. Er würde sich am liebsten tragen lassen (Sänfte), und wäre, wie ein Zuschauer, passiv. Doch entwickelt er durch die Unterstützung vom Gegenüber eine Strategie, die zwar nicht zu einem Ziel führt, denn es gibt gar kein Ziel, sondern dazu beiträgt, dass immer wieder Schärfe entstehen kann. Der Protagonist kann am Ende einige feste Aussagen treffen, sich positionieren: »das ist der Ort, an dem ich zu Hause bin« (AS 356). Es ist klar, dass er als »WLAN-Fuzzi in Berlin doch immer am glücklichsten war« (AS 365). Das ist der Bereich, in dem er sich kompetent fühlt, das am besten zu ihm »passt« (AS 365). Er hat die Reise gemacht, die er machen musste (AS 365), und ist jetzt ein Mann, »der weiß, was er will« (AS 356): nämlich in Berlin leben und als IT-Mensch arbeiten. Damit schließt er einen Kreis (bzw. eine Möbiusschleife) und kommt scheinbar an seinen Ausganspunkt zurück. 146 Dieser Hohlraum ist aber auch als das weiße Blatt zu verstehen, auf dem der Text erst entsteht, das noch gefüllt werden muss.
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Doch ist dieser Punkt selbstverständlich schon ein anderer, nämlich an der Schwelle von Identität und Differenz. Was der Roman leistet, ist nicht die Herstellung, sondern die Ermöglichung von Positionierung, ein nächster Anfang, die Möglichkeit einer neuen Geschichte. Bemüht wird am Anfang der Geschichte nicht nur der doppelte Neubeginn, sondern auch die Schiffsbruchmetapher als conditio humana, als ein Modell für das Scheitern, für das Misslingen willentlicher Steuerung.147 Der Schiffsbruch »partizipiert nicht nur als Motiv oder Metapher an der Sinnkonstitution«, er wird auch als »Strukturelement wirksam, mit dem das Problem von Kontingenz und Katastrophe zur Darstellung gebracht«148 werden. Das Scheitern auf der Ebene der erzählten Geschichte und ihrer Handlungsträger bedeutet auch das »Scheitern auf der Ebene des Narrativs«, ein »Scheitern der Erzählökonomie«.149 Liminalität und Krise sind nicht nur thematische Schwerpunkte, sondern fundamentale narrative Muster des Unterwegs-Seins zwischen Gewinnen und Verlieren, Glück und Unglück. Erzählökonomie wird hier als ein Verfahren der Textorganisation verstanden, und meint die Leitung und Ordnung des Textes durch die Erzählinstanz.150 Schiffbruch als Motiv der Navigation und Steuerung, als Ausdruck von Kontingenz bedeutet auch die Tatsache, dass die Handlungsfähigkeit des Menschen eingeschränkt ist. Dies bestimmt das Subjektkonzept und Hand in Hand damit auch den Erzählvorgang. Der Protagonist scheint ein gescheiterter zu sein, der alles verloren hat. Er hat auch in den anderen beiden Teilen der Trilogie das Misslingen von Steuerung und die Unfähigkeit von bewusstem, willentlichem Handeln zur Schau gestellt. Verankert sind die Figuren im Krisendiskurs, in dem sie zwischen Gelingen und Scheitern unterwegs sind. Auch in den ersten zwei Bänden der Kopp-Trilogie ist dies ein zentraler Angelpunkt. Der einzige Mann auf dem Kontinent ist als eine Reihe von Scheitern inszeniert. Sowohl im Privaten als auch im Beruflichen erleidet der Protagonist Schiffbruch. Das Ungeheuer versucht mit dem Unterwegssein zum Ararat die Schifffahrtsmetaphorik zu potenzieren. Der Berg wird nicht erreicht, es ist kein Festland in Sicht, die Reise geht weiter und parallel dazu wird auch dem Scheitern kein Ende gesetzt. Ein Ende gibt es auch in Auf dem Seil nicht, höchstens ein vorläufiges Ende, da doch alles vom Vorübergehenden determiniert ist. Das Rad dreht
147 148 149 150
Vgl. Nickenig/Komorowska: 2018, vgl. auch Nickenig: 2018. Nickenig: 2018, 150. Ebd. Vgl. ebd., 151.
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sich, indem das Ende mit einem möglichen Neuanfang gleichzusetzen ist, weiter. Dennoch zeichnen sich Unterschiede zu den ersten zwei Bänden ab. Der Balanceakt auf dem Seil läuft, die Frage zwischen Gelingen und Scheitern ist nicht entschieden, doch entstehen trotz der Instabilität Momente des Ausbalanciert-Seins. Der Protagonist hat während seiner langen Reise Einiges gelernt. Das hilft ihm so zu handeln, dass er nicht zwangsläufig scheitert, sondern, dass auch das Gewinnen als Möglichkeit erscheint. Dieses Gleichgewicht wird auch durch die narrative Gestaltung zum Ausdruck gebracht. Während die ersten zwei Bände der Kopp-Trilogie von Ziel- und Orientierungslosigkeit gebrandmarkt waren, was sich in Ab- und Irrwegen manifestierte und zu einem digressiven, unkontrollierten Erzählen führte, in dem es keine Leitung und Steuerung durch die Erzählinstanz vorhanden ist. Im dritten Teil sind hingegen Momente der Steuerung, der Wachsamkeit, und so auch ein ökonomisches Erzählen vorhanden. Das unökonomische Erzählen manifestiert sich in einem Wuchern von disparaten Themen, Sprachen, Orten und Menschen, im Anschwellen der fremden Texte, in Fragmentierung, Wiederholungen, Zirkularität und in der Serialisierung. Diese Elemente und Darstellungstechniken sind auch im letzten Roman präsent, dominiert wird jedoch auch die Narration von Ausgeglichenheit, Maß, von einer Balance auf dem Seil. Auch hier kommt man vom Weg ab, schreitet auf Holzwegen. Wenn der Protagonist sich jedoch auf seine Ressourcen besinnt, gibt es auch einen anderen Umgang mit diesen und so auch den Ressourcen des Textes. Eine zentrale Text-Metapher ist in diesem Bereich das Einverleiben, das als Thema und narrative Konstruktion der Texte erscheint. Im dritten Band ist der Verzehr von Lebensmitteln und Alkoholika reduziert und damit korrespondierend gehorcht auch das Erzählverfahren. Dominant sind nicht mehr Übermäßigkeit, unendliche Einverleibung und so Diversität, oder Disparatheit als Modi für das Anschwellen unendlicher Möglichkeiten für den Erzählfluss. Die Digression ist vielmehr gebändigt, es gerät nur stellenweise außer Kontrolle. Wie die Welt nicht mehr eindeutig als Wüste erscheint, dominiert auch nicht mehr die Unwägbarkeit, das Versagen von Handlungsmöglichkeiten. So wird auch das Erzählen nicht so überbordend inszeniert, wie dies in den ersten zwei Teilen der Trilogie noch der Fall war. Die Einverleibung ist nicht mehr so verschwenderisch, und trotz der Handlungsarmut gibt es kein Anschwellen der Narration, es gibt vielmehr eine Ordnung in der Textorganisation. Wie der Protagonist, nimmt auch der Text ab, beide konsumieren weniger, bzw. Herstellung und Konsum halten sich im Gleichgewicht und somit in Grenzen.
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Der Protagonist ist als Koch tätig. Er ist also nicht nur auf der Konsumentenseite, sondern er hat eine regelmäßige Beschäftigung, in der etwas Handfestes, sogar Schmackhaftes, Bekömmliches entsteht. Fragt man nach der Textorganisation, wird evident, dass Kochen auch als poetologische Metapher herhalten kann. Es geht dabei einerseits um die Frage nach Bestandteilen, nach Beimischung von Zutaten, nach Anordnung von Einzelelementen, um ein Teil-Ganzes-Verhältnis, um Ausgewogenheit oder Übermaß, um Dimensionen der Steuerung des Erzählvorgangs. Andererseits geht es darum, dass eine ordnende Erzählinstanz scheinbar nicht vorhanden ist, sondern dass der Vorgang nach Eigengesetzlichkeiten organisiert wird. Es gibt Rezepte, die man kennt, wenn man Pizzabrot herstellt. Hält man sich an diese Vorschriften, ist das Gelingen garantiert. Dass man sich sklavisch an diese Anleitungen hält, gilt nicht als Gesetz. Prämiert wird auch die kreative Mischung151 von Möglichkeiten, das Ausprobieren, womit man das Feld der Vorschriften verlässt, aber gerade dadurch Erfolg erntet. Wenn man nicht die nötigen Zutaten und Gewürze hat, etwas Maßgebliches fehlt, kann auch etwas entstehen, was zwar ein bisschen fad ist, doch verzehrbar bleibt (AS 135ff). Auch wenn Vieles aus dem Muster der traditionellen Formen (Reiseroman, Robinsonade, Bildungsroman) fehlt, oder modifiziert wird, kann der Roman wie eine Gemüselasagne ohne Gewürze (AS 135ff) zubereitet werden. Wie dieses Gericht kann aber auch der Lebenslauf des Protagonisten weder als gelungen noch als misslungen kategorisiert werden. Die Lehre ist jedoch, dass es selbst bei fehlenden Zutaten möglich ist, in einem kreativen Umgang mit dem Material etwas aufzutischen, was zum Verzehr geeignet ist. Diesen Prozess, dieses Modell scheint uns der Roman Auf dem Seil vor Augen zu führen. Während der Protagonist im Laufe des Romans noch nicht wusste, wo er leben und arbeiten möchte und als was (AS 186), entsteht am Ende Klarheit, eine Art Positionsbestimmung. Der Roman (und somit die ganze Trilogie) hat nicht nur einen offenen Anfang, sondern auch ein offenes Ende. Nichts ist entschieden, es gibt viele Möglichkeiten. Der Roman wurde nicht in ein ›Sound-nicht-Anders‹ situiert, alles bewegt sich immer noch im ›So-und-auchanders‹. Die Möglichkeiten werden zwar eingeschränkt, dadurch werden Umrisse sichtbar, aber es ist keine alles bestimmende Gewissheit da. Schon die 151
Die kreative Mischung ist hier sogar interkulturell, bezieht sich konkret auf das Kochen, als poetologische Metapher ist es auch als Bild des ganzen Textverfahrens zu verstehen.
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Konjunktion ›oder‹ zeigt dies, das Nebeneinander von Möglichkeiten, was sich im Satz Wüste vs. schönes Leben manifestiert (AS 165). Das Nebeneinander verschiedener Optionen und die Auffächerung von Wegen und Chancen regeln auch den Erzählverlauf, der so keine einsträngige, lineare Struktur aufweist, sondern zu einem simultanen Nebeneinander wird. Die Potenzierung von Möglichkeiten, des ›So-und-auch-anders‹, treibt die Narration voran und kann als der eine Nukleus des Erzählens gesehen werden. So kann der in Roman mehrfach wiederholte Satz ›und was ist deine Geschichte?‹ zum Motor des narrativen Prozesses werden. Die Legendenbildung ist demnach nicht nur für die Identität konstitutiv, sondern auch für den Erzählfluss. Der narrative Prozess ist angeordnet aus verschiedenen Varianten von Lebensläufen, von Wiederholungen der eigenen Geschichte, die aber nie identisch, sondern von Verschiebungen, Anreicherungen oder eben Zurücknahmen, von einem PlusMinus-Verfahren geprägt sind. Ein Thema-und-Variationen-Verhältnis entsteht auch auf die Zukunft projiziert. Nach demselben Prinzip werden Möglichkeiten vorweggenommen und inszenatorisch probeweise durchgespielt. Ein Paradigma der narrativen Konstruktion ist die Pluralität, doch ist dies nicht mehr verschwenderisch digressiv. Bei der Reprise halten sich zentrifugale und zentripetale Kräfte im Gleichgewicht, das Erzählen verfährt nicht akkumulativ. Der Exzess hält sich sowohl thematisch als auch narratologisch in Grenzen. Der Umgang mit der Zeit, dass Hohlräume gefüllt, Abgründe überbrückt werden, geschieht durch den narrativen Faden. Die Zeit manifestiert sich im Warten, was eine fast unendliche Hinausschiebung, eine Art Zeitlosigkeit zum Resultat hat. Dieses Warten, das Spiel auf Zeit, ist Lores Charakteristikum (AS 245), bestimmt aber auch das Leben von Darius. Man wartet nicht nur auf die Volljährigkeit, als fernstes Ziel, sondern auch auf die Geburt, und zwischendurch immer auf die »Lenas« (AS), Lores Freunde, bzw. auf ihr Versprechen, das Mädchen in ihre Wohnung aufzunehmen. Bestimmte Zeitabschnitte, die überbrückt werden müssen, bedeuten auch für das Erzählen den Zwang zur Überbrückung, oder zum Ausfüllen der so entstandenen Kluft zwischen Realität und Zukunftserwartung, Wirklichkeit und Versprechen. Die Abgründe, die sich thematisch auftun, prägen auch die Narration. Ein weiterer signifikanter Punkt ist die Porosität, die nicht nur thematisch-motivisch, sondern auch narratologisch Dominanz gewinnt. Nicht nur Mythen und Legenden fließen ineinander über, sondern auch Räume (Sizilien-Rhein, Sizilien-Berlin) und Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) überlappen sich. Das Ineinanderfließen von Zeiten manifestiert sich
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auch in einer analeptischen Struktur. Eminente Bedeutung kommt dabei auch der Gestaltung des Anfangs zu. Durch den Prolog hat der Roman eigentlich zwei Anfänge. Das Poröse ist in der narrativen Gestaltung auch Sinnbild der sich infiltrierenden Identitäten, ist aber auch in der Sprachmischung zu ertappen, in der Ko-Präsenz des Italienischen und Englischen neben dem Deutschen, aber auch in der Mischung verschiedener Idiome. Auch reale Welt und virtuelle Realität fließen unzertrennlich ineinander über. Das Hinüberfließen wird aber auch in den ständig wandelnden Perspektiven, den Übergang zwischen Ich-, Du-, Wir-, und Er-Erzähler greifbar, und führt zu einem oszillierenden Nebeneinander. Statt hierarchischer Gliederung wird das Erzählgeflecht vom Nebeneinander beherrscht. Selbstverständlich gibt es aber auch ein Nacheinander, eine unendliche Bewegung von Unterkunft zu Unterkunft, von Sofa zu Sofa, wodurch eine serielle Struktur entsteht. Diese gehorcht kontingenten Regeln, potenziert das Motiv der Suche, das Antriebsfaktor der ganzen Erzählung wird. Die Handlung besteht hauptsächlich aus der Suche nach einer Bleibe, aus Suche und Besorgung von Lebensmitteln, aus der Suche von Personen und schließlich der Suche nach Arbeit, also aus Handlungen, die ein konkretes Ziel vor sich haben. Der andere Teil der Handlung besteht aus Bewegungen, die ziellose Spaziergänge sind, ein Unterwegssein in der Stadt, oft Ab- und Irrwege, die Wartezeiten ausfüllen, miteinander verbinden. Die meisten Sofa-Aufenthalte beschränken sich auf ein bis fünf Tage oder eventuell einige Monate, denn es muss die Zeit von Anfang September bis zu Neujahr, bis in die erste Januarhälfte hinein überbrückt werden. Die Unbehaustheit, die Lücke, der Hohlraum als Nukleus des Textes, generiert die Suche. Die vorübergehenden Unterkünfte schaffen Begegnungen und so Geschichten und Legenden. Da das Unbehaust-Sein nicht nur in Bezug auf eine Unterkunft verstanden werden kann, sondern auch für die Identitätskrise der Subjekte steht, bekommt die Suche eine neue Konnotation und führt zum multiplen Nebeneinander von Identitätsnarrativen, die den Erzählfluss in Bewegung halten. Trotz dieser Auffächerung und des simultanen Nebeneinanders geht es in diesem Roman doch auch um eine Richtschnur, um ein Maß. Es gibt auch hier kein Telos, Planen und Steuerung sind problematisch. Ästhetische Verfahren des Scheiterns werden jedoch maßvoll gehandhabt. Die »Sinnlosigkeit allen Tuns« (AS 261) wird zwar zitiert, nicht aber verinnerlicht, vielmehr eher in einer distanzierenden Sprachgeste heraufbeschwört. Der Protagonist erscheint nicht mehr als Versager, er wird nicht vom Überschwellen des Textes weggespült.
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Auch in Auf dem Seil wird eine zerbrechliche, kontingente Welt modelliert, wir haben es mit einer Krisennarration zu tun, die keine Entscheidung der Krisis bringt. Sie verwandelt Kontingenz nicht in Providenz, führt die Begrenztheit der Handlungsfähigkeit des Menschen vor Augen, entwirft den Menschen jedoch nicht nur als ohnmächtig, als von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn ein Maß von Handlung, ein Eingreifen wird ermöglicht. Es gibt Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, der Mensch beherrscht nur in einigen Bereichen die Macht zu steuern und zu kontrollieren. Trotz der Opazität und der Unschärfe des Rauschens entsteht doch auch eine Prägnanz. So stehen Ordnung und das Ordnungswidrige, Relevanz und Unangemessenheit auch im Erzählakt aufs Engste nebeneinander. Die Erzählinstanz befindet sich auf der Schwelle von beiden, in einem Raum des Übergangs. Weinen, Lachen, Glück und Unglück, Macht und Ohnmacht sind dicht nebeneinander, immer alles in einem Sack (AS 322), im nicht-identifizierbaren Schwellenraum des Dazwischen. Und ob das alles die Loreley gemacht hat, ist nicht zu entscheiden.
11 »People are longing for stories«. Liminalität, Krise und narrative Bewältigungsstrategien Abschließende Bemerkungen
11.1
»Wer nicht anhalten kann, für den gibt es auch kein Panorama.« Schwellenräume des Transits Die Eigenschaften des Schwebezustandes (der Liminalität) oder von Schwebepersonen (Grenzgängern) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand in die Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da, sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen der vom Gesetz, der Tradition, der Konvention, dem Zeremonial fixierten Position.1
Vorliegende Studie geht von dieser Bestimmung von Dynamiken aus, die sowohl auf der Mikro-, das Leben eines Menschen, als auch auf der Makroebene, Änderungen in der Gesellschaft, geltend gemacht werden können. Die Betonung des prekären Zwischenraumes geht aber mit besonderer Berücksichtigung ästhetischer Ansätze einher. Der außerordentliche Erfahrungszustand von Liminalität wurde in Bezug auf die Romantrilogie von Terézia Mora in einer Zusammenschau divergierender Forschungsansätze dargestellt. Der Schwellenraum, der mit der Grenze und ihrer Übertretung Ordnungen, Normen und das Fremde heraufbeschwört, scheint theorieübergreifend verwendbar, wenn es darum geht, Transgression thematisch-motivisch,
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Turner: 1995, 95.
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gattungstheoretisch, narratologisch oder mediologisch zu konzeptualisieren. Die drei Romane Der einzige Mann auf dem Kontinent, Das Ungeheuer und Auf dem Seil wurden in einer vergleichenden Gegenüberstellung verschiedener Perspektivierungen analysiert, sie wurden nach einer theoretischen Grundlegung mit modernen Konzepten des Übergangs beschrieben. Die Romane spielen in der Gegenwart, und bringen dies auch zum Ausdruck, wenn behauptet wird: »wir können schließlich nicht alle in den Wald ziehen« (EM 345), man kann nicht mehr »zurück in die Agrargesellschaft« (EM 345). Diese Position legt nahe, dass Modelle, wie das von Übergangsriten, die traditionelle Gesellschaften beschreiben, nicht adäquat sind, die in der Trilogie Moras dargestellte Welt zu beschreiben. Dienstbar gemacht werden in der Studie deshalb neben Victor Turners Konzept auch neuere Modellierungen von Schwellenphänomenen, die ermöglichen auch Figuren als Zwischenwesen, als Monstra zu betrachten. All dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung sprachlicher und medientheoretischer Annäherungen und auch insbesondere im Hinblick auf literarische Konventionen und Diskursformationen. Diese befinden sich, wie gezeigt wurde, genauso wie die Figuren, in einem liminalen Übergang. Durch die Loslösung von der Ordnung, aber Ordnungen als solche im Auge behaltend, bewegt sich die Prosa Moras in einem performativen Schwellenraum. Diese Zusammenhänge sind zu erkennen, wenn man die Struktur der drei Romane betrachtet. Darius Kopp, der Protagonist, lebt im ersten Teil in der Hauptstadt vom Nachwendedeutschland, hat Arbeit, eine Wohnung, ein Auto, Freunde und auch eine Frau. Das scheint in seinem Leben die erste Phase der triadischen Struktur zu sein, das Eingebunden-Sein in die Ordnung mit (scheinbar) festen Positionen und Konturen, allerdings, da er nie anhalten kann, bleibt er immer ohne ein Panorama (U 384). Rekapituliert man aber, wie er über sein Zuhause spricht, wird offensichtlich, dass dies keine feste Verankerung, vielmehr ein Zustand voller Ambivalenzen ist: »Das ist meine Stadt. Ich betrachte sie wie ein Heimkehrender sein Zuhause und gleichzeitig wie ein erstmals hier gelandeter Außerirdischer.« (EM 130) Der Protagonist verliert dann auch seinen Job, seine Frau verlässt ihn und begeht Selbstmord. Seine alte Welt bricht zusammen: »Meine Hütten und mein Gezelt zerstört« (U 17. Herv.i. Orig.), heißt es biblisch. Es bleibt nur noch das »permanente Angebundensein an den Datenstrom« (EM 74). Es wird klar, dass alles, was den Protagonisten in die Ordnung scheinbar eingeschlossen hat, in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Von diesem Zustand unterscheidet sich dann kaum der Übergang, wenn der Protagonist sich symbolisch ein Schiff baut und sich auf
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den Weg macht. Damit rekapituliert der Roman die Sintflut, eine der narrativ überlieferten Menschheitskatastrophen, in der der Außerwählte zwar einen Notstand erlebt, aber doch gerettet wird. Kopp ist im zweiten Teil »auf einem Schiff« (U 8) unterwegs mit der Urne und mit den digitalen Aufzeichnungen seiner Frau bis zum Ararat und auch noch weiter. Dieses Unterwegssein entspricht der mittleren Phase, einer »Unendlichkeit der Nichtexistenz« (U 580). Hier, »on the road« (U 417), während »[m]y own private roadmovie« (U 69) trifft der Protagonist seinesgleichen, Wegelagerer ohne Heimatland (U 78), die, genauso wie er, ihre Krisen zu meistern suchen.2 Die Reise bekommt erst ein vorübergehendes Ende, wenn er in Sizilien, also auf einer Insel wie ein Schiffbrüchiger strandet. Hier übt er dann das erste Mal in seinem Leben physische Arbeit aus und hat in der Figur von Metin/Matteo auch noch einen fremden Gefährten. Doch kommt Kopp dann in seine alte Heimat, Berlin zurück. Hier ist er, trotz der Rückkehr immer noch tief im liminalen Schwellenraum, er ist wie ein Tourist, und entspricht dem, wie Turner die Grenzgänger des Zwischenraumes beschreibt. Kopp hat keinen Job, keine angemessene Kleidung, keine Wohnung, und es kann auch nur als ein vager Wunsch geäußert werden, irgendwann vielleicht in den Stand der Ehemänner einzutreten. Die Communitas funktioniert in der liminalen Phase ausgezeichnet, alle Schwellenpersonen, Außenseiter sind gleich und helfen einander, womit die Übergangsphase zwar außerhalb der Gesellschaft, doch nicht in Einsamkeit verläuft. Die Romane, aber auch die Romantrilogie stellen Ansätze von Normalisierung dar, der transitorische Zustand wird aber nicht beendet. Mora interessiert sich, wie auch van Gennep und Turner, für die Übergänge des Lebens, sie interessiert sich aber nicht in erster Linie für Rituale und Handlungen, sondern vielmehr für narrative Konzepte, die diese Übergänge modellieren. Sie fragt nach Krisen und ihren Abläufen und auch danach, wie sich der Einzelne in diesen Krisen verhält. So geraten Subjektkonzepte und Typen des Romans in den Blick. Die oben dargestellte Struktur der Trilogie ist unschwer als eine Robinsonade zu erkennen. Dass Kopp nicht mit Crusoe gleichgesetzt werden kann, ist klar. Er wird im Text Dario de Lamancha genannt (U 66), der seine »endlose[n] Windmühlenkämpfe« (EM 25) führt. Kopp ist aber auch nicht Don Quichote, doch führt uns seine Erwähnung in einer
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Nicht allein dieses ›On- the- road‹ legt nahe, Das Ungeheuer aber in vieler Hinsicht die ganze Trilogie als Road-Novel zu lesen. Das Herbeizitieren von Helden der epischen bzw. der Romantradition zitiert bereits Muster herbei, die in die Form des Road- Novel Einzug finden.
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selbstreflexiven Geste zu narrativen Formen und einer ästhetischen Weltsicht zurück. Der Protagonist ist weder ganz Robinson Crusoe noch restlos Don Quichote, er ist nicht völlig Odysseus oder Sindbad und nicht wirklich Adam, Noah oder gar Jesus, die aber alle als Vergleichspersonen erscheinen. Darius Kopp, auch nur »Dé« (AS 48) genannt, ist aber auch nicht allein Darius Kopp, der Heilige und der Perserkönig, sondern auch noch Flora und Lore, die wiederum, wie dies ihr Name auch zeigt, einander überlappen. Die Figuren sind komplexe Figurationen aus Identität und Differenz, sind Monstra, die sich nicht allein in nicht-identifizierbaren Zwischenräumen bewegen, denn sie selbst sind hybride Mischwesen, diffus und ungreifbar.3 Schwellenorte und Schwellenwesen entstehen nicht zuletzt durch eine unendliche Spiegelung, als würden sich alle in Spiegelkabinetten aufhalten. Alles ist »gleich doppelt gespiegelt« (U 672), »[ü]berall [sind] Spiegel, an drei Wänden und auch auf der Decke« (EM 375), die Figuren sind wie »ihr eigenes Spiegelbild. Etwas an das man nicht herankommen kann«. (U 467)4 Die ganze Textur ist wie ein Spiegellabyrinth, in dem nicht nur die einzelnen Texte und Figuren, sondern auch die narrativen Muster und kulturellen Modelle ineinander geblendet werden, eine Überlappungsstruktur herstellen, in der keine Kategorisierung möglich ist. Alles bewegt sich in einem liminalen Schwellenraum. Alles fließt. Diese Idee ist dem Menschen seit der Antike bekannt, genauso wie die Sehnsucht nach Begrenzung, nach einem umzäunten ParadiesGarten. Dieses Doppel des allgemein Menschlichen gestaltet die Romantrilogie von Terézia Mora, wenn sie im Rekurs auf Grenze und Liminalität den Aufbruch ins Ungewisse, die Loslösung vom Alten, den Eintritt in Zwischenräume, -zeiten, -zustände, in denen kein Ankommen in Sicht ist, in Szene setzt. Das Dazwischen des Transits wird zur Normalität, doch immer scheint auch die Statik des Gartens auf. Der Mensch ist, wie Darius Kopp in Das Ungeheuer, von Peter und Dennis hinausgeworfen (U 675), aus dem Paradies vertrieben. Diese basale Grenzüberschreitung wird das Modell aller Grenzüberschreitungen und Aufenthalte in einem Raum, womit auch der Textraum gemeint ist,
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Vgl. Geisenhanslücke/Mein/Overthun: 2009, 9f., vgl. auch Vgl. Toggweiler: 2013, 29. Diese Figurationen erinnern an Dürrenmatts Labyrinthvorstellung in der Ballade Minotaurus. (Vgl. Dürrenmatt: 1985.) Diese Korrespondenz bekräftigt die Annahme, dass die Figuren selber Monster, Ungeheuer sind, die zum einen bewusst-unbewusst das Mädchen vergewaltigen, die sich zum anderen im Spiegellabyrinth nicht finden, nicht identifizieren können. In Das Ungeheuer wird der Protagonist aber auch in der Form Gottes, in der Form von Zeus zum Monster (vgl. U 674-676).
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in der keine Identifizierungen, Strukturen mehr möglich sind. Durch Anomalisierungsprozesse wird die kulturell zurechtgelegte Welt, das Vertraute einem Erfahrungsschock unterzogen. Wenn Standardisierungen durchbrochen werden, entsteht ein Loch im Erfahrungsgewebe, und Mora zielt darauf ab, durch das Gewebe ihrer Texte das Erfahrungs- und Bedeutungsgewebe symbolischer Ordnungen zu durchlöchern, im liminalem Bereich neue mögliche Konstellationen zu prüfen, durch künstlerisch herbeigeführte Experimente Weltentwürfe zu erproben.5 Ein zentrales Moment ist dabei der Rekurs auf die Grenze, Grenzziehungen und Entgrenzungen jeder Art. Grenze erlebt in diesem Kontext eine ausufernde Polyvalenz, und es ist klar, dass sie mit Parr als »Metapher der Metapher«, als ein »zentraler Tropus der Moderne« gelesen werden kann.6 Einhellig ist, dass es bei der Rede über Grenze nicht mehr um ein Konstrukt der Identität und Identifizierung geht, da diese von einem pluralistischen Denken abgelöst wurde. Die Grenze hat bei Mora vielmehr symbolischen und metaphorischen Charakter. Wenn, wie Parr fordert, die nähere Bestimmung des Grenzbegriffs durch Erschließung einschlägiger Texte oder Textkorpora geschehen kann, in denen die Grenze thematisch erscheint,7 scheint sich Moras Oeuvre ausgezeichnet für so eine Erschließung, für die Bestimmung von Modalitäten von Grenzen zu eignen. Dies nicht allein, da die Autorin als Einwanderin in der deutschen Literatur eine Schwellensituation darstellt, da sie »an einem ideellen Ort angesiedelt ist, wo zwei Sphären aufeinanderstoßen, […] wo etwas endet, ohne das eine Andere bereits begonnenen hätte«8 . Das Wuchern des Grenzbegriffs im Thematisch-Motivischen, in der ästhetischen Gemachtheit, selbst in der Selbstbezüglichkeit der Grenzerfahrung des ästhetischen Erlebnisses markiert Problempunkte der Kategorie Grenze. Erweitert werden kann diese Auflistung mit einer literaturgeschichtlichen Perspektive, nämlich mit der Frage nach den Grenzen der Nationalliteratur. Fokussiert man auf diesen Aspekt, kommt die Problematik der sog. inter-
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Wenn etwas aus seinem Zusammenhang gerissen und in einem neuen Kontext situiert wird, bedeutet nach Waldenfels eine partielle Entwicklung (vgl. Waldenfels: 1998, 222). Diese Feststellung korrespondiert mit Turners Erkenntnissen im Zusammenhang mit liminalen Phasen, die durch die Befreiung von Struktur, in der Anti-Struktur Experimente auf den Plan rufen. Parr: 2008, 15. Vgl. ebd., 44. Begemann: 1999. Hier zit.n. Parr: vgl. ebd. 45.
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kulturellen oder transkulturellen Literatur9 in den Blick. Mora selbst charakterisiert ihr Schreiben als deterritorialisierte Literatur,10 was auch eine Art Verschiebung ist, das Verlassen eines umgrenzten, eindeutig identifizierbaren Territoriums als Ort von Literatur.11 Dieses Territorium ist der Nicht-Ort des Transits, des liminalen Übergangs auf der Grenze. Somit wird in vielerlei Hinsicht ein Schwellenraum der Ort und zugleich Nicht-Ort der Prosa Moras. Von dieser Grenze und anderen Grenzen aus versucht die Autorin in ihren Büchern das allgemein Menschliche auszumessen, wenn sie mit Modellen des Reisens, Figurationen von Gastlichkeit, Trauer, Krankheit, Gelingen und Scheitern, Glück und Unglück, aber auch durch die Thematisierung von Arbeit und Privatem oder mit der Frage, wie es sich in einer nachbabylonischen Welt leben lässt, die Erkundung der conditio humana ins Zentrum ihrer Texte rückt. Auch diese Tatsache zeigt, dass die Texte vornehmlich nicht Fragen der Interkulturalität im Blick haben. So bildet dieser Kontext nicht den Untersuchungsgegenstand meiner Analysen. »Die Kunst reagiert auf das Erlebnis des Transits und produziert zugleich Transiterleben«.12 Da der Transit auch den Aufbruch ins Ungewisse, die Loslösung von Altem und Vertrautem bedeutet,13 wurde in der Studie der Blick darauf gelenkt, wie diese Bewegung in der Romantrilogie zum Ausdruck kommen kann. Ein zentrales Element des Durchgangs ist in den Texten Moras die Entbindung von Identitäten als kulturelle14 und ästhetische Normen und nicht zuletzt die Hinterfragung der Beziehungen der Sprachzeichen. Durch die Mobilität und den daran gekoppelten liminalen Übergang werden selbst Kulturen »auf Distanz gebracht, aus ihren kulturellen Selbstverständlichkeiten entbunden«.15 Die mittlerweile zur Epochensignatur geadelten transito9 10
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Mora hat die Migrationsliteratur auf den Olymp erhoben. Vgl. Rezension in der taz 03.07.2018, (gesehen am 12.11.2019). Vgl. das Interview während der Frankfurter Poetikvorlesungen 2013. Mora bezieht sich hier auf die Literaturwissenschaft, die diesen Terminus gebraucht. Deleuze/Guarrari werden zwar nicht explizit genannt, dennoch geht es bei der Benennung um einen Rekurs auf die Problematik der Literatur von Minoritäten. https://www.youtube.com/ watch?v=dGiM_9nrb54 (Gesehen am 12.11. 2019). Vgl. Deleuze/Guattari: 1976, bzw. Chiellino: 2001. Bartl/Klinge: 2012, 11. Vgl. Bartl/Klinge: 2012, 10. Mit Kultur sind hier nicht Einzelkulturen gemeint, sondern vielmehr, dass Kultur auch der ursprünglichen Bedeutung nach immer als ein von Menschen entworfenes System zu verstehen ist. Franz/Kunow: 2011, 11.
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rischen Identitäten wurden auf verschiedenen Ebenen des Textes reflektiert: auf der Ebene des Thematisch-Motivischen, aber auch auf der Stufe der Sprache und derTextualität selbst.16 Reise und Gehen, das Durchlaufen von Textuniversen wurden als Modelle einer anamorphotischen Grenzauflösung gedeutet, die als Fundament der Poetologie Moras gesehen werden können. Eine Figur der Entgrenzung und der Liminalität ist ein wildes Denkens.17 Als Manifestation dieses Wilden wurde das Monströse charakterisiert, das in Moras Texten eine zentrale Rolle spielt. Geht man mit Overthun davon aus, dass das Monströse mit der je anders gestellten Normalitätsfrage zusammenhängt,18 was nicht allein ästhetische Traditionen und Codes betrifft, sondern auch übergreifende Diskursformationen,19 wird einsichtig, dass in einem Kontext der Reflexion von Grenzen und Setzungen das Monströse eine eminente Rolle bekommen kann. Das Monströse kann als zentrale Figur für »die Selbstwahrnehmung des 20. Jahrhunderts« bezeichnet werden,20 es hat aber auch im 21. Jahrhundert »Konjunktur« und reflektiert nach wie vor Fragen von Grenze, Klassifikation, Norm und Ordnung. So gilt das Monster als »paradigmatische Schwellenfigur«, als »liminale Figur«,21 das ästhetische und kulturelle Strukturen sichtbar macht. Es ist eine Figur der Oszillation und Hybridität,22 die einen »clash der einfachen Differenz und binären Klassifikationsschemata« demonstriert,23 damit aber auch dazu beiträgt, dass das Wilde nicht einfach als das Andere der Kultur gesehen werden kann. Das Monströse kann andererseits als ein Zeichenphänomen betrachtet werden, das als
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Der Transitbegriff wird hier nicht allein auf die konkrete Ortsveränderung, auf die bereits erwähnte Umsiedlung bezogen. Transit dient hier – auch im Sinne Bartls – vielmehr als Chiffre, die verschiedene Zusammenhänge reflektieren soll. Vgl. Bartl/Klinge: 2012, 8. Theoretiker der Liminalität betonen, dass die mittlere Übergangsphase bei Riten gerade wegen der Entbindung von der Ordnung mit dem Wilden gefasst werden kann. (Vgl. Toggweiler: 2013, 12.) Auf die Wichtigkeit des Wilden geht auch Mora in ihrer Salzburger Poetikvorlesung ein. Vgl. (GT). Vgl. Parr, 2009: 38. Vgl. Overthun 2009: 44. Nach Overthun ist das Vorstellungsbild des Monströsen jeweils von der kulturhistorisch variierenden Norm abhängig. Diese Einstellung vertritt auch Toggweiler in seinen Ausführungen. Vgl. Toggweiler: 2013. Schmitz-Emans: 2009, 523. Geisenhanslücke/Mein/Overthun: 2009, 9f. Parr arbeitet in seinem Beitrag die aktuellen Faszinationstypen des Monströsen heraus. Vgl. Parr, 2009: 19-42. Overthun: 2009, 50, 46. Ebd., 51.
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Reflexionsmedium die »historischen Fiktionen der conditio humana« problematisiert.24 Anthropologische Modelle, diverse Figurationen von Liminalität, Fragen nach dem Humanen, gerade die Unmöglichkeit der Eingrenzung des Humanen sind mit der Faszination für das Monströse verbunden.25 Toggweiler charakterisiert das Monströse u.a. als eine »Idee, die verstanden werden will«.26 Es gilt als eine Herausforderung, die hilft zu verstehen, was passiert, wenn die geschützten Zonen von Norm, Ordnung und Struktur verlassen werden. Gerade diese Beschaffenheit, die Problematisierung des Werdens macht das Monströse zu einer zentralen Reflexionsfigur von Kunst, Literatur und so wird es überdies zu einem eminenten Anliegen für das Schaffen von Terézia Mora. Seit den Diskursformationen der Moderne hat das Monströse allerdings eine Faszinationskraft und ist mittlerweile im ästhetischen Diskurs zur Normalität geworden. Als ästhetische Kategorie ist das Monströse als Hinterfragung klassischer Grenzziehungen zu sehen und somit »koextensiv mit der Neuzeit«.27 Nähert man sich also der Frage der Grenze aus der ästhetischen Position nach Forderung von Kontur und Umriss, kann das Monströse als Modell herhalten, diese klassische Forderung nach Grenze zu etablieren und zugleich zu entkräften. Es geht nicht zuletzt um eine kanonisierte Ordnung, der auch die Literatur unterworfen ist. Es geht nicht allein um die Ordnung der Epochen, der Gattungen und Genres, um die Sprachordnung, die Ordnung von Stilebenen und Angemessenheit etc. Betrachtet man das Monströse als
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Ebd., 9, 52. Herv. i. Orig. Vgl. Schmitz-Emans: 2009, 523ff. Toggweiler: 2013, 7. Fuss: 2001, 54; vgl. auch Helduser, 2009: 673. Wie Helduser zeigt, bekommt die Problematik des Monströsen im poetologischen Diskurs seit dem 18. Jahrhundert besonderes Interesse und wird zu einem ästhetisch zu vermittelnden Phänomen (ebd. 677) und zum Ausgangspunkt der Entstehung der Ästhetik des Hässlichen (ebd. 684). Die Auseinandersetzung mit dem Monströsen wird bereits in der Romantik bei Jean Paul zum poetologischen Programm eines Romans (ebd. 682). Die Feststellung, dass das Monströse als Verstoß, als regellose Kunst mit der Neuzeit aufkommt, korrespondiert mit Schmitz-Emans‹ Bemerkung, wonach das Bewusstsein vom Setzungscharakter der Grenze sich in der Neuzeit etabliert hatte, womit der Grenzübertritt als allgemeines Prinzip in Kraft tritt. Vgl. Schmitz-Emans: 2012. Fuss warnt aber auch: Die Einordnung des Monströsen und Grotesken bedeutet ihre Einführung ins identitätslogische Denken, dem es ja widersprechen will. Die Kategorie des Monströsen und Grotesken ist eine groteske Kategorie (vgl. Fuss: 2001, 110). Sie sind Chimären (vgl. ebd. 148), widersprüchliche Phänomene (vgl. ebd. 152).
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eine »widernatürliche Missgeburt, die signifikant von ihrer ursprünglichen Gattung und Art abweicht«,28 bekommt die Figur nicht nur eine thematischmotivische, sondern ebenso eine eminent poetologisch-selbstreflexive Komponente. Das Monströse übernimmt bei Mora eine zentrale Position und erscheint sowohl in Form des Körper-, Sitten- und Subjektmonsters, als auch poetologisch gewendet in der Reflexion einer fast unmöglichen Darstellung, als monströse An-Ordnung. Eine differenzierte Ausprägung bekommt es in der Prosa Moras in der Qualität als ein semiologisches, gattungsästhetisches und mediologisches Phänomen,29 die im Kontext der Romantrilogie im Einzelnen ausgearbeitet wurden. In diesem Zusammenhang geht es bei Mora betont um die poetologische Qualität der Grenze, um die Reflexion von Kunst und ihrer Medialität schlechthin. Wenn hier die Frage nach Widersprüchlichkeit, Uneindeutigkeit, Unentscheidbarkeit als Übertretung der Grenze diskutiert wird, läuft der Prozess mit der Dekomposition ästhetischer und epistemischer Regeln und Annahmen einher. Anstatt klassischer Grenzziehung geht es hier um chimärische Mischung und Hybridität30 auch in Gestalt verschiedener Formen der Sprachmischung oder um Verzerrung und monströse Übertreibung. Figurationen des Monströsen wurden als Modi gedeutet, die berufen sind, in verschiedenen Diskursformationen auf den Setzungscharakter der Grenze, auf innere Alterität, also auf die Unmöglichkeit von scharfen, finiten Grenzen hinzuweisen.
11.2
Der »Alltag, der Krieg im Kleinen«. Kontingenz und Krise
Literarische Texte werden im Allgemeinen als Orte verhandelt, die sich für Grenzen und Paradoxien öffnen,31 und ganz besonders gilt das für das Oeuvre von Terézia Mora. Um das Untersuchungsfeld summarisch zu reflektieren soll nun der Blick darauf gerichtet werden, wie die Dauerpräsenz des Übergangs nicht nur als anthropologisches Modell, sondern als Erzählverfahren, als darstellerische Praxis gedeutet werden kann, indem Liminalität als narratives Muster dienstbar gemacht wird. Ein Modus ist die Betonung des Übergangs, 28 29 30 31
Overthun: 2009, 46. Vgl. ebd., 43-80. Hybridität wird hier im Sinne Norbert Mecklenburgs als ästhetische Qualität verstanden. Vgl. Mecklenburg: 2009, bes. 112ff. Ehlers: 2007, 19.
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was generell in der Inszenierung von Krisennarrativen seinen Niederschlag findet. Grenzüberschreitung und Schwelle manifestieren sich in den Texten im Narrativum der Krise. In der heutigen Medienkulturgesellschaft ist die Krise von großer gesellschaftlicher und medialer Relevanz, ein »Kulturthema ersten Ranges«.32 Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass es um eine Zeit des Transits, um einen Aufenthalt im Schwellenraum geht, der sowohl nach van Gennep als auch nach Turner von Grund auf an das Bewusstsein von Krise gekoppelt ist.33 Es interessiert hier die Tatsache, dass nach Befunden der Forschung die Krise nicht einfach ein Lemma oder ein Ideologem ist, sondern in erster Linie zu einem Narrativum, zu einem eminenten Deutungsmuster avancierte. Der summierende Blick soll nun im Folgenden, um die Prozess-Konstrukte in der narrativen Entwicklung in Moras Texten34 zu beschreiben, auf diese Tatsache
32
33
34
Nünning: 2007, 49. Gleichzeitig konstatiert er aber auch, dass die Problematik der Krise noch ein weitgehend unerforschtes Phänomen ist. Im Allgemeinen herrscht Einverständnis in der Forschung damit im Zusammenhang, dass die Verwendung des Lemmas ›Krise‹ heute eine »mediale Proliferation« erlebe, zum »Schlagwortpopanz« werde (ebd., 53f.), da sie »epidemisch«, »inflationär« verwendet werde. (Grunwald/Pfister: 2007, 8.) Leschke geht so weit, dass er die Krise für ein Ideologem hält, das seit der Moderne seinen Siegeszug habe (vgl. Leschke: 2013, 9). Nünning verweist auch darauf, dass man bereits in den 1980-er Jahren eine inflationäre Verwendung des Lemmas diagnostiziert hätte (vgl. Nünning: 2007. 67). Die zurzeit allenthalben diagnostizierten Krisen seien demnach keine singulären und neuen Erscheinungen. Hülk stellt wiederum fest, dass das Wort sich bereits in der Moderne zu einem »elastischen Oberbegriff« entwickelt habe, also nicht erst ein allgemeines Charakteristikum der heutigen Medienkulturgesellschaft oder der Zeit, in der sich der Transit verdichtet hat, bedeute. Vgl. Hülk: 2013, 115. Vgl. Hülk: 2013, 115. Geht man dem Schlagwort ›Krise‹ nach, wird im Allgemeinen attestiert, dass es bereits in der Renaissance und noch ausgeprägter dann seit der französischen Revolution massenhaft im Umlauf sei, um gesellschaftliche Prozesse, Dynamiken, Zusammenhänge zu beschreiben (vgl. Lobsien: 2007, 95-113). Die Forschung stellt aber auch dar, dass das Lemma ›Krise‹ seit seinem Ursprung in der Antike eine bedeutende Bedeutungsverschiebung durchgemacht habe. Ursprünglich hatte das Wort nur eine medizinische Konnotation, wobei es um Leben und Tod ging, um den Entscheidungsmoment in einem Krankheitsverlauf, ob der Patient überleben oder streben würde. Es ist leicht zu erkennen, dass in Der Einzige Mann auf dem Kontinent und in Das Ungeheuer in Floras Geschichte und in Auf dem Seil in der Figur Lores diese Bedeutungsebene erkannt werden kann. Zu Krisendarstellungen bei Mora vgl. auch Propszt: 2015, 173-182. Propszt konzentriert sich in ihrer Analyse auf den ersten Teil der Trilogie.
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gerichtet werden: auf die durchgehend konstitutive Präsenz von Krisenhaftem als literarische Strategie. Als solches Muster mit metaphorischer Qualität35 hat die Krise zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der Liminalität, die als ein Grundcharakteristikum der Prosa Moras dargestellt wurde. Auch im Falle der Krise geht es um eine triadische Struktur,36 um ein Vorher und Nachher, beziehungsweise um einen Prozess des Übergangs und der Veränderung. Dem modernen Wortsinn nach bedeutet ›Krise,‹ korrespondierend mit dem Konzept von Schwellenphänomenen, einen Grenzüberschritt, einen ereignishaften Wendepunkt, den Umschlag in eine unbestimmbare, schwierige Situation.37 Das Empfangen des Pakets in Der einzigen Mann auf dem Kontinent, der Tod der Frau im Ungeheuer, das Erscheinen von Lore in Auf dem Seil konnten als Grenzereignisse dieses Typs gedeutet werden. Eine Konstante des Musters ›Krise‹ ist aber nicht allein die Entscheidung zwischen Leben und Tod, wie im Fall des Marathonmannes (LA) oder Floras in Das Ungeheuer, sondern auch ein grundsätzliches Erzählmodell, das es ermöglicht, den Geschehensverlauf nicht nur in Gang zu setzen, sondern auch in Gang zu halten.38 Geschichten haben die Problematik der Krise nicht allein als Sujet, sondern auch als Erzählmuster vereinnahmt. Dieses Erzählmuster rekapituliert das Märchen, ein Lieblingsmodell Moras, oder der Bildungsroman bzw. der Anti-Bildungsroman neuerer Provenienz wie Alle Tage bzw. Auf
35 36
37 38
Nünning: 2007, 65. Die triadische Struktur wird auch in anderen Zusammenhängen relevant, denn sie ist das Modell von Normalisierung und (Re)-Integration und somit auch die Basis des (Bildungs)-Romans schlechthin. Wird die Trilogie oder die einzelnen Teile davon als RoadNovel gelesen, geht es gerade um eine Art Verweigerung der triadischen Struktur der Reintegration und vielmehr um die Betonung von Freiheit. Dies ist jedoch nicht ohne Ambivalenzen, denn die Freiheit droht stets mit dem Abgrund, und ob dem die Figuren entkommen können, ist wegen der offenen Struktur nicht festlegbar. Das Muster des Sich (Re)-Integrierens kippt ständig in Muster des Sich-Verlierens und Sich-Verirrens, die Protagonisten sind auf dem Seil. Auf jeden Fall wird der Romantyp des Road Novel als eine Mischung aus verschiedenen Elementen von Gattungen und Schreibweisen gesehen, so vor allem aus dem Picaro- bzw. Schelmen- oder eben aus dem Bildungsund Entwicklungsroman. Vgl. Virant: 2029, 634-645. Ebd., 10. Bestimmte Gattungen tragen das Modell der Krise als Gattungsmerkmal, wie die Novelle, die eine unerhörte Begebenheit hat, die als eine Art Ereignis, als ein Wendepunkt zu sehen ist. In der Novelle geht es um einen Ausnahmezustand, der zum Schluss zu einer Lösung kommt (vgl. Hülk: 2013, 117). Dieses Muster gilt selbstverständlich auch für das Drama.
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
dem Seil, bzw. die ganze Romantrilogie. All diese Modelle bemühen das Muster von Krise, den »Krieg im Alltag« (U 88), allerdings mit der Differenz, dass hier statt einer Lösung nur Offenheit als Abschluss erschein. Dadurch werden aber Abschluss und Anfang, wie in einem Kreislauf, ineinander geblendet. Wenn die erwähnten Gattungen als Orte für Verarbeitung von Krise gesehen werden können, da sie einen Geschehensprozess darstellen, der im Fokus die Zuspitzung eines problematischen Geschehens hat, gilt zu schauen, wie das Narrativum der Krise als Erzählmodell funktioniert und für die hier zur Diskussion stehende Trilogie geltend gemacht werden kann. Anvisiert werden soll, welche diskursiven Prozesse hinter dem verkürzten Begriff ›Krise‹ ablaufen. Das Lemma ist als Implosion komplexer, oft undurchschaubarer Zusammenhänge zu lesen, die bei der Verwendung des Begriffs gebündelt und auf den Punkt gebracht werden.39 Als erstes kann bedacht werden, dass der Krisendiskurs ein Setting ist, das, im Bild der ursprünglichen Bedeutung (›Krisis‹), aus den Elementen Patient, Unheil, Diagnose, Heilungsstrategie, Therapie besteht. Die Diagnose, dass man in einer krisenhaften Situation ist, wird in den Texten zum Teil von den Protagonisten direkt angesprochen: Die Welt fing an »den Bach hinunterzugehen«, so ist man »im Grunde nie mehr in etwas anderem […] als in Krise, Zusammenbruch, Erholung, Zusammenbruch, Erholung« (U 47). Das gilt selbstverständlich nicht nur für die Romane, sondern auch für die Geschichte von Pi in Nicht sterben, für den das Verlassen der Höhle den Grenzübertritt und damit auch eine Krisensituation darstellt, da es mit dem Fremden, mit Austritt aus der gewöhnten Ordnung verbunden ist. Der Ambivalenz der Sache geschuldet ist dieser Grenzübertritt jedoch auch die Bedingung für das Kennenlernen des Neuen, für eine Öffnung Richtung Möglichkeiten. Die Krise ist verbunden mit Kontingenzerfahrungen,40 was die Sensibilität für verlorene Sicherheit und Ordnung schärft. Die Krisenerzählung hat spezifische Erzählmuster, Krisenplots, sie sind eine spezifische Form von narrativer Ordnung und Sinnstiftung.41 Wenn Grunewald und Pfister die Krise ein dramatisches, rhetorisches Entree nennen,42 ist damit auch schon vorgegeben, dass krisenhafte Geschichten weiter reichen und über die Grenzen von Literatur hinausgehen, mit den sozialen Dra39 40 41 42
Vgl. Grunwald/Pfister: 2007, 8. Vgl. Diehl: 2007, 143ff. Vgl. Nünning: 2007, 59. Vgl. Grunewald/Pfister: 2007, 10. Korrespondierend damit kann hier auf Turners Konzept des sozialen Dramas verwiesen werden und auf die Erkenntnis, dass Liminalität, Riten dramatischen Handlungen, dem Theater ähneln. Vgl. Turner: 1995.
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men Turners Ähnlichkeiten aufweisen. Die Tatsache, dass die ›Krise‹ auch als narratives Muster zu lesen ist, impliziert über das thematisch-motivische hinaus auch noch den Verweis auf eine selbstreflexive Metaebene. Diese bekommt bei Mora vom Debut, von Seltsame Materie angefangen über die dieses Phänomen markant gestaltenden Romane hinaus bis in Die Liebe unter Aliens eine herausragende Bedeutung. Denn das Ereignis oder Ereignisse vom Typ ›Krise‹ konstituieren zugleich den Erzählverlauf, können als Motor des Erzählens betrachtet werden. Die Krise dient somit zugleich als anthropologisches und als ein metapoetisches Reflexionsmodell, und sie hat demnach auch im narrativen Verlauf eine zentrale Funktion. Die Krise ist eine dramaturgische Kategorie mit Aufstieg und Fall, mit Heroen, Idioten, Täuschungen und Irritationen43 , und sie dient auch für Mora somit nicht allein für den Verlauf von Handlungsmustern, Zeitstrukturen, sondern auch für die Reflexion des Figurenarsenals, von Subjektkonzepten als Organisationsmustern von Erzählung. Die Krise als narrative Form, als Handlungs- und Zeitstruktur ist ausgezeichnet geeignet den linearen Verlauf fortzusetzen und immer neue Prozesse in Bewegung zu setzen. Die Indienstnahme des Erzählmodells der Krise stellt den narrativen Verlauf sicher und braucht seine Antagonisten und Protagonisten, deren Verhalten in der Zeit dann inszeniert werden kann,44 womit prinzipiell die Basis von Geschichten gelegt ist.
11.3
Heldenhaftes Aussitzen: Monströse Helden
Bei Krisennarrationen sind verschiedene Verlaufsstrukturen möglich, denn die Bandbreite unterschiedlicher Handlungen hat unterschiedliche Plots zur Folge. Als möglicher Verlauf kommt Genesung in den Blick, was die Lösung, und das Beenden der Krise bedeuten würde. Dieser Ablauf wird aber bei Mora – außer der Geschichte von Lore – nicht realisiert. Zum einen geht es ja um das fortwährende Eintreffen neuer Ereignisse, die als Krisen gedeutet werden, bzw. es geht, was den Verlauf anbelangt, um Muster, die Nünning Weiterwursteln oder Aussitzen nennt.45 In der Trilogie kommen diese Muster zum einen dadurch zum Vorschein, dass die Hauptfigur das Aussitzen als Lösungsmodell bevorzugt (EM 163, 197), aber auch darüber hinaus meistens oh-
43 44 45
Vgl. Leschke: 2013, 29. Vgl. Grünewald/Pfister: 2007, 10. Vgl. Nünning: 2007, 67.
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ne Plan, unprofessionell vor sich hin arbeitet, ohne wirklich etwas in Angriff zu nehmen. Zum anderen manifestiert es sich in einer Passivität, im Warten, darin, dass Vorhaben nicht in Taten umgesetzt werden, dass Aufmerksamkeit von Schlaf, Träumerei u.ä.m. verdrängt wird. Die Figuren sind keine Akteure mehr, sondern eher Zuschauer. Sie sind aber nicht mehr in der Blumenberg’schen Position des ›Schiffsbruchs mit Zuschauer‹,46 sondern vereinen in einer paradoxen Konstellation den Schiffsbrüchigen mit dem Zuschauer und unterminieren damit die binäre Opposition von Festem und Flüssigem, aber auch von Beherrschen und Ohnmacht. Weil jedoch das Erzählen Handlung verlangt, wird die eigentliche Stagnation, dass man nicht von der Stelle kommt, mit Schein- oder Ersatzhandlungen überspielt. Zu denen gehört die Nutzung von Medien, Essen und Trinken, das Hin- und Herfahren, das Flanieren, das Sprachenlernen und selbstverständlich das Reisen, das »etwas ist, statt des Nichts« (U 394). Auf der narrativen Metaebene erscheinen diese Zusammenhänge im Verschlingen von Inhalten, Modellen, ein Vagabundieren im Textgeflecht der Literaturgeschichte (und im Textuniversum überhaupt) und das Einverleiben von Gattungsmustern, Sprachen, Textmengen und Erzählverfahren, die zwar im Sinne der medizinischen Metaphorik als Rezepte für die Lösung dienen könnten, ihr Versprechen jedoch nicht einlösen., Es fehlt immer etwas, was das Schweben in der Mitte beenden, die Handlung umkippen, zum Stillstand bringen könnte. Ob man in Bibliotheken, Sprachlabors (AT), Büros, Autos etc. sitzt, ist egal, es geht weiter, indem Stillstand und Bewegung sich die Waage halten.47 Der mittlere Bereich der Krisentriade gilt also generell mit seiner undurchschaubaren Komplexität und Unentschiedenheit für die Texte von Mora und ist ihr konstitutives Element. Moras Figuren scheinen, wie im Falle der nicht-inszenierten und permanenten Liminalität Gefangene der mittleren Phase zu sein, da diese unendlich ausgedehnt ist. Geschuldet ist dies der Tatsache, dass das Muster der Krise adäquate Entscheidung und Handlung verlangt. Weil aber die Figuren keine angemessenen Reaktionen haben, können ihre Handlungen nicht zu einem Ziel führen, sie öffnen vielmehr eine serielle Reihe von neuen (missglückten) Handlungen und werden zur Endlosschleife, zum Möbiusband (AS 183). Wie zum Glück, so 46 47
Vgl. Blumenberg: 1979. Für die Erzählungen gilt dies nur zum Teil, denn die werden gattungsbedingt zum Ende gebracht, auch die zeichnen sich jedoch meistens durch offene Enden aus, wo der Erzählfluss zwar beendet wird, die Geschichte selbst jedoch auch weiterhin in der Schwebe, im Unabgeschlossenen verharrt. Das kann als Grundmodell z.B. im Band Die Liebe unter Aliens beschrieben werden.
11 »People are longing for stories«
führen auch zum Unglück epische Mittel, Moras Texte zeugen jedoch weder von eindeutigem Unglück noch von klarem Glück, sondern befinden sich in einer nicht näher bestimmbaren Grauzone zwischen beiden. Die Grenzziehung fordert Wertung.48 Die Vorbedingung von Wertung ist aber ein stabiles Angebot von Werten, also von Ordnung, was in den hier zur Diskussion stehenden Texten jedoch, weil der Horizont weggewischt ist,49 der den Rahmen abgeben könnte, wegen Entgrenzung von Ordnungsstrukturen, nicht gegeben ist. Wie gezeigt wurde, inszenieren die Texte, dass ein unverrückbares System von Werten der unendlichen Pluralität von Angeboten anheimfällt. Die kulturellen Programme vergangener Jahrhunderte werden sowohl in den Romanen als auch in den Erzählungen zwar durchgespielt, es kann aber kein sinnstiftendes Narrativ entstehen. Dieses »Zerbrechen gesicherter Erfahrungswerte«50 kann als ein basales Erlebnis in der Trilogie gelesen werden. Dies für die Moderne herausgestellte allgemeine Modell wird für die Postmoderne zu einem Dauerzustand erklärt.51 Das so entstandene Paradoxon von der ›Normalität der Krise‹ ist eine Parallele zum Paradoxon der permanenten Liminalität. Da die Protagonisten bei Mora aus einer Krise in die andere, »aus dem Regen in die Traufe« (U 30) fallen, hat dieses Überraschungsmoment keine richtige Schärfe, denn das Außergewöhnliche ist alltäglich geworden.52 Wenn das außergewöhnliche Ereignis eigentlich Strukturen verändernde Folgen hat, kann hier diagnostiziert werden, dass in der paradoxen Situation, bei einer ›Normalität der Krise‹ diese Veränderungen nicht eintreten kann. Es sind hier keine Ursache-Folge-Verbindungen auszumachen, Strukturen ändern sich nicht, es gibt kein Ereignis, das die Handlung zu Ende bringen würde.53 Dies hängt auch damit zusammen, dass die Akteure nicht handeln, 48 49 50
51 52 53
Nünning: 2007, 56. Nietzsche: 1954, 126-128. Vgl. Hülk: 2014, 116. Dieses Zerbrechen ist nach Hülk auch als Abstürzen von Ordnungsmodellen zu deuten, indem seit der Aufklärung, der französischen Revolution, Nietzsche etc. philosophische Erklärungsmuster in Zweifel gezogen werden. Im Zuge dieser Änderungen werden auch religiöse Modelle ad absurdum geführt. Zerstört werden nach Hülk gesicherte Erfahrungswerte auch, seitdem bei Freud von der Ohnmacht des Menschen die Rede ist. Grunewald/Pfister: 2007, 17. Vgl. ebd. Als Narrativa überführen Krisennarrativa das Erlebte in bekannte Kategorien, stellen bekannte Kontexte her. Daneben hat nach Nünning die Narration der Krise kategorisierbare Bausteine. Die Basis der Krise ist ein Ereignis. Ein weiterer Teil der Nün-
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Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität
in den Lauf der Dinge nicht eingreifen können. In einer »kapitalen Entscheidungssituation«,54 können sie keine Entscheidungen treffen, was zu einer Zuspitzung des Krisenhaften führt. Krisen problematisieren menschliche Entscheidungsprozesse in ihrer Unsicherheit.55 Krisis impliziert demnach Handlungsbedarf, aber der Einzelne kann nicht mehr eingreifen, mitgestalten. Hier tritt dann der von Mora so geliebte »Held« des Märchens auf den Plan.56 Die Lösung der Krise verlangt nämlich die Selbstermächtigung des Subjekts, das handeln kann und sich nicht in Scheinhandlungen verheddert, nicht nur ›weiterwurstelt‹ oder ›aussitzt‹. Die Protagonisten der Texte sind jedoch keine Märchenhelden, auch wenn sie sich immer wieder als Helden wahrnehmen (EM 330, 346), werden sie nur in diesem Typus gespiegelt, womit auf ihre Mängel hingewiesen wird. Diese Tatsache skizziert zugleich Umrisse einer Erzählpraxis, in der die handlungsorientierte Stringenz, ein einheitlicher Erzählstrang und ferner ein durch semantische Konsistenz entstehendes Subjekt, das in der erzählten Welt verankert ist, passé werden. Wenn in einem traditionellen Erzählkonzept eine von einem konzisen Subjekt ausgehende Raum- und Zeitgestaltung, eine eindeutige Perspektivik konstitutiv war, muss hier die Pluralität des Möglichen als Basis dienen. Techniken der Multiperspektivität und fortwährender perspektivischer Grenzüberschreitung, dass es keine »Effizienz« und »Gradlinigkeit« (EM 365) gibt, markieren eine breitgefächerte Problematik. Relevanz und Konsistenz schwinden, können nicht mehr als spezifische Konstanten des Erzählens herhalten. Von hier aus gesehen ist es plausibel,
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ning’schen Typologisierung (vgl. Nünning: 2007, 58) des Krisenhaften ist die Relevanz, dass die Figur das Ereignis als Bedeutsam empfindet. Die Krise ist an sich nichts objektiv Gegebenes, sondern durch Zuschreibungen, Konstruktionen bedingt, die auch mit dem jeweiligen kulturellen Kontext korrespondieren. Hier treten dann die Deutungsmuster der Akteure auf den Plan, wie bei Flora das Lesen und die Modelle, die die Literatur anbietet. Die Tatsache, dass die weibliche Protagonistin trotz dieser kein geglücktes Leben führen kann, hängt auch damit zusammen, dass sie die Modelle nicht umsetzen kann. Sie sind auch der Tatsache geschuldet, dass die Protagonistin zu viele Muster gleichzeitig auf den Plan ruft, sie aber dann nicht managen, ihre Angebote nicht integrieren kann, was eine wachsende Dissoziation zur Folge hat. Hülk: 2013, 115. Vgl. Grunewald/Pfister: 2007, 10. Moras Schreiben stellt ja nicht nur Figuren als Charaktere dar, sondern es geht bei ihr immer auch in einer metapoetischen Reflexion um die Beschaffenheiten und narrativen Möglichkeiten in Bezug auf die Akteure und zwar nicht in einer archaischen Welt, sondern in der posttraditionellen Gesellschaft der Gegenwart.
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dass nur ein fluktuierendes Ineinander von gleichgewichtigen Bausteinen die Erzählarchitektur bilden kann. Signifikant im Erzählmodell der Krise ist also, dass sie mit Subjektkonzepten, mit Rollenzuschreibungen verbunden ist.57 Hier tritt neben den Diagnostikern dann die Figur auf den Plan, die die Lösung anbieten kann. Darius lebt in der Welt der Wirtschaft, ist Manager und hat die Aufgabe, Situationen zu bewältigen. Er kann sich aber nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, er kann seiner Rolle nicht gerecht werden. Der Manager muss etwas vorwärtsbringen, abwickeln, hinkriegen, also lösen, meistern, ist demnach in vieler Hinsicht dem (Märchen-)Helden äquivalent. Der Protagonist der Romane kann als Salesmanager nur reden und Ideen verkaufen; statt Handlung und Aktion wird der Sprechakt dominant. Statt Handlung wird Rhetorik maßgeblich, was metanarrativ gewendet den ganzen Erzählprozess beschreibt, in dem keine richtigen, sondern nur Sprach- und Suchhandlungen stattfinden. In der Krise trifft sich das Fremde mit dem Bekannten, denn das Ereignis, das den Beginn der Krise markiert, ist ein Moment des Fremden, noch Unbekannten. Das Kohärenzvakuum der Krise, öffnet ähnlich der liminalen Lücke Tür und Tor für verschiedene Arten von Fremdheit, denn dem triadischen Muster entsprechend werden die Rahmen der Ordnung verlassen, indem ein unbekannter, identitätsloser Zwischenraum betreten wird. Da aber zur Bewältigung auf bekannte Muster zurückgegriffen wird, wird versucht, das Fremde ins Vertraute zu verwandeln. Da dies jedoch in den hier untersuchten Texten nicht gelingen kann, behält das Fremde, das Unbekannte seine Position der Unerreichbarkeit. Wie der Protagonist als Sales-Spezialist Sicherheitssysteme an den Mann zu bringen sucht, allerdings mit wenig Erfolg, einerseits, weil die Menschen sich dafür nicht interessieren, andererseits, weil die Systeme schon veraltet sind und mit der rasanten Entwicklung nicht schritthalten, so konsultiert und thematisiert die Trilogie narrative ›Sicherheitssysteme‹ der Tradition mit ähnlich wenig Erfolg. Die in der Trilogie erprobten Muster der Gattung des Romans, aber auch andere, biblische, mythische narrative Modelle sind traditionell, indem sie Sinnmuster herstellen, als Sicherheitssysteme zu deuten, die jedoch ausgedient haben. Sieht man von der Pragmatik ab, lösen diese Sicherheitssysteme in der narrativen Praxis doch eine wichtige Aufgabe, sie halten nämlich den Erzählvorgang aufrecht. Durch die fortwährende Grenzverschiebung und Grenzauflösung wer57
Grunwald/Pfister: 2007, 9.
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den, so kann summierend festgestellt werden, im vorliegenden Erzählgeflecht der Romantrilogie Changieren und Oszillieren als Ordnung der Dinge angeführt. Während dennoch auch Gattungsnormen als ordnungsstiftend fungieren, entsteht mit ihrer Dementierung Unordnung, Unbestimmtheit und Konfusion. Das ganze Textgebäude hat, und hier kommt das Paradoxon wieder ins Spiel, die Kontingenz als Fundament nach dem Motto: »Kontingenzbewältigung durch Kontingenznutzung«.58 Die alles übergreifende kontingente Ordnung wird Hand in Hand mit dem Modell der Krise zum Nukleus des narrativen Prozesses. Die Verflüssigung von Grenzen hat eine Auffächerung der Möglichkeiten, ein Changieren zum Resultat, was sich in einem »Auchanders-sein-Können als wirkliche Alternative manifestiert«59 . Prägnant für unseren Problemzusammenhang sind die Begriffe »Alternative« und »Auchanders-sein-Können«, denn sie scheinen Dreh- und Angelpunkte der Erzähltexte und im Allgemeinen Moras Prosa zu sein. Die Insistenz auf die Grenze und die gleichzeitige Besinnung auf den Setzungscharakter der Grenze bringt die Möglichkeit unendlicher neuer Grenzen und Alternativen auf den Plan, was statt Ab- und Eingrenzung bzw. Ordnung vielmehr dazu führt, dass die Komplexität zur determinanten Kategorie wird. Durch den Erzählakt, durch Transit und den Eintritt in Zonen des Übergangs wird die Kontingenz hervorgerufen, und sie soll auch dadurch bewältigt werden. Durch die »Entgrenzung des Möglichkeitsbewußtseins«60 werden bei Mora Prinzipien der chaotischen Ordnung in Szene gesetzt. Das läuft mit der Suspendierung von Logik und Kausalität einher, die hier auch beschaffen sind, Charakteristika der Welt der neuen Medien darzustellen. Es geht nicht nur darum, dass Bücher nicht mehr nach der linearen Informationsverarbeitung verlaufen, sondern zum Rhizom werden, in dem random accesses dominieren.61 Simultaneität und die Beliebigkeit von Verbindungen, aber auch von Lesewegen stehen für ein neues Wissensdesign, in dem Datenkomplexe nicht mehr klassifiziert sind.62 Dies führt zu einer Vielfalt von Navigationsmöglichkeiten, die auf allen Ebenen der Romane einen zentralen Reflexionsgegenstand bilden. In der so entstehenden Matrix ist nichts »wesensnotwendig«, sondern alles zufällig.63 Das bringt aber auch einen neuen ›Heldentyp‹ hervor. Das Kon58 59 60 61 62 63
Makropoulos: 1994, 235. Makropoulos: 1998, 23. Makropoulos: 1998b, 63. Vgl. Bolz: 1993, 204. Vgl. ebd., 209. Makropoulos: 1998b, 63.
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tingente kann in diesem Sinne mit dem Unerwarteten, Ungewöhnlichen, Beliebigen, Gesetz- und Regellosen, weiter dem Undurchschaubaren, dennoch auch mit dem Neuen, Individuellen gefasst werden.64 Die nicht-inszenierte Liminalität ist der Ort von Kontingenz, und der ist janusköpfig, da hier Bedrohung und Chance zusammenfallen. Erzählen ist Ordnen, eine Konstruktion, die die Ereignisse gruppiert. Mit deren Hilfe müssen zunächst kontingente Welttatsachen durch eine limitierte Perspektive in konsistente Vorstellungszusammenhänge geordnet werden. Da aber in den Texten auch diese limitierte Perspektive fehlt, können keine eindeutigen und konsistenten Zusammenhänge und Ordnungsrahmen entstehen, die Komplexität kann nicht in Eindeutigkeit überführt werden. Die Grundlosigkeit, die keinen festen Punkt, nur Variationen und Modulationen zulässt, ufert aus in einen fast unüberschaubaren Wald von Themen, Sprachen und Erzählmodi, in denen man sich leicht verliert, die eine Art Labyrinth bilden. Ähnlich der Krise ist auch der Held ein gesellschaftliches, kulturelles Konstrukt. Voss nennt die Helden »fragile Erzählgebilde, die aus narrativen Impulsen einer kulturellen Gemeinschaft und der Selbsterwählung von Einzelnen hervorgehen«.65 Die Helden traditioneller Erzählmodelle bekämpfen Ungeheuer, verwandeln das Chaos in Ordnung, bewältigen also Krisen unterschiedlichster Art. Ihr symbolischer Ort war die Unterwelt oder der Wald, während der heutige Held im Dschungel der Großstadt zu Hause ist, auch hier aber nicht nur mit unsichtbaren, sondern auch mit Naturgewalten kämpfen muss, wie z.B. gegen das Wasser, das ihn sintflutartig wegzuschwemmen droht (U 15). Er wäre aber nicht der (post)moderne Held, müsste er nur mit Naturgewalten den Kampf aufnehmen. Ausgeliefert ist er ja z.B. auch den Haien der Wirtschaft oder verschiedenen Machtgefügen und medialen Welten, die sein Erkenntnisvermögen übersteigen. Monstra sind selbstverständlich die psychischen Erkrankungen oder die Sucht, die in den Texten allgegenwärtig sind. Der Held ist auch ursprünglich im Chaotischen, Vermischten, im Liminalen zu Hause, er kann aber, da er über ganz bestimmte Fähigkeiten und über ein bestimmtes Bewusstsein verfügt, aus Übergangsräumen herauskommen oder Übergangszeiten überwinden. Helden haben ihren Ort in der raumzeitlichen Kulmination von Entscheidungsmomenten. Den traditionellen Helden zeichnet eine eindeutige (männliche) Identität aus, die
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Ebd., 30. Voss: 2011, 181.
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ihn befähigt, »Naturkräfte zu bezähmen, Vermischtes in Eindeutiges, Unbegrenztes in Begrenztes […] zu verwandeln«.66 Der Held neuen Typs, der selber ein Monster, ein hybrides Mischwesen ist, ist demgegenüber »eingebunden in ein politisch-ökonomisches Vermittlungsgefecht, das seine Verfügungsgewalt übersteigt«67 , so dass man fragen muss, ob er überhaupt noch ein Held genannt werden kann. Während der ›eigentliche Held‹ aus einer Gesellschaft kommt, die die Selbständigkeit des Individuums ermöglicht, ist der neuere Held, der von Voss der ›uneigentliche Held‹ genannt wird, kein Individuum, sondern nur ein austauschbarer Agent. Zum Selbstverständnis des Helden gehört gleichwohl, dass seine Tat seitens der Gesellschaft mit kulturellem Sinn belegt wird, während der uneigentliche Held im Partikulären befangen bleibt. Da es keine fixe Ordnung, keinen einheitlichen Deutungsrahmen gibt, bleibt ihm nur diese Möglichkeit. Auch Moras ›Helden‹, die als uneigentliche Helden kategorisiert werden müssen, verheddern sich in Nebensächlichkeiten, da sie in Ermangelung von festen Bezugspunkten keine Ordnung mehr herstellen können Die Liquidierung und Multiplizierung von Ordnung verhindert Grenzziehung, so kann das Vermischte nicht mehr in Eindeutiges, das Unbegrenzte nicht mehr in Begrenztes überführt werden, sondern bleibt in der mittleren Phase der liminalen Krisentriade gefangen. Das Bewusstsein, die Situation nicht im Griff zu haben, resultiert auch aus dem Tatbestand, dass der uneigentliche Held nicht ein konkretes, greifbares Monster als Gegner hat, da er selbst Teil des Monströsen, und so vom Gegenüber nicht eindeutig zu unterscheiden ist. Eine weitere Kraftquelle des Helden ist seine Eingebundenheit in die Gemeinschaft und deren Tradition, was ihn hält und trägt, aus dem er schöpfen, auf dessen Rückversicherung er sich verlassen kann.68 Bei Moras Helden werden verschiedene Traditionslinien, wie z.B. die Heilslehre der Bibel, mythische Modelle, genauso wie Redewendungen und Volksweisheiten zur Floskel degradiert. Narrativa, Figurenkonstellationen, sprachliche Muster etc. werden zwar eingesetzt, da sie aber leere Sprachhülsen sind, können sie keinen Sinn stiften. Sie verweisen vielmehr ex negativo auf Tradition. Ähnliches widerfährt der Literatur, deren Modelle und Texte herbeigerufen und konsultiert werden, nicht aber in ihrer Gültigkeit funktionsfähig werden können. Die einst relevanten Modelle erscheinen im Heute eher als Surrogate
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Ebd., 184. Ebd., 186. Ebd., 187.
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und sind Partikel eines metanarrativen Spiels, bekommen also nicht auf der Handlungs-, sondern erst auf der narrativen Ebene eine Relevanz. Nicht der Held hat Macht über seinen Kontext, vielmehr wird er von seinem Umfeld verschlungen. Eine Verwandlung des Kontextes gibt es nicht, vielmehr gleicht sich der ›Held‹ dem Umfeld der liminalen Grauzone an und wird selber zum Monster.69 Herausgerissen aus dem gesellschaftlichen Umfeld, außerhalb geordneter Verhältnisse, im Raum des Unbekannten, werden die ›Helden‹ Moras selber Unbekannte und Unerkannte, das schlechthin Fremde.
11.4
Narration und ästhetische Bewältigungsstrategien
Das archaische Subjektmodell des Helden verliert weitgehend seine Gültigkeit. Die Moderne wiederum konnte keine homogene Subjektstruktur produzieren, die dem archaischen Subjektmodell des Helden gegenübergestellt werden könnte.70 Es gibt, so Reckwitz, keine Definition dessen mehr, was unter dem Label ›Subjekt‹ subsumiert werden könnte,71 vielmehr sind es immer wandelnde Modelle und Entwürfe, die als Konzepte keine Dauer und Allgemeingültigkeit haben. Das Subjekt ist ein »kombinatorisches Arrangement«,72 das aus Sinnmustern und Spuren vergangener Jahrhunderte besteht, kurzum ein Palimpsest verschiedener Versatzstücke ist. Das ist das Modell, das uns die Texte Moras vor Augen führen, indem sie inszenieren, dass selbst die Subjektmodelle sich im Transit befinden, in einer Transgression, der kein Ende gesetzt werden kann. Die Hinterfragung des Subjekts bedeutet jedoch einen Orientierungsverlust, den Schwund eines Zentrums für Denken und Handeln, und zugleich auch die Hinterfragung überkommener Modelle 69 70
71 72
Reflektiert werden mit diesem Modell auch Autorkonzepte, auf die hier aber nicht mehr eingegangen werden kann. Nach Reckwitz‹ These modelliert sich Subjekt in kulturellen Formen, die es selber schafft (vgl. Reckwitz: 2013, 3). Damit korrespondieren Einsichten von Monika SchmitzEmans. Sie geht in ihrem Aufsatz über die Subjektproblematik soweit, dass sie das Subjekt ein »literarisches Projekt« nennt (Schmitz-Emans: 2000, 74). Von dieser Warte aus versucht sie das Problem des Subjekts zu beleuchten, indem sie die Rede vom Subjekt überhaupt zu den großen Erzählungen des Westens, zu einer Kreation der abendländischen Philosophie erklärt, dies also eindeutig im Diskursiven verortet und von historischen und kulturellen Konzepten abhängig macht. Vgl. Schmitz-Emans: 2000, 74-104. Reckwitz: 2013, 14. Ebd., 15.
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und Erklärungsmuster.73 Die von allen Seiten akzeptierte Rede von der Krise des Subjekts hat aber, wie Schmitz-Emans zeigt, weitreichende Folgen in der Sprach- und Kommunikationsproblematik, für die Krise des Selbstbewusstseins und des handelnden Menschen. Diese Tatsache verursacht allgemeine Orientierungskrisen in Bezug auf die Stellung des Menschen in Raum, Zeit und Geschichte.74 Die Schreibverfahren, durch die sich das Subjekt konstituiert, verschwinden, nur noch Refugien dessen sind bis heute präsent und werden unter anderem durch Inter- und Architextualität bemüht. Weil das Subjekt und selbst die Modelle, die es zu fassen suchen, in Bewegung geraten sind, kann nicht mehr eingegrenzt und definiert werden, was unter dem Lemma ›Subjekt‹ zu subsumieren wäre. Es sind die Schreibverfahren selbst, die die Krise des Subjekts inszenieren und ausgestalten, also erst zustande bringen,75 jedoch wegen der Verflüssigung und Porosität von Grenzen gleichsam die Entstehung einer den Sinn absichernden Instanz76 verhindern. Die Texte haben einen performativen Zug, sie konstruieren und dekonstruieren gleichzeitig im Medium der Sprache, worüber sie schreiben. Subjektproblematik und Schreibprozess sind aufs Engste miteinander gekoppelt.77 Der Schreibprozess bringt aber kein bleibendes Subjektkonzept hervor, so ist der Protagonist im Erzählgeflecht eher ein Akteur, der über sich parallel mögliche, immer wandelbare Lebensläufe entwirft, aber in keinen von ihnen länger eingebettet ist. Das Modell der Krise ruft verschiedene Diskurse auf den Plan, die selbst Teil eines metareflexiven Konzepts sind. Mora erschreibt demgemäß durch das Dekonstruieren der alten neue Konzepte vom ›Subjekt‹ im Transit und in liminalen Seins-Zuständen, was endgültige, bleibende Identitäten verweigert. Geht man davon aus, dass der dramatische Konflikt der Krise »anhand allgemeinbekannter Regeln einer Lösung zugeführt« werden kann,78 wird klar, dass – korrespondierend zum Subjekt – auch da auf diskursive Modelle zurückgegriffen wird. Die Narration ist in der Lage, jede Krise zu verarbeiten, ihr eine Form zu geben, ihre Morphologie in die Handlung von Akteuren und einen zeitlichen Ablauf zu überführen.79 Dem Erzählen, der Literatur kann 73 74 75 76 77 78 79
Vgl. Schmitz-Emans: 2000, 76. Ebd., 78. Ebd., 79. Ebd., 77f. Ebd., 80, 82. Leschke: 2013, 29. Vgl. ebd., 30.
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es gelingen, die Krise »durch Inszenierung der Krise im entpragmatisierten Raum« zu überwinden, wodurch die Krise auf der narrativen Ebene zu einem beherrschbaren Spiel wird.80 Die Krise kann ästhetisch bewältigt81 werden. Eine ästhetische Kriseninszenierung bedeutet eine Krise der Form und somit die Semantisierung der Form, was den Krisendiskurs auf eine andere Ebene verlegt und ihn von pragmatischen Verwertungszusammenhängen befreit. Literarische Krisenverarbeitungen als Versuchsanordnungen und Summierung von Unruhe und beängstigenden Situationen können die »Gegenwart vom Druck der Untergangsdrohung […] entlasten«, ein ästhetisches Gegenmodell bieten und Handlungsmuster für Umbruchsituationen entwerfen.82 Nach Blumenberg ist jeder Roman, »sofern er die Tendenz seiner Gattung als einer neuzeitlichen nicht zu verweigern vorgibt, ein Roman von der Entstehung oder von den Schwierigkeiten, wenn nicht sogar vom Scheitern des Romans«.83 Moras Erzähltexte sind, so könnte summierend festgestellt werden, in diesem Sinne als Architexte84 zu verstehen, die Sinnmuster und Spezifika des Romans reflektieren, die Modelle hinterfragen und persiflieren, die traditionsbildend waren.85 Wenn es bei Mora um Liminalität und somit um Transformation geht, sind davon nicht allein Gesellschaften oder Individuen betroffen, sondern auch literarische Formen. Der Roman selbst erscheint als transgressiv, zeigt tradierte Ordnungsschemata auf, ist aber weder ganz in ihnen noch ganz anderswo, sondern weist vielmehr eine labile Zwischenexistenz auf. Es geht sogar so weit, dass der Roman ein monströses Zwischenwesen wird, indem er Elemente der digitalen Welt und anderer Medien in sich trägt. Wenn man Revue passieren lässt, dass liminale Schwellenphasen in der Tradition als temporäres Aussetzen der kulturellen Ordnung, des Rahmens verstanden werden, leuchtet ein, dass in diesen Phasen Spielräume entstehen, experimentelle Neukombinationen möglich werden. Wenn dominieren-
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85
Grunwald/Pfister: 2007, 14. Vgl. Nünning: 2007, 68-70. Ebd., 70. Blumenberg: 1996, 13. Architextualität wird im Genette’schen Sinne verwendet, was die Zugehörigkeit eines Textes zu einer bestimmten Gattung, Textsorte oder Schreibweise bedeutet. Vgl. dazu: Arnold/Detering Hg.: 19972 , 443. Nach Bauer ist der Roman seit jeher ein bevorzugtes Medium solcher Dekonstruktionen. Vgl. dazu: Bauer: 1997, 197.
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de Ordnungsmaßstäbe ins Schwanken geraten, Normen ad acta gelegt werden, geht es um das Neuverhandeln von Regeln und Positionen, von denen auch Gattungen betroffen sind. Wenn Gattungen als konventionalisierte Muster, als »kulturell präformierte Bahnen« für »unsere ›ways of worldmaking‹«,86 als kognitive Wirklichkeitsstrukturierungen87 verstanden werden, weist ihr Herbeizitieren zum einen den fortwährenden Wandel der Strukturierung der Wirklichkeit hin. Zum anderen geht es bei Mora aber auch darum, dass Gattungsmuster Wissensstrukturen sind, in denen sich Figuren negierend, affirmativ, oder eben in ambivalenten Mischungen einbetten können.88 Nicht nur Gattungsgrenzen werden porös, sondern auch das Medium Buch befindet sich in einem Schwellenzustand, wenn die Koordinaten der Ordnung neu verhandelt werden. Wie im Allgemeinen rückt die Liminalität auch in Bezug auf Literatur den Blick auf die Struktur, betont aber statt Formen vielmehr die De-Formation und fordert damit neue Konzepte. Wenn es also um das Ausmessen der Bedingungen, Formen und Möglichkeiten von Transformation geht, was in der Romantrilogie im Fokus steht, interessieren auch die poetologischen Voraussetzungen dieses Übergangs, in dem der Roman und selbst das Buch auf dem Prüfstand steht. Inszeniert wird von Mora, wie auch die Romanpoetik von taxonomischen Ordnungen losgelöst wird, sich von Ordnungsschemata abwendet und den liminalen Übergang in Szene setzt. Die Frage nach Grenze ist eine Frage nach Denkmodellen, nach verschiedenen Ordnungen. Die Grenze als Sinnbildungsmechanismus, Wertorientierung, Tätigkeit der Codierung89 schwindet, ihre Rolle übernehmen
86
87 88
89
Vgl. Neumann/Nünning: 2007, 6. Wenn also verschiedene Formen eines Typs nebeneinander stehen und ineinander verflochten werden, wenn in Vergleichs-Korpora unterschiedliche Diskursregeln aufgerufen werden, können wir von Mischung oder Hybridität von Gattungen sprechen. Die Präsenz diverser Aktualisierungen des selben Typs kann affirmativ, negierend, neutralisierend, widersprechend etc. sein, womit das Nebeneinander dieser Formationen zu einer unendlichen Bedeutungsauffächerung, ja zu einem Rauschen führt. Die Konfrontation von Gattungsmodellen verschiedener kultureller Ordnungen ist auch als die eine Basis der Selbstreflexivität der Texte Moras zu verstehen. Vgl. Baßler: 2010, 53. Vgl. Neumann/Nünning: 2007, 11. Es geht in diesem Zusammenhang nicht allein um das Gattungsgedächtnis, worauf in inter- und architextuellen Bezugweisen hingewiesen wurde. In der Poetik von Mora fungiert die Gattungstradition auch als ein Modus für die Deutung von Lebenserfahrung und Herstellung von Normalität. Vgl. Neumann/Nünning: 2007, 13-14. Rymar: 2011, 159.
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hybride Formen des Übergangs oder Netzwerke, die als Motor destabilisierender Dynamiken erscheinen und damit die Grenze negieren.90 Die Logik des Liminalen fordert herkömmliche Theoriearchitekturen heraus91 und gestaltet in den Lücken des Schwellenbereichs neue Möglichkeiten, wenn von Normativität der Vergangenheit befreit neue Formen entstehen. Die Bedingungen der Liminalität, Marginalität und strukturellen Inferiorität bringen oft Mythen, Symbole, Rituale, philosophische Systeme und Kunstwerke hervor. Diese kulturellen Formen statten die Menschen mit einer Reihe von Schablonen und Modellen aus, die einerseits die Wirklichkeit und die Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, zur Natur und Kultur periodisch neu klassifizieren. Andererseits sind diese Modelle mehr als Klassifizierungen, da sie die Menschen nicht nur zum Denken, sondern auch zum Handeln anspornen. All diese Hervorbringungen sind vieldeutig und können die Menschen auf vielen psychobiologischen Ebenen gleichzeitig ansprechen.92 Mora gestaltet in ihrer Romantrilogie Lücken von liminalen Phasen, zeigt aber, dass diese Lücken nicht leer sind. Rituale im traditionellen Sinne sind zwar passé, etwas an Inszenierung ist aber trotzdem immer da,93 wenn mittels neuer Formen Wege gefunden werden müssen, sind in denen doch auch die alten präsent. Die Rolle von Riten übernehmen narrative Muster, die auch bei permanenter und nicht-inszenierter Liminalität Einbettungen gewährleisten und Konfliktlösungsstrukturen, Positionierungen bereitstellen und eine narrative Bewältigung des Übergangs ermöglichen. Krisen- und Selbstregime sind aufgefächert, greifen auf einen unendlichen Fundus zurück und ermöglichen sogar die beliebige Mischung des Vorgefundenen. Durch die Inszenierung anthropologischer Figurationen verortet Mora ihre Texte jenseits von Einzelkulturen, bettet durch Verweise, dadurch, dass sie aus einem bestimmten Fundus schöpft, ihre Romantrilogie in die sogenannte abendländische Tradition ein, um diese Einbettung jedoch letztendlich zu überwinden, wenn auf dem Erzählen als anthropologische Konstante insistiert wird, wenn es darum geht, dass Krisen narrativ überwunden werden können.
90 91 92 93
Schweitzer: 2011, 49-62. Ebd., 49. Turner: 2000, 125f. Vgl. Stenner: 2016, 59.
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Die Wirklichkeit ist das, »wovon wir ausgehen«, es ist ein Wirklichkeitsglaube, der mit Vertrautheit und Verlässlichkeit verbunden ist.94 Die Normalität ist beruhigend, sie täuscht vor, im Besitz der Welt und der Dinge zu sein. Der Eindruck, der dadurch erweckt wird, ist das Heimisch-Sein in der Welt. Klar wird, dass ein Heimisch-Werden bei Mora nicht durch Abgrenzung, nicht durch stabile Ordnungsstrukturen, sondern allein durch narrative Modelle und ihre unendliche Erprobung und Wandlung erreicht werden kann. Es geht im Zeitalter des Liminalen, des Transits und des Porösen um eine Auffächerung der Optionen in jeder Entscheidungssituation. Das dramatische Format wird nicht zu Ende geführt, es gibt kein Vorher vs. Nachher, keinen dauerhaften Schlusspunkt, weshalb auch zwischen Glück und Unglück nicht entschieden werden kann. Die Folie der Glücksnarrative95 ist gegeben, diese Narrative können aber aus verschiedenen Gründen nicht mehr aktualisiert und realisiert werden.
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Waldenfels 1998: 219. Herv. i. Orig. Waldenfels nennt den Wahrnehmungsglauben Weltglauben (ebd.: 220) und weist damit korrespondierend darauf hin, dass die eingeschliffene Wahrnehmung uns eine bereits bekannte Welt vorführt. Moras Ziel ist es gerade, dieses Eingeschliffene und Bekannte durch eine Ästhetik der Liminalität zu hinterfragen. Zu Glücksnarrativen vgl. Gerigk: 2010. 7-31, bzw. Tanzer: 2011 bes. 35-56.
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